Die Schranken des Grundgesetzes für die europäische Integration: Grenzen der Übertragung von Hoheitsrechten nach dem Grundgesetz am Beispiel des Vertrages von Maastricht [1 ed.] 9783428498604, 9783428098606

Die zunehmende Globalisierung und die immer intensivere Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten der Europäischen Union führen

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German Pages 574 Year 2000

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Die Schranken des Grundgesetzes für die europäische Integration: Grenzen der Übertragung von Hoheitsrechten nach dem Grundgesetz am Beispiel des Vertrages von Maastricht [1 ed.]
 9783428498604, 9783428098606

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STEPHANIE U H R I G

Die Schranken des Grundgesetzes für die europäische Integration

Hamburger Studien zum Europäischen und Internationalen Recht Herausgegeben von Thomas Bruha, Meinhard Hilf, Hans Peter Ipsen t , Rainer Lagoni, Gert Nicolaysen, Stefan Oeter

Band 25

Die Schranken des Grundgesetzes für die europäische Integration Grenzen der Übertragung von Hoheitsrechten nach dem Grundgesetz am Beispiel des Vertrages von Maastricht

Von Stephanie Uhrig

Duncker & Humblot · Berlin

Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft.

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Uhrig, Stephanie: Die Schranken des Grundgesetzes für die europäische Integration : Grenzen der Übertragung von Hoheitsrechten nach dem Grundgesetz am Beispiel des Vertrages von Maastricht / von Stephanie Uhrig. Berlin : Duncker und Humblot, 2000 (Hamburger Studien zum europäischen und internationalen Recht ; Bd. 25) Zugl.: Bielefeld, Univ., Diss., 1999 ISBN 3-428-09860-9

D 361 Alle Rechte vorbehalten © 2000 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0945-2435 ISBN 3-428-09860-9 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier

entsprechend ISO 9706 θ

Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde von der Fakultät fur Rechtswissenschaft der Universität Bielefeld im Sommer 1998 als Dissertation angenommen. Literatur und Rechtsprechung wurden bis zu diesem Zeitpunkt berücksichtigt. Meinem Doktorvater, Herrn Prof. Dr. Joachim Wieland, danke ich für seine Anregungen, seine Unterstützung und stets vorhandene Gesprächsbereitschaft. Herrn Prof. Dr. Armin Hatje danke ich für die zügige Erstellung des Zweitgutachtens. Weiterhin danke ich den Herausgebern der „Hamburger Studien zum Europäischen und Internationalen Recht" fur die Aufnahme meiner Arbeit in die Reihe. Mein Dank gilt auch der Deutschen Forschungsgesellschaft für die finanzielle Unterstützung bei der Drucklegung der Arbeit. Mein herzlicher Dank geht an alle, die mich bei der Anfertigung der vorliegenden Arbeit und im Promotionsverfahren unterstützt haben. Dieser Dank gebührt an erster Stelle meinen Eltern für ihre langjährige Unterstützung, vor allem aber dafür, daß sie immer an den erfolgreichen Abschluß dieser Arbeit geglaubt haben. Danken möchte ich auch meinen ehemaligen Kollegen des Dekanats für ihre Geduld und ihren Zuspruch. Ganz besonderer Dank gebührt Dr. Eckhard Pache für seine fortwährende Unterstützung, Kritik und unermüdliche Geduld bei der Erstellung der Arbeit. Seine Hilfe hat maßgeblich dazu beigetragen, daß diese Arbeit in der vorliegenden Fassung zustande gekommen ist. Widmen möchte ich diese Arbeit Änne und Paul.

Dortmund, im September 1999

Stephanie Uhrig

Inhaltsverzeichnis Einleitung

15

Α. Zulässigkeit der Übertragung von Hoheitsrechten nach dem Grundgesetz

18

I.

Übertragung von Hoheitsrechten

18

1. Hoheitsrecht

18

2. Übertragung

20

3. Beispiele für die Übertragung von Hoheitsrechten

25

a) Zentralkommission nach der Mannheimer Revidierten Rheinschifffahrtsakte

25

b) Europäische Kernenergie-Agentur

27

c) Amt für Rüstungskontrolle der Westeuropäischen Union

29

d) Eurocontrol

31

e) Europäische Gemeinschaft

36

f) NATO

40

g) Europäische Menschenrechtskonvention

42

4. Ergebnis II. Regelungen des Grundgesetzes zur Übertragung von Hoheitsrechten 1. Präambel 2. Artikel 24 Absatz 1 GG

44 46 48 49

a) Übertragung auf zwischenstaatliche Einrichtungen

51

b) Übertragung durch den Bund

55

aa) Grundsatz fehlender Kompetenz der Bundesländer zur Hoheitsrechtsübertragung bb) Ausnahme: Artikel 24 Absatz 1 a GG

55 57

8

Inhaltsverzeichnis cc) Kompensation für übertragene Länderhoheitsrechte durch Konsultation 60 c) Übertragung durch Gesetz

64

aa) Rechtsverordnung..

65

bb) Artikel 79 Absätze 1 und 2 GG cc) Beteiligung des Bundesrates d) Grenzen der Übertragung aa) Grundrechte

65 67 70 73

(1 ) Grundrechtsschutz durch die zwischenstaatliche Einrichtung.... 74 (2) Inhaltliche Anforderungen an den Grundrechtsschutz

75

(3) Ergebnis

77

bb) Artikel 79 Absatz 3 GG ( 1 ) Schutz der Grundsätze des Artikels 1 GG (2) Schutz der Grundsätze des Artikels 20 GG

77 79 81

(a) Demokratie

81

(b) Bundesstaat

82

(c) Sozialstaat

84

(d) Rechtsstaat

85

(3) Ergebnis cc) Aufgabe der deutschen Staatlichkeit e) Ergebnis 3. Artikel 23 n.F. GG a) Übertragung von Hoheitsrechten auf die Europäische Union (Absatz 1).... aa) Ermächtigung zur Übertragung (Integrationsklausel) bb) Inhaltliche Anforderungen an die Europäische Union (Strukturklausel)

87 88 92 94 95 97 106

(1) Föderative Grundsätze

109

(2) Demokratische Grundsätze

113

(3) Rechtsstaatliche Grundsätze

118

Inhaltsverzeichnis (4) Soziale Grundsätze

120

(5) Grundrechtsschutz

121

(6) Grundsatz der Subsidiarität

122

cc) Grenzen der Übertragung

131

(1) Artikel 79 Absatz 3 GG

131

(2) Aufgabe der deutschen Staatlichkeit

134

b) Innerstaatliches Verfahren der Übertragung (Absätze 2 - 7 GG)

136

aa) Beteiligung des Bundestages

137

bb) Beteiligung des Bundesrates

142

(1 ) Grundsatz der Beteiligung des Bundesrates (Absatz 4)

145

(2) Formen der Beteiligung (Absatz 5)

146

(3) Vertretung der Bundesrepublik Deutschland durch den Bundesrat (Absatz 6) 153 (4) Ausftihrungsgesetz über die Zusammenarbeit von Bund und Ländern (Absatz 7) 160 c) Ergebnis Artikel 23 GG III. Ergebnis Teil A Β. Übertragung von Hoheitsrechten durch den Vertrag über die Europäische Union I.

161 165

169

Zusammenarbeit in der Außen- und Sicherheitspolitik

171

II. Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres

180

III. Artikel F Absatz 3 EU-Vertrag

185

IV. Europäische Gemeinschaft

189

1. Unionsbürgerschaft

189

2. Sozialpolitik

194

a) Änderungen des E WG-Vertrages

195

b) Abkommen über die Sozialpolitik

196

aa) Inhalt des Abkommens über die Sozialpolitik

196

bb) Rechtsnatur des Abkommens über die Sozialpolitik

199

10

Inhaltsverzeichnis 3. Änderungen der Artikel 126 ff. EGV

204

a) Allgemeine und berufliche Bildung und Jugend

205

b) Kultur

208

c) Gesundheitswesen

209

d) Verbraucherschutz

211

e) Transeuropäische Netze

212

f) Industrie

214

g) Entwicklungszusammenarbeit

216

h) Ergebnis

217

4. Wirtschaftsunion a) Wirtschaftspolitische Kompetenzen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft nach dem E WG-Vertrag

220 221

aa) Gemeinsamer Markt

222

bb) Annäherung der Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten

229

cc) Artikel 102 a E WG-Vertrag

231

b) Wirtschaftsordnung des EG-Vertrages

232

aa) Koordination der Wirtschaftspolitik

233

bb) Überwachung der Wirtschaftspolitik

234

cc) Überwachung der Haushaltslage

237

c) Ergebnis

248

5. Währungsunion

250

a) Währungspolitische Kompetenzen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft nach dem E WG-Vertrag aa) Gründungsphase

251 251

(1 ) Internationale Übereinkünfte außerhalb des E WG-Vertrages... 252 (a) Abkommen von Bretton Wood

252

(b) Europäische Zahlungsunion

253

(2) Regelungen des EWG-Vertrages (a) Artikel 104 E WG-Vertrag

254 255

Inhaltsverzeichnis (b) Artikel 105 EWG-Vertrag

255

(c) Artikel 106 EWG-Vertrag

258

(d) Artikel 107 EWG-Vertrag

260

(3) Ergebnis

262

bb) Entwicklung der monetären Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten. 262 ( 1 ) Zusammenbruch des Systems von Bretton Wood und Beginn der währungspolitischen Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten. 263 (2) Europäischer Wechselkursverbund

267

(3) Europäisches Wechselkurssystem

269

(a) ECU

273

(b) Wechsel- und Interventionsmechanismus

275

(c) Kreditmechanismen

277

cc) Artikel 102 a EWG-Vertrag

278

dd) Ergebnis

279

b) Währungsordnung des EG-Vertrages aa) Erste Stufe ( 1 ) Konvergenzentscheidung

281 281 282

(2) Beschluß über die Zusammenarbeit zwischen den Zentralbanken der Mitgliedstaaten 284 (3) Vorbereitung der Liberalisierung des Kapital- und Zahlungsverkehrs 287 (4) Ergebnis

287

bb) Zweite Stufe

288

( 1 ) Verbot der Beschränkung des Kapital- und Zahlungsverkehrs. 289 (2) Europäisches Währungsinstitut

290

(a) Aufbau des Europäischen Währungsinstituts

291

(b) Aufgaben des Europäischen Währungsinstituts

293

(c) Handlungsbefugnisse des Europäischen Währungsinstituts

298

(3) Ergebnis

300

Inhaltsverzeichnis

12 cc) Dritte Stufe

( 1 ) Voraussetzungen fur den Eintritt in die dritte Stufe

302 302

(a) Konvergenzkriterien

302

(b) Verfahren für den Beginn der dritten Stufe

318

(2) Funktionieren der dritten Stufe

331

(a) Beschlüsse des Rates

331

(b) Europäisches System der Zentralbanken

348

(aa) Europäische Zentralbank

349

(bb) Nationale Zentralbanken

362

(3) Ergebnis Dritte Stufe dd) Ergebnis Währungsordnung des EG-Vertrages V. Ergebnis Teil Β

367 370 372

C. Zulässigkeit der Hoheitsrechtsübertragungen des Vertrages über die Europäische Union nach dem Grundgesetz

377

I.

Zusammenarbeit in der Außen- und Sicherheitspolitik

377

1. Föderative Grundsätze

378

a) Eigenstaatlichkeit der Mitgliedstaaten

378

aa) Europäischer Rat

379

bb) Rat

383

b) Achtung der Verfassungsstrukturen der Mitgliedstaaten

387

c) Ergebnis

388

2. Demokratische Grundsätze a) Demokratische Legitimation durch die Mitgliedstaaten

389 389

b) Demokratische Legitimation durch die Beteiligung der Unionsbürger.. 392 c) Ergebnis

394

3. Rechtsstaatliche Grundsätze

394

4. Soziale Grundsätze

399

5. Grundrechtsschutz

399

6. Grundsatz der Subsidiarität

401

Inhaltsverzeichnis 7. Fortgeltung innerstaatlicher Verfassungsprinzipien

401

a) Vorgaben des Artikels 79 Absatz 3 GG

402

b) Aufgabe der Staatlichkeit

404

8. Ergebnis II. Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres 1. Föderative Grundsätze

407 408 409

a) Eigenstaatlichkeit der Mitgliedstaaten

409

b) Achtung der Verfassungsstrukturen der Mitgliedstaaten

415

2. Demokratische Grundsätze a) Demokratische Legitimation durch die Mitgliedstaaten

417 418

b) Demokratische Legitimation durch die Beteiligung der Unionsbürger.. 420 3. Rechtsstaatliche Grundsätze

423

4. Soziale Grundsätze

429

5. Grundrechtsschutz

430

6. Grundsatz der Subsidiarität

432

7. Fortgeltung innerstaatlicher Verfassungsprinzipien

434

a) Vorgaben des Artikels 79 Absatz 3 GG

434

b) Aufgabe der Staatlichkeit

437

8. Ergebnis III. Europäische Gemeinschaft 1. Föderative Grundsätze

438 440 441

a) Eigenstaatlichkeit der Mitgliedstaaten

441

b) Achtung der Verfassungsstrukturen der Mitgliedstaaten

451

aa) Neufassung des Artikels 146 EG-Vertrag

451

bb) Ausschuß der Regionen

453

cc) Ergebnis

457

2. Demokratische Grundsätze a) Demokratische Legitimation durch die Mitgliedstaaten

458 458

b) Demokratische Legitimation durch die Beteiligung der Unionsbürger.. 473

14

Inhaltsverzeichnis c) Ergebnis

487

3. Rechtsstaatliche Grundsätze

489

4. Soziale Grundsätze

501

5. Grundrechtsschutz

508

6. Grundsatz der Subsidiarität

514

7. Fortgeltung innerstaatlicher Verfassungsprinzipien

520

a) Vorgaben des Artikels 79 Absatz 3 GG

520

b) Aufgabe der deutschen Staatlichkeit

531

8. Ergebnis Literaturverzeichnis

535 539

Einleitung Die Europa-Euphorie der Vergangenheit ist verflogen. Wie die eher kargen Ergebnisse von Amsterdam1 zeigen, ist in der wellenförmig verlaufenden Entwicklung der europäischen Integration derzeit eher eine Talsohle zu durchschreiten, bevor neue Gipfel in Angriff genommen werden können. Diese Stimmungslage deutete sich in Deutschland bereits im Zusammenhang mit der Ratifikation des als Vertrag von Maastricht bezeichneten Vertrages über die Europäische Union (EUV) an2. Während politisch vor allem die wirtschaftlichen, sozial- und arbeitsmarktpolitischen sowie die außenpolitischen Vor- und Nachteile einer Ratifikation Gegenstand intensiver und leidenschaftlicher Auseinandersetzungen waren, warf die Ratifikation des EU-Vertrages verfassungsrechtlich davon gänzlich zu unterscheidende Probleme auf: Wie weit ermöglicht es das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, sich internationalen oder supranationalen Organisationen anzuschließen und diesen Organisationen zur Erfüllung ihrer Aufgaben gegebenenfalls auch eigenständige Entscheidungsbefugnisse einzuräumen? Ist unter der Geltung des Grundgesetzes auch eine Beteiligung Deutschlands an einem europäischen Bundesstaat zulässig? Welche Kompetenzen können auf Hoheitsträger der Europäischen Union übertragen werden, welche müssen nach dem Grundgesetz zwingend durch die deutschen Organe selbst ausgeübt werden? Die Ratifikation des EU-Vertrages hat aber nicht nur in Deutschland,, sondern auch in einer Reihe von anderen Mitgliedstaaten politische und verfassungsrechtliche Grundsatzdiskussionen über Ausmaß, Ziel und Grenzen der europäischen Integration ausgelöst3. In Dänemark, Frankreich und Irland mußten Volksabstimmungen über die Ratifikation durchgeführt werden, und in mehreren Mitgliedstaaten konnte die Ratifikation erst nach einer Änderung der nationalen Verfassungen erfolgen 4. Auch in anderen Mitgliedstaaten als in der Bundesrepublik Deutschland kam es zu gerichtlichen Verfahren im Zusammen-

1

ABl. 1997 Nr. C 340 S. 1.

2

ABl. 1992 Nr. C 191 S. 1.

3

Hierzu ausführlich Hilf/Pache, (Hrsg.), Kommentar zum EUV. 4 Näher Hölscheidt/Schotten, 1994, S. 368ff.m.w.N.

Vorb. zum EUV, Rn. 23, 29 ff, in: Grabitz/Hilf S. 30 ff; Körkemeyer,

S. 106 ff; Heinrichs, DÖV

16

Einleitung

hang mit der innerstaatlichen Umsetzung des EU-Vertrages 5. In diesen Verfahren ging es vor allem um die Frage, welche Verfassungsänderungen erforderlich waren, um die Ratifikation zu ermöglichen, oder um die Ordnungsmäßigkeit des innerstaatlichen Verfahrens 6. Bemerkenswert daran ist, daß nicht in den klassischen Nationalstaaten wie etwa Großbritannien oder Frankreich, sondern vor allem in Deutschland die Sorge um die Bewahrung der Nationalstaatlichkeit in den Vordergrund der verfassungsrechtlichen Auseinandersetzung rückte7. Die Diskussion in Deutschland hat gezeigt, daß das Verhältnis von deutschem Verfassungsrecht und europäischem Gemeinschaftsrecht noch längst nicht geklärt8 und insbesondere die Frage nach den möglichen verfassungsrechtlichen Schranken der deutschen Integrationspolitik noch nicht hinreichend beantwortet ist9. Dieser Fragestellung soll im folgenden nachgegangen werden. Berücksichtigung findet hierbei die grundlegende Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 12. Oktober 1993, die die Ratifikation des EU-Vertrages für mit dem Grundgesetz vereinbar erklärt hat 10 . Das Bundesverfassungsgericht hat in dieser Entscheidung aber auch Hinweise gegeben, die die Grenzen der Übertragung von Hoheitsrechten betreffen, und es hat Auslegungen des Grundgesetzes vorgenommen, die künftigen Integrationsschritten Deutschlands und den Handlungen der Europäischen Union einen begrenzenden Rahmen vorgeben. Gleichwohl sind nicht alle Fragen im Hinblick auf die Übertragung von Hoheitsrechten beantwortet. Welche Forderungen werden etwa durch den neuen Artikel 23 GG an die Struktur der Europäischen Union gestellt? Welche Beteiligungsmöglichkeiten stehen den deutschen Verfassungsorganen im Vorfeld der Übertragung von Hoheitsrechten zu, und wie wirkt sich eine derartige Beteiligung auf die Möglichkeiten der Übertragung von Hoheitsrechten aus? Gibt es eine Grenze zwischen der Übertragung einzelner Hoheitsrechte und der Übertragung ganzer Hoheitsbereiche? Droht durch die Fülle erfolgter und zu erwartender Hoheitsrechtsübertragungen ein nach dem Grundgesetz nicht hinnehm-

5

Zu den Entscheidungen des französischen Verfassungsrates Walter, EuGRZ 1993, S. 183 ff.; zum Verfahren in Großbritannien Hölscheidt/Schotten, S. 57 ff.; zu den Verfahren vor den Verfassungsgerichten Frankreichs und Spaniens Hofmann, S. 943 ff. 6

Heinrichs, DÖV 1994, S. 373 ff.

7

Heintzen, EuR 1994, S. 35 IT.; Steinberger, FS Bernhardt, S. 1314.

8

Seidel formuliert in diesem Zusammenhang: „Die Eingliederung Deutschlands in die Integration Europas ist seit jeher mit der Frage verbunden, welche Vorgaben und Grenzen ihr durch das Grundgesetz gesetzt sind.", ders., Deutsche Verfassung, S. 1. 9 10

Steinberger, FS Bernhardt, S. 1314; Huber, ThürVBl. 1994, S. 2. BVerfGE 89, S. 155 ff.

Einleitung barer Verlust an Staatlichkeit? Insofern hat die Feststellung Klaus Sterns aus dem Jahre 1984 weiterhin grundlegende Bedeutung: „Es war und ist eine der großen verfassungsrechtlichen Fragen des Grundgesetzes, die verfassungsrechtlichen Schranken des Übertragungsaktes und seine Rechtsfolgen zu ermitteln." 11 Ziel der folgenden Ausführungen ist es, die Möglichkeiten der Übertragung von Hoheitsrechten nach dem Grundgesetz und die vom Grundgesetz aufgestellten Grenzen solcher Hoheitsrechtsübertragungen aufzuzeigen, die sowohl den Adressaten der übertragenen Hoheitsrechte als auch den Schutz grundlegender Strukturen der deutschen Verfassungsordnung betreffen (Teil Α.). Vor diesem Hintergrund wird der Vertrag von Maastricht daraufhin untersucht, in welchen Regelungsbereichen er Hoheitsrechtsübertragungen von den Vertragsparteien auf die Europäische Union oder auf die Europäische Gemeinschaft beinhaltet (Teil B.). Im Anschluß daran wird der Frage nachgegangen, ob mit dem Vertrag von Maastricht die Grenzen, die das Grundgesetz für Hoheitsrechtsübertragungen aufstellt, überschritten worden sind (Teil C.).

11

2 Uhrig

Stern,, Bd. I, S. 535.

Α. Zulässigkeit der Übertragung von Hoheitsrechten nach dem Grundgesetz L Übertragung von Hoheitsrechten Die Diskussion um die Ratifikation des Vertrages von Maastricht wurde in der Bundesrepublik Deutschland von der Frage beherrscht, ob mit diesem Vertrag die Grenzen der nach dem Grundgesetz zulässigen Übertragung von Hoheitsrechten erreicht oder gar überschritten worden sind. Der Beantwortung dieser Frage vorausgehen muß die Untersuchung, welche Aussagen das Grundgesetz zur Übertragung von Hoheitsrechten trifft. Um dieser Frage nachgehen zu können, ist zunächst Klarheit darüber erforderlich, wodurch der Begriff des Hoheitsrechts geprägt wird (1.) und wodurch sich die Übertragung von Hoheitsrechten auszeichnet (2.). Im Anschluß daran sollen einige Beispielsfälle dargestellt werden, in denen die Bundesrepublik Deutschland bereits bisher Hoheitsrechtsübertragungen vorgenommen hat (3.).

1. Hoheitsrecht Der Begriff des Hoheitsrechts hat in der Staatslehre einen Wandel erfahren. Ausgehend von der im Mittelalter vorherrschenden Vorstellung, daß dem Staat nur ein Bündel bestimmter einzelner Hoheitsbereiche, die sogenannten Regalien, zusteht1, und nach der Überwindung dieser Vorstellung im Absolutismus entwickelte sich die Vorstellung, daß der Staat eine umfassende Machtbefugnis besitzt, die gerade nicht als bloße Summe von Einzelrechten anzusehen ist2. Der Herrschaftsanspruch des Staates setzt sich nicht aus einem Bündel einzelner Hoheitsbereiche zusammen, sondern beruht auf einer umfassenden, einheitli-

1 Die Regalien als einzelne Hoheitsrechte waren sowohl dem Kaiser als auch der Kirche, den Fürsten und Ständen in Bündeln zugeordnet. Zur historischen Entwicklung des Staates als Träger einzelner Hoheitsrechten hin zu einem Staat mit umfassender Hoheitsgewalt Randelzhofer, HdbStR I, § 15 Rn. 13 ff.; Zippelius, S. 55 f. 2

Ruppert, S. 55.

I. Übertragung von Hoheitsrechten

19

chen, geschlossenen, alle Lebensbereiche erfassenden Hoheitsgewalt3. Der Staat ist Träger der summa potestas innerhalb des Staatsgebietes, und ihm sind alle Hoheitsbereiche der einheitlichen Staatsgewalt zugeordnet4. Diese umfassende Hoheitsgewalt kann der Staat ausüben. Er besitzt die Befugnis, Rechtsverhältnisse einseitig zu begründen, zu gestalten5 und ggf. auch einseitig durchzusetzen6, und er besitzt die Befähigung, die Rechtsverhältnisse der in seinem Staatsgebiet befindlichen Personen und Sachen zu ordnen7. Durch die Wahrnehmung dieser Gestaltungsrechte übt der Staat Hoheitsrechte aus. Ein Hoheitsrecht ist demnach die Befugnis des Staates, kraft Herrschaftsgewalt tätig zu werden, den in seinem Territorium zusammengeschlossenen Personen und Personenverbänden ein Verhalten zu befehlen und es erforderlichenfalls mit Zwang durchzusetzen8. Die Befugnis, Rechtsverhältnisse zu gestalten, umfaßt alle Bereiche öffentlicher Gewalt9, also die Ausübung von Staatsgewalt i.S. des Artikels 20 Absatz 2 GG oder von öffentlicher Gewalt i.S. des Artikels 19 Absatz 4 GG insgesamt10. Sie bezieht sich auf sämtliche Bereiche der Staatsgewalt, also auf Rechtsetzung, Verwaltung und Rechtsprechung11, und auf alle Aufgaben, und Befugnisse sowie Handlungsformen der drei Gewalten. Erfaßt ist damit also ebenso die territoriale Unversehrtheit des Staates, seine Handlungsfreiheit nach außen und seine Gestaltungsfreiheit nach innen 12 . Auch macht es im Rahmen der Verwaltungsbefugnisse keinen Unterschied, ob es sich um Bereiche der Eingriffs- oder der

3

Maunz, Artikel 24, Rn. 20, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz (Hrsg.), Kommentar zum GG, Stand Dezember 1989; Müller, DVB1. 1992, S. 1251; Bunten, S. 48. 4

Glaesner, DÖV 1959, S. 653; Klein,, S. 13.

5

Zuleeg, Artikel 24, Rn. 22, in: Alternativkommentar zum GG; Rojahn, JZ 1979, S. 119; dersArtikel 24, Rn. 19, in: von Münch/Kunig (Hrsg.), Kommentar zum GG; Bleckmann, GG und Völkerrecht, S. 227. 6

TomuschaU Artikel 24, Rn. 21, in: BK; Klein, S. 13 f.

7

Stern, Bd. I, S. 520 f.; Rojahn, JZ 1979, S. 119.

8

Müller, Schede, S. 6.

S. 55; Glaesner, DÖV 1959, S. 653; Ruppert, S. 19; Klein, S. 19 f.;

9

Maunz, Artikel 24, Rn. 3, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz (Hrsg.), Kommentar zum GG, Stand Dezember 1989; Rauser, S. 21. 10

Stern,, Bd. I, S. 521 ; Hahn, Vertrag von Maastricht, S. 108.

11

Ipsen, H. P., Gemeinschaftsrecht, S. 54; Ruppert, S. 262; Spelten,, S. 12 f.; Rojahn, Artikel 24, Rn. 19, in: von Münch/Kunig (Hrsg.), Kommentar zum GG. 12

Müller, S. 55 f.

20

Α. Hoheitsrechtsübertragungen nach dem GG

Leistungsverwaltung13 oder um solche der Daseinsfürsorge handelt14. Problematisch ist, ob auch schlicht-hoheitliches Handeln als Teil der Befugnis zur Gestaltung von Rechtsverhältnissen angesehen werden kann. Dies wird zum Teil wegen des Fehlens eines gestaltenden Elements im Bereich schlicht-hoheitlicher Tätigkeit in Frage gestellt15. Richtig ist, daß schlicht-hoheitliches Handeln nicht unmittelbar rechtsgestaltende Wirkung entfaltet. Gleichwohl ist diese Form des Handelns öffentlicher Gewalt jedoch geeignet, mittelbar die für eine Hoheitsrechtsausübung erforderliche Gestaltungswirkung auszuüben, indem sie rein tatsächlich faktisch in die Rechtssphäre des einzelnen und damit potentiell auch in Grundrechte eingreift mit der Folge, daß auch durch schlicht-hoheitliches Handeln Hoheitsrechte ausgeübt werden können16. Ein Hoheitsrecht als Teil der einheitlichen Staatsgewalt ist demnach das Recht des Staates, Rechtsverhältnisse innerhalb seines Territoriums mit Wirkung für die dort befindlichen Personen und Sachen einseitig verbindlich zu gestalten und die getroffenen Regeln gegebenenfalls zwangsweise durchzusetzen.

2. Übertragung Die dem Staat zugeordneten Hoheitsrechte können übertragen werden. Fraglich ist, wodurch der Vorgang der Übertragung charakterisiert ist und welche Folgen die Übertragung für den übertragenden Staat und den Übertragungsempfänger hat. Vom Wort „Übertragung" ausgehend liegt es nahe, zivilrechtliche Vorstellungen heranzuziehen. Im Zivilrecht umschreibt der Begriff der „Übertragung" einen Vorgang, durch den sich das Zuordnungssubjekt von Gegenständen, Befugnissen oder Rechten verändert, indem diese von einem Rechtsträger auf einen anderen übergeleitet werden, wie etwa das Eigentum an einer Sache vom ursprünglichen Eigentümer auf den Erwerber 17. Im zivilrechtlichen Sinne würde „Übertragung von Hoheitsrechten" daher bedeuten, daß der Staat als Rechtsin-

13 Randelzhofer, Artikel 24 Abs. 1, Rn. 33, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz (Hrsg.), Kommentar zum GG; Rauser, S. 80. 14

Rojahn, Artikel 24, Rn. 19, in: von Münch/Kunig (Hrsg.), Kommentar zum GG.

15

So ausdrücklich für Hoheitsrechte i.S. des Art. 24 Abs. 1 GG Rojahn, Artikel 24, Rn. 19, in: von Münch/Kunig (Hrsg.), Kommentar zum GG; Tomuschat, Artikel 24, Rn. 21, in: BK. 16 Randelzhofer, Artikel 24 Abs. 1, Rn. 42, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz (Hrsg.), Kommentar zum GG; Rauser, S. 109. Zur mittelbaren Wirkung rein tatsächlichen Handelns öffentlicher Gewalt Stern,, Bd. III, S. 1206 f. m.w.N. 17

Ruppert, S.S.

I. Übertragung von Hoheitsrechten

21

haber Hoheitsrechte aus seiner Verfügungsgewalt dinglich herausgeben und dem empfangenden Rechtsträger kraft eines besonderen Abtretungsaktes übertragen würde 18 . Der übertragende Staat gäbe in einem Akt der Selbstbeschränkung Teile seiner Hoheitsgewalt endgültig auf und minderte auf diesem Wege seine Hoheitsgewalt19. Das durch die Aufgabe der Hoheitsgewalt entstehende partielle Hoheitsvakuum würde durch den fremden Hoheitsträger, auf den der übertragende Staat einen Teil seiner Hoheitsmacht übertragen hätte, ausgefüllt 20. Die Übertragung führte demnach zu einer substanziellen Einbuße staatlicher Hoheitsgewalt21. Dies hätte zur Folge, daß die Hoheitsrechte nur in der Form und mit dem Inhalt übergehen könnten, wie sie dem übertragenden Staat zur Verfügung standen22. Die Hoheitsrechte des Grundgesetzes könnten demzufolge nur mit den dort enthaltenen Grenzziehungen, Vorbehalten und Einschränkungen übergehen23. Eine solche Vorstellung vom körperlichen oder symbolischen Überwechseln von Hoheitsrechten24 würde aber dem tatsächlichen Vorgang der Übertragung von Hoheitsrechten und seiner Funktion nicht gerecht 25. Die „Übertragung von Hoheitsrechten" ist vielmehr Bezeichnung für einen komplexen und mehrstufigen Vorgang 26, der sowohl die Aktion des Übertragens und Empfangens als

18

Ursprünglich Herzog, DÖV 1959, S. 46, der seine Meinung in DÖV 1962, S. 84, aufgab; Klein, S. 28 f.; eine Zusammenstellung der älteren Ansichten Ter-Nedden, S. I ff.: Ruppert, S. 84 ff.; Heising, S. 8 ff. 19

Rauser, S. 25.

20

Bunten, S. 72 m.w.N. in Fn. 28.

21

So die Zusammenfassung der „dinglichen Theorie" bei Schwan, S. 36 f.

22

Sog. „Hypothekentheorie", Klein, S. 27 ff.; Küchenhoff, DÖV 1963, S. 165 f.; im Ergebnis ähnlich Heinz, DÖV 1987, S. 856; Vitzthum, AöR 1990, S. 291, der die Übertragung von Hoheitsrechten auch heute noch als „hypothekarisch" belastet ansieht. Die Hypothekentheorie ablehnend Ruppert, S. 85; Schule, ZaöRV 1955/56, S. 243 ff.; der ihr vorwirft, daß sie aus nicht unzutreffenden Voraussetzungen nicht zutreffende Folgerungen ziehe, und zu unmöglichen Konsequenzen führe. 23

Vgl. die Darstellung bei Schule, ZaöRV 1955/56, S. 243; zu den Schwächen dieser dinglichen Vorstellung Rauser, S. 25 ff. 24

So die Möglichkeiten, die Ipsen, H. P., Gemeinschaftsrecht, S. 56 f. aufzeigt; zur Ablehnung dieser Möglichkeiten statt vieler Maunz, Artikel 24, Rn. 5 ff, in: Maunz/ Dürig/Herzog/Scholz (Hrsg.), Kommentar zum GG, Stand Dezember 1989. 25

Tomuschat, Artikel 24, Rn. 15, in: BK; Stern, Bd. I, S. 523; Friauf, in: Friauf/Scholz, S. 23; Cremer, EuR 1995, S. 25; Mögele, BayVBl. 1989, S. 578; Huber, S. 30. 26

Simson/Schwarze,

S. 25.

22

Α. Hoheitsrechtsübertragungen nach dem GG

auch deren Ergebnis umfaßt 27. Übertragung im verfassungsrechtlichen Sinn ist also ein Vorgang eigener Art 2 8 . Er zeichnet sich dadurch aus, daß der Staat auf seinen Anspruch auf Ausschließlichkeit seiner Hoheitsausübung verzichtet, um gleichzeitig die Ausübung einer fremden Hoheitsgewalt neben der seinen zu dulden und anzuerkennen29. Dies hat auch das Bundesverfassungsgericht in immer stärkerem Maße herausgestellt. Beschrieb es das Ergebnis einer Übertragung zunächst noch als einen Vorgang, der an „zivilrechtliche" Vorstellungen angelehnt zu sein schien, nämlich als einen Vorgang, bei dem sich die Mitgliedstaaten ihrer Hoheitsrechte entäußern30, so hat es in späteren Entscheidungen das Charakteristikum der Hoheitsrechtsübertragung präzisiert. Der Begriff der Übertragung könne nicht wörtlich genommen werden. Vielmehr enthalte das Grundgesetz eine Ermächtigung, den ausschließlichen Herrschaftsanspruch der Bundesrepublik Deutschland im Geltungsbereich des Grundgesetzes zurückzunehmen und die unmittelbare Geltung und Anwendbarkeit eines Rechts aus anderer Quelle innerhalb des staatlichen Herrschaftsbereichs zuzulassen31. Die Übertragung von Hoheitsrechten ist also dadurch gekennzeichnet, daß dem übertragenden Staat die betroffenen Hoheitsrechte nicht mehr ausschließlich zugeordnet sind. Sie können vielmehr vom Übertragungsempfänger ausgeübt werden. Dies setzt notwendig voraus, daß der übertragende Staat seinen Anspruch auf die Ausschließlichkeit der Ausübung von Hoheitsgewalt in seinem Hoheitsgebiet zurücknimmt 32. Der übertragende Staat verpflichtet sich zu diesem Zweck in den Sachgebieten, in denen eine Übertragung von Hoheitsrechten stattgefunden hat, zu dulden, daß in Zukunft eine fremde Hoheitsgewalt in seinem Gebiet und mit Wirkung für und gegen seine Staatsangehörigen handeln kann. Gleichzeitig verpflichtet er sich, nicht mehr selbst tätig zu werden, um so die Ausübung der Hoheitsgewalt durch den fremden Hoheitsträger nicht zu be-

27

Stern, Bd. I, S. 523.

28

Friauf,

in: Friauf/Scholz, S. 23.

29

Beisse, BB 1992, S. 649; Glaesner, DÖV 1959, S. 653; Erler, VVDStRL 18 (1960), S. 19 ff.; näher hierzu erstmals Maunz, Artikel 24, Rn. 5 f., in: Maunz/Dürig/ Herzog/Scholz (Hrsg.), Kommentar zum GG, Stand Dezember 1989; Rojahn, JZ 1979, S. 120; Simson/Schwarze, S. 25; Cremer, EuR 1995, S. 25. 30

BVerfGE 22, S. 283, 296.

31

BVerfGE 37, S. 272, 279 ff; seither ständige Rechtsprechung BVerfGE 58, S. 1, 28; BVerfGE 68, S. 1, 90; BVerfGE 73, S. 339, 376 f. 32 Maunz, Artikel 24, Rn. 5, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz (Hrsg.), Kommentar zum GG, Stand Dezember 1989; Schwan, S. 38; Kirchhof, in: Hommelhoff/Kirchhof, S. 13.

I. Übertragung von Hoheitsrechten

23

hindern 33. Indem er auf widersprechendes staatliches Tätigwerden seinerseits verzichtet 34, kommt der übertragende Staat seiner aus der Übertragung folgenden Verpflichtung zur Anerkennung der fremden Hoheitsgewalt nach 35 . Wenn auch die Übertragung nicht endgültig sein muß, so muß der Verzicht auf die Ausübung eigener Staatsgewalt doch von gewisser Dauer und Festigkeit sein 36 . Die Übertragung führt auf Seiten des übertragenden Staat also nicht zu einem Verlust, sondern lediglich zum Verzicht auf die Ausübung der übertragenen Hoheitsrechte37. Hinsichtlich der Ausübung von Hoheitsgewalt tritt die fremde Hoheitsgewalt insofern an die Stelle der staatlichen Gewalt 38 . Folge des Verzichts auf Ausübung staatlicher Hoheitsgewalt ist es, daß eine fremde Hoheitsgewalt in der Lage ist, Einzelpersonen und staatlichen Organen gegenüber unmittelbar verpflichtend und berechtigend zu handeln39. Die Öffnung der nationalen Rechtsordnung bewirkt die Begründung unmittelbarer Rechtsbeziehungen zwischen der fremden Hoheitsgewalt und Einzelpersonen und damit eine unmittelbare Geltung fremder Hoheitsakte in der Bundesrepublik Deutschland40. Dies beruht auf der Befugnis der fremden Hoheitsgewalt zum Erlaß von allgemeinen Rechtssätzen und Einzelfallentscheidungen, die sich unmittelbar an die Rechtssubjekte und die staatlichen Organe richten 41. Maßgebliche Folge der Übertragung ist auf Seiten des Hoheitsempfängers also die

33

Rauser, S. 31; Eibach, S. 61 ff.; Schwan, S. 43 ff.; Stern, Bd. I, S. 523; Hoffmann, DÖV 1967, S. 437; Schede, S. 6. 34

Tomuschat, Artikel 24, Rn. 19, in: BK; Rauser, S. 35; Glaesner, DÖV 1959,

S. 653. 35 BVerfGE 37, S. 271, 280. Hoffmann., DÖV 1967, S. 437; Ipsen, H. P., Gemeinschaftsrecht, S. 56. 36

Rojahn, Artikel 24, Rn. 34, in: von Münch/Kunig (Hrsg.), Kommentar zum GG; Tomuschat, Artikel 24, Rn. 9, in: BK; Jarass/Pieroth, Artikel 24, Rn. 4, in: GGKommentar. 37

Bleckmann, GG und Völkerrecht S. 228; Jarass/Pieroth, GG-Kommentar. 38

Artikel 24, Rn. 4, in:

Rauser, S. 33.

39

Eiback. S. 65 f.; Geiger, GG und Völkerrecht, S. 203; Schwan, S. 38; Claudi, S. 46; Feger, S. 51; Huthmacher, S. 56 ff.; Maunz, Artikel 24, Rn. 3, in: Maunz/Dürig/ Herzog/Scholz (Hrsg.), Kommentar zum GG, Stand Dezember 1989; Tomuschat, Artikel 24, Rn. 8, in: BK; a.A. Fastenrath, S. 150 f., der in der Durchgriffswirkung kein Wesenselement der Übertragung sieht. 40 41

Rojahn, JZ 1979, S. 119.

Randelzhofer, Artikel 24 Abs. 1, Rn. 30, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz (Hrsg.), Kommentar zum GG; Grewe, HdbStR III, § 77 Rn. 70; Dörr, DÖV 1993, S. 699 f.; Klein, Artikel 24, Rn. 2, in: Schmidt-Bleibtreu/Klein, Kommentar zum GG.

24

Α. Hoheitsrechtsübertragungen nach dem GG

Fähigkeit, auf dem Territorium des übertragenden Staates mit unmittelbarer Wirkung, d.h. ohne Vermittlung des übertragenden Staates, natürliche und juristische Personen sowie die Staatsorgane zu berechtigen und zu verpflichten 42. Dieser Durchgriffseffekt 43 ist das entscheidende Kriterium der Übertragung von Hoheitsrechten44, der durch den innerstaatlichen Verzicht des übertragenden Staates auf das Monopol der Ausübung von Hoheitsgewalt ermöglicht wird 45 . Eine Übertragung von Hoheitsrechten kann jedoch ausnahmsweise auch ohne Durchgriffsbefugnis gegenüber Einzelpersonen und staatlichen Organen vorliegen, nämlich dann, wenn ein tatsächlich ausgeübtes oder rechtlich mögliches ausschließliches Herrschaftsrecht zugunsten fremder Hoheitsgewalt zurückgenommen wird 46 . Die Rücknahme eines ausschließlichen Herrschaftsrechts zugunsten fremder Hoheitsgewalt ist dann das entscheidende Abgrenzungskriterium, wenn ein Hoheitsrecht nicht in Form von unmittelbar wirkenden Ge- und Verboten, sondern durch faktisches Verhalten ausgeübt wird. Sofern hierdurch faktische Grundrechtsbeeinträchtigungen erfolgen können, bildet die Rücknahme dieses vordem ausschließlichen Herrschaftsrechts des Staates gegenüber einem anderen Hoheitsträger eine zusätzliche Möglichkeit des Verzichts auf die Ausübung von Hoheitsgewalt und damit der Übertragung von Hoheitsrechten 47. Das Kriterium der Rücknahme eines ausschließlichen Herrschaftsrechts ergänzt also für den Bereich schlicht-hoheitlichen Handelns das Kriterium der Durchgriffsbefugnis. In allen übrigen Fällen bleibt jedoch der Durchgriffseffekt entscheidendes Kriterium der Übertragung von Hoheitsrechten. Die Übertragung von Hoheitsrechten bedeutet also, daß ein Staat auf die Ausschließlichkeit der Ausübung seiner Staatsgewalt in seinem Hoheitsgebiet ver-

42

Rauser, S. 79; Rojahn, Artikel 24, Rn. 20, in: von Münch/Kunig (Hrsg.), Kommentar zum GG. 43

Maunz, Artikel 24, Rn. 3, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz (Hrsg.), Kommentar zum GG, Stand Dezember 1989; Stern,, Bd. III, S. 1234; Ruppert, S. 138; Ipsen, H. P., Gemeinschaftsrecht, S. 7; Rojahn, Artikel 24, Rn. 21, 25, in: von Münch/Kunig (Hrsg.), Kommentar zum GG; Zuleeg, Artikel 24, Rn. 16, in: Alternativkommentar; a.A. Fastenrath, S. 151. 44 Mosler, HdbStR VII, § 175 Rn. 22; Streinz, Artikel 23, Rn. 54, in: Sachs (Hrsg.), Kommentar zum GG. 45

Müller, S.l\.

46

BVerfGE 68, S. 1, 90. Hierzu kritisch unter Aufrechterhaltung des Durchgriffseffektes als Charakteristikum der Übertragung Eckertz, EuGRZ 1985, S. 168; Bryde, Jura 1986, S. 369; Rausching, JuS 1985, S. 866 f.; a.A. Fastenrath, JA 1986, S. 452 ff. 47

Randelzhofer, Artikel 24 Abs. 1, Rn. 31, 40 ff, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz (Hrsg.), Kommentar zum GG.

25

I. Übertragung von Hoheitsrechten

ziehtet. Dies geschieht nicht durch einen dinglichen Verzicht des übertragenden Staates auf Hoheitsrechte, sondern durch einen Verzicht auf die ausschließliche Ausübung eigener Staatsgewalt.

3. Beispiele für die Übertragung von Hoheitsrechten Die Übertragung von Hoheitsrechten ist nicht lediglich eine theoretische Möglichkeit, sondern vielfach praktizierte Realität. Deutschland läßt seit geraumer Zeit in zahlreichen Fällen die Ausübung von Hoheitsrechten durch eine fremde Hoheitsgewalt auf seinem Territorium zu. Andererseits findet in anderen Fällen internationale Zusammenarbeit statt, ohne daß hierbei eine Übertragung von Hoheitsrechten stattgefunden hätte. Nachfolgend sollen beispielhaft einige internationale Organisationen auf das Vorliegen von Hoheitsrechtsübertragungen hin untersucht werden. Anhand dieser Auswahl aus den unterschiedlichsten Bereichen staatlichen Handelns läßt sich einerseits das Ausmaß und die Bedeutung verdeutlichen, die das Handeln im Rahmen internationaler Zusammenarbeit für die staatlichen Hoheitsträger bereits vor Abschluß des EU-Vertrages besaß. Andererseits kann aber auch verdeutlicht werden, daß der jeweilige Bereich, im dem die Zusammenarbeit stattfindet, ihr Umfang und ihre Teilnehmer Einfluß auf die Intensität der Zusammenarbeit und das Ausmaß der Übertragung von Hoheitsrechten haben. Untersucht werden sollen die Zentralkommission nach der Mannheimer Revidierten Rheinschiffahrtsakte (a), die Europäische Kernenergie-Kommission (b), das Amt für die Rüstungskontrolle der Westeuropäischen Union (c), die Eurocontrol (d), die Europäische Gemeinschaft (e), die NATO (f) und die Europäische Menschenrechtskonvention (g).

a) Zentralkommission

nach derMannheimer Revidierten

Rheinschiffahrtsakte

Erster Beispielsfall für die Übertragung von Hoheitsrechten ist die in Straßburg residierende Zentralkommission für die Rheinschiffahrt 48. Diese betrifft einen eng umgrenzten Bereich staatlichen Handelns, nämlich den Bereich der Schiffbarkeit des Rheins. Die Zentralkommission übt aufgrund der Rhein-

48

Revidierte Rheinschiffahrtsakte vom 17.10.1868; Neufassung des deutschen Wortlauts BGBl. 1969 II S. 597. Vertragsparteien sind Belgien, Deutschland, Frankreich, die Niederlande, die Schweiz und das Vereinigte Königreich.

26

Α. Hoheitsrechtsübertragungen nach dem GG

schiffahrtsakte teilweise49 Hoheitsrechte der Bundesrepublik Deutschland betreffend die „Bundeswasserstraße Rhein" aus. Die Zentralkommission kann zum einen Verordnungen erlassen. Diese aufgrund von Artikel 45 Absatz 1 b der Rheinschiffahrtsakte „gemeinsam erlassenen Verordnungen" sind jedoch nicht Ausdruck einer Rechtsetzungsbefugnis mit Durchgriffswirkung. Die Verordnungen lösen nämlich keine unmittelbaren Wirkungen in den Mitgliedstaaten aus. Sie werden vielmehr erst durch nationale Rechtsetzungsakte der Mitgliedstaaten förmlich in Kraft gesetzt50, indem die Rheinschiffahrtsverordnungen als wortgleiche Gesetze in den Vertragsstaaten erlassen werden 51. Da die Verordnungen somit eines Umsetzungsaktes bedürfen, entfalten sie keine Durchgriffswirkung und können infolgedessen auch keinen unmittelbaren Rechtsanwendungsbefehl in den Vertragsstaaten beanspruchen. Der Kompetenz zum Erlaß von Verordnungen liegt somit keine Übertragung von Hoheitsrechten zugrunde. Die Zentralkommission verfügt jedoch zum anderen über eine eigene Gerichtsbarkeit, deren Entscheidungen in den Mitgliedstaaten unmittelbare Wirkung entfalten. Bei der Ausübung dieser Gerichtsbarkeit nimmt die Zentralkommission Hoheitsrechte im Bereich der Rechtsprechung der Vertragsstaaten wahr: Die Berufungskammer der Zentralkommission besitzt neben den nationalen Rheinschiffahrtsobergerichten die Zuständigkeit für „Appellationen" gegen die Entscheidungen der nationalen Rheinschiffahrtsgerichte 52. Als Berufungsinstanz steht der Kammer das Recht zu, die Entscheidungen der Vorinstanzen mit bindender Wirkung für die Parteien aufzuheben bzw. abzuändern53. Es handelt sich damit um eine mit voller richterlicher Unabhängigkeit ausgestattete Instanz, die die Entscheidungen der nationalen Gerichte einer erneuten Prüfung unterziehen und diese aufheben, also rechtsverbindliche Entscheidungen erlassen kann. Da die Entscheidung der Berufungskammer der Zentralkommission an die Stelle der Entscheidung des innerstaatlichen Gerichts tritt, wird damit eine unmittelbare Rechtsbeziehung zu der betroffenen Partei des Rechtsstreits be-

49 Die Bundesrepublik Deutschland übt weiterhin Hoheitsrechte aus, so etwa bei der Erteilung der Rheinschiffahrtspatente, Artikel 1 der Verordnung zur Einführung über die Erteilung von Rheinschifferpatenten vom 26.03.1976, BGBl. 19761 S. 757. 50

Tomuschat, Artikel 24, Rn. 108, in: BK; vgl. auch Pache, S. 196 m.w.N.

51

Randelzhofer bezeichnet dies als „Bündel parelleler Landesgesetze", ders., Artikel 24 Abs. 1, Rn. 185, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz (Hrsg.), Kommentar zum GG. 52 53

Artikel 37 Abs. 1 ; 45 Abs. 1 lit. c; 45 bis Rheinschiffahrtsakte.

Vgl. Artikel 24 der Verfahrensordnung der Beruftingskammer vom 23.01.1970, BGBl. 1970 IIS. 37.

I. Übertragung von Hoheitsrechten

27

gründet. Die Zentralkommission für die Rheinschiffahrt übt somit in diesem Punkt Hoheitsrechte aus 54 .

b) Europäische Kernenergie-Agentur Ein weiterer Beispielsfall für die Übertragung von Hoheitsrechten ist die Europäische Kernenergie-Agentur. Auch sie trifft Regelungen für einen lediglich eng begrenzten Bereich staatlichen Handelns, nämlich die Kontrolle der Erzeugung und Verwendung der Kernenergie. Nach dem Übereinkommen zur Errichtung einer Sicherheitskontrolle auf dem Gebiet der Kernenergie 55 ist die Europäische Kernenergie-Agentur zu diesem Zweck zu Sicherheitskontrollen gegenüber Unternehmen und Einrichtungen der Teilnehmerländer berechtigt, die spaltbares Material verwenden. Nach Artikel 3 ff. des Übereinkommens ist die Agentur ermächtigt, Unternehmen und Einrichtungen, die spaltbares Material verwenden, zu inspizieren56. Bei den Inspektionen erfolgt die Zusammenarbeit zwischen der Agentur und den nationalen Behörden wie folgt: Das Kontrollbüro der Agentur 57 stellt eine Anord-

54 Gleiches gilt auch für die in Trier ansässige Moselkommission, Vertrag über die Schifïbarmachung der Mosel vom 27.10.1956, BGBl. 1956 II S. 1838. Obwohl der Vertrag i.V.m. der Geschäftsordnung der Moselkommission vom 18.09.1963 bei wörtlicher Interpretation eine Rechtsetzungsbefugnis mit Durchgriffswirkung nahelegt, werden auch die durch die Moselkommission erlassenen Beschlüsse erst durch nationale Umsetzungsakte in Kraft gesetzt. Hierzu Fleshes , S. 55: Beschlüsse (...) sind Entscheidungen, welche sich an die Mitgliedstaaten richten. Die Mitgliedstaaten sind auf Grund des Moselvertrages verpflichtet, das innerstaatliche Recht den Beschlüssen anzupassen. Die Beschlüsse erzeugen kein unmittelbar in den Uferstaaten geltendes Recht. Die Moselkommission verfügt auch über eine eigene Berufungskammer, den Berufungsausschuß der Moselkommission, Artikel 34 Abs. 4 des Vertrages über die Schifïbarmachung der Mosel, der die Entscheidungen der nationalen Moselschiffahrtsgerichte erneut prüfen und ggf. mit unmittelbarer Wirkung für die Parteien aufheben kann, Artikel 24 der Verfahrensordnung des Berufungsausschusses vom 09.10.1970, BGBl. 1972 II S. 341. 55

BGBl. 1959 II S. 585. Vertragspartner sind Belgien, Dänemark, Deutschland, Frankreich, Irland, Italien, Luxemburg, die Niederlande, Norwegen, Österreich, Portugal, Schweden, die Schweiz, Spanien, die Türkei und das Vereinigte Königreich. 56

So bestimmt Artikel 5 a des Übereinkommens zur Errichtung einer Sicherheitskontrolle daß die Agentur berechtigt und verpflichtet ist, in die Hoheitsgebiete der Vertragsparteien Inspektoren zu entsenden, die von ihr nach Konsultation der betreffenden Regierung bestimmt werden. Ihnen ist jederzeit zu allen Orten und Unterlagen sowie zu jeder Person Zugang zu gewähren. 57 Zu Zusammensetzung, Aufgaben und Abstimmungsmodalitäten des Kontrollbüros Artikel 7 ff. des Übereinkommens zur Errichtung einer Sicherheitskontrolle.

28

Α. Hoheitsrechtsübertragungen nach dem GG

nung zur Durchführung einer Inspektion aus, aufgrund derer die Inspektion durchgeführt wird. Die Inspektion ist der Regierung des Staates, in dem die Inspektion durchgeführt werden soll, vorab anzukündigen. Wenn diese es verlangt, begleiten Regierungsvertreter die internationalen Inspektoren. Die Inspektoren dürfen hierdurch jedoch weder aufgehalten noch in anderer Weise bei der Durchführung ihrer Aufgaben behindert werden. Ziel der Inspektion ist es, Nachweise über das besondere spaltbare und das Ausgangsmaterial zu erlangen, diese nachzuprüfen und aufgrund der Nachweise zu prüfen, ob die Verpflichtungen aus dem Übereinkommen beachtet worden sind 58 . Sofern die Inspektoren Zuwiderhandlungen feststellen, melden sie diese dem Kontrollbüro 59. Die Inspektionen erfolgen also zwar in Zusammenarbeit mit den nationalen Behörden der Vertragsparteien. Die nationalen Behörden besitzen jedoch lediglich einen Beobachterstatus, die Arbeit der Inspektoren ist also nicht von ihrer Zustimmung abhängig60. Die Inspektoren führen die Untersuchung unabhängig von der Zustimmung der Regierungen der Vertragsparteien durch und sie handeln selbständig und eigenverantwortlich, üben also Exekutivbefugnisse aus. Die Kernenergie-Agentur verfügt außerdem über eine eigene Gerichtsbarkeit. An diese können sich zum einen die Inspektoren wenden, wenn gegen die Durchführung einer Inspektion Widerstand geleistet wird. Ziel der Anrufung des Gerichts ist der Erlaß einer Anordnung zur Durchführung der Inspektionsmaßnahme61. Neben der Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes obliegt es dem Gericht aber auch, über die Klagen der Vertragsstaaten sowie Unternehmen gegen die Kontrollanordnungen der Agentur zu entscheiden. Es ist zudem zuständig für die Entscheidung von Fragen, die ihm eine Vertragspartei im Rahmen des gemeinsamen Vorgehens der Mitgliedstaaten im Bereich der Kernenergie vorlegt 62. Die Kernenergie-Agentur kann damit Unternehmen gegenüber unmittelbar geltende Rechtsbefehle erteilen und übt die Rechtsprechung im Hinblick auf die Rechtmäßigkeit des Handelns der Inspektoren aus. Die Kernenergie-Agentur übt somit Hoheitsrechte im Bereich von Exekutive und Rechtsprechung aus.

58

Artikel 11 Abs. d Satz 1 des Übereinkommens zur Errichtung einer Sicherheitskontrolle. 59

Artikel 11 Abs. d Satz 2 des Übereinkommens zur Errichtung einer Sicherheitskontrolle. 60

Rojahn, Artikel 24, Rn. 38, in: von Münch/Kunig (Hrsg.), Kommentar zum GG.

61

Artikel 11 Abs. e Übereinkommens zur Errichtung einer Sicherheitskontrolle.

62

Artikel 13 f. des Übereinkommens zur Errichtung einer Sicherheitskontrolle. Hierzu auch Tomuschat, in: International Courts, S. 387 f.

I. Übertragung von Hoheitsrechten c) Amt für Rüstungskontrolle

der Westeuropäischen

29 Union

Drittes Beispiel für die Teilnahme der Bundesrepublik Deutschland an internationaler Zusammenarbeit ist die Westeuropäische Union. Das durch Vertrag vom 23. Oktober 1954 errichtete 63 Amt für Rüstungskontrolle der Westeuropäischen Union hat die Aufgabe, die Einhaltung von Rüstungsbeschränkungen zu kontrollieren. Hierzu kann es Stichproben, Besichtigungen und Inspektionen in Produktionsanlagen, Depots und bei den Streitkräften durchführen 64. Anders als in den Fällen der Zentralkommission nach der Mannheimer Revidierten Rheinschiffahrtsakte und der Europäischen Kernenergie-Kommission ist im Fall des Amtes für Rüstungskontrolle umstritten, ob ihm Hoheitsrechte übertragen worden sind. Gemäß Artikel 12 des Protokolls Nr. IV über das Amt für Rüstungskontrolle der WEU vom 23. Oktober 1954 ist den Mitgliedern des Amtes für ihre Stichproben, Besichtigungen und Inspektionen auf Verlangen freier Zugang zu den Anlagen und Depots sowie der Einblick in die betreffenden Buchungen und Unterlagen zu gewähren. Anders als im Fall der Kernenergie-Agentur 65 ist jedoch fraglich, ob Artikel 12 des Protokolls Nr. IV Durchgriffsbefugnisse gegenüber Unternehmen und deutschen Behörden begründet oder ob durch Artikel 12 des Protokolls i.V.m. Artikel 1 des Vertragsgesetzes vom 24. März 1955 66 ausschließlich die völkerrechtliche Verpflichtung Deutschlands begründet wurde, innerstaatlich diejenigen Maßnahmen zu treffen, die eine wirksame Ausübung der Kontrolle gewährleisten 67. Im letzteren Fall wären ausschließlich die Mitgliedstaaten die Adressaten der Regelung des Artikels 12 mit der Folge, daß zugunsten des Amtes für Rüstungskontrolle keine Durchgriffsbefugnisse gegenüber nationalen Behörden und privaten Rüstungsunternehmen begründet worden wären. Nach Ansicht der Befürworter dieser Ansicht sei nur so Artikel 1 eines am 14. Dezember 1957 68 63 Protokoll Nr. IV zur Änderung und Ergänzung des Brüsseler Vertrages über das Amt für Rüstungskontrolle der Westeuropäischen Union, BGBl. 1955 II S. 27. 64

Artikel 7 Abs. 2 lit. b des Protokolls Nr. IV.

65

Siehe S. 27 f.

66

BGBl. 1955 IIS. 256.

67

Letzteres befürwortend Rojahn, Artikel 24, Rn. 47, in: von Münch/Kunig (Hrsg.), Kommentar zum GG. 68

Übereinkommen über Maßnahmen, die von den Mitgliedstaaten der WEU zu treffen sind, um das Rüstungskontrollamt zu befähigen, seine Kontrolle wirksam auszuüben, sowie über die Einfuhrung eines angemessenen Rechtsverfahrens gemäß Protokoll Nr. IV zu dem durch die am 23.10.1954 in Paris unterzeichneten Protokolle geänderten Brüsseler Vertrag, BGBl. 1961 II S. 386.

30

Α. Hoheitsrechtsübertragungen nach dem GG

unterzeichneten Abkommens69 verständlich. Dieser beinhaltet Regelungen über die Durchführung der Inspektionen und dieErrichtung eines internationalen Gerichts. In Artikel 1 dieses Übereinkommens verpflichten sich die Mitgliedstaaten, die Rechtsvorschriften zu erlassen, die erforderlich sind, um die Durchführung der Kontrollmaßnahmen sicherzustellen, die in Ausführung des Protokolls Nr. IV getroffen werden. Diese Rechtsvorschriften enthält Artikel 2 des Zustimmungsgesetzes vom 10. April 1961 70 . Er berechtigt zum einen die Kontrollbeauftragten, von den Unternehmen freien Zugang und notwendige Auskünfte zu verlangen. Er verpflichtet zum anderen die Unternehmensinhaber, entsprechenden Anordnungen des Amtes nachzukommen. Aufgrund dieser Regelung habe Deutschland den Kontrollorganen des Amtes einen Zugangs- und Auskunftsanspruch eingeräumt, doch sei dies lediglich die Folge der in Artikel 1 übernommenen völkerrechtlichen Verpflichtung Deutschlands zum Erlaß nationaler Durchführungsbestimmungen 71. Diese Ansicht läßt aber außer acht, daß Grund für die Regelungen des Übereinkommens vom 14. Dezember 1957 unter anderem die Erwägung war, die in Artikel 12 vorgesehene Zusammenarbeit zwischen dem Rüstungskontrollamt und den staatlichen Behörden genauer zu regeln 72. Die Mitgliedstaaten gingen somit davon aus, daß die Frage der Zugangs- und Auskunftskompetenz des Amtes durch Artikel 12 des Protokolls Nr. IV bereits geregelt sei. Das Abkommen vom 14. Dezember 1957 fügt dieser grundsätzlich bestehenden Regelung lediglich Detailregelungen hinzu. Für diese Ansicht spricht auch Artikel 11 Satz 2 des Protokolls Nr. IV, wonach der Direktor des Amts eingehende Vorschriften über die Durchführung der Inspektionen unterbreiten kann, die unter anderem ein angemessenes gerichtliches Verfahren in bezug auf die Wahrung privater Interessen vorsehen sollen. Während die Gegenmeinung zu dem Ergebnis kommt, daß aufgrund Artikel 11 Satz 2 des Protokolls Nr. IV die Einräumung von Durchsuchungsbefugnissen des Amtes zwar nicht ausgeschlossen sei, daß derartige Befugnisse jedoch noch nicht durch das Protokoll Nr. IV unmittelbar begründet würden, sondern daß es hierzu der Vereinbarung eingehender Regelungen bedürfte, ist die Kompetenz zur Aufstellung eigener Verfahrensvorschriften nur dann widerspruchsfrei zu erklären, wenn dem Amt schon aufgrund

69

Das Abkommen ist bisher nicht in Kraft getreten ist, so daß Fragen seiner Auslegung bisher theoretischer Natur sind. 70

BGBl. 1961 IIS. 38.

71

Rojahn, Artikel 24, Rn. 47, in: von Münch/Kunig (Hrsg.), Kommentar zum GG.

72

1. Erwägungsgrund der Präambel des Übereinkommens vom 14.12.1957.

I. Übertragung von Hoheitsrechten

31

des Protokolls Nr. IV selbst Zugangs- und Auskunftskompetenzen und damit Durchgriffsbefugnisse zustehen73. Argument für die Annahme eigener Hoheitsgewalt des Amtes ist des weiteren Artikel 3 des Abkommens vom 14. Dezember 1957, das die Errichtung eines Gerichts zum Schutze der betroffenen privaten Interessen vorsieht 74. Rechtsschutz gegenüber Handlungen des Amtes soll also nicht den nationalen Gerichten vorbehalten sein. Nach Artikel 4 des Abkommens entscheidet das Gericht über Schadensersatzklagen sowie Klagen auf die Rückgabe von Dokumenten und sonstigen Unterlagen. Die Errichtung eines Gerichts ist aber nur dann erforderlich, wenn das Amt selbst Hoheitsrechte ausüben kann, da den betroffenen Unternehmen bei Handlungen durch nationale Behörden ansonsten innerstaatlicher Rechtsschutz zur Verfügung stünde75. Die durch Artikel 4 des Abkommens vom 14. Dezember 1957 vorgesehenen Rechtsschutzmöglichkeiten sind daher nur dann erforderlich, wenn dem Amt eigene Durchgriffsbefugnisse zur Verfügung stehen. Das Amt für Rüstungskontrolle der Westeuropäischen Union besitzt damit aufgrund des Protokolls Nr. IV Durchgriffsbefugnisse gegenüber nationalen Behörden und privaten Unternehmen. Auch ihm sind somit Hoheitsrechte übertragen worden.

d) Eurocontrol Einen weiteren Streitfall im Hinblick auf die Frage, ob eine Übertragung von Hoheitsrechten vorliegt, bildet die „Europäische Organisation zur Sicherung der Luftfahrt", die sog. Eurocontrol. Diese wurde durch das Internationale Übereinkommen über Zusammenarbeit zur Sicherung der Luftfahrt 76 (ECV) errichtet. Die Eurocontrol hat die Aufgabe, die Zusammenarbeit der Vertragsparteien auf

73 Auch die Gegenmeinung schließt aus Artikel 11 Satz 2 des Protokolls, daß die Einräumung von Durchsuchungsbefugnissen des Amtes jedenfalls nicht ausgeschlossen sein soll. Artikel 11 des Protokolls belege aber, daß derartige Befugnisse noch nicht im Protokoll Nr. IV zu finden seien, sondern daß es der Vereinbarung eingehender Regelungen bedarf, Randelzhofer, Artikel 24 Abs. 1, Rn. 184, in: Maunz/Dürig/Herzog/ Scholz (Hrsg.), Kommentar zum GG. 74

Tomuschat, Artikel 24, Rn. 111, in: BK; ders., International Courts, S. 287 f.

75

Tomuschat, Artikel 24, Rn. 111, in: BK.

76

Übereinkommen vom 13.12.1960, BGBl. 1962 II S. 2273, neugefaßt durch das Protokoll zur Änderung des Internationalen Übereinkommens über Zusammenarbeit zur Sicherung der Luftfahrt, BGBl. 1984 II S. 97.

32

Α. Hoheitsrechtsübertragungen nach dem GG

dem Gebiet der Luftfahrt enger zu gestalten77. Hierzu besitzt sie zwei Organe, nämlich die aus Vertretern der Vertragsstaaten bestehende Ständige Kommission für Flugsicherung als das für das allgemeine Vorgehen der Eurocontrol zuständige Organ, sowie die Agentur für Flugsicherung, die die im Übereinkommen festgelegten oder die ihr von der Kommission zugewiesenen Aufgaben durchführt 78. Aufgrund der ursprünglichen Fassung des Übereinkommens aus dem Jahre 1960 war umstritten, ob Eurocontrol in bezug auf die Festlegung und Einziehung von Flugsicherungsgebühren Hoheitsrechte übertragen worden waren. Nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts 79 und des Bundesverwaltungsgerichts80 konnte Eurocontrol „aus eigenem Recht" Gebühren erheben 81, da ihr dieses Recht von den Mitgliedstaaten übertragen worden war mit der Folge, daß die deutschen Organe für die Gebührenerhebung keine Kompetenzen mehr ausüben konnten82. Das Hoheitsrecht auf Seiten der Eurocontrol sollte sich aus Artikel 6 Absatz 2 lit. e und Artikel 20 ECV ableiten. Danach war die Kommission beauftragt, das Vorgehen der Agentur in bezug auf die Erhebung von Benutzergebühren festzulegen und gegebenenfalls die von der Agentur festgelegten Gebührentarife und Bedingungen für die Gebühren zu genehmigen83. Die Agentur setzte in Anwendung der Richtlinien, welche die Kommission auf Grund des Artikels 6 Absatz 2 lit. e erlassen hatte, gegebenenfalls Tarife und Anwendungsbedingungen für die Benutzergebühren fest, zu deren Erhebung die Eurocontrol berechtigt war. Sie bedurften der Genehmigung durch die Kommission 84 . Die Eurocontrol sollte aufgrund dessen kraft eigener Hoheitsgewalt für die Benutzung der von ihr unterhaltenen Flugsicherungsdienste im oberen Luftraum Gebühren erheben können85. Ferner sollte es ihr gemäß Artikel 1 der zwi77

Artikel 1 Abs. 1 der Neufassung des Übereinkommens.

78

Artikel 1 Abs. 2 der Neufassung des Übereinkommens.

79

BVerfGE 58, S. 1,31 ff.

80

BVerwGE 54, S. 291 ff.

81

Zustimmend Grämlich, ZLW 1979, S. 191 ff.; Schwenk, ZLW 1975, S. 17.

82

Schwenk, ZLW 1975, S. 17.

83

Artikel 6 Abs. 2 lit. e ECV.

84

Artikel 20 ECV.

85

Infolgedessen formuliert Art. 2 des Zustimmungsgesetzes, daß die nach Artikel 20 ECV festgesetzten Gebühren „bekanntzumachen" sind, und führt in § 1 der Verordnung über die Erhebung von Gebühren für die Inanspruchnahme von Diensten und Einrichtungen der Flugsicherung vom 27.10.1971, BGBl. 1971 II S. 1153 aus: „Bei der Benutzung des oberen Luftraums der Bundesrepublik Deutschland werden von Eurocontrol für die Inanspruchnahme von Diensten und Einrichtungen der Flugsicherung Gebühren erhoben/'

I. Übertragung von Hoheitsrechten

33

sehen den Mitgliedstaaten abgeschlossenen „Mehrseitigen Vereinbarung über die Erhebung von Streckennavigationsgebühren" vom 8. September 1970 86 und Artikel 1 des „Zweiseitigen Abkommens über die Erhebung von Streckennavigationsgebühren" zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Eurocontrol vom 8. September 1970 87 nach dem in der Bundesrepublik Deutschland für den unteren Luftraum geltenden Gebührenrecht obliegen, Benutzungsgebühren im Einzelfall festzusetzen und einzuziehen. Dieser Ansicht wurde in der Literatur massiv widersprochen. Die Eurocontrol besitze keine eigene Hoheitsgewalt, da dem Wortlaut der Artikel 6 Absatz 2 lit. e und Artikel 20 ECV nicht entnommen werden könne, daß die Tarife für den einzelnen Luftverkehrsteilnehmer ohne dazwischengeschalteten staatlichen Hoheitsakt der Vertragsstaaten verbindlich seien88. Artikel 8 Absatz 2 Satz 2 ECV spreche ausdrücklich davon, daß Beschlüsse der Kommission für die Vertragsparteien bindend seien. Da somit nicht der einzelne Luftverkehrsteilnehmer, sondern die Vertragsstaaten die Adressaten der Beschlüsse seien, könne eine Durchgriffswirkung der Beschlüsse gemäß Artikel 8 Absatz 1 Satz 2 EGV nicht angenommen werden. Dem konnte aber entgegengehalten werden, daß es sich bei Handlungen und Maßnahmen nach Artikel 6 Absatz 2 lit. e ECV, also bei der Festlegung von Gebührentarifen, nicht um einen Beschluß nach Artikel 8 Absatz 2 ECV, sondern vielmehr um eine Richtlinie nach Artikel 8 Absatz 3 ECV handelte89. Als Adressaten werden die Mitgliedstaaten jedoch nur für die in Artikel 8 Absatz 2 geregelten Beschlüsse ausdrücklich benannt. Die so streitig diskutierte Rechtslage hat sich jedoch durch das Protokoll zur Änderung des Internationalen Übereinkommens über Zusammenarbeit zur Sicherung der Luftfahrt 90 und die Änderung der Mehrseitigen Vereinbarung über Flugsicherungs-Streckengebühren 91 geändert. Aufgrund dieser Änderungen ergibt sich nunmehr, daß Hoheitsrechte im Bereich der Gebührenfestsetzung, -erhebung und -einziehung nicht auf Eurocontrol übertragen worden sind. Artikel 2 Absatz 1 lit. 1 des geänderten Übereinkommens legt fest, daß Eurocontrol gemäß der Mehrseitigen Vereinbarung über Flugsicherungs-Streckengebühren 86

BGBl. 1971 IIS. 1153.

87

BGBl. 1971 IIS. 1158.

88

Rojahn, Artikel 24, Rn. 36, in: von Münch/Kunig (Hrsg.), Kommentar zum GG; Tomuschat, Artikel 24, Rn. 112, in: BK. 89

Artikel 7 lit. c ECV.

90

Protokoll vom 12.02.1981, in Kraft seit dem 01.01.1986, BGBl. 1984 II S. 97.

91

Vereinbarung vom 12.02.1981, in Kraft seit dem 01.01.1986, BGBl. 1984 II

S. 109. 3 Uhrig

34

Α. Hoheitsrechtsübertragungen nach dem GG

zur Festlegung und Einziehung der den Benutzern der Flugsicherungsdienste auferlegten Gebühren nur im Auftrag der Vertragsstaaten und der an der Vereinbarung beteiligten Drittstaaten tätig wird. Die Flugsicherungs-Streckengebühren selbst werden durch die Vertragsstaaten festgelegt. Nach Artikel 3 Absatz 2 lit. e der Mehrseitigen Vereinbarung ist es Aufgabe der Erweiterten Kommission, die Anwendungsbedingungen des Systems einschließlich der Zahlungsbedingungen, Gebührensätze, Tarife sowie deren Erhebungszeiträume festzulegen. Artikel 1 Absatz 2 der Mehrseitigen Vereinbarung regelt ausdrücklich, daß die Vertragsstaaten vereinbaren, ein gemeinsames System zur Festlegung und Einziehung von Flugsicherungs-Streckengebühren zu schaffen und dafür die Dienste der Eurocontrol in Anspruch zu nehmen. Auch hinsichtlich der Festlegung und Beitreibung im Einzelfall sind Eurocontrol keine Hoheitsrechte übertragen worden. Dies scheint dem Wortlaut der Mehrseitigen Vereinbarung zwar zu widersprechen, denn gemäß dessen Artikel 7 und Artikel 8 Satz 1 legt die Eurocontrol die Flugsicherungsstreckengebühren fest, die für jeden Flug in dem in Artikel 1 genannten Luftraum geschuldet werden und zieht zudem diese Gebühren ein. Die Regelung des Einzugsverfahrens macht deutlich, daß damit keine Durchgriffsbefugnisse, also keine rechtsgestaltenden, befehlenden oder feststellenden Wirkungen verbunden sind 92 . Für den Fall, daß ein Schuldner nicht zahlt und der geschuldete Betrag zwangsweise eingezogen werden muß, bestimmt Artikel 12 der Mehrseitigen Vereinbarung, daß die Einziehung entweder durch die nationalen Gerichte oder auf dem Verwaltungsweg durchgeführt werden muß und daß jeder Vertragsstaat der Eurocontrol die bei ihm anzuwendenden Verfahren sowie die zuständigen Gerichte oder Verwaltungsbehörden mitteilt 93 . Die von der Eurocontrol geltend gemachte Forderung ist also kein vollstreckbarer Titel 94 . Erst die Entscheidungen der nationalen Verwaltungsbehörden und Gerichte sind gemäß Artikel 15 der Mehrseitigen Vereinbarung Vollstreckungstitel. Dies hat zur Folge, daß dem Schuldner stets nur die nationale Staatsgewalt entgegentritt 95. Die von Eurocontrol ausgestellte Rechnung für die Inanspruchnahme der Leistungen der Flugsicherung ist folglich lediglich die Aufforderung an

92

Tomuschat, Artikel 24, Rn. 112 c, in: BK; Randelzhofer, Artikel 24 Abs. 1, Rn. 180, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz (Hrsg.), Kommentar zum GG; a.A. Griller, S. 201. 93

Artikel 12 Abs. 2 und 3 der Mehrseitigen Vereinbarung.

94

Randelzhofer, Artikel 1 Abs. 1, Rn. 180, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz (Hrsg.), Kommentar zum GG. 95 Gemäß Artikel 3 des Zustimmungsgesetzes vom 02.02.1984, BGBl. 1984 II S. 69, erläßt in Deutschland die Bundesanstalt für Flugsicherung die entsprechenden Leistungsbescheide.

I. Übertragung von Hoheitsrechten

35

den Luftfahrtteilnehmer, die kraft nationalen Rechts entstandene Gebührenforderung zu begleichen96. Die der Eurocontrol ursprünglich übertragenen Hoheitsrechte im Hinblick auf die Kontrolle des Luftraums, wonach die Agentur ermächtigt war, den Luftfahrzeugführern alle erforderlichen Weisungen zu erteilen 97, wurde infolge der Änderungen des Eurocontrol-Übereinkommens zurückgenommen. Die Flugverkehrskontrolle wird nunmehr grundsätzlich wieder durch die Vertragsstaaten selbst wahrgenommen, während die Eurocontrol darauf beschränkt ist, die in nationaler Verantwortung betriebene Flugsicherung zu koordinieren 98. Sie kann jedoch auf Antrag eines oder mehrerer Vertragsstaaten mit der Bereitstellung und dem Betrieb der Gesamtheit oder eines Teils der Flugsicherungseinrichtungen und -dienste betraut werden 99. In diesen Fällen erteilt die Agentur den Luftfahrzeugführern alle erforderlichen Weisungen. Diese sind, abgesehen von den Fällen höherer Gewalt, für die Luftfahrzeugführer verbindlich 100. Eine derartige Vereinbarung haben Deutschland, Belgien, Luxemburg und die Niederlande am 25. November 1986 geschlossen101. Zwar nimmt Eurocontrol nach Artikel 2 Absatz 2 lit. b des geänderten Abkommens die Flugsicherungsaufgaben „im Auftrag" der beteiligten Vertragsparteien wahr, und jede Vertragspartei behält hinsichtlich ihres Luftraums ihre Zuständigkeit und Verpflichtungen hinsichtlich der Beziehungen zu den Luftraumbenutzern 102. Die einzelnen Luftfahrtunternehmer sind jedoch aufgrund Artikel 16 Satz 2 der Neufassung des Übereinkommens verpflichtet, die Weisungen der Eurocontrol zu befolgen, so daß für den einzelnen Luftfahrtunternehmer durch eine Weisung von Eurocontrol eine unmittelbare Verpflichtung begründet wird. Infolge dieser Durchgriffswirkung sind Eurocontrol in bezug auf die Kontrolle des Luftraums Hoheitsrechte übertragen worden. Diese regional begrenzte Regelungsbefugnis 96

Die Benutzung des deutschen Luftraums ist gemäß § 1 der FlugsicherungsStreckengebührenverordnung vom 14.04.1984, BGBl. 1984 II S. 629 i.d.F. vom 10.09.1986, BGBl. 1986 II S. 1524, unter den dort genannten Bedingungen gebührenpflichtig. 97

Artikel 18 ECV. Abgesehen von Fällen höherer Gewalt hatten die Luftfahrzeugfuhrer diese Weisungen zu beachten. 98

Artikel 2 der Neufassung des Übereinkommens.

99

Artikel 2 Abs. 2 lit. b der Neufassung des Übereinkommens.

100

Artikel 16 der Neufassung des Übereinkommens.

101

Vereinbarung über die Bereitstellung und den Betrieb von Flugsicherungseinrichtungen und -diensten durch Eurocontrol in der Bezirkskontrollzentrale Maastricht, BGBl. 1989 II 667. Sie trat am 01.01.1990 in Kraft, BGBl. II 1990 S. 104. 102

Artikel 1 Abs. 2 der Vereinbarung über die Bereitstellung und den Betrieb von Flugsicherungseinrichtungen. 3*

36

Α. Hoheitsrechtsübertragungen nach dem GG

bildet allerdings den einzigen Bereich, in dem die Vertragsstaaten Hoheitsrechte auf Eurocontrol übertragen haben.

e) Europäische Gemeinschaft Die bisher umfangreichste Übertragung von Hoheitsrechten hat zugunsten der vor der Gründung der Europäischen Union bestehenden Europäischen Gemeinschaft stattgefunden. Die drei Europäischen Gemeinschaften, die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) 1 0 3 , die Europäischen Atomgemeinschaft (Euratom) 104 und die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft ( E W G ) 1 0 5 , wurden durch das Abkommen über gemeinsame Organe für die Europäischen Gemeinschaften 106 und durch den Vertrag zur Einsetzung eines gemeinsamen Rates 107 und einer gemeinsamen Kommission hinsichtlich ihrer Organe vereinheitlicht 108 . Im Bereich der Rechtsprechung verfügte die Europäischen Gemeinschaft über eine eigene Gerichtsbarkeit, die durch den Europäischen Gerichtshof (EuGH) sowie durch das ihm beigeordnete Gericht erster Instanz 109 wahrgenommen

103

Vertrag vom 18.04.1951 i.V.m. mit dem Vertrag vom 29.04.1952, BGBl. 1952 II

S. 445. 104

Vertrag vom 25.03.1957, BGBl. 1957 II S. 1014 ff.

105

Vertrag vom 25.03.1957, BGBl. 1957 II S. 766 ff.

106

Vertrag vom 25.03.1957, BGBl. 1957 II S. 1156 ff.

107

Vertrag vom 08.04.1965, BGBl. 1965 II S. 1454 ff.

108

So auch das Europäische Parlament in einer Entschließung vom 13.03.1978, ABl. 1978 C 63 S. 36, das in dieser Entschließung die anderen EG-Institutionen und die Mitgliedstaaten aufgefordert hat, im Bewußtsein der Wechselwirkung zwischen den drei Verträgen und in der Erwägung, daß der Bürger der Gemeinschaft in ihrem Alltag die drei Europäischen Gemeinschaften als ein Ganzes ansieht, den Begriff „Europäische Gemeinschaft" im Singular als Sammelbezeichnung so weit wie möglich zu verwenden. 109

Der Rat hat dem EuGH das Gericht erster Instanz beigeordnet, ABl. 1988 L 319 S. 1. Dessen Zuständigkeit erstreckte sich zunächst auf Klagen von Bediensteten gegen die Organe der Gemeinschaften, im Bereich des EGKS-Vertrages auf bestimmte Arten von Klagen von Unternehmen und Verbänden und im Bereich des EWGV auf Klagen natürlicher und juristischer Personen auf dem Gebiet des Wettbewerbsrechts, Artikel 3 Abs. 1 des Ratsbeschlusses. Daneben bestand eine Zuständigkeit für Schadensersatzklagen, die mit den genannten Bereichen in sachlichem Zusammenhang stehen, Artikel 3 Abs. 2 des Ratsbeschlusses. Aufgrund des Ratsbeschlusses vom 08.06.1993, ABl. 1993 Nr. L 144 S. 21, wurden seine Zuständigkeiten insbesondere auf den Gebieten Nichtigkeits- und Untätigkeitsklagen gemäß Artikel 173 Abs. 2, 175 Abs. 2 EGV, Schiedsklagen gemäß Artikel 181 EGV sowie im Bereich des einstweiligen Rechtsschutzes mit Wirkung

I. Übertragung von Hoheitsrechten

37

wird. Dem EuGH obliegt die Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung der Verträge 110 . Die Urteile des EuGH und des Gerichts erster Instanz haben unmittelbare Wirkung gegenüber den Mitgliedstaaten sowie Privatpersonen und Unternehmen 111. Aufgrund dieser Durchgriffswirkung der Urteile des EuGH und des Gerichts erster Instanz entsteht gegenüber Einzelpersonen und Mitgliedstaaten eine unmittelbare Bindungswirkung 112. Hoheitsrechte sind der Europäischen Gemeinschaft auch im Bereich der Rechtsetzung übertragen worden: Die Europäische Gemeinschaft besitzt die Kompetenz, Rechtsakte zu erlassen, die in den Mitgliedstaaten unmittelbar und mit Vorrang vor innerstaatlichem Recht gegenüber den Mitgliedstaaten und den staatlichen Organen sowie gegenüber natürlichen und juristischen Personen rechtliche Bindungen entfalten 113. Sie entfalten diese Wirkung in unterschiedlichem Umfang. Die Rechtsakte sind etwa für die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft, die nunmehr die neue Bezeichnung Europäische Gemeinschaft trägt 114 , in Artikel 189 EG-Vertrag (EGV) abschließend aufgelistet: Zur Erfüllung ihrer Aufgaben und nach Maßgabe dieses Vertrages erlassen der Rat und die Kommission Verordnungen, Richtlinien und Entscheidungen, sprechen Empfehlungen aus und geben Stellungnahmen a b 1 1 5 .

zum 01.08.1993 erweitert, hierzu Niemeyer, EuZW 1993, S. 529 f.; Brandt, JuS 1994, S. 300 ff. 110

Artikel 164 EGV; Artikel 31 EGKSV; Artikel 136 EAGV.

111

Rojahn, Artikel 24, Rn. 37, in: von Münch/Kunig (Hrsg.), Kommentar zum GG; Brandt, JuS 1994, S. 303 f. 112

Oppermann, DVB1. 1994, S. 902 f., unterteilt die Aufgabenfelder des EuGH grundsätzlich in die eines Verfassungsgerichts der EG und die zur Gewährleistung individuellen Rechtsschutzes. Brandt, JuS 1994, S. 305, unterteilt die Aufgaben des EuGH in vier Kategorien, nämlich erstens die eines Verfassungsgerichts, zweitens die eines Verwaltungsgericht, drittens die eines amtlichen Interpretationsorgans und viertens die eines Zivilgerichts in Fällen der Entscheidung der Haftung der Gemeinschaft im Rahmen von Schadensersatzklagen. 113 EuGH 05.02.1963 - N.V. Allgemene Transport en Expeditie Onderneming van Gend & Loos/Niederländische Finanzverwaltung, Rs. 26/62 - Slg. 1963, S. 3, 24 f. Statt vieler Oppermann, Europarecht, Rn. 525 ff. 114 115

Artikel G EUV; Artikel 1 EGV.

Artikel 189 Unterabsatz 1 EGV. Empfehlungen und Stellungnahmen sind gegenüber dem Einzelnen unverbindlich. Während Empfehlungen dem Adressaten ein bestimmtes Verhalten nahelegen, ohne ihn zu binden, enthalten Stellungnahmen häufig Meinungsäußerungen zu fremder Initiative, Ipsen, H. P., Gemeinschaftsrecht, S. 460.

38

Α. Hoheitsrechtsübertragungen nach dem GG

Verordnungen sind Rechtsnormen im materiellen Sinn 1 1 6 , d.h., sie treffen abstrakte und generelle Regelungen. Sie haben allgemeine Geltung, sind in allen ihren Teilen verbindlich und gelten unmittelbar in jedem Mitgliedstaat117. Verordnungen gelten somit unmittelbar aufgrund ihres Erlasses 118, d.h. sie bedürfen weder eines nationalen Umsetzungsaktes119 noch einer Bekanntgabe durch den nationalen Gesetzgeber 120. Kraft ihrer unmittelbaren Wirkung können sie Rechte und Pflichten zugunsten oder zu Lasten von Einzelpersonen begründen. Auch Entscheidungen haben wie die Verordnung unmittelbare Geltung gegenüber denjenigen, die sie betreffen 121. Sie regeln konkrete Einzelfälle und sind in allen ihren Teilen für diejenigen verbindlich, die sie bezeichnen122. Entscheidungen i.S. des Artikels 189 Unterabsatz 4 EG-Vertrag sind erkennbar dazu bestimmt, ihren Adressaten Rechte zu gewähren oder Pflichten aufzuerlegen 1 2 3 , sie gehen also über das Aufstellen einer allgemeinen Regel hinaus 124 . Des weiteren steht der Europäischen Gemeinschaft die Rechtsaktform der Richtlinie zur Verfugung. Die Richtlinien sind für jeden Mitgliedstaat, an den sie gerichtet werden, hinsichtlich des zu erreichenden Ziels verbindlich, überlassen jedoch den innerstaatlichen Stellen die Wahl der Form und der Mittel 1 2 5 . Dem Wortlaut des Artikels 189 Unterabsatz 3 EG-Vertrag entsprechend, der allein die Mitgliedstaaten als Adressaten benennt, wurde der Richtlinie ursprünglich keine unmittelbare Wirkung gegenüber Einzelpersonen und damit keine Durchgriffs-

116 Rojahn, Artikel 24, Rn. 37, in: von Münch/Kunig (Hrsg.), Kommentar zum GG; Schweitzer, S. 97. 117

Artikel 189 Unterabsatz 2 EGV.

118

Seit EuGH 14.10.1971 - Politi/Finanzministerium der Italienischen Republik, Rs. 43/71 - Slg. 1971, S. 1039, 1049 ständige Rechtsprechung. 119

EuGH 31.01.1978 - Zerbone/Amministrazione delle Finanze dello Stato, Rs. 94/77-Slg. 1978, S. 99, 115. 120

So im Ergebnis auch EuGH 07.11.1972 - Belgien/Cobelex, Rs. 20/72 - Slg. 1972, S. 1055, 1061 f.; EuGH 31.01.1978 - Zerbone/Amministrazione delle Finanze dello Stato, Rs. 94/77 - Slg. 1978, S. 99, 115. 121

Daig/Schmidt, Artikel 189, Rn. 45, in: von der Groeben/Thiesing/Ehlermann (Hrsg.), Kommentar zum EWGV. 122

Artikel 189 Unterabsatz 4 EGV.

123

EuGH 05.12.1963 - Usines Emile Henricot u.a./Hohe Behörde, Rs. 23, 24 und 52/63 - Slg. 1963, S. 467, 484. 124

EuGH 22.03.1961 - SNUPAT/Hohe Behörde, Rs. 42 und 49/59 - Slg. 1961, S. 105, 154. 125

Artikel 189 Unterabsatz 3 EGV.

I. Übertragung von Hoheitsrechten

39

Wirkung zugesprochen126. Unter bestimmten Voraussetzungen spricht der EuGH ihr diese unmittelbare Wirkung nunmehr jedoch zu: Einzelpersonen können sich in Ermangelung vonfristgemäß erlassenen Umsetzungsmaßnahmen auf Bestimmungen einer Richtlinie, die inhaltlich als unbedingt und hinreichend genau erscheinen, gegenüber allen innerstaatlichen, nicht richtlinienkonformen Vorschriften berufen. Dies gilt auch in den Fällen, in denen eine Richtlinie Rechte festlegt, die dem Staat gegenüber geltend gemacht werden können 127 . Richtlinien entfalten demnach dann eine unmittelbare Wirkung zugunsten einzelner, wenn die in der Richtlinie genannte Frist abgelaufen ist, ohne daß der Mitgliedstaat die Richtlinie in nationales Recht umgesetzt hat, wenn die Richtlinie die Absicht verfolgt, den einzelnen zu begünstigen und wenn die Richtlinie so hinreichend genau formuliert ist, daß der einzelne daraus unmittelbar Rechte ableiten k a n n 1 2 8 , 1 2 9 . Damit stehen den Organen der Europäischen Gemeinschaft unterschiedliche Handlungsformen zur Verfügung, die die Mitgliedstaaten, aber auch Einzelpersonen und Unternehmen berechtigen oder verpflichten können. Aufgrund dieser Möglichkeit zu legislativem Handeln, die durch eine eigene Rechtsprechungskompetenz ergänzt wird, verfügt die Europäische Gemeinschaft über Hoheitsrechte in erheblichem Umfang.

126

Baur, JA 1992, S. 67.

127

EuGH 17.12.1970 - S.A.C.E./Finanzministerium der Italienischen Republik, Rs. 33/70 - Slg. 1970, 1213, 1223 f.; EuGH 19.01.1982 - Becker/Finanzamt MünsterInnenstadt, Rs. 8/81 - Slg. 1982, S. 53, 70 ff. Mogele, BayVBl. 1989, S. 582 f.; Geiger, Artikel 189, Rn. 15 ff., in: Kommentar zum EGV. 128 So h.M., Schweitzer, S. 99; Schweitzer/Hummer, S: 107; Jarass, NJW 1991, S. 2665 ff; Oppermann, Europarecht, Rn. 466; Huber, S. 116; Daig/Schmidt, Artikel 189, Rn. 41, in: von der Groeben/Thiesing/Ehlermann (Hrsg.), Kommentar zum EWGV. Anders Conseil d' Etat, EuR 1979, S. 292 und BFGE 143, S. 383 ff. unter Berufung auf die klaren Wortlaut des EWGV. Das Bundesverfassungsgericht hat die Rechtsprechung des EuGH zur unmittelbaren Anwendung von Richtlinien jedoch für mit dem Zustimmungsgesetz zum EWGV und damit für mit dem Grundgesetz vereinbar erklärt und in der Folge die ablehnende Rechtsprechung des BFH aufgehoben, BVerfGE 75, S. 223, 235 ff. 129 Mögele, BayVBl. 1993, S. 132. Seit EuGH 19.11.1991 - Francovic und Bonifaci/Italienische Republik, verb. Rs. C-6 und C-9/90, Slg. 1991 1-5357 f., kann ein Mitgliedstaat einem Bürger gegenüber schadensersatzpflichtig werden, wenn dieser aufgrund der Nichtumsetzung einer Richtlinie einen Schaden erleidet, auch und gerade wenn die Voraussetzungen für die unmittelbare Wirkung einer Richtlinie nicht vorliegen. Hierzu statt vieler Albers, S. 141 ff.

40

Α. Hoheitsrechtsübertragungen nach dem GG fi NATO

Demgegenüber sieht der Vertrag über die Gründung der N A T O 1 3 0 keine Übertragung von Hoheitsrechten vor. Auch nach dem Beitritt der Bundesrepublik Deutschland zur NATO trifft gemäß Artikel 115 a Absatz 1 GG weiterhin der Bundestag mit Zustimmung des Bundesrates die Feststellung, ob für die Bundesrepublik Deutschland der Verteidigungsfall vorliegt 131 . Insofern ist durch die Mitgliedschaft Deutschlands in der NATO die Entscheidung über „Krieg und Frieden" nicht übertragen worden 132 . So sieht denn auch Artikel 5 Absatz 1 des NATO-Vertrages ausdrücklich vor, daß im Falle eines bewaffneten Angriffs jede der Vertragsparteien der Partei oder den Parteien, die angegriffen werden, Beistand leistet. Jede von ihnen trifft hierzu unverzüglich für sich und im Zusammenwirken mit den anderen Parteien die Maßnahmen, die sie für erforderlich erachtet, um die Sicherheit des nordatlantischen Gebiets wiederherzustellen und zu erhalten. Es ist demnach nicht die NATO, sondern jeder Mitgliedsstaat selbst, der entscheidet, ob er es „für erforderlich erachtet", die Sicherheit des Gebietes der NATO-Mitgliedstaaten mit geeigneten Gegenmaßnahmen wiederherzustellen und zu erhalten. Eine automatische Beistandspflicht besteht nicht 133 . Vielmehr wird die Eigenständigkeit der staatlichen Entscheidung durch Artikel 5 Absatz 1 NATO-Vertrag sogar ausdrücklich gewährleistet 134 . In Friedenszeiten besitzen die Kommandobehörden der NATO keine Durchgriffsbefiignisse gegenüber den ihr zugeteilten deutschen Streitkräften 135. Die Einflußnahme des Obersten Alliierten Befehlshabers Europa ist auf Empfehlungen im Bereich operativer Planung beschränkt 136. Auch wenn in Spannungszeiten bzw. mit dem Beginn von Kampfhandlungen zugeteilte deutsche Streitkräfte

130

Vertrag vom 04.04.1949, BGBl. 1955 II S. 289, dem Deutschland mit Gesetz vom 24.03.1955 beigetreten ist, BGBl. 1955 II S. 256. 131 Ipsen, H. P., Artikel 115 b, Rn. 130 - 160, in: BK. Bei den von der Bundesrepublik Deutschland übernommenen Verpflichtungen handelt es sich ausschließlich um eine völkerrechtliche Vereinbarung, die nicht zwingend innerstaatliche Konsequenzen nach sich ziehen, Herzog, Artikel 115 a, Rn. 24, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz (Hrsg.), Kommentar zum GG; Versteyl, Artikel 115 a, Rn. 11, in: von Münch (Hrsg.), Kommentar zum GG. 132

Rojahn, Artikel 24, Rn. 44, in: von Münch/Kunig (Hrsg.), Kommentar zum GG.

133

TomuschaU Artikel 24, Rn. 113, in: BK.

134

Rauser, S. 181 f.; Rojahn, Artikel 24, Rn. 44, in: von Münch/Kunig (Hrsg.), Kommentar zum GG. 135

lpsen t H. P., Artikel 115 b, Rn. 136 ff., in: BK.

136

Rojahn, Artikel 24, Rn. 44, in: von Münch/Kunig (Hrsg.), Kommentar zum GG.

I. Übertragung von Hoheitsrechten

41

der operativen Führung der alliierten Kommandogewalt und damit deren Weisungsgewalt unterstellt werden, ist hierin keine Übertragung von Hoheitsrechten zu sehen. Die Beschränkung der Befehls- und Kommandogewalt des Bundeskanzlers kann nämlich jederzeit dadurch rückgängig gemacht werden, daß die Zuteilung der Streitkräfte durch einen einseitigen Akt der Bundesregierung zurückgenommen wird 1 3 7 , denn es besteht keine rechtliche Verpflichtung, die Bundeswehr jederzeit zur Verfügung der NATO zu halten 138 . Im Hinblick auf die Befehlsgewalt über die zugeteilten Truppen fehlt es somit an ausreichender Dauer und Festigkeit, die für die Übertragung von Hoheitsrechten charakteristisch sind 139 . Auch die Erlaubnis zur Aufstellung bestimmter Waffensysteme der NATO auf dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland stellt unter dem für die Übertragung von Hoheitsrechten grundsätzlich charakteristischen Aspekt des Durchgriffseffektes keine Übertragung von Hoheitsrechten dar, da allein dadurch weder die Gebiets- noch die Personalhoheit der staatlichen Hoheitsträger beschränkt wird 1 4 0 . Wenn allerdings mit der Stationierungsentscheidung von Waffensystemen auch das Entscheidungsrecht über ihren Einsatz untrennbar verbunden ist, kommt die Zustimmung einer Übertragung von Hoheitsrechten gleich. Ein solcher Fall lag bei der Stationierung nuklear bestückter Raketen der Bauart Pershing-2-Marschflugkörper vor. Aufgrund des Beschlusses der Außenund Verteidigungsminister der NATO-Staaten vom 12. Dezember 1979 1 4 1 gestattete Deutschland dem NATO-Bündnispartner Vereinigte Staaten von Amerika die Aufstellung solcher Waffen. Infolge der ebenfalls beschlossenen Richtlinien oblag es dem Präsidenten der Vereinigten Staaten, den Befehl zum Einsatz der Marschflugkörper zu erteilen. Die Richtlinien sahen vor, daß die Bündnispartner vor einem Einsatz grundsätzlich konsultiert werden sollten. Diese Konsultationspflicht entfiel jedoch in Fällen der Notwendigkeit eines Überraschungsangriffs bzw. der Notwendigkeit schnellsten Handelns. Mit der Zustimmung zu dieser Gesamtregelung hat die Bundesrepublik ein vordem tatsächlich gegebenes sowie rechtlich mögliches ausschließliches Herrschaftsrecht zugunsten fremder Hoheitsgewalt zurückgenommen142. Folge der Zustimmung

137

So ausdrücklich Ipsen, Knut, JöR 21 (1972), S. 51; Rojahn, Artikel 24, Rn. 44, in: von Münch/Kunig (Hrsg.), Kommentar zum GG. 138

Tomuschat, Artikel 24, Rn. 113, in: BK.

139

Siehe oben S. 22 f.

140

BVerfGE 68, S. 1,90 f.

141

Bulletin der Bundesregierung 1979, S. 1409 f.

142

BVerfGE 68, S. 1,90.

Α. Hoheitsrechtsübertragungen nach dem GG

42

war es, daß die Einsatzfreigabe für Waffen, die auf dem Gebiet Deutschlands stationiert sind, nicht bzw. nicht mehr allein durch die deutsche Staatsgewalt bestimmt wird. Zwar entfaltet dies keine unmittelbare Rechtswirkung auf den einzelnen oder die staatlichen Hoheitsträger. Die Zustimmungsentscheidung zu der Stationierung ist jedoch Rechtsgrundlage und unerläßliche Voraussetzung dafür, daß eine solche Einsatzfreigabe nunmehr durch einen Träger fremder Hoheitsgewalt getroffen werden kann. Da durch eine Freigabeentscheidung faktische Grundrechtsbeeinträchtigungen zu erwarten sind 143 , handelt es sich bei dem schlicht-hoheitlichen Handeln der Entscheidung über eine Einsatzfreigabe um die Inanspruchnahme von Hoheitsrechten144. Insofern hat die Bundesrepublik Deutschland mit der Zustimmungserklärung zur Stationierung von Pershing2-Marschflugkörpern Hoheitsrechte auf die NATO übertragen.

g) Europäische Menschenrechtskonvention Durch den Beitritt Deutschlands zur Europäischen Menschenrechtskonvention ( E M R K ) 1 4 5 sind hingegen keine Hoheitsrechte übertragen worden. Die EMRK enthält Freiheits- und Teilhaberechte sowie Verfahrensgarantien 1 4 6 . Deren Einhaltung wird durch die Europäische Kommission und den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte überwacht, bei denen es sich um von nationalen Organen unabhängige Organe mit eigenen Entscheidungsbefugnissen handelt 147 . Die beteiligten Vertragsstaaten sowie die Menschenrechtskommission können den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte anrufen 148. Natürliche Personen, nichtstaatliche Organisationen oder Personen-

143

Im Fall eines Waffeneinsatzes der NATO wäre der Waffeneinsatz des angegriffenen Staates zu erwarten, in dessen Folge die Grundrechte auf Leben und körperliche Unversehrtheit der Bürger der Bundesrepublik Deutschland akut bedroht und aller Voraussicht nach verletzt würden. 144

So auch Klein, Artikel 23, Rn. 3 b, in: Schmidt-Bleibtreu/Klein, Kommentar zum

GG. 145

Konvention vom 04.11.1950, in Deutschland verkündet am 07.08.1952, in Kraft getreten am 03.09.1953, BGBl. 1954 II S. 1. 146

Simson/Schwarze,

147

S. 21.

Oppermann. Europarecht, Rn. 70 ff; Simson/Schwarze, parecht, S. 11. 148

Artikel 48 EMRK.

S. 21; Herdegen, Euro-

I. Übertragung von Hoheitsrechten

43

Vereinigungen können die Kommission befassen, wenn sie sich nach Erschöpfung des innerstaatlichen Rechtsmittelverfahrens durch eine Verletzung der in der Konvention anerkannten Rechte beschwert fühlen 149 . Hat eine Beschwerde Erfolg, so wird der Verstoß gegen eine völkerrechtliche Verpflichtung festgestellt 150 . Eine direkte innerstaatliche Wirkung zugunsten des Verletzten tritt durch diese Entscheidung aber nicht ein 1 5 1 . Die Entscheidungen der Kommission, die gegen einen Mitgliedstaat ergehen, sind nicht darauf gerichtet, die innerstaatlichen Rechtsakte unmittelbar abzuändern oder aufzuheben 152. Gleiches gilt für die Entscheidungen des Gerichtshofs. Die Konventionsorgane153 können die Unvereinbarkeit einer staatlichen Maßnahme mit der EMRK feststellen 154, doch führt dies nicht zur Aufhebung, Änderung oder Nichtigkeit des innerstaatlichen Rechtsaktes155. Vielmehr übernehmen die Vertragsparteien nach Artikel 53

149

Artikel 25 f. EMRK. Die Individualbeschwerde setzt allerdings eine entsprechende Unterwerflingserklärung seitens des Mitgliedstaates voraus. Derzeit haben alle Konventionsstaaten eine, teilweise befristete, Unterwerfungserklärung abgegeben, Herdegen, Europarecht, S. 13. 150

Artikel 31, 32 EMRK.

151

Lediglich nach Artikel 50 EMRK ist eine „gerechte Entschädigung" für den Fall zu gewähren, daß nach innerstaatlichem Recht nur eine unvollkommene Wiedergutmachung gewährt werden würde. 152

Vgl. Artikel 30 ff. EMRK. Zum Verfahren vor der Europäischen Kommission Schellenberg, S. 78 ff., der auf S. 119 zu dem Schluß kommt: (...) Denn die Frage einer Verletzung der MRK beantwortet die Kommission nur in Form und mit der Wirkung einer Stellungnahme, welche in keiner Weise bindenden, sondern allenfalls empfehlenden Charakter hat. 153 Zu Reformvorschlägen insbesondere im Bereich der Zuständigkeiten der Kommission und des Gerichtshofs Peukert, EuGRZ 1993, S. 173 ff. Durch das 11. Protokoll zur EMRK, BGBl. 1995 II S. 578, soll eine grundlegende Neugestaltung des Rechtsschutzsystems erreicht werden. Das Protokoll sieht vor, daß Kommission und Gerichtshof zu einem einheitlichen Organ, dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, verschmelzen, der wegen der Verletzung von Konventionsrechten auch von Einzelpersonen unmittelbar angerufen werden kann. Die bisherige Vorprüfung durch die Kommission entfiele. Dieses Protokoll tritt jedoch erst in Kraft, wenn es von allen Mitgliedstaaten der EMRK ratifiziert worden ist. 154 155

Artikel 50 EMRK.

Auch die Unterwerfung eines Staates unter die Individualbeschwerde nach Artikel 25 EMRK ändert hieran nichts. Die Abgabe einer diesbezüglichen Erklärung erweitert lediglich den Personenkreis, dem Zugang zu einem völkerrechtlichen Streiterledigungsverfahren eröffnet wird, hierzu auch Partsch, ZaöRV 1956/57, S. 100 in Fn. 27; Peukert, Artikel 50, Rn. 1; in: Frowein/Peukert.

44

Α. Hoheitsrechtsübertragungen nach dem GG

EMRK lediglich die Verpflichtung, sich in allen Fällen, an denen sie beteiligt sind, nach den Entscheidungen des Gerichtshofs zu richten. Damit unterwerfen sich die Mitgliedstaaten der EMRK zwar den Entscheidungen der Konventionsorgane, es sind und bleiben aber die Mitgliedstaaten selbst, die innerstaatliche Hoheitsakte entsprechend der Entscheidung der Konventionsorgane ändern oder zurücknehmen. Die Einräumung von Hoheitsrechten auf seiten der Konventionsorgane durch die Möglichkeit zur unmittelbaren Ausübung fremder Hoheitsgewalt ist damit nicht verbunden.

4. Ergebnis Die Hoheitsgewalt eines Staates ist innerhalb seines Staatsgebietes umfassend und umfaßt alle Bereiche öffentlicher Gewalt. Diese einheitliche Hoheitsgewalt gliedert sich in Hoheitsrechte, aufgrund derer dem Staat die Befugnis zukommt, Rechtsverhältnisse innerhalb seines Territoriums mit Wirkung für seine Staatsangehörigen einseitig zu begründen, zu gestalten und erforderlichenfalls auch durchzusetzen. Diese Hoheitsrechte kann der Staat auf einen anderen Hoheitsträger übertragen. Eine solche Übertragung erfolgt durch den Verzicht des übertragenden Staates auf die Ausschließlichkeit der Ausübung seiner Hoheitsgewalt auf seinem Territorium und die gleichzeitige Duldung der Ausübung einer fremden Hoheitsgewalt im eigenen Hoheitsgebiet. Die fremde Hoheitsgewalt tritt also in Teilbereichen an die Stelle der bisher durch staatliche Hoheitsträger ausgeübten Gewalt und ist zum Erlaß unmittelbar bindender Rechtsakte gegenüber einzelnen und nationalen Behörden berechtigt. Die Bundesrepublik Deutschland hat bereits in der Vergangenheit von der Möglichkeit der Übertragung von Hoheitsrechten Gebrauch gemacht und im Rahmen ihrer Mitgliedschaft in zahlreichen internationalen Organisationen Hoheitsrechte übertragen. Allerdings hat nicht jede Form der internationalen Zusammenarbeit die Übertragung von Hoheitsrechten zur Folge. So ist etwa die internationale Zusammenarbeit im Bereich des Menschenrechtsschutzes im Rahmen der EMRK für die Bundesrepublik Deutschland nicht mit der Übertragung von Hoheitsrechten verbunden. Dem stehen jedoch andere Formen der internationalen Zusammenarbeit gegenüber, die zur Übertragung von Hoheitsrechten geführt haben, wie etwa die Mannheimer Revidierte Rheinschiffahrtsakte, das Übereinkommen zur Errichtung einer Sicherheitskontrolle auf dem Gebiet der Kernenergie, das Protokoll Nr. IV zur Änderung des Vertrages über die WEU, die Europäische Gemeinschaft und in begrenztem Umfang auch die Eurocontrol und die NATO. Soweit bislang im Rahmen internationaler Zusammenarbeit Hoheitsrechte übertragen worden sind, ist das Ausmaß der Übertragung von Hoheitsrechten sehr unterschiedlich. Ursächlich hierfür ist der unterschiedliche Aufgabenum-

I. Übertragung von Hoheitsrechten

45

fang der internationalen Organisationen. So sind infolge der nur eng begrenzten Aufgaben etwa der Zentralkommission nach der Mannheimer Revidierten Rheinschiffahrtsakte, der Europäischen Kernenergie-Kommission, des Amtes fur Rüstungskontrolle oder der NATO auch nur eng begrenzte Ausschnitte staatlicher Hoheitsgewalt auf die entsprechenden internationalen Organisationen übertragen worden. Dem steht die weitangelegte Aufgabenstellung der Europäischen Gemeinschaft gegenüber, deren Wahrnehmung durch eine umfangreichere Übertragung von Hoheitsrechten von Seiten der Bundesrepublik Deutschland ermöglicht wird. Unterschiedlich sind neben dem Ausmaß der Hoheitsrechtsübertragung aber auch die Bereiche staatlicher Hoheitsgewalt, die auf die internationalen Organisationen übertragen worden sind. Während der weiten Aufgabenstellung der Europäischen Gemeinschaft entsprechend Hoheitsrechte sowohl auf dem Gebiet der Rechtsprechung als auch der Rechtsetzung und der Verwaltung übertragen worden sind, ist die Hoheitsrechtsübertragung zugunsten anderer internationaler Organisationen zumeist lediglich auf einen Teilbereich staatlicher Hoheitsgewalt beschränkt. So besitzt die Zentralkommission für die Rheinschiffahrt anders als die Europäische Gemeinschaft keine Rechtsetzungskompetenz zum Erlaß von Rechtsakten mit unmittelbarem Durchgriffseffekt, sondern lediglich Hoheitsrechte auf dem Gebiet der Rechtsprechung. Die Europäische KernenergieAgentur hat demgegenüber zusätzlich auch Exekutivkompetenzen für die Durchführung von Inspektionen inne. Gleiches gilt für das Amt für Rüstungskontrolle der WEU. Noch begrenzter ist der Umfang der Übertragung von Hoheitsrechten zugunsten der Eurocontrol und der NATO. Die Eurocontrol besitzt nur eine regional begrenzte Kompetenz zur Erteilung von Weisungen an die Luftfahrzeugfuhrer. Die Kompetenz der NATO beschränkt sich ebenfalls auf einen Bereich, nämlich auf die Einsatzentscheidung bezüglich bestimmter Waffensysteme. Angesichts dieses reichen Befundes bestehender Hoheitsrechtsübertragungen in den unterschiedlichen Bereichen internationaler Zusammenarbeit liegt die praktische Bedeutung des Vorgangs der Hoheitsrechtsübertragung ebenso auf der Hand wie die Notwendigkeit rechtlicher und insbesondere verfassungsrechtlicher Regelungen für diesen Vorgang. Insbesondere stellt sich damit die Frage, aufgrund welcher Mechanismen die Übertragung von Hoheitsrechten möglich ist, welche Voraussetzungen das Grundgesetz für eine derartige Übertragung aufstellt und welche Grenzen für die Übertragung von Hoheitsrechten bestehen.

Α. Hoheitsrechtsübertragungen nach dem GG

46

IL Regelungen des Grundgesetzes zur Übertragung von Hoheitsrechten Das Grundgesetz enthält in einem für die deutsche Verfassungsgeschichte einmaligen Ausmaß 156 Bezüge, Hinweise und Regelungen im Zusammenhang mit dem Völkerrecht und der internationalen Ordnung der Staaten157. Diese Bezüge sind in das Grundgesetz als Reaktion auf die Politik der politischen, kulturellen und wirtschaftlichen Abkapselung und der gleichzeitig damit verbundenen ausschließlichen Wahrnehmung nationaler Eigeninteressen durch das nationalsozialistische Regime aufgenommen worden 158 . Die Errichtung eines Nationalstaats, der erneut auf die Geschlossenheit nach außen und auf seine Allzuständigkeit im Inneren bedacht gewesen wäre, erschien nach den vorangegangenen Ereignissen in der Zeit des Nationalsozialismus überholt und als Modell für das künftige Zusammenleben der Völker Europas nicht geeignet159. Die Abkehr vom Staatsbild des Nationalismus drückt den Wunsch aus, mit dem Grundgesetz ein Gegenmodell zur totalitären Diktatur des NS-Staates zu schaffen 1 6 0 . Infolgedessen hat die Bundesrepublik Deutschland sich von der Vorstellung des „geschlossenen", politisch auf sich selbst gestellten Staates abgewandt161. Sie will ihre Existenz nicht in Isolation, sondern in einem kooperativen Verbund mit den Völkern in Europa und der Welt führen 162 . Zahlreiche Artikel des Grundgesetzes betreffen die Einordnung Deutschlands in die internationale Staatengemeinschaft. So regelt Artikel 32 GG die Zuständigkeit des Bundes und der Länder für die Wahrnehmung der auswärtigen Beziehungen. Die Zuständigkeit einzelner Verfassungsorgane des Bundes für völkerrechtliche Handlungen ist in den Artikeln 59, 115 a, 115 b Absatz 3 GG geregelt und das Grundgesetz befaßt sich ausdrücklich mit dem Völkerrecht oder mit Bestandteilen des Völkerrechts: In Artikel 1 Absatz 2 GG bekennt es sich zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der

156 So enthielt die Weimarer Reichsverfassung lediglich einen Artikel, nämlich Artikel 4 WRV, der die allgemein anerkannten Regeln des Völkerrechts zu bindenden Bestandteilen des Reichsrechts erklärte. 157

Rauser, S. 247; Schwarze, 40 Jahre Grundgesetz, S. 210.

158

Vogel S. 10.

159

Moslem HdbStR VII, § 175 Rn. 3; Schede, S. 24.

160

Nawiasky, S. 133; Bleckmann, DÖV 1979, S. 310.

161

Oppermann, 40 Jahre Bundesrepublik, S. 34.

162

TomuschaU HdbStR VII, § 172 Rn. 2.

II. Regelungen des GG

47

Welt. Artikel 9 Absatz 2 GG erklärt Vereinigungen, die sich gegen den Gedanken der Völkerverständigung richten, fur verboten. Zur Wahrung des Friedens kann sich der Bund aufgrund von Artikel 24 Absatz 2 GG einem System gegenseitiger kollektiver Sicherheit einordnen, und er kann aufgrund von Artikel 24 Absatz 3 GG Vereinbarungen über eine allgemeine, umfassende, obligatorische internationale Schiedsgerichtsbarkeit beitreten. Mittels Artikel 25 GG werden die allgemeinen Regeln des Völkerrechts mit Vorrang vor den Gesetzen in die deutsche Rechtsordnung inkorporiert. In Artikel 26 Absatz 1 GG bekennt sich das Grundgesetz zum friedlichen Zusammenleben der Völker und betrachtet Handlungen, die dagegen verstoßen, insbesondere Vorbereitungen zur Führung eines Angriffskrieges, als verfassungswidrig und verlangt deren Bestrafung. Artikel 26 Absatz 2 legt fest, daß zur Kriegführung bestimmte Waffen nur mit Genehmigung der Bundesregierung hergestellt, befördert und in Verkehr gebracht werden dürfen. In Artikel 100 Absatz 2 GG wird das Bundesverfassungsgericht mit der Entscheidungsmöglichkeit darüber betraut, ob eine Regel des Völkerrechts Bestandteil des Bundesrechts ist und ob sie unmittelbar Rechte und Pflichten für den einzelnen erzeugt. Auch im Rahmen des Rechts des äußeren Notstands finden sich in den Artikeln 80 a, 87 a, 115a ff. GG Bezüge zum Völkerrecht 163 . Das Grundgesetz signalisiert damit die Bereitschaft Deutschlands zur Zusammenarbeit mit anderen Staaten sowie zur Einordnung Deutschlands in eine internationale Gemeinschaft gleichberechtigter Staaten164. Die Bereitschaft zur Eingliederung Deutschlands in die internationale Staaten- und Rechtsgemeinschaft ist Ausdruck der völkerrechtsfreundlichen Grundhaltung des Grundgesetzes 1 6 5 und einer das gesamte Grundgesetz prägenden „umfassenden Entscheidung für eine offene Staatlichkeit"166. Die Bundesrepublik Deutschland will bei Fragen und Problemen mit internationalem Bezug unter Aufgabe nationaler Rechtsautarkie aktiv mit anderen Staaten zusammenarbeiten167. In Verwirklichung dieser Zielvorstellungen sieht das Grundgesetz in mehreren Verfassungsbestimmungen unter bestimmten Voraussetzungen die Mög-

163

Vgl. die ausführliche Auflistung bei Stern, Bd. I, S. 475 m.w.N.

164

Vogel, S. 42; Müller, DÖV 1993, S. 106.

165

BVerfGE 6, S. 309, 362; BVerfGE 18, S. 112, 121; BVerfGE 31, S. 58, 75. Isensee, VVDStRL 32 (1974), S. 57; Bernhardt, DÖV 1977, S. 457; Bleckmann, GG und Völkerrecht, S. 298; Silagi, EuGRZ 1980, S. 640 f.; Rojahn, Artikel 24, Rn. 1, in: von Münch/Kunig (Hrsg.), Kommentar zum GG. 166 167

Vogel, SAI.

Stern, Bd. I, S. 476; Isensee, VVDStRL 32 (1974), S. 57; Vitzthum, AöR 115 (1990), S. 283; Oppermann, 40 Jahre Bundesrepublik, S. 33.

48

Α. Hoheitsrechtsübertragungen nach dem GG

lichkeit der Übertragung von Hoheitsrechten vor: Die Präambel bringt das der Verfassung zugrundeliegende Prinzip der offenen Staatlichkeit zum Ausdruck (1.). Artikel 24 Absatz 1 GG enthält die bis 1992 grundlegende Ermächtigung für die Übertragung von Hoheitsrechten, deren Inanspruchnahme die Entwicklung grundlegender und auch für die Übertragung von Hoheitsrechten auf die Europäische Union weiterhin maßgeblicher Grenzen für die Übertragung von Hoheitsrechten zur Folge hatte (2.). Artikel 23 GG enthält nunmehr spezielle Regelungen für die Übertragung von Hoheitsrechten auf eine Europäische Union (3.).

1. Präambel Im Bewußtsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen, von dem Willen beseelt, seine nationale und staatliche Einheit zu wahren und als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen, hat das Deutsche Volk (...) dieses Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland beschlossen. So lauteten die einführenden Worte des 1949 in Kraft getretenen Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland. Damit enthielt bereits die Präambel die in die Zukunft weisende Festlegung, daß der neue deutsche Staat als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt dienen woll e 1 6 8 . Sie brachten den grundsätzlichen Entschluß zum Ausdruck, daß der deutsche Staat sich nach außen öffnen wollte 169 . Die Präambel trifft damit eine grundlegende programmatische Aussage über die Ausrichtung der künftigen deutschen Politik 170 . Diese Grundentscheidung171 wurde bei der Neufassung der Präambel infolge der deutschen Wiedervereinigung 172 erneut bekräftigt 173, so daß auch das vereinte Deutschland seinen Willen zum Ausdruck bringt, als 168

Badura, Staatsrecht, S. 53; ders., FS Redeker, S. 123; Tomuschat, HdbStR VII, § 172 Rn. 4; Doehring, DVB1. 1979, S. 635; Seidel, Deutsche Verfassung, S. 21; Wieland, EJIL 1994, S. 260. 169

Bleckmann,, DÖV 1979, S. 309; von der Groeben, FS Hallstein, S. 226 f.; Müller, S. 53 f.; Magiern, Jura 1994, S. 1. 170

BVerfGE 5, S. 85, 127. Ress, VVDStRL 48 (1990), S. 81; ders., GS Geck,

S. 674. 171

Jarass/Pieroth,

Präambel, Rn. 4, in: GG-Kommentar; Zuleeg, ELRev. 1997,

S. 22. 172

Durch die Wiedervereinigung wurde der Wille nach staatlicher Einheit obsulet, Magiera, Jura 1994, S. 2. 173

Lenz, NJW 1993, S. 1964; ders., FS Helmrich, S. 274; Simson/Schwarze, S. 19; Oppermann/Classen, Aus Politik und Zeitgeschichte 28/1993, S. 11; Fromont, JZ 1995, S. 801.

II. Regelungen des GG

49

gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt dienen zu wollen. Auch das Bundesverfassungsgericht hat diese Bedeutung der Präambel mehrmals hervorgehoben. Der Präambel könne die grundlegende Verfassungsentscheidung für eine internationale Zusammenarbeit entnommen werden 174 , die es dem deutschen Staat erlaube, das Nebeneinander von deutscher und internationaler Rechtsordnung zuzulassen175. Sie hat damit nicht nur politische Bedeutung, sondern auch einen rechtlichen Gehalt 176 . Dies hat das Bundesverfassungsgericht in seinem Maastricht-Urteil erneut bestätigt, indem es an die u.a. in der Präambel angelegte Offenheit für eine internationale, insbesondere eine europäische Integration erinnert hat 1 7 7 . Diese Grundentscheidung darf durch Handlungen der Staatsorgane weder rechtlich behindert noch faktisch unmöglich gemacht werden 178 . Die Wirkung der Präambel geht damit über eine bloße „declaration of policy" 179 hinaus. Sie ist vielmehr verpflichtender Verfassungsauftrag 180. Darüber hinaus stellt sie eine Grundentscheidung für die Integrationsoffenheit der deutschen Verfassungsordnung dar.

2. Artikel 24 Absatz 1 GG Das dem Grundgesetz zugrundeliegende Prinzip der offenen Staatlichkeit bedarf eines Mechanismus, mittels dessen es rechtlich umgesetzt werden kann 181 . Dieser Mechanismus wurde bis zum 21. Dezember 1992 ausschließlich durch Artikel 24 GG bereitgestellt, der in Absatz 1 bestimmte, daß der Bund durch Gesetz Hoheitsrechte auf zwischenstaatliche Einrichtungen übertragen kann. Er wurde 1992 um einen Absatz 1 a GG ergänzt 182 . Soweit die Länder für die Ausübung der staatlichen Befugnisse und die Erfüllung der

174

BVerfGE 18, S. 112, 121; BVerfGE 31, S. 58, 75 ff.; BVerfGE 73, S. 339, 386.

175

Kirchhof

176

BVerfGE 5. S. 85, 127; BVerfGE 36, S. 1, 17.

177

BVerfGE 89. S. 155, 174.

178

BVerfGE 5, S. 85, 127 f.; BVerfGE 36, S. 1, 17.

JZ 1989, S. 453.

179

So aber Grewe, DRZ 1949, S. 315, allerdings unter Zugrundelegung der Voraussetzung, daß die Bundesrepublik Deutschland kein souveräner Staat ist; anders ders., HdbStR III. § 77 Rn. 77; im Ergebnis wohl auch Wolgast, DÖV 1952, S. 32 f. 180

Stern, Bd. I, S. 509; Schwarze, 40 Jahre Grundgesetz, S. 210; Peters, S. 151.

181

Oppermann, 40 Jahre Bundesrepublik, S. 32; Klein, VVDStRL 50 (1991), S. 59; Badura, EuR 1994, Beiheft 1, S. 13. 182

4 Uhrig

BGBl. I 1992 S. 2086.

50

Α. Hoheitsrechtsübertragungen nach dem GG

staatlichen Aufgaben zuständig sind, können sie mit Zustimmung der Bundesregierung Hoheitsrechte auf grenznachbarschaftliehe Einrichtungen übertragen. Die Aufnahme des Artikels 24 Absatz 1 GG in das Grundgesetz beruht auf der dem gesamten Grundgesetz zugrundeliegenden Einsicht, daß das unverbundene Nebeneinander der Nationalstaaten eine Gefahr in sich birgt 183 . Es sollte daher eine Norm in das Grundgesetz aufgenommen werden, deren verfassungspolitische Funktion Carlo Schmid wie folgt umschrieb: „Man sollte eine Bestimmung vorsehen, die es erlaubt, im Wege der Gesetzgebung Hoheitsrechte auf internationale Organisationen zu übertragen, da das deutsche Volk zum mindesten entschlossen ist, aus der nationalstaatlichen Phase seiner Geschichte in die überstaatliche Phase einzutreten. Wir sollten uns selber die Tore in eine neugegliederte überstaatliche politische Welt weit öffnen. Wir wollen uns doch nichts vormachen: in dieser Zeit gibt es kein Problem mehr, das ausschließlich mit nationalen Mitteln gelöst werden könnte." 184 Diese Abkehr von der Idee des geschlossenen Nationalstaates hat den Herrenchiemseer Verfassungskonvent dazu veranlaßt, einen Abschnitt „Völkerrechtliche Verhältnisse des Bundes" für das Grundgesetz vorzusehen 185. Der daraufhin entstandene Artikel 24 Absatz 1 GG sollte die Bundesrepublik Deutschland als ein zur internationalen Öffnung bereites Gemeinwesen prägen 1 8 6 und als verfassungsrechtliches Mandat auf die Herbeiführung dieses Ziels zielen 187 . Indem er sämtliche Staatsorgane verpflichtet, bei ihren Entscheidungen den Gedanken der internationalen Kooperation zu berücksichtigen 1 8 8 , kommt ihm eine über die Schaffung der verfassungsrechtlichen Möglichkeit einer Hoheitsrechtsübertragung hinausgehende Wirkung z u 1 8 9 : Er gewährleistet die Umsetzung der internationalen Option 190 und macht sie zur

183

Zuleeg, Artikel 24, Rn. 1, in: Alternativkommentar zum GG.

184

Stenographische Berichte des Parlamentarischen Rates, 2. Plenarsitzung vom 08.09.1948, S. 15. 185

Entwurf des Herrenchiemsee-Konvents, Darstellender Teil, S. 23.

186

Ipsen, H. P., EuR 1987, S. 198; Ress, VVDStRL 48 (1990), S. 81; Kirchner/Haas, JZ 1993, S. 762; Breuer, NVwZ 1994, S. 417. 187

Stern, Bd. I, S. 520.

188

Peters, S. 151; Welck, S. 11; im Ergebnis auch Doehring, DVB1. 1979, S. 635.

189

Maunz, Artikel 24, Rn. 1, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz (Hrsg.), Kommentar zum GG, Stand Dezember 1989; Ipsen, H. P., Gemeinschaftsrecht, S. 52. 190

Stern, Bd. I, S. 518.

II. Regelungen des GG

51

Staatszielbestimmung191. Artikel 24 Absatz 1 GG stellt damit eine grundsätzliche Ermächtigungsgrundlage für die Übertragung von Hoheitsrechten dar 1 9 2 . Artikel 24 Absatz 1 GG und die durch ihn mögliche Übertragung von Hoheitsrechten ist damit das Instrument 193, der Integrationshebel194, mittels dessen die Grundentscheidung zur internationalen Zusammenarbeit umgesetzt werden kann 195 . Nachfolgend sollen Anwendungsbereich und Reichweite des „Integrationshebels" Artikel 24 Absatz 1 GG näher untersucht werden, die dadurch bestimmt sind, daß die Übertragung von Hoheitsrechten nur auf zwischenstaatliche Einrichtungen erfolgen kann (a), grundsätzlich durch den Bund vorgenommen werden (b) und durch ein Gesetz erfolgen muß (c) und nur innerhalb bestimmter absoluter Grenzen zulässig ist (d). Diese Grenzen gelten nicht nur im Rahmen des Artikels 24 Absatz 1 GG, sondern sie haben wegen der ihnen zukommenden grundlegenden Bedeutung auch Auswirkungen auf die Möglichkeit der Übertragung von Hoheitsrechten auf die Europäische Union.

a) Übertragung auf zwischenstaatliche

Einrichtungen

Dem Wortlaut des Artikels 24 Absatz 1 GG entsprechend darf die Übertragung von Hoheitsrechten ausschließlich auf zwischenstaatliche Einrichtungen erfolgen. Fraglich ist, welche Formen internationaler Zusammenarbeit zwischenstaatliche Einrichtungen i.S. des Artikels 24 Absatz 1 GG darstellen. Der Begriff der zwischenstaatlichen Einrichtung wird im Grundgesetz nicht definiert und außer in Artikel 24 Absatz 1 GG an keiner Stelle des Grundgesetzes verwandt 196 . Eine zwischenstaatliche Einrichtung i.S. des Artikels 24 Ab-

191 BVerflGE 58, S. 1, 41. So auch Mosler, Völkerrecht in der Praxis, S. 9; Tomuschat, Artikel 24, Rn. 5, in: BK: Maunz, Artikel 24, Rn. 1, in: Maunz/Dürig/Herzog/ Scholz (Hrsg.), Kommentar zum GG, Stand Dezember 1989; Ruppert, S. 238 ff.; Vogel, S. 42 f.; Grabitz, AöR 111 (1986), S. 5. 192

Mosler, HdbStR VII, § 175 Rn. 11; Randelzhofer, Artikel 24 Abs. 1, Rn. 12, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz (Hrsg.), Kommentar zum GG; Tomuschat, Artikel 24, Rn. 4, in: BK. 193

Ipsen, H. P., Gemeinschaftsrecht, S. 52; Rojahn, JZ 1979, S. 118; Erler, S. 70.

194

Ipsen, H. P., Gemeinschaftsrecht, S. 58.

195

Simson/Schwarze,

196

S. 19.

Randelzhofer, Artikel 24 Abs. 1, Rn. 43, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz (Hrsg.), Kommentar zum GG; Mosler, HdbStR VII, § 175 Rn. 5; Grotefels, DVB1. 1994, S. 782. 4*

52

Α. Hoheitsrechtsübertragungen nach dem GG

satz 1 GG ist zunächst dadurch gekennzeichnet, daß ein Zusammenschluß vorliegen muß, der aufgrund eines völkerrechtlichen Vertrages durch Vereinbarung zwischen Staaten begründet wird 1 9 7 . Es muß sich also um eine von Staaten getragene Einrichtung handeln 198 . Demzufolge fallen Non-GovernmentalOrganizations, also Vereinigungen Privater aus verschiedenen Staaten199, die sich auf internationaler Ebene zur Erreichung unterschiedlicher Zwecke zusammenschließen, nicht unter diesen Begriff 200 . Diese werden nicht durch völkerrechtlichen Vertrag, sondern in Formen des Privatrechts begründet und erfüllen aufgrunddessen keine hoheitlichen Aufgaben 201 . Daher kommen als zwischenstaatliche Einrichtungen i.S. des Artikels 24 Absatz 1 GG zunächst alle von Staaten durch völkerrechtlichen Vertrag geschaffenen internationalen Organisationen in Betracht 202 . Unmittelbar dem Wortlaut des Artikels 24 Absatz 1 GG läßt sich eine darüber hinaus gehende Einschränkung auf bestimmte Organisation, die als zwischenstaatliche Einrichtung i.S. des Artikels 24 Absatz 1 GG zu charakterisieren sind, nicht entnehmen. Er nennt weder Beispiele, noch listet er Kriterien auf, die die Einordnung einer internationalen Organisation als zwischenstaatliche Einrichtung ausschließen. Auch seine Entstehungsgeschichte ist diesbezüglich wenig hilfreich: Der Parlamentarische Rat hat zwar bei seinen Beratungen einige Beispiele genannt, die unter den Begriff der zwischenstaatlichen Einrichtung fallen sollten. Es handelt sich um internationale Organisationen mit engem, auf die Erledigung technischer Aufgaben beschränktem Kompetenzbereich, so etwa eine internationale Organisation, die den gesamten Kohleabbau in Europa organisieren sollte, eine International Power Agency, durch die die gesamte Lastverteilung von elektrischem Strom ausgeübt werden sollte, oder eine internationale Flugver-

197 Zuleeg, Artikel 24, Rn. 24. in: Alternativkommentar zum GG; Mosler, HdbStR VII. § 175 Rn. 1; ebenso Randelzhofer, Öffentliche Anhörung der Gemeinsamen Verfassungskommission. Stenogr. Bericht vom 22.05.1992, S. 14. 198

Tomuschat. Artikel 24, Rn. 45, in: BK.

199

Seidl-Hohenveldern, Völkerrecht, Rn. 601 b: Seidl-Hohenveldern/LoibL nationale Organisationen, Rn. 103 f.: von Münch, Völkerrecht, S. 26 f.

Inter-

200

Randelzhofer. Artikel 24 Abs. 1, Rn. 44, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz (Hrsg.), Kommentar zum GG; Grotefels, DVB1. 1994, S. 787; Bleckmann, DÖV 1979, S. 313, der die Bereiche Sport, Kultur, Wissenschaft und Religion als Beispiele aufführt. 201 202

Schweitzer. Rn. 523.

Jarass/Pieroth, Artikel 24, Rn. 5, in: GG-Kommentar; Randelzhofer, Artikel 24 Abs. 1, Rn. 44, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz (Hrsg.), Kommentar zum GG; Rojahn, Artikel 24, Rn. 16, in: von Münch/Kunig (Hrsg.), Kommentar zum GG; Bleckmann, GG und Völkerrecht. S. 229; Kirchner/Haas. JZ 1993. S. 761.

II. Regelungen des GG

53

kehrsorganisation 203. Diese Auflistung sollte jedoch lediglich Beispiele auflisten und nicht abschließend alle im Rahmen des Artikels 24 Absatz 1 GG möglichen Organisationen aufzählen 204. Hinsichtlich der Aufgabenstellung zwischenstaatlicher Einrichtungen sollten im Gegenteil keine Einschränkungen existieren. Die angestrebte internationale Integration sollte nicht durch enge Vorstellungen und Vorgaben bezüglich der Aufgaben und Rechtsgestalt der entsprechenden Einrichtungen behindert werden 205 . Daher ist die Übertragung von Hoheitsrechten sowohl auf Einrichtungen mit sachlich begrenzter Aufgabenstellung auf den Gebieten Wirtschaft, Technik, Verkehr, Kommunikation, Kultur etc. als auch auf solche mit umfassenden Aufgabenfeldern zur gemeinsamen Erledigung zulässig206. Obwohl Artikel 24 Absatz 1 GG damit einen großen Kreis möglicher Empfänger zuläßt, sind dennoch nicht alle internationalen Organisationen zwischenstaatliche Einrichtungen i.S. von Artikel 24 Absatz 1 GG. Einschränkungen ergeben sich vielmehr zunächst aus den zusätzlichen Voraussetzungen und Qualifikationsmerkmaien, die das Grundgesetz aufstellt. Aus Artikel 24 Absatz 2, 26 GG in Verbindung mit der Präambel des Grundgesetzes folgt zum einen, daß die Organisation nicht aggressiv auf die Planung eines Angriffs- und Eroberungskrieges ausgerichtet sein darf, also nicht gegen den Frieden und die Völkerverständigung gerichtet sein darf 2 0 7 . Des weiteren darf sie wegen der Vorgaben der Präambel und Artikel 9 Absatz 2 GG nicht dem Gedanken der Einigung Europas widersprechen, und sie muß dem Gedanken der Völkerverständigung verpflichtet sein 208 . Zum anderen - und hierdurch unterscheiden sich zwischenstaatliche Einrichtungen von sonstigen internationalen Organisationen - muß es sich um internationale Organisationen handeln, die durch völkerrechtlichen Vertrag ermächtigt werden, Hoheitsrechte mit unmittelbarer innerstaatlicher Wirkung auf dem Territorium der Mitgliedstaaten gegenüber den Staatsangehörigen

203

JöRn.F. 1 (1951), S. 224.

204

Tomuschat, Artikel 24, Rn. 40, in: BK.

205

So wie hier Maunz, Artikel 24, Rn. 21, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz (Hrsg.), Kommentar zum Grundgesetz, Stand Dezember 1989. 206

Randelzhofer, Artikel 24 Abs. 1, Rn. 46, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz (Hrsg.), Kommentar zum GG. 207

Maunz, Artikel 24, Rn. 21, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz (Hrsg.), Kommentar zum GG; Rojahn, Artikel 24, Rn. 15, in: von Münch/Kunig (Hrsg.), Kommentar zum GG: Wengler, JZ 1968, S. 327; Ruppert, S. 294. 208

Ruppert, S. 298.

Α. Hoheitsrechtsübertragungen nach dem GG

54

dieser Mitgliedstaaten auszuüben209. Sonstige internationale Organisationen respektieren die ausschließliche Hoheitsgewalt der Mitgliedstaaten auf deren Territorium 210 , und sie richten ihre Rechtsakte lediglich an die Mitgliedstaaten, nicht aber unmittelbar an die auf deren Territorium lebenden Staatsangehörigen 2 1 1 . Zwischenstaatliche Einrichtungen können hingegen mit unmittelbarer Wirkung Hoheitsrechte auf dem Territorium der Mitgliedstaaten ausüben212. Sie weichen vom herkömmlichen Bild internationaler Organisationen somit dadurch ab, daß sie Befugnisse in den Mitgliedstaaten und nicht nur gegenüber den Mitgliedstaaten haben 213 . Zwischenstaatliche Einrichtungen durchbrechen sozusagen den nach außen bestehenden Souveränitätspanzer der nationalen Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten214. Sie sind insofern zum Erlaß von Rechtssätzen und Einzelfallentscheidungen, die sich unmittelbar an die Rechtssubjekte und die innerstaatlichen Rechtsanwendungsorgane richten, ermächtigt 2 1 5 . Hinsichtlich des Umfangs der Befugnis, Rechtsverhältnisse gestalten zu können, sind keine Mindestanforderungen zu stellen. So ist es sowohl zulässig, umfassende Sachverhalte zur gemeinsamen Erledigung durch die zwischenstaatliche Einrichtung regeln zu lassen, als auch zwischenstaatliche Einrichtungen zu schaffen, denen lediglich einige wenige Hoheitsrechte übertragen werden 216 . Eine zwischenstaatliche Einrichtung i.S. des Artikels 24 Absatz 1 GG ist somit eine Organisation, die auf einem durch völkerrechtlichen Vertrag erfolgenden Zusammenschluß von Staaten zur gemeinsamen Erledigung staatlicher Aufgaben beruht und die durch den völkerrechtlichen Vertrag von den Ver-

209

Tomuschat, Artikel 24, Rn. 42, in: BK; Maunz, Artikel 24, Rn. 21, in: Maunz/ Dürig/Herzog/Scholz (Hrsg.), Kommentar zum GG, Stand Dezember 1989; Ruppert, S. 82 f.; Dörr, DÖV 1993, S. 699; Simson/Schwarze, S. 20. 210

Bleckmann, Nationales und europäisches Souveränitätsverständnis, S. 36 ff.

211

Zuleeg, Artikel 24, Rn. 22, in: Alternativkommentar zum GG; Rojahn, JZ 1979,

S. 120. 212

Randelzhofer, Artikel 24 Abs. 1, Rn. 48, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz (Hrsg.), Kommentar zum GG. 213

Randelzhofer, Artikel 24 Abs. 1, Rn. 62, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz (Hrsg.), Kommentar zum GG. 214

Bleckmann, ZaöRV 1975, S. 81 f.; Dörr, DÖV 1993, S. 699.

215

Grewe, HdbStR III, § 77 Rn. 70; Dörr, DÖV 1993, S. 699 f.; Klein, Artikel 24, Rn. 2, in: Schmidt-Bleibtreu/Klein, Kommentar zum GG. 216

Tomuschat, Artikel 24, Rn. 42, in: BK; Zuleeg, Artikel 24, Rn. 22, in: Alternativkommentar zum GG. Beispiele hierfür siehe oben S. 25 ff.

II. Regelungen des GG

55

tragsstaaten ermächtigt wird, bestimmte Hoheitsrechte mit unmittelbarer Wirkung auf dem Gebiet der Mitgliedstaaten auszuüben.

b) Übertragung durch den Bund Die Übertragung von Hoheitsrechten auf zwischenstaatliche Einrichtungen erfolgt durch einen staatlichen Hoheitsträger. Dem Wortlaut des Artikels 24 Absatz 1 GG entsprechend ist dies der Bund. Die Bundesländer besitzen grundsätzlich keine Kompetenz zur Übertragung von Hoheitsrechten an eine zwischenstaatliche Einrichtung (aa). Eine Ausnahme bildet Artikel 24 Absatz 1 a GG (bb). Die grundsätzlich fehlende Kompetenz der Bundesländer zur Übertragung von Hoheitsrechten wurde durch eine einfach-gesetzliche Regelung ausgeglichen (cc).

aa) Grundsatz fehlender Kompetenz der Bundesländer zur Hoheitsrechtsübertragung Grundsätzlich ist allein der Bund befugt, Hoheitsrechte zu übertragen. Argument hierfür ist einerseits der Wortlaut des Artikels 24 Absatz 1 GG. Artikel 24 Absatz 1 GG spricht von „Hoheitsrechten" und nicht, wie etwa Artikel 24 Absatz 2 GG, von „seinen Hoheitsrechten", also den Hoheitsrechten des Bundes 217 . Hiergegen wird zwar eingewandt, daß der Bund nur über die ihm zustehenden Hoheitsrechte, nicht aber über die für ihn fremden Länderrechte verfügen könne 218 . Die Hoheitsrechte der Länder könnten zugunsten einer zwischenstaatlichen Einrichtung nicht durch den Bund angetastet werden, da hierdurch die Entscheidung des Grundgesetzes zugunsten der Bundesstaatlichkeit umgangen und ausgehöhlt werde 219 . Diesen Einwänden muß jedoch der Zweck des Artikels 24 Absatz 1 GG entgegengehalten werden 220 . Die Entscheidung des Grundgesetzes zugunsten der Mitgliedschaft in zwischenstaatlichen Einrichtungen sollte nicht dadurch ihrer Effektivität beraubt werden, daß der Integrationsprozeß von verschiedenen Akteuren wahrgenommen wird 2 2 1 .

217

Bleckmann, RIW/AWD 1978, S. 144; Welck, S. 17.

218

So Klein, S. 48 ff.; Lenz, BayVBl. 1990, S. 546.

219

Hierzu Ruppert, S. 269; Schwan, S. 71; Fastenrath, S. 151 f.

220

Müller, S. 58; Knopf, DVB1. 1980, S. 106; Welck, S. 15.

221

Schwarze, 40 Jahre Grundgesetz, S. 223.

56

Α. Hoheitsrechtsübertragungen nach dem GG

Der Bund kann also neben Hoheitsrechten des Bundes auch über Länderhoheitsrechte verfügen 222. Dies hat zur Folge, daß die Bundesländer, in Abweichung von Artikel 32 Absatz 3 G G 2 2 3 , auch in den Bereichen, die nach der innerstaatlichen Zuständigkeitsverteilung ihrer Zuständigkeit unterliegen, keine Hoheitsrechte auf zwischenstaatliche Einrichtungen übertragen können 224 . Grund hierfür ist, daß die Beteiligung an zwischenstaatlichen Einrichtungen grundsätzlich den Kompetenzrahmen eines einzelnen Bundeslandes überschreitet, weil durch die Übertragung von Hoheitsrechten der Bundesländer stets Bundesinteressen berührt sind 225 . Die Entscheidung zur Öffnung nach außen hat daher bei der Übertragung von Hoheitsrechten an zwischenstaatliche Einrichtungen insofern Unterschiede zu rein innerstaatlichen Sachverhalten zur Folge 226 . Das Prinzip der Trennung von Hoheitsrechten in Bundes- und Länderhoheitsrechte ist „nur" ein innerstaatliches Verteilungsprinzip und stellt keine Schranke für die Übertragung von Bundes- wie Länderhoheitsrechten durch den Bund auf zwischenstaatliche Einrichtungen dar 2 2 7 . Deutschland wird im Rahmen des Artikels 24 Absatz 1 GG, unabhängig von der innerstaatlichen Kompetenzordnung, bei der Übertragung von Hoheitsrechten auf zwischenstaatliche Einrichtungen durch den Bund

222

Menzel, VVDStRL 12 (1954), S.212; Bleckmann, AWD/RIW 1978, S. 144; Hoffmann, DÖV 1967, S. 437; Riegel, DVB1. 1979, S. 246; Zuleeg, DÖV 1977, S. 465; Grämlich, S. 167; Magiera, S. 637; Ipsen, H. P., Gemeinschaftsrecht, S. 55; Birke, S. 94; Herdegen, CMLR 1995, S. 1375. 223

Artikel 32 Abs. 3 GG regelt, daß aus dem Gesamtbereich der auswärtigen Aufgaben den Ländern die Zuständigkeit zum Abschluß fur diejenigen völkerrechtlichen Verträge zukommt, für die sie die Gesetzgebungszuständigkeit besitzen. Eine Übersicht über Staatsverträge und Verwaltungsabkommen der Bundesländer mit auswärtigen Staaten bei Rojahn, Anhang zu Artikel 32, in: von Münch (Hrsg.), Kommentar zum GG, 2. Auflage. 224

So die nahezu einhellige Meinung, vgl. Bleckmann, AWD/RIW 1978, S. 145; Rojahn, Artikel 24, Rn. 12, in: von Münch/Kunig (Hrsg.), Kommentar zum GG; Schwarze, 40 Jahre Grundgesetz, S. 214 f.; Stern, Bd. I, S. 534. 225

Tomuschat, Artikel 24, Rn. 14, in: BK; Randelzhofer, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz (Hrsg.), Kommentar zum GG.

Artikel 24 Abs. 1, Rn. 28,

226

Badura, VVDStRL 23 (1966), S. 141; Kisker, S. 133; Tomuschat, VVDStRL 36 (1978), S. 57; lpsen, H. P., EuR 1987, S. 198. 227

Schwarze, 40 Jahre Grundgesetz, S. 223; Vitzthum, Weber, DVB1. 1986, S. 801.

AöR 115 (1990), S. 283;

II. Regelungen des GG

57

vertreten 228. Die Integrationsgewalt des Bundes überspielt im Rahmen des Artikels 24 Absatz 1 GG die bundesstaatliche Kompetenzverteilung229.

bb) Ausnahme: Artikel 24 Absatz 1 a GG Eine Ausnahme vom Grundsatz, daß allein dem Bund die Befugnis zusteht, Hoheitsrechte zu übertragen, stellt der 1992 eingefugte Artikel 24 Absatz 1 a GG dar, der den Ländern die Möglichkeit einräumt, mit Zustimmung der Bundesregierung Hoheitsrechte auf grenznachbarschaftliche Einrichtungen zu übertragen, soweit die Länder fiir die Ausübung der staatlichen Befugnisse und die Erfüllung der staatlichen Aufgaben 230 zuständig sind. Durch diese bisher im Grundgesetz nicht vorgesehene Möglichkeit der Übertragung von Länderhoheitsrechten durch die Länder selbst kommt das Grundgesetz einem seit längerem empfundenen praktischen Bedürfnis nach 231 . Sie geht auf einen Vorschlag der Kommission „Verfassungsreform" des Bundesrates für einen neuen Artikel 24 Absatz 4 GG zurück 232 und vollzieht eine Entwicklung nach, aufgrund derer bereits heute unterhalb der Ebene z.B. der Europäischen Gemeinschaft dauerhafte Einrichtungen entstanden sind, die im regionalen, grenznahen Bereich befugt sind, öffentliche Aufgaben zu erfüllen. Ziel des Artikels 24 Absatz 1 a GG ist es, eine gesicherte verfassungsrechtliche Grundlage für solche Einrichtungen zu schaffen 233. Mit dem Begriff der „grenznachbarschaftlichen Einrichtung" sollte ein Gegenbegriff zu der in Artikel 24 Absatz 1 GG geregelten zwischenstaatlichen 228

BVerfGE 13, S. 54, 78 f. Kölble, DÖV 1965, S. 152; Weber, DVB1. 1986, S. 801; Grabitz, AöR 1986, S. 6. A.A. Beck., DÖV 1966, S. 22, der davon ausgeht, daß Artikel 24 Abs. 1 GG das Bund-Länder-Verhältnis nicht berührt. 229

Zuleeg, DÖV 1977, S. 465; Ossenbühl spricht davon, daß „die innerstaatliche Kompetenzordnung unter Integrationsvorbehalt stehe", ders., S. 146. 230

Randelzhofer sieht in dieser Formulierung den Rückgriff auf die aus dem Polizei» und Ordnungsrecht bekannte Unterscheidung zwischen Aufgaben- und Befugnisnormen, ders., Artikel 24 Abs. 1, Rn. 199, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz (Hrsg.), Kommentar zum GG. Bauer/Hartwig sehen hierin hingegen die Übernahme des Wortlauts des Artikels 30 GG, dies., NwVBl. 1994, S. 48. 231 Begründung der Bundesregierung, BT-Dr. 12/3339, S. 10; Scholz, NJW 1993, S. 1692; Raich, S. 67 f.; Jahn, DVB1. 1994, S. 179; Stein, VVDStRL 53 (1994), S. 43; Huber, ThürVBl. 1994, S. 5, kritisiert diese Regelung, da sie ehrgeizigen Landesregierungen eine Plattform für eine Art Miniaußenpolitik biete. 232

Vorschlag vom 14.05.1992, BR-Dr. 360/92, S. 3 f.; Text bei Simson/Schwarze, S. 38, Fn. 149. 233

BR-Dr. 360/92, S. 4; Raich , S. 68.

58

Α. Hoheitsrechtsübertragungen nach dem GG

Einrichtung geschaffen werden, auf die weiterhin ausschließlich der Bund Hoheitsrechte übertragen kann 2 3 4 . Grenznachbarschaftliche Einrichtungen sollen Einrichtungen umschreiben, die zum Zwecke der grenzüberschreitenden, aber territorial bzw. regional beschränkten Zusammenarbeit entstanden sind bzw. entstehen. Die grenznachbarschaftlichen Einrichtungen sollen nicht die Kooperation mit der „großen weiten Welt" ermöglichen, sondern im Zuge des „kleinen Grenz Verkehrs" die Zusammenarbeit benachbarter Regionen für ein räumlich eng begrenztes Gebiet ermöglichen 235. Es muß sich um eine Ein-richtung auf beiden Seiten der Grenze handeln, die nicht nur irgendwo im Hinterland tätig ist 2 3 6 . Beispiele für grenzübergreifende Verwal-tungszusammenarbeit sind zum einen das am 23. Mai 1991 geschlossene Abkommen zwischen NordrheinWestfalen, Niedersachsen, der Bundesrepublik Deutschland und dem Königreich der Niederlande über grenzüberschreitende Zusammenarbeit zwischen den Gebietskörperschaften und anderen öffentlichen Stellen 237 und zum anderen das im Juni 1991 abgeschlossene Abkommen zur Gründung einer Regionalexekutive Saarland-Lothringen 238. Beispiel für zu-künftige Vorhaben ist etwa die Einrichtung einer gemeinsamen Vertretung in Brüssel durch die Bundesländer Niedersachsen und Bremen sowie vier niederländische Provinzen 239. Bei der Errichtung solcher Einrichtungen geht es den Bundesländern darum, daß für praktische Bedürfhisse der Bürger, angefangen von der gemeinsamen Abwasserbeseitigung bis zu gemeinsamen Schulen und der Zusammenarbeit im 234 Er hat den im Entwurf der Verfasungsreformkommission des Bundesrates und den Debatten der Gemeinsamen Verfassungskommission verwandten Begriff der „interregionalen Einrichtung" verdrängt, der etwa von Kaesler in der 2. Sitzung, Stenogr. Bericht vom 13.02.1992, S. 33 oder von Berghofer-Weichner verwendet wurde, a.a.O., S. 36. Randelzhofer, Artikel 24 Abs. 1, Rn. 196, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz (Hrsg.), Kommentar zum GG, hält ihn fur wenig aussagekräftig. 235 Vitzthum, AöR 115 (1990), S. 300; Huber, S. 83; Jahn, DVB1. 1994, S. 179; Rojahn, Artikel 24, Rn. 83, in: von Münch/Kunig (Hrsg.), Kommentar zum GG; Raich, S. 69. 236

Klein, Artikel 24, Rn. 3 e; in: Schmidt-Bleibtreu/Klein, Kommentar zum GG.

237

GV NW 1991 S. 530; NdS. GVB1. 1992 S. 69. Dieses Beispiel nennt BerghoferWeichner in der 2. Sitzung der Gemeinsamen Verfassungskommission, Stenogr. Bericht vom 13.02.1992, S. 36. Zum faktischen Hintergrund und zur Frage der Abschlußkompetenz für diesen völkerrechtlichen Vertrag Bauer/Hartwig, NwVBl. 1994, S. 42 ff. 238

Sowohl Berghofer-Weichner als auch die Verfassungsreformkommission des Bundesrates nennen dieses Beispiel, BR-Dr. 360/92, S. 4 f. Ausfuhrlich hierzu Raich, 70 ff. 239

So der ehemalige Bremer Senatspräsident Wedemeier in der 3. Sitzung der Gemeinsamen Verfassungskommission, Stenogr. Bericht vom 12.03.1993, S. 29. Weitere Beispiele nennt Vitzthum, AöR 115 (1990), S. 300 ff.

II. Regelungen des GG

59

Bereich des Polizeirechts, regionale Lösungen gefunden werden können. Auch soll das höchst unterschiedliche Recht der Nachbarstaaten durch eine gemeinsame Rechtsetzung für den jeweils betreffenden Bereich, der die Grenzen überschreitet, geregelt werden, so etwa für die Gebühren- oder Benutzungsordnungen 240. Bei den so hinsichtlich ihrer Themen und Aufgaben beschriebenen Formen regionaler Zusammenarbeit soll es sich um lokal bzw. regional begrenzte Formen der länderüberschreitenden Zusammenarbeit handeln, die in Kontrast zu der Zusammenarbeit auf „zwischenstaatlicher" Ebene i.S. des Artikels 24 Absatz 1 GG und der mit „auswärtigen Staaten" in Artikel 32 Absatz 3 GG steht 241 . Es ist keinesfalls daran gedacht, eine Grundlage für die Übertragung von Länderkompetenzen auf die Europäische Gemeinschaft durch die Bundesländer zu schaffen 242. Gleichwohl können grenznachbarschaftliche Einrichtungen in der Form institutionalisierter Kooperation zu Durchgriffsbefugnissen gegenüber den Bürgern der beteiligten Einheiten führen 243 . Inhaltlich sollen sie aber nur einen eng umgrenzten Ausschnitt der staatlichen Hoheitsrechte erfassen, und die Wahrung der gesamtpolitischen Belange fällt weiterhin der Bundesregierung z u 2 4 4 . Das außenpolitische Kompetenzprimat des Bundes 2 4 5 wird zudem dadurch gesichert, daß die Hoheitsrechtsübertragungen durch die Länder an die Zustimmung der Bundesregierung gebunden sind.

240

Berghofer-Weichner, Stenogr. Bericht vom 13.02.1992, S. 36.

241

Die grenznachbarschaftliche Einrichtung legt damit nicht fest, welchen Rechtscharakter die Partner der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit haben müssen, insbesondere ist nicht erforderlich, daß alle Partner Völkerrechtssubjektivität aufweisen, Randelzhofer, Artikel 24 Abs. 1, Rn. 197, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz (Hrsg.), Kommentar zum GG. 242

BR-Dr. 360/92, S. 4.

243

Durchgriffsbefugnisse als Kriterium der grenznachbarschaftlichen Einrichtungen sieht auch Randelzhofer als entscheidendes Kriterium, ders., Artikel 24 Abs. 1, Rn. 197, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz (Hrsg.), Kommentar zum GG. Im Abkommen zwischen Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen, der Bundesrepublik Deutschland und dem Königreich der Niederlande sind allerdings keine Hoheitsrechte übertragen worden. Im Rahmen des Abkommens kann eine öffentliche Stelle zwar die Aufgaben der anderen wahrnehmen, sie handelt aber nicht in Ausübung ihrer eigenen Hoheitsrechte, sondern ist den Weisungen der öffentlichen Stelle unterworfen, deren Aufgaben sie wahrnimmt; dabei ist das innerstaatliche Recht der weisungsbefugten Behörde zu beachten, Bauer/Hartwig,, NwVBl. 1994, S. 43. 244

Begründung der Bundesregierung, BT-Dr. 12/3339, S. 10; Jahn, DVB1. 1994,

S. 179 f. 245

So Scholz, NJW 1993, S. 1692.

60

Α. Hoheitsrechtsübertragungen nach dem GG cc) Kompensation für übertragene Länderhoheitsrechte durch Konsultation

Als Folge der Befugnis des Bundes, Hoheitsrechte der Länder übertragen zu können, ergab sich die rechtliche und politische Notwendigkeit, bei der Ausübung dieser Befugnis durch den Bund die verfassungsrechtliche Stellung und die Interessen der Länder zu berücksichtigen, die durch die Übertragung ihrer Hoheitsrechte auf zwischenstaatliche Einrichtungen berührt werden 246 . Zwar wird nicht durch jede Übertragung von Länderhoheitsrechten die Eigenstaatlichkeit eines Landes oder das Prinzip des Bundesstaates in Frage gestellt. Gleichwohl besteht insbesondere im Rahmen der europäischen Integration sowohl innerstaatlich als auch auf der Ebene der Europäischen Gemeinschaft ein Trend zur „Abwanderung" und Verlagerung von Länderkompetenzen zugunsten des Bundes bzw. der Europäischen Gemeinschaft 247. Aus diesem Grund schlug die Enquête-Kommission „Verfassungsreform" des Bundestages schon 1976 vor, in Artikel 24 Absatz 1 GG einen Zustimmungsvorbehalt zugunsten der Länder für den Fall der Übertragung von Länderkompetenzen aufzunehmen 248. Eine solche Änderung des Grundgesetzes wurde in der Folgezeit aber nicht vorgenommen. Statt dessen wurde mit dem Zustimmungsgesetz zur Einheitlichen Europäischen Akte ( E E A ) 2 4 9 , also auf einfachgesetzlicher Ebene, eine Regelung zur Stärkung und Sicherung des Einflusses der Bundesländer bei der innerstaatlichen Willensbildung getroffen, die einen Ausgleich für die Übertragung von Länderhoheitsrechten schaffen sollte 250 . Dieses Gesetz sah 251 erstens 246

Bleckmann, in: Bleckmann, Rn. 888 m.w.N. Allerdings sieht schon die „Verständigung zwischen der Bundesregierung und den Staatskanzleien der Länder über das Vertragsschließungsrecht des Bundes", das sog. Lindauer Abkommen vom 14.11.1957, Bulletin der Bundesregierung 1957, S. 1966, abgedr. bei Fastenrath, S. 277, vor, daß der Bund vor Eintritt der völkerrechtlichen Verbindlichkeiten eines Vertrages, der ausschließliche Länderkompetenzen betrifft, das Einverständnis der Länder einholt. Zur Entstehungsgeschichte und Rechtsnatur Winkelmann, DVB1. 1993, S. 1128 ff. 247 Stern, Bd. I, S. 535. Beispiele für diesen Abwanderungsprozeß sind etwa die Agrarstrukturpolitik, die Wirtschaftsförderung, der Umweltschutz und die Bildungspolitik, Schweitzer, BayBVl. 1992, S. 609; ausführlich hierzu Welch, S. 35 ff. 248 BT-Dr. 7/5924, S. 230 f.; Riegel, DVB1. 1979, S. 246. Mit Hilfe eines solchen Zustimmungsvorbehaltes seien die verfassungsrechtlichen Unklarheiten zu beseitigen und die Länder erhielten zumindest teilweise eine gesicherte Kompensation für ihre Zuständigkeitsverluste, Waitz von Eschen, BayVBl. 1991, S. 327. 249

Zustimmungsgesetz zur EEA, BGBl 1986 II S. 1102. Weitere Einzelheiten über die Unterrichtung und Beteiligung des Bundesrates und der Länder wurden in einer Vereinbarung zwischen der Bundesregierung und den Regierungen der Länder vom 17.12.1897, GMB1. 1989 S. 697, festgelegt. 250

Ress, EuGRZ 1987, S. 361 ff.; Wengler, GS Geck, S. 947 ff.; Isensee, HdbStR IV, § 98, Rn. 293; ausführlich Lang, S. 51 ff.

61

II. Regelungen des GG

eine umfassende Verpflichtung der Bundesregierung vor, bei allen Beratungen und Verhandlungen im Rat, durch die Länderinteressen berührt werden, die Bundesländerfrühzeitig zu informieren und anzuhören 252. Es sah das Recht des Bundesrates zur Stellungnahme und die Verpflichtung der Bundesregierung vor, diese Stellungnahme in Erwägung zu ziehen. Ferner bestand die Verpflichtung der Bundesregierung, eine Abweichung von der Stellungnahme des Bundesrates zu begründen. Es wurde also ein umfangreiches Konsultationsverfahren zwischen Bund und Bundesländern geschaffen 253. Darüber hinaus konnte die Bundesregierung, soweit ein Regelungsvorhaben auf Gemeinschafts-ebene ausschließliche Gesetzgebungsmaterien der Länder betraf, nur aus unabweisbaren außen- und integrationspolitischen Gründen von einer Stellungnahme des Bundesrates abweichen254, die Bundesregierung war in diesen Fällen damit grundsätzlich an die Stellungnahme der Länder gebunden255. Neben dem Zustimmungsgesetz zur EEA bestanden für die Bundesregierung weitere unmittelbar aus dem verfassungsrechtlichen Grundsatz der Bundestreue folgende Handlungspflichten, wenn die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft die Rechtsetzungskompetenz für einen Gegenstand beanspruchte, dessen Regelung innerstaatlich in die Gesetzgebungskompetenz der Länder fiel 256. Da der Bund die Rechte der Bundesrepublik Deutschland gegenüber der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft auch in den Fällen vertrat, in denen das Grundgesetz die Gesetzgebungskompetenz den Ländern vorbehält, mußte der Bund, der auf der Gemeinschaftsebene als Sachwalter der Länder 257 fungierte, auch deren

251

Artikel 2 dieses Gesetzes trat mit Inkrafttreten des Gesetzes über die Zusammenarbeit von Bund und Ländern in Angelegenheiten der Europäischen Union vom 12.03.1993, BGBl. I 1993 S. 313, gemäß dessen § 15 außer Kraft. 252

Herdegen, CMLR 1995, S. 1576, umschreibt daher die durch das Zustimmungsgesetz begründeten Verpflichtungen der Bundesregierung wie folgt: „The duties are essentially procedural in character." 253

BVerfGE 92, S. 203, 234. Simson/Schwarze,

254

Artikel 2 Abs. 3 und 4 des Zustimmungsgesetzes zur EEA.

S. 37; Neßler, EuR 1994, S. 217.

255

Isensee, HdbStR IV, § 98, Rn. 293. Ress kritisiert diese Regelungen, da sie zwar den Interessen der Länder Rechnung tragen, aber die Rechte des Bundes übermäßig einschränken, ders. n EuGRZ 1987, S. 364. 256

Auf die Bedeutung des verfassungsrechtlichen Grundsatzes der Bundestreue im Hinblick auf die Notwendigkeit der innerstaatlichen Beteiligung der Bundesländer haben bereits Bleckmann, in: Bleckmann, Europarecht, Rn. 889; Haas, DÖV 1988, S. 614; Birke, S. 102 IT. hingewiesen. Nun ausdrücklich auch BVerfGE 92, S. 203 ff. 257

Der Begriff des Sachwalters beinhaltet die Verantwortlichkeit des Bundesgliedes, das mit rechtlicher Wirkung für die anderen Bundesglieder handeln kann, für

62

Α. Hoheitsrechtsübertragungen nach dem GG

verfassungsgemäße Rechte wirksam vertreten 258. Aus dieser Sachwalterfunktion entstand für die Bundesregierung innerstaatlich die Verpflichtung zu bundesstaatlicher Zusammenarbeit und Rücksichtnahme259. Es bedurfte innerstaatlich einer eingehenden Prüfung, welchen Standpunkt die Bundesregierung einzunehmen hatte, um das Gesamtinteresse des Bundesstaates und die Belange der Länder zu wahren 260 . Aus Artikel 2 des Zustimmungsgesetzes zur EEA ergab sich ein innerstaatliches Konsultationsverfahren und eine Verpflichtung der Bundesregierung zur Erörterung ihres Standpunktes mit den Bundesländern261. Kamen Bund und Bundesländer übereinstimmend zu dem Ergebnis, daß die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft Kompetenzen beanspruchte, über die sie nicht verfügen konnte, war es der Bundesregierung nicht erlaubt, sich bei Rechtsetzungsvorhaben auf Gemeinschaftsebene, die innerstaatlich in die Kompetenz der Länder fielen, über die gemeinsame Auffassung hinwegzusetzen. Dies galt auch dann, wenn sie glaubte, in Verhandlungen auf Gemeinschaftsebene einen gemeinschaftsrechtlich nicht zu rechtfertigenden Eingriff in die innerstaatliche Gesetzgebungskompetenz der Länder immerhin mildern zu können. Auch eine gemeinschaftsrechtliche Kompromißlösung, die den Vorstellungen der Länder über den Regelungsinhalt des Gemeinschaftsrechtsaktes entgegenkam, rechtfertigte es nicht, sich über die gemeinsame Auffassung von Bund und Länder in bezug auf die Kompetenzüberschreitung durch die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft hinwegzusetzen. Es mußte vielmehr Ziel des Handelns der Bundesregierung sein, einen mit der gemeinsamen Auffassung unvereinbaren Gemeinschaftsrechtsakt gänzlich zu vermeiden 262. Andererseits ergab sich aus Artikel 2 des Zustimmungsgesetzes zur EEA nicht, daß sich die Bundesregierung im Falle eines von Bund und Ländern übereinstimmend angenommenen Fehlens einer Gemeinschaftskompetenz bei den Beratungen auf Gemeinschaftsebene gänzlich zu enthalten oder sich auf das Bestreiten der Gemeinschaftskompetenz zu beschränken habe 263 . Aus dem Grundsatz des bundesfreundlichen Verhaltens 264 ergab sich vielmehr die Verpflichtung, den

Schutz und Verteidigung deren legitimer Interessen Sorge zu tragen, Isensee, HdbStR IV, § 98 Rn. 290; diese Definition befürwortend Badura, FS Lerche, S. 379. 258

BVerfGE 92, S. 203, 230.

259

Winkelmann, DÖV 1996, S. 2.

260

BVerfGE 92, S. 203, 230.

261

Winkelmann, DÖV 1996, S. 6.

262

BVerfGE 92, S. 203, 236.

263

BVerfGE 92, S. 203, 237.

264

Das Bundesverfassungsgericht hat den Grundsatz der Bundestreue stets restriktiv gehandhabt. Es hat abgesehen von der Entscheidung zur EG-Fernsehrichtlinie einen

II. Regelungen des GG von Bund und Ländern gemeinsam vertretenen Standpunkt bei der Mitwirkung am Zustandekommen eines Gemeinschaftsrechtsaktes im Rat konsequent zu vertreten. Die Bundesregierung hatte sich daher mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln aktiv für ein kompetenzgemäßes Verhalten der EWG-Organe einzusetzen und hierbei ihren Rechtsstandpunkt unmißverständlich zu vertreten. Äußerstenfalls mußte sie sich auf das aus dem Grundsatz der Gemeinschaftstreue folgende Gebot wechselseitiger Rücksichtnahme auf die Verfassungsprinzipien und elementaren Interessen der Mitgliedstaaten265 berufen. Kam dennoch eine aus ihrer Sicht durch die Kompetenzen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft nicht gedeckte, die Gesetzgebungskompetenz der Länder verkürzende Regelung zustande, so bestand die Verpflichtung der Bundesregierung, für eine Aufhebung oder Änderung des Gemeinschaftsrechtsaktes einzutreten. Sie durfte durch ihr Verhalten die Möglichkeit, durch Anrufung des EuGH den eigenen Rechtsstandpunkt durchzusetzen, nicht rechtlich oder faktisch schmälern 266. Blieb nach Konsultation zwischen der Bundesregierung und den Ländern streitig, inwieweit eine Gemeinschaftskompetenz bestand, konnte die Bundesregierung ohne Verletzung ihrer Verpflichtung als Sachwalter der Länderinteressen ihren eigenen Standpunkt auf Gemeinschaftsebene vertreten, wenn sie sich auf eine gefestigte Vertragsauslegung des EuGH berufen konnte 267 . In diesen Fällen entfiel auch unter Zugrundelegung des Grundsatzes der Bundestreue eine Bindung an den Standpunkt des Bundesrates, sofern eine Annäherung zwischen Bund und Ländern trotz ernsthafter Erwägung nicht hergestellt werden konnte. Ein Standpunkt des Bundesrates, der in Widerspruch zu einer gefestigten Vertragsauslegung des EuGH stand, band also die Bundesregierung nicht 268 . Die im Zustimmungsgesetz zur EEA enthaltenen Regelungen und die aus dem Gebot der Bundestreue folgenden Verhaltenspflichten der Bundesregierung auf Gemeinschaftsebene sind ein Beleg dafür, daß die grundsätzliche Übertragbarkeit von Hoheitsrechten der Länder durch den Bund im Rahmen des Artikels 24 Absatz 1 GG als zulässig angesehen wird, denn diese Möglichkeit liegt den Bindungen und Verpflichtungen der Bundesregierung logisch zugrund e 2 6 9 . Überlegungen hinsichtlich einer eigenen Befugnis der Länder zur ÜberVerstoß bisher nur in 2 Fällen angenommen, BVerfGE 8, S. 122 ff.; BVerfGE 12, S. 205 ff. 265

So erstmals BVerfGE 89, S. 155, 184.

266

BVerfGE 92, S. 203, 237.

261

BVerfGE 92, S. 203, S. 237 f.

268

Winkelmann,, DÖV 1996, S. 7.

269

So zum Zustimmungsgesetz zur EEA Rauser, S. 22.

Α. Hoheitsrechtsübertragungen nach dem GG tragung ihrer Hoheitsrechte haben sich im Verlauf der Änderungen des Grundgesetzes 1992 mit Ausnahme des Artikels 24 Absatz 1 a GG nicht durchgesetzt.

c) Übertragung durch Gesetz Die Übertragung der Hoheitsrechte im Rahmen des Artikels 24 Absatz 1 GG hat durch Gesetz zu erfolgen. Der Wortlaut des Artikels 24 Absatz 1 GG ist allerdings insofern ungenau, als die Übertragung von Hoheitsrechten nicht allein durch ein deutsches Gesetz erfolgen kann, sondern sich auf der Grundlage eines völkerrechtlichen Vertrages vollzieht, neben den das Gesetz i.S. des Artikels 24 Absatz 1 GG tritt 2 7 0 . Dem in Artikel 24 Absatz 1 GG geforderten Gesetz kommen mehrere Funktionen z u 2 7 1 : Es enthält erstens die erforderliche Zustimmung zu dem ihm zugrundeliegenden völkerrechtlichen Vertrag, ermächtigt damit den Bundespräsidenten zur Ratifikation des völkerrechtlichen Vertrages und enthält den Rechtsanwendungsbefehl für die deutschen Organe mit der Folge, daß der völkerrechtliche Vertrag zu innerstaatlich anwendbarem Recht wird 2 7 2 . Es hat die Aufgabe, der zwischenstaatlichen Einrichtung die Ausübung von Hoheitsrechten in Deutschland zu ermöglichen und so den innerstaatlichen Anwendungsbefehl für Rechtsakte der zwischenstaatlichen Einrichtung herzustellen 273. In der Regel ergeht zur Erfüllung dieser Funktionen ein einziges Gesetz 274 . Fraglich ist, ob die Forderung des Artikels 24 Absatz 1 GG, daß Hoheitsrechtsübertragungen durch Gesetz erfolgen müssen, es ausschließt, daß Hoheitsrechtsübertragungen durch Rechtsverordnung vorgenommen werden (aa), ob

270 BVerfGE 68, S. 1, 97. Randelzhofer, Artikel 24 Abs. 1, Rn. 60 ff., in: Maunz/ Dürig/Herzog/Scholz (Hrsg.), Kommentar zum GG; Ipsen, H. P., Gemeinschaftsrecht, S. 60; Müller, S. 69 f.; Streinz, Artikel 24, Rn. 24, in: Sachs (Hrsg.), Kommentar zum GG; Birke, S. 99; Tomuschat, HdbStR VII, § 172 Rn. 41. 271

Zuleeg, Artikel 24, Rn. 28, in: Alternativkommentar zum GG; Randelzhofer, Artikel 24 Abs. 1, Rn. 12, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz (Hrsg.), Kommentar zum GG. 27 2

Tomuschat, Artikel 24, Rn. 24, in: BK.

273

BVerfGE 73, S. 339, 374 f. Maunz, Artikel 24, Rn. 12, in: Maunz/ Dürig/Herzog/Scholz (Hrsg.), Kommentar zum GG, Stand Dezember 1989; Rojahn, Artikel 24, Rn. 28, in: von Münch/Kunig (Hrsg.), Kommentar zum GG; Schede, S. 6. 274

BVerwGE 54, S. 291, 294. Gorny, S. 115; Rojahn, Artikel 24, Rn. 32, in: von Münch/Kunig (Hrsg.), Kommentar zum Grundgesetz; Streinz, Artikel 24, Rn. 24, in: Sachs (Hrsg.), Kommentar zum GG.

II. Regelungen des GG ein einfaches Bundesgesetz genügt (bb) und ob der Bundesrat an diesem Gesetz zu beteiligen ist (cc).

aa) Rechtsverordnung Bei dem Gesetz i.S. des Artikels 24 Absatz 1 GG muß es sich um ein Gesetz im formellen Sinne, also um ein förmliches Bundesgesetz handeln. Eine Rechts Verordnung ist nicht ausreichend 275. Die Entscheidung darüber, ob und in welchem Umfang Hoheitsrechte übertragen werden, soll vom Gesetzgeber selbst getroffen und nicht auf dem Wege des Erlasses einer Rechtsverordnung im Rahmen des Artikels 80 Absatz 1 GG auf die Exekutive delegiert werden können 276 . Sinn dieses Gesetzesvorbehaltes ist es, die Übertragung von Hoheitsrechten, in deren Folge Hoheitsrechte durch eine zwischenstaatliche Einrichtung mit unmittelbarer Wirkung im innerstaatlichen Bereich ausgeübt werden können, an die vorherige Zustimmung des parlamentarischen Gesetzgebers zu binden 277 . Infolgedessen sind Rechtsverordnungen nur ausnahmsweise zur Konkretisierung im Vorfeld hinreichend bestimmter Einzelheiten parlamentarischer Übertragungsgesetze zulässig278.

bb) Artikel 79 Absätze 1 und 2 GG Fraglich ist, ob für Gesetze, durch die nach Artikel 24 Absatz 1 GG Hoheitsrechte übertragen werden, Artikel 79 Absätze 1 und 2 GG Anwendung findet, ob also eine mit einer Hoheitsrechtsübertragung verbundene Grundgesetzänderung nur durch ein Gesetz erfolgen kann, daß den Wortlaut des Grundgesetzes ausdrücklich ändert oder ergänzt und das der Zustimmung von zwei Dritteln der Mitglieder des Bundestages und zwei Dritteln der Stimmen des Bundesrates bedarf. Die Übertragung von Hoheitsrechten kann Auswirkungen auf die durch das Grundgesetz konstituierte Ordnung haben, wenn sich das innerstaatliche Kompetenzgefüge dadurch verändert, daß zuvor von nationalen Organen ausgeübte Hoheitsrechte nunmehr durch Organe der zwischenstaatlichen Einrichtung

275 Tomuschat, Artikel 24, Rn. 32, in: BK; Stern,. Bd. I, S. 532; Rojahn, JZ 1979, S. 121 ff. 276

BVerwGE 54, S. 291, 299. Mosler, HdbStR VII, § 175 Rn. 57; Tomuschat, Artikel 24, Rn. 32, in: BK. 27 7

Rojahn, Artikel 24, Rn. 31, in: von Münch/Kunig (Hrsg.), Kommentar zum GG; ders., JZ 1979, S. 121 f.; Ipsen. H. P., Gemeinschaftsrecht, S. 57 ff. 278 Ein Beispiel hierfür ist etwa die Bestimmung des Zeitpunktes der Übertragung BVerwGE 54, S. 291,299.

5 Uhrig

Α. Hoheitsrechtsübertragungen nach dem GG wahrgenommen werden 279 . Eine Hoheitsrechtsübertragung kann auf diese Weise einen Eingriff in und eine Änderung der verfassungsrechtlich festgelegten Zuständigkeitsordnung bewirken und damit eine Verfassungsänderung bedeuten 2 8 0 . Trotz dieser möglichen Änderungswirkung reicht im Rahmen des Artikels 24 Absatz 1 GG ein nach dem Verfahren der Artikel 76 ff. GG zustandegekommenes einfaches Gesetz aus 2 8 1 . Da der Parlamentarische Rat die Eingliederung Deutschlands in internationale Kooperationssysteme ganz bewußt erleichtern wollte, lehnte er einen Antrag, die Übertragung von Hoheitsrechten nur mit den Mehrheiten des Artikels 79 Absatz 2 GG zuzulassen, ausdrücklich a b 2 8 2 . Artikel 24 Absatz 1 GG sollte für die Beteiligung an zwischenstaatlichen Einrichtungen ein vereinfachtes Verfahren zur Verfügung stellen 283 . Das Erfordernis einer Zweidrittelmehrheit in Bundestag und Bundesrat hätte im Zweifelsfall eine starke Behinderung für die Möglichkeit der Eingliederung der Bundesrepublik Deutschland in internationale Kooperationssysteme zur Folge haben können 284 . Daher sollte auch im Hinblick auf das Erfordernis einer Änderung des Wortlauts der Verfassung gemäß Artikel 79 Absatz 1 GG ein vereinfachtes Verfahren bereitgestellt werden, so daß das Gesetz i.S. des Artikels 24 Absatz 1 GG den Wortlaut des Grundgesetzes nicht ändern muß 2 8 5 . Die Besonderheit des Artikels 24 Absatz 1 GG liegt also darin, daß für eine durch die Übertragung von Hoheitsrechten stattfindende Verfassungs-änderung nicht die üblichen Voraussetzungen des Artikels 79 Absätze 1 und 2 GG erfüllt werden müssen, sondern das ein mit einfacher Mehrheit von Bundestag und Bundesrat zustandegekommenes Gesetz genügt, das auch den Wortlaut des Grundgesetzes nicht ändern muß.

27 9

Müller, S. 61.

280

BVerfGE 58, S. 1,36.

281 Rojahn, Artikel 24, Rn. 29, in: von Münch/Kunig (Hrsg.), Kommentar zum GG; Steinberger, FS Doehring, S. 951; Waitz von Eschen, BayVBl. 1991, S. 326; Breuer, NVwZ 1994, S. 419. 282 JöR n.F. 1 (1951), S. 222, 228. Auf dieses historische Argument verweist auch Weber, DVB1. 1986, S. 801. 283

So schon zur Begründung der Ablehnung des Parlamentarischen Rates durch den Abgeordneten Dr. Eberhard, JöR n.F. 1 (1951), S. 228; Müller, S. 61. 284

Schwarze, 40 Jahre Grundgesetz, S. 216; Vitzthum, AöR 115 (1990), S. 283; Tomuschat, Artikel 24, Rn. 33, in: BK; Kirchner/Haas, JZ 1993, S. 762. 285

Rojahn, Artikel 24, Rn. 29, in: von Münch/Kunig (Hrsg.), Kommentar zum GG; Ipsen, H. P., Gemeinschaftsrecht, S. 51; Welck, S. 91.

II. Regelungen des GG

67

cc) Beteiligung des Bundesrates Fraglich bleibt allerdings die Form der Mitwirkung des Bundesrates beim Zustandekommen des Gesetzes nach Artikel 24 Absatz 1 GG. Während Artikel 24 Absatz 1 GG eine Zustimmung des Bundesrates unabhängig davon, welche Hoheitsrechte übertragen werden, nicht vorsieht, ist ein solches Zustimmungserfordernis des Bundesrates bei völkerrechtlichen Verträgen im Rahmen des Artikels 59 Absatz 2 Satz 1 GG dann gegeben, wenn nach dem Inhalt des völkerrechtlichen Vertrages ein Regelungsbereich betroffen ist, in dem das Grundgesetz eine Zustimmung des Bundesrates erfordert. Je nachdem, ob Artikel 24 Absatz 1 GG abschließende lex specialis zu Artikel 59 Absatz 2 Satz 1 GG ist oder ob bei der Übertragung von Hoheitsrechten beide Verfassungsbestimmungen anwendbar sind, ist die Frage zu beantworten, ob für dieses Gesetz eine Zustimmung des Bundesrates in den durch das Grundgesetz bestimmten Fällen erforderlich ist. Für die Wirkung des Artikels 24 Absatz 1 GG als lex specialis286 spricht zum einen sein Standort im Grundgesetz. Seine Stellung im Abschnitt „Bund und Länder" spricht dafür, daß für ihn gerade nicht die sonst üblichen „Beteiligungsregeln" zwischen Bund und Ländern gelten, wie sie sich aus dem Abschnitt „Die Gesetzgebung des Bundes" nach den Artikeln 70 ff., 83 ff., 92 ff. GG ergeben 287. Daneben spricht auch die Entstehungsgeschichte des Artikels 24 Absatz 1 GG für diese Wirkung. So fand ein Antrag, die Zustimmung des Organs, durch das die Länder bei der innerstaatlichen Willensbildung mitwirken, verpflichtend vorzusehen, im Parlamentarischen Rat keine Mehrheit, so daß die Einführung eines Zustimmungsvorbehaltes zugunsten des Bundesrates abgelehnt wurde 288 . Entscheidend ist jedoch der Vergleich des Wortlautes des Artikels 24 Absatz 1 GG mit dem des Artikels 23 Absatz 1 Satz 2 G G 2 8 9 . Während letzterer die Zustimmung des Bundesrates ausdrücklich vorschreibt, ist eine entsprechende Änderung des Artikels 24 Absatz 1 GG im Zuge der Verfassungsänderung im Jahre 1992 unterblieben. Daraus muß im Umkehrschluß geschlossen werden, daß das Zustimmungserfordernis bei der Übertragung von Hoheitsrechten auf die in Artikel 23 Absatz 1 Satz 2 GG geregelten Fälle beschränkt werden soll. Folge der Wirkung des Artikels 24 Absatz 1 GG als lex specialis für die Frage der Beteiligung des Bundesrates ist, daß das Gesetz im

286

Waitz von Eschen, BayVBl. 1991, S. 327; Tomuschat, Artikel 24, Rn. 29, in:

BK.

5*

287

Stern, Bd. I, S. 534; Hahn, Vertrag von Maastricht, S. 114; Birke, S. 96.

288

JöR 1 n.F. (1951), S. 228; Stern, Bd. I, S. 533; Weber, DVB1. 1986, S. 805.

289

Siehe hierzu ausführlich unter 3.

Α. Hoheitsrechtsübertragungen nach dem GG Rahmen des Artikels 24 Absatz 1 GG nicht von der Zustimmung des Bundesrates abhängig ist. Nach der Gegenmeinung290 schließen sich Artikel 24 Absatz 1 GG und Artikel 59 Absatz 2 Satz 1 GG nicht aus, sondern stehen nebeneinander mit der Folge, daß das Gesetz im Rahmen des Artikels 24 Absatz 1 GG auch den Erfordernissen des Artikels 59 Absatz 2 Satz 1 GG unterworfen ist. Danach bedürfen Verträge, welche die politischen Beziehungen des Bundes regeln oder sich auf Gegenstände der Bundesgesetzgebung beziehen, der Zustimmung oder der Mitwirkung der jeweils für die Bundesgesetzgebung zuständigen Körperschaften in der Form eines Bundesgesetzes. Fraglich ist in diesem Zusammenhang, welche Beziehungen unter die Kategorie der politischen Beziehungen fallen. Hierzu hat das Bundesverfassungsgericht festgestellt, daß darunter solche Beziehungen fallen, die wesentlich den Bestand des Staates oder dessen Stellung und Gewicht innerhalb der Staatengemeinschaft oder die Ordnung der Staatengemeinschaft betreffen 291. Dies hat zur Folge, daß nicht jeder Vertrag, der sich ganz allgemein mit öffentlichen Angelegenheiten, dem Gemeinwohl oder den Staatsgeschäften befaßt, einen politischen Vertrag i.S. des Artikels 59 Absatz 2 GG darstellt. Hinzukommen muß vielmehr, daß die Existenz des Staates, seine territoriale Integrität, seine Unabhängigkeit, seine Stellung oder sein maßgebliches Gewicht in der Staatengemeinschaft durch den Vertrag selbst berührt werden. Namentlich die Verträge, die darauf gerichtet sind, die Machtstellung eines Staates anderen Staaten gegenüber zu behaupten, zu befestigen oder zu erweitern, sind demnach politische Verträge i.S. des Artikels 59 Absatz 2 Satz 1 G G 2 9 2 . Liegt ein solcher politischer Vertrag i.S. des Artikels 59 Absatz 2 GG vor, so besitzt der Bundesrat grundsätzlich eine Einspruchsbefugnis. Ist jedoch eine der im Grundgesetz ausdrücklich bestimmten zustimmungsbedürftigen Materien betroffen, besteht ein Zustimmungserfordernis 293. Argument für die parallele Anwendung von Artikel 24 Absatz 1 GG und Artikel 59 Absatz 2 GG und damit für ein Zustimmungserfordernis des Bundesrates in den Fällen, in denen das Grundgesetz eine solche Zustimmung nach Artikel 59 Absatz 2 GG erfordert, ist die Annahme, daß Artikel 24 Absatz 1 GG zwar für die Übertragung von Hoheitsrechten im Hinblick auf das dieser Übertragung zugrundeliegende völkerrechtliche Verfahren, nicht aber für das Inkor-

290

Zuleeg, Artikel 24, Rn. 28, in: Alternativkommentar zum GG.

291

BVerfGE 1,S. 372,382.

292

BVerfGE 1, S. 372, 381. Zustimmend Bleckmann, GG und Völkerrecht, S. 218.

293

Jarass/PierotK

Artikel 59, Rn. 10, in: GG-Kommentar; Jarass, S. 103.

II. Regelungen des GG porationsverfahren des völkerrechtlichen Vertrages in die deutsche Rechtsordnung Regelungen enthält 294 . Dies habe zur Folge, daß die Inkor-poration in die innerstaatliche Rechtsordnung weiterhin nach Artikel 59 Absatz 2 Satz 1 GG zu erfolgen habe. Trotz der unterschiedlichen Einschätzung des Verhältnisses von Artikel 24 Absatz 1 GG zu Artikel 59 Absatz 2 Satz 1 GG ist der Streit um die Frage, ob der Bundesrat dem Gesetz zustimmen mußt, sofern eine Materie betroffen ist, für die das Grundgesetz in Artikel 59 Absatz 2 GG seine Zustimmung fordert, in der verfassungsrechtlichen Praxis nicht von Relevanz. Bislang existiert nämlich kein einziger völkerrechtlicher Vertrag, der sich ausschließlich auf Bestimmungen zur Übertragung von Hoheitsrechten beschränkt und keine völkerrechtlichen Regelungen i.S. des Artikels 59 Absatz 2 GG enthält 295 . Da das Gesetz i.S. Artikel 24 Absatz 1 GG und das Gesetz i.S. des Artikels 59 Absatz 2 GG bisher stets als einheitliches Gesetz ergingen, ist in der Folge das gesamte Gesetz den Anforderungen des Artikels 59 Absatz 2 GG unterworfen 2 9 6 . Für die Frage, ob ein Einspruchs- oder Zustimmungsbedürfhis hinsichtlich des Ratifikationsgesetzes besteht, kommt es somit darauf an, ob der völkerrechtliche Vertrag Bestimmungen enthält, die nach Regelung des Grundgesetzes nur mit Zustimmung des Bundesrates erlassen werden dürfen 297 . Die Tatsache, daß Länderhoheitsrechte übertragen werden, löst allein eine solche Zustimmungsbedürftigkeit allerdings nicht aus 2 9 8 . Im Ergebnis ergeht also stets ein einheitliches Ratifikationsgesetz, das einerseits den völkerrechtlichen Vertrag zu innerstaatlich anwendbarem Recht erklärt und andererseits den innerstaatlichen Anwendungsbefehl fur Rechtsakte der zwischenstaatlichen Einrichtung ausspricht. Die Frage, ob ein Einspruchs- oder ein Zustimmungsge-

294

Schwan, S. 60, 66; Zuleeg. Artikel 24, Rn. 28, in: Alternativkommentar zum GG; Streinz, Artikel 24, Rn. 24, in: Sachs (Hrsg.), Kommentar zum GG. 295

Tomuschat, Artikel 24, Rn. 28, in: BK; Hahn, Vertrag von Maastricht, S. 115; Weber, DVB1. 1993, S. 804. 296 Randelzhofer. Artikel 24 Abs. 1, Rn. 66, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz (Hrsg.), Kommentar zum GG; Hahn, Vertrag von Maastricht, S. 115; Jarass/Pieroth, Artikel 24, Rn. 6, in: GG-Kommentar. 297 Randelzhofer. Artikel 24 Abs. 1, Rn. 66, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz (Hrsg.), Kommentar zum GG; Weber, DVB1. 1986, S. 804; Magiern, Jura 1994, S. 2; Maunz, Artikel 24, Rn. 14, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz (Hrsg.), Kommentar zum GG, Stand Dezember 1989. 298

Birke, S. 99; Grämlich, S. 153; Streinz, Artikel 24, Rn. 25 f., in: Sachs (Hrsg.), Kommentar zum GG; Stern, Bd. I, S. 534; a. A. Jarass/Pieroth, Artikel 24, Rn. 6, in: GG-Kommentar, wonach die Zustimmung des Bundesrates immer dann notwendig ist, wenn (nicht ganz geringfügige) Hoheitsrechte der Länder übertragen werden.

0

Α. Hoheitsrechtsübertragungen nach dem GG

setz vorliegt, richtet sich danach, ob der völkerrechtliche Vertrag, den das Gesetz in die deutsche Rechtsordnung inkorporiert, Bestimmungen enthält, die nach der Regelung des Grundgesetzes die Zustimmung des Bundesrates voraussetzen.

d) Grenzen der Übertragung Artikel 24 Absatz 1 GG räumt also die grundsätzliche Möglichkeit ein, Hoheitsrechte zu übertragen. Fraglich ist jedoch, ob hinsichtlich des Umfangs und der Art der übertragenen Hoheitsrechte Grenzen bestehen. Zum Teil wird Artikel 24 Absatz 1 GG als eine den übrigen Artikeln der Verfassung übergeordnete Staatsfiindamentalnorm betrachtet 299. Daraus wird die Konsequenz gezogen, daß er den Gesetzgeber von allen Bindungen an andere Vorschriften des Grundgesetzes freistelle, so daß die Übertragung von Hoheitsrechten nicht an verfassungsrechtliche Grenzen außerhalb des Artikels 24 Absatz 1 GG gebunden sei. Dieser Ansicht ist jedoch entgegenzuhalten, daß Artikel 24 Absatz 1 GG nicht außerhalb und nicht über, sondern innerhalb der Verfassung steht, und so ist auch bei seiner Auslegung vom Prinzip der Einheit der Verfassung auszugehen 300 . Obgleich sich aus dem Wortlaut des Artikels 24 Absatz 1 GG keine Schranken zu ergeben scheinen, kann nicht vorschnell auf eine völlige Schrankenlosigkeit geschlossen werden 301 . Vielmehr sind seine Grenzen im Wege der Auslegung zu ermitteln 302 . Artikel 24 Absatz 1 GG hat als Staatszielbestimmung einerseits Auswirkungen auf die gesamte Verfassung dergestalt, daß andere Verfassungsbestimmungen im Zweifel so auszulegen sind, daß die grundlegende Entscheidung des Grundgesetzes für die internationale Öffnung verwirklicht werden kann 303 . Andererseits ist diese Grundentscheidung anderen Verfassungsprinzipien aber nicht übergeordnet und muß in das System der

299

Menzel, Diskussionsbeitrag, VVDStRL 18 (1960), S. 99 f.; Zweigert, 1964, S. 640 f. Diese Ansicht darstellend Benda/Klein,, DVB1. 1974, S. 393 f.

RabelsZ

300

Dieses Prinzip vertritt das BVerfG in ständiger Rechtsprechung seit BVerfGE 1, S. 14, 32 f.; statt vieler Stern, Bd. I, S. 131 f.; Eibach, S. 84. 301 Müller, S. 78; Unger, S. 63 f.; Streinz, Artikel 24, Rn. 27, in: Sachs (Hrsg.), Kommentar zum GG. 302

BVerfGE 37, S. 271, 279. Gorny, S. 128. Diese Auslegung steht vor der Aufgabe, einerseits das Ziel der Bestimmung zu erreichen, die Beteiligung der Bundesrepublik Deutschland an zwischenstaatlichen Einrichtungen mit eigener, im innerstaatlichen Raum anzuerkennender Hoheitsgewalt zu ermöglichen, ohne daß andererseits zwingende Anforderungen des Grundgesetzes außer acht gelassen werden, Streinz, S. 217. 303

Vogel, S. 51; Randelzhofer, Artikel 24 Abs. 1, Rn. 20, in: Maunz/Dürig/Herzog/ Scholz (Hrsg.), Kommentar zum GG.

II. Regelungen des GG

1

sonstigen Verfassungsvorgaben eingeordnet werden mit dem Ziel, praktische Konkordanz zwischen möglicherweise für den Einzelfall relevanten unterschiedlichen Verfassungsbestimmungen zu erzielen 304 . Zu den Grenzen zählen zunächst jene Beschränkungen, die sich speziell auf die inhaltliche Ausrichtung zwischenstaatlicher Einrichtungen beziehen 305 . So ist es der Bundesrepublik Deutschland verwehrt, sich einer zwischenstaatlichen Einrichtung anzuschließen, deren Ziel es ist, die Einigung Europas zu verhindern oder die nicht dem Gedanken der Völkerverständigung verbunden ist 3 0 6 . Des weiteren verbietet das Grundgesetz aufgrund von Artikel 24 Absatz 2, 26 GG die Beteiligung Deutschlands an einer aggressiven, auf die Planung eines Angriffs- oder Eroberungskrieges ausgerichteten zwischenstaatlichen Einrichtung 307 . Demgegenüber ist das Aufstellen von Vorgaben für die Struktur der zwischenstaatlichen Einrichtung nicht das vorrangige Ziel von Artikel 24 Absatz 1 G G 3 0 8 . Diesem Ergebnis steht auch nicht die Lehre von der strukturellen Kongruenz 309 entgegen310. Diese forderte in den 50er Jahren, daß die Organe zwischenstaatlicher Einrichtungen keine weitergehenden Zuständigkeiten haben dürften als die nationalen Organe, deren Hoheitsrechte ihnen übertragen werden, und daß in den Organen die Grundsätze der Gewaltenteilung in gleichem Umfang und vor allem in gleicher Form verwirklicht werden müßten wie innerhalb des Verfassungsgefüges des Grundgesetzes311. Hoheitsrechte dürften nur

304

BVerfGE 37, S. 271, 279. Schmitt Glaeser, S. 67; Badura, FS Redeker, S. 123; Kirchhof, EuR 1991, Beiheft 1, S. 15. 305

Hierzu Müller, S. 78; Tomuschat, Artikel 24, Rn. 49, in: BK. Siehe oben S. 53.

306

Ruppert, S. 298.

307

Maunz, Artikel 24, Rn. 21, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz (Hrsg.), Kommentar zum GG, Stand 1989; Rojahn, Artikel 24, Rn. 15, in: von Münch/Kunig (Hrsg.), Kommentar zum GG; Ruppert, S. 294; Wengler, JZ 1968, S. 327. 308 Randelzhofer, in: Hommelhoff/Kirchhof, S. 50; ders., Artikel 24 Abs. 1, Rn. 113, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz (Hrsg.), Kommentar zum GG; Everling, DVB1. 1993, S. 944. A.A. Rojahn, Artikel 24, Rn. 58, in: von Münch/Kunig (Hrsg.), Kommentar zum GG; Streinz, Artikel 24, Rn. 29, in: Sachs (Hrsg.), Kommentar zum GG. 309

Kraus, S. 550 ff.

310

Verworfen etwa von Ipsen, H. P.. Gemeinschaftsrecht, S. 64; Streinz, S. 222 f.; ebenso Schwarze, der die Forderung nach struktureller Konvergenz in ihrer Überspitzung als grundgesetz-introvertiertes Denken ablehnt, ders., 40 Jahre Grundgesetz, S. 216; Badura, EuR 1994, Beiheft 1, S. 14. 311

Kraus. S. 551; Kruse, S. 112 ff., 121 ff.

Α. Hoheitsrechtsübertragungen nach dem GG dann auf eine zwischenstaatliche Einrichtungen übertragen werden, wenn diese mit den deutschen Grundsätzen der Demokratie, der Gewaltenteilung und des Rechtsstaatsprinzips in vollem Umfang übereinstimmt 312. Die zwischenstaatliche Einrichtung müsse also eine artgleiche Konzeption und Organisation wie der Staat des Grundgesetzes aufvveisen 313. Die Forderung nach struktureller Kongruenz einer zwischenstaatlichen Einrichtung mit der Verfassungsordnung Deutschlands berücksichtigt jedoch nicht, daß zwischenstaatliche Einrichtungen als internationale Organisationen vom Prinzip der Gleichheit der Staaten getragen werden 314 . Dies hat notwendig Auswirkungen auf die Struktur der zwischenstaatlichen Einrichtung 315. Die deutschen Staatszielbestimmungen und Verfassungsgrundsätze sind aber für ein nationalstaatliches Staatswesen entwickelt worden und passen wegen der besonderen Strukturen einer zwischenstaatlichen Einrichtung auf diese nur eingeschränkt 316. So besteht etwa ihr Hauptentscheidungsorgan regelmäßig aus Vertretern der Teilnehmerstaaten, es stellt also eine Staaten- und keine Volksvertretung dar. Infolgedessen besitzt eine zwischenstaatliche Einrichtung kein Hauptentscheidungsorgan in Form eines Parlaments mit den Entscheidungsbefugnissen, wie sie das Grundgesetz für den Bundestag vorsieht. Daraus ergibt sich zwangsläufig, daß auch die Gewaltenteilung zwischen Exekutive und Legislative in einer zwischenstaatlichen Einrichtung nicht dem System der Gewaltenteilung des Grundgesetzes entsprechen kann. Der Forderung nach struktureller Kongruenz liegt jedoch der zutreffende Grundgedanke zugrunde, daß die Ausübung von Hoheitsgewalt durch die zwischenstaatliche Einrichtung denjenigen absoluten Grenzen unterworfen sein muß, die auch für staatliche Hoheitsträger gelten. Angesichts der Integrationsoffenheit des Grundgesetzes bedarf die Lehre von der strukturellen Kongruenz daher folgender modifizierender Einschränkung317: Zwar sind die Verfassungsgrundsätze des Grundgesetzes nicht unmittelbar auf die Struktur der

312

Kraus, S. 553; ablehnend Bleckmann, FS Doehring, S. 67.

313

Kleinas. 22.

314

Tomuschat, Artikel 24, Rn. 55, in: BK; Ress, GS Geck, S. 672; Huber, S. 33.

315

Rojahn, Artikel 24, Rn. 59, in: von Münch/Kunig (Hrsg.), Kommentar zum GG, kommt zu dem Schluß, daß es sich wegen des Grundsatzes der Staatengleichheit schon im Ansatz verbiete, das Strukturmodell einer staaatlichen Verfassung auf die zwischenstaatliche Ebene zu projezieren. 316

Bleckmann, FS Doehring, S. 68; Zuleeg, Der Staat 1978, S. 30; Scheuner, Diskussionsbeitrag, VVDStRL 23 (1966), S. 107. 317 Stern,, Bd. I, S. 536; Streinz, S. 223; Zuleeg, Artikel 24, Rn. 63, in: Alternativkommentar zum GG; Tomuschat, Artikel 24, Rn. 55 f., in: BK.

II. Regelungen des GG zwischenstaatlichen Einrichtung übertragbar. Unter den beteiligten Staaten der zwischenstaatlichen Einrichtung muß jedoch ein Mindestmaß an homogenen Wertvorstellungen über die Legitimation und die Schranken der Ausübung hoheitlicher Befugnisse bestehen318. Diese gemeinsamen Wertvorstellungen können sich in der Folge mittelbar auch auf die Struktur der zwischenstaatlichen Einrichtung auswirken 319. Einer solchen Forderung nach einem Mindestmaß an homogenen Wertvorstellungen steht die Integrationsoffenheit des Grundgesetzes nicht entgegen, denn sie dient der Durchsetzung des auch dem Grundgesetz zugrundeliegenden Prinzips des Schutzes des Individuums und seiner Freiheit gegen Rechtsakte öffentlicher Gewalt 320 . Ein solcher Schutz muß auch gegenüber Hoheitsträgern zwischenstaatlicher Einrichtung bestehen; Daher bestehen für die Übertragung von Hoheitsrechten im Rahmen des Artikels 24 Absatz 1 GG weitere, über das Verbot der Beteiligung an einer zwischenstaatlichen Einrichtung, die die Verhinderung der Einigung Europas oder die Planung des Angriffs- und Eroberungskrieges zum Ziel hat, hinausgehende, durch Auslegung zu ermittelnde Grenzen 321 . Das Bundesverfassungsgericht hat diese dahingehend umschrieben, daß Artikel 24 Absatz 1 GG nicht dazu ermächtigt, im Wege der Einräumung von Hoheitsrechten die Identität der geltenden Verfassungsordnung der Bundesrepublik Deutschland durch Einbruch in ihr Grundgefüge, in die sie konstituierenden Strukturen, aufzugeben 322. Damit stellt sich die Frage, wann ein unzulässiger Einbruch in das Grundgefüge, also in die konstituierenden Strukturen des Grundgesetzes, vorliegt. Ein derartiger Einbruch kommt in Betracht, wenn entweder die Grundrechte (aa) oder die in Artikel 79 Absatz 3 GG geschützten grundlegenden Verfassungsprinzipien des Grundgesetzes (bb) betroffen sind.

aa) Grundrechte Zu den konstituierenden Strukturelementen der deutschen Verfassungsrechtsordnung zählt das Bundesverfassungsgericht die durch das Grundgesetz garantierten Grundrechte, da diese ein unaufgebbares, zur Verfassungsstruktur des Grundgesetzes gehörendes Essentiale der geltenden Verfassung der Bundes-

318 Tomuschat, Artikel 24, Rn. 57, in: BK; Rojahn, Artikel 24, Rn. 59 f., in: von Münch/Kunig (Hrsg.), Kommentar zum GG. 319

Ress, GS Geck, S. 671.

320

Rojahn, Artikel 24, Rn. 59, in: von Münch/Kunig (Hrsg.), Kommentar zum GG.

321

BVerfGE 37, S. 271, 279; BVerfGE 73, S. 339, 375. Randelzhofer, Abs. 1, Rn. 85, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz (Hrsg.), Kommentar zum GG. 322

BVerfGE 73, S. 339, 375 f.

Artikel 24

Α. Hoheitsrechtsübertragungen nach dem GG republik Deutschland darstellen. Sie zu relativieren, gestattet Artikel 24 GG nicht vorbehaltlos 323. Sofern und soweit einer zwischenstaatlichen Einrichtung i.S. des Artikels 24 Absatz 1 GG Hoheitsgewalt eingeräumt wird, die im Hoheitsbereich der Bundesrepublik Deutschland den Wesensgehalt der vom Grundgesetz anerkannten Grundrechte zu beeinträchtigen in der Lage ist, muß, wenn damit der nach Maßgabe des Grundgesetzes bestehende Rechtsschutz entfällt, statt dessen auf der Ebene der zwischenstaatlichen Einrichtung eine Grundrechtsgeltung gewährleistet sein, die nach Inhalt und Wirksamkeit dem Grundrechtsschutz, wie er nach dem Grundgesetz unabdingbar ist, im wesentlichen gleichkommt324. Dies setzt voraus, daß die zwischenstaatliche Einrichtung selbst Grundrechte gewährleisten ((1)), die einen Schutzumfang garantieren, wie er nach dem Grundgesetz unabdingbar ist ((2)).

(1) Grundrechtsschutz

durch die zwischenstaatliche

Einrichtung

Sind der zwischenstaatlichen Einrichtung Hoheitsrechte übertragen worden, auf Grund derer sie in der Lage ist, den nach dem Grundgesetz bestehenden Rechtsschutz entfallen zu lassen, kann ihr Handeln Rechte des einzelnen berühren. In diesem Fall setzt die Übertragung von Hoheitsrechten voraus, daß der Wesensgehalt der Grundrechte als Essentiale des Grundgesetzes von der zwischenstaatlichen Einrichtung nicht verletzt wird. Die Übertragung von Hoheitsrechten setzt also voraus, daß Grundrechte durch die zwischenstaatliche Einrichtung selbst beachtet und geschützt werden. Dabei ist es nicht ausreichend, wenn Grundrechte lediglich als unbeachtlicher Programmsatz bestehen oder nur vorübergehend gewährleistet werden. Dies wäre i.S. einer „Grundrechtssicherung" nicht ausreichend 325. Eine zwischenstaatliche Einrichtung muß vielmehr einen inhaltlich feststehenden und hinreichend gefestigten Grundrechtsstandard gewährleisten. Vom guten Willen eines Rechtsprechungsorgans abhängige allgemeine Rechtsgrundsätze sind allein kein Ersatz für das vom Grundgesetz garantierte System von Grundrechten 326. Zwar hat das Bundesverfassungsgericht die Forderung nach einem kodifizierten Grundrechtskatalog als unerläßliches Kriterium nicht beibehalten327, doch bleibt es bei der Forderung, 323

BVerfGE 37, S. 271, 280; BVerfGE 58, S. 1, 30 f.; BVerfGE 73, S. 339, 376.

324

BVerfGE 73, S. 339, 376.

325

BVerfGE 37, S. 271, 280.

326

BVerfGE 37, S. 271, 280. Wengler, JZ 1968, S. 328 f.

327

Einen solchen Katalog forderte es in BVerfGE 37, S. 271, 280. Die Forderung wurde jedoch in nachfolgenden Entscheidungen nicht wieder aufgenommen, so etwa BVerfGE 73, S. 339 ff. Im Ergebnis zustimmend Rojahn, Artikel 24, Rn. 67, in: von Münch/Kunig (Hrsg.), Kommentar zum GG; Constantinesco, S. 714; Eibach, S. 86.

II. Regelungen des GG daß sich alle Hauptorgane der zwischenstaatlichen Einrichtung in rechtserheblicher Form dazu bekennen müssen, daß sie sich bei der Ausübung ihrer Befugnisse von der Achtung vor Grundrechten als Rechtspflicht leiten lassen328. Grundrechte müssen also rechtlich verbindlich garantiert werden und von den Organen der zwischenstaatlichen Einrichtung beachtet werden.

(2) Inhaltliche Anforderungen

an den Grundrechtsschutz

Darüber hinaus bestehen Anforderungen an Inhalt und Umfang der Grundrechtsgewährung durch die zwischenstaatliche Einrichtung. Zwar ist es nicht erforderlich, daß der Grundrechtsteil des Grundgesetzes als solcher durch die zwischenstaatliche Einrichtung geschützt wird. Erforderlich ist aber, daß die dem Grundgesetz zugrundeliegenden „fundamentalen Rechtsgrundsätze" geschützt werden 329 . Diese dürfen nicht relativiert werden 330 . Die absolute Grenze, die die Grundrechtsgewährleistungen der zwischenstaatlichen Einrichtung nicht unterschreiten dürfen, ist damit der Wesensgehalt der Grundrechte i.S. des Artikels 19 Absatz 2 G G 3 3 1 . Dies bedeutet, daß es nicht ausreichend ist, wenn der Grundrechtsschutz durch die zwischenstaatliche Einrichtung in einer Weise ausgestaltet ist, die den Schutz sämtlicher Grundrechte auf ein Maß unterhalb der nach dem Grundgesetz unabdingbaren Grenze reduziert 332. Der Gesetzgeber ist im Rahmen des Artikels 24 Absatz 1 GG andererseits aber auch nicht gehalten, die zwischenstaatliche Einrichtung auf die inhaltlich unterschiedslose Beachtung der Grundrechte des Grundgesetzes zu verpflichten 333. Die Ge328

BVerfGE 73, S. 339, 378.

329

BVerfGE 58, S. 1, 40; BVerfGE 59, S. 63, 91. Hahn,, Vertrag von Maastricht, S. 123; Randelzhofer, Artikel 24 Abs. 1, Rn. 72, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz (Hrsg.), Kommentar zum GG verweist diesbezüglich auf die Entwicklung in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Während BVerfGE 37, S. 271, 280, noch den „Grundrechtsteil" als solchen als Essentiale bezeichnet, schränkt es dieses Essentiale in BVerfGE 58, S. 1, 40, auf die „fundamentalen Rechtsgrundsätze, die in den Grundrechten anerkannt sind" ein. 330

BVerfGE 73, S. 339, 376. Constantinesco, S. 714; Erler, VVDStRL 18 (1960), S. 44; Leisner, DÖV 1992, S. 437 f.; Pernice , NJW 1990, S. 2418. 331 Randelzhofer, Artikel 24 Abs. 1, Rn. 76, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz (Hrsg.), Kommentar zum GG; Constantinesco, S. 714; Gorny, S. 138 ff., insbesondere S. 149 f.; Zuleeg, DÖV 1977, S. 466; Waitsch von Eschen., BayVBl. 1991, S. 324; Tietje, JuS 1994, S. 202. Tomuschat macht allerdings die Einschränkung, daß Artikel 19 Abs. 2 GG diese Grenze nur insofern bilde, als sie die Verkörperung der in Artikel 1 und 20 verankerten Prinzipien bilde, ders., Artikel 24, Rn. 61, in: BK. 332

Im Ergebnis ebenfalls Pernice, NJW 1990, S. 2418; Huber, S. 39.

333

So aber Steiger, S. 117 ff.; a.A. Streinz, S. 253; Gorny, S. 138.

Α. Hoheitsrechtsübertragungen nach dem GG währleistung von Grundrechten durch die zwischenstaatliche Einrichtung muß den Grundrechten des Grundgesetzes nicht unterschiedslos entsprechen334, sie muß nicht jedes 1-Tiipfelchen der Feinstinterpretation der Grundrechte des Grundgesetzes schützen335. Die zwischenstaatliche Einrichtung muß Grundrechte nicht mit den gleichen Garantien, Grenzen, Beschränkungsmöglichkeiten und Eingriffsformen garantieren wie das Grundgesetz, doch muß sie die dem Grundrechtsteil des Grundgesetzes zugrundeliegenden unabdingbaren Mindestanforderungen erfüllen 336 . Entscheidend ist, daß das Schutzniveau in der zwischenstaatlichen Einrichtung „generell" demjenigen des Grundgesetzes ebenbürtig ist 3 3 7 . Das Grundrechtsschutzsystem der zwischenstaatlichen Einrichtung muß somit als Gesamtheit gesehen dem Grundrechtsschutzsystem des Grundgesetzes im wesentlichen gleichartig und gleichwertig sein 338 . Inhaltlich kommen als Standard die Grundrechte in Betracht, wie sie den Verfassungen der Mitgliedstaaten der zwischenstaatlichen Einrichtung und, fur den Fall einer zwischenstaatlichen Einrichtung im europäischen Staatenkreis, der EMRK zugrunde liegen 339 . Die Achtung der gemeinsamen Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten ist insofern von Bedeutung, als durch den Rückgriff auf eine gemeinsame Tradition der Mitgliedstaaten die Absenkung des Schutzniveaus der Grundrechte unter einen gemeinsamen Standard, wie er sich bei rechtsvergleichender Betrachtung ergibt, ausgeschlossen ist 3 4 0 . Ein im wesentlichen gleichzuachtender Grundrechtsschutz, wie er nach dem Grundgesetz unabdingbar ist, erfordert darüber hinaus strukturelle Absicherungen. Er erfordert in aller Regel einen Individualrechtsschutz durch unabhängige Rechtsprechungsorgane mit einer dem Rechtsschutzbegehren angemessenen Prüfungsund Entscheidungsmacht für tatsächliche und rechtliche Fragen ausgerüstet sind, die auf Grund eines rechtsstaatlichen Verfahrens entscheiden, das rechtliches Gehör, dem Streitgegenstand angemessene Angriffs- und Verteidigungsmittel und einen frei gewählten, kundigen Beistand ermöglicht und deren Entscheidungen gegebenenfalls die Verletzung eines Grundrechts sachgerecht und wirksam sanktionieren 341. Damit wirkt sich die Forderung nach der Garantie von Grundrechten durch die zwischenstaatliche Einrichtung auch auf deren 334

Zuleeg, DÖV 1977, S. 466; Dörr, NwVBl. 1988, S. 292.

335

Tomuschat, EuR 1990, S. 342.

336

Claudi , S. 234; Waitzvon Eschen, BayVBl. 1991, S. 324.

337

BVerfGE 73, S. 339, 387. Tomuschat, EuGRZ 1993, S. 490.

338

Wengler, JZ 1968, S. 328; Streinz, S. 225.

339

BVerfGE 73, S. 339, 378.

340

Bleckmann, FS Börner, S. 30.

341

BVerfGE 73, S. 339, 376.

II. Regelungen des GG Struktur aus. Erforderlich ist nämlich die Einrichtung von Rechtsprechungsorganen, die den genannten Voraussetzungen entsprechen.

(3) Ergebnis Kann eine zwischenstaatliche Einrichtung den Wesensgehalt der durch das Grundgesetz geschützten Grundrechte beeinträchtigen, und kann dadurch der innerstaatliche Rechtsschutz entfallen, muß die zwischenstaatliche Einrichtung selbst ihrerseits Grundrechte garantieren. Dies setzt eine inhaltliche und institutionelle Absicherung des Grundrechtschutzes durch die zwischenstaatliche Einrichtung voraus. Die Garantie von Grundrechten darf nicht lediglich vorübergehender Natur sein oder nur als allgemeiner Programmsatz bestehen. Grundrechte müssen vielmehr rechtsverbindlich von allen Organen der zwischenstaatlichen Einrichtung anerkannt worden sein. Die zwischenstaatliche Einrichtung muß Grundrechte im Einzelfall nicht mit den inhaltlich identischen Garantien des Grundgesetzes und mit den konkreten Beschränkungsmöglichkeiten und Eingriffsformen, wie sie das Grundgesetz kennt, gewährleisten. Sie muß aber grundsätzlich ein dem Grundgesetz gleichzuachtendes und seinem generellen Schutzniveau entsprechendes Grundrechtsschutzsystem gewährleisten, und sie muß die den Grundrechten zugrundeliegenden unabdingbaren Grundsätze, also insbesondere deren Wesensgehalt, garantieren. Ein im wesentlichen gleichzuachtender Grundrechtsschutz erfordert einen Individualrechtsschutz im Rahmen eines rechtsstaatlichen Verfahrens durch unabhängige Gerichte, so daß sich die Verpflichtung zur Garantie von Grundrechten mittelbar auch auf die Struktur der zwischenstaatlichen Einrichtung auswirkt. bb) Artikel 79 Absatz 3 GG Da Artikel 24 Absatz 1 GG nicht dazu ermächtigt, die Identität der geltenden Verfassungsordnung durch Einbruch in ihr Grundgefüge aufzugeben, findet die Möglichkeit der Übertragung von Hoheitsrechten dort ihre Grenze, wo in dieses Grundgefüge des Grundgesetzes eingebrochen wird. Fraglich ist, ob durch diese Forderung die in Artikel 79 Absatz 3 GG niedergelegten grundlegenden Verfassungsprinzipien geschützt werden. Die Garantie der Prinzipien des Artikels 79 Absatz 3 GG wird als Grenze im Rahmen des Artikels 24 Absatz 1 GG teilweise abgelehnt. Artikel 79 Absatz 3 GG könne als Grenze für die Übertragung von Hoheitsrechten im Rahmen des Artikels 24 Absatz 1 GG nicht herangezogen werden 342 , da beide Verfassungs-

342

Zweigert, RabelsZ 1964, S. 640.

Α. Hoheitsrechtsübertragungen nach dem GG normen unterschiedlichen Zwecken dienten und völlig unterschiedliche Regelungsinhalte besäßen. Anders als Artikel 79 Absatz 3 GG verfolge Artikel 24 Absatz 1 GG nicht den Zweck, die Geltung des Grundgesetzes zu erhalten, sondern eröffne im Gegenteil die Möglichkeit, die ausschließliche Geltung des Grundgesetzes zu durchbrechen 343. Die Verfassungsgarantien des Artikels 79 Absatz 3 GG seien dagegen auf den Schutz des Staates, wie er durch das Grundgesetz garantiert werde, zugeschnitten und daher als Schranke für die Übertragung von Hoheitsrechten auf eine zwischenstaatliche Einrichtung nicht anwendbar 344. Artikel 79 Absatz 3 GG enthalte somit eine lediglich nach innen auf den Staat des Grundgesetzes gerichtete Schranke. Die Übertragung von Hoheitsrechten an eine zwischenstaatliche Einrichtung sei folglich ohne Bindung an Artikel 79 Absatz 3 GG möglich 345 . Dem muß jedoch entgegengehalten werden, daß es dem Prinzip der Einheit der Verfassung widerspräche, wenn das Grundgesetz mit Hilfe des Artikels 79 Absatz 3 GG elementare Verfassungsgrundsätze zwar gegenüber dem Verfassungsgesetzgeber absolut schützt, gleichzeitig aber mit Hilfe des Artikels 24 Absatz 1 GG dem einfachen Gesetzgeber die freie Verfügungsgewalt über die Geltung dieser Grundsätze übertrüge 346. Wenn Artikel 79 Absatz 3 GG schon dem Verfassungsgesetzgeber unüberwindliche Grenzen auferlegt, muß dies erst recht für den einfachen Gesetzgeber im Rahmen des Artikels 24 Absatz 1 GG gelten 347 . Das Grundgesetz wäre inkonsequent und sogar widersprüchlich, wenn es in bezug auf die Beteiligung an einer zwischenstaatlichen Einrichtung, die aufgrund der ihr eingeräumten Hoheitsrechte in die nationale Rechtsordnung einzudringen vermag und Hoheitsrechte ausüben kann, keine Grenzen enthielt e 3 4 8 . Der einfache Gesetzgeber könnte den Kernbestand der in Artikel 79 Absatz 3 GG garantierten elementaren Verfassungsprinzipien des Grundgesetzes zur Disposition stellen 349 und durch mißbräuchliche Ausnutzung der Möglichkeit der Übertragung von Hoheitsrechten die Verfassungsordnung aushebeln350. Gerade die elementaren Grundsätze des Grundgesetzes zu schützen ist aber nach den Erfahrungen der Weimarer Republik die Aufgabe des Artikels 79 343

Erichsen, S. 190; ders., VerwA 1973, S. 108; Thieme, VVDStRL 18 (1960),

S. 58. 344

Menzel, Diskussionsbeitrag, VVDStRL 18 (1960), S. 99.

345

Kaiser, VVDStRL 23 (1966), S. 18 und 31 These II 3.

346

Schwan, S. 81; Stern, Bd. I, S. 535; Eibach, S. 84; Kewenig, JZ 1990, S. 460.

347

Streinz, S. 221.

348

Zuleeg, Der Staat 1978, S. 29; Kewenig, JZ 1990, S. 460; Streinz, S. 221.

349

Schwan, S. 84; Jarass/Pieroth,

350

Erler, VVDStRL 18 (1960), S. 40 f.

Artikel 24, Rn. 7, in: GG-Kommentar.

II. Regelungen des GG Absatz 3 G G 3 5 1 . Zur Erhaltung der Identität der Verfassungsordnung ist daher der Schutz der Grundsätze des Artikels 79 Absatz 3 GG eine weitere Schranke für die Übertragung von Hoheitsrechten auf eine zwischenstaatliche Einrichtung 352 . Die Übertragung von Hoheitsrechten muß daher ihre Grenze dann finden, wenn durch sie die Gliederung des Bundes in Länder, die grundsätzliche Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung oder die in den Artikeln 1 und 20 GG niedergelegten Grundsätze berührt werden. Artikel 79 Absatz 3 GG verbietet allerdings nur die prinzipielle Preisgabe der dort genannten Verfassungsprinzipien 353. Die Unabänderlichkeitsgarantie bezieht sich nicht auf alle Einzelheiten, sondern nur auf die dort enthaltenen und zum Ausdruck kommenden Grundsätze 354. Die absolute Garantie des Artikels 79 Absatz 3 GG erstreckt sich nur auf den grundsätzlichen Schutz der elementaren Verfassungsgarantien der in Artikel 79 Absatz 3 GG garantierten Verfassungsprinzipien 355. Zu diesen gehören die Grundsätze des Artikels 1 GG ((1)) sowie die Grundsätze des Artikels 20 GG ((2)).

(1) Schutz der Grundsätze des Artikels 1 GG Artikel 79 Absatz 3 GG schützt zunächst die in Artikel 1 GG niedergelegten Grundsätze. Zu diesen gehört der Schutz der Menschenwürde 356 und der Schutz der unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechte als Grundlage der

351

BVerfGE 30, S. 1, 24. Claudi , S. 216; Gorny, S. 123; Tomuschat, EuGRZ 1993, S. 491; Huber, ThürVBl. 1994, S. 2. 352

Tomuschat, Artikel 24, Rn. 50, in: BK; ders., EuGRZ 1993, S. 491; Herdegen, EuGRZ 1992, S. 591; Siebelt, DÖV 1990, S.371; Hahn, Vertrag von Maastricht, S. 121; Dörr, NwVBl. 1988, S. 292; Klein, VVDStRL 50 (1991), S. 71; Tettinger, RIW 1992, Beilage 3, S. 8. Es wird diskutiert, ob Artikel 79 Abs. 3 GG im Rahmen des Artikels 24 Abs. 1 GG direkt oder analog oder i.S. einer immanenten Schranke anzuwenden sei. Einen Überblick über den Meinungsstand gibt Unger, S. 71 ff. 353

BVerfGE 30, S. 1,24.

354

BVerfGE 30, S. 1, 24. Stern, JuS 1985, S. 332 f.; Bryde, Artikel 79, Rn. 51, in: von Münch (Hrsg.), Kommentar zum GG; Maunz-Dürig, Artikel 79 III, Rn. 24, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz (Hrsg.), Kommentar zum GG; Evers, Artikel 79 Abs. 3, Rn. 149 ff., in: BK; Huber, S. 44. 355

Müller, S. 98; Randelzhofer sieht den durch Artikel 24 Abs. 1 GG geschützten Bereich weiter, wenn er diesen als „Art. 79 III GG + x" bezeichnet. Bei den über Artikel 79 Abs. 3 GG hinausgehenden Grenzen soll es sich um die Gesamtheit der den materiellen Verfassungsbegriff ausfüllenden Bestimmungen handeln, ders., Artikel 24 Abs. 1, Rn. 98, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz (Hrsg.), Kommentar zum GG. 356

Artikel 1 Abs. 1 GG.

Α. Hoheitsrechtsübertragungen nach dem GG

0

menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit 357. In Verbindung mit der in Absatz 3 enthaltenen Verweisung auf die nachfolgenden Grundrechte sind deren Verbürgungen insoweit einer Einschränkung grundsätzlich entzogen, als sie zur Aufrechterhaltung einer den Absätzen 1 und 2 entsprechenden Ordnung unverzichtbar sind 358 . Schon aus dem Wortlaut des Artikels 79 Absatz 3 GG ergibt sich, daß auch in bezug auf Artikel 1 GG nicht alle Konkretisierungen, die aus Artikel 1 GG entwickelt worden sind, geschützt sind 359 . Er schützt jedoch vor Mißachtung und Geringschätzung des einzelnen und seiner Auslieferung an die Willkür von Behörden 360. Bei der Ausübung von Hoheitsgewalt ist der Mensch in seinem Eigenwert und seiner Eigenständigkeit zu achten und zu schützen, so daß es der Menschenwürde widerspräche, den Menschen zum bloßen Objekt staatlichen Handelns zu machen und kurzerhand von Obrigkeits wegen über ihn zu verfugen 3 6 1 . Artikel 1 Absatz 2 GG sichert zudem einen Grundbestand an Menschenrechten, in denen sich der Anspruch auf Achtung und Schutz der Menschenwürde verwirklicht 362 . Artikel 79 Absatz 3 GG i.V.m. Artikel 1 Absatz 3 GG garantiert in der Folge den unantastbaren Menschenwürdegehalt der Grundrechte 363. Die in Artikel 1 Absatz 3 GG vorgesehene Bindung der drei Gewalten an die Grundrechte läßt Änderungen der Grundrechte nur zu, wenn den Grundrechten auch nach einer Übertragung von Hoheitsrechten Bindungswirkung zukommt. Jedenfalls ist es verboten, den Grundrechtskatalog auf eine Sammlung unverbindlicher Programmsätze zu reduzieren oder eine der drei Gewalten aus der Grundrechtsbindung insgesamt zu entlassen364. Über diesen

357

Artikel 1 Abs. 2 GG.

358

Hahn, Vertrag von Maastricht, S. 124. Aus der Verknüpfung des Schutzes der Menschenwürde mit dem Grundrechtskatalog kann nicht geschlossen werden, daß der gesamte Grundrechtskatalog der Sperrklausel des Artikels 79 Abs. 3 GG unterliegt, denn dies widerspräche dessen insofern eindeutigem Wortlaut, statt vieler Evers, Artikel 79 Abs. 3, Rn. 172, in: BK. 359

Evers, Artikel 79 Abs. 3, Rn. 163, in: BK.

360

BVerfGE 30, S. 1,27.

361

BVerfGE 5, S. 85, 204; BVerfGE 7, S. 198, 205; BVerfGE 9, S. 89, 95; BVerfGE 27, S. 1, 6; BVerfGE 30, S. 1, 25 f. 362

Evers, Artikel 79 Abs. 3, Rn. 170, in: BK.

363

Leisner, DÖV 1992, S. 438; Bryde, Artikel 79, Rn. 33 ff., in: von Münch (Hrsg.), Kommentar zum GG. 364

Evers, Artikel 79 Abs. 3, Rn. 175, in: BK.

II. Regelungen des GG

1

Mindeststandard des Artikels 1 GG hinaus werden die Grundrechte durch die eigenständige Grenzbestimmung zugunsten der Grundrechte geschützt365.

(2) Schutz der Grundsätze des Artikels 20 GG Daneben schützt Artikel 79 Absatz 3 GG die in Artikel 20 GG niedergelegten Grundsätze. Die Staatsfundamentalnorm 366 Artikel 20 GG enthält zentrale Grundsätze für die Organisation des deutschen Staates und legt fest, daß die Bundesrepublik Deutschland als ein demokratischer, sozialer Bundesstaat konzipiert ist, der dem Rechtsstaatsprinzip verpflichtet ist. Er enthält demnach die Garantie des Demokratieprinzips ((a)), des Bundesstaatsprinzips ((b)), des Sozialstaatsprinzips ((c)) sowie des Rechtsstaatsprinzips ((d)).

(a) Demokratie Artikel 79 Absatz 3 i.V.m. Artikel 20 GG gewährleistet in der Bundesrepublik Deutschland die Geltung des Demokratieprinzips. Artikel 20 Absatz 1 Satz 1 GG bestimmt daher: Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus 367 . Demokratie i.S. des Grundgesetzes bedeutet also, daß für die Legitimation staatlichen Handelns eine rechtfertigende Herleitung erforderlich ist. Die erforderliche Legitimation kann gemäß Artikel 20 Absatz 2 Satz 1 GG nur vom deutschen Volk selbst vermittelt werden 368 . Hieraus folgt, daß die Ausübung der deutschen Staatsgewalt durch eine ununterbrochene Legitimationskette auf Entscheidungen des deutschen Volkes rückführbar sein muß 3 6 9 . Dem Grundgesetz liegt damit ausdrücklich das Prinzip der Volkssouveränität zugrunde. Aufgrunddessen muß das Volk effektiven Einfluß auf die Ausübung der Staatsgewalt haben. Die Handlungen der Organe, die diese Staatsgewalt ausüben, müssen sich auf den Willen des Volkes zurückführen lassen und ihm gegenüber verantwortet werden 370 . Demokratische Legitimation wird gemäß Artikel 20 Absatz 1 i.V.m. Absatz 2 Satz 2 GG durch Wahlen und Abstimmungen vermit-

365

Siehe oben S. 74 ff.

366

Herzog, Artikel 20, Abschnitt I, Rn. 7, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz (Hrsg.), Kommentar zum GG. 367

Artikel 20 Abs. 1 Satz 1 GG

368

Böckenförde,

HdbStR I, § 22 Rn. 2; Kirchner/Haas,

JZ 1993, S. 764.

369

BVerfGE 47, S. 53, 75. Herzog, Artikel 20, Abschnitt II, Rn. 52 ff., in: Maunz/ Dürig/Herzog/Scholz (Hrsg.), Kommentar zum GG; Huber, S. 41; Claudi , S. 229. 370 BVerfGE 83, S. 60, 71 f. Schnapp, Artikel 20, Rn. 30, in: von Münch (Hrsg.), Kommentar zum GG; Simson,, EuR 1991, S. 8 f.; Kirchhof HdbStR VII, § 183 Rn. 61.

6 Uhrig

Α. Hoheitsrechtsübertragungen nach dem GG telt. Die so gewählten Parlamente garantieren durch die von ihnen beschlossenen Gesetze, die Maßstab für die vollziehende Gewalt sind, durch die parlamentarische Kontrolle der Politik der Regierungen sowie durch die grundsätzliche Weisungsgebundenheit der Verwaltung gegenüber den Regierungen, die demokratische Legitimation der die Staatsgewalt ausübenden Organe 3 7 1 . Neben die Legitimation durch Wahlen und Abstimmungen tritt die Kontrolle der Staatsgewalt durch das V o l k 3 7 2 . Weiteres notwendiges Element der Demokratie, wie sie das Grundgesetz für die innerstaatliche Ordnung der Bundesrepublik Deutschland fordert, ist daher die zeitliche Begrenzung der Wahlperioden der Parlamente durch periodisch stattfindende Wahlen und eine zeitliche Begrenzung der Amtsdauer der obersten Bundesorgane. Daneben ist die Freiheit der Information, der Meinungsbildung und die Gründungs- und Betätigungsfreiheit von Parteien und Vereinen mit politischer Zielsetzung sowie das Recht auf Opposition erforderlich 373, da dies Voraussetzungen für die politische Willensbildung sind 374 . Diese der Demokratie zugrundeliegenden Prinzipien schützt Artikel 79 Absatz 3 GG im Hinblick auf die Verfassungsordnung Deutschlands. Für die Grenze der Übertragung von Hoheitsrechten bedeutet dies, daß staatliches Handeln durch die deutsche Hoheitsgewalt stets der Legitimation durch das deutsche Volk bedarf und die Kontrolle der Ausübung dieser Hoheitsgewalt durch das Volk insbesondere durch Wahlen stattfinden muß, die ihrerseits eine politisch effektive Willensbildung voraussetzen. (b) Bundesstaat Artikel 79 Absatz 3 GG i. V.m. Artikel 20 GG schützt als grundlegendes Verfassungsprinzip der innerstaatlichen Verfassungsordnung das Bundesstaatsprinzip. Garantiert ist die Gliederung des Bundes in Länder und die grundsätzliche Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung375. Daher verbietet Artikel 79 Absatz 3 GG eine Änderung des Grundgesetzes, durch welche die Gliederung 371

BVerfGE 83, S. 60, 72. Zu den Abweichungen im Hinblick auf die Hauptentscheidungsorgane zwischenstaatlicher Einrichtungen, die Folge des in ihnen geltenden Prinzips der Gleichheit der Staaten ist, siehe oben S. 72 f. 372

BVerfGE 1, S. 14, 33; BVerfGE 20, S. 56, 98 f. Zuleeg, Der Staat 1978, S. 31; Simson, EuR 1991, S. 8. 373

Evers, Artikel 79 Abs. 3, Rn. 187, in: BK.

37 4

Schnapp, Artikel 20, Rn. 15, in: von Münch (Hrsg.), Kommentar zum GG.

375

Ossenbühl, S. 131; Schwan, S. 68; Birke, S. 101; Neßler, EuR 1994, S. 216.

II. Regelungen des GG des Bundes in Länder berührt wird. Die „Länder" sind gegen eine Verfassungsänderung gesichert, durch die sie die Qualität von Staaten einbüßen376. Ob die Bundesländer „Staaten" sind oder von Körperschaften „am Rande der Staatlichkeit" zu „höchstpotenzierten Gebietskörperschaften" in einem dezentralisierten Einheitsstaat herabsinken, läßt sich nicht formal danach bestimmen, daß sie eine eigene Verfassung besitzen und daß ihnen irgendein Rest von Gesetzgebungszuständigkeit, Verwaltungszuständigkeit und justizieller Zuständigkeit zukommt. Wäre dies ausreichend, könnten die Länder in ihrer Qualität als Staaten durch Grundgesetzänderungen nach und nach ausgehöhlt werden, so daß am Ende nur noch eine Eigenstaatlichkeit nicht begründende Hülle übrig bliebe 377 . Den Ländern muß aufgrund ihrer Staatsqualität also ein unentziehbarer Kern, ein Mindestmaß eigener Aufgaben, Kompetenzen und Wirkungsmöglichkeiten als „Hausgut" verbleiben 378. Objektive Kriterien für die Bestimmung des Kernbereichs sind allerdings nur schwer zu ermitteln 379 . Erforderlich ist aber in jedem Fall, daß den Bundesländern die freie Entscheidung über ihre Organisation einschließlich der in der Landesverfassung enthaltenen organisatorischen Grundentscheidungen sowie die Garantie der verfassungskräftigen Zuweisung eines angemessenen Anteils am Gesamtsteueraufkommen im Bundesstaat verbleibt 380 . Hierzu zählen das Landeswahlrecht und die Verfassungsautonomie und ihre Personalgewalt über die Landesbeamten sowie Aufgaben und Kompetenzen in den Bereichen Erziehung und Bildung, Schule, Wissenschaft, Kunst und Denkmalpflege 381. Ein oder zwei „Restzuständigkeiten" tragen die Staatsqualität der Länder jedenfalls nicht 382 . Zu dem erforderlichen Grundbestand gehört ein Mindestmaß an ausschließlichen Gesetzgebungskompetenzen im 376

Zur Staatsqualität der Bundesländer BVerfGE 1, S. 14, 34; BVerfGE 3, S. 58, 158; BVerfGE 14, S. 221, 234. Kirchner/Haas, JZ 1993, S. 769; Badura,, FS Lerche, S. 379; Neßler, EuR 1994, S. 216; Ossenbühl, S. 126, unterstreicht, daß diese Staatsqualität den Unterschied zu hochpotenzierten Selbstverwaltungsträgern begründet. 377

BVerfGE 34, S. 9, 19 f.

37 8

Maunz, Verfügungen des Bundes, S. 294; Classen , ZRP 1993, S. 57.

37 9

Kewenig, JZ 1990, S. 461, lehnt einen quantitativen Erklärungsversuch ab. Ebenso Dörr, NwVBl. 1988, S. 293, der auf die historisch unterschiedlichen gewachsenen Erscheinungsformen der Länder und deren Schutz abstellt. Kritisch Hailbronner, JZ 1990, S. 150 f.; Streinz, DVB1. 1990, S. 962. 380

BVerfGE 34, S. 9, 19 f.

381

Diese Beispiele nennt Pernice , DVB1. 1993, S. 911. Im Ergebnis ebenso Morawitz/Kaiser, S. 15 f., die jedoch auch die Garantie der Beteiligung am Steueraufkommen für existentiell halten. 382

6*

Kewenig JZ 1990, S. 461.

Α. Hoheitsrechtsübertragungen nach dem GG legislativen, planerischen, administrativen, finanziellen und justiziellen Bereich 383 , der einen unentziehbaren Kern an eigenen Gesetzgebungs-, Verwaltungs- und Jurisdiktionskompetenzen umfaßt 384 . Freilich verhindern die Garantien des Artikels 79 Absatz 3 GG nicht Bewegungen und Veränderungen im bundesstaatlichen Gefüge. Dieses läßt vielmehr Wandlungen und Modifikationen z u 3 8 5 . Sie müssen sich aber innerhalb der verfassungsrechtlichen Toleranzen bewegen 386 . Das durch Artikel 79 Absatz 3 GG geschützte Prinzip des Bundesstaates hat aber zur Folge, daß die Bundesländer weiterhin Staatsqualität besitzen müssen387 und insofern die bundesstaatliche Struktur der Bundesrepublik Deutschland erhalten bleibt 388 . Als Grenze im Hinblick auf die Übertragung von Hoheitsrechten bedeutet dies, daß die Bundesrepublik Deutschland auch nach der Übertragung von Hoheitsrechten innerstaatlich als Bundesstaat konstituiert sein muß, daß den Bundesländern weiterhin Staatsqualität zukommen muß und daß ihnen ein Kern eigener Aufgaben und Kompetenzen in Gesetzgebung, Exekutive und Judikative verbleiben muß.

(c) Sozialstaat Zu den durch Artikel 20 GG geschützten Prinzipien gehört außerdem das Sozialstaatsprinzip389. Bei diesem handelt es sich um einen Gestaltungsauftrag an Legislative und Exekutive 390 , der die Verpflichtung zur Verwirklichung des Ausgleichs der sozialen Gegensätze und einer gerechten Sozialordnung bein383

Evers, Artikel 79 Abs. 3, Rn.214, in: BK; Kirchner/Haas, Busch, S. 113; Stein, VVDStRL 53 (1994), S. 33.

JZ 1993, S. 769;

384 Maunz, Verfügungen des Bundes, S. 294; Haas, DÖV 1988, S. 615; Kewenig, JZ 1990, S. 461; Bleckmann, RIW/AWD 1978, S. 144; Dörr, NwVBl. 1988, S. 292; Bryde, Artikel 79, Rn. 31, in: von Münch (Hrsg.), Kommentar zum GG. 385

BVerfGE 84, S. 90, 121.

386

OssenbühLS. 131 m.w.N.

387

Bleckmann, RIW/AWD 1978, S. 145; Geiger, GG und Völkerrecht, S. 240; Dörr, NwVBl. 1988, S. 292; Haas, DÖV 1988, S. 615; Degenhart, Rn. 84. 388

Tomuschat, Artikel 24, Rn. 68 a, in: BK; Ossenbühl, S. 131, spricht vom Verbot des totalen Ausverkaufs des Bundesstaates, Blanke, S. 229 f.; Morawitz/Kaiser, S. 13. 389

BVerfGE 84, S. 90, 121. Das Sozialstaatsprinzip gibt allerdings lediglich eine sehr abstrakte allgemeine Orientierung staatlichen Handelns vor, Sommermann, DÖV 1994, S. 597. 390

Stern, Bd. I, S. 887; Schnapp, Artikel 20, Rn. 18, in: von Münch/Kunig (Hrsg.), Kommentar zum GG.

II. Regelungen des GG haltet 391 . Dieser Gestaltungsauftrag ist auf einen Ausgleich sozialer Ungleichheiten ausgerichtet und dient der Erhaltung und Sicherung der menschlichen Würde 392 . Gesetzgeber und Exekutive sind verpflichtet, soziale Gerechtigkeit herzustellen und zu wahren und sozialer Bedürftigkeit abzuhelfen 393. Die Verpflichtung und Legitimation für das Handeln von Legislative und Exekutive 394 , die „Mindestvoraussetzungen für ein menschenwürdiges Dasein" 395 zu schaffen bzw. die staatliche Vor- und Fürsorge für einzelne oder Gruppen der Gesellschaft, die in ihrer persönlichen und sozialen Entfaltung gehindert sind 396 , enthält zwei wesentliche Wertentscheidungen: Soziale Gerechtigkeit soll einerseits die existentielle und wirtschaftliche Lebens- und Leistungsfähigkeit aller Bevölkerungsteile auf einem angemessenen Standard verbürgen 397. Zum anderen soll soziale Sicherheit die Schaffung oder Erhaltung von Einrichtungen oder Maßnahmen sichern, die den Schutz der Lebensgrundlagen des einzelnen für den Fall des Fehlens eigener Daseinsvorsorge in Krisen, seien sie Alter, Behinderung, Arbeitslosigkeit oder Krankheit, gewähren 398. Die Garantie des Sozialstaatsprinzips durch Artikel 79 Absatz 3 GG schränkt also die Möglichkeit der Übertragung von Hoheitsrechten im Rahmen des Artikels 24 Absatz 1 GG dahingehend ein, daß diese Übertragung nicht dazu führen darf, daß der deutsche Staat seinen Auftrag zur Verwirklichung des Sozialstaates nicht mehr erfüllen kann.

(d) Rechtsstaat Grundlegendes Verfassungsprinzip der Bundesrepublik Deutschland ist weiterhin der in Artikel 79 Absatz 3 GG i.V. m. Artikel 20 GG geschützte Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit399. Dieses Prinzip kennzeichnet die Bundesrepublik 391

BVerfGE 22, S. 180, 204. Claudi , S. 230; Kittner, Artikel 20, Abs. 1-3, Rn. 1, in: Alternativkommentar zum GG; Evers, Artikel 79 Abs. 3, Rn. 201, in: BK. 392

Schnapp, Artikel 20, Rn. 18, in: von Münch/Kunig (Hrsg.), Kommentar zum

GG. 393

Evers, Artikel 79 Abs. 3, Rn. 201, in: BK.

394

Hesse, Rn. 213; Degenhart, Rn. 362.

395

BVerfGE 40, S. 121, 133.

396

BVerfGE 35, S. 202, 236; BVerfGE 45, S. 376, 387.

397

Maunz-Zippelius, S. 98 f.; Stern, Bd. I, S. 911.

398

BVerfGE 40, S. 121, 135; BVerfGE 45, S. 376, 387.

399

So ausdrücklich BVerfGE 84, S. 90, 121. Das Rechtsstaatsprinzip ist zwar nicht ausdrücklich in Artikel 1 oder 20 GG erwähnt, doch enthält Artikel 20 GG wesentliche Elemente der Rechtsstaatlichkeit. So kommen in Artikel 20 Abs. 1 und 3 GG grundle-

Α. Hoheitsrechtsübertragungen nach dem GG Deutschland als einen Staat, in dem die Ausübung staatlicher Macht umfassend rechtlich gebunden ist 4 0 0 . Wesentliche Merkmale des Rechtsstaatsprinzips sind die Gewaltenteilung und -trennung, die Bindung aller Gewalten an die verfassungsmäßige Ordnung und die Bindung der Verwaltung an Gesetz und Recht, die Rechtsschutzgarantie401 sowie die Gewährleistung elementarer Grund- und Menschenrechte402. Mit der in Artikel 20 Absatz 2 Satz 2 GG vorgenommenen Aufteilung der deutschen Staatsgewalt auf unterschiedliche Organe bekennt sich das Grundgesetz zur Gewaltenteilung403. Artikel 79 Absatz 3 GG garantiert dem Parlament die politische Letztentscheidung in Form des Gesetzgebungsrechts404, sichert die Exekutive als verfassungsunmittelbare Institution und ihre Funktion 405 und die Gerichtsbarkeit als Institution und deren sachliche und personelle Unabhängigkeit 406 . Gewaltenteilung setzt nicht die strikte Trennung der Gewalten voraus, wohl aber eine Zuordnung der jeweiligen Kompetenzen, die eine sachgerechte Funktionswahrnehmung, insbesondere eine wechselseitige Begrenzung und Kontrolle der Machtausübung sichert 407. Die Balance zwischen den Gewalten muß erhalten bleiben. Keine Gewalt darf ein vom Grundgesetz nicht vorgesehenes Übergewicht über eine andere Gewalt erhalten, und keine Gewalt darf der für die Erfüllung ihrer verfassungsmäßigen Aufgaben erforderlichen Zuständigkeiten beraubt werden 408 . Das Prinzip der Gewaltenteilung ist daher verletzt, wenn eine Gewalt in zentrale Aufgabenbereiche der anderen

gende Elemente des Rechtsstaatsprinzip zum Ausdruck, BVerfGE 84, S. 90, 121 ; Penski, ZRP 1994, S. 193. Das Rechtsstaatsprinzip ist zudem wegen seiner Erwähnung in Artikel 28 GG konstitutives Element der verfassungsmäßigen Ordnung, Herzog, Artikel 20, Abschnitt VII, Rn. 32, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz (Hrsg.), Kommentar zum GG; Tettinger, RIW 1992, Beilage 3, S. 8. 400

Degenhart, Rn.214.

401

BVerfGE 58, S. 1, 30 f.; BVerfGE 73, S. 339, 373.

402

Evers, Artikel 79 Abs. 3, Rn. 203, in: BK; Kirchhof, Penski, ZRP 1994, S. 193.

HdbStR VII, § 183 Rn. 61;

403

Herzog, Artikel 20, Abschnitt V, Rn. 1, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz (Hrsg.), Kommentar zum GG. 404

Streinz, S. 257 f.; Lang, S. 274. Anders in zwischenstaatlichen Einrichtung, in denen das die Mitgliedstaaten vertretene Organ das Hauptentscheidungsorgan bildet, siehe oben S. 72 f. 405

BVerfGE 49, S. 89, 125.

406

Evers, Artikel 79 Abs. 3, Rn. 193, in: BK.

407

BVerfGE 3, S. 225, 247. Evers, Artikel 79 Abs. 3, Rn. 194, in: BK.

408

BVerfGE 9, S. 268, 279 f; BVerfGE 22, S. 106, 111; BVerfGE 35, S. 52, 59.

II. Regelungen des GG Gewalt eingreift 409 . Hoheitsrechtsübertragungen im Rahmen des Artikels 24 Absatz 1 GG dürfen daher nicht einseitig eine der drei Gewalten wesentlicher Kompetenzen berauben 410. Als Bestandteil des Rechtsstaatsprinzips begründet Artikel 20 Absatz 3 GG den Grundsatz der Bindung aller Gewalten an die verfassungsmäßige Ordnung und die Bindung von Exekutive und Rechtsprechung an Recht und Gesetz. Dies bedeutet zum einen, daß sich alle belastenden staatlichen Handlungen auf ein formelles oder materielles Gesetz zurückführen lassen müssen411. Neben den Vorbehalt des Gesetzes tritt der Vorrang des Gesetzes. Dieser Grundsatz bringt die Bindung der Verwaltung an die bestehenden Gesetze zum Ausdruck und besagt, daß diese keine Maßnahmen treffen darf, die einem Gesetz widersprechen 412 . Artikel 79 Absatz 3 GG schützt außerdem grundlegende Gerechtigkeitspostulate. Dazu gehören der Grundsatz der Rechtsgleichheit und das Willkürverbot 413 und das Verhältnismäßigkeitsprinzip 414. Daneben ist es Teil des Rechtsstaatsprinzips, daß jede Hoheitsrechtsausübung, durch die der einzelne in seinen Rechten verletzt sein kann, gerichtlicher Kontrolle unterliegt. Für die Übertragung von Hoheitsrechten im Rahmen des Artikels 24 Absatz 1 GG bedeutet dies, daß der deutsche Staat auch nach der Übertragung von Hoheitsrechten die durch das Rechtsstaatsprinzip geschützten Garantien gewährleisten können muß. Die Bundesrepublik Deutschland muß einen Staat verkörpern, in dem eine Teilung der Gewalten, die Bindung dieser Gewalten an die verfassungsmäßige Ordnung und an Recht und Gesetz und umfassender Rechtsschutz gewährleistet ist. (3) Ergebnis Die in Artikel 79 Absatz 3 GG enthaltenen elementaren Verfassungsgrundsätze bilden eine weitere Grenze für die Möglichkeit, im Rahmen des Artikels 24 Absatz 1 GG Hoheitsrechte auf eine zwischenstaatliche Einrichtung zu

409

BVerfGE 9, S. 268, 280; BVerfGE 22, S. 106, 111. Bryde, Artikel 79, Rn. 43, JZ 1993, S. 767 f.; in: von Münch (Hrsg.), Kommentar zum GG; Kirchner/Haas, Penski. ZRP 1994, S. 193. 410

Müller, S. 84.

411

Evers, Artikel 79 Abs. 3, Rn. 199, in: BK; Maurer, § 6, Rn. 3 ff.

412

Maurer, § 6, Rn. 1; Schnapp, Artikel 20, Rn. 38, in: von Münch/Kunig (Hrsg.), Kommentar zum GG. 413

BVerfGE 1, S. 208, 233; BVerfGE 23, S. 98, 106 f.; BVerfGE 84, S. 90, 121.

414

Maurer, § 4, Rn. 28.

Α. Hoheitsrechtsübertragungen nach dem GG übertragen. Diese Grenze bezieht sich - anders als die durch die Forderung nach einem Grundrechtsschutz durch die zwischenstaatliche Einrichtung aufgestellte Grenze - aber nicht auf die zwischenstaatliche Einrichtung selbst, sondern auf die Verfassungsordnung der Bundesrepublik Deutschland und die für diese grundlegenden Verfassungsprinzipien. Der Fortbestand und die Fortgeltung dieser grundlegenden Prinzipien der staatlichen Ordnung Deutschlands müssen auch nach der Übertragung von Hoheitsrechten innerstaatlich garantiert sein. Die Bundesrepublik Deutschland muß auch nach der Übertragung von Hoheitsrechten die Gestalt und Struktur eines demokratischen, bundesstaatlich organisierten, sozialstaatlichen, rechtsstaatlichen und die Menschenwürde achtenden Staates im Sinne der Artikel 1 und 20 GG aufweisen. Sie muß in der Lage sein, die Menschenwürde und die Menschenrechte zu achten, so daß für den einzelnen die Garantie besteht, nicht der Willkür staatlicher Gewalt ausgesetzt zu sein. Auch nach der Übertragung von Hoheitsrechten muß die Bundesrepublik Deutschland einen Staat darstellen, in dem die Staatsgewalt der demokratischen Legitimation durch das Volk bedarf und die Ausübung von deutscher Staatsgewalt auf legitimierende Entscheidungen des Volkes rückführbar ist. Der Staat muß bundesstaatlich strukturiert sein, d.h., die Gliederung des Bundes in Länder und deren grundsätzliche Mitwirkung an der Gesetzgebung muß garantiert sein. Den Ländern muß ein Kern eigener Aufgaben in Gesetzgebung, Verwaltung und Judikative verbleiben, die ihre Staatsqualität tragen. Die Bundesrepublik Deutschland muß in der Lage sein, den Gestaltungsauftrag zum Ausgleich sozialer Gegensätze und zur Abhilfe bei sozialer Bedürftigkeit umzusetzen. Sie muß darüber hinaus dem Rechtsstaatsprinzip verpflichtet sein und muß insofern innerstaatlich die Gewaltentrennung und -teilung, die Bindung aller Gewalten an Recht und Gesetz und eine gerichtliche Kontrolle durch unabhängige Gerichte garantieren.

cc) Aufgabe der deutschen Staatlichkeit Eine weitere Grenze für die Möglichkeit der Übertragung von Hoheitsrechten läßt sich aus dem Wortlaut des Artikels 24 Absatz 1 GG herleiten. Artikel 24 Absatz 1 GG ermöglicht die Übertragung einzelner Hoheitsrechte 415, nicht aber die Übertragung der Hoheitsgewalt schlechthin416, also der Hoheitsrechte der Bundesrepublik Deutschland in ihrer Gesamtheit417. Artikel 24 Ab-

415

Tomuschat, Artikel 24, Rn. 20, in: BK; Herdegen., EuGRZ 1992, S. 591.

416

Mosler, HdbStR VII, § 175 Rn. 28.

417

Bleckmann, GG und Völkerrecht, S. 229; Kirchner/Haas, JZ 1993, S. 762. Randelzhofer, Artikel 24 Abs. 1, Rn. 116, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz (Hrsg.), Kom-

II. Regelungen des GG satz 1 GG ermächtigt den einfachen Gesetzgeber also nicht, die gesamte Staatsgewalt der Bundesrepublik Deutschland auf eine zwischenstaatliche Einrichtung zu übertragen 418 mit der Folge der Aufgabe der Staatlichkeit Deutschlands419. Der Integrationshebel des Artikels 24 Absatz 1 GG reicht nicht soweit, den Verfassungsstaat Bundesrepublik Deutschland selbst aufzugeben 420. Das Grundgesetz setzt vielmehr die Staatlichkeit Deutschlands voraus 421 . Diese steht auch im Rahmen der europäischen Einigung nicht zur Disposition422. Aufgrund des Gebots der Erhaltung der Staatlichkeit der Bundesrepublik Deutschlands, das auch unmittelbar aus Artikel 20 Absatz 1 GG hergeleitet wird, der die Kernaussage enthält, daß die Bundesrepublik Deutschland ein Staat ist 4 2 3 , ist es dem Gesetzgeber nicht nur vorenthalten, einer zwischenstaatliche Einrichtung die Gesamtheit der deutschen Hoheitsgewalt zu übertragen, sondern es ist auch nicht möglich, einem anderen Staat beizutreten 424. Ein anderer Staat verfügt aufgrund seiner Staatsqualität über eine KompetenzKompetenz und könnte im Zuge der Ausübung dieser Kompetenz-Kompetenz die Staatlichkeit Deutschlands beeinträchtigen bzw. beenden425. Artikel 24 Absatz 1 GG ermächtigt somit auch nicht zur Übertragung von Hoheitsrechten

mentar zum GG; Thiene, VVDStRL 18 (1960), S. 57; Grewe, HdbStR III, § 77 Rn. 75; Magiera, Jura 1994, S. 3; Mosler, HdbStR VII, § 175 Rn. 28. 418

Doehring, DVB1. 1979, S. 638; Tomuschat, Artikel 24, Rn. 20, in: BK; Klein, S. 26; anders Fastenrath, FAΖ vom 12.08.1993, S. 5; Steiger, FAΖ vom 04.08.1993, S. 6. 419

Klein, VVDStRL 50 (1991), S. 88, formulierte denn auch: „Die Aufopferungsbereitschaft des Grundgesetzes geht weit, ist aber nicht schrankenlos und hält am Kern der verfassungsrechtlichen Errungenschaften unter Einschluß des Verfassungsstaates selbst fest." 420

Zuleeg, DÖV 1977, S. 464; Badura, VVDStRL 23 (1966), S. 74. Dies werde auch in der Präambel deutlich, die sowohl die Einordnung in ein vereintes Europa als auch die Wahrung der nationalen und staatlichen Einheit zu Zielen der deutschen Politik macht, Kirchhof, EuR 1991, Beiheft 1, S. 13. 421

/////VVDStRL 53 (1994), S. 23.

422

Kirchhof,

HdbStR VII, § 183 Rn. 57.

423

Kirchhof, HdbStR VII, § 183 Rn. 60; ders., EuR 1991, Beiheft 1, S. 13, der hinzufugt: „Die Bundesrepublik Deutschland ist ein Staat, nicht ein Land eines europäischen Staates." 424

BVerfGE 68, S. 1, 91. Tomuschat, Artikel 24, Rn. 46, in: BK; Doehring, DVB1. 1979, S. 638; Siebelt, DÖV 1990, S. 372, Fn. 132; Klein, S. 26; Bauer/Hartwig, NwVBl. 1994, S. 48; a.A. Bleckmann, GG und Völkerrecht, S. 229; Stern, Bd. I, S. 521; Ruppert, S. 253. 425

Schilling, AöR 116 (1991), S. 38.

Α. Hoheitsrechtsübertragungen nach dem GG

0

an einen von der Bundesrepublik Deutschland unabhängigen Hoheitsrechtsträger 4 2 6 . Fraglich ist, ob flir die Übertragung von Hoheitsrechten darüber hinaus eine weitere Grenze besteht, die vor der Übertragung der Summe aller Hoheitsrechte einsetzt. Denkbar ist eine Situation, in der zwar nur einzelne Hoheitsrechte übertragen werden, diese aber quantitativ und qualitativ derart substanziierte Hoheitsrechte betreffen, daß der Bundesrepublik Deutschland nach der Übertragung nur noch Hoheitsrechte in einem Umfang und einer Qualität verbleiben, die ein Staatswesen nicht mehr tragen. Dies hätte sowohl für den Staat wie für die zwischenstaatliche Einrichtung Auswirkungen: Normalerweise sind zwischenstaatliche Einrichtungen dadurch gekennzeichnet, daß ihnen im Unterschied zu einem Staat nur ein beschränkter Umfang an Hoheitsrechten zusteht, die sie von ihren Mitgliedstaaten ableiten 427 . Ihre Mitgliedstaaten hingegen besitzen weiterhin die einen Staat kennzeichnende Staatsqualität, die ihre territoriale Integrität und Handlungsfähigkeit nach außen und ihre Gestaltungsfreiheit nach innen in den Grenzen des Völkerrechts an erkennt und schützt. Aufgrunddessen sind es auch die Mitgliedstaaten, die auch außerhalb des festgelegten Verfahrens die Satzung der zwischenstaatlichen Einrichtung ändern können 428 . Zwischenstaatlichen Einrichtungen fehlt es an einer umfassenden, schrankenlosen Kompetenzfülle, insbesondere an einer KompetenzKompetenz429, also der Befugnis, ihre Hoheitsrechte aus eigenem Recht zu gestalten430. Übertrügen die Mitgliedstaaten aber qualitativ und quantitativ substanziierte Hoheitsrechte, die einer Kompetenz-Kompetenz nahekämen, wäre die zwischenstaatliche Einrichtung in der Lage, ihre Kompetenzen aus eigenem Recht selbst festzulegen, jede Art von Kompetenzen an sich zu ziehen und diese gegebenenfalls unbegrenzt zu Lasten der Mitgliedstaaten auszubau-

426

Mosler, HdbStR VII, § 175 Rn. 28. Aufgrunddessen ist aber auch die Übertragung von Hoheitsrechten zugunsten von Körperschaften, die einem Staat eingegliedert sind, nicht zulässig, denn der die Körperschaft tragende andere Staat könnte diese Körperschaft mit umfassenden Hoheitsrechten ausstatten, so daß sie in der Folge die Hoheitsgewalt der Bundesrepublik Deutschland aus eigenem Recht schmälern und gegebenenfalls die Staatsqualität der Bundesrepublik Deutschland beseitigen könnte. 427

Tomuschat, Artikel 24, Rn. 20, in: BK; Zuleeg, Artikel 24, Rn. 7, in: Alternativkommentar zum GG; Stern, Bd. I, S. 521 ; Bleckmann, Nationales und europäisches Souveränitätsverständnis, S. 36. 428

Bleckmann, Nationales und europäisches Souveränitätsverständnis, S. 36.

429

Di Fabio , Der Staat 1993, S. 192; Bleckmann, Nationales und europäisches Souveränitätsverständnis, S. 36. 430

Tomuschat, Artikel 24, Rn. 20, in: BK.

II. Regelungen des GG

1

en 4 3 1 . Die zwischenstaatliche Einrichtung besäße folglich die Möglichkeit, aus eigenen Rechten in die Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten einzugreifen, die ihrerseits gehindert wären, sich der Ausübung dieser Kompetenzen durch Austritt zu entziehen, da die zwischenstaatliche Einrichtung aus nunmehr eigenem Recht handelte432. Konsequenz einer solchen Kompetenz-Kompetenz wäre, daß die zwischenstaatliche Einrichtung die Allzuständigkeit und die Unabhängigkeit von den Vertragsstaaten beanspruchen könnte 433 . Aufgrunddessen könnte sie sich in der Folgezeit zu einem staatsähnlichen Gemeinwesen mit Allzuständigkeit entwickeln434. In einem solchen Fall könnte die Bundesrepublik Deutschland zwar weiterhin Hoheitsrechte ausüben. Die Staatlichkeit Deutschlands wäre aber durch die Handlungsmöglichkeiten der zwischenstaatlichen Einrichtung latent gefährdet. Die tatsächliche Handlungsfähigkeit der Bundesrepublik Deutschland wäre vom Verhalten der zwischenstaatlichen Einrichtung abhängig. Da diese die Möglichkeit „zur unbegrenzten Kompetenzerweiterung" besäße, bestünde die Gefahr, daß die Hoheitsgewalt Deutschlands derart ausgehöhlt würde, daß man von einem Staat nicht mehr sprechen könnte 435 . Der Staat „Bundesrepublik Deutschland" würde dann lediglich als inhaltsleere Hülle zurückbleiben und in der Folge in der ehemaligen zwischenstaatlichen Einrichtung aufgehen 436. Es bestünde damit die Gefahr, daß die Staatlichkeit der Bundesrepublik Deutschland auf Null reduziert würde 437 . Die Übertragung von Hoheitsrechten auf zwischenstaatliche Einrichtungen darf also keinesfalls dazu führen, daß sich die Bundesrepublik Deutschland durch den „schleichenden Ausverkauf von Hoheitsrechten der Gefahr des Verlustes der Staatlichkeit aussetzt und in einer übergeordneten Einheit aufzugehen droht, die die deutsche Staatlichkeit überlagert 438. Die Scheidelinie, die die Übertragung von Hoheitsrechten im Rahmen des Artikels 24 Absatz 1 GG nicht überschreiten darf, ist damit die Mediatisierung der Bundesrepublik Deutschland durch einen Organismus, in dem schließlich die Staatlichkeit

431

Mosler, HdbStR VII, § 175 Rn. 28.

432

Mosler, HdbStR VII, § 175 Rn. 28.

433

BVerfGE 75, S. 223, 242.

434

Rupp, NJW 1993, S. 40; Schilling, AöR 116 (1991), S. 38.

435

Bleckmann, Nationales und europäisches Souveränitätsverständnis, S. 64.

436

Mosler, HdbStR VII, § 175 Rn. 28.

437

Rupp, NJW 1993, S. 40.

438

Ossenbühl, DVB1. 1993, S. 632; Kirchhof, Erneuertes Grundgesetz, S. 37 ff.; Klein, Artikel 24, Rn. 2, in: Schmidt-Bleibtreu/Klein, Kommentar zum GG.

Α. Hoheitsrechtsübertragungen nach dem GG Deutschlands aufgeht 439 . Gegen dieses Gebot würde beispielsweise verstoßen, wenn sich Deutschland „unter Preisgabe des Nationalstaates"440 in einen mit eigener Kompetenz-Kompetenz ausgestatteten europäischen Bundesstaat eingliedern würde, der der Bundesrepublik Deutschland übergeordnet wäre 4 4 1 , der das Recht zur originären Rechtsetzung und -gestaltung inne hätte und in den die Mitgliedstaaten unumkehrbar eingegliedert wären 442 . Die Bundesrepublik Deutschland ist vielmehr als eigenständiger Staat zu erhalten. Sie darf nicht auf den Status eines unselbständigen Teils innerhalb eines europäischen „Über"Staates reduziert werden 443 .

e) Ergebnis Artikel 24 Absatz 1 GG ist eine verfassungsrechtliche Ermächtigungsgrundlage für die Übertragung von Hoheitsrechten, die einen Mechanismus für die Übertragung zur Verfügung stellt. Artikel 24 Absatz 1 GG ermächtigt zur Übertragung von Hoheitsrechten auf zwischenstaatliche Einrichtungen, d.h. auf internationale Organisationen, die auf dem Zusammenschluß von Staaten beruhen und die nach dem sie begründenden völkerrechtlichen Vertrag ermächtigt sind, Hoheitsrechte auf dem Territorium der Mitgliedstaaten mit unmittelbarer innerstaatlicher Wirkung gegenüber den Staatsangehörigen dieser Mitgliedstaaten und den innerstaatlichen Organen auszuüben. Die Übertragung erfolgt grundsätzlich durch den Bund, der eigene Hoheitsrechte und Hoheitsrechte der Bundesländer übertragen kann. Einzige Ausnahme zugunsten der Bundesländer ist die seit Dezember 1992 bestehende Möglichkeit gemäß Artikel 24 Absatz 1 a GG, Hoheitsrechte auf grenznachbarschaftliche Einrichtungen zu übertragen. Diese Einrichtungen sollen die grenzüberschreitende Zusammenarbeit benachbarter Regionen mit lediglich lokalem Bezug ermöglichen. Die Übertragung der Hoheitsrechte hat durch Gesetz zu erfolgen; eine Rechtsverordnung reicht hierzu nicht aus. Bei diesem Gesetz handelt es sich um ein im Gesetzgebungsverfahren nach Artikel 76 ff. GG ergehendes einfaches

439

Mosler, HdbStR VII, § 175 Rn. 32.

440

Badura,, VVDStRL 23 (1966), S. 74.

441

Mosler, HdbStR VII, § 175 Rn. 25; Zuleeg, DÖV 1977, S. 464; Grewe, HdbStR III, § 77 Rn. 75; Steinberg/Britz, DÖV 1993, S. 319; Steinberger, FS Helmrich, S. 430. Henrichs, EuGRZ 1989, S. 245, fuhrt hierzu aus: „Auf Grenzen der nationalen Verfassungen stößt das Gemeinschaftsrecht, wo es die Substanz der nationalen Grundordnung, deren unabdingbaren Souveränitätskern tangiert." 442

Kirchhof,

HdbStR VII, § 183 Rn. 38.

443

Kirchhof

HdbStR VII, § 183 Rn. 60; ders., Erneuertes Grundgesetz, S. 38.

II. Regelungen des GG Bundesgesetz. Ein verfassungsänderndes Gesetz i.S. von Artikel 79 Absatz 1 und 2 GG ist nicht erforderlich. Zwar sieht Artikel 24 Absatz 1 GG für das erforderliche Gesetz keine Beteiligung des Bundesrates vor. Da der der Übertragung zugrundeliegende völkerrechtliche Vertrag neben der Übertragung von Hoheitsrechten bisher stets auch sonstige völkerrechtliche Regelungen enthielt, ist das Ratifikationsgesetz nicht ausschließlich nach Artikel 24 Absatz 1 GG zu beurteilen, sondern muß auch die Voraussetzungen des Artikels 59 Absatz 2 GG erfüllen. Es kommt daher für die Frage, ob das Ratifikationsgesetz der Zustimmung des Bundesrates bedarf, darauf an, ob der Vertrag insgesamt Materien berührt, die nach der ausdrücklichen Anordnung des Grundgesetzes im innerstaatlichen Bereich einer solchen Zustimmung bedürfen. Obgleich Artikel 24 Absatz 1 GG keine ausdrücklichen Schranken für die Übertragung von Hoheitsrechten enthält, gestattet er die Übertragung von Hoheitsrechten nicht ohne Grenzen. Wenn auch Artikel 24 Absatz 1 GG für die Struktur der zwischenstaatlichen Einrichtung keine expliziten Vorgaben aufstellt, so ergeben sich angesichts der Forderung nach einem Mindestmaß an gemeinsamen Wertvorstellungen der Mitgliedstaaten mittelbar Folgerungen auch für die Struktur der zwischenstaatlichen Einrichtung. Sofern eine zwischenstaatliche Einrichtung durch die Ausübung der ihr übertragenen Hoheitsrechte in der Lage ist, den Wesensgehalt der Grundrechte zu beeinträchtigen, und sofern der bestehende innerstaatliche Rechtsschutz entfallen kann, muß gewährleistet sein, daß die zwischenstaatliche Einrichtung ihrerseits über ein für alle ihre Organe rechtsverbindlich garantiertes, nicht nur vorübergehend bestehendes Grundrechtsschutzsystem verfügt. Der Grundrechtsschutz durch die zwischenstaatliche Einrichtung muß dem des Grundgesetzes im wesentlichen gleichartig und gleichwertig sein und die unabdingbaren Grundrechtsgewährleistungen des Grundgesetzes garantieren. Dies setzt unabhängige Gerichte und ein rechtsstaatliches Verfahren voraus. Durch die Forderung des Bestehens eines Grundrechtsschutzsystems werden damit einerseits Anfor-derungen an die Struktur der zwischenstaatlichen Einrichtung aufgestellt. Andererseits verpflichtet diese Grenze aber auch die Hoheitsrechte übertragenden deutschen Organe, Hoheitsrechte nur bei Vorhandensein dieser Garantie an zwischenstaatliche Einrichtungen zu übertragen. Da das Grundgesetz die Wahrung der Identität der Verfassungsordnung fordert, besteht eine weitere, auf die Fortgeltung der grundlegenden Verfassungsprinzipien gerichtete Grenze. Es ist erforderlich, daß in der Bundesrepublik Deutschland auch nach der Übertragung von Hoheitsrechten die in Artikel 79 Absatz 3 GG festgelegten elementaren Verfassungsprinzipien des Grundgesetzes durch die deutsche Hoheitsgewalt garantiert werden können. Es ist also erforderlich, daß die Bundesrepublik Deutschland auch nach der Übertragung von Hoheitsrechten zum Schutz der Menschenrechte, der Men-

Α. Hoheitsrechtsübertragungen nach dem GG schenwürde und der Achtung des einzelnen verpflichtet ist. Des weiteren muß die Bundesrepublik Deutschland auch nach der Übertragung von Hoheitsrechten über ein Staatsgefüge verfügen, daß den Vorgaben eines demokratisch, bundes- und rechtsstaatlich organisierten Staates verpflichtet ist und das den Gestaltungsauftrag „Sozialstaat" zu verwirklichen in der Lage ist. Dies beinhaltet, daß das Handeln der deutschen Hoheitsträger stets der demokratischen Legitimation des deutschen Volkes bedarf, die Garantie einer bundesstaatlichen Ordnung, in der den Ländern ein Kern eigener Aufgaben verbleibt, die Möglichkeit zur Erfüllung des sozialen Ausgleichs und der Abhilfe bei sozialer Bedürftigkeit sowie die Verwirklichung der Gewaltenteilung, der Bindung aller Gewalten an die verfassungsmäßige Ordnung und an Recht und Gesetz sowie die gerichtliche Kontrolle staatlichen Handelns. Darüber hinaus ermächtigt Artikel 24 Absatz 1 GG nur zur Übertragung einzelner Hoheitsrechte. Er ermächtigt nicht dazu, die gesamte Staatsgewalt der Bundesrepublik Deutschland, also die Hoheitsgewalt in ihrer Gesamtheit, zu übertragen und so die Staatlichkeit Deutschlands selbst aufzugeben. Die Möglichkeit zur Übertragung von Hoheitsrechten im Rahmen des Artikels 24 Absatz 1 GG findet daher auch dort ihre Grenze, wo die Übertragung von Hoheitsrechten den Beitritt Deutschlands zu einem anderen Staat zur Folge hätte, da dieser aufgrund seiner Kompetenz-Kompetenz die Staatlichkeit Deutschlands beenden könnte. Die Möglichkeit zur Übertragung von Hoheitsrechten findet darüber hinaus bereits vor der Übertragung der gesamten deutschen Staatsgewalt eine Grenze, wenn Hoheitsrechte in einem Umfang und/oder von einer solchen Qualität übertragen werden, daß die Staatlichkeit der Bundesrepublik Deutschlands zwar formell bestehen bleibt, sie jedoch über die das Staatswesen tragenden Hoheitsrechte nicht mehr verfügt. Der zwischenstaatlichen Einrichtung darf insbesondere nicht die Möglichkeit eingeräumt werden, ihre Handlungsbefugnisse aus eigenem Recht, also unabhängig vom Willen der Vertragsstaaten der zwischenstaatlichen Einrichtung, zu erweitern. Damit setzte sich die Bundesrepublik Deutschland der Gefahr aus, daß ihr in Ausübung dieser Befugnisse die Staatlichkeit entzogen würde.

3. Artikel 23 n.F. GG Neben Artikel 24 Absatz 1 G G 4 4 4 enthält das Grundgesetz seit dem 22. Dezember 1992 einen weiteren Artikel, der die Möglichkeit der Übertra-

444

Der bisherige Artikel 24 GG gilt für zwischenstaatliche Einrichtungen mit Ausnahme der EU weiter, Randelzhofer, Artikel 24 Abs. 1, Rn. 113, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz (Hrsg.), Kommentar zum GG; Scholz, NJW 1992, S. 2597.

II. Regelungen des GG gung von Hoheitsrechten eröffnet. An diesem Tag trat ein Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes in Kraft 4 4 5 , das u.a. Artikel 23 n.F., den sog. „EuropaArtikel" 446 , in das Grundgesetz eingefügt hat 4 4 7 . Sein Standort als neuer Artikel 23 GG hat hohen Symbolwert: Nachdem über Artikel 23 GG a.F. die Wiedervereinigung Deutschlands vollzogen und dieser anschließend durch den Einigungsvertrag aufgehoben wurde 448 , soll der neue Artikel 23 GG die im Grundgesetz vorhandene internationale Option bekräftigen 449. Er soll aber auch aufzeigen, welche Strukturen die Bundesrepublik Deutschland für eine Europäische Union anstrebt und nach welchen innerstaatlichen Regeln sich die weitere Integration vollziehen soll 4 5 0 . Thematisch behandelt Artikel 23 GG zwei unterschiedliche, aber sachlich zusammenhängende Problemkreise, nämlich in Absatz 1 die Ermächtigung, an der Entwicklung einer Europäischen Union mitzuwirken (a), und in den Absätzen 2 bis 7 die Kompetenzen und Beteiligungsmöglichkeiten der Verfassungsorgane im Rahmen des innerstaatlichen Verfahrens der Übertragung von Hoheitsrechten zugunsten einer Europäischen Union (b).

a) Übertragung von Hoheitsrechten auf die Europäische Union (Absatz 1) Die seit seinem Inkrafttreten bestehende Verpflichtung des Grundgesetzes auf das Ziel eines vereinten Europa und die Möglichkeit der Übertragung von

445

BGBl. 1992 I S. 2086. Der Bundestag verabschiedete das Gesetz am 02.12.1992; der Bundesrat stimmte ihm am 18.12.1992 zu. 446

Tettinger,

RIW 1992, Beilage 3, S. 9.

447

Zu den Änderungen der Verfassungen der anderen Mitgliedstaaten Heinrichs, DÖV 1994, S. 368 ff.; vgl. auch Hilf/Pache, Vorb. zum EUV, Rn. 29 ff., in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), Kommentar zum EUV. 448

Artikel 4 Nr. 2 Einigungsvertrag.

449

Tettinger, RIW 1992, Beilage 3, S. 9; Klein., Artikel 23, Rn. 1, in: SchmidtBleibtreu/Klein, Kommentar zum GG; Scholz, Artikel 23, Rn. 1, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz (Hrsg.), Kommentar zum GG; Stern, Öffentliche Anhörung der Gemeinsamen Verfassungskommission, Stenogr. Bericht vom 22.05.1992, S. 53. Auf diese Weise soll der Zusammenhang von nationaler Einheit und europäischer Einigung unterstrichen werden, Oppermann/Classen, Aus Politik und Geschichte 28/1993, S. 14. So auch der Redebeitrag des Abgeordneten Möller in der Debatte des Bundestages vom 02.12.1992, Stenogr. Bericht, S. 10866, wonach die Botschaft der Verfassung laute: „Die deutsche Wiedervereinigung findet ihre Vollendung in der Einigung Europas." 450

So die Begründung der Bundesregierung zum Gesetzentwurf BR-Dr. 501/92, S. 5\ Schwarze, JZ 1993, S. 586.

Α. Hoheitsrechtsübertragungen nach dem GG Hoheitsrechten ist Ausdruck der „Integrationsoffenheit" der Verfassung 451. Dieses Bekenntnis zugunsten einer für die europäische Integration offenen Staatlichkeit bekräftigt und verstärkt der neu eingefügte Artikel 23 G G 4 5 2 . Mit der Grundgesetzänderung sollte für die Ratifikation des EU-Vertrages eine neue verfassungsrechtliche Grundlage geschaffen werden 453 . Wenn auch teilweise Artikel 24 GG als Grundlage für diese Ratifizierung als ausreichend erachtet wurde 454 , ist die Bundesregierung doch dem Ergebnis der Beratungen der Gemeinsamen Verfassungskommission gefolgt 455 und hat den dort erarbeiteten Europa-Artikel aufgegriffen 456. Es sollte damit zu Beginn der durch den Vertrag von Maastricht markierten neuen Etappe der europäischen Integration sowohl innerstaatlich als auch gegenüber den anderen Mitgliedstaaten dokumentiert werden, daß Deutschland die künftige Europäische Union aktiv mitgestalten will und welche Strukturen es für das vereinte Europa anstrebt 457. Gleichzeitig soll ausdrücklich zum Ausdruck gebracht werden, daß die Bundes-

451

Siehe oben unter 1. und 2.

452

Dieses Ziel maß Scholz dem Artikel 23 GG zu, wenn er ausführt: „(...) einen gesonderten Europa-Artikel ins Grundgesetz aufzunehmen, der gleichsam das realisiert, was in der Präambel mit dem Bekenntnis zur Einigung Europas im Grundgesetz schon vorgegeben ist, der aber dann die Einzelheiten regelt, wie, was, unter welchen Bedingungen übertragen werden kann", Öffentliche Anhörung der Gemeinsamen Verfassungskommission, Stenogr. Bericht vom 22.05.1992, S. 2; Schwarze, JZ 1993, S. 591; Schede, S. 54; FromonU JZ 1995, S. 801. 453 Begründung der Bundesregierung zum Gesetzentwurf, BR-Dr. 501/92, S. 11. 454 Klein/HaratscK DÖV 1993, S. 797; Everling, DVB1. 1993, S. 943; Oppermann/Classen, NJW 1993, S. 11; Schwarze, JZ 1993, S. 587. Ebenso einige der Sachverständigen in der Öffentlichen Anhörung der Gemeinsamen Verfassungskommission, Stenogr. Bericht vom 22.05.1992. Zusammenfassend Schede, S. 51 ff. 455

Die Gemeinsame Verfassungskommission wurde auf der Grundlage von Artikel 5 des Einigungsvertrages, BGBl. 1990 I S. 885, geschaffen. Sie wurde durch gleichlautende Beschlüsse des Bundestages vom 28.11.1991 und des Bundesrates vom 29.11.1991 eingesetzt, BR-Dr. 741/91. Sie bestand aus 32 Abgeordneten des Bundestages und 32 Mitgliedern des Bundesrates. Ihre Aufgabe war die Beratung von Verfassungsänderungen und -ergänzungen infolge der deutschen Wiedervereinigung und des Abschlusses des Vertrages von Maastricht. Sie hat ihre Arbeit am 28.10.1993 abgeschlossen, Schlußbericht BT-Dr. 12/6000. 456 457

Kloten,, EA 1993, S. 406 f.

Begründung der Bundesregierung, BT-Dr. 12/3338, S. 4. Ebenso Bieber in der Öffentlichen Anhörung der Gemeinsamen Verfassungskommission: „(Artikel 23 GG soll) das Mindestmaß eines vom Grundgesetz für die Mitgliedschaft in einer Union geforderten Wertsystems präzisieren", Stenogr. Bericht vom 22.05.1992, S. 4.

II. Regelungen des GG republik Deutschland die Europäische Union nach bestimmten strukturellen Prinzipien ausgestalten möchte 458 . Aufgrund der Empfehlung der Gemeinsamen Verfassungskommission 459 und der Vorlage eines Gesetzesentwurfes der Bundesregierung 460 sowie der Beschlußempfehlung des Sonderausschusses „Europäische Union (Vertrag von Maastricht)" des Bundestages461 wurde Absatz 1 des Artikels 23 n.F. GG mit folgendem Wortlaut verabschiedet: Zur Verwirklichung eines vereinten Europas wirkt die Bundesrepublik Deutschland bei der Entwicklung der Europäischen Union mit, die demokratischen, rechtsstaatlichen, sozialen und föderativen Grundsätzen und dem Grundsatz der Subsidiarität verpflichtet ist und einen diesem Grundgesetz im wesentlichen vergleichbaren Grundrechtsschutz gewährleistet. Der Bund kann hierzu durch Gesetz mit Zustimmung des Bundesrates Hoheitsrechte übertragen. Für die Begründung der Europäischen Union sowie für Änderungen ihrer vertraglichen Grundlagen und vergleichbare Regelungen, durch die dieses Grundgesetz seinem Inhalt nach geändert oder ergänzt wird oder solche Änderungen oder Ergänzungen ermöglicht werden, gilt Artikel 79 Abs. 2 und 3. Mit Artikel 23 Absatz 1 GG ist damit im Grundgesetz erstens eine Regelung enthalten, die ausdrücklich zur Mitarbeit an der Schaffung einer Europäischen Union ermächtigt und verpflichtet, die sog. Integrationsklausel (aa), und zweitens eine Vorgabe, die zum Ausdruck bringt, daß die Europäische Union selbst nach bestimmten inhaltlichen Prinzipien ausgestaltet sein muß, die sog. Struktur· oder Struktursicherungsklausel (bb). Darüber hinaus bestimmt er, anders als Artikel 24 Absatz 1 GG, ausdrücklich Grenzen für die Übertragung von Hoheitsrechten auf die Europäische Union (cc).

aa) Ermächtigung zur Übertragung (Integrationsklausel) Mit Artikel 23 Absatz 1 GG enthält das Grundgesetz zum ersten Mal eine ausdrückliche Regelung für die Übertragung von Hoheitsrechten im Rahmen europäischer Integration. Er ermöglicht die Übertragung von Hoheitsrechten

458

Begründung der Bundesregierung, BT-Dr. 12/3338, S. 4.

459

Die Gemeinsame Verfassungskommission verabschiedete am 26.06.1992 ihre Beschlußempfehlung für den Wortlaut des Artikels 23 GG. Der Text dieser Empfehlung ist abgedruckt bei Scholz, NJW 1992, S. 2594 f. 460 B T _ D r 12/3338, S. 3 f. 461 BT-Dr. 12/3896, S. 5 f. Dieser war vom Bundestag am 08.10.1992 für die Beratungen des Ratifizierungsgesetzes der Grundgesetzänderungen sowie der entsprechenden Ausführungsgesetze einsetzt worden.

7 Uhrig

Α. Hoheitsrechtsübertragungen nach dem GG unabhängig davon, ob die Europäische Union als Adressat der Hoheitsrechtsübertragungen den Anforderungen des Artikels 24 Absatz 1 GG entspricht, insbesondere ob es sich bei ihr noch um eine zwischenstaatliche Einrichtung i.S. des Artikels 24 Absatz 1 GG handelt 462 . Artikel 23 Absatz 1 GG ist in Zukunft die spezielle Ermächtigungsgrundlage für den deutschen Gesetzgeber bei der Übertragung von Hoheitsrechten auf die Europäische Union. Er ist insoweit lex specialis gegenüber der allgemeinen Vorschrift des Artikels 24 Absatz 1 G G 4 6 3 . Artikel 23 Absatz 1 GG formuliert eine Staatszielbestimmung464 und den sich daraus ergebenden politischen Mitwirkungsauftrag 465, an der Verwirklichung eines vereinten Europa und einer Europäischen Union mitzuwirken 466. Durch Artikel 23 Absatz 1 GG konkretisiert das Grundgesetz sein allgemeines Bekenntnis zum „vereinten Europa" i.S. der Präambel und ermächtigt und verpflichtet ausdrücklich zur Schaffung und Entwicklung einer Europäischen Union467. Die Übertragung von Hoheitsrechten auf die Europäische Union erfolgt gemäß Artikel 23 Absatz 1 Satz 2 GG ebenso wie die Übertragung auf zwischenstaatliche Einrichtungen im Rahmen des Artikels 24 Absatz 1 GG durch Gesetz 468 . Anders als Artikel 24 Absatz 1 GG bestimmt Artikel 23 Absatz 1

462

Begründung der Bundesregierung, BT-Dr. 12/3338, S. 6; so auch die Ansicht der Gemeinsamen Verfassungskommission, Scholz, NJW 1993, S. 1691. Tomuschat hält dies für wichtig, da der Begriff der zwischenstaatlichen Einrichtung sich nicht beliebig in dem Sinne dehnen ließe, daß jedes von mehreren Staaten gemeinsam geschaffene Gebilde eine solche Einrichtung darstelle, solange sie nicht Staatsqualität erlangt habe, ders., EuGRZ 1993, S. 492. 463

Di Fabia , Der Staat 1993, S. 195; Randelzhofer, Artikel 24 Abs. 1, Rn. 201, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz (Hrsg.), Kommentar zum GG; Kirchner/Haas, JZ 1993, S. 762; Winkelmann, DVB1. 1993, S. 1128; Jarass/Pieroth, Artikel 23, Rn. 2, in: GGKommentar. 464

Dies wird auch als Staats- oder Politikauftrag umschrieben, Begründung der Bundesregierung, BT-Dr. 12/3338, S. 6; Magiern, Jura 1994, S. 8; Schede, S. 51; Oschatz, S. 35; Jarass/Pieroth, Artikel 23, Rn. 3, in: GG-Kommentar. 465

Murswiek, Der Staat 1993, S. 164; Zuleeg, ELRev. 1997, S. 25.

466

Wilhelm, BayVBl. 1992, S. 706; Merten, DÖV 1993, S. 372 f.; Scholz, NJW 1993, S. 1691; Frowein, EuR 1995, S. 320. 467

Fischer, ZParl. 1993, S. 37; Oppermann/Classen, Aus Politik und Zeitgeschichte 28/1993, S. 14; Klein, Artikel 23, Rn. 4, in: Schmidt-Bleibtreu/Klein, Kommentar zum GG; Rojahn, Artikel 23, Rn. 3, in: von Münch/Kunig (Hrsg.), Kommentar zum GG; Scholz, Artikel 23, Rn. 4, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz (Hrsg.), Kommentar zum GG. 468

Zu Artikel 24 Abs. 1 GG siehe oben S. 64 ff.

II. Regelungen des GG Satz 2 GG aber ausdrücklich, daß die Übertragung der Zustimmung des Bundesrates bedarf 469 . Gemäß Artikel 23 Absatz 1 Satz 3 GG ist bei der Übertragung von Hoheitsrechten zudem Artikel 79 Absatz 2 GG zu beachten. Dies bedeutet, daß die Zustimmung von zwei Dritteln der Mitglieder des Bundestages und zwei Dritteln der Stimmen des Bundesrates erforderlich ist. Damit verlangt Artikel 23 Absatz 1 Satz 3 GG im Unterschied zu Artikel 24 Absatz 1 GG und Artikel 23 Absatz 1 Satz 2 GG für die Übertragung von Hoheitsrechten eine Zwei-Drittel-Mehrheit in Bundestag und Bundesrat. Fraglich ist daher, ob und in welchen Fällen der Gesetzgeber von Artikel 23 Absatz 1 Satz 2 GG Gebrauch machen kann, ohne daß es sich zugleich um einen Anwendungsfall des Satz 3 handelt 470 . Die Beantwortung dieser Frage ist davon abhängig, in welchen Fällen eine Änderung der vertraglichen Grundlagen oder eine vergleichbare Regelung, durch die das Grundgesetz seinem Inhalt nach geändert oder ergänzt wird oder solche Änderungen oder Ergänzungen ermöglicht werden, vorliegt. Entscheidend hierfür ist, ob man auf den materiellen Gehalt der Hoheitsrechte abstellt, die auf die Europäische Union übertragen werden, oder ob bereits die Tatsache einer Übertragung von Hoheitsrechten unabhängig von ihrem materiellen Gehalt deshalb ausreicht, weil die Hoheitsrechtsübertragung einen Eingriff in das KompetenzgefÜge des Grundgesetzes zur Folge hat 4 7 1 .

469

Scholz, Artikel 23, Rn. 45, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz (Hrsg.), Kommentar zum GG. Zur Regelung in Artikel 24 Abs. 1 GG siehe oben S. 67 ff. 47 0 Schotten kritisiert in diesem Zusammenhang, daß der Abschlußbericht des Sonderausschusses hinsichtlich des Verhältnisses von Satz 2 zu Satz 3 die wünschenswerte Deutlichkeit vermissen läßt, ders., Verwaltungsrundschau 1993, S. 91. 471 Einen ersten Streitfall hätte die Ratifikation des Beitrittsvertrages zwischen der Europäischen Union und den drei bisherigen EFTA-Staaten und nunmehr neuen Mitgliedstaaten Österreich, Schweden und Finnland bilden können. Die Bundesregierung vertrat die Ansicht, der Bundesrat müsse dem Ratifikationsgesetz nicht mit Zwei-Drittel seiner Stimmen zustimmen. Das Gesetz bewirke keine materiell erhebliche Hoheitsrechtesübertragung, denn es liege keine Änderung der vertraglichen Grundlagen des EUV vor, da Artikel Ο Abs. 1 Satz 1 EUV allen europäischen Staaten den Beitritt zur EU eröffne und der Bundesrat dem EUV bereits zugestimmt habe, Stenogr. Bericht vom 29.06.1994, S. 20831. Der Bundesrat sah hingegen in dem Ratifikationsgesetz eine Änderung der vertraglichen Grundlagen, da die durch Artikel Ο Absatz 1 Satz 1 EUV eröffnete Beitrittsmöglichkeit hinsichtlich ihres Adressatenkreises zu unbestimmt ist, um in der Zustimmung des Bundesrates zum EUV zugleich auch die Billigung der konkreten Beitritte zu sehen, BR-Sitzung vom 10.06.1994, S. 352; so auch Hölscheidt/Schotten, DÖV 1995, S. 188 f. Diesem Ergebnis ist zuzustimmen, zumal eine Änderung der vertraglichen Grundlagen des EUV bei jeder Hoheitsrechtsübertragung unabhängig von deren materiellen Gehalt vorliege. Der Streifall konnte jedoch unentschieden bleiben, da

7*

100

Α. Hoheitsrechtsübertragungen nach dem GG

Die Bundesregierung stellt bezüglich der Frage, welche Hoheitsrechtsübertragungen Zwei-Drittel-Mehrheiten gemäß Artikel 79 Absatz 2 GG erfordern, auf den materiellen Gehalt dieser Hoheitsrechtsübertragungen ab. Sie ist der Ansicht, daß eine Hoheitsrechtsübertragung dann keine Verfassungsänderung im Sinne des Artikels 23 Absatz 1 Satz 3 GG darstellt, wenn Änderungen des EU-Vertrages zu ratifizieren sind, die von ihrem Gewicht her der Gründung der Europäischen Union nicht vergleichbar sind und insofern nicht die „Geschäftsgrundlage" des EU-Vertrages betreffen 472. Artikel 23 Absatz 1 GG stelle für die Frage, ob ein Fall des Satz 2 oder des Satz 3 vorliege, insofern ein klares Kriterium auf, als Satz 3 nicht die Feststellung einer Hoheitsrechtsübertragung als solche ausreichen lasse, sondern auf das materielle Gewicht der jeweiligen Hoheitsrechtsübertragung abstelle 473 . Nicht jede Übertragung von Hoheitsrechten sei von vornherein eine Verfassungsänderung, -ergänzung oder -durchbrechung im Sinne des Artikels 23 Absatz 1 Satz 3 GG, es bedürfe vielmehr einer Differenzierung 474. Es könne für die Frage, ob ein Fall des Satz 3 vorliegt, nicht allein auf die Tatsache abgestellt werden, daß jede Hoheitsrechtsübertragung in gewisser Weise die Preisgabe eines Stückes Staatlichkeit bedeute und insofern auch die Verfassung berühre 475 . Es sei vielmehr zwischen Hoheitsrechtsübertragungen mit der materiellen Qualität von Verfassungsänderungen und solchen ohne derartige Qualität zu unterscheiden476. Es bedürfe also einer entsprechenden Verfassungsrelevanz 477. Nach Ansicht der Bundesregierung erlaube Artikel 23 Absatz 1 Satz 2 GG Hoheitsrechtsübertragungen mit einfacher Mehrheit bis zu der Grenze, jenseits derer aus verfassungsrechtlichen Gründen ein neuer Vertrag oder eine Änderung der vertraglichen Grundlagen auf europäischer Ebene erforderlich wäre. Erst dann sei ein Fall des Artikels 23

der Bundesrat dem vom Bundestag am 29.06.1994 verabschiedeten „Gesetz zu dem Vertrag vom 24./25.06.1994 über den Beitritt des Königreichs Norwegen, der Republik Österreich, der Republik Finnland und des Königreichs Schweden zur Europäischen Union", BGBl. 1994 II S. 2022, am 08.07.1994 einstimmig zustimmte, BR-Dr. 680/94, Stenogr. Bericht vom 08.07.1994, S. D 405. 472

Begründung der Bundesregierung, BT-Dr. 12/3338, S. 7 lit. f.

47 3

Scholz, NVwZ 1993, S. 821; ders., Artikel 23, Rn. 82 f. in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz (Hrsg.), Kommentar zum GG. 47 4

Scholz sieht den Grund für diese Differenzierung durch den Gebrauch des Relativsatzes in Satz 3 begründet, ders., NVwZ 1993, S. 821 f. 47 5

Schotten, Verwaltungsrundschau 1993, S. 91.

47 6

Breuer, NVwZ 1994, S. 423, verweist zu Recht darauf, daß diese Differenzierung äußerst unklar bleibt. 47 7

Scholz, Artikel 23, Rn. 82, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz (Hrsg.), Kommentar zum GG.

II. Regelungen des GG

101

Absatz 1 Satz 3 gegeben478. Folge dieser Unterscheidung sei es, daß im Fall einer fehlenden materiell erheblichen Verfassungsänderung Hoheitsrechtsübertragungen mit der einfachen Mehrheit von Bundestag und Bundesrat vorgenommen werden können 479 . Da nach Ansicht der Bundesregierung nach Artikel 23 Absatz 1 Satz 2 GG Hoheitsrechtsübertragungen mit einfachen Mehrheiten dann möglich sind, wenn ihnen ein materiell erhebliches Gewicht nicht zukommt, ist auch fraglich, in welchen Fällen vergleichbare Regelungen im Sinne des Artikels 23 Absatz 1 Satz 3 GG vorliegen. Die Frage ist im Falle der sog. Evolutivklauseln des EUVertrages von Relevanz. Eine solche Evolutivklausel ist beispielsweise Artikel K.9 EUV. Danach ist dem Rat die Möglichkeit eröffnet, das Verfahren zur Einführung eines Visazwangs und zur einheitlichen Visagestaltung gemäß Artikel 100 c EGV auch für Maßnahmen im Rahmen der in Artikel K.l Ziff. 1-6 EUV genannten Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres anzuwenden. Ein weiteres Beispiel ist Artikel 138 Absatz 3 EGV, wonach das Europäische Parlament Entwürfe zur Durchführung allgemeiner unmittelbarer Wahlen zum Europäischen Parlament nach einem in allen Mitgliedstaaten einheitlichen Verfahren erarbeiten kann. Diese Entwürfe sind vom Rat einstimmig zu beschließen und werden den Mitgliedstaaten zur Annahme gemäß ihren verfassungsrechtlichen Vorschriften empfohlen. Ein drittes Beispiel ist Artikel 201 EGV, der den Rat ermächtigt, Bestimmungen über das System der Eigenmittel der Gemeinschaft festzulegen und sie den Mitgliedstaaten zur Annahme gemäß ihren verfassungsrechtlichen Vorschriften zu empfehlen. Evolutivklauseln ermöglichen also die Wahrnehmung von Hoheitsrechten durch die Europäische Gemeinschaft, nachdem der Rat hierüber einen entsprechenden einstimmigen Beschluß gefaßt hat, der der anschließenden Annahme gemäß den verfassungsrechtlichen Vorschriften der Mitgliedstaaten bedarf. Die Möglichkeit der Ausübung von Hoheitsrechten durch die Europäische Gemeinschaft ist in diesen Fällen nicht Folge von Vertragsänderungen gemäß Artikel Ν Absatz 1 EUV, also einer Konferenz von Vertretern der Regierungen der Mitgliedstaaten und der anschließenden Ratifizierung durch alle Mitgliedstaaten nach ihren verfassungsrechtlichen Vorschriften. Die Besonderheit der Evolutivklauseln besteht vielmehr darin, daß sie die Ausübung von Hoheitsrechten durch die Europäische Gemeinschaft ermöglichen, ohne daß zuvor der Wortlaut des EU- bzw. des EG-Vertrages einer Änderung bedürfen. Die Evolutivklauseln sind daher geeignet, Handlungsmöglichkeiten der Europäischen Gemeinschaft nicht nur zu konkretisieren, sondern die Erschließung neuer Kompetenzen und damit die

478

So der Sonderausschuß „Europäische Union" des Bundestages, BT-Dr. 12/3896,

S. 18. 47 9

Scholz, NVwZ 1993, S. 821.

Α. Hoheitsrechtsübertragungen nach dem GG

10

Ausübung neuer Hoheitsrechte zu ermöglichen 480. Da fraglich war, ob die Inanspruchnahme der Evolutivklauseln durch die Zustimmung zum EU-Vertrag noch gedeckt ist, ergab sich die Notwendigkeit einer klarstellenden Regelung im Rahmen des Artikels 23 Absatz 1 GG. Die Evolutivklauseln wurden daher unter der Formel „vergleichbare Regelungen" erfaßt mit der Folge, daß für den Fall ihrer Inanspruchnahme die Mehrheitserfordernisse des Artikels 79 Absatz 2 GG anzuwenden sind 481 . Es sollte klargestellt werden, daß nicht nur solche Hoheitsrechtsübertragungen die Mehrheiten des Artikels 79 Absatz 2 GG erfordern können, die durch Änderungen des primären Rechts der Europäischen Union auf dem Wege des Verfahrens nach Artikel Ν Absatz 1 EUV erfolgen, sondern auch solche, die ihren Ursprung in „vergleichbaren Regelungen" haben 4 8 2 . Streitig ist nun, ob dies für jede Inanspruchnahme der Evolutivklauseln gilt. Die Bundesregierung vertritt die Ansicht, Hoheitsrechtsübertragungen aufgrund der Inanspruchnahme der Evolutivklauseln seien nicht durch Artikel 23 Absatz 1 Satz 3 GG, sondern durch Satz 2 erfaßt, wenn es sich bei ihnen um geringfügige, vorhandene Ermächtigungen nicht überschreitende Hoheitsrechtsübertragungen handele 483 . Ziel des Artikels 23 Absatz 1 Satz 3 GG sei lediglich die Klarstellung, daß weitere Hoheitsrechtsübertragungen zugunsten der Europäischen Gemeinschaft innerstaatlich ein mit den nach Artikel 79 Absatz 2 GG erforderlichen Mehrheiten beschlossenes Gesetz erforderten, wenn auf sie, würden sie durch eine nachträgliche Änderung des EU- bzw. des EGVertrages bewirkt, Satz 3 des neuen Artikels 23 Absatz 1 GG anzuwenden wäre. Die Aufzählung der „vergleichbaren Regelung" in Artikel 23 Absatz 1 Satz 3 GG bewirke aber nicht, daß für jede Inanspruchnahme einer Evolutivklausel Artikel 23 Absatz 1 Satz 3 einschlägig sei 4 8 4 . Für Hoheitsrechtsübertragungen auf der Grundlage der Evolutivklauseln ist vielmehr im Einzelfall zu prüfen, ob die Hoheitsrechte aufgrund ihrer Bedeutung eine vergleichbare Regelung im Sinne des Artikels 23 Absatz 1 Satz 3 GG darstellen, ob sie also eine Verfassungsänderung oder -ergänzung zur Folge haben, die die Annahme des entsprechenden Ratsbeschlusses durch ein Gesetz mit den verfassungsändern480

Diese Wirkung macht sie zu einem neuartigen Instrument des Gemeinschaftsrechts, so daß man die Evolutivklauseln neben primärem und sekundärem Recht als eine dritte Kategorie des Rechts der EU ansehen kann, Sonderausschuß „Europäische Union" des Bundestages, BT-Dr. 12/3896, S. 18; zustimmend Scholz, NVwZ 1993, S. 822; Schotten, Verwaltungsrundschau 1993, S. 91. 481

Sonderausschuß „Europäische Union" des Bundestages, BT-Dr. 12/3896, S. 18.

482

Fischer, ZParl. 1993, S. 45.

483

BT-Dr. 12/3338, S. 7.

484

Scholz, NVwZ 1993, S. 822.

II. Regelungen des GG

10

den Mehrheiten des Artikels 79 Absatz 2 GG erfordert 485. Artikel 23 Absatz 1 Satz 3 GG sei nur dann anzuwenden, wenn durch die Inanspruchnahme einer Evolutivklausel eine über den schon erreichten Integrationsstand hinausgehende erhebliche Änderung oder Ergänzung der Verfassungsordnung des Grundgesetzes bewirkt würde 486 . Unter Einbeziehung der Evolutivklauseln seien demnach vier Fallgruppen von Hoheitsrechtsübertragungen zugunsten der Europäischen Union denkbar, die im Rahmen des Artikels 23 Absatz 1 GG unterschiedliche Mehrheitserfordernisse in Bundestag und Bundesrat auslösen487: Es ist dies erstens die Begründung der Europäischen Union durch völkerrechtlichen Vertrag, dem Verfassungsänderungsqualität zukommt mit der Folge, daß Artikel 23 Absatz 1 Satz 3 GG einschlägig ist, so daß Zwei-Drittel-Mehrheiten von Bundestag und Bundesrat erforderlich sind. Zweite Fallgruppe sind Änderungen des EU- und des EG-Vertrages, die materiell erhebliche Verfassungsänderungen des Grundgesetzes zur Folge haben und die deshalb ebenfalls der Zwei-Drittel-Mehrheiten des Artikels 23 Absatz 1 Satz 3 GG bedürfen. Die dritte Gruppe bilden „vergleichbare Regelungen" des Artikels 23 Absatz 1 Satz 3 GG, bei deren Inanspruchnahme im Einzelfall zu prüfen ist, ob dies zur Übertragung von Hoheitsrechten mit verfassungsändernder Qualität führt. Ist dies der Fall, sind die Mehrheiten des Artikels 79 Absatz 2 GG erforderlich. Die vierte Gruppe schließlich bilden Hoheitsrechtsübertragungen, zu denen bereits der geltende EU- bzw. EG-Vertrag ermächtigt, die also keine Verfassungsänderung oder -ergänzung des Grundgesetzes auslösen, und die Inanspruchnahme „vergleichbarer Regelungen" ohne Verfassungsänderungsqualität. Diese letzte Gruppe bildet den Anwendungsfall des Artikels 23 Absatz 1 Satz 2 GG mit der Folge, daß lediglich einfache Mehrheiten von Bundestag und Bundesrat erforderlich sind. Dieser Versuch, die Übertragung von Hoheitsrechten nicht in jedem Fall als Änderung der vertraglichen Grundlagen der Europäischen Union oder als vergleichbare Regelungen, durch die das Grundgesetz geändert oder ergänzt wird, zu werten mit der Folge, daß bestimmte Hoheitsrechtsübertragungen nicht die Mehrheiten des Artikels 79 Absatz 2 GG erfordern, sondern ausschließlich nach Artikel 23 Absatz 1 Satz 2 erfolgen können, stimmt jedoch mit der Verfas-

485

Sonderausschuß „Europäische Union" des Bundestages, BT-Dr. 12/3896, S. 19.

486

Magiern, Jura 1994, S. 9, der dies deshalb für erforderlich hält, weil eine ausnahmslose Geltung des Satzes 3 bei der Inanspruchnahme der Evolutivklauseln zu einem Leerlaufen der Übertragungsmöglichkeiten durch einfaches Gesetz führen würde. 487 Scholz, NVwZ 1993, S. 822; ders., Artikel 23, Rn. 84, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz (Hrsg.), Kommentar zum GG.

Α. Hoheitsrechtsübertragungen nach dem GG

10

sungswirklichkeit nicht überein 488 . Die Unterscheidung zwischen gewichtigen und weniger gewichtigen Hoheitsrechten, deren Übertragung je nach materieller Gewichtigkeit der übertragenen Hoheitsrechte die Qualität von Verfassungsänderungen besitzt oder nicht 489 , geht vielmehr an der verfassungsändernden Wirkung jeder Art von Hoheitsrechtsübertragung vorbei 490 . Das Bundesverfassungsgericht hat zu Recht ausgeführt, daß jede Hoheitsrechtsübertragung eine materielle Verfassungsänderung bewirkt, weil jedenfalls in die verfassungsrechtlich festgelegte Kompetenzordnung des Grundgesetzes eingegriffen wird. Die Übertragung von Hoheitsrechten bewirkt einen Eingriff in die und eine Veränderung der verfassungsrechtlich festgelegten Zuständigkeitsordnung und ist damit materiell stets eine Verfassungsänderung 491. Aus der Tatsache, daß die Übertragung von Hoheitsrechten somit in jedem Fall einen Eingriff in die Kompetenzordnung des Grundgesetzes darstellt 492 und damit eine Verfassungsänderung bewirkt 493 , folgt, daß eine Differenzierung der Auswirkungen von Hoheitsrechtsübertragungen je nach materieller Qualität des übertragenen Hoheitsrechts schon aufgrund des Wesens der Übertragung nicht möglich ist 4 9 4 . Eine verfassungsändernde Wirkung tritt vielmehr in jedem Fall unabhängig von Inhalt und Qualität des übertragenen Hoheitsrechts ein. Hoheitsrechtsübertragungen im Rahmen des Artikels 23 GG sind damit unabhängig davon, ob sie sich auf „wesentliche Strukturen" des Grundgesetzes auswirken oder nicht, stets an die verfassungsändernden Zwei-Drittel-Mehrheiten des Artikels 79 Absatz 2

488

Dieser Auslegung hat auch der Bundesrat widersprochen, BR-Dr. 501/1/92, S. 2. Ever ling betrachtet Satz 3 als „Betriebsunfall", ders., DVB1. 1993, S. 943. 489

So Scholz, NVwZ 1993, S. 821, der allein auf den Wortlaut des Artikels 23 Abs. 1 GG zurückgreift und als Grund für seine Auslegung anführt, daß Satz 2 ansonsten überflüssig wäre; ebenso Schotten, Verwaltungsrundschau 1993, S. 91. Diese Unterscheidung lehnen hingegen Oschatz/Risse, DÖV 1995, S. 438 strikt ab, da das Grundgesetz keine Anhaltspunkte für eine derartige Differenzierung biete. 490 Die Sachverständigenanhörung der Gemeinsamen Verfassungskommission am 22.05.1993 ergab zudem erhebliche Zweifel, ob der Begriff „wesentliche Strukturen" ein geeignetes und justiziables Abgrenzungskriterium sein könne, Stenogr. Bericht vom 22.05.1992. 491

BVerfGE 58, S. 1,36.

492

Everling, DVB1. 1993, S. 943.

493

So auch die Gemeinsame Verfassungskommission in ihrer 8. Sitzung, Stenogr. Bericht vom 26.06.1992, S. 4 ff. 494

So auch Schede, S. 81 f., der die Unterscheidung in grundrechtsrelevante und -neutrale Hoheitsrechtsübertragung ebenfalls ablehnt. Streinz weist zudem zu Recht daraufhin, daß die Abgrenzung nach dem materiellen Gehalt von Hoheitsrechtsübertragungen an hinreichender Bestimmheit fehle, ders., Artikel 23, Rn. 66, in: Sachs (Hrsg.), Kommentar zum GG.

II. Regelungen des GG

10

GG gebunden495. Die Sätze 2 und 3 des Artikels 23 Absatz 1 GG müssen daher zusammen gelesen werden mit der Folge, daß nicht nur die mit der Ratifizierung des EU-Vertrages verbundenen, sondern auch alle künftigen Hoheitsrechtsübertragungen und damit auch solche, die in Folge der Inanspruchnahme der im EU-Vertrag enthaltenen Evolutivklauseln eintreten, einen Fall des Satz 3 darstellen 496 und damit der verfassungsändernden Mehrheiten des Artikels 79 Absatz 2 GG bedürfen 497. Dies führt zu dem Ergebnis, daß nicht nur Hoheitsrechtsübertragungen im Zusammenhang mit der Begründung der Europäischen Union bzw. Änderungen des EU-Vertrages, die dem Gewicht dieser Gründung entsprechen, an die Voraussetzungen des Artikels 79 Absatz 2 GG gebunden sind, sondern alle Hoheitsrechtsübertragungen auf dem Wege der Weiterentwicklung der Europäischen Union 4 9 8 . Da somit künftig jede Hoheitsrechtsübertragung an die Mehrheiten des Artikels 79 Absatz 2 GG gebunden ist, wird eine der wesentlichen Erleichterungen des vormals auch für die Übertragung von Hoheitsrechten im Bereich der europäischen Integration einschlägigen „Integrationshebels" Artikel 24 Absatz 1 GG, nämlich die Ermächtigung zur Hoheitsrechtsübertragung durch einfaches Bundesgesetz, für die Übertragung von Hoheitsrechten auf die Europäischen Union aufgehoben 499. Artikel 23 Absatz 1 Satz 2 GG wird damit im Hinblick auf die erforderlichen Mehrheitsverhältnisse zum Unterfall des Artikels 79 Absatz 2 GG, obwohl er aufgrund seines Wortlauts und seiner Stellung vorran-

495

Jahn, DVB1. 1994, S. 178; Wilhelm, BayVBl. 1992, S. 707; Schmitt Glaeser, S. 71 ; Huber, S. 36; Streinz, Artikel 23, Rn. 65, in: Sachs (Hrsg.), Kommentar zum GG. 496

BR-Dr. 501/1/92, S. 1.

497

Fischer, ZParl. 1993, S. 40; Wilhelm, BayVBl. 1992, S. 707 f.; Schwarze, JZ 1993, S. 586; Breuer, NVwZ 1994, S. 423; Sommermann, DÖV 1994, S. 601; Schede, S. 84; Klein, Artikel 23, Rn. 16, in: Schmidt-Bleibtreu/Klein, Kommentar zum GG. 498

Oschatz, S. 36; Everling deutet das Verhältnis von Satz 1 und Satz 3 dahingehend, daß ihnen unterschiedliche Definitionen des Begriffs „Union" zugrunde lägen. Während Satz 3 den Beginn einer prozeßhaften Entwicklung bezeichnet, richte sich Satz 1 auf das angestrebte, irgendwann zu erreichende Endstadium, auf das alle künftigen Vertragsänderungen ausgerichtet werden sollen und folgert daraus, daß Artikel 79 Abs. 2 GG bei jeder Übertragung von Hoheitsrechten im Bereich der Union angewendet werden müsse, während Satz 3 keine weitere Bedeutung zuzumessen sei, ders., DVB1. 1993, S. 944. 499

Sommermann, DÖV 1994, S. 603; Herdegen, EuGRZ 1992, S. 591, begrüßt diese Verschärfung, denn beim schon jetzt erreichten Integrationsstand bilde jeder Eingriff in die verbliebenen, nicht vergemeinschafteten Hoheitsrechte einen Einschnitt in die Staatlichkeit der Bundesrepublik Deutschland.

10

Α. Hoheitsrechtsübertragungen nach dem GG

gig eine Spezialbestimmung zum fortbestehenden Artikel 24 Absatz 1 GG sein sollte 5 0 ° . Die Möglichkeit der Übertragung von Hoheitsrechten zugunsten der Europäischen Union wird also durch das Erfordernis der Zwei-DrittelMehrheiten im Vergleich zu Artikel 24 Absatz 1 GG nicht erleichtert, sondern erschwert. Die Integrationsklausel des Artikels 23 Absatz 1 GG ermächtigt und verpflichtet die Bundesrepublik Deutschland also ausdrücklich zur Teilnahme an der Entwicklung der Europäischen Union und stellt erstmalig eine eigene Regelung für die Übertragung von Hoheitsrechten im Rahmen der europäischen Integration auf. Andererseits fordert sie durch ihre Sätze 2 und 3 für künftige Hoheitsrechtsübertragungen ausnahmslos eine Zwei-Drittel-Mehrheit der Mitglieder des Bundestages und der Stimmen des Bundesrates. Damit wird die Übertragung von Hoheitsrechten zugunsten der Europäischen Union einerseits erstmals durch eine ausdrückliche Ermächtigungsnorm ermöglicht, deren strengere Voraussetzungen andererseits die Modalitäten einer solchen Übertragung erheblich erschweren.

bb) Inhaltliche Anforderungen an die Europäische Union (Strukturklausel) Neben der Ermächtigung zur Übertragung von Hoheitsrechten auf die Europäische Union stellt Artikel 23 Absatz 1 Satz 1 GG, anders als Artikel 24 Absatz 1 GG, zugleich auch strukturelle Anforderungen an die Gestalt der Europäischen Union 5 0 1 . Gemäß Artikel 23 Absatz 1 Satz 1 GG muß die Europäische Union, an deren Verwirklichung die Bundesrepublik Deutschland mitzuwirken verpflichtet ist, demokratischen, rechtsstaatlichen, sozialen und föderativen Grundsätzen und dem Grundsatz der Subsidiarität verpflichtet sein und einen dem Grundgesetz im wesentlichen vergleichbaren Grundrechtsschutz gewährleisten. Damit stellt Artikel 23 Absatz 1 Satz 1 GG, anders als Artikel 24 Absatz 1 G G 5 0 2 , ausdrücklich strukturelle Vorgaben auf, fordert also eine bestimmte Struktur der Europäischen Union 5 0 3 . Diese strukturelle Forderung an die Europäische Union verpflichtet die deutschen Verfassungsorgane, nur an der Verwirklichung einer solchen Europäischen Union mitzuwirken, die die genannten Voraussetzungen

500

Randelzhofer, Artikel 24 Abs. 1, Rn. 203, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz (Hrsg.), Kommentar zum GG. 501

Götz, JZ 1993, S. 1082; Bleckmann/Pieper,

502

Siehe oben S. 70 ff.

503

Ossenbühl, DVB1. 1993, S. 631; Schotten, Verwaltungsrundschau 1993, S. 93.

RIW 1993, S. 973.

II. Regelungen des GG

10

erfüllt 504 . Artikel 23 Absatz 1 Satz 1 GG stellt also insofern eine Einschränkung und Grenze für die Teilnahme Deutschlands an der Europäischen Union dar, als die deutsche Mitarbeit sich auf Integrationsschritte beschränken muß, die zur Verwirklichung der genannten Strukturprinzipien führen 505 . Die Mitwirkung Deutschlands ist in Zukunft an die Gewährleistung der Strukturen des Artikels 23 Absatz 1 Satz 1 GG auf der Ebene der Europäischen Union geknüpft 506 . Durch Satz 1 wird nicht - wie durch Artikel 79 Absatz 3 GG - festgelegt, welche grundlegenden Verfassungsprinzipien des deutschen Grundgesetzes bei der Beteiligung an zwischenstaatlichen Einrichtungen nicht aufgegeben werden dürfen, sondern es werden strukturelle Anforderungen an die Europäische Union selbst gestellt 507 . Damit verbunden ist jedoch nicht die Forderung nach einer Struktur der Europäischen Union, die in Konzeption und Organisation der Struktur des Staates des Grundgesetzes nachgebildet ist. Hiergegen spricht die Grundentscheidung des Grundgesetzes für die internationale Zusammenarbeit: Erhöbe jeder Mitgliedstaat den Anspruch, seine eigene Verfassungsstruktur als alleinigen Maßstab für die Struktur der Europäischen Union zu empfehlen, so würde dies die Möglichkeit des Zusammenwirkens auf europäischer Ebene erheblich einschränken 508, denn es ist unmöglich, daß jeder beteiligte Staat sein individuelles verfassungsrechtliches Abbild auf die Europäische Union überträgt 509 . Vielmehr sind die Verfassungsprinzipien aller Mitgliedstaaten bei der Verwirklichung dieser Prinzipien auf der Ebene der Europäischen Union in wertender Rechtsvergleichung zu berücksichtigen510. Die Struktur der Europäi-

504

Weber, JZ 1993, S. 329; Breuer, NVwZ 1994, S. 421; Rubel, JA 1992, S. 2780; Schede, S. 66; Scholz, Artikel 23, Rn. 38, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz (Hrsg.), Kommentar zum GG. 505

Sonderausschuß „Europäische Union" des Bundestages, BT-Dr. 12/3896, S. 17; Ossenbühl, DVB1. 1993, S. 633; Magiera, Jura 1994, S. 8. 506

Badura, EuR 1994, Beiheft 1, S. 14, spricht in diesem Zusammenhang von Fesseln, die im Zuge der weiteren Entwicklung spürbar werden dürften. 507 Die Struktur einer zwischenstaatlichen Einrichtung war bisher nicht ausdrücklicher und vorrangiger Gegenstand der Regelung des Artikels 24 Absatz 1 GG, siehe hierzu ausfuhrlich oben S. 70 ff. 508

Hahn, Vertrag von Maastricht, S. 122; Everting, S. 61; Huber, S. 34. 509

Eibach, S. 87; Everling, Kirchner/Haas, JZ 1993, S. 763. 5, 0

in: Hommelhoff/Kirchhof,

DVBI. 1993, S. 944; Schwarze, JZ 1993, S. 592;

Everling, DVBI. 1993, S. 945; Breuer, NVwZ 1994, S. 421 f. kommt daher zu dem Schluß, daß die Strukturklausel weniger hergebe, als es auf den ersten Blick erscheine.

10

Α. Hoheitsrechtsübertragungen nach dem GG

sehen Union kann nur das Ergebnis eines Kompromisses sein, der sich aus dem Reservoir der allgemeinen Verfassungsgrundsätze der Mitgliedstaaten speist. Die beteiligten Staaten müssen auf dem Wege des Ausgleichs und auf der Grundlage ihrer gemeinsamen Vorstellungen eine Struktur erreichen, die mit den Verfassungsordnungen aller Mitgliedstaaten vereinbar ist. Das Staatsziel Europäische Integration erfordert daher gegebenenfalls gewisse Abweichungen von der Verfassungsordnung des Grundgesetzes. Die Anforderungen an die Europäische Union können daher nicht i.S. einer unterschiedslosen Übernahme der Verfassungsprinzipien der Bundesrepublik Deutschland auf die Ebene der Union verstanden werden 511 . Es kann nicht um einen „Grundgesetzimperialismus" 5 1 2 für die Europäische Union gehen, sondern darum, die Grundprinzipien des Grundgesetzes „in vergleichbarer Weise" zu sichern 513. Die in Artikel 23 Absatz 1 Satz 1 GG geforderten Prinzipien sollen auf der Ebene der Europäischen Union keine inhaltliche Identität mit dem nationalen VerfassungsgefÜge der Bundesrepublik Deutschland schaffen, sondern sie sollen in einer Weise verwirklicht werden, die der spezifischen Struktur und Rechtsnatur dieser Organisation angemessen ist und die Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten ermöglicht 514 . Diese ist dadurch gekennzeichnet, daß die Europäische Union kein Staat, sondern eine Organisation ohne Staatsqualität ist 5 1 5 . Die Strukturprinzipien, die die Europäische Union zu erfüllen hat, können auch aus diesem Grunde nicht schematisch den Verfassungsprinzipien des Grundgesetzes entsprechen, denn es wäre verfehlt, an eine nichtstaatliche Organisation die für einen Staat geltenden Maßstäbe anzulegen516. Auch kann die Strukturklausel wegen ihrer Rechtsnatur als Bestandteil des deutschen Verfassungsrechts nur für die deutschen Verfassungsorgane eine Grenze für die Mitwirkung an der Europäischen Union bilden. Da das Grundge-

511 Steinberger, FS Helmrich, S. 434; Hahn, Vertrag von Maastricht, S. 121; Badura, FS Redeker, S. 126; Ossenbühl, DVB1. 1993, S. 633; Schmitt Glaeser, S. 75; Konow, DÖV 1996, S. 847. 512 Diesen Begriff gebraucht Randelzhofer, Öffentliche Anhörung der Gemeinsamen Verfassungskommission, Stenogr. Bericht vom 22.05.1992, S. 15. Er wird von ihm aber verworfen; ebenso Tomuschat, EuR 1990, S. 351. 513

Oppermann/Classen, Aus Politik und Zeitgeschichte 28/1993, S. 14.

514

Scholz, NJW 1992, S. 2598; Streinz, Artikel 23, Rn. 18, in: Sachs (Hrsg.), Kommentar zum GG. 515

Hilf/Pache,

Artikel A, Rn. 25 ff., in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), Kommentar zum

EUV. 516

Schmitt Glaeser, S. 75; Oppermann/Classen, 28/1993, S. 14.

Aus Politik und Zeitgeschichte

II. Regelungen des GG

10

setz nur die deutschen Staatsorgane binden kann 5 1 7 , kann die Bundesrepublik Deutschland die anderen Mitgliedstaaten nicht anweisen, in ihren Verfassungsordnungen dem Grundgesetz entsprechende Strukturen zu konstituieren 518. Ebenso kann sie die Organe der Europäischen Union weder binden noch verhindern, daß im Zuge der fortschreitenden Entwicklung auf der Ebene der Europäischen Union Strukturen entstehen, die nicht mehr denen entsprechen, die die Strukturklausel sichern w i l l 5 1 9 . Aus alledem folgt, daß Artikel 23 Absatz 1 Satz 1 GG für die Europäische Union zwar bestimmte Strukturen fordert, daß er aber nicht vorgibt, daß die im Grundgesetz niedergelegten grundlegenden Verfassungsprinzipien von Demokratie, Bundes-, Sozial- und Rechtsstaat einschließlich des Grundrechtsschutzes unterschiedslos auch auf der Ebene der Europäischen Union zu verwirklichen sind. Die Forderungen des Artikels 23 Absatz 1 Satz 1 GG müssen der besonderen Struktur der Europäischen Union angepaßt werden.

(1) Föderative

Grundsätze

Die Europäische Union muß gemäß Artikel 23 Absatz 1 Satz 1 GG föderativen Grundsätzen verpflichtet sein. Die Aufnahme der Forderung nach Verwirklichung föderativer Grundsätze auf der Ebene der Europäischen Union ist nicht überraschend. Ausgangspunkt waren diesbezügliche Forderungen der Bundesländer. So faßten sie auf einer Ministerpräsidentenkonferenz im Oktober 1987 den Beschluß, „ein Europa mit föderativen Strukturen" anzustreben, das u.a. dem Grundsatz Föderalismus statt Zentralismus verpflichtet sein sollte 520 . Diese Forderung wurde in einer Entschließung des Bundesrates vom 9. November 1990 zum föderalen Aufbau 517 Constant inesco, S. 714; Breuer, NVwZ 1994, S. 421; Grimm, JZ 1995, S. 585; Randelzhofer, in: Hommelhoff/Kirchhof, S. 55; Klein, Artikel 23, Rn. 6, in: SchmidtBleibtreu/Klein, Kommentar zum GG. 518 Randelzhofer, Artikel 24 Abs. 1, Rn. 113, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz (Hrsg.), Kommentar zum GG. 519

Sommermann, DÖV 1994, S. 602; Randelzhofer, Öffentliche Anhörung der Gemeinsamen Verfassungskommission, Stenogr. Bericht vom 22.05.1992, S. 15. Die Konsequenzen für die Möglichkeiten der Bundesrepublik Deutschland, weiterhin als Mitgliedstaat in einem solchen Zusammenschluß zu verbleiben, sind noch nicht abschließend geklärt. Klein ist der Ansicht, daß Deutschland gehindert wäre, weiter an der weiteren Entwicklung der EU mitzuwirken mit der Folge, daß keine Hoheitsrechte mehr übertragen werden könnten, ders., Artikel 23, Rn. 6, in: Schmidt-Bleibtreu/Klein, Kommentar zum GG. 520

Bauer, Dokument 1, S. 14.

10

Α. Hoheitsrechtsübertragungen nach dem GG

Europas im Rahmen der Politischen Union wiederholt: Eine nach föderativen Grundsätzen errichtete Europäische Politische Union müsse die europäische Ebene als Feld einer künftigen politischen Ordnungs- und Strukturpolitik zur Lösung übergreifender Aufgaben, die nationalstaatliche Ebene als den Bereich der nationalen Gesetzgebung und Ordnung und die regionale Ebene als Bereich für die Gestaltung der vielfältigen und differenzierten Lebensbedingungen der Bürger klar unterscheiden521. Damit stellt sich die Frage, welche Anforderungen an die Europäische Union mit der Forderung nach Verwirklichung föderaler Grundsätze verbunden sind. Dies ist insbesondere deshalb erklärungsbedürftig, weil Artikel 23 Absatz 1 Satz 1 GG anstelle des ansonsten im Grundgesetz verwendeten Begriffs des Bundesstaates die Verwirklichung föderativer Grundsätze fordert. Fraglich ist, ob sich mit diesen unterschiedlichen Begriffen auch unterschiedliche inhaltliche Anforderungen verbinden. Dies ist zu bejahen, denn der Begriff des Föderalismus ist mit dem des Bundesstaates nicht inhaltsgleich. Der staatstheoretische Begriff des Bundesstaates fordert die Aufteilung der Staatlichkeit auf zwei Ebenen mit jeweils vollem Staatscharakter, er läßt für die Verteilung der Aufgaben und Kompetenzen und für die Regelung des gegenseitigen Verhältnisses der beiden Ebenen allerdings einen breiten Spielraum 522. Bei dem Begriff des Föderalismus handelt es sich hingegen um einen verfassungspolitischen Begriff 5 2 3 . Das föderale Prinzip ist nicht auf das Modell des Bundesstaates festgelegt; es ist überhaupt nicht auf Staat und Staatlichkeit beschränkt 524. Es ist politisches Grundprinzip und umschreibt den Vorgang und das Ergebnis der freien Einung von differenzierten, grundsätzlich gleichberechtigten, in der Regel regionalen politischen Gesamtheiten, die auf diese Weise gemeinschaftlich zusammenwirken525. Es bezeichnet ein Prinzip der Gesellschaftsorganisation, das durch verschiedenartige Formen sozialer, staatlicher und internationaler Einigung, Verbindung und Zusammenarbeit verwirklicht werden kann 526 . Insofern ist die bundesstaatliche Ordnung Deutschlands zwar eine Form föderativer

521 BR-Dr. 780/90. Bauer, Dokument 11, S. 113. So erneut der Beschluß der Ministerpräsidentenkonferenz vom 20./21.12.1990, BR-Dr. 680/91, a.a.O., S. 117 ff. Einen Überblick über die Forderungen der Länder gibt Hrbek, S. 130 ff. 522 Mazan, S. 6 f. m.w.N. Zur Unterscheidung Bundesstaat-Föderalismus Herzog, Artikel 20, Kapitel IV, Rn. 14, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz (Hrsg.), Kommentar zum GG. 523

Stern, Bd. I, S. 660; Kristan,, S. 147.

524

Badura, EuR 1994, Beiheft 1, S. 15; ders., FS Lerche, S. 371.

525

Hesse, Rn. 219; Schede, S. 25; Schnabel, BayVBl. 1993, S. 593.

526

Badura, FS Lerche, S. 371 ff.

II. Regelungen des GG

11

Gestaltung, doch ist der Bundesstaat des Grundgesetzes nur eine der Möglichkeitenföderativer Ordnungen 527. Die umfassende Sicherungsfunktion des Artikels 23 Absatz 1 Satz 1 GG spricht dafür, daß die Verpflichtung der Europäischen Union zur Verwirklichung föderativer Grundsätze zweierlei Zielrichtungen hat 5 2 8 . Die Verpflichtung zur Gewährleistungföderativer Grundsätze stellt zunächst eine Verpflichtung für die Gliederung der Union selbst auf 5 2 9 . Die Europäische Union selbst mußföderativ strukturiert sein. Dies bedeutet jedoch nicht, daß die Europäische Union ein Bundesstaat i.S. des Grundgesetzes sein muß 5 3 0 . Vielmehr kommt der Verpflichtung zur Verwirklichung föderativer Grundsätze die Bedeutung zu, daß die Europäische Union die Eigenstaatlichkeit der Mitgliedstaaten garantieren muß 5 3 1 . Sie darf also deren Staatlichkeit nicht gefährden. Die Europäische Union darf ihre Kompetenzen nicht derart ausbauen, daß den nationalen Hoheitsträgern Kompetenzen in einem erheblichen Umfang entzogen werden und deren Kompetenzausstattung dadurch so stark reduziert wird, daß sie die ihnen zugedachten Funktionen nicht mehr wahrnehmen können 532 . Den Mitgliedstaaten muß folglich ein eigenständiger Aufgabenbereich verbleiben. Die Verpflichtung auf die Beachtung föderativer Grundsätze bedeutet zum anderen, daß die Europäische Union die föderale Struktur ihrer Mitgliedstaaten nicht in Frage stellen darf 5 3 3 . Die Forderung nach Verwirklichung föderativer Grundsätze ist damit eine Verpflichtung an die Europäische Union zur Rücksichtnahme auf und Achtung der föderalen Strukturen der Mitgliedstaaten534. Die Europäische Union muß also die vorhandenen bundesstaatlichen oder regionalen Gliederungen und Strukturen in den Mitgliedstaaten zur Kenntnis

527

Mazan, S. 10. Zur Geschichte des Föderalismus in Deutschland Huhn/Witt, S. 1 ff.; Bohley, Aus Politik und Zeitgeschichte 28/1993, S. 34, Schede, S. 25. Zu Möglichkeiten und Vergleich föderaler Ordnungen in Deutschland, Belgien, Spanien und Italien Blanke, insbesondere Teile 1 und 7. 528

So im Ergebnis Scholz, NJW 1992, S. 2599.

529

Begründung der Bundesregierung, BR-Dr. 501/92, S. 12; Lerche, FS Redeker, S. 132, Fn. 5; Isensee, HdbStR IV, § 98, Rn. 286. 530

Scholz, NJW 1992, S. 2599; Schmitt Glaeser, S. 224; a.A. Di Fabio , Der Staat 1993, S. 198. 531

Badura, FS Lerche, S. 381.

532

Bohley, Aus Politik und Zeitgeschichte 28/1993, S. 35.

5 3

Scholz, NJW 1992, S. 2599.

?

534

Begründung der Bundesregierung, BR-Dr. 501/92, S. 13; Simson/Schwarze, S. 65 ff.; Tomuschat, EuR 1990, S. 360; Badura, FS Lerche, S 382; Rojahn, Artikel 23, Rn. 28, in: von Münch/Kunig (Hrsg.), Kommentar zum GG.

Α. Hoheitsrechtsübertragungen nach dem GG

1

nehmen und die Interessen föderaler Strukturen unterhalb der Ebene der Mitgliedstaaten berücksichtigen535. Dies kann etwa durch die Mitwirkung solcher Strukturen im Rechtsetzungsverfahren der Europäischen Union erfolgen. Möglich ist zum Beispiel die Ergänzung des Rechts der Europäischen Union durch Regelungen, die der innerstaatlichen Aufgabenteilung in den Mitgliedstaaten Rechnung tragen. Derföderalen Struktur der Mitgliedstaaten entsprechend ist es hinsichtlich der Entscheidungsverfahren auf der Ebene der Union denkbar, den Bundesländern für diejenigen Bereiche unmittelbare Mitwirkungsrechte einzuräumen, für die sie innerstaatlich originäre Hoheitsgewalt besitzen536. Die Forderung nach Verwirklichung föderaler Grundsätze beinhaltet damit von Seiten der Bundesrepublik Deutschland die Forderung an die Europäische Union nach einem mehrstufigen Aufbau, der von der Ebene der Europäischen Union und der Europäischen Gemeinschaft über die Ebene der Mitgliedstaaten und im Fall der Bundesrepublik Deutschland bis zur Ebene der Bundesländer reicht 537 . Die Verpflichtung der Europäischen Union zur Verwirklichung föderativer Grundsätze ist hingegen keine Belehrung an die Adresse anderer Mitgliedstaaten in Sachen verfassungsrechtlicher Mindestausstattung538. Die Forderung der Verwirklichung föderativer Grundsätzen bezieht sich nur auf das Verhältnis der Europäischen Union zu ihren Mitgliedstaaten, nicht hingegen auf die innerstaatlichen Strukturen in den übrigen Mitgliedstaaten. Es soll daher weder ein Mitgliedstaat verpflichtet werden, innerstaatlich föderale Strukturen zu entwikkeln 5 3 9 , noch ist Artikel 23 Absatz 1 Satz 1 GG als Gestaltungsauftrag an die Europäische Union zu verstehen, derartige Strukturen in den Mitgliedstaaten herbeizuführen 540. Die Forderung nach Verwirklichung föderativer Grundsätze auf der Ebene der Europäischen Union bedeutet folglich nicht, daß das Grundgesetz an die Europäische Union Anforderungen stellt, die den Anforderungen an das Verfassungsprinzip „Bundesstaat" entsprechen541. Vielmehr gelten „unionsspezifi535

Oschatz, S. 38; Everling, Aufteilung der Kompetenzen, S. 41 f. 536 p e r n i c e ^ D V B 1 . 1993, S. 924. 537

Scholz, NJW 1992, S. 2599; Pernice , DVB1. 1993, S. 924; Fischer, ZParl. 1993,

S. 39. 538

Hilf, VVDStRL 53 (1994), S. 17; Scholz, Artikel 23, Rn. 62, in: Maunz/Dürig/ Herzog/Scholz (Hrsg.), Kommentar zum GG. 539

Oppermann/Classen, Aus Politik und Zeitgeschichte, 28/1993, S. 16.

540

Sommermann, DÖV 1994, S. 600; Konow, DÖV 1996, S. 848.

541

Randelzhofer, Artikel 24 Abs. 1, Rn. 202, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz (Hrsg.), Kommentar zum GG; Rojahn, Artikel 23, Rn. 29, in: von Münch/Kunig (Hrsg.), Kommentar zum GG.

II. Regelungen des GG

11

sehe" Anforderungen: Die Europäische Union muß die Eigenstaatlichkeit der Mitgliedstaaten garantieren, und sie muß die föderalen Strukturen ihrer Mitgliedstaaten zur Kenntnis nehmen und in den Mitgliedstaaten vorhandenen innerstaatlichen Ebenen Handlungsmöglichkeiten auf der Ebene der Europäischen Union einräumen.

(2) Demokratische Grundsätze Die Europäische Union muß gemäß Artikel 23 Absatz 1 Satz 1 GG weiterhin demokratischen Grundsätzen verpflichtet sein. Die Eigenart der Europäischen Union als Form der Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten muß sich unmittelbar auf die Forderung nach Verwirklichung demokratischer Grundsätzen auswirken. Demokratische Grundsätze können auf der Ebene der Europäischen Union nicht in gleicher Form verwirklicht werden wie innerhalb einer durch eine Staatsverfassung einheitlich und abschließend geregelten Staatsordnung542. Das Grundgesetz läßt aufgrund seines Bekenntnisses zur Öffnung nach außen gewisse Modifikationen des innerstaatlichen Demokratiebegriffs bei der Verwirklichung demokratischer Grundsätze auf der Ebene der Europäischen Union z u 5 4 3 . Die Forderung nach Verwirklichung demokratischer Grundsätze hat ebenso wie die Forderung nach Verwirklichung föderativer Grundsätze eine doppelte Zielrichtung: Die Forderung nach der Verwirklichung demokratischer Grundsätze erstreckt sich sowohl auf die Möglichkeit der Beteiligung Deutschlands als Mitgliedstaat der Europäischen Union als auch auf die demokratische Legitimation der Europäischen Union selbst. Die Verwirklichung demokratischer Grundsätze setzt zunächst voraus, daß der Bundesrepublik Deutschland als Mitgliedstaat der Europäischen Union die Möglichkeit eingeräumt wird, effektiv und hinreichend Einfluß auf das Handeln der Europäischen Union zu nehmen. Die Bundesrepublik Deutschland muß als gleichberechtigtes Mitglied der Europäischen Union an den Entscheidungen und der Entwicklung der Europäischen Union mitwirken können 544 . Grund hierfür ist, daß in dem Moment, in dem die Bundesrepublik Deutschland Mitglied einer zu eigenem hoheitlichen Handeln befähigten Staatengemeinschaft ist 542

BVerfGE 89, S. 155, 182. Eibach., S. 89; Randelzhofer, in: Hommelhoff/ Kirchhof, S. 51. Hilf sieht den Auftrag des Artikels 23 GG daher darin, neuer Formen politischer Herrschaft, die nicht mehr nur den einzelnen Staat als Ausgangspunkt haben, zu entwickeln und anzuerkennen, ders., in: Hommelhoff/Kirchhof, S. 82. 543

Steinberg/Britz,

544

BVerfGE 89, S. 155, 183.

8 Uhrig

DÖV 1993, S. 320.

1

Α. Hoheitsrechtsübertragungen nach dem GG

und dieser Staatengemeinschaft die Ausübung von Hoheitsrechten eingeräumt wird, sie die Befugnis zur alleinigen Ausübung von Hoheitsgewalt in bezug auf die von ihr übertragenen Hoheitsrechte verliert. Das Ob und Wie der Ausübung von Hoheitsrechten ist damit nicht mehr stets vom Willen Deutschlands allein abhängig. Dieser Verlust alleiniger Hoheitsausübung muß durch hinreichende Einflußmöglichkeiten und effektive Mitentscheidungsbefugnisse Deutschlands in dieser Staatengemeinschaft ausgeglichen werden. Der Mitgliedstaat - und mit ihm seine Bürger - müssen durch die Beteiligung an der Willensbildung und Entscheidungsfindung innerhalb der Staatengemeinschaft Einflußmöglichkeiten zur Verfolgung eigener Zwecke erhalten 545 . Dies erfordert, daß die Mitgliedstaaten in einem sie repräsentierenden Organ vertreten sind, das demokratisch besetzt ist, das einen maßgeblichen Einfluß auf das Handeln der Europäischen Union besitzt und in dem die Entscheidungen nach demokratischen Grundsätzen getroffen werden. Fraglich ist, ob die Forderung nach der Verwirklichung demokratischer Grundsätze nicht nur voraussetzt, daß die Bundesrepublik Deutschland gleichberechtigt in dem die Mitgliedstaaten repräsentierenden Organ vertreten ist, sondern, ob es auch erforderlich ist, daß sie jeder Entscheidung im Rat zustimmen muß. Obwohl nämlich der deutsche Vertreter gleichberechtigt neben den Vertretern der anderen Mitgliedstaaten im Rat der Europäischen Gemeinschaft als dem die Mitgliedstaaten repräsentierenden Organ vertreten ist, kann der Fall eintreten, daß im Rat eine Entscheidung getroffen wird, die ohne oder gegen die Stimme Deutschlands ergeht. Da im Rat ist nicht für jede Entscheidung die Zustimmung aller Mitgliedstaaten erforderlich ist 5 4 6 , ist es möglich, daß die Vertreter der Mitgliedstaaten im Rat Entscheidungen treffen, an denen die Bundesrepublik Deutschland zwar beteiligt ist, denen sie aber nicht zugestimmt hat. Dies ist deshalb bedeutsam, weil die Europäische Union unabhängig davon, ob die Bundesrepublik Deutschland der Entscheidung im Rat zugestimmt hat oder nicht, in der Bundesrepublik Hoheitsrechte ausüben kann. Die Möglichkeit der Mehrheitsentscheidung im Rat ist jedoch mit der Verpflichtung zur Verwirklichung demokratischer Grundsätze auf der Ebene der Europäischen Union zu vereinbaren 547. Hierin eine Verletzung der Forderung nach demokratischen Grundsätzen zu sehen, widerspräche der Integrationsoffenheit des Grundgesetzes 5 4 8 . Dem läge nämlich eine Vorstellung zugrunde, die die Mitwirkung jedes

545

BVerfGE 89, S. 155, 182 f.

546

Artikel 189 ff. EGV.

547

Anders aber Schachtschneider Weltgeschichte 28/1993, S. 6. 548

BVerfGE 89, S. 155, 183.

u.a., JZ 1993, S. 755; ders., Aus Politik und

II. Regelungen des GG

115

demokratischen Staates an einer Staatengemeinschaft, deren Entscheidungen nicht ausschließlich nach dem Prinzip der Einstimmigkeit erfolgen, unmöglich machen würde. Die Forderung nach ausnahmslos einstimmig zu fassenden Beschlüssen setzte zwangsläufig den partikularen Willen einzelner Mitgliedstaaten über den der Europäischen Union und stellte diese damit schon strukturell in Frage 549 . Die Forderung nach Verwirklichung demokratischer Grundsätze bedeutet für die Beteiligung Deutschlands an der Europäischen Union also nicht, daß filr die Willensbildung im Rat der Europäischen Union durchweg das Einstimmigkeitsprinzip gelten muß. Die Forderung nach der Verwirklichung demokratischer Grundsätze beinhaltet außerdem die Forderung nach einer demokratischen Legitimation der Europäischen Union selbst. Demokratie bedeutet in der Bundesrepublik Deutschland gemäß Artikel 20 GG, daß alle Hoheitsgewalt vom Volk ausgehen muß, das das Handeln der Hoheitsträger durch Wahlen und Abstimmungen legitimiert 550. Die Europäische Union kann aber aufgrund ihrer Struktur als Zusammenschluß mehrerer Mitgliedstaaten keine parlamentarische Demokratie sein, wie es die Bundesrepublik Deutschland ist 5 5 1 . Die Forderung nach Verwirklichung demokratischer Grundsätze ist daher nicht als Forderung zu verstehen, dem Europäischen Parlament unterschiedslos die Aufgaben und Entscheidungsbefugnisse einzuräumen, die der Bundestag besitzt 552 . Die Aufgabe, die die nationalen Parlamente in der innerstaatlichen Verfassungsordnung innehaben, nämlich die des maßgeblichen Rechtsetzungsorgans und des Kontrollorgans der Regierungen, kann das Europäische Parlament aufgrund der strukturellen Besonderheit der Europäischen Union nur eingeschränkt wahrnehmen. Ein weiterer Grund für die von der Rolle eines nationalen Parlaments zu unterscheidende Funktion des Europäischen Parlaments ist das Fehlen eines homogenen europäischen Staatsvolkes553. Volle parlamentarische Demokratie auf der Ebene der Europäischen Union würde ein Staatsvolk voraussetzen, dessen Willen das Parlament repräsentiert und demgegenüber es verantwortlich

549

BVerfGE 89, S. 155, 183. Scholz, Artikel 23, Rn. 15, in: Maunz/Dürig/Herzog/ Scholz (Hrsg.), Kommentar zum GG, kommt zu dem Ergebnis, daß die EU von Verfassungs wegen über das legitime Recht verfüge, sich am Mehrheitsprinzip zu orientieren. 550

Siehe oben S. 81 ff.

551

Badura, FS Redeker, S. 126; Oppermann, Europarecht, Rn. 225.

552

So für zwischenstaatliche Einrichtungen Randelzhofer, Artikel 24 Abs. 1, Rn. 106, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz (Hrsg.), Kommentar zum GG. 553

Oppermann/Classen, EuR 1991, S. 8 f. 8»

Aus Politik und Zeitgeschichte 28/1993, S. 15; Simson,

1

Α. Hoheitsrechtsübertragungen nach dem GG

ist 5 5 4 . Während aber der Bundestag das deutsche Volk repräsentiert, ist das Europäische Parlament nicht die Vertretung eines europäischen Volkes, sondern die Vertretung der Völker der in der Europäischen Union zusammengeschlossenen Staaten 555 . Es hat daher als parlamentarische Versammlung der Völker Europas eine andere Rolle als die nationalen Parlamente 556. Gleichwohl müssen die Unionsbürger an der Ausübung der Hoheitsgewalt durch die Europäische Union beteiligt werden 557 , denn die Ausübung von Hoheitsgewalt muß sich auf die Bürger der Mitgliedstaaten zurückführen lassen und ihnen gegenüber verantwortet werden 558 . Daher wächst mit dem Ausbau der Aufgaben und Kompetenzen der Europäischen Gemeinschaft die Notwendigkeit, die Beteiligungsmöglichkeiten des Europäischen Parlaments im Rechtsetzungsverfahren schrittweise auszubauen559. Das Europäische Parlament kann nämlich als von den Völkern der Mitgliedstaaten gewählte Vertretung erheblich zur Steigerung des Niveaus demokratischer Legitimation beitragen 560. Als Vertretung der Völker Europas bewirkt die Zustimmung des Europäischen Parlaments zum Handeln der Europäischen Gemeinschaft eine erhebliche zusätzliche demokratische Legitimation, die die durch den Rat vermittelte mittelbare demokratische Legitimation ergänzen kann. Entscheidend ist daher, daß die Mitwirkungsrechte des Europäischen Parlaments parallel zu den Kompetenzerweiterungen der Europäischen Gemeinschaft ausgebaut werden 561 . Es muß zunehmend substanzielle Mitsprache- und Kontrollrechte ausüben können 562 . Da die Wahrnehmung von Hoheitsgewalt durch die Europäische Union sich auf Ermächtigungen souveräner Staaten, die regelmäßig durch ihre Regierungen handeln, stützt, muß die Gemeinschaftsgewalt von einem Organ ausgeübt werden, das von den mitgliedstaatlichen Regierungen beschickt wird, die ihrerseits demokratischer Kontrolle unterstehen563. Der Charakter der Europäischen

554

Oppermann/Classen, NJW 1993, S. 8; Simson, EuR 1991, S. 8 f.; Schmitt Glaeser, S. 208. 555

Ossenbühl, DVB1. 1993, S. 634.

556

Badura, EuR 1994, Beiheft 1, S. 21.

557

Penski, ZRP 1994, S. 195.

558

Rojahn, Artikel 23, Rn. 23, in: von Münch/Kunig (Hrsg.), Kommentar zum GG.

559

BVerfGE 89, S. 155, 184.

560

Meessen, NJW 1994, S. 552; Scholz, Artikel 23, Rn. 16, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz (Hrsg.), Kommentar zum GG. 561

BVerfGE 89, S. 155, 186.

562

Simson, EuR 1991, S. 8.

563

BVerfGE 89, S. 155, 186 f.

II. Regelungen des GG

11

Union als Staatenverbund rechtfertigt es, daß der Rat zentrale Entscheidungsbefugnisse im Bereich der Rechtsetzung der Europäischen Gemeinschaft besitzt 564 . Da aber das Handeln der Regierungen im Rat nur dann demokratisch legitimiert ist, wenn es der demokratischen Kontrolle durch die nationalen Parlamente untersteht, ist neben der demokratischen Legitimation, die durch das Europäische Parlament vermittelt wird, auch eine Rückkopplung an die Parlamente der Mitgliedstaaten erforderlich. Diese können ihre Aufgabe der parlamentarischen Kontrolle jedoch nur dann erfüllen, wenn ihnen ausreichende Handlungs- und Einflußnahmemöglichkeiten zustehen. Dies setzt voraus, daß die Mitgliedstaaten über hinreichend bedeutsame eigene Aufgabenfelder verfügen, bezüglich derer die Parlamente Rechtsetzungs- und Kontrollmöglichkeiten besitzen und bezüglich derer innerstaatlich eine politische Diskussion und Willensbildung stattfindet, die den nachfolgenden Entscheidungsprozeß im Parlament demokratisch legitimiert 565 . Die Verwirklichung demokratischer Grundsätze auf der Ebene der Europäischen Union beinhaltet somit nicht die Forderung nach einer Kopie des parlamentarischen Systems der Bundesrepublik Deutschlands566. Die Europäische Union muß vielmehr unionsspezifische Demokratiestrukturen entwickeln. Hierzu sind zwei einander ergänzende Entwicklungen erforderlich. Die Verwirklichung demokratischer Grundsätze erfordert auf der Ebene der Europäischen Union die Mitwirkung des Europäischen Parlaments an der Rechtsetzung und der Kontrolle der Organe der Europäischen Union. Neben das im innerstaatlichen System maßgebliche Gesetzgebungsorgan „Parlament" muß aber auf der Ebene der Europäischen Union ein weiteres Entscheidungsorgan treten, in dem die Mitgliedstaaten vertreten sind und in dem Entscheidungen nach demokratischen Grundsätzen getroffen werden. Die Verwirklichung demokratischer Grundsätze erfordert auf der Ebene der Europäischen Union daher nicht ausschließlich den Ausbau der Rechte des Europäischen Parlaments. Demokratische Grundsätze können auf der Ebene der Europäischen Union auch dadurch verwirklicht werden, daß neben dem demokratisch legitimierten, aber nur mit beschränkten Befugnissen ausgestatteten Europäischen Parlament mit dem Rat ein weiteres Organ vorhanden ist, das seinerseits über eine mittelbare demokratische Legitimation verfügt 567 . Diese mittelbare demokratische Legitimation wird durch die Kontrolle des Handels der Regierungen im Rat der Europäischen

564

Classen , ZRP 1993, S. 59, Fn. 46; Oppermann/Classen. Aus Politik und Zeitgeschichte 28/1993, S. 15; Zuleeg, JZ 1993, S. 1071. 565

BVerfGE 89, S. 155, 186.

566

Oppermann/Classen, Aus Politik und Zeitgeschichte 28/1993, S. 15.

567

Oppermann/Classen, Aus Politik und Zeitgeschichte 28/1993, S. 15.

1

Α. Hoheitsrechtsübertragungen nach dem GG

Gemeinschaft durch die nationalen Parlamente vermittelt. Dies setzt jedoch voraus, daß den Mitgliedstaaten Aufgabenbereiche verbleiben, die der Gestaltung und Kontrolle durch das nationale Parlament unterliegen und bezüglich derer innerstaatlich eine Willensbildung stattfindet, die ihrerseits die Entscheidungen der nationalen Parlamente demokratisch legitimiert. (3) Rechtsstaatliche Grundsätze In der Europäischen Union ist gemäß Artikel 23 Absatz 1 Satz 1 GG außerdem die Verwirklichung rechtsstaatlicher Grundsätze erforderlich. Grund für diese Forderung ist, daß eine überstaatliche Organisation, die Hoheitsgewalt ausübt und dem Bürger mit diesen unmittelbar verpflichtenden Eingriffsbefugnissen gegenübertritt, den Anforderungen der Rechtsstaatlichkeit genügen muß 5 6 8 . Fraglich ist jedoch, ob die Forderung nach Verwirklichung rechtsstaatlicher Grundsätze auf der Ebene der Europäischen Union Abweichungen gegenüber den auf innerstaatlicher Ebene geforderten Standards zuläßt. Besonderheiten sind im Hinblick auf das Prinzip der Gewaltenteilung zulässig, da aufgrund der Struktur der Europäischen Union als Staatenverbund die Aufgaben nach anderen Kriterien verteilt werden als auf innerstaatlicher Ebene 569 . So ist in der Europäischen Union der Rat, das Hauptrechtsetzungsorgan, eine Staaten- und keine Volksvertretung. Diese strukturelle Besonderheit der Europäischen Union hat zur Folge, daß die Aufgabenzuweisung nach anderen Mustern als im nationalen Verfassungssystem erfolgt 570 . Im Hinblick auf die Gewaltenteilung kann damit die Verteilung der Aufgaben von Exekutive, Legislative und Judikative, wie sie das Grundgesetz vornimmt, nicht unterschiedslos übertragen werden. Gleichwohl muß auch die Europäische Union grundsätzlich dem Prinzip der Gewaltenteilung verpflichtet sein, so daß insgesamt ein System der checks und balances garantiert ist 5 7 1 . Es müssen Organe vorhanden sein, die die Aufgaben von Legislative, Exekutive und Judikative wahrnehmen, die voneinander abgegrenzte Kompetenzen haben und die sich gegenseitig kontrollieren. Darüber hinaus umfaßt die Forderung nach Verwirklichung rechtsstaatlicher Grundsätze durch die Europäische Union die Forderung nach der Bindung an Recht und Gesetz und die Gewährleistung von Rechtsschutz in bezug auf die

568

Klein, VVDStRL 50 (1991), S. 77.

569

Oppermann/Classen, Aus Politik und Zeitgeschichte 28/1993, S. 16.

57 0

Schwarze, JZ 1993, S. 588.

57 1

Jarass, S. 109.

II. Regelungen des GG

11

Ausübung von Hoheitsgewalt durch unabhängige Gerichte und rechtliches Gehör 5 7 2 . Die Hoheitsgewalt der Europäischen Union muß, soweit sie sich in belastenden Eingriffsakten dem einzelnen gegenüber äußert, auf Ermächtigungsgrundlagen beruhen, deren Inhalt und Tragweite so genau präzisiert sind, daß das Handeln der Organe vorhersehbar und kalkulierbar ist 5 7 3 . Für das Handeln auf der Ebene der Europäischen Union muß also der Vorbehalt des Gesetzes gelten. Daneben sind das Willkürverbot und das Prinzip der Verhältnismäßigkeit zu beachten. Gegen belastende Rechtsakte muß zudem eine wirksame gerichtliche Kontrolle durch unabhängige Richter eröffnet sein 574 . Das Bundesverfassungsgericht hat zwar im Hinblick auf die Anforderungen des Rechtsschutzes erklärt, daß bei einem Zusammenschluß mehrerer Staaten nicht die umfassenden Garantien des Grundgesetzes erwartet werden können 575 . In bezug auf die Akte der öffentlichen Gewalt einer unter Beteiligung der Bundesrepublik Deutschland errichteten zwischenstaatlichen Einrichtung muß kein Rechtsschutzsystem vorgesehen werden, das in Umfang und Wirksamkeit in jeder Hinsicht dem Rechtsschutzsystem des Grundgesetzes gleichkommt. Derartige Forderungen im Hinblick auf die Ausgestaltung gerichtlicher Kontrolle durch eine zwischenstaatliche Einrichtung liefen nämlich der Verfassungsentscheidung für eine internationale Zusammenarbeit zuwider 5 7 6 . In bezug auf die gerichtliche Kontrolle bedeutet dies jedoch nicht, daß die Europäische Union Hoheitsgewalt ausüben kann, die keiner gerichtlichen Kontrolle unterliegt. Es darf also für das Handeln auf der Ebene der Europäischen Union keine Rechtsschutzlücken geben, sondern es bedarf einer wirksamen Kontrolle der Ausübung von Hoheitsgewalt auf der Ebene der Europäischen Union durch unabhängige Richter 577 . Die Forderung nach Verwirklichung rechtsstaatlicher Grundsätze läßt somit auf der Ebene der Europäischen Union Abweichungen von den Forderungen an rechtsstaatliche Grundsätze, wie sie das Grundgesetz fordert, nur in beschränktem Umfang zu. Auch die Europäische Union muß dem Prinzip der Gewaltenteilung verpflichtet sein. Die Europäische Union darf jedoch bei der Aufgabenzuweisung an ihre Organe die strukturbedingten Unterschiede berück-

57 2

Schwarze, JZ 1993, S. 588; Grimm, JZ 1995, S. 585; Scholz, Artikel 23, Rn. 59, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz (Hrsg.), Kommentar zum GG. 573

So schon für Artikel 24 GG Tomuschat, Artikel 24, Rn. 58, in: BK.

57 4

Schwarze, JZ 1993, S. 588; im Ergebnis auch Jarass/Pieroth, in: GG-Kommentar. 57 5

Tomuschat, Artikel 24, Rn. 58, in: BK.

576

BVerfGE 58, S. 1,40 f.

577

BVerfGE 89, S. 155, 175. Tomuschat, EuGRZ 1993, S. 490 f.

Artikel 23, Rn. 12,

10

Α. Hoheitsrechtsübertragungen nach dem GG

sichtigen, so daß legislative, exekutivische und rechtsprechende Aufgaben entsprechend den strukturellen Besonderheiten der Europäischen Union als Zusammenschluß von Staaten auf die verschiedenen Organe verteilt werden können. Erforderlich ist jedoch, daß insgesamt ein System der gegenseitigen Kontrolle der Gewalten existiert, in dem checks and balances gewährleistet sind. Darüber hinaus ist für das Handeln auf der Ebene der Europäischen Union eine Bindung an Recht und Gesetz erforderlich, und es müssen grundlegende rechtsstaatliche Prinzipien wie etwa das Willkürverbot und das Verhältnismäßigkeitsprinzip gelten. Außerdem muß für den einzelnen die Möglichkeit einer wirksamen rechtlichen Kontrolle der Ausübung von Hoheitsgewalt auf der Ebene der Europäischen Union durch unabhängige Richter bestehen.

(4) Soziale Grundsätze Die Union muß darüber hinaus gemäß Artikel 23 Absatz 1 Satz 1 GG sozialen Grundsätzen verpflichtet sein. Die Verpflichtung der Europäischen Union auf soziale Grundsätze unterscheidet sich von Forderungen etwa nach demokratischen und föderativen Grundsätzen dadurch, daß damit keine Forderung an die Struktur der Europäischen Union verbunden ist, sondern daß damit die inhaltliche Ausrichtung auf ein bestimmtes Ziel vorgegeben wird. Die innerstaatlichen Hoheitsträger sind bei ihrem Handeln auf der Ebene der Europäischen Union verpflichtet, die soziale Ausrichtung der Europäischen Union zu stärken 578. Der insofern an die innerstaatlichen Organe gerichtete Entwicklungsauftrag beinhaltet die Verpflichtung, die Verwirklichung dieses Ziels dadurch zu ermöglichen, daß Hoheitsrechtsübertragungen an die Europäische Union dazu führen können, daß der Schutz sozialer Grundsätze auf der Ebene der Europäischen Union möglich wird. Soweit der Europäischen Union Hoheitsrechte eingeräumt werden, muß sie bei der Ausübung dieser Hoheitsrechte dem sozialstaatlichen Gedanken verpflichtet sein 579 . Sie muß eine Wertentscheidung zugunsten sozialer Gerechtigkeit und sozialer Sicherheit treffen, darf sich also nicht jedweder Integration und Gestaltungs- oder Leistungsverpflichtung im Bereich der Sozialpolitik versagen 580. Eine Verpflichtung der Europäischen Union, dem Niveau der

57 8

Rojahn, Artikel 23, Rn. 27, in: von Münch/Kunig (Hrsg.), Kommentar zum GG.

579

Dies räumt dem Gemeinschaftsgesetzgeber einen weiten Spielraum ein, Jarass,

S. 109. 580

Scholz, Artikel 23, Rn. 60, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz (Hrsg.), Kommentar zum GG.

II. Regelungen des GG

11

Sozialstaatlichkeit der Bundesrepublik Deutschland zu entsprechen, kann aus diesen Grundsatz gleichwohl nicht abgeleitet werden 581 . Die Europäische Union muß es sich vielmehr zur grundsätzlichen und verbindlichen Aufgabe machen, zur Schaffung sozialer Gerechtigkeit und zur Verwirklichung einer gerechteren Sozialordnung beizutragen. (5) Grundrechtsschutz An die Europäische Union ist gemäß Artikel 23 Absatz 1 Satz 1 GG des weiteren die Forderung gestellt, einen dem Grundgesetz im wesentlichen vergleichbaren Grundrechtsschutz zu gewährleisten. Diese Formulierung knüpft an die bereits in bezug auf Artikel 24 Absatz 1 GG entwickelten Forderungen an 5 8 2 . Die in bezug auf den Schutz von Grundrechten unter dem Aspekt der Grenze der Übertragung von Hoheitsrechten entwickelten Gewährleistungen werden nunmehr in der Verfassung selbst festgeschrieben. Die Aufnahme der Formel eines im wesentlichen vergleichbaren Grundrechtsschutzes ist die nahezu wortgleiche Wiederholung der Forderungen, die das Bundesverfassungsgericht im Rahmen des Artikels 24 Absatz 1 GG entwickelt hat, nämlich, daß ein „im wesentlichen gleichzuachtender Grundrechtsschutz" erforderlich ist 5 8 3 . Den insofern entwickelten Anforderungen an den Schutz von Grundrechten muß daher auch die Europäische Union verpflichtet sein 584 . Die Europäische Union darf also den Schutz von Grundrechten nicht von vornherein ausschließen585. Sie muß zwar nicht jedes Grundrecht und jede grundrechtliche Detailregelung im gleichen Umfang wie das Grundgesetz gewährleisten 586. Das Grundrechtsschutzsystem der Europäischen Union muß Grundrechte jedoch mindestens in dem durch Artikel 19 Absatz 2 GG markierten Wesensgehalt garantieren. Der Wesensgehalts der Rechtsprinzipien, wie er dem Grundrechtsteil des Grundgesetzes zugrunde liegt, muß also sowohl

581

BR-Dr. 501/92, S. 13 f.; Schede, S. 60.

582

So ausdrücklich der Abschlußbericht der Gemeinsamen Verfassungskommission, BT-Dr. 12/6000, S. 21: „Soweit Absatz 1 Satz 1 auf einen dem Grundgesetz „im wesentlichen vergleichbaren Grundrechtsschutz" abstellt, knüpft er an die sogenannte „Solange-Rechtsprechung" des Bundesverfassungsgerichts (...) an". Fischer, ZParl. 1993, S. 39; Kirchner/Haas, JZ 1993, S. 763; Schede, S. 62; Burgi, S. 27. 583

BVerfGE 37, S. 271, 280 ff.; BVerfGE 73, S. 339, 376 f.

5X4

Siehe oben S. 70 ff.

585

BVerfGE 73, S. 339, 387; BVerfGE 89, S. 155, 174 f.

586

Sommermann, DÖV 1994, S. 600; Fischer, ZParl. 1993, S. 39.

1

Α. Hoheitsrechtsübertragungen nach dem GG

generell als auch im Einzelfall gewährleistet sein 587 . Die Europäische Union muß Grundrechte in einem Umfang garantieren, der dem des Grundgesetzes gleichwertig und gleichartig ist.

(6) Grundsatz der Subsidiarität Schließlich muß die Europäische Union dem Grundsatz der Subsidiarität verpflichtet sein. Der Grundsatz der Subsidiarität bildet insofern eine Ausnahme, als er vor der Neufassung des Artikels 23 Absatz 1 Satz 1 GG keinen Verfassungsgrundsatz darstellte 588. Bei ihm handelt es sich vielmehr um einen dem Vertrag von Maastricht entnommenen Grundsatz 589. Durch die Aufnahme in das Grundgesetz wird das Subsidiaritätsprinzip aber nun auch zu einem Begriff des deutschen Verfassungsrechts 590. Das Subsidiaritätsprinzip bildet auch auf der Ebene der Europäischen Union erstmals einen allgemeinen Grundsatz 591. Zwar enthielt schon Artikel 130 r Absatz 4 Satz 1 EWGV eine Klausel, die einen Hinweis auf den Grundgedanken der Subsidiarität enthielt. Diese forderte im Bereich des Umweltschutzes für das Handeln auf Gemeinschaftsebene einen Mehrwert 592 . Aus Artikel 130 r

587

Sommermann, DÖV 1994, S. 600.

588

Die h.M. sah in ihm zwar ein wertvolles Prinzip der Sozialordnung und ein Gebot politischer Klugheit, verfassungsrechtliche Qualität wurde ihm jedoch abgesprochen, Herzog, Der Staat 1963, S. 415 ff.; Scholz, Artikel 23, Rn. 66, in: Maunz/ Dürig/Herzog/Scholz (Hrsg.), Kommentar zum GG; offengelassen in BVerfGE 58, S. 233, 253. 589

Badura, FS Redeker, S. 126. Das Subsidiaritätsprinzip entstammt ursprünglich der katholischen Soziallehre, die kirchenrechtlich in der Enzyklika Quadragesimo aus dem Jahre 1931 statuiert ist und der von Lorenz von Stein inspirierten Theorie der kommunalen Selbstverwaltung, Pipkorn, EuZW 1992, S. 698. 590 Oppermann, JuS 1996, S. 570. Das Subsidiaritätsprinzip unterliegt infolgedessen der Auslegung durch das Bundesverfassungsgericht, Everling, DVB1. 1993, S. 945; Klein/Haratsch, DÖV 1993, S. 790; Merten, S. 77. Classen hält die Aufnahme des Subsidiaritätsprinzips für wenig hilfreich, weil es die Gefahr widersprechender Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts und des EuGH heraufbeschwöre, ders., ZRP 1993, S. 59. 591 592

Böhm, BayVBl. 1993, S. 548; Strohmeier, BayVBl. 1993, S. 417.

Artikel 130 r Abs. 4 Satz 1 EWGV wurde aber wegen des Fehlens der negativen Voraussetzung eher als Optimierungsklausel i.S. des Vorrangs einer Gemeinschaftsregelung verstanden, Pernice , Die Verwaltung 1989, S. 34 f.; Pipkorn, EuZW 1992, S. 699; Scheuing, EuR 1989, S. 164 ff.

II. Regelungen des GG

1

Absatz 4 EWGV konnte jedoch kein allgemeiner Grundsatz hergeleitet werden 5 9 3 . Nunmehr enthalten sowohl der EU-Vertrag 594 als auch der EG-Vertrag das Subsidiaritätsprinzip als allgemein gültigen Grundsatz. Das in Artikel 3 b Absatz 2 EGV grundlegend geregelte Subsidiaritätsprinzip lautet: In den Bereichen, die nicht in ihre ausschließliche Zuständigkeit fallen, wird die Gemeinschaft nach dem Subsidiaritätsprinzip nur tätig, sofern und soweit die Ziele der in Betracht gezogenen Maßnahmen auf der Ebene der Mitgliedstaaten nicht ausreichend erreicht werden können und daher wegen ihres Umfangs oder ihrer Wirkungen besser auf Gemeinschaftsebene erreicht werden können. Ein Tätigwerden der Europäischen Gemeinschaft in Bereichen der nicht ausschließlichen Zuständigkeit setzt gemäß Artikel 3 b Absatz 2 EGV damit erstens voraus, daß die Ziele auf mitgliedstaatlicher Ebene nicht ausreichend und zweitens, daß sie auf Gemeinschaftsebene besser erreicht werden können. In einem ersten Schritt muß also geprüft werden, ob eine Maßnahme auf nationaler Ebene nicht ausreicht, etwa weil ein Problem von grenzüberschreitender Dimension vorliegt, dessen Lösung den einzelnen Mitgliedstaat überfordert und insofern eine gemeinschaftsweite Regelung erfordert 595. Dabei ist zu beachten, daß ein Handeln der Europäischen Gemeinschaft schon dann ausgeschlossen ist, wenn die Mitgliedstaaten die in Frage stehenden Ziele „ausreichend" erreichen können. Es ist also zunächst nicht darauf abzustellen, ob die Ziele durch die Europäische Gemeinschaft besser oder optimal erreicht werden können, sondern ausschließlich auf die Unmöglichkeit, die Ziele auf mitgliedstaatlicher Ebene ausreichend zu erreichen 596. Erst in einem zweiten Schritt muß sich dann positiv ergeben, daß die auf Gemeinschaftsebene ergriffene Maßnahme dem gemeinsamen Ziel näher kommt als ein Handeln eines einzelnen Mitgliedstaates. Diese zweite Voraussetzung ist nicht schon dann erfüllt, wenn mit dem Gemeinschaftshandeln geringfügige oder marginale Vorteile verbunden sind 597 . Der Europäische Rat hat vielmehr als Voraussetzung für das Handeln auf Gemeinschaftsebene die Forderung aufgestellt, daß durch das Handeln auf Gemeinschaftsebene „deutliche Vorteile" erzielt werden müssen598. Diese Prüfung stellt damit praktisch die Kehrseite der ersten negativ formulierten Vorausset-

593

Stewing , DVBI. 1992, S. 1517; Steinberger, VVDStRL 50 (1991), S. 21 f.

594

Das Subsidiaritätsprinzip ist im 11. Erwägungsgrund der Präambel und in Artikel Β Abs. 2 EUV geregelt, und es liegt Artikel K.3 Abs. 2 lit. b EUV zugrunde. 595

Schmidhuber/Hitzler, Blumenwitz, S. 7.

NVwZ 1992, S. 722; Strohmeier,

BayVBl. 1993, S. 420;

596

Pieper, DVBI. 1993, S. 211.

597

Jarass, EuGRZ 1994, S. 211.

598

Schlußfolgerungen des Europäischen Rates von Edinburgh, EA 1992, S. D 8.

1

Α. Hoheitsrechtsübertragungen nach dem GG

zung dar. Zusammen bilden beide Voraussetzungen die rechtfertigende Legitimation für ein Handeln der Gemeinschaft 599. Negative und positive Voraussetzung sind also miteinander verknüpft und bilden insofern die doppelte Bedingung dafür 600 , daß die Gemeinschaft überhaupt tätig werden darf. Fraglich ist, welche Konsequenzen zu ziehen sind, wenn Ziele zwar durch mitgliedstaatliches Handeln zu lösen wären, einzelne Mitgliedstaaten aber zu nationalem Handeln nicht bereit sind. Nach dem Wortlaut des Artikels 3 b Absatz 2 EGV ist ein Tätigwerden der Gemeinschaft in einem solchen Fall nicht möglich, da ein Handeln auf der Ebene der Mitgliedstaaten ausreichen würde und somit die erste Voraussetzung für ein Handeln der Europäischen Gemeinschaft nicht gegeben ist. Zum Teil wird jedoch angenommen, daß dann, wenn die Mitgliedstaaten nationale Maßnahmen nicht treffen, obwohl sie dazu in der Lage wären, der Gemeinschaft die Kompetenz zum Erlaß gemeinschaftlicher Rechtsakte zuwachsen müsse. Für die Handlungsmöglichkeit der Europäischen Gemeinschaft sei es ausreichend, daß die Mitgliedstaaten faktisch nicht in ausreichender Weise handelten, da ansonsten die Gefahr von Regelungslücken bestehe601. Dem wird berechtigterweise entgegengehalten, daß die Gefahr von Regelungslücken schon deshalb nicht bestehe, weil die Mitgliedstaaten aufgrund von Artikel 5 EGV verpflichtet sind, in den Fällen, in denen mitgliedstaatliches Handeln eine ausreichende Zielverwirklichung ermögliche, eine solche Maßnahme auch durchzuführen 602. Um die Voraussetzungen des Subsidiaritätsprinzips zu präzisieren, hat der Europäische Rat in Edinburgh für das Tätigwerden auf der Ebene der Europäischen Gemeinschaft Leitlinien aufgestellt: -

Die zur Prüfung vorliegende Frage hat transnationale Aspekte, die durch Maßnahmen der Mitgliedstaaten nicht zufriedenstellend geregelt werden können, und/oder - Maßnahmen der Mitgliedstaaten allein oder das Fehlen gemeinschaftlicher Maßnahmen würden zu den Erfordernissen des Vertrags im Widerspruch stehen (beispielsweise zu dem Erfordernis, Wettbewerbsverzerrungen zu beheben oder verschleierte Handelsbeschränkungen zu vermeiden oder den wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt zu stärken) oder in anderer Weise die Interessen der Mitgliedstaaten erheblich beeinträchtigen, und/oder

599

Pipkorn, EuZW 1992, S. 699.

600

Schmidhuber/Hitzler,

601

Lambers, EuR 1993, S. 236.

602

NVwZ 1992, S. 722; Jarass, EuGRZ 1994, S. 210.

Konow, DÖV 1993, S. 410, der in einem solchen Fall auch einen Beschluß der EG zur Begründung einer Handlungsverpflichtung eines Mitgliedstaaten in Betracht zieht.

II. Regelungen des GG - dem Rat muß der Nachweis erbracht werden, daß Maßnahmen auf Gemeinschaftsebene aufgrund ihrer Größenordnung oder ihrer Auswirkungen im Verhältnis zu einem Tätigwerden auf der Ebene der Mitgliedstaaten deutliche Vorteile erbringen würden. 603 Die Notwendigkeit einer Regelung auf Gemeinschaftsebene muß also auf qualitativen oder - soweit möglich - auf quantitativen Kriterien beruhen. Das Ziel, gegenüber Drittstaaten einen einheitlichen Standpunkt zu vertreten, reicht damit als Begründung nicht aus 604 . Nicht ausreichend für die Begründung einer Gemeinschaftszuständigkeit ist ferner das Argument der bloßen Rechts- und Verwaltungsvereinfachung zur Ersetzung von fünfzehn nationalen Normen durch eine einzige Norm auf Gemeinschaftsebene 605. Schwierigkeiten bereitet allerdings die Bestimmung der Bereiche, für die das Subsidiaritätsprinzip gelten soll 6 0 6 . Gemäß Artikel 3 b Absatz 2 EGV ist das Subsidiaritätsprinzip auf die Bereiche begrenzt, die nicht in die ausschließliche Zuständigkeit der Gemeinschaft fallen. Welche Bereiche dies sein sollen, ist im EG-Vertrag nicht ausdrücklich geregelt 607. Einen Zuständigkeitskatalog, der zwischen ausschließlichen und konkurrierenden Zuständigkeiten unterscheidet, gibt es nicht 608 . Zwar werden zu den Bereichen ausschließlicher Gemeinschaftskompetenzen etwa die gemeinsame Landwirtschafts- und Fischereipolitik, die Handelspolitik gegenüber Drittstaaten oder die Beihilfekontrolle gezählt 609 . Dem EG-Vertrag läßt sich die Ausschließlichkeit einer Zuständigkeit der Europäischen Gemeinschaft jedoch nur schwer entnehmen, da die Zuständigkeiten der Europäischen Gemeinschaft gemäß Artikel 2 und 3 EGV

603 Schlußfolgerungen des Europäischen Rates von Edinburgh, EA 1992, S. D 9. Er hat diese Leitlinien auf seiner Tagung in Madrid am 15./16.12.1995 bekräftigt, Bulletin der EU 12/1995, S. 15. 604

Schlußfolgerungen des Europäischen Rates von Edinburgh, EA 1992, S. D 10.

605

Schmidhuber/Hitzler,

606

Pipkorn, EuZW 1992, S. 699.

NVwZ 1992, S. 723; Strohmeier, BayVBl. 1993, S. 420.

607

Mitteilung der Kommission an den Rat und an das Europäische Parlament betr. das Subsidiaritätsprinzip, EUROPE/Dokumente Nr. 1804/05 Anhang Zif. I.I.; Pieper, DVBI. 1993, S. 705; Pipkorn, EuZW 1992, S. 699; Toth, CMLR 1992, S. 1087. 608

Pieper, DVBI. 1993, S. 705; Schmidhuber, DVBI. 1993, S. 418; Konow, DÖV 1993, S. 407. 609

Schmidhuber, DVBI. 1993, S. 418; Schmidhuber/Hitzler, NVwZ 1992, S. 721; Pernice , EuZW 1992, S. 699; Borries, EuR 1994, S. 273. Kritisch Lambers, EuR 1993, S. 235. Einen Katalog von Bereichen, die nach ihrer Ansicht in die ausschließliche Zuständigkeit der EG fallen soll, gibt die Mitteilung der Kommission an den Rat und an das Furopäische Parlament betr. das Subsidiaritätsprinzip, EUROPE/Dokumente Nr. 1804/05, Anhang Ziff. 112.

Α. Hoheitsrechtsübertragungen nach dem GG funktionsgerichtet, in bezug auf bestimmte Sachgebiete und zielorientiert auf die Errichtung und das Funktionieren des Binnenmarktes ausgerichtet sind 610 . Die Formulierung des Artikels 3 b Absatz 2 EGV ist insofern irritierend 61 Κ Fraglich ist daher, ob das Subsidiaritätsprinzip als Kompetenzzuweisungsklausel zwischen Europäischer Gemeinschaft und Mitgliedstaaten Wirkung entfalten kann. Dies wird bejaht, da mit Hilfe des Subsidiaritätsprinzips der unteren Ebene das, was sie selbst zu leisten vermag, nicht entzogen und einer übergeordneten Ebene zugewiesen werden soll. Deshalb wirke das Subsidiaritätsprinzip dahingehend, daß es nicht an sich bestehende Kompetenzen der höheren Ebene einschränkt, sondern Kompetenzen, solange sie ordnungsgemäß von der unteren Ebene wahrgenommen werden, erst gar nicht auf die höhere Ebene übergehen läßt 6 1 2 . Infolgedessen wirke das Subsidiaritätsprinzip für die Mitgliedstaaten kompetenzerhaltend, während es auf der Ebene der Gemeinschaft kompetenzbegründend wirke 6 1 3 . Dieser Ansicht wird jedoch zu Recht widersprochen. Das Subsidiaritätsprinzip ist Ordnungsprinzip für die Art der Ausübung der Zuständigkeiten und keine Norm, die Zuständigkeiten zuweist 614 . Zur Erreichung einer solchen Kompetenzabgrenzung zwischen Mitgliedstaaten und Europäischer Ge-meinschaft in Bereiche ausschließlicher und solche nicht ausschließlicher Gemeinschaftskompetenzen wäre die Aufstellung ausdrücklicher Zuständigkeitskataloge, etwa analog dem deutschen Verfassungsrecht, erforderlich 615. Das Subsidiari-

610 Jarass, EuGRZ 1994, S. 209; Pipkorn, EuZW 1992, S. 699; Stewing, DVB1. 1992, S. 1518; Kirchhof, EuR 1991, Beiheft 1, S. 16. 611

Klein/Haratsch, DÖV 1993, S. 791; Schewing, DVB1. 1992, S. 1517. Nach Auffassung der Kommission kann eine ausschließliche Zuständigkeit der EG dann gegeben sein, wenn eine Verpflichtung der EG besteht, als allein zuständige Instanz bei der Wahrnehmung bestimmter Aufgaben tätig zu werden. Beispiele sind etwa Artikel 8 a und Artikel 40 EGV. Aus der Verpflichtung zum Handeln könne jedoch eine ausschließliche Zuständigkeit der EG rechtlich nicht abgeleitet werden. Für die Abgrenzung der Zuständigkeiten soll es auf den Gegenstand der Handlungsverpflichtung (je konkreter und zwingender, desto ausschließlicher) und auf die Fortschritte bei der europäischen Integration ankommen, SEK (92), 1990 endg., S. 5 ff. Die Regierungschefs der Bundesländer halten hingegen, außer in begründeten Einzelfällen, die sich aus der Natur der Sache eines funktionierenden Binnenmarktes ergeben, die ausschließliche Zuständigkeit der EG für bestimmte Politikbereiche nicht für gegeben, BR-Dr. 810/92, Nr. 3 c. 612

Merten, S. 81.

613

Schmidhuber, DVB1. 1993, S. 418; Hochbaum, DÖV 1992, S. 291.

614

Mitteilung der Kommission an den Rat und an das Europäische Parlament betr. das Subsidiaritätsprinzip, EUROPE/Dokumente Nr. 1804/05, Anhang Ziff. I. 1. 6,5

Hobe, JA 1993, S. 323; Konow, DÖV 1993, S. 412.

II. Regelungen des GG

127

tätsprinzip ist zudem als Kompetenz-zuweisungsregel zu unbestimmt616. Neben den Einzelermächtigungen des EG-Vertrages und den ansonsten aufgaben- und zielorientierten Zuweisungen ist daher für eine ergänzende Heranziehung des Subsidiaritätsprinzips als selbständige Kompetenzzuweisungsregel kein Platz 617 . Er bildet vielmehr eine Richtschnur dafür, wie Kompetenzen auf Gemeinschaftsebene auszuüben sind 618 . Artikel 3 b Absatz 2 EGV ist folglich keine Kompetenzabgrenzungs- und -Verteilungsregel, sondern stellt nur eine Kompetenzausübungsregel dar 6 1 9 . Es bildet in diesem Zusammenhang auch eine Richtschnur bei der Anwendung des Artikels 235 E G V 6 2 0 . Artikel 235 EWGV diente bisher als Abrundungsnorm und Vertragsergänzungsklausel 621. Für die Inanspruchnahme des Artikels 235 EWGV als Kompetenznorm wurde bisher vorausgesetzt, daß ein Tätigwerden der Gemeinschaft zwingend zur Verwirklichung eines der Ziele der Gemeinschaft erforderlich ist, und daß zur Verwirklichung des Ziels lediglich eine ausdrückliche Ermächtigungsnorm fehlt 622 . Das Subsidiaritätsprinzip präzisiert nunmehr den Anwendungsbereich des Artikels 235 EGV. Eine pauschale Zuständigkeitsbegründung der Gemeinschaft „gestützt auf den EWG-Vertrag" 623 ist in Zukunft nicht mehr möglich, da

616

Stewing , DVBI. 1992, S. 1516.

617

Heintzen, JZ 1991, S. 319.

618

Schlußfolgerungen des Europäischen Rates von Edinburgh, EA 1992, S. D 8.

619

Scherer, DVBI. 1993, S. 282 f.; Stewing , DÖV 1992, S. 1518; Pieper, DVBI. 1993, S. 707; Pernice, DVBI. 1993, S.915; Klein/Haratsch, DÖV 1993, S. 791; Bogdandy/Nettesheim, Artikel 3 b, Rn. 19, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), Kommentar zum EUV. 620

Schlußfolgerung des Europäischen Rates von Edinburgh, EA 1992, S. D 8.

621

Auf Artikel 235 EWGV konnte nur subsidiär zurückgegriffen werden, nämlich dann, wenn eine Maßnahme zwar von der Zielsetzung der Gemeinschaft gedeckt ist, aber keine Vertragsbestimmung die zum Erlaß eines Rechtsaktes erforderliche Kompetenz verlieh, EuGH 26.03.1987 - Kommission/Rat, Rs. 45/86 - Slg. 1987, S. 1493, 1520. Oppermann, Europarecht, Rn. 437; Toth, CMLR 1992, S. 1082; Mazan, S. 99 f., Schmidhuber/Hitzler, NVwZ 1992, S. 722. 622

Zu den Anwendungsvoraussetzungen des Artikels 235 EWGV im Einzelnen Dorn, S. 112 ff. 623

Diese pauschale Begründung wurde in der Vergangenheit vereinzelt gebraucht, z.B. Entschließung vom 30.06.1988 über die Verbesserung der Rahmenbedingungen für Unternehmen, ABL. 1988 Nr. C 197 S. 6 f.

128

Α. Hoheitsrechtsübertragungen nach dem GG

dies den Begründungs- und Rechtfertigungsvorgaben, die das Subsidiaritätsprinzip aufstellt, nicht ge-nügt 624 . Im Ergebnis kann das Subsidiaritätsprinzip als Kompetenzausübungsregel625 dazu beitragen, die nationale Identität der Mitgliedstaaten zu wahren und ihre Befugnisse zu erhalten 626 . Seine Verankerung im EG-Vertrag macht es zudem zu einem Beurteilungsmaßstab für den EuGH 6 2 7 , wenn ihm auch wegen seiner generalklauselartigen Formulierung 628 deutliche Grenzen der Einklagbarkeit gesetzt sind 629 . Ihm kommt vor allem in den internen Verfahren der Europäischen Gemeinschaft, insbesondere in den Rechtsetzungsverfahren, besondere Bedeutung z u 6 3 0 . Dies gilt vor allem deshalb, weil nunmehr für jedes Gemeinschaftsorgan eine Begründungs- und Rechtfertigungslast besteht, in jedem einzelnen Fall ausdrücklich und schlüssig darzulegen, daß ein Handeln auf der Ebene der Mitgliedstaaten „nicht ausreichend" und die Regelung auf der Ebene

624

Schmidhuber/Hitzler, NVwZ 1992, S. 722. Infolgedessen wird sich die Anzahl der Regelungen verringern, in denen mit Hilfe des Artikels 235 EGV Rechtsakte auf Gemeinschaftsebene erlassen werden können, Toth, CMLR 1992, S. 1095. 625

Klein/Haratsch, DÖV 1993, S.791; Staujfenberg/Langenfeld, ZRP 1992, S. 255; Bohley, Aus Politik und Zeitgeschichte 28/1993, S. 37; Jarass, EuGRZ 1994, NVwZ S. 211. Es wird auch als Ordnungsprinzip bezeichnet, Schmidhuber/Hitzler, 1992, S. 723. 626

Schlußfolgerungen des Europäischen Rates von Edinburgh, EA 1992, S. D 7. A.A. Ossenbühl, DVB1. 1993, S. 655. 627

Everling, CMLR 1992, S. 1070 f., der zudem auf die Grenzen des Ermessens hinweist, die der EuGH hinsichtlich der vom Subsidiaritätsprinzip geprägten Konzeption der Gemeinschaftsstruktur zu beachten haben wird. 628

Das Europäische Parlament betont, daß diese Formulierungen aus gutem Grund gewählt worden sei, da dadurch der Beurteilungsspielraum der Gemeinschaftsorgane und die Möglichkeit der Anpassung an die Entwicklung des europäischen Aufbauwerks verstärkt werde, Entschließung des Europäischen Parlaments zur Anpassung der Rechtsvorschriften an das Subsidiaritätsprinzip, EuGRZ 1994, S. 469. 629 Oppermann/Classen, NJW 1993, S. 8; Staufenberg/Langenfeld, ZRP 1992, S. 255; Jarass, EuGRZ 1994, S.212; Schede, S.31; Böhm, BayVBl. 1993, S. 548. Oppermann, JuS 1996, S. 572, weist daraufhin, daß die Unbestimmtheit und Weite des Subsidiaritätsprinzips nicht dazu führt, daß er zu einem unverbindlichen Programmsatz wird. Es ist vielmehr ein operables Rechtsprinzip, welches als Rechtsfigur in der Form der ausfüllungsbedürftigen Rahmennorm bekannt ist. Konow hält es für wahrscheinlich, daß der EuGH nur bei Überschreitung der äußersten Grenzen des Ermessens eingreifen wird, ders., DÖV 1993, S. 411. Zusammenfassend Bogdandy/Nettesheim, Artikel 3 b, Rn. 41, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), Kommentar zum EUV. 630 Classen, ZRP 1993, S. 58; Pernice, Die Verwaltung 1993, S. 459; Ossenbühl, DVB1. 1993, S. 635; Tomuschat, EuGRZ 1993, S. 495; Hochbaum, DÖV 1992, S. 292.

II. Regelungen des GG

129

der Europäischen Gemeinschaft „besser" geeignet ist 6 3 1 . Die Gemeinschaftsorgane dürfen sich, wenn sie eine bestimmte Maßnahme treffen wollen, nicht auf allgemeine Begründungen zurückziehen, sondern müssen einen konkreten Bewertungsmaßstab anlegen und dies gemäß Artikel 190 EGV auch nachvollziehbar darlegen 632. In diesem Sinne kann das Subsidiaritätsprinzip als Quelle von Rechtfertigungspflichten konkrete Bedeutung gewinnen 633 . Für die Kommission wird sich daraus regelmäßig die Pflicht ergeben, bei der Ausarbeitung eines Vorschlags für eine Verordnung oder Richtlinie eine Stellungnahme der Mitgliedstaaten zu diesem Punkt einzuholen634. Auch der Rat muß sich bei jeder Regelung mit diesem Prinzip beschäftigen und in seiner Begründung Stellung beziehen 635 . Der eigentliche Wert des Subsidiaritätsprinzips liegt daher in seiner Bedeutung als Argumentations- und Beweislastregel 636. Es bietet eine Gewähr dafür, daß über die Frage der Zuständigkeiten zwischen Gemeinschaft und Mitgliedstaaten regelmäßig nachgedacht und der Handlungsspielraum der Mitgliedstaaten respektiert wird 6 3 7 . Dieser Regelungsgehalt des Subsidiaritätsprinzips hat zu seiner Aufnahme in das Grundgesetz geführt 638 . Das Grundgesetz wollte den Grundgedanken des Erfordernisses einer wirksamen Kompetenzausübungsregel zwischen der Europäischen Gemeinschaft einerseits und den Mitgliedstaaten andererseits, wie er durch das Subsidiaritätsprinzip des EG-Vertrages aufgestellt wird, als Forderung an die Struktur der Europäischen Union festschreiben 639. Die Aufnahme 631 Simson/Schwarze, S. 46; Zuleeg, DVBI. 1992, S. 1333 f.; Lambers, EuR 1993, S. 241; Böhm, BayVBl. 1993, S. 549. 632

Pipkorn, EuZW 1992, S. 700; Scherer, DVBI. 1993, S. 285; Mosler, HdbStR VII, § 175 Rn. 72. 633

Oppermann/ Classen, NJW 1993, S. 8; Stauffenberg/Classen, ZRP 1992, S. 256; Weber, JZ 1993, S. 328; Lautenschlager, EuR 1994, Beiheft 1, S. 140. Im Ergebnis ebenso Ress, JuS 1992, S. 990. 634

Jarass, EuGRZ 1994, S. 212.

635

Pieper, DVBI. 1993, S. 711 f.; Pipkorn, EuZW 1992, S. 700.

636

Klein/Haratsch, DÖV 1993, S. 791; Jarass, VVDStRL 53 (1994), S. 40.

EuGRZ 1994, S.213; Stein,

637

Pernice, Die Verwaltung 1993, S. 459; Everling, DVBI. 1993, S. 940. Konow, DÖV 1993, S. 407, hält es überdies für ein Leitprinzip bei der Konkretisierung der Zuständigkeiten der EU in neuen Verträgen. 638

Scholz, S. 415; Oppermann, JuS 1996, S. 573. Zu den Positionen der anderen Mitgliedstaaten in bezug auf das Subsidiaritätsprinzip ausführlich Große Hüttmann, S. 25 ff. 639

Oppermann/Classen, mann,. JuS 1996, S. 570. 9 Uhrig

Aus Politik und Zeitgeschichte 28/1993, S. 17; Opper-

130

Α. Hoheitsrechtsübertragungen nach dem GG

des Subsidiaritätsprinzips in das Grundgesetz soll unterstreichen, daß das Grundgesetz das Subsidiaritätsprinzip als wichtiges Strukturelement der Europäischen Union ansieht, das die nationale Identität der Mitgliedstaaten wahren und ihre Befugnisse erhalten kann. Da das Subsidiaritätsprinzip auch vom Grundgesetz als Strukturprinzip einer Europäischen Union gefordert wird, sind die deutschen Verfassungsorgane gehalten, zu seiner Verwirklichung beizutragen 6 4 0 . So ist die Bundesregierung aufgrund Artikel 23 Absatz 1 GG verfassungsrechtlich dazu verpflichtet, ihren Einfluß zugunsten einer strikten Handhabung des Artikels 3 b Absatz 2 EGV geltend zu machen 641 . Daneben haben auch der Bundestag und der Bundesrat 642 die Möglichkeit, im Rahmen der innerstaatlichen Willensbildung die deutsche Position im Sinne des Subsidiaritätsprinzips zu beeinflussen 643. Die Aufnahme des Subsidiaritätsprinzips in den Katalog des Artikels 23 Absatz 1 Satz 1 GG begründet also eine Bemühenspflicht für die Organe der Bundesrepublik Deutschland, dieses Prinzip im Rahmen ihrer innerstaatlichen Möglichkeiten und nachfolgend auf der Ebene der Europäischen Union zu verwirklichen. 640

Klein, Artikel 23, Rn. 11, in: Schmidt-Bleibtreu/Klein, Kommentar zum GG.

641

BVerfGE 89, S. 155, 211. Schröter, DVB1. 1994, S. 321; Huber, S. 156; Rojahn, Artikel 23, Rn. 32, in: von Münch/Kunig (Hrsg.), Kommentar zum GG. Um die Leitlinien des Europäischen Rates von Edinburgh für die Anwendung des Subsidiaritätsprinzips umsetzen zu können, hat das Bundeskabinett am 08.12.1993 Verfahrensgrundsätze für die Subsidiaritätsprüfung vereinbart, hierzu Große Hüttmann, S. 15. Ihr Ziel ist es, ein einheitliches Verfahren der Ressorts bei der Prüfung, ob eine konkrete Initiative der Kommission mit dem Subsidiaritätsprinzip vereinbar ist, zu gewährleisten. Im Zeitraum 01.04.1995 bis 31.03.1996 haben die Ressorts 48 neue Vorhaben geprüft. Die Ressorts haben 24 Vorschläge für mit dem Subsidiaritätsprinzip vereinbar, 24 Vorhaben für nicht mit dem Subsidiaritätsprinzip vereinbar angesehen, BT-Dr. 13/5180, S. 1. 642

Dieser hat eine Streichliste von Rechtsetzungsvorhaben vorgelegt, die seiner Meinung nach gegen das Subsidiaritätsprinzip verstoßen, und daher aufgehoben oder geändert werden sollten, BR-Dr. 259/93. Auch einzelne Bundesländer haben solche Listen vorgelegt. So hat etwa die Bayerische Staatsregierung mit Kabinettsbeschluß vom 09.02.1993 eine umfangreiche Streichliste vorgelegt, Böhm, BayVBl. 1993, S. 550; Goppel, EuZW 1993, S. 369, der Beispiele aus dieser Liste aufführt. Der Bundesrat nimmt zudem regelmäßig zu EU-Vorhaben Stellung. So hat er im Zeitraum 01.04.1995 bis 31.03.1996 zu 13 EU-Vorhaben Stellung genommen. Er hat das Subsidiaritätsprinzip in 12 Fällen als verletzt angesehen. Nach Beratungen im Rat hat er seine Bedenken in 5 Fällen aufgegeben. Bei 5 der 7 noch verbleibenden Fälle stimmten Bundesregierung und Bundesrat überein. In 4 Fällen hat die deutsche Delegation im Rat zugestimmt, in 3 Fällen hat sie gegen den Rechtsaktsvorschlag dagegen gestimmt, BT-Dr. 13/5180, S. 2. 643

BVerfGE 89, S. 155, 211 f. Oppermann sieht darin eine Verfassungspflicht hohen Ranges, ders., JuS 1996, S. 571.

II. Regelungen des GG

131

cc) Grenzen der Übertragung Neben strukturellen Forderungen an die Europäische Union in Satz 1 fordert Artikel 23 Absatz 1 Satz 3 GG die Einhaltung der Grenzen des Artikels 79 Absätze 2 und 3 GG. Dies bedeutet zum einen, daß ein Gesetz bei Vorliegen der Voraussetzungen der Sätze 2 und 3 des Artikels 23 Absatz 1 G G 6 4 4 gemäß Artikel 79 Absatz 2 GG der Zustimmung von zwei Dritteln der Mitglieder des Bundestages und zwei Dritteln der Stimmen des Bundesrates bedarf* 45. Zum anderen fordert Artikel 23 Absatz 1 Satz 3 GG nunmehr ausdrücklich die Einhaltung des Artikels 79 Absatz 3 GG. Obwohl der Rückgriff auf Artikel 79 Absatz 3 GG in Satz 3 nicht sofort einsichtig ist, da doch Satz 1 schon inhaltlich vergleichbare Gewährleistungen fordert, hat Satz 3 einen den Satz 1 ergänzenden Regelungsgehalt. Während Artikel 23 Absatz 1 Satz 1 GG die Möglichkeit des deutschen Gesetzgebers zur Übertragung von Hoheitsrechten zugunsten der Europäische Union von der Verwirklichung bestimmter Strukturen und Zielvorgaben durch die Europäische Union als Übertragungsadressaten abhängig macht, gibt Satz 3 dem Gesetzgeber Grenzen bezüglich des Übertragungsgegenstandes vor, indem er festlegt, daß der deutsche Staat bei und nach der Übertragung von Hoheitsrechten auf die Europäische Union einem Staat entsprechen muß, der den durch Artikel 79 Absatz 3 GG garantierten grundlegenden Verfassungsprinzipien entspricht ((1)). Darüber hinaus findet die Möglichkeit der Übertragung von Hoheitsrechten im Rahmen des Artikels 23 GG auch dort ihre Grenze, wo die Staatlichkeit der Bundesrepublik Deutschland aufgegeben würde ((2)).

(1) Artikel 79 Absatz 3 GG Artikel 23 Absatz 1 Satz 3 GG bindet den deutschen Gesetzgeber bei der Verwirklichung der Europäischen Union und damit auch bei der Übertragung von Hoheitsrechten auf die Europäische Union, anders als Artikel 24 Absatz 1 GG, ausdrücklich an die durch Artikel 79 Absatz 3 GG garantierten grundlegenden Verfassungsprinzipien des Grundgesetzes. Er löst die im Rahmen von Artikel 24 Absatz 1 GG entwickelte Grenze „des Einbruchs in die die Verfassungsordnung der Bundesrepublik Deutschland konstituierenden Strukturen"

*

644

Siehe oben S. 99 ff.

645

Siehe oben S. 99 ff.

132

Α. Hoheitsrechtsübertragungen nach dem GG

a b 6 4 6 und bewirkt insofern eine deklaratorische Klarstellung 647. Dies bedeutet, daß die im Rahmen des Artikels 24 Absatz 1 GG entwickelten Grenzen, die Artikel 79 Absatz 3 GG für die Übertragung von Hoheitsrechten aufstellt 648, auch im Rahmen des Artikels 23 Absatz 1 Satz 3 GG, also für den Fall der Übertragung von Hoheitsrechten auf die Europäische Union, gelten. Auf dem Weg in die Europäische Union stehen deshalb die Gliederung des Bundes in Länder, die grundsätzliche Mitwirkung der Länder an der Gesetzgebung oder die in Artikel 1 und 20 GG niedergelegten Grundsätze nicht zur Disposition649. Die Anforderungen des durch Artikel 79 Absatz 3 GG i.V.m. Artikel 20 GG geschützten Demokratieprinzips hat das Bundesverfassungsgericht über den im Rahmen von Artikel 24 Absatz 1 GG entwickelten Schutzumfang hinaus konkretisiert: Das durch Artikel 79 Absatz 3 GG i.V.m. Artikel 20 GG geschützte Demokratieprinzip setzt voraus, daß die Wahrnehmung staatlicher Aufgaben und die Ausübung staatlicher Befugnisse sich auf das Staatsvolk zurückführen lassen und ihm gegenüber verantwortet werden müssen. Zwar läßt sich dieser notwendige Zurechnungszusammenhang auf verschiedene Weise, nicht nur in einer bestimmten Form, herstellen. Entscheidend ist jedoch, daß ein hinreichend effektiver Gehalt an demokratischer Legitimation im Sinne eines bestimmten Legitimationsniveaus erreicht wird 6 5 0 . Wird die Bundesrepublik Deutschland Mitglied in einer supranationalen Einrichtung und werden dieser Hoheitsrechte eingeräumt, verliert das vom Volk gewählte Repräsentativorgan, nämlich der Bundestag, notwendig Rechtsetzungskompetenzen und Einflußnahmemöglichkeiten. Da der wahlberechtigte Deutsche sein Recht auf Teilnahme an der demokratischen Legitimation der mit der Ausübung von Hoheitsgewalt betrauten Einrichtungen und Organe wesentlich durch die Wahl des Bundestages wahrnimmt, müssen diesem als durch das Volk gewählter Vertretung Aufgaben und Befugnisse von substanziellem Gewicht verbleiben 651. Die uneingeschränkte Übertragung von Kompetenzen des Bundestages würde also die demokratischen Mitwirkungsrechte der Wähler und damit das gemäß Artikel 79 Absatz 3 GG

646

Randelzhofer, Artikel 24 Abs. 1, Rn. 204, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz (Hrsg.), Kommentar zum GG; Tettinger, RIW 1992, Beilage 3, S. 9. 647 Kirchner/Haas, DÖV 1994, S. 600.

JZ 1993, S. 762; Breuer, NVwZ 1994, S. 422; Sommermann,

648

Siehe oben S. 70 ff.

649

Sonderausschuß „Europäische Union" des Bundestages, BT-Dr. 12/3896, S. 18.

650

BVerfGE 89, S. 155, 182. Cremer, EuR 1995, S. 23, hält diese Aussage für wenig aussagekräftig, da sich die genaue Höhe des geforderten Legitimationsniveaus nicht ablesen lasse. 651

BVerfGE 89, S. 155, 186.

II. Regelungen des GG

133

i.V.m. Artikel 20 GG geschützte grundlegende Verfassungsprinzip der Volkssouveränität verletzen 652 . Voraussetzung für den Erhalt des von Artikel 79 Absatz 3 GG i.V.m. Artikel 20 GG geschützte Demokratieprinzip ist also, daß dem Bundestag hinreichend bedeutsame eigene Aufgabenfelder verbleiben. Dies bedeutet, daß die Bundesrepublik Deutschland als Mitgliedstaat der Europäischen Union hinreichend bedeutsamer eigener Aufgabenfelder bedarf, über die im Bundestag entschieden wird. Bezüglich dieser Aufgabenfelder kann sich das deutsche Staatsvolk in einem von ihm legitimierten und gesteuerten Prozeß politischer Willensbildung artikulieren, und es kann in der weiteren Folge eine Kontrolle durch das Staatsvolk stattfinden. Dies bedeutet, daß dem Bundestag die Möglichkeit zur Einflußnahme auf die Ausübung von Staatsgewalt nicht substanziell entzogen werden darf 6 5 3 , denn diese Einflußnahmemöglichkeit ist Voraussetzung für den Erhalt einer funktionierenden und funktionsfähigen Demokratie 654 . Dies beinhaltet auch, daß der Bundestag über die Mitgliedschaft Deutschlands in der Europäischen Union, ihren Fortbestand und ihre Entwicklung bestimmen können muß 6 5 5 . Artikel 79 Absatz 3 GG i.V.m. Artikel 20 GG setzt also voraus, daß dem Bundestag Aufgaben und Befugnisse von substanziellem Gewicht verbleiben. Im Hinblick auf das durch Artikel 79 Absatz 3 GG geschützte Bundesstaatsprinzip gelten die im Rahmen des Artikels 24 Absatz 1 GG entwickelten Forderungen unverändert fort 6 5 6 . Der deutsche Staat muß also bundesstaatlich strukturiert sein, d.h. die Gliederung des Bundes in Länder und deren grundsätzliche Mitwirkung an der Gesetzgebung darf nicht aufgegeben werden, und den Ländern muß ein Kern eigener Aufgaben verbleiben, der ihre Staatsqualität trägt 657 . Daraus ergibt sich die Verpflichtung der Bundesregierung und der gesetzgebenden Organe der Bundesrepublik Deutschland, keine völkerrechtlichen Verträge zu schließen, die die bundesstaatliche Struktur des deutschen Staates in Frage stellen 658 .

652

Meessen, NJW 1994, S. 550.

653

Breuer, NVwZ 1994, S. 424.

654

BVerfGE 89, S. 155, 186.

655

BVerfGE 89, S. 155, 187.

656

Im Hinblick auf die Kompetenzverluste des Bundesrates im Rahmen der nationalen Gesetzgebung infolge der Übertragung von Hoheitsrechten, siehe S. 146 ff. 657

Seidel, Deutsche Verfassung, S. 22; Oschatz, S: 38; Rojahn, Artikel 23, Rn. 11, in: von Münch/Kunig (Hrsg.), Kommentar zum GG. Siehe oben S. 64 ff. 658

So auch Konow, DÖV 1996, S. 848.

134

Α. Hoheitsrechtsübertragungen nach dem GG

Ebenso ergeben sich für die durch Artikel 79 Absatz 3 GG geschützten grundlegenden Verfassungsprinzipien des Sozialstaats und des Rechtsstaats die bereits im Rahmen des Artikels 24 Absatz 1 GG festgestellten Forderungen oder Garantien 659 . Der deutsche Staat muß also auch nach der Übertragung von Hoheitsrechten zugunsten der Europäischen Union in der Lage sein, den Gestaltungsauftrag zum Ausgleich sozialer Gegensätze und zur Abhilfe bei sozialer Bedürftigkeit zu erfüllen. Die Bundesrepublik Deutschland muß zudem dem Rechtsstaatsprinzip verpflichtet sein, eine Trennung und Verteilung der Gewalten vornehmen, alle Gewalten an Recht und Gesetz binden und eine gerichtliche Kontrolle durch unabhängige Gerichte ebenso garantieren wie den Schutz elementarer Grundrechte.

(2) Aufgabe der deutschen Staatlichkeit Darüber hinaus besteht auch im Rahmen des Artikels 23 Absatz 1 GG eine weitere Grenze für die Übertragung von Hoheitsrechten. Auch auf die Europäische Union dürfen nach Artikel 23 Absatz 1 GG nur einzelne Hoheitsrechte, nicht aber die gesamte Staatsgewalt übertragen werden 660 . Die Möglichkeit der Teilnahme an einer Europäischen Union endet für die Bundesrepublik Deutschland dann, wenn ihre Staatlichkeit in Folge der Mitgliedschaft in der Europäischen Union verloren geht 661 . Dies wäre der Fall, wenn die Bundesrepublik Deutschland in einem Europäischen Bundesstaat aufgeht, der Staatsqualität besitzt 662 . Der Beitritt zu oder die Mitgliedschaft in einem solchen Europäischen Bundesstaat würde den Status der Bundesrepublik Deutschlands grundlegend ändern. Er würde zwangsläufig zu einer Entleerung zentraler staatlicher Kompetenzbereiche wie insbesondere der Zuständigkeit für auswärtige Angelegenheiten führen 663 . Über das Grundgesetz würde eine ranghöhere Norm „gestülpt", die quasi die Verfassung des Staates „Europäische Union" bilden würde 664 . Dies soll aber durch Artikel 23 Absatz 1 GG nicht ermöglicht

659

Siehe oben S. 83 ff.

660

Magiera, Jura 1994, S. 8.

661

Klein, Artikel 23, Rn. 5, in: Schmidt-Bleibtreu/Klein, Kommentar zum GG; Scholz, Artikel 23, Rn. 88, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz (Hrsg.), Kommentar zum GG. 662 Di Fabio , Der Staat 1993, S. 200 f.; Pernice ; DVB1. 1993, S. 922; Kirchner/Haas, JZ 1993, S. 762; Huber, S. 47 f.; a.A. Klein, Artikel 23, Rn. 23, in: SchmidtBleibtreu/Klein, Kommentar zum GG, da die Bundesrepublik Deutschland durch einen solchen Beitritt ihre Staatlichkeit nicht verlieren müßte. 663

Sommermann, DÖV 1994, S. 599.

664

Herdegen, EuGRZ 1992, S. 590.

II. Regelungen des GG

135

werden. Deutschland soll die Qualität eines souveränen Staates aus eigenem Recht wahren 665 . Artikel 23 Absatz 1 GG setzt demnach die Völkerrechtssubjektivität Deutschlands voraus 666 . Aber auch wenn die Existenz der Bundesrepublik Deutschland als Staat gewahrt bleibt, besteht im Rahmen der Übertragung von Hoheitsrechten auf eine Europäische Union die Gefahr, daß der Staat Bundesrepublik Deutschland als solcher zwar erhalten bleibt, er jedoch in Folge der Übertragung von Hoheitsrechten als bloße inhaltslose Hülle zurückbleibt 667. Eine Übertragung von Hoheitsrechten ist daher auch dann nicht mehr zulässig, wenn dadurch die Bundesrepublik Deutschland zu einer substanzlosen Hülle fiktiver Selbstbestimmung und Letztverantwortung wird. Ein Staat, der die Attribute der Selbstbestimmung und Letztverantwortlichkeit preisgibt, entspricht nicht den Vorgaben des Grundgesetzes, denn er kann weder der Verpflichtung zur Verwirklichung einer Demokratie im Sinne des Artikels 20 GG entsprechen, in der alle Gewalt vom deutschen Volk ausgeht, das die Ausübung dieser Gewalt kontrolliert, noch in eigener Verantwortung die mit den grundlegenden Verfassungsprinzipien der Rechts- und Sozialstaatlichkeit verbundenen Verpflichtungen gewährleisten 668. Dem deutschen Staat müssen daher auch nach der Übertragung von Hoheitsrechten auf die Europäische Union in einem Umfang und einer Qualität Hoheitsrechte verbleiben, die einen Staat ausmachen669. Dies bedeutet, daß ihm insbesondere die Kompetenz-Kompetenz nach innen und die Unabhängigkeit gegenüber anderen Staaten nach außen verbleiben muß 6 7 0 . Die Bundesrepublik Deutschland muß also in der Lage sein, aus eigenem Recht zu handeln, und darf sich nicht lediglich auf von außen eingeräumte Kompetenzen stützen 671 . Die Gefahr der Aufgabe zu weitreichender Hoheitsrechte kann dann bestehen, wenn ein Gesetz, das die deutsche Rechtsordnung für die unmittelbare Geltung und Anwendung von Recht einer supranationalen Organisation öffnet, die zur Wahrnehmung übertragenen Rechte und das beabsichtigte Integrations-

665

BVerfGE 89, S. 155, 190.

666

Wie hier Sommermann,, DÖV 1994, S. 599; Merten,, S. 88 f.

667

Herdegen,. EuGRZ 1992, S. 592; Magiern, Jura 1994, S. 8.

668

Breuer, NVwZ 1994, S. 423.

669 Seidel, Deutsche Verfassung, S. 25, bezeichnet diese als Sperrwirkungen gegen die Übertragung von Hoheitsrechten im Vorfeld der Umwandlung der EU zu einem Bundesstaat. 67 0

Mosler, HdbStR VII, § 175 Rn. 29.

67 1

Murswiek, Der Staat 1993, S. 164; Huber, S. 47.

Α. Hoheitsrechtsübertragungen nach dem GG

136

Programm nicht hinreichend bestimmbar festlegt 672. Steht nicht fest, in welchem Umfang und Ausmaß der deutsche Gesetzgeber der Verlagerung der Ausübung von Hoheitsrechten zustimmt, wird die Inanspruchnahme nicht benannter Aufgaben und Befugnisse durch die Europäische Union möglich. Dies käme einer Generalermächtigung gleich und wäre eine Entäußerung von Hoheitsrechten, die nicht durch das Grundgesetz gedeckt ist 6 7 3 . Entscheidend ist daher, daß die sich aus der Mitgliedschaft Deutschlands ergebenden Rechte und Pflichten - insbesondere auch das rechtsverbindliche unmittelbare Tätigwerden der Europäischen Union im innerstaatlichen Rechtsraum - vorhersehbar umschrieben und im Zustimmungsgesetz hinreichend bestimmbar normiert worden sind 674 . Das Grundgesetz setzt also erstens voraus, daß der Staat Bundesrepublik Deutschland bestehen bleibt, erfordert aber darüber hinaus ebenfalls, daß der deutsche Staat weiterhin Hoheitsrechte in einem Umfang und einer Qualität besitzt, die einen Staat tragen, der nicht lediglich eine „Hülle ohne Substanz" darstellt. Die Gefahr der Aufgabe zu weitreichender Hoheitsrechte kann bestehen, wenn die Verlagerung der Ausübung von Hoheitsrechten zugunsten der Europäischen Union in Umfang und Ausmaß nicht hinreichend bestimmbar festgelegt ist.

b) Innerstaatliches

Verfahren

der Übertragung (Absätze 2-7

GG)

Gleichzeitig mit der Integrations- und Strukturklausel des Absatz 1 werden durch Artikel 23 GG Beteiligungsrechte des Bundestages und des Bundesrates im Hinblick auf Angelegenheiten der Europäischen Union im Grundgesetz verankert 675. Grund hierfür ist die bestehende weitreichende Integration der Bundesrepublik Deutschland in die Europäische Gemeinschaft. Die in diesem Zusammenhang erfolgte Übertragung von Hoheitsrechten hat sowohl Hoheitsrechte des Bundes wie der Länder betroffen, hat Materien, in denen den Ländern vormals Kompetenzen zur Ausübung zustanden, verändert, und hat so das Verhältnis Bund - Länder einerseits, das der Verfassungsorgane Bundestag, Bundesregierung und Bundesrat andererseits berührt. Ziel der Absätze 2 - 7 des Artikels 23 GG ist es, durch die Beteiligung von Bundestag und Bundesrat an der innerstaatlichen Willensbildung in Angelegenheiten der Europäischen Uni672

BVerfGE 58, S. 1,37.

673

BVerfGE 89, S. 155, 187.

674

BVerfGE 58, S. 1, 37; BVerfGE 68, S. 1, 98 f.

675

Begründung der Bundesregierung, BT-Dr. 12/3338, S. 1; Scholz, NJW 1993,

S. 1691.

II. Regelungen des GG

137

on Kompetenzverluste und -Verschiebungen abzugleichen, die zu Lasten von Bundestag und Bundesrat eingetreten sind 676 . Artikel 23 GG legt nunmehr mit Verfassungsrang fest, daß Bundestag und Bundesrat in Angelegenheiten der Europäischen Union mitwirken und daß die Bundesregierung die beiden anderen Verfassungsorgane in diesen Angelegenheiten umfassend und frühestmöglich zu unterrichten hat 6 7 7 . Damit gilt im Hinblick auf Konsultations- und Verhaltensregeln zwischen der Bundesregierung einerseits und Bundesrat und Bundestag andererseits nunmehr unmittelbar Verfassungsrecht, ohne daß es des vormals mangels einschlägiger ausdrücklicher Verfassungsvorschriften notwendigen Rückgriffs auf den allgemeinen Grundsatz der Bundestreue bedarf 678 . ,Angelegenheiten der Europäischen Union" sind alle politischen, gesetzgeberischen, administrativen sowie judikativen Aktivitäten, die der Vertrag über die Europäische Union ermöglicht 679. Artikel 23 Absatz 2 Satz 1 GG regelt die Beteiligung zunächst grundsätzlich und stellt damit den Grundsatz zu den folgenden Einzelregelungen auf 6 8 0 , nach denen Bundestag (aa) und Bundesrat (bb) in unterschiedlicher Art und Intensität am innerstaatlichen Meinungs- und Willensbildungsprozeß zu beteiligen sind.

aa) Beteiligung des Bundestages Die Mitwirkungsmöglichkeit des Bundestages am Willensbildungsprozeß in Angelegenheiten der Europäischen Union folgt zunächst schon aus seinem Recht, die Bundesregierung parlamentarisch zu kontrollieren, denn dieses Kontrollrecht umfaßt auch europäische Angelegenheiten681. Gleichwohl wurden im Zuge der bisherigen europäischen Integration dem Bundestag immer mehr Re-

676

BT-Dr. 12/3338, S. 4 f.; Klein/Haratsch, DÖV 1993, S. 797; Rojahn, Artikel 23, Rn. 5, in: von Münch/Kunig (Hrsg.), Kommentar zum GG. Trotz der ausführlichen Regelung in Artikel 23 Abs. 2 - 7 GG ist die Anwendung des verfassungsrechtlichen Grundsatzes der Bundestreue im Verhältnis von Bund und Ländern nicht ausgeschlossen, da die offenen, z.T. generalklauselartigen Regeln eine Auslegung erfordern und damit dem Einfließen des allgemeinen Grundsatzes der Bundestreue in Gestalt der vom Bundesverfassungsgericht vorgenommenen Präzisierungen zugänglich sind, Winkelmann, DÖV 1996, S. 3 f. 677

Artikel 23 Abs. 2 GG.

678

Siehe oben S. 60 ff. Winkelmann, DÖV 1996, S. 3.

679

Hierzu ausführlich Schede, S. 93 ff.

680

Randelzhofer, Artikel 24 Abs. 1, Rn. 205, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz (Hrsg.), Kommentar zum GG; Schede, S. 91. 681

Fischer, ZParl. 1993, S. 41.

138

Α. Hoheitsrechtsübertragungen nach dem GG

gelungsbereiche entzogen. Der Bundestag hat also einen Teil seiner legislativen Aufgaben verloren, bezüglich derer er vor der Übertragung der entsprechenden Hoheitsrechte auf die Europäische Gemeinschaft gesetzgeberisch tätig werden konnte. Auf der anderen Seite nimmt auf der Ebene der Europäischen Union die Bundesregierung die deutschen Mitgliedschaftsrechte wahr, so daß ihr auf der Ebene der Europäischen Union Kompetenzen zuwachsen, die auf nationaler Ebene vor der Hoheitsrechtsübertragung dem Bundestag zustanden682. Dadurch ist der Grundsatz der Gewaltenteilung und -verschränkung im Verhältnis zwischen Bundestag und Bundesregierung berührt worden 683 . Als Ausgleich für den Verlust von Entscheidungskompetenzen auf nationaler Ebene erhält der Bundestag nunmehr ein umfangreiches Recht zur Stellungnahme, mit Hilfe dessen er im Vorfeld des Rechtsetzungsverfahrens auf europäischer Ebene Einfluß auf die Position der Bundesregierung nehmen kann. Diese Beteiligungsmöglichkeit des Bundestages regelt Artikel 23 Absatz 3 GG: Die Bundesregierung gibt dem Bundestag Gelegenheit zur Stellungnahme vor ihrer Mitwirkung an Rechtsetzungsakten der Europäischen Union. Die Bundesregierung berücksichtigt die Stellungnahmen des Bundestages bei den Ver-handlungen. Das Nähere regelt ein Gesetz. Dies bedeutet zweierlei: Erstens ist der Bundestag über die Tatsache, daß ein Rechtsetzungsakt auf europäischer Ebene beabsichtigt ist, zu unterrichten. Zweitens ist ihm zeitlich vor der Mitwirkung der Bundesregierung am Rechtsetzungsvorhaben der Europäischen Union im Rat Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben 684 . § 3 des auf der Grundlage des Artikels 23 Absatz 3 Satz 3 GG erlassenen Gesetzes über die Zusammenarbeit von Bundesregierung und Deutschem Bundestag (EuZBBG) 6 8 5 regelt, daß die Unterrichtung des Bundestages sich auf alle Rechtsetzungsvorhaben der Europäischen Union, die für die Bundesrepublik Deutschland von Interesse sein könnten, zu erstrecken hat. § 4 EuZBBG präzisiert diese Unterrichtungspflicht. Danach hat die Bundesregierung dem Bundestag insbesondere die Entwürfe von Richtlinien und Verordnungen der Europäischen Union zu übersenden und den Bundestag zugleich über den wesentlichen Inhalt und die Zielsetzung, über das beim Erlaß des geplanten Recht-

682

Kirchhof

683

Möller/LimperU

EuR 1991, Beiheft 1, S. 14. ZParl. 1993, S. 23; Kabel, S. 245 f.

684

Randelzhofer, Artikel 24 Abs. 1, Rn. 205, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz (Hrsg.), Kommentar zum GG. 685

Gesetz über die Zusammenarbeit von Bundesregierung und Deutschem Bundestag in Angelegenheiten der Europäischen Union vom 12.03.1993, BGBl. 1993 I S.311.

II. Regelungen des GG

139

setzungsakts anzuwendende Verfahren und den voraussichtlichen Zeitpunkt der Befassung des Rates sowie den voraussichtlichen Zeitpunkt der Beschlußfassung des Rates zu unterrichten. Sie unterrichtet den Bundestag unverzüglich über ihre Position, über den Verlauf der Beratungen, über die Stellungnahmen des Europäischen Parlaments und der Kommission, über die Stellungnahmen der anderen Mitgliedstaaten sowie über die getroffenen Entscheidungen auf europäischer Ebene. Die Bundesregierung ist demnach gehalten, den Bundestag vom Entwurf eines Rechtsaktes sowie über die Stellungnahmen der Gemeinschaftsorgane und der anderen Mitgliedstaaten, den Verlauf der Beratungen bis hin zum Rechtsetzungsergebnis zu informieren. Da dies ausdrücklich für die beiden wichtigsten Rechtsaktsformen, Verordnungen und Richtlinien, gilt, ist gewährleistet, daß der Bundestag Gelegenheit erhält, auf alle wesentlichen Rechtsakte der Europäischen Union Einfluß zu nehmen. Die Bundesregierung hat in Zukunft den Bundestag also nicht nur punktuell und von Zeit zu Zeit zu unterrichten, sondern es besteht eine umfassende und regelmäßige Informationspflicht 686. Darüber hinaus regelt § 5 EuZBBG, daß die Frist zur Stellungnahme so bemessen sein muß, daß der Bundestag ausreichend Gelegenheit hat, sich mit der Vorlage zu befassen. Der Bundestag muß das Informationsmaterial also so zeitig erhalten, daß er sich damit auseinandersetzen und seine Ansicht in Form einer substanziierten Stellungnahme formulieren kann 687 . Gemäß § 5 Satz 3 EuZBBG hat die Bundesregierung die Stellungnahme des Bundestages ihren Verhandlungen zugrundezulegen. Demgegenüber hat sie gemäß Artikel 23 Absatz 3 Satz 2 GG die Stellungnahme des Bundestages „zu berücksichtigen". Um Schwierigkeiten zu entgehen, die eine über die verfassungsrechtliche Regelung hinausgehende einfachgesetzliche Ausdehnung der Mitwirkungsrechte des Bundestages aufgeworfen hätte 688 , einigte man sich im Vermittlungsausschuß auf folgendes Verfahren: Die Stellungnahme des Bundestages ist während des gesamten Willensbildungsprozesses auf europäischer Ebene zu berücksichtigen. Zu Beginn des Willensbildungsprozesses, also im ersten Verhandlungsstadium auf Gemeinschaftsebene, ist sie von der Bundesregierung darüber hinaus zugrunde zu legen, bildet also den Ausgangspunkt der

686 Kabel, S. 243; Klein, Artikel 23, Rn. 19, in: Schmidt-Bleibtreu/Klein, Kommentar zum GG. 687 688

Kabel, S. 243.

Die unterschiedlichen Formulierungen lassen sich nur so erklären, daß sich der Bundestag über die einfachgesetzliche Regelung eine stärkere Beteiligung sichern wollte, als dies in der Verfassung offenbar mit Rücksicht auf die Bundesregierung geschehen ist. Dies war Anlaß für den Bundesrat, den Vermittlungsausschuß anzurufen, vgl. Schotten, Verwaltungsrundschau 1993, S. 91.

140

Α. Hoheitsrechtsübertragungen nach dem GG

deutschen Position 689 . Ob eine derartige Differenzierung praktikabel und justiziabel ist, bleibt abzuwarten 690. Dies bedeutet aber nicht, daß die Bundesregierung die Stellungnahme des Bundestages durch die entsprechende Festlegung ihrer Verhandlungsposition gewissermaßen nur noch vollziehen könnte. Der Begriff „berücksichtigen" bedeutet vielmehr, daß die Bundesregierung die Stellungnahme des Bundestages zwar übernehmen kann, sie aber nicht zwingend stets übernehmen muß. Sie ist an sie also nicht im Rechtssinne gebunden 6 9 1 . Ein Vetorecht kommt dem Bundestag nicht zu. Weicht die Bundesregierung von der Stellungnahme des Bundestages ab, ist eine Begründung erforderlich, warum sie die Stellungnahme des Bundestages nicht übernimmt. Artikel 23 Absatz 3 Satz 2 GG i.V.m. § 5 Satz 3 EuZBBG über die Zusammenarbeit von Bundesregierung und Bundestag erlegen der Bundesregierung insofern eine Befassungs-, Begründungs- und Sorgfaltspflicht hinsichtlich der Stellungnahme des Bundestages auf. Die Berücksichtigungspflicht und die ihr vorausgehende Unterrichtungspflicht durch die Bundesregierung machen deutlich, daß auch der Bundestag im Prozeß der europäischen Integration ein willensbildendes Organ ist 6 9 2 . Ob ein Erfordernis besteht, dem Bundestag weitergehende Beteiligungsbefugnisse einzuräumen, ist umstritten. Zum Teil wird gefordert, daß seine Stellungnahmen nicht nur in die Entscheidungen der Bundesregierung miteinzubeziehen sein sollen, sondern daß ihnen eine bindende Wirkung zukommen müsse 693 . Nur so erhalte der Bundestag ein Äquivalent für die Einbuße von Gesetzgebungskompetenzen, die im Zuge der europäischen Integration eingetreten sind, und nur so werde er Bundesregierung und Bundesrat gleichgestellt. Einer stärkeren Bindung der Bundesregierung an die Stellungnahmen des Bundestages bedarf es jedoch deshalb nicht, weil dem Bundestag, anders als dem Bundesrat, ohnehin jederzeit alle Möglichkeiten der parlamentarischen Kontrolle gegenüber der Bundesregierung zustehen694. Da die Bundesregierung

689

BT-Dr. 12/3896, S. 19; Scholz, Artikel 23, Rn. 116, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz (Hrsg.), Kommentar zum GG; Schotten, Verwaltungsrundschau 1993, S. 92; Möller/Limpert, ZParl. 1993, S. 28. Fastenrath, EuR 1994, Beiheft 1, S. 118, sieht hingegen in der Formulierung des § 5 des Zustimmungsgesetzes eine grundsätzliche Verschärfung. 690

So auch Breuer, NVwZ 1994, S. 426.

691

Möller/Limpert, ZParl. 1993, S. 27; Huber, S. 60; Fischer, ZParl. 1993, S. 41 f.; Jarass/Pieroth, Artikel 23, Rn. 23, in: GG-Kommentar. 692

Ossenbühl, DVBI. 1993, S. 637.

693

Di Fabio, Der Staat 1993, S. 209.

694

Hilf, VVDStRL 53 (1994), S. 19; Pernice , Die Verwaltung 1993, S. 467.

II. Regelungen des GG

141

von der Mehrheit des Bundestages getragen wird, kann der Bundestag davon ausgehen, daß die Bundesregierung im Rat eine Politik betreibt, die mit den Ansichten der Mehrheit des Bundestages übereinstimmt 695. Eine stärkere Bindung etwa im Sinne einer verbindlich zu befolgenden Weisung würde die deutsche Verhandlungsführung im Rat bei der Herbeiführung von Kompromißlösungen erschweren bzw. unmöglich machen 696 . Der wachsenden Bedeutung der europäischen Integration wird zudem dadurch Rechnung getragen, daß aufgrund des neueingefügten Artikels 45 G G 6 9 7 ein ständiger Ausschuß des Bundestages für die Angelegenheiten der Europäischen Union eingerichtet wurde, der der institutionellen Absicherung der Informations· und Mitwirkungsrechte des Bundestages dienen soll 6 9 8 . Der Ausschuß, der wie die Ausschüsse für Auswärtiges, Verteidigung und Petitionen 6 9 9 Verfassungsrang besitzt 700 , trägt der in aller Regel vorhandenen Notwendigkeit raschen Handelns Rechnung, das vom Plenum des Bundestages nicht immer gewährleistet werden kann. Seine Einrichtung dient damit der Effektivierung der Mitwirkung des Bundestages in Angelegenheiten der Europäischen Union 7 0 1 . Der Ausschuß kann durch den Bundestag ermächtigt werden, die Rechte des Bundestages nach Artikel 23 Absatz 3 GG wahrzunehmen. Der neue Ausschuß unterscheidet sich damit grundlegend von den bisherigen Fachausschüssen des Bundestages702. Er ist nicht wie diese vorbereitendes Be-

695 So Tomuschat, Öffentliche Anhörung der Gemeinsamen Verfassungskommission, Stenogr. Bericht vom 22.05.1992, S. 31. 696

Classen , ZRP 1993, S. 60, der gleichwohl eine gewisse Gleichstellung zwischen den Beteiligungsformen von Bundestag und Bundesrat für sinnvoll hält. 697

In das Grundgesetz eingefügt durch das Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes vom 21.12.1992, BGBl. 1992 II S. 2086. 698

Für einen solchen Ausschuß plädierte schon 1990 Klein, VVDStRL 50 (1991),

S. 76. 699

Artikel 45 a, 45 c GG.

70 0

Jahn, DVB1. 1994, S. 179.

701

Pernice , Die Verwaltung 1993, S. 466.

70 2

Scholz sieht hierin eine grundlegende Veränderung gegenüber dem bisherigen Verhältnis von Bundestagsplenum und Bundestagsausschüssen, die sich an die Vorstellung eines „Hauptausschusses" anschließt, der für das Plenum Gesetzeslesungen „stellvertretend" übernehmen kann, ders., NVwZ 1993, S. 820. Obgleich die generelle FJnfuhrung eines Hauptausschuß, der stellvertretend für das Bundestagsplenum Gesetzeslesungen übernehmen kann, abzulehnen ist, da dies die verfassungsrechtlich garantierte Stellung des Plenums im Gesetzgebungsverfahren aushöhlen würde, ist ein solcher Ausschuß in Angelegenheiten der EU jedoch wegen der Notwendigkeit eines raschen Verfahrens, das das Plenum nicht hinreichend sicher gewährleisten kann, sinnvoll.

142

Α. Hoheitsrechtsübertragungen nach dem GG

schluß- und Unterorgan des Bundestages703, sondern ein Ausschuß mit Initiativrecht und Außenvertretungskompetenz für den Bundestag704. Durch die damit verbundene Delegationsmöglichkeit kann sich der Ausschuß von seiner Konzeption her in Zukunft zu dem parlamentarischen Ansprechpartner der Bundesregierung entwickeln. Dies dürfte für die Position des Bundestages insofern von Vorteil sein, als der Bundesregierung nunmehr nicht mehr ein fachlich zersplittertes Parlament, sondern ein verkleinertes, fachlich spezialisiertes Organ gegenübersteht705. Durch die Bildung eines ständigen Ausschusses für Angelegenheiten der Europäischen Union, durch die umfassende und in allen Stadien der Recht-setzung der Gemeinschaft vorgeschriebene Informations- und Unterrichtungspflicht zugunsten des Bundestages und durch die Verpflichtung der Bundesregierung zur Berücksichtigung der Stellungnahmen des Bundestages bzw. seines Ausschusses macht das Grundgesetz deutlich, daß auch der Bundestag ein willensbildendes Organ in Angelegenheiten der europäischen Integration ist. Es besteht erstmals eine verfassungsrechtliche Grundlage dafür, daß Rechtsetzungsvorhaben der Europäischen Union und die Haltung der Bundesregierung hierzu im Vorfeld des Rechtsetzungsverfahrens auf europäischer Ebene Gegenstand einer innerstaatlichen parlamentarischen Auseinandersetzung werden 706 .

bb) Beteiligung des Bundesrates Die Beteiligung des Bundesrates an der Willensbildung des Bundes in Angelegenheiten der Europäischen Union ist in Anknüpfung an die innerstaatliche Kompetenzverteilung707 in mehrfacher Weise abgestuft 708 und je nach Regelungsgegenstand und dem damit verbundenen Eingriff in die Kompetenzen der Länder unterschiedlich intensiv ausgestaltet. Die Beteiligungsformen reichen von der Pflicht der Bundesregierung zur Berücksichtigung von Stellungnahmen des Bundesrates bis zum Letztentscheidungsrecht der Ländervertretung.

703

§ 62 Abs. 1 Satz 2 GOBT.

70 4

Scholz, Artikel 23, Rn. 113, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz (Hrsg.), Kommentar zum GG. 70 5

Huber, S. 60; Möller/Limpert, ZParl. 1993, S. 31. 706 p e r n i c ^ Die Verwaltung 1993, S. 467. 70 7

Blanke, Jura 1995, S. 63.

70 8

Scholz, NJW 1993, S. 1691.

II. Regelungen des GG

143

Das grundsätzliche Mitwirkungsrecht des Bundesrates in Angelegenheiten der Europäischen Union wird in Artikel 50 GG nunmehr ausdrücklich festgelegt: Durch den Bundesrat wirken die Länder bei der Gesetzgebung und Verwaltung des Bundes und in Angelegenheiten der Europäischen Union mit. Zur Wahrnehmung dieser Ermächtigung und damit zur wirksamen Wahrnehmung seiner Mitwirkungsrechte ist der Bundesrat in Artikel 52 Absatz 3 a GG ermächtigt worden, eine Europakammer zu bilden. Sie ist an die Stelle der bisher bestehenden EG-Kammer des Bundesrates709 getreten 710. Die Beschlüsse der Europakammer gelten als Beschlüsse des Bundesrates711. Durch sie sollte der Bundesrat in die Lage versetzt werden, unabhängig vom in der Regel nur einmal monatlich tagenden Bundesratsplenum, in Angelegenheiten der Europäischen Union jederzeit schnell und sachkundig zu reagieren 712. Die für Eilfälle 713 und in Fällen von zu wahrender Vertraulichkeit 714 zuständige Europakammer 715 hat seit Inkrafttreten des Vertrages von Maastricht lediglich in

709

Diese wurde am 10.06.1988 gebildet, BR-Dr. 230/88. Zu den verfassungsrechtlichen Bedenken gegen die EG-Kammer Schütz, NJW 1989, S. 2161 ff. 710

Pressemitteilung des Bundesrates 202/93 vom 26.11.1993. In der Folge paßte der Bundesrat die §§ 45 d bis h seiner Geschäftsordnung an. 711 Mitglieder der Europakammer sind je ein Mitglied oder ein stellvertretendes Mitglied des Bundesrates je Bundesland. Die übrigen Mitglieder der Landesregierungen sind stellvertretende Mitglieder der Europakammer. Die Stimmabgabe erfolgt mit der dem jeweiligen Bundesland zustehenden Anzahl von Stimmen gemäß Artikel 51 Abs. 2 GG, die gemäß Artikel 51 Abs. 3 Satz 2 GG nur einheitlich abgegeben werden können, Artikel 52 Abs. 3 a Halbsatz 2 GG. 71 2

Schede, S. 105.

713

Ein Eilfall liegt vor, wenn eine nach pflichtgemäßem Ermessen gestellte Prognose über den Verhandlungsverlauf in Brüssel einschließlich dessen innerstaatlicher Vorbereitung ergibt, daß ein erst in der nächsten bereits terminierten Sitzung des Bundesrates gefaßter Beschluß für eine effektive Wahrnehmung der Beteiligungsrechte des Bundesrates zu spät käme, § 45 d Abs. 2 GOBR. 714

§ 45 d Abs. 3 GOBR nennt im Gegensatz zur bisherigen Regelung hierfür Beispielsfölle, wobei es sich nicht um eine abschließende Aufzählung handelt, so etwa wenn sich die Vertraulichkeit aus einschlägigen Vorschriften der EU ergibt, wenn die Bundesregierung sie für erforderlich hält oder ein Bundesland oder ein Ausschuß des Bundesrates sie anregt. 715

Lang, S. 152, kommt aufgrund der Aufgabenzuweisung in § 45 d Abs. 1 bis 3 GOBR zu dem Ergebnis, daß die Europakammer nur in Ausnahmefällen tätig werden soll.

144

Α. Hoheitsrechtsübertragungen nach dem GG

wenigen Fällen getagt 716 . Die Gründe hierfür sind vielschichtig: Zum einen konnten Beschlüsse regelmäßig im regulären Sitzungsturnus des Bundesrates gefaßt werden. Andererseits hat der Bundesrat mehrfach im Hinblick darauf, daß EU-Vorhaben bereits in Brüssel verabschiedet worden waren, von einer Stellungnahme abgesehen. In einigen dieser Fälle hätte sicherlich auch eine Sitzung der Europakammer nicht mehr rechtzeitig stattfinden können. In anderen Fällen hat die Europakammer zwar noch rechtzeitig Stellung nehmen können. Auf eine Einberufung wurde jedoch verzichtet, da bereits im Vorfeld erkennbar war, daß die Kammer nicht beschlußfähig sein würde. Dies hat seine Ursache darin, daß in der Europakammer einerseits kein Umfrageverfahren praktiziert werden kann und daß andererseits nur Mitglieder der Landesregierungen und deren Vertreter, nicht aber Beauftragte der Landesregierungen stimmberechtigt sind 717 . Die Terminsituation von Mitgliedern von Landesregierungen macht es aber faktisch unmöglich, Sitzungen der Europakammer so kurzfristig anzusetzen, wie dies für eilige Fälle erforderlich wäre 7 1 8 . Damit muß festgestellt werden, daß die angestrebte schnelle Entscheidungsfindungsmöglichkeit durch die Europakammer derzeit aufgrund der fehlenden Möglichkeit der Beschlußfassung durch Umfrage und der Regeln über die Abstimmungsberechtigung faktisch nicht besteht. Für jede Hoheitsrechtsübertragung zugunsten der Europäischen Union ist aufgrund von Artikel 23 Absatz 1 Satz 2 GG nunmehr die Zustimmung des Bundesrates erforderlich 719. Dieses Zustimmungsbedürfhis reflektiert die starke Betroffenheit der Bundesländer durch jede weitere Hoheitsrechtsübertragung im Rahmen der europäischen Integration 720. Für die Frage, ob eine Zustimmung des Bundesrates erforderlich ist, wird künftig also nicht mehr darauf abgestellt, ob es sich bei dem zu übertragenden Hoheitsrecht um ein Hoheitsrecht handelt, das innerstaatlich in den Zuständigkeitsbereich der Länder fällt 7 2 1 . Hierin liegt

71 6

Oschatz/Risse, DÖV 1995, S. 449.

717

§45 h Abs. 1 Satz 3 GOBR.

718

So im Ergebnis auch Hilf, VVDStRL 53 (1994), S. 19.

719

Siehe oben S. 99 ff.

720

Begründung der Bundesregierung, BR-Dr. 501/92, S. 14. Herdegen, CMLR 1995, S. 1370. Jährlich ergehen ca. 4000 Verordnungen, wobei im Bereich der Landwirtschaft die meisten allerdings von sehr kurzer Geltungsdauer sind, Everling, DVBI. 1993, S. 938. 721

Herdegen, Europarecht, S. 84; Oschatz, S. 35.

II. Regelungen des GG

145

ein erheblicher Kompetenzzuwachs des Bundesrates bzw. der Länder 722 , denn die Mitwirkungsrechte gehen damit weit über die bisher bestehenden Grundsätze bundesfreundlichen Verhaltens hinaus 723 . Artikel 23 enthält in Absatz 4 GG die grundsätzliche Regelung der Beteiligung des Bundesrates an der innerstaatlichen Willensbildung ((1)), in Absatz 5 die verschiedenen Formen dieser Beteiligung ((2)) und in Absatz 6 die Möglichkeit der Vertretung Deutschlands durch einen vom Bundesrat ernannten Vertreter der Länder ((3)).

(1) Grundsatz der Beteiligung des Bundesrates (Absatz 4) Durch Artikel 23 GG wird nunmehr die bisher in Artikel 2 des Zustimmungsgesetzes zur EEA einfachgesetzlich geregelte Mitwirkung der Länder in Angelegenheiten der europäischen Integration mit Verfassungsrang im Grundgesetz verankert 724. Artikel 23 Absatz 4 GG stellt für die Beteiligung des Bundesrates an der Willensbildung nunmehr folgenden Grundsatz auf: Der Bundesrat ist an der Willensbildung des Bundes zu beteiligen, soweit er an einer entsprechenden innerstaatlichen Maßnahme mitzuwirken hätte oder soweit die Länder innerstaatlich zuständig wären. Diese „Generalnorm" 725, die eine Art Zwischenüberschrift einfügt 726 , wird durch Absatz 5 konkretisiert 727.

72 2

Herdegen, CMRL 1995, S. 1380; Scholz, NVwZ 1993, S.821. Winkelmann, DVB1. 1993, S. 1131, sieht die Mitwirkungsrechte des Bundesrates als „funktionelles Surrogat" einzelner Länderrechte; ebenso Di Fabio , Der Staat 1993, S. 209. 723

Siehe hierzu oben S. 60 f. Herdegen, Europarecht, S. 85.

72 4

Magiern, Jura 1994, S. 9; Kalbfleisch-Kottsieper, DÖV 1993, S. 550; Oschatz/Risse, DÖV 1995, S. 461; Blanke, Jura 1995, S. 63, sieht hierin eine Abkehr vom Kompetenzföderalismus zu einem Beteiligungsföderalismus. 725

Scholz, NJW 1992, S. 2597; Lang, S. 147.

72 6

Oschatz/Risse, DÖV 1995, S. 441; Randelzhofer, Artikel 24 Abs. 1, Rn. 206, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz (Hrsg.), Kommentar zum GG. 727

Abs. 4 ist allerdings keine Zwischenüberschrift in bezug auf Abs. 6, da die Abs. 4 und 5 die Willensbildung betreffen, während Abs. 6 die Außenvertretung betrifft, Schede, S. 91 f. 10 Uhrig

146

Α. Hoheitsrechtsübertragungen nach dem GG

(2) Formen der Beteiligung (Absatz 5) Artikel 23 Absatz 5 Satz 1 GG betrifft zunächst den Bereich ausschließlicher Zuständigkeiten des Bundes, insbesondere also die Regelungsmaterien der Artikel 73 und 86 ff. GG: Soweit in einem Bereich ausschließlicher Zuständigkeit des Bundes Interessen der Länder berührt sind (...), berücksichtigt die Bundesregierung die Stellungnahmen des Bundesrates.728 Voraussetzung für die Abgabe von Stellungnahmen durch den Bundesrat ist, daß die Bundesregierung diesen in Angelegenheiten der Europäischen Union unterrichtet. Die Bundesregierung hat dies gemäß Artikel 23 Absatz 2 Satz 2 GG umfassend und zum frühestmöglichen Zeitpunkt hinsichtlich aller Vorhaben der Europäischen Union durchzuführen. Diese Unterrichtungspflicht gilt allerdings nicht wie vormals nur bezüglich Angelegenheiten, die für die Länder von Interesse sein könnten, sondern bezüglich aller Rechtsetzungsvorhaben der Europäischen Union. Zwar steht § 2 des auf der Grundlage von Artikel 23 Absatz 7 GG erlassenen Gesetzes über die Zusammenarbeit von Bund und Ländern in Angelegenheiten der Europäischen Union (EuZBLG) 7 2 9 mit dem klaren Wortlaut von Artikel 23 Absatz 2 Satz 2 GG insofern nicht in Einklang, als dort wieder auf las Kriterium abgestellt wird, daß von der Unterrichtungspflicht nur solche Vorhaben umfaßt sind, die für die Länder von Interesse sein könnten. § 2 EuZBLG ist jedoch verfassungskonform dahingehend auszulegen, daß die Bundesregierung Informationen zu allen Vorhaben weitergeben muß 7 3 0 . Die Einzelheiten der Unterrichtungspflicht regelt die Bund-Länder-Vereinbarung vom 29. Oktober 1993 7 3 1 , die die Vorhaben, über die die Bundesregierung die Länder zu unterrichten hat, auflistet 732. Die Unterrichtung erfolgt durch Übersendung von der Bundesregierung vorliegenden a) Dokumenten - der Kommission und ihrer Dienststellen, soweit sie an den Rat gerichtet oder der Bundesregierung auf sonstige Weise offiziell zugänglich gemacht worden sind; - des Europäischen Rates, der informellen Ministertreffen und der Ratsgremien. b) Berichten und Mitteilungen von Organen der Europäischen Union über Sitzungen - des Europäischen Rates, des Rates und der informellen Ministertreffen;

728

Artikel 23 Abs. 5 Satz 2 GG.

729

Gesetz vom 12.03.1993, BGBl. 1993 I S. 313.

73 0

Neßler, EuR 1994, S. 222; Morawitz/Kaiser,

731

BAnz. Nr. 226 vom 12.11.1993. Hierzu Borchmann, EuZW 1993, S. 172 f.

732

Abschnitt I der Bund-Länder-Vereinbarung.

S. 86.

II. Regelungen des GG

147

- des Ausschusses der Ständigen Vertreter und sonstiger Ausschüsse oder Arbeitsgruppen des Rates; - der Beratungsgremien bei der Kommission. c) Berichten der Ständigen Vertreter über - Sitzungen des Rates und der Ratsgruppen, der informellen Ministertreffen und des Ausschusses der Ständigen Vertreter; - Sitzungen des Europäischen Parlaments und seiner Ausschüsse; Entscheidungen der Kommission, wobei die Empfänger dafür Sorge tragen, daß diese Berichte nur an einen begrenzten Personenkreis in den jeweils zuständigen obersten Landesbehörden weitergeleitet werden. d) Dokumenten und Informationen überförmliche Initiativen, Stellungnahmen und Erläuterungen der Bundesregierung für Organe der Europäischen Union. Die Unterrichtung bezieht sich auch auf Vorhaben, die auf Beschlüsse der im Rat vereinigten Vertreter der Regionen gerichtet sind. Im übrigen oder ergänzend erfolgt die Unterrichtung mündlich in ständigen Kontakten. Damit hat die Bundesregierung dem Bundesrat praktisch alle ihr offiziell zugänglich gemachten Dokumente zuzuleiten. Darüber hinaus hat sie dafür zu sorgen, daß sie - vor der Festlegung ihrer Verhandlungslinie - dem Bundesrat „rechtzeitig" Gelegenheit zur Stellungnahme „binnen angemessener Frist" gibt 7 3 3 . Die Verpflichtung zur Berücksichtigung von Stellungnahmen des Bundesrates bedeutet für die Bundesregierung, daß sie bei ihren Verhandlungen im Ministerrat die vom Bundesrat vorgetragenen Länderbelange in ihre Position mit einzubeziehen hat. Sie hat sie inhaltlich zur Kenntnis zu nehmen und sich mit ihnen auseinanderzusetzen734, ohne daß diese für sie verbindlich sind. Das Letztentscheidungsrecht liegt beim Bund 7 3 5 . Dies gilt nach Absatz 5 Satz 1 Halbsatz 2 auch dann, wenn (...) im übrigen der Bund das Recht zur Gesetzgebung hat.

733

Was in diesem Zusammenhang „rechtzeitig und angemessen" ist, muß im konkreten Einzelfall entschieden werden, Morawitz/Kaiser, S. 90. 734

Zif. III Nr. 5 der Bund-Länder-Vereinbarung konkretisiert den Anspruch des Bundesrates auf ernsthafte Auseinandersetzungen, denn im Falle des Abweichens von der Stellungnahme des Bundesrates hat die Bundesregierung die diesbezüglich maßgeblichen Gründe mitzuteilen. 735

Begründung der Bundesregierung BT-Dr. 12/3338, S. 8; Fischer, ZParl. 1993, S. 43; Neßler, EuR 1994, S. 223; Morawitz/Kaiser, S. 95; Lang, S. 169 f.; so auch Scholz, NJW 1992, S. 2597; Wilhelm, BayVBl. 1992, S. 708. 1*

148

Α. Hoheitsrechtsübertragungen nach dem GG

Hierdurch werden zwei Bereiche der innerstaatlichen Gesetzgebung erfaßt, nämlich der der konkurrierenden Gesetzgebung gemäß Artikel 74, 74 a GG und der der Rahmengesetzgebung gemäß Artikel 75 GG, soweit die Voraussetzungen des Artikels 72 Absatz 2 GG gegeben sind, wenn und soweit also die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse im Bundesgebiet oder die Wahrung der Rechts- oder Wirtschaftseinheit im gesamtstaatlichen Interesse eine bundesgesetzliche Regelung erforderlich macht 736 . Grund für die Regelung des Artikels 23 Absatz 5 Satz 1 GG ist, daß der Bund in den Bereichen, in denen ihm innerstaatlich die Kompetenz zusteht, die Gesetzgebungskompetenz an sich zu ziehen und die nunmehr auf Gemeinschaftsebene geregelt werden sollen, nicht an die Stellungnahme des Bundesrates gebunden werden soll. Um Überschneidungen mit Artikel 23 Absatz 5 Satz 2 GG zu vermeiden, kommt es für die Bereiche der konkurrierenden Gesetzgebung und der Rahmengesetzgebung auf das Kriterium des Bedürfnisses nach bundesgesetzlicher Regelung und nicht darauf an, ob der Bund von seiner Gesetzgebungskompetenz auch tatsächlich Gebrauch gemacht hat. Daher ist auch die Ansicht unzutreffend, daß dann, wenn eine Regelung durch ein Bundesland erfolgt ist, eine bevorstehende Regelung des gleiches Sachverhalts auf der Ebene der Europäischen Union im Schwerpunkt die Gesetzgebungskompetenz der Länder berührt mit der Folge, daß die Regelung des Artikels 23 Absatz 5 Satz 2 GG eintritt 737 . Dieser Einschätzung steht nämlich der eindeutige Wortlaut des § 5 Absatz 2 Satz 1 EuZBLG entgegen, der eine maßgebliche Berücksichtigung des Bundesrates bei Vorhaben, die im Schwerpunkt Gesetzgebungsbefugnisse der Länder betreffen, nur für den Fall vorsieht, daß dem Bund kein Recht zur Gesetzgebung zusteht. Dies ist in den Fällen der Artikel 74, 74 a, 75 GG aber gerade nicht der Fall. Vielmehr sind gemäß § 5 Absatz 2 Satz 1 EuZBLG als Bedingungen für die maßgebliche Berücksichtigung der Stellungnahme des Bundesrates die Gesetzgebungskompetenz der Länder und die Abwesenheit eines Gesetzgebungsrechts des Bundes kumulativ genannt. Wäre in den Fällen der konkurrierenden Gesetzgebung und der Rahmengesetzgebung bei Vorliegen der Voraussetzungen des Artikels 72 Absatz 2 GG die tatsächliche Inanspruchnahme der Bundeskompetenz das entscheidende Kriterium, wäre der Bund bei einem Regelungskomplex, den auf europäischer Ebene zu regeln er für sinnvoll hält, von dessen innerstaatlicher Regelung er aber bisher aus politischen oder ordnungspolitischen Gründen abgesehen hat, unter Umständen gezwungen, von der Berechtigung nach Artikel 72 Absatz 2 GG doch Gebrauch zu machen, nur um einen

736

Artikel 72 Abs. 2 GG wurde durch das Gesetz zur Änderung des GG vom 27.10.1994 geändert, BGBl. I 1994 S. 3146; hierzu Jahn, DVBI. 1994, S. 180. 737

So aber Schede, S. 124 ff; 190 ff.

II. Regelungen des GG

149

von den Ländern kritisch beurteilten Regelungsvorschlag der Europäischen Gemeinschaft zu „retten" 738 . Werden hingegen gemäß Artikel 23 Absatz 5 Satz 2 GG im Schwerpunkt Gesetzgebungsbefugnisse der Länder, die Einrichtung ihrer Behörden oder ihre Verwaltungsorganisation betroffen, so ist die Auffassung des Bundesrates bei der Willensbildung des Bundes maßgeblich zu berücksichtigen. Fraglich ist zunächst, welche Bereiche von der Formulierung „im Schwerpunkt betroffen" erfaßt werden. Der Bereich der Länderbehörden 739 und deren Verwaltungsorganisation740 ist nicht durch jeden Rechtsakt der Europäischen Gemeinschaft betroffen. Obwohl gerade die Gemeinschaftsrechtsakte i.d.R. durch die Länderverwaltungen ausgeführt werden, also Auswirkungen auf Behörden und Verwaltungsverfahren der Länder haben, führt dies allein nicht dazu, daß ein Fall des Artikels 23 Absatz 5 Satz 2 GG vorliegt. Ein Betroffensein im Sinne des Artikels 23 Absatz 5 Satz 2 GG liegt vielmehr erst dann vor, wenn ein Rechtsakt der Europäischen Gemeinschaft ins Gewicht fallende Auswirkungen auf die bestehende Struktur der Behörden oder das Verwaltungsverfahren - etwa Änderungen des Behördenaufbaus oder zusätzliche arbeitsintensive Verfahren - zur Folge hat und wenn die Behördenstruktur oder das Verwaltungsverfahren im Mittelpunkt der Regelung des Gemeinschaftsrechtsakts steht oder ganz überwiegend den Regelungsgegenstand bildet 741 . Für die Frage, wann „im Schwerpunkt" Gesetzgebungsbeftignisse der Länder betroffen sind, ergibt die Zusammenschau von Artikel 23 Absatz 5 Satz 1 mit

738

Fischer, Zparl. 1993, S. 42 f.; Lang, S. 162.

739

Unter Behörden wird man alle organisatorischen Einheiten von Personen und Sachmitteln verstehen können, die - mit einer gewissen Selbständigkeit ausgestattet dazu berufen sind, unter öffentlicher Autorität für die Erreichung der Zwecke des Staates oder von ihm geförderter Zwecke tätig zu sein, BVerfGE 10, S. 20, 48. Man wird also jede in die unmittelbare oder mittelbare Zuständigkeit der Länder fallende Stelle darunter fassen können, die Aufgaben der öffentlichen Verwaltung wahrnimmt, Schede, S. 134. 740

Hierunter fällt nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts die Tätigkeit der Verwaltungsbehörden mit Blick auf die Art und Weise der Ausführung des Gesetzes einschließlich ihrer Handlungsformen, die Form der behördlichen Willensbildung, die Art der Prüfung und Vorbereitung der Entscheidung, deren Zustandekommen und Durchsetzung sowie verwaltungsinterne Mitwirkungs- und KontrollVorgänge, BVerfGE 55, S. 274 LS 7, allerdings zum Begriff „Vorschriften über das Verwaltungsverfahren". 741

Begründung der Bundesregierung BT-Dr. 12/3338, S. 9; Morawitz/Kaiser, S. 96. Ob mit dieser Formulierung allerdings die erwünschte Klarstellung erreicht werden kann, ist zweifelhaft.

150

Α. Hoheitsrechtsübertragungen nach dem GG

Absatz 5 Satz 2 darüber hinaus, daß hinsichtlich der Bereiche der konkurrierenden Gesetzgebung und der Rahmengesetzgebung der Artikel 74, 74 a und 75 GG dann ein Fall des Satz 2 vorliegt, wenn die Voraussetzungen des Artikels 72 Absatz 2 GG nicht vorliegen, wenn und soweit eine bundesgesetzliche Regelung also nicht erforderlich ist 7 4 2 . Die Beteiligungsmodalität „maßgebliche Beteiligung" ist damit nur dann anzuwenden, wenn dem Bund das Recht zur Gesetzgebung nach Artikel 72 Absatz 2 GG nicht zusteht. Es wird die Ansicht vertreten, der insoweit nicht eindeutige Wortlaut des Artikels 23 Absatz 5 GG beschwöre Querelen herauf 743 und sei infolgedessen ein Nährboden für Verfassungsstreitigkeiten 744. Der Auffassung, daß es sich hierbei tatsächlich nicht um „echte" Verfassungsprobleme, sondern um hochstilisierte Geschäftsordnungsfragen handelt, durch die es dem Bundesverfassungsgericht zugemutet werde, über politische Streitigkeiten in verfassungsrechtlicher Einkleidung zu entscheiden745, ist zu widersprechen. Angesichts der abgestuften Beteiligungsmöglichkeiten des Bundesrates und der damit verbundenen unterschiedlichen Bindungswirkung seiner Stellungnahmen handelt es sich bei der Beantwortung der Frage, wann die Stellungnahme des Bundesrates maßgeblich zu berücksichtigen ist, nicht um politische Höflichkeiten, sondern um die Sicherung verfassungsrechtlich begründeter Verfahrensrechte. Die bisherigen Erfahrungen der Zusammenarbeit zwischen Bundesrat und Bundesregierung zeigen, daß über die Frage, ob es sich bei einem EU-Vorhaben um ein solches der maßgeblichen Berücksichtigung handelt oder nicht, tatsächlich nicht in allen Fällen Einvernehmen herrscht. Vielmehr sind bisher zwölf Fälle streitig geblieben746. So hat die Bundesregierung bei vier EU-Vorhaben aus dem Be742 Randelzhofer, Artikel 24 Abs. 1, Rn. 208, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz (Hrsg.), Kommentar zum GG; Jarass/Pieroth, Artikel 23, Rn. 27, in: GG-Kommentar; Klein, Artikel 23, Rn. 24, in: Schmidt-Bleibtreu/Klein, Kommentar zum GG. Anders Badura, der durch Satz 2 den gesamten Bereich, den die Länder durch eigene Gesetzgebung gestalten können, also auch den Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung und der Rahmengesetzgebung, umfaßt sieht. Dies führt dazu, daß Satz 2 immer dann eingreift, wenn eine Materie außerhalb der ausschließlichen Bundesgesetzgebung betroffen ist, so daß auch eine abschließende Regelung durch Bundesgesetz das Mitentscheidungsrecht des Bundesrates nicht entfallen läßt, ders., FS Redeker, S. 127. 743

Breuer, NVwZ 1994, S. 429.

74 4

Tomuschat bezeichnet dies als reinen Formelkompromiß, der nichts löst, alles offenläßt und die Verantwortung für diese genuin verfassungsrechtliche Angelegenheit dem einfachen Gesetzgeber zuschiebt, Öffentliche Anhörung der Gemeinsamen Verfassungskommission, Stenogr. Bericht vom 22.05.1992, S. 22. 745 746

Everling, DVBI. 1993, S. 946.

Un veröffentliche Liste des Büros des EU-Ausschusses des Bundesrat, Stand 31.12.1995, diese Zahl nennt auch Lang, S. 183.

II. Regelungen des GG

151

reich der Landwirtschaft, nämlich zu zwei Verordnungsvorschlägen zur Finanzierung der Gemeinsamen Agrarpolitik 747 , zu einem Richtlinienvorschlag über den Verkehr mit Saatgut 748 und zu einem Verordnungsvorschlag zur Stützungsregelung bei Flächenstillegung749, Bedenken gegen die vom Bundesrat geforderte maßgebliche Beteiligung des Bundesrates erhoben, da der Bund die innerstaatliche Gesetzgebungskompetenz besitze und keine ins Gewicht fallenden Auswirkungen auf Behördenorganisation oder Verwaltungsverfahren der Länder zu erwarten sei 7 5 0 . Der Bundesrat hat bisher allerdings nicht auf einer Klärung der Meinungsverschiedenheiten durch das Bundesverfassungsgericht bestanden. Die Frage, wodurch sich die in Artikel 23 Absatz 5 Satz 1 vorgesehene „Berücksichtigung" von der „maßgeblichen Berücksichtigung" des Satzes 2 unterscheidet, wird durch § 5 EuZBLG näher erläutert. Diese Erläuterung war erforderlich, da das Grundgesetz eine Beteiligungsform der „maßgeblichen Berücksichtigung" bisher nicht kannte und eine inhaltliche Klärung dieses Begriffs erforderlich war 7 5 1 . Das Verfahren der „maßgeblichen Berücksichtigung" sieht vor, daß bei Differenzen zwischen der Auffassung der Bundesregierung und der Stellungnahme des Bundesrates zunächst ein Einvernehmen anzustreben ist 7 5 2 . Zu diesem Zweck ist eine erneute Beratung zwischen Vertretern der Bundesländer und der Bundesregierung anzuberaumen. Kommt ein Einvernehmen dabei nicht zustande und bestätigt der Bundesrat daraufhin seine Auffassung mit einem von zwei Dritteln seiner Mitglieder gefaßten Beschluß753, so ist die Auffassung des Bundesrates die entscheidende. Welche Folgen einer Stellungnahme der Ländervertretung mit lediglich einfacher Mehrheit zukommen soll, regelt § 5 Absatz 2 Satz 5 EuZBLG nicht. Aus der Tatsache, daß § 5 Absatz 2 Satz 5 EuZBLG nur für den Fall eines Beharrungsbeschlusses des Bun747

BR-Dr. 776/94 und BR-Dr. 631/93.

748

BR-Dr. 54/94.

749

BR-Dr. 683/93.

750

So die Zusammenfassung der vom Büro des EU-Ausschusses des Bundesrates erarbeiteten Liste der Beschlüsse mit erhöhten Mitwirkungsrechten, Stand 31.12.1995. 75 1

Lang, S. 177.

752

Seit Inkrafttreten der Regelung hat der Bundesrat sich bis zum 31.12.1995 bei 30 EU-Vorhaben auf § 5 Abs. 2 EuZBLG berufen, so die nichtveröffentlichte Liste des Büro des EU-Ausschusses des Bundesrates der Beschlüsse des Bundesrates mit erhöhten Mitwirkungsrechten, Stand 31.12.1995. 753

Der Bundesrat hat in den Fällen, in denen zwischen ihm und der Bundesregierung kein Einvernehmen darüber herrschte, ob ein EU-Vorhaben nach § 5 Abs. 2 EuZBLG zu behandeln sei, seine Beschlüsse bisher nicht bestätigt, da in der Sache bisher kein Dissenz mit der Bundesregierung bestand.

152

Α. Hoheitsrechtsübertragungen nach dem GG

desrates mit qualifizierter Mehrheit 754 eine Regelung trifft, muß jedoch im Umkehrschluß die Konsequenz gezogen werden, daß die Auffassung des Bundesrates eben nur in diesem Fall den Vorrang genießt 755 . Kommt ein Beschluß des Bundesrates nur mit der einfachen Mehrheit der Stimmen zustande, kommt dem Beschluß folglich nicht die gleiche Rechtsfolge zu, die ein mit ZweiDrittel-Mehrheit gefaßter Beschluß auslöst. Der mit einfacher Mehrheit gefaßte Beschluß führt dazu, daß nur noch die minder intensive Mitwirkungsform der Berücksichtigung gemäß Artikel 23 Absatz 5 Satz 1 GG in Betracht kommt 756 . Artikel 23 Absatz 5 Satz 2 GG i.V.m. § 5 Absatz 2 Satz 5 EuZBLG räumt somit bei Meinungsverschiedenheiten zwischen Bundesregierung und Bundesrat das Letztentscheidungsrecht dem Bundesrat nur dann ein, wenn ein Einvernehmen zwischen Bundesregierung und Bundesrat nicht zu erzielen ist und der Bundesrat seine Ansicht mit einem Zwei-Drittel-Mehrheitsbeschluß bestätigt. Nur dann ist der Standpunkt des Bundesrates maßgeblich zu berücksichtigen757. Das so geschaffene Letztentscheidungsrecht der Ländervertretung wird allerdings durch Artikel 23 Absatz 5 Satz 3 GG dahingehend eingeschränkt, daß in Angelegenheiten, die zu Ausgabenerhöhungen oder Einnahmeminderungen zulasten des Bundes führen können, die Zustimmung der Bundesregierung erforderlich ist 7 5 8 . In diesen Fällen besitzt die Bundesregierung also ihrerseits ein Vetorecht 759 . Sofern dem Bundesrat das Letztentscheidungsrecht zusteht, wird ihm als Entscheidungsdirektive aufgegeben, die gesamtstaatliche Verantwortlichkeit des Bundes zu wahren. Damit werden die Länder, wenn sie innerstaatlich die Willensbildung entscheidend bestimmen, ausdrücklich in die Verantwortung für den Gesamtstaat genommen. Der Begriff „gesamtstaatliche Verantwortung des Bundes" bildet hier den Oberbegriff für die verschiedenen, typischerweise von der Bundesregierung bei der Wahrnehmung von Beziehungen zu anderen Staa-

75 4

Oschatz/Risse, DÖV 1995, S. 444.

755

So im Ergebnis auch Oschatz/Risse, DÖV 1995, S. 443; Lang, S. 180.

75 6

Lang, S. 181 f., kommt zu dem Schluß, daß der Bundesrat in diesen Fällen quasi sein Recht auf die maßgebliche Berücksichtigung seiner Stellungnahme verwirkt habe. 757 So schon die Begründung der Bundesregierung, BT-Dr. 12/3338, S. 8. Ebenso auch Scholz, NJW 1992, S. 2600. 758

Artikel 23 Abs. 5 Satz 3 GG nimmt den Gedanken des Artikels 113 Abs. 1 GG auf, für den das Bundesverfassungsgericht entschieden hat, daß der Bundesregierung als Verfassungsorgan im Bereich des Haushalts eine besondere Verantwortung im Interesse einer sachgerechten Haushalts- und Finanzpolitik zukommt, BVerfGE 45, S. 1, 46 f. 75 9

Schede, S. 147.

II. Regelungen des GG

153

ten zu beachtenden Gesichtspunkte760. Dies sind insbesondere außen-, verteidigungs- und integrationspolitische Fragen 761 . Die Verpflichtung auf die gesamtstaatliche Verantwortlichkeit ist Ausdruck des Prinzips der Bundestreue, mit dem vermieden werden soll, daß 16 partikulare Einzelinteressen ein im Interesse des Gesamtstaates gebotenes deutsches Votum verhindern 762.

(3) Vertretung (Absatz 6)

der Bundesrepublik Deutschland durch den Bundesrat

Eine Beteiligung des Bundesrates in Angelegenheiten der Europäischen Union findet schließlich gemäß Artikel 23 Absatz 6 GG statt. Dieser betrifft nicht die innerstaatliche Willensbildung, sondern stellt eine Regelung für die Außenvertretung Deutschlands auf 7 6 3 . Zwar kommt die Außen Vertretung gegenüber der Europäischen Union grundsätzlich dem Bund zu, doch kann nach Artikel 23 Absatz 6 GG einem vom Bundesrat benannten Vertreter der Länder unter bestimmten Voraussetzungen das Recht zur Wahrnehmung der mitgliedschaftlichen Rechte Deutschland in der Europäischen Union übertragen werden: Wenn im Schwerpunkt ausschließliche Gesetzgebungsbefugnisse der Länder betroffen sind, soll die Wahrnehmung der Rechte, die der Bundesrepublik Deutschland als Mitgliedstaat der Europäischen Union zustehen, vom Bund auf einen vom Bundesrat benannten Vertreter der Länder übertragen werden. Die Wahrnehmung der Rechte erfolgt unter Beteiligung und in Abstimmung mit der Bundesregierung; dabei ist die gesamtstaatliche Verantwortung des Bundes zu wahren. Ausschließliche Gesetzgebungsbefugnisse der Länder sind diejenigen Regelungsmaterien, die von keiner der Kompetenzzuweisungen des Grundgesetzes an den Bund erfaßt werden 764 , etwa die Bereiche der inneren Sicherheit, des Polizeiwesens, der Kultur und der Bildung 765 . Der Bundesrat hat in der Folge beispielsweise für den Forschungs- 766, den Bildungs- 767 und den Kulturrat 768

760

BR-Dr. 501/92, S. 21.

76 1

Fischer, ZParl. 1993, S. 44.

762

Begründung der Bundesregierung, BT-Dr. 12/3338, S. 9.

76 3

Fischer, ZParl. 1993, S. 44.

764

BT-Dr. 12/6000, S. 24.

765

So beispielhaft Randelzhofer, Artikel 24 Abs. 1, Rn. 209, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz (Hrsg.), Kommentar zum GG; Lang, S. 205; Kalbfleisch-Kottsieper, DÖV 1993, S. 550, zählt hierzu auch die Bereiche Rundfunk, Sport und kommunale Angelegenheiten. 766

BR-Dr. 484/96.

767

BR-Dr. 819/96.

154

Α. Hoheitsrechtsübertragungen nach dem GG

sowie den Rat für Innen- und Justizpolitik769 Minister bzw. Senatoren zur Teilnahme benannt770. Artikel 23 Absatz 6 GG knüpft an die Regelung des Artikels 2 Absatz 5 des Zustimmungsgesetzes zur EEA an, wonach „auf Verlangen Vertreter der Länder zu den Verhandlungen in den Beratungsgremien der Kommission und des Rates hinzuzuziehen" waren. Dieses „Hinzuziehen" wird durch Artikel 23 Absatz 6 GG nunmehr zu einer echten eigenen Verhandlungsführung durch den vom Bundesrat benannten Vertreter der Länder ausgebaut771. Dies hat zur Folge, daß dem Bundesrat nicht nur eine beratende Mitwirkung im Vorfeld der Rechtsetzung zugestanden wird, sondern daß er eine Mitentscheidungsmöglichkeit auch im abschließenden Stadium des Rechtsetzungsprozesses auf EU-Ebene besitzt 772 . Durch die Ausgestaltung des Absatz 6 als Soll-Vorschrift wird eine „Übertragungsautomatik" vermieden und die Wahrnehmung der Mitgliedschaftsrechte Deutschlands nicht pauschal, sondern einzelfallbezogen von der Bundesregierung auf den Bundesrat übergeleitet 773. Die Übertragung der Verhandlungsführung bedarf eines Übertragungsaktes durch die Bundesregierung. Zu diesem Zweck fordert der Bundesrat die Bundesregierung zur Übertragung der Verhandlungsführung auf, die sich nur im Ausnahmefall der Verpflichtung zur Übertragung unter Berufung auf gemeinschaftsrechtliche Verpflichtungen entziehen kann 774 . Bisher hat der Bundesrat in zwölf Fällen verlangt, daß die Verhandlungsführung zu EU-Vorhaben auf einen Ländervertreter übertragen wird 7 7 5 . Die Bundesregierung hat dies in drei Fällen abgelehnt, nämlich in

768

BR-Dr. 810/96.

769

BR-Dr. 272/94.

770

Soweit der Bundesrat einen Ländervertreter für Ministerräte nicht durch einen speziellen Beschluß benannt hat, gilt darüber hinaus allgemein derjenige Landesminister als benannt, der den Vorsitz in der entsprechenden Fachministerkonferenz der Länder führt, wobei in Fällen, in denen mehrere Fachministerkonferenzen zuständig sind, die Vertretung nach Absprache erfolgt, BR-Dr. 272/94, ergänzt durch BR-Dr. 1095/94, S. 9. 77 1 Randelzhofer, Artikel 24 Abs. 1, Rn. 209, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz (Hrsg.), Kommentar zum GG. Badura, FS Lerche, S. 271, umschreibt dies wie folgt: „Die Stimme Deutschlands (soll) in den Organen der EG (...) nicht allein durch Bundestag und Bundesregierung getragen sein." 77 2

Neßler, EuR 1994, S. 224.

773

Begründung der Bundesregierung, BT-Dr. 12/3338, S. 9; Scholz, Artikel 23, Rn. 134, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz (Hrsg.), Kommentar zum GG. 774 775

Begründung der Bundesregierung, BT-Dr. 12/3338, S. 20.

Unveröffentlichte Liste des Büros des EU-Ausschusses der Beschlüsse des Bundesrates mit erhöhten Mitwirkungsrechten, Stand 31.12.1995.

II. Regelungen des GG

155

bezug auf das Programm „Sokrates" 776, das Aktionsprogramm zur Erhaltung des kulturellen Erbes 777 sowie die Entschließung zu Promotionsstudien778. Gesetzlich geregelte Ausnahmen im Hinblick auf die Wahrnehmung der Rechte der Bundesrepublik Deutschland durch die Bundesländer sind die Ratspräsidentschaft Deutschlands oder die Teilnahme an solchen Tagesordnungspunkten, die der Rat auf seinen Sitzungen ohne Aussprache genehmigt779. Die Bundesländer haben damit Zugang zum Ministerrat 780. Es ist nunmehr möglich, daß dort als Vertreter Deutschlands nicht ein Bundesminister, sondern der Minister einer Landesregierung verhandelt 781. Die Wahrnehmung der Rechte der Bundesrepublik Deutschland durch den Ländervertreter soll unter Wahrung der gesamtstaatlichen Verantwortung und unter Beteiligung und in Abstimmung mit der Bundesregierung erfolgen. Es gelten demnach auch für den Fall, daß sich die Bundesrepublik Deutschland auf EU-Ebene durch einen Ländervertreter vertreten läßt, für diesen die Rechte und Pflichten, die vormals für den Sachwalter „Bund" bei der Vertretung von Länderinteressen gegolten haben 782 . Der Verhandlungsführung durch den Ländervertreter hat demnach eine interne Willensbildung zwischen Bundesregierung und Bundesrat vorauszugehen783. Die im Fall der Wahrnehmung der Rechte der Bundesrepublik Deutschland durch einen Ländervertreter gebotene Beteiligung der Bundesregierung erfolgt durch die Teilnahme von Vertretern der Bundesregierung und der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik Deutschland an allen Sitzungen und förmlichen Außenkontakten innerhalb der Europäischen Union 7 8 4 . Gemäß § 6 Absatz 2 Satz 3 EuZBLG erfolgt die Ausübung der Rechte durch den Vertreter der Länder unter Teilnahme und in Abstimmung mit dem Vertreter der Bundesregierung. Der Begriff der „Abstimmung" des Ländervertreters mit der Bundesregierung bedeutet in diesem Zusammenhang weniger als Einvernehmen

776

BR-Dr. 109/94.

777

BR-Dr. 237/95.

778

BR-Dr. 336/95.

779

§ 6 Abs. 3 und 4 EuZBLG.

78 0

Hilf, VVDStRL 53 (1994), S. 15.

781

Ossenbühl, DVB1. 1993, S. 636. Dies wird auf der Ebene der EU durch die Neufassung des Artikels 146 EGV ermöglicht. So hatte etwa der brandenburgische Innenminister Ziel die Verhandlungsführung zum Kommunalwahlrecht, BR-Dr. 294/94, und zum Katastrophenschutz, BR-Dr. 384/94 und 220/95, übernommen. 782

Zu den innerstaatlichen prozeduralen Pflichten, die den Bund als Sachverwalter der Länderinteressen trafen siehe oben S. 42. Winkelmann, DÖV 1996, S. 9. 783

Begründung der Bundesregierung, BT-Dr. 12/3338, S. 10.

78 4

Scholz, NJW 1992, S. 2600.

156

Α. Hoheitsrechtsübertragungen nach dem GG

und mehr als Benehmen785, d.h., es besteht für den Ländervertreter die Verpflichtung zur Prüfung der Auffassung der Bundesregierung sowie zur Darlegung und Erörterung seiner Verhandlungsführung 786. Der genaue Bedeutungsgehalt des Begriffs des Benehmens und damit Art und Weise der Abstimmung zwischen Bundes- und Ländervertretern ergibt sich also aus dem Grundsatz der Bundestreue i.V.m. § 6 Absatz 2 Satz 4 EuZBLG, der auf die für die interne Willensbildung maßgeblichen Regeln und damit auch auf die vom Bundesverfassungsgericht entwickelten Verfahrenspflichten eines Sachwalters verweist 787 . Steht also in der streitigen Frage nach den Regeln des § 5 Absatz 2 EuZBLG das Letztentscheidungsrecht dem Bund zu, kann sich der Vertreter des Bundes nach gescheiterter Abstimmung mit dem Bundesrat über die Auffassung des verhandlungsführenden Ländervertreters hinwegsetzen. Ist die Verhandlungsführung in der Streitfrage indessen maßgeblich vom Bundesrat zu bestimmen, so entscheidet letztlich der Ländervertreter. Wird ein vom Bundesrat benannter Vertreter der Länder im Ministerrat mit der Wahrnehmung der deutschen Interessen betraut, ist dieser allerdings in einer äußerst schwierigen Verhandlungssituation: Er ist an die Entscheidung des Bundesrates gebunden, er hat in Abstimmung mit dem Vertreter der Bundesregierung zu handeln und er muß für Kompromißlösungen offen sein, die sich erst im Laufe der Verhandlungen im Rat ergeben können 788 . Erschwert wird seine Position dadurch, daß Kompromißlösungen auf europäischer Ebene häufig sog. Paketlösungen darstellen, die der Lösung mehrerer Fragenkomplexe dienen 789 . Ob der Vertreter für diese Fragen aber ein Verhandlungsmandat besitzt, ist nicht von vornherein vorhersehbar, da im „Paket" sowohl Fragen betroffen sein können, die innerstaatlich der ausschließlichen Gesetzgebungsbefugnis der Länder zugeordnet sind, als auch solche, für die innerstaatlich dem Bund die Regelungskompetenz zukommt 790 . Werden Materien betroffen, bei denen nicht im Schwerpunkt ausschließliche Gesetzgebungsbefugnisse der Länder betroffen

785

So das Ergebnis der Beratungen der Gemeinsamen Verfassungskommission, Scholz,, NJW 1992, S. 2600. 78 6

Winkelmann,, DÖV 1996, S. 10.

78 7

Winkelmann,, DÖV 1996, S. 10.

78 8

Neßler, EuR 1994, S. 225, hält die Vorgaben, die der vom Bundesrat benannte Ländervertreter erhalten hat, daher lediglich für Verhandlungslinien, die keine unverrückbaren Verhandlungspositionen enthalten, sondern stattdessen Interessenschwerpunkte umschreiben und gleichzeitig Verhandlungsspielräume markieren. 789

So sei etwa die Aufnahme des Ausschusses der Regionen ein typisches Beispiel für Kompromisse auf europäischer Ebene, Kalbfleisch-Kottsieper, DÖV 1993, S. 547. 79 0

Herdegen,, EuGRZ 1992, S. 594; Huber, S. 64.

II. Regelungen des GG

157

sind, stellt sich die Frage der Verhandlungsfiihrung. Denkbar ist, daß der Ländervertreter auch die Vertretung für Gesetzgebungsbefugnisse des Bundes übernimmt oder daß der Vertreter der Bundesregierung und der Vertreter der Länder gemeinsam für die Bundesrepublik Deutschland handlungsbefugt sind. Der innerstaatlichen Kompetenzzuordnung entsprechen würde jedoch ein Vorgehen, bei dem der Vertreter der Bundesregierung die Verhandlungsführung im Rat wieder übernimmt und den Vertreter der Länder hinzuzieht, wenn der Bundesrat an einer entsprechenden innerstaatlichen Maßnahme mitzuwirken hätte oder wenn die Länder innerstaatlich zuständig wären oder wenn sonst wesentliche Interessen der Länder berührt sind. Artikel 23 Absatz 6 GG wird darüber hinaus aus einem anderen Grund vielfach kritisiert. Er berge die Gefahr, daß das dem Bundesstaat zugrundeliegende Prinzip der Kompetenzbalance zwischen Bund und Ländern dahingehend durchbrochen wird, daß die Bundesländer nunmehr Einfluß auf die Bundesaußenpolitik nehmen können, einen Bereich staatlicher Politik, der bisher ausschließlich dem Bund zugeordnet war 7 9 1 . Aufgrund der Rechte des Bundesrates werde der Sache nach eine „Mischverwaltung in auswärtigen Angelegenheiten" eingeführt, durch die die Einheit des Bundesstaates nach außen Schaden nehmen kann 792 . Es bestehe die Gefahr, daß sich die Bundesstaatlichkeit in eine staatenbündische Struktur auflöst 793 . Ob die Verpflichtung der Länder auf die „gesamtstaatliche Verantwortung des Bundes" ausreicht, um die Handlungsfähigkeit und Glaubwürdigkeit Deutschlands in Fragen der Europäischen Union in Zukunft zu gewährleisten, sei fraglich. Richtig ist, daß die Koordinationsprobleme in Fragen der Außenvertretung Deutschlands auf der Ebene der Europäischen Union die notwendige Flexibilität und Fähigkeit zu raschem Handeln bedrohen 794, obwohl gerade diese vom Bundesverfassungsgericht als wichtiger Aspekt der Verfassungsordnung angesehen werden 795 . Unter anderem wegen des komplizierten Verfahrens im Rahmen des Artikels 23 GG kann es zu Blok-

791

Schwarze spricht in diesem Zusammenhang von einem Verhandlungsmonopol des Bundes, ders., JZ 1993, S. 586. 792

Herdegen, EuGRZ 1992, S. 593. Breuer, NVwZ 1994, S. 429 sieht hierin die Gefahr, daß die Bundesrepublik Deutschland auf Gemeinschaftsebene an Verläßlichkeit verliert. Badura, FS Lerche, S. 381, kommt zu dem Schluß, daß dadurch die Politik Deutschlands in der EG an Kraft und Berechenbarkeit verliere. 793

Bieber, Öffentliche Anhörung der Gemeinsamen Verfassungskommission, Stenogr. Bericht vom 22.05.1992, S. 10. 794

Randelzhofer, Öffentliche Anhörung der Gemeinsamen Verfassungskommission, Stenogr. Bericht vom 22.05.1992, S. 16. Ebenso Scharf a.a.O., S. 35; Schwarze, JZ 1993, S. 590. 795

BVerfGE 67, S. 100, 139; BVerfGE 68, S. 1, 86 ff.

158

Α. Hoheitsrechtsübertragungen nach dem GG

kaden zwischen Bundesregierung und Bundesrat kommen. So bedingt die Regelung des Artikels 23 Absatz 6 GG zwingend ein mehrschrittiges Vorgehen: Zunächst müssen sich die Länder im Bundesrat untereinander auf eine gemeinsame Linie verständigen. Diese Ländermeinung ist dann mit der Bundesregierung abzustimmen, bevor der Ländervertreter sie im Ministerrat als Ansicht der Bundesrepublik Deutschland vertreten kann. Diese „Konsensherstellungsprozesse" stellen den Bundesrat vor das Problem, daß er sich an das Arbeitstempo der EG-Gremien anpassen muß 7 9 6 . Dies birgt die Gefahr, daß die Erarbeitung einer gemeinsamen Länderposition unter erheblichem Zeitdruck stehen wird, denn die Bundesregierung wird ihre eigene Meinung in den Rat einbringen, wenn die Länder eine gemeinsame Position nicht rechtzeitig entwickeln können 7 9 7 . Problematisch ist zudem die Frage, für wen der vom Bundesrat benannte Vertreter handelt. Handelt er für das Verfassungsorgan Bundesrat 798, oder ist er primär Vertreter der Bundesländer799? Von wem erhält er seine Weisungen? Ist er an die Weisung des Bundesrates gebunden, oder können die Länder außerhalb des Bundesrates abstimmen und ihn auf diesem Wege anweisen? Oder ist er gar an die Ansicht seiner Landesregierung oder seines Landtages gebunden, die eventuell einen von der Mehrheit des Bundesrates abweichenden Standpunkt vertritt 800 ? Richtigerweise ist davon auszugehen, daß ein Ländervertreter den Bundesrat vertritt und daher auch ihm gegenüber verpflichtet ist. Hierfür spricht zum einen, daß Absatz 23 Absatz 6 GG eine Regelung im Verhältnis der Bundesorgane zueinander trifft und primär die Beteiligung des Verfassungsorgans Bundesrat, nicht dagegen die unmittelbare Beteiligung der Bundesländer an der innerstaatlichen Willensbildung regelt. Zum anderen spricht auch das Verfahren der Ernennung der Ländervertreter dafür, diese als Vertreter des Bundesorgans Bundesrat zu betrachten. Der Bundesrat allein ernennt die Ländervertreter. Eine Beteiligung der Länderparlamente oder die Berücksichtigung der Stellungnahme eines Landes oder einer Ländermehrheit in Fragen der Er-

79 6

Kalbfleisch-Kottsieper,

797

Neßler, EuR 1994, S. 224 f.

DÖV 1993, S. 543.

798

So zu Recht Dästner, NwVBl. 1994, S. 2, wonach der vom Bundesrat benannte Vertreter ein dem Bundesorgan Bundesrat zustehendes Mandat wahrnimmt. 79 9 Scholz, Artikel 23, Rn. 136, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz (Hrsg.), Kommentar zum GG. Gegen diese Einschätzung spricht, daß in Fällen, in denen das Grundgesetz dem Bundesrat Kompetenzen zuspricht, an Stelle des Bundesrates nicht die Länder handeln können, BVerfGE 1, S. 299, 311. 800

Ablehnend Dästner, NwVBl. 1994, S. 3 ff., der jedoch auf die zahlreichen Möglichkeiten politischer Beeinflussung unterhalb der Schwelle der bindenden Weisung hinweist.

II. Regelungen des GG

159

nennung eines Ländervertreters ist nicht vorgesehen. Die Ernennung erfolgt weder unter dem Gesichtspunkt der zahlenmäßig gleichmäßigen Vertretung der Bundesländer bei der Ernennung der Ländervertreter noch unter dem Aspekt der Durchsetzung partikularer Interessen einzelner Bundesländer oder Ländergruppen. Die Ernennung erfolgt vielmehr entweder vorlagenbezogen bei Gelegenheit der Verabschiedung einer Stellungnahme zu einem individuellen Vorhaben oder gremienbezogen auf der Grundlage einer zwischen der Bundesregierung und dem Bundesrat ausgehandelten Gremienliste durch den Bundesrat 8 0 1 . Problematisch ist darüber hinaus die Frage der demokratischen Kontrolle des Handelns des Vertreters 802. Wie sollen Parlamentarier des Bundes und der Länder ihren Kontrollaufgaben nachkommen, wenn sich in Zukunft die Länder im Bundesrat auf eine in Brüssel zu verfolgende Verhandlungslinie einigen, diese dann mit dem Bund abgestimmt werden muß und hinsichtlich derer schließlich im Ministerrat weitere Kompromisse geschlossen werden 803 ? Klar ist, daß der vom Bundesrat bestellte Vertreter der Länder seine Legitimation für das Handeln auf Unionsebene aus dem Gesamtstaat beziehen muß, da er im Namen und für die Bundesrepublik Deutschland handelt 804 . Wer im Rat der Europäischen Gemeinschaft für Deutschland spricht, muß eigentlich dem Bundestag als vom gesamten Volk unmittelbar gewählten und damit legitimierten Verfassungsorgan gegenüber parlamentarisch verantwortlich sein 805 . Zwar handelt der vom Bundesrat ernannte Vertreter aufgrund einer Ermächtigung der Bundesregierung 806 und ist der demokratisch legitimierten Bundesregierung gegenüber berichtspflichtig 807. Eine demokratische Kontrolle im Sinne einer Verantwortlichkeit für sein Handeln ist damit aber nicht verbunden. Dies gilt für die Kontrolle des Ländervertreters durch den Bundestag. Der Bundestag kann parlamentarische Kontrolle und damit verbundene eventuelle Sanktionsmöglichkeiten nicht ausüben, denn der Vertreter Deutschlands ist ein Ländervertre-

801

Ziff. IV. Nr. 3 der Vereinbarung zwischen der Bundesregierung und den Regierungen der Länder über die Zusammenarbeit in Angelegenheiten der Europäischen Union in Ausführung von § 9 EuZBLG. 802

Die umfassende parlamentarische Kontrolle sei nicht gewährleistet, Hilf, VVDStRL 53 (1994), S. 16. 803

Diese Frage werfen zu Recht Oppermann/Classen, NJW 1993, S. 12, auf.

804

Dästner, NwVBl. 1994, S. 2.

805

Badura, FS Redeker, S. 126.

806

Siehe oben S. 156.

807

Lang, S. 246, sieht damit das Erfordernis demokratischer Legitimation der Verhandlungsführung durch den Ländervertreter erfüllt.

160

Α. Hoheitsrechtsübertragungen nach dem GG

ter und damit dem Bundestag überhaupt nicht parlamentarisch verantwortlich 8 0 8 . Eine zweite Möglichkeit wäre die parlamentarische Kontrolle durch den Bundesrat. Diese ist aber nicht möglich, da der Bundesrat lediglich aus den Vertretern der Regierungen der Bundesländer besteht, so daß eine Legitimation durch die Bevölkerungen der Bundesländer ausschließlich mittelbar vermittelt wird 8 0 9 . Der Bundesrat kann zudem einem Vertreter der Länder kein Mißtrauen aussprechen. Eine parlamentarische Kontrolle durch das Landesparlament des Ländervertreters ist ebenfalls nicht möglich. Dieses ist von der Bevölkerung seines Landes mit politischem Auftrag nur für die Lösung der Länderprobleme gewählt worden. Eine parlamentarische Kontrolle des Ländervertreters, der ja Bundesinteressen vertritt, ist dem Landesparlament daher nicht möglich. Die Mechanismen der parlamentarischen Kontrolle, die von Fragerechten über die Einsetzung von Untersuchungsausschüssen zu Einzelfragen bis hin zu konstruktiven Mißtrauensvoten reichen, könnten somit im Rahmen und aufgrund des neuen Europa-Artikel aus dem Gleichgewicht geraten 810 .

(4) Ausführungsgesetz über die Zusammenarbeit von Bund und Ländern (Absatz 7) In Absatz 7 schließlich ist ein Ausführungsgesetz, das der Zustimmung des Bundesrates bedarf, vorgesehen, welches die Details der Mitwirkung des Bundesrates nach Artikel 23 Absätze 4 - 6 GG regeln soll. Zu diesem Zweck wurde das Ausführungsgesetz über die Zusammenarbeit von Bund und Ländern in Angelegenheiten der Europäischen Union verabschiedet811. § 8 EuZBLG bestimmt, daß die Länder eine unmittelbare „ständige Verbindung" zur Europäischen Union in Form sog. „Länderbüros" erhalten, die allerdings keinen diplomatischen Status haben. Eine weitere Neuerung enthält § 7 EuZBLG. § 7 Absatz 1 EuZBLG verpflichtet die Bundesregierung auf Verlangen des Bundesrates unbeschadet eigener Klagerechte der Länder, von den im Vertrag über die Europäische Union vorgesehenen Klagemöglichkeiten Gebrauch zu machen, soweit die Länder durch ein Handeln oder Unterlassen von Organen der Union in Bereichen ihrer

808

Wie hier Breuer,

NVwZ 1994, S. 429; Huber, S. 64; Scholz,, Artikel 23,

Rn. 137. 809

Classen , ZRP 1993, S. 60.

810

Badura, FS Redeker, S. 126.

811

BGBl. 1993 I S. 313, zuvor BT-Dr. 12/3540 i.d.F. der Beschlußempfehlung des Sonderausschusses „Europäische Union", BT-Dr. 12/3896, S. 9 ff.

II. Regelungen des GG

161

Gesetzgebungsbeftignisse betroffen sind und der Bund kein Recht zur Gesetzgebung hat.

c) Ergebnis Artikel 23 GG Artikel 23 n.F. GG hat das Ziel, sowohl die Mitwirkung Deutschlands an der Verwirklichung einer Europäischen Union als auch den Gesamtkomplex des staatlichen Mitwirkungsauftrages, die Strukturanforderungen an diese Europäische Union und die im Zusammenhang mit der Übertragung von Hoheitsrechten bestehenden innerstaatlichen Mitwirkungs- und Beteiligungsrechte von Bund und Ländern verfassungsrechtlich zu regeln 812 . Artikel 23 Absatz 1 GG ermächtigt erstmals ausdrücklich zur Übertragung von Hoheitsrechten auf die Europäische Union und formuliert zugleich die Staatszielbestimmung der Mitwirkung Deutschlands an der Verwirklichung der Europäischen Union. Die Übertragung von Hoheitsrechten zugunsten einer Europäischen Union ist jedoch zukünftig von der Zustimmung des Bundesrates abhängig. Da die Sätze 2 und 3 des Artikels 23 Absatz 1 zusammengelesen werden müssen, bedürfen Hoheitsrechtsübertragungen auf die Europäische Union künftig ausnahmslos der Zwei-Drittel-Mehrheiten von Bundestag und Bundesrat. Die bisher im Rahmen von Artikel 24 Absatz 1 GG bestehende Möglichkeit der Übertragung von Hoheitsrechten durch einfaches Gesetz besteht somit bei der Übertragung von Hoheitsrechten auf die Europäische Union nicht mehr. Allerdings ist die Teilnahme Deutschlands an der Verwirklichung der Europäischen Union an Voraussetzungen geknüpft. Die Mitwirkung Deutschlands an der Europäischen Union setzt gemäß Artikel 23 Absatz 1 Satz 1 GG voraus, daß die Europäische Union bestimmten Strukturprinzipien und inhaltlichen Zielen verpflichtet ist. Anders als im Rahmen des Artikels 24 Absatz 1 GG werden damit explizit Forderungen an die Struktur der Europäischen Union selbst aufgestellt. Diese Strukturprinzipien und Zielvorgaben sind der strukturellen Besonderheit der Europäischen Union als Zusammenschluß von Staaten entsprechend eigenständig zu entwickeln, so daß sie inhaltlich nicht deckungsgleich mit den zum Teil gleichlautenden Prinzipien des Grundgesetzes ausgestaltet sein müssen und können. Die Europäische Union muß föderative Grundsätze verwirklichen. Damit wird die Europäische Union nicht auf eine Struktur entsprechend deijenigen des

812

Scholz in der Gemeinsamen Verfassungskommission, Stenogr. Bericht vom 26.06.1992, S. 2. 11 Uhrig

162

Α. Hoheitsrechtsübertragungen nach dem GG

deutschen Bundesstaates festgelegt. Die Verwirklichung föderativer Grundsätze bedeutet vielmehr zweierlei: Die Europäische Union muß erstens die Eigenstaatlichkeit ihrer Mitgliedstaaten achten, und sie muß zweitens die vorhandenen föderalen Strukturen der Mitgliedstaaten zur Kenntnis nehmen, deren Interessen berücksichtigen und diese an der Willensbildung und Entscheidungsfindung der Europäischen Union beteiligen. Weiter muß die Europäische Union demokratischen Grundsätzen verpflichtet sein. Die damit verbundenen Anforderungen sind angesichts des Charakters der Europäischen Union als Staatenverbund gegenüber den Anforderungen, die das Grundgesetz im Hinblick auf die Verwirklichung demokratischer Grundsätze für die Bundesrepublik Deutschland fordert, zu modifizieren. Die Forderung der Verwirklichung demokratischer Grundsätze auf der Ebene der Europäischen Union setzt minerseits voraus, daß die Mitgliedstaaten in einem Organ vertreten sind, das wesentlichen Einfluß auf die Rechtsetzung der Europäischen Union besitzt und in dem die Entscheidungen nach demokratischen Grundsätzen getroffen werden. Angesichts der Integrationsoffenheit des Grundgesetzes bedeutet dies jedoch nicht, daß dort alle Entscheidungen einstimmig ergehen müssen. Vielmehr entspricht es demokratischen Grundsätzen, wenn die Entscheidungen, die nicht eines einstimmigen Beschlusses bedürfen, nach dem Mehrheitsprinzip getroffen werden. Die Europäische Union bedarf darüber hinaus aber auch selbst einer demokratischen Legitimation. Dies bedeutet nicht, daß die Europäische Union eine parlamentarische Demokratie im Sinne des Grundgesetzes sein muß. Demokratische Legitimation kann vielmehr auf der Ebene der Europäischen Union durch mehrere einander ergänzende Legitimationsstränge vermittelt werden. Sie erfolgt zum einen durch das von den Völkern Europas gewählte Europäische Parlament, dem jedoch angesichts der Struktur der Europäischen Union als Staatenverbund nicht die Rolle des Hauptrechtsetzungs- und Kontrollorgans nach staatlichem Muster zukommen kann, dessen Mitsprache- und Kontrollrechte jedoch auszubauen sind. Da strukturbedingt die Mitgliedstaaten im Rat als dem Hauptrechtsetzungsorgan durch ihre Regierungen vertreten sind, wird demokratische Legitimation zum anderen mittelbar über die nationalen Parlamente vermittelt, die ihrerseits die nationalen Vertreter im Rat kontrollieren. Dies setzt jedoch voraus, daß den Mitgliedstaaten innerstaatlich Bereiche verbleiben, in denen eine nationale Willensbildung erfolgt, deren Ergebnisse die Grundlage der parlamentarischen Kontrolle der Regierung durch die nationalen Parlamente bilden können. Die Verpflichtung auf rechtsstaatliche Grundsätze bedeutet, daß die Europäische Union dem Prinzip der Gewaltenteilung verpflichtet sein muß. Besonderheiten ergeben sich hinsichtlich der Aufgabenzuweisungen an einzelne Organe, die nach anderen Kriterien als innerhalb eines Staates erfolgen kann. Darüber hinaus muß auf der Ebene der Europäischen Union die Bindung an Recht und

II. Regelungen des GG

163

Gesetz, die Beachtung grundlegender rechtsstaatlicher Prinzipen sowie ein wirksamer Rechtsschutz gegen Rechtsakte durch unabhängige Richter gewährleistet sein. Zur Verwirklichung sozialer Grundsätze ist es erforderlich, daß die Europäische Union eine Wertentscheidung zugunsten der Verwirklichung sozialer Gerechtigkeit und Sicherheit trifft. Das Handeln der Europäischen Union muß also auf die Verwirklichung sozialer Gerechtigkeit und Sicherheit ausgerichtet sein. Die Forderung nach einem dem Grundgesetz im wesentlichen vergleichbaren Grundrechtsschutz ist im Gegensatz zu den anderen Forderungen des Artikels 23 Absatz 1 Satz 1 GG keine Verpflichtung, die erstmals in bezug auf die Übertragung von Hoheitsrechten aufgestellt wird. Sie entspricht vielmehr den Forderungen, die bereits im Rahmen des Artikels 24 Absatz 1 GG im Zusammenhang mit den Grenzen der Übertragung von Hoheitsrechten entwickelt worden sind. Diese Grenzen werden nunmehr auch mit Verfassungsrang festgeschrieben. Dies beinhaltet, daß die Europäische Union zwar nicht jede im deutschen Verfassungsrecht anerkannte Detailregelung gewährleisten muß, sie muß jedoch den Wesensgehalt der Grundrechte, die das Grundgesetz schützt, sowohl generell als auch im Einzelfall garantieren. Darüber hinaus ist ein Rechtsschutzsystem auf der Ebene der Europäischen Union erforderlich, das es dem einzelnen ermöglicht, individuellen Rechtsschutz durch unabhängige Gerichte in Anspruch zu nehmen, auf Grund dessen eine Verletzung von Grundrechten sachgerecht und wirksam sanktioniert wird. Schließlich muß die Europäische Union dem Grundsatz der Subsidiarität verpflichtet sein. Dies bedeutet, daß bei der Kompetenzausübung in Bereichen, die nicht in die ausschließliche Kompetenz der Europäischen Gemeinschaft fallen, zu prüfen ist, ob eine Regelung auf nationaler Ebene nicht ausreicht und ob die Ziele einer Regelung auf Gemeinschaftsebene besser erreicht werden können. Dies setzt eine Frage von grenzüberschreitender Bedeutung voraus, deren Regelung auf Gemeinschaftsebene deutliche Vorteile bringt. Das Subsidiaritätsprinzip bildet als allgemeiner Grundsatz des Gemeinschaftsrechts eine Kompetenzausübungsschranke und begründet eine Argumentations- und Beweislastregel für die Gemeinschaftsorgane. Die Aufnahme des Subsidiaritätsprinzip in das Grundgesetz beinhaltet eine Bemühenspflicht der Bundesorgane, zur Verwirklichung dieses Grundsatzes auf der Ebene der Europäischen Union beizutragen. Darüber hinaus wird die Möglichkeit zur Übertragung von Hoheitsrechten zugunsten der Europäischen Union dadurch eingeschränkt, daß Artikel 23 Absatz 1 Satz 3 GG nunmehr ausdrücklich feststellt, daß für künftige Übertragungen Artikel 79 Absätze 2 und 3 GG gelten. Dies bedeutet hinsichtlich des Artikels 79 Absatz 3 GG, daß die zu Artikel 24 Absatz 1 GG entwickelten 11*

164

Α. Hoheitsrechtsübertragungen nach dem GG

Grenzen auch für die Übertragung von Hoheitsrechten auf die Europäische Union gelten. Die Bundesrepublik Deutschland muß also auch nach der Übertragung von Hoheitsrechten auf die Europäische Union einen Staat bilden, der den dort aufgeführten Prinzipien entspricht. Hinsichtlich der Grenzen, die das Demokratieprinzip im Rahmen des Artikels 79 Absatz 3 GG vorgibt, bedeutet dies aufgrund der Tatsache, daß der deutsche Wahlberechtigte sein Recht auf Teilnahme an der demokratischen Legitimation wesentlich durch die Wahl des Bundestages ausübt, daß dem Bundestag hinreichend bedeutsame Aufgabenfelder verbleiben müssen. Bezüglich dieser Aufgabenfelder kann sich das deutsche Staatsvolk in einem von ihm legitimierten und gesteuerten Prozeß politischer Willensbildung artikulieren mit der Folge, daß eine innerstaatliche Willensbildung stattfinden kann. Des weiteren ermächtigt Artikel 23 GG nicht dazu, infolge der Übertragung von Hoheitsrechten auf die Europäische Union die Staatlichkeit der Bundesrepublik Deutschland aufzugeben. Die Ermächtigung zur Übertragung von Hoheitsrechten endet dort, wo infolge von Hoheitsrechtsübertragungen der Bundesrepublik Deutschland lediglich Hoheitsrechte verbleiben, die in Umfang und Qualität ein Staatswesen nicht mehr tragen. Die Bundesrepublik Deutschland muß vielmehr in der Lage sein, aus eigenem Recht zu handeln. Ihr müssen daher insbesondere ihre Kompetenz-Kompetenz und ihre Unabhängigkeit anderen Staaten gegenüber verbleiben. Die Absätze 2 - 7 regeln darüber hinaus die Beteiligung von Bundestag und Bundesrat am innerstaatlichen Willensbildungsprozeß sowie die Frage der Außenvertretung der Bundesrepublik Deutschland in Angelegenheiten der Europäischen Union. Dem Bundestag steht ein Recht zur Stellungnahme zu, das ergänzt wird durch die Verpflichtung der Bundesregierung, den Bundestag umfassend und frühzeitig über alle wesentlichen Rechtsetzungsvorhaben der Europäischen Union zu informieren. Die Stellungnahmen des Bundestages sind von der Bundesregierung bei ihren Verhandlungen auf der Ebene der Europäischen Union zu berücksichtigen, sie sind jedoch für die Bundesregierung nicht bindend. Die Beteiligungsrechte des Bundesrates an der innerstaatlichen Willensbildung in Angelegenheiten der Europäischen Union sind gestaffelt. Sind durch Rechtsetzungsvorhaben auf der Ebene der Europäischen Union Bereiche betroffen, für die innerstaatlich ausschließlich der Bund zuständig ist, hat die Bundesregierung gemäß Artikel 23 Absatz 5 Satz 1 GG Stellungnahmen des Bundesrates zu berücksichtigen, und sie hat den Bundesrat zu informieren und zu unterrichten. Die Bundesregierung ist in diesem Fall an die Stellungnahme des Bundesrates jedoch nicht gebunden. Sind hingegen Bereiche der konkurrierenden und der Rahmengesetzgebung gemäß Artikel 74, 74 a, 75 GG betroffen, für die eine bundeseinheitliche Regelung gemäß Artikel 72 Absatz 2 GG nicht erforderlich ist, bedeutet dies, daß im Schwerpunkt Gesetzgebungsbefugnisse

III. Ergebnis

165

der Länder betroffen sind. Dies gilt unabhängig davon, ob der Bund von seiner Befugnis zu bundesstaatlicher Regelung Gebrauch gemacht hat. In diesen Fällen wie in Fällen, in denen Einrichtungen der Länderbehörden oder ihrer Verwaltungsorganisation im Mittelpunkt einer Regelung stehen oder den ganz überwiegenden Gegenstand der Regelung bilden, hat die Bundesregierung die Stellungnahme des Bundesrates maßgeblich zu berücksichtigen. Dies bedeutet bei divergierenden Ansichten zwischen Bundesrat und Bundesregierung, daß die Bundesregierung an die Auffassung des Bundesrates gebunden ist mit der Folge, daß der Bundesrat in diesen Fällen das Letztentscheidungsrecht besitzt. Der Bundesrat hat in diesen Fällen die gesamtstaatliche Verantwortung zu wahren. Ferner ist gemäß Artikel 23 Absatz 5 Satz 3 GG die Zustimmung der Bundesregierung in Angelegenheiten erforderlich, die zu Ausgabenerhöhungen oder Einnahmeminderungen für den Bund führen. Der Bundesrat kann gemäß Artikel 23 Absatz 6 GG die Bundesrepublik Deutschland im Rat vertreten, wenn im Schwerpunkt ausschließliche Gesetzgebungsbefugnisse der Länder betroffen sind. Die Vertretung erfolgt durch einen vom Bundesrat ernannten Vertreter der Länder. Dieser nimmt die mitgliedschaftlichen Rechte wahr, die der Bundesrepublik Deutschland in der Europäischen Union zustehen. Er hat in Abstimmung mit der Bundesregierung zu handeln und muß hierzu seine Verhandlungsführung vorher mit der Bundesregierung abstimmen.

I I I . Ergebnis Teil A Das Grundgesetz ist seit seinem Inkrafttreten eine integrationsoffene Verfassung. Schon die Präambel des Grundgesetzes brachte die grundsätzliche Entscheidung der deutschen Verfassung zum Ausdruck, ein vereintes Europa anzustreben und am Prozeß der Verwirklichung dieses vereinten Europas mitzuwirken. Zur Verwirklichung dieser programmatischen Aussage enthält das Grundgesetz nunmehr zwei Artikel, die die Übertragung von Hoheitsrechten ermöglichen. Artikel 24 Absatz 1 GG ermächtigt dazu, Hoheitsrechte auf zwischenstaatliche Einrichtungen zu übertragen. Er berechtigt grundsätzlich den Bund zur Hoheitsrechtsübertragung auf zwischenstaatliche Einrichtungen. Die einzige Ausnahme bildet Artikel 24 Absatz 1 a GG, wonach die Bundesländer Hoheitsrechte auf grenznachbarschaftliche Einrichtungen übertragen können, also auf Einrichtungen, die zum Zwecke der grenzüberschreitenden, aber regional beschränkten Zusammenarbeit begründet werden. Die Übertragung von Hoheitsrechten kann durch einfaches Gesetz erfolgen, das nicht der Mehrheiten des Artikels 79 Absatz 2 GG bedarf. Ein Zustimmungserfordernis des Bundesrates besteht gemäß Artikel 24 Absatz 1 GG nicht. Angesichts der Tatsache, daß völkerrechtliche Verträge, die der Übertragung von Hoheitsrechten zugrunde liegen, bisher stets auch Materien des Artikels 59 Absatz 2 GG beinhal-

166

Α. Hoheitsrechtsübertragungen nach dem GG

ten, erfolgt jedoch eine Beteiligung des Bundesrates entsprechend den Vorgaben des Artikels 59 Absatz 2 GG. Obwohl Artikel 24 Absatz 1 GG selbst keine Grenzen fur die Übertragung von Hoheitsrechten enthält, sind solche Grenzen entwickelt worden. Die Übertragung von Hoheitsrechten darf nicht dazu fuhren, daß die Identität des Grundgesetzes aufgegeben wird. Ein Einbruch in das Grundgefüge, das diese Identität garantiert, liegt vor, wenn eine zwischenstaatliche Einrichtung, die durch ihr Handeln die Grundrechte des Grundgesetzes zu beeinträchtigen in der Lage ist, nicht gewährleistet, daß der Wesensgehalt der Grundrechte des Grundgesetzes garantiert wird. Die zwischenstaatliche Einrichtung muß in diesen Fällen über ein Grundrechtssystem verfügen, das dem des Grundgesetzes im wesentlichen gleichartig und gleichwertig ist. Dies setzt ein Rechtsschutzsystem der zwischenstaatlichen Einrichtung voraus, das es dem einzelnen ermöglicht, effektiven Rechtsschutz durch unabhängige Gerichte in Anspruch zu nehmen. Zudem beinhaltet die Forderung nach der Wahrung der Identität der Verfassungsordnung die Bewahrung der grundlegenden Verfassungsprinzipien des Grundgesetzes, wie sie Artikel 79 Absatz 3 GG vorgibt. Dies bedeutet, daß die Bundesrepublik Deutschland auch nach der Übertragung von Hoheitsrechten einen demokratisch, bundes- und rechtsstaatlich organisierten Staates darstellen muß, der den Gestaltungsauftrag „Sozialstaat" zu verwirklichen in der Lage ist. Darüber hinaus ist es erforderlich, daß die Staatlichkeit Deutschlands erhalten bleibt. Dies setzt voraus, daß nicht die Gesamtheit der Hoheitsrechte der Bundesrepublik Deutschland übertragen wird und daß der zwischenstaatlichen Einrichtung weder durch die Summe noch durch die Qualität der übertragenen Hoheitsrechte die Möglichkeit eingeräumt wird, ihre Kompetenzen aus eigenem Recht zu erweitern. Im Zuge der Ratifikation des Vertrages von Maastricht wurde mit Artikel 23 n.F. GG für die Übertragung von Hoheitsrechten auf eine Europäische Union eine spezielle Ermächtigungsgrundlage in das Grundgesetz aufgenommen. Allerdings wird diese Mitwirkung im Verhältnis zu Artikel 24 Absatz 1 GG unter qualifizierte Bedingungen gestellt, denn künftige Übertragungen bedürfen stets der Zustimmung des Bundesrates und darüber hinaus der Mehrheiten des Artikels 79 Absatz 2 GG. Artikel 23 Absatz 1 Satz 1 GG stellt darüber hinaus erstmals Forderungen an die Struktur und die Zielvorgaben der Europäischen Union. Die Inhalte dieser Forderungen sind auf der Ebene der Europäischen Union entsprechend ihrem Charakter als Staatenverbindung zu bestimmen. Eine Ausnahme bildet die Forderung nach Verwirklichung eines dem Grundgesetz im wesentlichen vergleichbaren Grundrechtsschutzes, da diesbezüglich die bereits im Rahmen des Artikels 24 Absatz 1 GG entwickelten Anforderungen an den Grundrechtsschutz durch eine zwischenstaatliche Einrichtung gelten.

III. Ergebnis

167

Die Übertragung von Hoheitsrechten wird zudem ausdrücklich der Grenze des Artikels 79 Absatz 3 GG unterworfen. Die Bundesrepublik Deutschland muß folglich auch nach der Übertragung einen Staat bilden, der die Prinzipien des Artikels 79 Absatz 3 GG verwirklicht. Mit Ausnahme des Demokratieprinzips ergeben sich aufgrund der nunmehr in Artikel 23 Absatz 1 Satz 3 GG normierten ausdrücklichen Grenze keine Abweichungen zu den bereits im Rahmen des Artikels 24 Absatz 1 GG entwickelten Anforderungen an diese Prinzipien. Über die bereits im Rahmen der Grenzziehung des Artikels 24 Absatz 1 GG entwickelten Anforderungen hinaus beinhaltet die Grenzziehung des Artikels 79 Absatz 3 GG i.V.m. Artikel 20 GG, daß dem Bundestag als durch das Volk gewählter und somit legitimierter Vertretung auch nach der Übertragung von Hoheitsrechten Aufgaben und Befugnisse von einigem Gewicht verbleiben müssen, denn das deutsche Volk übt sein Recht auf Teilnahme an der demokratischen Legitimation der Staatsgewalt wesentlich durch die Wahl zum Bundestag aus. Schließlich bestehen auch im Rahmen des Artikels 23 GG weiterhin ungeschriebene Grenzen. So darf auch die Übertragung von Hoheitsrechten auf die Europäische Union nicht dazu führen, daß die Summe aller Hoheitsrechte übertragen wird. Diese auch als Verbot der Aufgabe der Staatlichkeit der Bundesrepublik Deutschland beschriebene Grenze für die Übertragung von Hoheitsrechten ist schon dann überschritten, wenn die Bundesrepublik Deutschland zwar formell als Staat bestehen bleibt, aber gleichsam eine „Hülle ohne Inhalt" bildet, insbesondere weil der Europäischen Union etwa die Kompetenz-Kompetenz eingeräumt wird. Während im Rahmen des Artikels 24 Absatz 1 GG die Beteiligung von Bundestag und Bundesrat lediglich durch einfachgesetzliche Regelungen bzw. aufgrund des Grundsatzes der Bundestreue erfolgte, ist diese Beteiligung nunmehr verfassungsrechtlich verankert und ausgebaut worden. Neben Informationsrechten stehen insbesondere dem Bundesrat abgestufte Beteiligungsrechte zu, die bis zu einem Vetorecht reichen. Außerdem wird ihm die Möglichkeit eingeräumt, die Bundesrepublik Deutschland auf der Ebene der Europäischen Union zu vertreten. Artikel 23 GG greift also hinsichtlich der Anforderungen und Grenzen der Übertragung von Hoheitsrechten sowie der innerstaatlichen Beteiligungsmöglichkeiten insbesondere des Bundesrates Regelungen auf, die bereits im Rahmen des Artikels 24 Absatz 1 GG entwickelt worden sind. Er verleiht ihnen aber nunmehr unmittelbar Verfassungsrang. Darüber hinaus stellt er aber auch explizit Forderungen an die Struktur der Europäischen Union, unterwirft die Übertragung von Hoheitsrechten den Anforderungen von Artikel 79 Absätze 2 und 3 GG und ermöglicht die Vertretung Deutschlands auf der Ebene der Europäischen Union durch einen Vertreter des Bundesrates. Damit geben Artikel 23 und 24 GG die Mechanismen, Voraussetzungen und Grenzen für die Übertra-

168

Α. Hoheitsrechtsübertragungen nach dem GG

gung von Hoheitsrechten auf die Europäische Union vor. Angesichts dieser ausführlichen Regelungen stellt sich nunmehr die Frage, ob durch den Vertrag von Maastricht Hoheitsrechtsübertragungen erfolgt sind, die mit diesen insbesondere aus Artikel 23 GG folgenden verfassungsrechtlichen Vorgaben nicht zu vereinbaren sind.

Β. Übertragung von Hoheitsrechten durch den Vertrag über die Europäische Union Um den Vertrag von Maastricht an den Vorgaben des Grundgesetzes für die Übertragung von Hoheitsrechten messen zu können, sollen nachfolgend zunächst die unterschiedlichen Bereiche des EU-Vertrages daraufhin untersucht werden, ob sie Regelungen enthalten, mit denen eine Hoheitsrechtsübertragung vorgenommen wird. Der Vertrag von Maastricht begründet eine Europäische Union1. Er enthält Änderungen des EGKS-, des Euratom- und insbesondere des bisherigen EWGVertrages, der nunmehr die neue Bezeichnung EG-Vertrag trägt 2, und er begründet neue Formen der Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten. Er ist das Ergebnis einjähriger RegierungsVerhandlungen3. Sie wurden auf der Tagung des Europäischen Rates am 9./10. Dezember 1991 in Maastricht abgeschlossen. Der dort ausgehandelte Vertrag bedurfte der Ratifikation durch die Mitgliedstaaten gemäß ihren verfassungsrechtlichen Vorschriften 4. Er sollte am 1. Januar 1993 in Kraft treten5, doch scheiterte dies unter anderem am negativen Votum der dänischen Bevölkerung6. Nachdem auf der Tagung des Europäischen Rates in Edinburgh am 11./12. Dezember 1992 Ausnahmeregelungen 1

Artikel A Unterabsatz 1 EUV. Das Vertragswerk wird ergänzt durch einen Anhang aus 17 Protokollen und einem zusätzlichen Abkommen sowie 33 Erklärungen. 2

Artikel G ff. EUV.

3

Im Anschluß an den Europäischen Rat in Rom trat am 15.12.1990 die Regierungskonferenz zur Politischen Union und zur Wirtschafts- und Währungsunion erstmals zusammen. Nach intensiven Verhandlungen unter luxemburgischer und niederländischer Präsidentschaft einigten sich die im Europäischen Rat vertretenen Staats- und Regierungschefs in Maastricht auf das Vertragswerk, das auf den Texten basiert, die in den beiden vorangegangenen Regierungskonferenzen vorbereitet wurden. Zum Verlauf der Vertragsverhandlungen vgl. Hilf/Pache, Vorb. zum EUV, Rn. 18 ff. m.w.N., in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), Kommentar zum EUV. 4

Artikel R Abs. 1 EUV.

5

Artikel R Abs. 2 EUV.

** Gemäß Jj 20 Abs. 1 der Dänischen Verfassung erfordert die Übertragung von Hoheitsrechten an eine internationale Organisation entweder eine 5/6 Mehrheit im Parlament oder eine Zustimmung durch Volksabstimmung. Die am 02.06.1992 abgehaltene Volksabstimmung endete mit einem negativen Votum.

170

Β. Hoheitsrechtsübertragungen im EUV

zugunsten Dänemarks festgelegt worden waren, nach denen Dänemark weder an der 3. Stufe der Währungsunion noch an der gemeinsamen Verteidigungspolitik teilnehmen wird 7 , ergab eine zweite Volksabstimmung in Dänemark am 18. Mai 1993 eine Zustimmung von 56,8 % für die Ratifizierung des Vertrages von Maastricht. Daraufhin Schloß auch Großbritannien, das nach der ersten dänischen Volksabstimmung sein Ratifikationsverfahren ausgesetzt hatte, sein Ratifikationsverfahren ab 8 9 . Nachdem als letzter Mitgliedstaat Deutschland am 12. Oktober 1993 10 den Vertrag ratifizierte, ist der Vertrag über die Europäische Union am 1. November 1993 in Kraft getreten. Die neu begründete Europäische Union besteht aus der Europäischen Gemeinschaft und den mit dem EU-Vertrag neu eingeführten Politiken und Formen der Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten11. Strukturell stellt der Vertrag die Europäische Union auf drei „Säulen": Eine Säule bildet die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP), die zweite Säule ist die Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres, und die dritte Säule bildet die bisherige Europäische Gemeinschaft. Diese drei Säulen werden unter dem Dach der Europäischen Union zusammengeführt 12, indem sie mittels eines einheitlichen institutionellen Rahmens verklammert werden 13. Gemäß Artikel E EUV üben Europäisches Parlament, Rat, Kommission und EuGH ihre Kompetenzen einer-

7

Schlußfolgerungen des Europäischen Rates von Edinburgh, EA 1993, S. D. 23 f.

8

Am 20.05.1993 beriet das House of Commons in abschließender Lesung über das Ratifizierungsgesetz. Am 20.07.1993 stimmte das House of Lords für die Annahme des Vertrages. Nachdem die Königin ihre Zustimmung erteilt hat, erlangte die Vorlage am 21.07.1993 Gesetzesrang. Eine Klage des Oberhausmitglieds Lord Rees Mogg gegen die Ratifikation wies der Londoner High Court ab (Crown Office Ex Parte Regina v. Secretary of State for Foreign and Commonwealth Affairs Ex Parte Lord Rees Moog, Urteil vom 30.07.1993, Az. CO-2040-93). Nach der Verabschiedung des Gesetzes, aber vor der völkerrechtlichen Ratifikation war es erforderlich, daß Unter- und Oberhaus eine „resolution" über das Sozialkapitel des Vertrages von Maastricht verabschiedeten. Die Ratifikation erfolgte am 02.08.1993. 9

Zu den Ratifikationsschritten, ihrem zeitlichen Ablauf und den Ergebnissen in den übrigen Mitgliedstaaten Bulletin der EU 10/1993, S. 127 ff. 10 In Deutschland hat der Bundestag dem Zustimmungsgesetz am 02.12.1992, der Bundesrat am 18.12.1992 zugestimmt. Es ist in BGBl. 1992 II S. 1251 verkündet worden. Es ist am 31.12.1992 und damit nach dem Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes in Kraft getreten. Im Zusammenhang mit dieser Entscheidung wurde eine Diskussion über die Durchführung einer Volksabstimmung geführt, vgl. hierzu König, DVB1. 1992, S. 140 ff.; Rupp, NJW 1993, S. 38 ff. 11

Artikel A Abs. 3 EUV.

12

Magiera, Jura 1994, S. 6; Ress, JuS 1992, S. 986; Winter DÖV 1993, S. 177. Artikel

EUV.

I. Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik

171

seits nach Maßgabe der bisherigen Gemeinschaftsverträge, andererseits nach Maßgabe der Regelungen der beiden neuen Säulen aus 14 . Die Europäische Union selbst wird nicht mit eigener Rechtspersönlichkeit ausgestattet15. Infolgedessen besitzt sie weder einen der Europäischen Gemeinschaft entsprechenden Rechtsstatus im innerstaatlichen Recht noch in der Völker-rechtsordnung. Rechtspersönlichkeit kommt weiterhin ausschließlich der Europäischen Gemeinschaft zu 1 6 . Nachfolgend wird für den EU-Vertrag, also für die Bereiche der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (I.), die Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres (II.), für die Europäische Union selbst (III.) und für die Europäischen Gemeinschaft (IV.) untersucht, inwieweit durch den Vertrag von Maastricht Hoheitsrechte übertragen worden sind.

I. Zusammenarbeit in der Außen- und Sicherheitspolitik Fraglich ist, ob durch den EU-Vertrag im Bereich der Gemeinsamen Außenund Sicherheitspolitik (GASP) Hoheitsrechte übertragen worden sind. Die GASP ist in Titel V des Vertrages über die Europäische Union geregelt. Sie tritt an die Stelle der seit 1986 abgestimmten Außenpolitik der Mitgliedstaaten im Rahmen der Europäischen Politischen Zusammenarbeit (EPZ), die durch Artikel 30 EEA begründet wurde 17 . Bei dieser handelte es sich um eine Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten aufgrund völkerrechtlichen Vertrages 18, die über Titel I der EEA mit der Europäischen Gemeinschaft verbunden war 19 . Während die Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten im Rahmen der EPZ inhalt-

14

Artikel E EUV.

15

Bleckmann, DVBI. 1992, S. 335; Seidel, EuR 1992, S. 125; Hahn, Vertrag von Maastricht, S. 38; Oppermann, in: Hommelhoff/Kirchhof, S. 90. 16

Artikel 210 EGV; Artikel 185 EAGV; Artikel 6 Abs. 3 EGKSV.

17

Der die EPZ betreffende Titel III EEA wurde durch Artikel Ρ Abs. 2 EUV aufgehoben. Krenzler/Schneider bezeichnen die EEA als „Vorgründungsgesellschaft", EuR 1994. S. 146. 18

Hilf/Pache, Vorb. EEA, Rn. 25, in: von der Groeben/Thiesing/Ehlermann (Hrsg.), Kommentar zum EWGV; Müller-Graff, Integration 1993, S. 147 f. Die Kommission beschreibt die Zusammenarbeit im Rahmen der EPZ als verhältnismäßig lockeren Rahmen für Konsultationen und Koordinierung, die für die Mitgliedstaaten nicht bindend war, dies., Bericht über die Funktionsweise des Vertrages über die Europäische Union, SEK (95), 731 endg., S. 64. 19

Hilf/Pache, Vorb. EEA, Rn. 20, in: von der Groeben/Thiesing/Ehlermann (Hrsg.), Kommentar zum EWGV.

172

Β. Hoheitsrechtsübertragungen im EUV

lieh auf bestimmte Themenbereiche beschränkt war, nämlich auf außenpolitische Fragen von allgemeinem Interesse20, wird die Zusammenarbeit im Rahmen der GASP auf alle Bereiche der Außen- und Sicherheitspolitik ausgedehnt21. Die GASP hat: - die Wahrung der gemeinsamen Werte, der grundlegenden Interessen und der Unabhängigkeit der Union; - die Stärkung der Sicherheit der Union und ihrer Mitgliedstaaten in allen ihren Formen; - die Wahrung des Friedens und die Stärkung der internationalen Sicherheit entsprechend den Grundsätzen der Charta der Vereinten Nationen sowie den Prinzipien der Schlußakte von Helsinki und den Zielen der Charta von Paris; - die Förderung der internationalen Zusammenarbeit; - die Entwicklung und Stärkung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit sowie die Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten zum Ziel 2 2 und umfaßt damit sowohl politische als auch militärische Aspekte23. Die Mitgliedstaaten streben im Rahmen der GASP auch auf dem Gebiet der Verteidigungspolitik eine Zusammenarbeit an. Diese soll zu gegebener Zeit zu einer gemeinsamen Verteidigung führen 24. In diesem Zusammenhang ersucht die Europäische Union die Westeuropäische Union (WEU), Entscheidungen und Aktionen, die verteidigungspolitische Bezüge haben, auszuarbeiten und durchzuführen. Der Rat trifft im Einvernehmen mit den Organen der WEU die erforderlichen praktischen Regelungen25. Die WEU soll diesbezüglich die ent-

20 Artikel 30 Nr. 2 a EEA. Hierzu Servantie, Artikel 30 EEA, Rn. 36, in: von der Groeben/Thiesing/Ehlermann (Hrsg.), Kommentar zum EWGV. 21

Artikel J.l EUV. Denkschrift zum Vertrag über die Europäische Union, S. 81. Regelsberger, Integration 1992, S. 87; Müller-Graff, Integration 1993, S. 153; Lange, JZ 1996, S. 443; Schweitzer/Hummer, S. 543. 22

Artikel J.l EUV begründen allerdings keine Verpflichtung der Mitgliedstaaten zur Verwirklichung dieser Ziele tätig zu werden. In welchen Fällen gehandelt wird, bleibt im Einzelfall vom politischen Willen der Mitgliedstaaten abhängig, Burghardt/Tebbe, EuR 1995, S. 7. 23

Krenzier/Schneider,

24

EuR 1994, S. 148.

Artikel J.4. Abs. 1 EUV. Erste Schritte in Richtung auf die Schaffung einer gemeinsamen europäischen Verteidigung haben Deutschland und Frankreich mit dem Entschluß über die Aufstellung eines Europäischen Korps getan, das Streitkräften aus anderen Mitgliedstaaten der WEU offensteht, FAZ vom 22.05.1992, S. 1. Diesem Korps wird Belgien sich nach Beschluß der belgischen Regierung vom 24.06.1993 mit 12000 Soldaten eingliedern. Spanien erwägt eine Beteiligung mit 4000 Soldaten. Das Korps wurde am 05.11.1993 in Dienst gestellt. Artikel J. Abs. 2 EUV.

I. Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik

173

scheidenden Aufgaben der militärischen Zusammenarbeit vorbereiten und wahrnehmen. Die neun Mitgliedstaaten, die zum Zeitpunkt des Abschlusses des EU-Vertrages Vertragsstaaten der WEU waren 26 , haben in einer Erklärung zur Rolle der W E U 2 7 deren künftige Aufgaben im Zusammenhang mit der Europäischen Union weitergehend präzisiert 28. Der EU-Vertrag sieht verschiedene einander ergänzende Methoden zur Verwirklichung der GASP vor. Der Europäische Rat, in dem die Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten sowie der Präsident der Kommission zusammenkommen29, bestimmt die Grundsätze und die allgemeinen Leitlinien der Zusammenarbeit im Rahmen der GASP 30 . Der Rat trifft dann auf der Grundlage dieser allgemeinen Leitlinien die fur die Festlegung und Durchführung der GASP erforderlichen Entscheidungen31. Im Rat unterrichten sich die Mitgliedstaaten gegenseitig zu jeder außen- und sicherheitspolitischen Frage von allgemeiner Bedeutung und stimmen sich zu diesen Fragen ab 3 2 . Über diese Unterrichtung und Abstimmung hinaus kann der Rat in allen Fällen, in denen er dies für erforderlich hält, einen gemeinsamen Standpunkt festlegen 33. Dieser gemeinsame Standpunkt bildet eine „Richtschnur" für das Verhalten der Mitglied-

26

Dies stellte ein Problem dar, weil seinerzeit nur 9 der 12 Mitgliedstaaten der EU der WEU angehören. Zwar hatte Griechenland zu diesem Zeitpunkt bereits einen Antrag auf Mitgliedschaft in der WEU gestellt. Dänemark und Irland hielten jedoch an ihrer Neutralitätspolitik fest und besitzen in der WEU ebenso wie die 1995 beigetretenen Mitgliedstaaten Finnland, Österreich und Schweden nach wie vor lediglich einen Beobachterstatus. Zudem gehören der WEU mit Island, Norwegen und der Türkei assoziierte, und damit im Rahmen der WEU stimmberechtigte Staaten an, die nicht der EU angehören. 27

Erklärung Nr. 30 der Schlußakte des EUV.

28

Danach soll sich die WEU als „Verteidigungskomponente" der EU und zum Mittel der Stärkung des europäischen Pfeilers der Atlantischen Allianz entwickeln. Sie soll eine gemeinsame europäische Verteidigungspolitik formulieren und diese durch die Weiterentwicklung ihrer operationellen Rolle konkret durchführen, Ziff. 2 der Einleitung der Erklärung zur WEU. 29

Artikel D Abs. 2 EUV.

30

Artikel J.8 Abs. 1 EUV.

31

Artikel J.8 Abs. 2 EUV.

32

Artikel J.2 Abs. 1 EUV.

33

Artikel J.2 Abs. 2 EUV. Gemeinsame Standpunkte wurden etwa zur Verhängung eines Embargos gegen den Sudan, Beschluß des Rates vom 15.03.1994, ABl. 1994 Nr. L 75 S. 1, und zu Einschränkungen der wirtschaftlichen Beziehungen zu Haiti, Beschluß des Rates vom 30.05.1994, ABI. 1994 Nr. L 139 S. 10, festgelegt.

174

Β. Hoheitsrechtsübertragungen im EUV

Staaten, die dafür Sorge tragen, daß ihre einzelstaatliche Politik mit den gemeinsamen Standpunkten in Einklang steht34. Damit ist in den Fällen, in denen ein gemeinsamer Standpunkt festgelegt ist, gegenüber der Zusammenarbeit im Rahmen der EEA eine gewisse Anhebung des Verpflichtungsgrades für das Verhalten eines jeden Mitgliedstaates erfolgt. Während im Rahmen der EPZ die Festlegung gemeinsamer Standpunkte lediglich einen Anhaltspunkt für die einzelstaatlichen Politiken bildete, müssen die Mitgliedstaaten nunmehr „dafür Sorge tragen", daß ihre nationalen Politiken mit den gemeinsamen Standpunkten im Einklang stehen. Allerdings fehlt es für diese völkerrechtliche Verpflichtung an Sanktionsmöglichkeiten für einen Verstoß gegen das „Loyalitätsgebot" der Mitgliedstaaten35. In einem weiteren Schritt kann der Rat auf der Grundlage der allgemeinen Leitlinien des Europäischen Rates beschließen, daß eine Angelegenheit Gegenstand einer gemeinsamen Aktion wird 36 . Der Europäische Rat hat bereits anläßlich des Abschlusses des Vertrages von Maastricht und bei seinen Tagungen in Lissabon und Brüssel 1992 Leitlinien festgelegt. Danach sind allgemeine Ziele gemeinsamer Aktionen die Stärkung demokratischer Strukturen, die Achtung der Menschenrechte, die Stärkung regionaler Strukturen und die rechtzeitige Verhütung von Konflikten 37. Mögliche Felder gemeinsamer Aktionen im Bereich der Sicherheitspolitik sind daneben der KSZE-Prozeß, die Ab-rüstungsund Rüstungskontrollpolitik in Europa einschließlich vertrauens-bildender Maßnahmen, der Transfer von Rüstungstechnologie und die Waffenexportkontrolle 38 . Beschließt der Rat eine gemeinsame Aktion 39 , so legt er den genauen Umfang der Aktion, die allgemeinen und besonderen Ziele, die Mittel, Verfahren und Bedingungen sowie erforderlichenfalls den Zeitraum für ihre Durchführung fest 40 . Die gemeinsame Aktion kann sowohl eine gemeinsame Politik als auch

34

Artikel J.2 Abs. 2 Satz 2 EUV.

35

Wessels, Integration 1992, S. 14; Lange, JZ 1996, S. 444.

36

Artikel J.3 Ziff. 1 Unterabsatz 1 EUV.

37

Dies bestätigen auch die bisher ergangenen gemeinsamen Aktionen, hierzu das Verzeichnis der Kommission, Funktionsweise des EUV, Anhang 17; Münch, EuR 1996, S. 427 ff. 38

Denkschrift zum Vertrag über die Europäische Union, S. 111.

39

Der Begriff „gemeinsame Aktion" wurde aus dem Regelungszusammenhang der EPZ übernommen. Im Unterschied zu der dort geregelten Zusammenarbeit sind gemeinsame Aktionen im Rahmen der GASP nunmehr verbindlich. 40

Artikel J.3 Nr. 1 Abs. 2 EUV.

I. Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik

175

eine spezifische Handlung sein 41 . Der Rat kann sich dieses Instruments in allen Bereichen42 mit Ausnahme von Fragen mit verteidigungspolitischem Bezug 43 bedienen44. Über die Frage, ob eine Angelegenheit Gegenstand einer gemeinsamen Aktion wird, entscheidet der Rat einstimmig. Da Artikel 148 EGV keine Anwendung findet 45 , bedeutet Einstimmigkeit im Rahmen der GASP, daß alle Mitgliedstaaten dem Beschluß zustimmen müssen46. Die Stimmenthaltung eines Mitgliedstaates im Rat steht einem Beschluß und damit einer gemeinsamen Aktion folglich entgegen. Jeder Mitgliedstaat besitzt also im Hinblick auf die Festlegung einer gemeinsamen Aktion ein Vetorecht. Kommt ein Beschluß über eine gemeinsame Aktion zustande, so hat er für sämtliche Mitgliedstaaten bindenden Charakter 47. Es besteht jedoch bei größeren Schwierigkeiten eines Mitgliedstaates die Möglichkeit eines opting-outs48. Der Rat kann zum Zeitpunkt des Beschlusses einer gemeinsamen Aktion durch einstimmigen Beschluß festlegen, ob für Durchführungsmaßnahmen dieser gemeinsamen Aktion ein Beschluß ausreichen soll, der mit qualifizierter Mehrheit der Stimmen des Rates ergeht. Kommt zum Zeitpunkt des Beschlusses über die Einleitung einer gemeinsamen Aktion keine einstimmige Entscheidung

41

Münch, EuR 1996, S. 417.

42

Artikel J.3 und J.4 Abs. 3 EUV. Stauffenberg/Langenfeld, ZRP 1992, S. 254; Baetge, BayVBl. 1992, S. 715. Sie wurde im Bericht der Außenminister des Europäischen Rates in Lissabon 1992 als „additional instrument which implies a strict discipline among Member States and enables the Union to make full use of the means at its disposal", charakterisiert, Bulletin der EU 6/1992, S. 18. 43

Artikel J.4 Abs. 3 EUV, der das Verfahren nach Artikel J.3 EUV ausschließt.

44

Die erste gemeinsame Aktion betraf die Entsendung von Beobachtern für die russischen Parlamentswahlen und das Referendum über den Verfassungsentwurf am 12.12.1993, Beschluß des Rates vom 09.11.1993 bezüglich der gemeinsamen Aktion beschlossen vom Rat auf der Basis von Artikel J.3 EUV, ABl. 1993 Nr. L 286 S. 3. Weitere gemeinsame Aktionen waren beispielsweise der Beschluß des Rates vom 08.11.1993 betreffend die Unterstützung von Hilfslieferungen nach BosnienHerzegowina, ABl. 1993 Nr. L 286 S. 1, und der Beschluß des Rates zur Anpassung und Verlängerung der Anwendung des Beschlusses 93/603/GASP über die vom Rat beschlossene gemeinsame Aktion zur Unterstützung der Beförderung der humanitären Hilfe in Bosnien-Herzegowina, ABl. 1994 Nr. L 134 S. 1. 45

Artikel J.l 1 Abs. 1 EUV listet Artikel 148 EGV nicht als eine Norm auf, die im Rahmen der GASP Anwendung findet. 46

Glaesner, EuR 1994, Beiheft 1, S. 34; Lange, JZ 1996, S. 444.

47

Artikel J.3 Nr. 4 EUV.

48

Artikel J.3 Nr. 7 EUV.

176

. Hoheitsrechtsübertragungen m

über die Anwendbarkeit der Mehrheitsregel zustande, kann eine solche Entscheidung jederzeit im Verlauf der Durchführung der gemeinsamen Aktion getroffen werden. Die gemeinsame Aktion ist damit in zweierlei Hinsicht ein neuartiges Instrument auf dem Gebiet der Außen- und Sicherheitspolitik. Zum einen ist eine gemeinsame Aktion für die Mitgliedstaaten bei ihren Stellungnahmen und ihrem Vorgehen verbindlich 49. Diese gegenüber der allgemeinen Loyalitätspflicht gesteigerte Bindungswirkung50 kommt auch darin zum Ausdruck, daß die Mitgliedstaaten im Rahmen der gemeinsamen Aktion geplante eigene Schritte so rechtzeitig mitteilen müssen, daß sie gegebenenfalls im Rat erörtert werden können51. Zum anderen sieht die GASP anders als die Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten im Rahmen der durch die EEA begründeten EPZ erstmals Entscheidungen des Rates vor, die nicht einstimmig ergehen müssen, sondern für die die Zustimmung durch die qualifizierte Mehrheit der Stimmen der Mitgliedstaaten genügt. Neben Fragen der Durchführung gemeinsamer Aktionen52 gilt dies auch für Verfahrensfragen 53. Die praktische Relevanz des Mehrheitsprinzips ist jedoch dadurch relativiert worden, daß es zunächst eines einstimmigen Ratsbeschlusses bedarf, der die Möglichkeit künftiger Mehrheitsbeschlüsse festlegt. Sieht ein gemeinsamer Standpunkt oder eine gemeinsame Aktion vor, die Wirtschaftsbeziehungen zu einem oder mehreren dritten Ländern auszusetzen, einzuschränken oder vollständig einzustellen, so trifft der Rat die erforderlichen Sofortmaßnahmen 54. Damit besteht durch die im Rat festgelegten gemeinsamen Standpunkte und gemeinsamen Aktionen die Möglichkeit, ein

49

Artikel J.3 Nr. 4 EUV.

50

Burghardt/Tebbe,

51

Artikel J.3 Nr. 5 EUV.

EuR 1995, S. 14.

52

Artikel J.3 Nr. 2 EUV. Es kann also nicht über das „Ob", sondern nur über das „Wie" einer gemeinsamen Aktion mit qualifizierter Mehrheit abgestimmt werden, Burghardt/Tebbe, EuR 1995, S. 15. 53 54

Artikel J.8 Abs. 2 Unterabsatz 2 EUV.

Artikel 228 a Halbsatz 1 EGV. Er beschließt auf Vorschlag der Kommission mit qualifizierter Mehrheit, Artikel 228 a Halbsatz 2 EGV. Die Notwendigkeit zum Tätigwerden der Gemeinschaft besteht immer dann, wenn die beschlossene Sanktion Maßnahmen erfordert, die in die Zuständigkeit der EG fallen, beispielsweise wenn es sich um handelspolitische Sanktionen handelt, Glaesner, EuR 1994, Beiheft 1, S. 36. Hinsichtlich des Vorschlags der Kommission ist allerdings zu berücksichtigen, daß diese an den völkerrechtlichen Beschluß der Mitgliedstaaten im Rahmen der GASP nicht gebunden ist. Sie kann also autonom entscheiden, ob und ggf. welchen Vorschlag sie machen will. Eine Stellungnahme des Europäischen Parlaments für die Beschlüsse nach Artikel 228 a EGV ist nicht vorgesehen.

I. Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik

177

ganzes Bündel von aufeinander abgestimmten Maßnahmen auf der Ebene der Europäischen Union zu ergreifen 55. Die im Vergleich zur EPZ intensivierte Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten auf dem Gebiet der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik wird unter Zuhilfenahme der Organe der Europäischen Gemeinschaft institutionell mit dieser verklammert. Gleichwohl ist die Außen- und Sicherheitspolitik keine Gemeinschaftspolitik. Die GASP ist vielmehr lediglich eine institutionell an die Europäische Gemeinschaft und an das Gemeinschaftsrecht angenäherte völkerrechtliche Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten. Dies wird schon dadurch deutlich, daß Beschlüsse im Rahmen der GASP nicht den in Artikel 189 EGV aufgelisteten Rechtsakten entsprechen. Die Anwendung des Gemeinschaftsrechts ist aufgrund Artikel J.l 1 EUV ausdrücklich auf einige Vorschriften beschränkt. Artikel J. 11 EUV erklärt lediglich diejenigen Vorschriften des EGVertrages für anwendbar, die die Zusammensetzung des Rates, der Kommission und des Europäischen Parlaments sowie die Regelung der Sprachenfrage betreffen. Die Trennung zwischen Gemeinschaftsrecht und der 1. Säule der Europäischen Union zeigt sich insbesondere bei der Willensbildung und dem Entscheidungsprozeß im Rahmen der GASP. Diese vollziehen sich nicht nach den Verfahrensvorschriften des EG-Vertrages. Das Europäische Parlament ist gemäß Artikel J.7 Absatz 1 EUV auf das Recht der Unterrichtung durch den Rat und die Möglichkeit der Darlegung seiner Auffassung beschränkt56. Es kann Anfragen an den Rat richten und es hat die Möglichkeit, aufgrund eines Jahresberichts Stellung zu nehmen. Die Anhörung des Europäischen Parlaments ist aber anders als im Rahmen des EG-Vertrages nicht Voraussetzung für die Beschlußfassung des Rates57. Zudem findet eine gerichtliche Kontrolle der Beschlüsse und Handlungen im Rahmen der GASP durch den EuGH gemäß Artikel L EUV nicht statt58. Auch die Rolle der Kommission unterscheidet sich

55 Die gemeinsame Aktion wird daher als Kernstück der GASP angesehen, Denkschrift zum Vertrag über die Europäische Union, S. 83; Baetge, BayVBl. 1992, S. 715. 56

Über den Umfang des Anhörungsrechts besteht zwischen dem Europäischen Parlament und dem Rat Uneinigkeit. Während das Europäische Parlament der Ansicht ist, daß die Anhörung jeder wichtigen Entscheidung vorausgehen muß und insofern formalisiert werden muß, vertritt der Rat die Auffassung, daß das Erscheinen seines Präsidenten vor dem zuständigen Parlamentsausschuß und der Bericht im Anhang zu den Schlußfolgerungen des Europäischen Rates die eigentliche Anhörung darstellen, Bericht der Kommission über die Funktionsweise des Vertrages über die Europäische Union, SEK (95) 731 endg., S. 14. 57

Glaesner, EuR 1994, Beiheft 1, S. 34; Lange, JZ 1996, S. 443.

58

Pache, Artikel L, Rn. 10, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), Kommentar zum EUV.

12 Uhrig

178

. Hoheitsrechtsübertragungen m

im Rahmen der GASP von der ihr nach dem EG-Vertrag zukommenden Rolle. Sie ist an den Arbeiten der Mitgliedstaaten zwar in vollem Umfang zu beteiligen 59 , sie besitzt aber kein Initiativmonopol. Ihre Aufgabe ist vielmehr die Artikulation der spezifischen Interessen der Europäischen Union 60 . Sie soll die Zuständigkeiten der Gemeinschaft wahren, gemeinsames Handeln anregen und das Gemeinschaftsinteresse durchsetzen61. Im Hinblick auf den Rat hat der EUVertrag im Vergleich zu den Regelungen der EPZ wichtige strukturelle Veränderung bewirkt. Die Außenminister der Mitgliedstaaten treffen sich, anders als im Rahmen der EPZ, nunmehr nicht mehr außerhalb des institutionellen Rahmens der Gemeinschaft 62, sondern im Gremium Rat 63 . Sie treffen ihre Entscheidungen dort jedoch nicht als Rat „der Gemeinschaft" i.S. des EGVertrages, sondern als Gremium, in dem die Entscheidungsträger der Nationalstaaten zusammentreffen. Der Rat handelt in der GASP nicht als Rat „der Gemeinschaft", sondern als bündelndes und koordinierendes Organ der Nationalstaaten64. Die Tatsache, daß die GASP nicht in den EG-Vertrag inkorporiert wurde und nicht Teil der Gemeinschaftsrechtsordnung ist 65 , zeigt, daß die Mitgliedstaaten die GASP nicht den Politiken der Europäischen Gemeinschaft zuordnen wollten. Grund hierfür ist, daß dies die Übertragung von Hoheitsrechten der Mitgliedstaaten auf die Europäische Gemeinschaft und ihre Organe erfordert hätte66. Das Ziel der GASP, nämlich die intensivere Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten in Fragen der Außen- und Sicherheitspolitik, soll statt dessen durch eine verbesserte Koordination der mitgliedstaatlichen Aktivitäten, insbesondere die Festlegung gemeinsamer Standpunkte, erreicht werden. Die Möglichkeit, diese in gemeinsame Aktionen zu überführen, stellt sowohl im rechtlichen als auch im verfahrensmäßigen Sinne67 keine Vergemeinschaftung 68 dar. Sie be-

59

Artikel J.9 EUV.

60

Lange, JZ 1996. S. 443.

61

Lange, JZ 1996, S. 443.

62

So aber Artikel 30 Abs. 3 lit. a EEA, der regelte, daß sich die „im Rat vereinigten Außenminister trafen". 63

Artikel J.8 Abs. 2 EUV. Oppermann/Classen, NJW 1993, S. 10, sehen hierin eine begrenzte Integration; Regelsberger, Integration 1992, S. 90, bezeichnet dies als Fusion von Außenministertreffen und Rat. 64

Regelsberger, Integration 1992, S. 90.

65

Krenzler/Schneider,

66

Weidenfels/Jung,

67

Wessels, Integration 1992, S. 14.

EuR 1994, S. 154; Schweitzer/Hummer, Integration 1993, S. 140.

S. 545.

I. Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik

179

dient sich zwar des institutionellen Rahmens der Europäischen Gemeinschaft und verklammert Europäische Gemeinschaft und GASP, doch verbleibt die außen- und sicherheitspolitische Verantwortung und Entscheidungsbefugnis uneingeschränkt bei den Mitgliedstaaten69. Die GASP stellt die völkerrechtliche Fortsetzung der EPZ dar, nicht den Beginn einer gemeinschaftsrechtlichen Außenpolitik70. Die Zusammenarbeit im Rahmen der GASP ist ebenso wie die EPZ ausschließlich eine völkerrechtlich vereinbarte Form des Zusammenwirkens, nicht dagegen ist sie von gemeinschaftsrechtlicher Rechtsnatur71. Die Mitgliedstaaten haben die GASP vielmehr als intergouvernementale Zusammenarbeit ausgestaltet72. Da sie nicht Teil der Gemeinschaftsrechtsordnung ist, besitzt der EuGH keine Rechtsprechungsbefugnisse in den Gebieten der GASP 73 . Hierdurch entsteht jedoch kein Bereich, der der gerichtlichen Überprüfung gänzlich entzogen ist. Da es sich bei der GASP um eine Form intergouvernementaler Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten handelt, sind die Stellungnahmen und gemeinsamen Aktionen im Rahmen der GASP völkerrechtlicher Rechtsnatur. Werden die Mitgliedstaaten durch sie zu nationalen Umsetzungsakten verpflichtet, sind diese Umsetzungsakte durch die nationalen Gerichte überprüfbar 74. Es handelt sich bei der GASP also nicht um eine Gemeinschaftspolitik, sondern um eine mittels einer völkerrechtlichen Vereinbarung koordinierte Politik der Mitgliedstaaten, bei der sich die Mitgliedstaaten zwar teilweise der Institutionen und Verfahren der Europäischen Gemeinschaft bedienen, bei der aber Handlungssubjekte und Entscheidungsträger ausschließlich die Mitgliedstaaten selbst bleiben75. Durch die Regelungen des EU-Vertrages im Bereich der GASP hat Deutschland nicht auf die Ausschließlichkeit der Ausübung seiner Staatsgewalt bei gleichzeitiger Duldung der Ausübung fremder Hoheitsgewalt auf seinem Territorium verzichtet. Im Rahmen der GASP werden damit keine Hoheitsrechte übertragen.

68

So ist der Begriff „Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik" nicht bedeutungsgleich mit den Begriffen „Gemeinsame Agrarpolitik" oder „Gemeinsame Handelspolitik", Krenzler,/Schneider, EuR 1994, S. 157. 69

12*

Stauffenberg/Langenfeld,

ZRP 1992, S. 254.

70

Weidenfels/Jung,

71

Herdegen, Europarecht, S. 283; Müller-Graff,

72

Statt vieler Schweitzer/Hummer,

73

Artikel L EUV.

74

So für die Bundesrepublik Deutschland BVerfGE 89, S. 155, 175. Klein, S. 6.

7 5

Classen, ZRP 1993, S. 61.

Integration 1993, S. 144; Burghardt/Tebbe,

EuR 1995, S. 4.

Integration 1993, S. 149.

S. 22.

. Hoheitsrechtsübertragungen m

180

II. Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres Fraglich ist, ob der EU-Vertrag im Bereich der zweiten Säule der Europäischen Union, der Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres, Hoheitsrechtsübertragungen vorsieht. Inhaltlich umfaßt die Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres: 1. die Asylpolitik; 2. die Vorschriften für das Überschreiten der Außengrenzen der Mitgliedstaaten durch Personen und die Ausübung der entsprechenden Kontrollen; 3. die Einwanderungspolitik und die Politik gegenüber Staatsangehörigen dritter Länder (...); 4. die Bekämpfung der Drogenabhängigkeit, soweit dieser Bereich nicht durch die Ziffern 7, 8 und 9 erfaßt ist; 5. die Bekämpfung von Betrügereien im internationalen Maßstab, soweit dieser Bereich nicht durch die Ziffern 7, 8 und 9 erfaßt ist; 6. die justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen; 7. die justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen; 8. die Zusammenarbeit im Zollwesen; 9. die polizeiliche Zusammenarbeit zur Verhütung und Bekämpfung des Terrorismus, des illegalen Drogenhandels und sonstiger schwerwiegender Formen der internationalen Kriminalität, erforderlichenfalls einschließlich bestimmter Aspekte der Zusammenarbeit im Zollwesen, in Verbindung mit dem Aufbau eines unionsweiten Systems zum Austausch von Informationen im Rahmen eines Europäischen Polizeiamtes (Europol).76 Sachlich knüpft die Zusammenarbeit an die bereits vor Inkrafttreten des EUVertrages außerhalb der Gemeinschaftsrechtsordnung praktizierte völkerrechtliche Zusammenarbeit einiger Mitgliedstaaten in Fragen der Justiz- und Innenpolitik 77 , insbesondere im Rahmen des Schengener Abkommens78 und des 76

Artikel Κ. 1 EUV.

77

Akmann, JA 1994, S. 51.

78

Die Regierungen der Beneluxstaaten, Deutschlands und Frankreichs haben am 14.06.1985, GMB1. 1986 S. 79, ein Übereinkommen betreffend den schrittweisen Abbau von Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen geschlossen. Ihm sind inzwischen Portugal, Spanien, Italien, Griechenland, Österreich sowie Dänemark, Schweden und Finnland beigetreten. Norwegen und Island sind dem Abkommen ebenfalls beigetreten, besitzen aber im Exekutivausschuß lediglich einen Beobachterstatus. Ein Zusatzabkommen vom 19.06.1990 zur Durchführung dieses Übereinkommens (Schengen II), BGBl. 1993 II S. 1013, sieht den grundsätzlichen Wegfall aller Personenkontrollen bei Überschreiten der Binnengrenzen zwischen den Vertragsparteien vor. An deren Stelle treten Kontrollen an den Außengrenzen, die in nationaler Zuständigkeit, aber nach einheitlichen Grundsätzen durchgeführt werden. Die Vertragsparteien verpflichten sich, an den Außengrenzen Personen, die nicht über die Staatsangehörigkeit eines Mitglied-

II. Zusammenarbeit Justiz und Inneres

181

Dubliner Abkommens zur Binnengrenzöflhung 79, an 8 0 . Doch werden die Regelungen zur Innen- und Justizpolitik durch den EU-Vertrag für sämtliche Mitgliedstaaten verbindlich festgelegt 81. In Fragen der Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres unterrichten und konsultieren sich die Mitgliedstaaten nunmehr im Rat zum Zweck der Koordinierung ihrer Maßnahmen82. Zur Koordinierung der Tätigkeiten der Mitgliedstaaten in den Bereichen Justiz und Inneres wird ein Koordinierungsausschuß eingesetzt, der außerdem Stellungnahmen an den Rat richten kann 83 . In den in Artikel K.l Nr. 1 - 6 EUV geregelten Bereichen kann der Rat auf Vorschlag eines Mitgliedstaates oder der Kommission, in den in Nr. 7 - 9 geregelten Bereichen nur auf Initiative eines Mitgliedstaates gemeinsame Standpunkte festlegen sowie in geeigneter Form und nach geeigneten Verfahren jede Art der Zusammenarbeit fördern, die den Zielen der Union dient 84 . Er kann darüber hinaus gemeinsame Maßnahmen annehmen85, soweit sich die Ziele der Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres durch gemeinsames Vorgehen besser verwirklichen lassen als durch einzelstaatliche Maßnahmen86. Der staates der EG verfügen, nur dann einreisen zu lassen, wenn diese im Besitz eines gültigen Grenzübertrittpapiers und, sofern erforderlich, eines Sichtvermerks sind. Das Schengener Abkommen ist am 26.03.1995 in Kraft getreten, allerdings gilt es aus technischen und rechtlichen Gründen noch nicht in Griechenland und Österreich. 79

Das Übereinkommen über die Bestimmung des zuständigen Staates für die Prüfung eines in einem Mitgliedstaat der EG gestellten Asylantrags, Bulletin der EG 6/1990, S. 157 ff., regelt die ausschließliche Zuständigkeit für die Behandlung eines in einem der Vertragsstaaten gestellten Asylantrags durch einen einzigen Staat, der entsprechende Übernahmeverpflichtungen zu tragen hat. Die unterschiedlichen nationalen Asyl- und Asylverfahrensvorschriften werden durch dieses Abkommen nicht berührt. 80

Oppermann/Classen, NJW 1993, S. 10.

81

Akmann, JA 1994, S. 52; Nanz, Integration 1992, S. 126.

82

Artikel K.3 Abs. 1 EUV.

83

Artikel K.4 EUV.

84

Artikel K.3 Abs. 2 lit. a EUV.

85

Die unterschiedliche Bezeichnung der Handlungsformen, die im Bereich der GASP als „Aktionen", im Bereich der Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres als „Maßnahme" bezeichnet wird, hat keinen qualitativen Unterschied oder gar eine qualitative Abstufung der Handlungsformen zur Folge. Während für den Bereich der GASP der schon im Rahmen der EPZ verwendete Begriff übernommen wurde, wurde für die Handlungsformen im Rahmen der Zusammenarbeit in den Bereichen Inneres und Justiz eine neue Bezeichnung gewählt. Diese in der deutschen Fassung des EUV gegebene Unterscheidung findet sich nicht in der englischen und der französischen Fassung. 86

Artikel K.3 Abs. 2 lit. b EUV.

182

. Hoheitsrechtsübertragungen m

Rat kann des weiteren Übereinkommen ausarbeiten, die er den Mitgliedstaaten zur Annahme gemäß ihren verfassungsrechtlichen Vorschriften empfiehlt 87. Das wichtigste Beispiel für den Abschluß eines solches Abkommen ist das Übereinkommen zur Schaffung von Europol 88. Mit diesem soll eine besondere Form der zwischenstaatlichen Zusammenarbeit zur Verbesserung der Sicherheit der Bürger geschaffen werden 89. Auf der Grundlage des Übereinkommens soll ein Europäisches Polizeiamt (Europol) eingerichtet werden 90. Die Europol hat das Ziel, durch die Sammlung von Informationen, deren Auswertung und Übermittlung an die Mitgliedstaaten Entwicklung und Organisationsstruktur der international operierenden Schwerkriminalität in den EU-Staaten und über ihre Grenzen hinaus auf der Grundlage eines aus vielen Quellen zusammengeführten Datenmaterials zu analysieren und auf diesem Wege die Leistungsfähigkeit der zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten und ihre Zusammenarbeit zu verbessern 91. Während die Staats- und Regierungschefs über das Übereinkommen zur Schaffung von Europol bereits anläßlich ihrer Tagung in Cannes Einigung erzielt hatten92, scheiterte die Ratifizierung und Umsetzung an der fehlenden Einstimmigkeit im Hinblick auf die Frage, ob Meinungsverschiedenheiten im Zusammenhang mit der Auslegung bzw. der Anwendung der Konvention dem EuGH zur Klärung vorgelegt werden sollten. Großbritannien lehnte eine Zuständigkeit des EuGH, das Europol-Übereinkommen im Wege der Vorabentscheidung auszulegen, kategorisch ab, da die Europol in diesem Fall einen Status erlange, der über den eines reinen Koordinationsorgans zwischen den Mitgliedstaaten hinausgehe93. Auf der Sitzung des Europäischen Rates am 21./22. Juni 1996 in Florenz erzielten die Staats- und Regierungschefs einen Kompromiß. Dieser besteht darin, daß dem Übereinkommen ein Protokoll beigefügt wird, welches Großbritannien die Möglichkeit gibt, darauf zu verzichten,

87

Diese Übereinkommen unterscheiden sich von „normalen" völkerrechtlichen Verträgen vor allem dadurch, daß sie formell nicht im diplomatischen Prozeß der mehrphasigen Vertragssehlußverfahren i.S. der Artikel 9 ff. Wiener Vertragsrechtskonvention, sondern im Rahmen des Rates ausgearbeitet werden, und materiell dem Kohärenzund Kontinuitätsgebot des Artikels C EUV unterliegen, Schweitzer/Hummer, S. 305. 88

ABl. 1995 Nr. C 316 S. 1.

89

Schlußfolgerung des Europäischen Rates von Cannes, Bulletin der EU 6/95,

S. 16. 90

Artikel 3 Abs. 1 Europol-Übereinkommen.

91

Zieschang, ZRP 1996, S. 428; Nanz, S. 145.

92

Schlußfolgerung des Europäischen Rates von Cannes, Bulletin der EU 6/95,

S. 16. 93

Hierzu ausführlich Zieschang, ZRP 1996, S. 427.

II. Zusammenarbeit Justiz und Inneres

183

den EuGH im Wege der Vorabentscheidung anzurufen 94. Artikel 2 Absatz 1 des Protokolls erlaubt es aber den anderen Mitgliedstaaten, zum Zeitpunkt der Unterzeichnung des Protokolls oder zu jedem anderen späteren Zeitpunkt die Zuständigkeit des EuGH zur Auslegung des Europol-Abkommens anzuerkennen. Gemäß Artikel 2 Absatz 2 des Protokolls kann der Mitgliedstaat, der eine solche Erklärung abgegeben hat, angeben, ob die Möglichkeit der Anrufung des EuGH zur Vorabentscheidung entweder nur den letztinstanzlichen Gerichten vorbehalten ist oder ob sie jedem Gericht offenstehen soll. Auf diesem Wege konnte die erforderliche Einstimmigkeit erzielt werden und das Übereinkommen sowie das Protokoll den Mitgliedstaaten zur Annahme gemäß ihren verfassungsrechtlichen Vorschriften empfohlen werden 95. Im Rahmen der Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres beschließt der Rat grundsätzlich einstimmig. Dies gilt jedoch nicht in Verfahrensfragen und in den Fällen, in denen Artikel K.3 EUV etwas anderes vorsieht 96: Sofern etwa Übereinkommen, die gemäß Artikel K.3 Absatz 2 lit. c EUV zustande kommen, nichts anderes bestimmen, werden etwaige Maßnahmen zur Durchführung der Übereinkommen im Rat mit der Mehrheit von zwei Dritteln der Stimmen angenommen97. Ein weiteres Beispiel ist Artikel K.2 Absatz 3 lit. b EUV: Obgleich der Rat die Annahme gemeinsamer Standpunkte und Maßnahmen normalerweise einstimmig beschließt, sieht Artikel K.2 Absatz 3 lit. b EUV vor, daß der Rat beschließen kann, daß Maßnahmen zur Durchführung einer gemeinsamen Maßnahme mit qualifizierter Mehrheit angenommen werden. Die Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres wurde - ebenso wie diejenige im Bereich der GASP - außerhalb des EG-Vertrages angesiedelt, sie ist kein Gemeinschaftsrecht 98. Sie ist zwar institutionell mit der Europäischen Gemeinschaft verklammert, aber Artikel K.8 EUV beschränkt die Anwendung des Gemeinschaftsrechts ausdrücklich auf Vorschriften, die die Zusammensetzung des Rates, der Kommission und des Parlaments sowie die Sprachenfrage betreffen. Auch im Rahmen der Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres werden die Gemeinschaftsorgane nicht entsprechend 94 Protokoll betreffend die Auslegung des Übereinkommens über die Errichtung eines Europäischen Polizeiamtes durch den Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften im Wege der Vorabentscheidung, ABl. 1996 Nr. C 299 S. 1. 95

Schlußfolgerungen des Rates von Florenz, Agence Europe 23.06.1996, S. 9.

96

Artikel K4 Abs. 3 EUV.

97

Artikel K.3 Abs. 2 Spiegelstrich 2 lit. c EUV.

98

Eine Ausnahme bildet die Visapolitik, für die Artikel 100 c EGV erstmals eine Gemeinschaftskompetenz geschaffen hat, zu den bisherigen Ergebnissen in diesem Bereich Nanz, S. 135 ff.

184

. Hoheitsrechtsübertragungen m

den Regelungen des EG-Vertrages am Rechtsetzungsprozeß beteiligt. Gemäß Artikel K.6 EUV ist das Europäische Parlament lediglich regelmäßig zu unterrichten, zu den wichtigsten Aspekten anzuhören, und seine Auffassung ist gebührend zu berücksichtigen". Mitentscheidungsbefugnisse entsprechend den Regelungen des EG-Vertrages stehen dem Europäischen Parlament nicht zu. Der EU-Vertrag sieht grundsätzlich nicht die Möglichkeit der gerichtlichen Überprüfung der Maßnahmen im Rahmen der Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres durch den EuGH vor 1 0 0 . Soweit die Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten im Rat und mit Beteiligung der Kommission geschieht, handeln diese trotz der „Organleihe" der Europäischen Gemeinschaft nicht als Organe der Gemeinschaft. Die 2. Säule der Europäischen Union ist dennoch nicht lediglich die Festschreibung des bisher erreichten Standes der völkerrechtlichen Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten, denn die Zusammenarbeit in diesen Bereichen vollzieht sich angesichts der institutionellen Anbindung an die Organe der Gemeinschaft nunmehr nicht mehr außerhalb der Institutionen der Gemeinschaft. Darüber hinaus kann mittels der Evolutivklausel des Artikels K.9 EUV der Rat auf Initiative der Kommission oder eines Mitgliedstaates einstimmig beschließen101, daß für die in Artikel K.l Ziff. 1 - 6 EUV aufgeführten Bereiche das Verfahren des Artikels 100 c E G V 1 0 2 Anwendung findet 103 . Aufgrunddessen besteht die Möglichkeit, diese Bereiche der Justiz- und Innenpolitik der Mitgliedstaaten nachträglich zu „vergemeinschaften" 104. Es wird die Möglichkeit geschaffen, durch einstimmigen Ratsbeschluß und dessen Annahme in den

99

Artikel K.6 Abs. 1 und 2 EUV.

100

Artikel L EUV. Ausnahme bilden gemäß Artikel L lit. c EUV Übereinkommen, die gemäß Artikel K.3 Abs. 2 lit. c Unterabsatz 3 EUV Zustandekommen. 101

Der Rat kann gleichzeitig das Abstimmungsverfahren im Rahmen des Artikels 100 c EGV festlegen, Artikel K.9 letzter Halbsatz EUV. 102 Dieser enthält eine gemeinschaftsrechtliche Kompetenz zur Visapflicht und -gestaltung. Danach bestimmt der Rat einstimmig, ab 1996 mit qualifizierter Mehrheit, die Drittländer, deren Staatsangehörige beim Überschreiten der Außengrenzen der EG im Besitz eines Visums sein müssen, Artikel 100 c Abs. 1 EGV. Darüber hinaus kann bei Notlagen in einem Drittland, die zu einem plötzlichen Zustrom von Staatsangehörigen dieses Landes in die EG zu fuhren drohen, der Rat mit qualifizierter Mehrheit für einen Zeitraum von höchstens sechs Monaten den Visazwang für Staatsangehörige dieses Landes einführen. Über diesen Zeitraum hinaus kann der Visazwang nach dem Verfahren des Abs. 1 verlängert werden, Artikel 100 c Abs. 2 EGV. 103

Nanz, Integration 1992, S. 131, beschreibt Artikel 100 c EUV aus diesem Grund als den fortgeschrittensten Teil der Bestimmungen zur Innen- und Justizpolitik. 104

Klein/Haratsch, 1994, S. 53.

DÖV 1993, S. 796; Baetge, BayVBl. 1992, S. 716; Akmann, JA

III. Artikel F Absatz 3 EUV

185

Mitgliedstaaten nach deren verfassungsrechtlichen Vorschriften die völkerrechtliche Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres in Gemeinschaftsrecht zu überführen 105. Solange von dieser Möglichkeit kein Gebrauch gemacht wird, bleibt die Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres eine intergouvernementale Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten in der Form völkerrechtlicher Verträge 106 . Insofern verbleibt den Mitgliedstaaten die uneingeschränkte nationale Zuständigkeit in Fragen der Justiz- und Innenpolitik. Eine Übertragung von Hoheitsrechten findet daher mit den Bestimmungen des EU-Vertrages über die Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres nicht statt.

I I I . Artikel F Absatz 3 EU-Vertrag Fraglich ist, ob durch Artikel F Absatz 3 EUV Hoheitsrechte auf die Europäische Union selbst übertragen worden sind oder ob dieser gar eine Kompetenz-Kompetenz der Europäischen Union begründet. Gemäß Artikel F Absatz 3 EUV (stattet sich) die Gemeinschaft (...) mit den Mitteln aus, die zum Erreichen ihrer Ziele und zur Durchführung ihrer Politiken erforderlich sind. Artikel F Absatz 3 EUV wurde die Funktion zugesprochen, der Europäischen Union den Einsatz aller Maßnahmen, die sie zur Verwirklichung ihrer Politiken und zur Erreichung ihrer Ziele für erforderlich hält, zu gestatten. Insbesondere wurde Artikel F Absatz 3 EUV als Norm verstanden, die die Europäische Union ermächtigt, sich selbst zukünftig aus eigener Machtvollkommenheit mit allen Kompetenzen und Mitteln auszustatten, die ihr für ihre Politiken sinnvoll erscheinen107. Die einsetzbaren Mittel bezögen sich auf den gesamten Zielkatalog des Artikels Β E U V 1 0 8 . Artikel F Absatz 3 EUV enthalte daher nicht lediglich einen Programmsatz, sondern habe einen eigenständigen kompetenziellen Regelungsgehalt. Das Selbstausstattungsrecht umfasse nicht nur finanzielle Mittel, sondern beinhalte die Möglichkeit der Inanspruchnahme aller Kompetenzen und Instrumente, die erforderlich seien, um die Ziele und Politiken der Europäischen

105

Nanz, Integration 1992, S. 134.

106

Nanz, Integration 1992, S. 126; Akmann, JA 1994, S. 53; Weidenfels/Jung, gration 1993, S. 138; Blanke, DÖV 1993, S. 416; Schweitzer/Hummer, S. 22. 107 Schachtschneider u.a., JZ 1993, S. 753 f.; Ress, JuS 1992, S. 987. Wolf, 1993, S. 596 unterscheidet diesbezüglich zwischen der EG, für die unverändert das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung gelte und der EU, für die aufgrund Artikel F Abs. 3 EUV eine Generalermächtigung bestehe. 108

Schachtschneider u.a., JZ 1993, S. 753.

InteJZ

186

. Hoheitsrechtsübertragungen m

Union durchzuführen und zu erreichen 109. Gegen die Beschränkung lediglich auf finanzielle Mittel spreche zum einen, daß Finanzmittel für die Verwirklichung der Ziele des Artikels Β EUV keinesfalls ausreichen. Zum anderen spreche auch der Wortlaut des EG-Vertrages gegen eine derart restriktive Auslegung, denn der EG-Vertrag enthalte bereits umfassende Regelungen für die finanzielle Ausstattung der gemeinschaftlichen Politiken 110 . Das durch Artikel F Absatz 3 EUV begründete Selbstausstattungsrecht führe zu einer Kompetenz-Kompetenz111. Der EU-Vertrag begründe also durch Artikel F Absatz 3 EUV das Prinzip offener und unbeschränkter Ermächtigung zugunsten der Europäischen Union 1 1 2 . Dieser Auslegung des Artikels F Absatz 3 EUV ist jedoch zu Recht widersprochen worden. Er ermächtigt die Europäische Union nicht, sich aus eigener Kompetenz die Finanz- und sonstigen Handlungsmittel zu verschaffen, die sie zur Erfüllung ihrer Zwecke für erforderlich erachtet 113. Dies ergibt sich sowohl aus der Rechtsnatur der Europäischen Union wie auch aus dem Wortlaut und dem Regelungszusammenhang des Artikels F Absatz 3 EUV. Erstes Argument gegen eine Einordnung des Artikels F Absatz 3 EUV als Kompetenznorm ist, daß die Europäische Union keine Rechtspersönlichkeit besitzt 114 . Da sie folg-

109

Die durch die deutsche Textfassung naheliegende Assoziation des Wortes „Mittel" mit den „Finanzmitteln" des Artikels 201 EGV werde durch die englische und französische Fassung nicht bestätigt. Der restriktiven Deutung des Begriffes „Mittel" stehe auch entgegen, daß der EUV und der EGV für die finanzielle Absicherung der gemeinschaftlichen Politiken bereits umfassende Regelungen vorsehe, Schachtschneider u.a., JZ 1993, S. 753. 110

So enthielten Artikel J.l 1 Abs. 2 EUV für den Bereich der GASP und Artikel K.8 Abs. 2 EUV für den Bereich der Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres detaillierte Bestimmungen. Die Eigenmittelausstattung der EG werde in Artikel 201 EGV geregelt und die Fonds der EG als Instrumente des Finanzausgleichs zwischen den Mitgliedstaaten fänden in Artikel 130 a ff. EGV ihre Ermächtigungsgrundlage, Schachtschneider u.a., JZ 1993, S. 753. 111

Schachtschneider u.a., JZ 1993, S. 753; ders., Aus Politik und Zeitgeschichte, 28/1993, S. 10; Wolf, JZ 1993, S. 596; Ress, JuS 1992, S. 987; wohl auch Kirchner/Haas, JZ 1993, S. 761. 112

Schachtschneider u.a., JZ 1993, S. 751, kommen daher zu dem Schluß, daß Artikel F Abs. 3 EUV das formale Bekenntnis zur Fortgeltung des Prinzips der begrenz-ten Einzelermächtigung zur Inhaltsleere relativiere. 113

Ausführlich und überzeugend BVerfGE 89, S. 155, 194; grundlegend Hilf Artikel F, Rn. 49 f. m.w.N., in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), Kommentar zum EUV. 114

Hierzu ausführlich Hilf/Pache, Artikel A, Rn. 25 ff., in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), Kommentar zum EUV; Klein, F., Artikel 23, Rn. 6, in: Schmidt-B leibtreu/Klein, Kommentar zum GG.

III. Artikel F Absatz 3 EUV

187

lieh kein selbständiges Rechtssubjekt ist, kann sie auch nicht Träger eigener Kompetenzen sein 115 . Ebensowenig kann eine Einordnung als Kompetenznorm aus dem Wortlaut des Artikels F Absatz 3 EUV geschlossen worden. Vielmehr stattet die Europäische Union „sich" in gleicher Weise mit Mitteln aus, wie sie „sich" in Artikel Β EUV Ziele setzt: Der EU-Vertrag versteht die Europäische Union in diesen Normen nicht als eigenständiges Rechtssubjekt, sondern als Bezeichnung für die gemeinsam handelnden Mitgliedstaaten; diese geben der Union Ziel und Mittel vor 1 1 6 . Dies wird durch die Regelungen der 1. und 2. Säule der Europäischen Union bestätigt. Könnten die Ziele des Artikels Β Spiegelstriche 2 und 4 EUV unter Anwendung des Artikels F Absatz 3 EUV mit eigenen Mitteln der Union verwirklicht werden, so wäre Artikel K.9 EUV, der selbst die vereinfachte Verlagerung einiger Teilbereiche der Zusammenarbeit im Bereich Justiz und Inneres in die Zuständigkeit der Europäischen Gemeinschaft von der vorherigen Ratifikation durch die Mitgliedstaaten abhängig macht, unverständlich und überflüssig. Gleiches gilt für Artikel Β Spiegelstrich 5 EUV, der im Hinblick auf die Weiterentwicklung des gemeinschaftlichen Besitzstandes das Verfahren des Artikels Ν Absatz 2 EUV auch für den Fall vorsieht, daß die Regelungen der 1. und 2. Säule mit dem Ziel zu revidieren sind, die Wirksamkeit der Mechanismen und Organe der Europäischen Gemeinschaft sicherzustellen117. Schließlich fehlt Artikel F Absatz 3 EUV die verfahrensrechtliche Ergänzung, die ihn zu einer Ermächtigungsnorm machen könnte. Im Gegensatz zu sämtlichen Ermächtigungsnormen des Gemeinschaftsrechts enthält Artikel F Absatz 3 EUV nämlich keinerlei verfahrensrechtliche Bestandteile. Er bestimmt nicht, nach welchen der gemeinschaftsrechtlichen Regelungen mit welchen Mehrheiten welche Rechtsakte sollen erlassen werden können. Im Gemeinschaftsrecht wird bei Ermächtigungsnormen aber stets ein bestimmtes Beschlußrecht auf ein bestimmtes Organ übertragen und das Entscheidungsverfahren, insbesondere die Beteiligung anderer Organe, geregelt; des weiteren wird regelmäßig auch die zur Beschlußfassung notwendige Mehrheit bestimmt118. Das Fehlen dieser für eine Ermächtigungsnorm zwingend erforderlichen Regelungen macht deutlich, daß Artikel F Absatz 3 EUV keine Ermächtigungsnorm sein kann 119 . Statt dessen unterstreicht Artikel F Absatz 3 EUV lediglich die Entwicklungsoffenheit der Union, wie sie in Artikel A Ab-

1,5

Baetge, BayVBl. 1992, S. 711; Klein/Haratsch, VVDStRL 53 (1994), S. 30. 116

DÖV 1993, S. 788; Stein,

BVerfGE 89, S. 155, 195.

117

BVerfGE 89, S. 155, 196.

118

Hilf, Artikel F, Rn. 52, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), Kommentar zum EUV.

119

Götz, JZ 1993, S. 1083; Tomuschat, EuGRZ 1993, S. 492; Ipsen, H. P., EuR 1994, S. 4; Hilf Artikel F, Rn. 54, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), Kommentar zum EUV.

188

. Hoheitsrechtsübertragungen m

satz 2 und Artikel Β EUV angelegt ist. Er hebt als Entwicklungsperspektive der Europäischen Union die mehrfach im Vertragstext als politisches Ziel vorgesehene Verwirklichung einer immer engeren Union der Völker Europas heraus, deren Weiterentwicklung nach dem Verfahren des Artikels Ν Absatz 2 EUV und nicht unter Ausnutzung einer eigenen umfassenden Zuständigkeit der Europäischen Union erfolgen soll 1 2 0 . Artikel F Absatz 3 EUV bekundet lediglich die politisch-programmatische Absicht der Mitgliedstaaten, die Europäische Union mit hinreichenden Mitteln auszustatten121. Diese Ansicht vertritt auch der Bundestag. Er legt Wert auf die Feststellung, daß Artikel F Absatz 3 EUV keine Kompetenz-Kompetenz der Union begründet. Es handele sich um einen Programmsatz, nicht um eine Ermächtigungsnorm. Artikel F Absatz 3 EUV sei im Zusammenhang mit Artikel Β letzter Absatz EUV zu lesen, der die Tätigkeit der Europäischen Union an die Bedingungen und die Zeitfolge des Vertrages und die Beachtung des Subsidiaritätsprinzips binde 122 . Dem steht auch nicht die Schlußfolgerung des Europäischen Rates von Edinburgh entgegen, daß das Subsidiaritätsprinzip den Grundsatz des Artikels F Absatz 3 EUV nicht in Frage stellen dürfe. Diese Feststellung muß vielmehr im Zusammenhang damit gesehen werden, daß die Anwendung des Subsidiaritätsprinzips nicht die hergebrachten Grundsätze des Gemeinschaftsrechts wie das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung, die Wahrung des gemeinschaftlichen Besitzstandes und den Vorrang des Gemeinschaftsrechts berühren dürfe. Zu den hergebrachten Grundsätzen gehört eine Kompetenz-Kompetenz der Gemeinschaft aber gerade nicht 123 . Artikel F Absatz 3 EUV ist also keine umfassende Handlungsermächtigung zugunsten der Europäischen Union. Seine Bedeutung beschränkt sich allein auf die einer integrationspolitischen Absichtserklärung 124. Er bekräftigt, daß die Mitgliedstaaten dem Wirken der Europäischen Union ihre Unterstützung nicht verweigern dürfen und daß für sie eine Pflicht zur Loyalität und Solidarität bei der Verwirklichung der Ziele der Union besteht125. Er ist somit keine Vorschrift, die eine Kompetenz-Kompetenz der Europäischen Union begründet oder irgendwie geartete Hoheitsrechtsübertragungen auf die Europäische Union vornimmt.

120

Pernice , Der Staat 1993, S. 455.

121

BVerfGE 89, S. 155, 194. Tomuschat, EuGRZ 1993, S. 492; Wieland, 1994, S. 264; Everling, DVBI. 1993, S. 941; Herdegen,, Europarecht, S. 50. 122

BT-Dr. 12/3895, S. 17.

123

BVerfGE 89, S. 155, 198.

124

EJIL

Götz, JZ 1993, S. 1083; Pernice , Der Staat 1993, S. 455, Fn. 39; Schweitzer/Hummer, S. 301. 125

Tomuschat, EuGRZ 1993, S. 492.

IV. Europäische Gemeinschaft

189

IV. Europäische Gemeinschaft Fraglich ist schließlich, ob und in welchem Umfang durch den EU-Vertrag im Zuge der Änderung der bereits zuvor bestehenden Gemeinschaftsverträge, also in der 3. Säule der Europäischen Union, Hoheitsrechte übertragen worden sind. Grundlage der 3. Säule der Europäischen Union ist die Europäische Gemeinschaft 126 . Um die Ziele der Europäischen Union, nämlich die Förderung eines ausgewogenen und dauerhaften wirtschaftlichen und sozialen Fortschritts, insbesondere durch Schaffung eines Raumes ohne Binnengrenzen, durch Stärkung des wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhaltes und durch Errichtung einer Wirtschafts- und Währungsunion (...). 1 2 7 verwirklichen zu können, wurde insbesondere der frühere EWG-Vertrag, der nunmehr als EG-Vertrag bezeichnet wird, geändert. Die Änderungen, bei denen vor allem eine Übertragung von Hoheitsrechten vorliegen kann, sind die Vorschriften über die Unionsbürgerschaft (1.), die Regelungen betreffend die Sozialpolitik (2.), die Politiken der allgemeinen und beruflichen Bildung, der Kultur, des Gesundheitswesens, des Verbraucherschutzes, der Industrie und der Entwicklungszusammenarbeit (3.), die Regelungen über die Wirtschaftsunion (4.) sowie die Vorschriften über die Währungsunion (5.).

1. Unionsbürgerschaft Neu in den EG-Vertrag aufgenommen wurden Vorschriften über eine Unionsbürgerschaft 128. Fraglich ist, ob dadurch Hoheitsrechte auf die Europäische Gemeinschaft übertragen wurden, insbesondere ob die Unionsbürgerschaft die nationalen Regeln des Staatsangehörigkeitsrechts inhaltlich verändert oder ablöst. Die Idee einer Unionsbürgerschaft wurde 1974 erstmals offiziell aufgebracht 129 . Durch sie sollte der Wirtschaftsgemeinschaft das „Europa der Bürger" gegenübergestellt werden. Die Vorschläge gingen dahin, ein von der Ausübung einer Erwerbstätigkeit unabhängiges allgemeines Aufenthaltsrecht in der Gemeinschaft sowie das aktive und passive Wahlrecht und den gleichbe126

Artikel A Unterabsatz 3 EUV.

127

Artikel Β Spiegelstrich 1 EUV.

128

Denkschrift zum Vertrag über die Europäische Union, S. 86.

129

Beschluß des Europäischen Rates, Bulletin der EG, Beilage 7/85, S. 5; Schweitzer/Hummer., S. 253.

190

Β. Hoheitsrechtsübertragungen im EUV

rechtigten Zugang zu öffentlichen Ämtern auf Kommunalebene einzuführen 130. 1984 griff Artikel 3 des Entwurfes des Vertrages zur Gründung der Europäischen Union 1 3 1 die Idee der Unionsbürgerschaft erneut auf. Danach sollten die Bürger der Mitgliedstaaten als solche Bürger der Union sein. Die Unionsbürgerschaft sollte an die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaates gebunden sein und nicht selbständig erworben oder verloren werden können 132 . Der Vertrag über die Europäische Union greift dies in den Artikeln 8 ff. EGV auf. Anknüpfungspunkt für die gemäß Artikel 8 EGV eingeführte Unionsbürgerschaft ist die Staatsangehörigkeit des einzelnen in einem der Mitgliedstaaten: Unionsbürger ist, wer die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaaten besitzt. 133 Die Unionsbürgerschaft setzt somit die Staatsangehörigkeit in einem der Mitgliedstaaten voraus. Die Unionsbürgerschaft kann also nicht selbständig erworben oder verloren werden. Wie die Staatsangehörigkeit in einem der Mitgliedstaaten erworben wird, beurteilt sich ausschließlich nach nationalem Recht 134 . Das Staatsangehörigkeitsrecht steht folglich nach wie vor uneingeschränkt den Mitgliedstaaten z u 1 3 5 . Dies hat der Europäische Rat auf seiner Tagung am 11./12. Dezember 1992 bestätigt136, indem er festgestellt hat, daß die Frage, ob eine Person die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaates besitzt, einzig und allein auf der Grundlage des innerstaatlichen Rechts des betreffenden Mitgliedstaates geregelt werde. Die Unionsbürgerschaft verdrängt in der 130

Bulletin der EG, Beilage 7/85, S. 21 führt diese „besonderen Bürgerrechte" auf.

131

Sog. Spinelli-Entwurf, ABl. 1984 Nr. C 77 S. 33 ff.

132

Vgl. zu Artikel 3 auch Capotorti, in: ders./Hilf/Jacobs/Jacque, S. 48 ff.

133

Artikel 8 Abs. 1 Unterabsatz 2 EGV.

134

Bleckmann, DVB1. 1992, S. 336. Der EGV stellt nicht einmal Mindeststandards für die Verleihung der Staatsangehörigkeit der Mitgliedstaaten auf, Herdegen, Europarecht, S. 177. 135 136

Baetge, BayVBl. 1992, S. 712.

Schlußfolgerungen des Europäischen Rates, EA 1992, S. D 24. Dänemark gab dort eine einseitige Erklärung zur Unionsbürgerschaft ab, die der dänischen Ratifikationsurkunde beigefügt wurde und die von den elf anderen Vertragsstaaten zur Kenntnis genommen wurde. Dänemark erklärt darin insbesondere, seine Auffassung, daß der EUV keine Verpflichtung zur Schaffung einer Unionsbürgerschaft i.S. der Staatsangehörigkeit eines Nationalstaates vorsieht, daß die Unionsbürgerschaft keinerlei Anrecht auf Erwerb der dänischen Staatsangehörigkeit und den damit verbundenen Rechten, Pflichte, Vorrechten und Vorteilen gibt und daß es nicht gewillt ist hinzunehmen, daß die Regelungen des Artikels 8 b Abs. 1 und 2 EGV gegebenenfalls zu Regelungen führen, die die in Dänemark bereits gewährten Rechte einschränken, EA 1992, S. D 25 f. Zur Sonderrolle Dänemarks Schuster, EuZW 1993, S. 179.

IV. Europäische Gemeinschaft

191

Folge auch nicht die Zugehörigkeit des einzelnen zu seinem Staat und die damit verbundenen Rechte und Pflichten 137 . Die Unionsbürgerschaft verleiht den Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten das Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten 138 . Damit wird die bisher durch die Ausübung einer Berufstätigkeit begründete Personenfreiheit des EWG-Vertrages 139 dahingehend ausgeweitet, daß die Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten nunmehr ein allgemeines Aufenthaltsrecht unabhängig davon besitzen, ob sie einer Erwerbstätigkeit nachgehen oder nicht 140 . Diskriminierungen aus Gründen der Staatsangehörigkeit sind nunmehr nicht nur im wirtschaftlichen, sondern auch im staatsbürgerlichpolitischen Bereich weitgehend untersagt. Dies zeigt sich beispielsweise daran, daß Unionsbürger mit Wohnsitz in einem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit sie nicht besitzen, ihr Wahlrecht bei Kommunalwahlen und den Wahlen zum Europäischen Parlament an ihrem jeweiligen Wohnort zu denselben Bedingungen wie die Staatsangehörigen des betreffenden Mitgliedstaates ausüben können 141 . Die Einzelheiten sind für die Kommunalwahlen142 und die Europa-

137

Der Begriff der Unionsbürgerschaft ist damit insofern mißverständlich, als durch sie keine eigene Unions-Angehörigkeit i. S. einer Staatsangehörigkeit begründet wird. Gleichwohl entsteht dadurch eine Besserstellung der Angehörigen der Mitgliedstaaten gegenüber Drittstaatenangehörigen, die auf einem gemeinsamen inter-se-Status der Unionsbürger im Verhältnis zu Staatsangehörigen aus Drittstaaten beruht, Oppermann/Classen, NJW 1992, S. 7. 138

Artikel 8 a Abs. 1 EGV.

139

Artikel 48 ff. EWGV.

140

Degen, DÖV 1993, S. 749; Bleckmann, DVBI. 1992, S. 336; Klein/Haratsch, DÖV 1993, S. 788; Baetge, BayVBl. 1992, S. 712; Hobe, Der Staat 1993, S. 255. Vgl. hierzu schon die Überlegungen bei van den Berghe/Huber, S. 757 ff., die auf die Versuche hinweisen durch Begriffe wie „Community citizen", „European citizen" oder „Market citizen" die Zugehörigkeit der Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten zur EG zu verdeutlichen. 141 142

Artikel 8 a Abs. 1 Satz 1; Abs. 2 Satz 1 EGV.

Richtlinie 94/80/EG, ABl. 1994 Nr. L 368 S. 38. Hierzu Fischer, NVwZ 1995, S. 455 ff. Das kommunale Wahlrecht für Ausländer bestand bisher schon in Dänemark, Irland und den Niederlanden. In den anderen Mitgliedstaaten waren zum Teil Verfassungsänderungen erforderlich. So wurde in Frankreich Artikel 3 Abs. 4 der französischen Verfassung geändert, hierzu Walter, EuGRZ 1993, S. 183 ff. In Deutschland wurde Artikel 28 GG durch Gesetz vom 21.12.1992, BGBl. 1992 I S. 2086, geändert. Sein neu eingefugter Satz 3 lautet: Bei Wahlen in Kreisen und Gemeinden sind auch Personen, die die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaates der Europäischen Gemeinschaft besitzen, nach Maßgabe von Recht der Europäischen Gemeinschaft wahlberechtigt und wählbar.

192

Β. Hoheitsrechtsübertragungen im EUV

wählen 143 durch Richtlinien festgelegt worden. Artikel 8 b Absatz 1 EGV enthält eine Ermächtigungsgrundlage für eine allerdings eng umgrenzte gemeinschaftsrechtliche Regelung im Bereich des Wahlrechts 144. Gleichwohl zielt Artikel 8 b Absatz 1 EGV nicht darauf ab, die Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten betreffend Kommunal wählen umfassend anzugleichen145. Er enthält keine Ermächtigung, die unterschiedlichen nationalen Regelungen über das kommunale Wahlrecht durch eine gemeinschaftsweit einheitliche Wahlordnung für Kommunalwahlen zu ersetzen. So gibt es keine „gemeinschaftsrechtliche" Definition des Wohnsitzbegriffes 146, keine Vereinheitlichung der mitgliedstaatlichen Regelungen für Wählerverzeichnisse 147 und keine Regelung der Frage, zu welchem Zeitpunkt die Wahlberechtigten die Voraussetzungen für die Ausübung des aktiven bzw. passiven Wahlrechts erfüllen müssen148. Vielmehr ist die gemeinschaftliche Regelungskompetenz darauf beschränkt, die rechtlichen Hindernisse zu beseitigen, die sich bei der Ausübung des Kommunalwahlrechts bisher aus der fehlenden Staatsangehörigkeit einer Person ergaben 149. So bedurfte etwa die Frage, welche nationalen Wahlen unter den Begriff der Kommunalwahl fallen, einer Regelung, da die Verfassungen der Mitgliedstaaten diesbezüglich erhebliche Unterschiede aufweisen 150.

143

Artikel 8 a Abs. 2 Satz 2 EGV. Aufgrunddessen wurde die Richtlinie 93/109/EG, ABl. 1993 Nr. L 329 S. 34, erlassen. In Umsetzung dieser Richtlinie wurde das Gesetz über die Wahl der Abgeordneten des Europäischen Parlaments aus der Bundesrepublik Deutschland geändert, BGBl. 1994 I S. 419, Berichtigung, BGBl. 1994 I S. 555 sowie die Änderung der Europawahlrechtsordnung, BGBl. 1994 I S. 544. 144

Denkschrift zum Vertrag über die Europäische Union zu Artikel 8 b EUV, S. 86.

145

4. Erwägungsgrund und Artikel 1 Abs. 2 der Richtlinie 94/80/EG.

146

So die Erwägungen des Vorschlags der Kommission für die Richtlinie 94/80/EG, Kom (94) endg., S. 17. 147

Artikel 2 Abs. 1 lit. e der Richtlinie 94/80/EG.

148

Artikel 2 Abs. 1 lit. f der Richtlinie 94/80/EG.

149

Gleichwohl regelt die Richtlinie einige Detailfragen, etwa daß das Wahlrecht nicht nur am Wohnort, sondern zusätzlich auch im Herkunftsstaat ausgeübt werden kann, Artikel 1 Abs. 2 der Richtlinie 94/80/EG, oder wann besondere Probleme eines Mitgliedstaates nach Artikel 8 b Abs. 1 Satz 2 vorliegen, die Ausnahmeregelungen rechtfertigen, Artikel 12 der Richtlinie 94/80/EG. Zu den möglichen Folgen nichtdeutscher Hoheitsträger Doehring, ZRP 1993, S. 101. 150

Degen, DÖV 1993, S. 754 ff. Beispiele hierfür sind nunmehr im Anhang zur Richtlinie 94/80/EG aufgeführt. In Deutschland sind dies Wahlen in kreisfreien Städten bzw. Stadtkreisen und Kreisen, Wahlen in Gemeinden, in der Freien und Hansestadt Hamburg und in Berlin auch Wahlen zu den Bezirken sowie Wahlen in Stadt-, Gemeinde· und Ortsbezirken bzw. Ortschaften, ABL. 1994 Nr. L 368 S. 44.

IV. Europäische Gemeinschaft

193

Neben dem allgemeinen Aufenthaltsrecht und dem aktiven und passiven Wahlrecht bei Kommunal- und Europawahlen begründen die Artikel 8 ff. EGV für die Unionsbürger ferner das Recht, Petitionen an das Europäische Parlament zu richten sowie sich an einen Bürgerbeauftragten (Ombudsmann) zu wenden 1 5 1 . Schließlich genießt jeder Unionsbürger in Drittländern, in denen der Mitgliedstaat, dessen Staatsangehöriger er ist, nicht vertreten ist, diplomatischen und konsularischen Schutz durch die anderen Mitgliedstaaten152. Durch die Unionsbürgerschaft werden somit Rechte und Pflichten für die Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten begründet, die die sich aus der nationalen Staatsangehörigkeit ergebende Rechtsstellung ergänzen 153. Die rechtlichen Beziehungen zwischen den Unionsbürgern und der Europäischen Union bleiben aber auf einige wenige Bereiche beschränkt. Die Unionsbürgerschaft begründet insbesondere kein umfassendes Treue- und Schutzverhältnis zwischen den Unionsbürgern und der Europäischen Union und ist schon aufgrunddessen keine klassische Staatsbürgerschaft 1 > 4 . Die fehlende Gleichrangigkeit von Unionsbürgerschaft und Staatsangehörigkeit zeigt sich exemplarisch am Beispiel des diplomatischen Schutzes nach Artikel 8 c EGV, wonach Unionsbürger in Drittländern Schutz durch Mitgliedstaaten genießen, deren Staatsbürgerschaft sie nicht besitzen155. Somit bleibt also grundsätzlich der jeweilige Mitgliedstaat für den diplomatischen und konsularischen Schutz seiner Staatsangehörigen zu-

151

Artikel 8 d EGV. Erster Bürgerbeauftragter ist der Finne Jacob Södermann, der vom Europäischen Parlament am 13.07.1996 auf der Grundlage des Artikels 138 e EGV gewählt wurde. Das Europäische Parlament hat die in Artikel 138 e Abs. 4 EGV bestehende Ermächtigung zum Erlaß von Regelungen und allgemeinen Bedingungen für die Ausübung der Aufgaben des Bürgerbeauftragten genutzt und entsprechende Regelungen erlassen, ABl. 1994 Nr. L 113 S. 1. Im Jahre 1995 gingen 537 Beschwerden ein, EP aktuell 1996. S. 7. Das Europäische Parlament hat inzwischen eine Mitteilung veröffentlicht. in der das Verfahren der Beschwerdeerhebung und der Inhalt einer solchen Beschwerde näher beschrieben werden. ABl. 1996 Nr. C 157 S. 1. Zu Ursprung, Rechtsstellung. Zuständigkeiten und Befugnissen des Bürgerbeauftragten StrempeL DÖV 1996, S. 241 ff. 152

Artikel 8 c EGV.

153

Degen. DÖV 1993. S. 751: Oppermann/ Classen , NJW 1992, S. 7; Hobe,, JA 1993. S. 232. 154 Denkschrift zum Vertrag über die Europäische Union zur Unionsbürgerschaft, S. 86. Ress, JuS 1992. S. 987. vergleicht die Unionsbürgerschaft mit dem Institut des „British Subject" im Rahmen des Commonwealth, während Hobe sie mit dem Indigenat des Artikels 3 der Verfassung des Norddeutschen Bundes von 1866 vergleicht, ders., Der Staat 1993. S. 258: ders.. JA 1993. S. 232; so auch Oppermann, Maastricht in der wissenschaftlichen Kontroverse, S. 111. 155

13 Uhrig

Die EG selbst bietet diesen Schutz nicht, KleiriHaratscK

DÖV 1993, S. 790.

194

Β. Hoheitsrechtsübertragungen im EUV

ständig, dem Status als Unionsbürger kommt lediglich eine Auffangstellung z u 1 5 6 . Ein weiterer Beleg für die fehlende Gleichrangigkeit zwischen Staatsbürgerschaft und Unionsbürgerschaft ist die Tatsache, daß Drittstaaten nicht verpflichtet sind, die Garantien des Artikels 8 c EGV zu akzeptieren. Vielmehr besteht die Notwendigkeit internationaler Verhandlungen, um dem Status „Unionsbürger" effektive Wirksamkeit zu verschaffen 157. Durch die Unionsbürgerschaft werden somit zwischen den Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten und der Europäischen Union in beschränktem Umfang Rechte und Pflichten begründet. So verleiht die Unionsbürgerschaft das von der Ausübung einer Erwerbstätigkeit unabhängige Recht zu uneingeschränktem Aufenthalt im Gebiet der Europäischen Gemeinschaft, das aktive und passive Wahlrecht bei Kommunalwahlen und der Wahl zum Europäischen Parlament, das Recht zur Einreichung von Petitionen und den diplomatischen und konsularischen Schutz durch die Mitgliedstaaten, deren Staatsangehörigkeit der einzelne nicht besitzt. Durch diese Rechte wird die Staatsangehörigkeit der Mitgliedstaaten jedoch nicht überlagert. Der einzelne erhält lediglich über die sich aus der nationalen Staatsangehörigkeit ergebenden Rechte und Pflichten hinaus weitere Rechte und Pflichten. Unerläßliche Voraussetzung für den Status „Unionsbürger" ist aber der Besitz der Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaates, die ausschließlich nach innerstaatlichen Regeln der Mitgliedstaaten verliehen werden. Die Unionsbürgerschaft löst die nationale Staatsangehörigkeit somit nicht ab. Sie verändert auch nicht inhaltlich die aus der nationalen Staatsangehörigkeit und Mitgliedstaat, sondern ergänzt diese um zusätzliche Berechtigungen und Verpflichtungen der nationalen Staatsangehörigen. Folglich wird durch die Regelungen des EG-Vertrages über die Unionsbürgerschaft die nationale Hoheitsgewalt zur Gestaltung des eigenen Staatsangehörigkeitsrechts nicht eingeschränkt, eine Hoheitsrechtsübertragung findet insoweit nicht statt.

2. Sozialpolitik Fraglich ist, ob der Europäischen Gemeinschaft auf dem Gebiet der Sozialpolitik Hoheitsrechte übertragen worden sind.

156

Ress, JuS 1992, S. 987. Anders Bleckmann, der argumentiert, daß den Missionen und Konsulaten der Mitgliedstaaten eine echte Schutzpflicht obliegt, die Unionsbürger zu schützen, so daß der Unionsbürgerschaft eine völkerrechtliche Wirkung zukomme und eine echte Staatsbürgerschaft begründe, ders., DVB1. 1992, S. 337. 157 Anknüpfungspunkt der Akzeptanz der Rechtsposition „Unionsbürgerschaft" könnte das vom IGH entwickelte „Prinzip der effektiven Staatsangehörigkeit" sein, ICJ Reports 1955,4(26).

IV. Europäische Gemeinschaft

195

Die Stärkung der sozialen Dimension der Europäischen Union bildete einen der schwierigsten Bereiche der Regierungsverhandlungen auf dem Weg zum Abschluß des Vertrages von Maastricht. Ergebnis der Verhandlungen sind Änderungen des EWG-Vertrages (a) sowie der Abschluß des Abkommens über die Sozialpolitik (b).

a) Änderungen des EWG-Vertrages Wortlaut und Regelungsinhalt der Vorschriften über die Sozialpolitik, also der Artikel 117 bis 122 EWGV, sind bis auf redaktionelle Anpassungen unverändert geblieben. Lediglich im Zusammenhang mit Artikel 119 EWGV, jetzt Artikel 119 EGV, ist eine Ergänzung vorgenommen worden. Gemäß dem Protokoll zu Artikel 119 E G V 1 5 8 gelten Leistungen aufgrund eines betrieblichen Systems der sozialen Sicherheit nicht als Entgelt, sofern und soweit sie auf Beschäftigungszeiten vor dem 17. Mai 1990 zurückgeführt werden können, außer im Fall von Arbeitnehmern oder deren anspruchsberechtigten Angehörigen, die vor diesem Zeitpunkt eine Klage bei Gericht oder ein gleichwertiges Verfahren nach geltendem einzelstaatlichem Recht anhängig gemacht haben. Dieses Protokoll dient dem Zweck, den zeitlichen und sachlichen Anwendungsbereich des Artikels 119 EWGV zu präzisieren und die Rechtssicherheit bei der Anwendung des Artikels 119 EGV zu erhöhen 159. Die Vorschriften betreffend den Europäischen Sozialfonds wurden im Zusammenhang mit Kompetenzerweiterungen der Europäischen Gemeinschaft in anderen Bereichen angepaßt. So enthält der neugefaßte Artikel 123 EGV über die bisherige Zielsetzung des Fonds, nämlich innerhalb der Gemeinschaft die berufliche Verwendbarkeit und die örtliche und berufliche Freizügigkeit der Arbeitskräfte zu fördern, als zusätzliche Zielsetzungen die Anpassung an die industriellen Wandlungsprozesse und an Veränderungen der Produktionssysteme insbesondere durch berufliche Bildung und Umschulung. Artikel 125 und 126 EWGV wurden obsolet, Artikel 128 EWGV wurde durch Artikel 126 EGV ersetzt. Artikel 125 EGV regelt inhaltlich wie der bishe-

158 159

Protokoll Nr. 2 der Schlußakte des EUV.

Das Protokoll ist zugleich eine Reaktion auf das Urteil des EuGH 17.05.1990 - D.H.Barber/Guardian Royal Exchange Assurance Group, Rs. C-262/88 - Slg. I 1990, S. 1889 ff., in dem der EuGH die Rechtsunsicherheit über den Umfang der Rückwirkung gerügt hat. 13*

196

Β. Hoheitsrechtsübertragungen im EUV

rige Artikel 127 EWGV die Frage des Erlasses von Durchführungsbestimmungen 1 6 0 . Damit bleiben der bisherige institutionelle Rahmen ebenso wie die Kompetenzen der Europäischen Gemeinschaft im Bereich der Sozialpolitik im Rahmen des EG-Vertrages unverändert 161.

b) Abkommen über die Sozialpolitik Gleichwohl enthält der EU-Vertrag Änderungen auf dem Gebiet der Sozialpolitik. Die über die bisherige Regelung des EWG-Vertrages hinausgehenden Bestimmungen auf dem Gebiet der Sozialpolitik sind jedoch nicht im EGVertrag, sondern im Abkommen über die Sozialpolitik enthalten162. Dieses ist als Bestandteil des Protokolls über die Sozialpolitik dem Vertrag zur Gründung der Europäischen Union beigefügt 163. Der Abschluß dieses Abkommens war angesichts des entschiedenen Widerstands Großbritanniens gegen jeglichen Ausbau gemeinschaftlicher Kompetenzen auf dem Gebiet der Sozialpolitik und gegen jede gemeinschaftsrechtliche Festschreibung sozialer Mindeststandards die einzige Möglichkeit, zumindest zwischen den zur Verwirklichung weitergehender sozialpolitischer Zielsetzungen bereiten Mitgliedstaaten Fortschritte zu erzielen 164 . Das Abkommen enthält inhaltlich anspruchsvolle Zielsetzungen (aa), seine Rechtsnatur ist hingegen umstritten, und seine Folgen sind eher kritisch zu bewerten (bb).

aa) Inhalt des Abkommens über die Sozialpolitik Das Abkommen über die Sozialpolitik wurde nur zwischen elf Mitgliedstaaten mit Ausnahme des Vereinigten Königreichs von Großbritannien und Nordirland abgeschlossen. Während Großbritannien darauf bestand, den bisherigen

160

Die den Europäischen Sozialfonds betreffenden Durchführungsbestimmungen erläßt der Rat gemäß dem Verfahren des Artikels 189 c EGV und nach Anhörung des Wirtschafts- und Sozialausschusses mit der Folge, daß das Europäische Parlament nunmehr zu beteiligen ist. während es im Rahmen des Artikels 127 EWGV bisher nur angehört wurde. 161

Schuster, EuZW 1992. S. 178; Watson , CMLR 1993, S. 483 f.

162

Zur Entstehung des Protokolls anhand von unterschiedlichen Vorentwürfen, Schuster, EuZW 1992, S. 179 f. 163 164

Protokoll Nr. 14 der Schlußakte des EUV.

Baetge. BayVBl. 1992. S. 716; Coen. EuZW 1995. S. 50; Hailbronner, Zum Widerstand Großbritanniens Watson , CMLR 1993, S. 487 f.

S. 125.

IV. Europäische Gemeinschaft

197

Stand im Bereich der Sozialpolitik unverändert beizubehalten165, einigten sich die anderen Mitgliedstaaten auf weitergehende Formen der Zusammenarbeit außerhalb des EG-Vertrages 166. Zu den Zielen des Abkommens gehören neben den bereits in den Artikeln 117 ff. EGV enthaltenen Zielen auf dem Gebiet der Sozialpolitik die Förderung der Beschäftigung, ein angemessener sozialer Schutz, der weitergehende soziale Dialog und die Entwicklung des Arbeitskräftepotentials im Hinblick auf ein dauerhaft hohes Beschäftigungsniveau und die Bekämpfung von Ausgrenzungen167. Die Ziele gelten sowohl für die Vertragsparteien des Abkommens wie fur die Europäische Gemeinschaft selbst. Die Europäische Gemeinschaft und die Vertragsparteien führen zu diesem Zweck Maßnahmen durch, die der Vielfalt der einzelstaatlichen Gepflogenheiten, aber auch der Notwendigkeit der Erhaltung der Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft der Europäischen Gemeinschaft Rechnung tragen 168 . Zur Verwirklichung dieser Ziele unterstützen und ergänzen Maßnahmen der Europäischen Gemeinschaft die Tätigkeiten der Vertragsparteien 169. Zu diesem Zweck kann auch die Europäische Gemeinschaft selbst Rechtsakte zur Regelung sozialer Fragen erlassen 170. Die Europäische Gemeinschaft kann Richtlinien erlassen, die Mindeststandards festlegen 171. Diese Richtlinien haben allerdings die in den einzelnen Vertragsstaaten bestehenden Bedingungen und technischen Regelungen zu beachten und dürfen keine verwaltungsmäßigen, finanziellen oder technischen Auflagen vorschreiben, die der Gründung und Entwicklung von kleinen und mittleren Unternehmen entgegenstehen172. Diese Kompetenz zum Erlaß von Richtlinien erweitert die bisher im Rahmen des EWG-Vertrages bestehenden Kompetenzen der Europäischen Gemeinschaft für den Erlaß von Sekundärrecht, denn abgesehen von Rechtsetzungskompetenzen in der Frage der Gleichbehandlung von Männern und Frauen, der sozialen Sicherheit von Wanderarbeitnehmern oder dem Arbeits- und Gesundheitsschutz erschöpfte sich die Sozialpolitik der Europäischen Gemeinschaft weitgehend

165

Die Kompetenz der EG zum Erlaß von Gemeinschaftsrecht auf dem Gebiet des Arbeits- und Koalitionsrechts stützte sich bisher auf Artikel 100 a und 235 EWGV, Oppermann, Europarecht, Rn. 1582. 166

Koenig. EuR 1994, S. 182; Schuster. EuZW 1992, S. 180; Hailbronner, S. 126.

167

Artikel 1 des Abkommens über die Sozialpolitik.

168

Artikel 1 Satz 2 des Abkommens über die Sozialpolitik.

169

Artikel 2 Abs. 1 des Abkommens über die Sozialpolitik.

170

Whiteford, ELR 1994, S. 208; Watson bezeichnet Artikel 2 daher als „heart of the Agreement", ders.. CMLR 1993, S. 499. 171

Artikel 2 Abs. 2 des Abkommens über die Sozialpolitik.

172

Artikel 2 Abs. 2 des Abkommens über die Sozialpolitik.

198

Β. Hoheitsrechtsübertragungen im EUV

auf sozialpolitische Aktionsprogramme 173. Die durch die Gemeinschaftsorgane erlassenen Richtlinien im Rahmen des Abkommens über die Sozialpolitik haben die gleiche Wirkung wie Richtlinien aufgrund Gemeinschaftsrechts 174. Artikel 2 des Abkommens über die Sozialpolitik sieht für das Zustandekommen der Richtlinien unterschiedliche Verfahren und Abstimmungserfordernisse vor: Auf den Gebieten der Verbesserung der Arbeitsumwelt zum Schutz der Gesundheit und der Sicherheit der Arbeitnehmer, der Arbeitsbedingungen175, der Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmer, der Chancengleichheit von Männern und Frauen auf dem Arbeitsmarkt und Gleichbehandlung am Arbeitsplatz sowie der beruflichen Eingliederung der aus dem Arbeitsmarkt ausgegrenzten Personen 1 7 6 entscheidet der Rat gemäß dem Verfahren des Artikels 189 c EGV. Er kann also mit qualifizierter Mehrheit entscheiden177. In den Bereichen der sozialen Sicherheit und des sozialen Schutzes der Arbeitnehmer, des Schutzes der Arbeitnehmer bei Beendigung des Arbeitsvertrages, der Vertretung und kollektiven Wahrnehmung der Arbeitnehmer- und Arbeitgeberinteressen einschließlich der Mitbestimmung, der Beschäftigungsbedingungen von Drittstaatsangehörigen, die sich rechtmäßig im Gebiet der Europäischen Gemeinschaft aufhalten, sowie im Bereich der finanziellen Beiträge zur Förderung der Beschäftigung und Schaffung von Arbeitsplätzen bedarf es hingegen auf Vorschlag der Kommission nach Anhörung des Europäischen Parlaments und des Wirtschafts- und Sozialausschusses eines einstimmigen Beschlusses des Rates 178 . In diesen als besonders sensibel eingestuften Bereichen soll nur mit Zustimmung aller Vertragsstaaten unter besonderer Respektierung der gewachsenen nationalen Sozial- und Arbeitsrechtssysteme entschieden werden können 1 7 9 . Über die Richtlinien hinaus können die Mitgliedstaaten weiterreichende einzelstaatliche Vorschriften beibehalten oder verabschieden180. Ziel sozialpolitischer Regelungen aufgrund des Abkommens über die Sozialpolitik ist die Schaffung eines Sockels an verbindlichen und einklagbaren Mindeststandards, der die schwächeren Mitgliedstaaten nicht überfordert, jedem Mitgliedstaat aber die Möglichkeit beläßt, sein soziales Leistungsniveau beizubehalten und ent-

173

Herdegen, Europarecht, S. 265; Koenig, EuR 1994, S. 175.

174

Denkschrift über den Vertrag zur Europäischen Union zum Protokoll über die Sozialpolitik, S. 96. 175

Die EG erhält damit zum ersten Mal eine ausdrückliche Ermächtigung für Maßnahmen zum Schutz der Arbeitsbedingungen, Whiteford, ELR 1994, S. 206. 176

Artikel 2 Abs. 1 und 2 des Abkommens über die Sozialpolitik.

177

Artikel 2 Abs. 2 Unterabsatz 2 des Abkommens über die Sozialpolitik.

178

Artikel 2 Abs. 3 des Abkommens über die Sozialpolitik.

179

Reh, S. 73.

180

Artikel 2 Abs. 5 des Abkommens über die Sozialpolitik.

IV. Europäische Gemeinschaft

199

sprechend seiner Wirtschaftskraft weiterzuentwickeln 181. Eine umfassende, die Sozialpolitik der Mitgliedstaaten ablösende Sozialpolitik durch die Europäische Gemeinschaft ist hingegen nicht Ziel des Abkommens über die Sozialpolitik182. Das Abkommen über die Sozialpolitik soll über den bereits durch Artikel 118b EWGV eingeführten sozialen Dialog hinaus die Rolle der Sozialpartner stärken 183. Die Mitgliedstaaten können den Sozialpartnern die Durchführung dieses Dialoges auf deren gemeinsamen Antrag hin übertragen 184. Der Dialog kann, falls die Sozialpartner dies wünschen, zur Herstellung vertraglicher Beziehungen fuhren, die entweder durch Sozialpartner und Mitgliedstaaten oder durch einen von den Sozialpartnern beantragten Ratsbeschluß durchgeführt werden 185 . Das Abkommen über die Sozialpolitik erweitert folglich die Handlungsmöglichkeiten der Mitgliedstaaten mit Ausnahme Großbritanniens auf dem Gebiet der Sozialpolitik. Es erfaßt zusätzlich zu den im EG-Vertrag geregelten Aspekten weitere Bereiche der Sozialpolitik und erweitert die Handlungsmöglichkeiten der Vertragsstaaten in diesen Bereichen, ohne jedoch die im EG-Vertrag enthaltenen Regelungen abzulösen186. Der Rat besitzt nunmehr in diesen Bereichen die Kompetenz zum Erlaß von Richtlinien, die die Europäische Gemeinschaft bisher nur auf dem Gebiet der Arbeitsumwelt besaß bzw. besitzt. Diese sollen allerdings lediglich Mindeststandards schaffen. Die Europäische Gemeinschaft soll die Tätigkeiten der Mitgliedstaaten auf dem Gebiet der Sozialpolitik nur ergänzen und unterstützen, nicht aber den Bereich der Sozialpolitik umfassend regeln und die nationale Sozialpolitik der Mitgliedstaaten ersetzen.

bb) Rechtsnatur des Abkommens über die Sozialpolitik Das Abkommen über die Sozialpolitik wurde zwischen elf Mitgliedstaaten mit Ausnahme des Vereinigten Königreichs von Großbritannien und Nordirland

181

Reh, S. 73.

182

So sind aufgrund des Abkommens über die Sozialpolitik etwa Regelungen auf den Gebieten des Arbeitsentgelts, des Koalitionsrecht, des Streikrechts und des Aussperrungsrechts nicht zulässig, Artikel 2 Abs. 6 des Abkommens über die Sozialpolitik. 183

Artikel 3 und 4 des Abkommens über die Sozialpolitik. Coen, EuZW 1995, S. 51, sieht hierin eine Aufwertung der Sozialpartner und die Begründung eines Europäischen Verhandlungs- oder Tarifraums, der den veränderten Rahmenbedingungen Rechnung trägt. 184

Artikel 2 Abs. 4 des Abkommens über die Sozialpolitik.

185

Artikel 4 des Abkommens über die Sozialpolitik.

186

Whiteford,

ELR 1994, S. 204.

200

Β. Hoheitsrechtsübertragungen im EUV

abgeschlossen. Als rechtliches Bindeglied zwischen dem Abkommen der elf Mitgliedstaaten und dem EG-Vertrag dient das Protokoll über die Sozialpolitik, das dem EG-Vertrag beigefügt wird. Die damals zwölf Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft kamen in diesem Protokoll überein, (...) elf Mitgliedstaaten zu ermächtigen, die Organe, Verfahren und Mechanismen des (EG-)Vertrags in Anspruch zu nehmen, um die erforderlichen Rechtsakte und Beschlüsse zur Umsetzung (...) untereinander anzunehmen und anzuwenden, soweit sie betroffen sind. Das Vereinigte Königreich Großbritannien und Nordirland ist nicht beteiligt, wenn der Rat über die Vorschläge, welche die Kommission aufgrund dieses Protokolls und des genannten Abkommens unterbreitet, berät und diese annimmt. 187 Entsprechend der damaligen Stimmverteilung im Rat wurde festgelegt, daß für Rechtsakte, die mit qualifizierter Mehrheit anzunehmen sind, in Abweichung von Artikel 149 Absatz 2 EGV 44 von 66 Stimmen erforderlich sind. Die Vertreter des Vereinigten Königreichs im Rat sind nicht stimmberechtigt. Einstimmig anzunehmende Rechtsakte des Rates bedürfen der Stimmen aller Mitglieder des Rates mit Ausnahme Großbritanniens 188. Die im Rahmen des Abkommens über die Sozialpolitik verabschiedeten Rechtsakte und deren finanzielle Auswirkungen gelten nicht im Vereinigten Königreich 189. Der so eingeschlagene Weg zur Stärkung der sozialen Dimension der Europäischen Gemeinschaft 190 nimmt eine Sonderstellung im Geflecht der Gemeinschaftsbeziehungen ein, deren Funktionsfähigkeit abzuwarten ist. Zwei Aspekte geben Anlaß zu grundsätzlicher Skepsis191: Erstens die Tatsache des Abschlusses eines Abkommens, an dem nicht alle Mitgliedstaaten teilnehmen mit der Folge, daß das Abkommen und die aufgrund des Abkommens erlassenen Rechtsakte nur in den teilnehmenden Mitgliedstaaten gelten. Es ist fraglich, ob der Preis für den angestrebten Fortschritt in der sozialpolitischen Zusammenarbeit, der am Widerstand des Vereinigten Königreichs zu scheitern drohte, nicht zu hoch ist. Der jetzt gewählte Weg läßt die Gefahr vom „Europa der zwei Geschwindigkeiten" Wirklichkeit werden. Zum anderen kann das Abkommen

187

Nr. 1 und 2 der Präambel des Protokolls über die Sozialpolitik.

188

Nr. 2 des Protokolls über die Sozialpolitik.

189

Nr. 2 des Protokolls über die Sozialpolitik.

190

So Schmuck E A 1992, S. 100.

191

Klein/Haratsch sprechen davon, daß das Nebeneinander zweier Rechtsmassen in letzter Konsequenz noch nicht absehbare Konkurrenz- und Kollisionsprobleme aufwerten wird, dies., DÖV 1993, S. 795; Badura, EuR 1994, Beiheft 1, S. 12, hält die Einigung aufgrunddessen für mißlungen. Whiteford charakterisiert es als „legal monstrosity", dies., ELR 1994, S. 202.

IV. Europäische Gemeinschaft

201

zur Schwächung der Idee des Binnenmarktes fuhren, denn bewußt in Kauf genommene unterschiedliche Regelungen zum Schutz der Arbeitnehmer tragen sicherlich nicht zu einem Europa ohne Binnengrenzen bei 1 9 2 . Das Ausscheren Großbritanniens kann zu neuen Wettbewerbsverzerrungen, etwa unterschiedlich hohen Sozialkosten führen 193 . Eine solche Entwicklung wäre den Zielen des Binnenmarktkonzeptes diametral entgegengesetzt, das ja gerade Wettbewerbsverzerrungen zwischen Unternehmen aus verschiedenen Mitgliedstaaten schrittweise abbauen soll 1 9 4 . Neben diesen rechtspolitischen Schwierigkeiten bereitet die rechtliche Einordnung des Abkommens über die Sozialpolitik Schwierigkeiten 195. Es wird einerseits als Form intergouvernementaler Zusammenarbeit, andererseits als Gemeinschaftshandeln eingeordnet. Für die Einordnung des Abkommens über die Sozialpolitik als intergouvernementale Zusammenarbeit spreche, daß das Abkommen ein vom Protokoll über die Sozialpolitik unabhängiges Übereinkommen der Unterzeichnerstaaten sei. Es sei ein Annex zum Vertrag über die Europäische Union und teile folglich dessen Rechtsnatur. Es sei demnach eine völkerrechtliche Vereinbarung 196. Dies bedeute, daß die Vertragsstaaten dann, wenn sie die Verfahren des Abkommens in Anspruch nehmen, mit völkerrechtlicher Wirkung handelten, was zur Folge habe, daß die Regelungen aufgrund des Abkommens über die Sozialpolitik nicht Teil des Gemeinschaftsrechts würden, nicht dem acquis communautaire zugerechnet werden könnten und für neue Mitgliedstaaten somit keine Bindung entfalteten 197. Das Abkommen über die Sozialpolitik sei folglich nach den Regeln der Wiener Vertragsrechtskonvention auszulegen, wodurch die Frage nach der innerstaatlichen Anwendbar-

192

Wie hier Wessels, Integration 1992, S. 7; Whiteford, ELR 1994, S. 216; Koenig, EuR 1994, S. 182. Watson sieht die Gefahr des „social dumping" schon jetzt realisiert, ders., CMLR 1993, S. 512. Coen., EuZW 1995, S. 52, kommt daher zu dem Schluß, daß es den Mitgliedstaaten nicht gelungen ist, die mit der abgestuften Integration verbundenen materiellrechtlichen Probleme zu lösen. 193

Koenig., EuR 1994, S. 181.

194

Diese Gefahr sieht auch der Kommissar für Wettbewerbsfragen van Miert, der im Bereich der Wettbewerbspolitik bestimmte Grundregeln für unerläßlich hält und infolgedessen die Ausnahmeklausel für Großbritannien in Frage stellt, Süddeutsche Zeitung vom 07.01.1995, S. 7. 195 Die Einordnung des Protokolls wirft keine Probleme auf, da es nach der Ratifikation des Vertrages Bestandteil des EGV ist, Ziffer 3 des Protokolls sowie Schlußakte Abschnitt II Unterabsatz 2 zum EUV. 196

Zur rechtlichen Einschätzung des EUV Hahn, Vertrag von Maastricht, S. 38 f.

197

Watson , CMLR 1993, S. 491.

202

Β. Hoheitsrechtsübertragungen im EUV

keit und dem Rang im Verhältnis zu den jeweiligen nationalen Rechten aufgeworfen würde 198 . Dagegen wird zu Recht eingewandt, daß das Abkommen über die Sozialpolitik mittels des Protokolls über die Sozialpolitik mit dem EG-Vertrag verbunden ist 1 9 9 . Dieses Protokoll wird gemäß Artikel 239 EGV Bestandteil des EGVertrages 200 mit der Folge, daß das Abkommen über die Sozialpolitik als Teil des Protokolls Gemeinschaftsrecht wird 2 0 1 . Die Tatsache, daß das Abkommen nicht in allen Mitgliedstaaten Wirkungen entfaltet, ist insofern unbeachtlich, als gleichwohl alle damaligen Mitgliedstaaten der Gemeinschaft an seinem Zustandekommen beteiligt waren 202 . Darüber hinaus regelt das Abkommen über die Sozialpolitik inhaltlich einen Bereich, der zumindest in geringem Umfang im EG-Vertrag geregelt ist 2 0 3 . Ein weiteres Argument für die Einordnung des Abkommens über die Sozialpolitik als Gemeinschaftsrecht ist die Tatsache, daß das Abkommen auf die Organe, die Verfahren und die Mechanismen des Gemeinschaftsrechts zurückgreift 204. Gemäß dem Protokoll über die Sozialpolitik stellen die Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft den Vertragsstaaten des Abkommens die Organe der Europäischen Gemeinschaft für die Zwecke des Abkommens zur Verfügung, so daß insofern eine Organleihe vorliegt 205 . Das Abkommen ist damit ohne den Hintergrund, die Begriffe und die Zwecke des EG-Vertrages nicht denkbar 206 . Die Inanspruchnahme der Ermächtigungen

198

Schuster, EuZW 1992, S. 181.

199

Watson , CMLR 1993, S. 489.

200

Antwort des Rates auf die schriftliche Anfrage 595/92 zur Anwendung des sozialen Protokolls, ABl. 1993 Nr. C 40 S. 12. 201

Whiteford, ELR 1994, S. 204; Watson , CMLR 1993, S. 489; Koenig, EuR 1994, S. 184; Κ lie mann, S. 177. 202

Watson , CMLR 1993, S. 489.

203

Klie mann, S. 177; Schuster, EuZW 1992, S. 181; Hailbronner, S. 129 f.

204

So etwa in Artikel 2 Abs. 2 des Abkommens über die Sozialpolitik, wonach der Rat Richtlinien erlassen kann und nach dem Verfahren des Artikels 189 c EGV beschießt. Im Ergebnis ebenso Whiteford, ELR 1994, S. 211; Hailbronner, S. 128. 205 206

Schuster, EuZW 1992, S. 182 f.; Kliemann, S. 178.

So faßt Watson , CMLR 1993, S. 494 zusammen: „If the Agreement is intergovernmental in nature, (such) phrases (...) have no meaning: they are nonsense although one may regret the structure and drafting of the Treaty, one must assume that whoever did pen it did not intend to draft in meaningless riddles". Ebenso Koenig, EuR 1994, S. 184 f.

IV. Europäische Gemeinschaft

203

des Abkommens läßt in der Folge räumlich begrenztes Gemeinschaftsrecht entstehen207. Die Organleihe der Organe der Europäischen Gemeinschaft im Rahmen des Abkommens über die Sozialpolitik wirft mehrere Fragen auf. So standen die Organe der Europäischen Gemeinschaft bisher ausschließlich im Dienst der Europäischen Gemeinschaft und nahmen ausschließlich die ihnen von allen Mitgliedstaaten im Rahmen der Gemeinschaftsverträge zugewiesenen Aufgaben wahr 2 0 8 . Die Wahrnehmung von Aufgaben in Bereichen, in denen nicht alle, sondern lediglich eine Gruppe oder die Mehrzahl der Mitgliedstaaten zusammenarbeiten, war bisher nicht vorgesehen und stellt eine Neuerung von grundsätzlicher Natur dar. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, welchen Umfang derartige Organleihen annehmen dürfen. Als absolute Grenze muß sicherlich die Situation gelten, in der die Wahrnehmung von Aufgaben im Wege der Organleihe zu einer Vernachlässigung der eigentlichen Aufgaben der Organe im Rahmen der Gemeinschaftsverträge führt. Spätestens in einer solchen Situation wäre die Wahrnehmung von Aufgaben, die außerhalb der Gemeinschaftsverträge geregelt sind, nicht mehr mit dem Gemeinschaftsrecht vereinbar. Weiter stellt sich die Frage der Beteiligung oder Nichtbeteiligung der britischen Vertreter im Zusammenhang mit dem Abkommen über die Sozialpolit i k 2 0 9 . Für den Rat regelt das Protokoll über die Sozialpolitik, daß Vertreter des Vereinigten Königreichs nicht mitstimmen. Fraglich ist aber, ob sie als passive Beobachter teilnehmen können. Die Notwendigkeit eines solchen Status kann sich beispielsweise dann ergeben, wenn die Ratspräsidentschaft an Großbritannien fällt, denn dann könnte der für das Vereinigte Königreich handelnde Ratspräsident den „Rat der Vertragsstaaten des Abkommens" zumindest einberufen oder Abstimmungsergebnisse feststellen 210. Für das Europäische Parlament 207

So im Ergebnis auch die Antwort des Rates auf die schriftliche Anfrage 595/92 zur Anwendung des sozialen Protokolls, ABl. 1993 Nr. C 40 S. 12. Im Ergebnis auch Hail bronner, S. 135. 208

Artikel 4 Abs. 1 Satz 2 EGV.

209

Für die Kommission und den EuGH sind Regelungen insofern nicht erforderlich, als Vertreter des Vereinigten Königreichs in diesen Organen nicht der Regierung oder dem Volk verantwortlich sind, sondern im Interesse der EG bzw. der Wahrung ihrer Rechtsordnung handeln, Kliemann, S. 185 f. 210 Hailbronner, S. 137, kommt zu dem Ergebnis, daß Wortlaut und Zweck der Regelungen für einen vollständigen Ausschluß des Vereinigten Königreichs sprechen. Fraglich ist, ob Regelungen, wonach Dänemark, das nicht zur Teilnahme an verteidigungspolitischen Entscheidungen verpflichtet ist und in solchen Fällen auf den Ratsvorsitz verzichtet, Schlußfolgerungen des Europäischen Rates, Teil B, Anhang 2, EA 1992, S. D 25, auf das Abkommen über die Sozialpolitik übertragen werden können.

204

Β. Hoheitsrechtsübertragungen im EUV

regelt das Protokoll die Frage, ob die britischen Abgeordneten an Beratungen, Abstimmungen oder Anhörungen teilnehmen können, hingegen nicht 211 . Denkbar sind Beteiligungsformen, die abgestuft von einer Vollbeteiligung mit Stimmrecht über das Recht zur Abstimmung unter dem Vorbehalt, daß das Zustandekommen eines Rechtsaktes nicht von ihren Stimmen abhängt, oder einer beratenden Beteiligung ohne Stimmrecht bis hin zu einem völligen Ausschluß der Abgeordneten des Vereinigten Königreichs reichen 212 . Fragen und Schwächen des mit dem Abkommen über die Sozialpolitik verbundenen Weges zwingen zu der grundsätzlichen Überlegung, ob in Fällen, in denen ein gemeinsames Vorgehen aller Mitgliedstaaten nicht erreicht werden kann, um jeden Preis ein Fortschreiten zwischen den übrigen Mitgliedstaaten herbeigeführt werden sollte. Folge eines solchen Weges ist räumlich begrenztes Gemeinschaftsrecht und eine abgestufte Intensität der Mitarbeit der Mitgliedstaaten und der Vertreter der Mitgliedstaaten in den Organen der Europäischen Gemeinschaft. Der räumlich begrenzte Anwendungsbereich der so erzielten Regelungen führt aber weder zu gemeinschaftsweiten Standards oder einem Raum ohne Binnengrenzen, noch wird durch ihn die europäische Idee oder die Rechtseinheit innerhalb der Europäischen Gemeinschaft und damit letztlich die Europäische Gemeinschaft als Rechtsgemeinschaft gestärkt. Im Hinblick auf Hoheitsrechtsübertragungen ist sich feststellen, daß auf sozialpolitischem Gebiet durch das Abkommen über die Sozialpolitik für die an ihm teilnehmenden Mitgliedstaaten zu Übertragungen gekommen ist. Die Europäische Gemeinschaft besitzt die Kompetenz zum Erlaß von Richtlinien, die soziale Mindeststandards festlegen können. Über diese Standards hinaus besitzen die Mitgliedstaaten aber weiterhin die Möglichkeit zum Erlaß nationaler Regelungen auf sozialpolitischem Gebiet.

3. Änderungen der Artikel 126 ff. EGV Darüber hinaus hat der EU-Vertrag einige Änderungen und Ergänzungen der Politiken der Europäischen Gemeinschaft zur Folge. Der EG-Vertrag enthält nunmehr in den Artikeln 126 ff EGV Vorschriften betreffend die allgemeine und berufliche Bildung (a), Kultur (b), das Gesundheitswesen (c), den Verbraucherschutz (d), transeuropäische Netze (e), die Industrie (f) sowie die Entwicklungszusammenarbeit (g).

211 212

Whiteford,,

ELR 1994, S. 213.

Deneben stellt sich das Problem der Besetzung von Ämtern, die zur Funktionstähigkeit des Europäischen Parlaments erforderlich sind, da diese im Fall einer Nichtbeteiligung der Abgeordneten des Vereinigten Königreichs nicht mit solchen besetzt werden könnten.

IV. Europäische Gemeinschaft

205

a) Allgemeine und berufliche Bildung und Jugend Nach der Änderung des EWG-Vertrages besitzt die Europäische Gemeinschaft nunmehr eine ausdrückliche Kompetenz auf dem Gebiet der allgemeinen und beruflichen Bildung. Sie trägt auf diesem Gebiet zu einer qualitativ hochstehenden allgemeinen und beruflichen Bildung bei 2 1 3 . Zwar war die Europäische Gemeinschaft im Bereich der allgemeinen und beruflichen Bildung schon bisher durch Bildungsprogramme 214 und die Einrichtung von Ausschüssen215 tätig. Diese wurden auf der Grundlage der Artikel 128 und 235 EWGV eingerichtet, wobei insbesondere Artikel 128 EWGV als Ermächtigungsgrundlage für Bildungsprogramme herangezogen wurde 216 . Gleichwohl enthielten beide Normen keine ausdrücklichen Handlungsermächtigungen für den Bereich der allgemeinen und beruflichen Bildung. Sie wurden vielmehr in Folge einer weiten Auslegung bzw. unter Abrundungsgesichtspunkten hinsichtlich anderer Kompetenzen auch für Maßnahmen im Bereich der Bildung in Anspruch genommen217. Durch die Änderungen infolge des EUVertrages enthält der EG-Vertrag im Bereich der allgemeinen und beruflichen

213

Artikel 3 lit. ρ EGV.

214

Das gemeinsame Aktionsprogramm zur Förderung der Mobilität der Hochschulstudenten (ERASMUS) beruht auf einem Beschluß des Rates, ABl. 1987 Nr. L 166 S. 20 ff., geändert ABl. 1989 Nr. L 395 S. 23. ff. Das LINGUA-Programms, ABl. 1989 Nr. L 239 S. 24 ff., fordert Fremdsprachenprogramme sowohl im Hochschul- wie im Berufsbildungsbereich. 215 So etwa der Ausschuß für Bildungsfragen, ABI. 1974 Nr. C 98 S. 2, sowie der Beratende Ausschuß für Berufsbildung, ABI. 1963, S. 3090 ff. Daneben wurde das Europäische Zentrum für die Förderung der Berufsbildung, ABI. 1974 Nr. L 39 S. I ff., sowie das Europäische Hochschulinstitut in Florenz, ABl. 1976 Nr. C 29 S. 1 ff., eingerichtet. 2 . 6

Allerdings war Artikel 128 EWGV als Ermächtigungsgrundlage für die „Bildungsprogramme" der Gemeinschaft umstritten, hierzu Oppermann, Europarecht, Rn. 1934 f.; Baetge, BayVBl. 1993, S. 715; Schweitzer/Hummer, S. 493. 2.7

EuGH 13.02.1985 - Gravier/Stadt Lüttich, Rs. 293/83 - Slg. 1985, S. 593 ff; EuGH 02.02.1988 - Blaizot/Universität Lüttich, Rs. 24/86 - Slg. 1988, S. 379, 398 ff.; EuGH 21.06.1988 - Lair/Universität Hannover, Rs. 39/86 - Slg. 1988, S. 3161, 3190 IT.; EuGH 21.06.1988 - Brown/Secretary of State for Scotland, Rs. 197/86 - Slg. 1988, S. 3205, 3237 fï.; EuGH 30.05.1989 - Kommission/Rat, Rs. 242/87 - Slg. 1989, S. 1425, 1449 ff.; EuGH 11.06.1991 - Vereinigtes Königreich Großbritannien und Nordirland u.a./Rat, verb. Rs. C-51/89, C-90/89, C-94/89 - Slg. I 1991, S. 2757, 2786 IT.

206

Β. Hoheitsrechtsübertragungen im EUV

Bildung nunmehr mit Artikel 126 f. EGV ausdrückliche Ermächtigungsgrundlagen für ein Gemeinschaftshandeln auf diesen Gebieten 218 . Allerdings begründen die Artikel 126 f. EGV keine Gemeinschaftskompetenz zur umfassenden Regelung des Bereichs der allgemeinen und beruflichen Bildung. Die Europäische Gemeinschaft wird nämlich nicht ermächtigt, eine eigenständige, die Aktivitäten der Mitgliedstaaten ersetzende Bildungspolitik zu betreiben. Sie hat vielmehr die Verantwortung der Mitgliedstaaten für die Lehrinhalte und die Gestaltung des Bildungssystems sowie die Vielfalt ihrer Kulturen und Sprachen strikt zu beachten219. Die Mitgliedstaaten tragen somit weiterhin die Verantwortung für den Inhalt und die Organisation ihres nationalen Bildungswesens. Ziel des Gemeinschaftshandelns auf dem Gebiet der allgemeinen Bildung ist: - (die) Entwicklung der europäischen Dimension im Bildungswesen, insbesondere durch Erlernen und Verbreitung der Sprachen der Mitgliedstaaten; - (die) Förderung der Mobilität von Lernenden und Lehrenden, auch durch die Förderung der akademischen Anerkennung der Diplome und Studienzeiten; - (die) Förderung der Zusammenarbeit zwischen den Bildungseinrichtungen; - (der) Ausbau des Informations- und Erfahrungsaustausches über gemeinsame Probleme im Rahmen der Bildungssysteme der Mitgliedstaaten; - (die) Förderung des Ausbaus des Jugendaustausches und des Austausches sozialpädagogischer Betreuer; - (die) Förderung der Entwicklung der Fernlehre. 220 Zur Verwirklichung dieser Ziele kann die Europäische Gemeinschaft Fördermaßnahmen ergreifen und Empfehlungen erlassen. Letztere kann der Rat auf Vorschlag der Kommission mit qualifizierter Mehrheit aussprechen221. Fördermaßnahmen kann der Rat gemäß dem Verfahren des Artikels 189 b EGV erlassen 222. Diese haben unter Ausschluß jeglicher Harmonisierung der Rechtsund Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten zu erfolgen 223 , zusätzlich zu der ohnehin eng umschriebenen Zielsetzung der Politik werden die Handlungsmöglichkeiten der Europäischen Gemeinschaft somit auch durch die ihr zur Verfügung stehenden Rechtsaktsformen und deren Regelungsinhalt begrenzt.

218

Baetge, BayVBl. 1993, S. 715.

219

Artikel 126 Abs. 1 EGV.

220

Artikel 126 Abs. 2 EGV.

221

Artikel 126 Abs. 4 Spiegelstrich 2 EGV.

222

Artikel 124 Abs. 4 Spiegelstrich 1 EGV.

223

Artikel 126 Abs. 4 Spiegelstrich 1 EGV.

IV. Europäische Gemeinschaft

207

Ziel des Gemeinschaftshandelns auf dem Gebiet der beruflichen Bildung ist: - (die) Erleichterung der Anpassung an die industriellen Wandlungsprozesse, insbesondere durch berufliche Bildung und Umschulung; - (die) Verbesserung der beruflichen Erstausbildung und Weiterbildung zur Erleichterung der beruflichen Eingliederung und Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt; - (die) Erleichterung der Aufnahme einer beruflichen Bildung sowie (die) Förderung der Mobilität der Ausbilder und der in beruflicher Bildung befindlichen Personen, insbesondere der Jugendlichen; - (die) Förderung der Zusammenarbeit in Fragen der beruflichen Bildung zwischen Unterrichtsanstalten und Unternehmen; - (der) Ausbau des Informations- und Erfahrungsaustausches über gemeinsame Probleme im Rahmen der Berufsbildungsysteme der Mitgliedstaaten.224 Jegliche Harmonisierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten ist jedoch, wie schon im Bereich der allgemeinen Bildung, ausgeschlossen. Der Europäischen Gemeinschaft werden also im Bereich der allgemeinen und beruflichen Bildung hinsichtlich der Zielsetzung, der dafür zur Verfügung stehenden Handlungsformen und deren Regelungsinhalt lediglich eng umgrenzte Kompetenzen eingeräumt: Die Europäische Gemeinschaft ist auf die Verwirklichung von Zielen, die die Tätigkeiten der Mitgliedstaaten flankieren, beschränkt. Zur Verwirklichung dieser Ziele stehen der Europäischen Gemeinschaft lediglich Fördermaßnahmen sowie im Bereich der allgemeinen Bildung zusätzlich unverbindliche Empfehlungen zur Verfügung. Die Maßnahmen sind darüber hinaus hinsichtlich ihres Regelungsinhalts dadurch begrenzt, daß sie nicht die Harmonisierung der Rechts- und VerwaltungsVorschriften der Mitgliedstaaten zum Inhalt haben dürfen. Die Europäische Gemeinschaft ist im Bereich der allgemeinen und beruflichen Bildung somit darauf beschränkt, die Tätigkeiten und die Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten zu fördern, zu unterstützen und zu ergänzen. Ziel der Kompetenzen der Europäischen Gemeinschaft im Bereich der allgemeinen und beruflichen Bildung ist jedoch nicht eine umfassende gemeinschaftsrechtliche Regelung dieser Bereiche. Insofern werden vielmehr die bereits vor dem Inkrafttreten des EU-Vertrages auf der Grundlage der Artikel 128 und 235 EWGV ausgeübten Gemeinschaftskompetenzen präzisiert und begrenzt. Deshalb liegt eine Übertragung zusätzlicher, nicht bereits vor dem Inkrafttreten des EU-Vertrages von der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft in Anspruch genommener und tatsächlich ausgeübter Hoheitsrechte auf die Europäische Gemeinschaft im Bereich der allgemeinen und beruflichen Bildung nicht vor.

224

Artikel 127 Abs. 2 EGV.

208

Β. Hoheitsrechtsübertragungen im EUV b) Kultur

Einen weiteren Bereich durch den EU-Vertrag erstmals ausdrücklich begründeter Kompetenzen der Europäischen Gemeinschaft bildet der Bereich der Kulturpolitik 225. Für den Bereich der Kultur besaß die Europäische Gemeinschaft bislang keine ausdrückliche Ermächtigungsgrundlage 226. Artikel 128 EGV regelt nunmehr, daß die Europäische Gemeinschaft selbst einen Beitrag auf dem Gebiet der Kultur zu leisten berechtigt ist. Diese Politik hat nicht die Schaffung einer „Gemeinschaftskultur" zum Ziel, sondern soll einen Beitrag zur Entfaltung der Kulturen der Mitgliedstaaten unter Wahrung ihrer nationalen und regionalen Vielfalt sowie gleichzeitiger Hervorhebung des gemeinsamen kulturellen Erbes leisten. Die Europäische Gemeinschaft kann auf dem Gebiet der Kultur nur mit dem Ziel tätig werden, die Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten zu unterstützen und deren Tätigkeiten erforderlichenfalls zu ergänzen 227. Dazu gehören Maßnahmen, mit denen die Kenntnis und Verbreitung der Kultur und Geschichte der europäischen Völker verbessert, das kulturelle Erbe von europäischer Bedeutung erhalten und geschützt, der nichtkommerzielle Kulturaustausch organisiert und gefördert sowie das künstlerische und literarische Schaffen einschließlich des audiovisuellen Bereichs angeregt und gefördert werden sollen 228 . Die Europäische Gemeinschaft kann zur Verwirklichung dieser Ziele erstens Fördermaßnahmen gemäß dem Verfahren des Artikels 189 b EGV und zweitens Empfehlungen des Rates auf Vorschlag der Kommission erlassen 229. Als Fördermaßnahmen der Gemeinschaft kommen etwa Preise, kulturelle Veranstaltungen, Akademien, Festspiele und Rundfunk- und Fernsehveranstaltungen in Betracht 230. Die Fördermaßnahmen stehen unter dem Vorbehalt, daß sie sich jeglicher Harmonisierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten zu enthalten haben 231 . Die Fördermaßnahmen und Empfehlungen des Rates sind im Bereich der Kulturpolitik zudem einstimmig zu beschließen 2 3 2 . Durch das Erfordernis der Einstimmigkeit kann jeder Mitgliedstaat

225

Artikel 92 Abs. 3 lit. d; Artikel 128 EGV.

226

Ress, DÖV 1992, S. 944; Schweitzer/Hummer,

227

Artikel 128 Abs. 2 EGV.

228

Artikel 128 Abs. 2 EGV.

229

Artikel 128 Abs. 5 EGV.

230

Ress, DÖV 1992, S. 947.

231

Artikel 128 Abs. 5 Spiegelstrich 1 EGV.

232

S. 499.

Im Gegensatz hierzu sehen die Parai lei Vorschriften der Artikel 126 Abs. 4 Spiegelstrich I, Artikel 127 Abs. 4 EGV lür Fördermaßnahmen auf dem Gebiet der allge-

IV. Europäische Gemeinschaft

209

somit selbst lediglich flankierende Maßnahmen durch die Europäische Gemeinschaft verhindern 233. Neben einer ausdrücklichen Ermächtigungsgrundlage auf dem Gebiet der Kultur enthält der EG-Vertrag mit Artikel 128 Absatz 4 EGV zudem eine Norm, die bestimmt, daß die Europäische Gemeinschaft den kulturellen Aspekten bei allen ihren Tätigkeiten Rechnung trägt. Dies bedeutet, daß sie die Kulturen der Mitgliedstaaten in ihrer nationalen und regionalen Vielfalt auch bei ihren sonstigen Tätigkeiten zu wahren und wenn möglich nicht zu beeinträchtigen hat, so daß die Europäische Gemeinschaft im Ergebnis bei der Verwirklichung anderer Politiken kulturelle Aspekte zu berücksichtigen hat 2 3 4 . Artikel 128 Absatz 4 EGV bildet damit eine neue Leitlinie für die Ausübung sämtlicher Kompetenzen der Europäischen Gemeinschaft. Im Bereich der Kultur ist der Europäischen Gemeinschaft also zwar eine ausdrückliche Kompetenz eingeräumt worden, und kulturelle Aspekte sind bei allen ihren Aktivitäten zu berücksichtigen. Ihre Kompetenzen sind jedoch auf die Förderung, Unterstützung und Ergänzung der Aktivitäten der Mitgliedstaaten beschränkt 235. Ihr stehen lediglich zwei Handlungsformen, nämlich Fördermaßnahmen und Empfehlungen zur Verfügung, die im Rat einstimmig beschlossen werden müssen und mit denen keinerlei Harmonisierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten verbunden sein darf. Trotz dieses nur sehr eingeschränkten Umfangs hat damit im Bereich der Kultur eine eng begrenzte Hoheitsrechtsübertragung auf die Europäische Gemeinschaft stattgefunden.

c) Gesundheitswesen Des weiteren besitzt die Europäische Gemeinschaft seit dem Inkrafttreten des EU-Vertrages aufgrund Artikel 129 EGV auch im Bereich des Gesundheitswesens ausdrückliche Kompetenzen.

meinen und der beruflichen Bildung keinen einstimmigen Beschluß des Rates im Rahmen des Verfahrens des Artikels 189 b EOV vor. Bei Empfehlungen auf diesen Gebieten ist vielmehr eine qualifizierte Mehrheit der Stimmen des Rates ausreichend. 233

Mit dieser Regelung soll jeder Mitgliedstaat ein seiner Meinung nach sachlich nicht gerechtfertigtes Eindringen der EG in seine nationale Kulturpolitik verhindern können, Baetge, BayVBl. 1993, S. 715. 234

Ress, DÖV 1992, S. 948; Klein/HaratscK

235

Klein/HaratscK

14 Uhrig

DÖV 1993, S. 794.

DÖV 1993, S. 794; Ress, DÖV 1992, S. 944.

210

Β. Hoheitsrechtsübertragungen im EUV

Der EWG-Vertrag enthielt für den Bereich der Gesundheitspolitik keine ausdrückliche Handlungsermächtigung236. Gleichwohl hat die Europäische Gemeinschaft Aktivitäten entfaltet, die gesundheitspolitische Regelungen zum Inhalt hatten 237 . So hat sie beispielsweise im Rahmen des 1. Aktionsprogramms „Europa gegen Krebs" 238 Arbeitnehmerschutzrichtlinien zur Verringerung der Fälle krebsbedingter Berufserkrankungen verabschiedet239. Mit Artikel 129 EGV steht nunmehr eine ausdrückliche Kompetenznorm zur Verfügung. Ziel des Gemeinschaftshandelns ist es, selbst einen Beitrag zur Sicherstellung eines hohen Gesundheitsschutzniveaus zu leisten 240 . Die Tätigkeit der Europäischen Gemeinschaft ist auf die Verhütung von Krankheiten, insbesondere der weitverbreiteten schwerwiegenden Krankheiten einschließlich der Drogenabhängigkeit gerichtet; dabei werden die Erforschung der Ursachen und der Übertragung dieser Krankheiten sowie die Gesundheitsinformation und -erziehung gefördert 241. Auch im Bereich des Gesundheitswesens soll die Europäische Gemeinschaft die Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten also lediglich ergänzen und nur erforderlichenfalls ergänzend eingreifen 242. Die vorrangige Verantwortlichkeit der Mitgliedstaaten für die Gesundheitspolitik bleibt unberührt 243 . Die Mitgliedstaaten trifft insofern die vorrangige Handlungsverpflichtung auf dem Gebiet des Gesundheitswesens, sie haben ihre Politiken und Programme untereinander im Benehmen mit der Kommission zu koordinieren. 236

Schwanenßügel, JZ 1993, S. 552.

237

Zu den bisherigen Aktivitäten der EG auf dem Gebiet der Gesundheitspolitik Schwanenßügel, JZ 1993, S. 551 f. 238

ABl. 1986 Nr. C 184 S. 5.

239

So z.B. die Richtlinie über den Schutz der Arbeitnehmer gegen Gefährdungen durch Karzinogene bei der Arbeit, ABl. 1990 Nr. L 196 S. 1, die als Annex zu Regelungen der Verbesserung der Arbeitsumwelt auf der Grundlage des Artikels 118 a Absatz 2 EWGV erlassen wurde. 240

Artikel 129 Abs. 1 Unterabsatz 1 EGV.

241

Artikel 129 Abs. 1 Unterabsatz 2 EGV.

242

Ein Beispiel hierfür ist etwa das von der Kommission vorgeschlagene Aktionsprogramm der Gemeinschaft für Gesundheitsberichterstattung. Ziel des Aktionsprogrammes ist die Sammlung von Gesundheitsdaten und -indikatoren, um auf diesem Wege Kenntnisse über bestehende Probleme im Bereich des Gesundheitsschutzes, Eigenarten und Ausmaß sowie über Veränderungen im Gesundheitszustand und über die Auswirkungen von Politiken, Programmen und Maßnahmen sowohl in den Mitgliedstaaten als auch auf Gemeinschaftsebene zu gewinnen, ABl. Nr. C 338 S. 4. Der Vorschlag sieht die Festlegung einer Reihe von Gesundheitsindikatoren, die Entwicklung eines Netzes für die Sammlung und die Verbreitung der für die Indikatoren benötigten Daten sowie den Aufbau der Kapazitäten für die Analyse von Daten vor. 243

Schweitzer/Hummer,

S. 504; Schwanenßügel, JZ 1993, S. 553.

IV. Europäische Gemeinschaft

211

Die Kommission kann in enger Fühlungnahme mit den Mitgliedstaaten alle Initiativen ergreifen, die dieser Koordinierung förderlich sind 244 . Die Europäische Gemeinschaft kann Fördermaßnahmen gemäß dem Verfahren des Artikels 189 b EGV erlassen und mit qualifizierter Mehrheit auf Vorschlag der Kommission Empfehlungen aussprechen245. Die Fördermaßnahmen des Rates haben unter Ausschluß jeglicher Harmonisierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten zu erfolgen 246 . Damit wird die Europäische Gemeinschaft auch auf dem Gebiet des Gesundheitswesens lediglich fördernd, das Handeln der Mitgliedstaaten ergänzend und unter Ausschluß jeglicher Harmonisierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten tätig. Ihre Kompetenzen sind hinsichtlich der ihr zur Verfügung stehenden Handlungsformen und Inhalte beschränkt. Sie soll lediglich die Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten fördern, die aber im Bereich des Gesundheitswesens vorrangige Entscheidungsträger bleiben. Damit sind auch im Bereich des Gesundheitswesens lediglich marginale Hoheitsrechtsübertragungen auf die Europäische Gemeinschaft erfolgt.

d) Verbraucherschutz Ein weiterer Bereich, in dem der Europäischen Gemeinschaft durch den EGVertrag erstmals ausdrückliche Kompetenzen eingeräumt wurden, ist der Verbraucherschutz. Gemäß Artikel 129 a EGV leistet die Europäische Gemeinschaft einen Beitrag zur Erreichung eines hohen Verbraucherschutzniveaus durch a) Maßnahmen, die sie im Rahmen der Verwirklichung des Binnenmarktes nach Artikel 100 a erläßt;

244

Artikel 129 Abs. 2 EGV. Wesentliche Grundlage für das bisherige Handeln der EG ist die Entschließung vom 02.06.1994 zum Aktionsprogramm im Bereich der öffentlichen Gesundheit, ABl. Nr. C 165 S. 1. Darauf aufbauend wurden von der Kommission ein Aktionsplan 1995-1999 zur Krebsbekämpfung, ABl. 1994 Nr. C 139 S. 12, und zur Prävention der Drogenabhängigkeit, ABl. 1994 Nr. C 257 S. 4, vorgeschlagen. 245 246

Artikel 129 Abs. 4 Spiegelstrich 2 EGV.

Artikel 129 Abs. 4 Spiegelstrich 1 EGV. Allerdings ist diese Begrenzung in einem Entwurf der Kommission für eine Entschließung über künftige Maßnahmen im Bereich der öffentlichen Gesundheit nach Ansicht des Bundesrates nicht beachtet worden, BR-Dr. 284/93, da die Kommission detaillierte Gemeinschaftsaktionen vorschlug, die über eine bloße Förderung der Zusammenarbeit weit hinausgingen. Der Rat hat diese Entschließung schließlich in stark modifizierter Form verabschiedet, ABl. 1993 Nr. C 174 S. 1. 1*

212

Β. Hoheitsrechtsübertragungen im EUV

b) spezifische Aktionen, welche die Politik der Mitgliedstaaten zum Schutz der Gesundheit, der Sicherheit und der wirtschaftlichen Interessen der Verbraucher und zur Sicherstellung einer angemessenen Information der Verbraucher unterstützten und ergänzen. 247 Im Bereich des Verbraucherschutzes ist die Europäische Gemeinschaft damit nicht auf Fördermaßnahmen unter Ausschluß der Harmonisierung der nationalen Rechts- und Verwaltungsmaßnahmen und Empfehlungen beschränkt. Sie kann vielmehr im Rahmen des Verfahrens des Artikels 100 a EGV Regelungen erlassen, die im Hinblick auf die Errichtung und das Funktionieren des Binnenmarktes gerade die Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten zum Ziel haben. Gleichwohl führt die Kompetenz der Europäischen Gemeinschaft auf dem Gebiet des Verbraucherschutzes nicht zum Verlust der entsprechenden grundsätzlichen Zuständigkeit auf Seiten der Mitgliedstaaten. Die durch die Europäische Gemeinschaft beschlossenen spezifischen Aktionen auf der Grundlage von Artikel 129 a Absatz 2 EGV hindern die Mitgliedstaaten nämlich nicht daran, strengere Schutzmaßnahmen beizubehalten oder zu ergreifen 248. Damit wird im Bereich des Verbraucherschutzes ein Zusammenspiel von Maßnahmen und Aktionen der Europäischen Gemeinschaft und nationalen Maßnahmen der Mitgliedstaaten dahingehend möglich, daß auf der Ebene der Europäischen Gemeinschaft allgemeine Standards festlegt werden, die von den Mitgliedstaaten durch nationale Regelungen ergänzt bzw. verschärft werden können. Europäische Gemeinschaft und Mitgliedstaaten leisten damit unterschiedliche Beiträge zur Erreichung eines hohen Verbraucherschutzniveaus. Eine umfassende Übertragung der nationalen Hoheitsrechte auf dem Gebiet des Verbraucherschutzes auf die Europäische Gemeinschaft ist insofern nicht erfolgt, die Hoheitsrechtsübertragung beschränkt sich vielmehr auf die Befugnis zur Festlegung einschlägiger Mindeststandards, von denen die Mitgliedstaaten jedoch weiterhin im Interesse weitergehenden Verbraucherschutzes abzuweichen befugt sind.

e) Transeuropäische Netze Der ebenfalls neu in den Vertrag aufgenommene Titel XIII über transeuropäische Netze 2 4 9 ermächtigt die Europäische Gemeinschaft, in den Bereichen

247

Artikel 129 a Abs. 1 EGV.

248

Artikel 129 a Abs. 3 EGV.

249

Artikel 129b-dEGV.

IV. Europäische Gemeinschaft

213

der Verkehrs- 250 , Telekommunikations- und Energieinfrastruktur am Auf- und Ausbau einer grenzüberschreitenden Vernetzung mitzuwirken 251. Die Vernetzung soll die Vorteile, die sich aus der Schaffung des Binnenmarktes ergeben, abrunden 252 und mittel- und langfristig die Wettbewerbsfähigkeit der Europäischen Gemeinschaft stärken 253. Sie soll die Entwicklung der kleinen und mittleren Unternehmen fördern und für die wissenschaftliche und technische Forschung einen wesentlichen Beitrag zur Schaffung von Arbeitsplätzen leisten 254 . Ziel der Tätigkeit der Europäischen Gemeinschaft ist die Förderung der Interoperabilität der einzelstaatlichen Netze sowie des Zugangs zu diesen Netzen 2 5 5 . Zur Verwirklichung dieses Zieles stehen der Europäischen Gemeinschaft drei einander ergänzende und zum Teil aufeinander aufbauende Handlungsmöglichkeiten zur Verfügung. Sie kann eine Reihe von Leitlinien aufstellen, in denen die Ziele, die Prioritäten und die Grundzüge der im Bereich der transeuropäischen Netze in Betracht gezogenen Aktionen erfaßt werden; in diesen Leitlinien werden Vorhaben von gemeinsamem Interesse ausgewiesen 256 . Sie kann zweitens jede Aktion durchführen, die sich gegebenenfalls als notwendig erweist, um die Interoperationalität der Netze zu gewährleisten, insbesondere im Bereich der Harmonisierung der technischen Normen 257 . Drittens kann sie die finanziellen Anstrengungen der Mitgliedstaaten für von

250

Die Verkehrsvorhaben erhalten 75 % der im Haushalt für transeuropäische Netze verfugbaren Mittel. Es handelt sich dabei für die 1995 und 1996 um einen Betrag von ca. 500 Mio. ECU, Schlußfolgerungen des Europäischen Rates von Cannes, Bulletin der EU 6/95, S. 12. 251

Artikel 129 b Abs. 1 EGV.

252

Artikel 129 b Abs. 1 EGV.

253

Der Europäische Rat von Madrid hat die wichtige Rolle der transeuropäischen Netze erneut bestätigt, da sie einen wesentlichen Beitrag zur Wettbewerbsfähigkeit, zur Schaffung von Arbeitsplätzen und zur Kohäsion der Gemeinschaft leisten können, Schlußfolgerungen des Europäischen Rates von Madrid, Bulletin der EU 12/1995, S. 14. Die Kommission will neben den bereits bewilligten 3,4 Milliarden DM in den nächsten 5 Jahren weitere 2,3 Milliarden DM zur Verfügung stellen, FAZ vom 12.12.1994, S. 15. 254 Schlußfolgerung des Europäischen Rates von Florenz, Agence Europe 23.06.1996, S. 7. 255

Artikel 129 b Abs. 2 EGV. Zu den bisherigen Projekten Jahresbericht Transeuropäische Netze 1995 KOM (95) 571 endg. 256

Einen Überblick über die bisher von der Kommission unterbreiteten Vorschläge über Leitlinien gibt Schweitzer/Hummer, S. 489 f. 257 Der Rat hat erstmals 1996 eine Entscheidung über eine Reihe von Aktionen zur Schaffung günstiger Rahmenbedingungen für den Ausbau transeuropäischer Netze im Energiebereich erlassen, ABl. 1996 Nr. L 161 S. 157.

214

Β. Hoheitsrechtsübertragungen im EUV

ihnen finanzierte Vorhaben von gemeinsamem Interesse, die im Rahmen der Leitlinien ausgewiesen sind, insbesondere in Form von Durchführungsstudien, Anleihebürgschaften oder Zinszuschüssen unterstützen; die Gemeinschaft kann auch über den Kohäsionsfonds zu spezifischen Verkehrsinfrastrukturvorhaben in den Mitgliedstaaten finanziell beitragen 258. Die Kompetenzen der Europäischen Gemeinschaft zur Aufstellung von Leitlinien sowie zur Ausweisung von Vorhaben von gemeinsamem Interesse 259 sind jedoch in zweierlei Hinsicht begrenzt. Sie setzen einerseits voraus, daß in den Mitgliedstaaten überhaupt Infrastrukturmaßnahmen vorhanden sind bzw. geplant werden. Die Europäische Gemeinschaft kann nationale Maßnahmen auf diesen Gebieten also nicht ersetzen. Die Leitlinien und Aktionen bedürfen darüber hinaus der Billigung des betroffenen Mitgliedstaates260. Die Festlegung von Leitlinien und die Ausweisung von Vorhaben als solche von gemeinsamem Interesse ist somit ohne die Zustimmung der betroffenen Mitgliedstaaten nicht möglich. Die Europäische Gemeinschaft kann die Infrastrukturpolitik der Mitgliedstaaten unterstützen und sie gegebenenfalls durch finanzielle Anreize fördern, sie kann jedoch keine eigene Infrastrukturpolitik betreiben. Sie kann Vorgaben erarbeiten, Rahmenbedingungen schaffen, und ihr steht das Mittel der finanziellen Unterstützung der Mitgliedstaaten zur Verfügung. Die Europäische Gemeinschaft besitzt also im Bereich der transeuropäischen Netze keine Kompetenz, die ihr einen umfassenden Handlungsspielraum eröffnen und etwa ein Handeln ohne oder gegen die Zustimmung der Mitgliedstaaten ermöglichen würde. Ihre Kompetenzen sind somit erneut koordinierender und die Mitgliedstaaten unterstützender Natur, die auf die Europäische Gemeinschaft übertragenen Hoheitsrechte sind wiederum entsprechend beschränkt.

f) Industrie Ebenfalls neu in den Vertrag aufgenommen wurde eine ausdrückliche Kompetenz der Europäische Gemeinschaft auf dem Gebiet der Industrie. Die Aufnahme einer derartigen Gemeinschaftspolitik war schwierig, weil in den Mitgliedstaaten für den Bereich der Industriepolitik unterschiedliche Auf-

258

Artikel 129 c Abs. 1 EGV.

259

Die EG hat bis Dezember 1994 bereits 14 Verkehrsvorhaben als vorrangig eingestuft. Das Investitionsvolumen beträgt 175 Milliarden DM. Dabei handelt es sich um die Förderung von Hochgeschwindigkeitsstrecken und die Modernisierung von Eisenbahnverbindungen sowie den Bau von Autobahnen und die Modernisierung von Flughäfen, FAZ vom 12.12.1994, S. 15. 260

Artikel 129 d Unterabsatz 2 EGV.

IV. Europäische Gemeinschaft

215

fassungen hinsichtlich der Notwendigkeit und Erforderlichkeit staatlicher Interventionen und Lenkung bestehen. Während eine aktive staatliche Lenkung der Industriepolitik in Deutschland nach wie vor auf Vorbehalte stößt, ist dies in anderen Mitgliedstaaten, etwa in Frankreich, traditionell wesentlich weniger umstritten 261. Die Kompetenz der Europäischen Gemeinschaft für den Bereich der Industriepolitik zielt denn auch nicht auf eine gemeinschaftsweit einheitliche Form der Lenkung der Industriepolitik oder auf die Verschiebung der Kompetenzen zwischen Europäischer Gemeinschaft und Mitgliedstaaten. Sie hat vielmehr die Gewährleistung der Wettbewerbsfähigkeit der Gemeinschaftsindustrie im internationalen Wettbewerb zum Ziel. Sie hat insofern folgende Zielsetzungen: -

Erleichterung der Anpassung der Industrie an die strukturellen Veränderungen; Förderung eines für die Initiative und Weiterentwicklung der Unternehmen in der gesamten Gemeinschaft, insbesondere der kleinen und mittleren Unternehmen, günstigen Umfelds; - Förderung eines für die Zusammenarbeit zwischen Unternehmen günstigen Umfelds; - Förderung einer besseren Nutzung des industriellen Potentials der Politik in den Bereichen Innovation, Forschung und technologischen Entwicklung.262

Zu diesem Zweck arbeiten Europäische Gemeinschaft und Mitgliedstaaten zusammen: Die Mitgliedstaaten konsultieren einander in Verbindung mit der Kommission und koordinieren, soweit erforderlich, ihre Maßnahmen. Die Kommission kann alle Initiativen ergreifen, die dieser Koordinierung förderlich sind 263 . Die Gemeinschaft trägt durch die Politik und die Maßnahmen, die sie aufgrund anderer Bestimmungen dieses Vertrags durchführt, zur Erreichung der Ziele der Industriepolitik bei. Der Rat kann auf Vorschlag der Kommission und nach Anhörung des Europäischen Parlaments und des Wirtschafts- und Sozialausschusses einstimmig spezifische Maßnahmen zur Unterstützung der in den Mitgliedstaaten durchgeführten Maßnahmen beschließen264. Damit besitzen weiterhin die Mitgliedstaaten die Kompetenz zur grundlegenden Gestaltung ihrer nationalen Industriepolitiken. Die Europäische Gemeinschaft wird lediglich unterstützend tätig. Jeder Mitgliedstaat kann Gemeinschaftsaktivitäten auf dem Gebiet der Industriepolitik durch sein Veto verhindern, denn für Maßnahmen der Europäischen Gemeinschaft in diesem Bereich ist eine einstimmige Entscheidung erforderlich 265. Ein Handeln der 261

Baetge, BayVBl. 1992, S. 715.

262

Artikel 130 Abs. 1 Unterabsatz 2 EGV.

263

Artikel 130 Abs. 2 EGV.

264

Artikel 130 Abs. 2 und 3 EGV.

265

Artikel 130 Abs. 3 Satz 2 EGV.

Β. Hoheitsrechtsübertragungen im EUV

216

Europäischen Gemeinschaft gegen den Willen eines Mitgliedstaates ist folglich nicht möglich. Gemeinschaftsmaßnahmen können infolgedessen keinesfalls die nationalen Maßnahmen der Mitgliedstaaten auf dem Gebiet der Industriepolitik ersetzen. Handlungsschwerpunkt der Industriepolitik der Europäischen Gemeinschaft ist vielmehr die Unterstützung der Mitgliedstaaten bei der Koordinierung der nationalen Industriepolitiken. Hoheitsrechtsübertragungen haben in diesem Bereich folglich nicht stattgefunden.

g) Entwicklungszusammenarbeit Schließlich wurde durch Artikel 130 u EGV eine neue Kompetenznorm zugunsten der Europäischen Gemeinschaft in den EG-Vertrag eingefügt. Die Entwicklungshilfe der Europäischen Gemeinschaft, die sich bisher im wesentlichen auf Artikel 235 und 238 EWGV stützte 266 , ist nunmehr in den Artikeln 130 u ff. EGV geregelt. Gemäß Artikel 130 u EGV ist die Entwicklungshilfe der Europäischen Gemeinschaft eine Ergänzung der entsprechenden Politiken der Mitgliedstaaten267. Sie hat damit eine koordinierende, beratende und konzeptgebende Funktion 268 . Neben der Koordination der Politiken der Mitgliedstaaten kann die Europäische Gemeinschaft nach dem Verfahren des Artikels 189 c EGV eigene Maßnahmen, etwa in Form von Mehrjahresprogrammen 269, oder einzelne eigene Hilfsprogramme 270 erlassen. Die Europäische Gemeinschaft berücksichtigt die Ziele dieser Politik bei den anderen von ihr verfolgten Politiken 271 . Europäische Gemeinschaft und Mitgliedstaaten arbeiten bei der Verwirklichung der Ziele der Entwicklungszusammenarbeit zusammen. Sie koordinieren ihre jeweiligen Politiken und stimmen ihre Hilfsprogramme, auch in internationalen Organisationen und auf internationalen Konferenzen, a b 2 7 2 . Sie können gemeinsame Maßnahmen ergreifen 273. Die Mitgliedstaaten tragen erforderlichenfalls zur Durchführung der Hilfsprogram-

266 Gilsdorf Anhang zu Artikel 136 a, Rn. 3 ff., in: von der Groeben/Thiesing/ Ehlermann (Hrsg.), Kommentar zum EWGV; Schweitzer/Hummer, S. 484 f. 267

Artikel 130 u Abs. 1 EGV.

268

Schweitzer/Hummer, Kommentar zum EGV. 269

S. 683; Hecker, Artikel 130 u, Rn. 9, in: Lenz (Hrsg.),

Artikel 130 w Abs. 1 EGV.

270

So z.B. VO Nr. 1734/94 über die finanzielle und technische Zusammenarbeit mit den besetzten Palästinenser-Gebieten, ABl. 1994 Nr. L 182 S. 4 ff. 271 272

Artikel 130 ν EGV. Artikel 130 χ Abs. 1 Satz 1 EGV. Artikel 1 0

Abs. 1 atz 2 EGV.

IV. Europäische Gemeinschaft

217

me der Gemeinschaft bei 2 7 4 . Die Kommission kann alle Initiativen ergreifen, die der in Artikel 130 χ Absatz 1 EGV genannten Koordinierung förderlich sind 275 . Darüber hinaus arbeiten Europäische Gemeinschaft und Mitgliedstaaten im Rahmen ihrer jeweiligen Befugnisse mit Drittländern und internationalen Organisationen zusammen276. Dadurch wird jedoch die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten, in internationalen Gremien zu verhandeln und internationale Abkommen zu schließen, nicht berührt 277 . Auch auf dem Gebiet der Entwicklungszusammenarbeit wird der Europäischen Gemeinschaft somit eine eigene Kompetenz eingeräumt, die neben die Kompetenz der Mitgliedstaaten auf diesem Gebiet tritt. Die Europäische Gemeinschaft kann einerseits Mehrjahresprogramme erlassen, sie soll andererseits aber auch die nationalen Programme der Mitgliedstaaten koordinieren. Die nebeneinander bestehenden Kompetenzen der Mitgliedstaaten und der Europäischen Gemeinschaft auf dem Gebiet der Entwicklungspolitik sollen einander insofern ergänzen, nicht aber soll die Kompetenz der Europäischen Gemeinschaft die der Mitgliedstaaten ablösen.

h) Ergebnis Die durch den EU-Vertrag bewirkten Änderungen des EWG-Vertrages begründen in den Artikeln 127 ff. EGV einerseits neue Kompetenzen zugunsten der Europäischen Gemeinschaft, andererseits runden sie vorhandene Kompetenzen ab und weisen der Europäischen Gemeinschaft ausdrückliche Kompetenzen für Bereiche zu, in denen diese auch bisher schon Maßnahmen durchgeführt hat. Zu diesem Zweck werden Kompetenzbestimmungen zugunsten der Europäischen Gemeinschaft in solchen Bereichen in den EG-Vertrag aufgenommen, in denen der EuGH durch Auslegung des EWG-Vertrages und insbesondere der Artikel 100, 100 a und des Artikels 235 EWGV bereits vom Bestehen entsprechender Gemeinschaftskompetenzen ausgegangen ist 2 7 8 . Die Europäische Gemeinschaft besitzt nunmehr ausdrückliche Kompetenzen in den Bereichen allgemeine und berufliche Bildung und Jugend, Kultur, Gesund-

274

Artikel 130 χ Abs. 1 Satz 4 EGV.

275

Artikel 130 χ Abs. 2 EGV.

276 Die Einzelheiten dieser Zusammenarbeit können Gegenstand von Abkommen zwischen der EG mit den betroffenen Drittländern und internationalen Organisationen sein, die nach Artikel 228 EGV ausgehandelt und abgeschlossen werden, Artikel 130 y EGV. 277

Artikel 130 y Unterabsatz 2 EGV.

27 8

Everling, DVB1. 1993, S. 938.

218

Β. Hoheitsrechtsübertragungen im EUV

heitswesen, Verbraucherschutz, transeuropäische Netze, Industrie und Entwicklungszusammenarbeit. Auf dem Gebiet der allgemeinen und beruflichen Bildung bestehen zugunsten der Europäischen Gemeinschaft nunmehr in Form der Artikel 126 f. EGV ausdrückliche Ermächtigungsgrundlagen, die vorhandene Zweifel an der bisher von der Europäischen Gemeinschaft in Anspruch genommenen Kompetenzen ausräumen. Gleiches gilt für den Bereich der Kulturpolitik. Die Kompetenzen in den Bereichen Gesundheitswesen und Verbraucherschutz sollen wie die Kompetenz zum Auf- und Ausbau transeuropäischer Netze der Vervollständigung des Binnenmarktes dienen. Die Kompetenzen der Europäischen Gemeinschaft im Bereich der Industriepolitik sollen dem Ziel der Erhöhung und der Garantie der Wettbewerbsfähigkeit der Gemeinschaftsindustrie auf den Weltmarkt dienen. Die Europäische Gemeinschaft kann im Rahmen dieser Politiken in Form unterschiedlicher, jeweils eng umgrenzter Handlungsformen tätig werden. Sie kann auf dem Gebiet der Entwicklungszusammenarbeit eigene Hilfsprogramme entwickeln. Auf dem Gebiet der transeuropäischen Netze ist sie ermächtigt, Leitlinien aufzustellen, Aktionen durchzufuhren und die Anstrengungen der Mitgliedstaaten finanziell zu unterstützen. In der Verbraucherschutzpolitik kann sie Richtlinien erlassen. Diese stellen jedoch lediglich Rahmenvorschriften dar, die von den Mitgliedstaaten durch nationale Regelungen ergänzt und verschärft werden können. In den übrigen Bereichen ist die Europäische Gemeinschaft auf Fördermaßnahmen und Empfehlungen beschränkt, die unter Ausschluß jeglicher Harmonisierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten zu erfolgen haben. In den Bereichen Kultur und Industrie muß der Rat zudem einstimmig beschließen mit der Folge, daß ein Mitgliedstaat Gemeinschaftshandeln durch sein Veto verhindern kann. In all diesen Bereichen werden der Europäischen Gemeinschaft somit lediglich eng begrenzte Kompetenzen eingeräumt. Die Europäische Gemeinschaft kann diese Bereiche nicht umfassend regeln, sie kann vielmehr die Politiken der Mitgliedstaaten lediglich koordinieren und unterstützen. Die Kompetenzen der Europäischen Gemeinschaft ersetzen mitgliedstaatliches Handeln nicht, sondern sollen das Handeln der Mitgliedstaaten flankieren. Die Gemeinschaftskompetenzen sind auf die Verwirklichung inhaltlich eng begrenzter Ziele beschränkt, für deren Verwirklichung nur beschränkte Handlungsmöglichkeiten zur Verfügung stehen. Die Änderungen des EWG-Vertrages sind gleichwohl bedeutsam, weil sie durch konkrete und ausdrückliche Kompetenzzuweisungen an die Europäische Gemeinschaft die Kompetenzen zwischen Europäischer Gemeinschaft und Mitgliedstaaten schärfer voneinander abgrenzen als dies vor Inkrafttreten des EU-Vertrages bei Herleitung der entsprechenden Gemeinschaftskompetenzen

IV. Europäische Gemeinschaft

219

aus Artikel 235 EWGV und aus anderen unspezifischen Vertragsbestimmungen der Fall war. Der EG-Vertrag hebt Bereiche, in denen die Europäische Gemeinschaft auch bislang tätig war, „aus der Grauzone einer ungewissen gemeinschaftlichen Zuständigkeit"279 auf die Ebene der ausdrücklichen Gemeinschaftskompetenz. Dadurch wird die Rechtssicherheit erhöht, denn in diesen Bereichen gehen die nunmehr ausdrücklichen Ermächtigungsgrundlagen als leges speciales den allgemeinen Harmonisierungs- oder Ermächtigungsgrundlagen Artikel 100, 100 a und 235 EWGV vor und schließen sie als Ermächtigungsgrundlagen aus 2 8 0 . Durch die nunmehr ausdrücklich zugewiesenen Kompetenzen werden die Handlungsmöglichkeiten der Europäischen Gemeinschaft damit nicht nur ausdrücklich bestätigt, sondern zugleich inhaltlich präzisiert und begrenzt. Damit wird einer „unkontrollierten Ausuferung" von Kompetenzen der Europäischen Gemeinschaft, wie sie vor allem im Zusammenhang mit Artikel 128 EWGV kritisiert wurde, nunmehr eine ausdrückliche Grenze gesetzt281. So stehen die Kompetenzen in diesen Bereichen nunmehr ausdrücklich unter dem Vorbehalt, daß Maßnahmen der Europäischen Gemeinschaft nicht die Vereinheitlichung der nationalen Rechts- und Verwaltungsvorschriften zum Gegenstand haben dürfen 282 . Die Regelungen des EG-Vertrages verpflichten die Europäische Gemeinschaft auf die strikte Beachtung der Verantwortlichkeit der Mitgliedstaaten beispielsweise in Fragen der Bildungspolitik283. Diese Bereiche sind der Regelung durch die Europäische Gemeinschaft nunmehr gänzlich entzogen284.. Die auf den ersten Blick erheblich erscheinende Kompetenzerweiterung auf Seiten der Europäischen Gemeinschaft hat damit zugleich eine restriktive Wirkung 285 , denn die Kompetenzen der Europäischen Gemeinschaft auf diesen Gebieten sind hinsichtlich der Regelungsmittel und -inhalte beschränkt. Damit werden die Kompetenzen der Europäischen Gemeinschaft auf diesen Gebieten

27 9

Stauffenberg/Langenfeld,

ZRP 1992, S. 254.

280

Schlußfolgerungen des Europäischen Rates von Edinburgh, EA 1992, S. D 9 Fn. 1 ; Lambers, EuR 1993, S. 231; Pernice , DVB1. 1993, S. 913; Böhm, BayVBl. 1993, S. 547; a.A. Klein/Haratsch, DÖV 1993, S. 974, für den Bereich der Kulturpolitik ebenso Bohr/Albert, ZRP 1993, S. 65. 281

Everting, 1993, S. 547.

DVB1. 1993, S. 938; Pernice , DVB1. 1993, S.912; Böhm, BayVBl.

282

Magiera, Jura 1994, S. 6, sieht hierin Anhaltspunkte für eine mögliche Stagnation oder gar Rückentwicklung des Integrationsprozesses. 283

Artikel 126 Abs. 1; Artikel 127 Abs. 1 EGV.

284

Lambers, EuR 1993, S. 231; Strohmeier, BayVBl. 1993, S. 419.

285

Böhm, BayVBl. 1993, S. 547.

220

Β. Hoheitsrechtsübertragungen im EUV

teilweise sogar gegenüber der Rechtslage vor Inkrafttreten des EU-Vertrages beschnitten286. Die Kompetenzen der Europäischen Gemeinschaft sind nunmehr ausdrücklich auf die Koordinierung der mitgliedstaatlichen Politiken, auf ergänzende Maßnahmen der Europäischen Gemeinschaft sowie auf die Finanzierung mitgliedstaatlicher Programme beschränkt 287. Es entsteht ein ergänzendes Nebeneinander von mitgliedstaatlichen und gemeinschaftlichen Kompetenzen 288 , das durch den EG-Vertrag nunmehr ausdrücklich geregelt worden ist. Damit werden in den angesprochenen Bereichen durch die neuen Bestimmungen des EG-Vertrages zu einem großen Teil lediglich bereits bestehenden Hoheitsrechte der Europäischen Gemeinschaft bestätigt; soweit zusätzlich neue Hoheitsrechte auf die Europäische Gemeinschaft übertragen worden sind, handelt es sich um Hoheitsrechtsübertragungen, die inhaltlich wie vom zur Verfügung stehenden Handlungsinstrumentarium in sehr weitgehendem Maße begrenzt sind.

4. Wirtschaftsunion Fraglich ist, ob durch den Vertrag von Maastricht im Bereich der Wirtschaftspolitik Hoheitsrechtsübertragungen auf die Europäische Gemeinschaft erfolgt sind. Die Regelungen über die Wirtschaftsunion bilden als Teil der angestrebten Wirtschafts- und Währungsunion einen der Eckpfeiler des Vertrages über die Europäische Union. Nach Artikel 3 a Absatz 1 EGV umfaßt die Tätigkeit der Mitgliedstaaten und der Europäischen Gemeinschaft die Einführung einer Wirtschaftspolitik, die auf einer engen Koordinierung der Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten, dem Binnenmarkt und der Festlegung gemeinsamer Ziele beruht und dem Grundsatz einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb verpflichtet ist. Artikel 3 a EGV präzisiert damit die Grundsätze der Wirtschaftspolitik der Europäischen Gemeinschaft über die bisher im EWG-Vertrag vorhandenen Ziele und Aufgaben hinaus. Durch einen Vergleich der wirtschaftspolitischen Kompetenzen der Gemeinschaft vor und nach Inkrafttreten

286

Classen, ZRP 1993, S. 58.

287

Seidel, EuR 1992, S. 132; Böhm, BayVBl. 1993, S. 547.

288

Pernice , Der Staat 1993, S. 460; Lambers, EuR 1993, S. 231; Hahn, Vertrag von Maastricht, S. 7. A.A. Murswiek, Der Staat 1993, S. 180, der zu dem Ergebnis kommt, daß der EG nahezu unbegrenzte Aufgabenfelder erschlossen worden sind. Er berücksichtigt jedoch nicht, daß die EG auf fördernde und unterstützende Aufgaben beschränkt ist. Böhm, BayVBl. 1993, S. 547, kommt daher zutreffend zu dem Schluß, daß die Position der Mitgliedstaaten durch den EUV nicht geschwächt, sondern gestärkt wurde.

IV. Europäische Gemeinschaft

221

des EG-Vertrages soll nachfolgend der Umfang der in diesem Bereich insgesamt erfolgten Hoheitsrechtsübertragungen dargestellt werden.

a) Wirtschaftspolitische

Kompetenzen der Europäischen

Wirtschaftsgemeinschaft

nach dem EWG-Vertrag

Als die sechs Gründungsmitglieder der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft am 25. März 1957 den EWG-Vertrag 289 unterzeichneten, wollten sie dadurch vor allem eine institutionalisierte und mit den erforderlichen Handlungsmöglichkeiten ausgestattete wirtschaftspolitische Zusammenarbeit erreichen 290 . Die herausragende Bedeutung gerade der wirtschaftlichen Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten, die sich nicht auf einzelne Wirtschaftsbereiche beschränken291, sondern im Rahmen des E WG-Vertrages alle Bereiche der Wirtschaftsbeziehungen der Mitgliedstaaten erfassen sollte 292 , kommt bereits in der Bezeichnung der Gemeinschaft als „Wirtschafts"-Gemeinschaft zum Ausdruck 293. Das Ziel einer Wirtschaftsgemeinschaft fand seinen Ausdruck vor allem in Artikel 2 EWGV, der die wirtschaftliche Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten verbindlich zu Aufgabe und Zweckbestimmung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft machte 294 . Danach war es Aufgabe der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, eine harmonische Entwicklung des Wirtschaftslebens innerhalb der Gemeinschaft, eine beständige und ausgewogene Wirtschaftsausweitung, eine größere Stabilität, eine beschleunigte Hebung der Lebenshaltung und engere Beziehungen zwischen den Staaten zu fördern 295. Ziel des Zusammenschlusses der Mitgliedstaaten in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft war die Zusammenfassung der getrennten nationalen Einzelmärkte durch die Beseitigung von Marktgrenzen zwischen den Mit-

289

BGBl 1957 IIS. 766.

290

Pescatore , EuR 1986, S. 153; Hellwig, S. 37.

291

So noch im EGKSV, dessen Ziel sich ausschließlich auf den Zusammenschluß der europäischen Kohle- und Stahlindustrie beschränkt, Pipkorn, in: Beutler/Bieber/ Pipkorn/Streil, S. 34. 292

Everling, Koordinierung der Wirtschaftspolitik, S. 3.

293

So auch Schweitzer/Hummer,

S. 317; Scherer, S. 72.

294

Zuleeg, Artikel 2, Rn. 2, in: von der Groeben/Thiesing/Ehlermann (Hrsg.), Kommentar zum EWGV; Oppermann, Europäische Wirtschaftsverfassung, S. 69; Grabitz, Artikel 2, Rn. 1, in: ders./Hilf (Hrsg.), Kommentar zum EUV. Petersmann, EuZW 1993, S. 593, sieht den EWGV als Wirtschaftsverfassung. 295

S. 87.

Zuleeg, Wirtschaftsverfassung der EG, S. 76; Nicolaysen, Gemeinschaftsrecht,

222

Β. Hoheitsrechtsübertragungen im EUV

gliedstaaten296. Beweggrund hierfür war die Annahme, daß durch den Zusammenschluß mehrerer Volkswirtschaften ein größerer Markt und eine höhere Produktion bei geringeren Kosten entsteht, die einzelnen Produktionsfaktoren optimal ausgenutzt werden können und das Wirtschaftswachstum erheblich gefördert wird 2 9 7 . Die Mitgliedstaaten wollten auf diesem Wege Preisstabilität, die Ausgeglichenheit ihrer Zahlungsbilanzen und die Stabilität von Angebot und Nachfrage erreichen 298 sowie den Lebensstandard und die Lebensqualität ihrer Bürger verbessern 299. Mittel zur Erreichung des Ziels einer Wirtschaftsgemeinschaft sind die Errichtung eines Gemeinsamen Marktes (aa) und die schrittweise Annäherung der Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten (bb).

aa) Gemeinsamer Markt Erstes Mittel zur Erreichung der Wirtschaftsgemeinschaft ist die Errichtung des Gemeinsamen Marktes 300 . Damit ist ein Wirtschaftsraum umschrieben, in dem die Beseitigung aller Hemmnisse des innergemeinschaftlichen Handels mit dem Ziele der Verschmelzung der nationalen Märkte zu einem einheitlichen Markt angestrebt wird 3 0 1 . Daneben beinhaltet er die Schaffung einer Zollunion, die sich auf den gesamten Warenaustausch der Mitgliedstaaten erstreckt, also auf alle Waren, die aus den Mitgliedstaaten stammen oder die aus Drittstaaten in den freien Warenverkehr eines Mitgliedstaates aufgenommen worden sind 302 . Die Zollunion umfaßt die Abschaffung der Zölle sowie der zollgleichen Abgaben zwischen den Mitgliedstaaten und die Aufstellung eines Gemeinsamen Zolltarifs gegenüber Drittstaaten. Weitere Mittel zur Errichtung des Gemeinsamen Marktes sind die Beseitigung der mengenmäßigen Beschränkungen sowie aller Maßnahmen gleicher Wirkung im Handel zwischen den Mitgliedstaaten

296

Nicolaysen, Gemeinschaftsrecht, S. 88.

297

Grabitz, Artikel 2, Rn. 5, in: ders./Hilf (Hrsg.), Kommentar zum EUV.

298

Grabitz, Artikel 2, Rn. 6, in: ders./Hilf (Hrsg.), Kommentar zum EUV.

299 Zuleeg, Artikel 2, Rn. 15, in: von der Groeben/Thiesing/Ehlermann (Hrsg.), Kommentar zum EWGV. 300

Ipsen, H. P., bezeichnet den Gemeinsamen Markt als „wirtschaftspolitschen Kern der Integration", ders., Gemeinschaftsrecht, S.U. Schon die Gliederung des EWGV zeigt, daß die Errichtung des Gemeinsamen Marktes ein Kernstück des Vertrages bildet, Scherer, S. 85. 301 EuGH 05.05.1982 - Schul/Inspecteur der Invoorrechten en Accijnzen, Rs. 15/81 - Slg. 1982, S. 1409, 1431 f. Oppermann, Europarecht, Rn. 1128. 302

Ipsen, H. P., HdbStR VII, § 181 Rn. 44.

IV. Europäische Gemeinschaft

223

sowie der Ausschluß von Diskriminierungen zwischen den Angehörigen der Mitgliedstaaten, etwa durch nationale staatliche Handelsmonopole303, ferner die Liberalisierung des Personen-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehrs, eine gemeinsame Handels-, Landwirtschafts-, Fischerei- und Verkehrspolitik, der Schutz vor Wettbewerbsverfälschungen und die fur das Funktionieren des Gemeinsamen Marktes erforderliche Rechtsangleichung304. Damit wird der Gemeinsame Markt durch „zwei Gesichter", nämlich die Freiheit nach innen und Einheitlichkeit nach außen 305 , und ein System unverfälschten Wettbewerbs geprägt 306 . Zur Errichtung des gemeinsamen Marktes sind der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft vielfältige Kompetenzen zur Rechtsetzung, Rechtsangleichung und teilweise auch zu unmittelbarer Gemeinschaftsverwaltung übertragen worden. Hierbei ist zu berücksichtigen, daß im Grunde das gesamte Tätigwerden der Europäischen Gemeinschaft wirtschaftliche Zielsetzungen verfolgt, so daß auch sämtliche Kompetenzen der Europäischen Gemeinschaft unmittelbar oder zumindest mittelbar zur Gestaltung der Wirtschaftspolitik herangezogen werden können. Besonders nachhaltige Kompetenzen zur Gestaltung der Wirtschaftspolitik sind der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft beispielsweise im Bereich der Wettbewerbspolitik übertragen worden. Die Kompetenzen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft im Bereich der Wettbewerbspolitik sollen der Verwirklichung eines Wirtschaftsraumes ohne Binnengrenzen 307 diesen. Gemeinschaftsweit einheitliche Regelungen auf dem Gebiet des Wettbewerbsrechts sind besonders erforderlich, weil der Wettbewerb innerhalb der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft nur dann funktionieren kann, wenn er vor Verfälschung, Behinderung und Ausschaltung geschützt ist 3 0 8 . Die Verwirklichung dieses grundlegenden Ziels 3 0 9 dienten die Artikel 85 ff. E W G V 3 1 0 .

303

Artikel 9-36 EWGV.

304

So die Auflistung bei Ipsen, H. P., HdbStR VII, § 181 Rn. 45.

305

Ipsen, H. P., Gemeinschaftsrecht, S. 550 ff.

306

VerLoren van Themaat, S. 462; Grabitz, Artikel 2, Rn. 15, in: ders./Hilf (Hrsg.), Kommentar zum EUV. 307

Der Begriff des „Raumes ohne Binnengrenzen" wurde durch die Änderung des EWGV im Rahmen der EEA in Artikel 8 a EWGV eingeführt und ersetzt nunmehr den Begriff des Gemeinsamen Marktes, hierzu Schweitzer/Hummer, S. 328 f. 308

EuGH 21.02.1973 - Europemballage und Continental Can/Kommission, Rs. 6/72 -Slg. 1973, S.215, 244 f. 309 Es handelt sich bei diesen Forderungen nicht um allgemeine Programmsätze, sondern um grundlegende Ziele des EWGV, EuGH 21.02.1973 - Europemballage und Continental Can/Kommission, Rs 6/72 - Slg. 1973, S. 215, 244 f.

224

Β. Hoheitsrechtsübertragungen im EUV

Sie enthielten Ermächtigungsgrundlagen für die Errichtung eines Systems von Wettbewerbsregelungen 311, dessen Ziel der innergemeinschaftliche Handel in freiem Wettbewerb zwischen den privaten und öffentlichen Unternehmen war 3 1 2 . Daher sind wettbewerbshindernde, -einschränkende oder -verfälschende Vereinbarungen, Beschlüsse und auf-einander abgestimmte Verhaltensweisen zwischen Unternehmen und Unternehmensvereinigungen 313 ebenso verboten wie der Mißbrauch einer marktbeherrschenden Stellung 314 . Dies gilt auch für öffentliche Unternehmen und solche, denen die Mitgliedstaaten besondere oder ausschließliche Rechte eingeräumt haben 315 . Die Gemeinschaftsorgane konnten zur Beachtung dieser Verbote gemäß den Artikeln 87 - 89 EWGV Verordnungen und Richtlinien und im Falle von Zuwiderhandlungen einzelner Wirtschaftsteilnehmer auch Entscheidungen gegen diese erlassen 316. Die „parallele" Geltung nationalen Kartellrechts und der Wettbewerbsregeln der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft ist grundsätzlich möglich 317 . Das nationale Kartellrecht kann jedoch nur solange Anwendung finden, wie die einheitliche Anwendung der Regelungen des gemeinschaftlichen Wettbewerbsrechts und die volle Wirkung der zu seinem Vollzug ergangenen Maßnahmen nicht beeinträchtigt wird 3 1 8 . Im Konfliktfall gehen also gemeinschaftsrechtliche Wettbewerbsregeln vor 3 1 9 . Darüber hinaus obliegt abweichend von der übli-

310

Grabitz, Artikel 2, Rn. 3, in: ders./Hilf (Hrsg.), Kommentar zum EUV; Schröter, Vorb. zu den Artikeln 85-94; Rn. 9, in: von der Groeben/Thiesing/Ehlermann (Hrsg.), Kommentar zum EWGV; Behrens, Jura 1989, S. 571. 311

Koch, Vorb. zu Artikel 85, Rn. 1, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), Kommentar zum

EUV. 312

Oppermann, Europarecht, Rn. 898.

313

Artikel 85 EWGV.

314

Artikel 86 EWGV.

315

Artikel 90 EWGV.

316

Artikel 87 EWGV hat der EG als Rechtsgrundlage für zahlreiche Verordnungen und Richtlinien gedient. Eine Übersicht gibt Schröter, Einl. Vorb. zu den Artikeln 8594, in: von der Groeben/Thiesing/Ehlermann (Hrsg.), Kommentar zum EWGV. 317

EuGH 13.02.1969 - Walt Wilhelm u.a./Bundeskartellamt, Rs. 14/68 - Slg. 1969, S. 1, 13. 318

EuGH 13.02.1969 - Walt Wilhelm u.a./Bundeskartellamt, Rs. 14/68 - Slg. 1969, S. 1, 13; EuGH 10.07.1980 - Produceur de la République/Giry und Guerlain, verb. Rs. 253/78 und 1-3/79- Slg. 1980, S. 2327, 2375. 319

Dies bestätigt auch der EuGH, wenn er ausführt: „ (...) Artikel 87 Abs. 2 lit. e EWGV bestätigt den Vorrang des Gemeinschaftsrechts, indem er ein Gemeinschaftsorgan ermächtigt, das Verhältnis zwischen innerstaatlichen Rechtsvorschriften und dem Wettbewerbsrecht der Gemeinschaft festzulegen", EuGH 13.02.1969 - Walt Wilhelm

IV. Europäische Gemeinschaft

225

chen Trennung von gemeinschaftlicher Rechtsetzungskompetenz und mitgliedstaatlichem Vollzug im Wettbewerbsrecht auch der Vollzug des Gemeinschaftsrechts den Gemeinschaftsorganen 320 mit der Folge, daß zwischen Wettbewerbsaufsicht durch die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft und solcher der Mitgliedstaaten zu unterscheiden ist. Die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft ist in den Fällen zuständig, in denen Maßnahmen der Mitgliedstaaten den Handel zwischen den Mitgliedstaaten beeinträchtigen321. Die Verwirklichung des Zieles unverfälschten Wettbewerbs wurde also in die Hände der Gemeinschaftsorgane gelegt. Die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft besitzt auf diesem Gebiet Kompetenzen, die im Konfliktfall die Kompetenzen der Mitgliedstaaten zur Rechtsetzung beschränken322. Auf dem Gebiet der Wettbewerbspolitik sind der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft somit Hoheitsrechte übertragen worden. Beispiel für einen weiteren Wirtschaftsbereich 323, in dem die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft über Kompetenzen zur Verwirklichung einer gemeinschaftsrechtlich geregelten Wirtschaftspolitik verfügte, in dem also Ermächtigungsgrundlagen für ein Handeln der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft bestanden, ist die der Landwirtschaftspolitik. So enthielt Artikel 40 Absatz 2 EWGV die Ermächtigung zur Entwicklung einer gemeinsamen Agrarpolitik mit dem Ziel eines einheitlichen Agrarmarkts mit freiem Warenverkehr, einheitlichen Preisen und einer gemeinsamen Finanzierung 324. Mittel zur Erreichung der Gemeinsamen Agrarpolitik sind die Gemeinsame Organisation der Agrarmärkte 325 , Maßnahmen zur Koordinierung der Berufsausbildung, der Forschung und der Verbreitung landwirtschaftlicher Fachkenntnisse sowie die Förderung des Verbrauchs bestimmter Erzeugnisse 326 und die grundsätzlich

u.a./Bundeskartellamt, Rs. 14/68 - Slg. 1969, S. 1, 14. Schröter, Artikel 87, Rn. 48, in: von der Groeben/Thiesing/Ehlermann (Hrsg.), Kommentar zum EWGV. 320

Beispiel hierfür ist etwa die Verordnung Nr. 17, ABl. 1962 S. 204.

321

Die Wettbewerbsaufsicht gehört damit zu der sichtbarsten und wirksamsten Einflußnahmemöglichkeit der Gemeinschaft auf die nationalen Unternehmen, Ipsen, H. P., HdbStR VII, § 181 Rn. 48. 322

So im Ergebnis auch Behrens, Jura 1989, S. 562.

323

Neben dem Agrar- ist dies außerdem insbesondere auch der Verkehrssektor. Bedeutung haben gleichermaßen die Kompetenzen für die Außenhandelspolitik und die Forschungs- und Technologiepolitik, Roth, EuR 1994, Beiheft 1, S. 72. 324

Eiden, in: Bleckmann, Rn. 1596.

325

Artikel 40 EWGV.

326

Artikel 41 EWGV.

15 Uhrig

226

Β. Hoheitsrechtsübertragungen im EUV

mögliche entsprechende Anwendung der Wettbewerbs- und Beihilferegeln auf dem Gebiet der Landwirtschaft 327. Der Erreichung der Gemeinsamen Agrarpolitik dienen drei Grundsätze 328: die Einheit des Marktes, die finanzielle Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten und die Gemeinschaftspräferenz, d.h. der Schutz des Agrarbinnenmarktes gegen Niedrigpreiseinftihren und Weltmarktschwankungen durch einen entsprechend ausgestalteten Gemeinsamen Zolltarif und/oder Abschöpfungen 329. Der Rat erließ auf der Grundlage der Artikel 43 Absätze 2 und 3 EWGV die für den Aufbau und das Funktionieren der Gemeinsamen Agrarpolitik notwendigen Verordnungen, Richtlinien und Entscheidungen. Wichtigstes Mittel zur Errichtung der Gemeinsamen Agrarpolitik ist die gemeinsame Organisation der Agrarmärkte. Sie umfaßt gemeinsame Wettbewerbsregeln, die bindende Koordinierung der verschiedenen einzelstaatlichen Marktordnungen und eine Europäische Marktordnung 330. Während gemeinsame Wettbewerbsregeln 331 die nationalen Vorschriften zur Regelung des Agrarmarktes grundsätzlich fortbestehen lassen und zur Vermeidung von Wettbewerbsverzerrungen lediglich koordinieren 332, behalten die nationalen Vorschriften im Rahmen der Koordinierung der einzelstaatlichen Marktordnungen 333 nur insofern Gültigkeit, als dies die Ziele der Gemeinsamen Agrarpolitik zulassen334. Einschneidendstes Mittel zur Errichtung der Gemeinsamen Agrarpolitik ist jedoch das dritte Mittel zur gemeinsamen Organisation der Agrarmärkte, die europäische Marktorganisation 335 . Eine europäische Marktorganisation ist die Gesamtheit der Rechtsvorschriften der Gemeinschaft zur Regelung des Marktes für ein bestimmtes Agrarerzeugnis 336. Sie löst eine bestehende nationale Marktordnung vollständig

327

Artikel 42 EWGV.

328

ABl. 1958 S. 281 ff.

329

Oppermann, Europarecht, Rn. 1240.

330

Artikel 40 Abs. 2 EWGV.

331

Artikel 40 Absatz 2 Satz 2 lit. a EWGV.

332

Gilsdorf/Priebe, Artikel 40, Rn. 5, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), Kommentar zum EUV; Kummer, Artikel 40, Rn. 6, in: von der Groeben/Thiesing/Ehlermann (Hrsg.), Kommentar zum EWGV. 333

Artikel 40 Absatz 2 Satz 2 lit. b EWGV.

334

EuGH 10.12.1974 - Charmasson/Minister für Wirtschaft und Finanzen, Rs. 48/74 - Slg. 1974, S. 1383, 1394. Gilsdorf/Priebe, Artikel 40, Rn. 7, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), Kommentar zum EUV. 335 336

Artikel 40 Abs. 2 Satz 2 lit. c EWGV.

EuGH 10.12.1974 - Charmasson/Minister für Wirtschaft und Finanzen, Rs. 48/74 - Slg. 1974, S. 1383, 1395. Kummer, Artikel 40, Rn. 7, in: von der Gro-

IV. Europäische Gemeinschaft

227

a b 3 3 7 . Gemeinsame Marktorganisationen enthalten im allgemeinen Regelungen hinsichtlich der Ein- und Ausfuhr der jeweiligen Erzeugnisse sowie für den Wettbewerb und für die innergemeinschaftlichen Preise 338 . Sie können darüber hinaus Vorschriften zu Produktion und Vermarktung enthalten, etwa Preisfestsetzungen und -garantien, Interventions- und Beihilferegelungen, Vorgaben über Abschöpfungen und Zölle, Ein- und Ausfuhrlizenzen sowie Qualitäts- oder Bezeichnungsregelungen339. Die Kompetenzen der Mitgliedstaaten im Bereich der Agrarpolitik bestehen zwar grundsätzlich weiter. Sobald jedoch die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft von ihren Ermächtigungen Gebrauch gemacht hat, treten die nationalen Rechtsvorschriften zugunsten der gemeinschaftlichen Regelungen zurück 340 . Da die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft insbesondere auf das Mittel der Gemeinsamen Marktordnung derart umfassend zurückgegriffen hat, daß mittlerweile für über 90 % der landwirtschaftlichen Erzeugnisse Marktordnungen eingeführt wurden 341 , und da auf der Grundlage der Gemeinsamen Marktorganisationen weitere Durchführungsregelungen ergangen sind, ist die Landwirtschaft ein Wirtschaftszweig, der nahezu vollständig durch gemeinschaftsrechtliche Rechtsakte geregelt ist 3 4 2 . Insoweit sind durch die Ermächtigungen des EWG-Vertrages und deren Inanspruchnahme wesentliche Hoheitsrechte auf dem Gebiet der Landwirtschaftspolitik auf die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft übergegangen.

eben/Thiesing/Ehlermann (Hrsg.), Kommentar zum EWGV; Eiden, in: Bleckmann, Europarecht, Rn. 1601. 337 EuGH 10.12.1974 - Charmasson/Minister für Wirtschaft und Finanzen, Rs. 48/74 - Slg. 1974, S. 1383, 1395. Schweitzer/Hummer, S. 409. 338

Kummer, Artikel 40, Rn. 9, in: von der Groeben/Thiesing/Ehlermann (Hrsg.), Kommentar zum EWGV. 339

Gilsdorf/Priebe, Artikel 40, Rn. 10 f., in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), Kommentar zum EUV; Tiedemann,. EuR 1980, S. 221 ff. 340 EuGH 23.01.1975 - van der Hulst/Produktschaap voor siergewassen, Rs. 51/74 - Slg. 1975, S. 79, 94; EuGH 25.02.1979 - Kommission/Frankreich, Rs. 232/78 - Slg. 1979, S. 2729, 2738; EuGH 13.03.1984 - Prantl, Rs. 16/83 - Slg. 1984, S. 1299, 1325. Gilsdorf/Sack, Artikel 43, Rn. 37, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), Kommentar zum EUV, Stand März 1994. 341

So Oppermann, Europarecht, Rn. 1252; Kummer, Artikel 40, Rn. 9. Vgl. hierzu auch die Auflistung bei Gilsdorf/Priebe, Anhang zu Artikel 40, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), Kommentar zum EUV. 342

Im Ergebnis Kummer, Artikel 40, Rn. 9, in: von der Groeben/Thiesing/Ehlermann (Hrsg.), Kommentar zum EWGV. Der laufende Vollzug der Marktorganisationen erfolgt durch die Behörden der Mitgliedstaaten, die neben Gemeinschaftsrecht nationales Verwaltungs- und -verfahrensrecht anwenden, Pache, S. 99 ff. 1*

228

Β. Hoheitsrechtsübertragungen im EUV

Zur Errichtung des Gemeinsamen Marktes ist die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft jedoch nicht in allen Bereichen der Wirtschaftspolitik zum Erlaß von Regelungen ermächtigt worden, die die nationalen Regelungen der Mitgliedstaaten ablösen. Bestimmte Bereiche der nationalen Wirtschaftspolitiken der Mitgliedstaaten werden durch Maßnahmen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft lediglich flankiert. Beispielhaft ist diesbezüglich die Regionalpolitik. Bei der Errichtung des Gemeinsamen Marktes kann es erforderlich sein, daß der wirtschaftliche Abstand zwischen einzelnen Gebieten und der Rückstand weniger begünstigter Gebiete verringert wird 3 4 3 . Diesem Ziel diente die Regionalpolitik der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft 344, die dazu beitragen sollte, die wirtschaftliche und infrastrukturelle Entwicklung solcher Gebiete zu fördern 345. Zu diesem Zweck wurde die Errichtung des Europäischen Fonds für regionale Entwicklung346 beschlossen, der regionale Entwicklungsprojekte der Mitgliedstaaten für unterentwickelte Regionen finanziell unterstützte. Außerdem wurde ein Ausschuß für Regionalpolitik eingerichtet 347, der die Regionalprogramme der Mitgliedstaaten koordinierte und den Rat und die Kommission in allen Fragen, die sich im Zusammenhang mit der regionalen Förderung durch die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft stellten, beriet 348 .

343

So schon die Präambel des EWGV.

344

Grabitz, Artikel 2, Rn. 3, in: ders./Hilf (Hrsg.), Kommentar zum EUV.

345

Vgl. nur die Entscheidung 74/120/EWG zur Erreichung eines hohen Grades an Konvergenz der Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten der EWG, ABl. 1974 Nr. L 63 S. 16. Die vorhandenen regionalpolitischen Kompetenzen der Gemeinschaft waren im EWG-Gründungsvertrag zunächst verstreut, Oppermann, Europarecht, Rn. 848. Gleichwohl begründeten bereits eine Reihe dieser Normen Kompetenzen für die Gemeinschaftsorgane, so etwa Artikel 49 lit. b; Artikel 39 Abs. 2 lit. a; Artikel 75 Abs. 3; Artikel 80 Abs. 2; Artikel 92 Abs. 3; Artikel 130 lit. a; Artikel 226 EWGV während der Übergangszeit der Errichtung des Gemeinsamen MarkteS. Durch die Änderungen des EWGV infolge der EEA wurden die bis dahin punktuell vorhandenen regionalpolitisch relevanten Vertragsbestimmungen in den Artikeln 130 a-e EWGV unter dem Gesichtspunkt des strukturellen Ausgleichs gebündelt und die Zuständigkeit für regionalpolitische Maßnahmen wurde erstmals ausdrücklich anerkannt, Beutler, in: Beutler/Bieber/ Pipkorn/Streil, S. 503; Oppermann, Europarecht, Rn. 849. 346 Y o 724/75/EWG, ABl. 1975 Nr. L 73 S. 1 ff.; geändert etwa durch VO 214/79/EWG, Abi. 1979 Nr. L 35 S. 1 ff. Daneben wurde er aber auch in Form spezifischer Gemeinschaftsmaßnahmen tätig, vgl. etwa den 23. Gesamtbericht der Gemeinschaften 1989, S. 220 ff. Zu den Arten der Förderung und den Fördergebieten ausführlich Stabenow, Anhang I, Rn. 75 ff., in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), Kommentar zum EUV, Stand März 1994. 347 348

Beschluß 75/185/EWG, ABl. 1975 Nr. L 73 S. 47.

Stabenow, Anhang I, Rn. 2, 57, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), Kommentar zum EUV, Stand März 1994.

IV. Europäische Gemeinschaft

229

Die Regionalpolitik der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft ergänzte und unterstützte damit nationale Maßnahmen der Mitgliedstaaten, ersetzte das mitgliedstaatliche Handeln auf diesem Gebiet aber nicht. Zum Zwecke der Verwirklichung des Gemeinsamen Marktes sind der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft also Hoheitsrechte übertragen worden. Grund hierfür war die Erkenntnis, daß der Gemeinsame Markt nur dann verwirklicht werden kann, wenn für bestimmte Ausschnitte der Wirtschaftspolitik ein System gemeinschaftsweit einheitlicher Regelungen besteht. Die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft besaß daher beispielsweise auf dem Gebiet des Wettbewerbsrechts sowie auf dem Gebiet der Landwirtschaft Kompetenzen, die nationalen Regelungen der Mitgliedstaaten zu verdrängen bzw. gegenüber nationalem Recht vorrangige Rechtsakte zu erlassen. In anderen Bereiche, wie etwa der Regional- oder Strukturpolitik besaß die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft lediglich Befugnisse, die der Koordinierung und Unterstützung der mitgliedstaatlichen Maßnahmen dienen.

bb) Annäherung der Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten Zweites Mittel zur Verwirklichung der angestrebten Wirtschaftsgemeinschaft ist die schrittweise Annäherung der Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten. Diese zweite Form der Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten war neben dem Gemeinsamen Markt zur Erreichung einer Wirtschaftsgemeinschaft deshalb erforderlich, weil der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft nicht für alle Bereiche der Wirtschaftspolitik mitgliedstaatliches Handeln überlagernde Kompetenzen zustehen349. Der dem EWG-Vertrag vorausgehende Spaak-Bericht 350 unterschied vielmehr ausdrücklich zwischen Fragen der „allgemeinen Wirtschaftspolitik" als der Summe der Maßnahmen des Staates zur Gestaltung des Wirtschaftsprozesses, der Wirtschaftsstruktur und der Wirtschaftsordnung der Mitgliedstaaten351, die im „domaine réservé" der Mitgliedstaaten verbleiben

349

So im Ergebnis auch Grabitz, Artikel 2, Rn. 19, in: ders./Hilf (Hrsg.), Kommentar zum EUV. 350

Bericht der Delegationsleiter an die Außenminister vom 21.04.1956, veröffentlicht vom Sekretariat der Regierungskonferenz, Brüssel 1956; ausführlich zum SpaakBericht Küsters, S. 135 ff. 351

Oppermann, Europarecht, Rn. 810; Zuleeg, Artikel 2, Rn. 20, in: von der Groeben/Thiesing/Ehlermann (Hrsg.), Kommentar zum EWGV; won der Groeben, Aufbaujahre, S. 26. So enthält der EWGV keine Regelungen der nationalen Eigentumsordnungen. Artikel 222 EWGV läßt die Eigentumsordnungen in den Mitgliedstaaten vielmehr unberührt, hierzu Everling, FS Raiser, S. 379 ff.; Zuleeg, Wirtschaftsverfassung der EG, S. 89 ff.

230

Β. Hoheitsrechtsübertragungen im EUV

sollten, und Fragen, die mit dem Funktionieren des Gemeinsamen Marktes verbunden sind und die deshalb in die Kompetenz der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft fallen sollten 352 . Diese dem EWG-Vertrag zugrundeliegende Unterscheidung zwischen Bereichen, in denen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft weitreichende Kompetenzen eingeräumt worden sind, und solchen der „allgemeinen Wirtschaftspolitik" 353 hatte ihre Ursache in der mangelnden Bereitschaft der Mitgliedstaaten, umfassend auf ihre Kompetenzen auf dem Gebiet der Wirtschaftspolitik zu verzichten 354. Infolgedessen ging der EWG-Vertrao vom Fortbestand der nationalen Wirtschaftspolitiken der Mitgliedstaaten aus 3 5 5 . Er verpflichtete die Mitgliedstaaten in Artikel 104 EWGV zwar zur Erfüllung bestimmter wirtschaftlicher Ziele, bestimmte aber auch, daß jeder Mitgliedstaat die Wirtschaftspolitik betreibt, die erforderlich ist, um das Gleichgewicht seiner Gesamtbilanz zu sichern und das Vertrauen in seine Währung aufrechtzuerhalten. Die Mitgliedstaaten hatten ihre allgemeinen Wirtschaftspolitiken gemäß Artikel 105 EWGV zu koordinieren. Damit sollte erreicht werden, daß in den Bereichen der Wirtschaftspolitik, in denen allein den Mitgliedstaaten Kompetenzen zustanden, eine Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten und die ggf. erforderliche Angleichung der nationalen Rechtsnormen gewährleistet ist 3 5 6 . Aus der fortbestehenden Kompetenz der Mitgliedstaaten für die allgemeine Wirtschaftspolitik können sich nämlich erhebliche Gefahren für den Gemeinsamen Markt ergeben, wenn die Mitgliedstaaten hinsichtlich ihrer wirtschaftspolitischen Prioritäten und Instrumente zu stark voneinander abweichen357. Die Mitgliedstaaten müssen daher im Bereich der allgemeinen Wirtschaftspolitik auf das Funktionieren des Gemeinsamen Marktes Rücksicht nehmen 358 und eine gemeinschaftsfreundliche Politik betreiben 359. Die nationalen Wirtschaftspolitiken sind folglich als Angelegenheiten von „gemeinsamem Interesse" zu betrachten 360. Die insofern erforderliche Kooperation und Koordination sollte

352

Einleitung IV, S. 16 Spaak-Bericht.

353

Pipkorn, in: Beutler/Bieber/Pipkorn/Streil, S. 421: Nicolaysen, Gemeinschaftsrecht, S. 88; Zuleeg, EuR 1975, S. 215. 354

Zur Diskussion von der Groeben, Integration 1981, S. 13 ff.

355

Oppermann, Europäische Wirtschaftsverfassung, S. 70; Nicolaysen, recht II, S. 322. 356

Grabitz, Artikel 2, Rn. 19, in: ders./Hilf (Hrsg.), Kommentar zum EUV.

357

Behrens, Jura 1989, S. 576.

358

Pipkorn, in: Beutler/Bieber/Pipkorn/Streil, S. 422.

359

Grabitz, Artikel 2, Rn. 19, in: ders./Hilf (Hrsg.), Kommentar zum EUV.

360

Oppermann, Europarecht, Rn. 810.

Europa-

IV. Europäische Gemeinschaft

231

zu einer schrittweisen Annäherung der Wirtschaftspolitiken der Mitgliedstaaten führen 361 . Dies erfolgte unter Zuhilfenahme der Organe der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, insbesondere des Rates 362 . So bestimmte Artikel 145 EWGV, daß der Rat für die Abstimmung der Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten zu sorgen hat 3 6 3 . Die Kompetenz der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft zur Koordination und Unterstützung der allgemeinen Wirtschaftspolitiken der Mitgliedstaaten bestätigte auch Artikel 6 EWGV, der den Mitgliedstaaten aufgab, in enger Zusammenarbeit mit den Organen der Gemeinschaft ihre Wirtschaftspolitik zu koordinieren, soweit dies zur Erreichung der Ziele des Vertrages erforderlich ist 3 6 4 . Im Bereich der allgemeinen Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten besaß die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft also anders als in Bereichen, die der Verwirklichung des Gemeinsamen Marktes dienen, keine Kompetenzen, die die Kompetenzen der Mitgliedstaaten verdrängen. Zum Zwecke der Annäherung der Wirtschaftspolitik war die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft im Bereich der allgemeinen Wirtschaftspolitik vielmehr auf die Koordinierung und Unterstützung der mitgliedstaatlichen Aktivitäten beschränkt. cc) Artikel 102 a E WG-Vertrag Die im EWG-Gründungsvertrag genannten Ziele und Aufgaben der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und die Handlungsmöglichkeiten ihrer Organe sind durch verschiedene Änderungen des EWG-Vertrages konkretisiert und erweitert worden. So wurde 1987 in den EWG-Vertrag beispielsweise ein besonderer Abschnitt über die Zusammenarbeit in der Wirtschafts- und Währungspolitik eingefügt 365. Ihm kam insofern besondere Bedeutung zu, als

361

So Artikel 105 EWGV.

362

Fuß, Integration 1969, S. 138, der den Rat als Vermittler und „Anreger" sieht; Pipkorn, in: Beutler/Bieber/Pipkorn/Streil, S. 422; Oppermann, Europarecht, Rn. 810. 363

Damit wird klargestellt, welches Gemeinschaftsorgan das in der Präambel und den Artikeln 2 und 3 EWGV aufgeführte Ziel primär zu verfolgen hat, Grabitz, Artikel 6, Rn. 4, in: ders./Hilf (Hrsg.), Kommentar zum EUV, Stand März 1994. Aus Artikel 145 EWGV ergibt sich allerdings keine Entscheidungskompetenz des Rates zur materiellen Gestaltung der Wirtschaftspolitik, Pipkorn, in: Beutler/Bieber/Pipkorn/Streil, S. 423; Fuß, Integration 1969, S. 145. 364

Smits, Artikel 6, Rn. 1, in: von der Groeben/Thiesing/Ehlermann (Hrsg.), Kommentar zum EWGV. 365

Er wurde durch Artikel 20 Abs. 1 EEA in den EWGV aufgenommen. Durch ihn wurde in Titel II des EWGV ein neues Kapitel eingefügt, das aus einem einzigen Artikel, dem neuen Artikel 102 a EWGV bestand.

232

Β. Hoheitsrechtsübertragungen im EUV

Artikel 102 a EWGV den Begriff der „Wirtschafts- und Währungsunion" in das primäre Gemeinschaftsrecht eingeführt hat 3 6 6 . Artikel 102 a EWGV erkannte darüber hinaus erstmals das Erfordernis der Konvergenz der Wirtschafts- und Währungspolitiken für die Weiterentwicklung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft a n 3 6 7 . Dies ist nicht gleichzusetzen mit der Gleichartigkeit der nationalen Politiken der Mitgliedstaaten, sondern beinhaltet die Verpflichtung, die nationalen Politiken auf ein gemeinsames Ziel auszurichten 368. Da die Ausrichtung an konvergenten Kriterien der Weiterentwicklung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft dienen soll, wurden die Ziele des Artikels 104 EWGV nunmehr auch für die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft selbst und nicht nur für die Mitgliedstaaten zu verbindlichen Zielen erklärt 369 .

b) Wirtschaftsordnung

des EG-Vertrages

Der EG-Vertrag greift die schon im EWG-Vertrag genannten Ziele und Aufgaben der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft auf dem Gebiet der Wirtschaftspolitik auf und entwickelt sie weiter. Zur Verwirklichung der neu eingefügten Tätigkeitsbereiche gemäß Artikel 3 a Absatz 1 EGV ist es u.a. Aufgabe der Europäischen Gemeinschaft, durch die Errichtung einer Wirtschafts- und Währungsunion (...) ein beständiges, nichtinflationäres und umweltverträgliches Wachstum, einen hohen Grad an Konvergenz der Wirtschaftsleistungen, ein hohes Beschäftigungsniveau, ein hohes Maß an sozialem Schutz, die Hebung der Lebenshal-tung und der Lebensqualität, den wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt und die Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten zu fördern. 370 Die Zielvorgaben zur Erreichung dieses Zieles richten sich sowohl an die Europäische Gemeinschaft als auch an die Mitgliedstaaten371. Damit wird ver-

366

Hrbek/Läufer,

EA 1986, S. 177.

367

Glaesner, EuR 1986, S. 137. Dieses Erfordernis war im sekundären Gemeinschaftsrecht schon seit langem anerkannt, vgl. nur die Entscheidung 74/120/EWG zur Erreichung eines hohen Grades an Konvergenz der Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten der EWG, ABl. 1974 Nr. L 63 S. 16. Das Konvergenzerfordernis wurde nun jedoch erstmals im primären Gemeinschaftsrecht erwähnt. 368

Louis, Artikel 102 a, Rn. 21, in: von der Groeben/Thiesing/Ehlermann (Hrsg.), Kommentar zum EWGV. 369

Krämer, Artikel 102 a, Rn. 7, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), Kommentar zum EUV, Stand März 1994. 370

Artikel 2 EGV.

371

Artikel 3 a Abs. 1 und 3 EGV.

IV. Europäische Gemeinschaft

233

deutlicht, daß sowohl dem Verhalten der Europäischen Gemeinschaft als auch dem der Mitgliedstaaten Bedeutung für die Verwirklichung der Wirtschaftsunion zukommt. Auch der EG-Vertrag geht somit auf dem Gebiet der Wirtschaftspolitik von der fortbestehenden Kompetenzen der Mitgliedstaaten ebenso wie von einer Kompetenzzuweisung an die Europäische Gemeinschaft aus. Der EGVertrag hat jedoch die Kompetenzen der Europäischen Gemeinschaft zum Zwecke der Verwirklichung einer Wirtschaftsunion gegenüber der Rechtslage vor seinem Inkrafttreten erheblich erweitert. Sie umfassen nunmehr neben der Koordination (aa) auch die Überwachung der Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten (bb) und ermöglichen die Überwachung der Haushaltslage der Mitgliedstaaten (cc).

aa) Koordination der Wirtschaftspolitik Als erstes Mittel zur Verwirklichung der Wirtschaftsunion sieht der EGVertrag die Koordination der nationalen Wirtschaftspolitiken der Mitgliedstaaten und die Herbeiführung der dauerhaften Konvergenz der Wirtschaftsleistungen der Mitgliedstaaten vor 3 7 2 . Während die Mitgliedstaaten im Rahmen des EWG-Vertrages bisher ausschließlich gehalten waren, ihre Wirtschaftspolitik zu koordinieren, um unterschiedliche nationale Wettbewerbsbedingungen abzubauen bzw. zu vermeiden 373, soll die Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten nunmehr zusätzlich dazu führen, daß ihre Wirtschaftsleistungen dauerhaft konvergent ausgerichtet sind. Konvergenzziele sind stabile Preise, gesunde öffentliche Finanzen und monetäre Rahmenbedingungen sowie eine dauerhaft finanzierbare Zahlungsbilanz374. Die Mitgliedstaaten sind daher gehalten, Haushaltsdisziplin zu wahren, übermäßige öffentliche Defizite zu vermeiden und ein außenwirtschaftliches Gleichgewicht anzustreben 375. Der Vertrag von Maastricht bestätigt somit die Verpflichtung der Mitgliedstaaten zur Koordination im Bereich der allgemeinen Wirtschaftspolitik. Daneben enthält der EG-Vertrag die Verpflichtung zur die Ausrichtung der nationalen Wirtschaftspolitiken auf das Ziel der dauerhaften Konvergenz der Wirtschaftsleistungen. Die Mitgliedstaaten werden hierbei durch die Europäische Gemeinschaft lediglich unterstützt.

372

Artikel 103 Abs. 3 Unterabsatz 1 Satz 1 EGV.

373

Bleckmann,, DVB1. 1992, S. 340.

374

Artikel 3 a Abs. 3 EGV.

375

Ensthaler, ZRP 1992, S. 428; Nicolaysen, Rechtsfragen der WU, S. 20; Seidel, Legal Framework, S. 9.

234

Β. Hoheitsrechtsübertragungen im EUV bb) Überwachung der Wirtschaftspolitik

Der EG-Vertrag sieht als weiteres Mittel zur Verwirklichung der Wirtschaftsunion die Überwachung der Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten vor. Der Rat hat die wirtschaftliche Entwicklung eines jeden Mitgliedstaates und der Europäischen Gemeinschaft sowie die Vereinbarkeit der Wirtschaftspolitiken der Mitgliedstaaten zu überwachen und in regelmäßigen Abständen eine Gesamtbewertung zu erstellen 376. Dazu ist ein mehrschrittiges Verfahren vorgesehen: Der Rat erstellt mit qualifizierter Mehrheit auf Empfehlung der Kommission einen Entwurf für die Grundzüge der Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten und der Europäischen Gemeinschaft und erstattet dem Europäischen Rat hierüber Bericht 377 . Der Europäische Rat erörtert diesen Bericht und beschließt auf seiner Grundlage eine eigene Schlußfolgerung zu diesen Grundzügen 378 . Auf der Grundlage dieser Schlußfolgerung verabschiedet der Rat mit qualifizierter Mehrheit eine Empfehlung an die Mitgliedstaaten, in der die angesprochenen Grundzüge dargelegt werden 379 . Wenngleich diese Empfehlungen rechtlich nicht bindend sind 380 , so wird von ihnen insbesondere deshalb, weil sie auf der Grundlage der Schlußfolgerungen des Europäischen Rates entwickelt werden, eine erhebliche politische Wirkung ausgehen. Die Beschlußfassung über die Grundzüge der Wirtschaftspolitik durch den Europäischen Rat in Form einer Schlußfolgerung räumt ihnen und den auf ihrer Grundlage ergehenden Empfehlungen nämlich einen hohen politischen Stellenwert ein. Sie stattet sie mit der Autorität der nach nationalem Verfassungsrecht obersten politischen

376

Artikel 103 Abs. 3 EGV.

377

Artikel 103 Abs. 2 Satz 1 EGV. Der Rat legte einen Entwurf für die Grundzüge der Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten und der Gemeinschaft letztmalig in seiner Empfehlung vom 08.07.1996, ABl. Nr. L 179 S. 46 ff., vor. 378

Artikel 103 Abs. 2 Unterabsatz 2 EGV. Er hat eine solche Schlußfolgerung erstmals auf seiner Tagung am 10./11.12.1993 abgegeben, ZfZ 1994, S. 73. Die Empfehlung des Rates vom 08.07.1996 hat der Europäische Rat am 21 ./22.06.1996 gebilligt. Er hat die Mitgliedstaaten aufgefordert, ihre Bemühungen um Haushaltssanierung zu verstärken und dabei die allgemeinen Grundsäze zu berücksichtigen, insbesondere den Aspekt, daß eher die Ausgaben gesenkt als die Einnahmen erhöht werden sollten, Schlußfolgerung des Europäischen Rates von Florenz, Agence Europe 23.06.1996, S. 6. 379 Entscheidung des Rates 93/258/EWG vom 23.03.1993 zur Verabschiedung des Jahreswirtschaftsberichts 1993 und zur Festlegung der wirtschaftspolitischen Leitlinien der Gemeinschaft für 1993, ABl. 1993 Nr. L 119 S. 1; Empfehlung des Rates 94/7/EG über die Grundzüge der Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten und der Gemeinschaft, ABl. 1994 Nr. L 7 S. 9. Der Rat unterrichtet das Europäische Parlament über seine Empfehlung, Artikel 103 Abs. 2 Unterabsatz 3 EGV. 380

Vgl. Artikel 189 Unterabsatz 4 EGV. Siehe auch oben S. 37.

IV. Europäische Gemeinschaft

235

Entscheidungsträger der Mitgliedstaaten381, nämlich der Staats- und Regierungschefs und zudem des Gremiums aus, das auf der Ebene der Europäischen Union wichtige und grundlegende Entscheidungen und Zielvorgaben treffen soll. Damit werden die Mitgliedstaaten jedenfalls politisch weitgehend gebunden. Nationale Alleingänge und Abweichungen von den dargelegten Grundzügen erscheinen auf Grund dessen unwahrscheinlich382. Die vom Rat entwickelten, vom Europäischen Rat erörterten und vom Rat in Form einer Empfehlung verabschiedeten Grundzüge der Wirtschaftspolitik haben damit die Aufgabe, die unterschiedlichen Wirtschafts- und Finanzpolitiken der Mitgliedstaaten in einen gemeinsamen Rahmen einzufügen, um auf diese Weise eine an den gleichen Zielen ausgerichtete, stabilitätsorientierte Wirtschafts- und Finanzpolitik sicherzustellen383. Für den Rat ergibt sich daraus die Schwierigkeit, die nationalen Wirtschaftspolitiken lediglich anhand eines Rahmenprogramms überwachen zu können. Da die Grundzüge und die daraus entwickelten Empfehlungen keine Detailregelungen enthalten, die die angestrebte einheitliche Ausrichtung auch tatsächlich garantieren 384, muß der Rat folglich darauf vertrauen, daß die im Europäischen Rat beschlossene Schlußfolgerung Ausdruck eines politischen Konsenses ist, dem die Mitgliedstaaten sich bei der Ausrichtung ihrer Wirtschaftspolitik verpflichtet fühlen und der es entbehrlich macht, verbindliche Detailregelungen aufzustellen. Die Grundzüge dienen dem Rat sodann als Grundlage der Überwachung der Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten. Der Rat vergleicht anhand von Berichten der Kommission die wirtschaftliche Entwicklung in jedem Mitgliedstaat und in der Europäischen Gemeinschaft sowie die Vereinbarkeit der mitgliedstaatlichen Wirtschaftspolitiken mit den aufgestellten Empfehlungen. Die Verpflichtung der Mitgliedstaaten zur Einhaltung der Grundzüge bedeutet nicht, daß alle Mitgliedstaaten die „gleiche" Wirtschafts- und Finanzpolitik zu betreiben haben. Die Mitgliedstaaten können und sollen auch künftig ihre allgemeine Wirtschaftspolitik ihrer jeweiligen wirtschaftlichen Lage entsprechend gestalten. Sie sind aber den Zielen der Erreichung dauerhaft konvergenter Wirtschaftsleistungen und der Einhaltung der vom Europäischen Rat beschlossenen Grundzüge verpflichtet. Um dem Rat die Überwachung zu ermöglichen, übermitteln die Mitgliedstaaten Angaben zu wichtigen einzelstaatlichen Maßnahmen auf dem Gebiet der

381

Nicolaysen, Europarecht II, S. 339; Wessels, S. 27; Bandilla, Artikel 103, Rn. 5 f., in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), Kommentar zum EUV. 382

ZfZ 1994, S. 73.

383

ZfZ 1994, S. 73.

384

Bleckmann, DVB1. 1992, S. 340.

236

Β. Hoheitsrechtsübertragungen im EUV

Wirtschaftspolitik sowie weitere von ihnen für erforderlich erachtete Informationen 385 . Aufgrund dieser Auswahlmöglichkeit liegt es in der Hand der Mitgliedstaaten, welche Daten sie auswählen und der Europäischen Gemeinschaft übermitteln. Sie sind bei der Auswahl und Weitergabe dieser Informationen allerdings an ihre grundsätzliche Verpflichtung zu gemeinschaftsfreundlichem Verhalten i.S. des Artikels 5 EGV gebunden, so daß eine verfälschende oder verzerrende Auswahl der Informationen einen Verstoß gegen diese Verpflichtung darstellt. Ergibt die Überwachung durch den Rat die Unvereinbarkeit der Wirtschaftspolitik eines Mitgliedstaates mit der Verpflichtung zu engerer Koordination und dauerhafter Konvergenz, oder droht eine Gefährdung des ordnungsgemäßen Funktionierens der Wirtschafts- und Währungsunion, so kann der Rat mit qualifizierter Mehrheit auf Empfehlung der Kommission eine Empfehlung an den betreffenden Mitgliedstaat richten 386 . Bei diesen Empfehlungen handelt es sich in erster Linie um Maßnahmenvorschläge, die die Konvergenz der Wirtschaftspolitiken wieder herzustellen geeignet sind. Sie haben keinen verbindlichen Charakter 387. Dem Rat stehen keine Sanktionsmöglichkeiten gegenüber einem Mitgliedstaat zur Verfügung, der mit seiner nationalen Wirtschaftspolitik die Ziele der Koordination und der dauerhaften Konvergenz gefährdet. Er ist vielmehr auf die politische Wirkung seiner Empfehlungen angewiesen. Damit wird der besondere Charakter dieses Verfahrens deutlich: Im Bereich der allgemeinen Wirtschaftspolitik werden rechtlich verbindliche Vorschriften oder gar Eingriffe in die Politik eines Mitgliedstaates als nicht angemessen angesehen, denn die Europäische Gemeinschaft soll sich nicht an die Stelle eines Mitgliedstaates setzen, da die Mitgliedstaaten für „ihre" Wirtschaftspolitik zuständig und verantwortlich sind 388 . Der EG-Vertrag weist dem Rat also erstmals das Recht zur Überwachung und Bewertung der Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten und der Europäischen Gemeinschaft zu. Die Überwachung der Wirtschaftspolitik erweitert damit die Möglichkeiten der Europäischen Gemeinschaft zur Koordinierung der Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten und räumt der Europäischen Gemeinschaft die Möglichkeit ein, ihrerseits einen Rahmen für die Ausrichtung der Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten vorzugeben. Die allgemeinen Wirtschafts-

385

Artikel 103 Abs. 3 Unterabsatz 2 EGV.

386

Artikel 103 Abs. 4 Satz 1 EGV. Der Rat kann mit qualifizierter Mehrheit auf Vorschlag der Kommission beschließen, seine Empfehlungen zu veröffentlichen, Artikel 103 Abs. 4 Satz 2 EGV. 387 388

Bandilla, Artikel 103, Rn. 16, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), Kommentar zum EUV.

Seidel, FS Börner, S. 422; Nicolaysen, Rechtsfragen, S. 32; Roth,, EuR 1994, Beiheift 1, S. 73; Pipkorn, CMLR 1994, S. 272.

IV. Europäische Gemeinschaft

237

Politiken selbst verbleiben jedoch nach wie vor in den Händen der Mitgliedstaaten.

cc) Überwachung der Haushaltslage Drittes Mittel zur Verwirklichung der Wirtschaftsunion ist die Überwachung der Haushaltslage der Mitgliedstaaten. Während der EWG-Vertrag hierzu keine Regelungen enthielt, trifft der EG-Vertrag nunmehr in den Artikeln 104 c und 109 e EGV diesbezügliche Regelungen. Sie sind Folge der durch den Vertrag von Maastricht erweiterten Ziele und Tätigkeiten der Europäischen Gemeinschaft. Die in Artikel 3 a EGV beschriebene Tätigkeit der Gemeinschaft auf dem Gebiet der Wirtschaftspolitik 389 setzt gemäß Artikel 3 a Absatz 3 EGV die Einhaltung richtungsweisender Grundsätze durch die Mitgliedstaaten voraus. Zu diesen gehören u.a. gesunde öffentliche Finanzen und monetäre Rahmenbedingungen. Da gesunde öffentliche Finanzen und monetäre Rahmenbedingungen wesentliche Voraussetzungen für eine enge Koordinierung der Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten, den Binnenmarkt, die Festlegung gemeinsamer Ziele und damit für eine Wirtschaftsunion sind, kommt gerade der finanziellen Situation der öffentlichen Haushalte besondere Bedeutung z u 3 9 0 . Dies gilt auch im Hinblick auf die Verwirklichung der Währungsunion. Die Verpflichtung der Mitgliedstaaten zu nationaler Haushaltsdisziplin, zur Vermeidung übergroßer Neu- und Gesamtverschuldung sowie das Verbot der Kreditaufnahmeverbot der öffentlichen Hand bei den Zentralbanken sollen die Preisstabilität, die vorrangiges Ziel der Währungsunion ist, sichern 391. Im Hinblick auf die Erreichung und Sicherung der Preisstabilität ist eine strikte Haushaltsdisziplin deshalb besonders wichtig, weil Defizite der öffentlichen Haushalte eine häufige Inflationsquelle sind und zinstreibend wirken 392 . Deshalb ist die Vermeidung öffentlicher

389

Siehe oben S. 220.

390

Hierzu Hartmann, S. 51 ff. Nach Ansicht des EWI bildet die Haushaltskonsolidierung im Hinblick auf konvergente Haushaltslagen die wichtigste Herausforderung an die EG, EWI-Jahresbericht 1995, S. 3. Neben den positiven Auswirkungen einer strikten Haushaltspolitik auf die monetären Rahmenbedingungen trägt eine solche nach Einschätzung des Europäischen Rates zudem auch zur Senkung der Zinssätze, zu Investitionen und zur Wachstumförderung bei, Schlußfolgerungen des Europäischen Rates von Cannes, Bulletin der EU 6/1995, S. 11. 391

Oppermann/Classen, NJW 1993, S. 10; Nicolaysen, Europarecht II, S. 343; Pipkorn. CMLR 1994, S. 275; Häde, EuZW 1992, S. 176; Kortz, S. 93. 392

ZfZ 1994, S. 74; Bleckmann, DVB1. 1992, S. 340; Winterberg,,

S. 16.

238

Β. Hoheitsrechtsübertragungen im EUV

Defizite auch eines der vier Kriterien, die die Mitgliedstaaten im Hinblick auf ihre Teilnahme an der 3. Stufe der Währungsunion zu erfüllen haben 393 . Um übermäßige öffentliche Defizite zu vermeiden und damit gesunde Finanzen und monetäre Rahmenbedingungen zu erreichen, sind seit 1994 3 9 4 Überziehungs- oder andere Kreditfazilitäten bei den Zentralbanken der Mitgliedstaaten für die Mitgliedstaaten insgesamt und damit die nationalen Zentralregierungen, die regionalen oder lokalen Gebietskörperschaften und andere öffentlich-rechtliche Körperschaften, sonstige Einrichtungen des öffentlichen Rechts und öffentliche Unternehmen der Mitgliedstaaten395 verboten 396. Gleiches gilt für die Organe und Einrichtungen der Europäischen Gemeinschaft 397. Bei Überziehungsfazilitäten handelt es sich um jede Bereitstellung von Mitteln des öffentlichen Sektors, deren Verbuchung einen Negativsaldo ergibt oder ergeben könnte 398 . Als andere Kreditfazilitäten gelten jede am 1. Januar 1994 bestehende Forderung an den öffentlichen Sektor mit Ausnahme der vor diesem Zeitpunkt erworbenen Forderungen mit fester Laufzeit, jede Form der Finanzierung von Verbindlichkeiten des öffentlichen Sektors gegenüber Dritten und, unbeschadet der Bestimmung in Artikel 104 Absatz 2 EGV, jede Transaktion, die zu einer Forderung an den öffentlichen Sektor führt oder führen könnte 399 . Das Verbot der Einräumung von Überziehungs- und Kreditfazilitäten soll sicherstellen, daß die Haushaltsdisziplin nicht durch die monetäre Finanzierung öffentlicher Haushalte konterkariert wird 4 0 0 . Den Mitgliedstaaten wird dadurch 393

Artikel 104 c Abs. 6 i.V.m. Artikel 109 Abs. 1 Satz 3 Spiegelstrich 2 EGV und Protokoll Nr. 5 der Schlußakte des EUV. 394

Artikel 109 e Abs. 3 EGV.

395

Die Bestimmungen des Abs. 1 gelten nicht für Kreditinstitute im Besitz der öffentlichen Hand; diese werden von der jeweiligen nationalen Zentralbank und der EZB, was die Bereitstellung von Zentralbankgeld betrifft, wie private Kreditinstitute behandelt, Artikel 104 Abs. 2 EGV. 396

Artikel 104 Abs. 1 Halbsatz 1 EGV. Dieses Verbot gilt auch für die EZB, die ihre Arbeit wird mit Beginn der 3. Stufe der Währungsunion aufnehmen wird, Artikel 109 1 Abs. 1 und 2 EGV. Der Rat hat am 13.12.1993 eine Verordnung zur Festlegung von Begriffsbestimmungen für die Anwendung der in Artikel 104 und 104 b Abs. 1 EGV vorgesehenen Verbote erlassen, VO (EG) Nr. 3603/93, ABl. 1993 Nr. L 332 S. 1. 397

Artikel 104 Abs. 1 Halbsatz 1 EGV.

398

Artikel 1 Abs. 1 lit. a der VO 3603/93.

399

Artikel 1 Abs. 1 lit. b der VO 3603/93.

400

Denkschrift zum Vertrag über die Europäische Union zu Artikel 104 EGV, S. 90. Die Mitgliedstaaten sollen vielmehr gezwungen werden, sich an den Kredit- und Kapitalmärkten zu Marktkonditionen zu bedienen, Kortz, S. 57. Es soll darüber hinaus aber auch die funktionelle Autonomie der Notenbanken stärken, Hahn/Siebelt, F 1, Rn. 309, in: Dauses.

IV. Europäische Gemeinschaft

239

„der Einsatz der Notenpresse" zur Finanzierung ihrer Defizite und damit eine mögliche wesentliche Quelle inflationärer Haushaltsfinanzierung grundsätzlich verwehrt 401 . Ebenfalls verboten ist der unmittelbare Erwerb von Schuldtiteln der Mitgliedstaaten und ihrer Regierungen, Gebietskörperschaften, Einrichtungen oder Unternehmen durch die nationalen Zentralbanken 402. Darüber hinaus ist der bevorrechtigte Zugang der Zentralregierungen, der regionalen und örtlichen Gebietskörperschaften oder anderer öffentlich-rechtlicher Körperschaften, sonstiger Einrichtungen des öffentlichen Rechts und öffentlicher Unternehmen der Mitgliedstaaten zu Finanzinstituten, der nicht aus aufsichtsrechtlichen Gründen erfolgt, verboten 403. Dies hat zur Folge, daß öffentliche Stellen insoweit anderen Kreditnehmern gleichgestellt werden 404 . Durch das Verbot des bevorrechtigten Zugangs sollen öffentliche Stellen veranlaßt werden, sich bei der Finanzierung ihrer Haushalte den Marktmechanismen zu unterwerfen 405. Diese Regelungen werden dadurch abgerundet, daß sowohl die Europäische Gemeinschaft als auch die Mitgliedstaaten nicht für die Verbindlichkeiten der von den Verboten betroffenen Zentralregierungen, Körperschaften, Einrichtungen und

401

Nicolaysen, Rechtsfragen der WU, S. 20; ders., Europarecht II, S. 346. Dieses Verbot hat in den Mitgliedstaaten unterschiedliche Bedeutung. Während die Bundesbank Kredite bis zu Höchstgrenzen einräumen konnte und dies auch in geringem Ausmaß getan hat, war die Notenbank Italiens verpflichtet, dem Staat Kassenkredite von bis zu 14% des jeweiligen Haushaltsvolumens und einer Obergrenze von 95 Mrd. Lire einzuräumen, ZfZ 1994, S. 75. Artikel 104 Abs. 1 EGV hatte die Änderung des BBankG, BGBl. 1994 I S. 1465, zur Folge. Gemäß §20 Abs. 1 Nr. 1 BBankG a.F. konnte die Bundesbank bisher dem Bund, seinem Sondervermögen sowie den Ländern kurzfristige Kredite in Form von Buch- und Schatzzwechselkrediten gewähren. Diese Kredite dienten nicht der Finanzierung öffentlicher Aufgaben, sondern der Überbrükkung kurzfristiger Liquiditätsengpässe der öffentlichen Hände. Eine Änderung des nationalen Rechts wäre zwar erst zu Beginn der 3. Stufe erforderlich gewesen, die Änderung des § 20 Abs. 1 BBankG nimmt die erforderlichen Änderungen aber schon jetzt vor, Häde] NJW 1994, S. 3215; Tettinger, RIW 1992, Beilage 3, S. 3. 402

Artikel 104 Abs. 1 Halbsatz 2 EGV. Mit Beginn der 3. Stufe der Währungsunion gilt dieses Verbot auch für die EZB. 403 Artikel 104 a EGV. Auf der Grundlage des Abs. 2 hat der Rat Begriffsbestimmungen für die Anwendung des Verbots nach Abs. 1 durch Verordnung festlegt, VO (EG) Nr. 3604/93, ABl. 1993 Nr. L 332 S. 4. 404

Die öffentlichen Hände werden damit darauf verwiesen, sich auf dem allgemeinen Kapitalmarkt Gläubiger zu suchen, Roth, EuR 1994, Beiheft 1, S. 50. 405

1. Erwägungsgrund der Verordnung 3604/93.

240

Β. Hoheitsrechtsübertragungen im EUV

Unternehmen der Mitgliedstaaten haften oder für sie eintreten 406. Eine Solidarhaftung der Europäischen Gemeinschaft und der Mitgliedstaaten für Verbindlichkeiten ist damit ausgeschlossen407. Daneben unterliegt die Entwicklung der Haushaltslage und die Höhe des öffentlichen Schuldenstandes der Überwachung durch die Europäische Gemeinschaft 408 . Ziel ist die Vermeidung übermäßiger öffentlicher Defizite 409 . Die Haushaltslage der Mitgliedstaaten wird von der Kommission daher ab 1994 anhand zweier Kriterien geprüft. Die Kommission prüft einerseits, ob das Verhältnis des geplanten oder des tatsächlichen öffentlichen Defizits einen bestimmten Referenzwert zum Bruttosozialprodukt überschreitet 410. Zum anderen prüft die Kommission, ob das Verhältnis des öffentlichen Schuldenstands einen bestimmten Referenzwert zum Bruttoinlandsprodukt überschreitet 411. Die Referenzwerte für diese Prüfungen sind in einem dem EG-Vertrag beigefügten Protokoll über das Verfahren bei einem übermäßigen Defizit aufgeführt 412. Es sind dies: -

3 % für das Verhältnis zwischen dem geplanten oder tatsächlichen öffentlichen Defizit und dem Bruttoinlandsprodukt zu Marktpreisen,

- 60 % für das Verhältnis zwischen dem öffentlichen Schuldenstand und dem Bruttoinlandsprodukt zu Marktpreisen. 413 Zur Festlegung näherer Einzelheiten und Begriffsbestimmungen hat der Rat mit qualifizierter Mehrheit auf Vorschlag der Kommission und nach Anhörung

406 Artikel 104 b Abs. 1 EGV. Auf der Grundlage des Abs. 2 hat der Rat Definitionen und Verbote durch die Verordnung 3603/93 näher festgelegt, ABl. 1993 Nr. L 332 S. 1. 407 Pipkorn, CMLR 1994, S. 275. Hierdurch soll das Bewußtsein der nationalen Regierungen und der Märkte gestärkt werden, daß die Lasten einer übermäßigen Verschuldung nicht durch eine Vergemeinschaftung gemildert werden können, Kortz, S. 57. 408

Zu den Folgen für die Budgethoheit der Bundesländer Hartmann, S. 109 ff.

409

In der 2. Stufe sind die Mitgliedstaaten bemüht; mit Beginn der 3. Stufe sind sie verpflichtet, diese zu vermeiden, Artikel 109 e Abs. 4; Artikel 104 c Abs. 1 EGV. 410

Artikel 104 c Abs. 2 lit. a EGV.

411

Artikel 104 c Abs. 2 lit. b EGV.

412

Protokoll Nr. 5 der Schlußakte des EUV. Neben den Referenzwerten definiert Artikel 2 des Protokolls über das Verfahren bei einem übermäßigen Defizit die Begriffe „öffentlich", „Defizit", „Investitionen" und „Schuldenstand". 413

Artikel 1 des Protokolls über das Verfahren bei einem übermäßigen Defizit.

IV. Europäische Gemeinschaft

241

des Europäischen Parlaments das Protokoll über das Verfahren bei einem übermäßigen Defizits mittels einer Verordnung 414 weiter konkretisiert 415. Die Ausrichtung der Wirtschaftspolitiken der Mitgliedstaaten an den Referenzwerten hat zur Folge, daß das laufende staatliche Defizit, also die Neuverschuldung eines Mitgliedstaates, nicht mehr als 3 % des Bruttoinlandsproduktes betragen, und daß die Gesamtverschuldung 60 % des Bruttosozialproduktes 416 nicht überschreiten darf 4 1 7 . Diese Referenzwerte sind grundsätzlich strikt zu beachten. Allerdings sieht Artikel 104 c Absatz 2 EGV ausnahmsweise die Möglichkeit einer Abweichung von den starren, prozentual festgelegten Referenzwerten vor, indem er der Kommission nicht nur die Ermittlung mathematisch nachprüfbarer Referenzwerte, sondern auch eine Reihe von Beurteilungsspielräumen bei der Überwachung der Haushaltslage und der Feststellung eines übergroßen Defizits einräumt 418 . Für beide Referenzwerte können Ausnahmen zugelassen werden: So sind Ausnahmen bei Überschreiten des Referenzwertes betreffend das laufende öffentliche Defizits dann zulässig, wenn das Verhältnis des geplanten oder tatsächlichen Schuldenstandes zum Bruttoinlandsprodukt erheblich und laufend zurückgegangen ist und einen Wert in der Nähe des Referenzwertes erreicht hat oder wenn der Referenzwert nur ausnahmsweise und vorübergehend überschritten wird und das Verhältnis in der Nähe des Referenzwertes bleibt 419 . Bei Überschreiten des Referenzwertes betreffend die Gesamtverschuldung ist ergänzend zu prüfen, ob das Verhältnis des öffentlichen Schuldenstandes zum Bruttoinlandsproduktes hinreichend rückläufig ist und sich rasch genug dem Referenzwert nähert 420 . Allerdings regelt Artikel 104 c Absatz 2 Satz 2 lit. a EGV nicht, inwieweit das Verhältnis erheblich

414

VO (EG) 3605/93, ABl. 1993 Nr. L 332 S. 7. Sie enthält unter Rückgriff auf das europäische System Volkswirtschaftlicher Gesamtrechnungen und der Richtlinie 89/130/EWG. Euratom des Rates, ABl. 1989 Nr. L 49 S. 26, Definitionen für die im Protokoll verwendeten Begriffe. 415

Artikel 104 c Abs. 14 Satz 1 EGV.

416

Ohr, S. 224, hält diesen Wert für willkürlich, da es für ihn keine plausible ökonomische Begründung gibt. 417 Bei einem Bruttosozialprodukt von 3 Billionen DM dürften alle öffentlichen Haushalte der Bundesrepublik Deutschland folglich nur Neuschulden in einer Höhe von 60 Mrd. DM aufnehmen. Die Haushalte der Gebietskörperschaften wiesen 1993 einen Schuldenstand von 1.7 Billionen oder 56 % des Bruttoinlandsproduktes auf und näherten sich bereits zu diesem Zeitpunkt dem Referenzwert von 60 %, Geschäftsbericht der Deutschen Bundesbank, Die Welt vom 22.04.1994, S. 11. 418

Nicolay sen, Rechtsfragen der WU, S. 37.

419

Artikel 104 Abs. 2 Satz 2 lit. a EGV.

420

Artikel 104 Abs. 2 Satz 2 lit. b EGV.

16 Uhrig

242

Β. Hoheitsrechtsübertragungen im EUV

und laufend zurückgegangen und einen Wert in der Nähe des Referenzwertes erreicht haben muß. Offen bleibt auch, innerhalb welcher zeitlichen Periode zu beurteilen ist, ob eine entsprechende Entwicklung bei dem betrachteten Mitgliedstaat eingetreten ist. Weiterhin ist nicht quantifiziert, wann das öffentliche Defizit erheblich und laufend zurückgegangen ist und es fehlt ein Rahmen dafür, wann der von dem zu betrachtenden Mitgliedstaat erreichte Wert einen Wert in der Nähe des Referenzwertes erreicht hat 4 2 1 . Insofern bestehen für die Einhaltung der Haushaltsdisziplin relative und der Beurteilung durch die Kommission zugängliche Kriterien. Der sich im Hinblick auf die Ausnahmen ergebende Beurteilungsspielraum für die Kommission wird vor allem damit begründet, daß die zur Beurteilung der Ausnahmen heranzuziehenden Kriterien eine Fülle von unbestimmten Rechtsbegriffen enthalten, für die keine durch eine gefestigte Rechtsprechung des EuGH anerkannte Anwendungspraxis besteht422. Die Kommission muß den rechtlichen Gehalt der Kriterien daher anhand ihres Sinns und Zwecks, des historischen Willens des Vertragsgebers sowie des Normsystems auslegen423. Aufgrund des Sinns und Zwecks des EG-Vertrages, nach dem ein hohes Maß an Konvergenz der Wirtschaftspolitiken der Mitgliedstaaten erreicht werden soll, muß man jedoch ebenso wie aus systematischen Gründen zu einer restriktiven Handhabung kommen. Der Rat, der aufgrund der Empfehlung der Kommission über ein übermäßiges Defizit entscheidet424, wird bei seiner Entscheidung, daß ein Wert in der Nähe des Referenzwertes erreicht ist, stets die gleiche Bewertung anlegen. Legt er bei der Entscheidung, wann ein Wert in der Nähe des Referenzwertes vorliegt, einen weiten Maßstab an und kommt zugunsten eines Mitgliedstaates trotz erheblicher Abweichung vom Regelfall der Neuverschuldung von 3 % zu dem Ergebnis, daß die Haushaltsdiszplin eingehalten wurde, so werden sich andere Staaten zu Recht auf diese Handhabung berufen und eine gleiche Behandlung einfordern 425. Dies liefe jedoch dem Ausnahmecharakter der Regelung zuwider und widerspräche dem grundlegenden Ziel, dem die Einhaltung der Haushaltsdisziplin dienen soll, nämlich der Sicherung gesunder Finanzen.

421

So zusammenfassend Kortz, S. 102.

422

Im Gemeinschaftsrecht ist anerkannt, daß sich allein aus dem Umstand der Verwendung eines unbestimmten Rechtsbegriffs in einer Norm des primären oder sekundären Gemeinschaftsrechts ein Beurteilungsspielraum der Gemeinschaftsorgane ergeben kann, hierzu nur Herdegen, S. 144 f.; Huber, S. 274. 423

Die klassischen Auslegungskriterien gelten auch für das EG-Recht Oppermann, Europarecht, Rn. 577 ff. 424 425

Artikel 104 c Abs. 6 EGV.

Becker-Neetz, EWS 1996, S. 372, der die Auffassung vertritt, daß eine Abweichung von mehr als 10 % in diesem Sinne äußerst problematisch ist.

IV. Europäische Gemeinschaft

243

Der Wortlaut des Artikels 104 c Absatz 2 Satz 2 lit. a EGV gibt für die Beurteilung jedoch Anhaltspunkte. Zunächst regelt er, daß der Wert überhaupt zurückgegangen bzw. überschritten worden sein muß. Der Wortlaut des Artikels 104 c Absatz 2 Satz 2 lit. a EGV verdeutlicht darüber hinaus aber auch, daß die Überschreitung nicht der überwiegenden Praxis entsprechen darf, sondern daß vielmehr ein „Ausrutscher" vorliegt, daß der Grund dafür eine Ausnahmesituation war und daß die aktuelle Neuverschuldung nicht weit von der 3 %-Marke entfernt ist 4 2 6 . Eine Überschreitung des Referenzwertes dürfte insofern nur dann ausnahmsweise und vorübergehend sein, wenn die Überschreitung, die frühestens seit dem 1. Januar 1994 nach diesen Vorschriften bewertet wird, die Ausnahme bleibt. Eine genaue Quantifizierung der Voraussetzung, daß der Rückgang erheblich und laufend sein muß, ist gleichwohl nicht möglich 4 2 7 . Erforderlich ist vielmehr eine ökonomische Bewertung mit der Folge, daß diese Frage nicht anhand einer juristischen, sondern einer wirtschaftlichen Betrachtung beantwortet werden muß. Insofern ist dem Rat für seine Entscheidung ein Spielraum eröffnet, der juristischer Beurteilung entzogen ist. Auch bezüglich des zweiten Kriteriums für die Feststellung der Einhaltung der Haushaltsdisziplin, des öffentlichen Schuldenstands, sieht der Vertrag bei Nichteinhaltung des Referenzwertes von 60 % die Möglichkeit der Feststellung einer Ausnahme vor. Zwar darf grundsätzlich die Staatsverschuldung 60 % des Bruttoinlandsprodukts nicht überschreiten 428. Eine Ausnahme gilt jedoch, sofern bei Überschreitung des Refenzwertes die Verschuldung hinreichend rückläufig ist und sich rasch genug dem Referenzwert nähert. Bezüglich der in Artikel 104 c Absatz 2 Satz 2 lit. b EGV enthaltenen Kriterien ergibt zunächst der Wortlaut, daß eine Überschreitung des Referenzwertes zulässig ist, wenn unabhängig vom absoluten Wert die Rückführungsrate der Staatsschulden hinreichend ist. Dies bedeutet im Umkehrschluß, daß die Ausnahmeregelung dann nicht eingreifen kann, wenn die Staatsverschuldung ansteigt429. Das ist von Bedeutung für die Staaten, die gegenwärtig die Vorgabe des Referenzwertes von 60 % noch erfüllen, deren Staatsverschuldung aber nicht zurückgeht, sondern steigt. In diesem Fall ist eine noch so geringfügige Überschreitung des

426

Bandilla, Artikel 104 c, Rn, 6, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), Kommentar zum EUV; Becker-Neetz, EWS 1996, S. 372. 427

Kortz., S. 102 f.

428

Die durchschnittliche Schuldenstandquote der öffentlichen Haushalte in der EG ist von unter 60 % im Jahre 1991 kontinuierlich auf deutlich über 70 % im Jahre 1996 angestiegen, EWI-Jahresbericht 1996, S. 32 f. 429

Dies gilt etwa für die Bundesrepiblik Deutschland, da die Staatsverschuldung im Jahre 1997 im Vergleich zum VOrjahr um 0,9 % angestiegen ist, ist nunmehr bei 61,3 % liegt. Für 1998 wird eine Quote von 61,2 % erwartet, EWI, Report 1998, S. 45 f. 1*

244

Β. Hoheitsrechtsübertragungen im EUV

Wertes von 60 % nicht durch die Ausnahmeregelung zu rechtfertigen. Insofern besteht gemäß Artikel 104 c Absatz 2 Satz 2 lit. b EGV kein Beurteilungsspielraum, ökonomische Kriterien können eine Ausnahme nicht begründen 430. Wenn andererseits eine rückläufige Staatsverschuldung gegeben ist, bleibt die Frage, nach welchen Kriterien zu beurteilen ist, ob die Annäherung an den Referenzwert in hinreichender Weise geschieht. Anhaltspunkt für eine hinreichend rasche Rückführung könnte der zeitliche Rahmen des Artikels 109 k Absatz 2 EGV sein, wonach für Ausnahmeregelungen im Zusammenhang mit der Teilnahme an der Währungsunion ein Überpüfungszeitraum von zwei Jahren gegeben ist. Zwingend ist die Heranziehung dieses Beurteilungszeitraumes jedoch nicht, insbesondere enthält Artikel 104 c Absatz 2 Satz 2 lit. b EGV keinen ausdrücklichen Verweis auf Artikel 109 k Absatz 2 EGV. Darüber hinaus ergibt sich weder aus Artikel 104 c Absatz 2 Satz 2 lit. b EGV noch aus den sonstigen Vorschriften des EG-Vertrages für das Kriterium der hinreichenden Rückführung ein Beurteilungsmaßstab431. Es bedarf vielmehr einer Prüfung anhand ökonomischer Parameter mit der Folge, daß dem Rat ein Beurteilungsspielraum zukommt, der nicht primär anhand juristischer Kriterien beurteilt werden kann 432 . Die Anerkennung eines Beurteilungsspielraumes bei der Feststellung eines Haushaltsdefizits ist auch im Hinblick auf das Ziel der Überwachung erforderlich. Die Überwachung der Haushaltslagen der Mitgliedstaaten dient nämlich lediglich der Feststellung „schwerwiegender Fehler". Selbst wenn also die Kommission zu dem Ergebnis kommt, daß ein Mitgliedstaat die Referenzwerte überschritten hat und keine der Ausnahmen des Artikels 104 c Absatz 2 EGV vorliegt, muß ihre Prüfung nicht zwangsläufig zur Feststellung eines Haushaltsdefizits führen. Diese Feststellung setzt nämlich die Einschätzung der Kommission voraus, daß die Abweichung der Entwicklung der Haushaltslage und des öffentlichen Schuldenstandes einen schweren Fehler im Hinblick auf die öffentlichen Finanzen und die monetären Rahmenbedingungen darstellt. Dies kann die Berücksichtigung der Umstände ergeben, die die Kommission bei der Erstellung von Berichten zusätzlich zu berücksichtigen hat. In diesen Berichten wird nämlich auch berücksichtigt, ob und in welchem Ausmaß das öffentliche

430

Becker-Neetz, EWS 1996, S. 374.

431

Kortz, S. 103.

432

Kortz, S. 103; Becker-Neetz, EWS 1996, S. 374. Nicolaysert, Europarecht II, S. 344, hält dies für berechtigt, da der öffentliche Schuldenstand kein absolutes Merkmal für die aktuelle Stabilität einer Volkswirtschaft ist, sondern erfolgreiche Bemühungen um eine diesbezügliche Sanierung weit größeren Aufschluß geben.

IV. Europäische Gemeinschaft

245

Defizit die in vesti ven Ausgaben übertrifft 433. Ferner sind alle sonstigen einschlägigen Faktoren, einschließlich der mittelfristigen Wirtschafts- und Haushaltslage des Mitgliedstaates, zu berücksichtigen434. Die Mitgliedstaaten sind verpflichtet, ihre geplanten und tatsächlichen Defizite und die Höhe ihres Schuldenstands der Kommission unverzüglich und regelmäßig mitzuteilen435. Sie haben ab Anfang 1994 der Kommission zweimal jährlich die Höhe ihrer geplanten und tatsächlichen öffentlichen Defizite sowie die Höhe ihres tatsächlichen öffentlichen Schuldenstands mitzuteilen436. Ergibt die Überwachung durch die Kommission, daß ein Mitgliedstaat keines oder auch nur eines der Kriterien nicht erfüllt, oder ist die Kommission der Auffassung, daß ungeachtet der Erfüllung der Kriterien die Gefahr eines übergroßen Defizits besteht437, so erstellt sie einen Bericht 438 . Kommt die Kommission zu dem Ergebnis, daß in einem Mitgliedstaat ein übermäßiges Defizit besteht oder sich ergeben könnte, legt sie dem Rat eine Stellungnahme vor 4 3 9 . Der Rat entscheidet dann mit qualifizierter Mehrheit auf Empfehlung der Kommission, ob tatsächlich ein solches Defizit vorliegt 440 . Seine Entscheidung ist für die Frage,

433

Artikel 104 c Abs. 3 Satz 2 Halbsatz 1 EGV. Zu diesem Bericht gibt der Beratende Währungsausschuß eine Stellungnahme ab. Dieser hat die Aufgabe, die Politiken der Mitgliedstaaten in dem für das Funktionieren des Binnenmarktes erforderlichen Umfang zu fördern. Artikel 104 c Abs. 4 EGV. Der Ausschuß setzt sich aus je zwei Vertretern eines jeden Mitgliedstaates und zwei Mitgliedern der Kommission zusammen, Artikel 109 c Abs. 1 Unterabsatz 2 EGV. Mit Beginn der 3. Stufe der Währungsunion übernimmt der Wirtschafts- und Finanzausschuß die Aufgaben des Beratenden Währungsausschusses, Artikel 109 c Abs. 2 Satz 2 EGV. 434

Artikel 104 c Abs. 3 Satz 2 Halbsatz 2 EGV.

435

Artikel 3 des Protokolls über das Verfahren bei einem übermäßigen Defizit.

436

Artikel 4 der VO 3605/93.

437

Artikel 104 c Abs. 3 Unterabsatz 2 EGV.

438

Artikel 104 c Abs. 3 Unterabsatz 1 EGV. Wenn die Kommission zu dem Ergebnis gelangt, daß ein Mitgliedstaat eines oder beide Kriterien nicht erfüllt, besitzt sie kein Ermessen im Hinblick auf die Erstellung eines Berichts, Bandilla, Artikel 104 c, Rn. 11, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), Kommentar zum EUV. 439 440

Artikel 104 c Abs. 5 EGV.

Artikel 104 c Abs. 6 EGV. So stellten die Wirtschafts- und Finanzminister der EG am 19.09.1994 fest, daß 10 der damals 12 Mitgliedstaaten ein zu hohes Haushaltsdefizit autwiesen. Lediglich Luxemburg und Irland erfüllten die Kriterien. Irland wies zwar noch ein zu hohes Defizit auf, konnte aber gute Fortschritte in der Haushaltskonsolidierung erzielen, indem es seinen Schuldenstand reduzierte, FAZ vom 20.09.1994, S. 10.

246

Β. Hoheitsrechtsübertragungen im EUV

ob ein Haushaltsdefizit vorliegt, konstitutiv441. Er entscheidet nach Prüfung der Gesamtlage, zu der auch die Berücksichtigung der Bemerkungen zählt, die der betreffende Mitgliedstaat ggf. abgegeben hat. Stellt der Rat ein übermäßiges Defizit fest, so richtet er an den Mitgliedstaat Empfehlungen mit dem Ziel, dieses Defizit innerhalb einer bestimmten Frist abzugleichen 442 . Der Rat beschließt dies mit einer Mehrheit von zwei Dritteln der gemäß Artikel 148 Absatz 2 EGV gewogenen Stimmen der Mitgliedstaaten mit Ausnahme der Stimmen des Vertreters des betroffenen Mitgliedstaates443. Leitet der Mitgliedstaat keine wirksamen Maßnahmen zur Beseitigung des Defizits ein, kann der Rat seit 1994 nur politischen Druck auf den Mitgliedstaat ausüben. Erst mit Eintritt in die 3. Stufe der Wirtschafts- und Währungsunio n 4 4 4 besitzt er Sanktionsmöglichkeiten, die einen strafahnlichen Charakter haben 445 . Er kann den Mitgliedstaat in Verzug setzen, innerhalb einer bestimmten Frist Maßnahmen für den zur Sanierung seines Haushalts erforderlichen Abbau seines Defizits zu treffen 446 . Zu diesem Zweck kann der Rat den Mitgliedstaat anweisen, nach einem konkreten Zeitplan Berichte vorzulegen,

441

Hartmann, S. 62; Häde, EuZW 1992, S. 176. Der Rat der Wirtschafts- und Finanzminister hat am 08.07.1996 die Stellungnahme der Kommission für das Jahr 1996 bestätigt und festgestellt, daß mit Ausnahme Luxemburgs, Irlands und Dänemarks alle Mitgliedstaaten ein übermäßiges Defizit aufweisen. Die Entscheidung über das Vorliegen eines übermäßigen Defizits in Deutschland, Abi. 1996 Nr. L 172 S. 26, wurde damit begründet, daß das öffentliche Defizit im Vergleich zum Bruttoinlandsprodukt zwar 1994 nur bei 2,5 % und damit unterhalb des Referenzwertes des Artikels 104 c Abs. 2 lit. a EGV gelegen habe. 1995 habe es sich jedoch auf 3,5 % erhöht und die insofern bestehende rückläufige Tendenz habe sich umgekehrt, denn für 1996 würden sowohl nach der Mitteilung der Bundesregierung als auch der Kommissionsdienststellen ein Defizit von über 3 % des Bruttoinlandsprodukts erwartet. Das erwartete Defizit überschreite demnach den Referenzwert. Angesichts der mittelfristigen Wirtschafts- und Haushaltslage Deutschlands lasse die Entwicklung der öffentlichen Schuldenquote, die 1995 bei 58,1 % lag, für 1996 einen weiteren Anstieg dieser Quote um mehrere Prozentpunkte erwarten mit der Folge, daß auch der Referenzwert des Artikels 104 c Abs. 2 lit. b EGV überschritten werde. 442

Artikel 104 c Abs. 7 Satz 1 EGV.

443

Artikel 104 c Abs. 13 EGV.

444

Auch in der 3. Stufe kommt der gesunden öffentlichen Haushaltslage eines Mitgliedstaaten eine bedeutende Rolle zu, da diese auch dann einen großen Beitrag zur Erhaltung stabiler Bedingungen in den Mitgliedstaaten, die an der 3. Stufe teilnehmen leistet, Zwischenbericht des Rates an den Europäischen Rat in Florenz, Dok. 7940/96, S. 2. 445

Hartmann, S. 75.

446

Artikel 104 c Abs. 9 Unterabsatz 1; Artikel 109 e Abs. 3 Unterabsatz 2 EGV.

IV. Europäische Gemeinschaft

247

um so seine Anpassungsbemühungen überprüfen zu können 447 . Wenn der Mitgliedstaat dem Beschluß des Rates nicht nachkommt, kann der Rat auf Empfehlung der Kommission mit einer Mehrheit von zwei Dritteln der gemäß Artikel 148 Absatz 2 EGV gewogenen Stimmen der Mitgliedstaaten mit Ausnahme der Stimmen des Vertreters des betroffenen Mitgliedstaats448 beschließen, eine oder mehrere der folgenden Maßnahmen anzuwenden und ggf. zu verschärfen, nämlich -

von dem betreffenden Mitgliedstaat verlangen, vor der Emission von Schuldverschreibungen und sonstigen Wertpapieren vom Rat näher zu bezeichnende zusätzliche Angaben zu veröffentlichen

- die Europäische Investitionsbank ersuchen, ihre Darlehenspolitik gegenüber dem Mitgliedstaat zu überprüfen, - von dem Mitgliedstaat verlangen, eine unverzinsliche Einlage in angemessener Höhe bei der Gemeinschaft zu hinterlegen, bis das übermäßige Defizit nach Ansicht des Rates korrigiert ist, - Geldbußen in angemessener Höhe verhängen. 449 Ein übermäßiges Haushaltsdefizit eines Mitgliedstaates kann also zur Überprüfung der Darlehenspolitik gegenüber dem betreffenden Mitgliedstaat, zur Pflicht, unverzinsliche Einlagen zu hinterlegen, und zur Verhängung von Geldbußen führen 450 . Im Wege einer Klage kann gegen einen solchen Mitgliedstaat nicht vorgegangen werden, denn Artikel 104 c Absatz 10 EGV schließt das Vertragsverletzungsverfahren gemäß Artikel 169 EGV ausdrücklich aus. Korrigiert der betreffende Mitgliedstaat sein übermäßiges Defizit, hebt der Rat einige oder sämtliche bis zu diesem Zeitpunkt ergangenen Entscheidungen auf und stellt, sofern seine vormaligen Empfehlungen veröffentlicht worden sind, in einer öffentlichen Erklärung fest, daß in dem betreffenden Mitgliedstaat kein übermäßiges Defizit mehr besteht451.

447

Artikel 104 c Abs. 9 Unterabsatz 2 EGV.

448

Artikel 104 c Abs. 13 EGV.

449

Artikel 104 c Abs. 11 Satz 1 EGV.

450

So die Zusammenfassung der Maßnahmen nach Artikel 104 c Abs. 11 EGV durch Ensthaler, ZRP 1992, S. 428; ebenso Pipkorn,, CMLR 1994, S. 279. 451

Artikel 104 c Abs. 12 EGV. Eine solche Entscheidung erging etwa zur Aufhebung der Entscheidung über das Vorliegen eines übermäßigen Definzits in Dänemark, ABl. 1996 Nr. L 172 S. 25. Die Aufhebungsentscheidung wurde damit begründet, daß erstens die Neuverschuldung Dänemarks 1994 und 1995 abgenommen habe und 1995 auf 1,4 % des Bruttoinlandsprodukts zurückgegangen sei und damit deutlich unter dem Referenzwert des Artikels 104 c Abs. 2 EGV liege. Zwar liege der Bruttoschuldenstand über dem Referenzwert von 60%. 1994 und 1995 habe der Bruttoschuldenstand aber von 80,1 % auf 71,9% gesenkt werden können. Die Entwicklung des Bruttoschulden-

248

Β. Hoheitsrechtsübertragungen im EUV

Die Regelungen betreffend die Überwachung der Hauslagen der Mitgliedstaaten haben eine disziplinierende Wirkung hinsichtlich der Haushaltspolitik der Mitgliedstaaten. Für die Frage des Volumens, der Zusammensetzung und der inhaltlichen Schwerpunktsetzung der Haushalte trifft der EG-Vertrag aber ebensowenig eine Regelung wie für die Frage, wie ein übermäßiges Defizit verringert werden soll. Die Kompetenz zur Regelung dieser Fragen kommt vielmehr weiterhin den Mitgliedstaaten zu. Der EG-Vertrag gibt somit für die Entwicklung der mitgliedstaatlichen Haushaltslagen lediglich einen Rahmen vor, innerhalb dessen die Mitgliedstaaten aber weiterhin eine eigenständige Haushaltspolitik betreiben können.

c) Ergebnis Der Vergleich der vor und nach dem Inkrafttreten des Vertrages von Maastricht bestehenden wirtschaftspolitischen Kompetenzen der Europäischen Gemeinschaft macht deutlich, daß im Bereich der Wirtschaftspolitik eine Teilung der Kompetenzen zwischen Europäischer Gemeinschaft und den Mitgliedstaaten vorhanden war und ist. Während die Europäische Gemeinschaft zur Verwirklichung des Binnenmarktes weitreichende Kompetenzen besitzt mit der Folge, daß in verschiedenen Regelungsbereichen gemeinschaftsrechtliche Regelungen die nationalen Regelungen weitgehend verdrängen oder überlagern, sind ihre Kompetenzen auf dem Gebiet der allgemeinen Wirtschaftspolitik lediglich auf die Annäherung der Wirtschaftspolitiken der Mitgliedstaaten gerichtet und auf die Möglichkeit der Koordinierung der Mitgliedstaaten beschränkt. Bereits der EWG-Vertrag sah zur Verwirklichung der wirtschaftlichen Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten zwei Mittel vor, nämlich die Verwirklichung des Gemeinsamen Marktes und die Annäherung der Wirtschaftspolitiken der Mitgliedstaaten. Zur Verwirklichung des Gemeinsamen Marktes besitzt die Europäische Gemeinschaft teils weitreichende, die Kompetenz der Mitgliedstaaten zum Erlaß nationaler Regelungen verdrängende Kompetenzen. Dies hat zur Errichtung eines Systems gemeinschaftsrechtlicher Regeln gefuhrt, das neben die Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten getreten ist und das das natiostandes, insbesondere seinfrüherer Anstieg, seien durch institutionelle Sonderfaktoren, die 1995 etwa 19% des Bruttoinlandsprodukts ausmachten, stark beeinflußt worden. Damit liege das Defizit deutlich unter dem Referenzwert und dürfte auf mittlere Sicht auf diesem Stand verharren. Der Bruttoschuldenstand habe sich zwei Jahre hintereinander stark verringert, und es werde ein weiterer deutlicher Rückgang erwartet. Wölker, EuR 1996, S. 322, hält diese Entscheidung angesichts der schnell und stetig abnehmenden Gesamtverschuldung für eine juristisch gut vertretbare Lösung, die gleichzeitig andere Staaten anspornen dürfte, sich ebenfalls anzustrengen.

IV. Europäische Gemeinschaft

249

naie Recht verdrängt und überlagert. Auf dem Gebiet der allgemeinen Wirtschaftspolitik hingegen verbleiben die Kompetenzen bei den Mitgliedstaaten. Allerdings können die Mitgliedstaaten ihre allgemeinen Wirtschaftspolitiken nicht mehr isoliert nebeneinander betreiben. Sie waren bereits aufgrund der Regelungen des EWG-Vertrages gehalten, ihre Politiken aufeinander abzustimmen. Die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft besaß im Bereich der allgemeinen Wirtschaftspolitik lediglich die Kompetenz zur Unterstützung der Koordination der Mitgliedstaaten. Der EG-Vertrag hat die Kompetenzen der Europäischen Gemeinschaft auf dem Gebiet der allgemeinen Wirtschaftspolitik erweitert. Die Europäische Gemeinschaft besitzt nun die Kompetenz zur Formulierung der Grundzüge der Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten und zur Überwachung dieser Grundzüge sowie der Haushaltslage der Mitgliedstaaten. Sie kann Empfehlungen gegenüber denjenigen Mitgliedstaaten abgeben, die durch ihre Wirtschaftspolitik die engere Koordinierung der Wirtschaftspolitik und die dauerhafte Konvergenz der Wirtschaftsleistungen der Mitgliedstaaten gefährden. Die dadurch entstehenden Vorgaben sind von besonderer Bedeutung für die Mitgliedstaaten insbesondere im Bereich der öffentlichen Haushalte. Durch das Verbot der Kreditaufnahme bei den Zentralbanken und das Verbot des bevorrechtigten Zugangs zu den Finanzinstituten sowie durch den Haflungsausschluß der Europäischen Gemeinschaft für Verbindlichkeiten der Gebietskörperschaften sind den Mitgliedstaaten Möglichkeiten genommen worden, ihre öffentlichen Haushalte auf dem Wege der Neuverschuldung zu finanzieren. Die Europäische Gemeinschaft überwacht die Entwicklung der Haushalte der Mitgliedstaaten anhand von Referenzwerten bezüglich der Neu- und der Gesamtverschuldung der öffentlichen Haushalte. Die diesbezüglich bestehenden Referenzwerte stellen jedoch keine absoluten Grenzwerte für die Feststellung eines übermäßigen Haushaltsdefizits auf, sondern enthalten Ausnahmetatbestände und eine Reihe von Ermessenspielräumen. Diese beruhen auf der Erkenntnis, daß die wirtschaftliche Situation eines Mitgliedstaates nicht nur anhand juristischer Kriterien, sondern auch anhand von ökonomischen Bewertungen zu beurteilen ist, die es erfordern, dem Rat einen Beurteilungsspielraum einzuräumen. Dies gilt auch deshalb, weil die Europäische Gemeinschaft darauf beschränkt ist, schwerwiegende Fehler im Hinblick auf die Haushaltslage eines Mitgliedstaates festzustellen. Die Überwachung der Haushaltslage der Mitgliedstaaten schafft gleichwohl erstmals ein Verfahren, das dazu beitragen kann, daß die Mitgliedstaaten ihre Haushaltspolitiken an gemeinsamen Kriterien ausrichten 4 5 2 . Allerdings sind die Einflußnahmemöglichkeiten der Europäischen Gemeinschaft in der 2. Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion sehr beschränkt.

452

Pipkorn, CMLR 1994, S. 280.

250

Β. Hoheitsrechtsübertragungen im EUV

Sie kann ein übermäßiges Defizit zwar feststellen und an den entsprechenden Mitgliedstaat Empfehlungen zu dessen Beseitigung richten. Diesen kommt jedoch lediglich politische Wirkung zu. Erst in der 3. Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion kann die Europäische Gemeinschaft Sanktionen aussprechen. Derartige Kompetenzen bestehen jedoch im Bereich der allgemeinen Wirtschaftspolitik ausschließlich für den Bereich der Haushaltslage der Mitgliedstaaten, sie stehen unter dem Vorbehalt des Nichterreichens der Ziele des EGVertrages durch die Mitgliedstaaten, und sie sind auf das Mittel der finanziellen Sanktionen beschränkt. Der EG-Vertrag hat also „Eckwerte" im Hinblick auf die Grundzüge der allgemeinen Wirtschaftspolitik und der Haushaltspolitik der Mitgliedstaaten festgelegt. Gleichwohl sind die Mitgliedstaaten frei in der Wahl der Mittel, mittels derer sie ihre Wirtschaftspolitik entsprechend den gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben ausrichten. Der Europäischen Gemeinschaft ist somit lediglich eine Überwachung und gegebenenfalls die finanzielle Sanktionierung der weiterhin nationalen Wirtschaftspolitiken möglich, nicht hingegen die aktive Gestaltung der nationalen Wirtschaftspolitik und der nationalen Haushalte der Mitgliedstaaten auf dem Wege zur Einhaltung der vorgegebenen Kriterien. Die Aufgabe der Gemeinschaftspolitik auf dem Gebiet der allgemeinen Wirtschaftspolitik ist also nicht die zentrale Steuerung des gesamten Wirtschaftsablaufes im Gemeinschaftsgebiet, sondern die Ausrichtung der nationalen Wirtschaftspolitiken der Mitgliedstaaten an gleichen Ziel vorgaben und die Koordination und Überwachung mittels geeigneter Verfahren 453 . Eine vollständige oder auch nur weitgehende Vergemeinschaftung der Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten ist also nicht erfolgt.

5. Währungsunion Weiterhin ist fraglich, ob und in welchem Umfang im Bereich der Währungspolitik durch den EU-Vertrag Hoheitsrechte übertragen worden sind. Zusammen mit der Wirtschaftsunion bildet die Währungsunion ein Kernstück des Vertrages über die Europäische Union. Die Regelungen über die Währungsunion sollen den Endpunkt einer Entwicklung hin zu einer immer umfassender werdenden Währungspolitik der Europäischen Gemeinschaft bilden. Gerade diese Regelungen sind es, die in Deutschland große verfassungsrechtliche Bedenken gegen den Vertrag von Maastricht ausgelöst haben 454 . Nachfolgend sollen daher die Formen der währungspolitischen Zusammenarbeit

453

Seidel, EuR 1992, S. 134; Huber, S. 247.

454

Wie hier auch WeikarU

NVwZ 1993, S. 834.

IV. Europäische Gemeinschaft

2

und die währungspolitischen Vorschriften des EWG-Vertrages auf dem Gebiet der Währungspolitik (a) im Vergleich mit den Regelungen des EG-Vertrages (b) dargestellt werden.

a) Währungspolitische

Kompetenzen der Europäischen

Wirtschaftsgemeinschaft

nach dem EWG-Vertrag

Die dem EWG-Vertrag zugrundeliegende Idee war die eines Zusammenschlusses der Mitgliedstaaten auf wirtschaftlichem Gebiet, der die grenzüberschreitende Bewegung von Waren, Personen und Dienstleistungen ermöglichen sollte. Die Verwirklichung eines solchen Ziels setzt allerdings auch internationalen Zahlungs- und Kapitalverkehr voraus. Dieser Notwendigkeit trug auch die Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten auf währungspolitischem Gebiet Rechnung. Die Zusammenarbeit auf währungspolitischem Gebiet läßt sich in drei Phasen einteilen: Stützte sich in der Gründungsphase die währungspolitische Zusammenarbeit weitgehend auf internationale Regelungen außerhalb des EWG-Vertrages (aa), entwickelte sich in den Folgejahren eine Zusammenarbeit auch auf währungspolitischem Gebiet (bb), die dazu führte, daß 1987 ein Abschnitt über die Zusammenarbeit in der Wirtschafts- und Währungspolitik in den EWG-Vertrag eingefügt wurde (cc).

aa) Gründungsphase Während die Idee einer Wirtschaftsgemeinschaft und die Ansicht, diese zu begründen und auszugestalten, zum Abschluß des EWG-Vertrages führten 455 , verbanden die Gründungsmitglieder der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft diese Idee nicht mit dem Gedanken an eine Währungsgemeinschaft. Der Gründungsvertrag sah weder eine einheitliche europäische Währungszone noch die Vergemeinschaftung der Währungspolitiken der Mitgliedstaaten vor 4 5 6 . Eine solche Zielsetzung war weder als Aufgabe in Artikel 2 EWGV verankert 457, noch war der Währungspolitik ein eigener Abschnitt im EWG-Vertrag gewidmet 4 5 8 . Dies hatte seine Ursache vor allem in dem damals bestehenden Festkurssystem von Bretton Wood, aufgrund dessen kein Bedarf für eine gemeinschaftsrechtliche Regelung währungspolitischer Fragen zu bestehen

455

Siehe oben S. 221 ff.

456

Oppermann, Europarecht, S. 329 ff; Hahn, Vertrag von Maastricht, S. 12.

457

So auch Borries, in: Rengeling/Borries, S. 93; Möller /Cezanne, S. 31.

458

Zuleeg, EuR 1975, S. 196.

25

Β. Hoheitsrechtsübertragungen im EUV

schien 459 . Die fehlende Aufnahme währungspolitischer Regelungen in den EWG-Vertrag entsprach aber auch der Abneigung der Gründerstaaten gegen Kompetenzverluste auf dem Gebiet der Währungspolitik 460. Die Mitgliedstaaten haben im Bereich der Währungspolitik daher auf bestehende internationale Regelungen zurückgegriffen ((1)) und entsprechend nur einige Regelungen mit währungspolitischem Gehalt in den EWG-Vertrag aufgenommen ((2)).

(1) Internationale

Übereinkünfte

außerhalb des EWG-Vertrages

Die Gründungsmitglieder der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft konnten auf internationale Abkommen zurückgreifen, die die internationalen Währungsbeziehungen regelten. Dies waren insbesondere das Abkommen von Bretton Wood ((a)) und die Europäische Zahlungsunion ((b)).

(a) Abkommen von Bretton Wood Das am 22. Juli 1944 in Bretton Wood unterzeichnete Abkommen über den Internationalen Währungsfonds sah ein System fester Wechselkurse zwischen den beteiligten Währungen vor 4 6 1 . Entscheidendes Merkmal war die freie Konvertibilität der Währungen, verbunden mit festen Währungskursen 462. Zu diesem Zweck legte jeder Mitgliedstaat die Wertigkeit seiner Währung entweder gegenüber dem Gold oder dem US-Dollar fest 463 . Die Fixierung der nationalen Währungen erfolgte durch die Definition einer Währung als einer bestimmten Goldmenge im Gewicht und in der Feinheit vom 1. Juli 1944 4 6 4 oder ihrer Wertigkeit im Verhältnis zum US-Dollar. Die Wahlmöglichkeit zur Festlegung

459 Seidel, EWS im Gemeinschaftsrecht, S. 476; Smits, Artikel 107, Rn. 1, in: von der Groeben/Thiesing/Ehlermann (Hrsg.), Kommentar zum EWGV; Cezanne, Integration 1980, S. \6&:Ohr, S. 201. 460

Hahn, Währungsrecht, S. 180; Fuchs, S. 7.

461

Deutschland trat dem Internationalen Währungsfonds 1952 bei. Abdruck des ursprünglichen Abkommens BGBl. II 1952 S. 638, Neufassung aufgrund der Zweiten Änderung des Übereinkommens über den Internationalen Währungsfonds BGBl. II 1978 S. 13. Für die DM ergab sich dadurch eine sonst nicht vorhandene Beziehung zum Gold. Sie wurde daher als eine nach nationalem Recht nur gesteuerte Währung mit den Merkmalen einer Goldparitätswährung aufgrund internationaler Abkommen bezeichnet, Fögen, S. 61; Spindler/Becker/Starke, § 14, Anm. 5. 462

Herdegen, S. 183.

463

Artikel IV Abschnitt 1 oder Artikel XX Abschnitt 4 1WFA 1944. Hahn, Währungsrecht, S. 174; ders., Wechselkurse, S. 115 f.; Stratmann, S. 109 f. 464

Möller/C ezanne, S. 52.

IV. Europäische Gemeinschaft

2

der Parität entweder in Gold oder in US-Dollar wurde durch das Versprechen der Vereinigten Staaten ermöglicht, Dollar jederzeit und unbeschränkt zum offiziellen Goldpreis von $ 35 für eine Feinunze in Gold umzutauschen465. Ergab sich bei Devisenkassageschäften eine Abweichung einer Währung von der Parität um mehr als 1 % nach oben oder unten, mußten die nationalen Währungsbehörden intervenieren 466. Damit bestand bei Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft ein globales System fester Wechselkurse, in das auch die Mitgliedstaaten der Gemeinschaft eingebunden waren 467 . Zu Kompetenzübertragungen zugunsten der Gemeinschaft, die über die Regelungen des Systems von Bretton Wood hinausgegangen wären, waren die Mitgliedstaaten nicht bereit 468 .

(b) Europäische Zahlungsunion Die Abwicklung des grenzüberschreitenden, multilateralen Zahlungsverkehrs zwischen den Mitgliedstaaten wurde daneben durch die Europäische Zahlungsunion bzw. das Europäische Währungsabkommen geregelt. Das Gründungsabkommen der Organisation für Europäische Wirtschaftliche Zusammenarbeit (OEEC) 4 6 9 sah die Schaffung eines multilateralen Verrechnungssystems vor 4 7 0 . Die Errichtung und Durchführung eines solchen multilateralen Clearingsystems wurde durch die am 19. September 1950 gegründete

465

Die rechtliche Verpflichtung der USA wurde durch ein Statement des amerikanischen Finanzministers vom 04.10.1949 bewirkt, in dem ein uneingeschränkter Anund Verkauf zugesichert wurde, Rettberg, S. 108 f. 466

Artikel IV Abschnitt 3 IWFA 1944. Tomuschat, S. 14; Rettberg, S. 97; Fögen, S. 60: f/erdegen, S. 184. 467

Hahn/Siebelt.

468

Von der Groeben, Aufbaujahre, S. 315 f.

DÖV 1989, S. 235.

469

Die OEEC wurde am 16.04.1948 gegründet. Ihr Ziel war gemäß Artikel I I OEEC-Vertrag „der Aufbau einer gesunden europäischen Wirtschaft durch wirtschaftliche Zusammenarbeit ihrer Mitglieder". Mitglieder dieses zunächst zur Verteilung der amerikanischen Wiederaufbauhilfe nach dem Zweiten Weltkrieg begründeten Staatenverbundes waren zunächst 17 europäische Staaten, für Deutschland unterschrieben der englische und der französische Militärgouverneur als Vertreter der westlichen Besatzungszonen, Hahn/Weber, S. 34 ff.; Oppermann, Europarecht, Rn. I I I . Zur Entstehungsgeschichte H ahn/Weber, S. 34 ff. 47i)

Auswärtiges Amt (Hrsg.), Die Verträge der Bundesrepublik Deutschland, Serie Λ, Bd. I, 1955, S. 2 ff.

25

Β. Hoheitsrechtsübertragungen im EUV

Europäische Zahlungsunion übernommen 471, die die bis dahin bestehenden zahlreichen 472 bilateralen Verrechnungsvereinbarungen zum Zwecke des zweiseitigen Zahlungsbilanzausgleiches ablöste. Das System beruhte auf der monatlichen Abrechnung sämtlicher Guthaben und Verpflichtungen bei den Zentralbanken der Teilnehmerländer und ihrer Umwandlung in einen Anspruch bzw. eine Schuld gegenüber der Europäischen Zahlungsunion. Dies hatte die Konvertibilität der Währungen der Teilnehmerländer zur Folge 473 , die am 27. Dezember 1958 für die meisten europäischen Währungen eingeführt wurde 4 7 4 . Die Europäische Zahlungsunion, die daraufhin ihre Tätigkeit beendete 475 , wurde durch das Europäische Währungsabkommen vom 5. August 1958 4 7 6 abgelöst. Dessen Tätigkeitsfeld verschob sich in der Folgezeit von der Bereitstellung eines Verrechnungsmechanismus hin zur Gewährung von Darlehen zum Ausgleich der Zahlungsbilanzen477. Damit stand zum Zeitpunkt der Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft ein den internationalen Zahlungsverkehr regelndes System zur Verfügung, das die sich aus der Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft ergebenden Probleme des grenzüberschreitenden Zahlungsverkehrs der Mitgliedstaaten in der Praxis löste. (2) Regelungen des EWG-Vertrages Neben diesen außerhalb des EWG-Vertrages bestehenden grundlegenden internationalen Regelungssystemen enthielt der EWG-Vertrag selbst nur wenige Regelungen mit währungspolitischem Bezug. Es waren dies Artikel 104 EWGV ((a)), Artikel 105 EWGV ((b)), Artikel 106 EWGV ((c)) und Artikel 107 EWGV ((d)). 471

BGBl. 1952 II S. 31. Zur weiteren Entwicklung der Europäische Zahlungsunion Coing, , S. 486. 472

So unterhielten die westeuropäischen Staaten 1950 untereinander nicht weniger als 200 bilaterale Abkommen, Schleiminger, EA 1959, S. 545. 473

Hahn, Währungsrecht, S. 324 f.; im Ergebnis auch Oppermann, Europarecht,

Rn. 119. 47 4

Hahn/Weber,

S. 240 f.; Siebelt, S. 105.

475

Decision of the Council relating to the Termination of the Agreement for the Establishing of a European Payment Union and the Application of the European Monetary Agreement vom 30.12.1958, Doc. No. C (58) 281 (Final), abgedruckt in: OEEC/OECD, Actes de lOrganisation/Acts of the Organisation, Bd. 18, S. 588 ff. 476 477

BGBl. 1959 II S. 293 ff.

Zum Europäischen Währungsabkommen Zehetner, S. 241 ff.

S. 186.; Hahn/Weber,

IV. Europäische Gemeinschaft

2

(a) Artikel 104 EWG-Vertrag Gemäß Artikel 104 EWGV betrieb jeder Mitgliedstaat (...) eine Wirtschaftspolitik, die erforderlich ist, um unter Wahrung eines hohen Beschäftigungsstands und eines stabilen Preisniveaus das Gleichgewicht seiner Gesamtzahlungsbilanz zu sichern und das Vertrauen in seine Währung aufrechtzuerhalten. Die Zielvorgabe an die Mitgliedstaaten, das Vertrauen in die nationale Währung aufrechtzuerhalten, war damit nur eine von mehreren Zielvorgaben für die nationalen Wirtschaftspolitiken der Mitgliedstaaten478. Ein Maßnahmenkatalog zur Verwirklichung dieser Ziele wurde den Mitgliedstaaten nicht vorgegeben 4 7 9 . Sie hatten daher das Recht, eigene Prioritäten hinsichtlich der Verwirklichung der einzelnen Ziele zu setzen 480 . Artikel 104 EWGV beließ den Mitgliedstaaten also einen weiten Ermessensspielraum bei der Auswahl der Maßnahmen, die das Vertrauen in die nationalen Währungen aufrechterhalten sollten 481 . Als Ausschnitt der allgemeinen Wirtschaftspolitik war das Ziel einer stabilen Währung ein Bereich, in dem die Mitgliedstaaten die alleinige Kompetenz zur Zielverwirklichung besaßen.

(b) Artikel 105 EWG-Vertrag Eine weitere Norm, die währungspolitische Aspekte enthielt, war Artikel 105 EWGV, der eine Koordinationspflicht der Mitgliedstaaten zur Verwirklichung der Ziele des Artikels 104 EWGV festlegte 482. Die Koordination konnte in den Formen regelmäßiger Konsultation und eines regelmäßigen Informationsaustausches erfolgen 483. Darüber hinaus enthielt Artikel 105 Absatz 1 Satz 2 EWGV die konkrete Vorgabe an die Mitgliedstaaten, eine Zusammenarbeit zwischen

47 8

Bünger/Molitor, Artikel 104, Rn. 7, in: von der Groeben/Thiesing/Ehlermann (Hrsg.), Kommentar zum EWGV; Oppermann, Europarecht, Rn. 861; Seidel, EWS im Gemeinschaftsrecht, S. 473. 47 9

Hahn/Siebelt, DÖV 1989, S. 234; Bünger/Molitor, Artikel 104, Rn. 8, in: von der Groeben/Thiesing/Ehlermann (Hrsg.), Kommentar zum EWGV. 480

Bleckmann/Pieper,

in: Bleckmann, Europarecht, Rn. 1814.

481

So auch Bleckmann/Pieper, in: Bleckmann, Europarecht, Rn. 1810; Ipsen, H. P., Gemeinschaftsrecht, S. 798; Bünger/Molitor, Artikel 104, Rn. 8, in: von der Groeben/Thiesing/Ehlermann (Hrsg.), Kommentar zum EWGV. 482 483

Schweitzer/Hummer,

S. 363; Gleske, S. 88.

Bünger/Molitor, Vorb. zu den Artikeln 102-109, Rn. 15, in: von der Groeben/ Thiesing/Ehlermann (Hrsg.), Kommentar zum EWGV; Magiern, Artikel 105, Rn. 3, in: Hailbronner, Kommentar zum EWGV.

25

Β. Hoheitsrechtsübertragungen im EUV

nationalen Verwaltungsstellen und zwischen ihren Zentralbanken zu begründen 4 8 4 . Zum Zwecke der Koordinierung der nationalen Währungspolitik der Mitgliedstaaten wurde ein Beratender Währungsausschuß eingesetzt485. Zu seinen Aufgaben zählten zum einen die Beobachtung der Währungs- und Finanzlage der Mitgliedstaaten und der Europäischen Gemeinschaft sowie des allgemeinen Zahlungsverkehrs der Mitgliedstaaten und eine regelmäßige Berichterstattung 486 . Artikel 2 der Satzung des Währungsausschusses487 präzisierte diese Beobachtungsaufgabe dahingehend, daß er sich bei der Untersuchung der Währungs- und Finanzlage der Mitgliedstaaten insbesondere zu bemühen habe, Schwierigkeiten vorherzusehen, welche die Zahlungsbilanzen beeinträchtigen könnten, und Anregungen geben solle, wie diesen Schwierigkeiten begegnet werden könnte 488 . Bei der Beobachtung war der Ausschuß auf die Bereitschaft der Mitgliedstaaten zur Zusammenarbeit angewiesen489. Seine Einflußmöglich-

484

Kapteyn/VerLoren van Themaat, S. 593. Diese Formulierung kann Zweifel darüber begründen, was mit „zuständigen Verwaltungsstellen" gemeint ist und welchen Umfang die Zusammenarbeit der damit umschriebenen Verwaltungsstellen haben soll. Die Ansicht, damit sei lediglich eine Zusammenarbeit der nationalen Verwaltungsstellen zur laufenden Erledigung der Geschäfte zwischen den Behörden gemeint, ist allerdings nicht überzeugend, da durch eine derartige eingegrenzte Form der Zusammenarbeit, eine wirksame Koordinierung der nationalen Wirtschaftspolitiken nicht möglich wäre, Krämer, Artikel 105, Rn. 13, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), Kommentar zum EUV. Die Zusammenarbeit gemäß Artikel 105 EWGV beinhaltet daher auch die Zusammenarbeit der für die Konzeption und Durchführung der Wirtschaftspolitik zuständigen Instanzen einschließlich der Regierung bzw. des Kabinetts als Spitze der Exekutive, Smits. Artikel 105. Rn. 10, in: von der Groeben/Thiesing/Ehlermann (Hrsg.), Kommentar zum EWGV. 485

Artikel 105 Abs. 2 EWGV. Zur Zusammensetzung und Arbeitsweise des Währungsausschusses Krämer, Artikel 105, Rn. 19, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), Kommentar zum EUV m.w.N. 486

Artikel 105 Abs. 2 Satz 1 EWGV.

487

ABl. 1958 S. 390.

488

Die Abgabe von Stellungnahmen des Währungsausschusses erfolgt zum einen fakultativ auf Ersuchen des Rates oder der Kommission. Seine Stellungnahmen sind aber daneben verbindlich vorgeschrieben in Fällen der Artikel 69, Artikel 71 Abs. 3, Artikel 73 Abs. 1 Unterabsatz 1 und und Abs. 2 Satz 3 EWGV sowie nach Artikel 107 Abs. 2, Artikel 108 Abs. 1 Unterabsatz 2 und Artikel 109 Abs. 3 EWGV. Daneben wurde in der Folgezeit die Anhörung des Währungsausschusses durch sekundäres Gemeinschaftsrecht in weiteren Fällen zwingend vorgeschrieben. 489

Smits. Artikel 105, Rn. 18, in: von der Groeben/Thiesing/Ehlermann (Hrsg.). Kommentar zum EWGV.

IV. Europäische Gemeinschaft

2

keiten waren begrenzt, denn er hatte ausschließlich beratende Funktion, und seine Stellungnahmen waren nicht verbindlich 490. Die in Artikel 105 EWGV vorgesehene Zusammenarbeit und der Beratende Währungsausschuß blieben nicht die einzigen Mittel zur Koordinierung der nationalen Wirtschaftspolitiken 491. So hatte der Rat nach dem Vorbild des Beratenden Währungsausschusses weitere Ausschüsse geschaffen, deren Errichtung im EWG-Vertrag selbst nicht vorgesehen war. Hierzu zählten: -

der Ausschuß für Wirtschaftspolitik 492,

-

der Ausschuß der Zentralbankpräsidenten 493,

-

die Koordinierungsgruppe zur ständigen gegenseitigen Unterrichtung der Mitgliedstaaten über ihre kurzfristige Wirtschafts- und Finanzpolitik und zur Koordinierung dieser Politik 494 .

Doch trotz der Konsultationen und der Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten im Rahmen des Beratenden Währungausschusses sowie in den übrigen Ausschüssen verblieb die Kompetenz zur Formulierung und Durchführung der Währungspolitik allein bei den Mitgliedstaaten495. Den Gemeinschaftsorganen standen keine Mittel zur Vergemeinschaftung der Währungspolitik der Mitgliedstaaten zur Verfügung. Dies hatte zur Folge, daß die Mitgliedstaaten die Ausrichtung der nationalen Währungspolitik bestimmten und Beschränkungen ihrer Kompetenzen sich lediglich für den Fall ergaben,

490

Köster, S. 66: Smits, Artikel 105, Rn. 18, in: von der Groeben/Thiesing/Ehlermann (Hrsg.), Kommentar zum EWGV. 491

Bleckmann/Pieper,

in: Bleckmann, Europarecht, Rn. 1817.

492

Beschluß 74/122/EWG zur Einsetzung eines Ausschusses für Wirtschaftspolitik, ABl. 1974 Nr. L 63 S. 21. Er übernahm die Aufgaben des Auschusses für Konjunkturpolitik, der nur auf dem Gebiet der kurzfristigen Wirtschaftspolitik tätig war und des Ausschusses für mittelfristige Wirtschaftspolitik sowie des Ausschusses für Haushaltspolitik. Seine Existenz ist durch die Neufassung des Artikels 203 Abs. 9 EGV nunmehr auch im EGV abgesichert. Zu Maßnahmen und Methoden der Koordinierung Krämer, Artikel 105, Rn. 20 ff., in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), Kommentar zum EUV. 493

Beschluß 64/300/EWG, ABl. 90/142/EWG, ABl. 1990 Nr. L 78 S. 25.

1964 S. 1206, geändert durch Beschluß

494 ziff. 2 Abs. 2 der Entschließung des Rates und der Vertreter der Regierungen der Mitgliedstaaten vom 21.03.1972, ABl. 1972 Nr. C 38 S. 3. 495 So auch Zuleeg, EuR 1975, S. 197 f. Dies schließt allerdings nicht aus, daß sich Rat und Kommission aufgrund anderer Vorschriften mit der inhaltlichen Gestaltung der Zusammenarbeit befassen, so Krämer, Artikel 105, Rn. 14, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), Kommentar zum EUV; Scheuner, Integration 1971, S. 153. 17 Uhrig

25

Β. Hoheitsrechtsübertragungen im EUV

daß diese nationalen Währungspolitiken die Ziele des Gemeinsamen Marktes gefährdeten. (c) Artikel 106 EWG-Vertrag Artikel 106 EWGV i.V.m. den Artikeln 67 ff. E W G V 4 9 6 enthielt die grundsätzliche Verpflichtung der Mitgliedstaaten zur Liberalisierung des Zahlungsverkehrs 497. Artikel 106 EWGV begründete die Freiheit des Zahlungsverkehrs 498, die sog. „fünfte Freiheit des Gemeinsamen Marktes" 499 . Artikel 106 EWGV galt jedoch nur, soweit Waren-, Dienstleistungs-, Kapital- und Personenverkehr zwischen den Mitgliedstaaten bereits liberalisiert waren 500 . Gemäß Artikel 106 Absatz 1 EWGV war jeder Mitgliedstaat verpflichtet, Zahlungen in der Währung des Mitgliedstaats zu genehmigen, in dem der Gläubiger oder der Begünstigte ansässig war 5 0 1 . Gemäß Absatz 2 galt diese Grundverpflichtung auch für solche Liberalisierungsschritte, die die Mitgliedstaaten schon außerhalb des EWG-Vertrages verwirklicht hatten. Nach Absatz 3 verpflichteten sich die Mitgliedstaaten, keine neuen Beschränkungen auf dem Gebiet der sog. „unsichtbaren Transaktionen" einzuführen, die in Anhang II des E W G V 5 0 2 aufgeführt waren 503 . Für den Fall von Schwierigkeiten oder Krisen

496

Zum Verhältnis der Artikel 67 ff. zu Artikel 106 EWGV, EuGH 31.01.1984 Luisi und Carbone/Ministero del Tesoro, Rs. 286/82 und 26/83 - Slg. 1984, S. 377, 403 ff. Eckhoff, in: Bleckmann, Europarecht, Rn. 1208; Haflce, WM 1985, S. 309. 497

Artikel 67 - 73 EWGV definieren die Voraussetzungen des freien Zahlungsverkehrs, während Artikel 106 EWGV in strikterer Form die Freiheit des Zahlungsverkehrs insoweit postuliert, als der Waren-, Dienstleistungs-, Personen- und Kapitalverkehr bereits liberalisiert sein muß, Oppermann, Europarecht, Rn. 1366. 498

Burgard bezeichnet Artikel 106 EWGV in diesem Zusammenhang als die wichtigste Grundsatznorm, ders., Integration 1970, S. 105; Scherer kommt zu dem Ergebnis, daß ohne die Garantie des Artikels 106 EWGV die vier anderen Freiheiten praktisch wirkungslos wären, ders., S. 131. 499

Börner, S. 23 ff; ders., EuR 1966, S. 101.

500

Sog. „abgeleitete" Liberalisierung des Zahlungsverkehrs, ausführlich hierzu Smits, Artikel 106, Rn. 11 ff, in: von der Groeben/Thiesing/Ehlermann (Hrsg.), Kommentar zum EWGV; im Ergebnis auch Ipsen, H. P., Gemeinschaftsrecht, S. 796. 501

Zur ausdrücklichen Regelung für die Mitgliedstaaten Smits, Artikel 106, Rn. 25, in: von der Groeben/Thiesing/Ehlermann (Hrsg.), Kommentar zum EWGV. 502

BGBl. 1957 IIS. 958 ff.

503

Die Liste entspricht im wesentlichen dem OECD-Liberalisierungskodex i.d.F.

1965.

IV. Europäische Gemeinschaft

259

bezüglich der Zahlungsbilanzen der Mitgliedstaaten bestimmte Artikel 106 Absatz 4 EWGV, daß die Mitgliedstaaten sich „im Bedarfsfall" über Maßnahmen verständigen, die zur Gewährleistung der Zahlungsverkehrsfreiheit i.S. des Artikels 106 EWGV zu treffen waren 504 . Für die zu treffenden Maßnahmen bestanden in formeller Hinsicht keine Vorgaben. Es kamen sowohl Beschlüsse des Rates gemäß Artikel 235 EWGV als auch besondere Abkommen zwischen den Mitgliedstaaten bzw. ein Beschluß der im Rat vereinigten Vertreter der Regierungen der Mitgliedstaaten in Betracht 505. Artikel 106 EWGV betraf jedoch nur den Zahlungsverkehr zwischen den Mitgliedstaaten^06. Der Zahlungsverkehr mit Drittländern fiel hingegen unter Artikel 113 EWGV und Artikel 238 EWGV und war damit Teil der Außenbeziehungen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft 507. Daß im EWG-Vertrag ansonsten keine Vorschriften über den Devisen- und Zahlungsverkehr enthalten waren, ist darauf zurückzuführen, daß bei Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft das System von Bretton Wood und die Regelungen der Organisation fur Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) 5 0 8 als derartig selbstverständlich angesehen wurden, daß eine Aufnahme ähnlicher Regeln im EWG-Gründungsvertrag nicht einmal in Erwägung gezogen wurde 5 0 9 . Gemäß Artikel 106 EWGV verblieben somit auch im Bereich des Zahlungsverkehrs zwischen den Mitgliedstaaten die Kompetenzen ausschließlich bei den Mitgliedstaaten. Die Mitgliedstaaten sind auf dem Gebiet des Zahlungsverkehrs selbständige Träger der Entscheidungen und eventueller Koordinationsprogramme geblieben.

504

Ress, Artikel 106, Rn. 74 ff., in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), Kommentar zum EUV.

505

Ress, Artikel 106, Rn. 74 ff., in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), Kommentar zum EUV. 506 D j e s er gibt sich aus dem Vergleich von Artikel 106 Abs. 1, der vom Zahlungsverkehr „zwischen" den Mitgliedstaaten spricht, während Abs. 3 die Mitgliedstaaten verpflichtet, „untereinander" keine neuen Beschränkungen einführen. 507

Smits. Artikel 106, Rn. 55, in: von der Groeben/Thiesing/Ehlermann (Hrsg.), Kommentar zum EWGV. 508

Die OEEC mußte durch die Gründung der EWG ihren Aufgabenkreis umgestalten. Unter formaler Wahrung der Identität erfolgte dies mit Inkrafttreten der neuen OECD-Konvention am 30.09.1961, BGBl. 1961 II S. 1151. Hierzu Oppermann, Europarecht, Rn. 112. Zum Verhältnis beider ausführlich Hahn/Weber, S. 57 ff. 509

17*

Hellwig, S. 43; für den IWF Möller /Cezanne, S. 55.

20

Β. Hoheitsrechtsübertragungen im EUV

(d) Artikel 107 E WG-Vertrag Artikel 107 EWGV schließlich regelte die Wechselkurspolitik zwischen den Mitgliedstaaten510. Danach behandelte jeder Mitgliedstaat seine Politik auf dem Gebiet der Wechselkurse als eine Angelegenheit von gemeinsamem Interesse 5 1 1 . Damit stand den Mitgliedstaaten die Kompetenz zu, den Außenwert ihrer Währungen im Verhältnis sowohl zu den anderen Mitgliedstaaten als auch gegenüber Drittstaaten zu bestimmen512. Die kursorische Behandlung des Komplexes der Wechselkurse im EWG-Vertrag, die durch die zu seiner Entstehungszeit vorhandenen IWF-Regeln zu erklären ist, hatte jedoch nicht zur Folge, daß die Wechselkurspolitiken der Mitgliedstaaten völlig unbeeinflußt nebeneinander standen513. Die nationalen Wechselkurspolitiken standen vielmehr unter dem Vorbehalt des „gemeinsamen Interesses"514 und dem Vorbehalt der Ziele des Artikels 104 EWGV, der allgemeinen Ziele der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft gemäß Artikel 2 EWGV und des Artikels 5 EWGV. Dies hatte zur Folge, daß ein Mitgliedstaat bei der Festlegung und Durchsetzung seiner Wechselkurspolitik verpflichtet war, die Interessen der übrigen Mitgliedstaaten und die Interessen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft mit einzubeziehen515. Das Ziel der Schaffung eines von internen Behinderungen freien vereinten Wirtschaftsraumes, in dem schrittweise die Zollunion und die Wirtschaftsunion verwirklicht werden sollen, forderte feste Wechselkursbeziehungen zwischen den Währungen der einzelnen Mitgliedstaaten. Die Mitgliedstaaten waren deshalb verpflichtet, durch ihre Zusammenarbeit für die Schaffung und Erhaltung dieser Voraussetzung zu sorgen 516.

510

Köster, S. 59; Krämer, Artikel 107, Rn. 4, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), Kommentar zum EUV. 511

Artikel 107 Abs. 1 EWGV.

512

Köster, S. 59; Ipsen, H. P., Gemeinschaftsrecht. S. 800.

513

Seidel, EuR 1979, S. 18 f.: ders., Integration 1981, S. 72; Louis, CMLR 1988, S. 22 f., Krämer, Rechtsprobleme des EWS, S. 14; a.A. Constantinesco, S. 280. 5,4

So ausdrücklich EuGH 24.10.1973 - Schlüter/Hauptzollamt Lörrach, Rs. 9/73, Slg. 1973, S. 1135, 1160. Dieser Begriff werfe insofern Probleme auf, als er dehnbar und folglich zu unbestimmt sei, Zuleeg. EuR 1975, S. 200. 515

Smits, Artikel 107, Rn. 5, in: von der Groeben/Thiesing/Ehlermann (Hrsg.), Kommentar zum EWGV; Zuleeg, Artikel 107, Rn. 7, in: von der Groeben/Thiesing/ Ehlermann (Hrsg.), Kommentar zum EWGV, 3. Auflage. 516

EuGH 24.10.1973 - Schlüter/Hauptzollamt Lörrach, Rs. 9/73 - Slg. 1973, S. 1135, 1160.

IV. Europäische Gemeinschaft

2

Die Mitgliedstaaten durften also durch ein unkoordiniertes Verhalten auf dem Gebiet der Wechselkurse das Funktionieren des Gemeinsamen Marktes nicht schwächen oder gar aushöhlen517. Das „gemeinsame Interesse" umfaßte auch die Verpflichtung der Mitgliedstaaten zu ständiger Konsultation518. Sie hatten einander Auskunft über ihre Absichten auf wechselkurspolitischem Gebiet zu geben 519 . Im übrigen konnten die Anforderungen an die Mitgliedstaaten je nach der konkreten wechselkurspolitischen Situation von einem Staat zum anderen unterschiedlich sein 520 . Trotz der bestehenden Kompetenzen der Mitgliedstaaten auf dem Gebiet der Wechselkurspolitik konnte die Kommission in Fällen, in denen ein Mitgliedstaat seinen Wechselkurs in einer Form änderte, die den Zielen des Artikels 104 EWGV nicht entsprach und die Wettbewerbsbedingungen schwerwiegend verfälschte, eingreifen 521. Ein solcher Fall lag etwa vor, wenn ein Mitgliedstaat ohne daß die Ziele des Artikels 104 EWGV dies erforderten - seine Währung abwertete, um seinen Waren einen Exportvorteil zu verschaffen 522. In einem solchen Fall konnte die Kommission andere Mitgliedstaaten ermächtigen, für eine begrenzte Frist die erforderlichen Maßnahmen zu treffen, um den Folgen dieses Vorgehens zu begegnen523. Artikel 107 EWGV beließ die Kompetenzen im Bereich der Wechselkurspolitik also grundsätzlich bei den Mitgliedstaaten. Einschränkungen ergaben sich

^ 1 7 So im Ergebnis Bleckmann Pieper, in: Bleckmann, Europarecht, Rn. 1824 f. Die Mitgliedstaaten müssen vielmehr die Bedenken anderer Mitgliedstaaten bezüglich der Auswirkungen ihrer nationalen Wechselkurspolitik zumindest zur Kenntnis nehmen, Krämer, Artikel 107, Rn. 9, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), Kommentar zum EUV; Börner, EuR 1966, S. 101; Zuleeg, EuR 1975, S. 200 f. 518

Zuleeg, Artikel 107, Rn. 8, in: von der Groeben/Thiesing/Ehlermann (Hrsg.), Kommentar zum EWGV, 3. Auflage; Börner, EuR 1966, S. 101. Das Sekundärrecht der Gemeinschaft sieht inzwischen ständige Konsultationen im Bereich der Wechselkurspolitik vor, hierzu ausführlich Smits, Artikel 107, Rn. 9 f., in: von der Groeben/Thiesing/ Ehlermann (Hrsg.), Kommentar zum EWGV. 519

Smits, Artikel 107, Rn. 7, in: von der Groeben/Thiesing/Ehlermann (Hrsg.), Kommentar zum EWGV. 520

Smits, Artikel 107, Rn. 4, in: von der Groeben/Thiesing/Ehlermann (Hrsg.), Kommentar zum EWGV. 521

Hahn/Siebelt, DÖV 1989, S. 234.

522

Bleckmann,'Pieper,

523

in: Bleckmann, Europarecht, Rn. 1826.

Darüberhinaus können die Gemeinschaftsorgane jedoch auch in begrenztem Umfang über Artikel 107 Abs. 2 EWGV hinausgehende Maßnahmen ergreifen. Da der Verstoß gegen Artikel 104 EWGV eine Vertragsverletzung darstellt, kann die Kommission ein Vertragsverletzungsverfahren vor dem EuGH einleiten.

Β. Hoheitsrechtsübertragungen im EUV

2

nur dahingehend, daß die Mitgliedstaaten ihre nationalen Wechselkurse als eine Angelegenheit von „gemeinsamem Interesse" zu behandeln hatten 524 , für dessen Schutz Absatz 2 ein begrenztes „Krisenmanagement" zur Verfügung stellt 525 . Die Mitgliedstaaten waren zu regelmäßiger Konsultation und gegenseitiger Rücksichtnahme verpflichtet. Eine Vergemeinschaftung der nationalen Wechselkurspolitiken war damit jedoch nicht verbunden. (3) Ergebnis Als Folge der außerhalb des EWG-Vertrages bestehenden internationalen Übereinkünfte, insbesondere des Abkommens von Bretton Wood und der Europäischen Zahlungsunion bzw. des Europäischen Währungsabkommens, durch die ein System fester Wechselkurse und ein multilaterales Verrechnungssystem bestand, wurden lediglich rudimentäre Regelungen im Bereich der Währungspolitik in den Gründungs vertrag der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft aufgenommen 526. Im Vertrauen auf die stabile internationale Währungsordnung außerhalb des EWG-Vertrages 527 enthielten die Artikel 104 ff. EWGV zwar Regelungen mit monetärem Bezug, doch bilden sie kein in sich geschlossenes Regelungssystem. Sie hatten vielmehr lediglich die Koordination der nationalen Währungspolitiken der Mitgliedstaaten im Hinblick auf die Verwirklichung des Gemeinsamen Marktes zum Ziel 5 2 8 . Die Währungspolitik verblieb als Teil der allgemeinen Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten im Kompetenzbereich der Mitgliedstaaten. bb) Entwicklung der monetären Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten Die praktischen Probleme im monetären Bereich wurden durch die Einbindung der Mitgliedstaaten in das System von Bretton Wood und in die Europäische Zahlungsunion zunächst gelöst. Nach dem Zusammenbruch des Systems von Bretton Wood wurde jedoch eine mit dem Gemeinschaftsrecht verbundene

524

Oppermann, Europarecht, Rn. 863.

525

Köster, S. 65.

526

Zuleeg, EuR 1975, S. 196; Hahn, Währungsrecht, S. 180; Siebelt, S. 115; Seidel, EWS im Gemeinschaftsrecht, S. 470 f. 527 528

Zuleeg, Wirtschaftsverfassung der EG, S. 87.

So auch Bünger/Molitor, Vorb. zu den Artikeln 102-109, Rn. 3, in: von der Groeben/Thiesing/Ehlermann (Hrsg.), Kommentar zum EWGV; Nicolaysen, Gemeinschaftsrecht, S. 174.

IV. Europäische Gemeinschaft

2

Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten auch auf dem Gebiet der Währungspolitik erforderlich, die über eine bloße Koordination und Information hinausging ((1)) und die zunächst zur Schaffung des Europäischen Wechselkursverbundes ((2)) und nachfolgend zur Schaffung des Europäischen Wechselkurssystems führte ((3)). (1) Zusammenbruch des Systems von Bretton Wood und Beginn der währungspolitischen Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten Das in das Festkurssystem von Bretton Wood gesetzte Vertrauen, das währungspolitische Regelungen im Rahmen des EWG-Vertrages überflüssig zu machen schien, erwies sich als nicht begründet 529. Zwar überstand dieses System Belastungen in den Jahren 1949 und 1967 5 3 0 und verschiedene Auf- und Abwertungen der Währungen einzelner Teilnehmerländer. Am 15. August 1971 jedoch brach es zusammen531. Grund war der Widerruf der amerikanischen Verpflichtung, US-Dollar jederzeit in Gold umzutauschen532. Dies führte dazu, daß die übrigen Mitglieder ihre Wechselkurse freigaben 533, so daß eine Zeit der freien Wechselkurse, das sog. „Floating", begann 534 . Zwar wurde der Versuch unternommen, das System von Bretton Wood durch das sog. „Smithsonian Agreement" in modifizierter Form zu beleben 535 , doch stellte sich schon 1972/73 heraus, daß die festen Paritäten nicht mehr einzuhalten waren 536 . Die endgültige Aufgabe des Fixkurssystems erfolgte am 19. März 1973, als die 529

Smits, Artikel 107, Rn. 1, in: von der Groeben/Thiesing/Ehlermann (Hrsg.), Kommentar zum EWGV. 530

Hierzu Hahn, Elemente, S. 218.

531

Hahn. Währungsrecht, S. 175; Herdegen, S. 184.

532

Siebelt, S. 109; Zehentner. S. 5 ff.; Hahn, Elemente, S. 225.

533

Mann, S. 34; Hahn, Währungsrecht, S. 174.

534

Die Bundesregierung hatte mit Beschluß vom 09.05.1971 die Bundesbank gebeten, die bisherigen Interventionen an den Devisenmärkten vorübergehend einzustellen, Bulletin der Bundesregierung 1971, S. 709. Dieser Bitte entsprach die Bundesbank durch die Mitteilung Nr. 7004/71 betreffend Anordnungen über den Devisenkassahandel vom 10.05.1971, Bundesanzeiger Nr. 87 vom 11.05.1971, S. 4. Daraufhin wurde der Kurs der DM nicht mehr durch Devisenmarktoperationen innerhalb der gefordeten Bandbreiten gehalten. 535

Dieses legte erneut feste Austauschrelationen für die Währungen der wichtigsten Industrieländer fest, Beschlüsse der Bundesregierung zu den Vereinbarungen der Zehnergruppe, Bulletin 1971, S. 2088; Hahn, Elemente, S. 218; Fuchs, S, 14. Als Folge der neuen Wechselkursfestsetzungen wurde die Bundesbank auf Veranlassung der Bundesregierung wieder auf dem Devisenmarkt tätig. 536

Meyer-COrding.

S. 430.

Β. Hoheitsrechtsübertragungen im EUV

2

Mehrzahl der Mitgliedstaaten der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft sowie einige andere Staaten beschlossen, ihre Währungen gemeinsam gegen den Dollar floaten zu lassen, gleichzeitig aber untereinander feste Wechselkurse einzuhalten. Diese Entscheidung zugunsten des Blockfloatings der Mitgliedstaaten der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft war der Versuch des Beginns einer währungspolitischen Zusammenarbeit, denn eine solche war als erforderlich für das Funktionieren des Gemeinsamen Marktes erkannt worden. Die eingetretenen Wechselkursschwankungen verursachten nämlich Schwierigkeiten im Rahmen der gemeinsamen Agrarpolitik der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft 537. Dieses System basierte auf einheitlichen Preisen 538. Um die einheitliche Preisfestsetzung erhalten zu können, ergab sich aufgrund des Floatens die Notwendigkeit des ständigen Währungsausgleiches539. Dies brachte ein dauerhaftes Element der Instabilität in den innergemeinschaftlichen Handel 540 . Die Mitgliedstaaten hatten auch vor dem Hintergrund funktionierender internationaler Währungs- und Wechselkurssysteme schon in den 60er Jahren auf währungspolitischem Gebiet zusammengearbeitet, doch setzte die damalige Zusammenarbeit funktionierende internationale Währungssysteme voraus. Ergebnis dieser Zusammenarbeit war die Zusammenarbeit zwischen den Zentralbanken der Mitgliedstaaten der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft 541. Der Ausschuß der Präsidenten der Zentralbanken der Mitgliedstaaten führte Konsultationen über die allgemeinen Grundsätze und die grundsätzliche Ausrichtung der nationalen Zentralbankpolitiken, insbesondere auf dem Gebiet des Kredit- sowie des Geld- und Devisenmarktes durch. In ihm wurden Informationen über die wichtigsten Maßnahmen der Zentralbanken regelmäßig ausgetauscht, und Maßnahmen wurden möglichst vor ihrer Umsetzung geprüft 542 .

537 Smits, Artikel 107, Rn. 1, in: von der Groeben/Thiesing/Ehlermann (Hrsg.), Kommentar zum EWGV mit umfangreichem Nachweis in FN. 3. 538

EuGH 24.10.1973 - Balkan-Export/Hauptzollamt Berlin, Rs. 5/73 - Slg. 1973, S. 1091, 1106 ff. 539

Dies führte zur Einführung eines ständigen Währungsausgleichssystems, VO 974/71 über bestimmte konjunkturpolitische Maßnahmen, die in der Landwirtschaft im Anschluß an die vorübergehende Erweiterung der Bandbreiten der Währungen einiger Mitgliedstaaten zu treffen sind, ABl. 1971 Nr. L 106 S. 1. 540

Oppermann, Europarecht, Rn. 867.

541

Beschluß 64/300/EWG, ABl. 1964 S. 1206.

542

Bünger/Molitor, Vorb. zu den Artikeln 102 a-109, Rn. 29, in: von der Groeben/ Thiesing/Ehlermann (Hrsg.), Kommentar zum EWGV. Darüberhinaus führte der Beschluß über die Zusammenarbeit auf dem Gebiet der internationalen Währungsbeziehungen zur Verpflichtung der Mitgliedstaaten zu Vorabkonsultationen bei wichtigen

IV. Europäische Gemeinschaft

2

Darüber hinaus schlossen die Zentralbanken der Mitgliedstaaten ein Abkommen über den kurzfristigen Währungsbeistand ab, auf Grund dessen Kreditlinien in Anspruch genommen werden konnten, nachdem ein diesbezüglicher Antrag der nationalen Zentralbank durch den Ausschuß der Zentralbankpräsidenten befürwortet worden war 5 4 3 . Außerdem wurde ein Mechanismus für den mittelfristigen finanziellen Beistand zwischen den Mitgliedstaaten begründet 544. Neben diesen konkreten Formen der Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten auf dem Gebiet der Währungspolitik entstand Ende der 60er Jahre die Idee der Ausweitung der Ziele der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. Angesichts der Erfolge auf dem Gebiet der Wirtschaftspolitik und der Erkenntnis, daß auch die Währungspolitik eine wichtige Voraussetzung für das Funktionieren des Gemeinsamen Marktes darstellt, wurde neben dem Ziel einer Wirtschaftsunion auch die Idee einer vergemeinschafteten Währungspolitik entwickelt. Die Idee einer Wirtschafts- und Währungsunion wurde erstmals auf der Konferenz der Staats- und Regierungschefs in Den Haag am 1./2. Dezember 1969 bekundet. Die angestrebte Wirtschafts- und Währungsunion hatte folgende Ziele: „Die Gemeinschaft 1) (bildet) eine Zone, in der sich der Personen-, Güter-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehr frei und ohne Wettbewerbsverzerrungen, aber auch ohne strukturelle und regionale Ungleichgewichte zu verursachen, unter Bedingungen vollzieht, die es den Wirtschaftssubjekten gestatten, ihre Tätigkeit auf Gemeinschaftsebene zu entwickeln; 2) (bildet) einen eigenständigen Währungsraum im Rahmen des internationalen Systems (...), der durch die volle und irreversible Konvertierbarkeit der Währungen, die Beseitigung der Bandbreiten der Wechselkurse und die unwiderrufliche Festsetzung der Paritätsverhältnisse - welche unerläßliche Voraussetzung für die Schaffung einer einheitlichen Währung sind - gekennzeichnet ist und in dem ein gemeinsames Zentralbanksystem tätig ist; 3) (besitzt) auf wirtschaftlichem und monetären Gebiet die Befugnisse und die Verantwortung (...), die es ihren Organen ermöglichen, die Führung der Union sicherzustellen. Zu diesem Zweck werden die erforderlichen wirtschaftspolitischen Beschlüsse auf Gemeinschaftsebene gefaßt und den Organen der Gemeinschaft die notwendigen Befugnisse zugewiesen/'545

Entscheidungen oder Stellungnahmen auf dem Gebiet der internationalen Währungsbeziehungen, Beschluß 64/301/EWG, ABl. 1964 S. 1207. 543 Abkommen der Zentralbanken der Mitgliedstaaten vom 09.02.1970, Kompendium 1990, S. 57 ff. 544

Entscheidung 71/143/EWG, ABl. 1971 Nr. L 73 S. 15, zuletzt geändert durch Entscheidung 86/656/EWG, ABl. 1986 Nr. L 382 S. 28, aufgehoben durch VO 1969/88/EWG, ABl. 1988 Nr. L 178 S. 1. 545

ABl. 1971 Nr. C28S. 2.

2

Β. Hoheitsrechtsübertragungen im EUV

Für die Errichtung dieser Wirtschafts- und Währungsunion wurde ein Stufenplan entwickelt 546 . Als konkreter Schritt zur Verwirklichung der Wirtschafts- und Währungsunion und als Reaktion auf die Schwierigkeiten im Rahmen des Systems von Bretton Wood wurde auf der Tagung der Staats- und Regierungschefs am 19./20. Oktober 1972 in Paris die Gründung des Europäischen Fonds für währungspolitische Zusammenarbeit (EFWZ) beschlossen, der am 3. April 1973 endgültig gegründet wurde 547 . Wesentliche Neuerung des EFWZ im Vergleich zu den bis dahin bestehenden Formen der währungspolitischen Zusammenarbeit war, daß an den Sitzungen seines Verwaltungsrates neben den Präsidenten der Zentralbanken auch ein Vertreter der Kommission teilnahm. Die Aufgaben des Fonds 548 , der zur Gründung eines gemeinschaftlichen Zentralbanksystems führen sollte 549 , bestanden in der Förderung des Funktionierens des Systems der schrittweisen Verringerung der Bandbreiten zwischen den Währungen der Mitgliedstaaten, der Intervention in Währungen der Mitgliedstaaten auf den Devisenmärkten und im Saldenausgleich zwischen den nationalen Zentralbanken im Hinblick auf eine konzertierte Reservenpolitik 550. Der Fonds ermöglichte in der Folgezeit die Multilateralisierung der aus den Interventionen der Zentralbanken in Gemeinschaftswährungen entstehenden Salden und den Saldenausgleich, und er übernahm die Verwaltung der Finanzierung für sehr kurze Fristen und den kurzfristigen Währungsbeistand551. Die technische Abwicklung der Geschäfte des EFWZ wurde der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) in Basel übertragen 552.

546

Krämer, Artikel 105, Rn. 38, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), Kommentar zum EUV; Pipkorn, CMLR 1994, S. 265; Nicolaysen, Europarecht II, S. 327. Ein Sachverständigenausschuß unter Vorsitz des luxemburgischen Premierministers Pierre Werner legte 1970 einen Bericht vor. 547 v o 907/73/EWG, ABl. 1973 Nr. L 89 S. 2. Seine Gründung erfolgte auf der Grundlage des Artikels 235 EWGV, hierzu ausführlich Ehlermann, EuR 1973, S. 196 ff. Der Fonds wurde mit eigener Rechtspersönlichkeit ausgestattet, Artikel 1 der VO 907/73/EWG und besaß die Rechts- und Geschäftsfähigkeit in den Mitgliedstaaten, Artikel 6 der VO 907/73/EWG. 548

Zur Satzung des EFWZ, seiner Zusammensetzung und Arbeitsweise Ehlermann, LuR 1973, S. 194 ff. 549

Cezanne, Integration 1980, S. 169; Nicolaysen, Europarecht II, S. 328; Smits, Artikel 107, Rn. 44, in: von der Groeben/Thiesing/Ehlermann (Hrsg.), Kommentar zum FWGV; Kapteyn/VerLoren van Themaat, S. 612. 550

Artikel 2 der VO 907/73/EWG.

551

Artikel 3 der VO 907/73/EWG.

552

Köster, S. 36 m.w.N.

IV. Europäische Gemeinschaft

2

Die über die bloße Koordinierung hinausgehende währungspolitische Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten wurde durch den Zusammenbruch des Systems von Bretton Wood zwingend erforderlich. Sie war Konsequenz der Erkenntnis, daß ein stabiles Wechselkurssystem unerläßliche Voraussetzung für das Funktionieren des Gemeinsamen Marktes ist. Ein erster Schritt war die Gründung des EFWZ, der nach dem Wegfall des Systems von Bretton Wood u.a. die Verringerung der Bandbreiten zwischen den Währungen und damit stabile Wechselkurse herbeiführen sollte. Er sah erstmals die Beteiligung von Gemeinschaftsorganen an der währungspolitischen Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten vor. Grundsätzlich blieben aber auf dem Gebiet der Währungspolitik die Mitgliedstaaten Entscheidungsträger.

(2) Europäischer

Wechselkursverbund

Das Ende des Systems von Bretton Wood und die Idee einer Wirtschaftsund Währungsunion bewog die Mitgliedstaaten zu einem weiteren Schritt im Hinblick auf den Aufbau einer gemeinschaftlichen Währungspolitik. Durch die Entschließung des Rates und der Vertreter der Regierungen der Mitgliedstaaten vom 21. März 1972 betreffend die Anwendung der Entschließung vom 22. März 1971 über die stufenweise Verwirklichung der Wirtschafts- und Währungsunion 553 sowie durch das Baseler Abkommen der Zentralbanken vom 10. April 1972 5 5 4 gründeten sie den Europäischen Wechselkursverbund. Dieser sollte zwischen den Mitgliedstaaten feste Wechselkurse schaffen. Wesentlicher Regelungsgehalt des Europäischen Wechselkursverbundes war es, daß innerhalb des Wechselkursverbundes feste Paritäten herrschten, während die Wechselkurse der verbundenen Währungen nach außen freigegeben waren 555 . Die Mitgliedstaaten und ihre Zentralbanken verpflichteten sich, notfalls durch Interventionen auf den Devisenmärkten die Bandbreite der Währungen der Mitgliedstaaten untereinander auf 2,25 % bzw. 4,5 % zu verringern und so zu stabilisieren 556. Die zusätzliche Verpflichtung, Wechselkursschwankungen gegen-

553

ABI. 1972 Nr. C 38 S. 3.

554

Abkommen zwischen den Zentralbanken der Mitgliedstaaten der Gemeinschaft über die Verringerung der Bandbreiten zwischen den Währungen der Gemeinschaft, Kompendium 1974, S. 58 ff. Das Abkommen wurde durch das EWS-Abkommen von 1979 aufgehoben und ersetzt, Artikel 22 des Abkommens, Kompendium 1990, S. 56. 555

Nicolaysen, Europarecht II, S. 328; Herdegen, S. 189.

556

Ziff. III der Entschließung vom 21.03.1972. Oppermann,, Europarecht, Rn. 869.

2

Β. Hoheitsrechtsübertragungen im EUV

über dem Dollar innerhalb bestimmter Bandbreiten zu halten 5 5 7 , gab dem System seinen Namen: die „Schlange" 558 . Die beabsichtigte Stabilisierung der Wechselkurse kam jedoch in der Folgezeit nur unzureichend zustande 559 . So verblieben von den ursprünglich beteiligten Mitgliedstaaten nur die Bundesrepublik Deutschland und die Beneluxstaaten dauerhaft im Europäischen Wechselkursverbund 560. Dagegen schied das Vereinigte Königreich schon nach einer Mitgliedschaft von rund sieben Wochen aus, Italien folgte acht Monate später, während Frankreich im Januar 1974 ausschied und im Juli 1975 wieder beitrat, um im März 1976 endgültig auszuscheiden561. So umfaßte die „Schlange" nur von Mai bis Juni 1972 alle sechs Gründungsmitglieder der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft einschließlich Großbritanniens, Irlands, Dänemarks und Norwegens. Grund für diese Entwicklung war das institutionelle Gefüge der „Schlange". Zwar leistete sie den meisten in ihr verbliebenen Mitgliedstaaten gute Dienste bei der Stabilisierung ihrer Wechselkurse 562 . Ihr lag jedoch außer dem Baseler Abkommen weder ein rechtlich verbindliches Regelungswerk zugrunde, noch war sie eine Form der Zusammenarbeit aufgrund Gemeinschaftsrechts 563. Abgesehen vom Mechanismus für den finanziellen Beistand und dem administrativen Beistand durch den EFWZ beruhte die „Schlange" ausschließlich auf der Zusammenarbeit der nationalen Zentralbanken 564 . Das Baseler Abkommen der Zentralbanken hatte keine gemeinschaftsrechtliche Grundlage, sondern war ein völkerrechtliches Verwaltungsabkommen, das die nationalen Zentralbanken im

557

Siebelt, S. 116; Hahn, Währungsrecht, S. 180.

558

Smits, Artikel 107, Rn. 38, in: von der Groeben/Thiesing/Ehlermann (Hrsg.), Kommentar zum EWGV; Fuchs beschreibt den Mechanismus wie folgt: „Aufgrund der (...) Parallelentwicklung der Gemeinschaftswährungen in bezug auf den Dollar, die sich innerhalb eines bestimmten Bandes zu vollziehen hat, wurde für den Europäischen Währungsverbund (...) auch das Bild einer „Schlange im Tunnel" geprägt", ders., S. 15. 559

So im Ergebnis Möller/Cezanne,

560

Ensthaler, JuS 1994, S. 27; Oppermann, Europarecht, Rn. 869.

S. 44.

561

Vgl. die Übersicht der Auf- und Abwertungen sowie der Bei- und Austritte bei Möller/Cezanne, S. 45 f. 562

Hellmann, S. 14.

563

Smits, Artikel 107, Rn. 39, in: von der Groeben/Thiesing/Ehlermann (Hrsg.), Kommentar zum EWGV. 564

Grundlegend hierfür war das Abkommen zwischen den Zentralbanken der Mitgliedstaaten der Gemeinschaft über die Verringerung der Bandbreiten zwischen den Währungen der Gemeinschaft.

IV. Europäische Gemeinschaft

29

Namen der Mitgliedstaaten abgeschlossen hatten 565 . Wechselkursänderungen wurden zwischen den Teilnehmerländern ohne formelles Verfahren und ohne Beteiligung der Gemeinschaftsorgane beschlossen566. Der Europäische Wechselkursverbund hatte mit Ausnahme der Vorschriften für den EFWZ, der die einzige währungspolitische Institution aufgrund „EWG-Vertragsrechts" war, keine gemeinschaftsrechtliche Grundlage. Der EFWZ war zudem darauf beschränkt, die Forderungen aus den Devisenmarktinterventionen zu verwalten. Somit war die „Schlange" weder ein Mechanismus aufgrund Gemeinschaftsrechts noch ein institutionalisiertes Wechselkursabkommen 567.

(3) Europäisches Wechselkurssystem Der Gedanke an eine gemeinschaftsweite und auf Gemeinschaftsrecht beruhende Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Wechselkurspolitik wurde ab 1977 erneut aufgegriffen 568 . Wieder war vor allem der Wunsch nach größerer Stabilität der Wechselkurse Mittelpunkt der Zielvorstellungen 569 . Im April 1978 legten der damalige Bundeskanzler Helmut Schmidt und der französische Staatspräsident Giscard d'Estaing auf der Tagung des Europäischen Rates in Kopenhagen einen gemeinsamen Vorschlag für die Schaffung eines Europäischen Währungssystems mit einer Europäischen Währungseinheit und einem Europäischen Währungsfonds v o r 5 7 0 . Bereits auf der nächsten Tagung des Europäischen Rates am 6./7. Juni 1978 lag ein detaillierter Plan v o r 5 7 1 , der zu einem Grundsatzbeschluß über die Errichtung eines Europäischen Währungssystems führte 572 . Auf der Tagung des Europäischen Rates am 4./5. Dezember

565 picker(

s

5 9 ; Kaise r^

Fs

Ophüls, S. 120.

566

Allerdings war Artikel 7 der Konvergenzentscheidung 74/120/EWG, ABl. 1974 Nr. L 63 S. 16, der die Verpflichtung zur Vorauskonsultation gemäß Artikel 107 EWGV vorsah, bei Wechselkursänderungen zu beachten. 567

Smits, Artikel 107, Rn. 41, in: von der Groeben/Thiesing/Ehlermann (Hrsg.), Kommentar zum EWGV. 568

Hahn, EuR 1979, S. 337 f.

569

Eingeleitet wurde diese Diskussion durch eine Vorlesung des damaligen Kommissionspräsidenten Jenkins am 27.10.1977 am Hochschulinstitut in Florenz, deren Wortlaut in EA 1978, S. D 1 ff. abgedruckt ist. Zur Ausgangslage Hellmann, Integration 1978, S. 104 f.; Scharrer, Integration 1987, S. 152 ff.; Ensthaler, JuS 1994, S. 27. 570 Zur Entstehung dieses Vorschlages ausführlich Hellmann, S. 11 ff.; ders., Integration 1978, S. 104 fi. 571

Der Wortlaut ist abgedruckt in EA 1978, S. D 457 ff. Hahn, EuR 1979, S. 338; Oppermann, Europarecht, Rn. 871. 57 2

Seidel, KuR 1979, S. 12; Siebelt, S. 88.

20

Β. Hoheitsrechtsübertragungen im EUV

1978 wurde die Errichtung des „Europäischen Währungssystems" (EWS) beschlossen573. Für das EWS selbst legte der Europäische Rat nur Elemente für eine erste Stufe fest. Diese sollte dann innerhalb einer Frist von zwei Jahren zu einem endgültigen System weiterentwickelt werden 574 . Die rechtliche Umsetzung dieser Beschlüsse erfolgte nicht durch einen einheitlichen Rechtsakt, sondern beruht auf einer Vielzahl verschiedener Erklärungen, Beschlüsse und Rechtsakte575. Dies sind zum einen die Entschließung des Europäischen Rates vom 13. März 1979, zum anderen Rechtsakte der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, die auf der Rechtsgrundlage des Artikels 235 EWGV ergingen. Es handelt sich um die Verordnung vom 18. Dezember 1978 zur Änderung des Wertes der vom EFWZ verwendeten Rechnungseinheit576, die Verordnung vom 18. Dezember 1978 über das Europäisches Währungssystem 577 und die Änderung der Entscheidung des Rates vom 22. März 1971 über die Einführung eines Mechanismus für den mittelfristigen finanziellen Beistand 578 . Daneben waren Änderungen der Abkommen zwischen den Zentralbanken der Mitgliedstaaten erforderlich. Diese Änderungen erfolgten durch das Abkommen der Zentralbanken vom 13. März 1979 über die Funktionsweise des Europäischen Währungssystems579 und die Akte der Zentralbanken vom

573

Kompendium 1986, S. 43 ff. Sie sah ein Inkrafttreten des Mechanismus des EWS zum 01.01.1979 vor, Ziff. 1.2. der Entschließung vom 05.12.1978. Nachdem Differenzen um Währungsausgleichsbeträge im EG-Agrarmarkt. die einen Wartevorbehalt Frankreichs im Hinblick auf die Inkraftsetzung des EWS verursacht hatten am 05./06.03.1978 beigelegt wurden, beschloß der Europäische Rat auf seiner Tagung am 12./13.03.1979 das Inkrafttreten der Mechanismen des EWS zum 13.03.1979. Hierzu Ensthaler, JuS 1994, S. 27. 574

Ziff. 1.4 der Entschließung vom 05.12.1978. Bünger/Molitor, Vorb. zu den Artikeln 102 a-109, Rn. 48, in: von der Groeben/Thiesing/Ehlermann (Hrsg.), Kommentar zum EWGV; Hahn, CMLR 1991, S. 786. Der Übergang in die sog. institutionelle Phase wurde jedoch nicht verwirklicht, so daß die Anlaufphase um jeweils zwei Jahre verlängert wurde, Köster, S. 5; Hahn, Währungsrecht, S. 24. Noch in der VO 1969/88/EWG, ABl. 1988 Nr. L 178 S. 1 ist vom Übergang zur Endphase des EWS die Rede. 57 5

Hahn, Währungsrecht, S. 181; Nicolaysen, S. 46; Siebelt, JuS 1994, S. 448.

Europarecht II, S. 332; Burgard,

576

VO 3180/78/EWG, ABl. 1978 Nr. L 379 S. 1.

577

VO 3181/78/EWG, ABl. 1978 Nr. L 379 S. 2.

578

Entscheidung 78/1041/EWG, ABl. 1978 Nr. L 379 S. 3.

579

Kompendium 1990, S. 48 ff. Das Abkommen wurde durch die Akten vom 10.06.1985 und 10.11.1987 geändert. Die letzte Änderung erfolgte in der Folge des Beitritts Österreichs, Finnlands und Schwedens zur Europäischen Union am 01.01.1995.

IV. Europäische Gemeinschaft

2

13. März 1979, die das Abkommen der Zentralbanken zur Errichtung eines Systems des kurzfristigen Währungsbeistandes vom 9. Februar 1970 änderte 580. Bei dem Abkommen der Zentralbanken vom 13. März 1979 handelt es sich, ebenso wie beim Baseler Abkommen der Zentralbanken vom 10. April 1972, nicht um ein Abkommen aufgrund gemeinschaftsrechtlicher Grundlage, sondern um ein im Namen der Regierungen geschlossenes völkerrechtliches Verwaltungsabkommen581. Schließlich faßte auch der Verwaltungsrat des EFWZ die für die technische Abwicklung des EWS erforderlichen Beschlüsse582. Die rechtliche Verbindlichkeit des EWS blieb angesichts der Fülle der begründenden Rechtsakte mit unterschiedlichem Regelungscharakter 583 nicht unumstritten. So stellte beispielsweise der französische Conseil Constitutionnel in einer Entscheidung vom 29. Dezember 1978 fest, daß der Beschluß des Europäischen Rates vom 4./5. Dezember 1978 über die Errichtung des EWS lediglich eine Erklärung politischen Inhalts und demzufolge nicht als völkerrechtlicher Vertrag oder internationales Abkommen zu qualifizieren sei mit der Folge, daß er keine rechtlichen Bindungen zur Folge habe 5 8 4 . Das EWS sei also im Kern durch eine rechtlich nicht verbindliche Entschließung des Europäischen Rates geregelt 585 . Die für das EWS maßgeblichen Vorschriften wurden jedoch auch als internationale Verwaltungsabkommen, für die Völkerrechtsgrundsätze gelten, bewertet 586 . Andere Stimmen werteten sie als nur in begrenztem Maß bindend 587 oder aber als nach Gemeinschaftsrecht umfassend

580

Das Abkommen wurde in der Folge am 09.12.1980 und 10.12.1985 geändert, Kompendium 1990, S. 57 ff. 581

Picker, S. 140; Hahn, EuR 1979, S. 353; Hahn/Siebelt, F I, Rn. 28, in: Dauses. Eine privatrechtliche Einordnung kommt wegen seines Gegenstandes „Steuerung des Außenwertes der beteiligten Währungen" nicht in Betracht, Siebelt, JuS 1994, S. 448. 582

Beschlüsse 12 und 13/79 des Verwaltungsrates des EFWZ vom 13.03.1979. Smits, Artikel 107, Rn. 43, in: von der Groeben/Thiesing/Ehlermann (Hrsg.), Kommentar zum EWGV. 583

Hahn, Währungsrecht, S. 182.

584

Dies sei auch der Grund dafür, daß sie nach französischem Recht keiner Ratifikation bedürfe. Die Entscheidung ist abgedruckt in: Journal de droit international (Clunet) 106 (1979), S. 79; zustimmend Burgard, S. 46; Strohmeier, EWS, S. 79 f. 585

Everling, EuR 1987, S. 228 f.

586

Louis, CMLR 1988, S. 31.

587

Im Hinblick auf die Kreditmechanismen des EWS, Seidel, EuR 1979, S. 25; im Hinblick auf die Währungsreserven der Teilnehmerländer des EWFZ, Hahn, EuR 1979, S. 353.

2

Β. Hoheitsrechtsübertragungen im EUV

bindend 588 . Umstritten war auch, ob die dem EWS zugewiesenen Aufgaben auf der Grundlage des Artikels 235 EWGV übertragen werden konnten oder ob hierzu nicht eine Vertragsänderung auf der Grundlage des Artikels 236 EWGV erforderlich gewesen wäre 5 8 9 . Trotz dieser „Einordnungsprobleme" hat das EWS in den nachfolgenden Jahren aufgrund des vorhandenen politischen Willens der Mitgliedstaaten die in dieses System gesetzten Erwartungen erfüllen können. Neben dem politischen Willen und der verstärkten Zusammenarbeit der nationalen Zentralbanken dürfte hierzu auch beigetragen haben, daß die Entschließung vom 5. Dezember 1978 in weitere Vorschriften integriert wurde 590 . So bildet die Entschließung die Grundlage des Abkommens zwischen den Zentralbanken der Mitgliedstaaten vom 13. März 1979 5 9 1 . Dieses wiederum wurde in die Entscheidung 13/1979 des Verwaltungsrates des E F W Z 5 9 2 übernommen, die es als Verwaltungsvorschrift übernahm. Dennoch war der gewählte Weg der Errichtung des EWS durch das „mixtum compositum"593 aus der Entschließung des Europäischen Rates, aus Rechtsakten des Rates und der Kommission, aus dem völkerrechtlichen Abkommen der Zentralbanken der Mitgliedstaaten und Beschlüssen des Verwaltungsrates des EFWZ nicht der geeignete Weg zur dauerhaften Ausweitung der währungspolitischen Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten. Die Übertragung von Kompetenzen auf monetärem Gebiet zugunsten der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft bedarf wie in allen sonstigen Politikbereichen eindeutiger Rechtsgrundlagen, die das Funktionieren des beabsichtigten Systems nicht nur vom politischen Willen der Beteiligten abhängen lassen, sondern Rechtsgrundlagen zur Verfügung stellen, die die Gemeinschaftsorgane aus eigener Kompetenz handlungsfähig machen.

588

Rey, CMLR 1980, S. 10.

589

Der Europäische Rat war sich dieser Frage offenbar bewußt, denn in der Entschließung vom 05.12.1978 heißt es, daß das endgültige System „sowohl auf gemeinschaftlicher als auch auf einzelstaatlicher Ebene auf geeignete Rechtsvorschriften gestützt" werden solle; zum Meinungsstand Oppermann, Europarecht, Rn. 875. So bezeichnet Borries diese Entschließung als rechtlich „selbstbindendes Regierungsabkommen" außerhalb des Gemeinschaftsrechts, ders., in: Rengeling/Borries, S. 95 m.w.N. 590 Smits, Artikel 107, Rn. 55; in: von der Groeben/Thiesing/Ehlermann (Hrsg.), Kommentar zum EWGV. 591

Kompendium 1990, S. 48 tf.

592

Smits, Artikel 107, Rn. 43, in: von der Groeben/Thiesing/Ehlermann (Hrsg.), Kommentar zum EWGV. 593

Burgard, S. 46.

IV. Europäische Gemeinschaft

2

Das auf die beschriebene Weise in Kraft gesetzte EWS baut auf drei einander ergänzenden Elementen auf, nämlich auf der Einfuhrung der ECU ((a)), dem Wechsel- und Interventionsmechanismus ((b)) und den Kreditmechanismen ((c)) 5 9 4 .

(a) ECU Kernstück des EWS ist die Einführung einer Europäischen Währungseinheit, der E C U 5 9 5 . Die ECU ersetzte die Europäische Rechnungseinheit596. Die ECU dient als Rechnungseinheit zur Erstellung des Haushaltes der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft 597, sie ersetzt die vormals verwendete Rechnungseinheit in Rechtsakten der Gemeinschaft 598 und wird von der Europäischen Investitionsbank als Rechnungseinheit verwendet 599. Die ECU ist eine Korbwährung. Sie ist definiert als ein Korb der Währungen der Mitgliedstaaten, in den bestimmte Beträge der einzelnen Währungen einge-

594

Statt vieler Siebelt. S. 119.

>95

ECU bildet die Abkürzung der ..European Currency Unit". Der Begriff des ECU war auch für eine 1214 bis 1653 geprägte französische Goldmünze verwendet worden. Offizielle ECU können nur von den Zentralbanken der am EWS teilnehmenden Staaten gehalten werden, doch besteht seit 1985 für andere Zentralbanken und internationale Institutionen die Möglichkeit des Status eines sonstigen Halters kraft Verleihung, VO 3066/85/EWG. ABl. 1985 Nr. L 290 S. 95. Eine Ausnahme von der Regel, daß die ECU lediglich eine Rechnungseinheit darstelle, bilden die belgischen ECU-Münzen. Die erste Ausgabe erfolgte 1987 anläßlich des 30. Jahrestages der Unterzeichnung der Römischen Verträge, hierzu Stunt . S. 65 ff. Eine spätere Ausgabe erfolgte zum 60. Geburtstag von König Baudoin, vgl. Börsen-Zeitung vom 15.09.1990, S. 4. Zur ECU im deutschen Recht, Siebelt, NJW 1992. S. 10 ff. 596

Ziff. 2.1. Satz 2 der Ratsentschließung vom 05.12.1978. Sie setzte sich aus Teilbeträgen der Währungen der Mitgliedstaaten zusammen, die sich aus dem Beitrag eines jeden Mitgliedstaates zum EG-Bruttosozialprodukt und zum gemeinschaftlichen Handel ergaben, Hahn. EuR 1979, S. 340. 597 Artikel 1 des Beschlusses des Rates 80/11/EWG, Euratom, EGKS zur Änderung der Haushaltsordnung vom 21.12.1977 hinsichtlich der Verwendung der ECU im Gesamthaushalt der Europäischen Gemeinschaften, ABl. 1980 Nr. L 345 S. 23. 598 Artikel 1 der VO 3308/80/EWG. Euratom des Rates zur Ersetzung der Europäischen Rechnungseinheit durch die ECU in den Rechtsakten der Gemeinschaft, ABl. 1980 Nr. L 345 S. 1. 599

Beschluß des Rates der Gouveneure über die Satzung der Europäischen Investionsbank im Zusammenhang mit der Einführung der ECU als Rechnungseinheit der Bank. ABI. 1981 Nr. L 311 S. 1. 18 Uhrig

2

Β. Hoheitsrechtsübertragungen im EUV

hen 6 0 0 . Die Währungen der Mitgliedstaaten werden dabei nicht zu gleichen Teilen, sondern entsprechend der relativen Bedeutung ihrer Wirtschaft innerhalb der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft gewichtet601. Bei dieser Gewichtung wird der Anteil jedes Mitgliedstaates am Bruttosozialprodukt der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und am innergemeinschaftlichen Handel mit 75 %, der Anteil eines Mitgliedstaates am kurzfristigen Währungsbeistand mit 25 % berücksichtigt 602. Die ECU ist somit die Summe bestimmter Beiträge der am Korb beteiligten Währungen, ihr Wert entspricht der Wertsumme der Korbwährungen 603. Die Anteile der einzelnen Währungen an diesem Korb legt der Rat fest, der auch bestimmen kann, unter welchen Voraussetzungen die Gewichtung geändert wird 6 0 4 . Eine regelmäßige Überprüfung der relativen Gewichte der Währungen der Mitgliedstaaten findet alle fünf Jahre statt 605 . Die ECU ist somit eine Verbundwährung, deren Wert vom Wert der Einzelwährungen abhängt606: Ändern sich die Werte der Einzelwährungen, führt dies zu einer Wertänderung der E C U 6 0 7 . Der ECU werden im EWS vier Hauptfunktionen zugewiesen. Sie dient erstens als Bezugsgröße für die Festsetzung und Veränderung der Leitkurse der Währungen zueinander, zweitens als Grundlage für den Abweichungsindikator, drittens als Rechengröße für Operationen sowohl im Interventions- als auch im Kreditmechanismus und viertens als Instrument für den Saldenausgleich zwischen den Währungsbehörden in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft 608.

600

Artikel 1 der VO 3180/78/EWG. Bleckmann/Pieper, Ensthaler, JuS 1994, S. 27; Ohr, S. 204. 601

Schweitzer/Hummer,

S. 441; Herdegen,

in: Bleckmann, Rn. 1828;

S. 189; Oppermann,

Europarecht,

Rn. 878. 602

Ensthaler, JuS 1994, S. 27.

603

Artikel 1 der VO 3180/78/EWG, ABl. 1978 Nr. L 379 S. 1.

604

Artikel 2 der VO 3180/78/EWG.

605

Ziff. 2.3 der Entschließung des Europäischen Rates vom 05.12.1978. Mit Beginn der 2. Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion ist jedoch Artikel 109 g EGV maßgeblich, wonach eine Änderung der Zusammensetzung des ECU-Währungskorbes nicht mehr stattfindet. Der Rat hat daraufhin die VO Nr. 3220/94 zur Definition des ECU erlassen, ABl. 1994 Nr. L 350 S. 27. 606

Smits, Artikel 107, Rn. 47, in: von der Groeben/Thiesing/Ehlermann (Hrsg.), Kommentar zum EWGV; Oppermann, Europarecht, Rn. 878. 607

Schweitzer/Hummer,

608

Ohr, S. 204.

S. 441.

IV. Europäische Gemeinschaft

25

(b) Wechsel- und Interventionsmechanismus Jeder Währung ist im EWS ein fester Leitkurs zur ECU zugeordnet 609. Das System der ECU-bezogenen Leitkurse der Währungen der Mitgliedstaaten ist Grundlage eines Wechsel- und Interventionsmechanismus: Setzt man die Leitkurse der nationalen Währungen zueinander in Beziehung, so erhält man ein Gitter bilateraler Wechselkurse, das sog. Paritätengitter 610. Um das Ziel fester Wechselkurse zwischen den Währungen der Mitgliedstaaten zu erreichen, dürfen die Tageskurse der Wechselkurse lediglich in Bandbreiten von 15 % nach oben oder unten schwanken61 Eine Ausnahme gilt allerdings im Verhältnis der DM zum niederländischen Gulden, die nur um 2,25 % schwanken dürfen 612 . Werden diese Schwankungsbreiten überschritten, müssen die nationalen Zentralbanken intervenieren 613, indem die nationale Zentralbank der an die obere Grenze stoßenden Währung die an die untere Grenze stoßende Währung kauft, während umgekehrt die nationale Zentralbank der schwachen Währung die starke Währung verkauft 614 . Diese Interventionen haben solange zu erfolgen, bis die Grenze der erlaubten Schwankungsbreite erreicht ist 6 1 5 . Lassen sich die Wechselkurse mittelfristig nicht einhalten, können die Leitkurse neu festgelegt werden 616 . Eine Änderung des Leitkurses einer Währung ist nur im gegenseitigen Einverständnis sämtlicher am Mechanismus beteiligter Länder und der

609

Ziff. 3.1 der Entschließung des Europäischen Rates vom 05.12.1978.

610

Siebelt, S. 121.

611

Diese Bandbreiten wurden durch Beschluß des Rates der Finanzminister der am EWS teilnehmenden Mitgliedstaaten und der Präsidenten der Zentralbanken vom 02.08.1993 festgelegt. Durch diesen wurden die bisherigen Bandbreiten von bisher plus/minus 2,25 % bzw. 6 % für die spanische und portugisische Währung neu festgesetzt. Die Neufestsetzung war nach massiven Störungen im EWS erforderlich geworden vgl. Kommuniqué der EG vom 02.08.1993, in: Deutsche Bundesbank, Monatsbericht August 1993, S. 20. Zu den Ursachen und Hintergründen dieser Krise EWl-Jahresbricht 1994, S. 16 ff.; Ρ fister, EA 1993, S. 711 ff. Die Finanzminister der EG einigten sich am 05.12.1994 darauf, an diesen Bandbreiten auf unbestimmte Zeit festzuhalten, FAZ 06.12.1994, S. 17. Mit Wirkung vom 09.01.1995 trat die Österreichische Nationalbank dem EWS bei. Die Suomen Pankki und die Sveriges Riksbank beschlossen, dem Wechselkursmechanismus noch nicht beizutreten, EWI-Jahresbericht 1994, S. 93. 612

Ohr, S. 205; Pfister,

613

Artikel 1 und 2 des Abkommens der Zentralbanken über das Funktionieren des

EA 1993, S. 713.

EWS. 614

Strohmeier, EWS, S. 99.

615

Die Interventionen haben grundsätzlich in den Währungen der Teilnehmerländer zu erfolgen, Ziff. 3.3 der Entschließung des Europäischen Rates vom 05.12.1978. 616

18*

Oppermann, Europarecht, Rn. 879.

Β. Hoheitsrechtsübertragungen im EUV

2

Kommission möglich 617 , denn die Änderung des Leitkurses einer Währung berührt gleichzeitig auch die anderen Währungen 618. Leitkursänderungen sind daher auch nur bei nachhaltigen Spannungen im System vorgesehen 619, sie sind folglich nur eine ultima-ratio-Maßnahme 620. Die Leitkursänderungen erfolgen nicht durch einen Gemeinschaftsrechtsakt 6 2 1 . Zwar treten zum Zweck der Wechselkursänderung die Finanzminister der Teilnehmerländer zusammen, und die Präsidenten der Zentralbanken werden ebenso wie die Kommission zu diesen Beratungen hinzugezogen622, doch erfolgt diese Zusammenkunft in Wahrnehmung der nationalen Zuständigkeit der Regierungen der Teilnehmerländer und nicht in Wahrnehmung der Aufgaben als Rat der Gemeinschaft i.S. des Artikels 145 EWGV bzw. des Artikels 145 E G V 6 2 3 . Das Ergebnis dieser Zusammenkunft ist demnach kein Rechtsakt der Gemeinschaft i.S. des Artikels 189 EWGV bzw. des Artikels 189 E G V 6 2 4 . Neben diesen obligatorischen Interventionen durch die Zentralbanken der Mitgliedstaaten besteht ein fakultativer Interventionsmechanismus. Dieser beruht auf dem sog. Abweichungs- oder Divergenzindikator 625. Er wird ausgelöst,

617

Ziff. 3.2 der Entschließung des Europäischen Rates vom 05.12.1978. Hierzu Hahn, EuR 1979, S. 347 f.; Siebelt. S. 121. 618

Zu diesem Zusammenhang ausführlich Hellmann, S. 76 ff.: Gold, S. 148. In der Praxis wird daher auch nicht über neue ECU-Leitkurse, sondern über Änderungen der bilataralen Leitkurse verhandelt, von denen dann die neuen ECU-Leitkurse abgeleitet werden. Köster. S. 23. 619

Köster, S. 22.

620

So auch Hahn, EuR 1979, S. 347. Dies zeigt auch die Neufestsetzung der Schwankungsbandbreiten im August 1993, die einzig das Ziel hatte, eine Neufestsetzung der Leitkurse zu verhindern. 621

Köster. S. 22: Louis, CMLR 1988, S. 33.

622

Die zur Erreichung des gegenseitigen Einvernehmens einzuhaltenden Informations· und Konsultationsverfahrens sind in zwei nicht veröffentlichen Stellungnahmen des Währungsausschusses festgehalten, die der Rat in einem Beschluß vom 21.04.1980 angenommen hat, Louis, CMLR 1988, S. 33. Dieser Ratsbeschluß führt Ziff. 3.2 der Entscheidung des Europäischen Rates vom 05.12.1978 aus. Die Verfahren, die an die Mitgliedstaaten gerichtet, und für diese bindend sind, betonen die Einbettung des EWS in das Gemeinschaftsrecht. 623

Hahn, CMLR 1991, S. 787.

624

Smits, Artikel 107, Rn. 51, in: von der Groeben/Thiesing/Ehlermann (Hrsg.), Kommentar zum EWGV; Louis, CMLR 1988, S. 33. der die Leitkursänderungen als eine Art völkerrechtliches Abkommen der beteiligten Länder ansieht. 625

Ziff. 3.5 der Entschließung des Europäischen Rates vom 05.12.1978.

IV. Europäische Gemeinschaft

2

wenn der Tageskurs einer Währung 75 % der maximalen Abweichung vom ECU-Leitwert einer Währung erreicht. Die maximale Abweichung einer Währung variiert dabei individuell je nach ihrem Gewicht am ECUWährungskorb 626. Liegt eine solche Abweichung vor, wird vermutet, daß die Behörden des betreffenden Teilnehmerlandes die Währungslage durch angemessene Maßnahmen korrigieren 627. Dazu zählen Interventionen gegenüber den anderen Währungen, interne währungspolitische Maßnahmen, insbesondere in der Geld- und Kreditpolitik, und andere wirtschaftspolitische Maßnahmen.628

(c) Kreditmechanismen Zur Bereitstellung der für die Durchführung des Wechselkursmechanismus, insbesondere der Zentralbankinterventionen, erforderlichen Mittel und zum Beistand in unvorhergesehenen Zahlungsbilanzdefiziten bedurfte es umfangreicher gegenseitiger Kreditfazilitäten der Mitgliedstaaten629. Zu diesem Zweck stellten die Zentralbanken der Mitgliedstaaten dem E F W Z 6 3 0 20 % ihrer Goldund Dollarreserven zur Verfügung und erhielten dafür eine Gutschrift in E C U 6 3 1 . Auf diese Weise wurden Kreditlinien unterschiedlicher Laufzeiten eingerichtet bzw. ausgeweitet632. So wurde eine der Höhe nach unbegrenzte sehr kurzfristige Fazilität geschaffen, deren Salden 45 Tage nach Ende des Monats der Interventionen wieder ausgeglichen werden 633 . Die bereits vor dem EWS bestehenden Systeme kurz- und mittelfristigen finanziellen Beistands wurden ausgeweitet634.

626

Hellmann, S. 54 f.; Strohmeier, EWS, S. 103.

627

Ziff. 3.6 der Entschließung des Europäischen Rates vom 05.12.1978.

628

Ziff. 3.6 der Entschließung des Europäischen Rates vom 05.12.1978.

629

Oppermann. Europarecht, Rn. 880.

630

Der EFWZ ist in der 2. Stufe aufgelöst worden, Artikel 1.3 der Satzung des

EWI. 631

Artikel 17 ff. des Abkommens der Zentralbanken vom 13.03.1979.

632

Siebelt. S. 122 f.; Ohr, S. 207.

633

Artikel 6 ff. des Abkommens der Zentralbanken vom 13.03.1979.

634

Das System des kurzfristigen finanziellen Beistands wurde auf 14 Milliarden ECU, das des mittelfristigen Beistands auf 11 Milliarden ECU erhöht. Bünger/Molitor, Vorb. zu den Artikeln 102 a-109, Rn. 55, in: von der Groeben/Thiesing/Ehlermann (Hrsg.), Kommentar zum EWGV; Hellmann, S. 63 ff.

278

Β. Hoheitsrechtsübertragungen im EUV cc) Artikel 102 a EWG-Vertrag

1987 wurde in den E WG-Vertrag ein besonderer Abschnitt über die Zusammenarbeit in der Wirtschafts- und Währungspolitik eingefügt 635. Dem Beschluß, ein neues Kapitel in den EWG-Vertrag einzufügen, war eine kurze, aber schwierige Diskussion vorangegangen. Die Kommission hatte vorgeschlagen, die Währungspolitik und das EWS in die Gemeinschaftsaufgaben und -Zuständigkeiten aufzunehmen 636. Dadurch sollten Gemeinschaftskompetenzen auf währungspolitischem Gebiet im Rahmen des EWG-Vertrages erreicht werden 6 3 7 . Zu einem derartigen Souveränitätsverzicht waren die Mitgliedstaaten aber nicht bereit 638 . Der als Ergebnis der Diskussion neu eingeführte Artikel 102 a EWGV nahm die Währungspolitik erstmals als Ziel des Gemeinschaftshandelns in das primäre Gemeinschaftsrecht auf 6 3 9 . Er bezeichnete darüber hinaus das EWS und die ECU als Kernstücke und Grundlagen der währungspolitischen Zusammenarbeit innerhalb der Gemeinschaft 640. Artikel 102 a EWGV schloß aber zugleich die Möglichkeit institutioneller Weiterentwicklungen der währungspolitischen Zusammenarbeit und die Begründung von Zuständigkeiten zugunsten der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft aufgrund von Artikel 235 EWGV ausdrücklich aus 6 4 1 . Er legte vielmehr fest, daß das Verfahren des Artikels 236 EWGV anzuwenden ist, sofern die weitere Entwicklung im Bereich der Währungspolitik institutionelle Veränderungen erforderlich macht 642 . Während also die bis dahin entwickelte wäh-

635

Siehe oben S. 231 f.

636

Kom (85) endg., Bulletin der EG 7/8/1985, Ziff. 5, S. 10. Glaesner, EuR 1986,

S. 137. 637 Bünger/Molitor, Vorb. zu den Artikeln 102 a-109, Rn. 4, in: von der Groeben/Thiesing/Ehlermann (Hrsg.), Kommentar zum EWGV. 638

So auch Glaesner, EuR 1986, S. 137. Der am 18.11.1985 geänderte Vorschlag der Kommission wurde im Währungsausschuß, im Ausschuß der Zentralbankpräsidenten, im Rat der Wirtschafts- und Finanzminister und im Europäischen Rat von Luxemburg beraten. Am 02./03.12.1985 wurde schließlich die endgültige Fassung angenommen, die im Laufe der Verhandlungen noch mehrfach geändert worden war, Louis, Artikel 102 a, Rn. 5, in: von der Groeben/Thiesing/Ehlermann (Hrsg.), Kommentar zum EWGV. 639 Bünger/Molitor, Vorb. zu den Artikeln 102 a-109, Rn. 43, in: von der Groeben/Thiesing/Ehlermann (Hrsg.), Kommentar zum EWGV; Pipkorn, CMLR 1994, S. 266; Siebelt, JuS 1994, S. 448; Kortz, S. 37. 640 Louis, Artikel 102 a, Rn. 21, in: von der Groeben/Thiesing/Ehlermann (Hrsg.), Kommentar zum EWGV. 641

Glaesner, EuR 1986, S. 137; Steindorff,

642

Artikel 102 a Abs. 2 EWGV.

S. 121.

IV. Europäische Gemeinschaft

29

rungspolitische Zusammenarbeit aufgrund von Verordnungen auf der Grundlage des Artikels 235 EWGV errichtet werden konnte, wurde die weitere Entwicklung der Währungspolitik nunmehr ausdrücklich unter das Erfordernis einer Vertragsänderung mit anschließender Ratifikation durch die Mitgliedstaaten gestellt 643 . Durch Artikel 102 a Absatz 2 EWGV wurden somit Überlegungen hinfällig, ob der institutionelle Ausbau des EWS zumindest teilweise ohne Vertragsänderung verwirklicht werden könnte 644 . Diese Überlegungen ergaben sich aus dem Wunsch, die monetäre Integration voranzutreiben, auch wenn dies nicht die Zustimmung aller nationalen Parlamente der Mitgliedstaaten fände 645 .

dd) Ergebnis Der EWG-Vertrag enthielt kein in sich geschlossenes System währungspolitischer Regelungen. Angesichts bestehender internationaler Regelungssysteme außerhalb des EWG-Vertrages, insbesondere des Systems fester Wechselkurse aufgrund des Abkommens von Bretton Wood und des multilateralen Verrechnungssystems des Europäischen Zahlungssystems, enthielten die Artikel 104 ff. EWGV lediglich Regelungen zur Koordination der nationalen Währungspolitiken im Hinblick auf die Verwirklichung des Gemeinsamen Marktes. Nach Zusammenbruch des Systems von Bretton Wood und aufgrund der Erkenntnis, daß ein System fester Wechselkurse Voraussetzung für das Funktionieren des Gemeinsamen Marktes ist, begann die Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten auch auf währungspolitischem Gebiet, insbesondere auf dem Gebiet der Wechselkurspolitik. Sie führte zunächst zur Gründung des EFWZ, der die Verringerung der Bandbreiten zwischen den Währungen der Mitgliedstaaten fördern sollte. Der 1972 gegründete Europäische Wechselkursverbund, der feste Paritäten zwischen den beteiligten Währungen zum Ziel hatte, brachte zunächst nicht die erhoffte Stabilisierung der Wechselkurse. Daher unternahmen die Mitgliedstaaten 1979 mit der Gründung des EWS einen neuen Versuch zur Stabilisierung der Wechselkurse. Das EWS beruht auf drei einander ergänzenden Elementen. Grundlage ist erstens die Währungseinheit ECU. Sie ist eine Korbwährung mit der Folge, daß ihr Wert vom Wert der Einzelwährungen abhängt. Die Wechselkurse dürfen zueinander in Bandbreiten von grundsätzlich 15%

643 pescatore kam aufgrund dieses Erfordernisses zu dem Ergebnis, daß Jede bedeutsame Weiterentwicklung der Wirtschafts- und Währungspolitik, einschließlich des EWS, durch ein praktisch nicht erfüllbares Erfordernis blockiert" sei, ders., EuR 1986, S. 163. Das Europäische Parlament vertrat die Auffassung, daß die EEA „neue Hindernisse" beim Ausbau des EWS schaffe, ABl. 1986 Nr. C 36 S. 144. 644

Krämer. Artikel 102 a, Rn. 15, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), Kommentar zum EUV.

645

Krämer, Artikel 102 a, Rn. 15, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), Kommentar zum EUV.

20

Β. Hoheitsrechtsübertragungen im EUV

nach oben oder unten schwanken. Werden diese Bandbreiten überschritten, tritt zweitens ein Interventionsmechanismus in Kraft, aufgrund dessen die Zentralbanken der beteiligten Währungen verpflichtet sind, die Währungen durch Währungskäufe und -Verkäufe in die vorgesehenen Bandbreiten zurückzuführen. Erst wenn dies mittelfristig nicht gelingt, werden die Leitkurse neu festgesetzt. Zur Durchführung des Wechselkursmechanismus wurden drittens verschiedene Kreditmechanismen mit unterschiedlichen Laufzeiten geschaffen bzw. ausgeweitet. 1987 wurde dann durch den im Rahmen der EEA in den EWG-Vertrag eingefugten Artikel 102 a EWGV das Ziel einer Währungsunion erstmals in den EWG-Vertrag aufgenommen. Die währungspolitische Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten beschränkt sich damit inhaltlich auf die Stabilisierung der Wechselkurse und die damit im Zusammenhang stehenden Kreditmechanismen. Andere Bereiche, die Einfluß auf die Währungen der Mitgliedstaaten haben, etwa die Frage der Preisstabilität oder die Entwicklung der öffentlichen Finanzen, waren nicht Gegenstand der Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten. Darüber hinaus war die Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Wechselkurspolitik eine Zusammenarbeit, die wesentlich von den Zentralbanken der Mitgliedstaaten und nicht durch die Gemeinschaftsorgane durchgeführt wird. Das EWS beruht nämlich auf einer Vielzahl von Erklärungen und Rechtsnormen, die überwiegend nicht gemeinschaftsrechtlicher Rechtsnatur sind, denn das EWS hat seine Rechtsgrundlagen nur teilweise im Gemeinschaftsrecht 646. Bei den dem EWS zugrundeliegenden Regelungen handelt es sich vielmehr überwiegend um völkerrechtliche Abkommen. Diese weisen den Zentralbanken der Teilnehmerländer und nicht den Gemeinschaftsorganen die Durchführung des Wechsel- und Interventionsmechanismus, der das wesentliche Mittel der Stabilisierung der Wechselkurse der Währungen ist, zu. Da auch Kompetenzen zur Änderung der Leitkurse bei den Mitgliedstaaten verblieben ist, liegt eine Vergemeinschaftung der Wechselkurspolitik i.S. einer Übertragung von Kompetenzen auf die Gemeinschaft nicht vor. Im Rahmen des EWS beschränkt sich die Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten zudem inhaltlich auf die Wechselkurspolitik und die fur die Zusammenarbeit erforderlichen Kreditmechanismen. Da die für das Funktionieren des EWS maßgeblichen Beschlüsse nicht von Gemeinschaftsorganen durchgeführt werden, besitzen diese keine vom Willen der Mitgliedstaaten unabhängige Kompetenz zur Durchführung des EWS. Eine Übertragung von Hoheitsrechten ist damit weder durch die währungspolitische Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten noch durch den EWG-Vertrag erfolgt. Eine Vergemeinschaftung der Wechselkurs- und der Währungspolitik liegt somit nicht vor. 646 Diese Verbindung wird durch die grundlegende Entscheidung des Europäischen Rates vom 13.03.1979 und Rechtsakte der Gemeinschaft aufgrund Artikel 235 EGV geschaffen, siehe S. 270 f.

IV. Europäische Gemeinschaft b) Währungsordnung

2

des EG- Vertrages

Fraglich ist, ob durch den EG-Vertrag Hoheitsrechte auf dem Gebiet der Währungspolitik auf die Europäische Gemeinschaft übertragen werden. Der EG-Vertrag umschreibt die Ziele der Währungspolitik der Europäischen Gemeinschaft nunmehr wie folgt: (...) die Tätigkeit (der Gemeinschaft umfaßt) nach Maßgabe dieses Vertrags und der darin vorgesehenen Zeitfolge und Verfahren die unwiderrufliche Festlegung der Wechselkurse im Hinblick auf die Einführung einer einheitlichen Währung, der ECU, sowie die Festlegung und Durchführung einer einheitlichen Geld- und Wechselpolitik, die beide vorrangig das Ziel der Preisstabilität verfolgen und unbeschadet dieses Zieles die allgemeine Wirtschaftspolitik in der Gemeinschaft unter Beachtung des Grundsatzes einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb unterstützen sollen. 647 Ziel der gemeinschaftlichen Währungspolitik ist demzufolge jetzt die Schaffung einer gemeinsamen Währung auf der Grundlage von Gemeinschaftsrecht. Der EG-Vertrag sieht zur Verwirklichung dieses Ziels nunmehr eine sehr detaillierte Regelung mit einem festen zeitlichen Fahrplan in drei Stufen vor.

aa) Erste Stufe Der Zeitplan für die Verwirklichung der Währungsunion erschließt sich nicht ausschließlich aus dem Vertrag von Maastricht 648. Vielmehr beschloß der Europäische Rat schon am 26./27. Juni 1989 auf der Grundlage des sog. DelorsBerichts den Beginn einer Wirtschafts- und Währungsunion und legte den Beginn der 1. Stufe auf den 1. Juli 1990 fest 649 . Diesen Zusammenhang nennt der EG-Vertrag zwar nicht ausdrücklich, er setzt ihn gleichwohl voraus 650 , denn Artikel 109 e Absatz 1 EGV nennt keinen Zeitpunkt für die 1. Stufe, sondern trifft erst für den Beginn der 2. Stufe Regelungen. Wesentliches Ziel der 1. Stufe war die Herstellung einer größeren Konvergenz der Volkswirtschaften der Mitgliedstaaten. Diese sollte durch verstärkte

647

Artikel 3 a EGV.

648

Hahn, Vertrag von Maastricht, S. 42.

649

EA 1989, S. D 403 ff. Der Delors-Bericht war das Ergebnis der Arbeit des sog. Delors-Ausschusses, der vom Europäischen Rat am 27./28.06.1988 eingesetzt worden war und der „konkrete Etappen" zur Verwirklichung einer Wirtschafts- und Währungsunion prüfen und vorschlagen sollte, abgedruckt in EA 1989, S. D 283 ff. Zum DelorsBericht Hahn, Währungsrecht, S. 191 ff. 650

Hahn, JZ 1993, S. 483.

2

Β. Hoheitsrechtsübertragungen im EUV

Kooperation u.a. im Bereich der Währungspolitik sowie einen währungspolitischen Dialog erreicht werden 651 . Zur Verwirklichung der 1. Stufe ergingen zwei Grundsatzentscheidungen: die Entscheidung zur Erreichung einer schrittweisen Konvergenz der Politiken und der wirtschaftlichen Ergebnisse während der 1. Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion vom 12. März 1990, die sog. Konvergenzentscheidung652 ((1)) und der Beschluß des Rates über die Zusammenarbeit zwischen den Zentralbanken der Mitgliedsländer der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft 653 ((2)). Diese wurden aufgrund des EU-Vertrages durch Regelungen des EG-Vertrags zur Liberalisierung des Kapital- und Zahlungsverkehrs während der 1. Stufe ergänzt ((3)).

(1) Konvergenzentscheidung Die Konvergenzentscheidung sah die Einführung der multilateralen Überwachung der Wirtschaftspolitiken der Mitgliedstaaten durch den Rat mit dem Ziel vor, ein dauerhaftes und inflationsfreies Wachstum ebenso wie einen hohen Beschäftigungsstand und eine bessere Konvergenz in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft zu erreichen. Gegenstände dieser Überwachung waren die Preisstabilität, ein gesundes öffentliches Finanz- und Währungsgebaren, gesunde Zahlungsbilanzen und offene wettbewerbsfähige Märkte 654 . Zu diesem Zweck prüfte der Rat mindestens zweimal jährlich die wirtschaftliche Lage, die Aussichten und die Wirtschaftspolitik in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten sowie das außenwirtschaftliche Umfeld und seine Wechselwirkungen mit der wirtschaftlichen Entwicklung in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft 655. Der Rat konnte aufgrund dieser Prüfungen Anregungen geben und auf Vorschlag der Kommission Empfehlungen aussprechen656. Diese Empfehlungen waren nicht verbindlich 657. Zur Durchführung der Überwachung forderte der Rat die Mitgliedstaaten auf, mittelfristige Anpassungsprogramme, die die Erreichung und Einhaltung der Überwachungsgesichtspunkte zum Ziel hatten, auszu-

651 So die Schlußfolgerungen der Tagung des Europäischen Rates am 26./27.06.1989, EA 1989, S. D 283 ff.; Hüde, EuZW 1992, S. 171; Tettinger, RIW 1992, Beilage 3, S. 2. 652

ABl. 1990 Nr. L 78 S. 23.

653

ABl. 1990 Nr. L 78 S. 25.

654

Artikel 1 Abs. 1 Satz 2 der Konvergenzentscheidung.

655

Artikel 1 Abs. 1 Satz 3 der Konvergenzentscheidung.

656

Artikel 2 Abs. 2 Satz 2 der Konvergenzentscheidung.

657

Siehe oben S. 37 FN 115.

IV. Europäische Gemeinschaft

2

arbeiten und mitzuteilen658. Vorrangiges Ziel dieser Programme war es, die nationalen Wirtschaftspolitiken transparent zu machen, um bei späteren Überprüfungen frühzeitig Abweichungen von den Konvergenzkriterien aufdecken zu können 659 . Die Konvergenzprogramme wurden von den Mitgliedstaaten in eigener Verantwortung aufgestellt und auf Gemeinschaftsebene erörtert. Ein Beispiel hierfür ist etwa das belgische Konvergenzprogramm für die Jahre 1992 - 1996, das am 23. November 1992 genehmigt wurde 660 . Die Konvergenzentscheidung ermöglichte erstmals die Überwachung der Politiken der Mitgliedstaaten auf den Gebieten Preisstabilität und öffentliches Finanz- und Währungswesen. Diese Überwachung wurde durch die Gemeinschaftsorgane vorgenommen, denen die Mitgliedstaaten die für die Überwachung erforderlichen Informationen zur Verfügung stellen mußten. Kompetenzübertragungen zu Lasten der Mitgliedstaaten waren also mit der Konvergenzentscheidung nicht verbunden. Die Ziele und Mittel der Konvergenzentscheidung wurden im EG-Vertrag nunmehr festgeschrieben. So wurde die Aufforderung zur Aufstellung von Konvergenzprogrammen im EG-Vertrag geregelt. Die Mitgliedstaaten hatten gemäß Artikel 109 e Absatz 2 lit. a Spiegelstrich 2 EGV mehrjährige Programme festzulegen, die die für die Verwirklichung der Währungsunion notwendige dauerhafte Konvergenz, insbesondere die Preisstabilität und gesunde öffentliche Finanzen, gewährleisten sollen. Der EG-Vertrag verpflichtete somit die Mitgliedstaaten zur Erstellung von Konvergenzprogrammen, zu denen sie der Rat auf der Grundlage der Konvergenzentscheidung lediglich auffordern konnte 661 . Ebenso wurde die aufgrund der Konvergenzentscheidung bestehende Aufgabe der Gemeinschaftsorgane, in der 1. Stufe beobachtend und bewertend tätig

658 Mitteilung der Kommission am 03.07.1991 und Schlußfolgerungen des Europäischen Rates am 08.07.1991, Bulletin der EG 7/8/1991, S. 11 f. 659

ZfZ 1994, S. 74.

660

Bulletin der EU 11/1992, S. 15.

661

Der Rat hat am 19.09.1994 beispielsweise die Konvergenzprogramme Irlands und Griechenlands angenommen, wobei im Falle Griechenlands erhebliche Zweifel bestehen, ob in absehbarer Zeit die hohen Staatsschulden und die hohe Inflationsrate verringert werden können. Der Rat hat Griechenland daher nachdrücklich aufgefordert, alle nötigen Maßnahmen zu ergreifen, damit die hochgesteckten Ziele der Haushaltskonsolidierung erreicht werden können, Agence Europe, 21.09.1994, S. 11. Auch die neuen Mitgliedstaaten haben bereits Konvergenzprogramme vorgelegt. So sieht das im Januar 1995 von Österreich vorgelegte Konvenzprogramm für den Zeitraum 1996 - 1999 ein Sparmaßnahmenpaket zur Konsolidierung der öffentlichen Finanzen vor, es enthält die wirtschaftlichen Vorausschätzungen des östereichischen Wirtschaftsforschungsinstitut und gibt die fiskalischen Ziele bis zum Beginn der 3. Stufe der Währungsunion vor.

2

Β. Hoheitsrechtsübertragungen im EUV

zu werden, aufgegriffen. Gemäß Artikel 109 e Absatz 2 lit. b EGV hatte der Rat in der 1. Stufe auf der Grundlage eines Berichts der Kommission die Fortschritte bei der Konvergenz im Währungsbereich, insbesondere hinsichtlich der Preisstabilität und gesunder öffentlicher Finanzen, sowie bei der Umsetzung der gemeinschaftlichen Rechtsvorschriften über den Binnenmarkt zu bewerten. Auch der EG-Vertrag beschränkte das Tätigwerden von Rat und Kommission im Hinblick auf konvergente Politiken der Mitgliedstaaten also in der 1. Stufe auf lediglich beobachtende und beratende Funktionen. Der EG-Vertrag rückte gleichwohl dabei die Kriterien der Preisstabilität und gesunde öffentliche Finanzen als wesentliche Aspekte der angestrebten Konvergenz in den Mittelpunkt der beobachtenden Tätigkeiten der Europäischen Gemeinschaft. Er stellte damit für die angestrebte Ausrichtung der nationalen Politiken im Währungsbereich erstmals ausdrückliche Kriterien auf der Ebene des primären Gemeinschaftsrechts auf. Trotz des damit verbundenen hohen Verpflichtungsgrades oblag die Einhaltung dieser Kriterien gleichwohl ausschließlich den Mitgliedstaaten. Hoheitsrechtsübertragungen der Mitgliedstaaten auf die Europäische Gemeinschaft waren mit dieser Verpflichtung nicht verbunden. Im Ergebnis begründeten die Konvergenzentscheidung und die sie bestätigenden Regelungen des EG-Vertrages erstmals die Überwachung der Währungspolitiken der Mitgliedstaaten durch Gemeinschaftsorgane anhand konkreter Kriterien. Das Ziel eines dauerhaften und inflationsfreien Wachstums mit einem hohen Beschäftigungsstand und einer besseren Konvergenz sollte durch die Überwachung der Preisstabilität, des öffentlichen Finanz- und Währungsgebahrens und der Zahlungsbilanzen sowie offener wettbewerbsfähiger Märkte erreicht werden. Die Mitgliedstaaten wurden zu diesem Zweck zur Aufstellung von Konvergenzprogrammen aufgefordert bzw. verpflichtet.

(2) Beschluß über die Zusammenarbeit zwischen den Zentralbanken der Mitgliedstaaten Durch den Beschluß des Rates über die Zusammenarbeit zwischen den Zentralbanken der Mitgliedstaaten662 wurden der bisher schon bestehende Informationsaustausch und die regelmäßigen Konsultationen im Rahmen des Ausschusses der Zentralbankpräsidenten erweitert und verstärkt. Dem auf der Rechtsgrundlage des Artikels 105 Absatz 1 EWGV und damit auf der Grundlage von Gemeinschaftsrecht begründete Ausschuß663 oblagen in der 1. Stufe über seine bisherigen Aufgaben der Beobachtung der Währungs- und Finanzla-

662

ABl. 1990 Nr. L 78 S. 25.

663

Beschluß 64/300/EWG, ABl. 1964 S. 1206. Siehe oben S. 256 ff.

IV. Europäische Gemeinschaft

2

ge der Mitgliedstaaten und der regelmäßigen Berichterstattung darüber an Rat und Kommission sowie der Abgabe von Stellungnahmen hinaus folgende Aufgaben: 1. Konsultationen über die allgemeinen Grundsätze und die Grundsätze der Währungspolitik, insbesondere auf dem Gebiet des Kredits, des Geld- und des Devisenmarktes sowie die unter die Zuständigkeit der Zentralbanken fallenden Fragen, welche die Stabilität der Finanzinstitute und -märkte berühren, durchzufuhren; 2. über die wichtigsten Maßnahmen, die in die Zuständigkeit der Zentralbanken fallen, regelmäßig Informationen auszutauschen und diese Maßnahmen zu prüfen. Der Ausschuß ist zu Entscheidungen der nationalen Behörden über die Ausrichtung der Geldpolitik, wie etwa die jährliche Festlegung nationaler Geld- und Kreditmengenziele, normalerweise im voraus zu hören; 3. die Koordinierung der Geldpolitik der Mitgliedstaaten mit dem Ziel der Preisstabilität als unerläßlicher Voraussetzung für das einwandfreie Funktionieren des Europäischen Währungssystems sowie die Verwirklichung seines Ziels der Währungsstabilität zu fordern; 4. Stellungnahmen zur generellen Ausrichtung der Geld- und Wechselpolitik sowie zu den einschlägigen Maßnahmen in den einzelnen Mitgliedstaaten abzugeben; 5. Stellungnahmen gegenüber einzelnen Regierungen und dem Ministerrat zu Maßnahmen abzugeben, die die innere und äußere monetäre Situation in der Gemeinschaft und insbesondere das Funktionieren des Europäischen Währungssystems beeinflussen können. 664 Der Ausschuß hatte also nicht nur die Aufgabe der Durchführung von Konsultationen auf den Gebieten der nationalen Kredit-, Geld- und Devisenpolitik und des Austausches von Informationen über wichtige Maßnahmen, die in den Zuständigkeitsbereich der nationalen Zentralbanken fallen 665 . Er hatte auch die Aufgabe der Durchführung von Konsultationen über die Grundsätze der Währungspolitik und zur Abgabe von Stellungnahmen zur generellen Ausrichtung der Geld- und Wechselkurspolitik sowie der einschlägigen Maßnahmen der einzelnen Mitgliedstaaten und zu Maßnahmen einzelner Regierungen und des Rates, die die innere und äußere monetäre Situation in der Europäischen Gemeinschaft, insbesondere das Funktionieren des EWS beeinflussen könnten 666 . Damit kam dem Ausschuß zwar auch weiterhin nur beratende Funktion zu, doch wurden die Inhalte seiner Beratung genauer als bisher beschrieben und die Gegenstände der Beratung und Konsultation ausgeweitet. So konnten sich seine Konsultationen beispielsweise auch auf die unter die Zuständigkeit der Zentralbanken fallenden Fragen, welche die Stabilität der Finanzinstitute und -märkte 664

Artikel 3 des Beschlusses über die Zusammenarbeit zwischen den Zentralban-

ken. 665 666

So bisher Artikel 4 des Beschlusses 64/300/EWG.

Bünger/Molitor, Vorb. zu den Artikeln 102-109, Rn. 22, in: von der Groeben/ Thiesing/Ehlermann (Hrsg.), Kommentar zum EWGV.

2

Β. Hoheitsrechtsübertragungen im EUV

berühren, beziehen. Weiterhin mußte der Ausschuß zu nationalen Entscheidungen über die geldpolitische Ausrichtung eines Mitgliedstaates einschließlich der Geld- und Kreditmengenziele nunmehr normalerweise von den nationalen Behörden im voraus gehört werden 667 . Neu war das Recht des Ausschusses zur Abgabe von Stellungnahmen sowohl gegenüber den Mitgliedstaaten als auch gegenüber dem Rat. Darüber hinaus wurde dem Ausschuß die Koordinierung der Geldpolitik mit dem besonderen Ziel der Preisstabilität zugewiesen668. Das Ziel der Preisstabilität wurde damit als unerläßliche Voraussetzung sowie für die Verwirklichung des Ziels der Währungsstabilität aufgewertet und festgeschrieben. Hierdurch wurde eine Wechselbeziehung zwischen Preisstabilität nach innen und Wechselkursstabilität nach außen anerkannt 669. Im Gegensatz zum Beschluß des Jahres 1964 verankerte Artikel 3 a des Beschlusses von 1990 die Weisungsfreiheit der Ausschußmitglieder, indem sie - auch soweit sie Vertreter ihrer Institutionen waren - in eigener Verantwortung unter Berücksichtigung der Ziele der Europäischen Gemeinschaft handeln. Diese Weisungsfreiheit ergänzte den dritten Erwägungsgrund des Beschlusses, wonach eine größere Autonomie der nationalen Zentralbanken zu erwägen war. Die Aufgaben des Ausschusses der Zentralbankpräsidenten wurden also erweitert. Der Ausschuß mußte von den nationalen Behörden der Mitgliedstaaten bei der Ausrichtung ihrer Geldpolitik vorab angehört worden. Der Ausschuß besaß das Recht zur Abgabe von Stellungnahmen. Die unabhängige Stellung seiner Mitglieder wurde begründet. Anders als die Zusammenarbeit der Zentralbanken im Rahmen des Europäischen Weschselkursverbundes oder des EWS, die auf völkerrechtlichen Verträgen beruhte, handelte es sich bei ihm um eine Einrichtung aufgrund Gemeinschaftsrechts. Andererseits besaß er weiterhin lediglich beobachtende, beratende und koordinierende Aufgaben. Er traf keine währungspolitischen Entscheidungen. Die Entscheidungsbefugnisse auf währungspolitischem Gebiet verblieben vielmehr bei den Mitgliedstaaten.

667

Eine genauer umschriebene Koordinierungsplicht als die in Artikel 3 des Beschlusses 64/300/EWG vorgesehene, enthielt bereits die Entscheidung 71/142/EWG des Rates vom 22.03.1971 über die Verstärkung der Zusammenarbeit zwischen den Zentralbanken, ABl. 1971 Nr. L 73 S. 14. Mit dieser Entscheidung wurden die Zentralbanken ersucht, allgemeine Leitlinien aufzustellen, die jede von ihnen einhalten soll, und zwar insbesondere hinsichtlich der Entwicklung der Bankenliquidität, der Bedingungen für die Kreditversorgung und der Höhe der Zinssätze. Diese Entscheidung wurde 1990 nicht aufgehoben. 66 8 669

Hahn, Währungsrecht, S. 203.

Smits, Artikel 105, Rn. 26, in: von der Groeben/Thiesing/Ehlermann (Hrsg.), Kommentar zum EWGV.

IV. Europäische Gemeinschaft (3) Vorbereitung

der Liberalisierung

2

des Kapital- und Zahlungsverkehrs

Darüber hinaus sah der EG-Vertrag für die 1. Stufe Regelungen für das Verhalten der Mitgliedstaaten auf dem Gebiet des Kapital- und Zahlungsverkehrs vor 6 7 0 . Er bestimmte, daß die Mitgliedstaaten zwischen dem 1. Januar 1990 und dem 31. Dezember 1993, soweit erforderlich, geeignete Maßnahmen erlassen, um die Beachtung der Verbote sicherzustellen, die in Artikel 73 b EGV - unbeschadet des Artikels 73 e EGV - niedergelegt sind 671 . Die Mitgliedstaaten hatten demnach sicherzustellen, daß ihre nationalen Vorschriften über den Kapital- und Zahlungsverkehr erforderlichenfalls dahingehend geändert werden, daß alle Beschränkungen des Kapital- und Zahlungsverkehrs zwischen den Mitgliedstaaten sowie zwischen den Mitgliedstaaten und Drittländern bis zum Eintritt in die 2. Stufe wegfallen konnten 672 . Sie verpflichteten sich darüber hinaus, bis zum 1. Januar 1994 keine neuen Beschränkungen im Kapital- und Zahlungsverkehr einzuführen und bestehende Beschränkungen des Waren-, Dienstleistungs-, Kapital- und Personenverkehrs, die auf einer Beschränkung des Kapital- und Zahlungsverkehr beruhten, schrittweise abzubauen673.

(4) Ergebnis Während der am 1. Juli 1990 begonnenen 1. Stufe der Währungsunion erfolgte erstmals nicht nur eine Koordinierung, sondern auch eine Überwachung der Währungspolitiken der Mitgliedstaaten anhand konkreter Zielvorgaben durch den Rat. Die Überwachung hatte jedoch nicht die Vergemeinschaftung, sondern lediglich die konvergente Ausrichtung der nationalen Währungspolitiken zum Ziel. Diesem Ziel diente auch die nunmehr auf einer gemeinschaftsrechtlichen Grundlage erfolgende Zusammenarbeit der Zentralbanken der Mitgliedstaaten. Seine erstmals von den Mitgliedstaaten unabhängigen Mitglieder konnten neben der Konsultation und Information zu allgemeinen Fragen der Währungspolitik Stellungnahmen zur generellen Ausrichtung der nationalen Geld- und Wechselkurspolitik an die Regierungen der Mitgliedstaaten und an den Rat richten. Gleichwohl blieb der Ausschuß auf beobachtende, beratende und koordinierende Aufgaben beschränkt. Rechtsetzende Kompetenzen besaß er nicht. Zusätzlich verpflichtete er die Mitgliedstaaten im Hinblick auf die 67 0

Mestmäcker, in: Hommelhoff/Kirchhof, S. 147. Daneben haben die Mitgliedstaaten durch geeignete Maßnahmen sicherzustellen, daß die Verbote der Artikel 104 und 104 a EGV in der 2. Stufe beachtet werden können. 671

Artikel 109 e Abs. 2 lit. a Spiegelstrich 1 EGV.

672

Diese Verpflichtung gilt unabhängig davon, ob für die Mitgliedstaaten eine Ausnahmeregelung gemäß Artikel 73 e EGV gilt. 673

Artikel 73 h EGV, der Artikel 106 EWGV entspricht.

2

Β. Hoheitsrechtsübertragungen im EUV

Vorbereitung eines Raumes ohne Währungsgrenzen, erforderlichenfalls den Abbau von Beschränkungen im Kapital- und Zahlungsverkehr vorzubereiten. Die 1. Stufe hatte damit erstmals eine an konvergenten Zielen ausgerichtete Währungspolitik der Mitgliedstaaten aufgrund gemeinschaftsrechtlicher Regelungen zum Ziel. Mit dem Ausschuß der Zentralbanken stand erstmals eine Einrichtung zur Verfügung, die aufgrund gemeinschaftsrechtlicher Regelungen Konsultations-, Informations- und Koordinationsaufgaben auf dem Gebiet der Geld- und Wechselkurspolitik umfassend wahrnahm. Mit der Zuweisung einer unabhängigen Stellung an die Mitglieder des Ausschusses der Zentralbankpräsidenten erkannten die Mitgliedstaaten bereits für ein währungspolitische Aufgaben wahrnehmendes Gremium ohne Rechtsetzungskompetenzen die Notwendigkeit der Weisungsunabhängigkeit an. Andererseits machten die Mitgliedstaaten durch die begrenzte Aufgabenzuweisung an den Ausschuß aber auch deutlich, daß sie zu einer Übertragung von Kompetenzen auf dem Gebiet der Geld- und Wechselkurspolitik zugunsten der Gemeinschaft nicht bereit waren. Institutionelle Veränderungen der Gemeinschaftsorgane oder die Einrichtung neuer Gemeinschaftsorgane wurden in der 1. Stufe noch nicht vorgenommen 674 . Die 1. Stufe leitete gleichwohl eine Entwicklung ein, nach der mehrere Beteiligte auf die Währungspolitik Einfluß nahmen: Die überwachenden und beobachtenden Gemeinschaftsorgane, der aufgrund Gemeinschaftsrechts tätig werdende Ausschuß der Präsidenten der Zentralbanken, der koordinierte und beriet, und natürlich die Mitgliedstaaten selbst, die Hindernisse auf dem Weg zu einer gemeinschaftsweit einheitlichen Währungspolitik auszuräumen hatten. Die Mitgliedstaaten besaßen weiterhin als einzige rechtsetzende Kompetenzen auf dem Gebiet der Geld- und Wechselkurspolitik und waren damit ausschließliche Träger der währungspolitischen Kompetenzen. Die 1. Stufe bildete damit eine reine Vorbereitungs- und Durchgangsphase auf dem Weg zur Währungsunion.

bb) Zweite Stufe Die 2. Stufe der Währungsunion hat am 1. Januar 1994 begonnen675. Der Eintritt in die 2. Stufe vollzog sich automatisch ohne die Notwendigkeit eines diesbezüglichen Beschlusses des Europäischen Rates und unabhängig vom Vorliegen bestimmter Voraussetzungen676. Sie bildet den Vorbereitungsab-

67 4

Hahn spricht von „institutioneller Ergebnislosigkeit", ders., JZ 1993, S. 485.

675

Artikel 109 e Abs. 1 EGV.

67 6

Nicolaysen, Rechtsfragen der WU, S. 19.

IV. Europäische Gemeinschaft

29

schnitt zur Vollendung der Währungsunion in der 3. Stufe 677 und soll eine weitere Verstärkung der Konvergenz der Währungspolitiken bewirken 678 . In der 2. Stufe tritt das Verbot der Beschränkung des Kapital- und Zahlungsverkehrs in Kraft ((1)), und es wird das EWI als neues Gemeinschaftsorgan errichtet ((2)). (1) Verbot der Beschränkung des Kapital- und Zahlungsverkehrs Mit Wirkung vom 1. Januar 1994 sind an die Stelle der bisherigen Regelungen über den Kapital- und Zahlungsverkehr 679 neue Regelungen getreten 680, die in der 1. Stufe von den Mitgliedstaaten vorzubereiten waren. Alle Beschränkungen des Kapital- und Zahlungsverkehrs zwischen den Mitgliedstaaten und dritten Ländern sind nunmehr verboten 681. Diese Liberalisierung des Kapital· und Zahlungsverkehrs dient der Vorbereitung eines einheitlichen Währungsgebietes682. Es sind zwar begrenzte Ausnahmen vom Verbot der Beschränkung des Kapitalverkehrs möglich, doch waren diese längstens bis 31. Dezember 1995 zulässig683. Daneben wird das Recht der Mitgliedstaaten, die einschlägigen Vorschriften ihres Steuerrechts anzuwenden, ebensowenig berührt wie das Recht der Mitgliedstaaten, Steuerpflichtige mit unterschiedlichem Wohnort oder Kapitalanlageort unterschiedlich zu behandeln und Maßnahmen zu treffen, um Zuwiderhandlungen gegen innerstaatliche Rechts- und Verwaltungsvorschriften, insbesondere auf dem Gebiet des Steuerrechts und der Aufsicht über Finanzinstitute, zu verhindern sowie Meldeverfahren über den Kapitalverkehr zwecks administrativer oder statistischer Informationen vorzusehen oder Maßnahmen zu ergreifen, die aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit gerechtfertigt sind 684 , solange derartige nationale Regelungen weder ein Mittel zur willkürlichen Diskriminierung noch eine verschleierte Beschränkung des freien Kapital- und Zahlungsverkehrs i.S. des Artikels 74 b EGV sind 685 . Der EG-Vertrag enthält also klare Verbote hinsichtlich der Beschränkungen des freien Kapital- und Zahlungsverkehrs. Artikel 73 c EGV

67 7

Beisse, BB 1992, S. 646.

67 8

Oppermann/Classen, NJW 1993, S. 9.

679

Artikel 67 - 73 EGV.

680

Artikel 73 a EGV.

681

Artikel 73 b EGV. Häde, EuZW 1992, S. 172.

682

Nicolaysen, Rechtsfragen der WU, S. 20.

683

Artikel 73 e EGV.

684

Artikel 73 d Abs. 1 EGV.

685

Artikel 73 d Abs. 3 EGV.

19 Uhrig

20

Β. Hoheitsrechtsübertragungen im EUV

ermächtigt den Rat 6 8 6 in präziserer Weise als zuvor Artikel 70 EWGV, Maßnahmen hinsichtlich des Kapitalverkehrs mit Drittstaaten im Zusammenhang mit Direktinvestitionen einschließlich Anlagen in Immobilien, mit der Niederlassung, der Erbringung von Finanzdienstleistungen oder der Zulassung von Wertpapieren zu den Kapitalmärkten zu beschließen687. Während Artikel 73 EWGV die Mitgliedstaaten ermächtigte, Schutzmaßnahmen gegen Störungen des Kapitalverkehrs zu ergreifen, ermächtigt Artikel 73 f. EGV nunmehr den Rat zur Ergreifung solcher Schutzmaßnahmen. Mit Beginn der 2. Stufe sind also Beschränkungen des Kapital- und Zahlungsverkehrs vollumfänglich verboten. Auf diesem Wege wird eine der notwendigen Voraussetzungen für ein einheitliches Währungsgebiet geschaffen.

(2) Europäisches Währungsinstitut Während in der 1. Stufe keine institutionellen Änderungen im Hinblick auf Gemeinschaftsorgane vorgesehen sind, wird mit Beginn der 2. Stufe das Europäische Währungsinstitut (EWI) errichtet 688. Dieses soll einerseits die Koordinierung der Geldpolitiken der Mitgliedstaaten im Hinblick auf das vorrangige Ziel der Preisstabilität 689 übernehmen, andererseits soll es die Vorarbeiten zur Errichtung der 3. Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion übernehmen 690. Das EWI ist mit Rechtspersönlichkeit ausgestattet691 und für die Dauer der 2. Stufe der Währungsunion vor dem EuGH aktiv und passiv legitimiert 692. Es besitzt Rechts- und Geschäftsfähigkeit im innerstaatlichen Recht der Mitgliedstaaten693 und wird mit Eigenmitteln ausgestattet694. Sein Aufbau ((a)), seine 686

Der Rat tritt aufgrund der Erklärung Nr. 3 der Schlußakte des EUV zum Dritten Teil Teil II und VI des Vertrages zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft, in der Zusammensetzung der Wirtschafts- und Finanzminister zusammen. 687

Pernice , Die Verwaltung 1993, S. 460.

688

Dieses hat aufgrund des am 29.10.1993 in gegenseitigem Einvernehmen gefaßten Beschlusses der Vertreter der Regierungen der Mitgliedstaaten über die Festlegung der Sitze der Organe und bestimmter Einrichtungen und Dienststellen der Europäischen Gemeinschaften, ABl. 1992 Nr. C 341 S. 1, seinen Sitz in Frankfurt. Dort trafen sich die Mitglieder des EWI am 12.01.1994 zu ihrer konstituierenden Sitzung. 689

So auch ausdrücklich der EWI-Jahresbericht 1994, S. 62.

690

Mestmäcker, in: Hommelhoff/Kirchhof, S. 148.

691

Artikel 109 f Abs. 1 Halbsatz 2 EGV.

692

Artikel 109 f Abs. 9 EGV. Es ist damit eine Übergangsinstitution, ZfZ 1994,

S. 75. 693

Artikel 14 der Satzung des EWI. Die Satzung des EWI ist dem EUV in seiner Schlußakte als Protokoll Nr. 4 beigefügt worden.

IV. Europäische Gemeinschaft

291

Aufgaben ((b)) und seine Handlungsbefugnisse ((c)) werden im EG-Vertrag sowie durch die Satzung des EWI geregelt, die dem EU-Vertrag als Protokoll beigefügt ist 6 9 5 .

(a) Aufbau des Europäischen Währungsinstituts Mitglieder des EWI sind die Zentralbanken der Mitgliedstaaten696. Das E W I 6 9 7 wird von einem Rat geleitet und verwaltet, der aus dem Präsidenten des EWI und den Präsidenten der nationalen Zentralbanken besteht698. Die Mitglieder dieses Rates handeln bei der Ausübung ihrer Tätigkeit in eigener Verantwortung 699. Der Rat des EWI darf bei der Wahrnehmung seiner Befugnisse, Aufgaben und Pflichten keinerlei Weisungen von Organen oder Einrichtungen der Europäischen Gemeinschaft oder von Regierungen der Mitgliedstaaten einholen oder entgegennehmen700. Die Mitglieder des Rates des EWI sind also von den Mitgliedstaaten und der Europäischen Gemeinschaft unabhängig. Der Präsident des EWI bereitet die Sitzungen des Rates des EWI vor und führt bei diesen Sitzungen den Vorsitz, vertritt die Auffassungen des EWI nach außen und ist verantwortlich für die laufende Verwaltung des E W I 7 0 1 . Er wird von einem Vizepräsidenten unterstützt, der vom Rat des EWI ernannt wird 7 0 2 . Der Präsident des EWI muß ihn qualifizierende Merkmale erfüllen: Er muß aus

694

Artikel 16 der Satzung des EWI. Die Eigenmittel beliefen sich beim Jahresabschluß 1994 auf 615,6 Millionen ECU. Die Höhe der erforderlichen Eigenmittel wurde vom EWI-Rat festgelegt, der sich dabei an den jährlichen Zinseinnahmen orientierte, die zur Abdeckung der geschätzten laufenden Ausgaben in einem normalen Geschäftsjahr sowie der Ausgaben für die Erstinvestitionen in die Ausstattung des EWI und zum Autbau von Kassenbeständen notwendig waren, EWI-Jahresbericht 1994, S. 71. 695

Protokoll Nr. 4 der Schlußakte des EUV. Damit besitzt die Satzung den gleichen Rechtsrang wie der EUV und kann allenfalls durch eine einstimmmige Entscheidung der Mitgliedstaaten geändert werden, ZfZ 1994, S. 75. 696

Artikel 1.2 der Satzung des EWI.

697

Zur internen Organisation des EWI ausführlich EWI-Jahresbericht 1994, S. 65 ff. Die Geschäftsführung wird vom Generaldirektor und 4 Hauptabteilungsleitern ausgeübt. Es sind dies das Generalsekretariat, die Verwaltungsdirektion, die Direktion Informations- und Kommunikationsdienste sowie die Direktion Währung, Wirtschaft und Statistik.

19*

698

Artikel 109 f Abs. 1 Halbsatz 3 EGV.

699

Artikel 8 Satz 1 der Satzung des EWI.

700

Artikel 8 Satz 2 der Satzung des EWI.

701

Artikel 9.5 der Satzung des EWI.

702

Artikel 109 f Abs. 1 Unterabsatz 2 Satz 4 EGV.

2

Β. Hoheitsrechtsübertragungen im EUV

dem Kreis der in Währungs- und Bankfragen anerkannten und erfahrenen Persönlichkeiten stammen703 und zudem Staatsangehöriger eines der Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft sein 704 . Er wird von den Regierungen der Mitgliedstaaten einvernehmlich ernannt, die diese Ernennung auf der Ebene der Staats- und Regierungschefs auf Empfehlung des Ausschusses der Präsidenten der Zentralbanken der Mitgliedstaaten bzw. bei folgenden Ernennungen auf Empfehlung des Rates des EWI und nach Anhörung des Europäischen Parlaments und des Rates vornehmen 705. Der Wahlmodus soll mehrere Zwecke erfüllen: Er soll zum einen die Ernennung eines Bewerbers garantieren, der sowohl in Fachkreisen als auch auf politischer Ebene akzeptiert ist. Die Ernennung durch die Staats- und Regierungschefs soll aber auch den Rang und die große Bedeutung des EWI und seines Präsidenten unterstreichen. Die Tatsache, daß der Ausschuß der Präsidenten der Zentralbanken bzw. der Rat des EWI die vorbereitende Empfehlung für die Person des Präsidenten des EWI ausspricht und den Vizepräsidenten des EWI ernennt, soll zum anderen zusätzlich dessen fachliche Unabhängigkeit zum Ausdruck bringen. Der Rat des EWI tritt mindestens zehnmal im Jahr zusammen706. Jedes Mitglied des Rates des EWI hat eine Stimme 707 . Für die Beschlüsse des EWI-Rates gelten unterschiedliche Mehrheitserfordernisse. Grundsätzlich werden seine Beschlüsse mit der einfachen Mehrheit der Stimmen gefaßt 708 . Für Beschlüsse hingegen, die den regulativen, organisatorischen und logistischen Rahmen für das Europäische System der Zentralbanken (ESZB) in der 3. Stufe festlegen, Beschlüsse, die die Veröffentlichung von Stellungnahmen und Empfehlungen betreffen sowie für Beschlüsse zur Entgegennahme von Währungsreserven der nationalen Zentralbanken und zur Einräumung des Status eines „sonstigen Halters" von ECU an Drittstaaten ist ein einstimmiger Beschluß erforderlich 709. Eine Mehrheit von zwei Dritteln der Mitglieder des Rates des EWI ist bei Stellungnahmen und Entscheidungen zur allgemeinen Orientierung der Geld- und

703

Artikel 109 f Abs. 1 Unterabsatz 2 Satz 2 EGV.

704

Artikel 109 f Abs. 1 Unterabsatz 2 Satz 3 EGV.

705

Artikel 109 f Abs. 1 Unterabsatz 2 Satz 1 EGV. Der Europäische Rat hat auf seiner Tagung am 29./30.10.1993 den bisherigen Präsidenten der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich Lamfalussy als ersten Präsidenten des EWI ernannt. Dieser ist am 01.07.1997 durch den Präsidenten der niederländischen Notenbank Duisenberg abgelöst worden, Schlußfolgerungen des Europäischen Rates von Dublin, Agence Europe 15.12.1996, S. 7. 706

Artikel 10.1 Satz 1 der Satzung des EWI.

707

Artikel 10.2 der Satzung des EWI.

708

Artikel 10.3 der Satzung des EWI.

709

Artikel 10.4 der Satzung des EWI.

IV. Europäische Gemeinschaft

29

Wechselkurspolitik an den Rat sowie die Regierungen und Währungsbehörden der Mitgliedstaaten, bei Entscheidungen im Zusammenhang mit der Agententätigkeit des EWI in bezug auf die Währungsreserven der nationalen Zentralbanken sowie bei Entscheidungen über die Finanzmittel und die Liquidation des EWI erforderlich 710. Das EWI und die Gemeinschaftsorgane arbeiten zusammen. So kann der Präsident des Rates und ein Mitglied der Kommission an den Sitzung des EWIRates teilnehmen; sie besitzen aber kein Stimmrecht 711. Der Präsident des EWI wird zur Teilnahme an den Tagungen des Rates eingeladen, wenn dieser Fragen im Zusammenhang mit den Zielen und Aufgaben des EWI erörtert 712 . Der Präsident des EWI kann auf Ersuchen des Europäischen Parlaments oder auf seine Initiative hin von den zuständigen Ausschüssen des Europäischen Parlaments gehört werden 713 . Daneben ist das EWI gehalten, einen Jahresbericht über seine Tätigkeit sowie über die Währungs- und Finanzlage in der Europäischen Gemeinschaft zu erstellen 714. Dieser Jahresbericht wird dem Europäischen Parlament, dem Rat, der Kommission sowie dem Europäischen Rat vorgelegt.

(b) Aufgaben des Europäischen Währungsinstituts Das EWI nimmt unterschiedliche Aufgaben wahr. Diese lassen sich in zwei Bereiche aufteilen: Das EWI nimmt in der 2. Stufe zum einen die Aufgaben wahr, die der zu Beginn der 2. Stufe aufgelöste Ausschuß der Präsidenten der Zentralbanken der Mitgliedstaaten wahrgenommen hat 7 1 5 , nämlich die Verstärkung der Zusammenarbeit zwischen den nationalen Zentralbanken, die Koordinierung der Geldpolitiken der Mitgliedstaaten mit dem Ziel, die Preisstabilität aufrechtzuerhalten, die Durchführung von Konsultationen zu Fragen, die in die Zuständigkeit der nationalen Zentralbanken fallen und die Stabilität der Finanzinstitute und -märkte berühren 716. Darüber hinaus hat das EWI weitere Aufga-

710

Artikel 10.4 Unterabsatz 2 der Satzung des EWI.

711

Artikel 11.1 der Satzung des EWI.

712

Artikel 11.2 der Satzung des EWI.

713

Artikel 11.3 Satz 2 der Satzung des EWI.

714

Artikel 11.3 Satz 1 der Satzung des EWI. Es hat im April 1995 den ersten Jahresbericht für die Jahre 1993 und 1994 vorgelegt. 715 716

Artikel 1.3 der Satzung des EWI.

Artikel 109 f Abs. 2 Spiegelstriche 1, 2 und 4 EGV. Hinsichtlich des 4. Spiegelstrichs bedeutet dies, daß die Zuständigkeit für die Durchführung einer gründlichen Aufsicht bei den nationalen Zentralbanken verbleibt, während das EWI mit der Aufgabe

2

Β. Hoheitsrechtsübertragungen im EUV

ben, nämlich die des EFWZ, der aufgelöst wird 7 1 7 , also die Erleichterung der Verwendung des ECU sowie die Überwachung des reibungslosen Funktionierens des ECU-Verrechungssystems 718 und des E W S 7 1 9 . Zur Erfüllung dieser Aufgaben obliegt dem EWI die Multilateralisierung der aus den Interventionen der nationalen Zentralbanken in Gemeinschaftswährungen entstehenden Salden und des innergemeinschaftlichen Saldenausgleichs, die Verwaltung des im Abkommen vom 13. März 1979 zwischen den Zentralbanken der Mitgliedstaaten der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft über die Funktionsweise des Europäischen Währungssystems vorgesehenen Systems der sehr kurzfristigen Finanzierung sowie des kurzfristigen Währungsbeistands, das in der geänderten Fassung des Abkommens vom 9. Februar 1970 zwischen den Zentralbanken der Mitgliedstaaten der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft vorgesehen war und die Erfüllung der Aufgaben nach Artikel 11 der Verordnung (EWG) Nr. 1969/88 des Rates vom 24. Juni 1988 zur Einführung eines einheitlichen Systems des mittelfristigen Beistands zur Stützung der Zahlungsbilanzen der Mitgliedstaaten720. Das EWI übernimmt damit auch die Aufgaben des Ausschusses der Zentralbanken 721. Das EWI führt darüber hinaus regelmäßige Konsultationen über den geldpolitischen Kurs und die Anwendung geldpolitischer Instrumente durch die Mitgliedstaaten durch 722 . Es ist anzuhören, bevor die nationalen Wäh-

betraut ist, die Zusammenarbeit bei Fragen der Aufsicht der die Institute überlagernden Ebenen zufördern, die für die Stabilität der Finanzinstitute und -märkte von Bedeutung sind, EWI-Jahresbericht 1994, S. 89. Um diese Arbeit leisten zu können, wird das EWI vom Unterausschuß Bankenaufsicht unterstützt, der sich aus Vertretern der Zentralbanken und der dafür besonders zuständigen Aufsichtsämter zusammensetzt. 717

Der EFWZ wird gemäß Artikel 1.3 der Satzung des EWI aufgelöst. Sämtliche Aktiva und Passiva des EFWZ gehen automatisch auf das EWI über. 718

Artikel 109 f Abs. 2 Spiegelstriche 5 und 6 EGV.

719

Artikel 109 f Abs. 2 Spiegelstrich 3 EGV. Insbesondere diese Aufgabe ist allerdings durch die erweiterten Bandbreiten im Rahmen des EWS erschwert worden, Weber, JZ 1994, S. 55. Sie führen jedoch nicht zu einem Wegfall der Geschäftsgrundlage für die 2. Stufe. Die Finanzminister und Zentralbankpräsidenten haben in ihrem Beschluß vom 02.08.1993 ausdrücklich ihre Entschlossenheit zum Eintritt in die 2. Stufe bekräftigt, Kommuniqué der EG, in: Deutsche Bundesbank, Monatsberichte 1993, S. 20. 720

Artikel 6.1 der Satzung des EWI.

72 1

Pipkorn, CMLR 1994, S. 283; ders., EuR 1994, Beiheft 1, S. 90. Der Ausschuß der Präsidenten der Zentralbanken wird aufgelöst, Artikel 109 f Abs. 1 Unterabsatz 3 EGV. Zur Tätigkeit des EWI bei der Verwaltung der EWS-Mechanismen EWIJahresbericht 1996, S. 102 f. 722

Artikel 4.1 Unterabsatz 2 Spiegelstrich 1 der Satzung des EWI.

IV. Europäische Gemeinschaft

29

rungsbehörden Rechtsvorschriften erlassen, die in den Zuständigkeitsbereich des EWI fallen 723 . Das EWI soll die Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten aber nicht nur koordinieren, sondern es soll diese auch beraten. Der Rat des EWI kann Stellungnahmen oder Empfehlungen zur allgemeinen Orientierung der Geld- und der Wechselkurspolitik der einzelnen Mitgliedstaaten sowie zu deren diesbezüglichen Maßnahmen abgeben, den Regierungen und dem Rat Stellungnahmen oder Empfehlungen zu Maßnahmen unterbreiten, die die interne oder externe Währungssituation in der Europäischen Gemeinschaft und insbesondere das Funktionieren des EWS beeinflussen könnten 724 , und den Währungsbehörden der Mitgliedstaaten Empfehlungen zur Durchführung ihrer Währungspolitik geben 725 . Es soll also die Zusammenarbeit der nationalen Zentralbanken verstärken 726 , es soll konsultieren, koordinieren und beraten. Durch die Bündelung der Aufgaben des Ausschusses der Präsidenten der Zentralbanken und des EFWZ steht mit dem EWI erstmals eine zentrale Einrichtung zur Verfügung, die auf der Grundlage von Gemeinschaftsrecht auf dem Gebiet der Koordination der Geldpolitik der Mitgliedstaaten und der Verwaltung des EWS Aufgaben übernimmt. Neben der Bündelung dieser Aufgaben in einem Organ übernimmt das EWI als zweite Aufgabe die Entwicklung der für den Übergang in die 3. Stufe erforderlichen Instrumente und Verfahren 727 . Dies soll dadurch erreicht werden, daß das EWI die Vorarbeiten leistet, die für die Errichtung des ESZB und die Verfolgung einer einheitlichen Währungspolitik und die Schaffung einer einheitli-

723

Einzelheiten legen die Entscheidung des Rates vom 22.11.1993 über die Anhörung des EWI durch die Behörden der Mitgliedstaaten zu Entwürfen für Rechtsvorschriften fest, ABl. 1993 Nr. L 332 S. 14 f. 724

So kann das EWI etwa eine kritische Stellungnahme zu einer bevorstehenden Erhöhung der Leitzinsen durch die Bundesbank auch gegen deren Willen abgeben, ZfZ 1994, S. 172. Im Jahre 1995 sind 18 Gesuche auf Anhörung beim EWI eingegangen, davon kamen 4 Gesuche vom Rat und 14 von nationalen Behörden, EWI-Jahresbericht 1995, S. 87. Im Jahre 1996 wurden 16 Ersuchen um Stellungnahmen gestellt, wobei 6 vom Rat, 3 von der Kommission und 7 von nationalen Behörden stammten, EWIJahresbericht 1996, S. 11. 725

Artikel 109 f Abs. 4 EGV.

72 6

Häde, EuZW 1992, S. 172. Es hat z.B. auf dem Gebiet der Zahlungsverkehrssysteme die Zusammenarbeit der nationalen Zentralbanken durch den Aufbau von Fernzugangsmöglichkeiten zu ausländischen Interbanküberweisungssystemen, die Erweiterung von Standardisierungen des grenzüberschreitenden Zahlungsverkehrs und durch die Schaffung von elektronischem Netzgeld ausgebaut, EWI-Jahresbericht 1996, S. 94. 72 7

Tettinger,

RIW 1992, Beilage, 3, S. 2.

Β. Hoheitsrechtsübertragungen im EUV

2

chen Währung in der 3 Stufe erforderlich sind 728 . Ihm kommt damit die Aufgabe der maßgeblichen Vorbereitung der 3. Stufe z u 7 2 9 . Es hat zur Aufgabe - die Instrumente und Verfahren zu entwickeln, die zur Durchführung einer einheitlichen Geld- und Währungspolitik in der dritten Stufe erforderlich sind, - bei Bedarf die Harmonisierung der Bestimmungen und Gepflogenheiten auf dem Gebiet der Erhebung, Zusammenstellung und Weitergabe statistischer Daten in seinem Zuständigkeitsbereich zu fördern, - die Regeln fur die Geschäfte der nationalen Zentralbanken im Rahmen des ESBZ auszuarbeiten, - die Effizienz des grenzüberschreitenden Zahlungsverkehrs zu fördern, - die technischen Vorarbeiten für die ECU-Banknoten zu überwachen. 730 Die Aufgaben zur Vorbereitung der 3. Stufe lassen sich damit in zwei Bereiche aufteilen. Es handelt sich zum einen um verwaltungstechnische Aufgaben, wie etwa die technischen Vorarbeiten für die Euro-Banknoten 731. So war man sich unter den beteiligten Regierungen und Zentralbanken bewußt, daß Druck und Ausgabe von Banknoten eine erhebliche Vorlaufzeit erfordern werden 732 . Aufgrund dessen hat das EWI vorgeschlagen, daß mit der Einführung des Euro

728

Artikel 2 der Satzung des EWI.

72 9

Simson/Schwarze, S. 46; Häde, EuZW 1992, S. 172. Angesichts der Komplexität der Aufgaben, des Zusammenwirkens verschiedener Tätigkeitsbereiche und Institutionen und der kurzen Zeit, die für die Vorbereitungsarbeiten zur Verfügung stand, hat der EWI-Rat die Arbeiten auf der Grundlage eines umfassenden Plans organisiert, der die Hauptlinien seiner Tätigkeit festlegt. Dieser Plan, der als Leitfaden zur Organisation, Überwachung und Bewertung der verschiedenen Tätigkeiten dient, die von den Mitarbeitern des EWI, den Unterausschüssen und den Arbeitsgruppen durchgeführt werden, enthält die wichtigsten Themen, die im Zusammenhang mit den Vorbereitungsarbeiten behandelt werden müssen. Er führt die Arbeitsprogramme der beteiligten Unterausschüsse und Arbeitsgruppen auf und legt den Zeitablauf zur Behandlung dieser Themen im EWI-Rat fest, EWI-Jahresbericht 1994, S. 63. 730

Artikel 109 f Abs. 3 EGV. Zu den Schwerpunkten der Vorbereitungsarbeiten, EWI-Jahresbericht 1994, S. 73 ff. 731

Zu den Ergebnissen der Vorbereitung der Euro-Banknoten EWI-Jahresbericht 1996, S. 81 ff. 732 So befanden sich etwa Ende 1994 in den 15 Mitgliedstaaten 12 Milliarden Banknoten im Umlauf und weitere 8 Milliarden Banknoten im Vorratsbestand. 6,5 Milliarden Banknoten wurden im Auftrag der nationalen Zentralbanken neu gedruckt.

IV. Europäische Gemeinschaft

297

Anfang des Jahres 2002 begonnen werden solle und daß der Euro die nationalen Währungen bis spätestens Mitte 2002 ersetzen soll 7 3 3 . Betreffend die Frage der Gestaltung der Banknotenserie wurde ein beratender Ausschuß gegründet, der sich aus Sachverständigen für Geschichte, Psychologie und graphische Gestaltung zusammensetzte734. Nachdem dieser zunächst im Hinblick auf das Erscheinungsbild der Banknoten zwei Möglichkeiten vorgeschlagen hatte, nämlich die Ausgabe vollständig übereinstimmender Banknoten im gesamten gemeinsamen Währungsgebiet einerseits oder andererseits Banknoten, die auf der einen Seite übereinstimmen, die aber auf der anderen Seite jeweils ein kleines nationales Merkmal tragen sollten, wurde die endgültige Banknotenserie des Euro anläßlich des Europäischen Rates von Dublin am 13./14. Dezember 1996 vorgestellt 735. Hinsichtlich der Zahl und Stückelung sowie der Abgrenzung zwischen den Noten und Münzen der gemeinsamen Währung wurde festgelegt, daß der höchste Nennwert der Münzen zwei Euro und der geringste Nennwert der Banknoten fünf Euro betragen soll. Zum anderen besitzt das EWI aber auch gestalterische Aufgaben, die über bloße Koordinationsaufgaben hinausgehen, wie etwa die Entwicklung der Instrumente und Verfahren zur Durchführung einer einheitlichen Geld- und Währungspolitik 736. Es obliegt dem EWI, bis zum 31. Dezember 1996 in regulativer, organisatorischer und logistischer Hinsicht den Rahmen festzulegen, den das ESZB zur Erfüllung seiner Aufgaben in der 3. Stufe benötigt 737 . Darüber hinaus kann der Rat auf Vorschlag der Kommission und nach Anhörung des Europäischen Parlaments und des EWI durch einstimmigen Beschluß weitere Aufgaben im Rahmen der Vorbereitung der 3. Stufe auf das EWI übertragen 738 . Als Forum gebündelten Sachverstands soll das EWI also die Vorarbeiten für die 3. Stufe und für das ESZB leisten und so dessen Einrichtung ermöglichen.

733

Der Übergang zur einheitlichen Währung, November 1995, Anhang I, Zusammenfassend EWI-Jahresbericht 1995, S. 48 ff. 734

EWI-Jahresbericht 1994, S. 79 f.

735

Der Europäische Rat begrüßte die vom EWI vorgelegten Entwürfe für die Eurobanknoten ebenso wie die Vorkehrungen der Kommission für den Wettbewerb für Entwürfe der Münzen, Schlußfolgerungen des Europäischen Rates von Dublin, Agence Europe 15.12.1996, S. 7. 73 6

Simson/Schwarze,

S. 46.

737

Artikel 109 f Abs. 3 Unterabsatz 2 EGV.

738

Artikel 109 f Abs. 7 EGV.

2

Β. Hoheitsrechtsübertragungen im EUV

(c) Handlungsbeftignisse des Europäischen Währungsinstituts Dem EWI stehen zur Erfüllung seiner Aufgaben unterschiedliche Instrumente zur Verfügung. Zur Erfüllung der Aufgaben, die vormals durch den Ausschuß der Zentralbankpräsidenten und den EFWZ wahrgenommenen wurden, stehen dem EWI Kompetenzen zur Koordination und Überwachung z u 7 3 9 . Es kann von den nationalen Zentralbanken Währungsreserven entgegennehmen und zum Zwecke der Durchführung des EWS-Abkommens ECU als Gegenwert für die Reserveaktiva ausgeben740. Diese ECU werden vom EWI und den Zentralbanken zum Saldenausgleich und für Geschäfte zwischen den Zentralbanken und dem EWI verwendet 741. Die erforderlichen Verwaltungsmaßnahmen trifft das E W I 7 4 2 . Es kann darüber hinaus Währungsbehörden von Drittländern den Status eines „sonstigen Halters" von ECU verleihen und die Bedingungen festlegen, zu denen diese ECU erworben, verwahrt oder verwendet werden können 7 4 3 . Das EWI ist weiter befugt, auf Ersuchen der Zentralbanken als deren Agent Währungsreserven zu halten und zu verwalten 744 . Die Geschäfte mit diesen Reserven dürfen die Währungs- und Wechselkurspolitik der zuständigen Währungsbehörden der Mitgliedstaaten jedoch nicht beeinträchtigen, und sie müssen den Zielen des EWI und dem reibungslosen Funktionieren des Wechselkursmechanismus des EWS entsprechen745. Die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten und ihrer Zentralbanken für die Geldpolitik wird ausdrücklich anerkannt. So darf durch die Tätigkeit des EWI als Agent nicht die Möglichkeit begründet werden, daß das EWI durch eigene Geschäfte mit diesen Reserven die Geld- und Wechselkurspolitik der mitgliedstaatlichen Währungsbehörden beeinträchtigt 746. Zur Erfüllung seiner beratenden Aufgabe wird das EWI innerhalb der Grenzen und unter den Bedingungen, die der Rat mit qualifizierter Mehrheit auf Vorschlag der Kommission und nach Anhörung des Europäischen Parlaments

739

ZfZ 1994, S. 76.

740

Artikel 6.2 Satz 1 der Satzung des EWI.

741

Artikel 6.2 Satz 2 der Satzung des EWI.

742

Artikel 6.2 Satz 3 der Satzung des EWI.

743

Artikel 6.3 der Satzung des EWI.

744 J 994 w u r ( j e noch |cein solches Ersuchen an das EWI gestellt, EWI-Jahresbericht 1994, S. 64. Gewinne und Verluste bei diesen Reserven gehen zugunsten bzw. zu Lasten der nationalen Zentralbank, die die Reserven einlegt. Die Erfüllung dieser Aufgabe setzt den Abschluß bilateraler Verträge voraus, Artikel 6.4 Satz 2 der Satzung des EWI. 745

Artikel 6.4 Satz 3 der Satzung des EWI.

74 6

Hahn/Siebelt, F I, Rn. 79, in: Dauses; ZfZ 1994, S. 76.

IV. Europäische Gemeinschaft

29

und des EWI festlegt, von den Behörden der Mitgliedstaaten zu allen Entwürfen für Rechtsvorschriften in seinem Zuständigkeitsbereich angehört 747. Dies gilt insbesondere für alle Entwürfe für Rechtsvorschriften im Hinblick auf die Festlegung des Rahmens für das ESZB 7 4 8 . Die Konsultationspflicht des EWI ist im einzelnen durch die Entscheidung 93/717/EG des Rates präzisiert worden 749 . Danach haben die nationalen Rechtsetzungsorgane das EWI in den Bereichen Währungsrecht, Status der ECU und Zahlungsmittel, Satzung und Kompetenzen der nationalen Zentralbanken sowie geldpolitische Instrumente, Erhebung, Zusammenstellung und Weitergabe von Währungs-, Finanz-, Bank- und Zahlungsbilanzstatistiken, Verrechnungs- und Zahlungssysteme, insbesondere für grenzüberschreitende Transaktionen und für Finanzinstitute geltende Regeln, soweit sie Einfluß auf die Stabilität der Finanzinstitute und der Finanzmärkte haben, anzuhören 750. Durch die Anhörung soll frühzeitig auf eine gleichgerichtete Entwicklung der für die Geld- und Wechselkurspolitik relevanten Rechtsvorschriften in der Europäischen Gemeinschaft und in den Mitgliedstaaten hingewirkt werden, denn eine funktionierende einheitliche Geldpolitik in der 3. Stufe setzt einheitliche rechtliche Rahmenbedingungen voraus 751 . Die ebenfalls der Beratung dienenden Stellungnahmen und Empfehlungen des EWI können bei einstimmigem Beschluß veröffentlicht werden 752 . Sie richten sich sowohl an die nationalen Behörden der Mitgliedstaaten753 als auch

747

Artikel 109 f Abs. 6 Unterabsatz 2 EGV.

748

Artikel 5.3 Unterabsatz 2 der Satzung des EWI.

749

ABl. 1993 Nr. L 332 S. 14.

750

Artikel 1 der Entscheidung 93/717/EWG.

751

ZfZ 1994, S. 75. Im Jahre 1994 sind 12 Gesuche auf Anhörung beim EWI eingegangen. 5 kamen vom Rat und 7 von nationalen Behörden. Die Gesuche des Rates betrafen: eine Verordnung zur Kodifizierung der bestehenden Rechtsvorschriften der Gemeinschaft zur Definition der ECU nach Inkrafttreten des Vertrages über die Europäische Union, eine Verordnung zur Tätigkeit der Gemeinschaft im Bereich der Statistik, die Änderung einer Richtlinie über einen Solvabilitätseffizienten für Kreditinstitute als Ergebnis der Zulassung verschiedener Formen des vertraglichen Nettoausgleichs, die Änderung einer Richtlinie zu den Organismen für gemeinsame Anlagen in Wertpapieren (OGAW) und die Änderung einer Ratsentscheidung zur Errichtung eines Ausschusses für Währungs-, Finanz- und Zahlungsbilanzstatistiken. Vier der Anhörungen der nationalen Behörden betrafen die Stellung und die Vollmachten der nationalen Zentralbanken oder Instrumente der Geldpolitik, im übrigen ging es um die Stabilität von Finanzinstituten und -märkten, EWI-Jahresbericht 1994, S. 94. 752

Artikel 109 f Abs. 5 EGV. Die Möglichkeit der Veröffentlichung kann dazu führen, daß den Stellungnahmen und Empfehlungen ein gewisser Nachdruck verschafft wird, Hahn/Siebelt, F I, Rn. 80, in: Dauses. 75 3

Potacs, EuR 1993, S. 27.

0

Β. Hoheitsrechtsübertragungen im EUV

an die Gemeinschaftsorgane. Stellungnahmen, Empfehlungen und Leitlinien sind aber nicht verbindlich 754. Lediglich die Entscheidungen des EWI, wie etwa im Fall der Agententätigkeit, sind in allen Teilen für denjenigen verbindlich, an den sie gerichtet sind 755 . Auch diese Unterscheidung macht deutlich, daß das EWI in erster Linie koordinierende und damit beratende Aufgaben mit dem Ziel der gleichgerichteten Ausrichtung der Geldpolitiken der Mitgliedstaaten besitzt und nicht primär ein rechtsetzendes Organ ist. Das EWI erfüllt seine Aufgaben unbeschadet der Verantwortlichkeit der für die Geldpolitik in den einzelnen Mitgliedstaaten zuständigen Behörden 756. Diese Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten während der 2. Stufe der Währungsunion werden ausdrücklich anerkannt 757. Die nationalen Währungsbehörden behalten damit die alleinige Entscheidungsbefugnis in geld- und wechselkurspolitischen Angelegenheiten. Ihre Kompetenzen gehen nicht auf das EWI über 758 . Andererseits wird auf dem Gebiet der nationalen Währungspolitik den Behörden der Mitgliedstaaten erstmals ein Organ zur Seite gestellt, das Währungspolitik unter besonderer Berücksichtigung der Interessen der Europäischen Gemeinschaft und mit Blick auf die Vergemeinschaftung der Währungspolitik in der 3. Stufe betreiben soll.

(3) Ergebnis Die am 1. Januar 1994 begonnene 2. Stufe der Währungsunion führt zum einen die begonnene Koordinierung der Geld- und Wechselkurspolitiken der Mitgliedstaaten fort. Während ihrer Dauer sollen darüber hinaus durch die nochmals verstärkte Koordinierung und die Vorbereitung einer einheitlichen Geldpolitik weitere Hindernisse auf dem Weg zu einem einheitlichen Währungsgebiet ausgeräumt werden. Ausdruck dieser verstärkten Zusammenarbeit ist die Aufnahme der Regelungen über die währungspolitische Zusammenarbeit in den EG-Vertrag. Mit Beginn der 2. Stufe kommt es erstmals auch zu institutionellen Veränderungen. Als neues Gemeinschaftsorgan wird das EWI errichtet, das während dieser Stufe einerseits die Aufgaben im Rahmen der bisherigen Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten auf währungspolitischem Gebiet übernimmt und andererseits die Vorarbeiten leisten soll, die für den Übergang in die 3. Stufe erforder-

754

Artikel 15.2 und 15.3 der Satzung des EWI.

755

Artikel 15.4 der Satzung des EWI.

756

Artikel 3.1 der Satzung des EWI.

75 7

Hahn/Siebelt, F I, Rn. 79, in: Dauses.

75 8

Häde, EuZW 1992, S. 171; ZfZ 1994, S. 75; Kortz, S. 51.

IV. Europäische Gemeinschaft lieh sind. Das EWI übernimmt zum einen die der Europäischen Gemeinschaft schon in der 1. Stufe zukommende Aufgabe der Koordinierung der Geldpolitiken und deren Ausrichtung auf konvergente Ziele. Es verwaltet die bestehenden Formen der währungspolitischen Zusammenarbeit, insbesondere das EWS, koordiniert die Zusammenarbeit der Zentralbanken und die Geldpolitik der Mitgliedstaaten und berät diese. Die Errichtung des EWI hat insoweit zwar keine Ausweitung der Aufgaben der Gemeinschaft auf dem Gebiet der Währungspolitik zur Folge. Bedeutsam ist jedoch, daß mit dem EWI erstmals ein Organ aufgrund Gemeinschaftsrechts geschaffen wurde, das als „bündelndes Organ" die koordinierenden, beratenden und verwaltenden Aufgaben der Europäischen Gemeinschaft auf dem Gebiet der Währungspolitik umfassend wahrnimmt. Darüber hinaus übernimmt das EWI aber auch die Aufgabe der Vorbereitung für den Übergang in die 3. Stufe. Es soll Instrumente und Verfahren zur Durchführung einer einheitlichen Währungspolitik entwickeln und damit den Rahmen festlegen, den eine „vergemeinschaftete" Währungspolitik in regulativer, organisatorischer und logistischer Hinsicht in der 3. Stufe benötigt. Damit leistet erstmals ein Gemeinschaftsorgan konzeptionelle Arbeit auf dem Gebiet der Währungspolitik. Da das EWI von den Mitgliedstaaten unabhängig ist, verzichten die Mitgliedstaaten diesbezüglich erstmals auf die Ausübung währungspolitischer Kompetenzen. Das EWI besitzt gleichwohl auf dem Gebiet der Währungspolitik keine Kompetenzen zur Gestaltung und Durchführung der nationalen Geld- und Wechselkurspolitiken, denn in der 2. Stufe stehen diese Kompetenzen weiterhin ausschließlich den Mitgliedstaaten zu. Aufgabe des EWI ist damit nicht die Vergemeinschaftung der Währungspolitik, sondern die Verstärkung der Zusammenarbeit zwischen den nationalen Zentralbanken und die organisatorische und logistische Vorbereitung der 3. Stufe. Die 2. Stufe bringt erstmals den Willen der Mitgliedstaaten zum Ausdruck, über eine bloße Koordinierung der währungspolitischen Zusammenarbeit hinaus eine einheitliche Geld- und Wechselkurspolitik betreiben zu wollen, die nicht lediglich das Ergebnis koordinierten Vorgehens, sondern eines auf Gemeinschaftsrecht basierenden und durch Gemeinschaftsorgane vorbereiteten und durchgeführten Prozesses ist. Die Vorbereitung übernehmen nicht die Mitgliedstaaten selbst, sondern das von ihnen unabhängige Gemeinschaftsorgan EWI. Gleichwohl verbleiben die währungspolitischen Kompetenzen selbst in der 2. Stufe noch in der Hand der Mitgliedstaaten. Es entsteht also eine Situation, in der die Mitgliedstaaten eine eigene nationale Währungspolitik betreiben, bei der sie durch das EWI beraten werden, während das EWI gleichzeitig die Vorarbeiten für die Übertragung eben dieser Kompetenzen auf die Gemeinschaft durchführt. Mit der 2. Stufe wird folglich ein wichtiger Schritt in Richtung auf die Vergemeinschaftung der Währungspolitik vorgenommen. Sie ist anders als die 1. Stufe nicht nur eine Vorbereitungsphase, sondern darüber hinaus auch

302

Β. Hoheitsrechtsübertragungen im EUV

eine Übergangsstufe auf dem Weg zu einer gemeinschaftlichen Währungspolitik.

cc) Dritte Stufe Die 3. Stufe der Währungsunion soll den Endpunkt auf dem Weg zu einer gemeinschaftlichen Währungspolitik bilden, und sie soll den Weg zu einer vergemeinschafteten Währungspolitik unumkehrbar abschließen759. Die Voraussetzungen für den Beginn der 3. Stufe ((1)) und das Funktionieren der 3. Stufe ((2)) werden im EG-Vertrag und den Protokollen des EU-Vertrages geregelt.

(I)

Voraussetzungen für den Eintritt

in die dritte Stufe

Anders als die 2. Stufe beginnt die 3. Stufe der Währungsunion nicht in jedem Fall automatisch zu einem bestimmten Datum. Für den Beginn der 3. Stufe enthält der EG-Vertrag vielmehr zwei Varianten: Der Beginn der 3. Stufe hätte entweder bis spätestens 31. Dezember 1996 durch einen Beschluß des Rates, der in der Zusammensetzung der Staats- und Regierungschefs tagt, festgelegt werden können 760 . Für den Fall, daß der Rat einen solchen Beschluß nicht faßt und den Zeitpunkt ftir den Beginn der 3. Stufe nicht bis Ende 1997 festlegt, bestimmt der EG-Vertrag, daß die 3. Stufe am 1. Januar 1999 beginnt, wobei allerdings bestimmte Voraussetzungen erfüllt sein müssen761. Voraussetzung für den Eintritt in die 3. Stufe ist in beiden Fällen die Erfüllung von Konvergenzkriterien durch die Mitgliedstaaten ((a)). Werden diese von den Mitgliedstaaten erfüllt, können die Gemeinschaftsorgane den Übergang in die 3. Stufe beschließen ((b)).

(a) Konvergenzkriterien Ausgangspunkt und Grundlage für die Entscheidung, ob und wann die 3. Stufe beginnt, ist das Erreichen eines hohen Grades an dauerhafter Konver-

759

Die Mitgliedstaaten haben sich zur Unumkehrbarkeit des Übergangs der Gemeinschaft zur 3. Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion bekannt, Protokoll über den Übergang zur dritten Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion, Protokoll Nr. 10 der Schlußakte des EUV. Dieses Protokoll hat rechtlich die Qualität von vertraglichem Gemeinschaftsrecht und schließt jegliches Blokaderecht der Mitgliedstaaten aus, Seidel, Rechtliche Probleme, S. 3. 760

Artikel 109 j Abs. 2 - 4 EGV.

761

Artikel 109 j Abs. 4 EGV.

IV. Europäische Gemeinschaft

genz762

D i e s e r w j r d anhand von vier Kriterien, den sog. Konvergenzkriterien des Artikels 109 j Absatz 1 E G V 7 6 3 , festgemacht. Die Mitgliedstaaten haben folgende Kriterien zu erfüllen: -

Erreichung eines hohen Grades an Preisstabilität, ersichtlich aus einer Inflationsrate, die der Inflationsrate jener - höchstens drei - Mitgliedstaaten nahe kommt, die auf dem Gebiet der Preisstabilität das beste Ergebnis erzielt haben;

- eine auf Dauer tragbare Finanzlage der öffentlichen Hand, ersichtlich aus einer öffentlichen Haushaltslage ohne übermäßiges Defizit im Sinne des Artikels 104 c Absatz 6; -

Einhaltung der normalen Bandbreiten des Wechselkursmechanismus des Europäischen Währungssystems seit mindestens zwei Jahren ohne Abwertung gegenüber der Währung eines anderen Mitgliedstaats;

-

Dauerhaftigkeit der von dem Mitgliedstaat erreichten Konvergenz und seiner Teilnahme am Wechselkursmechanismus des Europäischen Währungssystems, die im Niveau der langfristigen Zinssätze zum Ausdruck kommt. 764

Damit sind Preisstabilität, gesunde Finanzlagen der öffentlichen Hand, Stabilität der Wechselkurse und langfristige Zinssätze Bewertungskriterien und Vorbedingung für den Übergang in die 3. Stufe 765 . Diese vier Kriterien werden im Protokoll über die Konvergenzkriterien nach Artikel 109 j des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft 766 näher umschrieben.

762

Das Erreichen einer Stabilitätsgemeinschaft ist in zahlreichen Bestimmungen sowohl des EUV als auch des EGV als Wesensmerkmal der Währungsunion erwähnt, so 6. Erwägungsgrund der Präambel des EUV, Artikel 2, 3 a, 105, 109, 109 j Abs. 1 Satz 3 Spiegelstrich 1 EGV. 76 3 Iglesias , EuGRZ 1996, S. 128, hält diese für einen grundlegenden Bestandteil des EGV. Die auf nationaler Ebene als wirtschaftspolitische Optionen bezeichneten Kriterien hätten eine gewisse Ideologisierung der Wirtschaftsordnung der EG zur Folge. 764

Artikel 109 j Abs. 1 EGV.

765

So ausdrücklich Zwischenbericht des Rates an den Europäischen Rat für dessen Tagung in Florenz, Dok. 7940/96, S. 2. Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung formuliert in seinem Jahresgutachten 1996: Die Kriterien für den Beitritt zur Währungsunion sind vereinbart worden, um die Funktionstüchtigkeit des neu zu schaffenden Geldwesens zu sichern, der EZB Glaubwürdigkeit zu geben und die Währungsunion als Stabilitätsgemeinschaft zu etablieren, FAZ vom 15.11.1995, S. 19. 766

Protokoll Nr. 6 der Schlußakte des EUV. Der Rat kann Änderungen und Vorschriften zur Festlegung der Einzelheiten der Konvergenzkriterien nur einstimmig beschließen, Artikel 6 des Protokolls über die Konvergenzkriterien. Insofern ist der Einschätzung des Bundesverfassungsgerichts zuzustimmen, daß die Konvergenzkriterien als solche nicht zur Disposition des Rates stehen, BVerfGE 89, S. 155, 202. Vielmehr können sie durch eine einstimmig verabschiedete Ratsverordnung geändert

0

Β. Hoheitsrechtsübertragungen im EUV

Die Berücksichtigung der Inflationsrate bei der Frage, ob ein Mitgliedstaat einen gewissen Grad an dauerhafter Konvergenz erreicht hat, beruht auf der Einschätzung, daß alle Bemühungen, eine Stabilitätsgemeinschaft zu schaffen, umsonst sind, solange die Stabilität des Geldwertes nicht gesichert ist 7 6 7 . Die Forderung nach einem hohen Grad an Preisstabilität beinhaltet (...), daß ein Mitgliedstaat eine anhaltende Preisstabilität und eine während des letzten Jahres vor der Prüfung gemessene durchschnittliche Inflationsrate aufweisen muß, die um nicht mehr als 1,5 Prozentpunkte über der Inflationsrate jener - höchstens drei - Mitgliedstaaten liegt, die auf dem Gebiet der Preisstabilität das beste Ergebnis erzielt haben. Die Inflation wird anhand des Verbraucherpreisindexes auf vergleichbarer Grundlage unter Berücksichtigung der unterschiedlichen Definitionen in den einzelnen Mitgliedstaaten gemessen.768 Diese Konkretisierung war erforderlich, weil die pauschale Forderung, daß der zu überprüfende Staat dem Wert der Mitgliedstaaten, die auf dem Gebiet der Preisstabilität das beste Ergebnis erzielt haben, nahekommen muß, für die praktische Anwendung zu unbestimmt war 7 6 9 . Deshalb legt Artikel 1 des Protokolls über die Konvergenzkriterien die Quote, um die die Inflationsrate im Verhältnis zu anderen Mitgliedstaaten überschritten werden darf, mit 1,5 % exakt fest 770 . Eine Überschreitung dieses Wertes, sei sie auch noch so geringfügig, hat zur Folge, daß der zu prüfende Staat das Kriterium der Preisstabilität nicht erfüllt 771 . Weiterhin wird durch Artikel 1 des Protokolls über die Konvergenzkriterien auch der maßgebliche Zeitraum, innerhalb dessen Preisstabilität vorliegen muß, konkretisiert: Bezugszeitraum ist zum einen das der Prüfung vorausgehende Jahr. Der in Artikel 109 j EGV geforderte hohe Grad an Preisstabilität ergibt sich aber nicht nur anhand dieser kurzfristigen Betrachtung der Inflationsrate, sondern setzt zum anderen auch eine anhaltende Preisstabilität

werden. Es bedarf zu ihrer Änderung also nicht des Verfahrens nach Artikel Ν EUV. Im Ergebnis wie hier Kortz, S. 112 f.; Wölker, EuR 1996, S. 322. 76 7

Winterberg,

768

Artikel 1 des Protokolls über die Konvergenzkriterien.

76 9

Roth, EuR 1994, Beiheft 1, S. 57.

S. 12 m.w.N.

770 j 994 e r r e i c h t e n oder bewahrten Belgien, Dänemark, Frankreich, Irland, Luxemburg, die Niederlande und Großbritannien durchschnittliche Preissteigerungsraten von 2 bis 2,5 % oder darunter. Die Verbraucherpreise erhöhten sich in Deutschland um 3 %, die Preissteigerungsrate in Spanien, Portugal und Italien lag zwischen 3,9 % und 5,2 %. Griechenland wies eine Preissteigerungsrate von etwas unter 11 % auf, EWIJahresbericht 1994, S. 2. Zur langfristigen Preisentwicklung in der EG EWIJahresbericht 1995, S. 25. 1996 betrug die durchschnittliche Inflationsrate in der EG 2,6 % und sank damit um 0,5 % im Vergleich zur Rate von 3,1 % im Jahre 1995, EWIJahresbericht 1996, S. 3. 77 1

Becker-Neetz, EWS 1996, S. 374.

IV. Europäische Gemeinschaft voraus 772 . Anders als für den kurzfristigen Bezugszeitraum des letzten Jahres enthält das Protokoll über die Konvergenzkriterien für das Kriterium der anhaltenden Preisstabilität jedoch keine Referenzwerte oder als Bezugspunkt dienende absolute Prozentwerte. Insofern besteht hinsichtlich dieses Aspektes anhaltender Preisstabilität ein Beurteilungsspielraum der Gemeinschaftsorgane 7 7 3 . Die durch Artikel 1 des Protokolls über die Konvergenzkriterien erfolgte Konkretisierung bewirkt also nicht, daß hinsichtlich des Kriteriums der Preisstabilität keinerlei Beurteilungsspielräume mehr bestehen. Preisstabilität wird nämlich nicht am Erreichen einer bezifferten Veränderungsrate in Form absoluter Quoten oder Prozentsätze festgemacht, sondern bestimmt sich lediglich relativ im Verhältnis der Mitgliedstaaten zueinander 774. Es ist somit ein anhand relativer Quoten und Prozentsätze zu ermittelndes Kriterium. Darüber hinaus ist Artikel 1 des Protokolls über die Konvergenzkriterien nicht zu entnehmen, wie sich der Referenzwert aus den ermittelten drei besten Ergebnissen ergibt. Gemäß Artikel 1 des Protokolls ist eine Inflationsrate von „höchstens" drei Mitgliedstaaten in die Betrachtung einzubeziehen. Aus der Verwendung des Plurals in Artikel 1 des Protokolls folgt, daß jedenfalls nicht nur ein anderer Mitgliedstaat als Bezugspunkt herangezogen werden kann. Damit sind entweder zwei oder drei Staaten zu berücksichtigen. Die Entscheidung, ob zwei oder drei Mitgliedstaaten herangezogen werden, muß anhand von Sinn und Zweck der Konkretisierung in Artikel 1 der Konvergenzentscheidung getroffen werden: Grundsätzlich ist ein Ergebnis um so charakteristischer für die Bewertung, je mehr Staaten für die Bildung des Durchschnittswertes herangezogen werden 775 .

77 2 77 3

Nicolaysen. Rechtsfragen der WU, S. 22.

Emmerich-Fritsche, Manipulationen.

EWS 1996, S. 79, sieht angesichts dessen, die Gefahr von

77 4

Kortz, S. 87: Emmerich-Fritsche, EWS 1996, S. 79. Ohr, S. 224, ist der Ansicht, daß das Fehlen eines absoluten Höchstwertes dazu führe, daß das 1. Konvergenzkriterium als zu „weich" einzustufen ist. So sei es denkbar, daß eine Gruppe von Ländern in die 3. Stufe eintrete, obwohl ihre durchschnittliche Inflationsrate 10 oder 20 % betrage, sofern die der 3 preisstabilsten bei durchschnittlich 8,5 bzw. 18,5% liege. Angesichts der Entwicklung der Inflationsraten der Mitgliedstaaten ist dieser theoretisch richtige Einwand jedoch realitätsfern, da derzeit nur Länder mit einer Inflationsrate von bis zu 2,6 %das 1. Konvergenzkriterium erfüllen, Winterberg, S. 13. 77 5

Emmerich-Fritsche, EWS 1996, S. 79: Herdegen, Europarecht, S. 247, halten dies nicht für zwingend, da nach dem Wortlaut offen sei, ob bei der Berechnung des Referenzwertes allein das preisstabilste oder aber die 2 oder 3 preisstabilsten Länder herangezogen würden und ob die maximal tolerierbare Differenz von 1,5% auf den Durchschnitt der jeweils preisstabilsten Länder bezogen würde oder auf den instabilsten Wert innerhalb dieser Gruppe abzustellen sei. Angesichts des Ziels der Sicherung der Preisstabilität ist jedoch eine Berechnung anhand der aussagekräftigsten Berechnungsmethode heranzuziehen. Daher hat die Kommission bei ihrem Bericht zur Lage in den 20 Uhrig

0

Β. Hoheitsrechtsübertragungen im EUV

Deshalb ist in der Regel auf drei Referenzstaaten zurückzugreifen 776. Sollte aber einer der drei Mitgliedstaaten die hinsichtlich der Inflationsrate das beste Ergebnis erzielt haben, als ökonomischer Ausreißer anzusehen sein mit der Folge, daß seine Inflationsrate kein Maßstab für ein besonders gutes Ergebnis wäre, würde seine Berücksichtigung das Ergebnis verfälschen. Ist beispielsweise die Inflationsrate eines der Staaten so schlecht, daß sie dem Ziel widerspricht, einen stabilitätsorientierten Maßstab vorzugeben, ist es sachgerecht, diesen Mitgliedstaat nicht als Referenzstaat zu berücksichtigen777. Zweites Konvergenzkriterium ist die auf Dauer tragbare Finanzlage der öffentlichen Haushalte. Die Relevanz der auf Dauer tragbaren Finanzlage der öffentlichen Haushalte für die Beurteilung, ob ein hoher Grad an dauerhafter Konvergenz erreicht ist, ergibt sich daraus, daß ein hoher Schuldenstand der öffentlichen Hand regelmäßig Druck auf die Notenbanken ausübt, eine höhere Inflation zuzulassen, da mit einer schnelleren Geldentwertung zum einen auch die Staatsschuld stärker an Wert verliert, zum anderen höhere Realeinkommen auch höhere Staatseinnahmen zur Folge haben 778 . Da dies dem vorrangigen Ziel der Preisstabilität widerspräche, ist es sinnvoll, Grenzen für die Staatsverschuldung und die jährliche Neuverschuldung der Mitgliedstaaten festzulegen. Für das zweite Kriterium legt Artikel 2 des Protokolls über die Konvergenzkriterien fest, daß das in Artikel 109 j Absatz 1 zweiter Gedankenstrich (EGV) genannte Kriterium der Finanzlage der öffentlichen Hand bedeutet, daß zum Zeitpunkt der Prüfung keine Ratsentscheidung nach Artikel 104 c Absatz 6 (...) vorliegt, wonach in dem betreffenden Mitgliedstaat ein übermäßiges Defizit besteht.779

Mitgliedstaaten im Hinblick auf die WWU, Agence Europe 15.11.1996, S. 2, bei der praktischen Prüfung der Preisstabilität den Referenzwert durch die Bildung des arithmetrischen Mittels der durchschnittlichen Inflationsrate der 3 preisstabilsten Länder Finnland, Niederlande und Deutschland ermittelt. 776 So das EWI, Fortschritte auf dem Weg zur Konvergenz, November 1996, S. 10; Becker-Neetz, EWS 1996, S. 374. 77 7

Becker-Neetz, EWS 1996, S. 374; Zeitler, S. 131.

778

Siehe oben S.237. Eine Übersicht über die Ansichten der gesamtwirtschaftlichen Auswirkungen der Konsolidierung der öffentlichen Haushalte gibt der EWIJahresbericht 1995, S. 40 f. Die sog. „kalte Progression" hat für den Staat bei konstanten Realeinkommen höhere Einnahmen zur Folge, da der Grad der Progression der Einkommensteuer an nominalen Einkommen festgemacht wird. Werden also die Einkommen nominal erhöht, um einen Kaufkraftverlust auszugleichen, dann partizipiert der Staat durch ein höheres Steuereinkommen an diesem Ausgleich überproportional, Winterberg, S. 16. 779

Artikel 2 des Protokolls über die Konvergenzkriterien.

IV. Europäische Gemeinschaft Das Kriterium einer auf Dauer tragbaren Finanzlage eines Mitgliedstaates wird also am NichtVorliegen einer ein übermäßiges Defizit feststellenden Ratsentscheidung festgemacht 780. Wie dargelegt, kann der Rat als Teil der Überwachung der Haushaltslage der Mitgliedstaaten feststellen, daß in einem Mitgliedstaat ein übermäßiges Defizit besteht781. Durch das 2. Konvergenzkriterium werden somit die Haushaltsentwicklung und die Neu- und Gesamtverschuldung der Mitgliedstaaten zu Bewertungskriterien, ob ein hoher Grad an Konvergenz erreicht ist 7 8 2 . Allerdings ist mit Blick auf das vorrangige Ziel der Währungsunion, nämlich die Sicherung der Preisstabilität, kritisiert worden, daß es an Regelungen fehle, das Kriterium der Haushaltsdisziplin dauerhaft und effektiv zu sichern. Zwar bietet der EG-Vertrag mit Artikel 103 EGV eine Grundlage für einen Dialog über die Ausrichtung der Wirtschaftspolitik 783. Auch sind die Mitgliedstaaten, unabhängig davon, ob sie an der 3. Stufe teilnehmen oder nicht, verpflichtet, übermäßige öffentliche Defizite zu vermeiden 784. Die Kompetenz zur Gestaltung der Haushaltspolitik verbleibt jedoch in der Hand der Mitgliedstaaten, so daß diese auch die Möglichkeit besitzen, eine nicht an den Vorgaben des Artikels 104 c EGV ausgerichtete nationale Haushaltspolitik zu betreiben. Zwar gelten auch nach dem Eintritt in die 3. Stufe die fiskalischen Kriterien des Artikels 104 c EGV. Während aber bis 1998 im Falle einer expansiven Haushaltspoltik mit der Entscheidung, daß der betreffende Mitgliedstaat nicht an der 3. Stufe teilnimmt, eine wirksame Sanktion zur Verfügung steht, entfällt nach dem Beginn der 3. Stufe für die teilnehmenden Mitgliedstaaten ein entsprechend nachhaltiger Sanktionsmechanismus785. Zwar sehen Artikel 104 c Ab-

78 0

Kortz, S. 93; Kirchhof FS Klein, S. 71, sieht in dem Erfordernis einer Ratsentscheidung eine Abschwächung dieses Kriteriums; ebenso Seidel, Rechtliche Probleme, S. 8, da die mangelnde Einhaltung der Schuldensgrenzen durch einen Mitgliedstaat rechtlich unerheblich ist, wenn es zu keiner Ratsentscheidung kommt. 781

Siehe oben S. 240 ff.

782

Gerade dieses Kriterium wird nach Einschätzung des EWI bisher von den Mitgliedstaaten noch nicht hinreichend erfüllt. Die nahezu unveränderten öffentlichen Haushaltslagen seien vielmehr besorgniserregend. Die Bruttoschuldenquote in der EG stieg im Jahre 1994 auf nahezu 69 % des Bruttoinlandsprodukts. Von wenigen Ausnahmen abgesehen seien keine merklichen Fortschritte beim Abbau der strukturellen Defizite erzielt worden. Das EWI schlägt vor, besonderen Nachdruck auf Ausgabenkürzungen und weniger auf Einnahmeerhöhungen zu legen, EWIJahresbericht 1994, S. 2 ff.; 52 ff. 783

Siehe oben S. 234 f.

784

Zwischenbericht des Rates an den Europäischen Rat für dessen Tagung in Florenz, Dok. 7940/96, S. 3. 785

20*

Häde, EuZW 1996, S. 139.

0

Β. Hoheitsrechtsübertragungen im EUV

sätze 9 ff. EGV in der 3. Stufe als negative Reaktion auf übergroße Defizite Sanktionen vor, doch besteht die Gefahr, daß diese Sanktionen aus politischen Gründen nicht ausgesprochen werden. Die Entscheidung über die Verhängung von Sanktionen bedarf nämlich einer Mehrheit von Zweidritteln der Stimmen des Rates. Mitgliedstaaten, deren Haushaltsdaten sich selbst in der Nähe eines übermäßigen Defizit befinden, könnten Sanktionen gegen einen anderen Mitgliedstaat in der Hoffnung verhindern, bei nächster Gelegenheit ebenfalls verschont zu bleiben. Angesichts der Notwendigkeit einer Entscheidung mit Zweidrittel der Stimmen des Rates könnte sich eine Sperrminorität ergeben, die das Aussprechen von Geldbußen unmöglich und damit den gesamten angestrebten Konsolidierungsprozeß unglaubwürdig machen würde 786 . In diesem Fall besteht keine Möglichkeit, auf die Besserung der Haushaltsdaten eines nicht stabilitätswilligen Mitgliedstaates mit Hilfe eines nachhaltig wirkenden Sanktionsmechanismus hinzuwirken 787. Insofern ergab sich die Notwendigkeit einer ergänzenden Regelung. Die Mitgliedstaaten haben sich zu diesem Zweck darauf geeinigt, die in Artikel 103 Absatz 5 EGV bestehende Möglichkeit zur Verabschiedung einer Verordnung über die verstärkte Überwachung der öffentlichen Haushalte und die Überwachung und Koordinierung der Wirtschaftspolitiken und eine Verordnung im Hinblick auf eine Beschleunigung und Klärung des Verfahrens bei einem übermäßigen Defizit auf der Grundlage des Artikels 104 c Absatz 14 Unterabsatz 2 E G V 7 8 8 zu erlassen 789. Diese bilden in

78 6

Kort:, S. 111.

787

Zeitler, S. 33; Kortz, S. 110; Häde, S. 161 f. Ein Ausschluß aus der Währungsunion ist im EGV nicht vorgesehen. Da er auch volkswirtschaftlich für alle Beteiligten mit zu hohen Kosten verbunden wäre, würde seine Androhung auch unglaubwürdig wirken, Winterberg, S. 22. 78 8 Seidel, Rechtliche Probleme, S. 16 f., sieht hierin keine Rechtsgrundlage, da der Stabilitätspakt inhaltlich über die Konkretisierung des in Artikel 104 c Abs. 11 EGV umschriebenen Sanktionsverfahren hinausgeht und die Modifizierung und Umgestaltung des Verfahrens nicht erfaßt; erforderlich sei vielmehr eine Vertragsänderung mit anschließender Ratifikation durch die Mitgliedstaaten oder die Inanspruchnahme des Artikels 235 EGV. Als Ermächtigungsgrundlage wäre auch Artikel 104 c Abs. 14 Unterabsatz EGV in Betracht gekommen, siehe hierzu Zwischenbericht des Rates an den Europäischen Rat für dessen Tagung in Florenz, Dok. 7940/96. 789

Beschluß der Finanzminister vom 12.12.1996 über den Stabilitäts- und Wachstumspakt zur dauerhaften Sicherung der Haushaltsdisziplin in der dritten Stufe der WWU, Schlußfolgerungen des Europäischen Rates von Dublin, Anlage I, Bulletin der Bundesregierung 05.03.1997, S. 199 ff. Der Europäische Rat hat die Verordnungen auf seiner Tagung am 16./17.06.1997 gebilligt, EU-Nachrichten vom 23.06.1997, S. 5. Der Rat hat sie am 07.07.1997 angenommen, ABl. 1997 L 209 S. 1.

IV. Europäische Gemeinschaft

9

Verbindung mit einer Entschließung des Europäischen Rates 790 den sog. Stabilitäts- und Wachstumspakt. Dieser soll gewährleisten, daß die Mitgliedstaaten, die in die 3. Stufe eingetreten sind, auf der Grundlage spezifischerer Anforderungen im Hinblick auf die Haushaltsdisziplin der Verpflichtung zur Vermeidung übergroßer Defizite nachkommen791. Das Verfahren zur Überwachung der Haushaltslage bei einem übermäßigen Defizit wird für alle Mitgliedstaaten, unabhängig davon, ob sie an der 3. Stufe teilnehmen oder nicht, einheitlich sein 792 . Jeder Mitgliedstaat ist verpflichtet, mittelfristig einen nahezu ausgeglichenen oder einen Überschuß aufweisenden Haushalt anzustreben 793. Mitgliedstaaten, die dem Euro-Währungsgebiet angehören, werden verpflichtet, Stabilitätsprogramme vorzulegen, in denen sie ihre mittelfristigen Haushaltsziele darlegen sowie die voraussichtliche Entwicklung der Staatsschuldenquote angeben794. Außerdem müssen die Programme die wichtigsten Prognosen zur wirtschaftlichen Entwicklung sowie die Analyse des Defizit- und des Schuldenstandes enthalten und darlegen, welche Mittel zur Erreichung des Ziels eines ausgeglichenen Haushalts ergriffen werden. Im Rahmen des Überwachungsverfahrens sind die Mitgliedstaaten, die nicht an der 3. Stufe teilnehmen, verpflichtet, Konvergenzprogramme vorzulegen 795. Kommission und Rat werden die Stabilitäts- und Konvergenzprogramme prüfen und

790 Entschließung des Europäischen Rates über den Stabilitäts- und Wachstumspakt. Anlage I der Schlußfolgerungen des Europäischen Rates von Amsterdam, Agence Europe 21.06.1997, S. 2 ff. 791 Zwischenbericht des Rates an den Europäischen Rat für dessen Tagung in Florenz, Dok. 7940/96, S. 3; Bandilla, Artikel 104 c, Rn. 40, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), Kommentar zum EUV; Siebert, Wirtschaftsdienst 1997, S. 8. Bei den Beschlüssen von Dublin handelte es sich lediglich um Absichterklärungen, denen noch keine Rechtsverbindlichkeit zukam, Winterberg, S. 25. 792

Schlußfolgerungen des Europäischen Rates von Dublin, Anlage I, Bulletin der Bundesregierung 05.03.1997, Ziff. 19, S. 199. 793

Schlußfolgerungen des Europäischen Rates von Dublin, Anlage I, Bulletin der Bundesregierung 05.03.1997, Ziff. 21, S. 199 f. 794 Schlußfolgerungen des Europäischen Rates von Dublin, Anlage I, Bulletin der Bundesregierung 05.03.1997, Ziff. 22, S. 200. Die Mitgliedstaaten verpflichten sich überdies, haushaltspolitische Korrekturmaßnahmen, die ihres Erachtens zur Erreichung der Ziele ihrer Stabilitäts- und Konvergenzprogramme erforderlich sind, zu ergreifen, wenn deutlich wird, daß eine merkliche Abweichung vom Ziel eines ausgeglichenen Haushalts besteht oder absehbar ist, Entschließung des Europäischen Rats über den Stabilitäts- und Wachstumspakt, Anlage I der Schlußfolgerungen des Europäischen Rates von Amsterdam, Agence Europe 21.06.1997, S. 2. 795

Schlußfolgerungen des Europäischen Rates von Dublin, Anlage I, Bulletin der Bundesregierung 05.03.1997, Ziff. 23, S. 200.

0

Β. Hoheitsrechtsübertragungen im EUV

die Haushaltsergebnisse der Mitgliedstaaten in bezug auf ihre mittelfristigen Ziele und Anpassungspfade beobachten, um bei einer deutlichen Verschlechterung, die zu einem übermäßigen Defizit führen könnte, eine Nrühwarnung in Form von Empfehlungen abgeben zu können 796 . Mittel zur Sicherung des 2. Konvergenzkriteriums ist der Ausbau der Verfahren gemäß Artikel 104 c EGV. Das Sanktionsverfahren, wie es in Artikel 104 c Absätze 3 ff. EGV geregelt ist, enthält ein achtschrittiges Verfahren mit zum Teil unbestimmten Fristen und wird mit einem Beschluß des Rates über die Verhängung von Sanktionen, der einer Zweidrittelmehrheit bedarf, abgeschlossen 7 9 7 . Dies führt insbesondere zu zwei Schwachpunkten: Erstens besteht angesichts der Notwendigkeit von Zweidrittelmehrheiten die Gefahr strategischen Abstimmungsverhaltens798. Zum anderen hat das komplizierte achtschrittige Verfahren zur Folge, daß der Zeitabstand zwischen der Ermittlung der Haushaltsdaten eines Mitgliedstaates und der Verhängung von Sanktionen so groß wird, daß ein spürbarer Zusammenhang zwischen einer Überschreitung des Defizitkriteriums und einer Sanktion nicht mehr besteht. Durch den Stabilitätspakt soll das Verfahren bei einem übermäßigen Haushaltzsdefizit nunmehr konkretisiert und präzisiert werden. Zum einen wird das Verfahren der Feststellung eines übermäßigen Defizits durch kurze Fristen bei den einzelnen Verfahrensschritten beschleunigt. Zum anderen wird festgelegt, welche Sanktionen der Rat nach der Feststellung, daß ein übermäßiges Defizit fortbesteht, festsetzen kann, wobei hinreichend hohen Geldbußen eine abschreckende Wirkung zukommen soll. Das nunmehr beschlossene Verfahren, das die zwei Schwächen des Verfahrens des Artikels 104 c Absätze 3 ff. EGV beseitigen soll, geht auf einen Vorschlag des deutschen Finanzministeriums zurück 799 . Der deutsche Vorschlag sah vor, die Referenzwerte des Artikels 104 Absatz 2 EGV zu absoluten Grenzen zu machen mit der Folge, daß bei Überschreiten der Neuverschuldungsobergrenze von 3 % automatisch ein Sanktionsmechanismus einsetzen sollte. Lediglich bei einer großen volkswirtschaftlichen Verwerfung und einem singulären historischen Ereignis, nicht jedoch bei einem konjunkturellen Tief, sollte ein Mitgliedstaat beantragen können, die Sanktionsautomatik auszusetzen800. Ein Mitgliedstaat, dessen Neuver-

796 Schlußfolgerungen des Europäischen Rates von Dublin, Anlage I, Bulletin der Bundesregierung 05.03.1997, Ziff. 25, S. 200. 797

Siehe oben S. 240 ff.

798

Siehe oben S. 307 ff.

799

Bundesministerium der Finanzen, Stabilitätspakt für Europa - Finanzpolitik in der dritten Stufe der WWU, Pressemitteilung vom 10.11.1995. 800

Siebert, Wirtschaftsdienst 1997, S. 8 f.

IV. Europäische Gemeinschaft schuldung die Grenze von 3 % überschritte, sollte eine unverzinsliche Einlage hinterlegen, die jeweils 0,25 % des Bruttoinlandsprodukts pro angefangenem Prozentpunkt der Defizitüberschreitung betragen sollte 801 . Sobald der Referenzwert für das öffentliche Defizit wieder erreicht worden wäre, wäre die Einlage an den betroffenen Mitgliedstaat zurückgezahlt worden. Für den Fall, daß nach zwei Jahren die Referenzobergrenze weiterhin verfehlt würde, würde die Einlage in eine Geldbuße umgewandelt. Damit hätte nicht mehr die Verhängung einer Sanktion, sondern der nur in extremen Ausnahmefällen mögliche Verzicht auf eine Ab-strafung begründet werden müssen. Dadurch wäre ein Automatismus geschaffen worden, der sowohl das Sanktionsverfahren entscheidend verkürzt hätte als auch die Möglichkeiten strategischen Abstimmungsverfahrens bei der Entscheidung über die Verhängung von Sanktionen verringert hätte 802 . Die auf der Tagung der Staats- und Regierungschefs von Amsterdam am 16./17. Juni 1997 verabschiedete Regelung, auf die sich die Finanzminister im Dezember 1996 geeinigt hatten 803 , knüpft an den deutschen Vorschlag an, weicht jedoch in wichtigen Punkten ab. Der Stabilitäts- und Wachtumspakt sieht ebenfalls einen Sanktionsmechanismus vor, der bei Überschreiten der 3 Coerenze automatisch eingreift. Neben der bereits im deutschen Vorschlag enthaltenen Ausnahme, in denen der Sanktionsmechanismus nicht eingreifen soll, nämlich dem Fall eines außergewöhnlichen Ereignis, das sich der Kontrolle des Mitgliedstaates entzieht und das erhebliche Auswirkungen auf die Finanzlage des Staates hat 8 0 4 , sieht der Stabilitätspakt weitere Ausnahmen vor. Ein realer Rückgang des Bruttoinlandsproduktes von mindestens 2 % hat nämlich ebenfalls zur Folge, daß kein übermäßiges Haushaltsdefizit in dem betroffenen Mitgliedstaat festgestellt wird 8 0 5 . Darüber hinaus kann auch ein realer Rückgang des Bruttoinlandsprodukts von weniger als 2 % auf Jahresbasis, wenn sich der Mitgliedstaat darauf beruft, zu dem Ergebnis führen, daß trotz der Überschreitung der Referenzwerte kein Fall eines übermäßigen Defizits vorliegt. Bei der

801 Bei einem Bruttoinlandsprodukt von ca. 3000 Mrd. DM hätte beispielsweise die Bundesrepublik Deutschland für jeden Prozentpunkt über dem Referenzwert 7,5 Mrd. DM zu zahlen. 802

Winterberg,.

S. 24 f.; Siebert, Wirtschaftsdienst, S. 8.

803

Schlußfolgerungen des Europäischen Rates von Dublin, Anlage I, Bulletin der Bundesregierung 05.03.1997, S. 190 f. 804

Schlußfolgerungen des Europäischen Rates von Dublin, Anlage I, Bulletin der Bundesregierung 05.03.1997, Ziff. 27, S. 200. 805 Schlußfolgerungen des Europäischen Rates von Dublin, Anlage I, Bulletin der Bundesregierung 05.03.1997, Ziff. 28, S. 200. Vaubel, Wirtschaftsdienst 1997, S. 10, kritisiert, daß der Referenzwert beliebig überschritten werden könne, wenn das BIP real um mindestens 2 % zurückgehe.

Β. Hoheitsrechtsübertragungen im EUV anzustellenden Gesamtbetrachtung können weitere Umstände, wie insbesondere die Plötzlichkeit des Rückgangs oder die kumulierten Produktionseinbußen im Vergleich zu früheren Trends als Beleg dafür dienen, daß die Überschreitung des Referenzwertes als Ausnahme anzusehen ist 8 0 6 . Es besteht jedoch die Verpflichtung der Mitgliedstaaten, sich in Fällen des Rückgangs des Bruttoinlandsproduktes um weniger als 2 % auf eine Ausnahme nur dann zu berufen, wenn das reale Bruttoinlandsprodukt in einem Jahr um mindestens 0,75 % zurückgeht 807 . Damit wird es im Rahmen des Stabilitätspaktes nur dann automatisch zur Verhängung von Sanktionen kommen, wenn das Bruttoinlandsprodukt real um 0 bis 0,75 % zurückgegangen ist 8 0 8 . Für den Fall, daß die Neuverschuldung den Referenzwert von 3 % überschreitet und das Bruttoinlandsprodukt um mindestens 0,75 % zurückgegangen ist, erstellt die Kommission einen Bericht 809 , zu dem der Wirtschafts- und Finanzausschuß binnen zwei Wochen eine Stellungnahme abgeben muß 810 .1st die Kommission der Ansicht, daß ein übermäßiges Defizit besteht, legt sie unter gebührender Berücksichtigung der Stellungnahme des Wirtschafts- und Finanzausschusses dem Rat eine Stellungnahme und eine Empfehlung für einen Beschluß im Hinblick auf die Feststellung eines übermäßigen Defizits vor 8 1 1 . Der Rat entscheidet gemäß Artikel 104 c Absatz 6 EGV mit qualifizierter Mehrheit, ob ein übermäßiges Defizit vorliegt, wobei er in Fällen, in denen das Bruttoinlandsprodukt um mindestens 0,75 % gesunken ist, etwaige Bemerkungen des betreffenden Mitgliedstaates berücksichtigt, die zeigen, daß die Überschreitung als Ausnahme anzusehen ist 8 1 2 . Der betroffene Mitgliedstaat hat bei der Ent806

Schlußfolgerungen des Europäischen Rates von Dublin, Anlage I, Bulletin der Bundesregierung 05.03.1997, Ziff. 30, S. 200. Der deutsche Finanzminister hatte sich für diesen Fall bis zuletzt das automatische Eintreten von Sanktionen ausgesprochen, FAZ vom 16.12.1996, S. 13. 807 Schlußfolgerungen des Europäischen Rates von Dublin, Anlage I, Bulletin der Bundesregierung 05.03.1997, Ziff. 37, S. 201; Entschließung des Europäischen Rates von Amsterdam, Agence Europe 21.06.1997, S. 3. 808

Siebert, Wirtschaftsdienst, S. 9.

809

Schlußfolgerungen des Europäischen Rates von Dublin, Anlage I, Bulletin der Bundesregierung 05.03.1997, Ziff. 28, S. 200. 810 Schlußfolgerungen des Europäischen Rates von Dublin, Anlage I, Bulletin der Bundesregierung 05.03.1997, Ziff. 29, S. 200. 811

Schlußfolgerungen des Europäischen Rates von Dublin, Anlage I, Bulletin der Bundesregierung 05.03.1997, Ziff. 29, S. 200. 812

Schlußfolgerungen des Europäischen Rates von Dublin, Anlage I, Bulletin der Bundesregierung 05.03.1997, Ziff. 30, S. 200. Der Rat ist jedoch aufgefordert, Sanktionen zu verhängen, wenn ein teilnehmender Mitgliedstaat nicht, wie vom Rat empfohlen, die zur Behebung des übermäßigen Defizits erforderlichen Schritte unternimmt, Ent-

IV. Europäische Gemeinschaft

313

Scheidung, ob ein übermäßiges Defizit vorliegt, kein Stimmrecht. Für den Fall, daß das Haushaltsdefizit den Referenzwert überschreitet und das Bruttoinlandsprodukt um mindestens 0,75 % fällt, ist also weiterhin eine Entscheidung des Rates erforderlich, hinsichtlich derer diesem ein Ermessensspielraum zusteht. Damit besteht die Problematik, daß ein übermäßiges Budgetdefizit von denjenigen festgestellt werden muß, die in ihrer Funktion als Regierungen der Mitgliedstaaten für das Zustandekommen verantwortlich sind, fort 8 1 3 . Hinzu kommt, daß der betroffene Mitgliedstaat das Verfahren zur Feststellung eines übermäßigen Defizits in der Schwebe halten kann, wenn er als Reaktion auf eine vom Rat an ihn gerichtete Empfehlung, die darauf abzielt, der Lage innerhalb einer bestimmten Frist anzuhelfen 814, durch einen ntionalen Rechtsakt geeignete Maßnahmen verabschiedet 815. Entscheidet der Rat, daß ein übermäßiges Defizit vorliegt, und verabschiedet der betreffende Mitgliedstaat keine geeigneten nationalen Maßnahmen, so beschließt der Rat gemäß Artikel 104 c Absatz 11 EGV Sanktionen816. Diese werden innerhalb von zehn Monaten nach der Mitteilung der Daten, die ein übermäßiges Defizit anzeigen, verhängt 817. Als Sanktion sind zunächst unverzinsliche Einlagen vorgesehen. Die Finanzminister einigten sich bereits auf ihrer Ministerratssitzung vom 03. Dezember 1996, daß ein Teilnehmerland, das den Referenzwert von 3 % im Hinblick auf die Neuverschuldung überschreitet, eine Einlage in Höhe von mindestens 0,2 % des Bruttoinlandsprodukts für jeden Prozentpunkt, um den die Zielvorgabe überschritten wird, insgesamt aber höchstens 0,5 % des Bruttoinlandsprodukts, zu entrichten hat 8 1 8 . Die Einlage besteht

Schließung des Europäischen Rates über den Stabilitäts- und Wachstumspakt, Anlage I der Schlußfolgerungen des Europäischen Rates von Amsterdam, Agence Europe 21.06.1997, S. 3. 813

Siebert, Wirtschaftsdienst 1997, S. 9. Es bestehe daher weiterhin die Gefahr einer großzügigen Auslegung, Vaubel, Wirtschaftsdienst 1997, S. 10. 814

Schlußfolgerungen des Europäischen Rates von Dublin, Anlage I, Bulletin der Bundesregierung 05.03.1997, Ziff. 31, S. 200 f. 815

Schlußfolgerungen des Europäischen Rates von Dublin, Anlage I, Bulletin der Bundesregierung 05.03.1997, Ziff. 33, S. 201. 816

Schlußfolgerungen des Europäischen Rates von Dublin, Anlage I, Bulletin der Bundesregierung 05.03.1997, Ziff. 32, S. 201. 817

Bei Vorliegen eines bewußt geplanten Defizits, das der Rat als übermäßig einstuft, wird ein beschleunigtes Verfahren angewendet, Schlußfolgerungen des Europäischen Rates von Dublin, Anlage I, Bulletin der Bundesregierung 05.03.1997, Ziff. 32, S. 201. 818

FAZ vom 04.12.1996, S. 18. Deutschland hatte ursprünglich eine nach oben offene Skala gefordurt, aufgrund derer jeweils 0,25 % des Bruttoinlandsprodukts für jeden Prozentpunkt, um den das 3 %-Ziel überschritten wird, als Einlage zu hintergeigen

314

Β. Hoheitsrechtsübertragungen im EUV

also aus einer festen Komponente in Höhe von 0,2 % des Bruttoinlandsprodukts und einer veränderlichen Komponente819. Wird der Referenzwert auch im darauffolgenden Jahr von dem betreffenden Mitgliedstaat überschritten, muß er nur noch den variablen Teil von 0,1 % für jede Überschreitung des Referenzwertes um einen Prozentpunkt abführen 820. Weist ein Land zum Beispiel eine Neuverschuldung von 4 % aus, muß es also zunächst 0,3 % Einlage an die Kommission abführen. Ergibt sich auch im darauffolgenden Jahr die gleiche Neuverschuldung, sind in diesem Jahr nochmals 0,1 % des Bruttoinlandsprodukts abzuführen. Die unverzinsliche Einlage 821 wird zwei Jahre nach der ersten Überweisung in eine Geldbuße umgewandelt, wenn das öffentliche Defizit weiterhin übermäßig bleibt. Sie soll an die Teilnehmer der 3. Stufe zurückfließen, deren Neuverschuldung die 3 % Grenze nicht überschritten hat 8 2 2 . Der Stabilitäts- und Wachstumspakt präzisiert damit in erster Linie die in Artikel 104 c EGV vorgesehenen Fristen und die Art der Sanktionen823. Er bewirkt zudem eine Straffung des gesamten Verfahrens. Er schafft jedoch nicht den von deutcher Seite vorgeschlagenen automatischen Sanktionsmechanismus bei einer Überchreitung des Haushaltsdefizits 824.

gewesen wäre. Die jetzige Obergrenze von 0,5% ist bei einem Haushaltsdefizit von 6 % erreicht. Darüber hinausgehende Defizite lösen keine zusätzlichen Sanktionen aus. 819

Schlußfolgerungen des Europäischen Rates von Dublin, Anlage I, Bulletin der Bundesregierung 05.03.1997, Ziff. 35, S. 201. 820

Auf diese ergänzende Regelung einigten sich die Finanzminister anläßlich ihres Treffens am 05.04.1997 in Noordwijk, FAZ vom 07.04.1997, S. 15. 821

Vaubel, Wirtschaftsdienst 1997, S. 10, kritisiert, daß sich die Folgen der Einlage lediglich auf den Zinsentgang beschränkten und dies keine wirkungsvolle Sanktion darstelle. So betrage der Zinsentgang für eine Einlage, für die bei einer Fristigkeit von 2 Jahren ein ECU-Marktzins von 5 % zugrundegelegt werden kann, etwa im Fall Frankreichs, das 1995 ein Haushaltsdefizit von 5 % aufgewiesen hat, lediglich 440 Mill. DM bzw. 0,8 % seiner Staatsausgaben. 822

Die Einigung der Finanzminister sah in Ziff. 36 vor, daß über die Verwendung der Zinsen aus den Einlagen und die Geldbußen ergänzend beraten werden sollte. Die jetzige Regelung wurde auf der Tagung der Finanzminsiter am 05.04.1997 beschlossen. Griechenland hatte zunächst vorgeschlagen, daß die Mittel zur Finanzierung neuer Gemeinschaftsprojekte hergezogen werden sollten. Dies wurde jedoch mit dem Hinweis auf dadurch entstehende Ungerechtigkeiten abgelehnt, da diese Form der Verwendung dazu führen könne, daß die Mitgliedstaaten, die am weitesten von den Referenzwerten entfernt wären, den größten finanziellen Vorteil hätten, FAZ vom 07.04.1997, S. 15. 823 824

Winterberg,

S. 25.

Winterberg, S. 26, bezeichnet ihn unter Rückgriff auf die Schlagzeile der FAZ vom 16.12.1996, S. 13, stattdessen als Selbstverpflichtungsabkommen mit komplizierten Abstimmungsverfahren.

IV. Europäische Gemeinschaft

31

Drittes Kriterium für das Erreichen eines hohen Grades an Konvergenz ist das Vorliegen stabiler Wechselkurse. Nach Artikel 3 des Protokolls über die Konvergenzkriterien beinhaltet das in Artikel 109 j Absatz 1 dritter Spiegelstrich EGV genannte Kriterium (...), daß ein Mitgliedstaat die im Rahmen des Wechselkursmechanismus des Europäischen Währungssystems vorgesehenen normalen Bandbreiten zumindest in den letzten zwei Jahren vor der Prüfung ohne starke Spannungen eingehalten haben muß. Insbesondere darf er den bilateralen Leitkurs seiner Währung innerhalb des gleichen Zeitraums gegenüber der Währung eines anderen Mitgliedstaats nicht von sich aus abgewertet haben. Artikel 3 des Protokolls über die Konvergenzkriterien konkretisiert die Forderung nach wechselkurspolitischer Stabilität der Währungen der Mitgliedstaaten über das im Rahmen des EWS geforderte Maß hinaus. Er fordert als Voraussetzung für einen hohen Grad an Konvergenz erstens die Teilnahme am Wechselkursmechanismus des E W S 8 2 5 . Er fordert weiterhin, daß ein Mitgliedstaat den Wechselkurs seiner Währung gegenüber den anderen Mitgliedstaaten mindestens in den letzten zwei Jahren vor der Prüfung innerhalb der Band-breiten des EWS gehalten haben muß. Dies soll sicherstellen, daß Wechselkursänderungen zum Ausgleich von monetären und realwirtschaftlichen Divergenzen nicht mehr gebraucht werden 826 . Fraglich ist ob es sich bei den normalen Bandbreiten, die Artikel 3 des Protokolls über die Konvergenzkriterien fordert, um die bei Abschluß des EU-Vertrages geltenden Bandbreiten von 2,25 % nach oben bzw. unten oder um die derzeit geltenden Bandbreiten von 15 % nach oben bzw. unten handelt 827 . Aus der Entstehungsgeschichte und dem Sinn und Zweck 8 2 8 ergibt sich, daß das 3. Konvergenzkriterium dahingehend auszulegen ist, daß die Währung eines Mitgliedstaates nicht in den derzeit möglichen Bandbreiten des EWS von 15 % nach oben bzw. unten, sondern nur

825

Becker-Neetz, EWS 1996, S. 375. Da Großbritannien seit 1992 nicht mehr am EWS teilnimmt, setzt seine Teilnahme an der 3. Stufe zunächst voraus, daß es dem EWS wieder beitritt. Auch Griechenland und Schweden nehmen derzeit nicht am EWS teil. Demgegenüber ist Finnland mit Wirkung zum 12.10.1996, Bulletin der EU 6/1996, S. 17, und Italien, das das EWS am 17.09.1992 verlassen hatte, mit Wirkung vom 25.11.1996 beigetreten, Bulletin der EU 11/1996, S. 16. 826

Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, FAZ vom 15.11.1995, S. 19. 827 828

Ohr, S. 224; Nicolaysen, Europarecht II, S. 380.

Der Wortlaut des Artikels 4 des Protokolls über die Konvergenzkriterien ist für die Auslegung nicht ergiebig, da man sowohl darauf abstellen könnte, daß es auf die jeweils geltenden Bandbreiten ankommt, man aber ebenso gut argumentieren könnte, normal sei, was die meiste Zeit der Geltungsdauer des EWS gegolten habe, BeckerNeetz, EWS 1996, S. 375.

31

Β. Hoheitsrechtsübertragungen im EUV

in der vormals gültigen Bandbreite von 2,25 % schwanken darf 829 . Zum Zeitpunkt der Verhandlungen war nämlich zum einen überhaupt nicht vorhersehbar, daß die Bandbreiten erweitert würden 830 . Die Vertragspartner wollten zum anderen, wie Artikel 109 j Absatz 1 Satz 3 Halbsatz 1 EGV zu entnehmen ist, einen hohen Grad an Konvergenz erreichen. Es muß bezweifelt werden, daß die Vertragsparteien eine Bandbreite von 15% nach oben bzw. unten noch als einen Indikator fur eine hohe währungspolitische Konvergenz angesehen hätten 8 3 1 . Neben der Teilnahme am EWS und der Einhaltung der engen Bandbreiten konkretisiert das Protokoll über die Konvergenzkriterien die Forderung nach stabilen Wechselkursen schließlich durch die Forderung, daß ein Mitgliedstaat seine Währung nicht von sich aus abgewertet haben darf 8 3 2 . Schließlich umschreibt Artikel 4 des Protokolls über die Konvergenzkriterien das Kriterium der Dauerhaftigkeit der Konvergenz der Zinssätze dahingehend (...), daß im Verlauf von einem Jahr vor der Prüfung in einem Mitgliedstaat der durchschnittliche langfristige Nominalzins um nicht mehr als 2 Prozentpunkte über dem entsprechenden Satz in jenen - höchstens drei - Mitgliedstaaten liegt, die auf dem Gebiet der Preisstabilität das beste Ergebnis erzielt haben. Die Zinssätze werden anhand langfristiger Staatsschuldverschreibungen oder vergleichbarer Wertpapiere unter Berücksichtigung der unterschiedlichen Definitionen in den einzelnen Mitgliedstaaten gemessen.833 Im Zusammenhang mit dem durchschnittlichen langfristigen Nominalzins eines Mitgliedstaates wird damit erneut auf die Preisstabilität Bezug genommen, wodurch die zentrale Bedeutung dieses Kriteriums unterstrichen wird 8 3 4 . Die Berücksichtigung dieses vierten Kriteriums für die Frage, ob eine hohe Konver-

829

Roth,, EuR 1994, Beiheft 1, S. 5; Pipkorn, EuR 1994, Beiheft 1, S. 92; Kortz, S. 136; Seidel, Rechtliche Probleme, S. 7. Wölker hält dieses Ergebnis für vertretbar, aber nicht für zwingend, ders., EuR 1996, S. 322. 830

Kortz, S. 126; Hahn, JZ 1996, S. 326; Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, FAZ vom 15.11.1995, S. 19. 831

Becker-Neetz, EWS 1996, S. 375.

832

Artikel 4 Satz 2 des Protokolls über die Konvergenzkriterien.

833

Artikel 4 des Protokolls über die Konvergenzkriterien.

834

Dies hat allerdings zur Folge, daß als Maßstab für die Messung der Dauerhaftigkeit der Konvergenz nicht notwendigerweise der niedrigste langfristige Zinssatz bzw. die niedrigsten langfristigen Zinssätze verwendet werden. So erzielte Frankreich 1994 auf dem Gebiet der Preisstabilität das beste Ergebnis; sein langfristiger Zinssatz lag jedoch mit einem Jahresdurchschnittswert von 7,2 % über den entsprechenden Sätzen in Luxemburg (6,4%), den Niederlanden (6,9%) und Deutschland (7,0%), EWIJahresbericht 1994, S. 57. Zu Entwicklung der langfrisigen Zinssätze in den Jahren 1993 bis 1995 EWI-Jahresbericht 1995, S. 20.

IV. Europäische Gemeinschaft

31

genz gegeben ist, beruht auf der Einschätzung, daß das Kriterium nicht allzu starker Zinsunterschiede als Kontrollmaßstab für die Preisniveaustabilität und die Budgetsolidität herangezogen werden kann 835 . Allzu starke Unterschiede in den langfristigen Nominalzinsen würden entweder hohe Inflationserwartungen für die Zukunft anzeigen oder würden hohe Risikoprämien wegen übermäßiger Budgetdefizite, schwacher Konsolidierungsanstrengungen oder hoher Schuldenstände widerspiegeln 836. Die auf Dauer erreichte Konvergenz eines Mitgliedstaates kommt somit auch im Niveau der langfristigen Zinssätze zum Ausdruck 837. Auch das Kriterium der langfristigen Zinssätze wird anhand relativer Werte, nämlich der Ergebnisse anderer Mitgliedstaaten, ermittelt 838 . Die Bezugnahme auf jene - höchstens drei - Mitgliedstaaten, die auf dem Gebiet der Preisstabilität das beste Ergebnis erzielt haben, knüpft an die Auswahl der Referenzstaaten an, die nach dem Inflationskriterium auszuwählen sind 839 . Kein Beurteilungsspielraum besteht indes hinsichtlich des Prozentsatzes, den der ermittelte durchschnittliche Zinssatz nicht überschreiten darf. Da Artikel 4 des Protokolls über die Konvergenzkriterien mit einem Wert von 2 % einen absoluten Wert vorgibt, ist auch eine geringe quantitative Abweichung unzulässig 8 4 0 . Die Konvergenzkriterien betreffen somit Preisstabilität und Inflationsrate, Haushaltsdisziplin und Schuldenentwicklung, Wechselkurs- und Zinsentwicklung in den Mitgliedstaaten. Diese haben sich innerhalb bestimmter Bandbreiten und Prozentsätze zu bewegen. Damit soll erreicht werden, daß sich diese Kriterien und die dahinterstehenden Wirtschafts-, Wechselkurs- und Haushaltsdaten in den Mitgliedstaaten gleichartig entwickeln. Diese sich gleichartig entwikkelnden Kriterien sind die Basis für eine gemeinschaftliche Währungspolitik, die dem Ziel der Preisstabilität verpflichtet ist 8 4 1 . Die Konvergenzkriterien

835

Nölling, S. 169.

836

So der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung in seinem Jahresgutachten 1996, FAZ vom 15.11.1995, S. 19; ebenso das EWI, Fortschritte auf dem Weg zur Konvergenz, November 1996, S. 51; Kortz, S. 135. 837

Nölling, S. 169; Mestmäcker, in: Hommelhoff/Kirchhof, S. 151.

838

In den Jahren 1993 und 1994 verzeichnete eine Gruppe von 8 Mitgliedstaaten Jahresdurchschnittswerte innerhalb eines sehr engen Bereichs von 6,4 bis 7,7 % bzw. von 6,4 bis 8,1 %. Die langfristigen Zinssätze in Spanien, Italien und Portugal lagen hingegen bei 10 % oder etwas darüber, und sie überstiegen in Griechenland 20 %, EWIJahresbericht 1994, S. 57. 839

Siehe oben S. 302 ff.

840

Becker-Neetz, EWS 1996, S. 375.

841

Wie hier Zwischenbericht des Rates an den Europäischen Rat für dessen Tagung in Florenz, Dok 7940/96, S. 2.

Β. Hoheitsrechtsübertragungen im EUV

31

besitzen aufgrund der Tatsache, daß sie im EG-Vertrag aufgeführt werden, für die Mitgliedstaaten einen hohen Verpflichtungsgrad. Die als Voraussetzung für den Eintritt in die 3. Stufe von einem Mitgliedstaat ausnahmslos zu erfüllenden Kriterien enthalten Referenzwerte und sind anhand konkreter und absolut zu ermittelnder Zahlen zu beurteilen. Sie sind jedoch gleichzeitig in nicht unerheblichem Umfang auslegungsfähig und -bedürftig, da sie sowohl eine Fülle unbestimmter Rechtsbegriffe enthalten als auch eine Reihe von Ermessensspielräumen einräumen 842. Der dadurch entstehende Beurteilungsspielraum ist jedoch nicht beliebig, sondern muß im Sinne und mit Blick auf das angestrebte Stabilitätsziel genutzt werden.

(b) Verfahren für den Beginn der dritten Stufe Kommission und EWI prüfen, ob die Mitgliedstaaten die vier Konvergenzkriterien erfüllen und ob insofern ein hoher Grad an dauerhafter Konvergenz erreicht ist 8 4 3 . Neben den Konvergenzkriterien haben die Mitgliedstaaten weitere Kriterien zu erfüllen, damit die für die Einführung einer gemeinsamen Währung erforderlichen Voraussetzungen vorliegen: Relevant sind die Entwicklung der ECU, die Ergebnisse der Integration der Märkte, der Stand und die Entwicklung der Leistungsbilanzen, die Entwicklung bei den Lohnstückkosten und andere Preisindizes 844. Daneben wird auch die Frage geprüft, inwieweit die innerstaatlichen Rechtsvorschriften der einzelnen Mitgliedstaaten einschließlich der Satzungen der nationalen Zentralbanken mit Artikel 107 und 108 EGV sowie der Satzung des ESZB vereinbar sind 845 . Auch die Nichterfüllung einer dieser Verpflichtungen verhindert die Teilnahme eines Mitgliedstaates an der 3. Stufe 846 .

842

Winterberg,.

843

Artikel 109 j Abs. 1 Unterabsatz 1 EGV.

S. 7; Huber, S. 26; Seidel, Rechtliche Probleme, S. 7.

844

Artikel 109 j Abs. 1 Unterabsatz 2 Satz 2 EGV. Zu den sonstigen Faktoren zählen etwa die indirekten Steuern und die Kapitalertragsteuern, die Volumina der privaten ECU-Märkte, die Arbeitslosenquoten sowie die Erzeugerpreise, Fortschritte auf dem Weg zur Konvergenz, November 1996, S. 54 ff. 845 846

Artikel 109 j Abs. 1 Unterabsatz 1 Satz 2 EGV.

Wölker, EuR 1996, S. 323; Kortz, S. 140; Wessel, S. 117. Zudem verletzt ein Mitgliedstaat mit einem solchen Verhalten seine Pflicht zu gemeinschaftsfreundlichen Verhalten aus Artikel 5 EGV. Die Kommission kann daher in einem solchen Fall ein Vertragsverletzungsverfahren gemäß Artikel 169 EGV einleiten, Roth, EuR 1994, Beiheft l,S. 57.

IV. Europäische Gemeinschaft

31

Auf der Grundlage der Berichte der Kommission und des EWI beurteilt der Rat in der Zusammensetzung der Wirtschafts- und Finanzminister 847, ob die einzelnen Mitglieder und ob eine Mehrheit der Mitgliedstaaten die notwendigen Voraussetzungen für die Einführung einer einheitlichen Währung erfüllen 848 . Der Rat ist in seinen Beurteilungen nicht an die Ergebnisse der ihm vorgelegten Berichte gebunden, zumal die Berichte von Kommission und EWI voneinander divergieren können 849 . Der Rat kann zusätzlich auf andere Informationen und Berichte, etwa von seiten der Mitgliedstaaten, zurückgreifen. Nach der Beurteilung, welche Mitgliedstaaten die notwendigen Voraussetzungen für die Einführung einer einheitlichen Währung erfüllen, empfiehlt der Rat seine Feststellungen dem in der Zusammensetzung der Staats- und Regierungschefs tagenden Rat. Das Europäische Parlament wird angehört und nimmt Stellung 850 . Der in der Zusammensetzung der Staats- und Regierungschefs tagende Rat entscheidet dann mit qualifizierter Mehrheit unter gebührender Berücksichtigung der Berichte und der Stellungnahme des Europäischen Parlaments über den Eintritt in die 3. Stufe. Damit fällt ihm die Letztentscheidung z u 8 5 1 . Soweit er die Konvergenzkriterien auslegt, ist er zwar an deren rechtliche Voraussetzungen gebunden, kann allerdings auch die unbestimmten Rechtsbegriffe konkretisieren und die dort vorgesehenen Beurteilungsspielräume ausschöpfen 852. Er hat sich auf seiner Tagung am 15./16. Dezember 1995 in Madrid dafür ausgesprochen, bei der Beurteilung, welcher Mitgliedstaat die notwendigen Voraussetzungen für den Eintritt in die 3. Stufe erfüllt, die Konvergenzkriterien eng auszulegen, um Vertrauen in die neue Währung zu schaffen und die breite

847 Erklärung Nr. 3 der Schlußakte zum EUV zum Dritten Teil Titel III und VI des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft. 848

Artikel 109 j Abs. 2 Satz 1 EGV. Der Rat hat sich am 19.06.1995 dagegen ausgesprochen, die 3. Stufe vor dem 01.01.1999 zu beginnen, FAZ vom 20.06.1995, S. 13. 849

Roth., EuR 1994, Beiheft 1, S. 55; Tettinger,

850

Artikel 109 j Abs. 2 EGV.

851

Kortz, S. 142.

852

RIW 1992, Beilage 3, S. 4.

Weber, JZ 1994, S. 55; Roth., EuR 1994, Beiheft 1, S. 55; Häde, EuZW 1992, S. 173; Steindorff, EuZW 1996, S. 6; Huber, S. 250. Dieser Spielraum darf jedoch nicht dazu führen, daß die Entscheidung sich von den Konvergenzkriterien als Entscheidungsgrundlage löst, Kirchhof FS Klein, S. 73. Wölker, EuR 1996, S. 321, hält in der Folge die Bedeutung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung der Konvergenzkritieren für gering. Ohr, S. 224; Emmerich-Fr tische, EWS 1996, S. 81, kommen gar zu der Einschätzung daß die ökonomischen Kriteirien letztlich nicht ausschlaggebend sein werden, sondern daß eine ausschließlich politische Entscheidung getroffen werden wird.

3

Β. Hoheitsrechtsübertragungen im EUV

Öffentlichkeit und die Märkte davon zu überzeugen, daß diese stark und stabil ist 8 5 3 . Hätte der Rat vor dem 31. Dezember 1996 einen Beschluß über den Eintritt in die 3. Stufe getroffen, so hätte er in zwei Stufen darüber entscheiden müssen, ob erstens eine Mehrheit der Mitgliedstaaten die notwendigen Voraussetzungen fur die Einführung einer einheitlichen Währung erfüllt und ob es zweitens für die Europäische Gemeinschaft zweckmäßig ist, in die 3. Stufe einzutreten 854. Erste Voraussetzung für die Entscheidung, ob der Eintritt in die 3. Stufe erfolgt, wäre also gewesen, daß die Mehrheit der Mitgliedstaaten die notwendigen Voraussetzungen für die Einführung einer einheitlichen Währung erfüllt 855 . Die Erfüllung der Konvergenzkriterien und der übrigen Bedingungen wäre somit die notwendige Vorbedingung für die Entscheidung über den Eintritt in die 3. Stufe gewesen856. Für die Frage, wie viele Mitgliedstaaten erforderlich gewesen wären, um die gemäß Artikel 109 j Absatz 2 EGV erforderliche Mehrheit zu erreichen, wäre es maßgeblich gewesen, ob das Vereinigte Königreich und Dänemark an der 3. Stufe der Währungsunion teilnehmen. Im Protokoll über einige Bestimmungen betreffend das Vereinigte Königreich Großbritannien und Nordirland 857 haben die Mitgliedstaaten im Hinblick auf die Teilnahme Großbritanniens an der 3. Stufe eine Sonderregelung beschlossen: Das Vereinigte Königreich notifiziert dem Rat, bevor dieser die Beurteilung nach Artikel 109 j Absatz 2 EGV vornimmt, ob es den Übergang zur 3. Stufe beabsichtigt858. Sofern das Vereinigte Königreich dem Rat nicht notifiziert, daß es in die 3. Stufe überzugehen beabsichtigt, ist es zu einem Übergang nicht verpflich-

853

Teil Β der Schlußfolgerungen der Tagung des Europäischen Rates in Madrid, Bulletin der EU 12/1995, S. 27. 854

Artikel 109 j Abs. 3 EGV.

855

Schachtschneider u.a., JZ 1993, S. 752; Meier, NJW 1996, S. 1027, kritisieren die Formulierung „die notwendigen Voraussetzungen erfüllen", weil dadurch gerade nicht die Konvergenzkriterien des Artikels 109 j Abs. 1 EGV als Voraussetzung für den Eintritt in die 3. Stufe bestimmt würden. Dies verkennt, daß damit nicht ein Weniger gefordert wird, sondern daß damit über die Konvergenzkriterien hinaus auch die anderen in Abs. 1 genannten Kriterien zu beachten sind. 856

Mestmäcker, in: Hommelhoff/Kirchhof, S. 150.

857

Protokoll Nr. 11 der Schlußakte des EUV.

858

Der damalige Premierminister Major führte hierzu anläßlich der Tagung des Europäischen Rates in Dublin aus, daß das von ihm ausgehandelte Protokoll Großbritannien das Recht gebe zu entscheiden, ob Großbritannien zu einem von ihm selbst bestimmten Zeitpunkt an der 3. Stufe teilnehmen wolle oder nicht, Agence Europe 15.12.1996, S. 2.

IV. Europäische Gemeinschaft

31

tet 8 5 9 . Notifiziert es, daß es nicht zur 3. Stufe übergeht, wird es nicht zu der Mehrheit der Mitgliedstaaten gezählt, die die notwendigen Voraussetzungen nach Artikel 109 j Absatz 2 EGV erfüllen müssen860. Letzteres gilt gemäß dem Protokoll über einige Bestimmungen betreffend Dänemark 861 auch für Dänemark, dem ebenfalls das Recht eingeräumt wurde, seine Teilnahme bzw. Nichtteilnahme an der 3. Stufe zu notifizieren 862. Der Europäische Rat hat auf seiner Tagung in Edinburgh am 11./12. Dezember 1992 zur Kenntnis genommen, daß Dänemark seine Nichtteilnahme an der 3. Stufe notifiziert hat 8 6 3 mit der Folge, daß Dänemark den Status eines Mitgliedstaates mit Ausnahmeregelung erhalten 8 6 4 und nicht an der gemeinsamen Währung teilnehmen wird 8 6 5 . Damit werden Dänemark und Großbritannien nicht berücksichtigt, sofern zu entscheiden ist, ob die Mehrheit der Mitgliedstaaten die Voraussetzungen nach Artikel 109 j Absatz 2 EGV erfüllen. Demgegenüber ist die Frage, ob bei der Berechnung der Mehrheit alle 15 Mitgliedstaaten als Basis zugrundegelegt werden, problematisch. Der EG-Vertrag und die Protokolle betreffend Dänemark und das Vereinigte Königreich enthalten nämlich keine Regelung darüber, ob diese zur Zahl der Mitgliedstaaten zurechnen sind, auf deren Basis die Mehrheit zu berechnen ist 8 6 6 .

859

Nr. 1 Abs. 2 des Protokolls betreffend das Vereinigte Königreich.

860

Nr. 3 des Protokolls betreffend das Vereinigte Königreich.

861

Protokoll Nr. 12 der Schlußakte des EUV.

862

Gleichwohl unterscheidet sich die opting-out-Möglichkeit Dänemarks von der des Vereinigten Königreichs. Während der Status Dänemarks dem eines Mitgliedstaates mit Ausnahmeregelung angeglichen ist, gewährt das Protokoll betreffend das Vereinigte Königreich einen weitreichenden Sonderstatus, Wölker, EuR 1996, S. 321. 863

Teil Β Abschnitt Β der Schlußfolgerungen des Europäischen Rates von Edinburgh, EA 1993, S. D 24; ABl. 1992 Nr. C 348 S. 2. 864

Wölker, EuR 1996, S. 321.

865

Dänemark wird in der Folge seine Befugnisse auf dem Gebiet der Währungspolitik entsprechend seinen innerstaatlichen Rechts- und Verwaltungsvorschriften, einschließlich der Befugnisse der Nationalbank Dänemarks weiterhin uneingeschränkt ausüben, Teil Β Abschnitt Β Nr. 2 der Schlußfolgerungen des Europäischen Rates von Edinburgh, EA 1993, S. D 24. Dänemark ist infolgedessen nicht an die Regeln für die Wirtschaftspolitik gebunden, die nur für die an der 3. Stufe der teilnehmenden Mitgliedstaaten gelten. Es kann jederzeit mitteilen, daß es von seinem Nichtteilnahmebeschluß keinen Gebrauch mehr machen will. In diesem Fall würde Dänemark sämtliche getroffenen Maßnahmen im Rahmen der Wirtschafts- und Währungsunion, die bis dahin in Kraft getreten sind, in vollem Umfang anwenden, Abschnitt E der Schlußfolgerungen des Europäischen Rates von Edinburgh, EA 1993, S. D 25. 866

Kortz, S. 165 ff.; Wölker, EuR 1996, S. 323, kommt angesichts der fehlenden eindeutigen Regelung zu dem Ergebnis, daß es fast schon zu begrüßen sei, daß diese 21 Uhrig

Β. Hoheitsrechtsübertragungen im EUV

3

Zweite Voraussetzung für den Übergang in die 3. Stufe wäre es gewesen, daß der Rat in der Zusammensetzung der Staats- und Regierungschefs den Eintritt in die 3. Stufe für zweckmäßig gehalten hätte. Er hätte sich also auch dann, wenn die Mehrheit der Mitgliedstaaten die notwendigen Voraussetzungen erfüllt hätte, gegen den Eintritt in die 3. Stufe entscheiden können 867 . Es hätte also bei der Entscheidung gemäß Artikel 109 j Absatz 3 EGV kein Automatismus im Hinblick auf den Eintritt in die 3. Stufe bestanden: Der Eintritt wäre vielmehr sowohl an die Erfüllung der notwendigen Voraussetzungen als auch an eine Zweckmäßigkeitsprüfung geknüpft gewesen. Bei der Frage, ob es zweckmäßig gewesen wäre, in die 3. Stufe einzutreten, hätte dem Rat ein Ermessensspielraum zugestanden. Er hätte insofern in seine Entscheidung ökonomische und politische Erwägungen einstellen können, die im Zusammenhang mit der Einführung der Währungsunion gewesen wären. Unter diesem Aspekt hätte der Rat etwa die Frage berücksichtigen können, ob die 3. Stufe der Währungsunion in den Bevölkerungen der Mitgliedstaaten ausreichend Zustimmung findet 868 . Die Entscheidung hinsichtlich des Eintritts in die 3. Stufe vor dem 1. Januar 1999 hätte der Rat in der Zusammensetzung der Staats- und Regierungschefs bis spätestens 31. Dezember 1996 treffen müssen869. Hätte der Rat das Vorliegen der notwendigen Voraussetzungen und die Zweckmäßigkeit des Eintritts in die 3. Stufe bejaht, so hätte er den Zeitpunkt für den Beginn der 3. Stufe bestimmt 870 . Er hätte den Termin für den Eintritt in die 3. Stufe also auf einen Zeitpunkt vor dem 1. Januar 1999 festlegen können 871 . Der Europäische Rat hat

Frage nicht relevant geworden sei, da weder 7 noch 8 Mitgliedstaaten Ende 1996 die notwendigen Voraussetzungen erfüllen. 867

Nicolaysen, Rechtsfragen der WU, S. 24; Weber, JZ 1994, S. 55. Der Rat hat andererseits keine Möglichkeit aus Gründen der Zweckmäßigkeit, Mitgliedstaaten für den Eintritt in die 3. Stufe zuzulassen, obwohl diese nicht die notwendigen Voraussetzungen erfüllen, Roth, EuR 1994, Beiheft 1, S. 56. 868

Becker-Neetz, EWS 1996, S. 376.

869

Artikel 109 j Abs. 3 EGV.

870

Artikel 109 j Abs. 3 EGV.

871

Hahn/Siebelt, F I, Rn. 82, in: DauseS. Der Wortlaut des Artikels 109 j Abs. 4 EGV könnte zwar auch dahin ausgelegt werden, daß bei einer Entscheidung vor Ende 1997 jedes beliebige Datum, also auch ein solches nach 1999 festgelegt werden könne. Dies entspricht jedoch nicht dem Willen der Vertragsparteien. Gewollt war eine feste Terminvorgabe. Dies ergibt sich aus Protokoll Nr. 10 über den Übergang zur dritten Stufe, Artikel 3 a EGV und der Systematik der Artikel 109 j Abs. 3 und 4 sowie 109 k Abs. 2 EGV, denn mit einer Festlegung des Termins nach dem 01.01.1999 würde das Verfahren des Artikels 109 j Abs. 4 EGV umgangen, das gerade für den Fall durchlaufen werden soll, daß das Verfahren gemäß Artikel 109 Abs. 3 EGV erfolglos durchlaufen wurde, Wölker, EuR 1996, S. 324; Kortz, EuR 1996, S. 90.

IV. Europäische Gemeinschaft

33

jedoch bereits auf seiner Sitzung am 15./16. Dezember 1995 in Madrid beschlossen, daß die 3. Stufe der Währungsunion am 1. Januar 1999 und damit nicht zu einemfrüheren Zeitpunkt beginnt 872 . Er hat dies auf seiner Sitzung am 21./22. Juni 1996 in Florenz bestätigt und anläßlich dieser Sitzung zudem beschlossen, daß die in Artikel 109 j Absatz 3 EGV vorgesehene Evaluierung der Mitgliedstaaten durch die Kommission und das EWI nicht nötig ist 8 7 3 . Da die für eine Entscheidung i.S. des Artikels 109 j Absatz 3 EGV erforderlichen Berichte damit nicht vorlagen, handelte es sich bei der Entscheidung des Europäischen Rates anläßlich des Gipfels von Madrid nicht um die nach Artikel 109 j Absatz 3 EGV vorgesehene Entscheidung874. Hiergegen spricht, daß nach dem Wortlaut des Artikels 109 j Absatz 3 EGV der Rat, wenn auch in der Zusammensetzung der Staats- und Regierungschefs, die Entscheidung über den Eintritt in die 3. Stufe trifft. Der Rat setzt sich damit zwar aus den gleichen Personen wie der Europäische Rat zusammen, ist mit diesem jedoch nicht identisch875. Anders als im Rahmen des Artikels D EUV handelt der Europäische Rat in den Fällen, in denen er im Bereich der Währungsunion in seiner Funktion als Rat handelt, als Organ der Gemeinschaft. Es handelt sich bei der Entscheidung des Europäischen Rates daher nur um eine politische Entscheidung, mit der er einerseits zum Ausdruck bringen wollte, daß die Gemeinschaft an dem Ziel des Eintritts in die 3. Stufe zum 1. Januar 1999 festhält 876, mit der er aber andererseits verhindern wollte, daß nahezu allen Mitgliedstaaten bei einer dem Ziel einer Stabilitätsgemeinschaft gerecht werdenden Auslegung der Konvergenzkriterien die Nichterfüllung der Eintrittsvoraussetzungen testiert werden

872

Schlußfolgerungen des Europäischen Rates von Madrid, Bulletin der EU 12/1995, S. 9. 873 Schlußfolgerungen des Europäischen Rates von Florenz, Agence Europe 23.06.1996, S. 8. Der belgische Finanzminister Maystadt hat ausgeführt, daß es völlig unnötig geworden wäre, eine Bewertung gemäß Artikel 109 j Abs. 3 EGV durchzuführen, da der Übergang in die 3. Stufe 1997 nicht mehr vorgesehen sei. Es sei also angezeigt gewesen, das EWI und die Kommission von dieser verfrühten Bewertung zu befreien, Agence Europe, 23.06.1996, S. 5. 874 So auch Kortz, EWS 1996, S. 306 f., der als zusätzliches Argument anführt, daß die Entscheidung, welche Mitgliedstaaten die notwendigen Voraussetzungen für eine Teilnahme an der Währungsunion erfüllen, nicht in den Schlußfolgerungen des Europäischen Rates versteckt werden könne, sondern der deutlichen Kenntlichmachung als Rechtsakt des Rates in der Zusammensetzung der Staats- und Regierungschefs bedürfe. 875

So im Ergebnis grundsätzlich Hilf/Pache, (Hrsg.), Kommentar zum EUV. 87 6

Artikel D, Rn. 31, in: Grabitz/Hilf

Wölker, EuR 1996, S. 324, sieht in den Schlußfolgerungen des Europäischen Rates angesichts dessen fehlender rechtlicher Entscheidungsbefugnis nicht mehr als eine Erinnerung an die ohnehin eindeutige tatsächliche Lage. 2Γ

34

Β. Hoheitsrechtsübertragungen im EUV

muß 8 7 7 . Die Entscheidung des Europäischen Rates hat daher auch das Ziel verfolgt, jedes Risiko der Spekulation auf den Kapitalmärkten als Folge der Tatsache „zu vermeiden", daß die Ergebnisse der Beurteilung zwangsläufig negativ gewesen wären 878 . Die Entscheidung des Europäischen Rates ist nunmehr auch durch den Rat in der Zusammensetzung der Staats- und Regierungschefs entsprechend dem Verfahren des Artikels 109 j Absatz 3 EGV auf der Grundlage von Berichten der Kommission879, des E W I 8 8 0 und auf Empfehlung des Rates 881 am Rande des Europäischen Rates von Dublin getroffen worden 8 8 2 , so daß das in Artikel 109 j Absatz 3 EGV vorgesehene Verfahren nunmehr durchgeführt worden ist. Für den nun eingetretenen Fall, daß bis Ende 1997 der Zeitpunkt für den Beginn der 3. Stufe nicht festgelegt wird, sieht der EG-Vertrag vor, daß die Währungsunion am 1. Januar 1999 beginnt 883 . Der 1. Januar 1999 ist entgegen der Ansicht des Bundesverfassungsgerichts nicht nur eine bloße Zielvorgabe und damit ein rechtlich nicht durchsetzbares Datum 884 , sondern eine verbindliche

87 7

Kortz, EWS 1996, S. 307, sieht bei einem umfassenden Negativtest die Gefahr, daß das Vertrauen der Finanzmärkte im Hinblick auf den Übergang in die 3. Stufe nachhaltig gestört werden könnte. 878

So der belgische Finanzminister Maystadt, Agence Europe 23.06.1996, S. 5.

879

Bericht der Kommission zur Lage in den Mitgliedstaaten im Hinblick auf die Wirtschafts- und Währungsunion, Agence Europe 15.11.1996, S. 1 ff. 880

Bericht über die Fortschritte auf dem Weg zur Konvergenz, November 1995,

S. 1 ff. 881

Empfehlung des Rates für eine Entscheidung des Europäischen Rates nach Artikel 109 j Abs. 2 EGV, Bulletin der EU 11/1996, S. 14 f. 882

Schlußfolgerungen des Europäischen Rates von Dublin, Bulletin der Bundesregierung vom 05.03.1997, Anlage 1 zu Anlage I, S. 19. 883 Artikel 109 j Abs. 4 EGV. Dieser vertraglich festgelegte Zeitpunkt des Eintritts in die 3. Stufe könnte sich als ein das währungspolitische Verhalten der Mitgliedstaaten disziplinierendes Element erweisen, da er für die Mitgliedstaaten die Gefahr begründet, nicht zu den Teilnehmern der Währungsunion von der „Stunde Null" an zu gehören, Roth, EuR 1994, Beiheft 1, S. 50; Kortz, EuR 1996, S. 80. Der Europäische Rat hat dieses Datum sowohl auf seinen Tagungen von Cannes, Schlußfolgerungen des Europäischen Rates, Bulletin der EU 6/1995, S. 12, von Madrid, Schlußfolgerungen des Europäischen Rates, Bulletin der EU 12/1995, S. 9, als auch von Florenz, Schlußfolgerungen des Europäischen Rates, Agence Europe 23.06.1996, S. 8, bestätigt. 884 BVerfGE 89, S. 155, 201. Ebenso Seidel, Rechtliche Probleme, S. 5 f., mit der Begründung, das der EWGV für die Durchführung verschiedener Aufgaben ebenfalls feste Termine enthielt, die vom Rat teilweise nicht eingehalten wurden, ohne daß dies zum Vorwurf einer Vertragsverletzung führte. Der Termin könne vielmehr durch einen Beschluß der Staats- und Regierungschefs aufgehoben werden.

IV. Europäische Gemeinschaft

3

Terminfestlegung 885. Anders als zu Artikel 8 a EWGV, dessen Terminvorgabe im Hinblick auf die Vollendung des Binnenmarktes gemäß einer Erklärung der Mitgliedstaaten keine verbindliche Wirkung haben sollte, sondern lediglich den politischen Willen ausdrückt, die zur Verwirklichung des Binnenmarktes erforderlichen Beschlüsse zu fassen, haben die Mitgliedstaaten eine solche Erklärung in bezug auf Artikel 109 j Absätze 3 und 4 EGV nicht abgegeben886. Die Verbindlichkeit des Termins wird auch durch das Protokoll über den Übergang zur dritten Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion bestätigt, das dem Datum des 1. Januar 1999 eine bedeutende Rolle zumißt 887 : Absatz 3 des Protokolls legt den Mitgliedstaaten und den Gemeinschaftsorganen für den Fall, daß der Zeitpunkt für den Beginn der 3. Stufe Ende 1997 noch nicht festgelegt ist, zum einen die Pflicht auf, die vorbereitenden Arbeiten 1998 zu beschleunigen, damit der Eintritt in die 3. Stufe unwiderruflich am 1. Januar 1999 erfolgen kann 888 . Der verbindliche Charakter des Datums 1. Januar 1999 wird des weiteren auch durch den EG-Vertrag unterstrichen. Artikel 3 a Absatz 2 EGV bestimmt, daß die Tätigkeit der Gemeinschaft nach Maßgabe des EG-Vertrages und der darin vorgesehenen Zeitfolge die Verwirklichung der Wirtschafts- und Währungsunion umfaßt. Es kommt also nicht nur auf die Verwirklichung des Ziels der Währungsunion an, sondern auch der Zeitfolge der Umsetzung kommt eine gewichtige Bedeutung z u 8 8 9 . Der Rat in der Zusammensetzung der Staats- und Regierungschefs beschließt mit qualifizierter Mehrheit 890 unter Berücksichtigung von Berichten der Kom-

885

Nicolaysen, Europarecht II, S. 383; Kortz, EuR 1996, S. 83 ff.; EmmerichFritsche, EWS 1996, S. 82; Herdegen, Europarecht, S. 250; Nölling, S. 151; Huber, S. 252; Häde. S. 159. 886

Weber, JZ 1994, S. 57; ausführlich Kortz, S. 182 f.; ders., EuR 1996, S. 84; der auch auf den unterschiedlichen Wortlaut von Artikel 8 a EWGV einerseits und Artikel 109 j EGV andererseits hinweist. Während nach Artikel 8 a EWGV die EG die erforderlichen Maßnahmen treffen sollte, um bis zum 31.12.1992 den Binnenmarkt zu vollenden, heißt es in Artikel 109 j EGV, daß für den Fall, daß bis Ende 1997 der Zeitpunkt für den Beginn der 3. Stufe nicht festgelegt worden ist, diese am 01.01.1999 beginnt. 887

Weber, JZ 1994, S. 57; Häde, BB 1993, S. 2459; Emmerich-Fritsche, 1996, S. 82. 888

Kortz, EuR 1996, S. 86.

889

Kortz, EuR 1996, S. 88.

890

Da bei der Entscheidung auch die Mitgliedstaaten stimmberechtigt sind, die die notwendigen Voraussetzungen nicht erfüllen, liegt bei einer Gesamtstimmenanzahl von 87 Stimmen die Sperrminorität damit bei 26 Stimmen. Rürup, EuZW 1996, S. 417, hält angesichts der Stimmengewichtung den Fall für denkbar, daß etwa Griechenland, Spanien, Portugal und Italien die Bildung einer kleinen Kemgruppe bzw. die enge Auslegung der Konvergenzkriterien verhindern. Diese Möglichkeit nähre die Erwartung, daß

EWS

Β. Hoheitsrechtsübertragungen im EUV

3

mission und des EWI, der Beurteilung und Empfehlung des Rates und der Stellungnahme des Europäischen Parlaments, welche Mitgliedstaaten die notwendigen Voraussetzungen für die Einführung einer gemeinsamen Währung erfüllen 891 . Während der EG-Vertrag lediglich vorsieht, daß dieser Beschluß bis zur Jahresmitte 1998 gefaßt werden muß 8 9 2 , hat der Europäische Rat am 15./16. Dezember 1995 in Madrid zunächst unter Verzicht auf ein Kalenderdatum beschlossen, diesen Beschluß so früh wie möglich im Jahre 1998 zu fassen 893 . Dies soll einerseits gewährleisten, daß dieser Beschluß nicht anhand von Schätzungen zustande kommt, sondern aufgrund von Ist-Zahlen, die insbesondere das Defizitgebahren und den Schuldenstand der Teilnahmekandidaten bei Jahresbeginn 1998 so präzise wie möglich beziffern 894 . Andererseits soll der Beschluß über den Teilnehmerkreis so früh wie möglich im Jahre 1998 ergehen, damit die EZB mit genügend Vorlaufzeit errichtet werden kann, die entsprechenden Vorbereitungen treffen und ihre Tätigkeiten am 1. Januar 1999 in vollem Umfang aufnehmen kann 895 . Die Finanzminister und Notenbankpräsidenten haben den Zeitpunkt auf einer Sitzung am 5. April 1997 in Noordwijk konkretisiert und beschlossen, Ende April oder Anfang Mai 1998 den Beschluß über die Teilnehmerländer zu fassen 896. Anfang März sollen die IstDaten vorliegen, die Basis für Konvergenzprogramme der Kommission und des EWI sein werden und die vom Europäischen Parlament und den nationalen Parlamenten beraten werden sollen. Aufgrund dieser Berichte wird der Rat in der Zusammensetzung der Staats- und Regierungschefs vermutlich zwischen dem 1. und 3. Mai 1998 zu einem Sondergipfel zusammenkommen. Er hat im Rahmen der Entscheidung gemäß Artikel 109 j Absatz 4 EGV nur darüber zu befinden, welche Mitgliedstaaten die erforderlichen Voraussetzungen erfüllen 8 9 7 . Er kann nicht mehr entscheiden, ob der Beginn der 3. Stufe zweckmäßig

die 3. Stufe entweder nicht mit einer kleinen Kerngruppe beginnen werde oder daß die Zustimmung der Mitgliedstaaten, die die Kriterien nicht erfüllen, ggf. durch finanzielle Zugeständnisse „erkauft" werden müsse. Für eine derartige Befürchtung gibt jedoch derzeit keine substanziierten Hinweise. 891

Artikel 109 j Abs. 4 EGV.

892

Artikel 109 j Abs. 4 EGV.

893

Schlußfolgerungen des Europäischen Rates von Madrid, Bulletin der EU 12/1995, S. 10. 894 Hahn, JZ 1996, S. 324; Borries, The German American Law Journal 1996, S. 8. So auch die Erklärung der Bundesregierung zu aktuellen Fragen der Europapolitik, Bulletin der Bundesregierung vom 16.12.1996, S. 1116. 895 Schlußfolgerungen des Europäischen Rates von Madrid, Bulletin der EU 12/1995, S. 10. 896

FAZ vom 07.04.1997, S. 15.

897

Nicolaysen, Rechtsfragen der WU, S. 24.

IV. Europäische Gemeinschaft

3

ist 8 9 8 . Das Erfordernis, daß die Mehrheit der Mitgliedstaaten die notwendigen Voraussetzungen für eine einheitliche Währung erfüllen muß, gilt ebenfalls nicht mehr 899 . Es ist damit auch der Fall denkbar, daß an der 3. Stufe nicht alle bzw. nicht die Mehrheit der Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft teilnehmen900. Theoretisch ist damit sogar der Extremfall denkbar, daß nur zwei Mitgliedstaaten die Voraussetzungen für den Eintritt in die 3. Stufe erfüllen 9 0 1 . Bestätigt der Rat, daß ein Mitgliedstaat die notwendigen Voraussetzungen für die Teilnahme an der 3. Stufe erfüllt, kann dieser seinen Eintritt in die 3. Stufe nicht verhindern 902. Es bedarf für die Teilnahme an der 3. Stufe weder der erneuten Ratifikation des EU-Vertrages durch den Mitgliedstaat noch einer erneuten Zustimmung durch die nationalen Parlamente 903. Ausnahmen gelten lediglich für Dänemark und für das Vereinigte Königreich, deren eventuelle

898

Roth, EuR 1994, Beiheft 1, S. 56; Häde., EuZW 1992, S. 173.

899

Häde, EuZW 1992, S. 173; Hahn/Siebelt, 1992, S. 646.

F I, Rn. 82, in: Dauses; Beisse, BB

900 Klein/Haratsch, DÖV 1993, S. 792; Häde, EuZW 1992, S. 173; Hobe, JA 1993, S. 236. Hahn, JZ 1996, S. 322. 901

Die Mitgliedstaaten haben sich verpflichtet, unabhängig davon, ob sie die notwendigen Voraussetzungen für die Einführung einer einheitlichen Währung erfüllen, den Willen der EG, rasch in die 3. Stufe einzutreten zu respektieren. Kein Mitgliedstaat wird daher den Eintritt in die 3. Stufe verhindern, Protokoll Nr. 10 der Schußakte des EUV. Für den Fall, daß lediglich zwei Mitgliedstaaten die notwendigen Voraussetzungen erfüllen, wird die Ansicht vertreten, trotz der normativen Bindungwirkung der zeitlichen Vorgabe in Artikel 109 j EGV der Eintritt in die 3. Stufe aller Voraussicht nicht erfolgen werde, da der Übergang in die 3. Stufe auch deren Funktionsfähigkeit voraussetze. Dies erfordere jedoch, daß Mitgliedstaaten von einigem wirtschaftlichen Gewicht an der 3. Stufe beteiligt sind, Roth, EuR 1994, Beiheft 1, S. 54; Seidel, Rechtliche Probleme, S. 4. So erhöhe sich die Wahrscheinlichkeit des Eintritts in die 3. Stufe dann, wenn Deutschland und Frankreich die Voraussetzungen erfüllen. In diesem Fall erscheine der Übergang auch dann wahrscheinlich, wenn nur 5 bis 7 Mitgliedstaaten die Voraussetzungen erfüllen, so Äußerungen des französischen Notenbankpräsidenten Trichet, Wirtschaftswoche vom 23.03.1995, abgedruckt in Auszüge aus Presseartikeln Nr. 23/1995, S. 10 sowie die Äußerung von Bundeskanzler Kohl vor dem Bundestag am 08.11.1995, FAΖ vom 09.11.1995, S.U. Auch der erste EWI-Präsident Lamfalussy hält für die Funktionsfähigkeit der 3. Stufe eine Anzahl von 5 bis 7 Mitgliedstaaten für erforderlich, ders., Auszüge aus Presseartikeln 69/1995, S. 12. Das Ziel der Schaffung einer Stabilitätsgemeinschaft könnte im Fall der Teilnahme lediglich zweier Mitgliedstaaten demgegenüber nicht erreicht werden, Kortz, EuR 1996, S. 94; ders., S. 174. 902 903

Hobe, JA 1993, S. 236; Roth, EuR 1994, Beiheft 1, S. 60.

Weikart, 1996, S. 325.

NVwZ 1993, S. 836; Herdegen, EuGRZ 1992, S. 594; Wölker,

EuR

3

Β. Hoheitsrechtsübertragungen im EUV

Nichtteilnahme an der 3. Stufe in entsprechenden Protokollen festgehalten wurd e 9 0 4 . Einen solchen Vorbehalt in Form eines die anderen Mitgliedstaaten bindenden Protokolls hat demgegenüber die Bundesrepublik Deutschland nicht erklärt 905 . Die Resolution des Bundestages zum Zustimmungsgesetz906, der sich der Bundesrat angeschlossen hat 9 0 7 und die fordert, daß die Bundesregierung für ihr Votum im Rat zuvor das zustimmende Votum von Bundestag und Bundesrat einholen muß, hat gemeinschaftsrechtlich nicht die Wirkung eines Protokolls mit Opting-out-Möglichkeit908, sondern entfaltet lediglich innerstaatliche Wirkung 909 . Dies bedeutet, daß Deutschland verpflichtet ist, der 3. Stufe beizutreten, wenn es die notwendigen innerstaatlichen Voraussetzungen erfüllt 910 . Sollte jedoch die Bundesrepublik rechtliche Bedenken gegen die Entscheidung des Rates haben, so kann sie einerseits im Rat gegen diese Entscheidung stimmen 911 . Sofern sie mit ihren Bedenken im Rat nicht durchdringt und überstimmt wird, kann sie andererseits auch den EuGH im Verfahren des Artikels 173 EGV anrufen, um die Entscheidung, die sie für rechtswidrig hält, von diesem überprüfen zu lassen912. Der EuGH hätte jedoch die Einschätzungs-

904

Siehe oben S. 321.

905

Mestmäcker, in: Hommelhoff/Kirchhof, S. 149; Becker-Neetz, S. 376, Emmerich-Fritsche, EWS 1996, S. 83.

EWS 1996,

906

Der Bundestag hat in seiner Sitzung vom 02.12.1992 beschlossen, daß die Bundesregierung bei einem Beschluß des Rates gemäß Artikel 109 j Abs. 4 EGV des zustimmenden Votums des Bundestages bedarf, BT-Dr. 12/3906. Er hat die Bundesregierung aufgefordert, diese Vorgehensweise den anderen Mitgliedstaaten sowie der Kommission und dem Europäischen Parlament mitzuteilen, Stenog. Bericht. 12/126, S. 10879 ff. Da für eine Entscheidung des Rates aber lediglich die qualifizierte Mehrheit erforderlich ist, kann die Bundesregierung auch bei ablehnendem Votum des Bundestages eine Entscheidung des Rat nicht verhindern. Zudem ist diese Erklärung für die anderen Mitgliedstaaten nicht verbindlich, da sie nicht Teil des EUV ist. Wie hier auch Herdegen,, EuGRZ 1992, S. 594. 907

BR-Dr. 810/92, S. 6 f.

908

Wie hier Ipsen, H. P., EuR 1994, S. 15; Emmerich-Fritsche,

909

EWS 1996, S. 85.

Seidel, Rechtliche Probleme, S. 10, der darauf hinweist, daß ein gemeinschaftsrechtlicher Vorbehalt über den Eintritt Deutschlands in die 3. Stufe als Modifikation des EUV nachträglich hätte ausgehandelt und in allen Mitgliedstaaten als Vertragsänderung hätte ratifiziert werden müssen. 9,0

Becker-Neetz, EWS 1996, S. 376.

911

Becker-Neetz,, EWS 1996, S. 377.

912

Wölker, EuR 1996, S. 325.

IV. Europäische Gemeinschaft

329

und Beurteilungsspielräume des Rates zu beachten und würde die Entscheidung des Rates nur eingeschränkt überprüfen 913. An der 3. Stufe werden jedoch auf jeden Fall nur die Staaten teilnehmen, die die Kriterien in den Bereichen Inflation, Haushaltsdefizit, Wechselkursstabilität und Zinsniveau erfüllen 914 . Es gilt also der Grundsatz: Konvergenz hat Vorrang vor Terminen 915 . Für den Fall, daß zum 1. Januar 1999 kein oder lediglich ein Mitgliedstaat die Konvergenzkriterien erfüllt, wird die 3. Stufe der Währungsunion nicht zum 1. Januar 1999 beginnen916. Der EG-Vertrag sieht für diesen Fall keine ausdrückliche Regelung vor. Es ist jedoch geboten, das Verfahren des Artikels 109 k Absatz 2 EGV betreffend die Ausnahmeregelung für die Entscheidung über den Eintritt in die 3. Stufe analog heranzuziehen, da dieser ein Verfahren für den Fall vorsieht, daß Voraussetzungen des Artikels 109 j Absatz 4 EGV nicht erfüllt werden 917 . Dies hätte zur Folge, daß spätestens nach zwei Jahren das Verfahren gemäß Artikel 109 j Absatz 4 EGV erneut zu durchlaufen wäre. Mitgliedstaaten, die die notwendigen Voraussetzungen für die Einführung einer einheitlichen Währung nicht erfüllen oder die im Falle des Vereinigten Königreichs und Dänemarks von der Möglichkeit Gebrauch gemacht haben, an der 3. Stufe nicht teilzunehmen, bleiben von der Teilnahme an der 3. Stufe ausgeschlossen918. Sie werden als „Mitgliedstaaten, für die eine Ausnahmeregelung gilt", bezeichnet919. Über diesen Status entscheidet der Rat mit qualifi-

913

Der EuGH überprüft nach seiner Rechtsprechung die Ratsentscheidung nur auf die Fehler des Ermessensmißbrauchs sowie unter dem Aspekt offensichlicher Ermessesnfehlerhaftigkeit, vgl. Geiger, Artikel 164, Rn. 1, in: Kommentar zum EGV sowie Nicolaysen, Europarecht I, S. 179. 914 Oppermann/Classen, NJW 1993, S. 9; Tietmeyer, korn. CMLR 1994, S. 268. 915

ZfZ 1994, S. 76; Becker-Neetz,

Integration 1992, S. 21; Pip-

EWS 1996, S. 376; Wessel, S. 124; Zeitler,

S. 135. 916

Hahn, JZ 1996, S. 322.

917

Kortz, S. 176 f.; ders., EuR 1996, S. 96, der den Gedanken der Prüfung in Zweijahresintervallen auch aus Artikel 109 j EGV herleitet. Zwischen dem nach Artikel 109 j Abs. 3 zunächst relevanten Termin des 31.12.1996 und dem nach einem erfolglos verlaufenden Verfahren nach Artikel 109 j Abs. 3 EGV vorgesehenen Termin des 01.01.1999 im Verfahren des Artikels 109 j Abs. 4 EGV läge nämlich auch ein Zeitraum von 2 Jahren. Der Analogie im Ergebnis zustimmend Wölker, EuR 1996, S. 324; Hahn, JZ 1996, S. 322; Häde, S. 159. 918 1

Pipkorn, CMLR 1994, S. 287 f.; Nölling, S. 151. Artikel 109 Abs. 1 Unterabsatz

EGV.

3

Β. Hoheitsrechtsübertragungen im EUV

zierter Mehrheit 920 . Auf Mitgliedstaaten, für die eine Ausnahmeregelung gilt, werden die in der 3. Stufe geltenden Bestimmungen zwar nicht angewandt921. Auch ruht ihr Stimmrecht im Rat bei Beschlüssen, die diese Bestimmungen betreffen 922. Da jedoch die gesamte Europäische Gemeinschaft in die 3. Stufe eintritt 923 , hat der Übergang in die 3. Stufe auch für diese Mitgliedstaaten Bedeutung. Sie sind zwar nicht voll in die Mechanismen der 3. Stufe integriert, doch gelten die Verfahren bei Zahlungsbilanzschwierigkeiten924 und bei plötzlichen Zahlungskrisen925 auch für sie. Die Möglichkeit einer Ausnahmeregelung besteht jedoch zeitlich nicht unbegrenzt: Mindestens alle zwei Jahre bzw. ansonsten auf Antrag eines Mitgliedstaates, für den die Ausnahmeregelung gilt, entscheidet der Rat in der Zusammensetzung der Staats- und Regierungschefs im Verfahren nach Artikel 109 j Absatz 1 EGV, ob ein Mitgliedstaat nunmehr die Voraussetzungen für eine einheitliche Währung erfüllt. Erfüllt er diese Voraussetzungen, wird die Ausnahmeregelung aufgehoben 926. Eine abweichende Regelung gilt für Dänemark 927 . Da Dänemark notifiziert hat, daß es nicht an der 3. Stufe teilnimmt, gilt für Dänemark eine Freistellung, die allerdings die Wirkung einer Ausnahmeregelung hat. Über sie wird jedoch nicht regelmäßig entschieden, sondern nur dann, wenn Dänemark einen Antrag auf Aufhebung der Freistellung stellt 928 .

920

Artikel 109 k Abs. 1 Unterabsatz 1 EGV.

921

Artikel 109 k Abs. 3 EGV. Es sind dies die Vorschriften über das ESZB nach Artikel 105 Abs. 1, 2, 3 und 5, Artikel 105 a, Artikel 108 a, Artikel 109 a Abs. 2 lit. b EGV und die Vorschriften über Vereinbarungen über ein Wechselkurssystem für die ECU gegenüber Drittlandswährungen nach Artikel 109 EGV. Dies gilt auch für die Vorschriften über die Inverzugsetzung und Sanktionsvorschriften im Rahmen der Überwachung der Haushaltslage in den Mitgliedstaaten gemäß Artikel 104 c Abs. 9 und 11 EGV. In Artikel 105 Abs. 1, 2, 3, Artikel 105 a, Artikel 108 a, Artikel 109 und Artikel 109 a Abs. 2 lit. a EGV bezeichnet der Ausdruck „Mitgliedstaaten" darüber hinaus nur die Mitgliedstaaten, für die keine Ausnahmeregelung gilt, Artikel 109 k Abs. 4 EGV. 922

Artikel 109 k Abs. 5 EGV.

923

Hierauf weist zu Recht Wölker, EuR 1996, S. 321, hin.

924

Artikel 109 h EGV.

925

Artikel 109 i EGV.

926

Artikel 109 k Abs. 2 EGV. Hierzu auch Pipkorn, CMLR 1994, S. 268.

927

Nr. 2 des Protokolls über einige Bestimmungen betreffend Dänemark

928

Nr. 4 des Protokolls über einige Bestimmungen betreffend Dänemark.

IV. Europäische Gemeinschaft (2) Funktionieren

33

der dritten Stufe

Unmittelbar nach dem 1. Juli 1998 9 2 9 trifft der Rat grundlegende Beschlüsse, die den Übergang in die 3. Stufe ermöglichen ((a)), und es wird ein Europäisches System der Zentralbanken (ESZB) ((b)) geschaffen.

(a) Beschlüsse des Rates Nach dem Beschluß, welche Mitgliedstaaten an der 3. Stufe teilnehmen, verabschiedet der Rat mit qualifizierter Mehrheit auf Vorschlag der Kommission und nach Anhörung des Europäischen Parlaments und des EWI die in den Artikeln 4, 5.4, 19.2, 20, 28.1, 29.2, 30.4 und 34.3 der Satzung des ESZB und der EZB genannten Bestimmungen930. Es handelt sich dabei um Regelungen zur Anhörung der Europäischen Zentralbank (EZB) zu Vorschlägen der Europäischen Gemeinschaft oder der nationalen Behörden, zur Festlegung des Kreises der hinsichtlich statistischer Daten berichtspflichtigen natürlichen oder juristischen Personen sowie um Bestimmungen über die Vertraulichkeit dieser Daten und Vorkehrungen zum Schutz der Vertraulichkeit sowie um Fragen des Anwendungsbereiches anderer geldpolitischer Instrumente und um Regelungen betreffend die neu zu errichtende EZB. Am ersten Tag der 3. Stufe faßt der Rat den für das Funktionieren der 3. Stufe grundlegenden Beschluß: Durch einstimmigen Beschluß der an der 3. Stufe teilnehmenden Mitgliedstaaten beschließt er auf Vorschlag der Kommission und nach Anhörung der EZB die unwiderrufliche Festsetzung der Wechselkurse der Mitgliedstaaten, und er setzt unwiderruflich feste Kurse fest, zu denen die Währungen dieser Mitgliedstaaten durch die neue europäische Währung ersetzt werden 931 . Bei der Entscheidung über die unwiderrufliche Fixierung der Umrechnungskurse, die der Rat für die Währungen der Teilnehmerstaaten untereinander festlegt, sowie beim Erstellen der unwiderruflich festen Wechselkurse, zu denen die gemeinsame Währung an die Stelle der nationalen Währungen tritt, ist also eine einstimmige Entscheidung des Rates

929

Artikel 109 1 Abs. 1 EGV. Die 2. Möglichkeit, nämlich die eines Beschlusses über den Zeitpunkt für den Beginn der 3. Stufe, ist durch den Beschluß des Europäischen Rates vom 15./16.12.1996 obsolet geworden. 930 931

Artikel 109 1 i.V.m. Artikel 106 Abs. 6 EGV.

Artikel 109 1 Abs. 4 Satz 1 EGV. Die nationalen Währungen sind in der Folge nur noch unterschiedliche Bezeichnungen einer einheitlichen Währung, Vertretung der Europäischen Kommission in Deutschland, EU-Informationen Wirtschafts- und Währungsunion, S. 4.

3

Β. Hoheitsrechtsübertragungen im EUV

erforderlich 932. Jeder Teilnehmerstaat verfügt damit über ein Vetorecht, das er sowohl bei den Entscheidungen betreffend seine eigene Währung als auch bei denen über andere Währungen einsetzen kann 933 . Allerdings würde eine ohne Gründe erfolgende Blockadehaltung eines Mitgliedstaates einen Verstoß gegen die Entscheidung über den Eintritt in die 3. Stufe, das in Artikel 3 a Absatz 2 EGV niedergelegte Ziel der unwiderruflichen Festlegung der Wechselkurse im Hinblick auf die Einführung einer gemeinsamen Währung und gegen die Protokoll^Verpflichtung zur raschen Verwirklichung der 3. Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion darstellen. Damit würde ein solches Vorgehen eines Mitliedstaates zugleich gegen die in Artikel 5 EGV verortete mitgliedstaatliche Pflicht zur Gemeinschaftstreue verstoßen, der ein Verfahren vor dem EuGH gemäß Artikel 169 EGV nach sich ziehen kann 934 . Die gemeinsame Währung für die an der 3. Stufe teilnehmenden Mitgliedstaaten ist das Kernstück der 3. Stufe. Der Europäische Rat hat auf seiner Sitzung am 15./16. Dezember 1995 im Madrid beschlossen, daß diese Währung den Namen „Euro" tragen soll 9 3 5 . Der Name Euro wird anstelle der Bezeichnung ECU verwendet, die im EG-Vertrag für die einheitliche europäische Währung gebraucht wird 9 3 6 , und ersetzt in der Folge die bisherige Gattungsbezeichnung E C U 9 3 7 . Beim Euro handelt es sich nämlich, anders als beim

932 Es steht den Mitgliedstaaten im Rahmen des Artikels 109 1 Abs. 4 EGV nicht frei zu entscheiden, ob sie die Einheitswährung verwirklichen, sondern sie können nur darüber entscheiden, wie und zu welchen Bedingungen sie festgelegt wird, Roth, EuR 1994, Beiheft 1,S.61. 933

Hahn, JZ 1996, S. 325; Herdegen, Europarecht, S. 251.

934

Emmerich-Fritsche, EWS 1996, S. 84; Herdegen, Europarecht, S. 252; Hahn, JZ 1996, S. 325; Meier, NJW 1996, S. 1028. 935

Es handelt sich dabei um den vollständigen Namen und nicht um einen Wortbestandteil, der dem Namen der jeweiligen Landeswährung vorangestellt wird. Der Name Euro soll sicherstellen, daß die neue Währung in allen Amtssprachen der EU unter Berücksichtigung der verschiedenen Alphabete denselben Namen trägt, es sich um einen einfachen Namen handelt und dieser Europa symbolisiere, Schlußfolgerungen des Europäischen Rates von Madrid, Bulletin der EU 12/1995, S 10. Dieser Beschluß soll die einvernehmliche, endgültige Auslegung der Bestimmungen des EGV darstellen, Schlußfolgerungen des Europäischen Rates von Madrid, Bulletin der EU 12/1995, S. 10. Angesichts dieser Entscheidung des Europäischen Rates dürfte die Bezeichnung der Einheitswährung mindestens einstweilen, wahrscheinlich jedoch dauerhaft außer Zweifel stehen, Hahn, JZ 1996, S. 323. 936

Schlußfolgerungen des Europäischen Rates von Madrid, Bulletin der EU 12/1995, S. 10. 937

Erwägung Nr. 2 der VO /96, Abi. Nr. L

IV. Europäische Gemeinschaft

33

ECU, nicht um einen Währungskorb, sondern um eine Währung 938 . Dies ändert jedoch nicht den bisherigen Außenwert 939 . Mit der Einführung einer gemeinsamen Währung verbunden ist die Erwartung geringerer Reibungsverluste, denn damit entfallen die bisher zwischen den Mitgliedstaaten anfallenden Transaktionskosten940, also die Währungsumtauschgebühren und Kurssicherungskosten sowie die durch die Schwankungsbandbreiten bestehenden Währungsrisiken 941. Infolge der eintretenden Preistransparenz und des Wegfalls der Wechselkursschwankungen im Handelsverkehr soll zudem die Effizienz des Binnenmarktes erhöht werden 942 . Artikel 109 1 Absatz 4 Satz 3 EGV sieht vor, daß der Rat nach dem gleichen Verfahren alle sonstigen Maßnahmen trifft, die für die rasche Einführung des Euro als einheitlicher Währung der Mitgliedstaaten erforderlich sind. Dies wird aus technischen Gründen in keinem Fall sofort möglich sein 943 . Artikel 109 1 Absatz 4 Satz 3 EGV sieht daher keine feste Zeitvorgabe für die Einführung des Euro vor. Die in bezug auf die Einführung der neuen Währung bestehenden Beurteilungsspielräume hatten zur Folge, daß es ursprünglich verschiedene Überlegungen gab, wie die Umstellung erfolgen könne 944 . Als mögliches Szenario wurde einerseits erwogen, die nationalen Währungen zeitgleich mit dem Beginn der 3. Stufe vollständig durch den Euro zu ersetzen. Dieser sog. „Super

938

Pipkorn, in: Beutler/Bieber/Pipkorn/Streil, S. 445. Insofern geht die bis dahin geltende ECU, die durch den Währungskorb definiert wird unter, Hahn/Siebelt, F I, Rn. 84, in: Dauses. Gemäß Artikel 2 Abs. 2 Der VO wird dazu die VO Nr. 3320/94 mit Wirkung zum 01.01.1999 aufgehoben. 939

Artikel 109 1 Abs. 4 Satz 2 EGV.

940

Diese Kosten werden auf 0,5 % des Bruttoinlandsprodukts, d.h. 20-25 Mrd. ECU veranschlagt, Kommission, Grünbuch, S. 13. 941

Hierzu ausführlich Ohr, S. 219 ff.; Bender, EWS 1996, S. 192; Wessel, S. 112; Nicolaysen, Europarecht II, S. 370. Gleichzeitig verlieren jedoch auch die Geldwirtschaft und die Branchen, die entgeltlich mit Barzahlungen und bargeldlosen Kontenbewegungen befaßt sind, wie z.B. Versicherungen und andere Geldsammelstellen, ihre entsprechenden Einkünfte, Hahn, JZ 1996, S. 325. 942

Kommission, Funktionsweise des EUV, S. 41; ausführlich Nicolaysen, Europarecht II, S. 370 f. Kommissionspräsident Sander führte hierzu aus, daß eine europäische Währung kein Ziel an sich sei, sondern ein wesentliches Element eines wirklich einheitlichen Binnenmarktes, dessen Potential bisher noch nicht ausgeschöpft wurde, Agence Europe 15.12.1996, S. 2. 943

Pipkorn, 1992, S. 174. 944

EuR 1994, Beiheft 1, S. 95; Weber, JZ 1994, S. 57; Häde, EuZW

Hahn, JZ 1995, S. 323; Borries, The German American Law Journal 1996, S. 7.

34

Β. Hoheitsrechtsübertragungen im EUV

Big Bang" verbietet sich jedoch aus technischen Gründen 945 , da der Zeitraum zwischen der Entscheidung, welche Mitgliedstaaten an der 3. Stufe teilnehmen, und der Einführung des Euro nicht ausreichen würde, um eine „auf einen Schlag" erfolgende Umstellung angemessen vorzubereiten 946. Dies gilt sowohl für die Herstellung der Euro-Banknoten und -Münzen wie auch für die Anpassung der elektronischen Systeme der Banken und reicht bis hin zu Problemen bei der Umstellung des Automatenbestandes von Verkaufsautomaten 947. Wegen der praktischen Probleme einer sofortigen und vollständigen Ersetzung der nationalen Währungen durch den Euro zu Beginn der 3. Stufe wurde alternativ vorgeschlagen, den „Super Big Bang" mit einer zeitlichen Verzögerung durchzuführen. Die Umstellung würde damit zwar „auf einen Schlag", aber erst nach der erforderlichen Vorbereitungszeit erfolgen. Auf diesem Wege ließen sich die Vorteile einer sofortigen und vollständigen Umstellung „auf einen Schlag", insbesondere in bezug auf Einfachheit und Kosten 948 , nutzen. Alle Marktteilnehmer und Banken würden in die gleiche Lage versetzt, und jede Notwendigkeit einer parallelen Buchhaltung könnte ausgeschlossen werden 949 . Allerdings birgt dieses Szenario die Gefahr, nicht von Anfang an die Glaubwürdigkeit zu vermitteln, die mit einer sofortigen Verwendung des Euro durch den Bankenund Finanzsektor verbunden wäre. Die öffentliche Akzeptanz und Gewöhnung im Hinblick auf den Euro würde verzögert 950. Als weiteres Szenario wurde die schrittweise Übernahme des neuen Geldes in zahlreichen kleinen Abschnitten erwogen 951 . Das schrittweise Einführen der Einheitswährung in kleinen Schritten, die sog. Doppelwährungslösung, hätte die parallele Verwendung des Euro wie der nationalen Währungen zur Folge. Dies würde jedoch zu unnötigen und

945 Borries, The German American Law Journal 1996, S. 9. Diese Schwierigkeiten haben die Verfasser des EGV bereits vorhergesehen, so daß sie in Artikel 109 1 Abs. 4 Satz 3 EGV das Wort „rasch" und nicht „sofort" wählten, Kommission, Grünbuch, S. 22. 946

Hahn, JZ 1996, S. 323.

947

Kommission, Grünbuch, S. 22 f.

948

Eine Studie der Europäischen Bankenvereinigung kommt zu dem Ergebnis, daß die Einführung des Euro bei der Gesamtheit aller Banken in der EG Kosten in Höhe von mindestens 8 bis 10 Mrd. ECU bzw. 2 % der laufenden Aufwendungen verursacht, Wessel, S. 112. 949

Diese positiven Aspekte nennt die Kommission in ihrer Beschreibung des verzögerten Big Bang, Kommission, Grünbuch, S. 25. 950 Kommission, Grünbuch, S. 25. Daher hat die Kommission das Drei-PhasenModell bewußt vorgezogen, so Kommissar de Silguy, Vertretung der Europäischen Kommission in Deutschland, EU-Informationen zur Wirtschafts- und Währungsunion, S. 8. 951

Zu den verschiedenen Überlegungen Hahn, JZ 1996, S. 323; Zeitler, S. 143 f.

IV. Europäische Gemeinschaft

33

kostspieligen Komplikationen führen und würde die geordnete Umstellung der verschiedenen Zahlungsmittel, also der Banknoten und Münzen, Schecks, Karten, Überweisungen und Zahlungsanweisungen gefährden 952. Es wäre zudem mit unverhältnismäßig hohen Kosten vor allem für die Banken verbunden und hätte materielle Einbußen der Bürger, der Wirtschaft und der öffentlichen Hand zur Folge, weil jeweils nur Teile der Geldbenutzer den Euro verwendeten, während andere den nationalen Währungen bis auf weiteres treu blieben 953 . Für ein reibungsloses Funktionieren des gemeinsamen Marktes und des Übergangs zum Euro bestand aber die Notwendigkeit, für die Marktteilnehmer bereits geraume Zeit vor Beginn der 3. Stufe Rechtssicherheit in bezug auf die Einführung des Euro zu schaffen. Der Europäische Rat hat daher auf seiner Sitzung am 15./16. Dezember 1995 als entscheidenden Schritt zur Einführung des Euro ein Einführungsszenario beschlossen954. Es beruht auf einem Bericht des Rates, der im Benehmen mit der Kommission und dem EWI ausgearbeitet worden ist 9 5 5 . Das Szenario soll für Transparenz bei der Einführung des Euro sorgen und die Voraussetzungen für seine Akzeptanz schaffen, dem Prozeß der Einführung des Euro ein höheres Maß an Glaubwürdigkeit verleihen und dessen Unumkehrbarkeit unterstreichen 956. Gleichzeitig soll es den Übergang innerhalb eines möglichst kurzen Zeitraumes gewährleisten, technisch realisierbar sein und zur Minimierung der Anpassungskosten und zur Vermeidung von Wettbewerbsverzerrungen beitragen 957. Es enthält zum einen die Grundlinie n 9 5 8 für den Übergang zu einer einheitlichen Währung, zum anderen sieht es die Verabschiedung von Verordnungen zur Schaffung des rechtlichen Rahmen für die Einführung des Euro vor. Die Grundlinien für die Einführung des Euro sehen ein zeitlich gestaffeltes, in mehreren Phasen verlaufendes Szenario vor: Auf eine etwa einjährige Vorbereitungsphase im Jahre 1998 folgen eine maximal dreijährige Übergangsphase, die vom Jahre 1999 bis zum Jahre 2001 andauert, und eine abschließende maximal sechsmonatige Umstellungsphase. Mit

952

Kommission, Grünbuch, S. 25.

953

Borries,

The German American Law Journal 1996, S. 10; Hahn, JZ 1996,

S. 323. 954

Teil Β Anhang 1 der Schlußfolgerungen des Europäischen Rates von Madrid, Bulletin der EU 12/1995, S. 27 ff. 955

Schlußfolgerungen des Europäischen Rates von Madrid, Bulletin der EU 12/1995, S. 10. 956 Schlußfolgerungen des Europäischen Rates von Madrid, Bulletin der EU 12/1995, S. 10. 957

Teil B, Schlußfolgerungen des Europäischen Rates von Madrid, Bulletin der EU 12/1995, S. 27. 958

Borries/Repplinger-Hach,

NJW 1996, S. 3111.

3

Β. Hoheitsrechtsübertragungen im EUV

dem spätestens am 30. Juni 2002 eintretenden Ende der Umstellungsphase werden die nationalen Währungen der an der 3. Stufe teilnehmenden Mitgliedstaaten vollständig durch den Euro ersetzt 959 . Im einzelnen sieht das Szenario folgenden Ablauf für die Einführung des Euro vor: Mit dem Beschluß der Staats- und Regierungschefs, welche Mitgliedstaaten die Voraussetzungen für die Teilnahme an der 3. Stufe der Währungsunion erfüllen, beginnt eine Übergangsphase im Vorfeld der 3. Stufe, in deren Verlauf Verordnungen und Beschlüsse getroffen werden, die die Vorbereitungen für den Eintritt in die 3. Stufe abrunden. Da einige der notwendigen Maßnahmen in den Zuständigkeitsbereich der EZB fallen 960 , muß zudem in der Übergangsphase sichergestellt werden, daß die EZB so früh wie möglich errichtet wird, damit sie am 1. Januar 1999 ihren vollen Arbeitsbetrieb aufnehmen kann 961 . Die 3. Stufe selbst beginnt am 1. Januar 1999 mit der unwiderruflichen Festsetzung der Umrechnungskurse zwischen den Währungen der teilnehmenden Staaten im Verhältnis untereinander und zum Euro. Ab diesem Zeitpunkt beginnt mit der dreijährigen Übergangsphase die zweite Phase des Szenarios. In der Übergangsphase wird der vom ESZB durchgeführten Geld- und Wechselkurspolitik 962 der Euro zugrundegelegt, die auch die Verwendung des Euro auf den Devisenmärkten fördert und laufende Transaktionen auf diesen Märkten in Euro erforderlich macht 963 . Um das reibungslose Funktionieren eines sich über das gesamte Währungsgebiet erstreckenden Geldmarktes auf der Grundlage des Euro durchzuführen, ist eine effiziente Infrastruktur der Zahlungssysteme erforderlich 964 . Zu diesem Zweck wird in der Übergangsphase das Target-

959 Eine tabellarische Übersicht gibt der EWI-Jahresbericht 1995, S. 50. Hahn, JZ 1996, S. 324, bewertet die zeitlichen Vorgaben des Szenarios als wirklichkeitsnahe Lösung. 960 So etwa die Festsetzung des Termins für die Einführung der Euro-Banknoten und -münzen und der Beginn der Herstellung der Banknoten sowie die Schaffung des operationeilen Instrumentariums für die EZB, hierzu im Detail die Übersicht über den Übergang zur einheitlichen Währung, Teil B, Schlußfolgerungen des Europäischen Rates von Madrid, Bulletin der EU 12/1995, S. 29. 961

Zu den Einzelheiten der Errichtung des ESZB und der EZB siehe unten S. 348 ff. 962

Zu den Einzelheiten der Aufgaben und Instrumentarien des ESZB siehe unten S. 356 ff. 963

Teil B, Schlußfolgerungen des Europäischen Rates von Madrid, Bulletin der EU 12/1995, S. 28. 964

EWI-Bericht, Die einheitliche Geldpolitik in Stufe 3, S. 34 f.

IV. Europäische Gemeinschaft

33

Zahlungssystem in Betrieb genommen965. Es handelt sich dabei um ein Echtzeit-Bruttozahlungsverkehrssystem, das für die Abwicklung von großen EuroZahlungen zur Verfügung stehen wird, nicht aber für Massenzahlungen bestimmt ist 9 6 6 . Die teilnehmenden Mitgliedstaaten legen in dieser Phase neue handelbare Schuldtitel der öffentlichen Hand bereits in Euro auf 9 6 7 . Ziel der Übergangsphase ist demnach die möglichst schnelle Umstellung des Bankenund Finanzsektors 968, dessen Beitrag für die Einführung des Euro entscheidend sein wird, denn die zunehmende Automatisierung der verschiedenen Bankgeschäfte und des Zahlungsverkehrs erfordert die Anpassung der computergestützten Bearbeitungs- und Zahlungsverkehrssysteme, damit die Abwicklung von Zahlungsvorgängen in Euro überhaupt möglich wird 9 6 9 . Bis zum Eintritt in die Umstellungsphase ist der Euro daher vor allem Zahlungsmittel zwischen dem ESZB, den nationalen Notenbanken und den Geschäftsbanken 970. Das Massengeschäft der Banken wird demgegenüber weiter in den nationalen Wäh-

965

Zu den Einzelheiten EWI-Jahresbericht 1995, S. 65 ff. und EWI-Jahresbericht 1996, S. 78 ff. Die Notwendigkeit eines solchen Systems ergab sich aus der Aufgabe von Verkehrszahlungssystemen: Zahlungsverkehrssysteme dienen der Übertragung des Gegenwertes einer wirtschaftlichen Leistung auf Kundenkonten innerhalb eines Geldinstitutes bzw. zwischen verschiedenen Geldinstituten. Sie beruhen darauf, daß in ihrem Verwendungsbereich allgemein verständliche Zeichen verwendet werden. Bei innerstaatlichen Zahlungsverkehrssystemen werden alle Werte in der nationalen Währung benannt. Mit der Einführung des Euro verbunden ist die Notwendigkeit eines europaweit funktionierenden Systems, das erstens die Ausrichtung der ca. 60 nationalen Zahlungsverkehrssysteme zugunsten einer europaweiten Ausrichtung verändert, zweitens ein erheblich erweitertes Volumen bewältigen kann und drittens die verschiedenartigen nationalen Zahlungsverkehrssysteme miteinander verbindet. Target wird auch von Nichtbanken für große Zahlungen benutzt werden können, Kommission, Grünbuch, S.42. 966

Borries, The German American Law Journal 1996, S. 17.

967

Schlußfolgerungen des Europäischen Rates von Madrid, Bulletin der EU 12/1995, S. 11. 968 Vertretung der Europäischen Kommission in Deutschland, EU-Informationen Wirtschafts- und Währungsunion, S. 4. Zu den monetären, rechtlichen und technischen Auswirkungen für die Banken ausführlich Kommission, Grünbuch, S. 36 ff. 969 970

Kommission, Grünbuch, S. 35.

So der erste EWI-Präsident Lamfalussy, Auszüge aus Presseartikeln 69/95, S. 12. Dies soll es der Wirtschaft ermöglichen, sofort nach dem Beginn der 3. Stufe, von den Vorteilen des Euro zu profitieren, so auch der Kommissar de Silguy, Vertretung der Europäischen Kommission in Deutschland, EU-Informationen Wirtschafts- und Währungsunion, S. 8. 22 Uhrig

Β. Hoheitsrechtsübertragungen im EUV

3

rungen abgewickelt971. In der Übergangsphase sind die nationalen Währungen der Mitgliedstaaten also weiterhin gesetzliche Zahlungsmittel972. Der Verbraucher kann weiterhin seine nationale Währung als Zahlungsmittel und Rechnungseinheit verwenden 973. Die Übergangsphase betrifft nur die Interbanken-, die Geld-, Kapital- und Devisenmärkte, Neuemissionen der öffentlichen Hand und das dazugehörige Zahlungssystem Target. Dadurch soll eine sog. kritische Masse von Transaktionen entstehen, aufgrund derer in einer für alle Marktteilnehmer überzeugenden Art und Weise der Umstellungsprozeß auf den Euro unumkehrbar wird 9 7 4 . Spätestens ab dem 1. Januar 2002 tritt mit der Umstellungsphase die letzte Phase des Einführungsszenarios in Kraft. In dieser Phase werden EuroBanknoten975 und -Münzen zunächst parallel zu den nationalen Banknoten und Münzen verwendet. Zu Beginn der Umstellungsphase gelten also EuroBanknoten und -Münzen neben den nationalen Währungen als gesetzliche Zahlungsmittel. Die Teilnehmerstaaten der 3. Stufe sollen jedoch anstreben, den

971

Vertretung der Europäischen Kommission in Deutschland, EU-Informationen Wirtschafts- und Währungsunion, S. 4. Daher müssen in dieser Phase auch noch keine Massenzahlungsverkehrssysteme oder Zahlungsverkehrssysteme für geringe Beträge, die ein großes Volumen an Überweisungen mit einer vielfältigen Kundschaft abwickeln können, vorhanden sein. Ein solches automatisches Massenverkehrssystem wäre auch nicht in der Lage, in 2 Währungen gleichzeitig zu arbeiten. Es ist daher anzunehmen, daß die Banken sich für die Beibehaltung der nationalen Währungen in den bisherigen Systemen entscheiden, bis die endgültige Umstellung auf den Euro erfolgt, Kommission, Grünbuch, S. 42. 972

Teil B, Schlußfolgerungen des Europäischen Rates von Madrid, Bulletin der EU 12/1995, S. 28. Gleichwohl hält die Kommission eine doppelte Preisauszeichnung auch in der Übergangsphase bereits für sinnvoll, da dies die Gewöhnung an den Euro ermöglichen würde und in der Umstellungsphase Befürchtungen der Verbraucher im Hinblick auf versteckte Preissteigerungen zerstreuen würde, Vertretung der Europäischen Kommission in Deutschland, EU-Informationen Wirtschafts- und Währungsunion, S. 5; Kommission, Grünbuch, S. 67. 973

Kommission, Grünbuch, S. 31 ; Borries, The German American Law Journal 1996, S. 10. 974

Kommission, Grünbuch, S. 28; so auch Kommissar de Silguy, Vertretung der Europäischen Kommission in Deutschland, EU-Information zur Wirtschafts- und Währungsunion, S. 8. Ergänzend könnten auch die öffentlichen Hände einen wesentlichen Betrag leisten. So könnten Steuern in Euro erhoben werden, größere öffentliche Ausgabenposten und die einzelstaatlichen Haushaltspläne in Euro ausgedrückt werden, Kommission, Grünbuch, S. 30. 975 Anläßlich der Tagung des Europäischen Rates von Dublin wurden die Muster der graphischen Gestaltung der Euro-Banknoten bereits veröffentlicht, Agence Europe 14.12.1996, S. 3.

IV. Europäische Gemeinschaft

339

Zeitraum des parallelen Umlaufs beider Währungen möglichst kurz zu halten. Es ist davon auszugehen, daß der Umtausch von nationaler Währung in Euro mindestens einige Wochen, in einigen Mitgliedstaaten sogar Monate in Anspruch nehmen wird, so daß Wirtschaft und Verbraucher erst allmählich über genügend Euro verfügen werden, um die laufenden Geschäfte in bar tätigen zu können 976 . Mit dem Ende der Umstellungsphase, das spätestens sechs Monate nach Einführung der Euro-Banknoten und -Münzen und damit spätestens am 30. Juni 2 0 0 2 9 7 7 eintritt, wird die gesamte Geldnutzung sämtlicher Wirtschaftssubjekte einschließlich der öffentlichen Hände auf den Euro umgestellt. Gleichzeitig verlieren die nationalen Banknoten und Münzen ihre Geltung als gesetzliches Zahlungsmittel, und die Eigenschaft als gesetzliches Zahlungsmittel kommt fortan ausschließlich den Euro-Banknoten und -Münzen z u 9 7 8 . Dies setzt voraus, daß in allen nationalen Rechtsvorschriften und Verwaltungsvorschriften 979 wie auch in allen Gemeinschaftsrechtsakten 980 die Bezugnahme auf die Landeswährung oder den ECU durch den Euro ersetzt wird. Alle Zahlungsmittel werden auf den Euro umgestellt, sämtliche Verkaufsautomaten, Registriergeräte und Banknotengeräte müssen umgestellt werden 981 . Die auf die früheren Landeswährungen lautenden Schulden der öffentlichen Hand sind nur noch in Euro erfüllbar 982 . Zölle, Steuern, Abgaben und Gebühren werden in

97 6

Borries/Repplinger-Hach,

NJW 1996, S. 3116.

977

Hinsichtlich des Zeitpunktes der vollständigen Einführung der Euro-Banknoten und Münzen wird den einzelnen Mitgliedstaaten möglicherweise ein gewisser Spielraum bleiben, Teil B, Schlußfolgerungen des Europäischen Rates von Madrid, Bulletin der EU 12/1995, S. 28. 978

Artikel 16 Unterabsatz 1 Satz 2 der Satzung der ESZB und der EZB. Pipkorn, EuR 1994, Beiheft 1, S. 94; Hahn, JZ 1996, S. 324. 979 Zur Umstellung der deutschen Normen wurde beim Bundesministerium der Finanzen ein Arbeitsstab gebildet, der diese koordiniert. Betroffen sind ca. 3950 Normen, in denen auf DM und Pfennige Bezug genommen wird, Bericht des Bundesministeirums für Justiz vom 01.03.1996, hekt., S. 9. 980

Die Kommission schätzt, daß in etwa 1600 Rechtsakten auf eine oder mehrere Währungen Bezug genommen wird. Die Vielzahl von Texten läßt es sinnvoll erscheinen, eine gemeinsame Vorschrift zu erlassen, durch die möglichst viele der zu ändernden Stellen automatisch geändert werden. Dabei dürften Rechtsakte der Kommission leichter zu ändern sein als Rechtsakte des Rates, da diese nationale Durchführungsvorschriften erfordern, Kommission, Grünbuch, S. 52. 981

Die Vorbereitung für diese Umstellung beginnt bereits im Vorfeld mit der Information über die technische Beschaffenheit der Banknoten und Münzen, damit Softund Hardware geändert werden können, Kommission, Grünbuch, S. 31. 982

Teil B, Schlußfolgerungen des Europäischen Rates von Madrid, Bulletin der EU 12/1995, S. 28. 22*

Β. Hoheitsrechtsübertragungen im EUV

34

Euro erhoben, und staatliche Leistungen erfolgen in Euro 9 8 3 . Die Unternehmen müssen Absatz, Marketing, Kalkulation, Informationen, Verwaltung, Rechnungslegung und Buchführung in Euro durchführen 984. Bankkonten, Hypotheken, Darlehen und sonstige Verträge werden in Euro denominiert, Löhne, Gehälter und Renten werden in Euro ausgezahlt985 Damit wird mit dem Ende der Umstellungsphase auch der private Nichtbankensektor bei allen Transaktionen nur noch den Euro verwenden 986. Der Rat hat dieses Szenario im Hinblick auf die Einführung des Euro durch eine Verordnung und einen Verordnungsentwurf präzisiert. Es handelt sich dabei um die Verordnung über einige Bestimmungen der Einführung des Euro 9 8 7 sowie um den Verordnungsentwurf über die Einführung des Euro 9 8 8 . Die Verordnung über einige Bestimmungen der Einführung des Euro soll bereits im Vorfeld des Übergangs in die 3. Stufe bestimmte Aspekte der Einführung des Euro regeln, damit für die Marktteilnehmer bereits geraume Zeit vor Beginn der 3. Stufe Rechtssicherheit besteht989. Da der Übergang zum Euro die Kontinuität der vertraglichen Rechtsverhältnisse nicht gefährden soll 9 9 0 , stellt Artikel 2 Absatz 1 der Verordnung klar, daß in Verträgen, die unter Bezugnahme auf den offiziellen ECU-Währungskorb denominiert sind, die Umstellung auf den Euro, vorbehaltlich von Sonderbestimmungen einzelner Verträge, im

983

Hierzu ausführlich Kommission, Grünbuch, S. 53 ff.

984

Kommission, Grünbuch, S. 58.

985

Kommission, Grünbuch, S. 66.

986

Kommission, Grünbuch, S. 31.

987

KOM (96) 499 endg., ABl. 1996 Nr. C 369 S. 1 ff.; hierzu auch die Stellungnahme des EWI, ABl. 1997 Nr. C 208 S. 18 ff.. Für diese Verordnung muß Artikel 235 EGV als Rechtgrundlage in Anspruch genommen werden, da Artikel 109 1 Abs. 3 Satz 4 EGV als Rechtgrundlage erst dann zur Verfügung steht, wenn nach Artikel 109 1 Abs. 4 beschlossen worden ist, welche Mitgliedstaaten die notwendigen Voraussetzungen für die Einführung der einheitlichen Währung erfüllen, 5. Erwägungsgrund der VO 988

KOM (96) 499 endg., ABl. 1996 Nr. C 369 S. 10. Dieförmliche Annahme dieser Verordnung kann nicht vor 1998 erfolgen. Der Europäische Rat von Dublin hat festgelegt, daß der Rat diesen Entwurf möglichst früh im Jahre 1998 annehmen wird, sobald entschieden wurde, welche Mitgliedstaaten am Euro-Währungsgebiet teilnehmen, Schlußfolgerungen des Europäischen Rates von Dublin, Agence Europe 15.12.1996, S. 7. 989

4. Erwägungsgrund des Vorschlags für eine Verordnung über einige Bestimmungen der Einführung des Euro. 990

Artikel 4 des Vorschlags für eine Verordnung über einige Bestimmungen der Einführung des Euro. So auch ausdrücklich Teil B, Schlußfolgerungen des Europäischen Rates von Madrid, Bulletin der EU 12/1995, S. 28.

IV. Europäische Gemeinschaft

31

Verhältnis 1:1 vorgenommen wird 9 9 1 . Darüber hinaus trifft die Verordnung aber auch fur die Umstellung von Verträgen, die auf nationale Währungen Bezug nehmen, die von Seiten der Wirtschaft geforderte Regelung über die Fortgeltung der Verträge. Artikel 3 stellt klar, daß die Einführung des Euro (...) weder eine Veränderung von Bestimmungen in Rechtsinstrumenten oder eine Schuldbefreiung oder eine Entschuldigung für die Nichterfüllung rechtlicher Verpflichtungen (bewirkt) noch (...) einer Partei das Recht (gibt), ein Rechtsinstrument einseitig zu ändern oder zu beenden. Diese Bestimmung gilt vorbehaltlich etwaiger Vereinbarungen der Parteien. Es ist also nicht erforderlich, Klauseln für die Vertragsfortdauer in Verträge aufzunehmen 992, da die Einführung des Euro „als solche" keine Änderung des Geldwertes und damit des wirtschaftlichen Äquivalenzverhältnisses eines in DM oder ECU denominierten Vertrages bewirkt und somit weder eine Vertragskündigung noch -auflösung i.S. eines „Wegfalls der Geschäftsgrundlage" bewirken kann 993 . Artikel 3 der Verordnung ist insofern deklaratorischer Art, denn es ergibt sich aus der Natur des Vorgangs, der in einer bloßen Währungsumstellung, nicht in einer Währungsreform besteht, daß die Umstellung auf den Euro lediglich zu einer Änderung der Bezeichnung der Währungseinheit und einer Umrechnung der in nationaler Währung angegebenen Beträge zu den vom Rat unwiderruflich festgesetzten Kursen in Euro führt 994 . Die Verordnung über die Einführung des Euro soll hingegen den rechtlichen Rahmen für die Verwendung des Euro ab dem 1. Januar 1999 schaffen 995. Sie legt für die Übergangsphase, also die Zeit des Fortbestehens unterschiedlicher Währungen, den rechtlichen Status des Euro im Verhältnis zu den nationalen Währungen fest 996 . Der Europäische Rat hat beschlossen, daß die nationalen

991 Artikel 2 des Vorschlags für eine Verordnung über einige Bestimmungen der Einführung des Euro. Zu diesem Zweck wird die maßgebliche „ECU-Verordnung" Nr. 3320/94 aufgehoben. 992

Kommission, Grünbuch, S. 75.

993

Borries/Repplinger-Hach,

NJW 1996, S. 3113 m.w.N.

994

Borries/Repplinger-HacK NJW 1996, S. 3113. In der Antwort der Bundesregierung auf eine große Anfrage der SPD heißt es daher auch lapidar: „Die Zahlen ändern sich, aber der Wert bleibt gleich.", BT-Dr 13/3984, S. 14; Borries/Repplinger-Hach, NJW 1996, S. 3113. 995

Dieförmliche Annahme der Verordnung kann gemäß Artikel 109 1 Abs. 4 EGV nicht vor 1998 erfolgen. Daraufhat der Rat ausdrücklich hingewiesen, Schlußfolgerungen des Europäischen Rates von Dublin, Anlage I, Bulletin der Bundesregierung 05.03.1997, S. 202. 996

Schlußfolgerungen des Europäischen Rates von Madrid, Bulletin der EU 12/1995, S. 11.

Β. Hoheitsrechtsübertragungen im EUV

34

Währungen und der Euro nur noch unterschiedliche Bezeichnungen für im wirtschaftlichen Sinne ein und dieselbe Währung sein werden 997 . Der Verordnungsentwurf legt fest, daß der Euro ab dem Beginn der 3. Stufe als die maßgebliche Währung anzusehen ist, der die nationalen Währungen in ihrem Geltungsbereich untergeordnet sind 998 . Dies wird durch eine rechtlich erzwingbare Äquivalenz zwischen dem Euro und den nationalen Währungen erreicht, also durch Zuordnung eines festen Gegenwertes in Euro zum Umrechnungskurs jeder nationalen Währung und umgekehrt 999. Konsequenterweise sind Verweise auf die nationalen Währungen in Rechtstexten weiterhin ebenso gültig wie der Verweis auf Euro entsprechend dem maßgeblichen Umrechnungskurs 1000. Ob diese Euro-zentristische Definition konkrete Rechtsfolgen und Konsequenzen in der Praxis haben wird, oder ob es sich eher um eine Fiktion handelt, die lediglich den Eindruck einer umfassenden Geltung des Euro ab dem Beginn der 3. Stufe erweckt, obwohl die nationalen Währungen de facto fortgelten, bleibt abzuwarten 1001 . Artikel 6 Absatz 1 des Verordnungsentwurfes zeigt jedenfalls deutlich, in welche Richtung sich die Währungsumstellung bewegen soll. Wegen der großen Bedeutung des bargeldlosen Zahlungsverkehrs und der Verwendung des Euro im Interbankenverkehr ist ohnehin damit zu rechnen, daß sich der Euro im unbaren Wirtschaftsverkehr schnell durchsetzen w i r d 1 0 0 2 . Der Verordnungsentwurf entspricht mit der Möglichkeit der Verwendung der nationalen Währungen auch in der Übergangsphase der Forderung, daß die Verwendung des Euro in der Übergangsphase zwar gefördert werden, eine Verpflichtung zur Verwendung des Euro jedoch nicht bestehen soll, so daß die Verwendung der nationalen Währungen als gesetzliche Zahlungsmittel und Giralgeld außerhalb der Geldmarktoperationen, des Kapitalverkehrs, insbesondere der außerfiskalischen Staatsschuldenfinanzierung, sowie der Steuerungsmaßnahmen der EZB möglich ist 1 0 0 3 . Begründet wird diese Forderung damit, daß die parallele Verwendung von Euro und nationalen Währungen uner-

997 Teil B, Schlußfolgerungen des Europäischen Rates von Madrid, Bulletin der EU 12/1995, S. 28; Kommission, Grünbuch, S. 28. 998

Eine andere Möglichkeit hätte darin bestanden, die nationalen Währungen in der Übergangszeit neben dem Euro als eigenständige Währungen fortbestehen zu lassen, Borries/Repplinger-Hack, NJW 1996, S. 3114. 999

Artikel 2 f. des Vorschlags für eine Verordnung des Rates über die Einführung des Euro. 1000

Artikel 6 Abs. 2 des Vorschlags für eine Verordnung des Rates über die Einführung des Euro. 1001

Auf diesen Aspekt weisen Borries/Repplinger-Hach,

mi

Borries/Repplinger-Hack,

]m

Hahn,

JZ 1996, S. 325.

NJW 1996, S. 3114.

NJW 1996, S. 3114, hin.

IV. Europäische Gemeinschaft

33

wünschte Überraschungseffekte eher ausschließt, die Nachvollziehbarkeit und Billigung gerade in Wirtschaftsbereichen mit starkem und regelmäßigem Kundenverkehr fördert, die Verwendung des Euro in vertraglichen Rechtsverhältnissen und im bargeldlosen Zahlungsverkehr aber nicht hemmt 1 0 0 4 . Folge der parallelen Verwendungsmöglichkeit von Euro und nationalen Währungen ist es, daß Vertragspartner beim Abschluß von Verträgen Erfüllung sowohl in nationaler Währung wie auch in Euro vereinbaren können. Daraus folgt auch, daß bestehende Verträge in der Übergangsphase grundsätzlich in der Währungseinheit zu erfüllen sind, in der sie denominiert sind, und daß eine Änderung der Währungseinheit nur im Konsens der Vertragsparteien erfolgen kann 1 0 0 5 . Darüber hinaus wird aber auch klargestellt, daß Schuldner eine Schuld, die bargeldlos erfüllt werden kann, entweder in Euro oder in nationaler Währung erfüllen können 1006 . Diese Wahlmöglichkeit des Schuldners steht in Einklang mit dem „Freiwilligkeitsprinzip", weil der Gläubiger in jedem Fall erhält, was ihm zusteht. Sie führt indirekt zu einer Verpflichtung der Kreditinstitute, ggf. eine Umrechnung von Überweisungsbeträgen entsprechend den jeweiligen Umrechnungskursen vorzunehmen 1007. Für die Umstellungsphase soll die Verordnung die Regeln für die Verwendung des Euro als gesetzliches und als einziges gültiges Zahlungsmittel konkretisieren. Das Szenario sieht vor, daß die Euro-Banknoten und Münzen spätestens am 1. Januar 2002 in Umlauf gebracht werden sollen. Mit diesem Datum wird der Euro zwar insoweit, als bereits Euro-Banknoten und Münzen in Umlauf gebracht sind, gesetzliches Zahlungsmittel. Er ist jedoch bis zum Abschluß des Umtausches der nationalen Währung durch den Euro noch nicht alleiniges gesetzliches Zahlungsmittel. Artikel 10 und 11 des Verordnungsentwurfes bestätigen, daß EZB und die nationalen Zentralbanken der teilnehmenden Mitgliedstaaten Euro-Banknoten und -Münzen in Umlauf bringen. Gemäß Artikel 15 des Verordnungsentwurfes behalten die Banknoten und Münzen, die auf eine nationale Währungseinheit lauten, die Eigenschaft eines gesetzlichen Zahlungsmittels in dem jeweiligen Gültigkeitsgebiet noch für sechs Monate nach Beendigung des Übergangszeitraums. Im Ergebnis werden also die natio-

1004

Hahn,

JZ 1996, S. 325.

1005

Artikel 8 Abs. 1 und 2 des Vorschlags für eine Verordnung des Rates über die Einführung des Euro. 1006

Artikel 8 Abs. 3 des Vorschlags für eine Verordnung des Rates über die Einführung des Euro. 1007

Borries/Repplinger-Hach,

NJW 1916, S. 3115.

34

Β. Hoheitsrechtsübertragungen im EUV

nalen Währungszeichen und der Euro fur eine gewisse Zeit nebeneinander Zahlungsmittel sein 1 0 0 8 . Mit dem Einführungsszenario des Europäischen Rates und den Verordnungen bzw. -entwürfen steht den Wirtschaftsteilnehmern ein klarer rechtlicher Rahmen für die Verwendung des Euro zur Verfügung, der einerseits die Unumkehrbarkeit hin zu einer gemeinsamen Währung sicherstellt, andererseits das Nebeneinander zweier Währungen während der Übergangszeit von dreieinhalb Jahren ermöglicht 1009 . Der Europäische Rat von Madrid hat außerdem die Notwendigkeit erkannt, bereits vor dem Übergang zur 3. Stufe die künftigen Beziehungen zwischen den zum Euro-Gebiet gehörenden Mitgliedstaaten und den nicht zu diesem Gebiet gehörenden Mitgliedstaaten zu regeln 1010 . Zwar werden alle Mitgliedstaaten, unabhängig davon, ob sie an der 3. Stufe der Währungsunion teilnehmen, ein starkes Interesse an der Funktionstüchtigkeit der Währungsunion haben. Daher werden auch alle Mitgliedstaaten an dem Dialog über die Fragen im Zusammenhang mit dem Übergang zur 3. Stufe beteiligt werden 1011 . Probleme ergeben sich aber daraus, daß mit Beginn der 3. Stufe das bisher bestehende EWS wegfällt 1012 . In der Folge müssen die Wechselkursbeziehungen zwischen den an der 3. Stufe teilnehmenden und den nicht-teilnehmenden Mitgliedstaaten neu geregelt werden. Im Hinblick auf die Möglichkeit, daß einige Mitgliedstaaten nicht von Beginn an zum Euro-Gebiet gehören, und auf die Notwendigkeit, denjenigen Mitgliedstaaten, die dem Euro-Gebiet erst zu einem späteren Zeitpunkt beitreten, die gleichen Bedingungen wie den Mitgliedstaaten zu garantieren, die von Beginn an dazu gehören, haben die Finanz- und Wirtschaftsminister im Vorfeld des Europäischen Rates von Dublin eine Einigung darüber erzielt, am 1. Januar 1999 einen neuen Wechselkursmechanismus an die Stelle des jetzigen EWS treten zu lassen 1013 . Diese Einigung hat der 1008

Borries/Repplinger-Hach,

NJW 1996, S. 3116.

1009

Hahn, JZ 1996, S. 324. Das Szenario ermöglicht es zudem, daß Mitgliedstaaten, die nicht zu Beginn der 3. Stufe, nach Ablauf der gemäß Artikel 109 k EGV durchzuführenden Überprüfung nach 2 Jahren zu den Teilnehmerstaaten der 3. Stufe, den Euro einführen können, Schlecht, Auszüge aus Presseartikeln 71/1995, S. 5. 1010

Schlußfolgerungen des Europäischen Rates von Madrid, Bulletin der EU 12/1995, S. 11. 1011

Bericht des Rates an den Europäischen Rat für dessen Tagung in Florenz, Dok. 7940/94, S. 2. 1012

Gemäß Artikel 2 Abs. 2 der VO Nr. wird die VO Nr. 3220/94 mit Wirkung vom 01.01.1999 aufgehoben. 1013

Anhang I, Schlußfolgerungen des Europäischen Rates von Dublin, Bulletin der Bundesregierung 05.03.1997, S. 197 ff.

IV. Europäische Gemeinschaft

3

Europäische Rat auf seiner Tagung am 16. Juni 1997 in Amsterdam bestätigt1014. Dieser neue Wechselkursmechanismus, der sog. W K M 2 1 0 1 5 , soll unbegründeten Druck auf den Euro und die Währungen der nicht an der 3. Stufe beteiligten Mitgliedstaaten vermeiden helfen 1016 . Träte ein solcher Fall gleichwohl auf, könnte den nicht an der einheitlichen Währung beteiligten Mitgliedstaaten, deren Währungen unter Druck geraten, mit Hilfe eines Wechselkursmechanismus dabei geholfen werden, geeignete Maßnahmen im Bereich der Geld- und Währungspolitik einschließlich der Gestaltung der Zinssätze zu ergreifen und mit einer koordinierten Intervention zu kombinieren 1017 . Die Vermeidung von Wechselkursverzerrungen zwischen dem Euro und den anderen EU-Währungen und von den Handel zwischen den Mitgliedstaaten störenden Wechselkursschwankungen ist zudem für das Funktionieren des Binnenmarktes unerläßlich 1 0 1 8 . Der WKM 2 soll außerdem einen Beitrag dazu leisten, daß die Mitgliedstaaten, die den Euro zu einem Zeitpunkt nach dem 1. Januar 1999 einführen wollen, hinsichtlich der Erfüllung der Konvergenzkriterien ebenso behandelt werden wie diejenigen Mitgliedstaaten, die ihn von Beginn an eingeführt haben 1019 . Die Teilnahme an den neuen Wechselkursmechanismus ist wie die Teilnahme am EWS freiwillig. Allerdings wird von den Mitgliedstaaten, für die gemäß Artikel 109 k EGV eine Ausnahmeregelungen gilt, erwartet, daß sie an ihm teilnehmen, denn sie sind gemäß Artikel 109 m Absatz 2 EGV gehalten, ihre Wechselkurspolitik als eine Angelegenheit von gemeinsamem Interesse zu

10

^Entschließung des Europäischen Rates über die Einführung eines Wechselkursmechanismus in der dritten Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion, Anlage II der Schlußfolgerungen des Europäischen Rates von Amsterdam, Agence Europe 21.06.1997, S. 6 ff. 1015

So die Bezeichnung in den Schlußfolgerungen des Europäischen Rates von Dublin, Agence Europe 15.12.1996, S. 6. 1016

Ab Wertungen der Währungen derjenigen Mitgliedstaaten, die nicht an der 3. Stufe teilnehmen, würden den Wert dieser Währungen gegenüber dem Euro verringern, sie würden gleichzeitig aber auch die Preise für Produkte dieser Mitgliedstaaten verringern. Dadurch würden sich die Importe aus dem Euro-Raum für diese Länder verteuern mit der Folge, daß die Inflation ansteigen könnte, was zu erneuten Abwertungen führen kann. Dadurch würden dann die Inflations- und Wechselkurskriterien dauerhaft verfehlt, Winterberg, S. 43. 1017

Schlußfolgerungen des Europäischen Rates von Dublin, Anhang I, Bulletin der Bundesregierung 05.03.1997, Ziff. 9, S. 198. 1018

Schlußfolgerungen des Europäischen Rates von Dublin, Anlage 2 zu Anhang I, Bulletin der Bundesregierung 05.03.1997, Ziff. 1, S. 203. 1019 S o schon Zwischenbericht des Rates an den Europäischen Rat für dessen Tagung in Florenz, Dok. 7940/94, S.4.

34

Β. Hoheitsrechtsübertragungen im EUV

behandeln 1020 . Aufgrund dessen besteht Einvernehmen darüber, daß die Wechselkurse auf Gemeinschaftsebene überwacht und beurteilt werden sollten, damit insbesondere Verzerrungen im Binnenmarkt vermieden werden. Diese Überwachung und die sich daraus ergebende Beurteilung wird vom Rat mit Unterstützung des Wirtschafts- und Finanzausschusses, von der Kommission und von der EZB in deren jeweiligen Zuständigkeitsbereichen vorgenommen. Der EG-Vertrag geht vom Bestehen eines Wechselkursmechanismus aus 1 0 2 1 , enthält für die Schaffung eines solchen Mechanismus aber keine Rechtsgrundlage, da es sich bei dieser Frage nicht um ein Problem des Eintritts in die 3. Stufe handelt 1022 . Der neue Wechselkursmechanismus wurde daher durch die Entschließung des Europäischen Rates über die Einführung eines Wechselkursmechanismus in der 3. Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion 1023 und eine Verordnung des Rates geschaffen und wird durch eine Vereinbarung zwischen den Zentralbanken ergänzt, die der EZB und den Zentralbanken derjenigen Mitgliedstaaten unterbreitet werden wird, die dem Euro-Währungsgebiet nicht angehören werden 1024 . Er beruht auf Leitkursen mit Bandbreiten und hat den Euro als Bezugspunkt1025. Dies ist eine gravierende Änderung gegenüber dem EWS, denn anstelle einen Währungskorb zu schaffen und keine konkrete Währung zum Anker des Systems zu machen, wird nun der Euro in den Mittelpunkt des Wechselkurssystems gestellt 1026 . Es gibt in der Folge also weder eine Währungskorbeinheit noch Abweichungsindikatoren. Die Leitkurse werden durch die national zuständigen Minister der Mitgliedstaaten des EuroWährungsgebietes, die EZB und die nationalen Zentralbankpräsidenten und Minister der dem Euro-Währungsgebiet nicht angehörenden Mitgliedstaaten im gegenseitigen Einvernehmen unter Einbeziehung der Kommission festge-

1020 Schlußfolgerungen des Europäischen Rates von Dublin, Anlage I, Bulletin der Bundesregierung 05.03.1997, Ziff. 17, S. 199. 1021

So etwa in Artikel 109 Abs. 1; 109 1 Spiegelstrich 3; 109 m EGV, Artikel 4.1 Spiegelstrich 3 der Satzung des EWI. 1022

Borries/Repplinger-Hach,

NJW 1996, S. 3112.

1023

Anlage II der Schlußfolgerungen des Europäischen Rates von Amsterdam, Agence Europe 21.06.1997, S. 6 ff. 1024

Schlußfolgerungen des Europäischen Rates von Dublin, Bulletin der Bundesregierung 05.03.1997, S. 190. Er beruht daher wie bereits das EWS auf zwei parallen Abkommen zwischen den Regierungen der Mitgliedstaaten einerseits und den Zentralbanken andererseits, Schlußfolgerungen des Europäischen Rates von Dublin, Anlage 2 zu Anlage I, Bulletin der Bundesregierung 05.03.1997, Ziff. 3, S. 204. 1025

Schlußfolgerungen des Europäischen Rates von Dublin, Anlage I, Bulletin der Bundesregierung 05.03.1997, Ziff. 11, S. 198. m(

> Winterberg,

S. 45.

IV. Europäische Gemeinschaft

3

setzt 1 0 2 7 . Die Minister und Zentralbankpräsidenten der am WKM 2 nicht teilnehmenden Mitgliedstaaten haben kein Stimmrecht 1028 . Der Rat als solcher ist also wie bisher nicht am Verfahren der Leitkursfestsetzung beteiligt. In Anbetracht der mit dem EWS gesammelten Erfahrungen enthält auch der W K M 2 relativ weite Bandbreiten. Der WKM 2 sieht Schwankungsbandbreiten von 15 % nach oben und unten v o r 1 0 2 9 , engere Bandbreiten können aber vereinbart werden, wenn dies in bezug auf die Erreichung von Konvergenzfortschritten angebracht erscheint 1030 . Die Initiative zur Vereinbarung solcher engeren Bindungen muß von dem betreffenden Mitgliedstaat, der dem EuroWährungsgebiet nicht angehört, ausgehen 1031 . Interventionen erfolgen bei Erreichen der Interventionspunkte obligatorisch und unbegrenzt und werden durch entsprechende Kreditfazilitäten ermöglicht 1032 . Es besteht jedoch weder für die EZB noch für die Zentralbanken, die für die anderen an dem neuen Mechanismus teilnehmenden Währungen zuständig sind, eine Verpflichtung zur Stützung der Währungen, wenn dies mit dem Hauptziel der 3. Stufe, nämlich der Einhaltung der Preisstabilität, in Widerspruch stehen würde. Die EZB und die Zen-

1027

Schlußfolgerungen des Europäischen Rates von Dublin, Anlage I, Bulletin der Bundesregierung 05.03.1997, Ziff. 11, S. 198. 1028

Schlußfolgerungen des Europäischen Rates von Dublin, Anlage I, Bulletin der Bundesregierung 05.03.1997, Ziff. 11, S. 198. 1029 Darauf einigten sich die Finanzminister auf ihrer Tagung am 06.04.1997 in Noordwijk, FAZ vom 07.04.1997, S. 15. Die Zentralbankpräsidenten unterstützen diese Bandbreiten, Schlußfolgerungen des Europäischen Rates von Amsterdam, EUNachrichten vom 23.06.1997, S. 5. 1030

Schlußfolgerungen des Europäischen Rates von Dublin, Anlage I, Bulletin der Bundesregierung 05.03.1997, Ziff. 13, S. 198. Dies kann in unterschiedlicher Form erfolgen. Denkbar sind sowohl veröffentlichte schmalere Bandbreiten als auch informelle Vereinbarungen über engere Zielkorridore, die vertraulich bleiben und durch den verstärkten Einsatz koordinierter intramarginaler Interventionen unterstützt werden können, Schlußfolgerungen des Europäischen Rates von Dublin, Anlage 2 zu Anlage I, Bulletin der Bundesregierung 05.03.1997, Ziff. 3, S. 205. 1031

Schlußfolgerungen des Europäischen Rates von Dublin, Anlage I, Bulletin der Bundesregierung 05.03.1997, Ziff. 13, S. 198. 1032

Schlußfolgerungen des Europäischen Rates von Dublin, Anlage I, Bulletin der Bundesregierung 05.03.1997, Ziff. 12, S. 198. Wie beim EWS werden Finanzierungssalden zu einem für die Laufzeit und die Denominierung des jeweiligen Kredits repräsentativen Marktzins verzinst. Die Finanzierungsalden werden auf die Währung des Kreditgebers lauten. Sofern die kreditgebenden und kreditnehmenden Zentralbanken nichts Gegenteiligen vereinbaren, werden die im Rahmen der sehr kurzfristigen Finanzierung gewährten Kredite in der Währung des Kreditgebers getilgt, Schlußfolgerungen des Europäischen Rates von Dublin, Anlage 2 zu Anlage I, Bulletin der Bundesregierung 05.03.1997, Ziff. 3, S. 205.

34

Β. Hoheitsrechtsübertragungen im EUV

tralbanken der nicht dem Euro-Währungsgebiet angehörenden Mitgliedstaaten können daher die Interventionen aussetzen, wenn diese im Widerspruch zur Wahrung der Preisstabilität stehen 1033 . Leitkursanpassungen sollen so rechtzeitig erfolgen, daß spürbare Kursverzerrungen vermieden werden. Zu diesem Zweck haben alle Parteien einschließlich der EZB das Recht, ein vertrauliches Verfahren zur Überprüfung der Leitkurse einzuleiten 1034 .

(b) Europäisches System der Zentralbanken Die Errichtung des ESZB erfolgt unmittelbar im Anschluß an die Entscheidung, welche Mitgliedstaaten an der 3. Stufe teilnehmen 1035 . Das ESZB besteht aus der ebenfalls zu errichtenden Europäischen Zentralbank (EZB) ((aa)) und den nationalen Zentralbanken 1036 ((bb)). Es ist das sie überwölbende Dach 1 0 3 7 . ESZB und EZB handeln nach Maßgabe des EG-Vertrages und der Satzung des ESZB und der E Z B 1 0 3 8 . Das ESZB selbst besitzt keine Handlungsbefugnisse 1039. Vielmehr handeln im ESZB nur die EZB und die nationalen Zentralbanken. Sie verwirklichen Ziele und Aufgaben des ESZB. Das ESZB wird von den Beschlußorganen der EZB geleitet 1040 . Sein zentrales Entscheidungsorgan ist der EZB-Rat, dem neben den Präsidenten der nationalen Notenbanken die Mitglieder des Direkto-

1033

Schlußfolgerungen des Europäischen Rates von Dublin, Anlage I, Bulletin der Bundesregierung 05.03.1997, Ziff. 12, S. 198. Der EWI-Bericht führt hierzu näher aus, daß die EZB ihre Entscheidung auf der Grundlage der tatsächlichen Gegebenheiten treffen und dabei ggf. auch Schlußfolgerungen anderer zuständiger Gremien einbeziehen wird. Daher erscheine es weder ratsam noch möglich, die Umstände, unter denen die Interventionen ausgesetzt werden könnten, vorab formal festzulegen, Schlußfolgerungen des Europäischen Rates von Dublin, Anlage 2 zu Anlage I, Bulletin der Bundesregierung 05.03.1997, Ziff. 3, S. 205. 1034

Schlußfolgerungen des Europäischen Rates von Dublin, Anhang I, Bulletin der Bundesregierung 05.03.1997, Ziff. 12, S. 198. 1035

Artikel 109 1 Abs. 1 Unterabsatz 2 EGV.

1036

Artikel 106 Abs. 1 EGV. 1037Nicolaysen, Rechtsfragen der WU, S. 26. Es besitzt im Gegensatz zur EZB keine Rechtspersönlichkeit, Häde, EuZW 1992, S. 174. 1038

Artikel 4 a EGV; Protokoll Nr. 3 der Schlußakte des EUV.

1039

Pipkorn, CMLR 1994, S. 282, faßt dies mit der Aussage zusammen, daß das ESZB „not an actor" ist. 1040

Artikel 8 der Satzung des ESZB und der EZB.

IV. Europäische Gemeinschaft

3

rium der EZB angehören 1041. Das ESZB ist damit lediglich ein Bündelungsorgan, das nicht mit eigenen Kompetenzen ausgestattet ist. Das vorrangige Ziel des ESZB ist es, Preisstabilität zu gewährleisten 1042. Soweit dies ohne Beeinträchtigung des Zieles der Preisstabilität möglich ist, kann es die allgemeine Wirtschaftspolitik in der Europäischen Gemeinschaft unterstützen 1043. Seine grundlegenden Aufgaben bestehen darin, die Geldpolitik der Europäischen Gemeinschaft festzulegen und auszuführen, Devisengeschäfte im Einklang mit Artikel 109 EGV durchzuführen, die offiziellen Währungsreserven der Mitgliedstaaten zu halten und zu verwalten und das reibungslose Funktionieren der Zahlungssysteme zu fördern 1044. Darüber hinaus trägt das ESZB zur reibungslosen Durchführung derjenigen Maßnahmen bei, die von den zuständigen Behörden auf dem Gebiet der Aufsicht über die Kreditinstitute und der Stabilität des Finanzsystems ergriffen werden 1 0 4 5 .

(aa) Europäische Zentralbank Mit Beginn der 3. Stufe nimmt die EZB ihre Arbeit in vollem Umfang 1 0 4 6 auf. Sie besitzt Rechtspersönlichkeit 1047. Wie das EWI, dessen Auflösung mit Beginn der 3. Stufe vollständig abgeschlossen sein m u ß 1 0 4 8 , besitzt sie in jedem Mitgliedstaat die weitestgehende Rechts- und Geschäftsfähigkeit, die das Recht des jeweiligen Staates juristischen Personen zuerkennt. Die EZB kann daher Vermögen erwerben und veräußern sowie vor Gericht klagen und verklagt wer-

1041 1042

Artikel 106 Abs. 3 EGV.

Artikel 105 Abs. 1 Satz 1 EGV.

1043

Artikel 105 Abs. 1 Satz 2 EGV. Die Erhaltung der Preisstabilität geht damit im Konfliktfall vor. Kann das ESZB das Ziel der Preisstabilität also mittels mehrerer gleich effektiver Instrumente verfolgen, muß es dasjenige Instrument wählen, das den Zielen der allgemeinen Wirtschaftspolitik amförderlichsten ist, Roth, EuR 1994, Beiheft 1, S. 66. 1044

Artikel 105 Abs. 2 EGV.

1045

Artikel 105 Abs. 5 EGV.

1046

Schon vor Beginn der 3. Stufe trifft sie Vorkehrungen für die Aufnahme ihrer vollen Tätigkeit, Artikel 109 1 Abs. 1 Unterabsatz 2 EGV. Sie nimmt erforderlichenfalls die Aufgaben des EWI wahr und liquidiert dieses, Artikel 109 1 Abs. 2 EGV. Bei Errichtung der EZB legt der Präsident des EWI sein Amt nieder, Artikel 23.7 der Satzung des EWI, und alle Vermögenswerte und Verbindlichkeiten des EWI gehen auf die EZB über, Artikel 23.1 Sätze 2 und 3 der Satzung des EWI. Die Einzelheiten der Liquidation sind in Artikel 23.2 ff. der Satzung des EWI geregelt. 1047

Artikel 106 Abs. 2 EGV.

1048

Artikel 23.1 Satz 4 der Satzung des EWI.

3

Β. Hoheitsrechtsübertragungen im EUV

den 1 0 4 9 . Die EZB ist vor dem EuGH klagebefugt und kann verklagt werden 1 0 5 0 . Die EZB wird von einem Rat geleitet. Dieser EZB-Rat besteht aus den Mitgliedern des Direktoriums der EZB und den Präsidenten der nationalen Zentralbanken 1051 . Bei der Wahrnehmung ihrer Befugnisse, Aufgaben und Pflichten dürfen weder die EZB noch die Mitglieder des EZB-Rates Weisungen von Organen oder Einrichtungen der Europäischen Gemeinschaft, Regierungen der Mitgliedstaaten oder anderen Stellen einholen oder entgegennehmen1052. Korrespondierend zu dieser Verpflichtung haben sich die Organe und Einrich-tungen der Europäischen Gemeinschaft sowie die Regierungen der Mitglied-Staaten verpflichtet, dies zu beachten und nicht zu versuchen, die Mitglieder der Beschlußorgane der EZB bei der Wahrnehmung ihrer Aufgaben zu beeinflussen 1 0 5 3 . Die EZB ist also institutionell sowohl gegenüber den Gemeinschaftsorganen als auch gegenüber den Mitgliedstaaten unabhängig1054. Der EZB-Rat tritt mindestens zehnmal im Jahr zusammen1055. Seine Aussprachen sind vertraulich 1056. Der EZB-Rat kann jedoch beschließen, das Ergebnis seiner Beratungen zu veröffentlichen 1057. Für die im EZB-Rat zu fassenden Beschlüsse gelten je nach Beschlußgegenstand unterschiedliche Anforderungen. Grundsätzlich besitzt jedes Mitglied des EZB-Rates eine Stimm e 1 0 5 8 . Der EZB-Rat faßt Beschlüsse grundsätzlich 1059 mit einfacher Mehrheit, wobei bei Stimmengleichheit die Stimme des Präsidenten des Direktoriums den 1049

Artikel 9.1 der Satzung des ESZB und der EZB.

1050

Artikel 35 der Satzung des ESZB und der EZB.

1051

Artikel 109 a EGV.

1052

Artikel 107 Satz 1 EGV.

1053

Artikel 107 Satz 2 EGV.

{05 4

Pernice, Die Verwaltung 1993, S. 464; Pipkorn, CMLR 1994, S.281; Roth, EuR 1994, Beiheft 1, S. 63. 1055

Artikel 10.5 der Satzung des ESZB und der EZB. Potacs, EuR 1993, S. 33, zieht den Schluß, daß der EZB-Rat sich aufgrunddessen auf Grundsatzentscheidungen beschränken muß. 1056

Artikel 10.4 Satz 1 der Satzung des ESZB und der EZB.

1057

Artikel 10.4 Satz 2 der Satzung des ESZB und der EZB.

1058

Artikel 10.2 Unterabsatz 2 Satz 1 der Satzung des ESZB und der EZB. Damit unterscheidet sich die Stimmengewichtung von der anderer internationaler Finanzorganisationen, bei denen die Stimmen der Mitglieder regelmäßig nach den Kapitalanteilen gewichtet werden, Hahn/Siebelt, F I, Rn. 73, in: Dauses; Potacs, EuR 1993, S. 32. 1059

D i e Satzung des ESZB und der EZB sieht in Artikel 10.3 und 11.3 andere Mehrheitserfordernisse vor.

IV. Europäische Gemeinschaft

31

Ausschlag gibt 1 0 6 0 . Wird im EZB-Rat „nach Köpfen" abgestimmt, so sind nur die persönlich anwesenden Mitglieder des EZB-Rates stimmberechtigt 1061. Bei Beschlüssen des EZB-Rates über die „finanziellen Aspekte der EZB" werden die Stimmen hingegen nicht „nach Köpfen", sondern nach Kapitalanteilen gewogen 1 0 6 2 . Es sind dies Beschlüsse über das Kapital der EZB, den Schlüssel für die Kapitalzeichnung, die Übertragung von Währungsreserven, die Verteilung der monetären Einkünfte der nationalen Zentralbanken, für die in den ersten fünf Geschäftsjahren nach Beginn der 3. Stufe eine Sonderregelung möglich ist, sowie die Verteilung der Nettogewinne und Verluste der E Z B 1 0 6 3 . In diesen Fällen werden die Stimmen im EZB-Rat nach den Anteilen der nationalen Zentralbanken am gezeichneten Kapital der EZB gewogen. Die Mitglieder des Direktoriums sind zwar stimmberechtigt, ihre Stimmen werden jedoch nicht berücksichtigt 1064. Ein Beschluß, der die qualifizierte Mehrheit der Stimmen erfordert 1065 , gilt als angenommen, wenn die abgegebenen Ja-Stimmen mindestens zwei Drittel des gezeichneten Kapitals der EZB und mindestens die Hälfte der Anteilseigner vertreten 1066 . Das Direktorium des EZB-Rates übernimmt im EZB-Rat die Aufgaben, die im Rahmen des EWI der Präsident des EWI wahrnimmt. Es bereitet also die Sitzungen des EZB-Rates v o r 1 0 6 7 und ftihrt die laufenden Geschäfte der EZB. Es führt darüber hinaus die Geldpolitik gemäß den Richtlinien und Entschei1060

Artikel 10.2 Unterabsatz 2 Satz 2 der Satzung des ESZB und der EZB.

1061

Allerdings kann der EZB-Rat in seiner Geschäftsordnung, die er gemäß Artikel 12.3 der Satzung der ESZB und der EZB erlassen kann, vorsehen, daß Mitglieder des EZB-Rates im Wege der Telekonferenz an der Abstimmung teilnehmen können und daß ein für längere Zeit an der Stimmabgabe verhindertes Mitglied einen Stellvertreter als Mitglied des EZB-Rates benennen kann, Artikel 10.2 Sätze 2 und 3 der Satzung des ESZB und der EZB. Der EZB-Rat ist beschlußfähig, wenn mindestens zwei Drittel seiner Mitglieder an der Abstimmung teilnehmen, Artikel 10.2 Unterabsatz 3 Satz 1 der Satzung des ESZB und der EZB. Ist der EZB-Rat nicht beschlußfähig, so kann der Präsident des Direktoriums eine außerordentliche Sitzung einberufen, bei der die für die Beschlußfassung die Mindestteilnehmerquote nicht erforderlich ist, Artikel 10.2 Unterabsatz 3 Satz 2 der Satzung des ESZB und der EZB. l06 2

Potacs,

EuR 1993, S. 33.

1063

Artikel 10.3 gilt für die Artikel 28, 29, 30, 32, 33 und 51 der Satzung des ESZB und der EZB. 1064

Artikel 10.3 Satz 2 der Satzung des ESZB und der EZB.

1065

Dies erfordert etwa Artikel 28.3 der Satzung des ESZB und der EZB.

1066

Artikel 10.3 Satz 3 der Satzung des ESZB und der EZB. Bei Verhinderung des Präsidenten einer nationalen Zentralbank kann dieser einen Stellvertreter zur Abgabe seiner Stimmanteile benennen, Artikel 10.3 Satz 4 der Satzung des ESZB und der EZB. 1067

Artikel 12.2 der Satzung des ESZB und der EZB.

3

Β. Hoheitsrechtsübertragungen im EUV

düngen des EZB-Rates aus 1 0 6 8 . Es ist hierzu den nationalen Zentralbanken gegenüber weisungsbefugt 1069. Der Präsident des Direktoriums oder bei seiner Verhinderung der Vizepräsident vertritt die EZB nach außen und führt den Vorsitz im EZB-Rat 1 0 7 0 . Die Mitglieder des Direktoriums werden unmittelbar nach dem Beschluß, welche Mitgliedstaaten an der 3. Stufe teilnehmen, durch die Mitgliedstaaten, für die keine Ausnahmeregelung gilt, ernannt 1071 . Das Direktorium besteht aus einem Präsidenten, einem Vizepräsidenten und weiteren Mitgliedern 1072 . Bestehen für Mitgliedstaaten Ausnahmeregelungen, so kann sich das Direktorium aus weniger Mitgliedern als den in Artikel 1091 Absatz 1 Spiegelstrich 2 Satz 2 EGV vorgesehenen insgesamt sechs Mitgliedern zusammensetzen; auf keinen Fall darf es jedoch aus weniger als vier Mitgliedern bestehen 1073 . Angesichts der geringen Zahl der Direktoriumsmitglieder wird nicht jeder Mitgliedstaat mit einem Mitglied im Direktorium vertreten sein 1 0 7 4 . Um dennoch zu garantieren, daß die Mitglieder des Direktoriums von allen Mitgliedstaaten anerkannt werden, werden sie von den Regierungen der Mitgliedstaaten auf der Ebene der Staats- und Regierungschefs auf Empfehlung des Rates, der hierzu das Europäische Parlament anhört, aus dem Kreis der in Währungs- und Bankfragen anerkannten und erfahrenen Persönlichkeiten einvernehmlich ausgewählt und ernannt 1075 . Dieses Verfahren gilt auch für den Fall der Neubesetzung eines freiwerdenden Sitzes im Direktorium 1076 . Die Mitglieder des Direktoriums werden damit im gleichen Verfahren wie der Präsident des EWI ernannt. Wie in seinem Fall soll damit erreicht werden, daß in Fachkreisen wie auf politischer Ebene akzeptierte und anerkannte Fachleute dem Direktorium der EZB angehören 1077 . Die Mitglieder des Direktoriums erfüllen ihre Pflicht hauptamtlich1078. Ein Mitglied darf weder entgeltlich noch 1068

Artikel 12.1 Unterabsatz 2 Satz 1 der Satzung des ESZB und der EZB.

1069

Artikel 12.1 Unterabsatz 2 Satz 2 der Satzung des ESZB und der EZB.

1070

Artikel 13.2 der Satzung der ESZB und der EZB.

1071

Artikel 109 1 Abs. 1 Spiegelstrich 2 EGV.

1072

Artikel 109 1 Abs. 1 Spiegelstrich 2 Satz 1 EGV.

1073

Artikel 109 1 Abs. 1 Spiegelstrich 2 Satz 2 EGV.

1074

Nicolaysen, Rechtsfragen der WU, S. 26.

1075

Artikel 109 a Abs. 2 lit. a EGV. Bei der erstmaligen Ernennung der Mitglieder des Direktoriums ist der Rat des EWI anzuhören, Artikel 50 der Satzung des ESZB und der EZB. 1076

Artikel 11.7 der Satzung des ESZB und der EZB.

1077

Pipkorn, EuR 1994, Beiheft 1, S. 86.

1078

Artikel 11.1 Unterabsatz 2 Satz 1 der Satzung des ESZB und der EZB. Die Beschäftigungsbedingungen für die Mitglieder des Direktoriums, insbesondere ihre Gehälter und Ruhegehälter sowie andere Leistungen der sozialen Sicherheit, sind

IV. Europäische Gemeinschaft

3

unentgeltlich einer anderen Beschäftigung nachgehen, es sei denn, der EZB-Rat erteilt hierzu ausnahmsweise seine Zustimmung 1079 . Die Amtszeit der Direktoriumsmitglieder beträgt acht Jahre; wobei eine Wiederernennung nicht zulässig ist 1 0 8 0 . Nur Staatsangehörige der Mitgliedstaaten können Mitglieder des Direktoriums werden 1081 . Ein Mitglied des Direktoriums, das die Voraussetzungen für die Ausübung seines Amtes nicht mehr erfüllt oder eine schwere Verfehlung begangen hat, kann auf Antrag des EZB-Rates oder des Direktoriums durch den EuGH seines Amtes enthoben werden 1082 . Diese engen Voraussetzungen der Amtsenthebung, insbesondere jedoch die lange Amtszeit ohne die Möglichkeit der Wiederwahl soll ihre persönliche Unabhängigkeit der Mitglieder des Direktoriums und damit auch die Unabhängigkeit der EZB sichern 1083 . Die EZB arbeitet wie das EWI mit den Organen der Europäischen Gemeinschaft zusammen. Der Präsident des Rates und ein Mitglied der Kommission können an den Sitzungen des EZB-Rates teilnehmen, haben aber kein Stimmrecht 1 0 8 4 . Darüber hinaus kann der Präsident des Rates einen Antrag zur Beratung vorlegen 1085 . Der Präsident des Direktoriums der EZB wird zu den Tagungen des Rates eingeladen, wenn dieser Fragen im Zusammenhang mit den Zielen und Aufgaben der EZB erörtert 1086 . Das Europäische Parlament kann den Präsidenten und die weiteren Mitglieder des EZB-Direktoriums anhören 1 0 8 7 . Die EZB unterbreitet dem Europäischen Parlament, dem Rat, der Kommission sowie dem Europäischen Rat einen Jahresbericht über die Arbeit der EZB und die Währungspolitik 1088. Der Präsident des Direktoriums der EZB

Gegenstand von Verträgen mit der EZB und werden vom EZB-Rat auf Vorschlag eines Ausschuß festgelegt, der aus 3 vom EZB-Rat und 3 vom Rat ernannten Mitgliedern besteht, Artikel 11.3 Satz 1 der Satzung des ESZB und der EZB. 1079 1080

Artikel 11.1 Unterabsatz 2 Satz 2 der Satzung des ESZB und der EZB.

Artikel 109 a Abs. 2 lit. b Unterabsatz 2 EGV.

1081

Artikel 109 a Abs. 2 lit. b Unterabsatz 3 EGV.

1082

Artikel 11.4 der Satzung des ESZB und der EZB. Die übrigen Mitglieder des EZB-Rates, die Präsidenten der nationalen Zentralbanken werden nicht auf der Ebene der EG, sondern nach den jeweiligen nationalen Regelungen bestimmt. 1083 1084

1085 1086

Wessels, S. 37.

Artikel 109 b Abs. 1 Unterabsatz 1 EGV. Artikel 109 b Abs. 1 Unterabsatz 2 EGV.

Artikel 109 b Abs. 2 EGV.

1087

Artikel 109 b Abs. 3 Unterabsatz 2 EGV.

1088

Artikel 109 b Abs. 3 Unterabsatz 1 Satz 1 EGV.

23 Uhrig

Β. Hoheitsrechtsübertragungen im EUV

34

legt den Bericht dem Rat und dem Europäischen Parlament vor, das auf dieser Grundlage eine allgemeine Aussprache durchführen kann 1 0 8 9 . Gelten für einen oder mehrere Mitgliedstaaten Ausnahmeregelungen, wird als weiteres Beschlußorgan der EZB der Erweiterte Rat errichtet 1090 . Ihm gehören neben dem Präsidenten und Vizepräsidenten der EZB alle Präsidenten der nationalen Zentralbanken der Mitgliedstaaten einschließlich derjenigen Staaten an, die noch nicht in die 3. Stufe eingetreten sind 1 0 9 1 . Der Erweiterte Rat übernimmt zum einen die Aufgaben des EWI, die infolge der für einen oder mehrere Mitgliedstaaten geltenden Ausnahmeregelungen noch erfüllt werden müssen 1 0 9 2 . Er wirkt darüber hinaus bei der Anhörung und Beratung der nationalen Behörden, der Auslegung von Rechtsvorschriften der Europäischen Gemeinschaft, der Erhebung statistischer Daten, der Erstellung von Berichten und Jahresabschlüssen der EZB und der Festlegung des Kapitalschlüssels und der Beschäftigungsbedingungen für das Personal der EZB m i t 1 0 9 3 . Darüber hinaus trägt er zu den Vorarbeiten bei, die für den Eintritt weiterer Mitgliedstaaten in die 3. Stufe erforderlich sind 1 0 9 4 . Der Präsident der EZB unterrichtet den Erweiterten Rat über Beschlüsse des EZB-Rates 1095 . Die EZB wird, anders als das EWI, bei der Aufnahme ihrer Tätigkeit mit eigenem Kapital in Höhe von fünf Milliarden ECU ausgestattet, das die nationalen Zentralbanken und nicht die Mitgliedstaaten als alleinige Zeichner und Inhaber halten 1096 . Der Schlüssel für die Kapitalzeichnung bestimmt sich dabei nach der Bevölkerungszahl und der wirtschaftlichen Leistungskraft eines Mit1089

Artikel 109 b Abs. 3 Unterabsatz 1 Satz 2 EGV.

1090

Artikel 109 1 Abs. 3 EGV. Er ist dort als drittes Beschlußorgan der EZB vorge-

sehen. 1091

Artikel 45.2 der Satzung des ESZB und der EZB. Durch ihre Teilnahme im Erweiterten Rat sowie im Rat der Wirtschafts- und Finanzminister sollen die Mitgliedstaaten, die nicht von Anfang an der 3. Stufe teilnehmen, ermutigt werden, ihre Anstrengungen zur Erfüllung der Konvergenzkriterien fortzusetzen, Kommission, Grünbuch, Dok. KOM (95) 333 endg., S. 4. 1092

Artikel 47.1 Spiegelstrich 1 i.V.m. Artikel 44 der Satzung des ESZB und der

EZB. 1093 1094

Artikel 47.3 der Satzung des ESZB und der EZB.

1095 1096

Artikel 47.1 und 2 der Satzung des ESZB und der EZB. Artikel 47.4 der Satzung des ESZB und der EZB.

Artikel 28 der Satzung des ESZB und der EZB. Der Hauptzweck der Übertragung von Teilen der Währungsreserven der nationalen Zentralbanken liegt darin, die EZB mit einem entsprechenden Fonds auszustatten, der für Transaktionen im Rahmen der Währungspolitik, insbesondere für Devisenmarktinterventionen, verwendet werden kann, EWI-Jahresbericht 1995, S. 60.

IV. Europäische Gemeinschaft

3

gliedstaates. Jede nationale Zentralbank hat einen Kapitalanteil zu leisten, der der Summe folgender Prozentsätze entspricht, nämlich 50 % des Anteils des jeweiligen Mitgliedstaats an der Bevölkerung der Europäischen Gemeinschaft im vorletzten Jahr vor der Errichtung des ESZB und 50 % des Anteils des jeweiligen Mitgliedstaats am Bruttoinlandsprodukt der Europäischen Gemeinschaft zu Marktpreisen in den fünf Jahren vor dem vorletzten Jahr vor der Errichtung des E S Z B 1 0 9 7 . Der EZB-Rat bestimmt, in welcher Höhe und welcher Form das Kapital einzuzahlen i s t 1 0 9 8 . Da es sich um einen Beschluß über die finanziellen Aspekte der EZB handelt, werden die Stimmen nach den Anteilen der nationalen Zentralbanken am Kapital der EZB gewogen. Die den nationalen Zentralbanken zugeteilten Kapitalanteile werden alle fünf Jahre angepaßt 1099 . In diesem Fall sorgen die nationalen Zentralbanken durch Übertragung ihrer Kapitalanteile untereinander dafür, daß die Verteilung der Kapitalanteile dem angepaßten Schlüssel entspricht 1100 . Abgesehen von diesem Fall der Kapitalanteilsübertragung können die Anteile der nationalen Zentralbanken nicht übertragen, verpfändet oder gepfändet werden 1101 . Die EZB wird außerdem von den nationalen Zentralbanken mit Währungsreserven, die jedoch nicht aus Währungen der Mitgliedstaaten, ECU, IWF-Reservepositionen und Sonderziehungsrechten (SZR) gebildet werden dürfen, bis zu einem Gegenwert von 50 Milliarden ECU ausgestattet1102. Auch diese Währungsreserven werden entsprechend dem jeweiligen Anteil der nationalen Zentralbanken am gezeichneten Kapital der EZB geleistet 1103 , das jeder nationalen Zentralbank in Form einer entsprechenden Forderung gutgeschrieben w i r d 1 1 0 4 . Der EZB-Rat entscheidet über die Denominierung und Verzinsung dieser Forderungen 1105. Die 1097

Artikel 29.1 der Satzung des ESZB und der EZB. Die Prozentsätze werden zum nächsten Vielfachen von 0,05 Prozentpunkten aufgerundet. Für die Bundesbank wurde errechnet, daß sie ungefähr ein Viertel des Grundkapitals der EZB halten wird. Dies wird dem Vertreter der Bundesbank im EZB-Rat bei Abstimmungen, bei denen nach Kapitalanteilen abgestimmt wird, einen entscheidenden Einfluß sichern, Potacs, EuR 1993, S. 33. 1098

Artikel 28.3 der Satzung des ESZB und der EZB.

1099

Der neue Kapitalschlüssel gilt jeweils vom ersten Tag des folgenden Jahres an, Artikel 29.3 der Satzung des ESZB und der EZB.

23*

1100

Artikel 28.5 der Satzung des ESZB und der EZB.

1101

Artikel 28.4 der Satzung des ESZB und der EZB.

1102

Artikel 30.1 Satz 1 der Satzung des ESZB und der EZB.

1103

Artikel 30.2 der Satzung des ESZB und der EZB.

1104

Artikel 30.3 Satz 1 der Satzung des ESZB und der EZB.

1105

Artikel 30.3 Satz 2 der Satzung des ESZB und der EZB.

3

Β. Hoheitsrechtsübertragungen im EUV

EZB hat, anders als das E W I 1 1 0 6 , das uneingeschränkte Recht, die ihr übertragenen Währungsreserven zu halten und zu verwalten sowie sie zu verwenden1 1 0 7 . Damit ist die EZB nicht nur personell, aber auch finanziell unabhängig. Sofern die EZB bei ihrer Tätigkeit einen Nettogewinn erzielt, wird dieser in der folgenden Reihenfolge verteilt: Ein vom EZB-Rat zu bestimmender Betrag, der 20 % des Nettogewinns nicht übersteigen darf, wird dem allgemeinen Reservefonds bis zu einer Obergrenze von 100% des Kapitals zugeführt. Der verbleibende Nettogewinn wird an die Anteilseigner der EZB entsprechend ihren eingezahlten Anteilen ausgeschüttet1108. Erwirtschaftet die EZB einen Verlust, kann der Fehlbetrag aus dem allgemeinen Reservefonds oder nach einem entsprechenden Beschluß des EZB-Rates erforderlichenfalls aus den Einkünften, die den nationalen Zentralbanken aus der Erfüllung ihrer währungspolitischen Aufgaben zufließen 1109 , ausgeglichen werden. Die Anteile, die die nationalen Zentralbanken aus ihren Einkünften des betreffenden Geschäftsjahres zu zahlen haben, errechnen sich im Verhältnis und bis zur Höhe der Beiträge ihres eingezahlten Anteils am Kapital der E Z B 1 1 1 0 Die Erfüllung der dem ESZB gemäß Artikel 105 Absätze 2 und 5 EGV übertragenen Aufgaben für die Geldpolitik der Europäischen Gemeinschaft, für Devisengeschäfte, die Haltung und Verwaltung der Währungsreserven der Mitgliedstaaten, das reibungslose Funktionieren der Zahlungssysteme sowie der auf dem Gebiet der Aufsicht über die Kreditinstitute und der Stabilität des Finanzsystems ergriffenen Maßnahmen werden durch die EZB sichergestellt 1111. Zur Erfüllung dieser Aufgaben kann die EZB beratend, koordinierend, aber auch rechtsetzend und exekutiv tätig werden. In Wahrnehmung ihrer beratenden Aufgabe wird die EZB am Rechtsetzungsverfahren der Europäischen Gemeinschaft beteiligt. Dies gilt sowohl für alle Vorschläge für Rechtsakte der Gemeinschaft im Zuständigkeitsbereich der EZB als auch für Entwürfe nationaler Rechtsvorschriften, die den Zuständigkeitsbereich der EZB berühren, und zwar innerhalb der Grenzen und der Bedingungen, die der Rat nach dem Verfahren des Artikels 106 Absatz 6 EGV festlegt 1112 . Darüber hinaus kann die EZB gegenüber den Organen und Ein-

1106

Siehe oben S. 298.

1107

Artikel 30.1 Satz 3 der Satzung des ESZB und der EZB.

1108

Artikel 33.1 der Satzung des ESZB und der EZB.

1109

Artikel 32.1 der Satzung des ESZB und der EZB.

1110

Artikel 33.2 der Satzung des ESZB und der EZB.

1111

Artikel 9.2 der Satzung des ESZB und der EZB.

1112

Artikel 105 Abs. 4 Unterabsatz 1 EGV.

IV. Europäische Gemeinschaft

3

richtungen der Europäischen Gemeinschaft und gegenüber den nationalen Behörden Stellungnahmen zu in ihren Zuständigkeitsbereich fallenden Fragen abgeben 1113 . Sie kann den Rat, die Kommission und die zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten in Fragen des Geltungsbereichs und der Anwendung der Rechtsvorschriften der Europäischen Gemeinschaft hinsichtlich der Aufsicht über die Kreditinstitute sowie die Stabilität des Finanzsystems beraten und von diesen konsultiert werden 1114 . Zum Zweck der Koordination kann die EZB mit Unterstützung der nationalen Zentralbanken die erforderlichen statistischen Daten von den zuständigen nationalen Behörden oder unmittelbar von den Wirtschaftssubjekten einhol e n 1 1 1 5 . Sie arbeitet hierzu mit den Organen und Einrichtungen der Europäischen Gemeinschaft, den zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten oder Drittstaaten sowie mit internationalen Organisationen zusammen 1116 . Daneben fördert sie die Harmonisierung der Bestimmungen und Gepflogenheiten auf dem Gebiet der Erhebung, Zusammenstellung und Weitergabe von statistischen Daten in den in ihre Zuständigkeit fallenden Bereichen 1117 . Die EZB kann, wie schon das EWI, Empfehlungen und Stellungnahmen abgeben, die allerdings für die Mitgliedstaaten nicht verbindlich sind 1 1 1 8 . Sie kann darüber hinaus verbindliche Verordnungen und Entscheidungen erlassen 1 1 1 9 . So kann sie erstens Verordnungen für die Festlegung und Durchführung der Geldpolitik der Europäischen Gemeinschaft erlassen 1120 . Zweitens kann sie Verordnungen hinsichtlich der Berechnung und Bestimmung von Mindestreservesolls erlassen, die die in den Mitgliedstaaten niedergelassenen Kreditinstitute auf Konten der EZB und der nationalen Zentralbanken unterhalten müssen 1121 . Sie kann drittens Verordnungen erlassen, um effiziente und zuverlässige Verrechnungs- und Zahlungssysteme innerhalb der Europäischen Ge-

1113

Artikel 105 Abs. 4 Unterabsatz 2 EGV.

1114

Artikel 25.1 der Satzung des ESZB und der EZB.

1115

Artikel 5.1 Satz 1 der Satzung des ESZB und der EZB.

1116

Artikel 5.1 Satz 2 der Satzung des ESZB und der EZB.

1117

Artikel 5.3 der Satzung des ESZB und der EZB.

1118

Artikel 108 a Abs. 1 Spiegelstrich 3 EGV. Zur fehlenden Bindungswirkung von Empfehlungen und Stellungnahmen Artikel 189 Unterabsatz 5 EGV und oben S. 22. 1119 1120

Artikel 108 a Abs. 1 Spiegelstriche 1 und 2 EGV.

Artikel 108 a Abs. 1 Spiegelstrich 1 EGV.

1121

Artikel 19.2 der Satzung des ESZB und der EZB. Das EWI hat einen Vorschlag zum Entwurf einer Voerordnung des Rates über Mindestreserven erstellt, EWI-Bericht, Die einheitliche Geldpolitik in Stufe 3, S. 63 ff.

Β. Hoheitsrechtsübertragungen im EUV

3

meinschaft und im Verkehr mit dritten Ländern zu gewährleisten 1122, und sie ist viertens zum Erlaß von Verordnungen befugt, um besondere Aufgaben im Zusammenhang mit der Aufsicht über die Kreditinstitute und sonstigen Finanzinstitute mit Ausnahme von Versicherungsunternehmen wahrzunehmen 1123. Verordnungen der EZB haben allgemeine Wirkung, sie sind in allen ihren Teilen verbindlich und gelten unmittelbar in jedem Mitgliedstaat 1124 . Entscheidungen der EZB sind demgegenüber in allen ihren Teilen für diejenigen verbindlich, an die sie gerichtet sind 1 1 2 5 . Die Rechtsetzungsakte der EZB entfalten damit die gleiche Wirkung wie entsprechende Rechtsetzungsakte der sonstigen Gemeinschaftsorgane 1126. Außerdem ist die EZB befugt, innerhalb von Grenzen und unter Bedingungen, die der Rat festlegt 1127 , Unternehmen bei Nichteinhaltung der Verpflichtungen, die sich aus ihren Verordnungen und Entscheidungen ergeben, mit Geldbußen oder in regelmäßigen Abständen zu zahlenden Zwangsgeldern zu belegen 1128 . Sie kann außerdem gegenüber Kreditinstituten, die die Mindestreserven bei der EZB und den nationalen Zentralbanken nicht unterhalten, Strafzinsen und sonstige Sanktionen mit vergleichbarer Wirkung verhängen 1129 . Damit kann erstmals eine aufgrund Gemeinschaftsrechts errichtete Institution auf geld- und wechselkurspolitischem Gebiet rechtsetzend und exekutiv tätig werden. Die EZB nimmt in den Fällen der Verhängung von Sanktionen zudem Aufgaben wahr, die in den übrigen Politikbereichen der Europäischen Gemeinschaft durch die Kommission wahrgenommen werden. Die EZB übernimmt einerseits die Aufgaben des E W I 1 1 3 0 und damit insbesondere dessen zentrale Rolle auf dem Gebiet der Wechselkurs- und geldpolitischen Koordination 1131 . Die EZB besitzt darüber hinaus aber Kompetenzen zur Gestaltung und Durchführung der Geld- und Zinspolitik. Sie kann Ent-

1122

Artikel 22 der Satzung des ESZB und der EZB.

1123

Artikel 25.2 der Satzung des ESZB und der EZB.

1124

Artikel 108 a Abs. 2 Unterabsatz 1 EGV.

1125

Artikel 108 a Abs. 2 Unterabsatz 3 EGV.

1126

Siehe oben S. 37 ff. Infolgedessen müssen sie begründet werden, sie sind zu veröffentlichen und sind vollstreckbare Titel, Artikel 109 a Abs. 2 Unterabsatz 4 EGV. 1127

Artikel 106 Abs. 6 EGV.

1128

Artikel 108 a Abs. 3 EGV.

1129

Artikel 19.1 Satz 2 der Satzung des ESZB und der EZB. Das EWI hat einen Vorschlag zum Entwurf einer Verordnung des Rates über das Recht der EZB, Sanktionen zu verhängen, erstellt, EWI-Bericht, Die einheitliche Geldpolitik in Stufe 2, S. 87 ff. 1130

Artikel 109 1 Abs. 2 EGV.

1131

Siehe oben S. 293 ff.

IV. Europäische Gemeinschaft

3

Scheidungen in bezug auf geldpolitische Zwischenziele, Leitzinssätze und die Bereitstellung von Zentralbankgeld im ESZB und die für ihre Ausführung notwendigen Leitlinien treffen 1132 . Die Geldpolitik wird dann gemäß den Richtlinien und Entscheidungen des EZB-Rates vom Direktorium der EZB ausgeführt 1133. Die EZB nimmt hierzu, soweit dies möglich und sachgerecht erscheint, die nationalen Zentralbanken in Anspruch 1134 . Zur Durchführung der Geldpolitik der Europäischen Gemeinschaft kann die EZB eigene Offenmarktund Kreditgeschäfte betreiben 1135 . Ihr stehen hierzu vier Arten von Offenmarktgeschäften zur Verfügung, nämlich Hauptrefinanzierungsoperationen, längerfristige Refinanzierungsgeschäfte, Feinsteuerungsmaßnahmen und strukturelle Operationen 1136 . Sie kann auf den Finanzmärkten tätig werden, indem sie auf Gemeinschafts- und Drittlandswährungen lautende Forderungen und börsengängige Wertpapiere sowie Edelmetalle endgültig oder im Rahmen von Rückkaufvereinbarungen kauft und verkauft oder entsprechende Darlehensgeschäfte tätigt 1 1 3 7 . Sie kann weiterhin Kreditgeschäfte mit Kreditinstituten und anderen Marktteilnehmern abschließen, wobei für die Darlehen ausreichende Sicherheiten zu stellen sind 1 1 3 8 . Sie stellt für ihre eigenen Geldmarkt- und Kreditgeschäfte und die der nationalen Zentralbanken allgemeine Grundsätze a u f 1 1 3 9 . Hierzu gehört die Diskont- und Lombardzinsgestaltung. Der EZB-Rat kann ferner mit der Mehrheit von zwei Dritteln der abgegebenen Stimmen über die Anwendung anderer Instrumente der Geldpolitik entscheiden, die er bei

1132

Artikel 12.1 der Satzung des ESZB und der EZB.

1133

Artikel 12.1 Unterabsatz 2 der Satzung des ESZB und der EZB.

1134

Artikel 12.1 Unterabsatz 3 der Satzung des ESZB und der EZB.

1135

Z u den bisher von den nationalen Zentralbanken betriebenen Offenmarkt- und Kreditgeschäften überblickartig Nölling, S. 176 ff. 1136

Z u den Einzelheiten und technischen Merkmalen umfassend EWI-Bericht, Die einheitliche Geldpolitik in Stufe 3, Januar 1997, S. 16 ff.; 51 f. 1137

Artikel 18.1 Spiegelstrich 1 der Satzung des ESZB und der EZB.

1138

Artikel 18.1 Spiegelstrich 2 der Satzung des ESZB und der EZB.

1139

Artikel 18.2 der Satzung des ESZB und der EZB. Da gemäß Artikel 18.1 der Sazung des ESZB und der EZB für alle Kreditgeschäfte des ESZB ausreichende Sicherheiten zu stellen sind, wird das ESZB für die Festlegung von Sicherheiten, dei bei liquiditätszuführenden geldpolitischen Operationenen des ESZB verwendbar sind, zwei Verzeichnisse erstellen. Das Kategorie-1-Verzeichnis wird die marktfähigen Sicherheiten umfassen, die einheitliche, im gesamten Euro-Währungsgebiet gültige und von der EZB festzulegende Kriterien erfüllen. Die Kategorie-2-Verzeichnisse werden weitere marktfähige oder nicht marktfähige Sicherheiten enthalten, die von den nationalen Zentralbanken mit Blick auf ihre nationalen Finanzmärkte und Bankensysteme als besonders wichtig erachtet werden, zu den Einzelheiten, EWI-Bericht, Die einheitliche Geldpolitik in Stufe 3, S. 20 ff.

3

Β. Hoheitsrechtsübertragungen im EUV

Beachtung der Ziele des ESZB für zweckmäßig hält 1 1 4 0 . Der Rat kann der EZB durch einstimmigen Beschluß auf Vorschlag der Kommission nach Anhörung der EZB und nach Zustimmung des Europäischen Parlaments besondere Aufgaben im Zusammenhang mit der Aufsicht über Kreditinstitute und sonstige Finanzinstitute mit Ausnahme von Versicherungsunternehmen übertragen 1141. Außerdem liegt auch die Geldmengensteuerung in der Europäischen Gemeinschaft in der Hand der EZB: Sie hat mit Beginn der 3. Stufe das ausschließliche Recht, die Ausgabe von Euro-Banknoten, die entsprechend dem Einführungsszenario ab 2002 die einzigen gesetzlichen Zahlungsmittel innerhalb der Europäischen Gemeinschaft sein werden 1142 , zu genehmigen und diese zusammen mit den nationalen Zentralbanken auszugeben1143. Außerdem genehmigt die EZB den Umfang der Euro-Münzen, die von den nationalen Zentralbanken ausgegeben werden 1144 . In ihrer Hand liegt auch der Umtausch der nationalen Geldnoten 1145 . Handlungen und Unterlassungen der EZB unterliegen der gerichtlichen Überprüfung und Auslegung durch den EuGH und die nationalen Gerichte. Letztere entscheiden über Streitigkeiten zwischen der EZB einerseits und ihren Gläubigern, Schuldnern oder dritten Personen andererseits, sofern eine Zuständigkeit des EuGH nicht gegeben i s t 1 1 4 6 . Der EuGH ist für Streitigkeiten zuständig, die die Erfüllung der Verpflichtungen aus der Satzung des ESZB und der EZB durch eine nationale Zentralbank betreffen 1147 . Die Entscheidung, den EuGH anzurufen, obliegt dem EZB-Rat 1 1 4 8 . Der EuGH kann im Rahmen von Nichtigkeitsklagen gemäß Artikel 173 EGV, von Untätigkeitsklagen gemäß Artikel 175 EGV und im Wege des Vorabentscheidungsverfahrens gemäß Artikel 177 EGV über die Rechtmäßigkeit von Handlungen oder Unterlassungen der EZB und von Handlungen und Unterlassungen gegenüber der EZB entscheiden 1149 .

1140

Artikel 20 der Satzung des ESZB und der EZB.

1141

Artikel 105 Abs. 6 EGV.

1142

Artikel 16 Unterabsatz 1 Satz 2 der Satzung des ESZB und der EZB.

1143

Artikel 105 a Abs. 1 EGV.

1144

Artikel 105 a Abs. 2 EGV.

1145 1146

Artikel 52 der Satzung des ESZB und der EZB.

Artikel 35.2 der Satzung des ESZB und der EZB.

1147 1148

Artikel 35.6 der Satzung des ESZB und der EZB.

Artikel 35.5 der Satzung des ESZB und der EZB. U49 E r ist auch für Entscheidungen aufgrund von Schiedsklauseln zuständig, die in einem von der EZB oder für ihre Rechnung abgeschlossenen öffentlich-rechtlich oder

IV. Europäische Gemeinschaft

361

Im Bereich der internationalen Zusammenarbeit entscheidet die EZB, wie das ESZB vertreten w i r d 1 1 5 0 . Im Hinblick auf Geschäfte mit Drittländern und internationalen Organisationen ist die EZB, wie auch die nationalen Zentralbanken, befugt mit Zentralbanken und Finanzinstituten und, soweit zweckdienlich, mit internationalen Organisationen Beziehungen aufzunehmen, alle Arten von Devisen und Edelmetallen per Kasse und per Termin zu kaufen und zu verkaufen, wobei der Begriff „Devisen" Wertpapiere und alle sonstigen Vermögenswerte, die auf beliebige Währungen oder Rechnungseinheiten lauten, unabhängig von deren Ausgestaltung einschließt. Die EZB ist befugt, Vermögenswerte zu halten und zu verwalten und alle Arten von Bankgeschäften einschließlich der Aufnahme und Gewährung von Krediten, im Verkehr mit Drittländern sowie internationaler Organisationen zu tätigen 1151 . Während die Geld-, Devisen- und Zinspolitik der Europäischen Gemeinschaft somit ausschließlich in den Händen der EZB liegt, sind ihr die Kompetenzen im Bereich der Wechselkurspolitik nicht umfassend übertragen. Gemäß Artikel 109 Absatz 1 EGV kann nämlich der Rat auf Empfehlung der Kommission oder der EZB und nach Anhörung der EZB und des Europäischen Parlaments durch einstimmigen Beschluß Vereinbarungen über ein Wechselkurssystem gegenüber Drittlandswährungen treffen und innerhalb dieses Systems mit qualifizierter Mehrheit nach Anhörung der EZB die Euro-Leitkurse festlegen und ändern 1152 . Diese Vereinbarungen sind für die EZB verbindlich 1 1 5 3 . Solange solche Vereinbarungen fehlen, kann der Rat mit qualifizierter Mehrheit entweder auf Empfehlung der Kommission und nach Anhörung der EZB oder auf Empfehlung der EZB allgemeine Orientierungen für die Wechselkurspolitik gegenüber Drittlandswährungen aufstellen 1154 .

privatrechtlichen Vertrag enthalten sind, Artikel 35.4 der Satzung des ESZB und der EZB. 1150

Artikel 6.1 der Satzung des ESZB und der EZB.

1151

Artikel 23 der Satzung des ESZB und der EZB.

1152

Abs. 1 betrifft die Einführung eines rechtlich bindenden Wechselkurssystems der Art desjenigen von Bretton Wood, Pipkorn, EuR 1994, Beiheft 1, S. 88. Die Modalitäten für die Aushandlung und den Abschluß solcher Vereinbarungen werden vom Rat mit qualifizierter Mehrheit beschlossen, Artikel 109 Abs. 3 EGV. Derartige Leitkursänderungen sind jedoch nur möglich, um einen mit dem Ziel der Preisstabilität in Einklang stehenden Konsens zu erzielen, Ohr, S. 228. Durch diese Befugnis des Rates wird das Verhandlungsmonopol der Kommission durchbrochen, damit der Rat etwa seinen Präsidenten oder den Präsidenten der EZB mit der Verhandlungsführung beauftragen kann, Pipkorn, EuR 1994, Beiheft 1, S. 88. 1153 1154

Artikel 109 Abs. 3 Unterabsatz 2 EGV.

Artikel 109 Abs. 2 EGV.

3

Β. Hoheitsrechtsübertragungen im EUV

Die EZB ist also, anders als das EWI, die die Geld-, Devisen- und Zinspolitik der Europäischen Gemeinschaft bestimmende Einrichtung. Sie besitzt Rechtspersönlichkeit und wird mit eigenem Kapital ausgestattet. Sie wird von einem Rat geleitet, dem neben den Präsidenten der nationalen Zentralbanken auch die Mitglieder des Direktoriums der EZB angehören. Diese werden auf der Ebene der Staats- und Regierungschefs für 8 Jahre ohne die Möglichkeit der Wiederwahl ernannt. Die EZB ist nicht auf die Koordinierung der Geldpolitik der Mitgliedstaaten beschränkt. Sie besitzt neben Kompetenzen zur Koordinierung und Beratung auch Rechtsetzungs- und Exekutivkompetenzen, die diejenigen der Mitgliedstaaten ablösen. Neben nichtverbindlichen Empfehlungen und Stellungnahmen kann sie Verordnungen und Entscheidungen erlassen, und bei Zuwiderhandlungen gegen ihre Rechtsakte ist sie zudem befugt, Sanktionen zu verhängen. Die EZB kann eigene Geldmarkt- und Kreditgeschäfte tätigen. Sie steuert die Geldmenge und kann die Leitzinssätze festlegen. Damit verfügt sie über die wesentlichen Instrumente zur Gestaltung einer einheitlichen Währungspolitik. Im Bereich der Wechselkurspolitik besteht hingegen eine geteilte Verantwortlichkeit, denn in diesem Bereich besitzt auch der Rat Kompetenzen. Der Rat kann allgemeine Orientierungen aufstellen und Vereinbarungen über ein Wechselkurssystem für die ECU gegenüber Drittländern treffen, die für die EZB verbindlich sind.

(bb) Nationale Zentralbanken Neben der EZB sind die nationalen Zentralbanken integraler Bestandteil des E S Z B 1 1 5 5 . Sie sind alleinige Zeichner und Inhaber des Kapitals der E Z B 1 1 5 6 . Bei Beschlüssen des EZB-Rates besitzt jede nationale Zentralbank grundsätzlich eine Stimme 1 1 5 7 . Bei Beschlüssen, die das Kapital der EZB betreffen, werden die Stimmen der nationalen Zentralbanken nach Kapitalanteilen gewichtet, während die Stimmen der Mitglieder des Direktoriums nicht berücksichtigt werden 1158 . Die Kompetenzen der nationalen Zentralbanken werden sich in der 3. Stufe im Vergleich zu ihren jetzigen Kompetenzen zum Teil wesentlich verändern. Zunächst hat jeder Mitgliedstaat sicherzustellen, daß spätestens zum Zeitpunkt der Errichtung des ESZB seine innerstaatlichen Rechtsvorschriften einschließlich der Satzung seiner Zentralbank mit dem EG-Vertrag sowie der Satzung des

1155

Artikel 14.3 Satz 1 der Satzung des ESZB und der EZB.

1156

Artikel 28.2 der Satzung des ESZB und der EZB.

1157

Siehe oben S. 350.

1158

Siehe oben S. 351.

IV. Europäische Gemeinschaft

33

ESZB in Einklang stehen 1159 . Dies beinhaltet insbesondere, daß die nationalen Zentralbanken unabhängig sein müssen. Weder die nationalen Zentralbanken noch ein Mitglied ihrer Beschlußorgane darf Weisungen von Organen oder Einrichtungen der Europäischen Gemeinschaft, der nationalen Regierungen oder anderer Stellen einholen oder entgegennehmen1160. Die Organe der Europäischen Gemeinschaft sowie die Regierungen der Mitgliedstaaten verpflichten sich, nicht zu versuchen, die Mitglieder nationaler Zentralbanken bei der Wahrnehmung ihrer Aufgaben zu beeinflussen 1161. Die Unabhängigkeit der nationalen Zentralbanken ergänzt die Unabhängigkeit der Mitglieder des Direktoriums der EZB, so daß alle Mitglieder des EZB-Rates unabhängig handeln können. Außerdem haben die Satzungen der nationalen Zentralbanken vorzusehen, daß die Amtszeit des Präsidenten der jeweiligen Zentralbank mindestens fünf Jahre beträgt 1162 . Damit soll die persönliche Unabhängigkeit der Präsidenten der nationalen Zentralbanken gestärkt werden 1163 . Aus diesem Grund sind auch die Gründe für eine Amtsenthebung eng begrenzt: Der Präsident einer nationalen Zentralbank, der zugleich Mitglied des EZB-Rates ist, kann aus seinem Amt nur entlassen werden, wenn er die Voraussetzungen für die Ausübung seines Amtes nicht mehr erfüllt oder eine schwere Verfehlung begangen h a t 1 1 6 4 . Gegen die Entlassung kann sowohl der Betroffene als auch der EZB-Rat Klage vor dem EuGH erheben 1165 . Die damit geschaffene individuelle Klagemöglichkeit gegen einen mitgliedstaatlichen Rechtsakt ist Folge der künftigen Zugehörigkeit der nationalen Zentralbanken zum ESZB und zeigt erneut, welches Gewicht der persönlichen Unabhängigkeit der Mitglieder des EZB-Rates beigemessen w i r d 1 1 6 6 . Mit Ausnahme dieser zwingend erforderlichen Änderungen der innerstaatlichen Regelungen betreffend die Zentralbanken unterliegen die Mitgliedstaaten hinsichtlich der Satzung der nationalen Zentralbanken keinen Vorgaben

1159

Artikel 108 EGV. Einen Überblick über die institutionellen Veränderungen der nationalen Zentralbanken in den Jahren 1993 und 1994 gibt der EWI-Jahresbericht 1994, S. 99 ff.; zu den institutionellen Unvereinbarkeiten betreffend die nationalen Zentralbanken EWI-Jahresbericht 1996, S. 118 ff. 1160

Artikel 107 Satz 1 EGV.

1161

Artikel 107 Satz 2 EGV.

1162

Artikel 14.2 Unterabsatz 1 der Satzung des ESZB und der EZB.

1163

Das EWI hat die aus seiner Sicht mit Blick auf die persönliche Unabhängigkeit erforderlichen Regelungen aufgelistet, EWI-Jahresbericht 1996, S. 110. 1164

Artikel 14.2 Unterabsatz 2 Satz 1 der Satzung des ESZB und der EZB. Diese Anforderung soll verhindern, daß die Entlassung eines Präsidenten im Ermessen jener Instanzen leigt, die auch für seine Ennennung sorgen, EWI Jahresbericht 1996, S. 110. 1165 1166

Artikel 14.2 Unterabsatz 2 Satz 2 der Satzung des ESZB und der EZB.

Nicolaysen, Rechtsfragen der WU, S. 26.

34

Β. Hoheitsrechtsübertragungen im EUV

durch Gemeinschaftsrecht 1167. Die nationalen Zentralbanken bleiben also ungeachtet ihrer Funktion im ESZB nationale Einrichtungen der Mitgliedstaaten. Die Aufgaben und Kompetenzen der nationalen Zentralbanken werden im ESZB zugunsten der EZB reduziert. Die nationalen Zentralbanken sind ihr gegenüber grundsätzlich weisungsabhängig und haben gemäß den Richtlinien und Weisungen der EZB zu handeln 1168 . EZB und nationale Zentralbanken sind somit nicht gleichberechtigt, die EZB besitzt vielmehr Leitungsbefugnisse 1169. Dem Kompetenzzuwachs auf Seiten der EZB korrespondiert ein entsprechender Kompetenzverlust der nationalen Zentralbanken. So haben diese beispielsweise nicht mehr das Recht zur Ausgabe von Banknoten117°. Sie sind lediglich befugt, die durch die EZB genehmigten Banknoten auszugeben1171. Sie besitzen zwar das Recht zur Ausgabe von Münzen, doch bedarf der Umfang dieser Ausgabe ebenfalls der Genehmigung durch die E Z B 1 1 7 2 . Die Maßnahmen zur Harmonisierung der Stückelung und der technischen Merkmale aller für den Umlauf bestimmten Münzen kann der Rat nach dem Verfahren des Artikels 189 c EGV und nach Anhörung der EZB erlassen 1173 . Die nationalen Zentralbanken besitzen also keine von der Europäischen Gemeinschaft unabhängige Befugnis zur Steuerung von Menge und Stückelung der Zahlungsmittel. Die nationalen Zentralbanken wirken gleichwohl bei der Verwirklichung der währungspolitischen Ziele des ESZB mit. Nach der Übertragung von Teilen ihrer Währungsreserven an die EZB behalten die nationalen Zentralbanken den verbleibenden Teil ihrer Reserven 1174 und sie können die Mindestreserven der in den Mitgliedstaaten niedergelassenen Kreditinstitute halten 1175 . Ihnen obliegt die Bankenaufsicht 1176. Zur Erfüllung ihrer Verpflichtungen gegenüber inter-

1167

So ausdrücklich das EWI, Fortschritte auf dem Weg zur Konvergenz, November 1996, S. 106; Potacs, EuR 1993, S. 23. 1168

Artikel 14.3 Satz 1 der Satzung des ESZB und der EZB.

1169

Potacs, EuR 1993, S. 32.

1170

Artikel 105 a EGV.

1171

Artikel 105 a Abs. 1 Satz 2 EGV.

1172

Artikel 105 a Abs. 2 Satz 1 EGV.

1173

Artikel 105 a Abs. 2 Satz 2 EGV.

1174

EWI-Jahresbericht 1995, S. 61.

1175

Artikel 19.1 der Satzung des ESZB und der EZB. 1 * 76 EWI-Jahresbericht 1996, S. 9. Zu den Vorbereitungsarbeiten in bezug auf Aufgaben der EZB, die in Zusammenhang mit der Bankenaufsicht gemäß Artikel 105 Abs. 5 EGV und Artikel 25 Abs. 1 der Satzung des ESZB und der EZB stehen EWIJahresbericht 1996, S. 85.

IV. Europäische Gemeinschaft

3

nationalen Organisationen können auch sie Geschäfte tätigen 1 1 7 7 . Auch können sie Einrichtungen zur Verfugung stellen, um effiziente und zuverlässige Verrechnungs- und Zahlungssysteme innerhalb der Europäischen Gemeinschaft und im Verkehr mit dritten Ländern zu gewährleisten 1178. Ferner werden die ständigen Fazilitäten, die die EZB als Ergänzung ihrer Offenmarktgeschäfte zur Verfügung stellen wird, von den nationalen Zentralbanken verwaltet 1179 . Die nationalen Zentralbanken können daneben auch eigene Offenmarkt- und Kreditgeschäfte 1180 sowie Geschäfte mit Drittstaaten und internationalen Organisationen tätigen 1181 , doch sind diese nicht unbeschränkt möglich. Alle Geschäfte der nationalen Zentralbanken müssen nämlich den Richtlinien und Weisungen der EZB entsprechen. Ebenso wie bei Transaktionen mit ihren Arbeitsguthaben in Fremdwährungen bedürfen Geschäfte mit Währungsreserven oberhalb eines bestimmten Umfangs zudem der Zustimmung der EZB, damit die Übereinstimmung mit der Währungspolitik der Europäischen Gemeinschaft gewährleistet ist 1 1 8 2 . Schließlich können die nationalen Zentralbanken gemäß Artikel 14.4 der Satzung des ESZB und der EZB andere als die in der Satzung bezeichneten Aufgaben wahrnehmen, sofern der EZB-Rat nicht durch einen Beschluß, der mit Zwei-Drittel-Mehrheit ergeht, festlegt, daß diese Aufgaben nicht mit den Zielen und Aufgaben des ESZB vereinbar sind. Nimmt die nationale Zentralbank derartige andere Aufgaben wahr, werden sie von ihr in eigener Verantwortung und auf eigene Rechnung betrieben. Derartige andere Aufgaben sind etwa Aufgaben im Rahmen der Bankenaufsicht, denn in der ESZB-Satzung sind nur einige Aufgaben der Finanzaufsicht ausdrücklich geregelt 1183 . So kann die EZB zwar den Rat, die Kommission und die zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten beraten, sie kann von diesen konsultiert werden, und sie kann aufgrund von Beschlüssen des Rates besondere Aufgaben wahrnehmen 1184. Die Bankenaufsicht selbst obliegt jedoch grundsätzlich den nationalen Zentralbanken.

1177

Artikel 31.1 der Satzung des ESZB und der EZB. Hierzu werden die nationalen Zentralbanken Arbeitsguthaben in Fremdwährungen halten und verwenden, EWIJahresbericht 1995, S. 61. 1178 1179

Artikel 22 der Satzung des ESZB und der EZB.

EWI-Bericht, Die einheitliche Geldpolitik in Stufe 3, S. 18.

1180

Artikel 18 der Satzung des ESZB und der EZB.

1181

Artikel 23 der Satzung des ESZB und der EZB.

1182

Artikel 31.2 der Satzung des ESZB und der EZB.

xm

Potacs,

1184

EuR 1993, S. 38.

Artikel 25.1 der Satzung des ESZB und der EZB.

3

Β. Hoheitsrechtsübertragungen im EUV

Die Einbindung der nationalen Zentralbanken in das ESZB und ihre untergeordnete Stellung gegenüber der EZB zeigt sich auch bei ihrer finanziellen Ausstattung. Den nationalen Zentralbanken bleiben nämlich Einkünfte aus ihren Geschäften nicht notwendigerweise erhalten. Am Ende eines jeden Geschäftsjahres werden die Einkünfte der nationalen Zentralbanken, die sie aus der Erfüllung währungspolitischer Aufgaben im Rahmen des ESZB erzielt haben, vielmehr verteilt. Die monetären Einkünfte einer Zentralbank werden gebildet durch ihre Einkünfte aus Vermögenswerten, die sie als Gegenposten zum Barumlaufgeschäft und zu ihren Verbindlichkeiten aus Einlagen der Kreditinstitute hält 1 1 8 5 . Die Summe diese Einkünfte wird unter den nationalen Zentralbanken gemäß ihrem Anteil am Kapital der EZB aufgeteilt 1186 . Erforderlichenfalls werden mit den Einkünften der nationalen Zentralbanken auch Verluste abgedeckt, die durch die EZB erwirtschaftet wurden 1187 . Die nationalen Zentralbanken können Rechtsschutz gegen Entscheidungen und Verordnungen der EZB in Anspruch nehmen, denn gemäß Artikel 173 Absatz 2 Unterabsatz 2 EGV können auch juristische Personen gegen Handlungen und Unterlassungen von Gemeinschaftsorganen Klage erheben 1188 . Allerdings ist dabei zwischen außenwirksamen Entscheidungen und Verordnungen einerseits und internen Anordnungen an die nationalen Zentralbanken andererseits zu unterscheiden. Letztere werden weder im EG-Vertrag noch in der Satzung des ESZB und der EZB zu den vom EuGH überprüfbaren Rechtsakten gezählt. Für die Abgrenzung zwischen außenwirksamen Rechtsakten und internen Anweisungen ist entscheidend, ob die Rechtsstellung der nationalen Zentralbank als Teil des ESZB oder deren sonstige Rechtsstellung betroffen ist. Nimmt eine nationale Zentralbank Aufgaben gemäß Artikel 14.4 der Satzung des ESZB und der EZB etwa im Rahmen der Bankenaufsicht wahr, so wäre ein Beschluß der EZB, der die Wahrnehmung dieser Aufgaben für unvereinbar mit den Zielen und Aufgaben des ESZB erklärt, keine interne Weisung, sondern eine vor dem EuGH anfechtbare Entscheidung. Grund hierfür ist, daß nicht über die Ausübung von Kompetenzen der nationalen Zentralbanken innerhalb, sondern außerhalb des ESZB entschieden w i r d 1 1 8 9 .

1185

Artikel 32.2 der Satzung des ESZB und der EZB.

1186

Artikel 32.5 der Satzung des ESZB und der EZB.

1187

Artikel 33.2 der Satzung des ESZB und der EZB.

1188

Auf der anderen Seite besteht auch für die EZB ein Klagerecht gegen die nationalen Zentralbanken, wenn diese ihre vertraglichen Verpflichtungen nicht erfüllen, Artikel 35.6 der Satzung des ESZB und der EZB. m 9

Potacs, EuR 1993, S. 40.

IV. Europäische Gemeinschaft

3

Die nationalen Zentralbanken sind also integraler Bestandteil des ESZB. Sie sind im EZB-Rat jeweils durch den Zentralbankpräsidenten vertreten. Sie sind gegenüber der EZB bei der Wahrnehmung der Aufgaben im Rahmen des ESZB weisungsabhängig und haben gemäß deren Richtlinien und Weisungen zu handeln. Ihre verbleibenden Kompetenzen, beispielsweise auf dem Gebiet der Offenmarkt- und Kreditpolitik bestehen neben Kompetenzen der EZB auf diesen Gebieten, wobei die Ausübung dieser Kompetenzen durch die nationalen Zentralbanken der Erreichung der Ziele des ESZB und nicht nationalen Zielen zu dienen hat. Die Handlungsmöglichkeiten der nationalen Zentralbanken sind darüber hinaus auch hinsichtlich des Umfangs bestimmter Geschäfte beschränkt. So bedürfen Geschäfte mit Währungsreserven sowie Transaktionen in Fremdwährungen oberhalb eines bestimmten Umfangs der Zustimmung der EZB. Die Rolle der nationalen Zentralbanken als integraler Teil des ESZB zeigt sich auch daran, daß sie Einkünfte aus Geschäften im Rahmen des ESZB nicht behalten, sondern daß diese entsprechend den Kapitalanteilen an der EZB aufgeteilt werden.

(3) Ergebnis Dritte Stufe In der 3. Stufe wird die Währungspolitik unumkehrbar dem Aufgaben- und Kompetenzbereich der Europäischen Gemeinschaft zugewiesen. Für den Beginn der 3. Stufe sieht der EG-Vertrag zwei Möglichkeiten vor: Der Rat in der Zusammensetzung der Staats- und Regierungschefs hätte zum einen bis spätestens 31. Dezember 1996 beschließen können, daß die 3. Stufe an einem bis Ende 1997 festzulegenden Datum beginnt. Da ein solcher Beschluß nicht erfolgt ist, wird die 3. Stufe am 1. Januar 1999 beginnen, sofern die Mitgliedstaaten die notwendigen Voraussetzungen für eine gemeinsame Währung erfüllen. Die Mitgliedstaaten haben vor allem vier Konvergenzkriterien zu erfüllen: einen hohen Grad an Preisstabilität, der dann erreicht ist, wenn langanhaltende Preisstabilität und eine durchschnittliche Inflationsrate von nicht mehr als 1,5 % über der Inflationsrate jener höchstens drei Mitgliedstaaten, die auf diesem Gebiet das beste Ergebnis erzielt haben, gegeben sind. Erforderlich ist außerdem eine auf Dauer tragbare Finanzlage der öffentlichen Hand, die voraussetzt, daß keine Ratsentscheidung vorliegt, die feststellt, daß in einem Mitgliedstaat ein übermäßiges Haushaltsdefizit vorliegt. Darüber hinaus muß ein Mitgliedstaat seit mindestens zwei Jahren die normalen Bandbreiten des Wechselkursmechanismus des EWS ohne Abwertung gegenüber der Währung eines anderen Mitgliedstaates einhalten sowie ein langfristiges Zinssatzniveau, das um nicht mehr als 2 % über dem Satz jener höchstens drei Mitgliedstaaten liegt, die auf dem Gebiet der Preisstabilität das beste Ergebnis erzielt haben. Der Rat, der in der Zusammensetzung der Staats- und Regierungschefs tagt, entscheidet mit Zwei-Drittel-Mehrheit seiner Stimmen, ob in den Mitgliedstaa-

3

Β. Hoheitsrechtsübertragungen im EUV

ten die notwendigen Voraussetzungen vorliegen. Hätte er bis spätestens 31. Dezember 1996 eine solche Entscheidung getroffen, hätte er nicht nur berücksichtigen müssen, ob eine Mehrheit der Mitgliedstaaten die notwendigen Voraussetzungen erfüllt, sondern auch, ob es für die Europäische Gemeinschaft zweckmäßig ist, in die 3. Stufe einzutreten. Der Eintritt in die 3. Stufe hätte insofern auch eine Zweckmäßigkeitsprüfung beinhaltet mit der Folge, daß sich der Rat, auch wenn die Mehrheit der Mitgliedstaaten die notwendigen Voraussetzungen erfüllt, gegen den Eintritt in die 3. Stufe hätte entscheiden können. Da sich der Rat jedoch auf dem Europäischen Rat in Madrid gegen den Eintritt in die 3. Stufe vor dem 1. Januar 1999 entschieden h a t 1 1 9 0 , hat der Rat in der Zusammensetzung der Staats- und Regierungschefs nunmehr vor dem 1. Juli 1998 zu entscheiden, welche Mitgliedstaaten die notwendigen Voraussetzungen für den Eintritt in die 3. Stufe erfüllen. Eine Zweckmäßigkeitsprüfung findet nicht mehr statt. Außerdem ist es für den Eintritt in die 3. Stufe nicht mehr erforderlich, daß die Mehrheit der Mitgliedstaaten die notwendigen Voraussetzungen erfüllt. Ein Mitgliedstaat, der die notwendigen Voraussetzungen erfüllt - und nur ein solcher kann in die 3. Stufe übergehen - kann seine Teilnahme an der 3. Stufe nicht verhindern. Ausnahmen gelten lediglich für das Vereinigte Königreich und Dänemark, denen in Protokollen zugebilligt wurde, daß sie ihre Nichtteilnahme an der 3. Stufe notifizieren können. Erfüllt am 1. Januar 1999 kein oder lediglich ein Mitgliedstaat die notwendigen Voraussetzungen, wird die 3. Stufe nicht beginnen. Für Mitgliedstaaten, die nicht an der 3. Stufe teilnehmen, gelten die in der 3. Stufe in Kraft tretenden Regelungen der Währungsunion nicht. Am ersten Tag der 3. Stufe beschließt der Rat einstimmig die unwiderrufliche Festsetzung der Wechselkurse der Währungen der Mitgliedstaaten zueinander und setzt unwiderruflich feste Kurse fest, zu denen die Währungen der Mitgliedstaaten durch den Euro ersetzt werden. Die Einführung des Euro erfolgt gemäß einem mehrphasigen Einführungsszenario. Auf eine etwa einjährige Vorbereitungsphase im Jahre 1998 folgen eine maximal dreijährige Übergangsphase, während derer sowohl die nationalen Währungen als auch der Euro gesetzliche Zahlungsmittel sind, und eine maximal sechsmonatige Umstellungsphase. Mit dem spätestens am 30. Juni 2002 eintretenden Ende der Umstellungsphase werden die nationalen Währungen vollständig durch den Euro ersetzt. Mit Beginn der 3. Stufe nimmt das ESZB seine Arbeit auf. Es besteht aus der EZB und den nationalen Zentralbanken, die seine Aufgaben und Ziele verwirklichen. Vorrangiges Ziel des ESZB ist die Gewährleistung der Preisstabilität. Es

1190

Schlußfolgerungen des Europäischen Rates von Madrid, Bulletin der EU 12/1995, S. 10.

IV. Europäische Gemeinschaft

3

hat zur Aufgabe, die Geldpolitik der Europäischen Gemeinschaft festzulegen, Devisengeschäfte durchzuführen, die ihr übertragenen Währungsreserven der Mitgliedstaaten zu halten und zu verwalten und das Funktionieren der Zahlungssysteme zufördern. Im Bereich der Wechselkurspolitik ist es an allgemeine Orientierungen und Vereinbarungen über Wechselkurssysteme für den Euro gebunden, die der Rat aufstellen bzw. treffen kann. Die neu zu errichtende EZB wird von einem Rat geleitet, der aus den Mitgliedern des Direktoriums der EZB sowie den Präsidenten der nationalen Zentralbanken besteht. Die EZB ist personell, funktionell und finanziell unabhängig. Personell wird die Unabhängigkeit der Mitglieder der Beschlußorgane durch eine mit acht Jahren sehr lange Amtszeit ohne die Möglichkeit einer Wiederernennung und die beschränkte Möglichkeit einer Amtsenthebung gesichert. Die Mitglieder des Direktoriums der EZB und die Präsidenten der nationalen Zentralbanken dürfen keine Weisungen von Organen oder Einrichtungen der Europäischen Gemeinschaft oder von Regierungen der Mitgliedstaaten oder anderen Stellen entgegennehmen, noch dürfen jene versuchen, die Mitglieder der EZB bzw. der nationalen Zentralbanken zu beeinflussen. Die EZB unterliegt bei ihren Entscheidungen nicht der parlamentarischen Kontrolle des Europäischen Parlaments, sie ist lediglich berichtspflichtig. Sie verfügt über eigenes Kapital, einen eigenen Haushalt und eigene Einkünfte. Die EZB ist das für die Durchführung der einheitlichen Geld-, Devisen- und Zinspolitik der Europäischen Gemeinschaft zuständige Organ. Für die möglichen Offenmarkt- und Kreditgeschäfte der nationalen Zentralbanken stellt sie ebenso wie für ihre eigenen Geschäfte auf diesem Gebiet allgemeine Grundsätze auf. Sie kann hierzu beratend, koordinierend, aber auch rechtsetzend tätig werden. So ist sie zu allen Vorschlägen der Europäischen Gemeinschaft und Entwürfen der nationalen Behörden in ihrem Zuständigkeitsbereich anzuhören. Neben Stellungnahmen und Empfehlungen kann die EZB Entscheidungen und Verordnungen erlassen. Darüber hinaus kann die EZB auch Sanktionen verhängen, so daß sie auch Kompetenzen zur Wahrnehmung exekutivischer Aufgaben besitzt. Sie besitzt die Kompetenz zur Geldmengensteuerung und Leitzinsfestsetzung, sie hat das ausschließliche Recht, die Ausgabe von Banknoten zu genehmigen, und sie kann die Mindestreserven für die in den Mitgliedstaaten niedergelassenen Kreditinstitute festlegen. Die nationalen Zentralbanken sind gegenüber der EZB weisungsabhängig. Ihre Geschäfte haben den Weisungen und Richtlinien der EZB zu entsprechen und haben den Zielen des ESZB, nicht dagegen nationalen Zielen zu dienen. Geschäfte mit Währungsreserven und Transaktionen in Fremdwährungen oberhalb eines gewissen Rahmens bedürfen darüber hinaus ebenso wie der Umfang der auszugebenden Münzen der Genehmigung durch die EZB. Die nationalen Zentralbanken können andere als die in der Satzung des ESZB und der EZB 24 Uhrig

3

Β. Hoheitsrechtsübertragungen im EUV

vorgesehenen Aufgaben wahrnehmen. Diese gelten dann jedoch nicht als Aufgaben des ESZB, und der EZB-Rat kann beschließen, daß sie mit dem ESZB unvereinbar ist. Auf dem Gebiet der Geld-, Devisen-, Wechselkurs- und Zinspolitik werden folglich in der 3. Stufe von den Mitgliedstaaten keine Kompetenzen mehr wahrgenommen. Die Mitgliedstaaten übertragen ihre währungspolitischen Kompetenzen vielmehr vollständig auf die Ebene der Europäischen Gemeinschaft und weisen damit die Währungspolitik uneingeschränkt der Europäischen Gemeinschaft als deren Aufgabenbereich z u 1 1 9 1 . Wesentliches Mittel der gemeinschaftlichen Währungspolitik ist die Einfuhrung des Euro als gemeinsame, die Währungen der Mitgliedstaaten ablösende Währung. Durch die Ablösung der nationalen Währungen und durch die Kompetenzen der EZB verlieren die Mitgliedstaaten ihre geld-, zins- und wechselkurspolitischen Steuerungsmöglichkeiten. Währungspolitische Kompetenzen bestehen also nach dem EG-Vertrag ausschließlich auf der Ebene der Europäischen Gemeinschaft, die Mitgliedstaaten haben dagegen umfassend auf die Ausübung eigener währungspolitischer Kompetenzen zugunsten der Europäischen Gemeinschaft verzichtet.

dd) Ergebnis Währungsordnung des EG-Vertrages Der EG-Vertrag sieht eine stufenweise Übertragung sämtlicher Hoheitsrechte auf dem Gebiet der Währungspolitik auf die Europäische Gemeinschaft vor. Diese immer umfassendere Kompetenzausstattung der Europäischen Gemeinschaft vollzieht sich in drei Stufen. Die 1. Stufe der Währungsunion hatte das Ziel, die Währungspolitiken der Mitgliedstaaten anhand konkreter, gemeinschaftsrechtlich festgelegter Kriterien zu beobachten und zu überwachen. Ein erster Schritt in Richtung auf eine Bündelung der währungspolitischen Kompetenzen war die Erweiterung der Aufgaben des Ausschusses der Zentralbankpräsidenten, dessen Mitgliedern erstmals eine unabhängige Stellung eingeräumt wurde. Dieser Ausschuß besaß aber keine Steuerungs- und Entscheidungsbefugnisse auf dem Gebiet der Währungspolitik, sondern diente ausschließlich der Koordination und dem Informationsaustausch. Er beobachtete und beriet die Mitgliedstaaten und koordinierte deren währungspolitische Aktivitäten. Das Ziel der 2. Stufe der Währungsunion geht über die bloße Koordinierung und Überwachung der nationalen Währungspolitiken hinaus. Vielmehr soll der Übergang in die 3. Stufe der Währungsunion vorbereitet werden. Möglich wird dies durch den Wegfall aller Beschränkungen des Kapital- und Zahlungsver-

191

Pipkorn, CMLR 1994, S. 263.

IV. Europäische Gemeinschaft

3

kehrs sowie die Bündelung der bisherigen koordinierenden und beobachtenden Aufgaben der Europäischen Gemeinschaft in einer neuen Einrichtung, dem EWI. Das mit Rechtspersönlichkeit ausgestattete und im EG-Vertrag verankerte EWI, dessen Mitglieder die nationalen Zentralbanken sind, kann allerdings nicht rechtsetzend tätig werden, sondern ist auf nichtverbindliche Stellungnahmen beschränkt. Das EWI hat darüber hinaus jedoch auch die Aufgabe der logistischen und organisatorischen Vorbereitung der 3. Stufe. Obgleich also die Durchführung der Währungspolitik auch in der 2. Stufe weiterhin in der Hand der Mitgliedstaaten bleibt, übertragen die Mitgliedstaaten die Vorbereitung der 3. Stufe einer unabhängigen Gemeinschaftseinrichtung mit der Folge, daß ein aufgrund Gemeinschaftsrechts durch eine Gemeinschaftseinrichtung vorbereiteter und durchgeführter Prozeß hin zu einer EG-Währungspolitik eingeleitet wird. Erst die 3. Stufe hat die Übertragung der währungspolitischen Kompetenzen der Mitgliedstaaten auf die Europäische Gemeinschaft zur Folge. Die 3. Stufe beginnt jedoch anders als die 2. Stufe nur dann, wenn die Mitgliedstaaten bestimmte notwendige Voraussetzungen erfüllen. Es müssen insbesondere die Konvergenzkriterien niedriger Inflationsraten, nicht übermäßiger Haushaltsdefizite, stabiler Wechselkurse und niedriger langfristiger Zinssätze erfüllt werden. Der in der Zusammensetzung der Staats- und Regierungschefs tagende Rat entscheidet mit qualifizierter Mehrheit Ende April oder Anfang Mai 1998, ob und welche Mitgliedstaaten die Konvergenzkriterien erfüllen. Diese Mitgliedstaaten werden an der 3. Stufe teilnehmen, während nur die anderen Mitgliedstaaten Ausnahmeregelungen gelten. Zur Regelung der Wechselkursbeziehungen der an der 3 Stufe teilnehmenden Mitgliedstaaten und derjenigen Mitgliedstaaten, die an der 3. Stufe nicht teilnehmen, haben die Mitgliedstaaten anstelle des EWS, das mit Beginn der 3. Stufe außer Kraft tritt, einen neuen Wechselkursmechanismus vereinbart, der den Euro als Bezugspunkt hat. Am ersten Tag der 3. Stufe beschließt der Rat einstimmig die unwiderrufliche Festsetzung der Wechselkurse der Währungen der Mitgliedstaaten zueinander und setzt unwiderruflich feste Kurse fest, zu denen die Währungen der Mitgliedstaaten durch den Euro ersetzt werden. Die Einführung des Euro erfolgt gemäß einem mehrphasigen Einführungsszenario. Mit dem spätestens am 30. Juni 2002 eintretenden Ende der letzten Phase werden die nationalen Währungen vollständig durch den Euro ersetzt. In der 3. Stufe übertragen die Mitgliedstaaten ihre Kompetenzen auf den Gebieten der Geld-, Devisen-, Zins- und Wechselkurspolitik auf die Europäische Gemeinschaft. Während die Wechselkurspolitik in Zusammenarbeit zwischen dem Rat und der EZB durchgeführt wird, wird die Geld-, Devisen- und Zinspolitik fortan ausschließlich durch das ESZB durchgeführt. Das ESZB besteht aus der EZB und den nationalen Zentralbanken. Durch die Errichtung der EZB wird die Bündelung währungspolitischer Aufgaben und Befugnisse in den Händen 24*

3

Β. Hoheitsrechtsübertragungen im EUV

einer gemeinschaftsrechtlichen Einrichtung abgeschlossen. Die EZB ist personell, finanziell und funktionell unabhängig. Sie ist den Gemeinschaftsorganen lediglich berichtspflichtig. Sie kann, anders als das EWI, rechtsetzend und sanktionierend tätig werden. Sie besitzt die für die Durchführung und Gestaltung einer einheitlichen Geldpolitik erforderlichen Kompetenzen, insbesondere die Kompetenz zur Geldmengensteuerung und Leitzinsfestsetzung und das ausschließliche Recht zur Banknotenausgabe.

V. Ergebnis Teil Β Der am 11. November 1993 in Kraft getretene Vertrag von Maastricht hat die Europäische Union begründet. Sie besitzt keine eigene Rechtspersönlichkeit, keine eigenen Kompetenzen und bildet lediglich das Dach für die drei Säulen GASP, Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres und Europäische Gemeinschaft. Erste Säule der Europäischen Union ist die GASP. Sie löst die seit 1986 bestehende EPZ ab, umfaßt anders als diese aber alle Bereiche der Außen- und Sicherheitspolitik. Der Europäische Rat bestimmt die allgemeinen Grundsätze der GASP und erläßt die allgemeinen Leitlinien. Der Rat trifft auf dieser Grundlage die für die Durchführung der GASP erforderlichen Entscheidungen. Er kann gemeinsame Standpunkte festlegen, die für die Mitgliedstaaten verbindlich sind, ohne daß allerdings „Sanktionsvorschriften" für den Fall abweichenden Verhaltens vorgesehen sind. In einem zweiten Schritt kann der Rat einstimmig gemeinsame Aktionen der Mitgliedstaaten beschließen, deren Umfang, Mittel, Verfahren und Bedingungen er festlegt. Die Stimmenthaltung eines Mitgliedstaates verhindert einen derartigen Beschluß. Der Rat kann zu Beginn oder im weiteren Verlauf einer gemeinsamen Aktion einstimmig beschließen, daß im Verlauf der gemeinsamen Aktion zu treffende Beschlüsse auch mit qualifizierter Mehrheit der Stimmen der Mitgliedstaaten getroffen werden können. Institutionell wird die GASP zwar mit der Europäischen Gemeinschaft verklammert. Die GASP ist jedoch keine Gemeinschaftspolitik. Sie ist vielmehr eine Form intergouvernementaler Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten aufgrund völkerrechtlicher Vereinbarung. Infolge dieser lediglich völkerrechtlichen Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten sind Hoheitsrechte auf dem Gebiet der Außen- und Sicherheitspolitik nicht auf die Europäische Gemeinschaft übertragen worden. Vielmehr besitzen die Mitgliedstaaten weiterhin uneingeschränkt die Hoheitsrechte im Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik. Zweite Säule der Europäischen Union ist die Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres. Die Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres umfaßt u.a. die Asyl- und Einwanderungspolitik, die Drogenpolitik, die justizielle Zusammenarbeit in Zivil- und Strafsachen sowie die polizeiliche

V. Ergebnis

373

Zusammenarbeit zur Verhütung und Bekämpfung von Terrorismus. Im Rahmen der Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres konsultieren die Mitgliedstaaten einander zum Zwecke der Koordination. Der Rat kann gemeinsame Standpunkte festlegen, gemeinsame Maßnahmen annehmen und Abkommen ausarbeiten, die er den Mitgliedstaaten zur Ratifikation gemäß ihren verfassungsrechtlichen Vorschriften vorlegt. Wie im Bereich der GASP beschließt der Rat einstimmig. Allerdings sieht Artikel K.9 EUV die Möglichkeit vor, für bestimmte Bereiche der Innen- und Justizpolitik das Verfahren des Artikels 100 c EGV anzuwenden. Erforderlich ist diesbezüglich jedoch neben einem einstimmigen Ratsbeschluß die Annahme durch die Mitgliedstaaten gemäß ihren verfassungsrechtlichen Vorschriften. Auch die Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres wird institutionell mit der Europäischen Gemeinschaft verklammert, ohne daß diese Bereiche „vergemeinschaftet" worden sind. Auch im Rahmen der Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres nehmen zwar bestimmte Gemeinschaftsorgane Aufgaben wahr. Die Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres beruht jedoch ebenso wie die GASP auf einer völkerrechtlichen Vereinbarung, die zu einer intergouvernementalen Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten führt. Infolge dessen sind auch in den Bereichen Justiz und Inneres keine Hoheitsrechte auf die Europäische Gemeinschaft übertragen worden. Vielmehr sind auch hinsichtlich der Regelungen der 2. Säule die Mitgliedstaaten weiterhin uneingeschränkt Inhaber der Hoheitsrechte. Auch im übrigen sind auf die Europäische Union keine Hoheitsrechte übertragen worden. Artikel F Absatz 3 EUV hat nicht die Übertragung von Hoheitsrechten zur Folge und begründet keine Kompetenz-Kompetenz der Europäischen Union. Er ist keine Ermächtigungsnorm, sondern lediglich eine politisch-programmatische Absichtserklärung. 3. Säule der Europäischen Union ist die Europäische Gemeinschaft. Der EUVertrag hat zu zahlreichen Änderungen des EWG-Vertrages geführt, der in EGVertrag umbenannt wurde. Der Umfang der durch die Änderungen des EWGVertrages erfolgten Hoheitsrechtsübertragungen ist jedoch in den verschiedenen Bereichen des EG-Vertrages unterschiedlich. Die Einführung der Unionsbürgerschaft hat mit Ausnahme der Gewährung des aktiven und passiven Wahlrechts für Unionsbürger bei Europa- und Kommunalwahlen nicht zur Übertragung von Hoheitsrechten geführt. Insbesondere haben die Mitgliedstaaten auf dem Gebiet des Staatsangehörigkeitsrechts keine Hoheitsrechte auf die Europäische Gemeinschaft übertragen, sie verlieren also nicht die Kompetenz zur Regelung des Staatsangehörigkeitsrechts. Vielmehr setzt die Unionsbürgerschaft die nationale Staatsangehörigkeit eines der Mitgliedstaaten der Europäischen Union voraus, und sie gewährt nur einzelne

Β. Hoheitsrechtsübertragungen im EUV Rechtspositionen, die den Unionsbürgern neben den sich aus der nationalen Staatsangehörigkeit ergebenden Rechte und Pflichten gewährt werden. Während die durch den Vertrag von Maastricht erfolgten Änderungen auf dem Gebiet der Sozialpolitik die Regelungen des EWG-Vertrages nur marginal verändert haben, haben die Mitgliedstaaten mit dem Abkommen über die Sozialpolitik außerhalb des EG-Vertrages neue Regelungen auf dem Gebiet der Sozialpolitik beschlossen. Das Abkommen über die Sozialpolitik, das die Mitgliedstaaten mit Ausnahme des Vereinigten Königreichs abgeschlossen haben, erweitert die Möglichkeit der Gemeinschaftsorgane zu Regelungen auf sozialpolitischem Gebiet. Es betrifft jedoch zum einen nur enumerativ aufgeführte Ausschnitte der Sozialpolitik. Zum anderen eröffnet es durch die Möglichkeit zum Erlaß von Richtlinien, die unter Zuhilfenahme der Gemeinschaftsorgane erlassen werden, lediglich die Möglichkeit zur Festlegung von Mindeststandards. Die darüber hinausgehenden Hoheitsrechte auf dem Gebiet der Sozialpolitik stehen den Mitgliedstaaten weiterhin uneingeschränkt zu. Die Artikel 126 ff. EGV weisen der Gemeinschaft nunmehr in den Bereichen allgemeine und berufliche Bildung und Jugend, Kultur, Gesundheitswesen, Verbraucherschutz, transeuropäische Netze, Industrie und Entwicklungszusammenarbeit ausdrücklich Hoheitsrechte zu. In den EG-Vertrag werden damit ausdrückliche Ermächtigungsnormen für Bereiche eingefügt, in denen die Gemeinschaft bislang schon unter Zuhilfenahme des Artikels 235 EWGV und der Artikel 100, 100 a EWGV tätig geworden ist, da sie als erforderlich für die Vervollständigung des Binnenmarktes erachtet wurden. Die nun erfolgte Kompetenzzuweisung zugunsten der Europäischen Gemeinschaft führt jedoch nicht zum vollständigen Verlust der Kompetenzen der Mitgliedstaaten auf diesen Gebieten. Die Europäische Gemeinschaft kann nur in den enumerativ aufgeführten Handlungsformen tätig werden, und ihre Kompetenzen haben hier einen mitgliedstaatliche Maßnahmen koordinierenden und fördernden, nicht aber einen diese verdrängenden Charakter. Die Maßnahmen der Europäischen Gemeinschaft haben zudem in fast allen Bereichen unter Ausschluß jeglicher Harmonisierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten zu erfolgen. In den Bereichen Kultur und Industrie setzen Maßnahmen der Gemeinschaft außerdem die Zustimmung aller Mitgliedstaaten voraus. Damit werden bereits zuvor in Anspruch genommene Kompetenzen der Europäischen Gemeinschaft nicht nur ausdrücklich anerkannt, sondern zugleich auch präzisiert und hinsichtlich der zulässigen Handlungsformen und des -umfangs beschränkt. Wesentliche Änderungen bewirken die Regelungen des EG-Vertrag zur Wirtschafts- und Währungspolitik. Der EG-Vertrag sieht nunmehr die Verwirklichung einer Wirtschafts- und Währungsunion als Ziel der Europäischen Gemeinschaft an. Diese Wirtschafts- und Währungsunion ist in den beiden

V. Ergebnis

375

Bestandteilen der Wirtschafts- und der Währungsunion grundsätzlich unterschiedlich ausgestaltet. Im Hinblick auf die Verwirklichung der Wirtschaftsunion ist ebenso wie aufgrund der Regelungen des EWG-Vertrages auch nach dem EG-Vertrag zwar eine Trennung und Aufteilung der Kompetenzen zwischen der Europäischen Gemeinschaft einerseits und den Mitgliedstaaten andererseits vorhanden. Während die Europäische Gemeinschaft zur Verwirklichung des Gemeinsamen Marktes weitreichende Kompetenzen besitzt, bleiben ihre Kompetenzen im Bereich der allgemeinen Wirtschaftspolitik, wie schon nach dem EWG-Vertrag, im wesentlichen auf die Koordinierung der nationalen Wirtschaftspolitiken der Mitgliedstaaten beschränkt. Allerdings kann die Europäische Gemeinschaft nun durch Empfehlungen des Rates hinsichtlich der Grundzüge der Wirtschaftspolitiken der Mitgliedstaaten und durch das System der multilateralen Überwachung der Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten die Koordinierung intensivieren und anhand konkreter Überwachungskriterien eine einheitliche Ausrichtung der allgemeinen Wirtschaftspolitiken der Mitgliedstaaten mit dem Ziel konvergenter Wirtschaftspolitiken anstreben. Die Mitgliedstaaten sind aber hinsichtlich der Wahl der Mittel zur Herbeiführung konvergenter Wirtschaftspolitiken nicht durch gemeinschaftliche Vorgaben gebunden. Durch die Regelungen betreffend die Überwachung der Haushaltsdisziplin wird der Europäischen Gemeinschaft ab der 2. Stufe zwar die Möglichkeit eingeräumt, übermäßige Haushaltsdefizite eines Mitgliedstaates offenzulegen, und sie kann sie ab dem Beginn der 3. Stufe in begrenztem Umfang auch sanktionieren. Die Überwachung ist aber lediglich beobachtend, nicht jedoch gestaltend. Es obliegt allein den Mitgliedstaaten, durch aktive Maßnahmen der Haushaltspolitik vorhandene Defizite abzubauen. Die Übertragung von Hoheitsrechten im Bereich der Wirtschaftspolitik beschränkt sich also auf Kompetenzen zur Koordinierung und Überwachung, und sie betrifft nicht die Kompetenzen zur aktiven Gestaltung der allgemeinen Wirtschaftspolitik. Die Änderungen des EG-Vertrages haben also nicht zu einer vollständigen Übertragung der wirtschaftspolitischen Kompetenzen der Mitgliedstaaten auf die Gemeinschaft geführt. Dagegen sehen die Regelungen über die Währungsunion die Übertragung aller währungspolitischen Kompetenzen der Mitgliedstaaten auf die Europäische Gemeinschaft vor. Diese umfassende Kompetenzausstattung der Europäischen Gemeinschaft ist das Ergebnis einer stufenweisen Übertragung von Hoheitsrechten auf dem Gebiet der Währungspolitik. In der l.und 2. Stufe bleiben die Mitgliedstaaten Träger der währungspolitischen Kompetenzen. Zweck der 1. Stufe war insofern nur der Ausbau und die Intensivierung der Koordinierung anhand konkreter Kriterien und die zunehmende Bündelung der auf verschiedene Gremien verteilten Kompetenzen im Rahmen der währungspolitischen Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten, insbesondere des EWS. Diese Bündelungsbestrebungen werden in der 2. Stufe fortgesetzt und führen zur

376

Β. Hoheitsrechtsübertragungen im EUV

Errichtung einer aufgrund Gemeinschaftsrechts begründeten, unabhängigen Einrichtung, des EWI. Dieses übernimmt darüber hinaus die organisatorische und logistische Vorbereitung der 3. Stufe. Die Mitgliedstaaten führen diese Vorbereitung also nicht selbst durch, sondern überlassen dies einer Gemeinschaftseinrichtung, die sich dabei gemeinschaftsrechtlicher Rechtsaktsformen und Mechanismen bedient. Während der Übergang in die 2. Stufe unabhängig von der Erfüllung bestimmter Voraussetzungen erfolgte, ist der Übergang in die 3. Stufe von der Erfüllung bestimmter Voraussetzungen, insbesondere der Konvergenzkriterien, abhängig. Ein Mitgliedstaat, der diese Kriterien nicht erfüllt, wird nicht an der 3. Stufe der Währungsunion teilnehmen. Der Eintritt in die 3. Stufe hat die vollständige Übertragung der mitgliedstaatlichen Kompetenzen zur Gestaltung und Durchführung der Geld-, Kredit- und Zinspolitik auf die Europäische Gemeinschaft zur Folge. Zur Durchführung einer einheitlichen Währungspolitik wird mit dem Euro eine einheitliche Währung eingeführt, die die Währungen der Mitgliedstaaten ablöst. Die Wechselkurspolitik wird im Zusammenwirken von Rat und EZB, die Geld-, Devisen- und Zinspolitik durch das ESZB durchgeführt, das aus der personell, finanziell und funktionell unabhängigen EZB und den ebenfalls unabhängigen nationalen Zentralbanken besteht. Die EZB besitzt Rechtsetzungs- und Sanktionskompetenzen und ist mit den für die Durchführung und Gestaltung einer gemeinschaftlichen Währungspolitik erforderlichen Kompetenzen ausgestattet. Damit hat der EU-Vertrag auf dem Gebiet der Währungspolitik die umfassende Übertragung der Hoheitsrechte der Mitgliedstaaten zur Folge. Die Mitgliedstaaten verlieren mit Beginn der 3. Stufe der Währungsunion die Kompetenz zur Gestaltung und Durchführung einer nationalen Währungspolitik. Von diesem Zeitpunkt an besitzt allein die Europäische Gemeinschaft sämtliche Hoheitsrechte zur Durchführung und Gestaltung der gemeinschaftsweit einheitlichen Währungspolitik.

C. Zulässigkeit der Hoheitsrechtsübertragungen des Vertrages über die Europäische Union nach dem Grundgesetz Vor dem Hintergrund der dargestellten verfassungsrechtlichen Vorgaben für Hoheitsrechtsübertragungen stellt sich die Frage, ob die durch den EU-Vertrag geschaffenen neuen Formen der Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten und die Änderungen des EG-Vertrages den maßgeblichen Anforderungen des Grundgesetzes, insbesondere den im Rahmen des Artikels 24 Absatz 1 GG entwickelten und nunmehr in Artikel 23 GG für den Spezialfall der Europäischen Union im Grundgesetz ausdrücklich festgelegten Anforderungen genügen. Entsprechen also die Regelungen der Zusammenarbeit in der Außen- und Sicherheitspolitik (I.), der Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres (II.) sowie die Vorschriften betreffend die Europäische Gemeinschaft (III.) in Struktur und inhaltlicher Ausrichtung den Vorgaben des Artikels 23 Absatz 1 Satz 1 GG, und sind die bei der Übertragung von Hoheitsrechten gemäß Artikel 23 Absatz 1 Satz 3 GG zu beachtenden Grenzen, insbesondere die Grenzen des Artikels 79 Absatz 3 GG und die Grenze des Erhalts der deutschen Staatlichkeit, eingehalten worden?

I. Zusammenarbeit in der Außen- und Sicherheitspolitik Das Grundgesetz stellt gemäß Artikel 23 Absatz 1 Satz 1 GG Forderungen an Struktur und inhaltliche Ausrichtung der Europäischen Union1 und damit auch an die Zusammenarbeit in der Außen- und Sicherheitspolitik als eine der drei Säulen der Europäischen Union. Fraglich ist daher, ob die GASP, wie sie der EU-Vertrag begründet hat, den Vorgaben des Artikels 23 Absatz 1 Satz 1 GG entspricht. Ist die GASP alsoföderativen (1.), demokratischen (2.), rechtsstaatlichen (3.) und sozialen (4.) Grundsätzen verpflichtet, gewährt sie einen dem Grundgesetz im wesentlichen vergleichbaren Grundrechtsschutz (5.) und ist sie dem Grundsatz der Subsidiarität verpflichtet (6.)? Und bleiben schließlich die gemäß Artikel 23 Absatz 1 Satz 3 GG zu beachtenden Grenzen des Artikels 79 Absatz 3 GG gewahrt sowie die deutsche Staatlichkeit erhalten (7.)?

Siehe oben S. 106 ff.

378

C. Zulässigkeit der Hoheitsrechtsübertragungen des EUV

1. Föderative Grundsätze Die Zusammenarbeit im Bereich der GASP muß gemäß Artikel 23 Absatz 1 Satz 1 GG föderativen Grundsätzen verpflichtet sein. Dies bedeutet, daß die Europäische Union bei der durch den EU-Vertrag begründeten Zusammenarbeit zur Achtung der Eigenstaatlichkeit (a) und der Verfassungsstrukturen ihrer Mitgliedstaaten verpflichtet sein und gegebenenfalls in den Mitgliedstaaten vorhandene föderale Strukturen respektieren muß (b) 2 .

a) Eigenstaatlichkeit

der Mitgliedstaaten

Die Europäische Union muß im Rahmen der GASP die Eigenstaatlichkeit der Mitgliedstaaten achten. Die Eigenstaatlichkeit der Mitgliedstaaten setzt voraus, daß den nationalen Hoheitsträgern im Bereich der GASP Kompetenzen nicht in einem so erheblichen Umfang entzogen werden und ihre Kompetenzausstattung nicht so stark reduziert wird, daß sie ihre staatlichen Funktionen nicht mehr wahrnehmen können3. Bestandteil der Staatlichkeit eines Staates ist die Möglichkeit, eine eigenständige Außenpolitik zu betreiben und durch selbständiges Handeln der nationalen Organe auf internationaler Ebene die Stellung und das Schicksal des eigenen Staates autonom zu gestalten4. Eine Gefährdung der Eigenstaatlichkeit der Mitgliedstaaten würde somit dann eintreten, wenn durch die Zusammenarbeit im Rahmen der GASP die Möglichkeit der Mitgliedstaaten zu souveränem außen- und sicherheitspolitischem Handeln aufgehoben oder konkret gefährdet ist. Dies wäre dann der Fall, wenn die Europäische Union durch die GASP das eigenständige mitgliedstaatliche Handeln im Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik völlig oder weitgehend ablösen würde. Die Achtung der Eigenstaatlichkeit der Mitgliedstaaten setzt also voraus, daß die Mitgliedstaaten im Bereich der GASP hinreichende Einflußmöglichkeiten besitzen und daß ihre Entscheidungsfähigkeit nicht durch von ihrem Willen unabhängige Entscheidungsfindungsstrukturen und Mechanismen abgelöst ist. Der 9. Erwägungsgrund der Präambel des EU-Vertrages umschreibt das Ziel der GASP dahingehend, daß diese die Identität und Unabhängigkeit Europas

2

Vgl. näher oben S. 109 ff.

3

Siehe oben S. I I I .

4

Oschatz, S. 41 ; Schwabe/Stolz/Schmidt, S. 56; Grewe, HdbStR III, § 77 Rn. 7.

S. 14; im Ergebnis ebenfalls Fastenrath,

I. Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik

379

fördern soll. Diesem allgemeinen Vertragsziel entspricht das in Artikel J.l Absatz 2 Spiegelstrich 1 EUV konkret für die GASP angestrebte Ziel der Wahrung der gemeinsamen Werte der Europäischen Union. Die Zielsetzung der GASP stellt damit zwar auf die gemeinsamen Werte, Traditionen und damit auch auf die Respektierung der nationalen Eigenarten der Mitgliedstaaten ab5, sie stellt aber nicht die formale Rechtspersönlichkeit der Mitgliedstaaten, sondern das gesamteuropäische Interesse in den Vordergrund. Insofern ergibt sich allein aus den Zielen der GASP noch nicht, daß diese die Eigenstaatlichkeit der Mitgliedstaaten respektiert. Auch aus der inhaltlichen Aufgabenstellung der GASP ergibt sich keine Garantie für die Staatlichkeit der Mitgliedstaaten, da die GASP anders als die EPZ nicht auf bestimmte außen- und sicherheitspolitische Themenbereiche beschränkt ist, sondern sich auf alle Bereiche der Außen- und Sicherheitspolitik erstreckt, wozu auf längere Sicht sogar die Festlegung einer gemeinsamen Verteidigungspolitik gehört6. Entscheidend für die Beantwortung der Frage, ob die GASP die Eigenstaatlichkeit der Mitgliedstaaten achtet, ist daher, ob die Mitgliedstaaten im Rahmen der GASP über hinreichende Einflußmöglichkeiten verfügen. Da die Mitgliedstaaten im Bereich der GASP sowohl im Europäischen Rat (aa) als auch im Rat (bb) vertreten sind, ist fraglich, ob ihre dortigen Einflußmöglichkeiten ausreichen, um mitgliedstaatliche Handlungs-, Gestaltungs- und Einflußnahmemöglichkeiten zu garantieren, die den Vorgaben des Artikels 23 Absatz 1 Satz 1 GG entsprechen.

aa) Europäischer Rat Im Rahmen der Zusammenarbeit in der GASP wirken die Mitgliedstaaten zum einen im Europäischen Rat mit. Der Europäische Rat ist als Institution keine „Neuschöpfung" des Vertrages von Maastricht. Vorläufer des Europäischen Rates waren die sog. Gipfelkonferenzen, zu denen die Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten seit 1961 in unregelmäßigen Abständen zusammenkamen7. Im Dezember 1974 beschlossen die Staats- und Regierungschefs, zukünftig dreimal jährlich in ihrer Eigenschaft sowohl als Rat der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft als auch im Rahmen der EPZ zusammenzukommen8. Obwohl die Bezeichnung „Europäi-

5

Dies entspricht der Zielsetzung des Artikels F Abs. 1 EUV, der von der Respektierung der nationalen Identität der Mitgliedstaaten spricht, Hilf, in: GS Grabitz, S. 162 ff.; Dörr, EuR 1995, S. 340. 6

Artikel J. 1 Abs. 1 ; Artikel J.4 Abs. 2 EUV.

7

Hierzu Glaesner, EuR 1994, S. 22 ff.; Schlok, A II, Rn. 177, in: Dauses.

8

Text in EA 1975, S. D41 ff.

380

C. Zulässigkeit der Hoheitsrechtsübertragungen des EUV

scher Rat" in den SchluBkommuniqués nicht verwendet wurde, hat sie sich seither für die Tagungen der Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten eingebürgert9. Die Staats- und Regierungschefs haben in mehreren Erklärungen wiederholt die Funktion des Europäischen Rates als eines politischen Führungsorgans der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft hervorgehoben. Ihm komme die politische Zuständigkeit für die Grundsatzfragen der Weiterentwicklung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft zu 1 0 . Die erste verbindliche Rechtsgrundlage für den Europäischen Rat im primären Gemeinschaftsrecht war Artikel 2 EEA 1 Κ Dieser legte die Zuständigkeit des Europäischen Rates für die von der EEA erfaßten Bereiche der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der EPZ sowie seine Zusammensetzung und den Tagungsrhythmus rechtlich verbindlich fest 12 . Seither gehört bei den jetzt mindestens zweimal jährlich stattfindenden Treffen auch der Präsident der Kommission zu den Mitgliedern des Europäischen Rates. Aufgaben und Kompetenzen des Europäischen Rates wurden hingegen in Artikel 2 EEA nicht festgelegt13. Die Tatsache, daß Aufgaben und Kompetenzen 20 Jahre nicht rechtlich verbindlich formuliert wurden, ist ein Beleg dafür, daß die Treffen politischer und nicht rechtlicher Natur waren 14 . Artikel D EUV bekräftigt die bereits in Artikel 2 der EEA verankerte Zusammensetzung und den Tagungsrhythmus des Europäischen Rates15. Er bestimmt darüber hinaus nunmehr auch seine Aufgaben. Gemäß Artikel D Unterabsatz 1 EUV gibt der Europäische Rat der Europäischen Union die für ihre Entwicklung erforderlichen Impulse und legt die allgemeinen politischen Zielvorstellungen für diese Entwicklung fest. Wesentliche Aufgabe des Europäischen Rates ist es also, der Europäischen Union politische Impulse zu vermitteln16. Diese unmittelbar von den Staats- und Regierungschefs und damit von den innerstaatlich auf höchster politischer Ebene Verantwortlichen der

9

Glaesner, EuR 1994, S. 24; Bieber, in: Beutler/Bieber/Pipkorn/Streil, S. 132.

10

So vor allem in der sog. Stuttgarter Feierlichen Erklärung, Text in EA 1983,S. D 420 ff.; Hilf/Pache, Artikel 2 EEA, Rn. 7 f., in: von der Groeben/Thiesing/Ehlermann (Hrsg.), Kommentar zum EWGV. 11

Schloh , A II, Rn. 178, in: Dauses; Glaesner, EuR 1994, S. 25.

12

Hilf/Pache,

Artikel D, Rn. 5, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), Kommentar zum EUV.

13

Zur Funktion dieser Offenheit Hilf/Pache, Artikel 2 EEA, Rn. 7, in: von der Groeben/Thiesing/Ehlermann (Hrsg.), Kommentar zum EWGV. 14

Schloh, A II, Rn. 178, in: Dauses.

15

Seidel, EuR 1992, S. 130 f.

16

Hilf/Pache, Artikel D, Rn. 2, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), Kommentar zum EUV; Fastenrath, EuR 1994, Beiheft 1, S. 103.

I. Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik

381

Mitgliedstaaten ausgehenden Impulse17 sollen die „großen Linien" der Politik der Europäischen Union festlegen 18. Der Europäische Rat trifft damit die grundlegenden Entscheidungen darüber, wie die Rolle der Europäischen Union nach innen und nach außen definiert wird, welche Aufgaben von der Europäischen Union und welche von den Mitgliedstaaten bewältigt werden sollen, wie die innere Struktur der künftigen erweiterten Union gestaltet werden und welcher Aufgaben die Europäische Union sich künftig mit Vorrang annehmen soll 19 . Seine Beschlüsse, die ausdrücklich als „allgemein politisch" bezeichnet werden, liefern die grundlegende Orientierung im Hinblick auf die Gesamtgestaltung und die Entwicklung der Europäischen Union 20 . Der Europäische Rat bildet somit die politische Entscheidungsebene für die weitere Entwicklung der Europäischen Union 21 . Für die wichtigen zukünftigen politischen Entscheidungen zur Weiterentwicklung der Europäischen Union 22 übernimmt er die Rolle des Lenkungs- und Inspirationsorgans23. Der Europäische Rat ist aufgrund seiner Zusammensetzung eine Einrichtung der Mitgliedstaaten24. Die Institutionalisierung des Europäischen Rates in Artikel D EU-Vertrag bekräftigt die entscheidende Rolle der Mitgliedstaaten25. Mit 17 Badura, EuR 1994, Beiheft 1, S. 10; Bieber, in: Beutler/Bieber/Pipkorn/Streil, S. 132. Wessels, Integration 1992, S. 12, hält das intensive Engagement und die Einbindung der obersten politischen Verantwortlichen für notwendig und wünschenswert; ebenso Oppermann, Europarecht, Rn. 270. 18

Breier, Artikel 145, Rn. 4, in: Lenz, Kommentar zum EGV.

19

Engel, in: Weidenfels/Wessels, S. 61 f.; Wessels, S. 27.

20

Hilf/Pache,

21

Glaesner, EuR 1994, S. 27; Herdegen, Europarecht, S. 38.

22

Glaesner, EuR 1994, S. 34.

Artikel D, Rn. 38, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), Kommentar zum EUV.

23

Die Bezeichnung als Organ ist allerdings unpräzise. Der Europäische Rat ist kein Organ der EG, da er in Artikel 4 EGV nicht als solches aufgeführt wird. Organ der EU kann er aber ebenfalls nicht sein, da die EU selbst keine Rechtspersönlichkeit besitzt und damit auch nicht über Organe verfügt, Hilf/Pache, Artikel D, Rn. 8, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), Kommentar zum EUV. 24 Die Zugehörigkeit des Präsidenten der Kommission verändert diesen Charakter des Europäischen Rates nicht. Die Aufgabe des Kommissionspräsidenten besteht zwar auch darin, Einfluß auf die Beratungen und Entscheidungen des Europäischen Rates zu nehmen. Seine Zugehörigkeit dient jedoch vorrangig dem Zweck, zur Kohärenz zwischen den Entscheidungen der Gemeinschaftsorgane und denen des Europäischen Rates beizutragen und die Auffassungen des Europäischen Rates direkt an die Kommission zu vermitteln, damit diese Entscheidungen durch die Kommission gegebenenfalls im Rahmen des Gemeinschaftsrechtssetzungsverfahrens von dieser eingebracht worden können, Hilf/Pache, Artikel D, Rn. 19, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), Kommentar zum EUV. 25

Everting, DVB1. 1993, S. 942.

382

C. Zulässigkeit der Hoheitsrechtsübertragungen des EUV

der Zusammenkunft der Staats- und Regierungschefs gliedert sich die Europäische Union die oberste politische Führungsebene der Mitgliedstaaten in formalisierter Weise ein und unterstellt sich ihrer politischen Leitung26. Der Europäische Rat ist damit eine Institution, in der der politische Wille der Mitgliedstaaten durch die Bereitstellung eines gemeinsamen Forums gebündelt und die Bedeutung diesen Willens für die Entwicklung und die Politiken der Europäischen Union anerkannt wird 27 . Dem Europäischen Rat kommt damit die Stellung eines „Vertragsorgans der Mitgliedstaaten" zu 2 8 , denn die Mitgliedstaaten haben so die Möglichkeit, die Zukunft der Europäischen Union an entscheidender Stelle zu gestalten. Dies macht sie zum maßgeblichen Faktor bei der Weiterentwicklung der Europäischen Union. Die Leitfunktion des Europäischen Rates für die Entwicklung der Europäischen Union anerkennt damit auch die gliedschaftliche Struktur der Europäischen Union und räumt als Konsequenz den Mitgliedstaaten entscheidende Bestimmungsrechte im Hinblick auf grundsätzliche Entscheidungen der Europäischen Union ein 29 . Diese Rolle des Europäischen Rates als politisches Entscheidungsgremium und als Impulsgeber kommt ihm auch im Bereich der GASP zu. Im Bereich der GASP ist diese Funktion jedoch über das in Artikel D EUV festgelegte allgemeine Maß hinaus konkretisiert. Artikel J.3 und J.8 EUV enthalten weitergehende konkrete Aufgaben- oder Zuständigkeitszuweisungen an den Europäischen Rat. So bestimmt er gemäß Artikel J.3 Absatz 1 EUV die Grundsätze und die allgemeinen Leitlinien der GASP, die nachfolgend Grundlage für die Festlegung und Durchführung der GASP und der zu ihrer Verwirklichung erforderlichen Maßnahmen durch den Rat sind. Sie sind für den mit der Entscheidung über die Festlegung eines gemeinsamen Standpunktes und einer gemeinsamen Aktion befaßten Rat also verbindlich 30. Der Europäische Rat hat somit im Bereich der GASP über seine Rolle als allgemeines politisches Leitorgan und Impulsgeber hinaus eine zentrale Stellung als treibende und bestimmende Kraft in der GASP 3 1 . Ihm ist nicht nur die Zuständigkeit zur

26

Hilf/Pache,

Artikel D, Rn. 15, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), Kommentar zum EUV.

27

Herdegen,, Europarecht, S. 38; Everling, DVBI. 1993, S. 940. Allerdings kann man den Europäischen Rat auch nicht, wie Weber, S. 125, als dasföderative Organ der Verfassungsgebung und -entwicklung in der Europäischen Union bezeichnen, da der Europäische Rat nicht das einzig maßgebliche Gremium in einem solchen Prozeß ist. 28

Hilf in: Hommelhoff/Kirchhof, S. 77; ders., Organisationsstruktur, S. 208 ff.; Curtin,. CMLR 1993, S. 26. 29

Everling, DVBI. 1993, S. 940.

30

Schweitzer/Hummer,

31

S. 303; Glaesner, EuR 1994, S. 31.

Kommission, Funktionsweise des EUV, S. 11; Regelsberger, Integration 1992, S. 90; Lange, JZ 1996, S. 443.

I. Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik

383

grundsätzlichen Vorgabe der maßgeblichen politischen Zielvorstellungen zugewiesen32, sondern seinen Entscheidungen kommt auch Verbindlichkeit zu 3 3 . Die Regierungen der Mitgliedstaaten besitzen also mittels des Europäischen Rates erstens die Möglichkeit zu politischer Impulsgabe sowie zur Festlegung allgemeiner politischer Zielvorstellungen. Sie besitzen darüber hinaus aber auch die Befugnis zu verbindlichen Vorgaben gegenüber dem mit der Verwirklichung der intergouvernementalen Zusammenarbeit betrauten Rat. Sie können mit ihren Beschlüssen im Rahmen des Europäischen Rates verbindlich in die Verfahrens- und Entscheidungsstrukturen im Rahmen der GASP eingreifen und damit wesentliche Aspekte der GASP rechtlichbindend bestimmen. Die Mitgliedstaaten besitzen damit entscheidenden Einfluß auf die politischen Entscheidungen, die Ausrichtung und die Durchführung der GASP.

bb) Rat Die Mitgliedstaaten wirken im Rahmen der GASP darüber hinaus im Rat an der Verwirklichung der Ziele der GASP mit. Eine der wichtigsten Neuerungen der Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten im Bereich Außen- und Sicherheitspolitik ist die Zusammenlegung der im Rahmen der EPZ erfolgten Außenminister- und Ratstreffen 34. Nunmehr treffen sich die Außenminister der Mitgliedstaaten als „Rat der Außenminister" und bedienen sich damit des Gemeinschaftsorgans „Rat". Gleichwohl handelt der Rat im Rahmen der GASP nicht als Rat der Europäischen Gemeinschaft, sondern im Wege einer Organleihe 35 als Einrichtung der Mitgliedstaaten. Dies hat zur Folge, daß das Handeln des Rates im Bereich der GASP sich nicht an Gemeinschaftsinteressen zu orientieren hat, sondern daß dort die nationalen Interessen der Mitgliedstaaten eingebracht werden können. Der Rat bildet also im Rahmen der GASP ein Forum für die Mitgliedstaaten, denn die dort versammelten Vertreter der Mitgliedstaaten nutzen den Rat nicht als Gemeinschaftsorgan mit dem Ziel der Schaffung von Gemeinschaftsrecht, sondern als Einrichtung, in der sie ihre Entscheidungen, die auf das Ziel einer konvergenten Außen- und Sicherheitspolitik gerichtet sind, in gesamthänderischer Verbundenheit treffen kön-

32

Hilf/Pache,

Artikel D, Rn. 8, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), Kommentar zum EUV.

33

Glaesner, EuR 1994, S. 31; Lange, JZ 1996, S. 443, kommt daher zu dem Ergebnis, daß der Europäische Rat das wichtigste Organ innerhalb der GASP sei. 34

Regelsberger, Integration 1992, S. 90; Stein, EuR 1995, Beiheft 2, S. 70; Lange, JZ 1996, S. 443. 35

Glaesner, EuR 1994, S. 31.

384

C. Zulässigkeit der Hoheitsrechtsübertragungen des EUV

nen 36 . Im Bereich der GASP werden aber nicht nur die konkreten Maßnahmen und deren Durchführung von den Mitgliedstaaten vereinbart. Die Regelungen der GASP machen es vielmehr bereits im Stadium der grundsätzlichen Entscheidung zu konvergentem Handeln auf dem Gebiet der Außen- und Sicherheitspolitik allein vom Willen des Rates und damit der Mitgliedstaaten abhängig, ob diese überhaupt im Rahmen der EU-Zusammenarbeit gemeinsam tätig werden wollen oder nicht. Anders als im Rahmen der Europäischen Gemeinschaft hat nämlich die Kommission kein Initiativmonopol. Ob sie einen gemeinsamen Standpunkt festlegen oder gemeinsame Aktionen beschließen, ist daher allein vom politischen Willen und der Initiative der Mitgliedstaaten abhängig. Eine Verpflichtung zum Tätigwerden in Fragen der GASP begründet der EU-Vertrag nicht 37 . Die Mitgliedstaaten können, anders als im Rahmen der EPZ, im Rat nunmehr für die Mitgliedstaaten verbindliche Entscheidungen treffen. Im Rahmen der GASP kann der Rat nämlich neben einem unverbindlichen Meinungsaustausch in Form der gegenseitigen Unterrichtung und Abstimmung zwischen den Mitgliedstaaten38 auch für die Mitgliedstaaten verbindliche Feststellungen treffen. Der Rat kann gemeinsame Standpunkte festlegen 39, die die Mitgliedstaaten verpflichten, ihre einzelstaatlichen Politiken mit dem gemeinsamen Standpunkt in Einklang zu bringen 40. Der Rat kann weiterhin auf der Grundlage der allgemeinen Leitlinien des Europäischen Rates beschließen, daß eine Angelegenheit Gegenstand einer gemeinsamen Aktion wird. Der Beschluß über eine gemeinsame Aktion ist für die Mitgliedstaaten bei ihren Stellungnahmen und ihrem Vorgehen verbindlich 41. Aufgrund des völkerrechtlichen Charakters der Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten im Bereich der GASP handelt es sich bei gemeinsamen Standpunkten wie bei gemeinsamen Aktionen aber nicht um Gemeinschaftsrechtsakte, sondern um völkerrechtliche Vereinbarungen zwischen den Mitgliedstaaten42. Eine gemeinschaftsrechtliche ΒindungsWirkung, die über

36

Herdegen, Europarecht, S. 73. Die Koordination der Mitgliedstaaten bleibt auch nicht auf die Zusammenarbeit im Rat beschränkt. Sie koordinieren ihr Handeln gemäß Artikel J.2 Abs. 3 Unterabsatz 1 EUV auch in internationalen Organisationen und auf internationalen Konferenzen und setzen sich dort, sofern nicht alle Mitgliedstaaten vertreten sind, für die gemeinsamen Standpunkte ein, Artikel J.2 Abs. 3 Unterabsatz 2 EUV. 37 Burghardt/Tebbe, EuR 1995, S. 7. 38 Artikel J.2 Abs. 1 EUV. 39 Artikel J.2 Abs. 2 EUV. 40 Artikel J.2 Abs. 2 Unterabsatz 2 EUV. 41 Artikel J.3 Zif.4 EUV. 42 Münch, EuR 1996, S. 419.

I. Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik

385

die Wirkung jeder anderen völkerrechtlichen Vereinbarung der Mitgliedstaaten hinausginge und deren Verletzung gegebenenfalls durch den EuGH überprüft werden könnte, wird durch das Handeln im Rahmen der GASP nicht begründet 43 . Das Beschlußverfahren im Rahmen der GASP, nämlich das grundsätzlich bestehende Erfordernis einer einstimmigen Entscheidung, garantiert damit den Mitgliedstaaten in ihrer Gesamtheit, daß sie ihre Interessen auf dem Gebiet der Außen- und Sicherheitspolitik durchsetzen können. Es sichert überdies zusätzlich, daß sogar jeder einzelne Mitgliedstaat entscheidende Einflußnahmemöglichkeiten in bezug auf die Festlegung und Durchführung gemeinsamer Standpunkte und Aktionen in außen- und sicherheitspolitischen Fragen besitzt 44 . Ein Beschluß über einen gemeinsamen Standpunkt oder eine gemeinsame Aktion setzt voraus, daß alle Mitgliedstaaten eine solche Festlegung befürworten. Jeder Mitgliedstaat kann daher seine nationalen Interessen und Schwerpunkte auf dem Gebiet der Außen- und Sicherheitspolitik unabhängig von den Interessen der anderen Mitgliedstaaten oder eines „europäischen Interesses" einbringen. Gelingt es den Mitgliedstaaten nicht, untereinander eine gemeinsame Ausrichtung zu vereinbaren, unterbleibt mangels einer einstimmig gefaßten Entscheidung jegliche gemeinsame Festlegung in außen- und sicherheitspolitischen Fragen. Die im Rat versammelten Mitgliedstaaten beschließen ferner nicht nur über die Festlegung gemeinsamer Standpunkte und gemeinsamer Aktionen, sondern auch über deren genauen Umfang, die allgemeinen und besonderen Ziele sowie die Mittel, Verfahren und Bedingungen sowie erforderlichenfalls den Zeitraum für ihre Durchführung 45. Die Tatsache, daß über diese Fragen auch mit qualifizierter Mehrheit entschieden werden kann, führt nicht zu einer vom Willen eines einzelnen Mitgliedstaates unabhängigen Entscheidung, da die Möglichkeit zur Abstimmung mit qualifizierter Mehrheit zuvor durch einen einstimmig gefaßten Beschluß geschaffen werden muß 46 . Die ablehnende Haltung eines Mitgliedstaates verhindert also die Möglichkeit von Mehrheitsentscheidungen auf dem Gebiet der GASP. Zusätzlich besteht auch nach dem Beschluß über die Durchführung einer gemeinsamen Aktion für einen Mitgliedstaat die Möglichkeit eines Opting-Outs47. Gemäß Artikel J.3 Nr. 7 EUV hat ein Mitgliedstaat die Möglichkeit der Nichtteilnahme, wenn sich bei der Durchführung der gemeinsamen Aktion für ihn größere Schwierigkeiten ergeben. Um

43

Lange. JZ 1996, S. 444.

44

Winter, DÖV 1995, S. 178, spricht in diesem Zusammenhang von einem Vetorecht des einzelnen Mitgliedstaates. 45

Artikel J.3 Ziff. 1 Unterabsatz 2 EUV.

46

Artikel J.3 Ziff. 2 EUV i.V.m. Artikel J.8 Abs. 2 Unterabsatz 2 EUV

47

Regelsberger, Integration 1992, S. 89.

25 Uhrig

386

C. Zulässigkeit der Hoheitsrechtsübertragungen des EUV

das Ziel des koordinierten Vorgehens der Mitgliedstaaten und das Ziel der gemeinsamen Aktion nicht zu gefährden, kann er über seine Nichtteilnahme allerdings nicht allein entscheiden, sondern muß den Rat befassen, in dem die Mitgliedstaaten gemeinsam nach angemessenen Lösungen suchen. Darüber hinaus sichert die begrenzte Einbindung der anderen Gemeinschaftsorgane in die Entscheidungsfindung des Rates die maßgebliche Relevanz der mitgliedstaatlichen Entscheidungsmöglichkeiten: Dem Europäischen Parlament stehen nur Anhörungsrechte zu 4 8 , seine Auffassung ist vom Rat lediglich gebührend zu berücksichtigen49, und es besitzt kein Vorab-, sondern nur ein nachträgliches Anhörungs- und Fragerecht 50. Ein Mitspracherecht bei der inhaltlichen Fixierung außenpolitischer Positionen besitzt das Europäische Parlament also nicht 51 . Die Kommission ist zwar an den Arbeiten im Bereich der GASP in vollem Umfang zu beteiligen52, und Vertreter der Kommission nehmen auf allen Ebenen an der Gestaltung der GASP teil 5 3 . Die Kommission ist auch berechtigt, dem Rat eine Frage zum Thema GASP vorzulegen und ihm Vorschläge zu unterbreiten, sie kann aber, wenn ihre Argumente die Mitgliedstaaten im Rat nicht überzeugen, einen anderslautenden Beschluß im Bereich der GASP nicht verhindern 54. Auch steht ihr anders als in den im EG-Vertrag geregelten Politiken kein Initiativmonopol zu 5 5 . Somit sind bei der Entscheidung zu allen Maßnahmen auf außen- und sicherheitspolitischem Gebiet die Gemeinschaftsorgane nicht maßgeblich beteiligt. Kommission und Europäisches Parlament sind vielmehr gegenüber dem Rat, der im Bereich der GASP als Handlungsinstrument der Mitgliedstaaten fungiert, auf eine untergeordnete Beteiligung verwiesen 56. Die Einflußmöglichkeiten der Mitgliedstaaten werden im Rahmen der GASP somit weder durch ein Initiativrecht der Kommission noch durch Mitentscheidungsrechte der Gemeinschaftsorgane begrenzt, noch sind diese an der Ausführung oder Kontrolle der Aktivitäten im Bereich der

48

Artikel J.7 EUV.

49

Artikel J.7 EUV.

50

Lange, JZ 1996, S. 443, weist darauf hin, daß sich der Wunsch des Europäischen Parlaments nach einer stärkeren Beteiligung durch Vorabkonsultationen bei den Vertragsverhandlungen nicht durchgesetzt hat. 51

Lange JZ 1996. S. 443.

52

Artikel J.9 EUV.

53

Ausführlich zur Geschäftsverteilung hard/Tebbe, EuR 1995, S. 10 f.

innerhalb

der Kommission Burg-

54

Stein, EuR 1995, Beiheft, 2, S. 72.

55

AlgierU Integration 1992, S. 247; Lange, JZ 1996, S. 443.

56

Herdegen, Europarecht, S. 39.

I. Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik

387

GASP maßgeblich beteiligt. Der Rat als das die Mitgliedstaaten repräsentierende Organ ist damit im Rahmen der GASP das zentrale Beschlußorgan57. Im Rahmen der GASP ist der Rat also die für die konkreten Beschlüsse und die zu deren Durchführung erforderlichen Maßnahmen entscheidende Einrichtung. Er ist somit das maßgebliche Konsultations- und Beschlußforum 58. Die Mitgliedstaaten, die sich seiner im Wege der Organleihe bedienen, treffen somit die für sie völkerrechtlich verbindlichen Entscheidungen. Sie besitzen damit die maßgebliche Entscheidungsbefugnis im Rahmen der GASP.

b) Ächtung der Verfassungsstrukturen

der Mitgliedstaaten

Die Europäische Union muß im Rahmen der GASP neben der Eigenstaatlichkeit der Mitgliedstaaten auch die Verfassungsstrukturen der Mitgliedstaaten achten. Die Achtung der Verfassungsstrukturen der Mitgliedstaaten setzt voraus, daß die Europäische Union die föderalen Strukturen der Mitgliedstaaten zur Kenntnis nimmt und den gegebenenfalls vorhandenen innerstaatlichen Ebenen Handlungsmöglichkeiten auf der Ebene der Europäischen Union einräumt 59. Da die GASP nicht in den EG-Vertrag inkorporiert wurde, sondern als Form intergouvernementaler Zusammenarbeit völkerrechtlicher Natur ist 60 , bleiben die Mitgliedstaaten ausschließliche Handlungs- und Entscheidungsträger. Da durch die GASP keine Hoheitsrechte übertragen wurden, kommt es in der Folge auch nicht zu Kompetenzverlusten auf Seiten der Mitgliedstaaten. Dies führt dazu, daß Kompetenzverschiebungen zulasten innerstaatlicher Kompetenzträger nicht eintreten. Die innerstaatliche Kompetenzverteilung bleibt vielmehr durch die Regelungen der GASP in den Mitgliedstaaten unberührt. Die innerstaatliche Willensbildung und Entscheidungsfindung in Fragen der Außen- und Sicherheitspolitik vollzieht sich daher weiterhin ausschließlich nach den verfassungsrechtlichen Vorschriften der Mitgliedstaaten. Sofern in Fragen der Außen- und Sicherheitspolitik also nicht nur die Zentralregierung eines Mitgliedstaates, sondern weitere aufgrund der föderalen Gliederung eines Mitgliedstaaten vorhandene Entscheidungsträger zu beteiligen sind, verbleibt es auch nach der Einführung der GASP bei dem innerstaatlich vorgesehenen Verfahren. Die

57

Kommission, Funktionsweise des EUV, S. 11; Winter, Schweitzer/Hummer, S. 553; Münch, EuR 1996, S. 420. 58

DÖV 1993, S. 177;

Stein, EuR 1995, Beiheft 2, S. 70; Winter, DÖV 1993, S. 177; Herdegen, Europarecht, S. 39.

2*

59

Siehe oben S. 111 f.

60

Siehe oben S. 177 ff.

388

C. Zulässigkeit der Hoheitsrechtsübertragungen des EUV

aufgrund der in den Mitgliedstaaten vorhandenen innerstaatlichen Willensbildungs- und Entscheidungsprozesse zustande gekommenen Ergebnisse in Fragen der Außen- und Sicherheitspolitik werden im Rahmen der GASP lediglich mit den Auffassungen der anderen Mitgliedstaaten koordiniert und gebündelt. Die GASP hat damit keine Auswirkungen auf die innerstaatlichen Verfassungsstrukturen der Mitgliedstaaten, deren föderale Gliederung und die dadurch bewirkte Kompetenzverteilung in Fragen der Außen- und Sicherheitspolitik.

c) Ergebnis In der GASP werden die Entscheidungen sowohl hinsichtlich des Umfang wie der Durchführung des Tätigwerdens der Europäischen Union durch die Initiative und die auf dieser Grundlage ergehenden konkreten Entscheidungen der Mitgliedstaaten bestimmt. Die Mitgliedstaaten geben im Europäischen Rat durch ihre Staats- und Regierungschefs politische Impulse, legen Leitlinien über die grundlegenden Zielvorstellungen, Entwicklungen und die Schwerpunkte der GASP fest und treffen auf der Grundlage dieser politischen Entscheidungen im Rat die konkreten außen- und sicherheitspolitischen Entscheidungen. Entscheidungen im Bereich der GASP werden damit sowohl hinsichtlich ihrer grundsätzlichen Durchführung als auch hinsichtlich der konkreten Ausführung von den Mitgliedstaaten durch deren Regierungen getroffen. Infolge des intergouvernementalen Charakters führt die GASP nicht zur Übertragung außenpolitischer Kompetenzen auf die Ebene der Europäischen Union, sondern beschränkt sich auf eine koordinierte, gebündelte Zusammenarbeit souveräner Regierungen 61 . Die in der Folge ergehenden Entscheidungen im Rahmen der GASP haben für die Mitgliedstaaten keine gemeinschaftsrechtliche Bindungswirkung, sondern begründen nur völkerrechtliche Verpflichtungen. Die außen- und sicherheitspolitische Verantwortung verbleibt weiterhin bei den Mitgliedstaaten. Die lediglich beschränkten Initiativmöglichkeiten der Kommission und die auf nachträgliche Anhörungs- und Fragemöglichkeiten beschränkten Rechte des Europäischen Parlaments garantieren den bestimmenden Einfluß der Mitgliedstaaten. Das Funktionieren der GASP hängt somit von den Mitgliedstaaten ab und wird nicht durch von ihrem Willen unabhängige Entscheidungen überlagert. Die Eigenstaatlichkeit der Mitgliedstaaten wird also im Rahmen der GASP weder konkret gefährdet noch aufgehoben. Die GASP hat aufgrund der Tatsache, daß keine Hoheitsrechte auf die Europäische Union übertragen worden sind, auch keine Auswirkungen auf die innerstaatliche Kompetenzverteilung in den Mitgliedstaaten. Die innerstaatliche Entscheidungsfindung in Fragen der Außen- und Sicherheitspolitik wird von der 61

Lange, JZ 1996, S. 445; Burghardt/Tebbe,

EuR 1995, S. 4.

I. Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik

389

GASP nicht beeinflußt, sondern vollzieht sich unbeeinflußt davon nach den Kompetenzverteilungsregeln, die die nationalen Verfassungen vorsehen. Da die Zusammenarbeit im Rahmen der GASP also aufgrund hinreichender Einfluß- und Entscheidungsmöglichkeit der Mitgliedstaaten weder deren Eigenstaatlichkeit noch durch Kompetenzverluste oder -Verschiebungen die in den Mitgliedstaaten vorhandenen föderalen Strukturen aufhebt oder gefährdet, ist die Europäische Union im Bereich der Zusammenarbeit in der GASP föderalen Grundsätzen im Sinne des Artikels 23 Absatz 1 Satz 1 GG verpflichtet.

2. Demokratische Grundsätze Die Zusammenarbeit in der Außen- und Sicherheitspolitik muß gemäß Artikel 23 Absatz 1 Satz 1 GG auch demokratischen Grundsätzen verpflichtet sein. Dies bedeutet zum einen, daß die Mitgliedstaaten in einem für die Entscheidungen im Rahmen der GASP maßgeblichen Organ vertreten sein müssen, das demokratisch besetzt ist und in dem Entscheidungen nach demokratischen Grundsätzen getroffen werden (a), und zum anderen, daß die Europäische Union selbst, soweit in diesem Bereich durch sie Hoheitsrechte ausgeübt werden, demokratisch legitimiert sein muß, daß also die Unionsbürger durch ihre Beteiligung das Handeln der Europäischen Union legitimieren (b) 6 2 .

a) Demokratische Legitimation durch die Mitgliedstaaten Fraglich ist zunächst, ob die Mitgliedstaaten im Rahmen der GASP in einem für Entscheidungen maßgeblichen Organ vertreten sind, das demokratisch besetzt ist und in dem die Entscheidungen nach demokratischen Grundsätzen getroffen werden. Die Mitgliedstaaten sind sowohl im Europäischen Rat als auch im Rat vertreten, und sie entscheiden sowohl über die politischen Leitlinien wie die Festlegung konkreter Standpunkte und Aktionen im Bereich der GASP 63 . Sie sind sowohl im Europäischen Rat als auch im Rat jeweils durch einen Vertreter repräsentiert, so daß sie gleichberechtigt vertreten sind. Das Erfordernis demokratischer Besetzung der Organe, in denen die Mitgliedstaaten repräsentiert sind, ist somit erfüllt. Das Erfordernis demokratischer Legitimation setzt darüber hinaus voraus, daß die Entscheidungen sowohl im Europäischen Rat als auch im Rat nach 62

Siehe oben S. 113 ff.

63

Siehe oben 173 ff.

390

C. Zulässigkeit der Hoheitsrechtsübertragungen des EUV

demokratischen Grundsätzen getroffen werden. Dies bedeutet, daß jeder Mitgliedstaat über Einfluß- und Entscheidungsmöglichkeiten verfügen muß und daß die Abstimmungen demokratischen Grundsätzen entsprechen müssen. Dies setzt zwar nicht voraus, daß Entscheidungen durchgängig einstimmig getroffen werden müssen. Es muß jedoch gewährleistet sein, daß der Wille der Mehrheit der Mitgliedstaaten maßgeblich ist 64 . Die Entscheidungen des Europäischen Rates ergehen im Konsens zwischen den Staats- und Regierungschefs. Die Möglichkeiten des Europäischen Rates zur Kompromißbildung und Lösung schwieriger Verhandlungslagen65 setzt voraus, daß alle Mitgliedstaaten ihre nationalen Interessen und Ansichten einbringen können und daß diese Berücksichtigung finden. Die Entscheidungen des Europäischen Rates spiegeln in der Folge den im Wege des Kompromisses gefundenen gemeinsamen Standpunkt der Regierungen der Mitgliedstaaten in Fragen der GASP wieder. Da jeder Mitgliedstaat durch einen Repräsentanten im Europäischen Rat vertreten ist und somit Einfluß auf die Entscheidungen des Europäischen Rat nehmen kann, und da Entscheidungen des Europäischen Rates nur bei Zustimmung aller Mitgliedstaaten ergehen, werden seine Entscheidungen damit nach demokratischen Grundsätzen gefaßt. Fraglich ist, ob dies auch für das Handeln des Rates im Rahmen der GASP gilt. Da auch im Rat die Mitgliedstaaten durch je einen Vertreter repräsentiert sind, besitzt jeder Mitgliedstaat die Möglichkeit, seine nationalen Interessen im Rat einzubringen. Darüber hinaus entspricht auch die konkrete Entscheidungsfindung demokratischen Grundsätzen. Der Rat entscheidet gemäß Artikel J.8 Absatz 2 Unterabsatz 2 EUV grundsätzlich einstimmig. Die Beschlüsse über gemeinsame Standpunkte und gemeinsame Aktionen setzen also das Einvernehmen aller fünfzehn Mitgliedstaaten voraus 66. Jeder Mitgliedstaat kann daher einen Beschluß zu gemeinsamem Vorgehen bereits durch bloße Stimmenthaltung verhindern 67. Die die Mitgliedstaaten bindenden Beschlüsse im Bereich der GASP erfordern also grundsätzlich die Zustimmung aller Mitgliedstaaten und entsprechen damit demokratischen Grundsätzen. Etwas anderes gilt jedoch für die Durchführungsmaßnahmen einer gemeinsamen Aktion, die auch mit qualifizierter Mehrheit beschlossen werden können68. Dies bedeutet, daß solche Durchführungsmaßnahmen auch gegen den Willen einzelner Mitgliedstaaten beschlossen werden können. Allerdings setzt eine solche Entscheidung mittels

64

So im Ergebnis BVerfGE 89, S. 155, 183.

65

Hilf/Pache,

66

Wessels, Integration 1992, S. 13; Lange, JZ 1996, S. 444.

Artikel D, Rn. 14, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), Kommentar zum EUV.

67

Herdegen, Europarecht, S. 282; Stein, EuR 1995, Beiheft 2, S. 72.

68

Artikel J.3 Nr. 2 Unterabsatz 2 EUV.

I. Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik

391

einer qualifizierten Mehrheit voraus, daß die Mitgliedstaaten zuvor zunächst einstimmig eine gemeinsame Aktion beschlossen haben und dann ebenfalls einstimmig entschieden haben, daß für Durchführungsmaßnahmen eine qualifizierte Mehrheit ausreichen soll 69 . Damit sind die Möglichkeiten für Mehrheitsentscheidungen sehr eng begrenzt. Mehrheitsentscheidungen sind damit nicht hinsichtlich des „Obs", sondern nur über Fragen des „Wie" einer gemeinsamen Aktion möglich, und auch das nur, wenn diese Möglichkeit vom Rat vorher im Konsens beschlossen worden ist 70 . Die Einführung der ausnahmsweisen, vorher im Einzelfall konsensual vereinbarten Mehrheitsentscheidung kann also nicht darüber hinwegtäuschen, daß in der GASP grundsätzlich das Einstimmigkeitsprinzip vorherrscht 71. Da der Rat im Bereich der GASP grundsätzlich einstimmig und nur in Ausnahmefällen und auf der Grundlage eines zuvor ergangenen einstimmigen Beschlusses über die Anwendung qualifizierter Mehrheiten entscheidet, entspricht das Abstimmungsverfahren damit demokratischen Grundsätzen, denn es sichert, daß stets der Wille der Mehrheit der Mitgliedstaaten für Entscheidungen maßgeblich ist. Fraglich ist, ob die Vertreter der Mitgliedstaaten im Rat für die Entscheidungen im Rahmen der GASP eine hinreichende demokratische Legitimation besitzen. Dabei ist jedoch zu bedenken, daß die Minister der Mitgliedstaaten sich im Rahmen der GASP zwar des institutionellen Rahmens der Europäischen Gemeinschaft durch Organleihe in bezug auf den Rat bedienen. Der Rat ist damit hinsichtlich seiner Besetzung, nicht jedoch hinsichtlich seiner Aufgaben mit dem Rat der Europäischen Gemeinschaft identisch, denn das Handeln im Rahmen der GASP dient nicht der Gestaltung und Durchsetzung einer Politik der Gemeinschaft. Die Entscheidungen der nationalen Minister führen daher nicht zu gemeinschaftsrechtlichen, sondern zu völkerrechtlich für die Mitgliedstaaten verbindlichen Festsetzungen. Die im Rat zusammenkommenden Regierungsvertreter üben daher bei ihrer Tätigkeit im Rahmen der GASP keine gemeinschaftsrechtlichen, sondern lediglich die den Mitgliedstaaten als souveränen Staaten zukommenden außen- und sicherheitspolitischen Kompetenzen aus. Die demokratische Legitimation zur Vertretung ihrer Staaten im Bezug auf völkerrechtliches Verhalten beziehen die nationalen Minister wie bei jedem Handeln einer nationalen Regierung aus dem der Bestellung der Regierung zugrundelie-

69 Stein, EuR 1995, Beiheft 2, S. 72; Lange, JZ 1996, S. 444, Regelsberger, Integration 1992, S. 88. 70

Lange, JZ 1996, S. 444; Münch, EuR 1996, S. 419, S. 419 f., kommt daher zu dem Schluß, daß es sich um eine versteckte Einstimmigkeit" handelt. 71

Weidenfeld/Jung, Integration 1993, S. 144; Lange, JZ 1996, S. 445; Stein, EuR 1995, S. 72; Staujfenberg/Langenfeld, ZRP 1992, S. 254; Schmuck, EA 1992, S. 104.

392

C. Zulässigkeit der Hoheitsrechtsübertragungen des EUV

genden nationalen Wahl- bzw. Ernennungsverfahren 72. Angesichts der rein völkerrechtlichen Zusammenarbeit im Rahmen der GASP bedarf es keiner darüber hinausgehenden demokratischen Legitimation für das Handeln der Vertreter der Regierungen der Mitgliedstaaten im Rat. Die Mitgliedstaaten sind also sowohl im Europäischen Rat als auch im Rat durch je einen Vertreter repräsentiert. Sie können ihre nationalen Interessen einbringen und Einfluß auf die Entscheidungsfindung im Rahmen der GASP nehmen. Da die Schlußfolgerungen des Europäischen Rates die Zustimmung aller Mitgliedstaaten voraussetzen und die Entscheidungen im Rat grundsätzlich einstimmig oder auf der Grundlage einer zuvor einstimmig beschlossenen Entscheidung mit qualifizierter Mehrheit ergehen, ist sichergestellt, daß Entscheidungen im Rahmen der GASP nur getroffen werden können, wenn zumindest die Mehrheit der Mitgliedstaaten eine solche Entscheidung befürwortet. Damit entsprechen sowohl die Besetzung der die Mitgliedstaaten repräsentierenden Einrichtungen als auch die Abstimmungsverfahren im Rahmen der GASP demokratischen Grundsätzen.

b) Demokratische Legitimation durch die Beteiligung der Unionsbürger Fraglich ist weiterhin, ob das Handeln im Rahmen der GASP durch die Beteiligung der Unionsbürger hinreichend demokratisch legitimiert ist. Der EU-Vertrag enthält zunächst das grundsätzliche Bekenntnis zum demokratischen Prinzip. So weist die Präambel in ihrem 3. Erwägungsgrund ausdrücklich auf die Demokratie hin. Auch Artikel F Absatz 2 EUV läßt sich durch den Hinweis auf die EMRK konkludent das Bekenntnis zur Demokratie entnehmen73. Fraglich ist jedoch, ob das Handeln im Rahmen der GASP über dieses Bekenntnis zur Demokratie hinaus durch die tatsächliche Beteiligung der Unionsbürger hinreichend demokratisch legitimiert ist. Eine Beteiligung der Unionsbürger auf dem Wege der Beteiligung des Europäischen Parlaments findet nur in sehr beschränkten Ausmaß statt. Im Bereich der GASP werden dem Europäischen Parlament lediglich das Recht auf die gebührende Berücksichtigung seiner Auffassung und ein nachträgliches Anhörungs- und Fragerecht eingeräumt74. Ihm ist regelmäßig zu berichten75, es kann

72

Tomuschat, EuR 1990, S. 351; MacCormick, JZ 1995, S. 779; Tsatsos, EuGRZ 1995, S. 291. 73

Tsatsos, EuGRZ 1995, S. 292.

74

Artikel J.7 Unterabsatz 1 Satz 1; Artikel K.6 Unterabsatz 2 EUV. Siehe oben

S. 177 f.

I. Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik

393

Anfragen oder Empfehlungen an den Rat richten, und es fuhrt einmal jährlich eine Aussprache über die Fortschritte im Bereich der GASP durch 76. Diese Rechte des Europäischen Parlaments bedeuten zwar im Vergleich zur Beteiligung im Rahmen der EPZ einen Zugewinn an Beteiligungsmöglichkeiten77. Der EU-Vertrag räumt dem Europäischen Parlament nämlich durch die institutionelle Anbindung der GASP an die Europäische Gemeinschaft im Gegensatz zu der vormals gänzlich außerhalb des institutionellen Rahmens der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft durchgeführten völkerrechtlichen Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten im Rahmen der EPZ erstmals überhaupt Beteiligungsrechte in den Bereichen Außen- und Sicherheitspolitik ein. Gleichwohl besitzt das Europäische Parlament wesentliche parlamentarische Rechte im Bereich der GASP nicht. So sind Untersuchungs- und Petitionsrechte ausdrücklich ausgeschlossen 78 . Vor allem aber besitzt das Europäische Parlament Beteiligungs- und Mitentscheidungsrechte entsprechend den Verfahren der Artikel 189 b f. EGV im Rahmen der GASP nicht. Die nur beschränkte Beteiligung des Europäischen Parlaments begründet jedoch kein Defizit im Hinblick auf die demokratische Legitimation des Handelns der Europäischen Union durch die Beteiligung der Unionsbürger. Im Rahmen der GASP übt die Europäische Union nämlich keine Hoheitsrechte aus. Insofern besteht auch nicht die Notwendigkeit unmittelbarer demokratischer Legitimation durch das Europäische Parlament. Völkerrechtliches Handeln der Regierungen der Mitgliedstaaten unterliegt entsprechend den nationalen Verfassungen der Kontrolle durch die nationalen Parlamente. Da die Kompetenzen im Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik uneingeschränkt bei den Mitgliedstaaten verbleiben, können die nationalen Parlamente das Handeln ihrer Regierungen und damit auch die auf diesem Wege zustandekommenden Entscheidungen im Rahmen der GASP kontrollieren. Da die Unionsbürger ihre nationalen Parlamente kontrollieren, vermitteln sie auf diese Weise mittelbar eine demokratische Legitimation. Die Beteiligung der Unionsbürger im Rahmen der GASP ist damit zwar durch die beschränkten Mitentscheidungs- und Kontrollmöglichkeiten des Europäischen Parlaments nicht umfassend sichergestellt. Da die Unionsbürger

75

Artikel J.7 Unterabsatz 1 Satz 2; Artikel K.6 Unterabsatz 1 EUV.

76

Artikel J.7 Unterabsatz 2; Artikel K.6 Unterabsatz 3 EUV.

77

Oppermann/ Classen, NJW 1993, S. 7; Hrbek, GS Grabitz, S. 184.

78

Artikel J.l 1 und Artikel K.8 EUV verweisen nicht auf die Artikel 138 c und 138

dEGV.

394

C. Zulässigkeit der Hoheitsrechtsübertragungen des EUV

jedoch durch die Kontrollmöglichkeiten der nationalen Parlamente weitere effektive Beteiligungs- und Einflußnahmemöglichkeiten in bezug auf das Handeln der Mitgliedstaaten im Rahmen der GASP besitzen, ist die demokratische Legitimation durch die Unionsbürger im Rahmen der GASP sichergestellt.

c) Ergebnis Im Rahmen der GASP ist die Verpflichtung zur Erfüllung demokratischer Grundsätze in mehrfacher Weise erfüllt: durch die Vertretung der Mitgliedstaaten im Europäischen Rat wie im Rat, durch ein grundsätzlich bestehendes Einstimmigkeitserfordernis, das den Einfluß auch des einzelnen Mitgliedstaates bei der Entscheidungsfindung sichert, und durch die auf nationaler Ebene bestehende demokratische Legitimation der Vertreter der Mitgliedstaaten im Rat sowie die Beteiligung der nationalen Parlamente. Die Mitgliedstaaten sind in den Einrichtungen, in denen im Rahmen der GASP die die Mitgliedstaaten völkerrechtlich bindenden Entscheidungen getroffen werden, mit jeweils einem Vertreter repräsentiert. Diese Vertreter sind ihrerseits durch das der Bestellung der nationalen Regierungen zugrundeliegende Wahl- oder Ernennungsverfahren hinreichend demokratisch legitimiert. Die Entscheidungen selbst ergehen nach demokratischen Grundsätzen, da sie entweder einstimmig getroffen werden oder einer qualifizierten Mehrheit an Stimmen bedürfen. Es ist damit in jedem Fall sichergestellt, daß die Entscheidungen die Mehrheit der Mitgliedstaaten repräsentieren. Die Unionsbürger werden zwar unmittelbar durch die nur beschränkten Beteiligungsrechte des Europäischen Parlaments im Rahmen der GASP auf Unionsebene nicht umfassend beteiligt, denn das Europäische Parlament besitzt nur beschränkte Anhörungs- und Fragerechte und es fehlt ihm an einer echten Mitentscheidungskompetenz. Da jedoch die nationalen Parlamente das völkerrechtliche Verhalten ihrer Regierungen und die im Rahmen der GASP getroffenen Entscheidungen kontrollieren können, ist die hinreichende Berücksichtigung der Völker der Mitgliedstaaten und damit eine hinreichende Beteiligung der Unionsbürger gesichert. Die Europäische Union ist damit im Bereich der GASP demokratischen Grundsätzen im Sinne des Artikels 23 Absatz 1 Satz 1 GG verpflichtet.

3. Rechtsstaatliche Grundsätze Die Zusammenarbeit in der Außen- und Sicherheitspolitik muß gemäß Artikel 23 Absatz 1 Satz 1 GG weiterhin rechtsstaatlichen Grundsätzen verpflichtet sein. Dies bedeutet, daß eine Bindung an Recht und Gesetz einschließlich einer

I. Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik

395

gerichtlichen Kontrolle, die Gewaltenteilung sowie der Schutz elementarer Grund- und Menschenrechte garantiert sein müssen79. Der dritte Entschließungsgrund der Präambel des EU-Vertrages enthält zunächst ein grundsätzliches Bekenntnis der Europäischen Union zur Rechtsstaatlichkeit. Dieses Bekenntnis wird in Artikel J.l Absatz 2 Spiegelstrich 5 EUV für die Tätigkeit im Rahmen der GASP konkretisiert, in dem die Entwicklung und Stärkung der Rechtsstaatlichkeit explizit als Ziel der GASP benannt wird 80 . Damit hat sich die Europäische Union für den Bereich der GASP zunächst allgemein zu rechtsstaatlichen Grundsätzen bekannt. Allerdings sind die Regelungen im Bereich der GASP unter dem Aspekt der Garantie gerichtlicher Kontrolle problematisch. Artikel L EUV nimmt nämlich die Entscheidungen der Europäischen Union im Bereich der GASP aus dem Zuständigkeitsbereich des EuGH aus 81 . Dies hat beispielsweise zur Folge, daß die Verpflichtung aus einem gemeinsamen Standpunkt gemäß Artikel J.2 Absatz 2 Satz 2 EUV für die Mitgliedstaaten zwar verbindlich ist. Die Einhaltung dieser Verpflichtung kann jedoch vom EuGH nicht überprüft werden, solange der gemeinsame Standpunkt nicht eine Maßnahme zur Folge hat, die ihre Rechtsgrundlage im Gemeinschaftsrecht hat und die aufgrunddessen in die Jurisdiktion des EuGH fällt 82 . Der EuGH kann unmittelbar weder für die Auslegung der Entscheidungen im Bereich der GASP noch für die Entscheidung von Streitigkeiten über deren Anwendung angerufen werden. Er kann lediglich mittelbar über die rechtlichen Wirkungen der nicht seiner unmittelbaren Zuständigkeit unterstellten Entscheidungen im Rahmen der GASP entscheiden83. Eine solche mittelbare Rechtsprechung des EuGH kommt etwa für gemeinschaftsrechtliche Rechtsakte im Zusammenhang mit der Durchführung gemeinsamer Standpunkte und Aktionen im Rahmen der GASP in Betracht, die durch Ratsbeschluß auf der Grundlage des Artikels 228 a EGV umgesetzt werden 84. Daneben kann der EuGH im Haushaltsverfahren nach Artikel 203 EGV mittelbar mit Fragen im Bereich der GASP befaßt werden, denn nach Artikel J.l 1 Absatz 2 EUV gehen die in diesem Bereich entstehenden Verwaltungsausgaben zu Lasten des Gemeinschaftshaushalts, und die operationellen Ausgaben können

79

Siehe oben S. 118 ff.

80

Herdegen, Europarecht, S. 283.

81

Wessels, S. 23, faßt dies dahingehend zusammen, daß damit die GASP außerhalb der checks and balances des EGV angesiedelt sei. 82

Lange, JZ 1996, S. 444.

83

Pache, Artikel L, Rn. 18, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), Kommentar zum EUV.

84

In Betracht kommen hier z.B. Verordnungen zur Durchführung von Sanktionen, Middeke/Szczekulla, JZ 1993, S. 292.

396

C. Zulässigkeit der Hoheitsrechtsübertragungen des EUV

dem Gemeinschaftshaushalt angelastet werden 85. Mit Ausnahme dieser in eng umgrenztem Maß möglichen mittelbaren Rechtsprechung ist der EuGH jedoch für die Kontrolle der Aktivitäten und Entscheidungen der Europäischen Union auf dem Gebiet der GASP nicht zuständig. Fraglich ist, ob die Europäische Union dadurch ihre Verpflichtung zur Garantie gerichtlicher Kontrolle verletzt hat. Eine solche Verletzung wäre dann zu bejahen, wenn die fehlende Zuständigkeit des EuGH auf dem Gebiet der GASP zur Folge hätte, daß trotz der Möglichkeit rechtsverbindlichen Handelns eine gerichtliche Kontrolle in diesem Bereich gänzlich unterbleiben würde bzw. unmöglich wäre. Die fehlende Zuständigkeit des EuGH führt indes nicht zum Ausschluß jeglicher gerichtlicher Überprüfung des völkerrechtlichen Handelns der Mitgliedstaaten auf dem Gebiet der GASP. Soweit Titel V des EU-Vertrages durch gemeinsame Stellungnahmen und Aktionen völkerrechtliche Verpflichtungen der Mitgliedstaaten begründet, besteht zum einen die Möglichkeit, nach Völkerrecht zulässige Sanktionen zu ergreifen oder den abweichenden Staat nach den Regeln des Europäischen Streitschlichtungsabkommens vor den IGH zu bringen, denn die völkerrechtlichen Bestimmungen des EU-Vertrages unterliegen den Regeln der Wiener Vertragsrechtskonvention bzw. den allgemeinen Regeln des Völkerrechts, wie z.B. pacta sunt servanda86. Die Entscheidungen auf dem Gebiet der GASP unterliegen darüber hinaus zum anderen der gerichtlichen Überprüfbarkeit durch die nationalen Gerichte. Da mit den Regelungen des EU-Vertrages auf dem Gebiet der GASP keine Hoheitsrechtsübertragungen auf dem Gebiet der Außen- und Sicherheitspolitik verbunden sind und die Mitgliedstaaten, wenn auch unter Zuhilfenahme der Organe der Europäischen Gemeinschaft, lediglich koordinierend zusammenwirken, verbleibt es für die Regierungen der Mitgliedstaaten bei ihren bisherigen Kompetenzen. Für die gerichtliche Überprüfbarkeit durch nationale Gerichte ergibt sich durch die Zusammenarbeit im Rahmen der GASP damit weder im Hinblick auf die generelle Überprüfbarkeit des Handelns der Regierung auf dem Gebiet der Außen- und Sicherheitspolitik noch im Hinblick auf den Umfang der überprüfbaren Aspekte staatlichen Handelns eine Änderung. Aufgrund des lediglich völkerrechtlichen Zusammenwirkens der Mitgliedstaaten auf dem Gebiet der GASP können also die nationalen Gerichte die Entscheidungen, die im Bereich der GASP getroffen werden, ebenso wie sonstiges Handeln der nationalen Regierungen aufgrund völkerrechtlicher Vereinbarungen gerichtlich überprüfen. Gleichwohl könnte die fehlende Zuständigkeit des EuGH unter dem Aspekt fehlender Rechtsschutzmöglichkeiten des einzelnen von Bedeutung sein. Das 85

Pache, Artikel L, Rn. 18, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), Kommentar zum EUV.

86

Stein, EuR 1995, Beiheft 2, S. 75 m.w.N.

I. Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik

397

wäre dann der Fall, wenn durch die Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten auf dein Gebiet der GASP unmittelbar mit Durchgriffswirkung Grundrechte des einzelnen betroffen werden könnten, die aufgrund der fehlenden Zuständigkeit des EuGH nicht effektiv gesichert und geschützt werden könnten. Da der EuGH für die Auslegung und Anwendung des primären und sekundären Gemeinschaftsrechts zuständig ist, und da die allgemeinen Rechtsgrundsätze als Teil des „Rechts" im Sinne des Artikels 164 EGV betrachtet werden, obliegt ihm auch die Konkretisierung und Durchsetzung der in den allgemeinen Rechtsgrundsätzen enthaltenen Gemeinschaftsgrundrechte 87. Die fehlende Möglichkeit der gerichtlichen Durchsetzung der Gemeinschaftsgrundrechte im Bereich der GASP könnte vordergründig als Rechtsschutzdefizit und damit als Verletzung rechtsstaatlicher Grundsätze angesehen werden. Dem ist jedoch zweierlei entgegenzuhalten: Zum einen handelt es sich bei den Entscheidungen im Rahmen der GASP nicht um Gemeinschaftsrecht, sondern um das Ergebnis intergouvernementaler Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten. Zum anderen drohen dem einzelnen durch die Entscheidungen im Rahmen der GASP keine unmittelbaren Grundrechtseingriffe. Vielmehr sind die Entscheidungen im Rahmen der GASP völkerrechtlicher Rechtsnatur, die anders als Gemeinschaftsrecht keine unmittelbaren Rechtswirkungen im innerstaatlichen Recht entfalten, sondern die jeweils der Umsetzung durch die Mitgliedstaaten bedürfen 88. Da die nationalen Umsetzungsakte nicht der Umsetzung von Gemeinschaftsrecht, sondern der Inkorporation von Völkerrecht in die nationale Rechtsordnung dienen, beruht der gegebenenfalls erfolgende Eingriff in Grundrechte weder unmittelbar noch mittelbar auf Gemeinschaftsrecht. Die fehlende Zuständigkeit des EuGH führt als Folge der nur auf die Auslegung und Anwendung von Gemeinschaftsrecht beschränkten Kompetenz des EuGH nicht zur Beschränkung der Rechtsschutzmöglichkeit des einzelnen, weil die Gerichtsbarkeit des EuGH nur in solchen Bereichen ausgeschlossen ist, die nicht zu Maßnahmen der Europäischen Union mit Durchgriffswirkung auf Grundrechtsträger im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten ermächtigen89. Sollte der einzelne durch nationale Rechtsakte oder Entscheidungen in seinen grundrechtlich geschützten Positionen betroffen werden, steht ihm der Rechtsweg zur Überprüfung dieser nationalen Rechtsakte durch nationale Gerichte uneingeschränkt offen. Fraglich ist schließlich, ob die Zusammenarbeit im Rahmen der GASP dem Prinzip der Gewaltenteilung entspricht. Dies setzt grundsätzlich die Festlegung einer Aufgabenverteilung sowie ein System der checks and balances voraus. Es

87

Pernice , Artikel 164, Rn. 48 m.w.N., in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), Kommentar zum

EGV. 88

Münch, EuR 1996, S. 419.

89

BVerfGE 89, S. 155, 175.

398

C. Zulässigkeit der Hoheitsrechtsübertragungen des EUV

müssen also Organe vorhanden sein, die die Aufgaben von Legislative, Exekutive und Judikative wahrnehmen, die voneinander abgegrenzte Kompetenzen haben und die sich gegenseitig kontrollieren 90. Die uneingeschränkte Verwirklichung diesen Aspektes rechtsstaatlicher Garantien ist jedoch nur in Fällen innerstaatlich rechtsverbindlichen Handelns erforderlich, da bei nichtverbindlichem staatlichem Handeln die Gefahr der Verletzung subjektiver Rechte des einzelnen nicht gegeben ist und eine gegenseitige Kontrolle der Gewalten unter dem Aspekt der Sicherung der Freiheit der Bürger nicht zwingend ist. Titel V EUV enthält Regelungen, die den Mitgliedstaaten sowie den im Wege der Organleihe tätigen Gemeinschaftsorganen Zuständigkeiten zuweisen: Der Europäische Rat trifft die grundlegenden politischen Entscheidungen. Der Rat beschließt auf dieser Grundlage erforderlichenfalls gemeinsame Stellungnahmen und Aktionen. Die Kommission besitzt ein beschränktes Initiativrecht und ist an den Arbeiten in vollem Umfang zu beteiligen. Das Europäische Parlament besitzt Anhörungs- und Fragerechte, und ihm ist regelmäßig zu berichten. Die Mitgliedstaaten und Gemeinschaftsorgane besitzen im Rahmen der GASP damit zwar voneinander abgegrenzte Zuständigkeiten. Das Europäische Parlament besitzt jedoch keine Mitentscheidungsrechte, und es besteht keine gerichtliche Kontrolle durch den EuGH. Insofern sind den Organen der Europäischen Gemeinschaft zwar Zuständigkeiten zugewiesen, die Zuständigkeitsverteilung entspricht jedoch nicht der Trennung in Legislative, Exekutive und Judikative. In der GASP sind vielmehr die Mitgliedstaaten die alleinigen Entscheidungsträger, während Kommission und Europäisches Parlament lediglich beschränkte Initiativ- und Anhörungsrechte besitzen91. Gleichwohl führt dies nicht zu einem Verstoß gegen das Gewaltenteilungsprinzip, denn die Aufgabenzuweisung im Rahmen der GASP ist Folge der lediglich völkerrechtlichen Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten. Die GASP hat nämlich nicht die Übertragung von Hoheitsrechten der Mitgliedstaaten zur Folge, sondern hat das koordinierte Vorgehen der Mitgliedstaaten in Fragen der Außen- und Sicherheitspolitik zum Ziel. Die Entscheidungen im Rahmen der GASP sind damit zwar völkerrechtlich verbindlich, entfalten aber innerstaatlich keine unmittelbaren Rechtswirkungen, sondern bedürfen jeweils der Umsetzung durch die nationalen Hoheitsträger. Angesichts des intergouvernementalen Charakters der GASP bedarf es daher auf der Ebene der Europäischen Union keiner Gewaltenteilung im Sinne gegenseitiger Kontrolle der Gemeinschaftsorgane, denn die Mitgliedstaaten bleiben die einzigen Hoheitsträger und üben die Hoheitsrechte im Bereich der Außenund Sicherheitspolitik in Umsetzung der Entscheidungen im Rahmen der GASP selbst aus.

90

Siehe oben S. 119 f.

91

Siehe oben S. 177 f.

I. Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik

399

Die Zusammenarbeit im Rahmen der GASP ist somit rechtsstaatlichen Grundsätzen i.S. des Artikels 23 Absatz 1 Satz 1 GG verpflichtet.

4. Soziale Grundsätze Die Zusammenarbeit in der GASP muß außerdem gemäß Artikel 23 Absatz 1 Satz 1 GG sozialen Grundsätzen verpflichtet sein. Dies bedeutet, daß sie eine Wertentscheidung zugunsten sozialer Gerechtigkeit und sozialer Sicherheit getroffen haben muß 92 . Die Europäische Union hat sich im siebten Erwägungsgrund der Präambel die Förderung des sozialen Fortschritts ihrer Völker und in Artikel Β Spiegelstrich 1 EUV die Förderung eines ausgewogenen und dauerhaften wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt zum Ziel gesetzt und sich damit grundsätzlich zur Verwirklichung sozialer Wertvorstellungen bekannt. Die Zusammenarbeit im Bereich der GASP selbst enthält hingegen keine Regelungen hinsichtlich der sozialen Ausrichtung in diesem Bereich. Da die GASP jedoch lediglich für einen begrenzten Ausschnitt staatlicher Politik Regelungen aufstellt und die Außen- und Sicherheitspolitik Aspekte sozialstaatlicher Politik unmittelbar nicht betrifft, beeinträchtigt die fehlende Regelung sozialer Fragen im Bereich der GASP eine grundsätzlich vorhandene Wertentscheidung der Europäischen Union zugunsten sozialer Gerechtigkeit und Sicherheit nicht. Insofern enthält der EU-Vertrag für den Bereich der GASP selbst zwar keine Wertentscheidung zugunsten sozialer Gerechtigkeit und sozialer Sicherheit. Angesichts der Tatsache, daß Handeln auf dem Gebiet der Außen- und Sicherheitspolitik weder vorrangig der Verwirklichung sozialer Grundsätze dienen soll noch die Verwirklichung sozialer Ziele unmittelbar beeinflußt, hebt die fehlende ausdrückliche Entscheidung zugunsten sozialer Gerechtigkeit und Sicherheit das grundsätzlich bestehende Bekenntnis der Europäischen Union zu sozialem Fortschritt und die damit verbundene Wertentscheidung zur Berücksichtigung sozialer Fragen nicht auf.

5. Grundrechtsschutz Des weiteren muß die GASP gemäß Artikel 23 Absatz 1 Satz 1 GG einen dem Grundgesetz im wesentlichen vergleichbaren Grundrechtsschutz gewährleisten.

92

Siehe oben S. 121 f.

400

C. Zulässigkeit der Hoheitsrechtsübertragungen des EUV

Zwar enthalten die Regelungen im Bereich der GASP keinen dem Grundgesetz vergleichbaren Katalog grundrechtlicher Gewährleistungen. Gleichwohl bekennt sich die Europäische Union bereits im dritten Entschließungsgrund der Präambel des EU-Vertrages für alle ihre Tätigkeitsfelder und damit auch für die GASP zur Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten sowie der Rechtsstaatlichkeit. Die Europäische Union ist zudem gemäß Artikel F Absatz 2 EUV zur Achtung der Grundrechte, wie sie die EMRK gewährleistet und wie sie sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten als allgemeine Grundsätze des Gemeinschaftsrecht ergeben, verpflichtet. Damit wird nicht nur die uneingeschränkte Achtung der Grundrechte, wie sie in der EMRK gewährleistet, garantiert, sondern auch die Rechtsprechung des EuGH zum Grundrechtsschutz, die die gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten zur Grundlage hat, anerkannt93. Damit unterliegt die Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten unter dem Dach der Europäischen Union der Bindung an Grundrechte 94. Für den Bereich der GASP wird das Bekenntnis zur Achtung von Grundrechten in Titel V EUV zudem nicht nur bekräftigt, sondern es bildet gemäß Artikel J.l Absatz 2 Spiegelstrich 5 EUV eines der Ziele der GASP 95 . Dieses Bekenntnis zur Achtung der Grund- und Menschenrechte ist im Hinblick auf die Gewährleistung eines dem Grundgesetz im wesentlichen gleichkommenden Grundrechtsschutzes ausreichend, da die im Rahmen der GASP möglichen Entscheidungen völkerrechtlicher Rechtsnatur sind und keine unmittelbar grundrechtserheblichen Wirkungen haben können96. So wird der Rat zunächst nur ermächtigt, gemeinsame Standpunkte festzulegen 97. Diesen fehlt von vornherein eine unmittelbare grundrechtserhebliche Verbindlichkeit für den einzelnen98, denn sie geben lediglich die gemeinsame Einschätzung und Meinung der Mitgliedstaaten zu einer Frage der Außen- und Sicherheitspolitik wieder. Soweit der EU-Vertrag vorsieht, daß der Rat gemeinsame Aktionen beschließen kann, gilt im Ergebnis nichts anderes. Ungeachtet der völkerrechtlichen Bindung der Mitgliedstaaten durch diese Ratsbeschlüsse wird durch sie kein in den Mitgliedstaaten unmittelbar anwendbares und Vorrang beanspruchendes Recht gesetzt99. Vielmehr bedarf es für eine innerstaatliche Rechtswir-

93

Iglesias, EuGRZ 1996, S. 129; Hilf, Artikel F, Rn. 36, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), Kommentar zum EUV. 94

Hilf Artikel F, Rn. 40, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), Kommentar zum EUV.

95

Herdegen, Europarecht, S. 283.

96

Dörr, EuR 1995, S. 346.

97

Artikel J.2 Abs. 2 EUV.

98

BVerfGE 89, S. 155, 176.

99

BVerfGE 89, S. 155, 176.

I. Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik

401

kung stets eines Umsetzungsaktes durch die Mitgliedstaaten. Den Entscheidungen im Rahmen der GASP fehlt es also an der Durchgriffswirkung, die eine unmittelbare Grundrechtsbetroffenheit des einzelnen ermöglichen könnte.

6. Grundsatz der Subsidiarität Die Zusammenarbeit im Bereich der GASP muß gemäß Artikel 23 Absatz 1 Satz 1 GG ferner dem Grundsatz der Subsidiarität verpflichtet sein. Die Europäische Union bekennt sich bereits in der Präambel des EUVertrages zum Subsidiaritätsprinzip 100. Sie greift dieses Bekenntnis im letzten Absatz des Artikels Β EUV auf. Dieser bestimmt, daß die Ziele der Europäischen Union unter Beachtung des Subsidiaritätsprinzips, wie es in Artikel 3 b Absatz 2 EGV bestimmt ist, verwirklicht werden. Dadurch wird das Subsidiaritätsprinzip auch für die im EU-Vertrag geregelten Formen intergouvernementaler Zusammenarbeit und damit auch für die GASP, zu einem Grundprinzip für das Handeln der Europäischen Union 1 0 1 . Neben diesem Bekenntnis zur Beachtung des Subsidiaritätsprinzips beim Zusammenwirken und Handeln im Bereich der GASP ist auch bereits die Form der Zusammenarbeit selbst Ausdruck der Achtung des Grundsatzes der Subsidiarität. Die GASP wird als völkerrechtliche Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten und nicht als Gemeinschaftspolitik durchgeführt, so daß mangels Gemeinschaftsrechts auch kein in den Mitgliedstaaten unmittelbar anwendbares und mit Anwendungsvorrang geltendes Recht gesetzt wird. Die im Rahmen der GASP ergehenden Rechtsakte bedürfen vielmehr stets der Umsetzung durch die Mitgliedstaaten selbst. Die Europäische Union erkennt damit an, daß die Ziele der GASP durch Maßnahmen auf der Ebene der Mitgliedstaaten im Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik ausreichend erreicht werden können und somit ein Handeln auf einer höheren Ebene nicht als erforderlich angesehen wird. Die GASP ist somit dem Grundsatz der Subsidiarität verpflichtet und entspricht damit den Vorgaben des Artikels 23 Absatz 1 Satz 1 GG.

7. Fortgeltung innerstaatlicher Verfassungsprinzipien Schließlich darf die GASP gemäß Artikel 23 Absatz 1 Satz 3 GG nicht dazu führen, daß innerstaatlich fundamentale Verfassungsprinzipien aufgegeben

100 101

11. Erwägungsgrund der Präambel des EUV.

Schlußfolgerungen des Europäischen Rates von Edinburgh, EA 1992, S. D 8. So auch Borries, EuR 1994, S. 285; Blumenwitz, S. 5; Schweitzer/Hummer, S. 300. 26 Uhrig

402

C. Zulässigkeit der Hoheitsrechtsübertragungen des EUV

werden. Die Zusammenarbeit im Bereich der GASP darf daher nicht dazu führen, daß der Fortbestand und die Fortgeltung der in Artikel 79 Absatz 3 GG niedergelegten grundlegenden Verfassungsprinzipien des Grundgesetzes nicht mehr gewährleistet werden kann (a). Darüber hinaus darf infolge der Regelungen der GASP aber auch die deutsche Staatlichkeit weder aufgegeben werden, noch darf aufgrund der Kompetenzausstattung der Europäischen Union die Gefahr einer solchem Aufgabe bestehen (b).

a) Vorgaben des Artikels

79 Absatz 3 GG

Fraglich ist zunächst, ob durch die GASP Fortbestand und Fortgeltung der in Artikel 79 Absatz 3 GG niedergelegten Verfassungsprinzipien der staatlichen Ordnung der Bundesrepublik Deutschland aufgegeben werden. Dies wäre dann der Fall, wenn der deutsche Staat nicht mehr die Gestalt und Struktur eines demokratischen, bundesstaatlich organisierten, sozial- und rechtsstaatlichen sowie die Menschenwürde achtenden Staates im Sinne der Artikel 1 und 20 GG aufweisen würde. Eine Gefährdung der in Artikel 79 Absatz 3 GG festgelegten Verfassungsprinzipien wäre jedoch nur dann möglich, wenn die GASP zur Übertragung von Hoheitsrechten geführt hätte, denn nur in diesem Fall träten Kompetenzverschiebungen zulasten der nationalen Hoheitsträger ein, in deren Folge die Verwirklichung der grundlegenden Staatsaufgaben und der Erhalt der für den deutschen Staat maßgeblichen Strukturprinzipien durch deutsche Hoheitsträger gefährdet würde. Verbleibt hingegen die Ausübung von Hoheitsrechten in den Händen der nationalen Hoheitsträger, ist die Fortgeltung der in Artikel 79 Absatz 3 GG geschützten Verfassungsprinzipien dadurch gewährleistet, daß die nationalen Hoheitsträger die Fortgeltung der elementaren Verfassungsgrundsätze unbeeinflußt von der Hoheitsrechtsausübung durch einen anderen Träger hoheitlicher Gewalt sichern können. Die Zusammenarbeit im Rahmen der GASP hat als Form völkerrechtlicher Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten nicht zur Übertragung von Hoheitsrechten auf die Europäische Union geführt. Sie hat damit weder den Verlust der Möglichkeit zur Ausübung nationaler Hoheitsrechte zur Folge, noch hat sie zu Kompetenzverschiebungen im Verhältnis zwischen den innerstaatlichen Hoheitsträgern geführt. Mangels einer Übertragung von Hoheitsrechten ist eine unmittelbare Durchgriffswirkung der Entscheidungen im Rahmen der GASP nicht gegeben, so daß sie keine unmittelbare Rechtswirkung entfalten können und die Gefährdung der Menschenwürde allein auf der Grundlage gemeinsamer Stellungnahmen und Aktionen nicht möglich ist. Da die Entscheidungen im Rahmen der GASP völkerrechtlicher Natur sind und somit der Umsetzung durch die Mitgliedstaaten bedürfen, können die nationalen Hoheitsträger durch

I. Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik

403

ihre notwendige Teilnahme bei der Umsetzung der Entscheidungen im Rahmen der GASP in nationales Recht den Schutz der Grundsätze des Artikels 1 GG und die Fortgeltung der Grundsätze des Artikels 20 GG sicherstellen. Infolge des lediglich intergouvernementalen Charakters der Zusammenarbeit im Rahmen der GASP ist auch der Fortbestand und die Fortgeltung demokratischer Grundsätze nicht gefährdet. Die dem Bundestag als der vom Volk gewählten Vertretung zukommenden Aufgaben und Befugnisse in Fragen der Außen- und Sicherheitspolitik werden durch die GASP nicht berührt. Die parlamentarische Mitwirkung des Bundestages und die Kontrolle der Regierung ist durch die auch für Entscheidungen im Rahmen der GASP notwendige Zustimmung des Bundestages zu völkerrechtlichen Verträgen gemäß Artikel 59 Absatz 2 Satz 1 GG sowie die Arbeit der Ausschüsse des Bundestages für Angelegenheiten der Europäischen Union und für auswärtige Beziehungen sichergestellt102. Seine Aufgabe der parlamentarischen Kontrolle der Bundesregierung in Fragen der Außen- und Sicherheitspolitik steht ihm weiterhin uneingeschränkt zu. Da durch die GASP das Verfahren der innerstaatlichen Willensbildung und Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern in Fragen der Außen- und Sicherheitspolitik nicht berührt wird, ist mangels eines Kompetenzverlustes auf Seiten der Länder auch die Fortgeltung des Bundesstaatsprinzips nicht in Frage gestellt. Es verbleibt also zum einen bei der Regelung des Artikels 32 Absatz 1 GG, wonach in Fragen auswärtiger Gewalt zwar eine Zuständigkeitsvermutung zugunsten des Bundes gilt 1 0 3 . Sofern jedoch der Bund im Rahmen seiner Zuständigkeit nach Artikel 32 GG tätig wird und einen Vertrag schließt, ist der Bundesrat entsprechend der Regelung des Artikels 59 Absatz 2 Satz 1 GG zu beteiligen mit der Folge, daß ein Vertrag, der sich auf Gegenstände der Bundesgesetzgebung bezieht, der Zustimmung des Bundesrates bedarf, während die Rechte des Bundesrates bei Verträgen, die die politischen Beziehungen des Bundes regeln, auf die Möglichkeit des Einspruchs gegen das Vertragsgesetz beschränkt sind 104 . Da mit den Regelungen im Bereich der GASP keine Hoheitsrechtsübertragungen zu Lasten der Mitgliedstaaten verbunden sind und damit die Kompetenz zur Gestaltung der Sozialpolitik zugunsten der Mitgliedstaaten unverändert fortbestehen, beeinträchtigt die GASP die mitgliedstaatlichen Möglichkeiten zur Regelung sozialer Belange nicht. Die Erfüllung des Verfassungsauftrags zur Verwirklichung des Sozialstaatsprinzips ist daher durch die GASP nicht gefährdet. Dies gilt auch für die Verwirklichung des

102

Zur Mitwirkung des Bundestages grundsätzlich Ipsen, Jörn, Rn. 1109; Hesse,

Rn. 534. 103

Maunz, Artikel 32, Rn. 11, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz (Hrsg.), Kommentar zum GG; Klein, Artikel 32, Rn. 1, in: Schmidt-B leibtreu/Klein, Kommentar zum GG; Rojahn, Artikel 32, Rn. 10, in: von Münch/Kunig (Hrsg.), Kommentar zum GG. 104

26*

Siehe hierzu oben S. 67 ff.

404

C. Zulässigkeit der Hoheitsrechtsübertragungen des EUV

Rechtsstaatsprinzips. Mangels der Übertragung von Hoheitsrechten besitzen innerstaatlich die elementaren rechtsstaatlichen Garantien des Grundgesetzes uneingeschränkt Geltung. In Folge der unveränderten Kompetenzverteilung zwischen den innerstaatlichen Hoheitsträgern wird weder die bestehende Gewaltenteilung und damit das System der checks and balances noch die Bindung der Hoheitsträger an Recht und Gesetz berührt. Das Handeln staatlicher Hoheitsträger unterliegt weiterhin gerichtlicher Kontrolle, und mangels einer DurchgrifFswirkung der Entscheidungen im Rahmen der GASP ist innerstaatlich auch die Geltung elementarer Grund- und Menschenrechte nicht gefährdet. Die GASP berührt also den Fortbestand und die Fortgeltung der in Artikel 79 Absatz 3 GG geschützten Verfassungsprinzipien nicht und führt somit nicht zur Aufgabe der grundlegenden fundamentalen Grundsätze der staatlichen Ordnung der Bundesrepublik Deutschland.

b) Aufgabe der Staatlichkeit Durch die Regelungen der GASP darf schließlich die deutsche Staatlichkeit weder aufgegeben werden, noch darf aufgrund der Kompetenzausstattung im Bereich der GASP die Gefahr eines solches Verlustes bestehen. Dies redeutet, daß weder die Gesamtheit der Hoheitsrechte noch eine Summe von Hoheitsrechten übertragen werden darf, die es der Europäischen Union ermöglicht, ihre Kompetenzen aus eigenem Recht auszuweiten. Im Rahmen der GASP verbleibt es bei einer intergouvernementalen Zusammenarbeit, also einer völkerrechtlichen Zusammenarbeit auf der Grundlage völkerrechtlicher Verträge. Die fehlende Übertragung von Hoheitsrechten bedeutet, daß nicht nur die Begründung der GASP durch einen völkerrechtlichen Vertrag zwischen den Mitgliedstaaten beschlossen wurde, sondern daß auch die Ausführung der konkreten Maßnahmen im Rahmen der GASP in den Händen der Mitgliedstaaten liegt. Darüber hinaus kommt auch die Kompetenz zur Änderung der Regelungen im Bereich der GASP den Mitgliedstaaten zu. Infolge des Charakters der GASP als Form intergouvernementaler Zusammenarbeit besitzen die Mitgliedstaaten die Kompetenz, die völkerrechtliche Zusammenarbeit durch einen völkerrechtlichen Vertrag zu ändern oder aufzuheben 105. Gemäß Artikel Ν Absatz 1 EUV steht ihnen die Kompetenz zur Vorlage von Änderungsvorschlägen im Hinblick auf die Verträge, auf denen die Europäische

105

Herdegen, Europarecht, S. 55.

I. Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik

405

Union beruht 106 , zu. Die Regierung jeden Mitgliedstaates kann, wie auch die Kommission, dem Rat Entwürfe zur Änderung der Verträge, auf denen die Europäische Union beruht, vorlegen 107 . Der Rat gibt nach Anhörung des Europäischen Parlaments und, falls ein Änderungsvorschlag von einem Mitgliedstaat vorgelegt wird, auch nach Anhörung der Kommission108 eine Stellungnahme ab, ob er eine Konferenz von Vertretern der Regierungen der Mitgliedstaaten befürwortet. Der Rat, und damit die in ihm vertretenen Mitgliedstaaten, ist dabei an die Ansichten von Kommission und Europäischem Parlament nicht gebunden, sondern kann im Hinblick auf die Befürwortung oder Ablehnung der Einberufung einer solchen Konferenz nach seinem Ermessen entscheiden109. Die befürwortende Stellungnahme der Rates ist Voraussetzung für die Einberufung der nachfolgenden Konferenz 110. Entscheiden sich der Rat und damit die in ihm vertretenen Mitgliedstaaten nicht zugunsten einer Regierungskonferenz, ist ein Änderungsbegehren bereits in diesem Stadium abgelehnt. Während die Kommission in diesem Stadium des Vertragsänderungsverfahrens also lediglich ein Initiativrecht und ebenso wie das Europäische Parlament ein Recht zur Abgabe einer unverbindlichen Stellungnahme besitzt, kommt den Mitgliedstaaten einerseits das Initiativrecht für Änderungen, anderseits im Rat auch die Entscheidungskompetenz darüber zu, ob ein Änderungsvorschlag überhaupt die Zusammenkunft einer Konferenz der Vertreter der Regierungen der Mitgliedstaaten zur Folge hat. Auf der Konferenz der Vertreter der Regierungen der Mitgliedstaaten111 werden dann die an den Verträgen vorzunehmenden Änderungen mit Zustim-

106

Zum Anwendungsbereich des Artikels Ν EUV gehören auch die 17 Protokolle der Schlußakte zum EUV. Allgemein für die Änderung von Protokollen, Hilf, Artikel 239, Rn. 10, in: von der Groeben/Thiesing/Ehlermann (Hrsg.), Kommentar zum EWGV. 107

Artikel Ν Abs. 1 Unterabsatz 1 EUV.

108

Auf diesen Fall bezieht sich das Wort „gegebenenfalls" in Artikel Ν Abs. 1 Unterabsatz 2 EUV. Es ist also nicht bezweckt, die Anhörung der Kommission in das Belieben des Rates zu stellen, so für Artikel 236 EWGV Meng, Artikel 236, Rn. 3, in: von der Groeben/Thiesing/Ehlermann (Hrsg.), Kommentar zum EWGV; Vedder, Artikel 236, Rn. 17, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), Kommentar zum EUV. 109

Meng, Artikel 236, Rn. 3, in: von der Groeben/Thiesing/Ehlermann (Hrsg.), Kommentar zum EWGV, der es für schwer vorstellbar hält, daß eine Änderung gegen die ausdrückliche Auffassung der beiden anderen Organe zustandekommt. 110

Das Vorverfahren für die Regierungskonferenz ist die eigentliche Abweichung zu sonstigen völkerrechtlichen Verfahren, Vedder, Artikel 236, Rn. 18, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), Kommentar zum EUV. 111

Bei dieser Konferenz handelt es sich nicht um eine Tagung des Europäischen Rates i.S. des Artikels D EUV. Dies ergibt sich aus dem Vergleich des Wortlauts von Artikel D und Ν EUV, denn im Europäischen Rat kommen nicht die Vertreter der Re-

406

C. Zulässigkeit der Hoheitsrechtsübertragungen des EUV

mung aller Mitgliedstaaten vereinbart. Die Vertreter der Regierungen sind in ihrer Entscheidung frei und nicht an die im Vorverfahren abgegebenen Voten gebunden. Die Gemeinschaftsorgane und -Institutionen sind, anders als im Vorverfahren der Vertragsänderung, an der eigentlichen Vertragsänderung überhaupt nicht beteiligt. Die eigentliche Änderung der vertraglichen Grundlagen wird damit ausschließlich von den Mitgliedstaaten beschlossen112. In diesem Stadium entspricht das Verfahren vollständig den Regeln des Völkerrechts 113. Die Vertragsänderung wird also zwischen den Mitgliedstaaten als völkerrechtlicher Vertrag ausgehandelt114. Hat die Konferenz der Vertreter der Mitgliedstaaten Vertragsänderungen beschlossen, ist als weiterer Schritt vor Inkrafttreten der Änderungen erforderlich, daß diese in allen Mitgliedstaaten gemäß deren verfassungsrechtlichen Vorschriften ratifiziert werden 115 . Die eigentliche Änderung der vertraglichen Grundlagen der Europäischen Union kommt somit durch eine völkerrechtliche Einigung der Mitgliedstaaten und die Zustimmung durch die nationalen Parlamente zustande. Sie bedarf hingegen nicht der Zustimmung der Organe und Institutionen der Europäischen Gemeinschaft. Aber erst das Erfordernis einer solchen Zustimmung der Gemeinschaftsorgane mit der Folge, daß die vertragsändernde Gewalt nicht mehr ausschließlich bei den Mitgliedstaaten gelegen hätte, hätte den Charakter der Europäischen Union als Staatengemeinschaft aufgrund Völkerrechts grundlegend geändert 116. Da der Rat aber weder im Stadium des Vorverfahrens noch in der Phase der Konferenz der Vertreter der Regierungen an die Stellungnahmen der anderen Organe gebunden ist, entscheiden allein die Mitgliedstaaten, die im Rat und der nachfolgenden Konferenz jeweils die Entscheidungskompetenz besitzen117. Artikel Ν Absatz 1 EUV stellt damit klar, daß die Mitgliedstaaten in ihrer Eigenschaft als Vertragsparteien der Europäischen Union deren vertragliche Grundlagen ohne verbindliche Vorgaben der Gemeinschaftsorgane wie jeden anderen völkerrechtlichen Vertrag abändern können 118 .

gierungen der Mitgliedstaaten, sondern die Staats- und Regierungschefs zusammen. Bei der Regierungskonferenz im Rahmen des Änderungsverfahrens ist zudem der Präsident der Kommission nicht an den Vereinbarungen beteiligt. 112

Weikart,

113

Vedder, Artikel 236, Rn. 19, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), Kommentar zum EUV.

NVwZ 1993, S. 837.

114

Meng, Artikel 236, Rn. 6; in: von der Groeben/Thiesing/Ehlermann (Hrsg.), Kommentar zum EWGV. 115

Artikel Ν Absatz 1 Unterabsatz 3 EUV.

116

So auch Seidel, EuR 1992, S. 131; für Artikel 236 EWGV schon Zuleeg, GS Sasse, S. 58. 117

Grabitz, GS Sasse, S. 106 f.

118

Blanke, DÖV 1993, S. 419.

I. Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik

407

Angesichts der entscheidenden Rolle der Mitgliedstaaten sowohl in bezug auf die politischen Leitlinien, die Entscheidungsfindung und die Durchführung der konkreten Maßnahmen im Rahmen der GASP sowie die Kompetenz der Mitgliedstaaten zur Änderung der vertraglichen Grundlagen der GASP haben die Regelungen der GASP nicht zur Folge, daß die Europäische Union sich in ein Gebilde gewandelt hat, das selbst Staatsqualität besitzt und in dem die Mitgliedstaaten lediglich eine untergeordnete Position bekleiden 119 . Die 1. Säule der Europäischen Union ist vielmehr vom Fortbestand der Mitgliedstaaten als Staaten abhängig und läßt diesbezüglich keinen Zweifel am Fortbestehen der Staatlichkeit der Mitgliedstaaten entstehen120. Durch die GASP wird also weder die Staatlichkeit der Bundesrepublik Deutschland aufgegeben, noch besteht die Gefahr eines solchen Verlustes.

8. Ergebnis Die durch den EU-Vertrag neu begründete Zusammenarbeit in der Außenund Sicherheitspolitik ist eine Form intergouvernementaler Zusammenarbeit, die sowohl hinsichtlich der Initiative zu koordiniertem Handeln als auch hinsichtlich der Entscheidungsfindung und gegebenenfalls erforderlicher Durchführungsmaßnahmen ausschließlich durch die Mitgliedstaaten umgesetzt wird. Angesichts nur beschränkter Einflußmöglichkeiten der Gemeinschaftsorgane und des grundsätzlichen Einstimmigkeitserfordernisses ist sowohl die Einflußmöglichkeit der Mitgliedstaaten in ihrer Gesamtheit als auch der Einfluß jeden einzelnen Mitgliedstaates gewährleistet. Da die GASP keine Auswirkungen auf die innerstaatliche Kompetenzverteilung hat und somit die Entscheidungsmöglichkeiten vorhandener föderaler Strukturen in den Mitgliedstaaten unbeschränkt fortbestehen, entspricht die GASP dem Erfordernis der Achtung föderaler Strukturen. Dies gilt auch für die Achtung demokratischer Grundsätze, denn im Rahmen der GASP sind die Mitgliedstaaten im Europäischen Rat und im Rat in demokratisch besetzten Einrichtungen vertreten, in denen die Entscheidungen grundsätzlich einstimmig und damit nach demokratischen Grundsätzen getroffen werden. Die Legitimation durch die Beteiligung der Unionsbürger erfolgt neben der auf Anhörungs- und Fragerechte beschränkten Beteiligung des Europäischen Parlaments vorrangig durch die Beteiligung der nationalen Parlamente, die das Handeln ihrer nationalen Regierungen im Rahmen der GASP kontrollieren. Die GASP erfüllt auch rechtsstaatliche Grundsät-

119

Grimm,) Ζ 1995, S. 582.

120

Hilf, in: Hommelhoff/Kirchhof, S. 78.

408

C. Zulässigkeit der Hoheitsrechtsübertragungen des EUV

ze, denn der Ausschluß der Zuständigkeit des EuGH gilt einerseits nur fur Maßnahmen, die keine Durchgriffswirkung auf den Unionsbürger haben, und der einzelne hat andererseits die Möglichkeit, gegen die erforderlichen nationalen Umsetzungsakte vor den nationalen Gerichten Rechtsschutz zu erlangen. Da die GASP nur einen beschränkten Ausschnitt staatlicher Politik betrifft und die Außen- und Sicherheitspolitik sozialstaatliche Aspekte nationaler Politik nicht unmittelbar berührt, hebt die fehlende soziale Ausrichtung der GASP das grundsätzlich bestehende Bekenntnis der Europäischen Union zugunsten sozialer Sicherheit nicht auf. Das allgemeine Bekenntnis der Europäischen Union zur Achtung der Grund- und Menschenrechte ist angesichts der Tatsache, daß die Entscheidungen im Rahmen der GASP keine unmittelbar grundrechtsrelevanten Wirkungen entfalten, im Hinblick auf die Gewährleistung eines dem Grundgesetz im wesentlichen gleichkommenden Grundrechtsschutzes ausreichend. Die GASP erfüllt auch das Erfordernis der Achtung des Grundsatzes der Subsidiarität, denn sie ist als lediglich auf völkerrechtliches Handeln beschränkte Zusammenarbeit Ausdruck der Erkenntnis, daß Maßnahmen auf der Ebene der Mitgliedstaaten im Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik als ausreichend angesehen werden. Da im Rahmen der GASP keine Hoheitsrechte auf die Europäische Union übertragen wurden und die GASP damit nicht zu Kompetenzverlusten zu lasten der nationalen Hoheitsträger geführt hat, können diese die in Artikel 79 Absatz 3 GG geschützten grundlegenden Verfassungsprinzipien sichern mit der Folge, daß deren Fortbestand und Fortgeltung durch die GASP nicht gefährdet ist. Die fehlende Hoheitsrechtsübertragung im Rahmen der GASP schließt auch die Gefahr der Aufgabe der deutschen Staatlichkeit aus, denn die GASP setzt als Form völkerrechtlicher Zusammenarbeit den Fortbestand der Mitgliedstaaten zwingend voraus. Die Regelungen des EU-Vertrages über die GASP entsprechen also allen Anforderungen, die das Grundgesetz für eine Mitwirkung Deutschlands an der Europäischen Union aufstellt.

IL Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres Fraglich ist weiterhin, ob die Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres, wie sie der EU-Vertrag begründet hat, den Vorgaben des Artikels 23 Absatz 1 Satz 1 und Satz 3 GG entspricht. Ist diese Zusammenarbeit also föderativen (1.), demokratischen (2.), rechtsstaatlichen (3.) und sozialen (4.) Grundsätzen verpflichtet, gewährt sie einen dem Grundgesetz im wesentlichen vergleichbaren Grundrechtsschutz (5.), und verwirklicht sie den Grundsatz der Subsidiarität (6.)? Und bleiben die durch Artikel 79 Absatz 3 GG geschützten grundlegenden Verfassungsprinzipien gewahrt sowie die deutsche Staatlichkeit erhalten (7.)?

II. Zusammenarbeit Justiz und Inneres

409

1. Föderative Grundsätze Die Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres muß gemäß Artikel 23 Absatz 1 Satz 1 GG föderativen Grundsätzen verpflichtet sein. Sie muß also die Eigenstaatlichkeit der Mitgliedstaaten achten (a) und die Verfassungsstrukturen der Mitgliedstaaten, insbesondere die in den Mitgliedstaaten vorhandenenföderalen Strukturen, respektieren ( b ) 1 2 1 .

a) Eigenstaatlichkeit

der Mitgliedstaaten

Die Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres muß die Eigenstaatlichkeit der Mitgliedstaaten achten. Diese grundgesetzliche Anforderung fur die Mitwirkung an der Europäischen Union wäre dann verletzt, wenn durch die infolge des EU-Vertrag begründete Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres den Mitgliedstaaten die für ihre Eigenstaatlichkeit essentiellen Kompetenzen in der Justiz- und Innenpolitik insgesamt oder in einem so erheblichen Umfang entzogen und auf die Europäische Union übertragen worden sind, daß die nationalen Hoheitsträger die ihnen zugedachten staatlichen Funktionen nicht mehr wahrnehmen können. Anders als die GASP, die die gesamte Außen- und Sicherheitspolitik umfaßt, ist die Aufgabenstellung der Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres jedoch bereits inhaltlich begrenzt. Sie umfaßt nicht die gesamte Innen- und Justizpolitik, sondern hat lediglich die in Artikel K.l EUV enumerativ aufgelisteten Teilaspekte staatlicher Innen- und Justizpolitik zum Gegenstand, die lediglich einen begrenzten Ausschnitt der gesamten Justiz- und Innenpolitik ausmachen. Alle nicht aufgeführten Aspekte nationaler Justiz- und Innenpolitik und entsprechend auch die in diesen anderen Bereichen bestehenden mitgliedstaatlichen Kompetenzen werden durch die Regeln der Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres überhaupt nicht berührt. Aber auch innerhalb der in Artikel K.l EUV aufgelisteten Bereiche erfolgt keine vollständige Regelung der aufgeführten Bereiche auf der Ebene der Europäischen Union. So beschränkt sich beispielsweise die Zusammenarbeit im Bereich der Justizpolitik auf die justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen und Strafsachen. Die Zusammenarbeit im Rahmen des Artikels K. 1 Ziff. 6 und 7 EUV bedeutet jedoch nicht, daß auch die materiellen Regelungen des Zivil- und Strafrechts als Angelegenheiten von gemeinsamem Interesse behandelt werden. Die als zentrale Gegenstände der Justiz- und Innenpolitik anzusehenden Zuständigkeiten für die Regelung des materiellen Zivil- und Strafrechts sind vielmehr von der Zusam-

121

Vgl. oben S. 109 ff.

410

C. Zulässigkeit der Hoheitsrechtsübertragungen des EUV

menarbeit auf der Ebene der Europäischen Union ausgenommen und verbleiben in der ausschließlichen Kompetenz der Mitgliedstaaten122. Darüber hinaus steht wie in der GASP auch bei der Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres im Vordergrund, daß die Mitgliedstaaten sich gegenseitig unterrichten und konsultieren, um ihr Vorgehen zu koordinieren 123. Die Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres soll also nicht innerstaatlich rechtsverbindliches mitgliedstaatliches Handeln ersetzen, sondern der völkerrechtlichen Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten dienen. Sie ist intergouvernementaler Natur und führt nicht zur Übertragung von Hoheitsrechten auf die Europäische Union. Fraglich ist, ob in den Bereichen Justiz und Inneres die Einflußmöglichkeiten der Mitgliedstaaten in ihrer Gesamtheit ausreichen, um mitgliedstaatliche Handlungs-, Gestaltungs- und Einflußnahmemöglichkeiten zu garantieren, die den Vorgaben des Artikels 23 Absatz 1 Satz 1 GG entsprechen. Wie im Bereich der GASP kann der Europäische Rat als Zusammenkunft der Staats- und Regierungschefs auch im Rahmen der Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres Impulse liefern und politische Leitlinien vorgeben. Anders als im Bereich der GASP sind dem Europäischen Rat jedoch über seine in Artikel D EUV allgemein vorgesehene Rolle als politisches Entscheidungsorgan für die Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres keine darüber hinaus gehenden Aufgaben und Zuständigkeiten zugewiesen. Seinen Entscheidungen kommt anders als den Grundsätzen und allgemeinen Leitlinien im Bereich der GASP 1 2 4 keine bindende Wirkung z u 1 2 5 . Gleichwohl können die Mitgliedstaaten durch die Beschlüsse ihrer Staats- und Regierungschefs auf den Tagungen des Europäischen Rates Zielvorstellungen entwickeln und Grundsatzentscheidungen treffen. Sie besitzen damit entscheidenden Einfluß auf die grundlegenden politischen Entscheidungen in der Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres. Wie auch im Bereich der GASP bedienen sich die Mitgliedstaaten in der Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres des Rates im Wege der Organleihe. Als Einrichtung der Mitgliedstaaten dient er ihnen einerseits als Einrichtung zur gegenseitigen Unterrichtung und Konsultation, sie können ihn aber auch als Beschlußforum nutzen. Die Mitgliedstaaten können im Rat über gemeinsame Standpunkte und Maßnahmen beschließen, und sie können Übereinkommen auf dem Gebiet der Justiz- und Innenpolitik ausarbeiten. Sie können

122

Im Ergebnis ebenso Nanz, Integration 1992, S. 137.

123

Artikel K.3 Abs. 1 EUV.

124

Siehe oben S. 174.

125

Hilf/Pache,

Artikel D, Rn. 39, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), Kommentar zum EUV.

II. Zusammenarbeit Justiz und Inneres

411

im Rat zudem einstimmig beschließen, Artikel 100 c EGV auf Maßnahmen in den in Artikel Κ. 1 Ziff. 1 - 6 genannten Bereichen anzuwenden und ein entsprechendes Abstimmungsverfahren festlegen 126. Der Rat ist somit auch im Rahmen der Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres das entscheidende Konsultations- und Beschlußorgan127. Damit ist sichergestellt, daß die Mitgliedstaaten in ihrer Gesamtheit ihre Interessen in den Bereichen Justiz und Inneres einbringen und durchsetzen können 1 2 8 . Der entscheidende Einfluß, den die Mitgliedstaaten auf die Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres haben, wird durch die Tatsache verstärkt, daß die Mitgliedstaaten für alle Bereiche der Zusammenarbeit ein Initiativrecht besitzen, während die Kommission für die Bereiche der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen, die Zusammenarbeit im Zollwesen und die polizeiliche Zusammenarbeit zur Verhütung und Bekämpfung des Terrorismus, des illegalen Drogenhandels und sonstiger schwerwiegender Formen der internationalen Kriminalität kein Initiativrecht besitzt 129 . Damit ist es in weiten Teilen der 2. Säule der Europäischen Union allein von der Initiative der Mitgliedstaaten abhängig, ob die Möglichkeit der völkerrechtlichen Zusammenarbeit überhaupt genutzt wird. Zusätzlich entscheiden die Mitgliedstaaten auch darüber, ob die durch die Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres Möglichkeit zu völkerrechtlich verbindlichem Handeln ergriffen wird oder ob es bei unverbindlichen Meinungsäußerungen und Stellungnahmen der Mitgliedstaaten verbleibt. So zeigen die ersten Erfahrungen in der Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres, daß die Mitgliedstaaten gegenwärtig zwar die Möglichkeit zu koordiniertem Handeln im Bereich der Justiz- und Innenpolitik nutzen, dabei jedoch die nicht bindenden Instrumente völkerrechtlicher Zusammenarbeit bevorzugen, die den Mitgliedstaaten bereits vor Abschluß des EU-Vertrag zur Verfügung standen130. So hat der Rat etwa 50 nicht verbindliche Empfehlungen, Entschließungen oder Schlußfolgerungen angenommen131,

126

'

27

128

Artikel K.9 Satz 1 EUV. Schweitzer/Hummer, Herdegen,

S. 306 f.

Europarecht, S. 39; Di Fabio , DÖV 1997, S. 94; Müller-Graff,

S. 935. 129

Artikel K.3 Abs. 2 EUV.

130

Kommission, Funktionsweise des EUV, S. 50.

131

Eine Übersicht findet sich in Anhang 15, Kommission, Funktionsweise des

EUV.

412

C. Zulässigkeit der Hoheitsrechtsübertragungen des EUV

während er bis zum Mai 1995 erst zwei gemeinsame Maßnahmen132 und ein Übereinkommen 133 verabschiedet hatte. Der entscheidende Einfluß der Mitgliedstaaten im Rahmen der Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres zeigt sich weiterhin daran, daß die Koordination der Mitgliedstaaten nicht nur im Rat erfolgt, sondern zusätzlich durch einen Ausschuß gewährleistet wird, in den ausschließlich die Mitgliedstaaten Mitglieder entsenden. Der mit hochrangigen nationalen Beamten besetzte Ausschuß kann Initiativen und Stellungnahmen an den Rat richten 134 und so die Interessen der Mitgliedstaaten bereits im Vorfeld konkreter Entscheidungen koordinieren. Ferner sieht Artikel K.7 EUV ausdrücklich vor, daß die Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres der Begründung oder der Entwicklung einer Zusammenarbeit zwischen Mitgliedstaaten nicht entgegensteht, sofern sie der vorgesehenen Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres nicht zuwiderläuft oder diese nicht behindert 135. Den Mitgliedstaaten kommt neben der konkreten Entscheidungsfindung zudem auch die Aufgabe zu, die im Rahmen der 2. Säule festgelegten gemeinsamen Standpunkte in den Bereichen Justiz und Inneres in internationalen Organisationen und auf internationalen Konferenzen zu vertreten 136. Ihnen kommt also weiterhin die ausschließliche „Außenzuständigkeit" in den Bereichen Justiz- und Innenpolitik z u 1 3 7 . Die Mitgliedstaaten besitzen somit im Rahmen der Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres die Kompetenz zur Beschlußfassung, zu der im Vorfeld stattfindenden Konsultation und Koordinierung sowie zur internationalen Durchsetzung der gemeinsamen Positionen in Fragen der Justiz- und Innenpolitik. Die Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres verwirklicht föderative Grundsätze insofern über das in Artikel 23 Absatz 1 Satz 1 GG erforderliche Maß hinaus, als sie nicht nur die Einflußnahme- und Ent132

Beschluß Nr. 94/795/JI über Reiseerleichterungen für Schüler von Drittstaaten mit Wohnsitz in einem Mitgliedstaat, ABl. 1994 Nr. L 327 S. 1; Gemeinsame Maßnahme Nr. 95/73/JI betreffend die Europol-Drogenstelle, ABl. 1995 Nr. L 62, S. 1. 133

Übereinkommen über das vereinfachte Auslieferungsverfahren zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union, ABl. 1995 Nr. C 78 S. 1. 134

Artikel K.4 Abs. 1 EUV.

135

Beispiele hierfür sind neben Regelungen über technische Fragen im Grenzverkehr zweier Mitgliedstaaten vor allem auch die Zusammenarbeit aufgrund des Schengen-Übereinkommens, Di Fabio, DÖV 1997, S. 91, 95. 136

Artikel K.5 EUV. Im Unterschied zur GASP erwähnt der EUV die EU als eigenes Handlungssubjekt nicht, so daß die Vertretung der gemeinsamen Positionen in der Innen- und Justizpolitik durch die Mitgliedstaaten folgerichtig ist Müller-Graff, S. 930. 137

Dörr, EuR 1995, S. 340.

413

II. Zusammenarbeit Justiz und Inneres

scheidungsmöglichkeiten der Mitgliedstaaten in ihrer Gesamtheit sichert, sondern zudem auch nicht zu einer vom Willen eines einzelnen Mitgliedstaates abgelösten Entscheidungsfindung führt. Im Rahmen der Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres gilt nämlich grundsätzlich das Einstimmigkeitsprinzip. So hat der Rat über gemeinsame Standpunkte, gemeinsame Maßnahmen, Übereinkommen gemäß Artikel K.3 Absatz 2 lit. c E U V 1 3 8 , operative Ausgaben139 und Entscheidungen über die Anwendbarkeit von Artikel 100 c EGV auf Maßnahmen in den in Artikel Κ. 1 Ziff. 1 - 6 EUV genannten Bereichen einstimmig zu entscheiden140. Die Stimmenthaltung oder Ablehnung eines Mitgliedstaates verhindert damit eine Regelung in der Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres 141 . Die Möglichkeit zu Entscheidungen mit qualifizierter Mehrheit besteht lediglich bei Durchfiihrungsmaßnahmen zu zuvor einstimmig beschlossenen gemeinsamen Maßnahmen und Übereinkommen 142. Die Anwendung qualifizierter Mehrheiten setzt jedoch wie im Rahmen der GASP einen zuvor einstimmig gefaßten Beschluß über die Möglichkeit der Entscheidungsfindung mit qualifizierten Mehrheiten voraus 143 . Darüber hinaus sichert in der Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres ein weiterer Verfahrensschritt die Staatlichkeit der Mitgliedstaaten. Der EU-Vertrag sieht für bestimmte Beschlüsse des Rates vor, daß diese zusätzlich den Mitgliedstaaten zur Annahme gemäß ihren verfassungsrechtlichen Vorschriften vorzulegen sind. So muß, nachdem sich die Vertreter der Mitgliedstaaten im Rat einstimmig auf ein Übereinkommen gemäß Artikel K.3 Absatz 2 Spiegelstrich 2 lit. c EUV verständigt haben, dieses in allen Mitgliedstaaten gemäß deren verfassungsrechtlichen Vorschriften angenommen werden 144 . Kommt die erforderliche Zustimmung in einem Mitgliedstaat nicht zustande, so tritt das Übereinkommen in diesem Mitgliedstaat nicht in Kraft 1 4 5 . Gleiches gilt ftir die Anwendung der Evolutivklausel des Artikels K.9 EUV. Der Beschluß über die Anwendung des Artikels 100 c EGV für die in Artikel K.l Ziff. 6 - 9 EUV genannten Bereiche ist für deren Rechtsverbindlichkeit nicht konstitutiv und hat somit keine Transformationswirkung, sondern bedarf

138

Artikel K.4 Abs. 3 EUV.

139

Artikel K.8 Abs. 2 Unterabsatz 2 Spiegelstrich 1 EUV.

140

Artikel K.9 Satz 1 EUV.

141

Stein, VVDStRL 53 (1994), S. 30; Müller-Graff,

142

Artikel K.4 Abs. 3 EUV.

143

Artikel K.3 Abs. 2 Spiegelstrich 2 lit. b und lit. c EUV.

144

Zu den innerstaatlichen Verfahren ausführlich Körkemeyer,

145

Schweitzer/Hummer,

S. 305.

S. 931.

S. 85 ff.

414

C. Zulässigkeit der Hoheitsrechtsübertragungen des EUV

der Annahme durch die Mitgliedstaaten gemäß ihren verfassungsrechtlichen Vorschriften, also eines ratifikationsähnlichen Verfahrens, das demjenigen bei Änderungen oder Ergänzungen des EU-Vertrages entspricht 146. Wie im Bereich der GASP findet demgegenüber eine Beteiligung der Gemeinschaftsorgane an der Entscheidungsfindung in der Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres nur in beschränktem Umfang statt. Die Gemeinschaftsorgane besitzen keine eigenständigen Entscheidungskompetenzen. Das Europäische Parlament ist regelmäßig zu unterrichten, es ist zu den wichtigsten Aspekten der Tätigkeiten der Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres anzuhören, und seine Auffassungen sind gebührend zu berücksichtigen 1 4 7 . Es kann Anfragen und nichtverbindliche Empfehlungen an den Rat richten, und es führt einmal jährlich eine Aussprache über die Fortschritte bei der Durchführung der Maßnahmen durch 148 . Das Europäische Parlament besitzt also keine Mitentscheidungsbefugnisse und ist nicht in der Lage, die Entscheidungen des Rates durch bindende Veränderungsvorschläge zu beeinflussen oder die Verabschiedung mitgliedstaatlicher Vorschläge zu verhindern. Die Handlungsmöglichkeiten der Kommission sind in der Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres im Vergleich mit ihren Handlungsmöglichkeiten im Bereich der GASP noch enger gefaßt, da es an einer dem Artikel J.8 Absatz 3 EUV vergleichbaren Regelung fehlt, wonach die Kommission den Rat mit Fragen befassen und ihm Vorschläge unterbreiten kann. Die Regelungen des Titel VI EUV sehen vielmehr lediglich vor, daß die Kommission in vollem Umfang an den Arbeiten in den in Artikel K. 1 EUV genannten Bereichen beteiligt wird. Darüber hinaus besitzt die Kommission ein neben dem Initiativrecht der Mitgliedstaaten bestehendes Initiativrecht für die in Artikel K.l Ziff. 1 - 6 EUV geregelten Bereiche und für die Inanspruchnahme der Evolutivklausel des Artikels K.9 EUV. Ein Initiativmonopol, wie es der EG-Vertrag vorsieht, ist der Kommission hingegen für keinen Bereich der Justiz- und Innenpolitik im Rahmen der Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres zugestanden worden. Die Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres wird also von den Mitgliedstaaten getragen 149. Sie legen im Europäischen Rat die politischen Leitlinien fest, die Zusammenarbeit ist in weiten Teilen von ihrer Initiative abhängig, sie treffen die konkreten Entscheidungen im Rat und vertreten diese Entscheidungen auf internationaler Ebene. Darüber hinaus bedarf es in bezug

146

Müller-Graff.

147

Artikel K.6 Unterabsatz 1 EUV.

S. 933; Schweitzer/Hummer,

148

Artikel K.6 Unterabsatz 2 EUV.

149

Akmann, JA 1994, S. 53.

S. 305.

II. Zusammenarbeit Justiz und Inneres

415

auf völkerrechtliche Übereinkommen und die Inanspruchnahme der Evolutivklausel des Artikels K.9 EUV neben einer einstimmigen Ratsentscheidung der Annahme eines entsprechenden Beschlusses gemäß den verfassungsrechtlichen Vorschriften der Mitgliedstaaten. Auch die Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres wird somit durch die Mitgliedstaaten bestimmt und ist nicht durch von ihrem Willen unabhängige Entscheidungen überlagert. Die Eigenstaatlichkeit der Mitgliedstaaten wird also im Rahmen der Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres weder aufgehoben noch konkret gefährdet.

b) Achtung der Verfassungsstrukturen

der Mitgliedstaaten

Die Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres muß darüber hinaus die Verfassungsstrukturen der Mitgliedstaaten achten und gegebenenfalls vorhandenen innerstaatlichen föderalen Ebenen Handlungsmöglichkeiten auf der Ebene der Europäischen Union einräumen. Die Regelungen im Rahmen der Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres führen nicht zu Hoheitsrechtsübertragungen, so daß keine Kompetenzverluste auf Seiten der Mitgliedstaaten eintreten. Die Willensbildung und Entscheidungsfindung in Fragen der Justiz- und Innenpolitik vollzieht sich mangels Hoheitsrechten der Europäischen Union allein nach den verfassungsrechtlichen Vorschriften der Mitgliedstaaten. Dies hat zur Folge, daß die innerstaatliche Kompetenzverteilung der Mitgliedstaaten für die Politikbereiche Justiz und Inneres nicht berührt wird 1 5 0 . Sofern in Fragen der Justiz- und Innenpolitik also nach nationalem Verfassungsrecht föderale Gliederungen unterhalb der Ebene der Zentralregierung zu beteiligen sind, verbleibt es auch nach der Einführung der Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres bei den innerstaatlich vorgeschriebenen Verfahren der Willensbildung. Die unverändert fortbestehende Geltung der innerstaatlichen Kompetenzverteilung in den Mitgliedstaaten zeigt sich im Rahmen der Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres etwa durch Artikel K.2 Absatz 2 EUV. Danach berührt Titel VI EUV nicht die den Mitgliedstaaten obliegende Verantwortlichkeit für die öffentliche Sicherheit und Ordnung. Dies hat zur Folge, daß in den Fällen, in denen innerstaatlich Kompetenzträger unterhalb der Ebene der Zentralregierung für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und den Schutz der inneren Sicherheit verantwortlich sind, diese auch weiterhin ihre Kompetenzen auszuüben berechtigt sind. Die Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres sieht außerdem vor, daß in den Fällen, in denen die Zusammenarbeit auf EU-Ebene zum Ab150

Dörr, EuR 1995, S. 340.

416

C. Zulässigkeit der Hoheitsrechtsübertragungen des EUV

schluß von völkerrechtlichen Übereinkommen und zur Anwendung des Verfahrens des Artikels 100 c EGV führt, die Annahme gemäß den verfassungsrechtlichen Vorschriften der Mitgliedstaaten erforderlich ist. Die Notwendigkeit der Annahme eines diesbezüglichen Ratsbeschlusses gemäß den verfassungsrechtlichen Vorschriften der Mitgliedstaaten sichert vorhandenen föderalen Gliederungsebenen ebenfalls die Beteiligung an der Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres. Diese Beteiligung ist erforderlich, da Übereinkommen gemäß Artikel K.3 Absatz 2 Spiegelstrich 2 lit. c EUV Fragen der Justiz- und Innenpolitik regeln können, die innerstaatlich in die Regelungskompetenz von Ebenen unterhalb der Zentralregierung fallen. Die Notwendigkeit der Beteiligung innerstaatlich vorhandener föderaler Strukturen für einen Beschluß auf der Grundlage des Artikels K.9 EUV ergibt sich daraus, daß die Anwendung des Verfahrens des Artikels 100 c EGV dazu führt, daß nach der Annahme gemäß den verfassungsrechtlichen Vorschriften der Mitgliedstaaten eine Angelegenheit nicht mehr nur als Angelegenheit von gemeinsamem Interesse im Rahmen der Zusammenarbeit auf der Ebene der Europäischen Union behandelt wird. Sie wird vielmehr zu einer Gemeinschaftsangelegenheit mit der Folge, daß nunmehr Gemeinschaftsrecht erlassen werden kann, dem eine Durchgriffswirkung in der nationalen Rechtsordnung zukommt. Dies wiederum hat zur Folge, daß eine Übertragung von Hoheitsrechten auf die Europäische Gemeinschaft erfolgt, die die innerstaatliche Kompetenzverteilung betreffen kann. Insofern sichert die Notwendigkeit der Annahme gemäß den verfassungsrechtlichen Vorschriften der Mitgliedstaaten den föderalen Ebenen in den Mitgliedstaaten die Entscheidung darüber, ob sie einer solchen Hoheitsrechtsübertragung, die zu Kompetenzverlusten bzw. -Verlagerungen führen kann, zustimmen oder nicht. Die Achtung föderaler Strukturen der Mitgliedstaaten macht es bereits vor der Inanspruchnahme der Evolutivklausel des Artikels K.9 EUV erforderlich, vorhandene föderale Strukturen in die Entscheidungsfindung auf der Ebene der Europäischen Union im Rahmen der Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres einzubinden. Sie sind daher im maßgeblichen Entscheidungsforum, dem Rat, zu beteiligen. Da der Rat in der Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres im Wege der Organleihe von den Mitgliedstaaten genutzt wird, richtet sich seine Zusammensetzung nach den Vorschriften des EGVertrages. Der auch auf die 2. Säule anwendbare Artikel 146 Absatz 1 E G V 1 5 1 bestimmt, daß neben Vertretern der Zentralregierung auch Vertreter jedes Mitgliedstaates auf Ministerebene, die befugt sind, für die Regierung des Mitgliedstaats verbindlich zu handeln, in den Rat entsandt werden können. Diese Vertreter im Ministerrang müssen nicht Vertreter der Zentralregierung sein,

151

So ausdrücklich Artikel K.8 Abs. 1 EUV.

II. Zusammenarbeit Justiz und Inneres

417

sondern es können auch Vertreter anderer föderaler Ebenen der Mitgliedstaaten an der Ratssitzung teilnehmen. Artikel K.8 Absatz 1 EUV und der durch ihn anwendbare Artikel 146 Absatz 1 EGV sichert somit ebenfalls die Berücksichtigung vorhandener föderaler Strukturen in Fragen der Justiz- und Innenpolitik. Die Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres hat als Form intergouvernementaler Zusammenarbeit damit keine Auswirkungen auf die Verfassungen der Mitgliedstaaten, die Beteiligung föderaler Strukturen bei der innerstaatlichen Willensbildung und die dadurch bewirkte Kompetenzverteilung in Fragen der Justiz- und Innenpolitik. Sofern der Rat im Rahmen der Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres völkerrechtliche Übereinkommen oder die Anwendung des Artikels 100 c EGV beschließt, sichert die Notwendigkeit der Annahme gemäß den verfassungsrechtlichen Vorschriften der Mitgliedstaaten die Berücksichtigung vorhandener föderaler Strukturen. Die Berücksichtigung föderaler Strukturen erfolgt außerdem auch durch die Möglichkeit der Teilnahme und Verhandlungsführung von Vertretern auf Ministerebene im Rat, die nicht Vertreter der Zentralregierung, sondern anderer in den Mitgliedstaaten vorhandener Ebenen sind. Die Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres achtet also die Verfassungsstrukturen der Mitgliedstaaten. Da die Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres aufgrund der maßgeblichen Einfluß- und Entscheidungsmöglichkeit der Mitgliedstaaten weder deren Eigenstaatlichkeit noch durch Kompetenzverluste oder -Verschiebungen die in den Mitgliedstaaten vorhandenen föderalen Strukturen aufhebt oder gefährdet, sondern deren Beteiligung durch die Notwendigkeit der Annahme bestimmter Entscheidungen gemäß den verfassungsrechtlichen Vorschriften der Mitgliedstaaten und durch die Teilnahmemöglichkeit von Vertretern innerstaatlicher Untergliederungen im Rat sichert, ist die Europäische Union im Bereich der Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres föderalen Grundsätzen im Sinne des Artikels 23 Absatz 1 Satz 1 GG verpflichtet.

2. Demokratische Grundsätze Die Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres muß gemäß Artikel 23 Absatz 1 Satz 1 GG weiterhin demokratischen Grundsätzen verpflichtet sein. Dies bedeutet zum einen, daß die Mitgliedstaaten in einem für Entscheidungen im Rahmen der Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres maßgeblichen Organ vertreten sein müssen, das demokratisch besetzt ist und in dem Entscheidungen nach demokratischen Grundsätzen getroffen werden (a), und zum anderen, daß das Handeln der Europäischen Union selbst, soweit in diesem Bereich durch sie Hoheitsrechte ausgeübt werden, demokratisch legiti27 Uhrig

418

C. Zulässigkeit der Hoheitsrechtsübertragungen des EUV

miert sein muß, daß also die Unionsbürger bzw. die durch sie gewählten Parlamente durch ihre Beteiligung das Handeln der Europäischen Union legitimieren (b)152·

a) Demokratische Legitimation durch die Mitgliedstaaten Fraglich ist, ob die Mitgliedstaaten im Rahmen der Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres in einem für Entscheidungen maßgeblichen Organ vertreten sind, das demokratisch legitimiert ist und in dem die Entscheidungen nach demokratischen Grundsätzen getroffen werden. Ebenso wie im Rahmen der GASP sind die Mitgliedstaaten auch in der Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres im Europäischen Rat und im Rat vertreten. Da die Mitgliedstaaten dort durch jeweils einen Vertreter repräsentiert sind und damit ihre Interessen und Standpunkte in Fragen der Justizund Innenpolitik einbringen können, ist das Erfordernis der demokratischen Besetzung der im Bereich der Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres handelnden Organe im Sinne der gleichberechtigten Mitgliedschaft der Staaten im Rahmen völkerrechtlicher Zusammenarbeit153 erfüllt. Dies gilt auch in bezug auf das Erfordernis, daß die Entscheidungen in der Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres nach demokratischen Grundsätzen getroffen werden müssen. Jeder Mitgliedstaat verfügt im Europäischen Rat wie im Rat durch seinen Vertreter über Einflußnahmemöglichkeiten. Auch in der Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres gilt grundsätzlich das Einstimmigkeitsprinzip 154. Mithin kann jeder Mitgliedstaat einen Beschluß durch bloße Stimmenthaltung verhindern. Sofern Durchführungsmaßnahmen zu gemeinsamen Maßnahmen mit qualifizierter Mehrheit angenommen werden können, ist wie im Bereich der GASP ein zuvor einstimmig gefaßter Beschluß der Mitgliedstaaten über die Möglichkeit zur Abstimmung mittels qualifizierter Mehrheit erforderlich 155. Die Möglichkeit einer Entscheidung mit der qualifizierten Mehrheit der Stimmen der Mitgliedstaaten besteht zudem nur im Zusammenhang mit gemeinsamen Maßnahmen und gilt nicht bei Beschlüssen über Über-

152

Siehe oben S. 113 if.

153

Zum völkerrechtlichen Grundsatz der Staatengleichheit statt vieler Randelzhofer, Artikel 24 Abs. 1, Rn. 50, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, Kommentar zum GG; Huber, S. 7, 197. 154

Artikel K.4 Abs. 3 EUV.

155

Artikel K.3 Abs. 2 Spiegelstrich 2 lit. b EUV.

II. Zusammenarbeit Justiz und Inneres

419

einkommen und die Inanspruchnahme der Evolutivklausel des Artikels K.9 EUV. Zwar ist angesichts der ausnahmsweise bestehenden Möglichkeit zu Mehrheitsentscheidungen das Prinzip einstimmiger Entscheidungsfindung nicht durchgängig verwirklicht, es ist jedoch in der Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres gewährleistet, daß grundsätzlich sämtliche Entscheidungen einstimmig getroffen werden und daß in den wenigen einstimmig beschlossenen Ausnahmefällen der Wille der Mehrheit der Mitgliedstaaten maßgeblich ist. Fraglich ist, ob der Rat für die Entscheidungen im Rahmen der Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres eine hinreichende demokratische Legitimation besitzt. Zwar bedienen sich auch in der Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres die Regierungen grundsätzlich des institutionellen Rahmens der Europäischen Gemeinschaft. Das intergouvernementale Zusammenwirken der Mitgliedstaaten in den in Artikel Κ. 1 EUV aufgeführten Bereichen führt jedoch nicht zum Erlaß von Gemeinschaftsrecht. Der Rat handelt nicht in seiner Funktion als Gemeinschaftsorgan, sondern lediglich als bündelndes und koordinierendes Forum der Mitgliedstaaten. Die Beschlüsse der Regierungen der Mitgliedstaaten führen daher nicht zu gemeinschaftsrechtlichen, sondern lediglich zu völkerrechtlich für die Mitgliedstaaten verbindlichen Entscheidungen. Die demokratische Legitimation zur Vertretung der Mitgliedstaaten im Rahmen völkerrechtlichen Verhaltens beziehen die Vertreter der Mitgliedstaaten wie im Bereich der GASP aus dem der Bestellung der Regierung zugrundeliegenden nationalen Wahl- bzw. Ernennungsverfahren. Sofern mit der Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres keine Ausübung von Hoheitsrechten durch die Europäische Union verbunden ist, bedarf es angesichts der rein völkerrechtlichen Zusammenarbeit im Rahmen der GASP keiner darüber hinausgehenden demokratischen Legitimation der Vertreter der Regierungen für das Handeln im Rat. Allerdings sieht die Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres gemäß Artikel K.9 EUV auch die Möglichkeit vor, daß Artikel 100 c EGV auf Maßnahmen in den in Artikel K. 1 Ziff. 1 - 6 EUV genannten Bereichen anwendbar ist. Die Inanspruchnahme der Evolutivklausel des Artikels K.9 EUV kann damit dazu führen, daß auch in Bereichen, die durch den EU-Vertrag zunächst in der Form völkerrechtlicher Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten durchgeführt werden, nachfolgend eine Regelung durch Gemeinschaftsrecht erfolgt. Allerdings kann Gemeinschaftsrecht nicht allein auf der Grundlage des entsprechenden Beschlusses im Rat erlassen werden. Zwar bindet sich der Rat durch seinen Beschluß nach Artikel K.9 EUV in der Weise, daß seine Entscheidung solange gültig ist, bis sie von einem gegenteiligen, einstimmig getroffenen Beschluß des Rates außer Kraft gesetzt wird. Eine automatische Überführung der Bereiche, die ein Beschluß gemäß Artikel K.9 EUV umfaßt, in Gemeinschaftsrecht erfolgt aber durch den Ratsbeschluß noch nicht. Vielmehr hat der Beschluß des Rates und damit der Vertreter der Mitgliedstaaten ebenso wie die 27*

420

C. Zulässigkeit der Hoheitsrechtsübertragungen des EUV

sonstigen Beschlüsse in den Bereichen Justiz und Inneres nur völkerrechtliche Bindungswirkung 156. Der Beschluß gemäß Artikel K.9 EUV bedarf der Annahme durch die Mitgliedstaaten gemäß ihren verfassungsrechtlichen Vorschriften. Erst diese Annahme durch die Mitgliedstaaten fuhrt die Transformation in die nationale Rechtsordnung herbei, die Voraussetzung für die Anwendung des Verfahrens des Artikels 100 c EGV ist. Da die Vertreter der Mitgliedstaaten im Rat somit die Vergemeinschaftung der in Artikel K.l Ziff. 1 - 6 EUV genannten Bereiche durch ihren Beschluß nur initiieren können, bedarf ihr Handeln im Bereich Justiz und Inneres auch bei Inanspruchnahme der Evolutivklausel des Artikels K.9 EUV keiner weitergehenden Legitimation. Die Vertretung der Mitgliedstaaten im Europäischen Rat wie im Rat sowie das grundsätzlich bestehende Einstimmigkeitserfordernis, das den maßgeblichen Einfluß jeden einzelnen Mitgliedstaates bei der Entscheidungsfindung sichert, vermitteln in der Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres die durch die Mitgliedstaaten erforderliche demokratische Legitimation ebenso wie die Tatsache, daß die Vertreter der Mitgliedstaaten im Rat für das völkerrechtliche Handeln innerhalb der Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres der Mitgliedstaaten durch das der Bestellung der nationalen Regierungen zugrundeliegende Wahl- oder Ernennungsverfahren hinreichend demokratisch legitimiert sind. Sofern die Vertreter im Rat über die Überführung bestimmter Teile der Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres durch die Anwendung des Verfahrens gemäß Artikel 100 c EGV beschließen, bedürfen die Vertreter der nationalen Regierungen im Rat keiner weitergehenden demokratischen Legitimation. Dieser Beschluß ist nämlich nur ein Schritt in einem notwendig zweischrittigen Verfahren, da er zusätzlich der Annahme gemäß den verfassungsrechtlichen Vorschriften der Mitgliedstaaten bedarf und da die erforderliche weitergehende demokratische Legitimation für die Überführung von Teilen der Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres ins Gemeinschaftsrecht durch diese Annahme vermittelt wird.

b) Demokratische Legitimation durch die Beteiligung der Unionsbürger Fraglich ist, ob das Handeln im Rahmen der Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres durch die Beteiligung der Unionsbürger bzw. der von

156 Müller-Graff, S. 936, sieht in der Möglichkeit eines Beschlusses gemäß Artikel K.9 EUV die Befugnis des Rates, bestimmte Angelegenheiten von gemeinsamem Interesse zwar nicht mit rechtlicher Bindung für die Mitgliedstaaten, aber doch mit gesteigertem politischem Gewicht zu Gemeinschaftsangelegenheiten zu erklären.

II. Zusammenarbeit Justiz und Inneres

421

den Völkern Europas gewählten Parlamente hinreichend demokratisch legitimiert ist. Dem Europäischen Parlament als der von den Völkern der Mitgliedstaaten gewählten Vertretung kommt in der Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres eine vergleichbare Rolle zu wie in der GASP. Es ist regelmäßig zu unterrichten, es ist zu den wichtigsten Aspekten der Tätigkeit im Bereich der Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres anzuhören, und seine Auffassung ist gebührend zu berücksichtigen157. Das Europäische Parlament kann Anfragen oder Empfehlungen an den Rat richten und einmal jährlich eine Aussprache über die Fortschritte bei der Durchführung der Maßnahmen durchführen 158 . Ihm steht also wie im Bereich der GASP lediglich ein Unterrichtungs-, Frage- und Empfehlungsrecht z u 1 5 9 . Eine Beteiligung der Unionsbürger auf dem Wege der Beteiligung des Europäischen Parlaments findet daher nur in sehr beschränktem Ausmaß statt. Allerdings besteht das grundsätzliche Erfordernis demokratischer Legitimation im Bereich der Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres in stärkerem Maße als im Bereich der GASP, da die Materien der Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres potentiell eher die Grundrechte und Grundfreiheiten des einzelnen berühren können. Da die im Rahmen dieser Zusammenarbeit ergehenden Entscheidungen nicht nur für die Mitgliedstaaten rechtliche Wirkung entfalten können 160 , sondern die gemäß Artikel K.3 EUV möglichen Übereinkommen auch Rechtspositionen des einzelnen betreffen können, ist eine weitergehende demokratische Legitimation und Kontrolle erforderlich. Daher wäre eine vermehrte Einbindung des Europäischen Parlaments insbesondere bei solchen Entscheidungen notwendig, die die Rechte des einzelnen berühren können 161 . Zwar kann sich das Europäische Parlament im Hinblick auf die Finanzierung von Ausgaben über seine Haushaltsbefugnisse eine nicht unerhebliche, wenn auch nur indirekte Mitsprache sichern 162. Gleichwohl fehlt es im Bereich Inneres und Justiz bei Regelungen, die die Rechte und Pflichten des einzelnen be-

157

Artikel K.6 Unterabsatz 1 EUV.

158

Artikel K.6 Unterabsatz 2 EUV.

159

Blanke, DÖV 1993, S. 418; Nanz, S. 134.

160

Kommission, Funktionsweise des EUV, S. 14.

161

Stellungnahme der Kommission zur Revisionskonferenz, KOM (96) 90 endg.,

S. 7. 162

Herdegen, Europarecht, S. 39.

422

C. Zulässigkeit der Hoheitsrechtsübertragungen des EUV

treffen, an Mitentscheidungsbefugnissen des Europäischen Parlaments 163. Da die Europäische Union jedoch selbst keine Hoheitsrechte auf dem Gebiet der Justiz- und Innenpolitik ausüben kann, begründen die mangelnden Entscheidungskompetenzen des Europäischen Parlaments kein grundlegendes Defizit im Hinblick auf die demokratische Legitimation des Handelns der Europäischen Union im Bereich der 2. Säule. Mit Ausnahme der völkerrechtlichen Übereinkommen gemäß Artikel K.3 Absatz 2 Spiegelstrich 2 lit. c EUV und der Möglichkeit der Anwendung des Verfahrens des Artikels 100 c EGV entfalten die Entscheidungen im Rahmen der Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres nämlich keine Durchgriffswirkung in den nationalen Rechtsordnungen. Insofern besteht diesbezüglich auch nicht die Notwendigkeit unmittelbarer demokratischer Legitimation durch das Europäische Parlament. Da völkerrechtliches Handeln der Regierungen der Mitgliedstaaten entsprechend den nationalen Verfassungen der Kontrolle durch die nationalen Parlamente unterliegt und da die Kompetenzen im Bereich der Justiz- und Innenpolitik bei den Mitgliedstaaten verbleiben, können die nationalen Parlamente das Handeln ihrer Regierungen und damit auch die auf diesem Wege zustande gekommenen Entscheidungen im Rahmen der Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres kontrollieren. Die Unionsbürger üben damit auf dem Wege parlamentarischer Kontrolle durch die nationalen Parlamente demokratische Kontrolle aus und vermitteln für das Handeln in der Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres auf diesem Wege demokratische Legitimation. In bezug auf die gemäß Artikel K.3 Absatz 2 lit. c EUV möglichen Übereinkommen wird demokratische Legitimation dadurch vermittelt, daß diese Übereinkommen der Annahme gemäß den verfassungsrechtlichen Vorschriften der Mitgliedstaaten bedürfen. Die Übereinkommen müssen also ein parlamentarisches Ratifizierungsverfahren in den Mitgliedstaaten durchlaufen 164. Lehnt ein nationales Parlament das zwischen den Mitgliedstaaten beschlossene Übereinkommen ab, tritt dieses in diesem Mitgliedstaat nicht in Kraft und entfaltet folglich keine rechtliche Wirkung. Das Zustimmungserfordernis der nationalen Parlamente garantiert damit eine demokratische Kontrolle im Hinblick auf die Gewährleistung und Garantie von Grundrechten und Grundfreiheiten. Die Beteiligung der nationalen Parlamente stellt also die erforderliche demokratische Legitimation sicher. Dies gilt auch im Hinblick auf die Möglichkeit der Anwendung des Verfahrens des Artikels 100 c EGV. Auch in diesem Fall erfolgt eine parlamentarische Kontrolle der Entscheidung im Rahmen der Zusammenarbeit

163 Stellungnahme der Kommission zur Revisionskonferenz, KOM (96) 90 endg., S. 6; Akmann, JA 1994, S. 55; Baetge, BayVBl. 1992, S. 711; Schweitzer/Hummer, S. 307. 164

Stein, VVDStRL 53 (1994), S. 31.

II. Zusammenarbeit Justiz und Inneres

423

in den Bereichen Justiz und Inneres zwar nicht durch das Europäische Parlament. Da die Umsetzung eines Beschlusses gemäß Artikel K.9 EUV, also die Möglichkeit der Anwendung des Verfahrens des Artikels 100 c EGV, aber von der Annahme der Mitgliedstaaten gemäß ihren verfassungsrechtlichen Vorschriften abhängt, wird durch das Erfordernis parlamentarischer Beteiligung der nationalen Parlamente eine hinreichende demokratische Legitimation für den Beschluß im Rahmen des Artikels K.9 EUV vermittelt. Die parlamentarische Kontrolle der Entscheidungen im Rahmen der Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres durch die nationalen Parlamente und die Notwendigkeit der Annahme von Beschlüssen gemäß Artikel K.3 Absatz 2 Spiegelstrich 2 lit. c EUV und gemäß Artikel 100 c EGV entsprechend den verfassungsrechtlichen Vorschriften der Mitgliedstaaten garantiert die Beteiligung der Völker der Mitgliedstaaten und sichert damit eine hinreichende Beteiligung der Unionsbürger. Die Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres ist daher demokratischen Grundsätzen gemäß Artikel 23 Absatz 1 Satz 1 GG verpflichtet.

3. Rechtsstaatliche Grundsätze Die Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres muß gemäß Artikel 23 Absatz 1 Satz 1 GG außerdem rechtsstaatlichen Grundsätzen verpflichtet sein. Dies bedeutet, daß eine Bindung an Recht und Gesetz einschließlich einer gerichtlichen Kontrolle sowie der Schutz elementarer Grund- und Menschenrechte garantiert sein müssen und der Grundsatz der Gewaltenteilung verwirklicht sein muß 1 6 5 . Die Bestimmungen über die Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres enthalten in Artikel K.2 EUV zunächst ein Bekenntnis zur Beachtung der EMRK und des Abkommens über die Rechtsstellung von Flüchtlingen sowie zur Berücksichtigung des Schutzes, den die Mitgliedstaaten politisch Verfolgten gewähren. Damit hat sich die Europäische Union über das bereits im dritten Entschließungsgrund der Präambel enthaltene grundsätzliche Bekenntnis zur Rechtsstaatlichkeit hinaus im Rahmen der Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres zur Beachtung weiterer grundlegender rechtsstaatlicher Grundsätze bekannt. Wie bereits im Bereich der GASP sind die Regelungen über die Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres unter dem Aspekt der Garantie gerichtlicher Kontrolle problematisch. Gemäß Artikel L EUV erstreckt sich

165

Siehe oben S. 118 ff.

424

C. Zulässigkeit der Hoheitsrechtsübertragungen des EUV

nämlich die Zuständigkeit des EuGH grundsätzlich auch nicht auf die Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres. Es fehlt insofern an einer richterlichen Kontrolle durch den EuGH 1 6 6 . Eine Ausnahme gilt lediglich insofern, als der EuGH bei völkerrechtlichen Übereinkommen im Rahmen der 2. Säule für die Auslegung von Streitfällen für zuständig erklärt werden kann. Sofern die Mitgliedstaaten völkerrechtliche Übereinkommen gemäß Artikel K.3 Absatz 2 Spiegelstrich 2 lit. c EUV ausarbeiten, können sie in diesen Übereinkommen vorsehen, daß der EuGH für die Auslegung der darin enthaltenen Bestimmungen und für alle Streitigkeiten über ihre Anwendung zuständig ist, wobei in den Übereinkommen gegebenenfalls weitere Einzelheiten seiner Zuständigkeit geregelt sein können 167 . In diesem Fall ist eine gerichtliche Kontrolle der Übereinkommen durch den EuGH gegeben mit der Folge, daß in bezug auf völkerrechtliche Übereinkommen kein grundlegendes Rechtsschutzdefizit besteht 168 . Allerdings sind die Zuständigkeiten des EuGH für völkerrechtliche Übereinkommen auf der Grundlage des Artikels K.3 Absatz 2 Spiegelstrich 2 lit. c EUV auf die Auslegung der darin enthaltenen Bestimmungen und die Regelungen von Streitigkeiten über ihre Anwendung beschränkt. Der EuGH besitzt damit aber nicht notwendigerweise die Möglichkeit des Individualrechtsschutzes gegen Maßnahmen auf der Grundlage solcher Übereinkommen. So sieht etwa das gemäß Artikel K.3 Absatz 2 Spiegelstrich 2 lit. c EUV abgeschlossene Europolabkommen zwar die Zuständigkeit des EuGH gemäß Artikel K.3 Absatz 2 Spiegelstrich 2 lit. c Unterabsatz 2 EUV vor. Der die Beilegung von Streitigkeiten regelnde Artikel 40 des Europolabkommens betrifft jedoch nur Streitigkeiten zwischen den Mitgliedstaaten. Er bestimmt, daß Streitigkeiten zwischen den Mitgliedstaaten über die Auslegung und Anwendung des Abkommens im Rat erörtert werden sollen. Wird dort binnen sechs Monaten keine Einigung erzielt, sollen die Mitgliedstaaten einvernehmlich die Modalitäten der Streitbeilegung festlegen. Im Protokoll betreffend die Auslegung des Europolübereinkommens haben sich 14 Mitgliedstaaten verpflichtet, Streitigkeiten zwischen den Mitgliedstaaten systematisch dem EuGH vorzulegen 1 6 9 . Einen Individualrechtsschutz gegen Maßnahmen des Europäischen 166

Stellungnahme der Kommission zur Revisionskonferenz, KOM (96) 90 endg.,

S. 6. 167

Artikel L lit. b i.V.m. Artikel Kommission.3 Abs. 2 lit. c Unterabsatz 3 EUV.

168

BVerfGE 89, S. 155, 177.

169

Die Aufnahme einer entsprechenden Regelung im Europolübereinkommen selbst scheiterte am Widerstand Großbritanniens mit der Folge, daß das Übereinkommen eine Zuständigkeit des EuGH nicht enthält. Hierzu ausführlich oben S. 183 f. Artikel 2 des Protokolls über die Auslegung des Europolabkommens ermöglicht es, daß zumindest zwischen den 14 Unterzeichnerstaaten eine einheitliche Auslegung und Anwendung des Europolabkommen durch den EuGH gewährleistet wird.

II. Zusammenarbeit Justiz und Inneres

425

Polizeiamtes sehen aber weder das Übereinkommen noch das Protokoll vor. Dies ist deshalb bedenklich, weil das Europäische Polizeiamt auch Kompetenzen zu unmittelbar grundrechtsbezogenen Handlungen besitzt. Es ist gemäß Artikel 8 des Europolabkommens ermächtigt, personenbezogene Daten zu erheben, zu speichern und zur Erfüllung seiner Aufgaben zu nutzen mit der Konsequenz, daß das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung durch Handeln des Europäischen Polizeiamtes unmittelbar betroffen werden kann 170 . Die Begrenztheit der Zuständigkeit des EuGH, die Artikel L lit. b i.V.m. Artikel K.3 Absatz 2 Spiegelstrich 2 lit. c Unterabsatz 3 EUV begründet, zeigt sich auch daran, daß er zwar für die Auslegung der in den Übereinkommen enthaltenen Bestimmungen und alle Streitigkeiten über ihre Anwendung für zuständig erklärt werden kann. Dies begründet aber keine Zuständigkeit für die Frage der Vereinbarkeit solcher Übereinkommen mit dem EG-Vertrag, den allgemeinen Rechtsgrundsätzen oder völkerrechtlichen Regeln wie der EMRK oder der Genfer Flüchtlingskonvention171. Im Hinblick auf die Vereinbarkeit mit völkerrechtlichen Regelungen wird dieses Kontrolldefizit jedoch dadurch ausgeglichen, daß die Übereinkommen aufgrund ihres völkerrechtlichen Charakters an den allgemeinen Regeln des Völkerrechts gemessen werden können. Außerdem bedürfen die Übereinkommen gemäß Artikel K.3 Absatz 2 Spiegelstrich 2 lit. c EUV der Annahme gemäß den verfassungsrechtlichen Vorschriften der Mitgliedstaaten. Das dadurch erforderliche Ratifikationsverfahren eröffnet den nationalen Gerichten die Möglichkeit, im Rahmen innerstaatlicher Verfahren gegen die Ratifikation auch eine inhaltliche Kontrolle der Übereinkommen im Hinblick auf die Beachtung und Gewährleistung von Grundrechten vorzunehmen. Die Möglichkeit gerichtlicher Kontrolle durch den EuGH ist weiterhin dann gegeben, wenn der Rat von der Evolutivklausel des Artikels K.9 EUV Gebrauch macht und die Mitgliedstaaten diesen Beschluß gemäß ihren verfassungsrechtlichen Vorschriften annehmen. Bei den in der Folge ergehenden Rechtsakten handelt es sich um Gemeinschaftsrechtsakte, für deren gerichtliche Kontrolle der EuGH gemäß den Artikeln 164 ff. EGV zuständig ist. Abgesehen von den gemäß Artikel K.3 Absatz 2 lit. c EUV abgeschlossenen Übereinkommen und der Möglichkeit gerichtlicher Kontrolle der Gemeinschaftsrechtsakte, die in Anwendung des Verfahrens des Artikels 100 c EGV 170 Zum Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung und dem Schutz des Einzelnen gegen unbegrenzte Erhebung, Speicherung, Verwendung und Weitergabe seiner persönlichen Daten BVerfGE 65, S. 1, 42 ff.; BVerfGE 78, S. 77, 84. Statt vieler Kunig, Artikel 2, Rn. 38, in: von Münch/Kunig (Hrsg.), Kommentar zum GG; Klein, Artikel 2, Rn. 4, in: Schmidt-Bleibtreu, Kommentar zum GG. 171

Kommission, Funktionsweise des EUV, S. 26.

426

C. Zulässigkeit der Hoheitsrechtsübertragungen des EUV

ergehen, ist der EuGH jedoch nicht für die gerichtliche Kontrolle und Auslegung der Beschlüsse im Bereich der Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres zuständig. Dies ist bei den für die Mitgliedstaaten unverbindlichen Akten, also den von den Mitgliedstaaten verabschiedeten Empfehlungen, Beschlüssen und Erklärungen, unproblematisch172. Problematisch ist die fehlende Kontrollmöglichkeit jedoch bei den für die Mitgliedstaaten verbindlichen gemeinsamen Standpunkten und Maßnahmen. Dem EuGH können keinerlei Zuständigkeiten im Hinblick auf die gerichtliche Kontrolle gemeinsamer Standpunkte und Maßnahmen übertragen werden. Dies ist insofern bedeutsam, als es sich bei der Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres um ein Sachgebiet handelt, in dem Menschen- und Grundrechte ebenso betroffen werden können wie die Grundfreiheiten des Gemeinschaftsrechts, insbesondere die Freizügigkeit 173. Rechtsschutz durch den EuGH erscheint insofern geboten, als auf diesem Wege eine einheitliche Auslegung der Rechtsvorschriften und damit eine einheitliche Rechtsanwendung und ein einheitlicher Schutzstandard in allen Mitgliedstaaten gewährleistet werden kann 1 7 4 , während ansonsten die Gefahr besteht, daß dies durch den allein in Betracht kommenden Rechtsschutz vor den nationalen Gerichten gegen die mitgliedstaatlichen Umsetzungsakte nur unzulänglich erreicht wird 1 7 5 . Exemplarisch für die Rechtsschutzprobleme ist die Entwicklung in Zusammenhang mit dem Aufbau eines unionsweiten Systems zum Austausch von Informationen im Rahmen eines Europäischen Polizeiamtes im Bereich des Artikels K.l Nr. 9 EUV. Vor Inkrafttreten des EU-Vertrages hatte der Rat eine Verordnung zur Schaffung einer Europäischen Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht verabschiedet176, nach deren Artikel 17 der EuGH für Klagen gegen die Beobachtungsstelle nach Maßgabe des Artikels 173 EGV zuständig war. In der gemäß Artikel K.3 Absatz 2 Spiegelstrich 2 lit. b EUV beschlossenen gemeinsamen Maßnahme bezüglich der Europol-Drogenstelle 177 ist gerichtlicher Rechtsschutz gegen Maßnahmen der Drogenstelle demgegenüber nicht vorgesehen, obwohl die Europol-Drogenstelle gemäß Artikel 4 der gemeinsamen Maßnahme beispielsweise durch die Verwendung personenbezogener Daten Rechte des einzelnen im Bereich des Da-

172

Kommission, Funktionsweise des EUV, S. 51.

173

Edward, EuR 1995, Beiheft 2, S. 25; Middeke/Szczekalla, JZ 1993, S. 291.

174

Stellungnahme der Kommission zur Revisionskonferenz, KOM (96) 90 endg., S. 7; Pache, Artikel L, Rn. 33, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), Kommentar zum EUV; Middeke/Szczekulla, JZ 1993, S. 291. 175

Middeke/Szczekalla,

176

VO Nr. 302/93, ABl. 1993 Nr. L 36 S. 1.

177

ABl. 1995 Nr. L 62 S. 1.

JZ 1993, S. 291 f.

II. Zusammenarbeit Justiz und Inneres

427

tenschutzrechts bzw. im Hinblick auf das Grundrecht der informationellen Selbstbestimmung berühren kann. Die fehlende Zuständigkeit des EuGH führt jedoch nicht dazu, daß der einzelne keinerlei Möglichkeiten gerichtlicher Kontrolle der Handlungen der Europol-Drogenstelle besitzt. Vielmehr sichert bereits die Ausgestaltung des Verfahrens der Sammlung und Weitergabe der Daten an die EuropolDrogenstelle effektiven Rechtsschutz. Personenbezogene Daten werden nämlich gemäß Artikel 4 Absatz 1 Unterabsatz 1 der gemeinsamen Maßnahme auf der Grundlage eines Austausches nationaler Verbindungsbeamter übermittelt, wobei diese nach Maßgabe ihrer innerstaatlichen Gesetze, sonstiger einschlägiger Rechtsvorschriften und der von ihrem Mitgliedstaat erteilten Weisungen über die Verarbeitung personenbezogener Informationen sowie unter Einhaltung der vom liefernden Staat aufgestellten Bedingungen für die Verwendung solcher Informationen handeln 178 . Zudem sieht die gemeinsame Maßnahme vor, daß die Mitgliedstaaten ihren jeweiligen Datenschutzbehörden empfehlen, die Tätigkeit ihrer Verbindungsbeamten im Hinblick auf die Einhaltung der innerstaatlichen Rechtsvorschriften über den Schutz personenbezogener Daten zu überwachen und nachzuprüfen, ob die gemeinsame Datenbank der EuropolDrogenstelle, falls vorhandenen, nur nicht personenbezogene Daten enthält 179 . Die Datensammlung und Weitergabe erfolgt somit ausschließlich nach nationalen Rechtsvorschriften durch nationale Beamte, die uneingeschränkt der deutschen Rechtsordnung und den Grundrechten des Grundgesetzes unterworfen sind und die durch nationale Datenschutzbehörden kontrolliert werden 180 . Die Rechte des einzelnen können damit einerseits durch die nationalen Datenschutzbehörden gesichert werden, sofern der einzelne von der Sammlung und Weitergabe seiner personenbezogenen Daten keine Kenntnis erlangt. Er kann seine Rechte aber andererseits auch durch die Anrufung der nationalen Gerichte effektiv sichern, denn ihm steht, sofern er durch das Handeln der nationalen Beamten in seinen Rechten oder grundrechtlich geschützten Rechtspositionen betroffen ist, der Rechtsweg zur Überprüfung der durch nationale Beamte erfolgenden Handlungen durch nationale Gerichte uneingeschränkt offen.

178

Di Fabio , DÖV 1997, S. 96, formuliert in diesem Zusammenhang: Gespeist durch einen Informationsstrom aus den Mitgliedstaaten, dosiert in Verantwortung der jeweiligen nationalen Verbindungsstellen, sammelt Europol Informationen und Erkenntnisse, systematisiert und analysiert sie. 179

Artikel 4 Abs. 3 Unterabsatz 1 der gemeinsamen Maßnahme bezüglich der Europol-Drogenstelle, ABl. 1995 Nr. L 62 S. 2. 180

Wie hier Di Fabio , DÖV 1997, S. 98 f., der aufgrund dessen zu dem Ergebnis kommt, daß die Ratifikation des Übereinkommen oder eine sonstige Rechtsgrundlage nicht erforderlich ist.

428

C. Zulässigkeit der Hoheitsrechtsübertragungen des EUV

Zusammenfassend ist festzuhalten, daß die Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres zwar Grund- und Menschenrechte betreffen kann, so daß insofern ein angemessener gerichtlicher Rechtsschutz durch den EuGH rechtsstaatlich geboten erscheint 181. Durch den EuGH könnte am ehesten eine einheitliche Auslegung der Rechtsvorschriften und damit eine einheitliche Rechtsanwendung und ein einheitlicher Schutzstandard in allen Mitgliedstaaten gewährleistet werden. Die fehlende umfassende Zuständigkeit des EuGH führt jedoch nicht zu einem Verstoß gegen rechtsstaatliche Grundsätze, da eine grundlegende Rechtsschutzlücke nicht begründet wird 1 8 2 . In den Fällen, in denen bereits durch gemeinsame Maßnahmen im Rahmen der Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres die Verletzung von Individualrechten möglich ist, erfolgt gegebenenfalls grundrechtsrelevantes Handeln durch nationale Hoheitsträger, so daß dem einzelnen der Rechtsweg zur Überprüfung durch nationale Gerichte uneingeschränkt offensteht. Im übrigen kommt den im Rahmen der Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres erlassenen Rechtsinstrumenten zwar eine für die Mitgliedstaaten verbindliche völkerrechtliche Bindung zu, sie entfalten jedoch in den Mitgliedstaaten keinen Durchgriffseffekt, so daß ihnen keine unmittelbar verbindliche Wirkung gegenüber natürlichen und juristischen Personen sowie den Staatsorganen zukommt. Sofern sich aus der völkerrechtlichen Bindungswirkung die Verpflichtung der Mitgliedstaaten zu Umsetzungsakten ergibt, sind diese Umsetzungsakte durch die nationalen Gerichte überprüfbar 183. Unter dem Aspekt rechtsstaatlicher Kontrolle sind die Entscheidungen und die Durchführungsmaßnahmen der Umsetzungsakte also einer effektiven richterlichen Kontrolle unterworfen. Die Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres entspricht auch dem Prinzip der Gewaltenteilung. Die Artikel Κ. 1 ff. EUV enthalten nämlich Regelungen, die den Mitgliedstaaten und den im Wege der Organleihe tätig werdenden Gemeinschaftsorganen konkrete Aufgaben und voneinander abgegrenzte Zuständigkeiten zuweisen: Der Europäische Rat beschließt die grundlegenden politischen Leitlinien. Das Europäische Parlament besitzt Anhörungsund Beteiligungsrechte, und die Kommission ist in vollem Umfang zu beteiligen und besitzt ein beschränktes Initiativrecht. Wie im Bereich der GASP entspricht auch die Zuständigkeitsverteilung in der Zusammenarbeit in den Bereichen 181

Philipp, EuZW 1996, S. 627; Pache, Artikel L, Rn. 41, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), Kommentar zum EUV, der im Rahmen der Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres angesichts der nur ausnahmsweise und vom Willen der Mitgliedstaaten abhängigen Zuständigkeit des EuGH die Entstehung von Rechtsschutzlücken und den Abbau des bereits erreichten Standes gemeinschaftlicher Rechtsschutzgewährleistung nicht gänzlich ausschließt. 182

BVerfGE 89, S. 155, 175. Klein, S. 6; Tomuschat, EuGRZ 1993, S. 491.

183

So für die Bundesrepublik Deutschland BVerfGE 89, S. 155, 175. Klein, S. 6.

II. Zusammenarbeit Justiz und Inneres

429

Justiz und Inneres nicht der Trennung in Legislative, Exekutive und Judikative. Ebenso wie dort bedeutet dies aber keinen Verstoß gegen das Gewaltenteilungsprinzip 184. Angesichts des völkerrechtlichen Charakters der Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres bedarf es auf der Ebene der Europäischen Union keiner Gewaltenteilung im Sinne gegenseitiger Kontrolle der Gemeinschaftsorgane, denn die Mitgliedstaaten bleiben die alleinigen Hoheitsträger, sie allein üben Hoheitsrechte aus. Die Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres ist damit auch rechtsstaatlichen Grundsätzen im Sinne des Artikels 23 Absatz 1 Satz 1GG verpflichtet.

4. Soziale Grundsätze Die Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres muß gemäß Artikel 23 Absatz 1 Satz 1 GG weiter sozialen Grundsätzen verpflichtet sein. Sie muß also eine Wertentscheidung zugunsten sozialer Gerechtigkeit und sozialer Sicherheit getroffen haben 185 . Die im siebten Erwägungsgrund der Präambel und in Artikel Β Spiegelstrich 1 EUV enthaltenen Bekenntnisse der Europäischen Union zur Förderung des sozialen Fortschritts und das damit verbundene Bekenntnis zur Verwirklichung sozialer Wertvorstellungen gelten für alle Tätigkeitsfelder der Europäischen Union und damit auch für das Handeln im Rahmen der Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres. Die unmittelbar die Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres regelnden Artikel Κ ff. EUV enthalten hingegen keine ausdrücklichen Regelungen im Hinblick auf eine Wertentscheidung zugunsten sozialer Gerechtigkeit und sozialer Sicherheit. Die fehlende ausdrückliche Regelung sozialer Fragen in der Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres beeinträchtigt die grundsätzlich vorhandene Wertentscheidung zugunsten sozialer Gerechtigkeit und Sicherheit jedoch nicht, denn die als Angelegenheit von gemeinsamem Interesse auf der Ebene der Europäischen Union behandelten Bereiche der 2. Säule sollen gemäß Artikel K.l EUV der Verwirklichung der Ziele der Europäischen Union dienen, so daß folglich auch der Gesichtspunkt der Verwirklichung des sozialen Fortschritts, der gemäß Artikel Β Spiegelstrich 1 EUV ein Ziel des Handelns der Europäischen Union ist, bei ihrer Umsetzung zu beachten ist 1 8 6 . Angesichts der Zielvorgabe des

184

Siehe oben S. 398.

185

Siehe oben S. 120 f.

186

Zur Beachtlichkeit der allgemeinen Zielvorgabe des Artikels Β EUV auch für die Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres Müller-Graff, S. 931.

430

C. Zulässigkeit der Hoheitsrechtsübertragungen des EUV

Artikels Κ. 1 EUV wird damit die grundlegende Wertentscheidung der Europäischen Union zu sozialer Gerechtigkeit und Sicherheit bestätigt und bildet auch ein Ziel der Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres. Die Europäische Union ist damit sozialen Grundsätzen gemäß Artikel 23 Absatz 1 Satz 1 GG verpflichtet.

5. Grundrechtsschutz Die Europäische Union muß gemäß Artikel 23 Absatz 1 Satz 1 GG auch im Rahmen der Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres einen dem Grundgesetz im wesentlichen vergleichbaren Grundrechtsschutz gewährleisten. Ebenso wie im Bereich der GASP gilt auch für die Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres das ausdrückliche Bekenntnis des EU-Vertrages zu Grundrechten in Artikel F Absatz 2 EUV. Die Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten unter dem Dach der Europäischen Union ist damit zur Achtung von Grundrechten, wie sie sich aus der EMRK und den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten ergeben, verpflichtet. Dieses Bekenntnis wird für die Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres in Artikel K.2 Absatz 1 EUV wiederholt und konkretisiert. Danach werden die in Artikel K.l EUV genannten Angelegenheiten unter Beachtung der EMRK und des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge sowie unter Berücksichtigung des Schutzes, den die Mitgliedstaaten politisch Verfolgten gewähren, behandelt. Die Verpflichtung zur Beachtung der EMRK und der Genfer Flüchtlingskonvention erlaubt aber nicht den Schluß, daß im Rahmen des Tätigwerdens der Europäischen Union nach Titel VI EUV unmittelbare Grundrechtseingriffe möglich sein sollen. Vielmehr bestätigt Artikel K.2 Absatz 1 EUV die Verpflichtung zur Beachtung der Menschenrechte, die schon im Vorfeld unmittelbarer Grundrechtseingriflfe bei gemeinsamen Maßnahmen zu beachten sind, wenn deren Umsetzung und Durchführung durch die Mitgliedstaaten Grundrechtseingriffe zur Folge haben können 187 . Zudem kommt, wie auch im Bereich der GASP, den Entscheidungen in der Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres überwiegend keine unmittelbar grundrechtserhebliche Verbindlichkeit zu. Der Rat wird in Artikel K.3 Absatz 2 Spiegelstrich 2 lit. a EUV zunächst ermächtigt, gemeinsame Standpunkte festzulegen. Solchen Festlegungen fehlt von vornherein eine grundrechtserhebliche Verbindlichkeit für den einzelnen188. Soweit der Rat zur

187

BVerfGE 89, S. 155, 177.

188

BVerfGE 89, S. 155, 176.

II. Zusammenarbeit Justiz und Inneres

431

Durchführung der Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres gemeinsame Maßnahmen annehmen kann 1 8 9 , sind diese zwar für die Mitgliedstaaten völkerrechtlich verbindlich. Durch eine gemeinsame Maßnahme wird jedoch kein in den Mitgliedstaaten unmittelbar anwendbares und Vorrang beanspruchendes Recht gesetzt 190 . Sofern die gemeinsame Maßnahme einen Umsetzungsakt durch die Mitgliedstaaten erfordert, entfalten erst diese eine gegenüber dem einzelnen unmittelbar grundrechtsrelevante Wirkung. Auch gemeinsamen Maßnahmen kommt damit kein Durchgriffseffekt zu. Sofern die gemäß Artikel K.3 Absatz 2 Spiegelstrich 2 lit. c EUV abgeschlossenen Übereinkommen grundrechtsrelevante Regelungen enthalten, tritt auch bezüglich dieser Regelungen die unmittelbar grundrechtsrelevante Wirkung nicht durch das Übereinkommen selbst, sondern erst durch den mitgliedstaatlichen Transformationsakt ein 1 9 1 . Auch Entscheidungen im Rahmen des Artikels K.9 EUV, also Beschlüsse des Rates, das Verfahren des Artikels 100 c EGV anzuwenden, haben gegenüber dem einzelnen keine unmittelbar grundrechtsrelevante Wirkung. Zur Überführung der betroffenen Bereiche ins Gemeinschaftsrechts ist nämlich zunächst die Annahme des betreffenden Beschlusses durch die Mitgliedstaaten gemäß deren verfassungsrechtlichen Vorschriften erforderlich. Erst anschließend kann eine unmittelbar grundrechtsrelevante Wirkung durch den nachfolgend ergehenden Gemeinschaftsrechtsakt bewirkt werden. Bei dem Gemeinschaftsrechtsakt selbst, der auf der Grundlage des Verfahrens des Artikels 100 c EGV ergeht und dem Durchgriffswirkung auch gegenüber dem einzelnen zukommen kann, handelt es sich nicht mehr um eine Maßnahme im Rahmen der Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres, sondern um Gemeinschaftshandeln 192. Der Beschluß des Rates gemäß Artikel K.9 EUV als Entscheidung im Rahmen der Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres ist jedoch kein in den Mitgliedstaaten unmittelbar anwendbares und Vorrang beanspruchendes Recht mit der Folge, daß er auch keine unmittelbar grundrechtsrelevante Wirkung gegenüber dem einzelnen entfalten kann. Da den Entscheidungen im Rahmen der Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres mangels einer Durchgriffswirkung also keine unmittelbar grundrechtserhebliche Verbindlichkeit gegenüber dem einzelnen zukommt, ist das Bekenntnis zur Achtung der Grund- und Menschenrechte im Hinblick auf die Verpflichtung zur Gewährleistung eines dem Grundgesetz im wesentlichen gleichkommenden Grundrechtsschutzes gemäß Artikel 23 Absatz 1 Satz 1 GG

189

Artikel K.3 Abs. 2 Spiegelstrich 2 lit. b EUV.

190

BVerfGE 89, S. 155, 176. Müller-Graff,

191

Di Fabio, DÖV 1997, S. 95.

192

S. 932; Dörr, EuR 1995, S. 346.

Zur Verwirklichung der Verpflichtung eines im wesentlichen vergleichbaren Grundrechtsschutzes durch die EG siehe unten S. 508 ff.

432

C. Zulässigkeit der Hoheitsrechtsübertragungen des EUV

im Rahmen der Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres ausreichend berücksichtigt.

6. Grundsatz der Subsidiarität Schließlich muß die Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres gemäß Artikel 23 Absatz 1 Satz 1 GG dem Grundsatz der Subsidiarität verpflichtet sein. Wie im Bereich der GASP gilt auch für das Handeln der Europäischen Union im Rahmen der Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres das Bekenntnis der Präambel zu Entscheidungen entsprechend dem Subsidiaritätsprinzip und das im letzten Absatzes des Artikels Β EUV ausgesprochene Ziel der Beachtung des Subsidiaritätsprinzips 193. Wie bereits die GASP ist auch die Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres als völkerrechtliche Zusammenarbeit ausgestaltet, so daß bereits Form und Ausgestaltung der Zusammenarbeit Ausdruck der Achtung des Grundsatzes der Subsidiarität sind 194 . Über dieses allgemeine Bekenntnis hinaus wird im Rahmen der Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres die Verpflichtung zur Achtung des Subsidiaritätsprinzips dadurch konkretisiert, daß diese auf enumerativ in Artikel Κ. 1 EUV aufgelistete Bereiche beschränkt ist und damit die uneingeschränkte Zuständigkeit der Mitgliedstaaten für die übrigen Bereiche staatlicher Justiz- und Innenpolitik per se nicht berührt. Artikel K.2 EUV stellt darüber hinaus ausdrücklich klar, daß Titel VI EUV die Ausübung der den Mitgliedstaaten obliegenden Verantwortung für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und den Schutz der inneren Sicherheit nicht berührt. Die Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres steht gemäß Artikel K.7 EUV zudem auch der Begründung und der Entwicklung einer engeren Zusammenarbeit zwischen zwei oder mehr Mitgliedstaaten nicht entgegen. Außerdem sind es allein die Mitgliedstaaten, die die im Rahmen des Titel VI EUV festgelegten gemeinsamen Standpunkte in internationalen Organisationen und Konferenzen vertreten 195. Im Gegensatz zu Titel V EUV erwähnen die Regelungen des Titels VI EUV die Europäische Union nicht einmal als ein eigenes Handlungssubjekt 196 . Damit bringen die Regelungen des Titels VI EUV in ihrer Gesamtheit zum Ausdruck, daß das Handeln der Europäischen Union in Fragen

193

Siehe oben S. 401 f.

194

Siehe oben S. 401 f.

195

Artikel K.5 EUV.

196

Müller-Graff,

S. 930.

II. Zusammenarbeit Justiz und Inneres

433

der Justiz- und Innenpolitik mitgliedstaatliches Handeln nicht ersetzen soll, sondern als Form völkerrechtlicher Zusammenarbeit auf eine nach innen wirkende Koordinierungsfunktion beschränkt ist. Im Rahmen der Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres wird die Verpflichtung zur Beachtung des Subsidiaritätsprinzips durch die Europäische Union zudem dadurch verwirklicht, daß Entscheidungen in der Form gemeinsamer Maßnahmen nur dann zulässig sind, wenn ein Handeln auf der Ebene der Europäischen Union der besseren Verwirklichung eines angestrebten Ziels dient als eine einzelstaatliche Entscheidung. Sofern die Mitgliedstaaten gemeinsame Maßnahmen gemäß Artikel K.3 Absatz 2 Spiegelstrich 2 lit. b EUV annehmen, haben sie nämlich zu beachten, daß diese nur dann beschlossen werden können, wenn sich die Ziele der Europäischen Union aufgrund des Umfangs und der Wirkungen der geplanten Maßnahme durch gemeinsames Vorgehen besser verwirklichen lassen als durch Maßnahmen der einzelnen Mitgliedstaaten. Artikel K.3 Absatz 2 Spiegelstrich 2 lit. b EUV knüpft damit die Möglichkeit zu Handeln auf der Ebene der Europäischen Union ebenso wie Artikel 3 b Absatz 2 EGV an die Erfüllung des Kriteriums des Mehrwerts, d.h. das Handeln auf der Ebene der Europäischen Union muß im Vergleich zu einzelstaatlichen Maßnahmen der Mitgliedstaaten deutliche Vorteile mit sich bringen 1 9 7 . Der Verpflichtung zur Beachtung des Subsidiaritätsprinzips steht auch nicht die Evolutivklausel des Artikels K.9 EUV entgegen. Zwar können durch ihre Inanspruchnahme Bereiche, die bisher lediglich Gegenstand intergouvernementalen Zusammenwirkens der Mitgliedstaaten waren, in Gemeinschaftsrecht überführt werden. Eine solche Inanspruchnahme führt dann zwar zu einer Ausweitung der Gemeinschaftskompetenzen, ist jedoch kein Verstoß gegen den Grundsatz der Subsidiarität. Die Europäische Gemeinschaft kann nämlich die Vergemeinschaftung zum einen nicht aus eigenem Antrieb vornehmen, da die Überführung in Gemeinschaftsrecht sowohl einen einstimmigen Beschluß des Rates als auch die Annahme in den Mitgliedstaaten gemäß deren verfassungsmäßigen Vorschriften voraussetzt. Die Mitgliedstaaten haben damit sowohl durch ihr Stimmverhalten im Rat wie auch im Rahmen der innerstaatlichen Verfahren die Möglichkeit, ein Handeln auf Gemeinschaftsebene zu verhindern. Zum anderen ist die Europäische Gemeinschaft ihrerseits hinsichtlich der Ausübung der Kompetenzen in den vergemeinschafteten Bereichen zur Beachtung des Artikels 3 b Absatz 2 EGV verpflichtet.

197

28 Uhrig

Schweitzer/Hummer,

S. 280; Akmann, JA 1994, S. 54.

434

C. Zulässigkeit der Hoheitsrechtsübertragungen des EUV

Die Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres ist also dem Grundsatz der Subsidiarität verpflichtet und entspricht insofern den Vorgaben des Artikels 23 Absatz 1 Satz 1 GG.

7. Fortgeltung innerstaatlicher Verfassungsprinzipien Die Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres darf außerdem nicht dazu führen, daß innerstaatlich fundamentale Verfassungsprinzipien aufgegeben werden. Die Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres darf daher nicht zur Folge haben, daß der Fortbestand und die Fortgeltung der in Artikel 79 Absatz 3 GG niedergelegten grundlegenden Verfassungsprinzipien des Grundgesetzes nicht mehr gewährleistet ist (a). Weiterhin darf aber auch die deutsche Staatlichkeit weder aufgegeben werden, noch darf aufgrund der Kompetenzausstattung der Europäischen Union die Gefahr eines solchen Verlustes bestehen (b).

a) Vorgaben des Artikels

79 Absatz 3 GG

Die Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres darf nicht zur Aufgabe der fundamentalen Verfassungsgrundsätze, wie sie in Artikel 79 Absatz 3 GG niedergelegt sind, führen. Die Bundesrepublik Deutschland muß also auch weiterhin die Gestalt und Struktur eines demokratischen, bundesstaatlich organisierten, sozial- und rechtsstaatlichen sowie die Menschenwürde achtenden Staates im Sinne der Artikel 1 und 20 GG aufweisen. Die Aufgabe oder konkrete Gefährdung dieser Verfassungsgrundsätze ist jedoch nur dann möglich, wenn die Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres zur Übertragung von Hoheitsrechten geführt hat, so daß die innerstaatlichen Kompetenzträger in der Folge nicht über ausreichende Möglichkeiten verfügen, die innerstaatlichen Verfassungsprinzipien zu verwirklichen bzw. zu sichern. Die Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres hat als völkerrechtliche Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten zwar die Koordination der Aktivitäten der Mitgliedstaaten mit Hilfe der intergouvernementalen Zusammenarbeit zum Ziel, eine Übertragung von Hoheitsrechten auf die Europäische Union hat jedoch nicht stattgefunden. Vielmehr besitzen die Mitgliedstaaten selbst weiterhin uneingeschränkt die Möglichkeit zur Ausübung ihrer Hoheitsrechte. In der Folge ist es durch die Regelungen der Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres weder zu Kompetenzverschiebungen zwischen den innerstaatlichen Kompetenzträgern noch zum Verlust der Möglichkeit der Ausübung von Hoheitsrechten für einzelne innerstaatliche Hoheitsträger gekommen. Die nationalen Hoheitsträger können vielmehr durch ihre Mitwirkung bei der Beschlußfassung und Umsetzung der Entscheidungen im Rahmen der Zu-

II. Zusammenarbeit Justiz und Inneres

435

sammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres dafür sorgen, daß die in den Artikeln 1 und 20 niedergelegten Grundsätze geschützt werden und fortgelten. Die Gefährdung der Achtung der Menschenwürde durch gemeinsame Standpunkte und Maßnahmen oder durch Übereinkommen tritt nicht ein, denn die Entscheidungen im Rahmen der Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres bedürfen entweder nationaler Umsetzungs- bzw. Transformationsakte, oder die aufgrund der Entscheidungen vorgesehenen Handlungen werden durch nationale Hoheitsträger durchgeführt. Diese sind gemäß Artikel 1 Absatz 1 GG zur Achtung der Menschenrechte verpflichtet. Auch der Fortbestand demokratischer Grundsätze im Sinne des Artikels 20 GG ist nicht gefährdet. Aufgrund des völkerrechtlichen Charakters der Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres werden die dem Bundestag und den Landtagen als den vom Volk gewählten Vertretungen zukommenden Aufgaben und Kompetenzen nicht gefährdet. Da auf die Europäische Union keine Hoheitsrechte übertragen worden sind, ist die Gesetzgebungskompetenz des Bundestages und der Länderparlamente in bezug auf Regelungen der Justiz- und Innenpolitik nicht beschränkt worden. Sofern die Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres zum Abschluß völkerrechtlicher Übereinkommen gemäß Artikel K.3 Absatz 2 Spiegelstrich 2 lit. b EUV führt, besitzt der Bundestag angesichts des Erfordernisses der Annahme des Übereinkommens gemäß den verfassungsrechtlichen Vorschriften der Mitgliedstaaten im Rahmen des in der Bundesrepublik Deutschland erforderlichen Zustimmungsverfahrens gemäß Artikel 59 Absatz 2 Satz 1 GG die Möglichkeit, ein solches Übereinkommen abzulehnen mit der Folge, daß das Übereinkommen in der Bundesrepublik Deutschland nicht in Kraft treten kann und folglich auch keine Wirkung entfaltet 198. Der Bundestag kann auf diesem Weg auch der Inanspruchnahme der Evolutivklausel des Artikels K.9 EUV widersprechen und damit die Vergemeinschaftung nationaler Kompetenzen auf dem Gebiet der Justiz- und Innenpolitik verhindern. Da es sich bei der Inanspruchnahme der Evolutivklausel des Artikels K.9 EUV um eine vergleichbare Regelung im Sinne des Artikels 23 Absatz 1 Satz 3 GG handelt, bedarf der Beschluß des Rates gemäß Artikel 79 Absatz 2 GG der Zustimmung von zwei Dritteln der Mitglieder des Bundestages199, wodurch die Möglichkeit der Einflußnahme durch den Bundestag zusätzlich abgesichert wird. Die parlamentarische Kontrolle der Bundesregierung im Hinblick auf völkerrechtliches Handeln in Fragen der Justiz- und Innenpolitik ist damit sichergestellt.

198

Rojahn, Artikel 59, Rn. 32, in: von Münch/Kunig (Hrsg.), Kommentar zum GG; Jarass, Artikel 59, Rn. 4 f., in: Jarass/Pieroth, Kommentar zum GG; Streinz, Artikel 59, Rn. 60 ff. in: Sachs (Hrsg.), Kommentar zum GG. 199

2*

Siehe hierzu ausführlich oben S. 98 ff.

436

C. Zulässigkeit der Hoheitsrechtsübertragungen des EUV

Durch die Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres wird auch die bundesstaatliche Struktur der Bundesrepublik Deutschland nicht gefährdet oder aufgehoben. Das innerstaatliche Verfahren der Willensbildung zwischen Bund und Ländern wird ebenso wenig beeinflußt, wie die Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern berührt wird. Sofern durch völkerrechtliche Übereinkommen gemäß Artikel K.3 Absatz 2 Spiegelstrich 2 lit. c EUV Materien betroffen werden, die innerstaatlich in den Kompetenzbereich der Länder fallen, ist durch die Notwendigkeit der Zustimmung der Länder im Rahmen des Ratifikationsverfahrens gemäß Artikel 59 Absatz 2 Satz 1 GG sichergestellt, daß die Länder einem Kompetenzverlust zu ihren Lasten widersprechen können. Gleiches gilt für die Inanspruchnahme des Artikels K.9 EUV, dem die Bundesländer gemäß Artikel 23 Absatz 1 Satz 3 GG i.V.m. Artikel 79 Absatz 2 GG mit Zweidrittelmehrheit zustimmen müssen200. Die Fortgeltung des Bundesstaatsprinzips ist damit weder durch völkerrechtliche Übereinkommen noch durch die Anwendung des Verfahrens nach Artikel 100 c EGV gefährdet, zumal die Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres inhaltlich auf die in Artikel Κ. 1 EUV aufgelisteten Bereiche beschränkt ist und damit von vornherein nur einen begrenzten Ausschnitt nationaler Justiz- und Innenpolitik betrifft. Die Wahrung der Rechte der Bundesländer wird zudem dadurch sichergestellt, daß bei Vorliegen der Voraussetzungen des Artikels 23 Absatz 6 GG die Entsendung eines Vertreters der Länder in den Rat, das entscheidende Beschlußorgan im Rahmen der Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres, vorgeschrieben ist 2 0 1 . Da die Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres die Möglichkeit der Ausübung von Hoheitsrechten durch staatliche Hoheitsträger nicht berührt, verbleibt die Möglichkeit der Gestaltung der Sozialpolitik in den Händen der deutschen Hoheitsträger, die damit die Verwirklichung sozialer Grundsätze unbeeinflußt durch Hoheitsrechte der Europäischen Union verwirklichen können. Die Verwirklichung sozialer Grundsätze im Sinne des Artikels 20 Absatz 1 GG ist damit durch die Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres nicht gefährdet. Mangels Übertragung von Hoheitsrechten ist auch das Rechtsstaatsprinzip innerstaatlich nicht gefährdet, da die nationalen Hoheitsträger, die allein Hoheitsrechte im Bereich der Justiz- und Innenpolitik ausüben, zur Beachtung der elementaren rechtsstaatlichen Garantien verpflichtet sind. Sofern im Rahmen der Zusammenarbeit völkerrechtliche Übereinkommen abgeschlossen werden, sichert das erforderliche Ratifikationsverfahren, daß die nationalen Hoheitsträ-

200

Siehe hierzu ausführlich oben S. 1030 ff.

201

Hierzu oben S. 153 ff.

II. Zusammenarbeit Justiz und Inneres

437

ger im Rahmen dieses Verfahrens das Übereinkommen daraufhin prüfen, ob es den innerstaatlichen Anforderung an die Sicherung rechtsstaatlicher Prinzipien genügt. Sofern diesbezüglich Zweifel bestehen, kann das Übereinkommen dem Bundesverfassungsgericht im Rahmen eines Normenkontrollverfahrens gemäß Artikel 93 Absatz 1 Nr. 2 GG vorgelegt werden 202 . Die Möglichkeit, im Rahmen des Ratifikationsverfahrens die vorgesehenen Regelungen im Hinblick darauf zu prüfen, daß bei ihrer Anwendung die innerstaatlich unerläßlichen rechtsstaatlichen Prinzipien gesichert sind, besteht auch im Fall der Inanspruchnahme des Artikels 100 c EGV. Da Hoheitsrechte im Bereich der Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres nicht übertragen worden sind, wird innerstaatlich auch die bestehende Gewaltenteilung ebenso wenig wie das System der checks and balances verändert noch die Bindung an Recht und Gesetz aufgehoben. Das Handeln und die Entscheidungen der nationalen Hoheitsträger unterliegen weiterhin uneingeschränkt gerichtlicher Kontrolle, und die fehlende Durchgriffswirkung der Entscheidungen im Rahmen der Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres bzw. die stets durch nationale Hoheitsträger erfolgende Durchführung dieser Entscheidungen führt dazu, daß innerstaatlich die Achtung der Grundund Menschenrechte gesichert ist. Die Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres gefährdet also die Gestalt und Struktur der Bundesrepublik Deutschland als eines demokratischen, bundesstaatlich organisierten, sozial- und rechtsstaatlichen sowie die Menschenwürde achtenden Staates im Sinne der Artikel 1 und 20 GG nicht. Der Fortbestand und die Fortgeltung der in Artikel 79 Absatz 3 GG geschützten elementaren Verfassungsprinzipien ist damit durch die Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres weder aufgehoben noch gefährdet.

b) Aufgabe der Staatlichkeit Die Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres darf schließlich weder zur Aufgabe der Staatlichkeit der Bundesrepublik Deutschland führen, noch darf die Gefahr eines solchen Verlustes bestehen. Es darf also weder die Gesamtheit der Hoheitsrechte noch eine Summe von Hoheitsrechten übertragen werden, die es der Europäischen Union ermöglichen, ihre Kompetenzen aus eigenem Recht auszuweiten. Wie auch im Bereich der GASP handelt es sich bei der Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres um eine intergouvernementale Zusammenar-

202

Ipsen, Jörn, Rn. 1117 ff. m.w.N.

43

C. Zulässigkeit der Hoheitsrechtsübertragungen des EUV

beit auf der Grundlage völkerrechtlicher Verträge. Sie ist durch die Mitgliedstaaten im Rahmen des EU-Vertrages begründet worden, die Mitgliedstaaten besitzen das alleinige Recht zur Entscheidung über die politischen Leitlinien, das Initiativrecht für alle Bereiche der Zusammenarbeit, sie treffen im Rat die Entscheidungen und besitzen die Außenvertretungskompetenz in internationalen Gremien. Darüber hinaus liegt auch die Ausführung der gemeinsamen Standpunkte und Maßnahmen in den Händen der Mitgliedstaaten. Die Evolutivklausel des Artikels K.9 EUV begründet die Gefahr der Aufgabe oder Gefährdung der Eigenstaatlichkeit der Mitgliedstaaten nicht, da die Möglichkeit der Anwendung des Verfahrens gemäß Artikel 100 c EGV auf ausgewählte und enumerativ aufgelistete Bereiche der nationalen Justiz- und Innenpolitik beschränkt ist. Zudem kann die Europäische Gemeinschaft entsprechende Kompetenzen nicht selbst begründen und ausüben, sondern ist darauf angewiesen, daß die Mitgliedstaaten im Rat einen entsprechenden Beschluß fassen und diesen entsprechend ihren verfassungsrechtlichen Vorschriften annehmen. Ebenso wie im Rahmen der GASP kann eine Änderung der völkerrechtlichen Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres nur im Rahmen des Verfahrens des Artikels Ν Absatz 1 EUV erfolgen 203 . Eine Änderung der Artikel Κ ff. EUV setzt damit eine völkerrechtliche Entscheidung der Mitgliedstaaten voraus, die der Ratifikation gemäß den verfassungsrechtlichen Vorschriften der Mitgliedstaaten bedarf. Die Europäische Union selbst kann also ebenso wenig wie die Gemeinschaftsorgane eine Änderung der vertraglichen Grundlagen der Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres vornehmen. Die Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres ist also als intergouvernementale Zusammenarbeit von den Mitgliedstaaten begründet worden, sie wird von diesen durchgeführt, und ihre vertraglichen Grundlagen können nur durch völkerrechtlichen Vertrag der Mitgliedstaaten geändert werden. Das Funktionieren der Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres ist damit vom Fortbestand der Mitgliedstaaten abhängig. Titel VI EUV geht also vom Fortbestand der Eigenstaatlichkeit der Mitgliedstaaten aus. Die Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres führt also weder zur Aufgabe der Staatlichkeit Deutschlands, noch begründet sie die Gefahr eines solchen Verlustes.

8. Ergebnis Die Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres verwirklicht föderative Grundsätze. Sie achtet sowohl die Eigenstaatlichkeit der Mitgliedstaaten

203

Zum Verfahren gemäß Artikel Ν Abs. 1 EUV ausführlich S. 404 ff.

II. Zusammenarbeit Justiz und Inneres

43

als auch vorhandene föderale Strukturen in den Mitgliedstaaten. Aufgrund ihres Charakters als intergouvernementale Zusammenarbeit geht in der 2. Säule die Initiative zu koordiniertem Handeln von den Mitgliedstaaten aus, die auch die Entscheidungen über gemeinsame Standpunkte und Maßnahmen sowie den Abschluß von Abkommen treffen, während Kommission und Europäisches Parlament nur beschränkte Mitwirkungsmöglichkeiten besitzen und an den Abstimmungen nicht beteiligt sind. Neben dem dadurch gesicherten Einfluß der Mitgliedstaaten in ihrer Gesamtheit besitzt auch jeder einzelne Mitgliedstaat maßgebliche Einflußnahmemöglichkeiten, denn im Rahmen der Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres gilt grundsätzlich das Einstimmigkeitsprinzip. Da die Regelungen betreffend die Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres grundsätzlich keine Auswirkungen auf die innerstaatliche Kompetenzverteilung haben, bleiben die Kompetenzen vorhandener föderaler Entscheidungsträger unberührt. Sofern Bereiche betroffen sind, die innerstaatlich in ihren Kompetenzbereich fallen, besteht unter den Voraussetzungen des Artikels 146 EGV die Möglichkeit der Teilnahme und Verhandlungsführung im Rat. Führt die Zusammenarbeit in der 2. Säule zum Abschluß völkerrechtlicher Übereinkommen oder zur Anwendung des Verfahrens des Artikels 100 c EGV, bedürfen diese der Annahme gemäß den verfassungsrechtlichen Vorschriften der Mitgliedstaaten mit der Folge, daß das erforderliche innerstaatliche Verfahren die Beteiligung vorhandener föderaler Entscheidungsträger sichert. Die Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres entspricht auch dem Erfordernis der Achtung demokratischer Grundsätze, denn die Mitgliedstaaten sind im Europäischen Rat und im Rat jeweils mit einem Vertreter repräsentiert, und die Entscheidungen werden grundsätzlich einstimmig, nach demokratischen Grundsätzen getroffen. Die demokratische Legitimation durch die Beteiligung der Unionsbürger erfolgt einerseits durch das auf Anhörungs- und Fragerechte beschränkte Europäische Parlament, vor allem aber durch die parlamentarische Kontrolle des Handelns der Regierungsvertreter im Rat durch die nationalen Parlamente sowie durch die Verfahren der Annahme von völkerrechtlichen Übereinkommen und Beschlüssen gemäß Artikel K.9 EUV entsprechend den jeweiligen verfassungsrechtlichen Vorschriften. Die 2. Säule der Europäischen Union erfüllt auch rechtsstaatliche Grundsätze. Zunächst kann eine Zuständigkeit des EuGH im Rahmen völkerrechtlicher Übereinkommen begründet werden, und der EuGH ist für Rechtsakte zuständig, die infolge der Inanspruchnahme des Artikels K.9 EUV als Gemeinschaftsrecht ergehen. Darüber hinaus bezieht sich der Ausschluß der Zuständigkeit des EuGH nur auf solche Beschlüsse, die keine unmittelbare Durchgriffswirkung entfalten, während der einzelne gegen die aufgrund solcher Beschlüsse erfolgenden nationalen Umsetzungsakte Rechtsschutz vor den nationalen Gerichten erlangen kann. Allerdings ist dies in den Bereichen der Justiz- und Innenpolitik, in denen sowohl Menschen· und Grundrechte als auch Grundfreiheiten betroffen sein können, deshalb problematisch, weil die einheitliche Auslegung und Anwendung der

4

C. Zulässigkeit der Hoheitsrechtsübertragungen des EUV

Beschlüsse nur durch eine Zuständigkeit des EuGH garantiert werden könnte. Da sich die Europäische Union zur Verwirklichung sozialer Wertvorstellungen bekannt hat und die Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres der Verwirklichung der Ziele der Europäischen Union dienen soll, ändert das Fehlen ausdrücklicher Regelungen sozialer Fragen nichts an der Verpflichtung zugunsten der Verwirklichung sozialer Grundsätze im Rahmen der Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres. Angesichts der Tatsache, daß Beschlüssen im Rahmen der 2. Säule keine unmittelbar grundrechtsrelevante Wirkung zukommt, ist das Bekenntnis zur Achtung der Grund- und Menschenrechte im Hinblick auf die Gewährleistung eines dem Grundgesetz im wesentlichen gleichkommenden Grundrechtsschutzes ausreichend. Die Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres erfüllt auch den Grundsatz der Subsidiarität, denn bereits ihre Ausgestaltung als lediglich völkerrechtliche Zusammenarbeit ist Ausdruck der Einschätzung, daß gemeinschaftsrechtliches Handeln nicht erforderlich ist. Da im Rahmen der Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres zunächst keine Hoheitsrechte übertragen wurden und die mögliche Übertragung im Rahmen von völkerrechtlichen Übereinkommen oder durch die Inanspruchnahme des Artikels K.9 EUV der Annahme gemäß den verfassungsrechtlichen Vorschriften der Mitgliedstaaten bedarf, sind die in Artikel 79 Absatz 3 GG geschützten grundlegenden Verfassungsprinzipien nicht gefährdet. Da die Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres zudem von den Mitgliedstaaten begründet und durchgeführt wird und nur durch völkerrechtlichen Vertrag der Mitgliedstaaten geändert werden kann, setzt diese den Fortbestand der Mitgliedstaaten zwingend voraus und hat somit nicht die Gefahr der Aufgabe deutscher Staatlichkeit zur Folge. Die Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres entspricht also allen Anforderungen, die das Grundgesetz für eine Mitwirkung an der Europäischen Union aufstellt.

I I I . Europäische Gemeinschaft Schließlich muß auch die Mitwirkung der Bundesrepublik Deutschland in der Europäischen Gemeinschaft den Vorgaben des Artikels 23 Absatz 1 Sätze 1 und 3 GG entsprechen. Die Europäische Gemeinschaft muß also, wie in Artikel 23 Absatz 1 Satz 1 GG gefordert, föderativen (1.), demokratischen (2.), rechtsstaatlichen (3.) und sozialen Grundsätzen (4.) verpflichtet sein, einen dem Grundgesetz im wesentlichen vergleichbaren Grundrechtsschutz gewährleisten (5.) und dem Grundsatz der Subsidiarität (6.) verwirklichen. Sie muß außerdem den Forderungen des Artikels 23 Absatz 1 Satz 3 GG entsprechen, also die durch Artikel 79 Absatz 3 GG geschützten Verfassungsprinzipien wahren und die deutsche Staatlichkeit achten (7.).

III. Europäische Gemeinschaft

441

1. Föderative Grundsätze Die Europäische Gemeinschaft muß gemäß Artikel 23 Absatz 1 Satz 1 GG föderativen Grundsätzen verpflichtet sein. Sie muß also die Eigenstaatlichkeit der Mitgliedstaaten achten (a) und die Verfassungsstrukturen der Mitgliedstaaten, insbesondere die in den Mitgliedstaaten vorhandenen föderalen Strukturen respektieren ( b ) 2 0 4 .

a) Eigenstaatlichkeit

der Mitgliedstaaten

Die Europäische Gemeinschaft muß die Eigenstaatlichkeit der Mitgliedstaaten achten. Diese grundgesetzliche Anforderung wäre dann verletzt, wenn die Europäische Gemeinschaft das eigenständige mitgliedstaatliche Handeln völlig oder weitgehend ablösen würde. Die Achtung der Eigenstaatlichkeit der Mitgliedstaaten setzt voraus, daß diese in der Europäischen Gemeinschaft hinreichende Einflußnahmemöglichkeiten besitzen und daß ihre Entscheidungsmöglichkeiten nicht durch von ihrem Willen unabhängige Entscheidungsfindungsstrukturen und -mechanismen abgelöst sind. Da die Mitgliedstaaten sowohl im Europäischen Rat als auch im Rat vertreten sind, ist zunächst fraglich, ob ihre dortigen Einflußmöglichkeiten ausreichen, um mitgliedstaatliche Handlungs-, Gestaltungs- und Einflußnahmemöglichkeiten zu garantieren, die der Vorgabe des Artikels 23 Absatz 1 Satz 1 GG entsprechen. Die Mitgliedstaaten haben in bezug auf die Europäische Gemeinschaft zunächst Einflußnahme- und Gestaltungsmöglichkeiten im Rahmen des Europäischen Rates. Sie sind dort durch ihre Staats- und Regierungschefs mit je einem Mitglied vertreten. Der Europäische Rat gibt, wie im Rahmen der GASP und der Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres, auch in bezug auf die Fortentwicklung der Europäischen Gemeinschaft die erforderlichen Impulse und beschließt die grundlegenden politischen Leitlinien und Grundsatzentscheidungen 205 . Der EG-Vertrag enthält über diese allgemeine Aufgabenstellung hinaus eine weitergehende konkrete Aufgabenzuweisung an den Europäischen Rat. Im Bereich der Wirtschaftspolitik der Europäischen Gemeinschaft erstellt zunächst der Rat gemäß Artikel 103 Absatz 2 EGV den Entwurf für die Grundzüge der Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten und der Europäischen Gemeinschaft und legt dem Europäischen Rat hierüber einen Bericht vor. Der Europäische Rat erörtert diesen Entwurf und beschließt auf seiner Grundlage

204

Siehe oben S. 109 ff.

205

Hilf/Pache,

Artikel D, Rn. 12, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), Kommentar zum EUV.

4

C. Zulässigkeit der Hoheitsrechtsübertragungen des EUV

eine Schlußfolgerung, die dem Rat nachfolgend als Ausgangspunkt für Empfehlungen an die Mitgliedstaaten dient. Die Mitgliedstaaten sind damit im Hinblick auf die Überwachung der Wirtschaftspolitiken in zweifacher Weise beteiligt. Der Rat, in dem die Mitgliedstaaten mit je einem Vertreter repräsentiert sind, erstellt als Fachgremium den Entwurf für die Grundzüge der Wirtschaftspolitiken. Da es sich bei dieser Entscheidung aber um einen politisch wichtigen und sensiblen Bereich handelt, wird die Entscheidung zusätzlich auch in dem Gremium beraten und entschieden, in dem die Mitgliedstaaten durch ihre höchsten politischen Repräsentanten vertreten sind 206 . Dies zeigt, daß der EG-Vertrag der Koordinierung und Überwachung der Wirtschaftspolitiken einen solch hohen politischen Rang zuerkennt, daß er die grundlegende Entscheidung im Hinblick auf die Ausrichtung der allgemeinen Wirtschaftspolitiken durch die Beteiligung und Beschlußfassung des Europäischen Rates mit der politischen Autorität der Regierungsoberhäupter der Mitgliedstaaten ausstattet 2 0 7 . Auch im Bereich der Währungspolitik werden Entscheidungen auf der Ebene der Staats- und Regierungschefs getroffen, um diese mit einer „gesteigerten" politischen Autorität auszustatten. So wählen und ernennen die Regierungen der Mitgliedstaaten durch ihre Staats- und Regierungschefs einvernehmlich sowohl den Präsidenten des E W I 2 0 8 als auch die Mitglieder des Direktoriums der E Z B 2 0 9 . Grund für die Ernennung durch die Regierungsoberhäupter der Mitgliedstaaten sind die Grundsätze der Amtsführung der so Ernannten, denn der EWI-Präsident wie auch die Direktoriumsmitglieder der EZB sind bei der Ausübung ihrer Ämter sowohl von den Mitgliedstaaten als auch den Gemeinschaftsorganen unabhängig210. Um diese Unabhängigkeit zu legitimieren und um die Amtsträger mit einer zusätzlichen Autorität auszustatten, sieht der EGVertrag nicht nur ihre einstimmige Ernennung, sondern auch eine Entscheidung durch die höchsten Regierungsvertreter der nationalen Regierungen vor. Artikel 109 a lit. b EGV und Artikel 109 f Absatz 1 Unterabsatz 2 EGV machen damit zweierlei deutlich: Erstens entscheiden über die Ernennung des EWIPräsidenten und der Direktoriumsmitglieder der EZB nicht Gemeinschaftsorgane, sondern die Regierungen der Mitgliedstaaten. Zweitens handelt es sich bei diesen Entscheidungen um politische Entscheidungen von solch herausragender

206

Seidel, Legal Framework, S. 13.

207

Nicolaysen, Europarecht II, S. 339; Kortz, S. 55.

208

Artikel 109 f Abs. 2 Satz 1 EGV.

209

Artikel 109 a Abs. 2 lit. b EGV.

210

Artikel 8 der Satzung des EWI; Artikel 7 der Satzung des ESZB und der EZB. Ausführlich unten S. 494 f.

III. Europäische Gemeinschaft

44

Bedeutung, daß sie einer Beschlußfassung durch die höchsten Regierungsvertreter der Mitgliedstaaten bedürfen. Daneben sieht der EG-Vertrag im Bereich der Währungspolitik auch Entscheidungen vor, die vom Gemeinschaftsorgan Rat getroffen werden, der lediglich in der Zusammensetzung der Staats- und Regierungschefs zusammenkommt. Gemäß Artikel 109 j Absätze 2 und 3 EGV beurteilt der Rat, ob die Mitgliedstaaten die Voraussetzungen für die Einführung einer einheitlichen Währung erfüllen und legt seine Beurteilung dem in der Zusammensetzung der Staats- und Regierungschefs tagenden Rat zur Entscheidung vor. Außerdem entscheidet gemäß Artikel 109 k Absatz 2 EGV der Rat in der Zusammensetzung der Staats- und Regierungschefs, welche der Mitgliedstaaten, für die eine Ausnahmeregelung gilt, die notwendigen Voraussetzungen für den Eintritt in die 3. Stufe erfüllen, so daß die Ausnahmeregelungen für den betreffenden Mitgliedstaat aufgehoben werden können. Die Entscheidungen werden durch die Staats- und Regierungschefs getroffen, weil in beiden Fällen eine politische Grundsatzentscheidung zu treffen ist, die mit der politischen Autorität der Regierungsoberhäupter, also der Staats- und Regierungschefs, ausgestattet werden soll 2 1 1 . Es handelt sich allerdings nicht um Entscheidungen des Europäischen Rates, sondern um solche des Rates i.S. des Artikels 145 EGV. Der durch den Wortlaut der Artikel 109 j und Artikel 109 k EGV zum Ausdruck kommende Wille, diese Entscheidungen nicht dem Europäischen Rat, sondern dem Gemeinschaftsorgan Rat zuzuweisen, kann weder unberücksichtigt bleiben noch nur als Formalismus 212 abgetan werden 213 . Es handelt sich anders als bei den Personalentscheidungen der Ernennung des EWI-Präsidenten bzw. der Direktoriumsmitglieder der EZB nicht um Entscheidungen der Regierungen der Mitgliedstaaten, sondern um Entscheidungen, die von Gemeinschaftsorganen getroffen werden. Die Mitgliedstaaten können also im Bereich der Europäischen Gemeinschaft durch Beschlüsse ihrer Staats- und Regierungschefs auf den Tagungen des Europäischen Rates zunächst allgemeine Zielvorstellungen entwickeln und politische Grundsatzentscheidungen treffen. Die Regierungen der Mitgliedstaaten besitzen damit die Möglichkeit zu politischer Impulsgebung sowie zur Festlegung allgemeiner Zielvorstellungen. Die Mitgliedstaaten besitzen darüber hinaus im Europäischen Rat für den Bereich der Wirtschaftspolitik die Möglichkeit zur Entscheidung über die Ausrichtung der allgemeinen Wirtschaftspolitik, und

211

Nicolaysen, Europarecht II, S. 382.

212

So aber Glaesner, EuR 1994, S. 26.

213

Hilf/Pache,

Artikel D, Rn. 38, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), Kommentar zum EUV.

4

C. Zulässigkeit der Hoheitsrechtsübertragungen des EUV

sie treffen durch ihre Regierungen im Bereich der Währungspolitik wichtige Personalentscheidungen. Im Rahmen der Europäischen Gemeinschaft sind die Mitgliedstaaten außerdem und vor allem im Rat vertreten. Gemäß Artikel 146 EGV besteht der Rat aus je einem Vertreter jedes Mitgliedstaates. Der Rat ist damit das die Mitgliedstaaten repräsentierende Gemeinschaftsorgan 214. Die Mitgliedstaaten haben die Möglichkeit, durch ihren Vertreter nationale Interessen und Standpunkte einzubringen. Um sicherzustellen, daß damit auch hinreichende Einflußnahmemöglichkeiten verbunden sind, muß der Rat über hinreichende Aufgaben und Einflußnahmemöglichkeiten verfugen, denn nur dies gewährleistet, daß Handlungs-, Gestaltungs- und Entscheidungsmöglichkeiten für die Mitgliedstaaten in ihrer Gesamtheit bestehen. Der Rat besitzt weitreichende Aufgaben. Er sorgt im Rahmen der Annäherung der Wirtschaftspolitiken der Mitgliedstaaten fur deren Abstimmung215. Er besitzt hierzu die Möglichkeit der Koordinierung und Überwachung der Wirtschaftspolitiken der Mitgliedstaaten sowie der Überwachung der öffentlichen Haushalte216. Der Rat wird im Rahmen des Stabilitäts- und Wachstumspaktes darüber entscheiden, ob Sanktionen gegen einen Mitgliedstaat verhängt werden, dessen öffentliches Defizit die Referenzwerte des Artikels 104 c Absatz 2 EGV überschreitet 217. Er hat insbesondere in Fragen der finanziellen und personellen Ausstattung der Europäischen Gemeinschaft eine herausragende Stellung, denn er leitet das Haushaltsverfahren ein 2 1 8 , er entscheidet über die obligatorischen Ausgaben der Europäischen Gemeinschaft, und er trägt die Verantwortung dafür, daß der Haushalt der Europäischen Gemeinschaft ausgeglichen ist 2 1 9 . Ebenfalls in der Hand des Rates liegen die Außenkompetenzen der Europäischen Gemeinschaft 220. Er beschließt ferner über die personelle Zusammenset-

214

Statt vieler Oppermann, Europarecht, Rn. 278.

215

Artikel 145 Spiegelstrich 1 EGV.

216

Siehe oben S. 234 ff.

217

Siehe oben S. 307 ff.

218

Artikel 203 Abs. 3 EGV.

219

Hierzu Hölscheidt, KritV 1994, S. 413.

220

Schweitzer/Hummer, S. 50. So etwa die Konzipierung einer gemeinsamen Handelspolitik, Artikel 113 Abs. 2 EGV, die Erteilung von Verhandlungsmandaten an die Kommission, Artikel 113 Abs. 3 EGV, den Abschluß von Abkommen mit Drittstaaten oder internationalen Organisationen, Artikel 228 EGV, und den Abschluß von Assoziierungsabkommen, Artikel 238 EGV.

III. Europäische Gemeinschaft

44

zung des Europäischen Rechnungshofes 221, des Wirtschafts- und Sozialausschusses222 und des Ausschusses der Regionen 223 . Darüber hinaus liegt insbesondere die Rechtsetzung der Europäischen Gemeinschaft wesentlich in den Händen des Rates 224 . Der Rat besitzt zwar grundsätzlich kein Initiativrecht, doch kann er die Kommission auffordern, nach seiner Ansicht zur Verwirklichung der gemeinsamen Ziele erforderliche Vorschläge zu unterbreiten 225. Er legt aufgrund von Vorschlägen der Kommission einen Standpunkt fest, der Grundlage des weiteren Rechtsetzungsverfahrens ist 2 2 6 . Die Einflußnahmemöglichkeiten des Europäischen Parlaments sind je nachdem, ob es sich um ein Vorhaben der Mitentscheidung oder der Zustimmung handelt, unterschiedlich ausgestaltet. Im Verfahren der Zusammenarbeit gemäß Artikel 189 c EGV besitzt der Rat das Letztentscheidungsrecht, da er den Rechtsakt durch einstimmigen Beschluß entgegen Änderungsvorschlägen des Europäische Parlaments verabschieden kann 227 . Im Verfahren der Mitwirkung gemäß Artikel 189 b EGV hat das Europäische Parlament hingegen ein Vetorecht 228 . Gleichwohl kommt dem Rat im Rechtsetzungsverfahren der Europäischen Gemeinschaft insgesamt eine entscheidende Rolle zu, denn das Europäische Parlament kann im Rahmen des Mitentscheidungsverfahrens die Verabschiedung eines Rechtsakt zwar verhindern. Es kann Rechtsaktsvorschläge aber nicht gegen den Willen des Rates durchsetzen. Der EG-Vertrag enthält kein Verfahren, in dem ein Rechtsakt gegen den Willen des Rates verabschiedet werden kann. Der Rat als das die Mitgliedstaaten repräsentierende Organ ist damit im Rechtsetzungsverfahren der Europäischen Gemeinschaft das letztentscheidende Organ 229 . Die Mitgliedstaaten haben dadurch in ihrer Gesamtheit entscheidenden Einfluß auf die Rechtsetzungstätigkeit der Europäischen Gemeinschaft.

221

Artikel 188 b Abs. 3 EGV.

222

Artikel 195 EGV.

223

Artikel 198 a Unterabsatz 3 EGV.

224

Klein, in: Hommelhoff/Kirchhof, S. 104; Jarass, S. 111; Everting, DVB1. 1993, S. 942; Baur, JA 1992, S. 66; Rabe, NJW 1993, S. 4; Mazan, S. 151; Bieber, in: Beutler/Bieber/Pipkorn/Streil, S. 126. 225

Artikel 152 EGV.

226

Artikel 189 b Abs. 2 Unterabsatz 2; Artikel 189 lit. a EGV.

227

Artikel 189 c lit. c EGV.

228

Artikel 189 b Abs. 6 EGV.

229

Grimm, JZ 1995, S. 582; Huber, S. 79; Schweitzer/Hummer, 1993, S. 1071.

S. 284; Zuleeg, JZ

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C. Zulässigkeit der Hoheitsrechtsübertragungen des EUV

Fraglich ist, ob die Mitgliedstaaten auch im Hinblick auf die durch den EUVertrag neu gestaltete Währungspolitik der Europäischen Gemeinschaft hinreichenden Einfluß besitzen. Dies ist insbesondere deshalbfraglich, weil bereits in der 2. Stufe, insbesondere aber in der 3. Stufe, neugeschaffene Einrichtungen Hoheitsrechte wahrnehmen. Die Achtung der Eigenstaatlichkeit der Mitgliedstaaten setzt jedoch voraus, daß auch im Bereich der Währungspolitik Einflußnahme- und Entscheidungsmöglichkeiten der Mitgliedstaaten bestehen. In der 2. Stufe übernimmt zunächst das EWI Aufgaben im Bereich der Währungspolitik. Es nimmt einerseits koordinierende Aufgaben wahr und trifft andererseits die regulativen, organisatorischen und logistischen Vorbereitungen für die 3. Stufe 230 . Es wird von einem Rat geleitet und verwaltet 231 . Mitglieder des EWI-Rates sind der EWI-Präsident und die Präsidenten der nationalen Zentralbanken aller Mitgliedstaaten. Im EWI-Rat ist also jeder Mitgliedstaat durch einen Vertreter repräsentiert. Damit verfugen die Mitgliedstaaten in Person der Präsidenten ihrer Zentralbanken über die Möglichkeit, ihre Interessen und Standpunkte einzubringen. Zudem wird der EWI-Präsident von den Regierungen der Mitgliedstaaten einvernehmlich ernannt. Die Gemeinschaftsorgane können in bezug auf seine Ernennung nur im Vorfeld und nur im Wege unverbindlicher Stellungnahmen Einfluß nehmen. Die Ernennung des EWIPräsidenten erfolgt auf Empfehlung des EWI-Rates und nach Anhörung des Europäischen Parlaments und des Rates 232 . Diese können jedoch eine anderslautende Entscheidung der Regierungen der Mitgliedstaaten nicht verhindern. Die Entscheidung über die Person des EWI-Präsidenten liegt folglich in den Händen der Mitgliedstaaten. Sie besitzen damit in bezug auf diese Personalentscheidung die maßgebliche Entscheidungskompetenz. Da das EWI in der 2. Stufe die Währungspolitik der Mitgliedstaaten lediglich unterstützt, sie aber nicht selbst durchführt, verbleibt die Gestaltung und Durchführung der Währungspolitik selbst zudem in den Händen der Mitgliedstaaten233. Sie führen diese mit Hilfe der bestehenden Formen völkerrechtlicher Zusammenarbeit in währungspolitischen Fragen durch 234 . Die Mitgliedstaaten haben damit in der 2. Stufe entscheidenden Einfluß auf die Gestaltung und Durchführung der Währungspolitik. Die Mitgliedstaaten besitzen auch in bezug auf den Eintritt in die 3. Stufe wesentliche Einflußnahme- und Entscheidungsmöglichkeiten. Der Rat als das

230

Siehe oben S. 293 ff.

231

Artikel 9.1 der Satzung des EWI.

232

Artikel 109 f Abs. 1 Unterabsatz 2 Satz 1 EGV.

233

Siehe oben S. 298 ff.

234

Siehe oben S. 300 f.

III. Europäische Gemeinschaft

44

die Mitgliedstaaten repräsentierende Organ faßt die entscheidenden Beschlüsse auf dem Weg in die 3. Stufe. Er beurteilt gemäß Artikel 109 j Absatz 2 EGV, ob die einzelnen Mitgliedstaaten die notwendigen Voraussetzungen für die Einführung des Euro erfüllen. Er entscheidet hierüber in der Zusammensetzung der Staats- und Regierungschefs 235. Die anderen Gemeinschaftsorgane sind demgegenüber nur im Vorfeld dieser Entscheidungen beteiligt. Kommission und EWI legen dem Rat Berichte darüber vor, inwieweit die Mitgliedstaaten die notwendigen Voraussetzungen für den Eintritt in die 3. Stufe erfüllen und geben jeweils eine Empfehlung für die Entscheidung des Rates a b 2 3 6 . Das Europäische Parlament wird vor der Entscheidung des Rates in der Zusammensetzung der Staats- und Regierungschefs angehört 237. Es hat über das Recht zur Anhörung hinaus keine Möglichkeit, die Entscheidung des Rates zu beeinflussen bzw. zu verhindern. Die anderen Gemeinschaftsorgane sind also auf unverbindliche Stellungnahmen beschränkt. Der Rat beschließt gemäß Artikel 109 1 Absatz 4 EGV weiterhin über die Umrechnungskurse, zu denen die nationalen Währungen durch den Euro ersetzt werden. Darüber hinaus nimmt der Rat Einfluß auf die Ausgestaltung des Instrumentariums des ESZB. So können die Regelungen über die Erhebung statistischer Daten, die Kosten der EZB und der nationalen Zentralbanken, der Offenmarkt- und Kreditgeschäfte sowie der Mindestreserven der in den Mitgliedstaaten niedergelassenen Kreditinstitute durch den Rat geändert werden 238 . Der Rat kann ferner die Regelungen der Satzung des ESZB und der EZB über Verrechnungs- und Zahlungssysteme, über Geschäfte mit dritten Ländern und internationalen Organisationen sowie die Jahresabschlüsse, die Verteilung der monetären Einkünfte der nationalen Zentralbanken sowie die der Verteilung der Nettogewinne und Verluste und betreffend das Personal ändern 239 . Zudem erläßt er unmittelbar nach der Entscheidung darüber, welche Mitgliedstaaten an der 3. Stufe teilnehmen werden 240 , die Satzung des ESZB und der EZB ergänzende Vorschriften 241. Auch in bezug auf die vom EWI vorzulegenden regulativen, organisatorischen und logistischen Arbeiten für den Eintritt in die 3. Stufe besitzen die Mitgliedstaaten Einflußnahme- und Entscheidungsmöglichkeiten. Über die 235

Artikel 109 j Abs. 4 EGV.

236

Artikel 109 j Abs. 1 und 2 EGV.

237

Artikel 109 j Abs. 2 Satz 2 EGV.

238

Artikel 106 Abs. 5 der Satzung des ESZB und der EZB.

239

Artikel 106 Abs. 5 der Satzung des ESZB und der EZB.

240

Artikel 106 Abs. 6 der Satzung des ESZB und der EZB.

241

Artikel 109 1 Abs. 1 Spiegelstrich 1 EGV.

C. Zulässigkeit der Hoheitsrechtsübertragungen des EUV

4

Empfehlungen des EWI im Hinblick auf den regulativen, organisatorischen und logistischen Rahmen für die Arbeit des E S Z B 2 4 2 wird die EZB unmittelbar nach ihrer Gründung zu entscheiden haben 243 . Die Vorlage einer solchen Empfehlung setzt voraus, daß diese zuvor im EWI-Rat einstimmig befürwortet worden ist 2 4 4 . Dies bedeutet, daß keines der 16 EWI-Ratsmitglieder gegen den Vorschlag stimmen darf 2 4 5 . In der Folge wird der Vorschlag, den das EWI der EZB zur Abstimmung unterbreitet, ungeachtet der Unabhängigkeit seiner Mitglieder die Interessen aller Mitgliedstaaten berücksichtigen246. Die Mitgliedstaaten haben damit in ihrer Gesamtheit auch ein Mitwirkungs- und Mitentscheidungsrecht bei der Ausarbeitung der ESZB-Statuten. Die Mitgliedstaaten müssen schließlich auch in der 3. Stufe der Währungsunion Einflußnahme- und Entscheidungsmöglichkeiten besitzen. In der 3. Stufe werden die Kompetenzen auf dem Gebiet der Währungspolitik vom ESZB wahrgenommen, das aus der EZB und den nationalen Zentralbanken der Mitgliedstaaten besteht247. Beschlußorgane der EZB sind der EZB-Rat und das Direktorium der E Z B 2 4 8 , wobei der EZB-Rat das zentrale Entscheidungsorgan des ESZB darstellt, während dem Direktorium der EZB zusammen mit den nationalen Zentralbanken die Ausführung der Beschlüsse des EZB-Rates obliegt 249 . Der EZB-Rat setzt sich aus dem Direktorium der EZB und den Präsidenten derjenigen Zentralbanken zusammen, deren Länder an der 3. Stufe teilnehmen. Zwar sind sowohl die Mitglieder des EZB-Rates als auch die nationalen Zentralbanken von den Mitgliedstaaten unabhängig250. Dies ändert jedoch nichts daran, daß die Mitgliedstaaten, die an der 3. Stufe teilnehmen, im EZB durch einen Vertreter repräsentiert sind, der Standpunkte und Meinungen einbringen kann, die mitgliedstaatliche Ansichten zu währungspolitischen Fragen widerspiegeln 251. Da die an der 3. Stufe teilnehmenden Mitgliedstaaten also jeweils durch die Präsidenten ihrer nationalen Zentralbanken vertreten sind, können durch diese ihre Interessen eingebracht werden. Die Präsidenten der nationalen Zentralbanken werden wie bisher entsprechend den jeweiligen natio242

Artikel 109 f Abs. 3 Unterabsatz 2 EGV.

243

Artikel 109 f Abs. 3 Satz 3 EGV.

244

Artikel 10.4 Unterabsatz 1 der Satzung des EWI.

245

Nölling, S. 191.

246

Nölling., S. 191.

247

Artikel 106 Abs. 1 EGV.

248

Artikel 106 Abs. 3 EGV

249

Siehe oben S. 350. Zusammenfassend auch Nölling, S. 192.

250

Artikel 107 Satz 1 EGV.

251

Lenz, NJW 1993, S. 1963.

III. Europäische Gemeinschaft

44

nalen Regelungen bestellt 252 , die Mitglieder des Direktoriums von den Regierungen der Mitgliedstaaten auf der Ebene der Staats- und Regierungschefs auf Empfehlung des Rates einvernehmlich ausgewählt und ernannt 253 . Wie bei der Ernennung des EWI-Präsidenten sind die anderen Gemeinschaftsorgane auf die Möglichkeit unverbindlicher Stellungnahmen beschränkt 254. Die Ernennung der Mitglieder des Direktoriums der EZB liegt damit in den Händen der Mitgliedstaaten. Sie sind also nicht nur durch die Präsidenten ihrer Zentralbanken im EZB-Rat vertreten, sondern sie treffen durch die Ernennung der Direktoriumsmitglieder auch die Personalentscheidung im Hinblick auf die Zusammensetzung des Direktoriums der EZB. Neben der Ernennung der Mitglieder des Direktoriums der EZB haben die Mitgliedstaaten durch ihre Zentralbankpräsidenten und ihre nationalen Zentralbanken zudem Einflußnahmemöglichkeiten auf das Handeln der EZB und damit auf die Durchführung der Währungspolitik. Durch die Beteiligung aller an der 3. Stufe teilnehmenden Mitgliedstaaten in Person ihrer Zentralbankpräsidenten im EZB-Rat wird sichergestellt, daß die unterschiedlichen geldpolitischen Instrumente, die bisher durch die nationalen Zentralbanken verwendet wurden, auch im Rahmen der gemeinschaftlichen Währungspolitik Berücksichtigung finden 255 . Diesem Zweck dient auch die Integration der nationalen Zentralbanken in das ESZB, denn soweit dies möglich und sachgerecht erscheint, werden diese bei der Durchführung der Geschäfte der EZB mit einbezogen256. Dies hat zum einen den Vorteil, daß in das Handeln der EZB die operativen Erfahrungen der nationalen Zentralbanken einfließen können und daß zum anderen die auf die nationalen Marktteilnehmer besonders abgestimmten Instrumentarien in geeigneten Fällen weiter genutzt werden können, um die Effizienz der europäischen Währungspolitik zu steigern 257. Dies gilt insbesondere für die Wahrnehmung solcher Aufgaben, die in der Satzung des ESZB und der EZB nicht bezeichnet werden, denn diese können von den nationalen Zentralbanken auf eigene Rechnung und damit in eigener Verantwortung wahrgenommen werden 2 5 8 . Neben dem EZB-Rat und dem Direktorium der EZB wird im Fall, daß nicht alle Mitgliedstaaten an der 3. Stufe teilnehmen, mit dem Erweiterten Rat ein 252

Gleske, S. 104.

253

Artikel 109 a Abs. 2 lit. b EGV.

254

Artikel 109 a Abs. 2 EGV.

255

Nölling, S. 179.

256

Gleske, Das künftige ESZB, S. 100.

257

EWI-Bericht, Die einheitliche Geldpolitik in Stufe 3, S. 15; Nölling, S. 179.

258

Artikel 14.4 der Satzung des ESZB und der EZB.

29 Uhrig

4

C. Zulässigkeit der Hoheitsrechtsübertragungen des EUV

drittes Entscheidungsorgan gebildet, in dem der Präsident und der Vizepräsident der EZB sowie die Zentralbankpräsidenten aller Mitgliedstaaten Sitz und Stimme haben 259 . In diesem Gremium sind also, unabhängig von der Teilnahme an der 3. Stufe, alle Mitgliedstaaten mit je einem Vertreter vertreten. Auch in diesem Gremium ist damit gewährleistet, daß die Mitgliedstaaten in ihrer Gesamtheit Einflußnahme- und Entscheidungsmöglichkeiten besitzen. Die Mitgliedstaaten besitzen darüber hinaus auch im Bereich der Wechselkurspolitik maßgebliche Einflußnahme- und Entscheidungsmöglichkeiten. Die Kompetenz zur Gestaltung der Wechselkurspolitik wird nämlich nicht vollumfänglich auf die EZB übertragen, sondern verbleibt in weiten Teilen dem Rat. Im Rahmen der Tätigkeit des Rates können die zuständigen Minister der Regierungen der Mitgliedstaaten in dem Bemühen, zu einem mit dem Ziel der Preisstabilität in Einklang stehenden Konsens zu gelangen, einstimmig Vereinbarungen über ein Wechselkurssystem gegenüber Drittlandswährungen treffen 260 . Ebenso kann der Rat über Leitkursänderungen gegenüber Drittwährungen entscheiden261. Bestehen solche Wechselkurssysteme nicht, so kann der Rat allgemeine Orientierungen für die Wechselkurspolitik gegenüber Drittlandswährungen aufstellen, wobei diese allgemeinen Orientierungen das vorrangige Ziel der Preisstabilität nicht gefährden dürfen 262 . Die Einflußnahmemöglichkeiten der anderen Gemeinschaftsorgane sind beschränkt. So können die EZB und die Kommission Empfehlungen aussprechen263, das Europäische Parlament ist anzuhören 264. Da die Einflußnahmemöglichkeiten der übrigen Organe der Gemeinschaft und der EZB damit auf unverbindliche Stellungnahmen und ein Anhörungsrecht beschränkt sind und dem Rat das alleinige Entscheidungsrecht zukommt, können die Mitgliedstaaten im Rat die Wechselkurspolitik gestalten. Die Mitgliedstaaten besitzen damit auch im Rahmen der Währungspolitik Entscheidungs- und Einflußnahmemöglichkeiten. Sie sind in den Einrichtungen, die durch den EG-Vertrag neu geschaffen wurden, durch Vertreter repräsentiert. Die Mitgliedstaaten treffen sowohl in der 2. als auch in der 3. Stufe der Währungsunion wesentliche Personalentscheidungen. Sie fuhren in der 2. Stufe im Rahmen völkerrechtlicher Zusammenarbeit die Währungspolitik durch, treffen die Entscheidungen über den Eintritt in die 3. Stufe und besitzen durch die

259

Artikel 45.2 der Satzung des ESZB und der EZB.

260

Artikel 109 Abs. 1 Satz 1 EGV.

261

Artikel 109 Abs. 1 Satz 2 EGV.

262

Artikel 109 Abs. 2 EGV.

263

Artikel 109 Abs. 1 Satz 1; Artikel 109 Abs. 2 Satz 1 EGV.

264

Artikel 109 Abs. 1 Satz 1 EGV.

III. Europäische Gemeinschaft

451

Kompetenz des Rates auf dem Gebiet der Wechselkurspolitik die Möglichkeit zur Gestaltung dieses Bereiches der Währungspolitik.

b) Achtung der Verfassungsstrukturen

der Mitgliedstaaten

Die Europäische Gemeinschaft muß neben der Eigenstaatlichkeit der Mitgliedstaaten auch die Verfassungsstrukturen der Mitgliedstaaten achten. Die Achtung der Verfassungsstrukturen der Mitgliedstaaten setzt voraus, daß die Europäische Gemeinschaft die föderalen Strukturen der Mitgliedstaaten zur Kenntnis nimmt und diesen Handlungsmöglichkeiten auf der Ebene der Europäischen Gemeinschaft einräumt 265 . Während die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft bislang nur die Zentralregierungen als Vertreter der Mitgliedstaaten bei Verhandlungen im Rat betrachtete 266 und eine auf der Ebene der Europäischen Gemeinschaft institutionalisierte Meinungsbildung der in den Mitgliedstaaten vorhandenen regionalen Einheiten nicht bestand, enthält der EG-Vertrag in Artikel 146 EGV erstmals eine Regelung, die die Einbindung der in den Mitgliedstaaten vorhandenen föderalen Strukturen in die Entscheidungsfindung des Rates der Europäischen Gemeinschaft ermöglicht (aa). Zudem wurde mit dem Ausschuß der Regionen eine Einrichtung für die föderalen Ebenen in den Mitgliedstaaten institutionalisiert (bb).

aa) Neufassung des Artikels 146 EG-Vertrag Erstes Mittel zur Berücksichtigung der nationalen Verfassungsstrukturen der Mitgliedstaaten ist die Möglichkeit einer geänderten Zusammensetzung des Rates. Während der die Zusammensetzung des Rates regelnde Artikel 146 E W G V 2 6 7 bisher lautete: Der Rat besteht aus Vertretern der Mitgliedstaaten. Jede Regierung entsendet eines ihrer Mitglieder heißt es nunmehr: Der Rat besteht aus je einem Vertreter jedes Mitgliedstaats auf Ministerebene, der befugt ist, tur die Regierung des Mitgliedstaats verbindlich zu handeln.

265

Siehe oben S. llOtf.

266

Artikel 146 EWGV.

267

Der ursprüngliche Wortlaut des Artikel 146 EWGV war durch Artikel 2 FuSVertrag geändert worden. Der FuS-Vertrag wird aufgehoben, Artikel Ρ Abs. 1 EUV. 29*

4

C. Zulässigkeit der Hoheitsrechtsübertragungen des EUV

Die auf Initiative der belgischen Regionen 268 zurückgehende Änderung des Artikels 146 EGV eröffnet die Möglichkeit, daß ein Mitgliedstaat im Rat durch einen Minister vertreten wird, der innerstaatlich einer Ebene unterhalb der Zentralregierung angehört. Damit erhält ein Vertreter einer unterhalb der Zentralebene des Mitgliedstaates bestehenden staatlichen Ebene die Möglichkeit zur Vertretung des Gesamtstaates269. Auf diese Weise kann sich die innerstaatliche Kompetenzverteilung eines Mitgliedstaates auch auf Gemeinschaftsebene widerspiegeln. Voraussetzung ist lediglich, daß es sich um den Vertreter einer innerstaatlichen Ebene mit Staatsqualität handelt, denn nur eine solche kann für den Mitgliedstaat verbindlich handeln 270 . Derzeit bestehen territoriale Einheiten unterhalb der Ebene des Gesamtstaates in Belgien, Deutschland und Österreich 271 . Der EG-Vertrag enthält neben der Möglichkeit der Vertretung des Gesamtstaates durch einen Vertreter unterhalb der Ebene des Zentralstaates keine Regelung, wie diese Vertretung innerstaatlich zu organisieren ist. Er überläßt es vielmehr den Mitgliedstaaten, wie sie die Regelung des Artikels 146 EGV innerstaatlich umsetzen272. Die innerstaatliche Umsetzung ist in Deutschland durch Artikel 23 Absatz 6 GG erfolgt mit der Folge, daß die Interessen der Bundesrepublik Deutschland im Rat der Europäischen Gemeinschaft nunmehr nicht mehr nur von dem zuständigen Bundesminister, sondern auch von einem Vertreter der Länder mit Ministerrang wahrgenommen werden können 273 . Aufgrund der Änderung des Artikels 146 EGV und des Artikels 23 Absatz 6 GG haben die Bundesländer somit unmittelbaren Zugang zum Rat, können selbst an Ratssitzungen teilnehmen, dort verbindlich für die Bundesrepublik Deutschland handeln und auf diesem Wege den Rechtsetzungsprozeß der Europäischen Gemeinschaft direkt beeinflussen. Durch die Änderung des Artikels 146 EGV werden die föderativen Strukturen der Mitgliedstaaten und die daraus folgende innerstaatliche Kompetenzverteilung erstmals von der Europäischen Gemeinschaft zur Kenntnis genommen und durch die Möglichkeit der für die Mitgliedstaaten verbindlichen Verhandlungsführung im Rat durch einen Vertreter dieser Ebenen anerkannt.

268

Baetge, BayVBl. 1992, S. 714.

269

Lang, S. 104; Glaesner, EuR 1994, S. 32.

27 0

Schweitzer/Hummer,

27 1

Konow, DÖV 1993, S. 406; Schweitzer/Hummer,

S. 47.

27 2

Glaesner, EuR 1994, Beiheft 1, S. 27.

273

Siehe oben S. 154 ff.

S. 47.

III. Europäische Gemeinschaft

4

bb) Ausschuß der Regionen Zweites Mittel zur Berücksichtigung der vorhandenen innerstaatlichen föderalen Strukturen in den Mitgliedstaaten ist der neu geschaffene Ausschuß der Regionen274. Mit seiner Errichtung 275 wird die Existenz von Entscheidungsebenen und Organisationseinheiten unterhalb der Ebene des Zentralstaates in den Mitgliedstaaten von Seiten der Europäischen Gemeinschaft anerkannt 276. Neben den Mitgliedstaaten spricht der EG-Vertrag territorialen Einheiten regionaler wie auch kommunaler Art erstmals vertraglich Mitsprache- und Gestaltungsrechte im Rahmen des Gemeinschaftsrechtsetzungsverfahrens z u 2 7 7 . Der Ausschuß der Regionen tritt an die Stelle des „Beirats der regionalen und lokalen Körperschaften" 278, der auf die Beratung der Kommission be-

274

Die Schaffung dieses Ausschusses entspricht auch den Forderungen der Bundesländer. hierzu etwa der Bericht der Arbeitsgruppe der Staats- und Senatskanzleien der Länder zum Thema "Europa der Regionen - Beteiligung der Länder an der interregionalen Zusammenarbeit sowie Fortentwicklung der Rechte und politischen Wirkungsmöglichkeiten der Regionen in Europa" vom 22.05.1990, Punkt VI, Bauer, Dokument 4. S. 53 ff. Gemäß Artikel 1 des "Abkommen über die Entsendung der Mitglieder und Stellvertreter im Ausschuß der Regionen der Europäischen Gemeinschaft" vom 27.05.1993, MinBlNW 1993, S. 1550, entsenden die Bundesländer pro Bundesland ein Mitglied, die Kommunalverbände stellen drei Mitglieder, die restlichen fünf Sitze werden zwischen den Bundesländern nach einem zeitlich rollierenden System verteilt, Kalbfleisch-Kottsieper, DÖV 1993, S. 548. 275

Der Ausschuß der Regionen trat am 09./10.03.1994 zu seiner konstituierenden Sitzung zusammen. Auf seiner 3. Plenarsitzung am 17./18.05.1994 gab er sich eine Geschäftsordnung, die vom Rat am 28.05.1994 genehmigt wurde, ABl. 1994 Nr. L 132 5. 49. 27 6

Pernice , DVBI. 1993, S. 916; Schede, S. 33; Blumenwitz, S. 10. Kirchhof sieht in der Einführung eines eigenständigen Regionalorgans einen Hinweis auf die Dreigliederung der EG, ders., HdbStR VII, § 183 Rn. 48. Fastenrath, EuR 1994, Beiheft 1, S. 115, warnt jedoch davor, den Ausschuß der Regionen zu einer dritten Kammer auszubauen, da dadurch das Handeln der EG weiter erschwert würde, ohne daß dadurch sichtbar eine Verbesserung der Rechtsetzung bewirkt würde, es drohe vielmehr die Durchsetzung von Partikularinteressen. 27 7 Hrbek, S. 135. Die Einrichtung des Ausschusses der Regionen ersetzt nicht die Regionalpolitik der EG, die das Ziel verfolgt, das wirtschaftliche Niveau der verschiedenen Regionen der Gemeinschaft aneinander anzugleichen, Schweitzer/Fixson, Jura 1992, S. 584. 278

Beschluß der Kommission vom 24.06.1988, ABl. 1988 Nr. L 247 S. 23. Der Beirat trat am 02./03.12.1993 zum letzten Mal zusammen und wurde durch Beschluß der Kommission vom 21.04.1994 aufgelöst, ABl. 1994 Nr. L 103 S. 28.

4

C. Zulässigkeit der Hoheitsrechtsübertragungen des EUV

schränkt w a r 2 7 9 und der von dieser in Fragen regionaler Entwicklung konsultiert wurde. Der Ausschuß der Regionen unterstützt demgegenüber, wie auch der Wirtschafts- und Sozialausschuß280, Kommission und Rat mit beratender Stimme 281 . Seine Mitglieder sind gemäß Artikel 198 a Unterabsatz 4 EGV bei der Ausübung ihres Mandats weisungsfrei, unabhängig und üben ihre Tätigkeit zum allgemeinen Wohl der Europäischen Gemeinschaft aus. Die Vertreter der regionalen und lokalen Gebietskörperschaften, die vom Rat auf Vorschlag des jeweiligen Mitgliedstaates für vier Jahre ernannt werden 282 , sollen in ihrer Eigenschaft als Repräsentanten regionaler oder lokaler Gebietskörperschaften deren Interessen einbringen, verfolgen und vertreten 283. Damit verbunden ist die Erwartung, daß spezifisch regionale Belange in das Rechtsetzungsverfahren der Europäischen Gemeinschaft eingebracht werden und eine Komponente in der für die Gemeinschaftsrechtsetzung typischen Kompromißlösung bilden 284 . Die Kompetenzen des Ausschusses beschränken sich auf Beratung und Anhörung 285 . Ein Entscheidungs- oder Vetorecht besitzt der Ausschuß nicht 286 .

27 9

Fischer, NwVBl. 1994, S. 161; Neßler, EuR 1994, S. 225.

280

Der Ausschuß der Regionen unterscheidet sich vom Wirtschafts- und Sozialausschuß dadurch, daß er ein Repräsentivorgan und kein „Organ der Interessenvertreter" ist, Wuermeling. EuR 1993, S. 199. 281 Bieber, in: Beutler/Bieber/Pipkorn/Streil, S. 155; Hrbek, S. 136. Glaesner, EuR 1994, Beiheft 1, S. 27, spricht ihm eine dem Wirtschafts- und Sozialausschuß vergleichbare Funktion im Rechtsetzungsverfahren der EG zu. 282

Artikel 198 a Unterabsatz 3 EGV.

283

Baetge, BayVBl. 1992, S. 713.

284

Pernice , DVB1. 1993, S. 917; Hrbek, S. 141. Gleichzeitig ist jedoch zu bedenken, daß Regionen im Sinne territorialer Einheiten unterhalb der Ebene der Nationalstaaten in den Mitgliedstaaten im Hinblick auf rechtlichen Status und politisches Gewicht in ganz unterschiedlicher Form existieren, Engel, Integration 1991, S. 10 ff.; Konow, DÖV 1993, S. 406; Schweitzer/Fixson, Jura 1992, S. 584. Neben Regionen, die als administrative Einheiten unterhalb der Staatsebene angesiedelt sind, gibt es rein funktionale Einheiten, wie etwa Agrarregionen, Montanregionen oder Grenzregionen, Haneklaus, DVB1. 1991, S. 296, Fn. 5. Daneben enthalten weder der EGV noch die im Zusammenhang mit dem EUV beschlossenen Protokolle und Erklärungen eine Definition der Begriffe „Region" bzw. „regionale und lokale Gebietskörperschaft". Zu bisher vorhandenen Definitionsversuchen Blanke, Artikel 198 a, Rn. 11 ff., in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), Kommentar zum EUV. Der Ausschuß besteht infolgedessen aus Repräsentanten eines breiten Spektrums regionaler und lokaler Einheiten und hat daher eine sehr heterogene Zusammensetzung, Fischer, NwVBl. 1994, S. 162; Hrbek, S. 146; Haneklaus, DVB1. 1991, S. 296; Wuermeling, EuR 1993, S. 200 f.; Pernice, DVB1. 1993, S. 918. 285 Schweitzer/Hummer, S. 90; Heinrichs, DÖV 1994, S. 375; Bohley, Aus Politik und Zeitgeschichte 28/1993, S. 39; Wuermeling, EuR 1993, S. 200.

III. Europäische Gemeinschaft

455

Ihm kommt weder ein Initiativrecht im Hinblick auf Gemeinschaftsrechtsakte zu, noch ist er am Verfahren der Mitentscheidung nach Artikel 189 b EGV oder der Zusammenarbeit nach Artikel 189 c EGV generell beteiligt 287 . Der EGVertrag sieht vielmehr vier Fallgruppen für die Abgabe einer Stellungnahme durch den Ausschuß vor, nämlich obligatorische, fakultative und akzessorische Stellungnahmen sowie eine Initiativstellungnahme288. Die Einholung einer Stellungnahme durch Rat und Kommission ist in folgenden Fällen obligatorisch: Entscheidungen über Fördermaßnahmen im Bereich der allgemeinen und beruflichen Bildung, der Kulturpolitik und des Gesundheitswesens, Entscheidungen bei der Festlegung von Leitlinien im Bereich des Auf- und Ausbaus transeuropäischer Netze, spezifischer Aktionen im Rahmen des Strukturfonds, bei der Errichtung eines Kohäsionsfonds sowie beim Erlaß der Durchführungsbestimmungen für den europäischen Fonds über regionale Entwicklung289. Die inhaltliche Berücksichtigung der Stellungnahme liegt im Ermessen von Rat und Kommission290. Dem Anhörungserfordernis ist Genüge getan, wenn entweder der Rat oder die Kommission die Vorlage eines Rechtsetzungsaktes dem Ausschuß der Regionen zur Stellungnahme zuleitet 291 . Rat und Kommission können zweitens die Stellungnahme des Ausschusses in den Fällen einholen, wenn sie dies für zweckmäßig erachten 292. Die Stellungnahme des Ausschusses für Regionen ist drittens in den Fällen einzuholen, in denen auch der Wirtschafts-

286

Baetge, BayVBl. 1992, S. 714.

287

Das Europäische Parlament hat zwar kein im EGV niedergelegtes Konsultativrecht, es hat jedoch seine Entschlossenheit bekräftigt, direkten und ständigen Kontakt zum Ausschuß der Regionen zu unterhalten, und darüber hinaus gefordert, daß die Berichte dieses Ausschusses auch ihm offiziell übermittelt und nicht nur Rat und Kommission zur Verfügung gestellt werden, Entschließung vom 18.11.1993, ABl. 1993 Nr. C 329 S. 279. 288

WueWieling,

EuR 1993, S. 202 f.

289

Auflistung bei Blanke, Artikel 198 c, Rn. 2, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), Kommentar zum EUV. 290

Fischer, NwVBl. 1994, S. 163, unter Rückgriff auf Hummer, Artikel 198, Rn. 3, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), Kommentar zum EUV. 291

Blanke, Artikel 198 c, Rn. 2, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), Kommentar zum EUV. Wird die Anhörung des Ausschusses nicht durchgeführt, stellt dies einen Verfahrensfehler dar, der zur Rechtswidrigkeit des ergangenen Rechtsaktes führt und unter den Voraussetzungen des Artikel 173 Abs. 2 EGV angefochten werden kann, Hummer, Artikel 198, Rn. 3, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), Kommentar zum EUV, in bezug auf die unterbliebene Anhörung des Wirtschafts- und Sozialausschusses. Der Ausschuß der Regionen besitzt allerdings kein eigenes Klagerecht, da er nicht zu den nach Artikel 173 EGV aufgeführten aktiv legitimierten Klägern zählt. 292

Artikel 198 c Unterabsatz 1 EGV.

C. Zulässigkeit der Hoheitsrechtsübertragungen des EUV

46

und Sozialausschuß gehört werden muß 2 9 3 . Der Ausschuß der Regionen kann dann, wenn er der Auffassung ist, daß spezifisch regionale Interessen durch das Rechtsetzungsvorhaben berührt werden, von sich aus Stellungnahmen abgeben 2 9 4 . Dies gilt etwa für Rahmenprogramme im Bereich Forschung und technologische Entwicklung oder Maßnahmen im Bereich der Umweltpolitik 295 . Schließlich kann der Ausschuß der Regionen, wenn er dies für zweckdienlich erachtet, von sich aus Stellungnahmen abgeben296. Dieses Recht zur Initiativstellungnahme erlaubt dem Ausschuß die Abgabe von Stellungnahmen auch unabhängig von einem konkreten Rechtsetzungsvorhaben297 und hinsichtlich sämtlicher rechtlicher und politischer Aktivitäten der Europäischen Gemeinschaft 298 . Damit verbunden ist die Erwartung, daß der Ausschuß der Regionen aufgrund des Selbstbefassungsrechts im Vorfeld konkreter Rechtsetzungsverfahren generell Einfluß auf die Tätigkeiten und die Rechtsetzung der Europäischen Gemeinschaft gewinnt 299 , die Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips anmahnen wird und sich unter Umständen sogar zum Vordenker für Reformen des Gemeinschaftsrechts entwickeln kann 3 0 0 . Mit dem Ausschuß der Regionen werden somit erstmals Einheiten und Strukturen unterhalb der Ebene der Zentralregierung der Mitgliedstaaten als weitere Ebene anerkannt, die Einfluß auf die Rechtsetzung der Europäischen Gemeinschaft nehmen kann. Dadurch werden die föderalen Strukturen in den Mitgliedstaaten aufgewertet. Die im Ausschuß der Regionen vertretenen Regionen und lokalen Gebietskörperschaften werden als Akteure im Rechtsetzungsprozeß der Europäischen Gemeinschaft anerkannt und verfügen durch das Recht zur Abgabe von Stellungnahmen erstmals über ein gemeinschaftsrechtliches Instrument, um sich aktiv in die Gemeinschaftsrechtsetzung einzuschalten und diese aus ihrer Interessenlage heraus zu beeinflussen 301.

293

Artikel 198 c Unterabsatz 3 EGV.

294

Artikel 198 c Unterabsatz 3 Satz 2 EGV.

295

Diese Beispiele nennt Hrbek, S. 142. Eine ausführliche Liste der Bereiche, in denen das Recht zur akzessorischen Stellungnahme gegeben ist, gibt Wuermeling, EuR 1993, S. 203. 296

Artikel 198 c Unterabsatz 4 EGV.

297

Hrbek, S. 142.

298

Blanke, Artikel 198 c, Rn. 11, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), Kommentar zum EUV.

299

Hilf, VVDStRL 53 (1994), S. 16; Baetge, BayVBl. 1992, S. 714.

300

Blanke, Vorb. Artikel 198a-198c, Rn. 17, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), Kommentar zum EUV. 301

Kommission, Funktionsweise des EUV, S. 15; Lecheler, Subsidiaritätsprinzip, S. \ \\\Mazan, S. 84.

III. Europäische Gemeinschaft

4

cc) Ergebnis Die Mitgliedstaaten besitzen im Rahmen der Europäischen Gemeinschaft Einflußnahme- und Entscheidungsmöglichkeiten. Sie sind im Europäischen Rat, im Rat, im EWI und in der EZB durch Vertreter repräsentiert, die die mitgliedstaatlichen Interessen und Standpunkte einbringen können. Sie geben durch ihre Staats- und Regierungschefs politische Impulse und legen Leitlinien über die grundsätzlichen Zielvorstellungen fest. Sie treffen wichtige Personalentscheidungen. Vor allem aber wird die Rechtsetzung der Europäischen Gemeinschaft als die wichtigste Form der Hoheitsrechtsausübung der Europäischen Gemeinschaft durch die Mitgliedstaaten bestimmt, da die Verabschiedung eines Rechtsaktes gegen den Willen des die Mitgliedstaaten repräsentierenden Rates nicht möglich ist. Im Bereich der Währungspolitik sind die Mitglieder des EZBRates zwar von den Mitgliedstaaten unabhängig. Die Präsidenten der nationalen Zentralbanken repräsentieren gleichwohl die sie entsendenden Mitgliedstaaten, so daß die Zusammensetzung des EZB-Rates sicherstellt, daß Standpunkte und Ansichten der Mitgliedstaaten eingebracht und berücksichtigt werden. Das Handeln und die Entscheidungsfindung der Europäischen Gemeinschaft wird somit maßgeblich durch die Mitgliedstaaten bestimmt. Von ihrem Willen unabhängige Entscheidungsfindungsstrukturen und -mechanismen bestehen somit nicht. Die Europäische Gemeinschaft achtet auch die Verfassungsstrukturen der Mitgliedstaaten. Die in den Mitgliedstaaten vorhandenen föderalen Strukturen werden im EG-Vertrag erstmals ausdrücklich zur Kenntnis genommen und erhalten die Möglichkeit der Einflußnahme auf den Rechtsetzungsprozeß der Europäischen Gemeinschaft. Dies geschieht zum einen durch die Änderung des Artikels 146 EGV, wonach nun auch Vertreter innerstaatlicher föderaler Ebenen durch einen Vertreter im Ministerrang die Möglichkeit der Verhandlungsteilnahme und Beschlußfassung im Rat mit Wirkung für ihren Gesamtstaat erhalten. Die Einflußnahme auf den Rechtsetzungsprozeß der Europäischen Gemeinschaft erfolgt zum anderen durch den neu geschaffenen Ausschuß der Regionen, der sich aus Vertretern regionaler und lokaler Gebietskörperschaften zusammensetzt und der Anhörungsrechte besitzt, die bewirken sollen, daß die Interessen innerstaatlicher Ebenen unterhalb der Ebene des Gesamtstaates Eingang in den Rechtsetzungsprozeß der Europäischen Gemeinschaft finden. Da die Europäische Gemeinschaft also aufgrund hinreichender Einfluß- und Entscheidungsmöglichkeiten der Mitgliedstaaten sowohl deren Eigenstaatlichkeit achtet als auch die Existenz föderaler Strukturen zur Kenntnis nimmt und diese am Rechtsetzungsprozeß beteiligt, ist die Europäische Gemeinschaft föderalen Grundsätzen im Sinne des Artikels 23 Absatz 1 Satz 1 GG verpflichtet.

C. Zulässigkeit der Hoheitsrechtsübertragungen des EUV

4

2. Demokratische Grundsätze Die Europäische Gemeinschaft muß gemäß Artikel 23 Absatz 1 Satz 1 GG außerdem demokratischen Grundsätzen verpflichtet sein. Dies setzt voraus, daß die Mitgliedstaaten in den für die Entscheidungen der Europäischen Gemeinschaft maßgeblichen Organen vertreten sind, die demokratisch besetzt sind und in denen Entscheidungen nach demokratischen Grundsätzen getroffen werden (a). Es bedeutet aber auch, daß das Handeln der Europäischen Gemeinschaft, soweit durch sie Hoheitsrechte ausgeübt werden, demokratisch legitimiert sein muß, daß also die Unionsbürger bzw. die durch sie gewählten Parlamente durch ihre Beteiligung das Handeln der Europäischen Gemeinschaft legitimieren (b)302.

a) Demokratische Legitimation durch die Mitgliedstaaten Die Verwirklichung demokratischer Grundsätze setzt zunächst voraus, daß Organe, in denen die Mitgliedstaaten vertreten sind, demokratisch besetzt sind, daß Entscheidungen nach demokratischen Grundsätzen getroffen werden und daß die Vertreter der Mitgliedstaaten für ihr Handeln demokratisch legitimiert sind. Der Rat ist in der Europäischen Gemeinschaft das die Mitgliedstaaten repräsentierende Organ 303 . Jeder Mitgliedstaat ist dort durch einen Vertreter vertreten 3 0 4 . Damit ist jeder Mitgliedstaat in der Lage, seine nationalen Interessen und Standpunkte in den Rat einzubringen mit der Folge, daß der Grundsatz gleichberechtigter Mitgliedschaft der Staaten, der allen Mitgliedstaaten eine Einflußnahme- und Entscheidungsmöglichkeit zugesteht305, erfüllt ist. Fraglich ist jedoch, ob die Entscheidungen im Rat nach demokratischen Grundsätzen getroffen werden. Zwar verfügt jeder Mitgliedstaat durch seinen Vertreter im Rat über Einflußnahmemöglichkeiten und Stimmrechte. Die Verwirklichung des Grundsatzes demokratischer Entscheidungsfindung ist aber deshalb fraglich, weil, anders als im Bereich der GASP und der Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres, Entscheidungen des Rates nicht notwendig einstimmig getroffen werden müssen. Der Rat entscheidet vielmehr im Rahmen der Europäischen Gemeinschaft grundsätzlich mit der Mehrheit seiner

302

Siehe oben S. 113 ff.

303

Siehe oben S. 387 f.

304

Artikel 146 EGV.

305

Siehe oben S. 398.

III. Europäische Gemeinschaft

4

Mitglieder 306 . Allerdings enthält der EG-Vertrag neben dem Grundsatz der Verabschiedung von Rechtsakten mit der Mehrheit der Mitglieder des Rates auch Regelungen, wonach Beschlüsse des Rates anderer Mehrheiten bedürfen. So fordert der EG-Vertrag für bestimmte Beschlüsse die Zustimmung der qualifizierten Mehrheit der Stimmen des Rates. Das Erfordernis der Zustimmung der qualifizierten Mehrheit der Stimmen des Rates gilt faktisch sogar für die zahlenmäßig meisten Ratsbeschlüsse307, denn der Rat muß sowohl im Mitentscheidungsverfahren gemäß Artikel 189 b EGV als auch im Verfahren der Zusammenarbeit gemäß Artikel 189 c EGV in der Regel mit der qualifizierten Mehrheit der Stimmen seiner Mitglieder über Rechtsaktsentwürfe entscheiden 3 0 8 . Außerdem fordert der EG-Vertrag auch weiterhin für bestimmte Beschlüsse eine einstimmige Entscheidung des Rates. Die Zustimmung aller Mitgliedstaaten ist etwa erforderlich bei der Inanspruchnahme der Verfahren gemäß Artikel 100 und 235 EGV, der Ergänzung des EG-Vertrages im Hinblick auf die sich aus der Unionsbürgerschaft ergebenden Rechte gemäß Artikel 8 e Absatz 2 EGV und dem Beschluß über den Entwurf für allgemeine unmittelbare Wahlen gemäß Artikel 138 Absatz 3 Unterabsatz 2 EGV. Darüber hinaus gilt das Einstimmigkeitserfordernis generell für alle Ratsbeschlüsse, mit denen der Rat einen Entwurf der Kommission für einen Rechtsakt ändern w i l l 3 0 9 . Es ist insofern festzuhalten, daß der EG-Vertrag zwar den Grundsatz aufstellt, daß Ratsentscheidungen mit der einfachen Mehrheit seiner Mitglieder gefaßt werden. Er enthält jedoch auch für zahlreiche Regelungsbereiche das Erfordernis der qualifizierten Mehrheit der Stimmen des Rates oder gar einer einstimmigén Entscheidung. In den Fällen, in denen der EG-Vertrag eine einstimmige Entscheidung fordert, ist sichergestellt, daß sowohl die Mitgliedstaaten in ihrer Gesamtheit als auch jeder einzelne Mitgliedstaat maßgeblich auf die Entscheidung des Rates Einfluß nehmen kann. Anders ist dies in bezug auf Entscheidungen, die mit der qualifizierten Mehrheit der Stimmen im Rat oder mit einfacher Mehrheit der Mitglieder des Rates zu treffen sind. Für solche Entscheidungen ist nicht in jedem Fall die Zustimmung aller Mitgliedstaaten erforderlich. Ein Rechtsakt kann in diesen Fällen ohne oder gegen die Zustimmung eines Mitgliedstaates zustande kommen. Anders als in der 1. und 2. Säule kann ein Mitgliedstaat im

306

Artikel 148 Abs. 1 EGV.

307

Schweitzer/Hummer,

308

Artikel 189 b Abs. 3; Artikel 189c lit. e EGV.

309

S. 51; Huber, S. 199.

Artikel 189 a Abs. 1 EGV. Eine Ausnahme gilt im Vermittlungsverfahren im Rahmen des MitentscheidungsVerfahrens gemäß Artikel 189 b Abs. 4 EGV. Für die Billigung des Entwurfes des Vermittlungsausschuß genügt gemäß Artikel 189 b Abs. 5 EGV die qualifizierte Mehrheit der Stimmen des Rates.

460

C. Zulässigkeit der Hoheitsrechtsübertragungen des EUV

Rahmen der Europäischen Gemeinschaft also durch seine Ablehnung nicht in jedem Fall die Verabschiedung eines Rechtsaktes verhindern. Es kann damit im Einzelfall zu einer Entscheidung ohne oder gegen den Willen eines Mitgliedstaates kommen. Die Forderung nach Verwirklichung demokratischer Grundsätze beinhaltet indes nicht, daß Entscheidungen des Rates notwendig stets einstimmig zustande kommen müssen. Zwar sichert die Notwendigkeit einer einstimmigen Entscheidung den Einfluß eines jeden Mitgliedstaates am effektivsten, da jeder Mitgliedstaat durch seine Ablehnung eine Entscheidung des Rates verhindern kann. Die Geltung des Einstimmigkeitsprinzips als durchgängiges Erfordernis setzte jedoch zwangsläufig den partikularen Willen der Mitgliedstaaten über den der Europäischen Gemeinschaft und stellte diese damit schon strukturell in Frage 310 . Es muß vielmehr lediglich gewährleistet sein, daß eine Entscheidung den Willen der Mehrheit der Mitgliedstaaten widerspiegelt 3 1 1 . Diese Voraussetzung ist für die Fälle, in denen qualifizierte Mehrheiten erforderlich sind, erfüllt. Gemäß Artikel 148 Absatz 2 Spiegelstrich 1 EGV sind für einen Beschluß, der die qualifizierte Mehrheit der Stimmen erfordert, in den Fällen, in denen die Ratsbeschlüsse auf Vorschlägen der Kommission beruhen, mindestens 62 Stimmen erforderlich 312. Die gemäß Artikel 148 Absatz 2 EGV erfolgende Gewichtung der Stimmen der Mitglieder hat zur Folge, daß diese 62 Stimmen auch im Fall, daß die Mitgliedstaaten mit den größten Stimmenkontingenten dem Vorschlag zustimmen, nur erreicht werden kann, wenn acht der fünfzehn Mitgliedstaaten dem Vorschlag zustimmen. In den Fällen, in denen über einen Entwurf abgestimmt werden soll, der nicht auf einem Vorschlag der Kommission beruht, bedarf es nicht nur dieser 62 Stimmen, sondern zusätzlich auch der Zustimmung von mindestens zehn Mitgliedern des Rates 313 . Damit ist sichergestellt, daß Beschlüssen, die der qualifizierten Mehrheit der Stimmen bedürfen, stets die Mehrheit der Mitgliedstaaten zugestimmt haben. Gleiches gilt im Hinblick auf die Entscheidungen, die gemäß Artikel 148 Absatz 1 EGV mit der Mehrheit der Mitglieder des Rates gefaßt werden müssen. Artikel 148

310 BVerfGE 89, S. 155, 183. Dies gilt auch vor dem Hintergrund, daß die Gemeinschaftsrechtsakte in den Mitgliedstaaten verbindlich sind, obgleich ihnen der nationale Vertreter im Rat nicht zugestimmt hat und ihnen im Hinblick auf die innerstaatliche Anwendung folglich keine demokratische Legitimation vermittelt hat. Huber, S. 41. 311

Siehe oben S. 115 f.

312

Im Kompromiß von Ioannina, ABl. 1994 Nr. C 105 S. 1, Neufassung ABl. 1995 Nr. C 1 S.l, verständigten sich die Mitgliedstaaten darüber hinaus darauf, daß in dem Fall, daß Mitgliedstaaten mit zusammen 23 bis 25 Stimmen die Absicht äußern, einem Votum des Rates nicht zuzustimmen, der Rat alles daransetzen wird, um innerhalb einer vernünftigen Frist eine zufriedenstellende Lösung herbeizuführen, die mit mindestens 65 Stimmen angenommen wird. 313

Artikel 148 Abs. 2 Spiegelstrich 2 EGV.

III. Europäische Gemeinschaft

41

Absatz 1 EGV stellt, anders als Artikel 148 Absatz 2 EGV, nicht auf die Mehrheit der Stimmen im Rat, sondern auf die Mehrheit der Mitglieder des Rates ab. Damit setzen Beschlüsse des Rates im Rahmen der Europäischen Gemeinschaft stets die Zustimmung der Mehrheit der Mitgliedstaaten voraus. Die Forderung, daß Entscheidungen in dem die Mitgliedstaaten repräsentierenden Organ nach demokratischen Grundsätzen getroffen werden, ist damit erfüllt. Fraglich ist weiterhin, ob die im Rat handelnden Vertreter der Mitgliedstaaten für die Entscheidungen im Rahmen der Europäischen Gemeinschaft eine hinreichende demokratische Legitimation besitzen. Die Mitglieder des Rates sind befugt, für die Regierung ihres Mitgliedstaates verbindlich zu handeln 314 . Die Beschlüsse des Rates sind folglich für die Mitgliedstaaten bindend. Ihnen kommt aufgrund der Hoheitsrechtsübertragungen an die Europäische Gemeinschaft Durchgriffswirkung in den Mitgliedstaaten mit der Folge zu, daß sie unmittelbar Rechtsfolgen auslösen können. Daher bedarf das Handeln der Vertreter der Mitgliedstaaten im Rat anders als das Handeln der Vertreter der Mitgliedstaaten im Rahmen der GASP und der Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres notwendigerweise einer hinreichenden demokratischen Legitimation. Die Vertreter der nationalen Regierungen beziehen demokratische Legitimation für ihr Handeln im Rat grundsätzlich 315 durch das der Bestellung der nationalen Regierungen zugrundeliegende Verfahren auf mitgliedstaatlicher Ebene 316 . Die Bestellung der Regierungen der Mitgliedstaaten erfolgt entweder durch die nationalen Parlamente, durch einen direkt gewählten Präsidenten oder einen Monarchen, der auf die Mehrheitsverhältnisse im Parlament Rücksicht nehmen muß 3 1 7 . Da die Regierungssysteme aller Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft zudem auf demokratischen Grundsätzen beruhen 318 und demokratische Strukturen aufweisen 319, sind die Vertreter der Mitgliedstaaten im Rat dadurch demokratisch legitimiert, daß sie Mitglieder der demokratisch

314

Artikel 146 EGV. Er ist damit anders strukturiert als die nationale Regierung eines Mitgliedstaates, die in der Regel von einem einheitlichen Gestaltungswillen getragen ist. 315 Zum Problem der Legitimierung und Kontrolle des vom Bundesrat benannten Vertreters der Länder siehe oben S. 160 f. 316

Tomuschat, EuR 1990, S. 351; MacCormick, JZ 1995, S. 779; Tsatsos, EuGRZ 1995, S. 291 ; Frowein, EuR 1995, S. 329. 317

Kluth, S. 86.

318

Artikel F Abs. 1 EUV. Das Bestehen eines demokratischen Regierungssystems ist Voraussetzungen für die Mitgliedschaft in der EG, Hilf, Artikel F, Rn. 12, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), Kommentar zum EUV. 319

Tomuschat, EuR 1990, S. 352; Oppermann/Classen, schichte 28/1993, S. 15; Classen , ZRP 1993, S. 99.

Aus Politik und Zeitge-

C. Zulässigkeit der Hoheitsrechtsübertragungen des EUV

46

legitimierten Regierung ihres Mitgliedstaates sind 320 . Insofern sind sie für ihr Handeln im Rat mittelbar demokratisch legitimiert 321 . Die Regierungen der Mitgliedstaaten sind aber nicht nur durch Wahlen oder Ernennungen demokratisch legitimiert. Sie sind vielmehr auch dadurch demokratisch legitimiert, daß sie hinsichtlich ihrer Regierungstätigkeit dem jeweiligen nationalen Parlament gegenüber verantwortlich sind 322 . Diese parlamentarische Kontrolle umfaßt auch das Handeln der Regierungsvertreter im Rat der Europäischen Gemeinschaft 323 . Auch bezüglich dieses Verhaltens können die nationalen Parlamente parlamentarische Kontrolle ausüben. Die Vertreter der Mitgliedstaaten sind somit als Vertreter der Regierungen durch das der Bestellung der Regierung zugrundeliegende Verfahren und aufgrund der parlamentarischen Kontrolle ihrer Regierungen durch die nationalen Parlamente mit hinreichender demokratischer Legitimation ausgestattet. Der Rat als das die Mitgliedstaaten repräsentierende Organ ist somit demokratisch besetzt, Entscheidungen werden nach demokratischen Grundsätzen getroffen, und die Mitglieder des Rates besitzen für ihr Handeln eine hinreichende demokratische Legitimation. Fraglich ist, ob die Verwirklichung demokratischer Grundsätze auch in dem durch den EG-Vertrag grundlegend neu geregelten Bereich der Währungspolitik gewährleistet ist. Durch die Änderungen des EG-Vertrages sind mit dem EWI und der EZB zwei neue Einrichtungen auf der Ebene der Europäischen Gemeinschaft geschaffen worden bzw. ist deren Schaffung vorgesehen, die im Bereich der Währungspolitik Aufgaben übernehmen, die in anderen Politikbereichen der Rat innehat. Insbesondere das EZB besitzt mit der Möglichkeit zum Erlaß von Verordnungen und Entscheidungen324 Handlungsbefugnisse, die in anderen Politikbereichen dem Rat zukommen. Zudem kann die EZB Sanktionen verhängen 3 2 5 . In den Organen, in denen im Bereich der Währungspolitik die Entscheidungen getroffen werden, müssen daher ebenfalls die Grundsätze verwirklicht sein, die mit der Forderung nach Verwirklichung demokratischer Grundsätze verbunden sind. Sowohl das EWI wie die EZB müssen folglich demokratisch besetzt sein, ihre Entscheidungen nach demokratischen Grundsätzen treffen, und die Vertreter der Mitgliedstaaten müssen demokratisch legitimiert sein.

320

Cremer, EuR 1995, S. 41; Mazan, S. 150; Kortz, S. 242.

321

Frowein, EuR 1995, S. 329; Oppermann/Classen, schichte 28/1993, S. 15; Grimm, JZ 1995, S. 582. 322

Aus Politik und Zeitge-

KlutK S. 86.

323

Schwarze, JZ 1993, S. 588; Steinberger, FS Helmrich, S. 432; Oppermann/ Classen , Aus Politik und Zeitgeschichte 28/1993, S. 15; Everling, in: Hommelhoff/ Kirchhof, S. 62. 324

Artikel 108 a EGV.

325

Artikel 34.3 der Satzung des ESZB und der EZB.

III. Europäische Gemeinschaft

4

Fraglich ist zunächst, ob das EWI demokratischen Grundsätzen entspricht. Das in der 2. Stufe errichtete EWI wird vom EWI-Rat geleitet und verwaltet 326 , dem neben dem EWI-Präsidenten die Präsidenten der nationalen Zentralbanken aller Mitgliedstaaten angehören 327. Die Mitgliedstaaten sind also mit je einem Vertreter im EWI-Rat vertreten 328. Der EWI-Rat ist folglich demokratisch besetzt, denn die Mitgliedstaaten können durch ihre Zentralbankpräsidenten nationale Interessen und Standpunkte in währungspolitischen Fragen einbringen und haben Einflußnahme- und Mitentscheidungsmöglichkeiten. Das Erfordernis der demokratischen Besetzung des EWI im Sinne der gleichberechtigten Teilnahme der Mitgliedstaaten329 ist damit erfüllt. Darüber hinaus müssen die Entscheidungen im EWI-Rat nach demokratischen Grundsätzen getroffen werden. Die Abstimmungsregeln sind im EWI-Rat je nach Entscheidungsgegenstand unterschiedlich. Für Entscheidungen im Zusammenhang mit den Vorbereitungen für die 3. Stufe, die Veröffentlichung von Stellungnahmen und Empfehlungen des EWI zur Durchführung der allgemeinen Orientierung in der Geld- und Wechselkurspolitik sowie die Entgegennahme von Währungsreserven und die Verleihung des Status eines „sonstigen Halters" von ECU ist eine einstimmige Entscheidung des EWI-Rates erforderlich 330. Bei diesen Entscheidungen hat also jeder Mitgliedstaat die Möglichkeit, Entscheidungen des EWI-Rates zu verhindern. Dies sichert nicht nur den Einfluß der Mitgliedstaaten in ihrer Gesamtheit, sondern hat überdies zur Folge, daß auch jeder Mitgliedstaat entscheidenden Einfluß auf die Entscheidungen besitzt. Darüber hinaus sieht Artikel 10.4 Unterabsatz 2 der Satzung des EWI Fälle vor, in denen für einen Beschluß des EWI die qualifizierte Mehrheit der Stimmen des EWI-Rates erforderlich ist. Es handelt sich dabei um Stellungnahmen und Empfehlungen zur allgemeinen Orientierung der Geld- und Wechselkurspolitik, Empfehlungen zur Durchführung der nationalen Währungspolitik, die Haltung und die Verwaltung nationaler Währungsreserven, das Verfahren der Einzahlung der Eigenmittel des EWI und die Liquidation der Vermögenswerte des EWI. In diesen Fällen ist der Einfluß der Mitgliedstaaten in ihrer Gesamtheit gesichert, denn ein Beschluß setzt voraus, daß mindestens 12 Mitglieder des EWI-Rates dem Beschluß zustimmen. Damit ist garantiert, daß die Mehrheit der Mitgliedstaaten dem Beschluß zugestimmt hat. Abgesehen von diesen Fällen entscheidet der EWI-Rat grundsätzlich mit einfacher Mehrheit. Da der EWI-Rat aus 16 Mitgliedern besteht, setzt die Annahme eines Vorschlags die Stimmen

326

Artikel 9.1 der Satzung des EWI.

327

Artikel 9.2 der Satzung des EWI.

328

Siehe oben S. 293.

329

Siehe oben S. 115.

330

Artikel 10.4 Unterabsatz 2 der Satzung des EWI.

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C. Zulässigkeit der Hoheitsrechtsübertragungen des EUV

von mindestens neun Mitgliedern voraus. Selbst wenn der EWI-Präsident für einen Vorschlag stimmt, sind also zudem die Stimmen von acht Zentralbankpräsidenten erforderlich, damit der Vorschlag angenommen werden kann. Einem Vorschlag müssen damit mindestens acht Mitgliedstaaten, also die Mehrheit der 15 Mitgliedstaaten zustimmen. Damit werden auch Entscheidungen, die der einfachen Mehrheit der Stimmen im EWI-Rat bedürfen, von der Mehrheit der Mitgliedstaaten getragen. Da für eine Entscheidung des EWI-Rates also stets der Wille der Mehrheit der Mitgliedstaaten maßgeblich ist, ist in bezug auf die Beschlüsse des EWI-Rates damit das Erfordernis, daß Entscheidungen nach demokratischen Grundsätzen getroffen werden müssen, ebenfalls erfüllt. Fraglich ist jedoch, ob die Mitglieder des EWI-Rates für ihr Handeln über eine ausreichende demokratische Legitimation verfügen. Diesbezüglich ist zwischen dem EWI-Präsidenten und den Präsidenten der nationalen Zentralbanken zu unterscheiden. Der Präsident des EWI wird durch den Rat auf der Ebene der Staats- und Regierungschefs einvernehmlich ernannt 331. Seiner Ernennung müssen folglich alle Mitgliedstaaten zustimmen. Aufgrund der mittelbaren demokratischen Legitimation, mit der der Rat ausgestattet ist, und der möglichen parlamentarischen Kontrolle des Handeln des Vertreters der Mitgliedstaaten im Rat durch die nationalen Parlamente erfolgt die Ernennung des EWI-Präsident damit durch einen demokratisch legitimierten Entscheidungsträger. Seine Ernennung entspricht also demokratischen Erfordernissen. Der EWIPräsident unterliegt jedoch, anders als etwa die Vertreter der Mitgliedstaaten im Rat, bei der Ausübung seines Amtes keiner demokratischen Kontrolle. Sein Handeln im Rahmen der Tätigkeit des E W I 3 3 2 unterliegt weder der Kontrolle durch den Rat noch durch das Europäische Parlament noch durch die nationalen Parlamente der Mitgliedstaaten. Er kann weder abgewählt noch beliebig aus seinem Amt entfernt werden. Die Gründe für eine Amtsenthebung sind vielmehr eng umgrenzt. Er kann lediglich dann seines Amtes enthoben werden, wenn er die Voraussetzungen für die Ausübung seines Amtes nicht mehr erfüllt oder eine schwere Verfehlung begangen hat. Das Antragsrecht für eine solche Amtsenthebung kommt lediglich dem EWI-Rat zu, die Amtsenthebung selbst erfolgt durch den EuGH 3 3 3 . Insofern unterliegt der Präsident des EWI im Hinblick auf die Ausübung seiner Tätigkeit keiner parlamentarischen Kontrolle. Die Ausübung seines Amtes ist damit angesichts der fehlenden parlamentarischen Kontrolle nur unzureichend demokratisch legitimiert.

331

Artikel 9.3 Satz 1 der Satzung des EWI.

332

Er ist Mitglied des EWI-Rates und damit bei dessen Beschlüssen stimmberechtigt, und hat darüber hinaus die in Artikel 9.5 der Satzung des EWI aufgelisteten Aufgaben zu erfüllen. 333

Artikel 9.7 der Satzung des EWI.

III. Europäische Gemeinschaft

4

Problematisch ist auch die demokratische Legitimation der Präsidenten der nationalen Zentralbanken für ihr Handeln im EWI-Rat. Sie werden entsprechend den nationalen Vorschriften in den Mitgliedstaaten bestimmt 334 . Dies sichert im Hinblick auf ihre Bestellung eine demokratische Legitimation. Sie unterliegen jedoch im Bezug auf ihr Handeln als Mitglieder des EWI-Rates, anders als die Vertreter der Mitgliedstaaten im Rat, bei der Ausübung ihres Amtes keiner demokratischen Kontrolle. In ihrer Funktion als Mitglieder des EWI-Rates sind sie nämlich unabhängig und handeln in eigener Verantwortung 335 . Sie dürfen bei der Wahrnehmung ihrer Aufgaben keinerlei Weisungen von den Organen oder Einrichtungen der Europäischen Gemeinschaft oder von nationalen Regierungen einholen oder entgegennehmen336. Dieser Verpflichtung der Mitglieder des EWI-Rates entspricht die korrespondierende Selbstverpflichtung der Organe und Einrichtungen der Europäischen Gemeinschaft sowie der Regierungen der Mitgliedstaaten, die Unabhängigkeit der Mitglieder des EWI-Rates zu beachten und nicht zu versuchen, den EWI-Rat bei der Wahrnehmung seiner Aufgaben zu beeinflussen 337. Damit haben weder der Rat noch das Europäische Parlament die Möglichkeit der Kontrolle der nationalen Zentralbankpräsidenten in ihrer Funktion als EWI-Ratsmitglieder. Auch die Mitgliedstaaten haben mit Ausnahme der Ernennung des jeweiligen Präsidenten ihrer nationalen Zentralbank keinen Einfluß auf das Handeln der Zentralbankpräsidenten im Rahmen des EWI-Rates. Es fehlt jedoch nicht nur an einer Kontrolle durch die Regierung. Es besteht auch keine Möglichkeit parlamentarischer Kontrolle durch die nationalen Parlamente. Auch diese können das Handeln der Zentralbankpräsidenten im Rahmen des EWI-Rates nicht kontrollieren, denn der Zentralbankpräsident unterliegt im Hinblick auf sein Handeln im EWI-Rat nicht der parlamentarischen Kontrolle durch die nationalen Parlamente. Die nationalen Parlamente können das Handeln der Zentralbankpräsidenten aber auch nicht mittelbar durch die parlamentarische Kontrolle der Regierung kontrollieren, denn der Zentralbankpräsident ist der nationalen Regierung gegenüber weder berichtspflichtig noch weisungsabhängig. Es besteht damit in bezug auf das Handeln der Präsidenten der nationalen Zentralbank im EWI-Rat keine demokratische Kontrolle. Die Amtsführung der nationalen Zentralbankpräsidenten ist angesichts der fehlenden parlamentarischen Kontrolle also nur unzureichend demokratisch legitimiert.

334

Gleske, S. 104. In der Bundesrepublik Deutschland wird der Zentralbankpräsident vom Bundespräsident auf Vorschlag der Bundesregierung nach Anhörung des Zentralbankrates bestellt, § 7 Abs. 3 Sätze 1 und 2 BBankG. 335

Artikel 8 Satz 1 der Satzung des EWI.

336

Artikel 8 Satz 2 der Satzung des EWI.

337

Artikel 8 Satz 3 der Satzung des EWI.

30 Uhrig

C. Zulässigkeit der Hoheitsrechtsübertragungen des EUV

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Der EWI-Rat ist damit zwar demokratisch besetzt und trifft seine Entscheidungen nach demokratischen Grundsätzen. Auch die Ernennung der Mitglieder des EWI-Rates entspricht demokratischen Grundsätzen, denn sie erfolgt durch demokratisch legitimierte Entscheidungsträger. Dem steht jedoch gegenüber, daß die Entscheidungen sowohl des Präsidenten des EWI-Rates wie der nationalen Zentralbankpräsidenten in ihrer Funktion als Mitglieder des EWI-Rates keiner demokratischen Kontrolle unterliegen mit der Folge, daß die EWIRatsmitglieder nicht über eine ausreichende demokratische Legitimation verfügen. Das EWI entspricht damit nur teilweise demokratischen Grundsätzen. Fraglich ist, ob in der 3. Stufe demokratische Grundsätze umfassend verwirklicht werden, oder ob auch in der Endstufe der Währungsunion, in der die währungspolitischen Kompetenzen auf die Europäische Gemeinschaft übertragen werden, Defizite im Hinblick auf die Verwirklichung demokratischer Grundsätze bestehen. Fraglich ist also, ob in bezug auf das ESZB demokratische Grundsätze verwirklicht werden. Da das ESZB aus der EZB und den nationalen Zentralbanken besteht 338 , müssen sowohl die EZB als auch die nationalen Zentralbanken demokratischen Grundsätzen entsprechen339. Zunächst muß die EZB demokratischen Grundsätzen verpflichtet sein. Dies setzt erstens voraus, daß sie demokratisch besetzt ist. Beschlußorgan der EZB ist der EZB-Rat, der aus dem Direktorium der EZB und den Präsidenten der nationalen Zentralbanken besteht340. Die Mitgliedstaaten, die an der 3. Stufe teilnehmen, sind auch im EZB-Rat mit je einem Vertreter, nämlich dem Präsidenten der nationalen Zentralbank, vertreten. Damit besteht die Möglichkeit, daß jeder Mitgliedstaat seine Interessen und Standpunkte auf währungspolitischem Gebiet in den EZB-Rat einbringen kann. Das Erfordernis demokratischer Besetzung des EZB-Rates ist insoweit erfüllt. Fraglich ist, ob demokratische Grundsätze auch in bezug auf die Beschlußfassung im EZB-Rat verwirklicht sind. Im EZB-Rat werden die Beschlüsse grundsätzlich mit einfacher Mehrheit gefaßt, wobei jedes Mitglied des EZBRates über ein Stimme verfügt 341 . Bei Stimmengleichheit gibt das Votum des Präsidenten den Ausschlag342. Dem EZB-Rat werden bei der Teilnahme aller 15 Staaten an der 3. Stufe die 15 Präsidenten der nationalen Zentralbanken

338

Artikel 1.2 der Satzung des ESZB und der EZB.

339

Zur den Defiziten der demokratischen Legitimation der deutschen Bundesbank und zu deren verfassungsrechtlicher Rechtfertigung ausführlich Brosius-Gersdorf, S. 228 ff. m.w.N. 340

Artikel 10.1 der Satzung des ESZB und der EZB.

341

Artikel 10.2 Unterabsatz 2 Satz 1 und 2 der Satzung des ESZB und der EZB.

342

Artikel 10.2 Unterabsatz 2 Satz 3 der Satzung des ESZB und der EZB.

III. Europäische Gemeinschaft

4

sowie ein sechsköpfiges Direktorium, also insgesamt 21 Personen, angehören. Die einfache Mehrheit der Stimmen ist erreicht, wenn elf Mitglieder des EZBRates für den Vorschlag stimmen. Wenn alle sechs Mitglieder des Direktoriums ihre Stimme einheitlich abgeben, kann damit im EZB-Rat ein Beschluß bereits dann gefaßt werden, wenn lediglich fünf Präsidenten nationaler Zentralbanken, und damit lediglich ein Drittel der Mitgliedstaaten, dem Entwurf zustimmen. Aufgrund der Stimmen der Mitglieder des Direktoriums kann somit der Fall eintreten, daß ein Beschluß des EZB-Rates nicht die Mehrheit der Stimmen der Mitgliedstaaten widerspiegelt. Die Entscheidungen im EZB-Rat geben folglich nicht notwendig den Willen der Mehrheit der Mitgliedstaaten wider. Dies gilt auch bei Beschlüssen, die die Kapitalausstattung der EZB betreffen, in denen über die Gewinnverteilung der EZB entschieden wird oder die die Währungsreserven der nationalen Zentralbanken betreffen. Bei diesen Beschlüssen werden die Stimmen im EZB-Rat nicht nach Köpfen, sondern nach dem Anteil der nationalen Zentralbanken am gezeichneten Kapital der EZB gewogen, wobei die Stimmen der Mitglieder des Direktoriums bei solchen Abstimmungen mit Null gewogen werden 343 . Dies bedeutet, daß die Mitgliedstaaten nicht jeweils über eine Stimme verfügen, sondern daß die bevölkerungsreichsten und wirtschaftlich leistungsstarken Mitgliedstaaten ein größeres Gewicht bei den Abstimmungen besitzen344. Dies ist zwar mit Blick auf die Abstimmungsgegenstände sinnvoll, denn diese betreffen sämtlich das Kapital der EZB, und die Abstimmungsmodalität der Abstimmung nach Kapitalanteilen spiegelt den Anteil der Kapitaleigner am Gesamtkapital der EZB wider 345 . Die Abstimmung nach Kapitalanteilen entspricht aber nicht den Erfordernissen demokratischer Grundsätze, denn die so ergehenden Beschlüsse beinhalten nicht notwendig, daß die Mehrheit der Mitgliedstaaten dem Beschluß zugestimmt hat. Dies ist lediglich in den Fällen des Artikels 10.3 der Satzung des ESZB und der EZB gewährleistet, in denen Beschlüsse, die nach Kapitalanteilen getroffen werden, der qualifizierten Mehrheit der Stimmen bedürfen. Sie gelten erst dann als angenommen, wenn die abgegebenen Ja-Stimmen mindestens zwei Drittel des gezeichneten Kapitals der EZB und mindestens die Hälfte der Anteilseigner vertreten 346. In diesen Fällen entspricht ein Beschluß gemäß

343

Artikel 10.3 der Satzung des ESZB und der EZB.

344

Der Schlüssel der Kapitalzeichnung ergibt sich aus dem Anteil eines jeden Mitgliedstaates an der Gesamtbevölkerung und seinem Anteil am Bruttoinlandsprodukt der EG, Artikel 29.1 der Satzung des ESZB und der EZB. 345 Der Grundsatz, daß Stimmrechte entsprechend dem Anteil am Gesamtkapital ausgeübt werden, gilt bei anderen internationalen Finanzorganisationen regelmäßig, Hahn/Siebelt, F I, Rn. 73, in: Dauses; Potacs, EuR 1993, S. 32. 346

30*

Artikel 10.3 Satz 3 der Satzung des ESZB und der EZB.

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C. Zulässigkeit der Hoheitsrechtsübertragungen des EUV

Artikel 10.3 der Satzung des ESZB und der EZB den Anforderungen, die an eine nach demokratischen Grundsätzen zu treffende Entscheidung zu stellen sind, denn er spiegelt auch den Willen der Mehrheit der Mitgliedstaaten wider. Im übrigen ist dies aber bei Abstimmungen nach Kapitalanteilen nicht gewährleistet. Damit besteht sowohl bei Entscheidungen, bei denen nach Köpfen, als auch bei solchen, bei denen nach Kapitalanteilen abgestimmt wird, die Möglichkeit, daß die Entscheidung des EZB-Rates nicht den Willen der Mehrheit der Mitgliedstaaten widerspiegelt. Die Beschlußfassung des EZB-Rates entspricht damit nicht uneingeschränkt den Erfordernissen demokratischer Entscheidungsfindung. Problematisch ist außerdem, ob die Mitglieder des EZB-Rates für ihr Handeln über eine ausreichende demokratische Legitimation verfügen. Die Mitglieder des Direktoriums werden, wie der EWI-Präsident, von den Staats- und Regierungschefs einvernehmlich ausgewählt347. Ihrer Ernennung müssen folglich alle Mitgliedstaaten zustimmen. Aufgrund der mittelbaren demokratischen Legitimation, mit der der Rat ausgestattet ist 3 4 8 , erfolgt die Ernennung der Direktoriumsmitglieder der EZB damit durch einen demokratisch legitimierten Entscheidungsträger. Gleiches gilt auch für die Präsidenten der nationalen Zentralbanken, die nach den nationalen Vorschriften der Mitgliedstaaten ernannt werden 349 . Die Ernennung der Mitglieder des EZB-Rates entspricht damit demokratischen Erfordernissen. Fraglich ist jedoch, ob sie im Hinblick auf die Ausübung ihrer Kompetenzen im EZB-Rat hinreichend demokratisch legitimiert sind. Sowohl die Direktoriumsmitglieder wie die Präsidenten der nationalen Zentralbanken sind im Hinblick auf ihr Handeln im EZB-Rat unabhängig. Sie dürfen keine Weisungen von Organen oder Einrichtungen der Europäischen Gemeinschaft, der Mitgliedstaaten oder anderen Stellen einholen oder entgegennehmen350. Korrespondierend haben sich die Organe und Einrichtungen der Europäischen Gemeinschaft wie auch die Regierungen der Mitgliedstaaten verpflichtet, nicht zu versuchen, die Mitglieder der Beschlußorgane der EZB bei der Wahrnehmung ihrer Aufgaben zu beeinflussen 351. Die persönliche Unabhängigkeit der Mitglieder des EZB-Rates wird dadurch unterstrichen, daß sie ihr Amt während einer langen Amtszeit ausüben352 und die Gründe für eine

347

Artikel 11.2 der Satzung des ESZB und der EZB.

348

Siehe oben S. 461 f.

349

Die Ernennung des Präsidenten der Bundesbank erfolgt gemäß § 7 Abs. 3 Sätze 1 und 2 BBankG. 350

Artikel 107 Satz 2 EGV.

351

Artikel 107 Satz 3 EGV.

352

Artikel 11.2 Unterabsatz 2; Artikel 14.2 der Satzung des ESZB und der EZB.

III. Europäische Gemeinschaft

4

Amtsenthebung auf die Fälle beschränkt sind, daß sie die Voraussetzungen für die Ausübung ihres Amtes nicht mehr erfüllen und daß sie eine schwere Verfehlung begangen haben 353 . Ein Amtsenthebungsverfahren gegen ein Mitglied des Direktoriums kann zudem weder von den Gemeinschaftsorganen noch den Mitgliedstaaten, sondern nur auf Antrag des EZB-Rates oder des Direktoriums eingeleitet werden. Die Mitglieder des EZB-Rates sind in bezug auf die Ausübung ihres Amtes weder dem Rat noch dem Europäischen Parlament noch den nationalen Parlamenten gegenüber verantwortlich 354. Die nationalen Parlamente können das Handeln der nationalen Zentralbankpräsidenten im EZB-Rat auch nicht mittelbar über die Kontrolle der Regierung kontrollieren, denn der jeweilige Zentralbankpräsident untersteht nicht der Regierung und ist dieser gegenüber weder berichtspflichtig noch weisungsabhängig. Die Mitglieder des EZB-Rates unterliegen damit im Hinblick auf die Ausübung ihrer Tätigkeit im EZB-Rat weder einer Kontrolle durch die Gemeinschaftsorgane noch einer parlamentarischen Kontrolle durch das Europäische Parlament oder die nationalen Parlamente. Auch die nationalen Zentralbanken, die integraler Bestandteil des ESZB sind, sind unabhängig. Auch sie sind von den nationalen Regierungen unabhängig und dürfen weder Weisungen einholen noch entgegennehmen355. Zur Sicherung der unabhängigen Stellung der nationalen Zentralbanken haben die Mitgliedstaaten sicherzustellen, daß die innerstaatlichen Rechtsvorschriften in bezug auf die nationalen Zentralbanken so geändert werden, daß diese einen unabhängigen Status erhalten 356 . Die nationalen Zentralbanken sind folglich nicht mehr den nationalen Regierungen oder Parlamenten verantwortlich, sondern unterstehen allein den Weisungen der ihrerseits unabhängigen Zentralbank 357 . Damit unterliegen auch die nationalen Zentralbanken weder der Kontrolle der Gemeinschaftsorgane noch der nationalen Regierung noch einer parlamentarischen Kontrolle durch ihre nationalen Parlamente. In der 3. Stufe ist also das Beschlußorgan des ESZB, der EZB-Rat, demokratisch besetzt. Die Entscheidungen im EZB-Rat werden jedoch nicht notwendigerweise nach demokratischen Grundsätzen getroffen. Zwar entscheidet der EZB-Rat grundsätzlich mit der Mehrheit der Stimmen. Durch die Stimmen der Mitglieder des Direktoriums kann ein Beschluß jedoch auch gefaßt werden, wenn er lediglich von einer Minderheit der Mitgliedstaaten unterstützt wird.

353

Artikel 11.4; Artikel 14.2 der Satzung des ESZB und der EZB.

354

Gleske, Das künftige ESZB, S. 111.

355

Artikel 107 Satz 1 EGV.

356

Artikel 108 EGV.

357

Artikel 14.3 Satz 2 der Satzung des ESZB und der EZB.

4

C. Zulässigkeit der Hoheitsrechtsübertragungen des EUV

Zusätzlich besteht bei den Beschlüssen im EZB-Rat, bei denen entsprechend der Kapitalanteile der Mitgliedstaaten abgestimmt wird, nicht in jedem Fall die Gewähr, daß ein Beschluß die Zustimmung der Mehrheit der Mitgliedstaaten widerspiegelt. Zudem entspricht die EZB auch insofern nicht demokratischen Grundsätzen, als sowohl das Direktorium der EZB, die Präsidenten der nationalen Zentralbanken wie auch die nationalen Zentralbanken keiner demokratischen Kontrolle unterliegen. Im ESZB sind also sowohl im Hinblick auf die EZB wie auf die nationalen Zentralbanken demokratische Grundsätze nur teilweise verwirklicht. Die Schaffung einer von den Organen der Europäischen Gemeinschaft und der Mitgliedstaaten unabhängigen Einrichtung führt dazu, daß die Verwirklichung demokratischer Grundsätze im Sinne des Artikels 23 Absatz 1 Satz 1 GG nicht uneingeschränkt gewährleistet ist. Diese Einschränkung der Verwirklichung demokratischer Grundsätze könnte jedoch gerechtfertigt sein. Vorrangiges Ziel der EZB ist die Gewährleistung der Preisstabilität 358. Dieses Ziel kann die EZB nur erreichen, wenn sie über eine unabhängige Stellung verfügt. Die EZB kann dieses Ziel nur erreichen, wenn das Währungswesen dem Zugriff von Interessengruppen und an einer Wiederwahl interessierter Mandatsträger entzogen wird 3 5 9 . Nur wenn die geldpolitische Kompetenz allein in den Händen der EZB liegt, können langwierige Entscheidungsprozesse vermieden werden, die stets die Gefahr der Vermischung geldpolitischer mit sachfremden Erwägungen und den Einfluß tagespolitischer Ereignisse beinhalten. Eine unabhängige Zentralbank kann folglich eine stabile Währung und damit die allgemeine ökonomische Grundlage sowohl der staatlichen Haushaltspolitik als auch privater Planungen und Dispositionen eher sichern als eine Einrichtung, die auf die kurzfristige Zustimmung politischer Kräfte angewiesen ist 3 6 0 . Diese Einschätzung und Erkenntnis war bereits Grund für die Unabhängigkeit der Bundesbank. So formulierte schon die Begründung des Regierungsentwurfs zum Bundesbankgesetz: Gerade weil (...) die Stabilhaltung unserer (...) Währung (...) wesentlich von den Entscheidungen der Währungsbank über die richtige Dosierung der Geldmenge abhängt, dürfen diese Entscheidungen nicht unter Anweisung irgendeiner Stelle stehen, die an einer der Währungspolitik gegenläufigen Entwicklung des Geldvolumens aus irgendwelchen Gründen interessiert sein könnte. 361 Die schon im Grundgesetz anerkannte Sachaufgabe der Geldwertstabilität, die verfassungsrechtliche Zielvorgabe für das Handeln der Deutschen Bundes-

358

Artikel 105 Abs. 1 Satz 1 EGV.

359

Kirchhof

360

BVerfGE 89, S. 155, 208 f.

361

BT-Dr. 2/2781, S. 24 f.

in: Hommelhof/Kirchhof, S. 20.

III. Europäische Gemeinschaft

41

bank ist, führte dazu, daß der generelle Vorrang demokratischer Legitimation und Kontrolle in bezug auf die Bundesbank zurückgestellt wurde. Die Handlungsbefugnisse und Kontrollmöglichkeiten demokratischer Kontrollorgane wurden im Hinblick auf die Deutsche Bundesbank mit Blick auf deren vorrangiges Ziel der Gewährleistung der Währungsstabilität zurückgestellt, um der Bundesbank ein unabhängiges Handeln, welches ausschließlich diesem Ziel verpflichtet ist, zu ermöglichen 362. Aus diesem Grund werden in bezug auf die Bundesbank Einschränkungen des Prinzips der demokratischen Kontrolle und Verantwortlichkeit gegenüber dem Bundestag als hinnehmbar angesehen363. Die besondere Bedeutung der Währungsstabilität rechtfertigt daher die Durchbrechung des Demokratieprinzips 364. Die Einschränkung demokratischer Kontrolle und damit auch demokratischer Legitimation ist auf die Ebene der Europäischen Gemeinschaft übertragbar 365. Das Demokratieprinzip kann zur Sicherung des in das ESZB gesetzten Vertrauens im Hinblick auf die Erreichung von Preisstabilität auch auf der Ebene der Europäischen Gemeinschaft modifiziert werden 366 . Für eine von Weisungen und Wünschen anderer Organe und politischer Instanzen unabhängige EZB spricht insbesondere das Argument, daß nur auf diese Weise den etwaigen Kreditfinanzierungswünschen der Mitgliedstaaten und damit einer unkontrollierten Geldmengenschöpfung wirksam begegnet werden kann 3 6 7 . Die nur eingeschränkte Verwirklichung demokratischer Grundsätze im Hinblick auf die EZB ist zudem auch deshalb zu rechtfertigen, weil die Unabhängigkeit der EZB nur mit Blick auf klar umschriebene Ziele besteht. Einer Zentralbank mit unbegrenzter Freiheit der Definition ihrer Ziele könnte eine unabhängige Stellung nicht eingeräumt werden, denn eine unabhängige Stellung ist nur zu rechtfertigen, wenn die Aufgaben und Kompetenzen eindeutig und klar mit Blick auf die Verwirklichung eines Zieles definiert sind 368 . Artikel 105 EGV und Artikel 2 der Satzung des ESZB und der EZB genügen diesen Anforderungen, denn sie stellen die klare Zielvorgabe auf, daß die EZB vorrangig dem Ziel der Preisstabilität verpflichtet ist. An diesem vorrangigen Ziel sind die Handlungen und Rechtsakte der EZB auszurichten,

362

Brosius-Gersdorf

S. 232 ff. m.w.N.

363

BVerwGE 41, S. 334, 356. Hahn, Währungsrecht, S. 263 f.; Hahn/Siebelt, DÖV 1989, S. 234; Schmidt, HdbStR III, § 82 Rn. 24. 364

BVerfGE 89, S. 155, 208 f.

365

Kirchhof,

366

Sonderausschuß „Europäische Union" des Bundestages, BT-Dr. 12/3896, S. 21.

367

Ohr, S. 226 f.

368

Gleske, S. 112.

FS Klein, S. 82.

4

C. Zulässigkeit der Hoheitsrechtsübertragungen des EUV

und nur mit Blick auf die Verwirklichung dieses Ziels wird der EZB eine unabhängige Stellung eingeräumt. Die fehlende demokratische Kontrolle und die sich daraus ergebende unabhängige Stellung der EZB ist also durch Aufgabe und Zielvorgabe der EZB gerechtfertigt. Zusammenfassend ist also in bezug auf die Verwirklichung demokratischer Grundsätze im Wege der demokratischen Legitimation durch die Mitgliedstaaten festzustellen, daß der Rat als das die Mitgliedstaaten repräsentierende und in allen Politikbereichen mit Ausnahme der Währungspolitik für die Entscheidungen maßgebliche Organ demokratisch besetzt ist und daß die Entscheidungen im Rat nach demokratischen Grundsätzen getroffen werden. Zwar entscheidet der Rat nicht durchgängig einstimmig. Der Einfluß der Mitgliedstaaten in ihrer Gesamtheit ist jedoch sichergestellt, da jede Entscheidung des Rates der Zustimmung der Mehrheit der Mitgliedstaaten bedarf. Die Vertreter der Mitgliedstaaten verfügen in bezug auf ihr Handeln im Rat auch über eine hinreichende demokratische Legitimation, da sie einerseits als Vertreter der Regierungen der Mitgliedstaaten mittelbar demokratisch legitimiert sind und andererseits durch die parlamentarische Kontrolle ihres Handels als Mitglieder der Regierungen der Mitgliedstaaten durch die nationalen Parlamente mit demokratischer Legitimation ausgestattet werden. Demgegenüber sind im Bereich der Währungspolitik demokratische Grundsätze in bezug auf die Einrichtungen, die die maßgeblichen Entscheidungen treffen, nur teilweise verwirklicht. Während die Besetzung des EWI- wie des EZB-Rates demokratischen Erfordernissen entspricht, da jeder Mitgliedstaat bzw. jeder in der 3. Stufe teilnehmende Mitgliedstaat durch einen Vertreter repräsentiert ist, entspricht lediglich die Entscheidungsfindung im EWI-Rat demokratischen Anforderungen. Im EWIRat spiegelt nämlich auch eine Entscheidung, die mit einfacher Mehrheit getroffen wird, den Willen der Mehrheit der Mitgliedstaaten wider. Aufgrund der Stimmen der Mitglieder des Direktoriums der EZB ist dies im EZB-Rat nicht notwendig der Fall. Es sind vielmehr auch Entscheidungen möglich, die neben den Direktoriumsmitgliedern nur von einer Minderheit der Mitgliedstaaten getragen werden. Außerdem sind bei bestimmten Entscheidungen die Kapitalanteile der Mitgliedstaaten entscheidend, so daß die Entscheidungen ebenfalls nicht notwendig auch die Zustimmung der Mehrheit der Mitgliedstaaten widerspiegeln. Darüber hinaus entspricht weder das Handeln der Mitglieder des EWI-Rates noch das der Mitglieder des EZB-Rates demokratischen Grundsätzen, da es keiner demokratischen Kontrolle unterliegt. Weder die Mitglieder des EWI-Rat noch die Mitglieder des EZB-Rates unterliegen der Kontrolle durch das Europäische Parlament oder durch die nationalen Parlamente. Das Fehlen demokratischer Kontrolle ist im Bereich der Währungspolitik jedoch ausnahmsweise gerechtfertigt, da das Ziel der Verwirklichung der Preisstabilität durch unabhängige Einrichtungen am effektivsten gesichert werden kann.

III. Europäische Gemeinschaft

4

b) Demokratische Legitimation durch die Beteiligung der Unionsbürger Die Verwirklichung demokratischer Grundsätze setzt weiter voraus, daß das Handeln im Rahmen der Europäischen Gemeinschaft durch die Beteiligung der Unionsbürger bzw. die von den Völkern Europas gewählten Parlamente hinreichend demokratisch legitimiert ist. Der EU-Vertrag bringt die Notwendigkeit, daß die Europäische Union nicht nur durch die Mitgliedstaaten, sondern auch durch die Völker Europas legitimiert sein muß, erstmals explizit zum Ausdruck. Gemäß Artikel A EUV stellt der EU-Vertrag eine neue Stufe bei der Verwirklichung einer immer engeren Union der Völker Europas dar 3 6 9 . Die Europäische Union hat die Aufgabe, die Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten sowie zwischen den Völkern kohärent und solidarisch zu gestalten370. Die Völker Europas sind damit einerseits Bezugspunkt für das Handeln der Europäischen Union, andererseits bilden sie neben den Mitgliedstaaten auch eine Legitimationsgrundlage des europäischen Integrationsprozesses 371. Die doppelte demokratische Legitimation, vorrangig durch die Mitgliedstaaten, aber auch durch die Völker Europas, wird damit ausdrücklich hervorgehoben und anerkannt 372. Die Notwendigkeit einer demokratischen Legitimation durch die Völker Europas, die neben die mittelbar durch den Rat vermittelte Legitimation tritt, hat ihren Grund neben der fortschreitenden Integration vor allem in den sich verändernden Mehrheitserfordernissen in bezug auf die Rechtsetzungsakte der Europäischen Gemeinschaft 373. Eine ausschließlich mittelbar erfolgende demokratische Legitimation ist nämlich deshalb zunehmend problematisch, weil Mehrheitsentscheidungen des Rates an Gewicht und Zahl zunehmen. Kann ein Gemeinschaftsrechtsakt auch ohne oder gegen die Zustimmung des Vertreters eines Mitgliedstaates beschlossen werden, fehlt es an der Vermittlung demokratischer Legitimation durch diejenigen Vertreter der Mitgliedstaaten, die dem Rechtsakt im Rat nicht zugestimmt haben. Sobald Entscheidungen auch gegen die Stimmen einzelner Mitgliedstaaten getroffen werden können, erhöht sich folglich das Bedürfnis einer ergänzenden Legitimationsquelle374, die den Willen der überstimmten Regierung durch eine unmittelbare Legitimation der Entscheidung auf Gemein-

369

Artikel A Unterabsatz 2 EUV.

370

Artikel A Unterabsatz 3 Satz 2 EUV.

371

Hilf, Artikel A, Rn. 12, in: Grabitz/ders. (Hrsg.), Kommentar zum EUV.

37 2

Hilf VVDStRL 53 (1994), S. 8.

373

Siehe oben S. 458 ff.

37 4

Badura, EuR 1994, Beiheft 1, S. 20; Pernice , Die Verwaltung 1993, S. 468.

4

C. Zulässigkeit der Hoheitsrechtsübertragungen des EUV

schaftsebene kompensiert 375. Solche Legitimationsquellen sind sowohl das Europäische Parlament als auch die nationalen Parlamente, denn diese sind als gewählte Völker- bzw. Volksvertretungen in der Lage, unmittelbar demokratische Legitimation zu vermitteln. Als das durch die Völker Europas gewählte und damit unmittelbar demokratisch legitimierte Organ kann zum einen das Europäische Parlament demokratische Legitimation vermitteln. Es ist die Vertretung der Völker Europas 376. Als solche kann das Europäische Parlament die Interessen aller Mitgliedstaaten berücksichtigen und die unterschiedlichen nationalen Interessen im Wege des Ausgleichs in das Rechtsetzungsverfahren der Europäischen Gemeinschaft einbringen. Die Vermittlung demokratischer Legitimation durch das Europäische Parlament ist deshalb möglich, weil die Abgeordneten des Europäischen Parlaments seit 1979 nicht mehr nach einem von jedem Mitgliedstaat bestimmten Verfahren von den nationalen Parlamenten aus ihrer Mitte ernannt 377 , sondern durch allgemeine und unmittelbare Wahlen in den Mitgliedstaaten direkt gewählt werden 378 . Zwar werden die Abgeordneten nicht in der Weise gewählt, daß alle Bürger in den Mitgliedstaaten über die Zusammensetzung des gesamten Europäischen Parlaments entscheiden. Vielmehr sind jedem Mitgliedstaat bestimmte Kontingente von Abgeordneten zugeteilt, über deren Zusammensetzung jeweils in getrennten nationalen Wahlen abgestimmt wird 3 7 9 . Die Abgeordneten des Europäischen Parlaments sind also Vertreter des jeweiligen Staatsvolkes eines Mitgliedstaates und nicht Vertreter eines europäischen Volkes 380 . Die

375

Pernice , Die Verwaltung 1993, S. 468.

376

Artikel 137 EGV.

377

So das ursprüngliche Verfahren des Artikel 138 EWGV.

378

Beschluß und Akt des Rates vom 20.09.1976, ABl. 1976 Nr. L 278 S. 1; BGBl. 1977 II S. 733. Bleckmann, in: Bleckmann, Europarecht, Rn. 90, sieht hierin die generelle Einführung des Demokratieprinzips in das Gemeinschaftsrecht; ders., Nationales und europäisches Souveränitätsverständnis, S. 68; a.A. Randelzhofer, in: Hommelhoff/ Kirchhof, S. 43. 379

Zur Rechtfertigung der Mandatsverteilung im Europäischen Parlament, das einen Kompromiß zwischen dem völkerrechtlichen Grundsatz der Staatengleichheit und dem demokratisch-staatsrechtlichen Grundsatz der Gleichheit der Wahl darstellt, Huber, S. 214. 380

Das Europäische Parlament verwirklicht den Grundsatz der Gleichheit der Wahl nicht, da die Anzahl der Abgeordneten pro Mitgliedstaat nicht proportional zur Anzahl der stimmberechtigten Wähler ist. Die Stimmen der Wahlberechtigten aus größeren Mitgliedstaaten haben ein zum Teil beträchtlich geringeres Gewicht als die Stimmen der Wahlberechtigten aus kleineren Mitgliedstaaten. Grund für diese Ungleichheit ist der dem EGV zugrundeliegende Grundsatz der gleichen Teilhabe der Mitgliedstaaten an der Ausübung der Gemeinschaftsgewalt. Dies ist Ausdruck der ursprünglich ausschließlich

III. Europäische Gemeinschaft

475

jeweiligen Kontingente der Mitgliedstaaten werden gleichwohl durch das Staatsvolk des jeweiligen Mitgliedstaates gewählt und sind damit demokratisch legitimiert. Das Europäische Parlament vermittelt demokratische Legitimation zum einen durch seine Beteiligung am Rechtsetzungsverfahren der Europäischen Gemeinschaft. Das Europäische Parlament besaß schon im Rahmen des EWGVertrages Mitwirkungsmöglichkeiten im Gemeinschaftsrechtsetzungsverfahren, die auch im EG-Vertrag bestehen geblieben sind. So wurde es vor dem Erlaß von Rechtsakten angehört 381, d.h., es besaß ein Beratungsrecht 382. Seit der Änderung des EWG-Vertrages durch die EEA wurden dem Europäischen Parlament im Rahmen des Kooperationsverfahrens weitergehende Mitwirkungsrechte eingeräumt 383. Im Rahmen dieses Verfahrens legte der Rat zunächst aufgrund eines Kommissionsvorschlages und der Stellungnahme des Europäischen Parlaments einen „gemeinsamen Standpunkt" fest, der dann dem Europäischen Parlament noch einmal zu dem Zweck zugeleitet wurde, sich zu dem Vorschlag zu äußern. Die daraufhin ergehende Äußerung des Europäischen Parlaments war für den Rat jedoch nicht bindend, d.h., das Europäische Parlament hatte zwar ein Mitwirkungsrecht, aber kein echtes Vetorecht 384 . Das Europäische Parlament besaß im Rahmen der Regelungen des EWG-Vertrages außerdem Kompetenzen bei der Beschlußfassung über den Haushalt 385 . Außerdem war die Zustimmung des Europäischen Parlaments zu Ratsbeschlüssen über den Beitritt neuer Mitgliedstaaten386 und die Assoziierung mit Drittstaaten und Organisationen387 erforderlich, die mit der absoluten Mehrheit der Mitglieder des Europäischen Parlaments zu erfolgen hatte.

durch die Mitgliedstaaten vermittelten Legitimation der EG. Hierzu Kluth, S. 69 f.; Seidel, Legal Framework, S. 5 f. 381

So etwa in Artikel 43 Abs. 2 EWGV. Obwohl die Anhörung des Europäischen Parlaments nur in den ausdrücklich im EWGV genannten Fällen obligatorisch war, hatte sich in der Praxis eine „fakultative" Anhörung des Europäischen Parlaments bei den wesentlichen Rechtsakten und Programmen gewohnheitsmäßig eingebürgert, hierzu Hölscheidt, KritV 1994, S. 410; Oppermann,, Europarecht, Rn. 229. 382

Oppermann, Europarecht, Rn. 227; Mazan, S. 158; Kirchhof, EuR 1991, Beiheft 1, S. 13, maß dem Europäischen Parlament die Rolle einer im wesentlichen mitberatenden Vertretungskörperschaft zu. 383

Artikel 149 Abs. 2 EWGV. Dieses Verfahren galt insbesondere für den Bereich der Harmonisierung der Rechtsvorschriften zur Vollendung des Binnenmarktes. 384

Artikel 149 Abs. 2 lit. c EWGV.

385

Artikel 199 ff. EWGV.

386

Artikel 237 EWGV.

387

Artikel 238 EWGV.

C. Zulässigkeit der Hoheitsrechtsübertragungen des EUV

46

Die Beteiligungsmöglichkeiten und -rechte des Europäischen Parlaments werden durch den EG-Vertrag ausgebaut. Das Europäische Parlament erhält erweiterte Mitwirkungsrechte im Rahmen der Rechtsetzungsverfahren, neue Kontroll-, Untersuchungs- und Berichtsrechte und ein Mitentscheidungsrecht bei der Einsetzung der Kommission. Durch die Änderungen im Rahmen des Vertrages von Maastricht werden die Mitwirkungsmöglichkeiten des Europäischen Parlaments im Rechtsetzungsverfahren der Europäischen Gemeinschaft ausgebaut. Der Rat behält zwar seine maßgebliche Stellung im Rechtsetzungsverfahren, denn ihm steht mit Ausnahme des Mitentscheidungsverfahrens gemäß Artikel 189 b EGV das Letztentscheidungsrecht z u 3 8 8 . Gleichwohl bestätigt der neu eingefügte Artikel 138 b EGV die Tatsache, daß das Europäische Parlament am Rechtsetzungsverfahren der Europäischen Gemeinschaft beteiligt ist, erstmals ausdrücklich 389. Außerdem besitzt das Europäische Parlament nunmehr im Hinblick auf Rechtsetzungsinitiativen ein allgemeines Aufforderungsrecht gegenüber der Kommission, das dem Aufforderungsrecht des Rates im wesentlichen entspricht 390 . Es kann die Kommission mit der Mehrheit seiner Mitglieder auffordern, geeignete Vorschläge zu Fragen zu unterbreiten, die nach seiner Auffassung die Ausarbeitung eines Gemeinschaftsaktes erfordern 391. Dieses Initiativrecht gibt dem Europäischen Parlament die Möglichkeit, sich auch inhaltlich intensiver in die Diskussion um die Ziele der Europäischen Gemeinschaft und deren Verwirklichung einzuschalten392. Das Europäische Parlament verfügt neben dem bereits bisher vorhandenen Anhörungsrecht und dem Mitwirkungsrecht im Rahmen des Verfahrens der Zusammenarbeit393 im Rahmen des neuen Mitentscheidungsverfahrens des Artikels 189 b EGV überdies über ein echtes Mitentscheidungsrecht394. Das

388

Siehe oben S. 458 f.

389

Artikel 138 b Unterabsatz 1 EGV.

390

So ausdrücklich Klein/Haratsch,

DÖV 1993, S. 793; Baetge, BayVBl. 1992,

S. 716. 391

Artikel 138 b Unterabsatz 2 EGV. Kritisch hierzu Nentwich, S. 237; BoesU EuR 1992, S. 184. 392

Hrbek GS Grabitz, S. 181.

393

Dieses ist nunmehr in Artikel 189 c EGV geregelt.

394

EuZW 1992,

Übersichtsschema bei Wessels, Integration 1992, S. 11. Zu den Einzelheiten des Verfahrens gemäß Artikel 189 b EGV Boest, EuR 1992, S. 184 ff.; Nentwick, EuZW 1992, S. 236; Weidenfels/Jung, Integration 1993, S. 140; Oppermann/Classen, NJW 1993, S. 7.

4

III. Europäische Gemeinschaft

Mitentscheidungsverfahren gilt u.a. 3 9 5 für die Bereiche der Rechtsangleichung zur Vollendung des Binnenmarktes gemäß dem Verfahren des Artikels 100 a EGV, Maßnahmen auf den Gebieten der Freizügigkeit 396 und der Niederlassungsfreiheit 397, der allgemeinen Bildung, der mehrjährigen Rahmenprogramme im Bereich Forschung und Technik 398 , Fördermaßnahmen im Bildungsbereich399, die Kulturpolitik 400 , das Gesundheitswesen401, spezifische Aktionen in der Verbraucherpolitik 402 und Leitlinien bei transeuropäischen Netzen 403 . Will das Europäische Parlament einen Rechtsakt verhindern, so muß es gemäß Artikel 189 b EGV nach einem erfolglosen Vermittlungsverfahren mit der absoluten Mehrheit seiner Stimmen innerhalb einer Frist von sechs Wochen sein Veto einlegen 404 . Der vorgeschlagene Rechtsakt gilt nach einem solchen Veto des Europäischen Parlaments als nicht angenommen405. Der Rat kann das Veto des Europäischen Parlaments anders als im Rahmen des Zustimmungsverfahrens nicht durch einstimmigen Beschluß überstimmen 406. Das Europäische Parlament hat damit die Möglichkeit, Rechtsetzungsvorschläge endgültig abzulehnen, ohne daß sich der Rat über diese Ablehnung hinwegsetzen könnte 407 .

395

Eine vollständige Auflistung findet sich bei Soest, EuR 1992, S. 192.

396

Artikel 49 EGV.

397

Artikel 54 Abs. 2; Artikel 56 EGV.

398

Artikel 130 i EGV.

399

Artikel 126 Abs. 4 EGV.

400

Artikel 128 Abs. 5 EGV.

401

Artikel 129 Abs. 5 EGV.

402

Artikel 129 a Abs. 2 EGV.

403

Artikel 129 d Abs. 1 EGV.

404 Unterläßt es dies, so wird der Rechtsakt in der Fassung des gemeinsamen Standpunktes des Rates erlassen, Artikel 189 b Abs. 6 EGV. Da es eine solche Zustimmungsfiktion in bezug auf den Rat nicht gibt, kann insoweit von einer vollen Gleichberechtigung des Europäischen Parlaments mit dem Rat solange nicht gesprochen werden, wie das Schweigen des Europäischen Parlaments in bestimmten Situationen Zustimmung bedeutet, Soest, EuR 1993, S. 189 f.; Ress, JuS 1992, S. 989; Schmidhuber, S. 407. 405

Artikel 189 c Abs. 6 Satz 2 letzter Halbsatz EGV.

406

Baetge, BayVBl. 1993, S. 716; Klein/Haratsch,

407

DÖV 1993, S. 793.

Artikel 189 c Abs. 4 - 6 . Schmidhuber, S. 407; Hrbek, GS Grabitz, S. 181. Dem Europäischen Parlament bleibt allerdings nur die Möglichkeit den Rechtsakt vollständig abzulehnen, sofern es sich mit seinen Änderungsvorschlägen gegenüber dem Rat im Vermittlungsausschuß nicht durchsetzen kann. Dies ist insofern problematisch, als das Europäische Parlament, will es nicht in die Rolle des notorischen Neinsagers geraten, dadurch veranlaßt sein könnte, den Vorschlag des Rates gegen seine eigene Über-

4

C. Zulässigkeit der Hoheitsrechtsübertragungen des EUV

Gegen den ausdrücklich erklärten Willen der Parlamentsmehrheit können in den Bereichen, in denen das Mitentscheidungsverfahren Anwendung findet, Rechtsakte also in Zukunft nicht mehr erlassen werden 408 . Die Mitwirkungs- und Entscheidungsmöglichkeiten des Europäischen Parlaments sind zudem dadurch ausgeweitet worden, daß in zahlreichen Gebieten die Mitwirkungsintensität des Europäischen Parlaments „hochgestuft" wurde 409 . War das Europäische Parlament etwa beim Erlaß von Durchfuhrungsverordnungen im Zusammenhang mit Beihilfen 410 und im Bereich der allgemeinen Rechtsangleichung411 im Rahmen des E WG-Vertrages bisher nicht beteiligt, so ist es nunmehr anzuhören 412. Zum anderen ist es in Bereichen, in denen es bisher nur angehört werden mußte, wie etwa in der Verkehrspolitik 413, der beruflichen Bildung 414 und der Umweltpolitik 415 , nun im Rahmen des Verfahrens der Zustimmung gemäß Artikel 189 c EGV zu beteiligen. Darüber hinaus wurde das Erfordernis der Zustimmung des Europäischen Parlaments auf weitere Bereiche ausgedehnt. So ist eine Zustimmung nicht nur bei der Assoziierung mit Drittstaaten oder Organisationen 416, sondern auch für den Fall des Abschlusses sonstiger Abkommen erforderlich, die einen besonderen institutionellen Rahmen schaffen, von Abkommen mit erheblichen finanziellen Folgen für die Europäische Gemeinschaft und von Abkommen, die eine Änderung eines nach dem Verfahren des Artikels 189 b EGV angenommenen Rechtsakts zur Folge haben 417 . Der Zustimmung des Europäischen Parlaments unterliegen ferner Bestimmungen über ein einheitliches Wahlverfahren in allen Mitgliedstaaten betreffend das Europäische Parlament 418, über Einzelheiten des Aufent-

zeugung doch zu akzeptieren, Staujfenberg/Langenfeld, 1992, S. 190; Mazan, S. 158.

ZRP 1992, S. 258; Boest, EuR

408 Ress, JuS 1992, S. 988; Jarass, S. 117; Oppermann/Classen, Zeitgeschichte 28/1993, S. 15; dies., NJW 1993, S. 7.

Aus Politik und

409

Schmidhuber, S. 407; Boest, EuR 1992, S. 190 f. Eine ausführliche Auflistung der Verfahrensänderungen gibt Nentwich, EuZW 1992, S. 239. 410

Artikel 94 EGV.

411

Artikel 100 EGV.

412

Ein Überblick über die Bereiche, in denen das Europäische Parlament anzuhören ist, findet sich bei Kluth, S. 75. 413

Artikel 75 EGV.

414

Artikel 127 Abs. 4 EGV.

415

Artikel 130 s Abs. 1 EGV.

416

Artikel 238 EGV.

417

Artikel 228 Abs. 3 Unterabsatz 2 EGV.

418

Artikel 138 Abs. 3 Unterabsatz 2 EGV.

III. Europäische Gemeinschaft

4

haltsrechts der Unionsbürger 419, die Übertragung besonderer Aufgaben im Zusammenhang mit der Aufsicht über Kreditinstitute und sonstige Finanzinstitute mit Ausnahme von Versicherungsunternehmen an die E Z B 4 2 0 , die Änderung zahlreicher Bestimmungen der Satzung des ESZB und der E Z B 4 2 1 sowie Entscheidungen über die Aufgaben, vorrangigen Ziele und die Organisation des Struktur- und die Einrichtung des Kohäsionsfonds 422. Eine Ausnahme im Hinblick auf die Beteiligung des Europäischen Parlaments bildet das Handeln der EZB. Obwohl die EZB Rechtsetzungs- und Sanktionskompetenzen besitzt und rechtsverbindliche und u.U. mit Sanktionen versehene Verordnungen und Entscheidungen erlassen kann 4 2 3 , findet im Rahmen des Rechtsetzungsverfahrens der EZB keine Beteiligung des Europäischen Parlaments statt 424 . Das Europäische Parlament kann daher die Aktivitäten des ESZB nur anhand der Tätigkeitsberichte und des Jahresberichts der E Z B 4 2 5 nachträglich bewerten; es kann die Entscheidungen des EZB-Rates aber weder im Vorfeld beeinflussen noch sie nachträglich aufheben 426. Es hat zudem keinen Einfluß auf die Kompetenzausstattung der EZB. Während der Bundestag durch einen mit einfacher Mehrheit gefaßten Beschluß die Kompetenzen der Bundesbank ändern konnte, und damit jederzeit seine Rolle als zentrales Gesetzgebungsorgan ausüben konnte 427 , ist dies dem Europäischen Parlament in bezug auf die Satzung des ESZB und der EZB nicht möglich. Das Europäische Parlament kann diese nicht ändern, denn die unabhängige Stellung der EZB ist, anders als die der Bundesbank, die durch § 12 BBankG einfachgesetzlich geregelt ist, im EG-Vertrag garantiert und läßt sich nur durch Vertragsänderungen modifizieren oder abschaffen 428. Dem Europäischen Parlament kommt damit im Verhältnis zur EZB weder die Rolle als Gesetzgeber noch als Organ zu, das das Handeln der EZB parlamentarisch kontrolliert. Durch den EG-Vertrag werden also die Beteiligungsmöglichkeiten des Europäischen Parlaments im Recht-

419

Artikel 8 a Abs. 2 EGV.

420

Artikel 105 Abs. 6 EGV.

421

Artikel 106 Abs. 5 EGV.

422

Artikel 130 d EGV.

423

Siehe oben S. 357 f.

424

Pernice , Die Verwaltung 1993, S. 463.

425

Artikel 15.1 und 15.2 der Satzung des ESZB und der EZB.

426

Gormley/Haan,

ELRev 1996, S. 108.

427

Gleske, S. 112. Das Bundesverwaltungsgericht hat daher festgestellt, daß die Bundesbank infolgedessen in ein Legitimationsgeflecht eingebunden sei, BVerwGE 41, S. 334, 356 ff. 428

Häde, EuZW 1992, S. 177 f.; ders., S. 153.

4

C. Zulässigkeit der Hoheitsrechtsübertragungen des EUV

setzungsverfahren der Europäischen Gemeinschaft ausgeweitet und seine Mitentscheidungsmöglichkeiten bis hin zu einem Vetorecht vergrößert. Eine Ausnahme besteht lediglich in bezug auf die Währungspolitik, da es im Rahmen der Rechtsetzungstätigkeit des EZB-Rates nicht zu beteiligen ist. Der EG-Vertrag begründet zudem neue Kontroll- und Untersuchungsrechte des Europäischen Parlaments. Das Europäische Parlament besitzt das Recht, nichtständige Untersuchungsausschüsse einzusetzen, um behauptete Verstöße gegen das Gemeinschaftsrecht oder Mißstände bei seiner Anwendung zu prüfen 4 2 9 . Weiter kann es Petitionen natürlicher und juristischer Personen entgegennehmen430. Es kann zudem einen unabhängigen und weisungsfreien Bürgerbeauftragten einsetzen, der Beschwerden gegen die Organe und Institutionen der Europäischen Gemeinschaft entgegennimmt und prüft 431 . Außerdem kann das Europäische Parlament die Tätigkeiten der anderen Organe der Europäischen Gemeinschaft insofern kontrollieren, als die anderen Organe ihm Berichte vorzulegen haben 432 . Hierzu dienen etwa der jährliche Gesamtbericht der Kommission433, die Berichte des Rates über die Ergebnisse der multilateralen Überwachung der Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten434, die Unterrichtung über Beschlüsse in Fällen des finanziellen Beistands435 und Berichte über Sanktionen bei übermäßigen öffentlichen Defiziten eines Mitgliedstaates436. Außerdem sind auch das E W I 4 3 7 und die E Z B 4 3 8 dem Europäischen Parlament berichtspflichtig. Aufgrund dieser Rechte wird die Kontrollfunktion des Europäischen Parlaments gegenüber den anderen Gemeinschaftsorganen und -einrichtungen erheblich ausgebaut. Von großer politischer Bedeutung ist außerdem das neu eingeführte Erfordernis der Zustimmung des Europäischen Parlaments bei der Einsetzung der

429

Artikel 138 c EGV.

430

Artikel 138 d EGV.

431

Artikel 138 e EGV. Hierzu auch der Beschluß des Europäischen Parlaments über die Regelungen und allgemeinen Bedingungen für die Ausübung der Aufgaben des Bürgerbeauftragten, EuGRZ 1993, S. 604. 432

Mit diesem Ergebnis ebenfalls Hobe, JA 1993, S. 232.

433

Artikel 156 EGV.

434

Artikel 103 Abs. 4 Unterabsatz 2 Satz 1 EGV.

435

Artikel 103 a Abs. 2 Satz 3 EGV.

436

Artikel 104 c Abs. 11 Unterabsatz 2 EGV.

437

Artikel 11.3 der Satzung des EWI.

438

Artikel 15.3 der Satzung des ESZB und der EZB.

III. Europäische Gemeinschaft

41

Kommission gemäß Artikel 158 Absatz 2 E G V 4 3 9 . Danach wird das Europäische Parlament nicht wie bisher nur angehört, bevor die Regierungen der Mitgliedstaaten den gemeinsamen Kandidaten für die Position des Kommissionspräsidenten benennen, sondern auch die Kommission muß sich als Kollegium dem „Zustimmungsvotum" des Europäischen Parlaments stellen. Zwar besitzt das Europäische Parlament weiterhin kein Vorschlagsrecht 440, doch kann die Ernennung des Kommissionspräsidenten441 und der Kommissare nunmehr erst nach Zustimmung des Europäischen Parlaments erfolgen 442 . Künftig bedürfen damit nicht nur die Person des Kommissionspräsidenten und sein Programm, sondern auch die Person und das Programm jedes einzelnen Kommissars der politischen Akzeptanz des Europäischen Parlaments 443. Das Europäische Parlament besitzt damit eine wesentliche Mitsprachemöglichkeit bei der personellen Zusammensetzung der Kommission. Das neue Ernennungsverfahren erhöht zudem auch die demokratische Legitimation der Kommission. Das Gemeinschaftsrecht enthält nunmehr nämlich einen Mechanismus, der für ein parlamentarisches Regierungssystem typisch ist 4 4 4 . Das wesentliche Mitspracherecht des Europäischen Parlaments bei der personellen Zusammensetzung künftiger Kommissionen führt zusammen mit der Möglichkeit des Mißtrauensvotums nach Artikel 144 EGV zur weitgehenden Verwirklichung des Prinzips parlamentarischer Verantwortung und Kontrolle im Verhältnis Parlament-Kommission445. Das Europäische Parlament als die von den Völkern Europas gewählte Vertretung vermittelt in diesem Verhältnis die für das Handeln der Kommission erforderliche demokratische Legitimation446. Die Neuregelung des Verfahrens über die Investitur der Kommission verstärkt damit nach außen sichtbar den Prozeß der Vermittlung demokratischer Legitimation auf der Ebene der Europäischen Gemeinschaft durch das Europäische Parlament 447.

439 Dieses Verfahren wurde erstmals am 18.01.1995 durchgeführt. Das Europäische Parlament erteilte der neuen Kommission mit großer Mehrheit seine Zustimmung. 440

Artikel 158 Abs. 2 Unterabsatz 1 EGV.

441

Am 21.07.1994 gab das Europäische Parlament erstmals eine befürwortende Stellungnahme zur Ernennung des Kommissionspräsidenten ab, Kommission, Funktionsweise des EUV, S. 12. 442

Artikel 158 Abs. 2 Unterabsatz 3 EGV.

443

Dies könnte auf längere Sicht zur Bildung einer Art Investiturvertrag zwischen Kommission und Europäischem Parlament führen, Badura, EuR 1994, Beiheft 1, S. 21. 444

Randelzhofer,

445

Oppermann/Classen, NJW 1993, S. 7; Kluth, S. 76.

in: Hommelhoff/Kirchhof, S. 45.

446

Pernice , Die Verwaltung 1993, S. 471; Cremer, EuR 1995, S. 41; Frowein, EuR 1992, Beiheft 1, S. 74; Jarass, S. 118. 447 31 Uhrig

Frowein, EuR 1992, Beiheft 1, S. 74.

4

C. Zulässigkeit der Hoheitsrechtsübertragungen des EUV

Ungeachtet des Zuwachses an Mitwirkungsrechten im Rechtsetzungsverfahren, neuer Kontroll-, Untersuchungs- und Berichtsrechte sowie des Zustimmungserfordernisses bei der Einsetzung der Kommission besitzt das Europäische Parlament nicht die Möglichkeiten eines „Voll"parlaments 448. Ihm fehlt das Gesetzesinitiativrecht449, und es hat nicht die Möglichkeit, gegen den Willen des Rates Rechtsakte durchzusetzen450. Es ist also nicht Gesetzgeber im eigentlichen Sinne 451 . Die Rechtsetzung im Rahmen der Europäischen Gemeinschaft liegt vielmehr schwerpunktmäßig in den Händen des Rates. Das Europäische Parlament nimmt damit anders als die Parlamente der Mitgliedstaaten nicht die in einer parlamentarischen Demokratie wesentliche Rolle des zentralen Gesetzgebungs- und Kontrollorgans 452 wahr, sondern bleibt, auch nachdem es aus einer bloß beratenden in eine mitentscheidende Rolle aufgerückt ist, im wesentlichen auf sektoreil begrenzte Vetorechte beschränkt 453. Obgleich sich also die Beteiligung der Völker Europas an der Ausübung hoheitlicher Gewalt durch die Ausweitung der Kompetenzen des Europäischen Parlaments vergrößert hat 4 5 4 , kann es nicht die einzige und zentrale Schaltstelle für die Vermittlung unmittelbarer demokratischer Legitimation auf der Ebene der Europäischen Gemeinschaft sein 455 . Es wird daher weiterhin der Einwand erhoben, daß das Demokratieprinzip, das einen Bestandteil der gemeinsamen Verfassungstradition der Mitgliedstaaten darstellt 456 , dadurch ausgehöhlt werde, das die mitgliedstaatlichen Parlamente, die das Prinzip parlamentarischrepräsentativer Demokratie verkörpern, an Kompetenzen verlieren, die andererseits auf Gemeinschaftsebene dem Europäischen Parlament nicht zuwachsen457. Es entstehe insbesondere die Gefahr der Entparlamentarisierung der Rechtsetzung der Europäischen Gemeinschaft. Durch die Kompetenzen der Europäi-

448

Schröder, DVBI. 1994, S. 318; Gormley/Haan, S. 7; Kirchner/Haas, JZ 1993, S. 764. 449

Ress, JuS 1992, S. 988.

450

Schachtschneider u.a., JZ 1993, S. 755.

451

Badura, EuR 1994, Beiheft 1, S. 21.

452

Huber, S. 44; Oppermann/Classen,

ELRev 1996, S. 96; Norton,

Aus Politik und Zeitgeschichte 28/1993,

S. 15. 453

Grimm, JZ 1995, S. 586.

454

Badura, EuR 1994, Beiheft 1, S. 21.

455

Grimm, S. 17.

456

Steinberger, VVDStRL 50 (1991), S. 50; Cremer, EuR 1995, S. 37 m.w.N.

457

Ossenbühl, DVBI. 1993, S. 634; Kirchhof, FAZ vom 04.12.1996, S. 11. Dieser Forderung dürfte sowohl die Überzeugung wie die geschichtliche Erfahrung zugrunde liegen, daß die freie Entfaltung des einzelnen in einer Demokratie nur im System der parlamentarischen Demokratie möglich ist, Ress, GS Geck, S. 656.

III. Europäische Gemeinschaft

4

sehen Gemeinschaft verlieren nämlich die nationalen Parlamente an Kompetenzen, die auf der Ebene der Europäischen Gemeinschaft nicht vom Europäischen Parlament, sondern von der Kommission und vom Rat wahrgenommen werden. Es wird daher die Forderung aufgestellt, das Europäische Parlament mit denjenigen Kompetenzen auszustatten, die den Parlamenten auf nationaler Ebene zukommen, also den Aufgaben der Gesetzgebung, der Haushaltsfeststellung, der Regierungsbildung und der Regierungskontrolle 458. Auf der Ebene der Europäischen Gemeinschaft bestehen jedoch im Vergleich zu den Mitgliedstaaten Unterschiede, die eine Kompetenzausstattung des Europäischen Parlaments entsprechend der Kompetenzausstattung der nationalen Parlamente erschweren: Zum einen gibt es kein europäisches V o l k 4 5 9 . Zwar hat der EG-Vertrag mit der Einfuhrung der Unionsbürgerschaft einen wichtigen Schritt in Richtung auf die Identifizierung der Völker mit der Europäischen Gemeinschaft getan. Die Unionsbürgerschaft ist jedoch keine Staatsbürgerschaft, die der Staatsangehörigkeit der einzelnen Mitgliedstaaten übergeordnet ist 4 6 0 . Sie setzt die Staatsangehörigkeit in einem Mitgliedstaat vielmehr zwingend voraus, kann ohne sie also gar nicht erworben werden. Die Unionsbürgerschaft kann demnach aufgrund des durch sie vermittelten Schutzumfangs die aus der nationalen Staatsangehörigkeit folgenden Rechte und Pflichten nicht ersetzen, sondern ergänzt diese lediglich 461 . Sie vermittelt kein der Staatsangehörigkeit entsprechendes umfassendes Treueverhältnis zur Europäischen Gemeinschaft 462. Aufgrund der neben die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaates tretenden Unionsbürgerschaft besitzen die Bürger der Mitgliedstaaten nun zwar einen Doppelstatus als Staats- und als Unionsbürger 463. Die Unionsbürgerschaft, garantiert den Bürgern als Ergänzung der nationalen Staatsangehörigkeit ein „Mehr" an Rechten, und sie soll das Gefühl der Unionszugehörigkeit stärken 464. Die Völker Europas werden aber durch die Unionsbürgerschaft nicht zu einem europäischen Volk zusammengeführt 465.

458

Grimm, JZ 1995, S. 587 m.w.N.; Ress, GS Geck, S. 625; Weber, JZ 1993, S. 329; Huber, S. 44; Lang, S. 277. 459

Oppermann/Classen, Aus Politik und Zeitgeschichte 28/1993, S. 15; Breuer, NVwZ 1994, S. 424; Classen , ZRP 1993, S. 59; Mazan, S. 157; Seidel, Legal Framework, S. 5; Grimm, JZ 1995, S. 586. 460

Siehe oben S. 189 ff.

461

Oppermann/Classen, Aus Politik und Zeitgeschichte 28/1993, S. 19.

462

Pernice , Die Verwaltung 1993, S. 477; Blanke, DÖV 1993, S. 418.

463

Hierauf weist Iglesias , EuGRZ 1996, S. 130, ausdrücklich hin.

464

Kommission, Funktionsweise des EUV, S. 4.

465

Müller-Graff, A I, Rn. 49, in: Dauses; Seidel, EuR 1992, S. 140 ff.; Blanke, DÖV 1993, S. 415; ebenso die Bundesregierung, BT-Dr. 12/3338, S. 6. Anders Murs31

4

C. Zulässigkeit der Hoheitsrechtsübertragungen des EUV

Dieser Mangel wird dadurch verstärkt, daß die in einer repräsentativen Demokratie erforderliche Rückkopplung zwischen Parlament und Wahlbürger in Europa nicht in dem Umfang wie in den Mitgliedstaaten möglich ist. Für eine solche Rückkopplung ist nämlich nicht nur ein transparenter Entscheidungsprozeß erforderlich, sondern es bedarf auch gesellschaftlicher Institutionen, in denen die Bürger auf den politischen Prozeß der Entscheidungsfindung Einfluß nehmen können 466 . Angesichts der Sprachenvielfalt fehlt es in der Europäischen Gemeinschaft bereits an einem homogenen europäischen Kommunikationssystem, das Grundlage für eine solche Meinungsbildung wäre 4 6 7 . Zudem sind die politischen Parteien der Mitgliedstaaten überwiegend national organisiert und haben sich auf europäischer Ebene nur zu lockerer Zusammenarbeit verbunden 468. Dies hat zur Folge, daß auf längere Sicht weder eine europäische Öffentlichkeit vorhanden ist noch ein europaweiter politischer Diskurs möglich sein wird 4 6 9 . Damit stehen Entscheidungsprozesse auf der Ebene der Europäischen Gemeinschaft nicht in derselben Weise unter Publikumsbeobachtung wie Fragen nationaler Politik 470 . Es besteht daher die Gefahr, daß die Rückkopplung der Mandatsträger im Europäischen Parlament an die Völker Europas nicht in ausreichender Form gegeben ist 4 7 1 . Es ist daher denkbar, daß eine Kompetenzausstattung des Europäischen Parlaments entsprechend der der nationalen Parlamente das Demokratieproblem auf der Ebene der Europäischen Gemeinschaft nicht lösen kann, sondern eher verschärft 472. Einerseits würde nämlich bei einem Rechtsetzungsverfahren, das ausschließlich in den Händen des Europäischen Parlaments liegt, die im Rahmen der Rechtsetzung der Europäischen Gemeinschaft bisher durch den Rat vermittelte demokratische Legitimation entfallen 473 . Zugleich würde die Bindung der Europäischen Gemeinschaft an die Mitgliedstaaten gelockert, denn die Stärkung des Europäischen Parlaments

wiek, Der Staat 1993, S. 182, der „Ansätze zur Bildung eines Staatsvolk der Europäischen Union" sieht. 466

Kirchner/Haas,

467

Ossenbühi DVBI. 1993, S. 634.

468

Kirchner/Haas, JZ 1993, S. 767; Frowein,, EuR 1995, S. 323; Seidel, EuR 1992,

JZ 1991, S. 766.

S. 141. 469 Di Fabio , Der Staat 1993, S. 203 f.; Ossenbühl, DVBI. 1993, S. 634; Schröder, DVBI. 1994, S. 318; Mazan, S. 162; Grimm, JZ 1995, S. 589, kommen zu dem zusammenfassenden Ergebnis, daß es an einer demokratischen Infrastruktur fehle. 47 0

Mozart. , S. 162.

471

Grimm, JZ 1995, S. 589.

47 2

Lepsius, S. 20; Wieland, S. 444; Grimm, JZ 1995, S. 589.

473

Siehe oben S. 461 ff.

III. Europäische Gemeinschaft

4

müßte zu Lasten des Rates gehen und würde damit zentralisierend wirken 474 . Andererseits würde die Rückbindung an die Völker Europas aber nicht durch das Europäische Parlament vermittelt werden können, denn dies setzte eine Rückbindung an die Bevölkerung der Europäischen Gemeinschaft voraus, die unter den derzeitigen Bedingungen nicht möglich erscheint. Da somit eine Kompetenzausstattung des Europäischen Parlaments entsprechend der Kompetenzausstattung der nationalen Parlamente einerseits nicht sinnvoll ist, das Europäische Parlament dadurch andererseits demokratische Legitimation aber nicht in dem Maße vermitteln kann wie dies die mitgliedstaatlichen Parlamente können, muß demokratische Legitimation ergänzend auch durch die nationalen Parlamente vermittelt werden 475 . Allerdings hat die bisher erfolgte Übertragung von Hoheitsrechten auf die Europäische Gemeinschaft zu einer Schwächung der nationalen Parlamente geführt. Die Übertragung von Hoheitsrechten auf die Europäische Gemeinschaft hat nämlich bewirkt, daß die Rechtsetzungskompetenzen der nationalen Parlamente sich stetig verringert haben 476 . Zudem ist das Rechtsetzungsverfahren auf der Ebene der Europäischen Gemeinschaft dem direkten Einfluß der nationalen Parlamente entzogen. Da das Rechtsetzungsverfahren auf der Ebene der Europäischen Gemeinschaft nur die Beteiligung der nationalen Regierungen vorsieht, erhalten die nationalen Parlamente auch keine unmittelbaren Mitbestimmungsmöglichkeiten auf europäischer Ebene als Kompensation für den Verlust ihrer innerstaatlichen Rechtsetzungskompetenzen. Die nationalen Parlamente können zwar, wie etwa der Bundestag im Rahmen des Verfahrens des Artikels 23 Absatz 3 GG, an der innerstaatlichen Willensbildung, mitwirken. Die Abstimmung im Rat erfolgt jedoch durch Vertreter der nationalen Regierungen und nicht durch Vertreter der nationalen Parlamente. Den nationalen Parlamenten verbleibt damit nur ein indirekter Einfluß auf die der Abstimmung im Rat vorausgehende innerstaatliche Willensbildung. Die nationalen Parlamente vermitteln gleichwohl in bezug auf das Handeln der Europäischen Gemeinschaft demokratische Legitimation. Sie legitimieren durch die Bestellung und parlamentarische Kontrolle ihrer Regierungen deren Handeln im Rat. Da die Regierungen ihren nationalen Parlamenten somit auch in bezug auf ihr Abstimmungsverhalten im Rat verantwortlich sind, findet eine parlamentarische Kontrolle statt, die den Rat mit einer mittelbaren demokratischen Legitimation ausstattet477. So veranlaßt die Kontrollfunktion der Parla-

47 4

Grimm, JZ 1995, S. 589.

475

BVerfGE 89, S. 155, 184.

47 6

Kortz, S.241.

477

Siehe oben S. 461 f.

46

C. Zulässigkeit der Hoheitsrechtsübertragungen des EUV

mente etwa den Bundestag zu Debatten, die grundsätzlich in öffentlicher Verhandlung stattfinden, und führt dadurch zu einer Auseinandersetzung der Öffentlichkeit und der politischen Parteien mit der Europapolitik der Bundesregierung, die zu einem Faktor der Wahlentscheidung der Bürger werden kann 478 . Die nationalen Parlamente vermitteln demokratische Legitimation zudem auch dadurch, daß sie den Gründungs- und Änderungsverträgen der Europäischen Gemeinschaft zustimmen479. Ebenso wie in bezug auf die Regelung der GASP und der Zusammenarbeit in den Bereich Justiz und Inneres setzt die Änderung der vertraglichen Grundlagen der Europäischen Gemeinschaft die Ratifikation gemäß den verfassungsrechtlichen Vorschriften der Mitgliedstaaten voraus 480 . Es bedarf daher in allen Mitgliedstaaten eines parlamentarischen Ratifikationsverfahrens 481. Das Erfordernis eines solchen Ratifikationsverfahrens weist den nationalen Parlamenten eine wesentliche politische Verantwortung für Änderungen des EG-Vertrages z u 4 8 2 . Das Ratifikationsverfahren gewährleistet nämlich, daß die in Folge solcher Änderungen erfolgende Ausübung von Hoheitsrechten durch die Europäische Gemeinschaft durch die nationalen Parlamente als vom jeweiligen Staatsvolk gewählter Vertretung legitimiert wird 4 8 3 . Das Ratifikationsverfahren garantiert somit eine zusätzliche parlamentarische Kontrolle der vertraglichen Grundlagen der Europäischen Gemeinschaft und damit auch die direkte Beteiligung der Völker Europas. Die Bedeutung der nationalen Parlamente in bezug auf die demokratische Legitimation der Europäischen Gemeinschaft wird nunmehr in der Erklärung zur Rolle der einzelstaatlichen Parlamente in der Europäischen Union 4 8 4 ausdrücklich unterstrichen 485. In dieser Erklärung wird festgehalten, daß eine größere Beteiligung der nationalen Parlamente an den Tätigkeiten der Europäischen Union zu fördern ist, da das verstärkte Engagement der nationalen Parlamente eine legitimationssteigernde Wirkung habe 486 . Um die Einflußnahmemöglichkeiten der nationalen Parlamente über die innerstaatliche Kontrolle der Regierungen hinaus zu ermöglichen und zu intensivieren, soll die

478

BVerfGE 89, S. 155, 191.

479

Statt vieler Groß, Jura 1991, S. 577; Iglesias , EuGRZ 1996, S. 130.

480

Artikel Ν Abs. 1 EUV.

481

Hölscheidt, KritV 1994, S. 414.

482

Gemäß Artikel 23 GG ist auch der Bundesrat zu beteiligen, Siehe oben S. 146 ff.

483

BVerfGE 89, S. 155, 184.

484

Erklärung Nr. 13 der Schlußakte des EUV.

485

Bleckmann, DVB1. 1992, S. 337; Oppermann/Classen,, Aus Politik und Zeit-geschichte 28/1993, S. 15. 486

Hrbek, GS Grabitz, S. 188 f.

III. Europäische Gemeinschaft

4

Zusammenarbeit der nationalen Parlamente untereinander und deren Zusammenarbeit mit dem Europäischen Parlament gefördert werden 487 . Das Europäische Parlament hat seinen Willen, mit den nationalen Parlamenten zusammenzuarbeiten, durch eine Änderung seiner Geschäftsordnung ausdrücklich bekundet488. Dem Zweck der intensivierten Zusammenarbeit diente bereits die Konferenz der Parlamente, die im November 1990 im Vorfeld der Regierungskonferenzen für die Politische Union und die Wirtschafts- und Währungsunion erstmals zusammengetreten ist 4 8 9 . Die Regierungskonferenz von Maastricht will diese Form der Zusammenarbeit der Parlamente fördern und ersucht das Europäische Parlament und die nationalen Parlamente, erforderlichenfalls als Konferenz der Parlamente zusammenzutreten. Die Konferenz der Parlamente werde unbeschadet der Zuständigkeiten des Europäischen Parlaments und der Rechte der einzelstaatlichen Parlamente zu wesentlichen Leitlinien der Europäischen Union gehört 490 . Demokratische Legitimation durch die Beteiligung der Unionsbürger wird somit im Rahmen der Europäischen Gemeinschaft sowohl durch die Beteiligung des Europäischen Parlaments wie auch durch die nationalen Parlamente sichergestellt. Das Europäische Parlament als von den Völkern Europas gewählte Vertretung sichert die Beteiligung der Unionsbürger durch Mitwirkungsrechte im Rahmen des Rechtsetzungsverfahrens auf der Ebene der Europäischen Gemeinschaft, die bis hin zu einem Vetorecht reichen, Kontrollrechte gegenüber den anderen Gemeinschaftsorganen und ein wesentliches Mitspracherecht bei der Ernennung der Kommission. Die Beteiligung der Unionsbürger wird zudem durch die nationalen Parlamente als gewählte Vertretungen der Staatsvölker der Mitgliedstaaten sichergestellt, die innerstaatlich an dem der Rechtsetzung auf der Ebene der Europäischen Gemeinschaft vorausgehenden Verfahren zu beteiligen sind und die das Handeln der nationalen Vertreter im Rat parlamentarischer Kontrolle unterwerfen.

c) Ergebnis Die Mitgliedstaaten vermitteln in der Europäischen Gemeinschaft demokratische Legitimation. Sie sind in den für die Entscheidungen der Europäischen

487

Zu den bisher vorhandenen Formen der Zusammenarbeit Hölscheidt, 1994, S. 424 ff. m.w.N.

KritV

488

ABl. 1993 Nr. C 268 S. 51.

489

Hierzu BT-Dr. 12/550.

490

Erklärung zur Konferenz der Parlamente, Erklärung Nr. 14 der Schlußakte des

EUV.

C. Zulässigkeit der Hoheitsrechtsübertragungen des EUV

4

Gemeinschaft maßgeblichen Organen und Einrichtungen vertreten. Während im Rat als dem für Entscheidungen der Europäischen Gemeinschaft mit Ausnahme der Währungspolitik maßgeblichen Organ Entscheidungen nach demokratischen Grundsätzen getroffen werden, da sie stets den Willen der Mehrheit der Mitgliedstaaten widerspiegeln und die Vertreter der Mitgliedstaaten für ihr Handeln im Rat demokratisch legitimiert sind, werden demokratische Grundsätze im Bereich der Währungspolitik nur teilweise verwirklicht. Insbesondere die EZB entspricht nur teilweise demokratischen Erfordernissen. So spiegeln Entscheidungen des EZB-Rates nicht notwendig den Willen der Mehrheit der Mitgliedstaaten wider, und die unabhängige Stellung der Mitglieder des EZB-Rates wie der nationalen Zentralbanken, die eine parlamentarische Kontrolle nicht ermöglicht, führt zu einem Mangel an demokratischer Legitimation im Hinblick auf das Handeln der EZB. Die nur teilweise Verwirklichung demokratischer Grundsätze im Bereich der Währungspolitik ist jedoch mit Blick auf das Ziel der Währungspolitik der Europäischen Gemeinschaft, die Gewährleistung von Preisstabilität, ausnahmsweise gerechtfertigt. Demokratische Legitimation wird im Rahmen der Europäischen Gemeinschaft zum anderen durch die Beteiligung der Unionsbürger vermittelt. Demokratische Legitimation wird sowohl durch das Europäische Parlament als auch durch die nationalen Parlamente begründet. Das Europäische Parlament besitzt im Rahmen des Rechtsetzungsverfahrens der Europäischen Gemeinschaft nunmehr Mitwirkungsrechte, die bis zu einem Vetorecht reichen. Es ergänzt als gewählte Vertretung der Völker Europas die durch den Rat vermittelte demokratische Legitimation. Durch die Ausweitung der Beteiligungs- und Mitentscheidungsmöglichkeiten des Europäischen Parlaments im Rahmen des Rechtsetzungsverfahrens der Europäischen Gemeinschaft besteht die Möglichkeit, die sich verringernde Bedeutung der nationalen Parlamente im Hinblick auf ihre Rolle als Gesetzgeber dadurch abzugleichen, daß dem einzelnen Wahlberechtigten eine neue, über das Europäische Parlament vermittelte Einflußnahmemöglichkeit zuwächst491. Gleichwohl besitzt das Europäische Parlament nicht in vollem Umfang diejenigen Rechte, die die nationalen Parlamente besitzen. Es hat beispielsweise nicht die Möglichkeit der parlamentarischen Kontrolle des Rates und ist nicht das maßgebliche Gesetzgebungsorgan. Es bedarf daher im Hinblick auf die Vermittlung demokratischer Legitimation einer weiteren Legitimationsquelle, die den Einfluß der Unionsbürger sichert. Die hinreichende demokratische Legitimation wird durch die nationalen Parlamente vermittelt, die sowohl durch die Zustimmung zu Änderungsverträgen gemäß ihren verfassungsrechtlichen Vorschriften als auch durch die parlamentarische Kontrolle des Handelns der Vertreter der Mitgliedstaaten im Rat die

491

Lang, S. 277; Huber, S. 80.

III. Europäische Gemeinschaft

4

Beteiligung der Völker der Mitgliedstaaten und damit die hinreichende Beteiligung der Unionsbürger sicherstellen. Demokratische Legitimation beruht in der Europäischen Gemeinschaft also auf zwei parallelen, sich gegenseitig ergänzenden Legitimationssträngen. Sie wird einerseits durch das Handeln der Regierungen im Rat und andererseits durch das Europäische Parlament und die das Handeln der Regierungen parlamentarisch kontrollierenden nationalen Parlamente vermittelt. Die Europäische Gemeinschaft ist damit auch demokratischen Grundsätzen gemäß Artikel 23 Absatz 1 Satz 1 GG verpflichtet.

3. Rechtsstaatliche Grundsätze Die Europäische Gemeinschaft muß gemäß Artikel 23 Absatz 1 Satz 1 GG außerdem rechtsstaatlichen Grundsätzen verpflichtet sein. Dies bedeutet, daß eine Bindung an Recht und Gesetz einschließlich einer gerichtlichen Kontrolle sowie der Schutz elementarer Grund- und Menschenrechte garantiert sein müssen und daß der Grundsatz der Gewaltenteilung verwirklicht sein muß 4 9 2 . Anders als in den Bereichen der GASP und der Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres kann im Rahmen der Europäischen Gemeinschaft auf Garantien zurückgegriffen werden, die bereits im Rahmen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft entwickelt wurden. Bereits die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft war eine Rechtsgemeinschaft 493. Sie wurde durch völkerrechtliche Verträge zwischen den Mitgliedstaaten gegründet 494. Sie setzte Recht 495 , da sie aufgrund eigener, von den Mitgliedstaaten übertragener Hoheitsrechte Rechtsakte erlassen konnte, und sie bildete durch die Gründungsverträge und die aufgrund dieser Verträge erlassenen Rechtsakte eine eigenständige Rechtsordnung496. Ihre Ziele und Organisation wurden in der

492

Siehe oben S. 118 ff.

493

EuGH 23.04.1985 - Les Verts/Parlament, Rs. 294/83 - Slg. 1986, S. 1339, 1365 f. Grundlegend Hallstein, S. 53 ff.; aus jüngerer Zeit Pache, S. 21 f.; Oppermann, DVBI. 1994, S. 902; Zuleeg., NJW 1994, S. 545. 494

Hallstein, S. 53; Ehlermann, FS Carstens, S. 83 f.

495

Hallstein, S. 53 ff.; Ehlermann, FS Carstens, S. 85 ff.

496

EuGH 15.07.1964 - Costa/ENEL, Rs. 6/64 - Slg. 1964, S. 1251, 1269ff.; Bieber, in: Beutler/Bieber/Pipkorn/Streil, S. 184; Schmidhuber/Hitzler, NVwZ 1992, S. 721. Es bildete sich in der folge ein geschlossenes System von Rechtssätzen heraus, Hallstein, S. 55; Pache, S. 22 m.w.N.

4

C. Zulässigkeit der Hoheitsrechtsübertragungen des EUV

Form von Rechtsnormen festgelegt 497, sie verwirklichte ihre Ziele, indem sie in besonderen Verfahren verschiedene Arten von Rechtsakten, und sie stellte ein Rechtsschutzsystem gegen diese Rechtsakte zur Verfügung 498. Die gerichtliche Kontrolle der durch die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft erlassenen Rechtsakte erfolgte durch den EuGH, dem gemäß Artikel 164 EWGV die Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung des EWG-Vertrages oblag. Die gerichtliche Kontrolle der Rechtmäßigkeit des Handelns der Gemeinschaftsorgane und des auf der Grundlage des EG-Vertrages erlassenen Gemeinschaftsrechts obliegt auch nach dem EG-Vertrag unverändert dem EuGH 4 9 9 . Die Einhaltung der Gemeinschaftsrechtsordnung wird gemäß Artikel 164 ff. EGV vom EuGH und dem ihm beigeordneten Gericht Erster Instanz durch die Kontrolle der Auslegung und Anwendung des Gemeinschaftsrechts sichergestellt. Die Zuständigkeit des EuGH umfaßt sowohl die Frage der Rechtmäßigkeit der Rechtsakte als auch die Gesetzmäßigkeit der Anwendung des Gemeinschaftsrechts 500 und garantiert auf diese Weise die einheitliche rechtmäßige Anwendung und Auslegung des Gemeinschaftsrechts in allen Mitgliedstaaten501. Dem EuGH obliegt die Aufgabe der Klärung der Rechte und Pflichten der EG-Organe untereinander sowie der Rechtsverhältnisse zwischen den Mitgliedstaaten und der Europäischen Gemeinschaft 502, aber auch die Sicherung der Rechte der Unionsbürger 503. Dies erfolgt mittels des in Artikel 169 EGV geregelten Vertragsverletzungsverfahren, der in Artikel 173 EGV geregelten Nichtigkeitsklage, des Vorabentscheidungsverfahrens über die Gültigkeit der Handlungen der Organe der Europäischen Gemeinschaft gemäß Artikel 177 EGV und der in Artikel 184 EGV vorgesehenen inzidenten Normenkontroll e 5 0 4 . Der Aufgabe der Abgrenzung der Kompetenzen zwischen der Europäischen Gemeinschaft einerseits und den Mitgliedstaaten andererseits dienen die

497

Bieber, in: Beutler/Bieber/Pipkorn/Streil, S. 191 f.

498

Vgl. nur EuGH 23.04.1985 - Les Verts/Parlament, Rs. 294/83 - Slg. 1986, S. 1339, 1365. Ehlermann, FS Carstens, S. 81; Schwarze, NJW 1992, S. 1065 f.; Zuleegr, NJW 1994, S. 545; Ipsen, Η. Λ, HdbStR VII, § 181 Rn. 82; Kirchner/Haas, JZ 1993, S. 760; Rojahn, Artikel 24, Rn. 65, in: von Münch/Kunig (Hrsg.), Kommentar zum GG. 499

Schweitzer/Hummer,

500

Iglesias , EuGRZ 1996, S. 125; Huber, S. 267.

501

Kirchhof,

502

Wessels, S. 33.

503

Schweitzer/Hummer,

504

So zusammenfassend Iglesias , EuGRZ 1996, S. 125.

S. 77; Wessels, S. 28.

FAZ vom 04.12.1996, S.U. S. 177.

III. Europäische Gemeinschaft

41

Vertragsverletzungsverfahren der Artikel 169 und 170 E G V 5 0 5 . Die Nichtigkeits- und Untätigkeitsklagen der Artikel 173 und 175 EGV sind hingegen Rechtsschutzverfahren für Streitigkeiten zwischen den Gemeinschaftsorganen oder zwischen Gemeinschaftsorganen und einem Mitgliedstaat über die Rechtmäßigkeit des Handelns oder Unterlassen von Gemeinschaftsorganen. Die Überprüfung des sekundären Gemeinschaftsrechts kann im Rahmen des Artikels 177 EGV auf Ersuchen nationaler Gerichte um eine Vorabentscheidung, aber auch im Rahmen von Nichtigkeitsklagen gemäß Artikel 173 EGV sowie auf dem Wege des Verfahrens nach Artikel 184 EGV erfolgen. Das Rechtsschutzsystem des EG-Vertrages gibt auch Einzelpersonen die Möglichkeit zur Einleitung gerichtlicher Verfahren. Natürliche und juristische Personen können sich direkt im Wege der Verfahren der Artikel 173 Unterabsatz 4, 175 Unterabsatz 3, Artikel 179 i.V.m. Artikel 215 EGV an den EuGH wenden, sofern sie durch Handlungen und Unterlassungen der Gemeinschaftsorgane oder Gemeinschaftsrechtsakte unmittelbar und individuell betroffen sind. Obliegt die Durchsetzung von Gemeinschaftsrecht den Gemeinschaftsorganen, können natürliche und juristische Personen vor dem EuGH direkt gegen DurchfÜhrungsmaßnahmen klagen, die sie unmittelbar und individuell betreffen 506. Obliegt die Durchführung den nationalen Behörden der Mitgliedstaaten, können die Betroffenen die Ungültigkeit oder Rechtswidrigkeit von Rechtsakten vor den nationalen Gerichten geltend machen. Diese sind gehalten, sich bzgl. der Auslegung des EG-Vertrages und der Gültigkeit und Auslegung von Sekundärgemeinschaftsrecht an den EuGH zu wenden 507 . Weder die Mitgliedstaaten noch die Gemeinschaftsorgane sind damit der Kontrolle darüber entzogen, ob ihre Handlungen im Einklang mit dem Gemeinschaftsrecht stehen 508 . Die verschiedenen Verfahren vor dem EuGH einerseits, vor den nationalen Gerichten andererseits begründen damit insgesamt ein umfassendes System gerichtlicher Kontrolle im Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts. Problematisch ist jedoch, ob diese umfassende gerichtliche Kontrolle auch in den durch den Vertrag von Maastricht geänderten Bereichen des EG-Vertrages gewährleistet ist. Artikel L EUV enthält hierzu die grundlegende Feststellung, daß die Regelungen des EG-Vertrages betreffend die Zuständigkeit des EuGH

505 p r a g e n d e s Umfangs der Gemeinschaftskompetenzen können daneben auch mittels eines Gutachtens des EuGH nach Artikel 228 Abs. 6 EGV im Hinblick auf die Vereinbarkeit eines völkerrechtlichen Vertrages mit dem EGV geklärt werden. 506

Artikel 173 Unterabsatz 4 EGV.

507

EuGH 23.04.1986 - Les Verts/Parlament, Rs. 294/83 - Slg. 1986, S. 1339,

1365. 508

1365.

EuGH 23.04.1986 - Les Verts/Parlament, Rs. 294/83 - Slg. 1986, S. 1339,

4

C. Zulässigkeit der Hoheitsrechtsübertragungen des EUV

auch für die Bestimmungen gelten, durch die der EWG-Vertrag geändert wird 5 0 9 . Artikel L EUV hat insofern allerdings nur deklaratorische Bedeutung, denn nach der Einarbeitung in den EG-Vertrag sind die Änderungen Bestandteil des EG-Vertrages und fallen schon aufgrund dessen in die Zuständigkeit des EuGH 5 1 0 . Der EuGH besitzt damit auch für die geänderten Bereiche des EGVertrages die Zuständigkeit im Hinblick auf die gerichtliche Kontrolle. Er ist damit auch für die in den Artikeln 126 ff. EGV geregelten Bereiche und die auf der Grundlage der Artikel 126 ff. EGV ergehenden Gemeinschaftsrechtsakte zuständig. Seine Zuständigkeit ist auch für die Regelungen des Protokolls über die Sozialpolitik und das in ihm enthaltene Abkommen über die Sozialpolitik gegeben. Dieses ist dem EG-Vertrag als Protokoll beigefügt 511. Es ist damit gemäß Artikel 239 EGV Bestandteil des EG-Vertrages 512 und unterliegt als solcher ebenfalls der Zuständigkeit des EuGH. Fraglich ist, ob die umfassende Zuständigkeit des EuGH auch für die durch den EG-Vertrag geänderten Bereiche der Wirtschafts- und insbesondere der grundlegend neugestalteten Währungspolitik der Europäischen Gemeinschaft gilt. Im Bereich der Wirtschaftspolitik sind vor allem die Regelungen zur stärkeren Überwachung der Ausrichtung der allgemeinen Wirtschaftspolitiken der Mitgliedstaaten und der Überwachung der Haushaltslagen der Mitgliedstaaten neu in den EG-Vertrag aufgenommen worden. Im Rahmen der Überwachung der Haushaltslagen der Mitgliedstaaten durch die Europäische Gemeinschaft ist gemäß Artikel 104 c Absatz 10 EGV die Möglichkeit der Klageerhebung in Form des Vertragsverletzungsverfahrens in bezug auf die gemäß Artikel 104 c Absätze 1 - 9 EGV vorgesehene Überwachung ausdrücklich ausgeschlossen. Damit ist die Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahrens durch die Kommission oder einen Mitgliedstaat nach den in den Artikeln 169 und 170 EGV vorgesehenen Verfahren nicht möglich 513 . Dies führt jedoch nicht zu einer Rechtsschutzlücke. Die im Verfahren der Überwachung der Haushaltslage ergehenden Maßnahmen und Beschlüsse der Europäischen Gemeinschaft gegenüber Mitgliedstaaten gemäß Artikel 104 c Absätze 1 - 9 EGV lösen nämlich unmittelbar keine Rechtsfolgen aus. Der Rat kann gemäß Artikel 104 c Absatz 6 EGV nach Berichten und Stellungnahmen feststellen, daß ein übermäßiges Defizit in einem Mitgliedstaat vorliegt. Diese Entscheidung führt gemäß Artikel 104 c Absatz 7 EGV zu Empfehlungen an den betreffenden Mitgliedstaat. Diese sind jedoch gegenüber dem Mitgliedstaat nicht verbindlich. Die im Ver-

509

Artikel L lit. c EUV. Diese Bestimmungen waren in Artikel G EUV enthalten.

510

Pache, Artikel L, Rn. 13, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), Kommentar zum EUV.

511

Nr. 3 des Protokolls über die Sozialpolitik.

512

Siehe oben S. 202 f.

513

Kortz, S. 115.

III. Europäische Gemeinschaft

4

fahren der Haushaltsüberwachung als nächster Schritt gemäß Artikel 104 c Absatz 9 EGV vorgesehene Inverzugsetzung des betreffenden Mitgliedstaates durch den Rat löst ebenfalls noch keine unmittelbaren Rechtsfolgen aus. Diese treten vielmehr erst durch den nachfolgenden Beschluß ein, mit dem der Rat gemäß Artikel 104 c Absatz 10 EGV konkrete Sanktionen gegen den Mitgliedstaat wegen des nicht erfolgenden Abbaus des Haushaltsdefizits verhängt. Gegen diesen Beschluß des Rates kann der betroffene Mitgliedstaat jedoch vorgehen und den EuGH im Verfahren des Artikels 173 EGV anrufen, denn die Anwendbarkeit dieses Verfahrens ist durch Artikel 104 c Absatz 10 EGV nicht ausgeschlossen514. Die Mitgliedstaaten haben ferner auch als Adressaten von Sanktionen nach dem Sanktionenkatalog des Artikels 104 c Absatz 11 EGV die Möglichkeit der Anrufung des EuGH und damit der gerichtlichen Kontrolle durch den EuGH 5 1 5 . Es ist fraglich, ob die Möglichkeit umfassender gerichtlicher Kontrolle auch im Bereich der Währungspolitik gegeben ist. Eine solche müßte zunächst in der 2. Stufe in bezug auf das EWI bestehen. Gemäß Artikel 19.1 der Satzung des EWI unterliegen Handlungen und Unterlassungen des EWI grundsätzlich der Überprüfung und Auslegung durch den EuGH. Gemäß Artikel 109 f Absatz 9 EGV wird die Bezeichnung EZB in der 2. Stufe durch das EWI ersetzt, so daß die Artikel 173, 175 und 176 EGV somit auch in bezug auf das EWI gelten mit der Folge, daß der EuGH Entscheidungen des EWI gerichtlich kontrollieren kann. Im Bereich der außervertraglichen Haftung unterliegt das EWI der Haftungsregelung des Artikels 215 EGV mit der Folge, daß der EuGH gemäß Artikel 178 EGV für solche Streitigkeiten ebenfalls zuständig ist. Der EuGH ist auch für Entscheidungen aufgrund von Schiedsklauseln zuständig, die in einem vom EWI oder für seine Rechnung abgeschlossenen öffentlich-rechtlichen Vertrag oder privaten Vertrag enthalten sind 516 . Darüber hinaus ist der EuGH gemäß Artikel 180 lit. d EGV, der gemäß Artikel 109 f Absatz 9 EGV für die Dauer der 2. Stufe das EWI mit dem Ausdruck EZB bezeichnet, zuständig für Streitigkeiten in bezug auf die Erfüllung der sich aus dem EG-Vertrag und der Satzung des EWI ergebenden Verpflichtungen durch die nationalen Zentralbanken. Gemäß Artikel 180 d EGV kann der EWI-Rat, wenn er der Auffassung ist, daß ein Mitgliedstaat gegen eine Verpflichtung des EG-Vertrages verstoßen hat, zu diesem Verhalten eine mit Gründen versehene Stellungnahme abgeben, nachdem dem betreffenden Mitgliedstaat Gelegenheit zur Stellungnahme gege-

5, 4

Kortz, S. 116.

515

Dies ergibt sich aus dem Wortlaut des Artikel 104 c Abs. 9 EGV, wonach das Recht zur Klageerhebung nur im Rahmen der Absätze 1 bis 9 nicht ausgeübt werden kann. 516

Artikel 19.4 der Satzung des EWI.

494

C. Zulässigkeit der Hoheitsrechtsübertragungen des EUV

ben worden ist 5 1 7 . Kommt der Mitgliedstaat dieser Stellungnahme innerhalb der vom EWI-Rat gesetzten Frist nicht nach, kann dieser den EuGH anrufen. Damit besteht auch in bezug auf das Handeln der nationalen Zentralbanken die Möglichkeit der gerichtlichen Kontrolle durch den EuGH. Außerdem können über Streitigkeiten zwischen dem EWI einerseits und Gläubigern, Schuldnern oder dritten Personen andererseits die nationalen Gerichte in den Fällen entscheiden, in denen der EuGH nicht zuständig ist 5 1 8 . Damit unterliegt das Handeln des EWI, ebenso wie das Handeln der nationalen Zentralbanken, der gerichtlichen Kontrolle durch den EuGH und die nationalen Gerichte. Die Regelungen des EGV gewährleisten also in der 2. Stufe der Währungsunion eine umfassende gerichtliche Kontrolle. Gerichtliche Kontrolle muß auch in der 3. Stufe gewährleistet sein. Da in der 3. Stufe im Bereich der Währungspolitik das ESZB durch die EZB und die nationalen Zentralbanken handelt, ist erforderlich, daß sowohl das Handeln der EZB als auch das der nationalen Zentralbanken gerichtlicher Kontrolle unterliegt. In bezug auf das Handeln der EZB gilt, wie bereits in bezug auf das EWI, der Grundsatz, daß Handlungen und Unterlassungen der EZB der Überprüfung und Auslegung durch den EuGH unterliegen 519. Der EuGH ist gemäß Artikel 173 EGV für alle rechtsverbindlichen Handlungen der EZB, also für Verordnungen und Entscheidungen520, zuständig, die der Rat oder die Kommission wegen Unzuständigkeit, Verletzung wesentlicher Formvorschriften, Verletzung des EG-Vertrages oder einer bei seiner Durchführung anzuwendenden Rechtsnorm oder wegen Ermessensmißbrauchs erhebt 521 . Die Möglichkeit zur Einleitung des Verfahrens gemäß Artikel 173 EGV steht jedem Mitgliedstaat, dem Rat und der Kommission sowie dem Europäischen Parlament offen 522 . Darüber hinaus besitzen aber auch natürliche und juristische Personen die Möglichkeit der Erhebung einer Nichtigkeitsklage, sofern sie durch eine an sie gerichtete Entscheidung oder eine Verordnung der EZB unmittelbar und individuell betroffen worden sind 523 . Der EuGH ist gemäß Artikel 175 EGV auch ermächtigt, eine unterlassene Beschlußfassung der EZB gerichtlich zu überprüfen. Er ist

517

Kortz, S. 51.

518

Artikel 19.2 der Satzung des EWI.

519

Artikel 35.1 der Satzung des ESZB und der EZB.

520

Artikel 34.2 und 34.3 der Satzung des ESZB und der EZB.

521

Artikel 173 Unterabsätze 2 und 3 EGV. Weber, JZ 1994, S. 57, sieht hierin einen erheblichen Schritt der Verrechtlichung währungspolitischer Beschlüsse einer Notenbank, die im nationalen Recht einzelner Mitgliedstaaten bisher nicht gegeben ist. 522

Artikel 173 Unterabsatz 2 EGV Artikel 1 3 Unterabsatz

EGV.

III. Europäische Gemeinschaft

4

ferner zuständig für Streitigkeiten in Zusammenhang mit der außervertraglichen Haftung der Organe und Bediensteten der E Z B 5 2 4 . Der EuGH ist daneben für Entscheidungen aufgrund von Schiedsklauseln zuständig, die in von der EZB oder für ihre Rechnung abgeschlossenen öffentlich-rechtlichen oder privatrechtlichen Verträgen enthalten sind 525 . Er kann außerdem gemäß Artikel 177 lit. b EGV im Wege des Vorabentscheidungsverfahrens auch über die Gültigkeit und Auslegung der Handlungen der Organe der EZB entscheiden. Darüber hinaus ist der EuGH zuständig für Streitigkeiten in bezug auf die Erfüllung der sich aus dem EG-Vertrag und der Satzung des ESZB und der EZB ergebenden Verpflichtungen der nationalen Zentralbanken 526. Ist die EZB der Auffassung, daß eine nationale Zentralbank einer Verpflichtung aus der Satzung des ESZB und der EZB nicht nachgekommen ist, so kann sie den EuGH anrufen, wenn die nationale Zentralbank einer mit Gründen versehenen Stellungnahme der EZB nicht innerhalb der von dieser gesetzten Frist nachgekommen ist 5 2 7 . Die nationalen Gerichte entscheiden sowohl in bezug auf die außervertragliche Haftung der nationalen Zentralbanken 528 als auch, vorbehaltlich der Zuständigkeiten des EuGH, über Rechtsstreitigkeiten zwischen der EZB einerseits und ihren Gläubigern, Schuldnern oder dritten Personen andererseits 529. Es ist also auch in der 3. Stufe eine umfassende gerichtliche Kontrolle gewährleistet. Damit besteht auch im Bereich der Währungspolitik die Möglichkeit der gerichtlichen Kontrolle. Im Rahmen der Europäischen Gemeinschaft ist damit in allen Politikbereichen gerichtliche Kontrolle gegeben. Die Möglichkeit der gerichtlichen Kontrolle wird ergänzt durch Verfahrensrechte, die auf Gemeinschaftsebene die Durchführung eines rechtsstaatlichen Verfahrens garantieren. Zu den Rechten, die im Rahmen der Europäischen Gemeinschaft garantiert werden, zählt etwa der Anspruch auf Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes530. Es besteht ein Anspruch auf rechtliches Gehör 531 , 524

Artikel 178 i.V.m. Artikel 215 Unterabsatz 3 EGV.

525

Artikel 35.4 der Satzung des ESZB und der EZB.

526

Artikel 180 lit. d EGV.

527

Artikel 35.6 der Satzung des ESZB und der EZB.

528

Artikel 35. 3 Satz 2 der Satzung des ESZB und der EZB.

529

Artikel 35.2 der Satzung des ESZB und der EZB.

530

EuGH 15.05.1986 - Johnston/Chief Constable of the Royal Ulster Constabulary, Rs. 222/84 - Slg. 1986, S. 1651, 1682; EuGH 15.10.1987 - Unectef/Heylens, Rs. 222/86 - Slg. 1987, S. 4097, 4117. 531

EuGH 23.10.1974 - Transocean/Kommission, Rs. 17/74 - Slg. 1974, S. 1063, 1081; EuGH 13.02.1979 - Hoffmann-La Roche/Kommission, Rs. 85/76 - Slg. 1979, S. 461, 511; EuGH 27.10.1977 - Moli/Kommission, Rs. 121/76 - Slg. 1977, S. 1971, 1979; EuGH 21.09.1989 - Hoechst/Kommission, verb. Rs. 46/87 u. 227/88 - Slg. 1989,

496

C. Zulässigkeit der Hoheitsrechtsübertragungen des EUV

auf Verteidigung 532, und es gilt das Gebot der Rechtssicherheit533. Die Rechtsakte der Europäischen Gemeinschaft sind mit Gründen zu versehen 534. Läßt eine Begründung die sachlichen und rechtlichen Gesichtspunkte, von denen die Rechtmäßigkeit des Rechtsaktes abhängt, nicht erkennen, kann der EuGH ihn aufheben 535. Diese Begründungspflicht wird durch Artikel 3 b Absatz 2 EGV nunmehr dahingehend ausgebaut, daß die Europäische Gemeinschaft auch begründen muß, warum überhaupt ein Tätigwerden auf der Ebene der Europäischen Gemeinschaft erforderlich ist 5 3 6 . Aus dieser Begründung muß sich das genaue Ziel der beabsichtigten Maßnahme ergeben, und es muß ersichtlich sein, warum dieses Ziel ausschließlich durch ein gemeinschaftliches Tätigwerden erreicht werden kann 5 3 7 . Neben Verfahrensrechten und der Begründungspflicht garantiert die Europäische Gemeinschaft außerdem zahlreiche Grund- und Menschenrechte538. Die Verwirklichung rechtsstaatlicher Grundsätze setzt zudem voraus, daß das Handeln der Europäischen Gemeinschaft rechtsstaatlichen Grundsätzen genügt. Diese muß ihr Handeln also an denjenigen allgemeinen Rechtsgrundsätzen ausrichten, die für eine rechtsstaatliche Ordnung wesensnotwendig sind 539 . Es sind dies der Vorbehalt und der Vorrang des Gesetzes, die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und des Vertrauensschutzes sowie das Willkürverbot 540 . Diese Grundsätze sind in der Europäischen Gemeinschaft sämtlich erfüllt. In der Europäischen Gemeinschaft gilt, wie zuvor in der Europäischen Wirtschaftsge-

S. 2859, 2923; EuGH 21.11.1991 - Technische Universität München/Hauptzollamt München-Mitte, Rs. C 269/90 - Slg. I 1991, S. 5469, 5499. Schwarze, NJW 1986, S. 1071. 532

EuGH 18.05.1982 - AM&S Europe/Kommission, Rs. 155/79 - Slg. 1982, S. 1575, 1611; EuGH 21.09.1989 - Hoechst/Kommission, verb. Rs. 46/87 u. 227/88 Slg. 1989, 2859,2929. 533

EuGH 27.03.1980 - Amministrazione delle Finanze dello Stato/Salumi, verb. Rs. 66, 127, 128/79-Slg. 1980, S. 1237, 1261. Zuleeg, NJW 1993, S. 547. 534

Artikel 190 EUV. Hierzu auch Schwarze, NJW 1986, S. 1072.

535

So etwa im Verfahren EuGH 14.05.1975 - Kali und Salz/Kommission, verb. Rs. 19 und 20/74 - Slg. 1975, S. 499, 519 ff. Eine ausführliche Analyse der Rechtsprechung findet sich bei Daig, S. 131 ff. 536

Siehe oben S. 123 ff.

537

Pieper, DVBI. 1993, S. 711.

538

Siehe unten unter 5.

539

So auch Ipsen, Η. Λ, HdbStR VII, § 181 Rn. 70; Kirchner/Haas, S. 764; Brandt, JuS 1994, S. 305; Classen , ZRP 1993, S. 40. 540

Siehe oben S. 118 f.

JZ 1993,

III. Europäische Gemeinschaft meinschaft, erstens der Grundsatz des Vorbehalts des Gesetzes541, der durch das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung eine besondere Ausprägung erhält 542 . Die Europäische Gemeinschaft darf gemäß Artikel 3 b Absatz 1 EGV nur innerhalb der ihr durch den EG-Vertrag zugewiesenen Befugnisse und gesetzten Ziele tätig werden. Artikel 3 b Absatz 1 EGV bestätigt damit den bisher bereits aus anderen Vorschriften abgeleiteten Grundsatz, daß die Europäische Gemeinschaft nur aufgrund einer konkreten Ermächtigungsgrundlage tätig werden darf 5 4 3 . Außerdem gelten im Rahmen der Europäischen Gemeinschaft das Vertrauensschutzprinzip 544 und die Grundsätze des Willkürverbotes und der Verhältnismäßigkeit 545. Letzterer wird durch Artikel 3 b Absatz 3 EGV nun ausdrücklich im EG-Vertrag bestätigt546. Danach gehen die Maßnahmen der Europäischen Gemeinschaft nicht über das für die Erreichung der Ziele des EGVertrages erforderliche Maß hinaus. Artikel 3 b Absatz 3 EGV legt damit hinsichtlich sämtlicher Kompetenzen der Europäischen Gemeinschaft die Grenzen für die Art und Intensität des Gemeinschaftshandelns fest 547 . Er bewirkt inhaltlich jedoch keine Änderung der bisherigen Rechtslage, denn der EuGH hatte die Maßstäbe des Verhältnismäßigkeitsprinzips als Grenze für das Tätigwerden der Gemeinschaftsorgane bereits früher in zahlreichen Entscheidungen herausgear-

541

EuGH 22.03.1961 - Snupat/Hohe Behörde, verb. Rs. 42 und 49/59 - Slg. 1961, S. 109, 172. Schwarze, FS Maihofer, S. 534; ders., NJW 1986, S. 1068; Zuleeg., NJW 1994, S. 547. 542 543

Brandt, JuS 1994, S. 304.

Bogdandy/Nettesheim, zum EUV.

Artikel 3 b, Rn. 3, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), Kommentar

544

EuGH 12.07.1957 - Algera u.a., verb. Rs. 7/56 und 3-7/57 - Slg. 1957, S. 83, 118; EuGH 05.07.1973 - Westzucker/Einfuhr- und Vorratssteile für Zucker, Rs. 1/73 Slg. 1973, S. 723, 729 ff.; EuGH 25.01.1979 - Racke/Hauptzollamt Mainz, Rs. 98/78 Slg. 1979, S. 69, 86; EuGH 05.07.1977 - Bela-Mühle/Grows-Farm, Rs. 114/76 - Slg. 1977, S. 1211, 1221. Hierzu Borchardu EuGRZ 1988, S. 309 ff. Umfangreicher Nachweis bei Schwarze, Europäisches Verwaltungsrecht, S. 1059 ff.; Bleckmann, FS Börner, S. 29. 545

EuGH 17.12.1970 - Internationale Handelsgesellschaft/Einfuhr- und Vorratsstelle für Getreide und Futtermittel, Rs. 11/70 - Slg. 1970, S. 1125, 1237; EuGH 21.09.1989 - Hoechst/Kommission, verb. Rs. 46/87 u. 227/88 - Slg. 1989, S. 2859, 2924. Pernice , Artikel 164, Rn. 101 ff., in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), Kommentar zum EUV. 546 StreiL in: Beutler/Bieber/Pipkorn/Streil, S. 242; Bogdandy/Nettesheim, kel 3 b, Rn. 45, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), Kommentar zum EUV. 547

S. D8. 32 Uhrig

So die Schlußfolgerungen des Europäischen Rates von Edinburgh, EA 1992,

Arti-

498

C. Zulässigkeit der Hoheitsrechtsübertragungen des EUV

beitet 548 . Rechtsakte der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft waren danach nur rechtmäßig, wenn sie zur Erreichung der zulässigerweise mit der fraglichen Regelung verfolgten Ziele geeignet und erforderlich waren. Dabei war, wenn mehrere geeignete Maßnahmen zur Auswahl standen, die am wenigsten belastende zu wählen, und die auferlegten Belastungen mußten in angemessenem Verhältnis zu den angestrebten Zielen stehen 549 . Gemeinschaftsrechtsakte bedurften also einer Rechtfertigung durch einen legitimen Zweck, ein angemessenes Verhältnis zwischen dem Nutzen und den mit ihnen verbundenen Beeinträchtigungen, und es war generell das mildeste zur Verfügung stehende Mittel zu wählen 550 . Die Europäische Gemeinschaft verwirklicht auch den Grundsatz der Gewaltenteilung. Zwar folgt sie nicht dem Grundsatz der Gewaltenteilung, wie das Grundgesetz ihn für die Trennung und Verteilung der Gewalten in bezug auf die deutschen Verfassungsorgane vornimmt. Die Verteilung der Zuständigkeiten der Gemeinschaftsorgane läßt sich in bezug auf die Europäische Gemeinschaft nicht in das dem Grundgesetz zugrundeliegende Schema „LegislativeExekutive-Rechtsprechung" einordnen 551. Gleichwohl enthält der EG-Vertrag aber Regelungen, die den Gemeinschaftsorganen und -einrichtungen konkrete Aufgaben und voneinander abgegrenzte Zuständigkeiten zuweisen. Die Organe und Einrichtungen der Europäischen Gemeinschaft haben nämlich nach Maßgabe der ihnen im EG-Vertrag zugewiesenen Befugnisse zu handeln 552 . Das Europäische Parlament als gewählte Vertretung der Völker Europas ist am Rechtsetzungsverfahren der Europäischen Gemeinschaft bis hin zu einem Vetorecht beteiligt. Seine Zustimmung ist beim Abschluß zahlreicher völkerrechtlicher Verträge erforderlich. Die Ernennung des Kommissionspräsidenten und der übrigen Mitglieder der Kommission ist von seiner Zustimmung abhängig, und es besitzt parlamentarische Kontroll-, Untersuchungs- und Berichtsrechte 553 .

548

EuGH 05.07.1977 - Bela-Mühle/Grows Farm, Rs. 114/76 - Slg. 1977, S. 1211, 1221; EuGH 13.12.1970 - Hauer/Land Rheinland-Pfalz, Rs. 44/79 - Slg. 1979, S. 3727, 3747; EuGH 19.06.1980 - Testa, Maggio, Vitale/Bundesanstalt für Arbeit, Rs. 41, 121, 796/79 - Slg. 1980, S. 1979, 1997. Pipkorn., EuZW 1992, S. 698. 549 EuGH 11.07.1989 - Schräder/Hauptzollamt Gronau, Rs. 265/87 - Slg. 1989, S. 2237, 2269. 550

Schmidhuber/Hitzler,

NVwZ 1992, S. 722.

551

Oppermann, Europarecht, Rn. 209.

552

Artikel 4 Absatz 1 Unterabsatz 2; Artikel 4 a EGV.

553

Siehe oben S. 480 ff.

III. Europäische Gemeinschaft

499

Die Kommission, deren Mitglieder ihre Tätigkeit in voller Unabhängigkeit zum allgemeinen Wohl der Europäischen Gemeinschaft ausüben554, besitzt in aller Regel 555 das alleinige Initiativrecht zur Einleitung des Rechtsetzungsverfahrens der Europäischen Gemeinschaft, das auch das Recht zur Festlegung von Zeitpunkt, Art und Inhalt des Rechtsaktes umfaßt 556 . Der Kommission kommt durch das Erstellen des Haushaltsvorentwurfs auch das Initiativrecht für den Haushalt der Europäischen Gemeinschaft z u 5 5 7 . Sie sorgt neben den Mitgliedstaaten für die Anwendung des EG-Vertrages und des zu seiner Durchsetzung erlassenen Rechts 558 . Ihr stehen zu diesem Zweck einerseits selbständige Rechtsetzungs-, andererseits Kontrollkompetenzen z u 5 5 9 . So besitzt die Kommission eigene Entscheidungskompetenzen560, Kompetenzen für den Erlaß von Durchführungsvorschriften 561, und sie hat Auskunftsrechte 562, die das Recht zur Beobachtung, Ermittlung und Feststellung rechtserheblicher Umstände sowohl gegenüber natürlichen und juristischen Personen als auch gegenüber den Mitgliedstaaten umfassen 563. Der Rat als das die Mitgliedstaaten repräsentie-

554

Artikel 157 Abs. 2 Unterabsatz 1 EGV.

555

Eine Ausnahme ist etwa Artikel 217 EGV, der dem Rat eine autonome Rechtsetzungsbefugnis einräumt. 556

Bieber, in: Beutler/Bieber/Pipkorn/Streil, S. 140; Smitt von Sydow, Artikel 155, Rn. 31 ff., in: von der Groeben/Thiesing/Ehlermann (Hrsg.), Kommentar zum EWGV. 557

Artikel 203 Abs. 2 EGV.

558

Artikel 155 Spiegelstrich 1 EGV.

559

Oppermann, Europarecht, Rn. 319 ff.

560

Artikel 155 Spiegelstrich 3 EGV. Unter Entscheidungen sind sowohl die verbindlichen Rechtsakte des Artikels 189 EGV als auch alle weiteren verbindlichen Akte allgemeiner und spezieller Art zu verstehen, Hummer, Artikel 155, Rn. 32, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), Kommentar zum EUV. Schmitt von Sydow, Artikel 155, Rn. 46, in: von der Groeben/Thiesing/Ehlermann (Hrsg.), Kommentar zum EWGV, teilt die Kompetenzen der Kommission in 3 Gruppen auf, nämlich erstens Finanzmaßnahmen, wie die Verwaltung der EG-Haushalte, Fonds und finanziellen Einrichtungen, zweitens allgemeingültige Feststellungen und drittens Entscheidungen i.S. des Artikels 189 Unterabsatz 3 EGV. 561

Artikel 155 Spiegelstrich 4 EGV. Hummer, Artikel 155, Rn. 46, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), Kommentar zum EUV; Schmitt von Sydow, Artikel 155, Rn., 51 ff., in: von der Groeben/Thiesing/Ehlermann (Hrsg.), Kommentar zum EWGV. 562

Artikel 213 EGV. Zu den spezifischen Auskunftsrechten aufgrund von Sekundärrechtsakten Schmitt von Sydow, Artikel 155, Rn. 10, in: von der Groeben/Thiesing/ Ehlermann (Hrsg.), Kommentar zum EWGV. 563

Ipsen. H. P., HdbStR VII, § 181 Rn. 14. Beispiele sind etwa die Unterrichtungspflicht eines Mitgliedstaates bei einer plötzlichen Zahlungsbilanzkrise gemäß 3*

500

C. Zulässigkeit der Hoheitsrechtsübertragungen des EUV

rende Organ ist das für die Gemeinschaftsrechtsetzung maßgebliche Organ 564 . Er besitzt mit Ausnahme des Zustimmungsverfahrens das Letztentscheidungsrecht im Rechtsetzungsverfahren. Gegen seinen Willen ist die Verabschiedung eines Rechtsaktes nicht möglich 565 . Er kann darüber hinaus wichtige Personalentscheidung treffen 566 . Der EuGH als von den Mitgliedstaaten und den Gemeinschaftsorganen unabhängiges Gericht ist für die Anwendung und Auslegung des Gemeinschaftsrechts zuständig567. Er kontrolliert das Handeln der anderen Organe auf seine Vereinbarkeit mit dem Gemeinschaftsrecht und sichert in diesem Zusammenhang die Wahrung des institutionellen Gleichgewichts zwischen den Gemeinschaftsorganen 568. Die so skizzierte Kompetenzverteilung macht deutlich, daß die Funktionen und Kompetenzen der Organe der Europäischen Gemeinschaft zwar von den in den Mitgliedstaaten vorhandenen Modellen der Gewaltenteilung abweichen, daß aber der Aufgaben- und Kompetenzzuweisung an die Organe auf Gemeinschaftsebene ebenfalls das Prinzip der checks and balances zugrundeliegt. Die wechselseitige Kontrolle und Begrenzung durch eine Aufgaben- und Machtverteilung auf unterschiedliche Organe ist auch für die Gemeinschaftsrechtsordnung wesensbestimmend569. Der EG-Vertrag schafft ein System der gegenseitigen Verschränkung, Hemmungen und Kontrolle. Dieses System der checks and balances der Organe der Europäischen Gemeinschaft führt zu einem institutionellen Gleichgewicht570, in dem sich die Gewalten gegenseitig kon-

Artikel 109 i Abs. 2 EGV oder die umfangreichen Untersuchungsrechte im Kartellbereich, etwa aufgrund der VO Nr. 17. 564

Oppermann, Europarecht, Rn. 278. Siehe oben S. 458.

565

Siehe oben S. 458 f.

566

Siehe oben S. 459 f.

567

Siehe oben S. 489 ff.

568

EuGH 17.12.1970 - Einfuhr- und Vorratsstelle für Getreide und Futtermittel/ Köster, Rs. 25/70 - Slg. 1970, S. 1161, 1173; EuGH 22.05.1990 - Parlament/Rat, Rs. C 70/88 - Slg. 1990, S. 2067, 2072. Hummer, Artikel 155, Rn. 14 m.w.N., in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), Kommentar zum EUV. Oppermann, DVBI. 1994, S. 903, mißt diesem Prinzip angesichts der spezifischen Funktionsteilung eine ähnlich fundamentale Bedeutung zu wie der Wahrung der Gewaltenteilung in den Verfassungsordnungen der Mitgliedstaaten. 569

Bleckmann, in: Bleckmann, Europarecht, Rn. 880; Oppermann, Europarecht, Rn. 209: Bieber, in: Beutler/Bieber/Pipkorn/Streil, S. 113. 57 0 Schweitzer/Hummer, (Hrsg.), Kommentar zum EUV.

S. 287; Hummer, Artikel 155, Rn. 14, in: Grabitz/Hilf

III. Europäische Gemeinschaft

501

trollieren und begrenzen 571. Damit ist das die Gewaltenteilung kennzeichnende Prinzip der wechselseitigen Aufteilung und Kontrolle 572 auch im Verhältnis der Organe der Europäischen Gemeinschaft zueinander verwirklicht 573 . Die Europäische Gemeinschaft garantiert also die gerichtliche Kontrolle und damit verbundene Verfahrensrechte, ebenso die Beachtung rechtsstaatlicher Grundsätze durch die Gemeinschaftsorgane, und sie verwirklicht den Grundsatz der Gewaltenteilung. Die Europäische Gemeinschaft ist folglich rechtsstaatlichen Grundsätzen im Sinne des Artikels 23 Absatz 1 Satz 1 GG verpflichtet.

4. Soziale Grundsätze Die Europäische Gemeinschaft muß gemäß Artikel 23 Absatz 1 Satz 1 GG ferner sozialen Grundsätzen verpflichtet sein. Sie muß also eine Wertentscheidung zugunsten sozialer Gerechtigkeit und sozialer Sicherheit getroffen haben 5 7 4 . Anders als die GASP und die Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres ist die Europäische Gemeinschaft durch den Vertrag von Maastricht nicht neu begründet worden. Da der EU-Vertrag den EWG-Vertrag lediglich geändert hat, gelten im Rahmen der Europäischen Gemeinschaft die auf sozialpolitischem Gebiet bereits erzielten Ergebnisse fort, sofern der EG-Vertrag den EWG-Vertrag nicht geändert hat. Bereits die Präambel des EWG-Vertrages enthielt Erwägungen, wonach der soziale Fortschritt zu sichern und die stetige Besserung der Lebens- und Beschäftigungsbedingungen anzustreben gewesen ist 5 7 5 . Diese Erwägungen werden in den Erwägungsgründen des EU-Vertrages aufgegriffen, indem die Europäische Union den festen Willen bekundet, den sozialen Fortschritt ihrer Völker zu fördern und Fortschritte bei der wirtschaftlichen Integration mit parallelen Fortschritten auf sozialem Gebiet einhergehen zu lassen576. Konsequenterweise ist es eine der Aufgaben der Europäischen Gemeinschaft

57 1

Lang, S. 274.

57 2

Oppermann, Europarecht, Rn. 209.

57 3

Badura, VVDStRL 23 (1966), S. 101, LS 19; Kirchner/Haas, JZ 1993, S. 768; Rojahn, Artikel 24, Rn. 65, in: von Münch/Kunig (Hrsg.), Kommentar zum GG. 574

Siehe oben S. 120 f.

575

2. und 3. Erwägungsgrund der Präambel des EWGV.

576

7. Erwägungsgrund der Präambel des EUV.

502

C. Zulässigkeit der Hoheitsrechtsübertragungen des EUV

(...) ein hohes Maß an sozialem Schutz, die Hebung der Lebenshaltung und der Lebenshaltung (und) der Lebensqualität, (...) den wirtschaftlichen und sozialem Zusammenhalt (zu fördern) 577. Die Änderung des EG-Vertrages hat außerdem in Artikel 3 lit. i EGV zur expliziten Aufnahme der Sozialpolitik als eine der Tätigkeiten der Europäischen Gemeinschaft geführt, so daß diese nunmehr neben der bisher im EWG-Vertrag angelegten Ausrichtung auf vornehmlich wirtschaftspolitische Aufgaben auch im Bereich der Sozialpolitik ausdrücklich Aufgaben zu verwirklichen hat 5 7 8 . Das Ziel der Verwirklichung sozialer Grundsätze haben die Gemeinschaftsorgane bereits seit langem verfolgt. Schon vor dem Vertrag von Maastricht haben die Gemeinschaftsorgane die Geltung sozialer Grundsätze in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft anerkannt. So hat das Europäische Parlament in seiner Erklärung der Grundrechte und Grundfreiheiten vom 12. April 1989 in Artikel 15 folgende in der Gemeinschaftsordnung geltende soziale Rechte aufgeführt: 1. Jeder hat das Recht auf alle Maßnahmen, die ihm den bestmöglichen Gesundheitszustand gewährleisten. 2. Arbeitnehmer, Selbständige und ihre Familienangehörigen haben das Recht auf soziale Sicherheit oder eine gleichwertige Regelung. 3. Jeder, der nicht über ausreichende Mittel verfügt, hat das Recht auf soziale und medizinische Hilfe. 4. Jeder, der aus von ihm nicht zu verantwortenden Gründen nicht über eine angemessene Wohnung verfügt, hat Anspruch auf entsprechende Unterstützung durch die zuständigen staatlichen Stellen. 579 Darüber hinaus anerkennt die Erklärung soziale Rechte wie das Recht auf gerechte Arbeitsbedingungen, den Schutz kollektiver sozialer Rechte und das Recht auf Bildung 580 . Der Rat hat bereits am 21. Januar 1974 in Form einer Entschließung ein sozialpolitisches Aktionsprogramm zur Bekämpfung von Arbeitslosigkeit, zur Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen sowie zur Zusammenarbeit der Sozialpartner verabschiedet581 und darin seine Absicht bekundet, Aktionen

577

Artikel 2 EGV.

57 8

Heusinger, in: Strohmeier, EU, S. 170.

579

ABl. 1989 Nr. C 120 S. 52 ff. Zu dieser Erklärung Beutler, EuGRZ 1989, S. 185 ff. 580

Artikel 13 - 16 der Erklärung über Grundrechte und Grundfreiheiten.

581

ABl. 1974 Nr. C 13 S. 1 ff.

III. Europäische Gemeinschaft

503

durchzuführen, um sozialpolitische Ziele zu erreichen 582. Darüber hinaus hat auch der Europäische Rat die Notwendigkeit zur sozialen Ausrichtung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft anerkannt. So stellte er auf seiner Sitzung am 2./3. Dezember 1988 in Rhodos fest, daß die Verwirklichung des Binnenmarktes nicht als Selbstzweck verstanden werden dürfe 583 . In der Folge haben die Staats- und Regierungschefs der damaligen Mitgliedstaaten mit Ausnahme Großbritanniens auf der Sitzung des Europäischen Rates vom 8./9. Dezember 1989 in Straßburg die „Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer" angenommen584. Die Charta sollte die Bindung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft an soziale Regelungen, die auf gemeinsamen Traditionen und Gepflogenheiten der Mitgliedstaaten beruhen, verdeutlichen und den Unterzeichnerstaaten als Bezugspunkt für eine stärkere Berücksichtigung der sozialen Dimension bei der zukünftigen Entwicklung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft dienen 585 . Sie sollte zum einen die Ergebnisse festschreiben, die im sozialen Bereich durch das Zusammenwirken der Mitgliedstaaten, der Sozialpartner und der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft bereits erzielt worden waren. Sie sollte zum anderen aber auch grundlegend bekräftigen, daß soziale Fragen in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft zur Kenntnis genommen werden 586 . Die Charta ist zwar lediglich eine politische Absichtserklärung mit der Folge, daß sie keine rechtliche Bindungswirkung für die

582

Zu diesen zählen die Vollbeschäftigung und bessere Beschäftigungsbedingungen auf gemeinschaftlicher, einzelstaatlicher und regionaler Ebene als wesentliche Voraussetzung einer wirksamen Sozialpolitik, Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen, wachsende Beteiligung der Sozialpartner an wirtschaftlichen und sozialpolitischen Entscheidungen der Gemeinschaft und der Arbeitnehmer am Leben der Unternehmen und Betriebe, ABl. 1974 Nr. C 13 S. 2 ff. 583

EA 1988, S. D 3.

584

Text abgedruckt in Weidenfels, S. 440 ff. Sie enthält u.a. Zielsetzungen in den Bereichen Freizügigkeit, Beschäftigung und Entgelt, Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen, sozialer Schutz, Koalitionsfreiheit und Tarifverhandlungen, Berufsbildung, Gleichbehandlung von Männern und Frauen, Unterrichtung, Anhörung und Mitwirkung der Arbeitnehmer, Gesundheitsschutz und Sicherheit in der Arbeitswelt sowie Kinder- und Jugendschutz. 585 586

Schlußfolgerungen des Europäischen Rates in Rhodos, EA 1989, S. D 9.

1 1. und 12. Erwägungsgrund der Gemeinschaftscharta. Der Europäische Rat nahm anläßlich der Unterzeichnung der Charta ein von der Kommission vorgelegtes Aktionsprogramm, KOM (89) 568 endg., zur Kenntnis und ersuchte den Rat unter Berücksichtigung der sozialen Dimension des Binnenmarktes und unter Beachtung der einzelstaatlichen und gemeinschaftlichen Zuständigkeiten über die Vorschläge der Kommission zu beraten, Schlußfolgerungen des Europäischen Rates in Rhodos, EA 1989, S. D9.

504

C. Zulässigkeit der Hoheitsrechtsübertragungen des EUV

Unterzeichnerstaaten hat 5 8 7 . Gleichwohl werden die in ihr aufgeführten sozialen Rechte durch sie als existent anerkannt 588. Die Charta prägte daher in der Folge das sozialpolitische Programm der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und wurde von der Kommission zur Begründung sozial- und arbeitsrechtlicher Initiativen herangezogen589. Auch der EWG-Vertrag selbst enthielt Regelungen mit sozialpolitischem Inhalt. In den Artikeln 117 f. EWGV verpflichteten sich die Mitgliedstaaten zur Abstimmung der nationalen Sozialordnungen und zur Zusammenarbeit in sozialen Fragen. Damit war jedoch nicht die Ermächtigung zum Erlaß gemeinschaftsrechtlicher Regelungen verbunden 590. Die Zusammenarbeit auf der Ebene der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft sollte daher weniger der Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten als vielmehr der Koordinierung des Handelns der Mitgliedstaaten auf dem Gebiet der Sozialpolitik dienen 591 . Eine Ausnahme bildete und bildet Artikel 119 EGV, der den Grundsatz gleichen Entgelts für Männer und Frauen bei gleicher Arbeit als verbindliches Gebot der Gemeinschaftsrechtsordnung begründet 592. Außerdem wurde aufgrund Artikel 123 ff. EWGV ein Sozialfonds eingerichtet, der zur Hebung der Lebensbedingungen und zur Verbesserung der Arbeitsmöglichkeiten und der örtlichen und beruflichen Mobilität der Arbeitnehmer beitragen sollte 593 . Die Kommission konnte darüber hinaus aufgrund des im Zuge der

587

Currall/Pipkorn, Vorb. zu den Artikeln 117-128, Rn. 2, in: von der Groeben/ Thiesing/Ehlermann (Hrsg.), Kommentar zum EWGV; Borchardt, D II, Rn. 11, in: Dauses; Mäder, S. 38 f. 588

Beutler, Grundrechtsschutz, Rn. 56, in: von der Groeben/Thiesing/Ehlermann (Hrsg.), Kommentar zum EWGV. 589

Heusinger, in: Strohmeier, EU, S. 167.

590

Currall/Pipkorn, Vorb. zu den Artikeln 117-128, Rn. 4, in: von der Groeben/ Thiesing/Ehlermann (Hrsg.), Kommentar zum EWGV; Coen, in: Bleckmann, Europarecht, Rn. 1836; Däubler, S. 82. 591

Schulte, EuR 1990, Beiheft 1, S. 38; Koenig, EuR 1994, S. 177; Currall/Pipkorn, Vorb. zu den Artikeln 117-128, Rn. 4 ff., in: von der Groeben/Thiesing/ Ehlermann (Hrsg.), Kommentar zum EWGV. 592

Dieser Grundsatz entfaltet auch innerstaatlich unmittelbare Wirkung, grundlegend EuGH 08.04.1976 - Defrenne/Sabena, Rs. 43/75 - Slg. 1976, S. 455, 455 f. Ebenso EuGH 15.06.1978 - Defrenne/Sabena, Rs. 149/77, Slg. 1978, S. 1365. 593

Artikel 123 ff. EGV. Aufgrund der Änderungen des EWGV durch die EEA wurde er zu einem der Strukturfonds der EG. Mit Inkrafttreten der Strukturfondsverordnung, ABl. 1988 Nr. L 374 S. 21 ff., ist der Fonds nunmehr auf die Ziele des wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalts der EG nach Artikel 130 a und 130 c EGV gerichtet. Hierzu ausführlich Borchardt, D II, Rn. 50, in: Dauses; Oppermann, Europarecht, Rn. 1597 ff.

III. Europäische Gemeinschaft

505

EEA eingefügten Artikels 118 b EGV den Dialog zwischen den Sozialpartnern auf europäischer Ebene entwickeln. Da die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft im Kontext der Vollendung des Gemeinsamen Marktes die allmähliche Verringerung sozialer Ungleichheiten zunehmend als eine eigene Aufgabe ansah 594 , erließ sie ab Mitte der 70er Jahre zahlreiche Rechtsvorschriften, die dem Ziel der sozialen Absicherung der Gemeinschaftsbürger dienen sollten 595 . So erließ sie im Zusammenhang mit der Vollendung des Gemeinsamen Marktes etwa auf der Grundlage des Artikels 51 E W G V 5 9 6 Verordnungen zu Fragen der sozialen Sicherheit, die Nachteile für Wanderarbeitnehmer verhindern sollten 597 . Diese Verordnungen regeln Ansprüche auf Sozialleistungen jedoch nicht umfassend, sondern stets unter Rückgriff auf die nationalen Rechtsordnungen598, und sie hatten die Koordinierung der Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten, nicht jedoch ihre inhaltliche Angleichung zum Ziel 5 9 9 . Darüber hinaus hat die Europäische Wirtschaftsgemein-

594

Tomuschat, FS Pescatore, S. 736.

595

Dabei dienten nicht die Artikel 117, 118 EWGV als Ermächtigungsgrundlage, da sie aufgrund ihres im wesentlichen programmatischen Charakters als Rechtsgrundlage nicht ausreichen, EuGH 15.06.1978 - Defrenne/Sabena, Rs. 149/77 - Slg. 1978, 1365, 1378 f.; EuGH 13.05.1986 - Bilka/Weber von Hartz, Rs. 170/84 - Slg. 1986, S. 1607, 1629 f.; EuGH 29.09.1987 - Giménez Zaera/Instituto Nacional de la Seguridad Social und Tesoreria General de la Seguridad Social, Rs. 126/86 - Slg. 1987, S. 3697, 3716.Jansen, S. 11. 596

Die in den Artikeln 49 - 51 EWGV vorgesehenen Maßnahmen zur Gewährung sozialer Sicherheit sollen dazu dienen, die vertraglich garantierte Freizügigkeit der Arbeitnehmer zum einem effektiv nutzbaren Recht auszugestalten, Borchardt, D II, Rn. 4, in: Dauses. 597

Grundlegend VO (EWG) Nr. 1408/71 über die Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, ABl. 1971 Nr. L 149 S. 2; VO (EWG) Nr. 574/72 über die Durchführung der VO (EWG) Nr. 1408/71 über die Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, ABl. 1972 Nr. L 74 S. 1; zu deren späteren Änderungen Willms, Artikel 51, Rn. 7, in: von der Groeben/Thiesing/Ehlermann (Hrsg.), Kommentar zum EWGV. 598

Willms, Artikel 51, Rn. 34, in: von der Groeben/Thiesing/Ehlermann (Hrsg.), Kommentar zum EWGV; Oppermann, Europarecht, Rn. 1458 ff. 599 Coen, in: Bleckmann, Europarecht, Rn. 1836; Willms, Artikel 51, Rn. 4, in: von der Groeben/Thiesing/Ehlermann (Hrsg.), Kommentar zum EWGV; Eichenhofer, JZ 1992, S. 271.

506

C. Zulässigkeit der Hoheitsrechtsübertragungen des EUV

schaft, gestützt auf die Artikel 100 und 235 E W G V 6 0 0 , weitere Rechtsakte mit den inhaltlichen Schwerpunkten Sicherheits- und Arbeitsschutz der Arbeitnehmer am Arbeitsplatz 601, Gleichstellung von Frauen 602 sowie Errichtung juristischer Personen mit sozialen Aufgaben 603 erlassen. Nach Einfügung des Artikels 118a EWGV durch die EEA stand der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft dann eine ausdrückliche Ermächtigungsgrundlage zur Verwirklichung des Ziels des Schutzes der Sicherheit und Gesundheit der Arbeitnehmer zur Verfügung 604. Der EG-Vertrag beläßt es weitgehend bei den bereits im EWG-Vertrag enthaltenen Regelungen in bezug auf sozialpolitische Aspekte. Dies ist jedoch nicht Folge der Erkenntnis, daß der EWG-Vertrag sozialpolitische Fragen bereits hinreichend geregelt hat, sondern Folge des Umstandes, daß weitergehende Regelungen am Widerstand Großbritanniens scheiterten 605. Die Notwendigkeit zu weiteren Fortschritten auf sozialem Gebiet durch die Europäische Gemeinschaft war für die anderen Mitgliedstaaten Grund für den Abschluß des Protokolls über die Sozialpolitik. Das Protokoll über die Sozialpolitik und das darin enthaltene Abkommen über die Sozialpolitik knüpfen zunächst an die bisheri600 Der EuGH hat diese als Ermächtigungsgrundlagen für Rechtsakte auf dem Gebiet der Sozialpolitik anerkannt, grundlegend EuGH 08.04.1976 - Defrenne/Sabena, Rs. 43/75-Slg. 1976, S. 455, 479. 601 So etwa die Richtlinien zum Schutz der Arbeitnehmer vor der Gefährdung durch chemische, physikalische und biologische Arbeitsstoffe bei der Arbeit, ABl. 1980 Nr. L 227 S. 8; zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Massenentlassungen, ABl. 1975 Nr. L 48 S. 29; zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Wahrung von Ansprüchen der Arbeitnehmer beim Übergang von Unternehmen, Betrieben oder Betriebsteilen, ABl. 1977 Nr. L 61 S. 26; zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über den Schutz der Arbeitnehmer bei Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers, ABL. 1980 Nr. L 283 S. 23. Hierzu Däubler, S. 85. 602 So etwa die Richtlinien zur Angleichung der Rechtsvorschriften über die Anwendung des Grundsatzes des gleichen Entgelts für Männer und Frauen, ABl. 1975 Nr. L 45 S. 19, und zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Frauen und Männern hinsichtlich des Zugangs zur Beschäftigung, zur Berufsbildung und zum Aufstieg sowie in bezug auf die Arbeitsbedingungen, ABL. 1976 Nr. L 39 S. 40. Weitere Beispiele bei Heusinger, in: Strohmeier, EU, S. 166; Däubler, S. 86. 603

Beispiele hierfür sind etwa die Schaffung des Zentrums für die Förderung der Berufsausbildung, ABl. 1975 Nr. L 39 S. 1, und die Stiftung zur Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen, ABl. 1975 Nr. L 139 S. 1, weitere Beispiele bei Streik in: Beutler/Bieber/Pipkorn/Streil, S. 450. 604

Pipkorn, Artikel 118 a, Rn. 3, in: von der Groeben/Thiesing/Ehlermann (Hrsg.), Kommentar zum EWGV. 605

Siehe oben S. 196 f.

III. Europäische Gemeinschaft

507

gen Regelungen sozialpolitischer Fragen auf Gemeinschaftsebene an. Die an ihm teilnehmenden Mitgliedstaaten waren jedoch der Ansicht, daß zusätzlich zu den bisher erfolgten Regelungen auf sozialpolitischem Gebiet soziale Mindeststandards und ausdrückliche Gemeinschaftskompetenzen zur Herstellung sozialer Gerechtigkeit unerläßlich sind 606 . Das Abkommen über die Sozialpolitik setzt sich daher einerseits, wie schon der EWG-Vertrag, die Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen, die Förderung der Beschäftigung und den sozialen Dialog zum Ziel 6 0 7 . Darüber hinaus erweitert und präzisiert es jedoch die Zielsetzungen der Artikel 117 ff. EGV, indem es auch einen angemessenen sozialen Schutz, die Entwicklung des Arbeitskräftepotentials im Hinblick auf ein dauerhaft hohes Beschäftigungsniveau und die Bekämpfung von Ausgrenzungen zum Ziel hat 6 0 8 . Die Europäische Gemeinschaft wird ausdrücklich ermächtigt, die Mitgliedstaaten bei der Verwirklichung sozialer Ziele zu unterstützen609. Die Kommission kann darüber hinaus alle zweckdienlichen Maßnahmen erlassen, um den Dialog zwischen den Sozialpartnern zu erleichtern 6 1 0 , und sie soll unbeschadet konkreter Aufgaben die Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten grundsätzlich fördern 611 . Wesentliche Neuerung des Abkommens über die Sozialpolitik ist es, daß die Europäische Gemeinschaft durch Richtlinien Mindeststandards auf sozialpolitischem Gebiet festlegen kann 612 . Die an diesem Abkommen teilnehmenden Mitgliedstaaten erkennen somit die Bedeutung sozialer Fragen und deren Regelungsnotwendigkeit auf der Ebene der Europäischen Gemeinschaft an. Anders als in der Charta der sozialen Grundrechte haben sie sich damit auch rechtlich verbindlich zur Verwirklichung sozialer Ziele verpflichtet 613. Die Europäische Gemeinschaft erhält die ausdrückliche Ermächtigung zum Erlaß von Richtlinien, deren explizites Ziel es ist, in sozialpolitischen Bereichen einen Sockel verbindlicher und einklagbarer

606

Hailbronner, S. 126.

607

Artikel 1 Satz 1 des Abkommens über die Sozialpolitik.

608

Artikel 1 Satz 1 des Abkommens über die Sozialpolitik.

609

Artikel 2 Abs. 1 des Abkommens über die Sozialpolitik.

610

Artikel 3 des Abkommens über die Sozialpolitik.

611

Artikel 5 des Abkommens über die Sozialpolitik.

612

Artikel 2 Abs. 2 des Abkommens über die Sozialpolitik.

613

Das Abkommen ist denn auch von dem Wunsch getragen, die Sozialcharta von 1989 umzusetzen, 1. Erwägungsgrund des Abkommens über die Sozialpolitik.

508

C. Zulässigkeit der Hoheitsrechtsübertragungen des EUV

Mindeststandards zu schaffen 614. Das Abkommen bildet damit neben dem EGVertrag eine zusätzliche Rechtsgrundlage für sozialpolitische Vorhaben 615 . Die Europäische Gemeinschaft ist damit zur Verwirklichung sozialer Grundsätze gemäß Artikel 23 Absatz 1 Satz 1 GG verpflichtet.

5. Grundrechtsschutz Fraglich ist, ob die Europäische Gemeinschaft auch einen dem Artikel 23 Absatz 1 Satz 1 GG entsprechenden Grundrechtsschutz gewährleistet, ob sie also einen dem Grundgesetz im wesentlichen vergleichbaren Grundrechtsschutz garantiert. Anders als im Rahmen der 1. und 2. Säule ist der Schutz von Grundrechten im Rahmen der Europäischen Gemeinschaft unerläßlich, denn die Europäische Gemeinschaft kann mit Durchgriffswirkung in die nationalen Rechtsordnungen eingreifen und gegenüber dem einzelnen mit unmittelbarer Wirkung handeln 616 . Da sie durch den Erlaß von Verordnungen, Richtlinien und Entscheidungen dem einzelnen gegenüber grundrechtsrelevante Entscheidungen treffen kann, ist es erforderlich, die Hoheitsgewalt der Gemeinschaftsorgane an die Geltung von Grundrechten zu binden. Natürliche wie juristische Personen bedürfen daher des Schutzes von Grundrechten und grundrechtsgleichen Rechten, die ihnen unabdingbare und individuell einklagbare Rechtspositionen gegenüber der Gemeinschaftsgewalt und gegenüber der Hoheitsgewalt der Mitgliedstaaten einräumen, wenn diese Gemeinschaftsrecht anwenden617. Der Grundrechtsschutz der Europäischen Gemeinschaft beruht nicht auf einem kodifizierten Grundrechtskatalog. Weder der EU-Vertrag noch der EGVertrag enthalten einen den Artikeln 1 - 1 9 GG entsprechenden Katalog. Grundlage des Grundrechtschutzes sind vielmehr Einzelbestimmungen, die grundrechtsgleiche Rechte garantieren und aus denen Grundrechte abgeleitet werden 618 , sowie vor allem die in der Rechtsprechung des EuGH als allgemeine Rechtsgrundsätze des Gemeinschaftsrechts begründeten Grundrechte. Dem einzelnen Unionsbürger wurden im Rahmen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft zunächst aufgrund der Grundfreiheiten des Gemeinsamen

614

Reh, S. 73.

615

Coen, EuZW 1995, S. 51; Hailbronner, S. 126.

616

Siehe oben S. 399 f. und 430 ff.

617

Statt vieler Zuleeg, NJW 1994, S. 548; Oppermann, Europarecht, Rn. 210.

618

Schweitzer/Hummer,

S. 241; Chwolik-Lanfermann,

ZRP 1995, S. 126 m.w.N.

509

III. Europäische Gemeinschaft

Marktes individuelle Rechte zuerkannt, die einen grundrechtsähnlichen Charakter haben 619 und die als fundamentale Grundsätze des Gemeinsamen Marktes von den Gemeinschaftsorganen und den Mitgliedstaaten zu achten sind 620 . Die Grundfreiheiten des freien Verkehrs von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital garantieren etwa die Freizügigkeit der Arbeitnehmer, die Niederlassungsfreiheit und das Verbot der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit621. Neben diesen grundrechtsgleichen Garantien hat der EuGH bereits in den siebziger Jahren die Geltung von Grundrechten in der Gemeinschaftsrechtsordnung betont 622 . Zwar sei Gemeinschaftsrecht nicht unter dem Aspekt der Verletzung von Grundrechten in der ihnen von der Verfassung eines Mitgliedstaates gegebenen Gestalt auszulegen. Der EuGH könne jedoch keine Maßnahme als Rechtens anerkennen, die unvereinbar ist mit den von den Verfassungen der Mitgliedstaaten anerkannten und geschützten Grundrechten 623. Die Gewährleistung von Grundrechten wird dabei von den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten getragen, sie muß sich aber auch in die Struktur und die Ziele der Europäischen Gemeinschaft einfügen 6 2 4 . In der Gemeinschaftsrechtsordnung gelten die Grundrechte, ohne daß dadurch ihr Wesensgehalt angetastet werden darf, in gemeinschaftsspezifischen Ausprägungen, die durch die Ziele der Europäischen Gemeinschaft gerechtfertigt sind 625 . Von dieser Einschränkung abgesehen enthalten die Vorschriften 619

Lenz, EuGRZ 1993, S. 585; Beutler, Grundrechtsschutz, Rn. 10, in: von der Groeben/Thiesing/Ehlermann (Hrsg.), Kommentar zum EWGV; Schwarze, FS Maihofer, S. 539; Däubler, S. 90 f.; Bleckmann, in: Bleckmann, Europarecht, Rn. 453. Zu den Grundfreiheiten als objektiv-rechtliche Rechtssätze Classen, , EWS 1994, S. 98 ff. 620

Schweitzer/Hummer,

621

Hierzu ausführlich Eibach, S. 92; Oppermann, Europarecht, Rn. 412.

S. 241; Müller-Michaels,

S. 25; Huber, S. 94.

622 In den Anfangsjahren allerdings hat der EuGH es abgelehnt, Maßnahmen der Gemeinschaft auf ihre Vereinbarkeit mit Grundrechten zu überprüfen, hierzu nur EuGH 04.02.1959 - Stork/Hohe Behörde, Rs. 1/58 - Slg. 1959, S. 43, 63 f.; EuGH 15.07.1960 - Ruhrkohle Verkaufsgesellschaft u.a./Hohe Behörde, verb. Rs. 36-40/59 - Slg. 1960, S. 885, 929 f.; EuGH 01.04.1965 - Sgarlata u.a./Kommission, Rs. 40/64 - Slg. 1965, S. 295, 312. Erst im Jahre 1969 stellte er in der Rechtssache Stauder fest, daß die in diesem Verfahren streitige Vorschrift nichts enthalte, was die in den allgemeinen Grundsätzen der Gemeinschaftsrechtsordnung, deren Wahrung der EuGH zu sichern habe, enthaltene Grundrechte der Person in Frage stellen könnte, EuGH 12.11.1969 - Stauder/ Stadt Ulm, Rs. 29/69 - Slg. 1969, S. 419, 425. 623

EuGH 14.05.1974 - Nold/Kommission, Rs. 4/73 - Slg. 1974, S. 491, 507.

624

EuGH 17.12.1970 - Internationale Handelsgesellschaft/Einfuhr- und Vorratsstelle für Getreide und Futtermittel, Rs. 11/70 - Slg. 1970, S. 1125, 1135. Seither ständige Rechtsprechung, so etwa EuGH 14.05.1974 - Nold/Kommission, Rs 4/73 - Slg. 1974, S. 491, 507. 625

EuGH 14.05.1974 - Nold/Kommission, Rs. 4/73 - Slg. 1974, S. 491, 507.

510

C. Zulässigkeit der Hoheitsrechtsübertragungen des EUV

des Gemeinschaftsrechts einschließlich der Gründungsverträge aber die Garantie der Beachtung von Grundrechten, da diese zu den ungeschriebenen allgemeinen Rechtsgrundsätzen der Gemeinschaftsrechtsordnung gehören 626. Sekundäres Gemeinschaftsrecht ist so auszulegen, daß es mit den allgemeinen Rechtsgrundsätzen des Gemeinschaftsrechts und damit auch mit den Grundrechten vereinbar ist 6 2 7 . In der Folge hat der EuGH zahlreiche in den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten anerkannte Grundrechte als in der Gemeinschaftsrechtsordnung zu schützende Grundrechte anerkannt 628 . Neben den Verfassungen der Mitgliedstaaten enthalten auch die internationalen Verträge über den Schutz der Menschenrechte, an deren Abschluß die Mitgliedstaaten beteiligt waren oder denen sie beigetreten sind, Grundrechte, die in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft zu garantieren sind 629 . Zu diesen internationalen Verträgen zählt insbesondere die E M R K 6 3 0 , deren materieller Inhalt Maßstab für die Rechtmäßigkeit des Handelns der Gemeinschaftsorgane ist 6 3 1 . Zu den auf diese Weise anerkannten und von den Gemeinschaftsorganen und den Mitgliedstaaten zu beachtenden Grundrechten 632 zählen etwa 6 3 3 der allge-

626

EuGH 17.12.1970 - Internationale Handelsgesellschaft/Einfuhr- und Vorratsstelle für Getreide und Futtermittel, Rs. 11/70 - Slg. 1970, S. 1125, 1237; EuGH 08.04.1992 - Kommission/Bundesrepublik Deutschland, Rs. C-62/90 - Slg. I 1992, S. 2601,2609. 627 EuGH 10.07.1991 - Neu u.a./Secrétaire d'État à L'Agriculture et à la Viticulture, verb. Rs. C-90/90 und C-91/90 - Slg. I 1991, S. 3633, 3637. 628

Lenz, EuGRZ 1993, S. 586; Henrichs, EuGRZ 1989, S. 243; Steinberger , FS Helmrich, S. 428; Oppermann , Europarecht, Rn. 413. 629

EuGH 14.05.1974 - Nold/Kommission, Rs. 4/73 - Slg. 1974, S. 491, 507; EuGH 13.12.1979 - Liselotte Hauer/Rheinland-Pfalz, Rs. 44/79 - Slg. 1979, S. 3727, 3745. Eibach , S. 96. 630

Erstmals ausdrücklich EuGH 28.10.1975 - Ruteli/Minister des Inneren, Rs. 36/75-Slg. 1975, S. 1219, 1232. 631

Lenz, EuGRZ 1993, S. 586.

632

Die Mitgliedstaaten müssen das Erfordernis des Grundrechtschutzes bei der Durchführung der gemeinschaftsrechtlichen Regelungen beachten, EuGH 13.07.1989 Wachauf/Bundesamt für Ernährung und Forstwirtschaft, Rs. 5/88 - Slg. 1989, S. 2609, 2639 f.; EuGH 18.06.1991 - Elliniki Radiofonia Tileorasi/Dimotiki Etairia Pliroforisis, Rs. C-260/89 - Slg. I 1991, S. 2925, 2964. Pernice , NJW 1990, S. 2416; Kokott, AöR 121 (1996), S. 605. 633

Eine ausführliche Auflistung der vom EuGH entwickelten Grundrechte findet sich bei Schweitzer/Hummer, S. 245 f.

III. Europäische Gemeinschaft

511

meine Gleichheitssatz634, das Recht auf Eigentum 635 , die Freiheit der Arbeit, des Handels und anderer Berufstätigkeiten 636, der Schutz der Wohnung 637 , die Vereinigungs- 638 und die Religionsfreiheit 639. Darüber hinaus wurden auch im Bereich des Verfahrensrechts Grundrechte wie etwa die des Anspruchs auf rechtliches Gehör 640 oder auf ein faires Verfahren 641 anerkannt 642. Die Rechtsprechung des EuGH läßt sich dahingehend verallgemeinern, daß grundsätzlich alle Grundrechte, die durch das Tätigwerden der Gemeinschaftsorgane berührt werden können, auch auf der Ebene der Europäischen Gemeinschaft geschützt werden können 643 . Natürliche und juristische Personen besaßen und besitzen damit subjektive Rechte, und ihnen kommen Verfahrensrechte zu, die zusätzlich

634

Statt vieler EuGH 08.10.1980 - Deutsche Freiwillige Versicherung/ Bundesanstalt für Angestellte, Rs. 810/79 - Slg. 1980, S. 2747, 2764. 635

EuGH 14.05.1974 - Nold/Kommission, Rs. 4/73 - Slg. 1974, S. 491, 507; EuGH 19.06.1980 - Testa u.a./Bundesanstalt für Arbeit, verb. Rs. 41, 121, 796/79 Slg. 1980, S. 1979, 1997. 636

EuGH 14.05.1974 - Nold/Kommission, Rs. 4/73 - Slg. 1974, S.491, 507; EuGH 13.12.1979 - Hauer/Rheinland-Pfalz, Rs. 44/79 - Slg. 1979, S. 3727, 3750. 637 EuGH 26.06.1980 - National Panasonic/Kommission, Rs. 136/79 - Slg. 1980, S. 2033, 2056. Seit EuGH 21.09.1989 - Hoechst/Kommission, verb. Rs. 46/87 und 227/89 - Slg. 1989, S. 2919, 2924, ist dieses Recht als gemeinsamer Grundsatz zwar für die Privatwohnung natürlicher Personen, nicht aber für Unternehmen anzuerkennen. Die Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten weisen im Hinblick auf den Schutz von Gewerberäumen nicht unerhebliche Unterschiede in bezug auf Art und Umfang des Schutzes gegen behördliche Eingriffe auf, so daß ein eine gemeinsame Verfassungstradition der Mitgliedstaaten insofern nicht besteht. 638

EuGH 08.10.1974 - Europäischer Gewerkschaftsbund u.a./Rat, Rs. 175/73 Slg. 1974, S. 917, 925. 639

EuGH 27.10.1976 - Prais/Rat, Rs. 130/75 - Slg. 1976, S. 1589, 1599.

640

EuGH 21.09.1989 - Hoechst/Kommission, verb. Rs. 46/87 u. 227/88 - Slg. 1989, S. 2859, 2923; EuGH 29.06.1994 - Fiskano AB/Kommission, Rs. C-135/92 Slg. I 1994,2899, 2909. 641

EuGH 05.03.1980 - Pecastaing/Belgien, Rs. 98/79 - Slg. 1980, S. 691, 711 ff.

642

Siehe oben S. 453 ff. Eine Auflistung über die geschützten Verfahrensgrundrechte gibt Beutler, Grundrechtsschutz, Rn. 22, in: von der Groeben/Thiesing/ Ehlermann (Hrsg.), Kommentar zum EWGV. Zu den Verteidigungsrechten insbesondere im Kartellverfahren Kokott, AöR 121 (1996), S. 617. 643

Beutler, Grundrechtsschutz, Rn. 22, in: von der Groeben/Thiesing/Ehlermann (Hrsg.), Kommentar zum EWGV; Schwarze, FS Maihofer, S. 544.

512

C. Zulässigkeit der Hoheitsrechtsübertragungen des EUV

deutlich machen, daß der einzelne in der Gemeinschaftsrechtsordnung Zurechnungssubjekt von Rechten ist 6 4 4 . Neben dem EuGH haben auch die übrigen Organe der Europäischen Gemeinschaft die Grundrechtsbindung der Gemeinschaft anerkannt 645. Die Erklärung des Europäischen Rates vom 8. April 1978 zur Demokratie 646 , die Gemeinsame Erklärung des Europäischen Parlaments, des Rates und der Kommission vom 5. April 1977 zu den Grundrechten 647 und die Entschließung des Europäischen Parlaments zum Ausbau des Grundrechtsschutzes vom 16. November 1977 6 4 8 sind hierfür die wesentlichen Beispiele 649 . Die Gemeinschaftsorgane erkannten darin die Rechtsprechung des EuGH an und gaben ihr die politische „Rückendeckung"650. Zwar sind die Erklärungen der Gemeinschaftsorgane und des Europäischen Rates nicht rechtlich verbindlich, doch bekunden sie die übereinstimmende Auffassung der Geltung der Grundrechtsverbürgungen für die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft. Im dritten Erwägungsgrund der Präambel der EEA haben die Mitgliedstaaten dann erstmals ausdrücklich 651 die Entschlossenheit bekräftigt, sich im Rahmen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft auf die in den Verfassungen und Gesetzen der Mitgliedstaaten, der EMRK und der Europäischen Sozialcharta anerkannten Grundrechte, insbesondere Freiheit, Gleichheit und soziale Gerechtigkeit zu stützen 652 . Den im Rahmen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft entwickelten und bestehenden Grundrechtsschutz hat das Bundesverfassungsgericht im Rahmen

644

Seit EuGH 05.02.1963 - N.V. Allgemene Transport en Expedite Onderneming van Gend & Loos/NiederländischeFinanzverwaltung, Rs. 26/62 - Slg. 1963, S. 3, 24 ff., ständige Rechtsprechung des EuGH. Ruffert, EuGRZ 1995, S. 523. Er ist damit zugleich nicht bloßes Objekt des Handelns der Gemeinschaftsorgane, Zuleeg, ELRev. 1997, S. 22; Chwolik-Lanfermann, ZRP 1995, S. 127. 645

Steinberger, FS Helmrich, S. 428.

646

Bulletin der EG 3/1978, EA 1978, S. D 284.

647

ABl. 1977 Nr. C 103 S. 1; hierzu Hilf, EuGRZ 1977, S. 158 ff.

648

ABl. 1977 Nr. C 299 S. 27 f.

649

Hilf/Pache, EEA, Rn. 21, in: von der Groeben/Thiesing/Ehlermann (Hrsg.), Kommentar zum EWGV. 650

Tomuschat, HdbStR VII, § 172 Rn. 44.

651

Hilf/Pache, EEA, Rn. 5, in: von der Groeben/Thiesing/Ehlermann (Hrsg.), Kommentar zum EWGV; Grabitz, EEA, Rn. 13, in: ders./Hilf, Kommentar zum EUV. 652

Diesem Bekenntnis kommt ein größerer normativer Gehalt zu als den Grundrechtserklärungen der Gemeinschaftsorgane, da es Teil der EEA und damit des primären Gemeinschaftsrechts ist, Schwarze, FS Maihofer, S. 547.

III. Europäische Gemeinschaft

513

seiner Rechtsprechung zu Artikel 24 Absatz 1 GG und der darin aufgezeigten Grenzen für die Übertragung von Hoheitsrechten und der diesbezüglich entwikkelten Anforderungen an den Grundrechtsschutz durch zwischenstaatliche Einrichtungen für ausreichend erachtet 653. Ausschlaggebend sei die prinzipielle Haltung, die die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft im Hinblick auf den Schutz von Grundrechten entwickelt habe, die normative Verklammerung der Grundrechte im Gemeinschaftsrecht und deren normative Verbindung mit den mitgliedstaatlichen Verfassungen und der EMRK sowie die tatsächliche Bedeutung, die der Grundrechtsschutz auf Gemeinschaftsebene inzwischen gewonnen habe. Wenngleich die Erklärungen der Gemeinschaftsorgane und des Europäischen Rates nicht rechtlich verbindlich seien und die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft als solche nicht Mitglied der EMRK sei, so bekundeten diese doch die übereinstimmende Rechtsauffassung der Mitgliedstaaten und der Gemeinschaftsorgane hinsichtlich der Bindung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft in bezug auf Grundrechte 654. Aufgrund der normativen Verklammerung des Gemeinschaftsrechts mit den Verfassungen der Mitgliedstaaten sei eine Absenkung des gemeinschaftsrechtlichen Grundrechtsstandards auf ein Maß, das aus der Perspektive des Grundgesetzes nicht mehr als ein generell angemessener Grundrechtsschutz angesehen werden könnte, nicht zu erwarten 6 5 5 . Die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft gewährleiste damit einen Grundrechtsschutz, der dem vom Grundgesetz als unabdingbar gebotenen Grundrechtsschutz im wesentlichen gleich zu achten sei, zumal er den Wesensgehalt der Grundrechte generell verbürge 656. Dieser Grundrechtsschutzstandard gilt auch im Rahmen der Europäischen Gemeinschaft. Der EG-Vertrag enthält zwar weder einen Grundrechtskatalog, noch schützt er einzelne Grundrechte ausdrücklich 657. Die durch die Rechtsprechung des EuGH verdeutlichte und von den anderen Gemeinschaftsorganen bekräftigte Geltung von Grundrechten ist im EU-Vertrag nunmehr jedoch auch ausdrücklich festgeschrieben worden. Artikel F Absatz 2 EUV enthält das Bekenntnis zur Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten. Die Europäische Union verpflichtet sich zur Achtung der Grundrechte, wie sie in der EMRK gewährleistet sind und wie sie sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten als gemeinsame Grundsätze des Gemein-

653

Siehe oben S. 74 ff.

654

BVerfGE 73, S. 339, 383 f.

655

BVerfGE 73, S. 339, 385.

656

BVerfGE 73, S. 339, 387.

657

Ein solcher Grundrechtskatalog wird seit langem gefordert, Pernice , NJW 1990, S. 2418 f.; Zuleeg., DÖV 1992, S. 944 jeweils m.w.N. 33 Uhrig

514

C. Zulässigkeit der Hoheitsrechtsübertragungen des EUV

schaftsrechts ergeben 658 . Damit wird das Bekenntnis zur Beachtung von Grundrechten erstmals Teil des primären Gemeinschaftsrechts. Dadurch, daß Artikel F Absatz 2 EUV auf die bisher vom EuGH herangezogenen „Rechtserkenntnisquellen" Bezug nimmt, wird die Rechtsprechung des EuGH, mit der dieser kontinuierlich ein Grundrechtsschutzsystem aufgebaut hat, auch förmlich anerkannt 659 . Artikel F Absatz 2 EUV ist damit Ausdruck der Verpflichtung der Europäischen Union und der Europäischen Gemeinschaft zur Respektierung und Gewährleistung von Grundrechten 660. Indem der Begriff der Grundrechte erstmals im Text der Verträge selbst verankert wird und die Europäische Union sich trotz des Fehlens eines ausdrücklichen Grundrechtskatalogs zum Schutz der Grundrechte bekennt 661 , erfährt der Grundrechtsschutz eine nicht unwesentliche Aufwertung 662 , denn als Bestandteil des EU-Vertrages ist der Schutz der Grundrechte nun rechtlich verbindlich anerkannt 663. Durch die Rechtsprechung des EuGH und die nunmehr auch vertraglich verankerte Grundrechtsbindung ist im Rahmen der Europäischen Gemeinschaft der Schutz von Grundrechten garantiert. Der Schutzumfang der auf Gemeinschaftsebene garantierten Grundrechte ist dem des Grundgesetzes im wesentlichen gleichzuachten. Die Europäische Gemeinschaft gewährleistet folglich einen dem Grundgesetz im wesentlichen vergleichbaren Grundrechtsschutz im Sinne des Artikels 23 Absatz 1 Satz 1 GG.

6. Grundsatz der Subsidiarität Die Europäische Gemeinschaft muß gemäß Artikel 23 Absatz 1 Satz 1 GG auch dem Grundsatz der Subsidiarität verpflichtet sein.

658

Siehe oben S. 400.

659

Iglesias , EuGRZ 1996, S. 129; Chwolik-Lanfermann, ZRP 1995, S. 127; Bleckmann, DVBI. 1992, S. 336; Oppermann/Classen, NJW 1993, S. 7; Hobe, JA 1993, S. 232. 660

Tomuschat, EuGRZ 1993, S. 490, weist daraufhin, daß es für das Bundesverfassungsgericht infolgedessen nahegelegen hätte, die mittlerweise erfolgte Konsolidierung des Grundrechtschutzes auf der Ebene der EG anzuerkennen. 661

Schröder, DVBI. 1994, S. 322, der dem Bundesverfassungsgericht zu Recht vorwirft, dies nicht zur Kenntnis genommen zu haben. Bleckmann, DVBI. 1992, S. 336, sieht nunmehr keine Hindernisse mehr für die Aufstellung eines verbindlichen Grundrechtskatalogs durch die EU. 662 663

Ress, JuS 1992, S. 990.

Randelzhofer, 1995, S. 127.

in: Hommelhoff/Kirchhof, S. 45; Chwolik-Lanfermann,

ZRP

III. Europäische Gemeinschaft

515

Zunächst hat sich die Europäische Union im EU-Vertrag grundsätzlich zur Geltung des Prinzips der Subsidiarität bekannt 664 . Dieses Bekenntnis wird im EG-Vertrag für die Europäische Gemeinschaft bekräftigt und konkretisiert, denn der EG-Vertrag definiert den Grundsatz der Subsidiarität und gibt ihm eine rechtliche Bedeutung665. Das Subsidiaritätsprinzip ist in Artikel 3 b Absatz 2 EGV verankert. Es ist allgemeiner Rechtsgrundsatz des Gemeinschaftsrechts und hat die Wirkung einer Kompetenzausübungsregel666. Der dem Subsidiaritätsprinzip zugrundeliegende Regelungsgehalt, daß nämlich die Europäische Gemeinschaft nur dann tätig werden darf, wenn Ziele auf der Ebene der Mitgliedstaaten nicht ausreichend und auf Gemeinschaftsebene besser erreicht werden können, kommt in zahlreichen Bestimmungen des EG-Vertrages zudem auch konkret zum Ausdruck. Beispielhaft sind etwa die Artikel 118 a, 126, 128, 129, 129 a, 129 b und 130 g EGV sowie Artikel 2 des Abkommens über die Sozialpolitik zu nennen. So bestimmt etwa Artikel 118 a EGV, daß der Rat zur Verwirklichung der Verbesserung der Arbeitsumwelt Richtlinien erlassen kann. Diese Richtlinien stehen unter einem doppelten Vorbehalt: Sie sollen zum einen unter Berücksichtigung vorhandener Bedingungen und technischer Regelungen in den Mitgliedstaaten lediglich Mindeststandards festsetzen, und sie sollen keine verwaltungsmäßigen, finanziellen oder rechtlichen Auflagen vorschreiben, die der Gründung und Entwicklung von Klein- und Mittelbetrieben entgegenstehen667. Artikel 118 a Absatz 2 EGV enthält damit lediglich eine Ermächtigung für den Erlaß von Mindestvorschriften. Eine Regelung auf der Ebene der Europäischen Gemeinschaft zielt also lediglich auf eine Harmonisierung, die zu einheitlichen Mindestgarantien führt, und ändert nichts daran, daß regionale Besonderheiten innerhalb der Europäischen Gemeinschaft bestehen bleiben können 668 . Das Setzen von Mindeststandards ist auch das Ziel des Abkommens über die Sozialpolitik. Auch in diesem Bereich stehen Richtlinien unter dem doppelten Vorbehalt der Berücksichtigung bestehender nationaler Standards und der Vermeidung von Auflagen, die der Gründung von Klein- und Mittelbetrieben entgegenstehen669. Artikel 2 Absatz 5 des Abkommens über die

664

Siehe oben S. 122 ff.

665

Schlußfolgerungen des Europäischen Rates von Edinburgh, EA 1992, S. D 8. Vor Inkrafttreten des EUV galt das Subsidiaritätsprinzip nicht als rechtlich verbindArtikel 3 b, Rn. 22, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), liches Prinzip, Bogdandy/Nettesheim, Kommentar zum EUV. 666

Siehe hierzu ausführlich oben S. 126 ff.

667

Artikel 118 a Abs. 2 EGV.

668

Langenfeld/Jansen, zum EUV. 669

3*

Artikel 118 a, Rn. 8, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), Kommentar

Artikel 2 Abs 2 des Abkommens über die Sozialpolitik.

516

C. Zulässigkeit der Hoheitsrechtsübertragungen des EUV

Sozialpolitik greift den dem Subsidiaritätsprinzip zugrundeliegenden Gedanken, daß eine Regelung nur dann auf Gemeinschaftsebene erfolgen soll, wenn ein Ziel auf der Ebene der Mitgliedstaaten nicht ausreichend verwirklicht werden kann, auf und bestätigt ausdrücklich, daß die Mitgliedstaaten immer dann Regelungen erlassen sollen, wenn nationale Regelungen zur Verwirklichung des angestrebten Ziels führen können. Die aufgrund des Abkommens über die Sozialpolitik erlassenen Richtlinien hindern die Mitgliedstaaten folglich nicht, strengere Schutzmaßnahmen und -standards beizubehalten oder zu treffen. Auch die in den Artikeln 126 ff. EGV enthaltenen und z.T. neu in den EGVertrag aufgenommenen ausdrücklichen Kompetenzen ermöglichen zwar ein Tätigwerden der Europäischen Gemeinschaft. Gleichzeitig beschränken sich die Kompetenzen der Europäischen Gemeinschaft nunmehr aber auf die ausdrücklich aufgelisteten Handlungsformen 670. Sie sollen das Handeln der Mitgliedstaaten lediglich flankieren, aber nicht ablösen. Die Kompetenzen der Europäischen Gemeinschaft sind nunmehr explizit auf die Koordinierung der mitgliedstaatlichen Politiken, auf ergänzende Maßnahmen sowie auf die Finanzierung mitgliedstaatlicher Programme beschränkt. Die Handlungsmöglichkeiten der Europäischen Gemeinschaft werden inhaltlich präzisiert und begrenzt, so daß einer Ausweitung von Kompetenzen der Europäischen Gemeinschaft, etwa durch die Inanspruchnahme der Verfahren gemäß Artikel 100 oder 235 EGV, entgegengewirkt wird. Teilweise stehen die Kompetenzen in diesen Bereichen zudem unter dem ausdrücklichen Vorbehalt, daß Maßnahmen der Europäischen Gemeinschaft nicht die Vereinheitlichung der nationalen Rechts- und Verwaltungsvorschriften zum Gegenstand haben dürfen. Solche Bereiche sind der Regelung durch die Europäische Gemeinschaft folglich gänzlich entzogen. Die Artikel 126 ff. EGV verpflichten die Europäische Gemeinschaft damit zur strikten Beachtung der Kompetenzen der. Mitgliedstaaten. Sie sind damit Ausdruck des Grundsatzes der Subsidiarität. Auch im Bereich der Wirtschaftspolitik besitzt die Europäische Gemeinschaft nur insoweit Kompetenzen, als dies zur Verwirklichung der Wirtschaftsunion unerläßlich ist. Sie ist zur Formulierung der Grundzüge der Wirtschaftspolitiken der Mitgliedstaaten, zur Überwachung der Haushaltslage der Mitgliedstaaten und zur Abgabe von Empfehlungen gegenüber den Mitgliedstaaten, deren öffentliche Haushalte ein übermäßiges Defizit aufweisen, befugt 671 . Diese Kompetenzen der Europäischen Gemeinschaft beruhen auf der Erkenntnis, daß eine dauerhafte Konvergenz der Wirtschaftspolitiken der Mitgliedstaaten der Koordinierung und der Aufsicht über die Einhaltung von Vorgaben für auf die Grundzüge der Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten bedarf.

670

Siehe oben S. 204 ff.

671

Siehe oben S. 234 ff.

III. Europäische Gemeinschaft

517

Dies hat jedoch nicht die zentrale Steuerung der Wirtschaftspolitiken der Mitgliedstaaten durch die Europäische Gemeinschaft zur Folge. Vielmehr verbleiben die Zuständigkeiten für die Gestaltung der allgemeinen Wirtschaftspolitik, die inhaltliche Schwerpunktsetzung der nationalen Wirtschaftspolitiken und die Mittel zur Umsetzung der gemeinschaftlichen Vorgaben uneingeschränkt bei den Mitgliedstaaten. Damit entspricht die Kompetenzausstattung der Europäischen Gemeinschaft im Bereich der Wirtschaftspolitik dem Grundsatz der Subsidiarität, denn Kompetenzen im Bereich der Wirtschaftspolitik werden nur in dem zur Verwirklichung dauerhaft konvergenter Wirtschaftspolitiken unumgänglichen Umfang auf die Europäische Gemeinschaft übertragen, während die wirtschaftspolitischen Kompetenzen im übrigen auf der Ebene der Mitgliedstaaten verbleiben. Der lediglich beschränkten Kompetenzausstattung der Europäischen Gemeinschaft im Bereich der Wirtschaftspolitik stehen ihre umfassenden Kompetenzen im Bereich der Währungspolitik gegenüber. Diesbezüglich ist jedoch zu berücksichtigen, daß das Subsidiaritätsprinzip gemäß Artikel 3 b Absatz 2 EGV nur in den Politikbereichen Anwendung findet, die nicht in die ausschließliche Zuständigkeit der Europäischen Gemeinschaft fallen, da nur in diesen Bereichen Zuständigkeitskonflikte auftreten können 672 . Da Kompetenzen auf dem Gebiet der Währungspolitik mit Beginn der 3. Stufe aus-schließlich von Gemeinschaftsorganen oder -einrichtungen und nationalen Einrichtungen, die integraler Bestandteil des ESZB sind, wahrgenommen werden, die Europäische Gemeinschaft im Bereich der Währungspolitik also die ausschließliche Kompetenz besitzt, ist der Grundsatz der Subsidiarität auf die Währungspolitik als Bereich ausschließlicher Zuständigkeit der Europäischen Gemeinschaft nicht anzuwenden673. Neben der dem Grundsatz der Subsidiarität entsprechenden Kompetenzausstattung der Europäischen Gemeinschaft durch den EG-Vertrag haben die Organe der Europäischen Gemeinschaft die Verpflichtung zur Beachtung des Subsidiaritätsprinzips auch praktisch umgesetzt. Der Europäische Rat hat seine grundlegende Bedeutung bestätigt und den Rat ersucht, eine interinstitutionelle Vereinbarung zwischen dem Europäischen Parlament, dem Rat und der Kommission über die effektive Anwendung des Subsidiaritätsprinzips durch alle Gemeinschaftsorgane anzustreben 674. Diese haben in der Folge eine solche

67 2 67 3

Pieper, DVB1. 1993, S. 708.

Huber, S. 154; Bogdandy/Nettesheim, (Hrsg.), Kommentar zum EUV. 674

Artikel 3b, Rn. 30, in: Grabitz/Hilf

Schlußfolgerungen des Europäischen Rates von Edinburgh, EA 1992, S. D 3.

518

C. Zulässigkeit der Hoheitsrechtsübertragungen des EUV

Vereinbarung geschlossen675. Die Vereinbarung regelt die Einzelheiten der Ausübung der den Gemeinschaftsorganen durch den EG-Vertrag übertragenen Zuständigkeiten676. Die Gemeinschaftsorgane verpflichten sich, das Subsidiaritätsprinzip bei der Ausübung ihres Initiativrechts zu beachten, ihm während des gesamten Rechtsetzungsverfahrens Rechnung zu tragen und seine Beachtung nachzuweisen677. Die Kommission verpflichtet sich, in die Begründung eines jeden Rechtsaktsvorschlags eine Rechtfertigung im Hinblick auf das Subsidiaritätsprinzip aufzunehmen 678. Jede Änderung des Kommissionsvorschlags, sei es durch den Rat oder durch das Europäische Parlament, muß ebenfalls mit einer Rechtfertigung im Hinblick auf den Grundsatz der Subsidiarität versehen werden, wenn dies eine Änderung der ursprünglich vorgesehenen Zuständigkeiten der Europäischen Gemeinschaft bewirkt 679 . Die drei Gemeinschaftsorgane verpflichten sich, im Rahmen ihrer internen Verfahren zu prüfen, ob geplante Maßnahmen sowohl hinsichtlich der Rechtsinstrumente als auch hinsichtlich des Inhalts des Vorschlags mit dem Subsidiaritätsprinzip in Einklang stehen. Diese Prüfung hat dazu geführt, daß die Kommission einige ihrer Vorschläge als nicht hinlänglich gerechtfertigt angesehen hat, sei es unter dem Gesichtspunkt des gemeinschaftlichen „Mehrwerts", sei es aus Gründen der Effizienz 680 . Sie hat daher Vorschläge zurückgezogen und beabsichtigt, in künftigen Vorschlägen Detail Vorschriften zu vermeiden 681. Sie strebt darüber hinaus an, eine Reihe von Richtlinien dadurch zu straffen, daß sie technische Details durch die Festlegung wesentlicher Standards ersetzt 682 , und sie beabsichtigt, den Anwendungsbereich bestimmter Richtlinien einzuschränken683. Sie hat zunehmend Rahmenrichtlinien vorgeschlagen, die die Umsetzung auf innerstaatlicher Ebene nicht in Einzelheiten vorgeben, sondern den Mitgliedstaaten Spielräume gewäh-

675

Interinstitutionelle Vereinbarung zwischen dem Europäischen Parlament, dem Rat und der Kommission über die Verfahren zur Anwendung des Subsidiaritätsprinzips, EuGRZ 1993, S. 603 f. 676

Nr. 1 der interinstitutionellen Vereinbarung.

677

Nr. 5 der interinstitutionellen Vereinbarung.

678

Nr. 6 der interinstitutionellen Vereinbarung.

679

Nr. 7 der interinstitutionellen Vereinbarung.

680

Nr. 1 der Anlage 2 der Schlußfolgerungen des Europäischen Rates von Edinburgh, EA 1992, S. D 12. 681

Nr. 1 der Anlage 2 der Schlußfolgerungen des Europäischen Rates von Edinburgh, EA 1992, S. D 12 f. 682

Zu den Aktivitäten der Kommission zur Anpassung der bestehenden Rechtsvorschriften KOM CSE (96) 2 endg, S. 3 ff. 683 Nr. 2 der Anlage 2 der Schlußfolgerungen des Europäischen Rates von Edinburgh, EA 1992, S. D 13.

III. Europäische Gemeinschaft

519

ren 6 8 4 , und sie hat sich auf die Festlegung von Mindeststandards beschränken 6 8 5 . Außerdem hat die Kommission im Januar 1996 für den internen Dienstgebrauch „Allgemeine Leitlinien für die Legislativpolitik" mit praktischen Anweisungen zur Umsetzung des Begriffs der „besseren" Rechtsetzung angenommen, die ebenfalls der Umsetzung des Subsidiaritätsprinzips dienen sollen 6 8 6 . Die Leitlinien geben nämlich den Dienststellen eine Prüfliste im Hinblick auf Präzision, Kohärenz und Transparenz bei der Vorbereitung neuer Rechtsakte, und tragen damit zur Prüfung der Frage bei, ob ein Handeln auf der Ebene der Europäischen Gemeinschaft erforderlich ist 6 8 7 . In ihrem Bestreben, die Zahl der Rechtsakte zu verringern, gezielter zu handeln und nur Maßnahmen in Bereichen vorzuschlagen, in denen ein Vorgehen der Europäischen Gemeinschaft unbedingt erforderlich ist, hat sich die Kommission bei der Ausübung ihres Initiativrechts verstärkt darum bemüht, vor der Vorlage eines konkreten Legislativaktes zunächst Diskussionsgrundlagen vorzulegen, die den Dialog zwischen den in den Mitgliedstaaten betroffenen Kreisen und der Europäischen Gemeinschaft intensivieren 688. Sie hat hierzu zahlreiche Grünbücher und Weißbücher sowie Aktions- und Förderprogramme vorgelegt 689. Auf diesem Wege kann die Kommission bereits in der ersten Phase eines Rechtset-

684 So z.B. der Richtlinienvorschlag zu Obernahmeangeboten, Kom (95) 655 endg., der den Mitgliedstaaten einen großen Gestaltungsspielraum läßt, so daß sie ihre Strukturen und im wesentlichen auch ihre Gepflogenheiten und Traditionen beibehalten können. 685

So hat sich die Kommission in ihrem Vorschlag für den Zugang des Verbrauchers zur Rechtspflege, KOM (95) 712 endg., darauf beschränkt, die Kriterien für die gegenseitige Anerkennung von Verbraucherverbänden oder Behörden festzulegen, die es ermöglichen sollen, bei den Gerichten der Mitgliedstaaten Klage auf Unterlassung von Praktiken zu erheben, die gegen das EG-Recht verstoßen. 686

KOM CSE (96) 2 endg., S. 1.

687

KOM CSE (96) 2 endg., S. 1.

688

Unterrichtung der Bundesregierung über den Bericht über die Anwendung des Subsidiaritätsprinzips im Jahre 1995, BT-Dr. 13/5189, S. 3. 689

Große Hüttmann, S. 18. Während Grünbücher erste Überlegungen zu einem Bereich enthalten, in dem eine Maßnahme der EG denkbar ist, beinhalten Weißbücher präzisere Leitlinien für ein Vorgehen der EG, KOM CSE (96) 2 endg., S. 1. Im Zeitraum April 1995 bis März 1996 hat die Kommission 16 Aktions- und Förderprogramme vorgelegt. Die Bundesregierung weist darauf hin, daß solche Diskussionsgrundlagen nicht dazu führen dürfen, daß die Kommission anschließend eine Vielzahl neuer Vorschläge vorlegt, um den Interessen einzelner Regierungen oder Interessengruppen entgegenzukommen, Unterrichtung der Bundesregierung über den Bericht über die Anwendung des Subsidiaritätsprinzips im Jahre 1995, BT-Dr. 13/5189, S. 3.

520

C. Zulässigkeit der Hoheitsrechtsübertragungen des EUV

zungsverfahrens die Erforderlichkeit einer Maßnahme im Sinne des Artikels 3 b Absatz 2 EGV überprüfen. Insgesamt zeigen die Maßnahmen der praktischen Umsetzung, daß die Organe der Europäischen Gemeinschaft der Verpflichtung zur Verwirklichung des Grundsatzes der Subsidiarität nachkommen. Die Europäische Gemeinschaft ist somit dem Grundsatz der Subsidiarität gemäß Artikel 23 Absatz 1 Satz 1 GG verpflichtet.

7. Fortgeltung innerstaatlicher Verfassungsprinzipien Die Europäische Gemeinschaft darf schließlich gemäß Artikel 23 Absatz 1 Satz 3 GG nicht dazu führen, daß innerstaatlich fundamentale Verfassungsprinzipien aufgegeben werden. Die Kompetenzen der Europäischen Gemeinschaft dürfen nicht zur Folge haben, daß der Fortbestand und die Fortgeltung der in Artikel 79 Absatz 3 GG niedergelegten grundlegenden Verfassungsgrundsätze des Grundgesetzes nicht mehr gewährleistet sind (a). Darüber hinaus darf auch die deutsche Staatlichkeit weder aufgehoben werden, noch darf aufgrund der Kompetenzausstattung der Europäischen Gemeinschaft die Gefahr eines solchen Verlustes bestehen (b).

a) Vorgaben des Artikels

79 Absatz 3 GG

Die Kompetenzen der Europäischen Gemeinschaft dürfen nicht dazu führen, daß fundamentale Verfassungsprinzipien in der Bundesrepublik Deutschland gefährdet sind oder daß deren Fortbestand durch die deutschen Staatsorgane nicht mehr sichergestellt werden kann. Die Bundesrepublik Deutschland muß also weiterhin die Gestalt und Struktur eines demokratischen, bundesstaatlich organisierten, sozial- und rechtsstaatlichen sowie die Menschenwürde achtenden Staates im Sinne der Artikel 1 und 20 GG aufweisen. Da durch den EG-Vertrag auf die Europäische Gemeinschaft sowohl im Rahmen der Artikel 126 ff. EGV als auch insbesondere im Bereich der Währungspolitik Hoheitsrechte übertragen worden sind und die Europäische Gemeinschaft dadurch in noch größerem Umfang als die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft mit Durchgriffswirkung in die Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten einwirken kann, sind Kompetenzverschiebungen zulasten der nationalen Hoheitsträger eingetreten. Als Folge könnte der Erhalt der für den deutschen Staat maßgeblichen Strukturprinzipien durch die deutschen Hoheitsträger gefährdet sein. Fraglich ist also, ob die Kompetenzverschiebungen zugunsten der Europäischen Gemeinschaft ein Ausmaß und eine Qualität erreicht haben, in deren Folge die grundlegenden Verfassungsprinzipien des Artikels 79 Absatz 3 GG gefährdet sind.

III. Europäische Gemeinschaft

521

Fraglich ist zunächst, ob die Achtung der Menschenrechte gesichert ist. Die Garantie der Achtung der Menschenwürde in der Bundesrepublik Deutschland wird durch das Handeln der deutschen Hoheitsträger bei der Beschlußfassung und durch die Grundsätze der Durchführung des Gemeinschaftsrecht gesichert. Im Rahmen der Beschlußfassung auf der Ebene der Europäischen Gemeinschaft sichert die Teilnahme deutscher Vertreter, daß der Grundsatz der Achtung der Menschenwürde Eingang in das Gemeinschaftsrechtsetzungsverfahren findet und dort beachtet wird. Sowohl die Bundesregierung als auch der Vertreter der Länder üben bei ihrer Tätigkeit im Rat deutsche Staatsgewalt aus und unterliegen damit den Bindungen der Artikel 1 und 20 G G 6 9 0 . Sie müssen ihre Zustimmung zu Gemeinschaftsrechtsakten stets davon abhängig machen, daß die Achtung der Menschenwürde sichergestellt ist. Sie sind also verpflichtet, im Rat darauf zu achten, daß keine Gemeinschaftsrechtsakte beschlossen werden, die den Grundsatz der Achtung der Menschenwürde verletzen würden. Die Achtung der Menschenwürde wird aber auch im Rahmen der Durchführung gemeinschaftsrechtlicher Regelungen sichergestellt. Zum einen sind die deutschen Hoheitsträger als Träger staatlicher Gewalt auch bei der Ausführung von Gemeinschaftsrechtsakten der Achtung und dem Schutz der Menschenrechte verpflichtet. Zum anderen sind dann, wenn Gemeinschaftsorgane und -einrichtungen den EG-Vertrag in einer Weise handhaben oder fortbilden, die mit dem Wortlaut des Vertrags, wie er dem deutschen Zustimmungsgesetz zugrundelag, nicht mehr vereinbar ist, die daraus hervorgehenden Gemeinschaftsrechtsakte in der Bundesrepublik Deutschland nicht verbindlich 691. Da die deutschen Staatsorgane als Träger der Staatsgewalt im Sinne des Artikels 1 Absatz 1 GG bei der Verabschiedung des Zustimmungsgesetzes an den Grundsatz der Achtung der Menschenwürde gebunden waren, haben sie dem EGVertrag nur deshalb zugestimmt, weil er die Gewähr dafür bietet, daß der Grundsatz der Achtung der Menschenwürde durch ihn nicht verletzt wird. Sofern die Europäische Gemeinschaft Rechtsakte erlassen würde, die die Menschenwürde verletzten, wären diese Rechtsakte vom Zustimmungsgesetz nicht mehr gedeckt. Die deutschen Staatsorgane wären bei einem Gemeinschaftsrechtsakt, der die Menschenwürde verletzt, wegen der für sie bestehenden Verpflichtung zur Achtung der Artikel 1 und 20 GG in der Folge gehindert, diesen in Deutschland anzuwenden und durchzuführen. Die Achtung der Menschenwürde in der Bundesrepublik Deutschland ist also durch die Europäische Gemeinschaft nicht gefährdet. Fraglich ist, ob durch die Europäische Gemeinschaft die Geltung demokratischer Grundsätze gefährdet oder aufgehoben ist. Das durch Artikel 79 Absatz 3

690

Huber, S. 206.

691

BVerfGE 89, S. 155, 188.

522

C. Zulässigkeit der Hoheitsrechtsübertragungen des EUV

GG i.V.m. Artikel 20 GG geschützte Demokratieprinzip setzt voraus, daß die Wahrnehmung staatlicher Aufgaben und die Ausübung staatlicher Befugnisse sich auf das deutsche Staatsvolk zurückführen lassen und ihm gegenüber verantwortet werden müssen. Voraussetzung hierfür ist, daß dem Bundestag Aufgaben von substanziellen Gewicht verbleiben 692. Dies bedeutet zum einen, daß der Bundestag den Fortbestand und die Entwicklung der Europäischen Gemeinschaft mitbestimmen können muß, daß er also im Rahmen des Rechtsetzungsverfahrens der Europäischen Gemeinschaft die Möglichkeit besitzen muß, Einfluß auf die Fortentwicklung der Europäischen Gemeinschaft zu nehmen. Es bedeutet zum anderen, daß dem Bundestag innerstaatlich bedeutsame Aufgabenfelder verbleiben müssen, über die er entscheidet. In bezug auf die Rechtsetzung der Europäischen Gemeinschaft ist eine Einflußnahmemöglichkeit des Bundestages in zweifacher Hinsicht gegeben. Dem Erhalt hinreichender eigener Aufgabenbereiche des Bundestages dient zum einen der Gesetzesvorbehalt des Artikels 23 Absatz 1 Satz 2 GG, wonach für die Übertragung von Hoheitsrechten auf die Europäische Union und damit auch auf die Europäische Gemeinschaft ein Gesetz, das auch die Zustimmung des Bundestag voraussetzt, erforderlich ist. Das Erfordernis parlamentarischer Zustimmung durch den Bundestag im Hinblick auf die Fortentwicklung der Europäischen Union und damit auch und vor allem der Europäischen Gemeinschaft sichert dem Bundestag entscheidenden Einfluß. Der Bundestag kann die mit seiner Zustimmung verbundenen Folgen, nicht zuletzt auch für seine eigenen Kompetenzen, erörtern und eine auch seine Interessen berücksichtigende Entscheidung treffen 693 . Er kann Hoheitsrechtsübertragungen, die seine substanziellen Rechte verletzen würden, dadurch verhindern, daß er der Übertragung von Hoheitsrechten nicht zustimmt und das Zustimmungsgesetz nicht verabschiedet. Da gemäß Artikel 23 Absatz 1 Sätze 2 und 3 GG die Zustimmung des Bundestages für jede Übertragung von Hoheitsrechten erforderlich ist 6 9 4 , braucht der Bundestag insbesondere den „schleichenden Übergang nationaler Hoheitsrechte" an die Europäische Gemeinschaft nicht zu fürchten. Er besitzt durch das Erfordernis des Zustimmungsgesetzes somit eine maßgebliche Steuerungsmöglichkeit in bezug auf weitere Hoheitsrechtsübertragungen. Neben der Notwendigkeit der Beteiligung des Bundestages bei Hoheitsrechtsübertragungen in Form des Zustimmungsgesetzes sieht das Grundgesetz durch Artikel 23 Absätze 2 und 3 GG zum anderen verfassungsrechtlich festgeschriebene Mitwirkungsrechte des Bundestages im Vorfeld der Verabschiedung von Gemeinschaftsrechtsakten vor. Die dem Bundestag gemäß Artikel 23 Absatz 3 GG

692

Siehe oben S. 115 ff.

693

BVerfGE 89, S. 155, 183 f.

694

Siehe oben S. 131 f.

III. Europäische Gemeinschaft

523

eingeräumten Informationsrechte dienen zunächst der allgemeinen Orientierung des Bundestages und der Erweiterung und Vertiefung des parlamentarischen Sachverstands. Die bestehende Verpflichtung der Bundesregierung zur frühzeitigen Unterrichtung des Parlaments stellt sicher, daß dem Bundestag ausreichend Zeit für eine Entscheidung bleibt, ob und gegebenenfalls wie er sich an der nationalen Willensbildung im Bezug auf Gemeinschaftsrechtsetzungsvorhaben beteiligen möchte 695 . Die Informationsrechte bewirken vor allem, daß die Bundesregierung ihre Verhandlungsposition, die sie auf Gemeinschaftsebene einnehmen will, bereits in der Anfangsphase der gemeinschaftrechtlichen Rechtsetzung gegenüber dem Bundestag erläutern muß 6 9 6 . Die gemäß Artikel 23 Absatz 3 Satz 1 GG mögliche Stellungnahme des Bundestages zu Rechtsetzungsvorhaben der Europäischen Gemeinschaft ist zwar nicht mit einem Letztentscheidungsrecht des Bundestages verbunden. Die Stellungnahme des Bundestages und die dort angeführten Argumente und Zielsetzungen können gleichwohl den innerstaatlichen Willensbildungsprozeß maßgeblich beeinflussen. Die erweiterten Rechte des Bundestages eröffnen nämlich die Möglichkeit, einen öffentlichen Diskurs und einen Meinungs- und Willensbildungsprozeß in Angelegenheiten der Europäischen Gemeinschaft in Gang zu setzen. Ein solcher ist sowohl im Hinblick auf die Transparenz des europäischen Willensbildungsprozesses als auch im Hinblick auf das Funktionieren und den Erhalt einer lebendigen Demokratie in den Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft von großer Bedeutung, denn er sichert, daß die Wahrnehmung staatlicher Kompetenzen, wie gemäß Artikel 79 Absatz 3 i.V.m. Artikel 20 Absatz 2 GG gefordert, auf das deutsche Staatsvolk zurückgeführt werden kann. Da Angelegenheiten der Europäischen Gemeinschaft öffentlich diskutiert werden und Entscheidungen der innerstaatlichen Hoheitsträger in europäischen Angelegenheiten für den Bürger sichtbar werden, können in der Folge auch Entscheidungen in Fragen der europäischen Integration ein Faktor für die Wahlentscheidung des einzelnen werden 697 . Die Informations- und Mitwirkungsrechte und die dadurch notwendige Kommunikation zwischen Bundestag und Bundesregierung eröffnen dem Bundestag zudem die Möglichkeit, das Verhalten der Bundesregierung im Rat nicht nur nachträglich im Wege parlamentarische Kontrolle zu bewerten, sondern schaffen die Möglichkeit des Bundestages, sich bereits im Vorfeld der Beschlüsse aktiv einzuschalten und eigene Vorstellungen einzubringen. Die Informations- und Mitwirkungsrechte des Bundestages dienen damit auch dem Erhalt der Aufgabe des Parlaments als

695

Siehe ausführlich oben S. 138 f.

696

Mazan, S. 166.

697

BVerfGE 89, S. 155, 185. Ebenso Ossenbühl, DBV1. 1993, S. 634; Doehring,, ZRP 1993, S. 103; Klein, Artikel 20, Rn. 86, in: Schmidt-Bleibtreu/Klein, Kommentar zum GG.

524

C. Zulässigkeit der Hoheitsrechtsübertragungen des EUV

eines Organs, in dem Rechtsetzungsvorhaben diskutiert werden 698 . Die Einflußnahmemöglichkeiten auf das laufende Gesetzgebungsverfahren der Europäischen Gemeinschaft sichern damit indirekt die Rolle des Bundestages als Gesetzgebungsorgan699. Der Bundestag hat also durch die Notwendigkeit des Zustimmungsgesetzes bei Hoheitsrechtsübertragungen und durch Informationsund Mitwirkungsrechte im Rahmen der innerstaatlichen Willensbildung in bezug auf Gemeinschaftsrechtsakte Einflußnahmemöglichkeiten auf die Fortentwicklung der Europäischen Gemeinschaft. Dem Bundestag müssen darüber hinaus innerstaatlich bedeutsame Aufgabenfelder verbleiben, über die im Bundestag entschieden wird. Dies setzt voraus, daß das Integrationsprogramm der Europäischen Gemeinschaft und damit ihre Kompetenzen hinreichend bestimmbar festgelegt. Steht das Integrationsprogramm nämlich nicht fest, wird die unbegrenzte Inanspruchnahme von Kompetenzen durch die Europäische Gemeinschaft ermöglicht. In der Folge könnte der Bundestag seinerseits Kompetenzen in solchen Bereichen nicht mehr ausüben, so daß die Entscheidungsmöglichkeit des Bundestages über innerstaatlich ggf. bedeutsame Aufgabenbereiche nicht mehr gewährleistet wäre. Nur wenn feststeht, in welchen Bereichen und in welchem Umfang die Europäische Gemeinschaft tätig werden darf, besteht im Umkehrschluß die Gewähr, daß dem Bundestag bedeutsame Aufgabenfelder zur eigenen Entscheidung verbleiben. Der EG-Vertrag genügt diesen Bestimmtheitsanforderungen, weil er die mögliche Inanspruchnahme von Hoheitsrechten durch die Europäische Gemeinschaft hinreichend vorhersehbar normiert 700 . Dies wird insbesondere durch die Geltung des Prinzips der begrenzten Einzelermächtigung erreicht. Die Gemeinschaftsorgane sind lediglich dann zum Handeln ermächtigt, wenn ihnen der EGVertrag Kompetenzen zuweist. Dies bringt der neu in den Vertrag eingefügte Artikel 3 b Absatz 1 EGV nunmehr explizit zum Ausdruck 701. Die Gemeinschaftsorgane dürfen danach nur innerhalb der Grenzen der ihnen im EGVertrag zugewiesenen Befugnisse und gesetzten Ziele tätig werden. Sie müssen sich davon überzeugen, daß in Betracht gezogene Maßnahmen innerhalb der Grenzen der ihnen im Vertrag zugewiesenen Kompetenzen liegen, und sie müs-

698

Lang, S. 330.

699

Lang, S. 330.

700

BVerfGE 89, S. 155, 191.

701

BVerfGE 89, S. 155, 193. So auch Jarass, EuGRZ 1994, S. 209; Pieper, DVBI. 1993, S. 708; Konow, DÖV 1993, S. 407; Huber, S. 147; Bogdandy/Nettesheim, Artikel 3 b, Rn. 3, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), Kommentar zum EUV; Baetge, BayVBl. 1992, S. 714; Blumenwitz, S. 6; Everling, DVBI. 1993, S. 942; Lambers, EuR 1993, S. 233; Jarass, EuGRZ 1994, S. 209; Hölscheidt, KritV 1994, S. 406; Kirchhof, FAZ vom 04.12.1996, S. 11.

III. Europäische Gemeinschaft

525

sen feststellen, ob sich die Maßnahmen in bezug auf eines der Ziele des EGVertrages begründen lassen702. Das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung ist ein im EG-Vertrag durchgängig geltender Grundsatz. Er gilt auch im Bereich der durch den Vertrag von Maastricht neu gestalteten Wirtschafts- und Währungspolitik. Auch die Ziele der Wirtschafts- und Währungspolitik sind nach „Maßgabe" des EG-Vertrages zu verwirklichen 703. Über die in den Artikeln 103 ff. EGV der Europäischen Gemeinschaft zugewiesenen Kompetenzen zur Koordinierung und Überwachung der nationalen Wirtschaftspolitiken hinaus stehen den Gemeinschaftsorganen keine Kompetenzen zur Gestaltung der Wirtschaftspolitiken der Mitgliedstaaten zu. Vielmehr verbleiben die diesbezüglichen Kompetenzen bei den Mitgliedstaaten. Dies hat in bezug auf den Bundestag zur Folge, daß diesem weiterhin vielfältige Kompetenzen zur Gestaltung der nationalen Wirtschaftspolitik verbleiben. Auch die Kompetenzen auf dem Gebiet der Währungspolitik werden gemäß Artikel 4 a EGV „nach Maßgabe" der Befugnisse, die dem ESZB im EG-Vertrag zugewiesen werden, wahrgenommen 704. Damit folgt auch die Kompetenzausstattung der Europäischen Gemeinschaft im Bereich der Währungsunion dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung. Der Sicherung hinreichend bedeutender Aufgabenfelder des Bundestages dient auch die Neufassung der Zielvorgaben und Ermächtigungsgrundlagen des EG-Vertrages. So wurden durch Artikel 3 lit. k - q, s und t EGV die Ziele der Europäischen Gemeinschaft im Vergleich zu denen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft vordergründig zwar ausgeweitet. Die erweiterten Zielvorgaben werden jedoch sogleich eingeschränkt. So beschränkt sich die Zielsetzung bezüglich der Bereiche Forschung, technologische Entwicklung, Auf- und Ausbau transeuropäischer Netze und Assoziierung der überseeischen Länder und Hoheitsgebiete in Artikel 3 lit. m, η, und r EGV auf die „Förderung" dieser Bereiche durch die Tätigkeit der Europäischen Gemeinschaft. Gemäß Artikel 3 lit. ο, ρ und s EGV beschränkt sich die Europäische Gemeinschaft in den Bereichen des Gesundheitsschutzes, der allgemeinen und beruflichen Bildung sowie der Kultur und des Verbraucherschutzes auf einen „Beitrag" und besitzt nicht die Kompetenz zur vollständigen Regelung der genannten Bereiche 705 . Die Präzisierung der Zielvorgaben bewirkt damit zugleich eine Beschränkung der Handlungsmöglichkeiten der Europäischen Gemein-

702

Schlußfolgerungen des Rates von Edinburgh, EA 1992, S. D 9.

703

Dies betont ausdrücklich BVerfGE 89, S. 155, 193.

704

So können etwa die nationalen Zentralbanken gemäß Artikel 14.4 der Satzung des ESZB und der EZB andere als die in der Satzung bezeichneten Aufgaben wahrnehmen. 705

Dies betont auch BVerfGE 89, S. 155, 194.

526

C. Zulässigkeit der Hoheitsrechtsübertragungen des EUV

schaft. Die Einschränkungen der Zielvorgaben greifen die Artikel 126 ff. EGV auf, die der Europäischen Gemeinschaft Kompetenzen ausdrücklich nur in begrenztem Umfang zuweisen706. So hat die Europäische Gemeinschaft etwa im Bereich der allgemeinen und beruflichen Bildung die Verantwortlichkeit der Mitgliedstaaten für die Lehrinhalte und die Gestaltung des Bildungssystems im Bereich der allgemeinen und beruflichen Bildung zu achten 707 . Sie besitzt keine Kompetenzen zur Harmonisierung der Rechts- und VerwaltungsVorschriften 708. Die Europäische Gemeinschaft kann mit Fördermaßnahmen, Leitlinien oder Empfehlungen nur unterstützend eingreifen und zur Stärkung der Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten oder zur Unterstützung oder Ergänzung ihres Handelns in den betreffenden Bereichen beitragen 709. Die ausdrückliche Beschränkung der Inhalte, des Umfangs und der Mittel des Gemeinschaftshandelns bewirkt eine Konkretisierung, nicht die Ausweitung der Kompetenzen der Europäischen Gemeinschaft 710. Da diesen Artikeln außerdem eine Lex-specialisWirkung zukommt, schränken sie zudem den Anwendungsbereich der Artikel 100, 100 a, 235 EGV ein 7 1 1 . Damit ist die Inanspruchnahme von Kompetenzen durch die Europäische Gemeinschaft vorhersehbar. Die nur beschränkte Kompetenzausstattung der Europäischen Gemeinschaft sichert dem Bundestag damit auch in den in den Artikeln 126 ff. EGV geregelten Bereichen hinreichend bedeutsame eigene Kompetenzen. Da dem Bundestag damit im Rahmen des Rechtsetzungsverfahrens der Europäischen Gemeinschaft Beteiligungsmöglichkeiten zukommen und ihm aufgrund der durch die Geltung des Prinzips der begrenzten Einzelermächtigung beschränkten Kompetenzausstattung der Europäischen Gemeinschaft innerstaatlich bedeutsame eigene Aufgabenfelder zur eigenen Entscheidung verbleiben, ist sichergestellt, daß ihm Aufgaben von substanziellen Gewicht verbleiben. Die Wahrnehmung staatlicher Aufgaben und die Ausübung staatli-

706

Siehe oben S. 204 ff.

707

Artikel 126 Abs. 1, Artikel 127 Abs. 1 EGV.

708

Artikel 126 Abs. 4, Artikel 127 Abs. 4, Artikel 128 Abs. 5, Artikel 129 Abs. 4 EGV. BVerfGE 89, S. 155, 194; Oppermann/Classen, Aus Politik und Zeitgeschichte 28/1993, S. 17. 709

Artikel 126 Abs. 4 Spiegelstrich 1; Artikel 128 Abs. 2; Artikel 129 Abs. 1; Artikel 129 d; Artikel 130 g EGV. 7, 0

Oppermann/Classen, NJW 1993, S. 9; Pernice , Die Verwaltung 1993, S. 460; Schweitzer/Hummer, S. 98. Der Kompetenzzuwachs für die EG in diesen Bereichen sei daher eher bescheiden, Lenz, NJW 1993, S. 1963. Die Mitgliedstaaten bleiben vielmehr grundsätzlich Träger der Zuständigkeit und Verantwortung für die betreffenden Politikbereiche, Seidel, EuR 1992, S. 132. 711

BVerfGE 89, S. 155, 194. Pernice , DVBI. 1993, S. 913.

III. Europäische Gemeinschaft

527

eher Befugnisse läßt sich damit auf das deutsche Staatsvolk zurückführen und muß ihm gegenüber verantwortet werden. Die durch Artikel 79 Absatz 3 GG i.V.m. Artikel 20 GG geschützte Geltung demokratischer Grundsätze wird daher durch die Europäische Gemeinschaft weder gefährdet noch aufgehoben. Auch die Fortgeltung der bundesstaatlichen Struktur des deutschen Staates darf durch die Europäische Gemeinschaft nicht gefährdet oder aufgehoben werden. Der EG-Vertrag stattet die Europäische Gemeinschaft jedoch nicht mit Kompetenzen aus, die die Eigenstaatlichkeit der Bundesländer gefährden oder gar beseitigen. So besitzt die Europäische Gemeinschaft weder Kompetenzen im Bereich der Verfassungsgebung, noch besitzt sie die Organisations- und Personalhoheit der Länder ablösende Kompetenzen, noch beseitigt sie die Finanzhoheit der Länder 712 . Zudem sichert das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung auch die Fortgeltung der bundesstaatlichen Struktur in der Bundesrepublik Deutschland. Da die Europäische Gemeinschaft nur innerhalb der Grenzen der ihr durch den EG-Vertrag zugewiesenen Kompetenzen und Ziele tätig werden kann, ist sichergestellt, daß innerstaatlich den Bundesländern zukommende Kompetenzen nicht im Wege schleichenden Übergangs auf der Ebene der Europäischen Gemeinschaft wahrgenommen werden können. Sie verbleiben vielmehr im „Kompetenzbestand" der Bundesländer, solange sie nicht ausdrücklich auf die Europäische Gemeinschaft übertragen werden. Für die auf die Europäische Gemeinschaft übertragenen Kompetenzen gilt außerdem der Grundsatz der Subsidiarität, so daß in Bereichen nicht ausschließlicher Zuständigkeit der Europäischen Gemeinschaft stets zu prüfen ist, ob eine Maßnahme auf der Ebene der Mitgliedstaaten zur Verwirklichung der Ziele der Europäischen Gemeinschaft nicht ausreichend wäre 7 1 3 . Sofern diese Prüfung ergibt, daß eine Maßnahme auf der Ebene der Mitgliedstaaten verwirklicht werden kann, und sofern Kompetenzen betroffen sind, die das Grundgesetz den Bundesländern zuweist, ist die Ausübung der Hoheitsrechte entsprechend der innerstaatlichen Kompetenzverteilung den Ländern vorbehalten. Das Subsidiaritätsprinzip sichert damit indirekt auch die Kompetenzen der Bundesländer 714. Das zum Erhalt der Staatlichkeit erforderliche „Hausgut" der Länder wird zudem sowohl durch die Verpflichtung der Bundesregierung zur Vertretung der Rechte der Bundesländer auf der Ebene der Europäischen Gemeinschaft als auch durch die eigenen Möglichkeiten der Bundesländer, ihre Kompetenzen zu schützen, gesichert. Beansprucht die Europäische Gemeinschaft eine Rechtsetzungskompetenz und behält das Grundgesetz die Regelung des von der Euro-

71 2

Stein, VVDStRL 53 (1994), S. 33.

713

Siehe oben S. 123 f.

71 4

Stein., VVDStRL 53 (1996), S. 38; Pernice , DVB1. 1993, S. 915.

C. Zulässigkeit der Hoheitsrechtsübertragungen des EUV

528

päischen Gemeinschaft beanspruchten Bereiches innerstaatlich den Ländern vor, so obliegt es der Bundesregierung als Sachwalter der Länder, die Rechte der Bundesländer gegenüber der Europäischen Gemeinschaft zu vertreten 715. Geht es um das Bestehen und die Reichweite einer Gemeinschaftskompetenz, verpflichtet das aus dem Bundesstaatsprinzip folgende Gebot der Bundestreue die Bundesregierung, einen Rechtsstandpunkt der Länder zu berücksichtigen und die Position der Bundesländer auf der Ebene der Europäischen Gemeinschaft wirksam zu vertreten 716. Äußerstenfalls muß sich die Bundesregierung in Fällen, in denen eine Regelung auf Gemeinschaftsebene angestrebt wird, eine solche Entscheidung jedoch gegen das Bundesstaatsprinzip verstoßen würde, im Rat nicht nur gegen den Rechtsetzungsvorschlag aussprechen, sondern die Verabschiedung des Rechtsaktes dadurch verhindern, daß sie gegenüber den anderen Mitgliedstaaten und den Gemeinschaftsorganen das aus der Gemeinschaftstreue folgende Gebot wechselseitiger Rücksichtnahme geltend macht 717 . Die Möglichkeit einer Regelung auf Gemeinschaftsebene findet nämlich dort ihre Grenze, wo durch eine solche Entscheidung Verfassungsprinzipien und elementare Interessen der Mitgliedstaaten verletzt würden 718 . Kommt trotzdem eine Regelung auf der Ebene der Europäischen Gemeinschaft zustande, so besteht die Verpflichtung der Bundesregierung, sich für eine Aufhebung oder Änderung des Gemeinschaftsrechtsaktes einzusetzen719. Darüber hinaus besitzen auch die Bundesländer selbst die Möglichkeit, die ihnen innerstaatlich zugewiesenen Kompetenzen zu schützen und so den Erhalt des Bundesstaatsprinzips zu sichern. Artikel 23 Absatz 1 Sätze 2 und 3 GG fordert zum einen für jede Hoheitsrechtsübertragung die Zustimmung des Bundesrates 720. Sofern also die Bundesländer der Ansicht sind, daß auf die Euro715

BVerfGE 92, S. 203, 231.

716

BVerfGE 92, S. 203,231.

717

BVerfGE 89, S. 155, 184. Winkelmann, 1993, S. 916. 71 8

DÖV 1996, S. 2 f.; Pernice , DVBI.

Heintzen, JZ 1991, S. 321, leitet aus dem Grundsatz der Gemeinschaftstreue gemäß Artikel 5 EGV ab, daß die EG verpflichtet ist, auf nationales Verfassungsrecht Rücksicht zu nehmen. Im Ergebnis ebenso auch Badura, FS Lerche, S. 382, der die Rücksichtnahme auf die bundesstaatliche Gliederung der Mitgliedstaaten ebenfalls als einen Teil des gemeinschaftsrechtlichen Gebots der Rücksichtnahme ansieht. Ebenso BVerfGE 89, S. 155, 184, das aus diesem Grundsatz ableitet, daß in diesen Fällen ungeachtet der vertraglich vorgesehenen Möglichkeit einer Mehrheitsentscheidung im Rat, Einstimmigkeit erforderlich ist; a.A. Bogdandy, Artikel 5, Rn. 82, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), Kommentar zum EUV, der die Annahme einer allgemeinen Rechtspflicht ablehnt. 71 9 0

Winkelmann, DÖV 1996, S. 3. Siehe oben S. 9 f .

III. Europäische Gemeinschaft

529

päische Gemeinschaft Hoheitsrechte übertragen werden sollen, die zum Kernbestand der Kompetenzen gehören, auf die sich ihre Staatlichkeit stützt, so können sie dem Zustimmungsgesetz ihre Zustimmung verweigern. Die Bundesländer können zum anderen aber auch Einfluß auf das Rechtsetzungsverfahren der Europäischen Gemeinschaft nehmen und auf diese Weise sicherstellen, daß die Kompetenzen der Europäischen Gemeinschaft in einer Weise ausgeübt werden, die das Bundesstaatsprinzip nicht gefährdet. So können sie aufgrund Artikel 23 Absatz 6 GG in bezug auf Rechtsetzungsvorhaben, die innerstaatlich in die ausschließliche Gesetzgebungskompetenz der Länder fallen, im Rat verbindlich für die Bundesrepublik Deutschland handeln 721 und durch die Ablehnung eines derartigen Vorhabens im Rat eine gemeinschaftsrechtliche Regelung zumindest in den Fällen verhindern, für die ein einstimmiger Ratsbeschluß erforderlich ist. Die Bundesländer können über diese Möglichkeiten der Einflußnahme auf Gemeinschaftsebene hinaus auf den innerstaatlichen Meinungsbildungsprozeß Einfluß nehmen. Aufgrund Artikel 23 Absätze 4 und 5 GG und des EuZBLG stehen dem Bundesrat nicht nur umfangreiche Informationsrechte zu, sondern er kann den innerstaatlichen Willensbildungsprozeß in Bereichen, die in die ausschließliche Gesetzgebungsbefugnis der Länder fallen, durch das ihm zustehende Letztentscheidungsrecht maßgeblich steuern 722. Die Europäische Gemeinschaft gefährdet also die Fortgeltung des durch Artikel 79 Absatz 3 i.V.m. Artikel 20 Absatz 1 GG garantierten Bundesstaatsprinzips nicht. Im Hinblick auf das durch Artikel 79 Absatz 3 i.V.m. Artikel 20 Absatz 1 GG geschützte Sozialstaatsprinzip wirft die Europäische Gemeinschaft keine Probleme auf, da die Sozialpolitik im Rahmen des EG-Vertrages und des Abkommens über die Sozialpolitik nicht darauf abzielt, die Sozialpolitik der Mitgliedstaaten zu ersetzen. Die Sozialpolitik auf der Ebene der Europäischen Gemeinschaft beschränkt sich vielmehr auf die Koordinierung der nationalen Maßnahmen der Mitgliedstaaten auf dem Gebiet der Sozialpolitik und das Festlegen eines Sockels von Mindeststandards723. Die Mitgliedstaaten haben damit die Möglichkeit, über gemeinschaftsrechtliche Regelungen hinausgehende nationale Regelungen auf dem Gebiet der Sozialpolitik zu treffen. Durch das auf Mindeststandards beschränkte Handlungsziel ist eine Absenkung des Schutzniveaus auf dem Gebiet der Sozialpolitik unter ein Niveau, wie es das Grundgesetz gemäß Artikel 79 Absatz 3 i.V.m. Artikel 20 Absatz 1 GG für die Verwirklichung des Grundsatzes des Sozialstaats voraussetzt, nicht möglich. In der Bundesrepublik Deutschland können nämlich jederzeit über die auf der Ebene der Europäischen Gemeinschaft festgelegten Mindeststandards hinaus

721

Siehe oben S. 154 ff.

722

Siehe oben S. 149 ff.

723

Siehe oben S. 197 ff.

34 Uhrig

530

C. Zulässigkeit der Hoheitsrechtsübertragungen des EUV

höhere nationale Sozialstandards festgelegt werden. Außerdem hat die Bundesrepublik Deutschland auch Einfluß im Hinblick auf die Festlegung dieser Mindeststandards auf der Ebene der Europäischen Gemeinschaft, denn der Erlaß von Richtlinien im Rahmen des Abkommens über die Sozialpolitik bedarf in zahlreichen Bereichen eines einstimmigen Beschlusses im Rat. Deutschland kann somit bereits den Standard, der durch eine Richtlinie festgelegt wird, im Sinne der Anforderungen des Sozialstaatsprinzips i.S. des Artikels 79 Absatz 3 i.V.m. Artikel 20 Absatz 1 GG maßgeblich beeinflussen. Die Bundesrepublik Deutschland besitzt also weiterhin hinreichende Handlungsmöglichkeiten, um das Sozialstaatsprinzip im Sinne des Artikels 79 Absatz 3 i.V.m. Artikel 20 Absatz 1 GG zu verwirklichen. Auch die Fortgeltung und der Fortbestand des durch Artikel 79 Absatz 3 i.V.m. Artikel 3 GG geschützten Rechtsstaatsprinzips wird durch die Europäische Gemeinschaft innerstaatlich nicht gefährdet. Die gemäß Artikel 79 Absatz 3 i.V.m. Artikel 20 Absatz 3 GG geforderte Bindung der innerstaatlichen Gewalten an Recht und Gesetz, die gerichtliche Kontrolle und das Prinzip der Gewaltenteilung sind durch die Europäische Gemeinschaft nicht aufgehoben. Das Gemeinschaftsrecht überlagert die deutsche Rechtsordnung nicht dahingehend, daß die deutschen Staatsorgane bei der Anwendung deutscher Rechtsakte nicht an Recht und Gesetz gebunden wären. Sie sind vielmehr als Träger deutscher Hoheitsgewalt uneingeschränkt an die Vorgaben des Artikels 20 Absatz 3 GG gebunden. Sofern Organe der deutschen Exekutive und Legislative handeln, unterliegt ihr Handeln auch der Kontrolle durch deutsche Gerichte. Die deutschen Gerichte kontrollieren das Handeln der deutschen Staatsorgane weiterhin anhand des Maßstabes des Artikels 19 Absatz 4 GG mit der Folge, daß eine umfassende gerichtliche Kontrolle des Handelns der deutschen Staatsorgane stattfindet. Ebenso wird innerstaatlich die wechselseitige Begrenzung und Kontrolle der Gewalten untereinander nicht aufgehoben. Exekutive, Legislative und Rechtsprechung haben ungeachtet der Kompetenzen der Europäischen Gemeinschaft weiterhin voreinander abgegrenzte Kompetenzen und kontrollieren einander. Die mit der Mitgliedschaft Deutschlands in der Europäischen Gemeinschaft verbundene Verlagerung legislativer Aufgaben und die dadurch entstandene Verschiebung zugunsten der Bundesregierung wird dadurch ausgeglichen, daß Bundestag und Bundesrat in Angelegenheiten der Europäischen Union ein Mitspracherecht bei der innerstaatlichen Willensbildung erhalten haben 724 . Damit wird auch das Prinzip der Gewaltenteilung weiterhin gewährleistet. Die Europäische Gemeinschaft berührt damit den Fortbestand und die Fortgeltung der in Artikel 79 Absatz 3 GG geschützten Verfassungsprinzipien nicht

72 4

Kortz, S. 242.

III. Europäische Gemeinschaft

531

und führt nicht zur Aufgabe der grundlegenden fundamentalen Grundsätze der staatlichen Ordnung der Bundesrepublik Deutschland.

b) Aufgabe der deutschen Staatlichkeit Durch die Europäische Gemeinschaft darf schließlich die deutsche Staatlichkeit weder aufgegeben werden, noch darf aufgrund der Kompetenzausstattung der Europäischen Gemeinschaft die Gefahr eines solchen Verlustes bestehen. Dies bedeutet, daß weder die Gesamtheit der Hoheitsrechte noch eine Summe von Hoheitsrechten auf die Europäische Gemeinschaft übertragen werden darf, die es der Europäischen Gemeinschaft ermöglicht, ihre Kompetenzen aus eigenem Recht zu erweitern 725 . Anders als im Bereich der GASP und der Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres sind auf die Europäische Gemeinschaft Hoheitsrechte in erheblichem Umfang übertragen worden. Die Kompetenzausstattung der Europäischen Gemeinschaft beruht jedoch auf dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung. Die Mitgliedstaaten haben nicht alle Hoheitsrechte auf die Europäische Gemeinschaft übertragen. Auf die Europäische Gemeinschaft sind vielmehr nur in begrenztem Umfang Hoheitsrechte übertragen worden. Die Kompetenzausstattung der Europäischen Gemeinschaft gefährdet somit insofern nicht die deutsche Staatlichkeit, als nicht die Gesamtheit der Hoheitsrechte der Bundesrepublik Deutschland auf sie übertragen worden ist. Fraglich ist jedoch, ob die Summe der auf die Europäische Gemeinschaft übertragenen Hoheitsrechte ausreicht, um sie in die Lage zu versetzen, ihre Kompetenzen aus eigenem Recht zu erweitern. Wie bereits die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft ist die Europäische Gemeinschaft nur in dem Maß zur Inanspruchnahme von Kompetenzen befugt, wie der EG-Vertrag ihr Kompetenzen zuspricht 726. Dies beinhaltet zwar nicht, daß die Europäische Gemeinschaft nur in den Fällen tätig werden kann, in denen sie über im einzelnen positiv umschriebene, detailliert bestimmte Kompetenzen verfügt 727 . Ein Vertragsziel als solches genügt jedoch nicht, um Kompetenzen der Europäischen Gemeinschaft zu begründen oder zu erwei-

725

Siehe oben S. 134 ff.

726

EuGH 06.07.1982 - Frankreich u.a./Kommission, Rs. 188-190/80 - Slg. 1982, S. 2545, 2573 ff. Beutler, in: Beutler/Bieber/Pipkorn/Streil, S. 82. 727

Bogdandy/Nettesheim, zum EUV. 34*

Artikel 3 b, Rn. 3, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), Kommentar

532

C. Zulässigkeit der Hoheitsrechtsübertragungen des EUV

tern 7 2 8 . Die Gemeinschaftsorgane benötigen vielmehr filr jeden Rechtsakt zumindest eine Rechtsgrundlage innerhalb des EG-Vertrages, die mit Blick auf die Vertragsziele ausgelegt werden kann 729 . Dies wird auch durch die Gemeinsamen Bestimmungen des EU-Vertrages bestätigt. Gemäß Artikel E EUV üben die Organe der Europäischen Gemeinschaft, also das Europäische Parlament, der Rat, die Kommission und der EuGH, ihre Befugnisse nach Maßgabe und im Sinne der Verträge zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft aus. Die Artikel A bis F EUV selbst enthalten keine Ermächtigungsgrundlagen für gemeinschaftsrechtliches Handeln irgendwelcher A r t 7 3 0 . Sie sind keine kompetenzbegründenden Vorschriften, sondern bekräftigen nur die politische Absicht zur Verwirklichung einer immer engeren Union der Völker Europas. Dies gilt auch für Artikel F Absatz 3 EUV, der keine Generalermächtigung oder gar Kompetenz-Kompetenz begründet 731. Die Artikel A bis F EUV begründen damit zugunsten der Europäischen Gemeinschaft nicht die Möglichkeit, ihre Kompetenzen aus eigenem Recht zu erweitern. Allerdings sind der Europäischen Gemeinschaft durch den Vertrag von Maastricht neue Kompetenzen übertragen worden. Der EG-Vertrag führt insofern zu einer Beschränkung der Kompetenzen der Mitgliedstaaten732. Insbesondere die Übertragung der Kompetenzen im Bereich der Währungspolitik auf die Europäische Gemeinschaft hat in diesem Bereich staatlichen Handelns zu einem umfassenden Transfer mitgliedstaatlicher Hoheitsrechte geführt 733 . Mit den Kompetenzen im Bereich der Währungspolitik geht ein wichtiger Bereich staatlicher Souveränität auf die Europäische Gemeinschaft über 734 . Trotz der anerkannt großen Bedeutung von Währung und Geld für jedes Gemeinwesen735 ist die Währungshoheit eines Staates jedoch kein Essentiale für seine Staatlichkeit, das quasi „conditio sine qua non" für den Fortbestand und die Staatlichkeit

728

BVerfGE 89, S. 155, 209. Maßnahmen, die nicht auf der Grundlage einer solchen Norm ergangen sind, sind anfechtbar, EuGH 28.02.1984 - Ford/Kommission, Rs. 228, 229/82 - Slg. 1984, S. 1129, 1162. 729

So schon für die EWG EuGH 06.07.1982 - Frankreich u.a./Kommission, verb. Rs. 188-190 - Slg. 1982, S. 2545, 2575. Schweitzer/Hummer, S. 98 f.; Oppermann, Europarecht, Rn. 432 ff.; Magiera, Jura 1994, S. 4; Hölscheidt, KritV 1994, S. 406. 730

BVerfGE 89, S. 155, 175 f.

731

Siehe ausführlich oben S. 185 ff.

732

Iglesias, EuGRZ 1996, S. 126.

733

Seidel, Legal Framework, S. 7.

73 4

Herdegen, EuGRZ 1992, S. 592; Murswiek, Der Staat 1993, S: 181; Müller, DVBI. 1992, S. 1251 f, sprechen sogar von einem Stück klassischer Staatlichkeit. 735

Müller, DVBI. 1992, S. 1255; Lenz, NJW 1993, S. 1963; Stein, VVDStRL 53 (1994), S. 31; Oppermann, in: HommelhofïïKirchhof, S. 91.

III. Europäische Gemeinschaft

533

eines Mitgliedstaates ist 7 3 6 . Dies zeigt schon das Beispiel Luxemburgs, das trotz seiner Eingliederung in die Belgisch-Luxemburgische Wirtschaftsunion zweifelsohne einen Staat bildet. Durch die Übertragung der Hoheitsrechte im Bereich der Währungspolitik wird also weder die Staatlichkeit der Europäischen Gemeinschaft begründet noch die der Mitgliedstaaten in Frage gestellt 737 . In bezug auf die Kompetenzausstattung der Europäischen Gemeinschaft gilt weiterhin das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung738. Der Kompetenzausstattung der Europäischen Gemeinschaft liegt also das Prinzip der Zuweisung ausdrücklicher und begrenzter Kompetenzen zugrunde 739. Sie verfügt nur über ihr von den Mitgliedstaaten übertragene Einzelkompetenzen, nicht hingegen über eine alle Bereiche umfassende Handlungskompetenz740. Die Gemeinschaftsorgane können also nur in den Bereichen rechtsetzend tätig werden, in denen der EG-Vertrag der Europäischen Gemeinschaft entsprechende Kompetenzen zuweist 741 . Da die Europäische Gemeinschaft keine Kompetenzen besitzt, wenn dem EG-Vertrag keine Ermächtigungsgrundlage für gemeinschaftliches Handeln zu entnehmen ist, verbleiben die Kompetenzen in allen Bereichen, in denen der EG-Vertrag keine Kompetenzen zugunsten der Europäischen Gemeinschaft begründet, bei den Mitgliedstaaten742. Die Europäische Gemeinschaft kann daher in den Bereichen staatlichen Handelns, die im EGVertrag nicht geregelt sind, keine Regelungen treffen. So kann sie weder das Staatsangehörigkeitsrecht regeln noch Steuern erheben. Sie kann keine Zwangsgewalt ausüben, sondern muß sich für die Vollstreckung ihrer Forderungen der Vollstreckungsbehörden der Mitgliedstaaten bedienen743. Sie kann in Bereichen, die im EG-Vertrag ausdrücklich ausgeschlossen sind, wie etwa gemäß Artikel 222 EGV in der Frage der Eigentumsordnungen in den Mitgliedstaaten 7 4 4 , ebenfalls keinerlei Regelungen treffen. In diesen Bereichen besitzen vielmehr ausschließlich die Mitgliedstaaten sämtliche Kompetenzen. Ohne die

73 6

Pernice , Die Verwaltung 1993, S. 474; Schwarze, JZ 1993, S. 591.

737

Schwarze, JZ 1993, S. 591; Häde, S. 166; Stein, VVDStRL 53 (1994), S. 31.

738

Siehe oben S. 527 f.

739

BVerfGE 89, S. 155, 192 f. Klein/Haratsch, DÖV 1993, S. 788; Weber, S. 126; DÖV 1993, S. 319; a.A. Murswiek, Der Staat ders., JZ 1993, S. 327; Steinberg/Britz, 1993, S. 180 f; Schachtschneider u.a., JZ 1993, S. 753. 740

BVerfGE 89, S. 155, 193. Oppermann/Classen, Aus Politik und Zeitgeschichte 28/1993, S. 19; Oppermann, DVB1. 1994, S. 905; Mazan, S. 97. 741

Schweitzer/Hummer,

S. 98 m.w.N.

742

Mazan, S. 98.

743

Lenz, NJW 1993, S. 1963.

74 4

Schweitzer/Hummer,

S. 98.

534

C. Zulässigkeit der Hoheitsrechtsübertragungen des EUV

Mitgliedstaaten wäre angesichts der nur beschränkten Kompetenzausstattung der Europäischen Gemeinschaft beispielsweise weder eine an gleichen Zielen ausgerichtete Wirtschaftspolitik möglich noch die Durchführung gemeinschaftsrechtlicher Regelungen denkbar 745 . Die Kompetenzen der Europäischen Gemeinschaft haben also nicht das Ende der Staatlichkeit der Mitgliedstaaten zur Folge, sondern setzen im Gegenteil handlungsfähige Mitgliedstaaten voraus. Die begrenzte Kompetenzausstattung der Europäischen Gemeinschaft wird schließlich auch daran deutlich, die Kompetenzverteilung zwischen den Mitgliedstaaten und der Europäischen Gemeinschaft auch weiterhin nur durch völkerrechtlichen Vertrag zwischen den Mitgliedstaaten verändert werden kann. Die Gemeinschaftsorgane haben nämlich nicht die Möglichkeit, den EGVertrag zu ändern. Gemäß Artikel Ν Absatz 1 EUV, der weitestgehend Artikel 236 EGV entspricht 746, steht die Kompetenz zur Verabschiedung von Vorschlägen zur Änderung der Verträge, auf denen die Europäische Union beruht 747 , und damit auch des EG-Vertrages, ausschließlich dem Rat als dem die Mitgliedstaaten repräsentierenden Organ z u 7 4 8 . Die Änderung der vertraglichen Grundlagen der Europäischen Gemeinschaft setzt die Einigung der Mitgliedstaaten und den Abschluß eines völkerrechtlichen Vertrages voraus, der der Ratifikation gemäß den verfassungsrechtlichen Vorschriften der Mitgliedstaaten bedarf. Das Erfordernis der Ratifikation durch die nationalen Parlamente der Mitgliedstaaten verdeutlicht ebenfalls, daß Änderungen des EGVertrages durch die Mitgliedstaaten erfolgen 749. Primäres Gemeinschaftsrecht kann also nur durch die Mitgliedstaaten im Wege völkerrechtlicher Verträge geändert werden, und es bedarf der nachfolgende Ratifikation durch die nationalen Parlamente 750. Herren der Verträge bleiben somit die Mitgliedstaaten751.

74 5

Lenz, NJW 1993, S. 1963.

746

Während Artikel Ν EUV sich auch auf die GASP und die Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres bezieht, regelte Artikel 236 EWGV lediglich die Änderung des EWGV, verwies infolgedessen lediglich auf den EWGV und enthielt keine Regelung für die Beteiligung der EZB. Infolge der nunmehr erfolgten Regelung in Artikel Ν EUV wurde Artikel 236 EWGV aufgehoben. 747

Zum Anwendungsbereich des Artikels Ν EUV gehören auch die 17 Protokolle der Schlußakte zum EUV. Allgemein für die Änderung von Protokollen, Hilf, Artikel 239, Rn. 10, in: von der Groeben/Thiesing/Ehlermann (Hrsg.), Kommentar zum EWGV. 748

Blanke, DÖV 1993, S. 418; Weikart, Vertragsänderung siehe oben S. 404 ff.

NVwZ 1993, S. 837. Zum Verfahren der

74 9

Blanke, DÖV 1993, S.419; Steinberg/Britz, DÖV 1993, S. 319; Oppermann/Classen, Aus Politik und Zeitgeschichte 28/1993, S. 13; Seidel, EuR 1992, S. 131; Herdegen, EuGRZ 1992, S. 591. 75 0

Grimm, JZ 1995, S. 586 m.w.N.; Steinberger, FS für Heimlich, S. 431.

III. Europäische Gemeinschaft

535

Die Europäische Gemeinschaft besitzt also keine Verfassungsautonomie 752. Sie kann folglich ihre Kompetenzen nicht aus eigenem Recht erweitern und ausbauen. Ungeachtet der der Europäischen Gemeinschaft im EG-Vertrag neu zugewiesenen Kompetenzen besitzt sie damit im Unterschied zu Staaten keine Kompetenz-Kompetenz753. Die Europäische Gemeinschaft hat nur die ihr im EG-Vertrag zugewiesenen Einzelkompetenzen und ist damit in ihrer Eigenart nicht verändert worden. Insbesondere ist sie nicht in ein Gebilde verwandelt worden, das aufgrund einer vorhandenen Kompetenz-Kompetenz Staatsqualität beanspruchen könnte 754 . Auf die Europäische Gemeinschaft sind damit nicht in einem Umfang oder in einer Qualität Hoheitsrechte übertragenen worden, die sie in die Lage versetzten, ihre Kompetenzen aus eigenem Recht zu erweitern. Durch die Europäische Gemeinschaft wird daher weder die Staatlichkeit der Bundesrepublik Deutschland aufgehoben, noch besteht die Gefahr eines solchen Verlustes.

8. Ergebnis Die Europäische Gemeinschaft, auf die durch den Vertrag von Maastricht weitere Hoheitsrechte, insbesondere im Bereich der Währungspolitik, übertragen worden sind, entspricht den Anforderungen, die das Grundgesetz im Hinblick auf die Verwirklichung föderativer Grundsätze aufstellt. Sie achtet die Eigenstaatlichkeit der Mitgliedstaaten, denn sie räumt diesen hinreichende Einflußnahme- und Entscheidungsmöglichkeiten auf der Ebene der Europäischen Gemeinschaft ein. Die Mitgliedstaaten sind auf Gemeinschaftsebene in den Organen und Einrichtungen, in denen die maßgeblichen Entscheidungen getroffen werden, durch Vertreter repräsentiert. Die mitgliedstaatlichen Vertreter geben im Europäischen Rat politische Impulse und treffen im Rat und im EZBRat die wesentlichen Entscheidungen. Da die Verabschiedung von Rechtsakten gegen den Willen des Rates als des die Mitgliedstaaten vertretende Organs nicht möglich ist, findet eine vom Willen der Mitgliedstaaten abgelöste Entscheidungsfindung nicht statt. Da die in den Mitgliedstaaten vorhandenen föderalen Strukturen durch die Möglichkeit der Verhandlungsteilnahme und Beschlußfassung im Rat und die Einrichtung des die Gemeinschaftsrechtsetzung beratend unterstützenden Ausschusses der Regionen von der Europäischen Gemeinschaft

75 1

Bleckmann, JZ 1997, S. 266; ders., Nationales und europäisches Souveränitätsverständnis, S. 36; Huber, S. 73 f.; Grimm, JZ 1995, S. 586 m.w.N. 75 2

Blanke, DÖV 1993, S. 419; Schilling,. AöR 1991, S. 64.

75 3

Häde, S. 166; Iglesias , EuGRZ 1996, S. 126; Stein,, VVDStRL 53 (1994), S. 30; Weber, JZ 1993, S. 328. 75 4

Grimm, JZ 1995, S. 582; Blanke, DÖV 1993, S. 421.

536

C. Zulässigkeit der Hoheitsrechtsübertragungen des EUV

zur Kenntnis genommen werden, ist auch die Achtung derföderalen Strukturen der Mitgliedstaaten gegeben. Demgegenüber sind demokratische Grundsätze in der Europäischen Gemeinschaft nur teilweise verwirklicht. Zwar sind die Mitgliedstaaten im Europäischen Rat, im Rat, im EWI-Rat und im EZB-Rat in demokratisch besetzten Organen vertreten. Im Rat werden die Entscheidungen nach demokratischen Grundsätzen getroffen, denn obgleich die Entscheidungen nicht in jedem Fall einstimmig gefaßt werden, spiegeln sie doch stets den Willen der Mehrheit der Mitgliedstaaten wider. Demgegenüber ist im EZB-Rat durch die Stimmen der Mitglieder des Direktoriums der EZB und in den Fällen der Abstimmung nach Kapitalanteilen nicht gewährleistet, daß Entscheidungen auf dem Willen der Mehrheit der Mitgliedstaaten beruhen. Während die Mitglieder des Rates aufgrund ihrer Stellung als Vertreter demokratisch gewählter oder ernannter Regierungen der Mitgliedstaaten und durch die parlamentarische Kontrolle ihres Handelns durch die nationalen Parlamente mittelbar demokratisch legitimiert sind, ist dies für die im Bereich der Währungspolitik maßgebenden Akteure, nämlich die Mitglieder des Direktoriums der EZB, die nationalen Zentralbankpräsidenten und die nationalen Zentralbanken, nicht der Fall, da diese angesichts ihrer umfassenden unabhängigen Stellung insbesondere keiner parlamentarischen Kontrolle unterliegen. Die fehlende demokratische Kontrolle und die damit verbundene fehlende demokratische Legitimation des Handelns des ESZB ist jedoch als lediglich auf den Bereich der Währungspolitik begrenzte Ausnahme dadurch gerechtfertigt, daß die umfassend unabhängige Stellung der EZB und der nationalen Zentralbanken die Währungspolitik dem Einfluß politischer Interessen entzieht, so daß das ESZB unbeeinflußt von politischen und wirtschaftlichen Interessengruppen die Verwirklichung des vorrangigen Ziels der Währungsunion, nämlich der Sicherung der Preisstabilität, in den Mittelpunkt ihrer Aktivitäten stellen kann. Die demokratische Legitimation der Europäischen Gemeinschaft wird im übrigen durch einander ergänzende Legitimationsquellen sichergestellt. Die Europäische Gemeinschaft wird mittelbar durch die demokratisch legitimierten Vertreter der Mitgliedstaaten im Rat legitimiert. Hinzu tritt die unmittelbare demokratische Legitimation durch das Handeln des von den Völkern Europas gewählten Europäischen Parlaments, dessen Rechte sowohl im Rechtsetzungsverfahren als auch in bezug auf allgemeine Kontroll- und Berichtsrechte ausgeweitet wurden. Da es gleichwohl nicht in gleichem Umfang wie die nationalen Parlamente Gesetzesinitiativ- und Kontrollrechte besitzt, bedarf diese Art der unmittelbaren demokratischen Legitimation ergänzender demokratischer Legitimation durch die nationalen Parlamente, die durch die Kontrolle der Vertreter der Mitgliedstaaten im Rat und die Zustimmung zu Änderungsverträgen der Europäischen Gemeinschaft sicherstellt, daß die Unionsbürger hinreichenden Einfluß auf die Europäische Gemeinschaft nehmen können.

III. Europäische Gemeinschaft

537

Die Europäische Gemeinschaft erfüllt uneingeschränkt rechtsstaatliche Grundsätze, denn der EG-Vertrag enthält ein Regelungssystem, das gerichtliche Kontrolle des Handeln der Gemeinschaftsorgane und der Mitgliedstaaten, sofern diese Gemeinschaftsrecht durchführen, sicherstellt, und das Handeln der Gemeinschaftsorgane genügt angesichts der Geltung zahlreicher allgemeiner Rechtsgrundsätze rechtsstaatlichen Anforderungen. Außerdem ist in der Europäischen Gemeinschaft der Grundsatz der Gewaltenteilung verwirklicht, denn die verschiedenen Gemeinschaftsorgane kontrollieren und begrenzen einander und garantieren so ein für die Gewaltenteilung typisches System der checks and balances. Die Europäische Gemeinschaft verwirklicht auch soziale Grundsätze, denn das Abkommen über die Sozialpolitik verpflichtet sie über die bereits erfolgten Regelungen auf sozialpolitischem Gebiet hinaus, die unter dem Aspekt der Abrundung des Binnenmarktes auf der Grundlage allgemeiner Ermächtigungsgrundlagen verabschiedet worden, nun auch ausdrücklich zur Verwirklichung von Mindeststandards in sozialpolitischen Bereichen. Angesichts der durch die Rechtsprechung des EuGH anerkannten Geltung zahlreicher Grundrechte auf der Ebene der Europäischen Gemeinschaft und der nunmehr in Artikel F Absatz 2 EUV im primären Vertragsrecht ausdrücklich verankerten Achtung der Grundrechte verwirklicht die Europäische Gemeinschaft einen dem Grundgesetz im wesentlichen gleichkommenden Grundrechtsschutz. Die Europäische Gemeinschaft erfüllt auch das Erfordernis der Achtung des Grundsatzes der Subsidiarität, denn das Subsidiaritätsprinzip ist einerseits in Artikel 3 b Absatz 2 EGV definiert. Sein Grundgedanke, daß nämlich die Europäische Gemeinschaft nur tätig werden soll, sofern ein Handeln auf der Ebene der Mitgliedstaaten nicht ausreicht und sofern ein Ziel auf Gemeinschaftsebene besser erreicht werden kann, findet sich andererseits in zahlreichen Bestimmungen des EG-Vertrages wider, die die Europäische Gemeinschaft nur mit begrenzten Kompetenzen ausstatten. Die Europäische Gemeinschaft führt auch nicht zur Aufgabe der in Artikel 79 Absatz 3 GG garantierten grundlegenden Verfassungsprinzipien. Dies gilt insbesondere für die Fortgeltung des Demokratieprinzips. Das auf der Ebene der Europäischen Gemeinschaft geltende Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung, die Notwendigkeit der Beteiligung des Bundestages bei der Übertragung von Hoheitsrechten in Form eines Zustimmungsgesetzes und die Beteiligung am innerstaatlichen Willensbildungsprozeß sichern dem Bundestag innerstaatlich hinreichende eigene Aufgabenfelder und Möglichkeiten der Einflußnahme auf die Fortentwicklung der Europäischen Gemeinschaft und damit hinreichende Aufgaben von substanziellem Gewicht. Insofern läßt sich die Wahrnehmung staatlicher Aufgaben und die Ausübung staatlicher Befugnisse

538

C. Zulässigkeit der Hoheitsrechtsübertragungen des EUV

weiterhin auf das deutsche Staatsvolk zurückführen. Da die Europäische Gemeinschaft nur aufgrund der ihr im EG-Vertrag zugewiesenen Kompetenzen tätig werden kann und die Änderung der vertraglichen Grundlagen der Europäischen Gemeinschaft nur durch völkerrechtlichen Vertrag der Mitgliedstaaten erfolgen kann, kann die Europäische Gemeinschaft ihre Kompetenzen nicht aus eigenem Recht erweitern, sondern ist vom Fortbestand der Mitgliedstaaten abhängig und begründet in der Folge nicht die Gefahr der Aufgabe der deutschen Staatlichkeit. Die Europäische Gemeinschaft entspricht also mit Ausnahme demokratischer Grundsätze allen Anforderungen, die das Grundgesetz für eine Mitwirkung Deutschlands an der Europäischen Union aufstellt. Die nur teilweise Verwirklichung demokratischer Grundsätze in der Währungspolitik hindert die Bundesrepublik Deutschland jedoch nicht, an der Verwirklichung eines vereinten Europa mitzuwirken, denn die fehlende Verwirklichung demokratischer Grundsätze ist punktuell auf den Bereich der Währungspolitik beschränkt und dort angesichts des Ziels der Verwirklichung der Preisstabilität gerechtfertigt.

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