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German Pages 172 Year 2000
NORBERT MANTERFELD
Die Grenzen der Verfassung
Schriften zum Öffentlichen Recht Band 807
Die Grenzen der Verfassung Möglichkeiten limitierender Verfassungstheorie des Grundgesetzes am Beispiel E.-W. Böckenfördes
Von Norbert Manterfeld
Duncker & Humblot · Berlin
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Manterfeld, Norbert: Die Grenzen der Verfassung : Möglichkeiten limitierender Verfassungstheorie des Grundgesetzes am Beispiel E.-W. Böckenfördes / von Norbert Manterfeld. Berlin : Duncker und Humblot, 2000 (Schriften zum öffentlichen Recht ; Bd. 807) Zugl.: Heidelberg, Univ., Diss., 1999 ISBN 3-428-09940-0
Alle Rechte vorbehalten © 2000 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0200 ISBN 3-428-09940-0 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 θ
. daß die interessante Frage die nach den Grenzen des Rechts ist. " Niklas Luhmann
Vorwort Das hohe Maß verfassungsrechtlich bestimmter Diskurse im Rechts- und Politiksystem der Bundesrepublik Deutschland wird zunehmend auch in der rechtswissenschaftlichen Literatur kritisch beurteilt. Wird diese Kritik im Rahmen einer Verfassungstheorie des Grundgesetzes formuliert, müssen rechtsmethodische, -geschichtliche, -dogmatische, politologische und sozialphilosophische Aspekte des Verfassungsrechts systematisch aufeinander bezogen werden. Die vorliegende Untersuchung möchte hierzu einen Beitrag leisten, indem sie die im vielschichtigen verfassungsrechtlichen Werk und Wirken E.-W. Böckenfördes angelegten Elemente einer limitierenden Verfassungstheorie des Grundgesetzes herausarbeitet, im Zusammenhang darstellt und diskutiert. Sie ist hervorgegangen aus einer Dissertation, die der Juristischen Fakultät der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg vorgelegen hat. Mein Dank gilt meinem Doktorvater Professor Dr. Winfried Brugger, Heidelberg, durch dessen verfassungstheoretische Seminare diese Arbeit angeregt wurde, Herrn Professor Dr. E.-W. Böckenförde (Freiburg) und Herrn Professor Friedrich Müller (Heidelberg). Mit anhaltendem Interesse haben sie in zahlreichen Gesprächen die Entstehung der Arbeit vielfältig gefördert. Das Buch ist Barbara und Lou-Charlotte gewidmet. Berlin, im November 1999
Norbert Manterfeld
Inhaltsverzeichnis
Α. Einleitung und Problemanzeige I. Grenzen des Bundesverfassungsgerichtes und Grenzen der Verfassung
13 13
1. Grenzen des Bundesverfassungsgerichtes
13
2. Grenzen der Verfassung
14
II. Verfassungstheorie
15
1. Begriff, Funktion und normativer Status von Verfassungstheorie
15
2. Expansive und limitierende Verfassungstheorie
16
3. Die limitierende Verfassungstheorie Böckenfördes
16
Fazit A: Vorgehensweise der Arbeit
17
B. Merkmale expansiver Verfassungstheorie aus der Sicht Böckenfördes
20
I. Merkmale expansiver Verfassungstheorie in der Methodendiskussion 1. Topisch-problemorientierte Verfassungsinterpretation
20 20
a) Entwicklung des expansiven Methodenansatzes der Topik
20
b) Das Verfehlen des methodischen Ziels
21
2. Verfassungsinterpretation als Konkretisierung
23
a) Die Entwicklung des expansiven Methodenansatzes
23
b) Das Verfehlen des methodischen Zieles
25
c) Institution und Interpretation
26
3. Wirklichkeitswissenschaftliche Verfassungsmethodik
27
a) Die Entwicklung des expansiven Methodenansatzes
27
b) Das Verfehlen des methodischen Zieles
30
8
nsverzeichnis II. Merkmale expansiver Verfassungstheorie in Böckenfördes Analyse der Grundrechtsinterpretation
31
1. Der expansive Charakter von Grundrechten als Grundsatznormen in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes
31
a) Grundlegung expansiver Grundrechtsinterpretation des Bundesverfassungsgerichtes
32
b) Entfaltung
34
c) Verfassungstheoretische Folgewirkungen
35
aa) Verhältnismäßigkeitsprinzip
35
bb) Dogmatik
36
cc) Staatstheorie
36
dd) Gegenüberstellung zu klassischer Grundrechtskonzeption
37
ee) Gewaltenteilung
37
2. Die normtheoretische Begründung von Grundrechten als Grundsatznormen ..
38
III. Der Verfassungsbegriff expansiver Verfassungstheorie
39
1. Verfassung als Lebensordnung der Gesellschaft
39
2. Verfassungspatriotismus
40
Fazit B: Expansive Verfassungstheorie als Zusammenhang methodischer, dogmatischer, normtheoretischer und begrifflicher Elemente
41
C. Die limitierende Verfassungstheorie Böckenfördes
44
I. Allgemeiner Teil der limitierenden Verfassungstheorie Böckenfördes 1. Der Verfassungsbegriff der limitierenden Verfassungstheorie Böckenfördes ..
44 44
a) Die Verfassung als Rahmenordnung
45
b) Die Voraussetzungen der Verfassung
47
aa) Der Staat als Voraussetzung der Verfassung
47
(1) Der Staat und die Verfassung als Gesamtregelung
48
(2) Der Staat als organisierte Wirkeinheit
49
(3) Staatsfunktionen
50
(a) Das Gesetz als Vermittlung der Freiheit
50
(b) Die Verfassung als Form der Freiheit
52
bb) Die Nation als Voraussetzung der Verfassung
55
cc) Die verfassungsgebende Gewalt als Voraussetzung der Verfassung ...
57
nsverzeichnis 2. Interpretativer Positivismus als methodisches Element limitierender Verfassungstheorie
60
a) Das Regel-Prinzipien-Modell der Verfassung
62
b) Die methodische Unterscheidung von Gesetz und Verfassung
66
c) Historisch-politische Hermeneutik
69
Fazit C I: Der allgemeine Teil der limitierenden Verfassungstheorie Böckenfördes
74
II. Der besondere Teil der limitierenden Verfassungstheorie Böckenfördes
76
1. Organisationsteil und Kompetenzverteilungsordnung
76
a) Normstruktur und Grundentscheidung
76
b) Interpretationsbeispiel: Sondervotum Böckenfördes in BVerfGE 69, 1 ff. („Kriegsdienstverweigerung")
77
2. Der Grundrechtsteil des GG
82
a) Normstruktur und Grundentscheidung
82
b) Interpretationsbeispiele zum Grundrechtsteil
86
aa) Der Schulgebetsstreit
87
bb) Der Streit um das Kreuz in Gerichtssälen
89
cc) Die Interpretation der Rundfunkfreiheit
94
dd) Die Interpretation der Eigentumsfreiheit
98
(1) Genereller Interpretationsansatz
98
(2) Das Sondervotum Böckenfördes in BVerfGE 93, 121 ff. („Einheitswerte")
99
c) Rechtsfortbildung im Rahmen limitierender Grundrechtsinterpretation ....
107
3. Verfassungsprinzipien des GG
111
a) Das Sozialstaatsprinzip
111
b) Das Demokratieprinzip
115
aa) Demokratie als Regierungsform des Staates
116
bb) Demokratiebezogene Surrogate für den verfassungsrechtlichen Diskurs
117
(1) Der Minderheitendiskurs
117
(2) Die Voraussetzungen der Demokratie
118
cc) Die Repräsentationsstruktur der Demokratie Fazit C II: Der allgemeine und der besondere Teil der limitierenden Verfassungstheorie Böckenfördes als Alternative zur expansiven Verfassungstheorie
120
125
10
nsverzeichnis
D. Diskussion und Kritik
128
I. Methodik der Konkretisierung jenseits expansiver Verfassungstheorie: Das Beispiel Friedrich Müllers 128 1. Konkretisierung als Vorgang
129
2. Limitierende Verfassungstheorie und Konkretisierung
133
II. Prinzipientheorie der Grundrechte
136
1. Der Prinzipiengehalt der Grundrechte
136
2. Demokratietheorie und Grundrechtstheorie
138
III. Hoffen auf das Gesetz und den Gesetzgeber
140
IV. Kritik aus der Perspektive systemtheoretischer Verfassungstheorie
143
1. Systemtheoretische Kritik limitierender Verfassungstheorie
143
2. Kritik der Kritik systemtheoretisch argumentierender expansiver Verfassungstheorie
146
3. Systemtheorie als limitierende Verfassungstheorie am Beispiel N. Luhmanns
148
Fazit D: Möglichkeiten limitierender Verfassungstheorie
151
E. Abschließende Thesen
153
Literaturverzeichnis
156
Sach- und Personenregister
165
Abkürzungsverzeichnis Die im Rahmen der Kurzzitierweise verwandten Kurztitel sind im Literaturverzeichnis jeweils in Klammern hinter den Langtiteln angegeben. Regelmäßig wird nach Autorennamen und Datum zitiert. Eine Sonderstellung nehmen drei Sammelbände Böckenfördes ein: „Staat, Verfassung, Demokratie Studien zur Verfassungstheorie und zum Verfassungsrecht, 2. Aufl. Frankfurt am Main, 1992, „Recht, Staat, Freiheit": Studien zur Rechtsphilosophie, Staatstheorie und Verfassungsgeschichte, 2. Aufl., Frankfurt am Main, 1992 und „Staat, Gesellschaft, Freiheit", Frankfurt 1976. Sie werden im Text der Anmerkungen nur mit dem Anfangsbuchstaben der im Titel auftauchenden 3 Hauptbegriffe und der Seitenzahl abgekürzt zitiert. „SVD 12" steht also für „vgl. Böckenförde, Staat, Verfassung, Demokratie, S. 12". Für „Recht, Staat, Freiheit" steht RSF und für „Staat, Gesellschaft, Freiheit" SGF. AfP
Archiv für Presserecht
AÖR
Archiv für öffentliches Recht
ARSP
Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie
Bd.
Band
BJM
Bundesjustizministerium
BVerfG
Β undes Verfassungsgericht
BVerfGE
Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichtes
BVerfGG
Β undes verfassungsgerichtsgesetz
bzgl.
bezüglich
DÖV
Die öffentliche Verwaltung
DVB1.
Deutsches Verwaltungsblatt
EuGRZ
Europäische Grundrechtszeitung
F.A.Z.
Frankfurter Allgemeine Zeitung
Fn.
Fußnote
FS
Festschrift
GG
Grundgesetz
H.
Heft
Hrsg.
Herausgeber
JöR N.F.
Jahrbuch des öffentlichen Rechts, Neue Folge
JuS
Juristische Schulung
JZ
Juristenzeitung
KJ
Kritische Justiz
NJW
Neue juristische Wochenschrift
Rn.
Randnummer
RSF
Recht, Staat, Freiheit (Böckenförde, Schriften)
SGF
Staat, Gesellschaft, Freiheit (Böckenförde, Schriften)
12
Abkürzungsverzeichnis
S.o.S .
Siehe oben Seite
Sp.
Spalte
SVD
Staat, Verfassung, Demokratie (Böckenförde, Schriften)
Vgl.
Vergleiche
VVDStRL
Veröffentlichungen der Vereinigung deutscher Staatsrechtslehrer
ZevKiR
Zeitschrift für evangelisches Kirchenrecht
Α. Einleitung und Problemanzeige Ι . Grenzen des Bundesverfassungsgerichtes und Grenzen der Verfassung Der Thematisierung von Grenzen der Verfassung geht eine grundlegende Unterscheidung voraus: Die Interpretation des Grundgesetzes und die Funktion des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) im Rechts- und Politiksystem sind zwei gesondert zu betrachtende Gegenstände wissenschaftlicher Untersuchung. Dementsprechend kann man zunächst nicht davon ausgehen, daß sich von der Analyse der Interpretationspraxis des BVerfG unmittelbare Rückschlüsse auf die Funktionsbestimmung desselben ergeben. Dies gilt auch für die Frage nach den Grenzen der Verfassung. Funktionale Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit sind nicht identisch mit Grenzen der Verfassungsinterpretation. Gleichwohl nimmt das Verfassungsgericht seine Funktion durch Verfassungsinterpretation wahr. Eine Verfassungstheorie des Grundgesetzes wird deshalb versuchen, eine Beziehung zwischen Interpretation der Verfassung und Funktion der Verfassungsgerichtsbarkeit herauszuarbeiten.
1. Grenzen des Bundesverfassungsgerichtes Die Grenzen des BVerfG werden an seiner arbeitstechnischen Überlastung deutlich, der pragmatisch begegnet wird: Es wird nach institutionellen und verfahrenstechnischen Entlastungsmöglichkeiten des höchsten deutschen Gerichtes gesucht, das an die Grenzen seiner Leistungsfähigkeit gerät.1 Darüberhinaus wird auf funktionell-rechtliche Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit im Rechtssystem hingewiesen.2 Grenzen des Verfassungsgerichtes sind demnach solche gegenüber dem demokratisch legitimierten Gesetzgeber und der Politik. Die Besonderheiten des Gerichtsverfahrens gegenüber dem demokratisch1 Vgl. dazu BJM, 1997 und Roellecke, 1998. Schon früh interessierten die „Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit" (Draht, 1952), und die „funktionell-rechtlichen Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit" (Schuppert,1980, Heun, 1992) Daneben wird die an das BVerfG gerichtete Forderung nach einem »judicial selfrestraint" untersucht (Schuppert 1988), die im wesentlichen auf Argumentationen funktionell-rechtlicher Art zurückgreift, sie aber der autonomen Entwicklung des BVerfG anheimstellt. Zu den selbstentwickelten Grenzen des BVerfG vgl. eingehend Rau, 1995, S. 145 ff. 2
14
Α. Einleitung und Problemanzeige
politischen Prozeß und die Gewaltenteilung erscheinen dabei als Begrenzungsargumente.3 In einer Zeit zunehmender Pluralisierung von Lebens- und Gesellschaftsorientierung nehmen stark kontroverse Entscheidungen des BVerfG zu.4 Hier ist es die Integrationsleistung des BVerfG, die an ihre Grenzen stößt. Der gewohnt weitreichende gesellschaftliche Grundkonsens, auf dem die integrierende Funktion des BVerfG für das Rechts- und Politiksystem einst beruhte, gerät als deren schwindende Voraussetzung in den Blick politischer und juristischer Verfassungsdiskussion. 5 Nicht zufällig erwacht das theoretische Interesse am (partei-) politischen Widerstand gegen Urteile des BVerfG neu.6
2. Grenzen der Verfassung Mit dem Verweis auf die funktionalen Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit ist noch nicht deutlich, ob über die Grenzen der Leistungsfähigkeit des BVerfG hinaus Grenzen der Verfassung aufzuweisen sind, die die häufige Inanspruchnahme der Verfassung zur Lösung rechtlicher und politischer Konflikte von ihrem verfassungstextlichen Bezugspunkt her fragwürdig erscheinen lassen. Ausgeschlossen ist eine Beziehung dieser Fragestellungen aufeinander aber nicht. Immerhin ließe sich fragen: Wie können die Richter des BVerfG Entscheidungen über komplexe rechtliche und politische Streitfragen treffen, wenn einerseits die Verfassungsurkunde als Quelle verfassungsgerichtlicher Tätigkeit hinter der Informiertheit und Differenziertheit des übrigen Rechts- und Politikdiskurses deutlich zurückbleibt, die Verfassungsrichter aber andererseits bei ihrer Spruchtätigkeit weder persönlich noch für ihre Institution eine gegenüber diesem Diskurs höhere und bessere Einsicht oder Problemlösungskapazität beanspruchen können? Nur als Verfassungsinterpreten sind sie ja spezifisch ausgewiesen. Der Aufweis der Diskrepanz zwischen hohen funktionalen Anforderungen einerseits und einfacher Verfassungsstruktur andererseits setzt angesichts einer seit Jahrzehnten funktionierenden Verfassungsgerichtsbarkeit jedoch zu grundsätzlich an. Schließlich hat das BVerfG im Rahmen seiner Verfassungsinterpretation Verfassungstraditionen herausgebildet, die unverzichtbarer Bestandteil des Rechtssystems geworden sind.7 3 Vgl. etwa Heun, 1992 oder Rau, 1995, S. 145 ff. 4
Vgl. dazu die in einem Band versammelten, besonders umstrittenen Entscheidungen aus jüngerer Zeit, BVerfGE 93,1 ff. („Kruzifixe"), BVerfGE 93, 121 ff. („Einheitswerte") und BVerfGE 93, 266 ff. („Soldaten sind Mörder") und Schulze-Fielitz, 1997. 5 Vgl. zur Bedeutung der Pluralismusdebatte im juristischen Diskurs Brugger, 1990. Die Grenzen der Integrationsfunktion des BVerfG betonen auch Depenheuer 1995, S. 854 f. und Haltern, 1996, sowie ders., 1997. 6 Vgl. dazu etwa Häußler, 1994.
II. Verfassungstheorie
15
Ist es also wenig sinnvoll, die Leistungsfähigkeit der Verfassungsinterpretation grundsätzlich in Frage zu stellen, bleibt angesichts der aufgewiesenen Diskrepanz noch die Frage nach ihrem Maß. Muß nicht die Verfassungsinterpretation von ihrem Gegenstand, der Verfassung her, spezifisch begrenzt sein? Und umgekehrt: Ist nicht die praktische Überlastung des BVerfG auch Resultat einer im Interpretationsprozeß stattfindenden Bedeutungsausweitung der Verfassung, die dieses Maß aus den Augen verloren hat? Und auch die Grenzen der Integrationsleistung verfassungsgerichtlicher Urteile weisen möglicherweise auf eine interpretatorische Überbeanspruchung des Grundgesetzes im Sinne inhaltlich zu hoher Erwartungen hin. Immerhin bietet die Verfassung für die Nährung und die Erfüllung dieser Erwartungen einen im Vergleich zu anderen Rechtstexten besonders weiten Interpretationsspielraum.
I L Verfassungstheorie Die bislang aufgeworfenen und miteinander zusammenhängenden Fragen der Verfassungsinterpretation, der Integrationsleistung des Bundesverfassungsgerichtes und seiner funktionell-rechtlichen Grenzen werfen die Frage nach der juristischen Disziplin auf, in der sie behandelt werden können. Diese Disziplin muß die genannten, in sich sehr verschiedenen Herangehensweisen an die Verfassungsinterpretation und die Funktionsbestimmung der Verfassungsgerichtsbarkeit eigenständig miteinander verknüpfen. Weder die Disziplinen der juristischen Dogmatik noch die der juristischen Methodik oder der Rechtsphilosophie können dies für sich genommen leisten. Der Zusammenhang dieser Fragestellungen muß daher in der Verfassungstheorie bearbeitetet werden.
1. Begriff, Funktion und normativer Status von Verfassungstheorie Eine allgemein anerkannte Begriffsbestimmung von Verfassungstheorie existiert nicht.8 So bleibt nur, sie von ihrer Funktion in dieser Arbeit her zu beschreiben. Verfassungstheorie dient hier dem Zweck, die Verschränkung von methodischen, 7 Vgl. zur traditionsbildenden Funktion des BVerfG allgemein Blankenagel, 1987. An der damit grundsätzlich verbundenen Stabilisierungswirkung von Entscheidungen des BVerfG ändert, wie die soziologische Wirkungsforschung zeigt, die Zunahme von umstrittenen Entscheidungen nichts. Vgl. dazu Gawron/Rogowski, 1996, S. 177-220. Juristisch dingfest zu machen ist dieser soziologische Sachverhalt kontrafaktischer Geltung in § 31 Abs. 1 BVerfGG. 8
Für einen jüngeren Versuch zur Verfassungstheorie als juristischer Disziplin vgl. Morlok, 1989.
16
Α. Einleitung und Problemanzeige
dogmatischen und sozialphilosophischen Perspektiven auf die Verfassung so zu reflektieren, daß die Grenzen der Verfassung in der Komplexität dieser Perspektiven erkennbar werden. Als Theorie hat Verfassungstheorie keine unmittelbare normbildende Relevanz. Ihr fehlt die Verbindlichkeit dogmatischer Begriffsbildung und damit ihr unmittelbar normativer Status. Man kann ihre Perspektive auf die Verfassung als externe Perspektive bezeichnen, während man die dogmatische, verbindliche Normativität begründende Fragerichtung als interne juristischen Perspektive begreifen kann.9 Gleichwohl muß Verfassungstheorie, will sie Theorie für eine konkrete Rechtsordnung sein, die auf Normativität zielende Positivität der Verfassung reflektieren. An der Erreichung dieses Zieles wird sie gemessen, und sie ist nur dann plausibel, wenn zwischen innerer dogmatischer Perspektive und äußerer verfassungstheoretischer Perspektive ein Korrespondenzverhältnis nachgewiesen werden kann, das dogmatisch gebundene Interpretationsarbeit als Bestandteil einer umfassend ansetzenden Theoriearbeit begreift. Insofern soll es in dieser Arbeit um eine Verfassungstheorie des Grundgesetzes gehen.
2. Expansive und limitierende Verfassungstheorie Verfassungstheorie hat die aufgeworfenen Fragen nach den Grenzen der Verfassung bislang nicht systematisch zum Gegenstand ihrer Begriffsbildung gemacht. Im Gegenteil: Nicht die Grenzen, sondern die Bedeutungsausweitung der Verfassung und die weitreichende Integrationsfunktion der Verfassungsgerichtsbarkeit wird, so die Ausgangsthese dieser Arbeit, verfassungstheoretisch zu begründen versucht. Diese herrschende Verfassungstheorie wird hier als expansive Verfassungstheorie bezeichnet.10 Ihr Gegenstück müßte die Frage nach den Grenzen der Verfassung in den Mittelpunkt rücken. Das soll im folgenden unter der Bezeichnung limitierende Verfassungstheorie geschehen.
3. Die limitierende Verfassungstheorie Böckenfördes Um eine solche limitierende Verfassungstheorie als Gegenstück zu einer expansiven Verfassungstheorie zu entwickeln, muß man nicht ganz von vorn beginnen. 9 Vgl. zu der allgemeinen Unterscheidung interner und externer Perspektive in der Rechtsmethodik Schwartz, 1992, S. 179 ff. 10 Es handelt sich bei den dieser Theorie zugrundeliegenden hohen Verfassungserwartungen um ein hartnäckigeres Phänomen als es mentalitätsgeschichtliche Forschungen für das meist kurzfristig auftretende „Verfassungsfieber" revolutionärer Vorgänge diagnostizieren. Vgl. dazu Hofmann, 1990.
Fazit A: Vorgehensweise der Arbeit
17
Der erste Schritt in der Entwicklung einer limitierenden Verfassungstheorie hat vielmehr die zu einer solchen Theorie schon vorhandenen, oft fragmentarischen Denkansätze zu würdigen, die sich angesichts einer herrschenden expansiven Verfassungstheorie im Verfassungsrecht der Bundesrepublik Deutschland nicht haben durchsetzen und zu einer limitierenden Verfassungstheorie entwickeln können. Im verfassungsrechtlichen Werk Ernst-Wolfgang Böckenfördes und in den Sondervoten aus seiner im Jahre 1996 beendeten Zeit als Richter am BVerfG finden sich zu einer limitierenden Verfassungstheorie zahlreiche bislang noch nicht in diesem Zusammenhang dargestellte und systematisch gewürdigte Argumente und Analysen. Man hat also, so die zweite Ausgangsthese dieser Arbeit, in der Interpretation des verfassungsrechtlichen Werkes E.-W. Böckenfördes die Möglichkeit, eine limitierende Verfassungstheorie des Grundgesetzes zu rekonstruieren, die in diesem Werk wie in keinem anderen angelegt, aber noch nicht unter diesem Aspekt ausgearbeitet ist.
Fazit A: Vorgehensweise der Arbeit In der systematischen Absicht, die Möglichkeiten einer limitierenden Verfassungstheorie des Grundgesetzes nachzuweisen, wird das Werk Böckenfördes im Mittelpunkt dieser Arbeit stehen. Die Möglichkeiten einer limitierenden Verfassungstheorie werden im kritischen Gegenüber zu einer expansiven Verfassungstheorie entwickelt. Dazu müssen auch deren Merkmale aufgewiesen werden. Eine Analyse der verfassungsrechtlichen Schriften Böckenfördes wird deshalb zunächst verfolgen, welche Merkmale expansiver Verfassungstheorie in ihnen beschrieben werden (Kapitel B.). Böckenfördes eigene Position limitierender Verfassungstheorie wird in diesem Kapitel nur angesprochen, wo dies erforderlich ist, um die Merkmale expansiver Verfassungstheorie deutlich zu machen. Eine wichtige Rolle spielt dabei die von Böckenförde verfolgte Methodendiskussion, da sie mit der Kontrollierbarkeit von Rechtstextinterpretationen ein zentrales Thema limitierender Verfassungstheorie bearbeitet, ihre Grenzziehungsversuche jedoch zu scheitern scheinen (Kapitel B.I.). Insbesondere in seiner Darstellung von Konkretisierungskonzepten beschreibt Böckenförde Elemente expansiver Verfassungsmethodik (Kapitel B.I.2.). Merkmale expansiver Verfassungstheorie können aber vor allem in Böckenfördes Analyse der auf eine Wertordnung bezogenen Grundrechtsinterpretation des Bundesverfassungsgerichtes und ihrer normtheoretischen Begründung herausgearbeitet werden (Kapitel Β.Π.). Schließlich formuliert Böckenförde einen Verfassungsbegriff expansiver Verfassungstheorie (Kapitel B.III.). Im dritten Kapitel dieser Arbeit wird Böckenfördes limitierendes Verfassungsverständnis rekonstruiert (Kapitel C.). Hierbei steht naturgemäß Böckenfördes eigene Position im Vordergrund. Diese wird jedoch als limitierende Verfassungstheo2 Manlcrfcld
18
Α. Einleitung und Problemanzeige
rie nur vor dem Hintergrund expansiver Verfassungstheorie deutlich, die deshalb auch in diesem Kapitel zur Sprache kommen wird. Zunächst werden Theorieelemente limitierender Verfassungstheorie aufgegriffen, die noch nicht spezifisch auf einzelne Teile der Verfassung oder auf Einzelinterpretationen zugeschnitten sind (Limitierende Verfassungstheorie, Allgemeiner Teil, Kapitel C.I.). Dieses Kapitel beginnt mit dem Verfassungsbegriff der limitierenden Verfassungstheorie Böckenfördes, um die Gegenüberstellung am Ende des vorangehenden Kapitels hervorzuheben (Kapitel C.I.I.). Es schließt sich die Herausarbeitung des interpretativen Positivismus' Böckenfördes als methodisches Element limitierender Verfassungstheorie an (Kapitel C.I.2.). Die limitierende Verfassungstheorie Böckenfördes muß sich, will sie als Verfassungstheorie des Grundgesetzes auftreten können, auf einzelne Teile des Grundgesetzes konkret beziehen und anhand von Einzelinterpretationen in ihrem Gegenüber zu expansiver Verfassungstheorie aufweisen lassen. Dies nachzuweisen, ist Gegenstand der Rekonstruktion des besonderen Teiles der limitierenden Verfassungstheorie Böckenfördes (Kapitel C.II.). Böckenfördes Interpretationen zu Organisationsteil und Kompetenzverteilungsordnung (Kapitel C.II.l.), zum Grundrechtsteil (Kapitel C.n.2.) und zu zwei Verfassungsprinzipien - Sozialstaats- und Demokratieprinzip - (Kapitel C.II.3.) werden auf Elemente einer limitierenden Verfassungstheorie hin untersucht. Am Schluß steht das konsistente Modell der limitierenden Verfassungstheorie Böckenfördes (Fazit C.). Ist damit am Beispiel der Verfassungsinterpretation Böckenfördes eine limitierende Verfassungstheorie des Grundgesetzes rekonstruiert worden, werden abschließend einige zwischen expansiver und limitierender Verfassungstheorie besonders konfliktträchtige Themen diskutiert (Kapitel D.). Der enge Blickwinkel auf das Werk Böckenfördes wird dabei verlassen. In der Analyse der Methodendiskussion geht es, wie schon in Kapitel B.I. bei der Entwicklung expansiver Verfassungstheorie zentral um den Begriff der Konkretisierung und dessen Funktionsweise. Böckenfördes Zuordnung von Konkretisierungskonzeptionen im Bereich der Verfassungsmethodik zur expansiven Verfassungstheorie wird daher exemplarisch in der Konfrontation mit der gegenwärtig am weitesten ausgearbeiteten Konkretisierungskonzeption Friedrich Müllers kritisch überprüft und die Konsequenz für das Grundanliegen limitierender Verfassungstheorie untersucht (Kapitel D.I.). Für die normtheoretische Begründung der Wertordnungsrechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes durch eine Prinzipientheorie der Grundrechte ist ihre Zuordnung zu expansiver Verfassungstheorie unstrittig. Ihre kritischen Anfragen an Bökkenfördes Grundrechtstheorie sind jedoch aufzugreifen und zu diskutieren (Kapitel D.II.). Wenn limitierende Verfassungstheorie die Grenzen der Verfassung plausibel in den Mittelpunkt ihrer Begriffsbildung rückt, wird innerhalb des Rechtssystems der Legislative mehr Spielraum eröffnet. Das darin liegende Hoffen auf den Gesetzgeber ist kritischen Fragen ausgesetzt (Kapitel D.ffl.). Aus der Perspektive systemtheoretisch argumentierender expansiver Verfassungstheorie ergeben sich ebenfalls kritische Anfragen an eine limitierende Verfassungstheorie (Kapitel
Fazit A: Vorgehensweise der Arbeit
19
D.IV.). Sie betreffen die Flexibilität der Verfassungsinterpretation im Blick auf gesellschaftlichen Strukturwandel (Kapitel D.IV.l.) und die Schwächen des demokratischen Prozesses (Kapitel D.IV.2.). Die Arbeit wird mit der Formulierung von abschließenden Thesen zu einer limitierenden Verfassungstheorie beendet (Kapitel E.).
Β. Merkmale expansiver Verfassungstheorie aus der Sicht Böckenfördes I. Merkmale expansiver Verfassungstheorie in der Methodendiskussion Anhand von Böckenfördes Darstellung der Methodendiskussion lassen sich Merkmale expansiver Verfassungstheorie entwickeln. Dies mag zunächst verwundern, weil die Methodendiskussion mit der für sie charakteristischen Thematisierung der Kontrollierbarkeit von Rechtstextinterpretationen typischerweise eine Affinität zum Thema der Grenzen der Verfassung aufweist und Merkmale expansiver Verfassungstheorie deshalb nicht erwarten läßt. Wenn in der Methodendiskussion jedoch Anhaltspunkte dafür vorliegen, daß eine starke Bedeutungsausweitung der Verfassung methodisch begründet wird, ihre Grenzziehungsversuche auf dieser methodischen Basis aber scheitern, eignet sich die Methodendiskussion auch zur Darstellung von Elementen expansiver Verfassungstheorie. Im Rahmen seiner Analyse der Methodendiskussion im Verfassungsrecht legt Böckenförde im wesentlichen anhand von drei methodischen Ansätzen dar, daß sie eine unkontrollierbare Bedeutungsausweitung der Verfassung begründen. Es handelt sich um problemorientierte Topik, Konkretisierungskonzepte und wirklichkeitswissenschaftliche Interpretationsansätze.
1. Topisch-problemorientierte Verfassungsinterpretation a) Entwicklung des expansiven Methodenansatzes der Topik Topische Methodik ergänzt bei der Gesetzesinterpretation, insbesondere bei der Problematik von Gesetzeslücken, dogmatisch deduktive und systematische Argumentationen klassischer juristischer Methodik durch eine stark fallorientierte, situative und problembezogene Interpretationsperspektive. 1 In der juristischen Tradition ist sie wesentlich am Zivilrecht ausgebildet worden.2 1 Vgl. zu den geistesgeschichtlichen Traditionen der Topik in der Rhetorik, Viehweg, 1974, S. 15 ff. Eine Weiterentwicklung dieses Interpretationsansatzes findet sich in rhetorischen Rechtslehren, deren wesentlicher Bestandteil eine Symboltheorie der Gesetzes!nterpretation ist. Vgl. für das Verfassungsrecht etwa Schreckenberger, 1978, und Sobota, 1992 S. 231 ff.
I. Expansive Verfassungstheorie in der Methodendiskussion
21
Die Übertragung des Grundgedankens der topischen Argumentation auf eine verfassungsrechtliche Interpretation wird von Böckenförde zunächst als sinnvoll betrachtet. Topische Verfassungsinterpretation knüpft am richtigen interpretatorischen Ausgangspunkt an, nämlich dem „fragmentarischen, vielfach unbestimmten Charakter der Verfassung" 3, dem mit einer am detaillierten Zivilrecht ausgebildeten klassischen Methodik allein nicht zu entsprechen sei.4 Ist die zu interpretierende Verfassungsnorm interpretationsmethodisch und sachlich-inhaltlich im Sinne geringer Informationsdichte unbestimmt,5 liegt es nahe, ihre Bestimmtheit und sachliche Informiertheit durch eine Problem- und Situationsanalyse zu erreichen. Der Verfassungstext wird zum Symbol, das einen unspezifischen Anlaß für eine eigenständige Problemlösung darstellt. In der Verfassungsinterpretation wird so dem Problem der Primat gegenüber der Norm gegeben.6 Die der Verfassungsinterpretation vorgeschaltete fall- und problembezogene Wirklichkeitsanalyse dominiert die Ermittlung des Norminhaltes. Dieser Norminhalt wird dadurch von der Wirklichkeitsanalyse her fortentwickelt. Dies begründet den expansiven Charakter topischer Interpretationsmethodik. Der unbegrenzt offene Argumentationsprozeß 7, als der sich die Verfassungsinterpretation damit darstellt, betreibt eine kontinuierliche Rechtsfortbildung. 8
b) Das Verfehlen des methodischen Ziels Auch im Rahmen topisch-problemorientierter Methodik wird eine Begrenzung möglicher Argumentationsvielfalt im Rahmen der Verfassungsinterpretation gesucht: etwa in Gestalt eines bereits bestehenden Konsenses über Rechtsinhalte, der der topischen Argumentationsvielfalt den Rahmen absteckt.9 Böckenförde weist in diesem Zusammenhang auf den „rhetorische(n) Gehalt aller Topik-Argumentation" hin, „nämlich durch den Hinweis auf bestimmte Argumente und Gesichtspunkte an den vorausgesetzten Konsens der Umstehenden zu appellieren, ihn bewußt zu machen, und dadurch Zustimmung herbeizuführen." 10 Ähnlich beruft man sich im Rahmen der topischen Verfassungsmethodik auf den Konsens aller vernünftig und gerecht Denkenden für ein maßstäbliches Vorverständnis bei der Verfassungsinterpretation oder versucht, die Orientierung an den 2
Vgl. zur Topik unter diesen Gesichtspunkten Viehweg, 1974, S. 15 ff. 3 Vgl. SVD 61. 4 SVD61. s SVD62. 6 SVD62. 7 SVD62. s SVD63. 9 SVD69. 10 Ebd.
22
Β. Merkmale expansiver Verfassungstheorie
Präjudizien des BVerfG als rationale Begrenzung der topischen Argumentationsvielfalt darzustellen. 11 Für Böckenförde sind diese Begrenzungsversuche der einmal eröffneten topischen Argumentationsvielfalt nicht überzeugend: Die Not der verfassungstextlich ausgewiesenen Unbestimmtheit der Verfassung, ihre Problem- und Detailferne, wird durch die topische Problem- und Situationsorientierung vielmehr zur methodischen Tugend gemacht, ohne daß die methodische Kontrollierbarkeit der Verfassungsinterpretation erreicht werden kann. Das Problem der Inhaltsbestimmung verfassungsrechtlicher Begriffe verlagert sich im Rahmen topischer Verfassungsinterpretation dabei auf die Ebene der jeweiligen außerverfassungsrechtlichen Ausgangs- bzw. Problemlösungsgesichtspunkte. Diese sind in einer pluralistischen Gesellschaft mit heterogenen Ordnungsvorstellungen 12 unbeschränkt und müssen insoweit auch unbestimmt bleiben. Nimmt man nun den pluralistischen und politischen Charakter der Gesellschaft ernst, läßt sich im Rahmen topischer Vielfalt der Argumentation nach Böckenförde kein Destillat höherer, weil konsensgeläuterter Einsicht gewinnen, das über der pluralistischen Vielfalt stünde und die Weihe des verfassungsrechtlich Gesollten verdienen könnte.13 Die Qualifizierung als verfassungsrechtlich bleibt sekundäre und methodisch nicht kontrollierbare Zutat. Die interpretationsmethodisch einmal eröffneten Argumentationsspielräume des topischen Ansatzes können nicht mehr geschlossen werden. Das Hoffen auf einen „Konsens aller vernünftig und gerecht Denkenden" ist auch noch aus einem anderen Grunde verfehlt. In politikbezogenen Verfassungsfragen, die einem rationalen Konsens in der politischen Auseinandersetzung gerade nicht zugänglich waren, kann topische Argumentationsvielfalt kaum zu einem Ergebnis kommen, das eine normativ verbindliche Entscheidung begründet. Topik erweist sich, indem sie von der Möglichkeit dieser Eingrenzungsversuche ausgeht, „als Interpretationstheorie des Unpolitischen."14 Konsequent verfährt deshalb nach Ansicht Böckenfördes Häberle, der, angesichts der Unmöglichkeit, die einmal stattfindende methodische Öffnung der Verfassungsinterpretation durch höhere Einsichten wieder zu beschränken, den „Kreis der an der Verfassungsinterpretation Beteiligten auf alle Staatsorgane, alle öffentlichen Potenzen, alle Bürger und Gruppen erweitert, die sogenannte offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten. Das Volk selbst, und zwar als pluralistische
n SVD 64, 71. 12 Vgl. SVD 83. Böckenförde legt seinen Analysen hier einen radikalen, starken Pluralismus zugrunde, nicht einen gezähmten bzw. geläuterten Pluralismus. Vgl. zu der Unterscheidung von radikalem und geläutertem Pluralismus Brugger, 1990. 13 SVD 83 mit kritischer Bezugnahme auf Kriele, 1975, S. 132 ff. (140 f.). Kursiv vom Verfasser. Kritisch zum Konsens im Verfassungsdenken auch Ladeur, 1981, S. 391 ff., mit Bezugnahme auf Böckenfördes Verfassungstheorie auf S. 412. Positiv zur Konsensfunktion der Verfassung hingegen Vorländer, 1981. 14 SVD 69.
I. Expansive Verfassungstheorie in der Methodendiskussion
23
Größe, interpretiere die Verfassung. 15 Dadurch verliert der Verfassungsdiskurs jede Begrenzung und wird methodisch unzugänglich. Daß die spezifischen Funktionsträger der Verfassungsgerichtsbarkeit die Verfassung im Streitfalle allein verbindlich und bindend entscheiden, gerät in den Hintergrund. Überdies ist auf dieser Basis nicht einsichtig zu machen, warum gerade das BVerfG zu umfassenden und bindenden Entscheidungen in der Lage sein soll, da die weite Verfassungskonzeption ja den Anschein erweckt, als wären alle Interpretationen gleichberechtigt. Ein weiter Begriff von Verfassungsinterpretation führt nach Auffassung Böckenfördes eher dazu anzunehmen, daß, da Konsens die Grundlage nicht sein kann, immer mehr der Glaube an die Souveränität des BVerfG die Befolgung der Entscheidung und die Normativität der Verfassung begründet und nicht der durch Verfassungsinterpretation des BVerfG einsichtig gemachte Verfassungsinhalt 16 auf der Basis eines vorgegebenen Maßstabes.17
2. Verfassungsinterpretation als Konkretisierung a) Die Entwicklung des expansiven Methodenansatzes Konkretisierungskonzeptionen der Verfassungsinterpretation durchleuchten den Rechtsfindungsprozeß als schöpferische Tätigkeit des Rechtsanwenders.18 Gerade im Verfassungsrecht wird für Vertreter dieser Methodik deutlich, daß in der Verfassung und mit der Verfassungsgebung noch nicht entschieden ist, was rechtens sein soll und die streitigen Interpretationsfragen gerade in diesem Raum des noch nicht Entschiedenen entstehen. Die methodische Aufhellung der konkretisierenden Entscheidung des Rechtsanwenders wird damit aber desto dringlicher. 19 Die Vorstellt SVD 67 mit Verweis auf Häberle, JZ 1975, S. 297. Für Böckenförde bedeutet dies wiederum die „pluralistische Auflösung des Staatsvolkes in relevante öffentliche pouvoirs de faits". Vgl. SVD 67 Fn. 46. Zum Hintergrund dieses Argumentes in Böckenfördes Begriff der Demokratie als Regierungsform des Staates, vgl. unten Abschnitt C.II.3.b)(l). 16 Vgl. Böckenförde, 1978, S. 14 und ders., 1989, S. 62 wo das BVerfG als ,Zipfel der Souveränität" bezeichnet wird. Die Rede vom „Mythos des Staates", die dem Staatsdenken nach dem Muster der Souveränität kritisch gegenübersteht (vgl. etwa Adam, 1994, mit Bezug auf Böckenförde, S. 408), scheint gerade im Blick auf das BVerfG und seine expansive Interpretationstätigkeit wieder Sinn zu machen. In dieser Richtung, aber nicht von „Souveränität des Staates", sondern von der Zivilgesellschaft ausgehend, etwa Haltern, 1997, S. 67 ff. Die Arbeit an einem Staatsbegriff ist durch die Kritik am „Mythos des Staates" jedoch genausowenig obsolet, wie Mythos und Logos in ihrem Unterschied aufeinander verweisen. Vgl. dazu Blumenberg, 1979. π SVD 85. is Vgl. repräsentativ, Hesse, K , 1990, S 12 ff. Die ausführliche verfassungstheoretische und methodische Grundlegung eines für das Grundgesetz maßgeblichen Konkretisierungskonzeptes findet sich dagegen im Werk Friedrich Müllers, auf das erst im Diskussionsteil eingegangen wird. Vgl. dazu unten, Teil D. 19 Vgl. Hesse, ebd.
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Β. Merkmale expansiver Verfassungstheorie
lung von einem nur noch abzulesenden, schon vorentschiedenen normativen Willen, die den notwendig aktiven Teil des „Rechtsanwenders" nicht zureichend erfaßt, ist methodisch jedenfalls nicht weiterführend. Böckenförde arbeitet den expansiven Methodenansatz bei der Konzeption der Verfassungsinterpretation als Konkretisierung heraus, indem er zwei Bedeutungen von „Konkretisierung" unterscheidet: Nicht Konkretisierung als „Bildung von Untersätzen, die die Subsumtion des zu entscheidenden Sachverhalts ermöglichen", sondern „die gestaltend-schöpferische Entwicklung anwendungsfähiger rechtlicher Normen aus einem Prinzip, die dieses Prinzip erst mit einem normativen Inhalt füllen" und diesen also „nicht nachvollziehend erkennen" 20, ist für Böckenförde expansive Verfassungsmethodik. Während Konkretisierung im zuerst genannten Sinne „ein notwendiges Zwischenglied im Vorgang der Rechtsanwendung, Fortsetzung der Auslegung im Blick auf den konkreten Fall" ist, ist Konkretisierung im zuletzt genannten Sinne „mehr als Interpretation", 21 und zwar „rechtsschöpferische - Konkretisierung" 22. Diese entfernt sich einerseits von einem vorgegebenen und durch die Interpretation nur zu ermittelnden Norminhalt, wo dieser deutlicher Ausdruck eines normativen Willens ist 2 3 und füllt die Verfassung andererseits dort, wo ihre Normen nur einen Rahmen - oder Grundsatzinhalt - haben, gleichwohl rechtsschöpferisch aus. 24 Unbestimmte Verfassungsnormen werden im Rahmen dieser Methodik, um im Einzelfall angewandt werden zu können, erst bestimmter gemacht, indem sie „zur Entscheidungsnorm konkretisiert" 25 werden. Der Konkretisierungsbegriff übernimmt damit im Rahmen der Verfassungsmethodik die Funktion, die Verfassung bestimmter zu machen als sie von sich und ihrem oftmals nur rahmenhaften Charakter aus, Anlaß und Grund böte. 26 So wird interpretatori sehe Verfassungsausweitung methodisch legitimiert 27 , da Konkretisierung ja weiterhin, obwohl die Orientierung an vorgegebenen Inhalten nicht mehr beibehalten wird, als Interpretation der Verfassung begriffen wird. Die einzelnen Entscheidungsnormen am Ende des Konkretisierungsprozesses werden, da sie Ergebnis einer Verfassungsinterpretation sind, zum Verfassungsinhalt. 28 Im Entscheidungsprozeß des Interpreten entsteht so genuines Verfassungsrecht. Normbildung wird in das interpretierende und rechtsprechende Subjekt (bzw. die rechtsprechende Institution) verlegt. Mit zunehmender Dauer und Anzahl von Verfassungsinterpretationen entsteht am Ende zahlreicher Interpretationsprozesse auf 20 21 22 23 24
SVD 186 Fn. 85. Ebd. Fn. 17. SVD 79. SVD 75. Ebd. Fn. 80.
25 SVD 78. 26 SVD 79. 27 Ebd. 28 SVD 80.
I. Expansive Verfassungstheorie in der Methodendiskussion
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diese Weise ein Netz von Verfassungsrecht aus Entscheidungsnormen. Dieses Netz hat den Vorteil, mehr konkrete soziale Realität aufzugreifen, als in der rahmenhaften Verfassung angedeutet wurde. Verfassungsnorm und soziale Realtät werden auf diese Weise vermittelt. Der Konkretisierungsbegriff, der diese dauerhafte Vermittlung methodisch darstellt, wird deshalb von Böckenförde als Vermittlungsbegriff mit Stabilisierungswirkung bezeichnet.29 Verfassungsinterpretation als Konkretisierung umfaßt dabei also auch den Gestaltungsaspekt komplexer sozialer Realität. Trotz dieser Vorteile erkennt Böckenförde darin aber ein „Inhaltgeben von außen" und nicht mehr Auslegung der Verfassung als Sinndeutung.30 Das Ziel, das Methodik auch hat, die Interpretation zu begrenzen und zu strukturieren, wird verfehlt.
b) Das Verfehlen des methodischen Zieles Die im Blick auf die Verfassungsausweitung bestehende Nähe von Konkretisierungskonzepten zu topisch-problemorientierten Ansätzen relativiert Böckenförde zwar durch die Anerkennung der beabsichtigten normativen Riickbindung der Konkretisierung an den Verfassungstext als Grenze der Verfassungsinterpretation. 31 Die damit intendierte Riickbindung gelingt Böckenförde zufolge jedoch nicht. Wenn das „Vorgegebene" oder das „Gesetzte", an das die Interpretation gebunden und von der aus sie begrenzt sein soll, nur der Text ist und nichts qualitativ normativ Vorentschiedenes, muß die Bindungsintention scheitern, weil der Wortgestalt des Verfassungstextes nach die Verfassung vieldeutig, unbestimmt, lapidar und bruchstückhaft bleibt und als solche allein schwerlich zum methodisch erstrebten Kriterium für die maßgebliche Verfassungsinterpretation werden kann. 32 Deshalb muß Böckenförde im Blick auf die Bindung und Kontrollierbarkeit der Verfassungsinterpretation als Thema der Methodik der Verfassungsinterpretation zu einer Kritik des Konkretisierungskonzepts selbst gelangen. Schon in der Leugnung von der Verfassungsinterpretation normativ vorgegebenen Inhalten im Rahmen des Konkretisierungskonzeptes liegt die Unmöglichkeit, Bindung an die Verfassung zu denken beschlossen: „Soweit die Norm unbestimmt ist, in der Auslegung erst Inhalt gewinnt (was ja der Ausgangspunkt für die Konkretisierung 1 ist), vermag sie nicht zugleich Bindungselement der Auslegung zu sein." 33 Obwohl Böckenförde eine größere Nähe der Zielerreichung konstatiert, gilt ähnliches für den Versuch, in der Analyse des komplex gefaßten Konkretisierungsvorgangs Bindung an die Verfassung durch Strukturierung der Regelhaftigkeit desselben zu erreichen. 34 Die Norm der Verfassung erscheine hier zwar als sachlich um29 SVD 68 Fn. 55. 30 SVD 186. 31 SVD 76. 32 SVD 76. 33 SVD 77.
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Β. Merkmale expansiver Verfassungstheorie
schreibbarer „Kern normativer Anordnung" 35 und also nicht bloß als Text. Die Vielfalt der Konkretisierungselemente lasse jedoch eine normative Orientierung und Eingrenzung nicht zu. 36 Diese gehe im zum Interpretationsprinzip erhobenen Konkretisierungsvorgang vielmehr verloren. 37 Die Bedeutungsvielfalt gesellschaftlicher Interpretationswelten 38, die sich nicht zuletzt aus ihrer im umfassenden Sinne freien Wählbarkeit 39 herleitet, spiegelt sich insofern für Böckenförde im Rahmen von Konkretisierungskonzepten wie bei der verfassungsrechtlichen Topik lediglich in den verfassungsrechtlichen Begriffen wieder.
c) Institution und Interpretation Das Verfehlen des methodischen Zieles hat aber auch institutionenenbezogene Konsequenzen, die über methodische Fragestellungen im engeren Sinne hinausreichen. Unter funktionell-rechtlichem Aspekt bedeutet Verfassungsinterpretation als Konkretisierung nämlich auch, daß die „Konkretisierungen" des BVerfG ein immer engeres Netz von verfassungsgebotenen Vorgaben für den Gesetzgeber und den demokratischen Prozeß errichten. Dies führt zur verfassungsgerichtlichen Überdeterminierung des Politik- und Rechtssystems. Dadurch wiederum wird es möglich, alle Interpretationsprozesse als Verfassungswandel zu denken, auch wenn sich im Rahmen von vorgeblicher Interpretation eine vollkommene Bedeutungsverschiebung der Verfassung ereignet, die streng genommen eine diese Änderung zum Ausdruck bringende Verfassungstextänderung im von der Verfassung dafür vorgesehenen Verfahren erforderlich macht. 40 Gelingt also bei Konkretisierungskonzepten der Verfassungsinterpretation ihre Rückbindung an das vom Verfassungsgeber gesetze positive Recht nicht, können auch die Grenzen der Verfassung im Vorgang der Verfassungsinterpretation nicht eingehalten werden. Der Charakter der Verfassung „als Rahmenordnung" sowie „der politische Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers" könne zunehmend „durch die Praxis der Konkretisierung oder Ver-bestimmung aufgehoben" werden. 41 34 Gemeint ist hier das Konkretisierungskonzept F. Müllers, vgl. oben Fn. 18 und ausführlich unten Kapitel D. 35 SVD 78.
36 SVD 78. 37 Ebd. 3H Vgl. dazu Abeln, 1993. 39 Die „freie Wählbarkeit44 von Interpretationsansätzen zur Verfassungsinterpretation hinterfragt Böckenförde etwa auch bezüglich der Grundrechtsinterpretation, vgl. SVD 140. 40 SVD 77 Fn. 89. SVD 79.
I. Expansive Verfassungstheorie in der Methodendiskussion
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In dieser „Ver-bestimmung" erkennt Böckenförde ferner, daß Konkretisierungskonzepte der Verfassungsinterpretation eine ihr nicht zukommende Gesetzesfunktion 42 zuschreiben müssen: Hat die Verfassung nämlich nach ihrer Wortfassung im Blick auf Normierungsstil und Normierungsdichte keine Gesetzesstruktur, kann ihr diese Bestimmtheit und die damit verbundene Leistungsfähigkeit im Rechtssystem durch Topik- und Konkretisierungskonzepte nur als Funktion unterstellt werden, die dann im nachhinein scheinbar nur „methodisch" ermöglicht wird. So unterstützt Methodik die ausweitende Funktion der Verfassung im Rechtssystem. Der dritte von Böckenförde typisierte Ansatz macht die ausgeweitete Funktion der Verfassung im Rechts- und Politiksystem ausdrücklich zum Ausgangspunkt auch methodischer Überlegungen.
3. Wirklichkeitswissenschaftliche Verfassungsmethodik a) Die Entwicklung des expansiven Methodenansatzes Der Inhalt einer Verfassungsnorm wird im Rahmen wirklichkeitswissenschaftlicher Verfassungsinterpretation vom Gesamtsinn einer funktional konzipierten gesellschaftlichen Wirklichkeit her ermittelt. 43 Die soziologisch konzipierte Wirklichkeit und der daran ausgerichtete Sinn der Verfassung können, wie bei Smend, die Integration in den Staatszusammenhang44 oder auch, wie bei Luhmann, die Erhaltung der Systemfunktionalität 45 sein. Gesellschaftlicher Sinn oder Funktion werden dabei zu Grundbegriffen der Verfassungsinterpretation. 46 Sie sind höchst 42 SVD 81. 4
3 SVD 71. Böckenförde sieht wissenschaftsgeschichtlich in Smends Integrationslehre den Ausgangspunkt des wirklichkeitswissenschaftlich-funktionalistischen Ansatzes der Verfassungsinterpretation begründet. Vgl. SVD 71 und Smend, 1968. Neuere Theorietradition expansiver Verfassungstheorie vor systemtheoretischem Hintergrund knüpft daran an und findet sich etwa bei Hufen 1975, Häberle 1983, Ebsen 1985, Morlok 1989 oder Grimm 1994. Vgl. dazu die Diskussion in Kapitel D. IV. 44 SVD 71. 45 SVD 74, zu Luhmann, 1975, S. 14 und ders. 1973a, S. 1 ff., S. 125 ff. 46 Vgl. von soziologischer Seite, Luhmann, 1971. In soziologischer Systemtheorie ist Sinn objektiv im Blick auf einen sozialen Zusammenhang zu begreifen und nicht nach dem Muster individuellen Textverstehens, wie es sich für juristische Hermeneutik mit dem für sie spezifischen Textbezug naheliegt. Es geht also um die Konstruktion eines Sinnzusammenhanges sozialer Handlungen, „die aufeinander verweisen und sich von einer Umwelt nicht dazugehöriger Handlungen abgrenzen lassen", vgl. neben Luhmann, 1971, Luhmann, 1974, S. 115. Die Affinität expansiver Verfassungstheorie zu systemtheoretischer Begriffsbildung rührt daher, daß die Systemtheorie versucht, ohne empirische Aussagen zu konkreten Einzelbereichen der Gesellschaft zu treffen, strukturelle und funktionale Gemeinsamkeiten von Teilsystemen herauszuarbeiten, die deren Informationsvielfalt und Komplexität so reduzieren, daß in dieser Komplexität eine Erlebnis- und Verhaltenssicherheit darstellbar wird, die die soziologische Systemtheorie als universelle Theorie der Gesellschaft erscheinen läßt. Vgl. Luhmann, 1984,
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Β. Merkmale expansiver Verfassungstheorie
variabel und offen für das Einströmen gesellschaftlicher Sinnkonstruktionen und tragen so zu einer Expansion der Verfassung bei. 47 Bei der institutionellen Grundrechtsinterpretation als einer wesentlichen Variante wirklichkeitswissenschaftlich begründeter Methodik kommt die Anreicherung der Verfassung dadurch zustande, daß die Grundrechte allgemein und d. h. „nicht nur für die besonders benannten institutionellen Garantien ( . . . ) oder Institutsgarantien" des Grundgesetzes48 den Charakter objektiver Ordnungsprinzipien für die von ihnen geschützten Lebensbereiche erlangen. Sie verwirklichen sich darüberhinaus in normativen Regelungen institutioneller Art, die von der Ordnungsidee des Grundrechts getragen sind und als solche die Lebensverhältnisse prägen, zugleich aber die Sachgegebenheiten der Lebensverhältnisse, die für sie gelten, in sich aufnehmen und ihnen normative Relevanz verleihen. 49 Als expansives Moment der Verfassungsmethodik hervorgehoben wird von Bökkenförde hier also die Verallgemeinerung des Institutionengedankens, der zu einem Kontaktbegriff juristischer Interpretation für soziale Realität gemacht wird und die Unterschiede in der Regelungstypik der Verfassung um dieses funktionalen Zusammenhanges willen relativiert. Genau in dieser Relativierung liegt die Überschreitung der Grenzen der Verfassung. Dabei ist es jedoch nicht die funktionale Einordnung der Verfassungsinterpretation in einen größeren soziologisch zu beschreibenden Systemzusammenhang als solche, die das expansive Moment dieser Verfassungsinterpretation ausmacht. Dies kann man an Böckenfördes Abgrenzung von demokratischen Grundrechten zu demokratisch-funktionaler Grundrechtsinterpretation verdeutlichen. Demokratische Grundrechte sind, wie es das BVerfG formuliert hat, für eine Demokratie „schlechthin konstituierend". 50 Sie sind damit Ausdruck und rechtliches Fundament für die in der Demokratie zentrale Mitwirkungsfreiheit. Dazu gehören für Böckenförde neben dem Wahlrecht und dem Recht des Zugangs zu öffentlichen Ämtern auch die Kommunikationsgrundrechte, wie Meinungsfreiheit (einschließlich Presse- und Informationsfreiheit), Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit. 51 Die Mitwirkung im demokratischen Staat voll-
S. 7. Expansive Verfassungstheorie macht sich insbesondere diesen Ganzheitsanspruch zu eigen und überträgt ihn auf die Verfassung: Nicht mehr der Staat ist das Allgemeine, sondern die Staat und Gesellschaft umfassende Verfassung. Der Universalitätsanspruch ist dabei aber normativ und nicht soziologisch motiviert. Luhmann selbst ist ob dieser verfassungstheoretischen Aneignung systemtheoretischer Erbmasse eher skeptisch, wie gerade seine soziologischen Überlegungen zur Verfassung zeigen. Vgl. dazu unten Kapitel D.IV 47 Vgl. zur Vielfalt der damit eröffneten Möglichkeiten aus phänomenologischer Perspektive Berger/Luckmann, 1969. 48 SVD 125. Böckenförde nennt Art. 7 Abs. 3 GG, Art 28 Abs. 1 GG, Art. 33 Abs. 5 GG für die institutionellen Garantien und Art. 14 GG für die Institutsgarantie. 49 SVD 124. 50 BVerfGE 7, 198 (208) - Lüth und ständige Rspr. BVerfGE 12, 113 (115), E 20, 56 (97), E 35, 202 (221 f.) u. a. 51 SVD 323.
I. Expansive Verfassungstheorie in der Methodendiskussion
29
zieht sich ja schon rein faktisch über die in diesen Grundrechten als frei gewährleisteten Bereiche. Ihr Demokratiebezug ist für Böckenförde aber nur ihre objektive Funktion, von der nicht auf ihren dogmatischen Gehalt geschlossen werden dürfe. 52 Genau dies geschieht aber in den methodischen Prämissen einer demokratisch-funktionalen Grundrechtsinterpretation, die den Beitrag der Grundrechtsausübung für den Demokratieprozeß generell als methodisches Moment der Verfassungsinterpretation einführt. Für eine demokratisch-funktionale Interpretation der Pressefreiheit (Art. 5 Abs. I S. 2 GG) etwa legt es sich nahe, ausgehend von der für besonders wichtig erachteten Verfassungsfunktion Demokratie her, schwerpunktmäßig die meinungsbildende Presse zu schützen, da sie den demokratischen Prozeß der öffentlichen Willensbildung unterstützt. 53 Im Konflikt mit anderen Grundrechten oder anderen Grundrechtsausübungen der Pressefreiheit ist aus diesem demokratisch-funktionalen Bezug eine höhere Wertigkeit abzuleiten, die in einem Interpretationsprozeß dazu führen kann, Grundrechtsgehalte teleologisch von ihrem Beitrag für die Demokratie her zu verstehen.54 Objektive Zielvorstellungen und Einordnungen der Verfassungsinterpretation in einen Funktionszusammenhang leiten hier die Einzelinterpretation, indem sie bei streitigen Interpretationsfragen den Ausschlag geben. Der dogmatische Gehalt eines Grundrechtes wird also von der objektiv ermittelten Funktion der Grundrechtsausübung im sozialen und politischen System her bestimmt. Der mögliche Inhalt der Verfassung weitet sich im Rahmen funktionaler Interpretationstheorie, verstärkt durch den Wert- (ordnungs) begriff aus: „Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit, Sicherheit, Selbstverwirklichung, Solidarität, Schutz des Lebens" 55 sind ebenfalls Verfassungsfunktionen, die der interpretatori sehen Ermittlung des dogmatischen Gehaltes der Verfassung vorgeordnet werden. Für Böckenförde hingegen ist die objektive Funktion von „demokratischen Grundrechten" zwar zu würdigen, diese funktionale Betrachtung hat aber keinen selbständig methodisch begründbaren Einfluß auf die interpretatori sehe Ermittlung dogmatischer Grundrechtsgehalte. Es ist also nicht schon die externe soziologische Perspektive auf die Verfassung, die den expansiven Charakter der wirklichkeitswissenschaftlich soziologischen Verfassungsinterpretation begründet. Expansive Verfassungsmethodik wird erst damit begründet, daß die externe soziologische Perspektive zu einer internen, dogmatisch maßstäblichen wird. Dann führt sie dazu, wissenschaftliches Erklären in ein Verstehen mit verfassungsnormativer Relevanz umzudeuten,56 und die „Funktion der Verfassung in der politischen und sozialen Wirklichkeit wird zum Maßstab für die Inhaltsbestimmung der Verfassung selbst."57 Norm und Wirklichkeit werden in 52 S V D 323.
53 Vgl. SVD 117. 54 SVD 323 Fn. 63 und SVD 117. Vgl. zum Übergang methodisch-teleologischer zu verfassungstheoretischer Argumentation, Koch, 1986, S. 349 f. 55 SVD 51.
5^ SVD 74. 57 S V D 83.
Β. Merkmale expansiver Verfassungstheorie
30
eins gesetzt, und die Verfassung wird nurmehr zum Symbol, das der Abbildung vorgängig gewonnener soziologisch-phänomenologischer Erkenntnisse dient. 58 Wird aber der maßgebliche Bezugspunkt der Verfassungsinterpretation in einer Gesamtanalyse sozialer Wirklichkeit und der sozialen Funktion der Verfassung in dieser Wirklichkeit gesucht, werden nicht mehr die normativen Größen der Prinzipien oder Grundentscheidungen der Verfassung bestimmendes Moment der Verfassungsintepretation. Die Grenzen zwischen normativ eigenständigen Vorgaben und Ergebnissen sozialwissenschaftlich-funktionaler Betrachtung werden nicht beachtet. 59
b) Das Verfehlen des methodischen Zieles Das Verfehlen des methodischen Zieles beim wirklichkeitswissenschaftlichfunktionalen Ansatz drückt sich nach Ansicht Böckenfördes darin aus, daß die durch Ausweitung der Verfassung herbeigeführte große Konkurrenz von Geltungsansprüchen nicht mehr in ein juristisch kontrollierbares Vorzugssystem zu bringen ist. 60 Weitet sich der mögliche Inhalt der Verfassung im Rahmen funktionaler Interpretationstheorie, verstärkt durch den Wert- (ordnungs) begriff aus, und werden zahlreiche Funktionen des gesamten Rechts- und Politiksystems wie Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit, Sicherheit, Selbstverwirklichung, Solidarität, Schutz des Lebens61 Verfassungsfunktionen, kann nicht mehr angegeben werden, warum gerade hier Verfassungsfunktionen vorliegen sollen und vor allem, in welchem Rangund Zuordnungsverhältnis sie und die sich aus ihnen ergebenden rechtspraktischen Folgerungen zueinander stehen.62 Im Bereich der Grundrechtsinterpretation kann die fehlende methodische Kontrollierbarkeit sogar zu einem materialen „weniger" an Freiheit, nämlich zu einer Verkürzung von verfassungsrechtlich vorgesehener Freiheitsgewähr führen. 63 Mehr Verfassung kann also im Ergebnis weniger sein. Bei der institutionellen Grundrechtsinterpretation stellt sich dieser Zusammenhang wie folgt dar: Die subjektive Freiheit des einzelnen Grundrechtsträgers wird eingeordnet in „grundrechtsbezogene institutionelle Rahmenordnungen, rechtlich gestaltete Lebensverhältnisse u. ä. ( . . . ), weil diese zum ,Inhalt' der institutionellen Freiheit gehören. Sie stellen daher keine Freiheitsbeschränkung dar, weswegen gegen sie kein Grundrechtsschutz stattfindet." 64 Freiheit als formale Ausgrenzung wird durch staatliche bzw. gerichtliche Wertsetzung65 ergänzt und so verkürzt. Ver58 S V D 74. 59 S V D 73. 60 SVD 51.
61 62 63 64
SVD 51. SVD 51. SVD 124 ff. SVD 128 f.
II. Böckenfördes Analyse der Grundrechtsinterpretation
31
fassung gewährt in den Grundrechten Freiheit nicht mehr „unbedingt, d. h. im Wege rechtlich formaler Ausgrenzung von staatlichem Zugriff, sondern nur innerhalb und nach Maßgabe der eigenen Wertordnung." 66 Freiheit wird so über institutionelle Sinnerfüllung zur Pflicht. 67
I I . Merkmale expansiver Verfassungstheorie in Böckenfördes Analyse der Grundrechtsinterpretation Merkmale und Konsequenzen expansiver Verfassungstheorie beschreibt Bökkenförde insbesondere mit Bezug auf die Grundrechtsinterpretation des BVerfG, das die Grundrechte nicht nur als subjektive Abwehrrechte gegen den Staat begreift, sondern auch als objektive Wertordnung und als Grundsatznormen interpretiert. 68 Ein praktisch in der Rechtsprechung wirksames dogmatisches Element ist also bei Böckenförde als Element expansiver Verfassungstheorie nachzuweisen, ohne daß dieses Element sich selbst einer Theoriebildung zu verdanken hätte. Anders ist dies bei dem Versuch, diese Grundrechtsinterpretation in einer Prinzipientheorie der Grundrechte normtheoretisch zu begründen. 69 Für die Grundrechtsinterpretation wird in diesem Versuch expansive Verfassungstheorie normtheoretisch auf den Begriff gebracht.
1. Der expansive Charakter von Grundrechten als Grundsatznormen in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes Anhand von Böckenfördes Analyse von Grundrechten als Grundsatznormen in der Rechtsprechung des BVerfG läßt sich der expansive Charakter dieser Rechtsprechung in drei Schritten herausarbeiten. Im Lüth-Urteil des BVerfG wird der Grundstein für expansive Grundrechtsinterpretation gelegt. Die weitere Grundrechtsinterpretation des BVerfG kann als Weiterentwicklung dieses Ansatzes begriffen werden. Daraus zieht Böckenförde verfassungstheoretische Konsequenzen.
65 SVD 49. 66 SVD 51. 67 Ebd. 68 So die Rechtsprechung des BVerfG seit BVerfGE 7, 198 ff. („Lüth"). Die Literatur dazu ist Legion. Kritisch etwa Goerlich, 1973. Vgl. ferner Jarras, 1985 und Scherzberg, 1989. 69 Hier ist die Grundrechtstheorie Alexy's gemeint. Vgl. Alexy 1991, S. 75 ff.
Β. Merkmale expansiver Verfassungstheorie
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a) Grundlegung expansiver Grundrechtsinterpretation des Bundesverfassungsgerichtes Böckenförde macht den expansiven Charakter der Interpretation der Grundrechte als Grundsatznormen am der Lüth-Entscheidung des BVerfG 70 zugrundeliegenden Votum deutlich. 71 Dieses Votum geht davon aus, daß die Normen des Grundrechtsteiles neben der Verbürgung subjektiver Rechte des Bürgers gegen den Staat auch ein Wertsystem aufrichten, „das für das gesamte staatliche und gesellschaftliche Leben Maßstäbe setzen will, an denen alles menschliche Verhalten innerhalb der Rechtsgemeinschaft sich in einem zunächst sehr allgemeinen Sinn orientieren soll." 72 In dieser allgemeinen Orientierungsfunktion sieht Böckenförde die expansive Grundrechtsinterpretation jedoch noch nicht begründet. Der Gesetzgeber kann sich etwa im Sinne dieser allgemeinen Orientierung bei der Verwirklichung des ihm aufgegebenen Gemeinwohles an den den Grundrechten zugrundeliegenden Ideen orientieren 73, ohne daß dies unmittelbar kraft Verfassungsrechtes der Fall sein muß. 74 In solch einer allgemeinen Orientierung ist für Böckenförde noch keine Ausweitung der geltungsbezogenen rechtlichen Bedeutung der Verfassung zu erblicken. Vielmehr drückt der Grundrechtsteil lediglich eine mögliche und erst vom übrigen Rechts- und Politiksystem zu verbindlichem Recht zu formende Idee aus, die mangels verbindlicher verfassungsrechtlicher Vorgaben und Festlegungen gerichtlich nicht herzustellen ist. Allgemein ist diese Grundrechtsorientierung also insbesondere im Blick auf die offene Konkretisierungskompetenz für die Realisierung der den Grundrechten zugrundeliegenden ideellen Gehalte. Der von der Verfassung selbst vorgegebene Rahmen der Grundrechte als subjektiver Abwehrrechte gegen den Staat wird erst dadurch verlassen, daß diese einmal angenommene allgemeine Orientierungsfunktion für jede einzelne Grundrechtsnorm untersucht und damit eine umfassende Maßstäblichkeit ermittelt werden muß. 75 Aus der allgemeinen Orientierung wird also eine verfassungsrechtlich fixierte Orientierung. Im Wandel allgemeiner Orientierungsfunktion zu verfassungsrechtlich fixierter Orientierung sieht Böckenförde die objektive Grundsatzwirkung der Grundrechte auch von den spezifischen Grundrechtsgehalten unterschieden, die in den Art. 5 Abs. 3, Art. 6, Art. 7 Abs. 4 und Art. 14 Abs. 1 GG als Institutsgarantien des Grundgesetzes vorliegen. Das Lüth-Urteil begründet also expansive Grundrechtsinterpretation, indem es über die Ermittlung einer im Grundrechtsteil insgesamt sich niederschlagenden Rechtsmoral und Lebensform des Volkes, der auch für Böckenförde allgemein im Rechtssystem Rechnung zu
70 Vgl. BVerfGE 7,198 ff. („Lüth"). 71 Böckenförde 1989, S. 26. 72 Ebd.
73 Ebd. S. 27. 74 Ebd. S. 26. 75 Ebd.
II. Böckenfördes Analyse der Grundrechtsinterpretation
33
tragen ist, hinausgeht.76 Böckenförde weist darauf hin, daß es vor dem BVerfG bei einer allgemeinen objektiven Orientierung schon deshalb nicht hat bleiben können, weil es um die Beurteilung einer Verfassungsbeschwerde ging: Wollte man sie überhaupt zur Entscheidung zulassen, mußte man eine Grundrechtsverletzung eines einzelnen Grundrechtes ( im Fall „Lüth" war es Art. 5 Abs. 1 GG) als subjektivem Recht für möglich erachten und die rechtliche Bedeutung der objektiven Dimension in einer Zuordnung zu der subjektiv-rechtlichen Dimension des Grundrechtes finden. Werden nun aber über die allgemeine und für sich genommen noch nicht mit rechtlicher Verbindlichkeit ausgestatte objektive Orientierung der Grundrechte hinaus verfassungsrechtliche „Ermittlungen und Untersuchungen" 77 durchgeführt, die unmittelbare verfassungsrechtliche Verbindlichkeit von allgemeinen Orientierungen einzelner Verfassungsnormen zum Ergebnis haben, liegt genau darin das verfassungsausweitende Moment expansiver Grundrechtsinterpretationen. 78 Streng genommen liegt hierbei nach Auffassung Böckenfördes eine Interpretation im eigentlichen Sinne gar nicht vor. Wenn nämlich die Grundrechte in ihrer Grundsatzwirkung nur der Richtung nach festgelegt sind, muß die „Interpretation" die Gestaltung zu einer gerichtlich überprüfbaren und vollziehbaren Norm ja noch leisten und sie tut insofern mehr, als interpretationsbedürftige Sätze auszulegen.79 Methodisch hatte Böckenförde dieses Vorgehen als rechtsschöpferische Verfassungsinterpretation durch Konkretisierung beschrieben.80 Der verbindliche verfassungsrechtliche Gehalt muß also im Interpretationsprozeß durch das BVerfG erst neu geschaffen werden. Die Deklarierung der objektiv-rechtlichen Dimension der Grundrechte zu einer „Grundentscheidung" der Verfassung 81 macht diesen Qualitätssprung im Lüth-Urteil deutlich und stützt Böckenfördes Argumentation. Das Gericht trifft hier nicht nur eine wichtige Entscheidung mit erheblicher Tragweite, wie es für das höchste deutsche Gericht nicht verwunderlich erscheinen müßte. In seiner Deklarierung der Grundrechte zur Grundentscheidung für eine objektive Wertordnung steckt auch eine Selbststilisierung des BVerfG, die den rechtsschöpferischen Charakter seiner expansiven Grundrechtsinterpretation deutlich macht. Die eigene interpretatori sehen Entscheidung der am Urteil beteiligten Verfassungsinterpreten wird einer Grundentscheidung der Verfassung gleichgesetzt. Es 76 Böckenförde 1989, S. 27. 77 So die von Böckenförde in Bezug genommene, von mir ins Substantivische gewendete Terminologie des der Lüth-Entscheidung zugrundeliegenden Sondervotums, Vgl. Böckenförde 1989, S. 26. 78 Vgl. Böckenförde 1989, S. 27 Anm. 42. Vom Bestehen einer Norm des objektiven Rechtes, zu dem formal betrachtet auch Grundrechte als subjektive Rechte gehören, könne keineswegs „schon auf einen bestimmten, etwa objektiv-rechtlichen Gehalt dieser Norm geschlossen werden.". 79 Vgl. Böckenförde 1989, S. 56. so S. ο. B.I.2. 8i Vgl. BVerfGE 7, 198,205. 3 Manterfeld
34
Β. Merkmale expansiver Verfassungstheorie
scheint im Rahmen der Grundrechtsinterpretation also die Situation der Verfassungsgebung auf, obwohl doch nur der Rahmen für eine „Interpretation" der gegebenen Verfassung angesichts eines zur Entscheidung anstehenden Rechtsfalles vorliegen kann. Damit legt das BVerfG den Grundstein für die Entfaltung einer expansiven Verfassungstheorie und der universellen semantischen Geltung der Verfassung im Rechtssystem.82
b) Entfaltung Der Grundgedanke der Grundrechte als objektiver Grundsatznormen begründet für Böckenförde eine neue Qualität der Grundrechte 83, die sich nach der einmal vorgenommenen Weichenstellung in der folgenden Rechtsprechung des BVerfG nur noch entfalten mußte 84 , um unmittelbar in alle spezialrechtlichen Bereiche einzudringen. 85 Der Ausstrahlungswirkung der Grundrechte auf das normale Gesetzesrecht, die schon das Lüth-Urteil begründete, sieht Böckenförde die Drittwirkung der Grundrechte folgen 86 . Es schließen sich die Schutzdimension und die Entwicklung von Handlungsaufträgen aus Grundrechten an. 87 Da der Inhalt und der Umfang der objektiven Dimensionen von Grundrechten unbestimmt ist, verwundert auch das Schwanken der aus ihnen vom BVerfG abgeleiteten Pflichten nicht. 88 In verfassungsprozessualer Hinsicht zeigt sich die Entfaltung des in der Lüthentscheidung grundgelegten Gedankens durch die von der Rechtsprechungspraxis angenommene generelle Möglichkeit der subjektiv-rechtlichen Geltendmachung von ideellen Grundsatzwirkungen der Grundrechte 89. Nicht nur im besonders gelagerten verfassungsgerichtlichen Einzelfall also, sondern in allen denkbaren Grundrechtskonstellationen ist prozessual mit der Grundsatzwirkung von Grundrechten zu rechnen.
82 Vgl. aus rhetorischer Sicht dazu Schreckenberger, 1978, S. 180 f. 83 Böckenförde, 1989, S. 30. 84 Daß sie sich in der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtes auch wirklich entfaltet hat, belegt Böckenförde mit Verweis auf Urteile zu zahlreichen Grundrechtsartikeln, vgl. Böckenförde, 1989, S. 29 Fn. 46. 85 Ebd. S. 31. 86 Ebd. S. 34. Die Unterscheidungen im Rahmen der einmal angenommenen Grundsatzwirkung hält Böckenförde für marginal, so etwa diejenige zwischen unmittelbarer und mittelbarer Drittwirkung. Vgl. ebd. 87 Ebd., S. 39. 88 A. a. O., S. 41. 89 A. a. O. S. 44.
II. Böckenfördes Analyse der Grundrechtsinterpretation
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c) Verfassungstheoretische Folgewirkungen aa) Verhältnismäßigkeitsprinzip Eine wichtige Folgewirkung der expansiven Grundrechtsinterpretation durch das BVerfG ist die Ausweitung der Bedeutung des traditionellen, streng am Gesetzeszweck orientierten Verhältnismäßigkeitsprinzips. 90 Wenn die Wirkung der Grundrechte nämlich alle Richtungen und Rechtsbereiche unmittelbar erfaßt, sind notwendig „verschiedene, inhaltlich nicht notwendig parallellaufende Freiheitsund Schutzrichtungen" berührt, die auch „für verschiedene Grundrechtsträger" wirken. 91 Es entsteht so ein künstlich geschaffener Bedarf an Abwägung, die nun verhindern muß, daß sich „bestimmte Grundrechtsgehalte auf Kosten anderer Grundrechtsgehalte oder gegenüber anderen Grundrechtsträgern einseitig" ausbreiten. 92 Sie überschreitet damit jedoch notwendig die klassische Verhältnismäßigkeit. „Diese hat einen festen Bezugspunkt, den Zweck des Gesetzes bzw. der Gesetzesnorm, und bestimmt daraufhin (relational) Geeignetheit, Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne" 93 und kann methodisch, wie wir später sehen werden, auch im Rahmen der limitierenden Verfassungstheorie Böckenfördes in der interpretativen Rechtsfortbildung der Verfassung ihren Ort finden. 94 Die mit der expansiven Grundrechtsdogmatik und nur mit ihr notwendig verbundene darüberhinausgehende Verhältnismäßigkeit nennt Böckenförde eine mit Gerechtigkeit synonyme „Angemessenheits-Verhältnismäßigkeit".95 Ihre Ausweitungstendenz wird darin deutlich, daß sie „Vereinbarkeit, Ausgleich und angemessene Zuordnung mehrerer, auch gegenläufiger normativer Prinzipien zu erreichen" hat, 96 die ein hohes Maß an komplexer Rechtsgestaltung beinhaltet und sich deshalb nach Auffassung Böckenfördes nur scheinbar „interpretativ" aus der Verfassung gewinnen läßt. 97 In institutioneller Hinsicht füllt den dadurch eröffneten Gestaltungsspielraum, der durch die vorgängige Verfassungsausweitung gleichwohl zur Interpretationsaufgabe erklärt werden kann, das BVerfG aus. Dieses wird damit zum umfassend abwägenden Gerechtigkeitsexperten. Aus der Perspektive klassischer Verhältnismäßigkeit muß es im wörtlichen Sinne ein Zuviel-des-Guten sein, wenn expansive Grundrechtsdogmatik eine mit Gerechtigkeit synonyme Angemessenheitsverhältnismäßigkeit erstrebt. 98 Die Verfassung wird insofern „zur rechtlichen Grundordnung des Gemeinwesens."99 90 A. a. O. S. 52. 91 A.a.O.S.52. 92 A. a. O. S. 52. 93 A. a. O., S. 53. 94 Siehe unten C.II.2.C). 95 Böckenförde 1989, S. 53. 96 A. a. O., S. 54. 97 Ebd. 3*
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Β. Merkmale expansiver Verfassungstheorie
bb) Dogmatik Im Rechtssystem wirkt sich diese expansive Grundrechtsinterpretation des Bundesverfassungsgerichtes auch deshalb besonders nachhaltig aus, weil die unmittelbare, aus Art. 1 Abs. 3 GG hervorgehende Bindung des Staates, dogmatisch betrachtet, auch an die vom Gericht konkretisierten objektiv-rechtlichen Gehalte der Grundrechte erhalten bleiben muß. Das hat zur Konsequenz, innergesellschaftliche Freiheit unmittelbar verfassungsrechtlich und verfassungsgerichtlich eingrenzen zu müssen100. Nur das BVerfG selbst ist bei der objektiven Grundsatzwirkung der Grundrechte im Konkretisierungsvorgang nicht mehr an gesetztes Verfassungsrecht gebunden.
cc) Staatstheorie Böckenförde formuliert die Folgewirkungen expansiver Grundrechtsinterpretation auch staatstheoretisch. Schon aus der Staatsrechtslehre verabschiedete und der Politik zugewiesene Staatszwecke werden im Rahmen expansiver Grundrechtsdogmatik zu Themen der Grundrechtsauslegung. 101 Sie erscheinen „als zielgerichtete, auf grundrechtliche Sach- und Lebensbereiche bezogene Handlungsaufträge", deren „Verwirklichung ( . . . ) verfassungsrechtlich geboten" ist, wie groß auch immer der im Einzelfall belassene Spielraum für die Durchführung dieser Handlungsaufträge für das Rechts- und Politiksystem sein möge. 102 Nicht mehr allein der Prozeß politischer Willensbildung ist es, der staatliche Handlungsaufträge formuliert und überprüft, sondern ihre strukturelle Verlagerung in die Grundrechtsinterpretation macht sie prinzipiell als Grundrechtsverwirklichung einklagbar und vom BVerfG überprüfbar. 103
98
Dies wird auch an Böckenfördes Übertragung der Grundrechtsdiskussion auf Kants Rechtsbegriff deutlich: Greifen die Grundrechte nach klassischem Verständnis „nur einen Teil der Kantschen Rechtsdefinition ab", indem nicht „die Freiheit des einen mit der des anderen generell, sondern nur die des einzelnen Bürgers mit der des Staates.. .kompatibel gehalten" werde, bewirke die „zusätzliche Qualifikation als objektive Grundsatznorm oder Wertentscheidung..., daß die Grundrechte die Kantsche Definition und damit den Bereich des Rechts voll abdecken."A. a. O., S. 59. 99 Ebd. Es findet sich damit in der Rechtsprechung des BVerfG ein expansiver Verfassungsbegriff wieder, wie er eigentlich dem verfassungstheoretischen Genre entspräche. Die Grundrechtsdogmatik des BVerfG selbst enthält Theorieelemente ohne Bindungscharakter, die aber, weil im Rahmen der Rechtsprechung verwendet, praktisches Verfassungsrecht werden. Zum Begriff der Verfassungstheorie vgl. oben Kapitel A.II. 1. 100 Vgl. SVD 161. ιοί Vgl. Böckenförde 1989, S. 57. 102 Böckenförde 1989, S. 58. 103 A. a. O., S. 58.
II. Böckenfördes Analyse der Grundrechtsinterpretation
37
dd) Gegenüberstellung zu klassischer Grundrechtskonzeption Der expansive Charakter dieser Grundrechtsinterpretation wird auch in Böckenfördes Gegenüberstellung zu der klassischen, bescheidener wirkenden Grundrechtskonzeption deutlich. 104 Nach klassischem Verständnis bieten Grundrechte auf der einen Seite zwar weniger: Sie wollen „von vornherein nur einen Ausschnitt aus der Rechtsordnung betreffen" 105 , sind also keineswegs, wie die zu Grundsatznormen ausgeweiteten Grundrechte offen für umfassende Zweckorientierung und gerechtigkeitsorientierte Angemessenheitsrechtsprechung. Auf der anderen Seite bieten sie „ausgeformte rechtliche Institute" 106 und damit im Blick auf die Rechtssicherheit im Rechtssystem mehr. Überdies muß die Rechtsordnung nach klassischem Grundrechtsverständnis nicht auf Prinzipienorientierung verzichten. Es findet sie jedoch als Ergebnis der Rechtsgestaltung durch den Gesetzgeber, dem insoweit eine originär Recht schaffende Kompetenz zuerkannt wird. 1 0 7
ee) Gewaltenteilung Eine letzte der von Böckenförde konstatierten verfassungstheoretischen Folgewirkungen der expansiven Grundrechtsentwicklung zielt auf die Mißachtung der Gewaltenteilung. Es verändert sich durch die dargestellte materiale Verfassungsexpansion das Verhältnis von Verfassungsgerichtsbarkeit und Gesetzgebung. Parlamentarische und verfassungsrechtliche Rechtsbildung nähern sich einer Nebenordnung an. 1 0 8 „Originäre Rechtssetzung" werde in diesem Zuge „zur Konkretisierung" herabgestuft", verfassungsgerichtliche Rechtsbildung aber „von interpretativer Rechtsanwendung zur rechtsschöpferischen Konkretisierung heraufgestuft." 109 und der „qualitative Unterschied zwischen Gesetzgebung und Rechtsprechung ebnet sich insoweit ein." 1 1 0 Der weitgehende Verlust der Eigenständigkeit der einzelnen Rechtsgebiete und die Verlagerung des Schwerpunktes der Zuordnung der Gewalten ändern sich damit. 111 Böckenförde erkennt darin sogar regressive Erscheinungen: Das in kulturgeschichtlicher Arbeit errungene, „den kontinentaleuropäischen Verfassungsstaat prägende Konzept von Gewaltenteilung, das auf der klaren Unterscheidung von Rechtssetzung und Rechtsanwendung und deren organisatorisch-institutioneller Umsetzung beruht, wird ein Stück zurückgebildet." 112 Daß es 104 A. a. 105 Ebd. 106 A. a. 107 A. a. los A. a. 109 A. a.
O., S. 59. O., S. 59. O. S. 59. O., S. 60. O., S. 60.
no A. a. O., S. 61. m A. a. O., S. 61. Auch Wahl betont die Eigenständigkeit des Gesetzesrechtes angesichts des - unbestrittenen - Vorrangs der Verfassung. Vgl. Wahl, 1984, S. 401 ff.
38
Β. Merkmale expansiver Verfassungstheorie
sich bei expansivem Verfassungsverständnis um eine progressive Theorieentwicklung handelt, weil sie ein flexibles, vorgeblich geänderten Umständen angepaßtes Verfassungsverständnis ermöglicht, wird damit von Böckenförde bestritten.
2. Die normtheoretische Begründung von Grundrechten als Grundsatznormen Die von Böckenförde festgestellte Unsicherheit in der Rechtsanwendung der objektiven Grundrechtsdimension wird mit der vielfach als irrational kritisierten „Werttheorie" der Grundrechte verbunden. 113 Deshalb wird der Kern expansiver Grundrechtsinterpretation normtheoretisch von einem Regel-Prinzipienmodell des Rechts aus rational rekonstruiert. 114 Sind die Grundrechte als subjektiv-rechtlich ausgerichtete Abwehrrechte gegen den Staat danach normtheoretisch als Regeln zu begreifen, weil sie dem Staat ein definitives Unterlassen aufgeben, sind sie als Grundsatznormen in ihrer objektiven Dimension lediglich Optimierungsgebote, „die gebieten, daß etwas in einem relativ auf die rechtlichen und tatsächlichen Möglichkeiten möglichst hohen Maße realisiert wird." 1 1 5 Gleichwohl sind sie in dieser Dimension wegen der sonst bleibenden Lücken in der Grundrechtsanwendung unverzichtbarer Bestandteil des Rechtssystems und damit der dieses System reflektierenden Grundrechtstheorie. Es geht bei dieser Konzeption von Grundrechten also um eine rationalitätssichernde Prozedur auf der Prinzipienebene der Grundrechte, mit dem Ziel, Lücken des Rechtssystems zu schließen.116 Dadurch sollen die Grundrechte insgesamt als rational kontrollierbares System von Vorrangbedingungen, Abwägungsstrukturen und prima-facie-Vorrängen darstellbar werden. 117 A. a. O., S. 62. 113 Vgl. zur Kritik an der Werttheorie Goerlich, 1973. 112
,14 Aus dem deutschsprachigen Bereich der Rechtstheorie maßgeblich Esser, 1974 und für die Grundrechtsdiskussion, Alexy, 1991, S. 71 ff., der die amerikanische Diskussion zum logischen Unterschied von Regeln und Prinzipien in der Rechtstheorie aufgreift. Vgl. aus dem amerikanischen Bereich grundlegend Dworkin, 1990, S. 58-64. Danach sind Regeln in der Weise des Alles-oder-Nichts anwendbar. „Wenn die Tatsachen, die eine Regel als Bedingungen festsetzt, gegeben sind, dann ist die Regel entweder gültig - in diesem Fall muß die Antwort, die sie liefert, akzeptiert werden - oder sie ist nicht gültig, und dann trägt sie nichts zur Entscheidung bei" (S. 58). Ein Prinzip dagegen gibt lediglich einen Grund an, der ein Argument in eine bestimmte Richtung ist, der aber nicht eine bestimmte Entscheidung notwendig macht (vgl. ebd. S. 60), und es hat im Unterschied zu Regeln „die Dimension des Gewichts oder der Bedeutung" (S. 62). Vgl. dazu vertiefend Sieckmann 1987. Zu dem entgegengesetzten Regelmodell des Rechts bei Hart vgl. Ellrich, 1982. Kritisch zu Dworkin Pawlik, 1992, S. 292 f. Zu Alexy vgl. die Rezension von Scholder 1987.
il? Alexy 1987 S. 407. '16 Alexy 1987 , S. 417 ff. 117 Vgl. Alexy, 1987, S. 414 ff.
III. Der Verfassungsbegriff expansiver Verfassungstheorie
39
Böckenförde sieht die soeben von ihm analysierte expansive Verfassungsrechtsprechung durch die Charakterisierung der Grundrechte als Prinzipiennormen mit Optimierungstendenz auf den Begriff gebracht, 118 ohne daß sich jedoch durch diese normtheoretische Reformulierung expansiver Grundrechtsdogmatik an seiner kritischen Sichtweise etwas ändern würde. Für Böckenförde bildet diese Theorie zwar „den dogmatischen Grundbegriff der Grundrechte", insbesondere weil er geeignet sei, alle Grundrechtsfunktionen in sich aufnehmen zu können. 119 Böckenförde sieht in der darin zum Ausdruck gelangenden strukturellen Veränderung des Grundrechtscharakters aber die von ihm benannten problematischen Folgewirkungen der expansiven Grundrechtsdogmatik, wie er sie anhand der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung aufgewiesen hat 1 2 0 , nicht behoben. Die Zuordnung der normtheoretisch begründeten Prinzipientheorie zur expansiven Verfassungstheorie wird damit von Böckenförde vorausgesetzt.
I I I . Der Verfassungsbegriff expansiver Verfassungstheorie Bei den von ihm untersuchten Interpretationsmethoden erkennt Böckenförde, daß die jeweilige Auslegungsmethode von bestimmten verfassungstheoretischen Grundvorstellungen bzw. einem bestimmten Verfassungsbegriff begründet und entwickelt wird 1 2 1 oder andererseits sich Grundvorstellungen über Funktion und normative Reichweite der Verfassung als Konsequenz eines gewählten interpretationsmethodischen Ansatzes ergeben. Expansiver Verfassungsinterpretation entspricht daher ein expansiver Verfassungsbegriff 122 Für die Entwicklung dieses Begriffs lassen sich bei Böckenförde die beiden Merkmale der Verfassung als Lebensordnung der Gesellschaft und das Merkmal des Verfassungspatriotismus herausgreifen.
1. Verfassung als Lebensordnung der Gesellschaft Der expansive Verfassungsbegriff ist dadurch gekennzeichnet, daß Verfassung als „Grundordnung nicht nur des Staates, sondern des Gemeinwesens insgesamt in allen seinen Sach- und Lebensbereichen - .. . " 1 2 3 begriffen wird. Das begrenzende Element des Staatsbezuges im Verfassungsbegriff wird angesichts zuneh-
«18 Böckenförde 1989, S. 55 mit Verweis auf Alexy, 1986, S. 75 ff. 119 Böckenförde 1989, S. 55. 120 S.o. B.II.l.c). 121 SVD 82. 122 Ebd. 123 SVD 48.
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Β. Merkmale expansiver Verfassungstheorie
mender Wechselbeziehungen zwischen Staat und Gesellschaft genauso wie die Unterscheidung von Staat und Gesellschaft aufgegeben. 124 Hat also der Staat angesichts gesellschaftlicher Machtkonstellationen seinen Schrecken verloren, ist auch die Verfassung nicht mehr isoliert auf diesen Staat zu beziehen. Damit ist Verfassung ihrem Begriffe nach nicht mehr nur ausgrenzendes Rechtsdokument, sondern rechtliche Lebensordnung der Gesellschaft insgesamt, nicht mehr nur Herrschaftsvertrag, sondern Gesellschaftsvertrag im umfassenden Sinne eines materialen Grundgerüstes des sozialen Zusammenlebens.125 Verfassung enthält damit ihrem Begriffe nach die gesamte Rechtsordnung in nuce in sich 1 2 6 und liefert eine material-universeile Einheitsbegründung. 127
2. Verfassungspatriotismus Nur auf Basis dieser umfassenden Einheitsbegründung durch die Verfassung wird es verständlich, daß der Verfassung in der Bundesrepublik Deutschland sogar die Funktion zugedacht werden konnte, das im Nachkriegsdeutschland problematisch gewordene nationale Bewußtsein zu ersetzen. Der Begriff des Verfassungspatriotismus machte es möglich, die nach dem 2. Weltkrieg in Deutschland desavouierte politische Identität des deutschen Volkes als Nation durch eine Verfassungsidentität zu ersetzen. 128 Für ein „Gemeinwesen, das seine eigene Selbstgewißheit und eine allgemein anerkannte Verbindlichkeit verloren hat, sich aber gleichwohl gegen Revolution und Anarchie rechtlich absichern w i l l " 1 2 9 , ist ein expansives VerfassungsVerständnis daher aus der Perspektive Böckenfördes folgerichtig. Der expansive Verfassungsbegriff ist also auch durch das in Deutschland fehlende politische Selbstbewußtsein einer Nation ohne geglückte demokratische Tradition bestimmt. 130 Expansives Verfassungsverständnis erscheint als Surrogat für die 124 Vgl. zur Bedeutung der Unterscheidung von Staat und Gesellschaft im demokratischen Sozialstaat Böckenförde in RSF 209 ff. 125 SVD 48. 126 Dies ist nicht nur eine theoretisch typisierende Idealvorstellung, sondern hat etwa in F. Werners Überzeugung, Verwaltungsrecht sei lediglich konkretisiertes Verfassungsrecht, schon früh seinen praktisch wirksamen Ausdruck gefunden. Vgl. Werner, 1959, S. 527-533.
127 SVD 50. 128
Vgl. Böckenförde 1995a, S. 987. Zum Verfassungspatriotismus vgl. Sternberger, 1990, S. 13: „Das Nationalgefühl bleibt verwundet, wir leben nicht im ganzen Deutschland. Aber wir leben in einer ganzen Verfassung, in einem ganzen Verfassungsstaat, und der ist selbst eine Art Vaterland." (Beitrag zum 30. Jahrestag des Inkrafttretens des Grundgesetzes von 1979). Zu dem die allgemeine Idee des Verfassungspatriotismus vorantreibenden Begriff der Verfassung vgl. Habermas, 1987, S. 173 ff. 129 SVD 51. 130 SVD 51.
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xpansive Verfassungstheorie
Fähigkeit und Anstrengung zur Gestaltung eines demokratischen Gemeinwesens.131 Dieser Hintergrund eines expansiven Verfassungsbegriffs belegt darüber hinaus, daß Verfassungstheorie für Böckenförde nicht in der Methodendiskussion aufgehen kann, sondern umgekehrt die Methodendiskussion erst von einer komplexer ansetzenden Verfassungstheorie her sinnvoll geführt werden kann. Der ausweitenden Interpretation des Grundgesetzes scheint also als Funktion problembehafteter politischer Identität einer Nation deren Legitimitätssehnsucht als maßgebliches Vorzeichen vorauszuliegen. Dies begründet den begrenzten Stellenwert der Methodik innerhalb der Verfassungstheorie des Grundgesetzes. Die für die Entwicklung eines Verfassungsbegriffes maßgebliche Verfassungstheorie wird die Frage nach der Surrogatfunktion der Verfassung für die politische Identitätsfrage als auch für die Methodenlehre bedeutsames Theorieelement nicht vernachlässigen können. Deshalb wird die Rekonstruktion limitierender Verfassungstheorie nicht nur auf methodische oder einzelfallbezogene Überlegungen ausgerichtet. 132
Fazit B: Expansive Verfassungstheorie als Zusammenhang methodischer, dogmatischer, normtheoretischer und begrifflicher Elemente Anhand von Böckenfördes verfassungsrechtlichen Schriften lassen sich zusammenfassend folgende Merkmale expansiver Verfassungstheorie feststellen: Aus der Methodendiskussion ergibt sich: Expansive Interpretationsansätze haben zwar die erforderliche Abkehr vom positivistischen Methodenideal betrieben; die Unterscheidung von vorgegebenem normativem Gehalt und sozialer Wirklichkeit der Verfassung wird dabei aber übermäßig relativiert. Der Konkretisierungsbegriff wird im expansiven methodischen Rahmen nicht mehr nur als Subsumtionsvorgang gefaßt, sondern als für die schöpferische Gestaltung komplexer sozialer Verhältnisse erforderlicher Vorgang der Normbildung, dessen Orientierung an der schmalen verfassungstextlichen Vorgabe methodisch nicht mehr dargestellt werden kann. Die darin zum Vorschein gelangende pluralistische Interessenvielfalt innerhalb der Gesellschaft spiegelt sich in den zum je neuen Verfassungsinhalt werdenden Verfassungsinterpretationen wider. Das Volk selbst sogar legt als pluralistische Größe den Inhalt der Verfassung in einem ständigen Interpretationsprozeß je neu fest, und expansive Verfassungstheorie versteht sich in diesem umfassenden Sinne als pluralistische Verfassungstheorie. Die Möglichkeiten, gesellschaftliche Diskurse als Verfassungsdiskurse zu führen, erhöhen sich dadurch aus der Sicht Bökkenfördes insgesamt unüberschaubar. Der an Informationsgehalten und Problemlö131 SVD 51. 132 S.u. Kapitel C.
42
Β. Merkmale expansiver Verfassungstheorie
sungsansätzen armen Verfassung muß durch expansive Verfassungsinterpretation aufgeholfen werden. Die Verfassung wird dabei von ihrer Struktur und Funktion her interpretativ dem Gesetz angeglichen. Damit wird methodisch der Boden für die funktionell-rechtliche Übernahme der verfassungsgerichtlichen Ersatzfunktion des Bundesverfassungsgerichtes für einen schwachen Gesetzgeber bereitet. Nicht schon die Problemorientierung der Topik als solche oder die Konkretisierung als schöpferische Interpretationsleistung im Einzelfall und auch nicht die externe soziologische Perspektive auf die Verfassung sind es, die den Charakter expansiver Verfassungstheorie begründen. Expansive Verfassungsmethodik ist darin zu sehen, daß eine externe Interpretationsperspektive zu einer internen dogmatisch maßstäblichen wird. Die Verfassung wird dabei nurmehr zum Symbol problemorientierter oder soziologisch-phänomenologischer Erkenntnisse, die die Interpretation steuern. Die dadurch begründete Verfassungsausweitung kann durch methodische Grenzziehungsversuche nicht erfolgreich kontrolliert werden. Verfassungsmethodik begibt sich vielmehr in Abhängigkeit zu Konsens- und Vernunfterwägungen im Rahmen der Verfassungsinterpretation, die von den positiv-rechtlichen Verfassungsvorgaben her nicht einzuholen sind. Die Betrachtung der Grundrechtsinterpretation des BVerfG und ihrer normtheoretischen Rekonstruktion bestätigen diese verfassungsmethodischen Feststellungen. Folgt das klassische Grundrechtsmodell, normtheoretisch ausgedrückt, einem Regelmodell des Rechts, kombiniert expansive Grundrechtstheorie diese Regelebene mit einer Prinzipienebene. Wesentlich für expansive Verfassungstheorie war jedoch nicht die Tatsache einer prinzipiellen Orientierung als solche. Ihr hätte die Rechtsordnung nur allgemein Rechnung zu tragen. Die Konkretisierungskompetenz der Prinzipiengehalte von Grundrechten wäre damit offengehalten. Wesentlich für expansive Grundrechtsinterpretation war, daß diese prinzipielle Orientierung als möglicher Inhalt eines Grundrechtes auch generell verfassungsgerichtlich geltend gemacht werden können sollte. Dadurch wird die allein maßgebliche Konkretisierungskompetenz nicht nur von Grundrechten als subjektiven Abwehrrechten gegen den Staat, sondern auch die von Prinzipiengehalten im Rechtssystem allein dem BVerfG verbindlich zugewiesen. In Grundrechtsdogmatik und -theorie wird also die allgemeine, am Inhalt des Grundrechtsabschnitts ausgerichtete Prinzipienorientierung durch eine unmittelbar verfassungsrechtlich relevante Prinzipiendimension der Grundrechte als Grundsatznormen erweitert. Dadurch wird zugleich eine große Konkurrenz von zur verfassungsrechtlichen Abwägung auffordernden Verfassungswerten geschaffen. Verfassungstheoretische Folge expansiver Grundrechtsinterpretation des BVerfG ist zunächst die Ausweitung der Bedeutung des streng am Gesetzeszweck orientierten Verhältnismäßigkeitsprinzips. Schon aus der Staatsrechtslehre verabschiedete und der Politik zugewiesene Staatszwecke werden im Rahmen expansiver Grundrechtsdogmatik zu Themen der Grundrechtsauslegung. Die Möglichkeit die Konkretisierung von Gerechtigkeit als Ergebnis der Rechtsgestaltung durch den Gesetzgeber zu begreifen, wird dadurch verdeckt.
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xpansive Verfassungstheorie
Leitfunktion für die Merkmale expansiver Verfassungstheorie in Methodendiskussion und Grundrechtsinterpretation übernimmt ein expansiver Verfassungsbegriff, der zunächst dadurch gekennzeichnet ist, daß er das begrenzende Element des Staatsbezuges im Verfassungsbegriff angesichts zunehmender Wechselbeziehungen zwischen Staat und Gesellschaft aufgibt. Wesentlich ist ferner die Wendung vom formalen zum materialen Rechtsstaatsbegriff. Damit ist Verfassung ihrem Begriffe nach nicht mehr nur ausgrenzendes Rechtsdokument, sondern rechtliche Lebensordnung der Gesellschaft im umfassenden Sinne eines materialen Grundgerüstes des sozialen Zusammenlebens. Sie liefert auf dieser Basis eine material-universelle Einheitsbegründung, von der aus sie die im Nachkriegsdeutschland desavouierte politische Identität des deutschen Volkes als Nation durch eine Verfassungsidentität zu ersetzen vermochte. In der interpretatorisch, normtheoretisch und begrifflich begründeten Geltungsausweitung der Verfassung wird die Eigenständigkeit der normativen Verfassung gegenüber der sozialen Wirklichkeit zunehmend relativiert. Durch expansives Verfassungsvertändnis wird daher die Auflösung der Normativität der Verfassung bewirkt. Für die Konfliktschlichtungsfunktion des BVerfG hat das unmittelbare Konsequenzen: Gerade dann, wenn es darauf ankommt, nämlich wenn Konsens in der pluralistischen Gesellschaft nicht erreichbar ist, ist nicht mehr einsichtig zu machen, warum gerade das BVerfG entscheiden können soll. Genau dadurch sieht Böckenförde aber die Normativität der Verfassung und ihre Geltung und damit ihren Steuerungsanspruch für das Politik- wie für das Rechtssystem gefährdet. Kann nun eine limitierende Verfassungstheorie Böckenfördes rekonstruiert werden, die eine Alternative zur expansiven Verfassungstheorie darstellt?
C. Die limitierende Verfassungstheorie Böckenfördes Die limitierende Verfassungstheorie Böckenfördes kann von einem allgemeinen und einem besonderen Teil her rekonstruiert werden. Zunächst sind Theorieelemente limitierender Verfassungstheorie aufzugreifen, die noch nicht spezifisch auf einzelne Teile der Verfassung oder Einzelinterpretationen zugeschnitten sind. (C.I.) Dann wird gezeigt, daß limitierende Verfassungstheorie als Verfassungstheorie des Grundgesetzes auf einzelne Teile des Grundgesetzes konkret beziehbar ist, und daß sie sich anhand von Einzelinterpretationen in ihrem Gegenüber zu expansiver Verfassungstheorie bewährt. (C.II.)
I. Allgemeiner Teil der limitierenden Verfassungstheorie Böckenfördes 1. Der Verfassungsbegriff der limitierenden Verfassungstheorie Böckenfördes Folgt expansive Verfassungstheorie nach obiger Darstellung einem Begriff der Verfassung 1, gilt dies im Ergebnis, nur unter anderem Vorzeichen, auch für die limitierende Verfassungstheorie Böckenfördes. Vor methodischen Erörterungen verfolgen wir hier daher zunächst Böckenfördes limitierende Idee der Verfassung in Gestalt eines limitierenden Verfassungsbegriffs. Böckenfördes limitierende Verfassungstheorie soll dabei als Theorie des Rechtssystems entwickelt werden, in deren Rahmen die Methodik der Interpretation nur einen von mehreren Bestandteilen ausmacht. Daß dies Böckenfördes Intention entspricht, geht daraus hervor, daß er die Verfassungsinterpretation nur aus dem „Zusammenhang der entfalteten Rechtsordnung - dem ,historisch-dogmatischen Ganzen4 der Rechtsordnung" betreiben will. 2 Wir entwickeln diesen Gedanken von Böckenfördes Begriff der Verfassung als „Rahmenordnung" und von seiner Konzeption der Voraussetzungen der Verfassung her.3 ι S. o. Kapitel B.III. SVD 59 und 83, wo Böckenförde für eine verfassungsgemäße Verfassungstheorie die Orientierung an einem „Äquivalent zu dem historisch-dogmatischen Ganzen" der Rechtsordnung verlangt, die Savigny für die Gesetzesauslegung voraussetzte. 3 Insofern besteht formal eine Nähe zu C. Schmitt, nach dem ein Begriff der Verfassung nur möglich ist, wenn innerhalb der Verfassung selbst Verfassung und Verfassungsgesetz unterschieden werden. Vgl. Schmitt, 1970 S. 2 ff., wo einer Vielzahl von Einzelregelungen in 2
I. Allgemeiner Teil
45
a) Die Verfassung als Rahmenordnung Böckenförde gebraucht, um die Grenzen der Verfassung in ihrem Begriff deutlich zu machen, den Begriff der „Rahmenordnung."4 Verfassung ist danach wesentlich nur ausgrenzendes Rechtsdokument und nicht rechtliche Lebensordnung der Gesellschaft im umfassenden Sinne eines materialen Grundgerüstes des sozialen Zusammenlebens.5 Sie liefert dementsprechend keine material-universelle Einheitsbegründung6, die die Basis sein könnte für die Schaffung einer politischen Identität als Verfassungsidentität. 7 Als Rahmenordnung trifft die Verfassung nur Grundsatzentscheidungen für das Verhältnis des Einzelnen zum Staat und legt Verfahrensregeln für den politischen Handlungs- und Entscheidungsprozeß fest. 8 Das limitierende Element des Staatsbezuges der Verfassungstheorie wird genauso aufrechterhalten, wie die Unterscheidung von Staat und Gesellschaft. So ist qua Verfassungsgebung nur ein Kern von grundlegendsten Fragen des Staates dem demokratischen Prozeß und dem geistig-ethischen Pluralismus entzogen. Durch die in der Verfassungsgebung vorgenommene Selbstfestlegung des politischen Systems soll der in ihm vorhandenen Pluralismus gerade erhalten werden. Auch in der Normstruktur der Verfassung spiegelt sich ihr Rahmencharakter: In dem, was sie ausdrücklich regelt, ist sie „kein Kodex nach Art eines vollständigen Gesetzbuchs, sondern immer und notwendigerweise fragmentarisch." 9 Sie greift „bestimmte, besonders wichtige oder umstrittene Materien heraus, um sie ausdrücklich zu regeln; sie läßt aber ebenso Vieles, was selbstverständlich scheint und gar nicht in Frage gestellt wird, ungeregelt ( . . . )." 1 0 Im Blick auf die Funktion und Integrationsleistung des BVerfG bedeutet dies: Nur in der Begrenzung der Verfassung liegt die Rechtfertigung dafür, daß höchstrichterliche Spruchtätigkeit mit Letztentscheidungscharakter sich auch im Rahmen pluralistischer Vielfalt von politischen, ethischen und sittlichen Werten und Wertungen gegen demokratische Mehrheiten durchsetzen kann und so ihre staatliche Befriedungsfunktion erfüllt. Der unmittelbare Integrationsgehalt der Verfassung der Verfassung konstatiert wird, daß sie als solche ihre Einheit in einem Begriff nicht zustandebringen. Auch Böckenförde nimmt seinen Ausgang „von der Verfassung selbst", ohne nur an Einzelregelungen orientiert, nach dem Muster des Gesetzes argumentieren zu können. Aber dies dient der Herausarbeitung und dem Ernstnehmen konkreter normativer Verfassungsbestimmungen und damit der Begründung ihrer Normativität, und nicht der Rechtfertigung politischer Dezision wie bei C. Schmitt. Böckenförde ist - nicht nur in dieser Hinsicht nicht von C. Schmitt her zu begreifen. 4 Vgl. SVD 86 und 198. 5 SVD 48. ^ SVD 50. 7 Im Gegensatz etwa zum oben als Element expansiver Verfassungstheorie dargestellten Verfassungspatriotismus.Vgl. dazu oben B.III.2. « Ebd. 9 Böckenförde, 1966 b,S. 35. «o Ebd.
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C. Die limitierende Verfassungstheorie Böckenfördes
und damit ihre spezifische Normativität liegt somit für Böckenförde nur in ihren basalen Grundbestimmungen begründet. Die Rahmenvorstellung der Verfassung bezeichnet damit nur eine Erhaltungs- und Friedensordnung. 11 Der dabei mitschwingende Rechtsbegriff hat zwar einen Gerechtigkeitsbezug, indem ihre gesellschaftliche Geltung auch für Böckenförde auf ethischen Rechtsgrundsätzen beruht, die die Legitimität und sittliche Verpflichtungskraft des Rechtes im Bewußtsein der Gesellschaft begründen. 12 Verfassungsrecht erfährt seine Bestimmung aber nicht von dem Gedanken der Gerechtigkeit, sondern von seiner äußeren Durchsetzbarkeit und seiner relativ selbständigen Funktion und Struktur her. Ethische Rechtsgrundsätze werden daher als bleibend vor-positiv bezeichnet und können für Böckenförde nur zur allgemeinen Orientierung des positiven Rechtes beitragen. 13 Die Konkretisierungskompetenz dieser allgemeinen Orientierung wird von der Frage nach der Verfassungsgeltung entkoppelt. Gerade deshalb aber kann die Verfassung als Rechtstext in Anspruch genommen werden, wenn ein einheitliches Wollen auf dem Wege der Einsicht bzw. der Vernunft oder des „besseren" Argumentes der „guten Gründe" im politischen Diskurs gescheitert ist und Verfassung in ihrer Normativität gerade gegen geltend gemachte Überzeugungen und Argumente durchgesetzt werden muß. 14 Folgt man Böckenförde soweit, ergibt sich daraus, daß die Normativität der Verfassung in Bezug auf die Gesellschaft von vornherein nur als eine beschränkte vorgestellt wird, gerade um die Pluralität der Gesellschaft nicht aufzuheben, sondern diese in ihrem Unterschied zu sich selbst als freie Gesellschaft zu erhalten. Diese limitierende Idee der Verfassung entlastet andererseits auch die Verfassungsinterpretation: Was auf der Ebene der heterogenen gesellschaftlichen Ordnungsvorstellungen unmöglich erscheint, so kann man Böckenforde verstehen, nämlich ein Konsens über die „richtige" Ordnung, braucht auf der Ebene der Verfassungsinterpretation vom BVerfG als deus ex machina nicht auf einmal für möglich gehalten und suggeriert zu werden. In ihrem begrenzten, zu der Gerichtsförmigkeit des BVerfG passenden und interpretativ zu bewältigenden Bereich aber behält die Verfassung Befriedungsfunktion für die Gesellschaft. Ist die Verfassung als Rahmenordnung „notwendig fragmentarisch", fragt sich gleichwohl, ob das, was sie ungeregelt läßt, im Rahmen limitierender Verfassungstheorie ohne Bedeutung bleibt. Dies ist in dem Maße nicht der Fall, in dem hinter den ausdrücklichen Verfassungsbestimmungen reale staatliche und gesellschaftliche Gegebenheiten vorausgesetzt werden. Die Voraussetzungen der geltenden Verfassung haben daher einen eigenen Ort in der limitierenden Verfassungstheorie Böckenfördes. 15 » Vgl. Böckenförde, 1994, S. 89. 12 Ebd. Für die Verwaltungsgrundsätze in diesem Sinne vgl. Hardt, 1971. 13 SVD 110. Anders als die Grundrechte, wenn sie als Grundsatznormen oder Rechtsprinzipien aufgefaßt werden. Vgl. dazu oben, Kapitel B.II.2. 14 Vgl. Böckenförde, 1994, S. 94.
I. Allgemeiner Teil
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b) Die Voraussetzungen der Verfassung Die Voraussetzungen der Verfassung sind von den durch die Positivierung der Verfassung getroffenen Entscheidungen zu unterscheiden. Ihre verfassungstheoretische Erarbeitung kann jedoch diese Entscheidungen in ihrer selektiven Positivität als ihnen zwar zugeordnete aber auch von ihnen unterscheidbare Gehalte relativ spezifischer Anordnung erkennbar machen. Insofern sind sie nicht Inhalt der Verfassung als Rechtstext mit festgelegter Konkretisierungskompetenz, sondern eben dessen Voraussetzung.16 Die jeweiligen Materien dieser Lehre von den Voraussetzungen der Verfassung hat die Verfassungsinterpretation als „Bestandteil der verfassungsmäßigen Ordnung in einem materiellen Sinn" 17 zu berücksichtigen. Für die Frage etwa, wie positive und negative Bekenntnisfreiheit (aus Art. 4 Abs. 1 GG) im Schulbereich (vgl. Art. 7 GG) zu beurteilen sind, kann es sich als interpretationserheblich erweisen, ob die Verfassung selbst eine weitgehend staatliche Schulorganisation voraussetzt oder vielmehr ein stärker von der Privatschule geprägtes Bildungssystem.18 Man kann die für Böckenfördes limitierende Verfassungstheorie wesentlichen Voraussetzungen der Verfassung anhand der Entwicklung der Begriffe „Staat", „Nation" und „Verfassungsgebende Gewalt" nachweisen.
aa) Der Staat als Voraussetzung der Verfassung Im Unterschied zur expansiven Verfassungstheorie ist systematisches Paradigma der Verfassung nicht „die Gesellschaft", sondern der von der Gesellschaft zu unterscheidende Staat als systematisch begrenzendes Moment. Staat ist gleichwohl bei Böckenförde ein mit vielen Konnotationen besetzter auf die Offenheit und geschichtliche Beweglichkeit des Staates weisender Begriff. 19 Dementsprechend 15
Vgl. zu der Argumentationsfigur der Voraussetzungen (nicht der Verfassung, aber) des Staates Krüger 1966, S. 62 ff. Auch aus der rechtssoziologischen Perspektive der Systemtheorie Luhmanns ist die verfassungstheoretische Argumentation mit Voraussetzungen der Verfassung nicht ungewöhnlich: Nach ihm setzt die Entscheidung von Wertkonflikten zwischen Werten, die in der Verfassung ohne eine Regel für ihre Entscheidung lediglich angedeutet werden, ein funktionierendes Rechtssystem gerade voraus. Vgl. Luhmann, 1993, S. 96 f. Er sieht darin allerdings keinen Verweis auch auf außerhalb des Rechtssystems begründet. Anders noch Luhmann, 1973 a, vor seinem Übergang vom Denken auf der Basis umweltoffener Systeme zu selbstreferentiellen, autopoietischen Systemen. Vgl. zu diesem Übergang Luhmann, 1984, S. 15 f. und, direkt auf das Rechtssystem angewandt, Luhmann, 1988, S. 11 if. Vgl. zur Rolle der Systemtheorie für die Verfassungstheorie auch unten B.I.3. und B.III., sowie D.IV. 16 Vgl. etwa SVD 23. π Böckenförde, 1966 b, S. 35. is Ebd. 19
Vgl. zu dem Begriff der offenen Staatlichkeit bei Böckenförde und seinen europäischen und europarechtlichen Bezügen, Beutler, 1995, S. 109 ff. ( 117). Die geschichtliche Beweg-
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wird der Begriff des Staates als Element limitierender Verfassungstheorie hier unter verschiedenen Aspekten dargestellt.
(1) Der Staat und die Verfassung als Gesamtregelung Der Staat ist zunächst deshalb für den limitierenden Verfassungsbegriff konstitutiv, weil erst durch die Herausbildung einer einheitlichen Staatsgewalt und der ihr zugeordneten freien Gesellschaft Verfassung überhaupt den Charakter einer Gesamtregelung erhält. 20 Limitierende Verfassungstheorie braucht also den für sie charakteristischen Staatsbezug der Verfassung zunächst dazu, um zu erklären, warum es angesichts von im hohen Maße unüberschaubaren Zeiträumen der Verfassungsgeltung und sachlichen Komplexität der betroffenen Bereiche überhaupt noch eine Gesamtregelung geben kann. Verfassung in diesem Sinne setzt „die Ausbildung der einheitlichen Staatsgewalt als umfassender politischer Herrschaftsund Entscheidungsgewalt" und damit eine spezifische, in der vormals politischen Gesellschaft nicht gekannte Konzentration und Generalisierung von Gewaltverhältnissen voraus, 21 die die Rechtsform der Verfassung als historisch-politische Errungenschaft erst notwendig und sinnvoll macht. Der von der Gesellschaft zu unterscheidende Staat begründet Verfassung als seine genuine Rechtsform also spezifisch. Ohne Staat keine Verfassung im heutigen Sinn. Gegenüber expansiver Verfassungstheorie erscheint Verfassung bei Böckenförde ihrem Begriffe nach deshalb nur als „Gesamtregelung und -entscheidung über die Organisation und Ausübung politischer Entscheidungs- und Herrschaftsgewalt." 22 Die mit dem Staat verbundene Konzentration von Gewaltverhältnissen, wie sie etwa im Begriff des Gewaltmonopols des Staates zum Ausdruck gelangt, ergibt die notwendige Begrenzungsfunktion der Verfassung und begründet ihre limitierende Interpretation ursprünglich, und d. h., über den historischen Entstehungszusammenhang von Verfassungen hinaus, begrifflich. Erst der Grad und die Qualität von Gewalt, die man als staatliche Gewalt bezeichnen kann, bedarf der Verfassung. Die Interpretation der Grundrechte nur als Abwehrrechte gegen den Staat hat hierin ihren verfassungsund staatstheoretischen Grund. Den Staat als Voraussetzung der Verfassung zu begreifen, hindert Böckenförde nicht, zu erkennen, daß der neuzeitliche Staat als politische Ordnungsform fragwürdig geworden ist. Gleichwohl ist er noch nicht durch eine erkennbare andere Ordnungsform ersetzt worden und daher nach wie vor verbindlicher Ausgangspunkt verfassungstheoretischer Begriffsbildung. 23 Exlichkeit des Staates findet in Herbert Krügers Staatslehre eine Entsprechung in der Betonung der Aktivität des Staates als wesentlichem Begriffsmerkmal moderner Staatlichkeit. Vgl. Krüger, 1966, S. 62 ff. (§ 9). 20 SVD 33. 21 SVD 33 und RSF 213. 22 SVD 30. 23 Vgl. Böckenförde, 1968, S. 423.
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pansive Verfassungstheorie könnte argumentieren, daß der Staat seinen Schrecken verloren habe und die Macht innerhalb der Gesellschaft doch als intensiver erfahrbare und alltäglichere Gewalt zu begreifen sei, der die nur auf den Staat bezogenen Verfassung gar nicht beikommen könne. 24 Dieses soziologische Argument der expansiven Verfassungstheorie nimmt Böckenförde indirekt auf, indem er den Staat als organisierte Wirkeinheit soziologisch und funktional auf die Gesellschaft bezogen begreift, ohne seine relative Selbständigkeit gegenüber der Gesellschaft zu vernachlässigen.
(2) Der Staat als organisierte Wirkeinheit Böckenförde denkt die Konzentration politischer Herrschafts- und Entscheidungsgewalt wegen seiner über die Entstehungszusammenhänge des Staates hinausweisenden Bedeutung auch organisationstheoretisch. Staat wird begriffen als organisatorische und für die Gesellschaft funktionale Verselbständigung, als organisierte Wirkeinheit. 25 Die relative Herauslösung des Staates aus gesellschaftlicher Unmittelbarkeit und die Auffassung des Staates als Organisation wird wie folgt begründet 26 : „Als organisierte Wirkeinheit entsteht und besteht der Staat dadurch, daß einzelmenschliches Wirken durch leitende Organe zusammengefaßt, einheitlich gelenkt bzw. ausgerichtet und aktualisiert wird." 2 7 Dazu bedürfen sie einer regelgeforderten Ordnung, anhand deren sich die staatliche Einheit im Handeln stabilisiert und erhält. Nur dadurch lasse sich die von den leitenden Organen initiierte und bewirkte potentielle Einheit in eine wirkliche und kontinuierliche überführen. 28 Verfassung erscheint hier als grundlegendes Regelmodell des Staates. Danach ist der Staat als Voraussetzung der Verfassung und als gesellschaftsbezogene Wirklichkeit weder nur subjektive Erlebniseinheit, die lediglich gedanklich, in der subjektiven Vorstellung einzelner vorhanden ist, noch eine außersubjektive, von den Individuen losgelöste, für sich seiende Realität, sondern Organisation und Organisationsvorgang. Durch diesen organisationssoziologischen Staatsbegriff ist es Böckenförde möglich, die Staatsfunktionen, die im Folgenden thematisiert werden, im Rahmen seiner limitierenden Verfassungstheorie als Leistungen und aktive Gestaltungsmomente des Staates zu beschreiben. Den Staat lediglich als juristische Person zu begreifen, könnte seine Funktionalität im Rahmen von gesellschaftlichen Differenzierungprozessen und damit die realen Leistungen des Staates als Voraussetzungen der Verfassung in der und für die Gesellschaft nicht erklären.
24 Vgl. oben B.III. 1. und näher unten D.IV.l. 25 SVD 20, 346; RSF 219 ff.
Ebd. 27 RSF 219. 4 Manterfeld
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(3) Staatsfunktionen Der Staat nimmt für die Gesellschaft „notwendige, ihren Bestand bedingende Erhaltungs-, Sicherungs- und auch Veränderungsfunktionen wahr, indem er Verfahren und Instanzen zur friedlichen Konfliktregelung bereitstellt ( . . . ) , indem er durch Gesetze die Rahmenordnung festlegt und garantiert, innerhalb deren die freie, staatlich nicht gelenkte Tätigkeit und Entfaltung der Gesellschaft sich abspielen kann ( . . . ) " . 2 9 Darin verwirklicht er seine spezifischen Staatszwecke. Die im Rahmen expansiver Verfassungstheorie in den objektiven Grundrechtsdimensionen verankerten Freiheitsgehalte wie Sicherheit, Schutz, Leistung etc. 30 werden von Böckenförde also als Staatszielfunktionen oder als Staatszwecke unabhängig von der Grundrechtsinterpretation begriffen. Mit ihnen wird die Integrationsfunktion des Staates als Organisation bezeichnet, weil es sich um elementare, für das Zusammenleben unabdingbare Gestaltungsziele handelt, die Voraussetzung für das Funktionieren pluralistischer Gesellschaft sind. Ohne innere wie äußere Sicherheit etwa, ohne die Leistung von wesentlichen Infrastruktureinrichtungen, kann sich auch eine pluralistische Gesellschaft nicht entfalten. 31 Ein über die genannten elementaren Zwecke hinausgehender rechtlich verbindlicher Verfassungsinhalt wird mit diesen Elementar- und Zielbestimmungen von Böckenförde aber nicht verbunden. (a) Das Gesetz als Vermittlung
der Freiheit
Die wesentliche Integrationsarbeit des Staates als Organisation geschieht über das Medium des Gesetzes als Vermittlungsleistung. Nur darin kann der formelle Abgrenzungscharakter des Rechtes überwunden werden, ohne die ihm zugrundeliegenden differenzierten Vermittlungsverhältnisse zu überspringen. Die Vermittlungsleistung des Gesetzes kann sich für Böckenförde so ausdrücken, daß ethischsittliche Gehalte im Gesetzgebungsprozeß in die Rechtsordnung transformiert werden. 32 Aber es gilt auch hier: „Ethisch-sittliche Gehalte vernünftigen Lebensvollzuges gehen in die Rechtsordnung ( . . . ) nur insoweit ein, als sie auf die Sicherung der Bedingungen äußeren Zusammenlebens nach Maßgabe der menschlichen Bedürfnisnatur bezogen sind. Leben, Sicherheit, persönliche Ehre, äußere Freiheit und Eigentum sind das, was die Rechtsordnung gewährleistet." 33 Eine diese äußere Allgemeinheit" des Staates überschreitende Allgemeinheit ist erst in der allgemeinen Beteiligung an der Gesetzgebung erreicht, worin das „Recht über die bloße
28 Böckenförde, 1973 S. 271 ff. 29 RSF220. 30 S.o. Kapitel B.2.1.2. 31 Böckenförde, 1980, S. 323. 32 Vgl. etwa RSF 48. 33 RSF 61.
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Begrenzungsfunktion hinausgelangt."34 Ohne ein sittliches Bewußtsein von Freiheit im Staatsvolk ist diese Überschreitung nicht möglich, gerade dieses aber ist für Böckenförde nicht durch Recht und insbesondere nicht durch eine expansiv gedeutete Verfassung zu ersetzen. Die auf der Ebene der Verfassung in ihrer direkten Wirksamkeit für die Organisation gesellschaftlicher Freiheit verlorenen objektivrechtlichen, ethischen und politischen Ordnungsvorstellungen werden damit also nicht unterschlagen, sondern dem einfachen Gesetzgeber und dem in der Gesetzgebung stattfindenden Vermittlungsprozeß zugeordnet, gerade weil sie dort nicht, wie auf der Verfassungsebene, unmittelbare rechtliche Geltung in Anspruch nehmen können und müssen. Der demokratisch legitimierte Gesetzgeber „behält insoweit die Aufgabe der originären Umsetzung ethischer und politischer Prinzipien (Rechtsgrundsätze i.S. Hermann Hellers) in vollzugsfähiges Recht" 35 . Die prinzipiellen, ihre Legitimität verbürgenden Gehalte der Rechtsordnung werden also nicht verdrängt und das Rechtssystem dadurch nicht etwa insgesamt weniger legitim, wenn Verfassung limitierend verstanden wird. Legitimität ist für Böckenförde nur in doppelter Hinsicht mit Autonomie verbunden: Mit moralisch-sittlicher und demokratischer Selbstverantwortung, die die Konkretisierungskompetenz für die Prinzipienorientierung im Rechtssystem nicht verfassungsrechtlich aus der Hand gibt. Böckenförde betont darüber hinaus gegen expansive Verfassungstheorie die materiale Eigenbedeutung gerade der Formalität rechtlicher Garantien. Schutz und Abwehrmöglichkeit vor unmittelbarem Zugriff auf einzelne oder gesellschaftliche Gruppen im Namen absolut gesetzter objektiver Werte oder ethisch-moralisch aufgeladenen Rechts sei gerade in seiner Formalität aufrechtzuerhalten. 36 Die richtige Gesinnung etwa dürfe nicht an die Stelle der äußerlich überprüfbaren Verhaltensgewähr treten. 37 Der Zugriff auf subjektive und gesellschaftliche Freiheit nehme 34 RSF 48. 35 SVD 194. Bei Hermann Heller, an dessen Staatslehre Böckenförde sich hier orientiert (stärker als an der Verfassungslehre C. Schmitts, die Mehring zum fast alleinigen Ausgangspunkt für das Verständnis der Schriften Böckenfördes machen will, vgl. Mehring, 1992, S. 449 ff. Zu signifikanten Unterschieden zu Schmitt oben Fn. 3), finden wir die Unterscheidung von zur sittlichen Legitimation des Rechts offenen Rechtsgrundsätzen und positivem Recht anhand folgender Kriterien vorgenommen: Prinzipien bzw. ethische Rechtsgrundsätze sind „durch den Mangel an Rechtssicherheit oder Rechtsgewißheit" gekennzeichnet. Diese Gewißheit wiederum wird einerseits in der „Sinngewißheit und Entschiedenheit des Norminhaltes, andererseits in der Gewißheit seiner Vollstreckung" gesehen. Dementsprechend geben Rechtsgrundsätze „nur die allgemeinen Richtlinien an, aufgrund derer der Rechtszustand unter den Rechtsgenossen hergestellt werden soll; eine Entscheidung für den konkreten Fall geben sie nicht. Dazu fehlt es ihnen noch an Entschiedenheit, d. h. es bedarf immer erst einer Entscheidung darüber, was in dieser zeitlich, örtlich und persönlich bestimmten Interessenlage jenen Grundsätzen entsprechend rechtens sein soll." Vgl. Heller, 1971, S. 252. Vgl. zu der entsprechenden Unterscheidung von Regeln und Prinzipien im Rahmen der Grundrechtstheorie oben Kapitel Β.Π.2., Fn. 114. 36 RSF 166. 37 S V D 277 ff.
4*
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nämlich in einer entwickelten Rechtsordnung nicht selten die Form der Herrschaft derjenigen an, „die das Interpretationsmonopol für diese Postulate oder Werte innehaben."38 Damit beschreibt Böckenförde eine Gefährdung für Selbstbestimmung als individuelle und gesellschaftliche Autonomie. 39 Er sieht die Gefahr, die Trennung von Recht und Moralität rechtspraktisch aufzuheben und damit die Allgemeinheit des Rechtes als Bedingung der Möglichkeit von Freiheit gewährleistender Ordnung zu gefährden. Die Wendung zum materialen Rechtsstaatsbegriff 40, der im Nachkriegsdeutschland nach nationalsozialistischer Machtherrschaft verspürte erhöhte Bedarf verfassungsrechtlicher Legitimation 41 und der Versuch, in Verfahrensregeln eine „substantielle Verankerung" subjektiver Freiheit zu erblicken, 42 erscheinen von dieser Warte aus als Unterschätzung der Eigenbedeutung von formalen rechtlichen Garantien. 43 (b) Die Verfassung als Form der Freiheit Verfassung als auf den im obigen Sinne verstandenen Staat bezogen, stellt also einerseits die regelgeforderte Ordnung der Staatsorganisation dar und kann, um die Grenzen staatlicher Integration und damit die gesellschaftliche Freiheit zu befestigen, Grundrechte gegen den Staat festsetzen. Für eine darüber hinausgehende Integration der Gesellschaft ist sie, für sich genommen, ungeeignet. Gleiches gilt für ein die Verfassung interpretierendes Verfassungsgericht, das innerhalb der Staatsfunktionen für Böckenförde streng der an die solchermaßen begrenzten Verfassung gebundenen rechtsprechenden Gewalt zuzuordnen ist. Verfassung ist ihrem Begriffe nach also nur die Form der Freiheit. Zu der Begrenztheit des Verfassungsrechts gehört daher auch die Ausblendung der komplexen sozialen Lebensgrundlage für die Realisierung von Freiheitsrechten auf der Grundrechtsebene der Verfassung. 44 Das „Allgemeine der staatlichen Ordnung ist ( . . . ) nur die Möglichkeit, eben die Freiheit von Religion, Bildung und Kunst", Meinungsäußerung, Eigentum, Bildung von Vereinigungen usw. zu ergreifen, und der Staat ist nur dazu da, durch die in diesem eingeschränkten Sinne allgemeine Verfassung zu gewährleisten, daß diese Möglichkeiten im subjektiv-rechtlichen Sinne frei und gleich zu ergreifen 38 RSF 82. 39 RSF 166 f. 40 RSF 166. SVD 161 f. 42 RSF 63. 43 RSF 164. Anders etwa Grimm 1980, S. 704. Insofern drückt die expansive Verfassungstheorie durch ihren Wertbezug gerade keinen Rationalitätsfortschritt im Rechts- und Politiksystem aus. Zur Unterscheidung von formalen und materialen Kriterien für die Rationalitätsmessung eines Rechtssystems in der Rechtssoziologie vgl. Weber, 1972, S. 44 f. und dazu Eder, 1978, S. 247 ff. sowie Brugger, 1994, S. 3 Fn. 6. 44 SVD 149.
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sind. 45 Eine verfassungsrechtliche Vermittlung zwischen dieser rein subjektivrechtlich gedachten Freiheit mit Elementen objektiver-sozialer oder ethisch-politischer Ordnung ist in diesem Verfassungspradigma nicht enthalten.46 Den Grund für diese strukturelle Notwendigkeit und Begrenzung der verfassungsrechtlichen Freiheitsgewähr findet Böckenförde schon bei Lorenz von Stein ausgesprochen: Ist in der rechtstaatlichen Verfassung die Form der Freiheit bereits erreicht, kann die Auflösung des im Sozialen entstandenen Gegensatzes auch nur im Sozialen erreicht werden, dort also, wo er real entstanden ist und nicht unmittelbar auf Verfassungsebene.47 Dies muß gerade dann gelten, wenn die Gesellschaft im Vergleich zum Staat oder der Nation als neues Paradigma auf den Plan tritt 48 und sie den Staat zu bestimmen sucht 4 9 So gesehen ist staatliche Verfassung eine Konsequenz der gesellschaftlichen Bewegung und nicht umgekehrt. 50 Das Soziale wird dabei notwendig zum Inhalt des Politischen.51 Hat nämlich der liberale Rechtsstaat nur Sicherheit und Freiheit des Eigentums zum Gegenstand, ergibt sich bei der Herrschaft der Gesellschaft über den Staatswillen, daß die besitzende über die nicht besitzende Klasse herrscht und die Staatsgewalt in die Hände nimmt. Keine Verfassungsreform kann diesen Gegensatz beenden. Auch nicht die Demokratie als Regierungsform. Verfassung ist nämlich in diesem Prozeß kein neutrales Element mehr, und der Gegensatz im Sozialen verlagert sich in den Staat selbst. Eine Auflösung dieses Gegensatzes ist deshalb nicht in der Form der Verfassung denkbar. 52 Verfassung drückt demnach rechtlich „nur" die Form der Freiheit aus.53 Zu dieser Beschränkung der Verfassung als Form der Freiheit gehört auch, daß der neutrale Staat (und damit die diesem Staat einen rechtlichen Rahmen gebende Verfassung) die Entwicklung der Freiheit von religiösen Einheitsvorstellungen im Zuge der Säkularisierung 54, sowie einen geistig-weltanschaulichen Pluralismus 55, zur Voraussetzung hat. 56 Der Differenzierungsprozeß von Staat und Gesellschaft hat Freiheit als desintegrierendes, auf Abgrenzung zielendes Moment zum Ergebnis. Aber auch die Radikalisierung und Fortentwicklung von den sich in diesen Freiheitsgewinnen ausdrückenden Differenzierungsprozessen hat hier ihren Ort: Die individuelle und gesellschaftliche Freiheit wird von Böckenförde in ihrer zunehmend funktionalen 45 RSF 49 f; 62; 64. 46 RSF 61. 47 RSF 161. Mit Verweis auf Lorenz von Stein, Geschichte der sozialen Bewegung, Bd. 3, S. 193-195. 48 RSF 176. 49 RSF 178. 50 RSF 184. 52 53 54 55 56
RSF 193. RSF 200. RSF 200. RSF 92 ff. RSF 61 f. Vgl. RSF 58 ff.
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und inhaltlich indifferenten Ausrichtung wahrgenommen.57 Eine diese formelle und abgrenzungsorientierte Freiheitskonzeption überschreitende Konzeptualisierung von Sittlichkeit als materiales Integrationsmoment der Gesellschaft ist für Böckenförde daher nicht Aufgabe des Staates und kann sich deshalb auch nicht aus der Interpretation der vom Staat her zu begreifende Verfassung ergeben. Zwar ist der Staat als Institution der Allgemeinheit darauf angewiesen, daß innerhalb der pluralen Lebenswelten ein gewisses Maß an den Pluralismus transzendierender sittlicher Homogenität entwickelt wird, in der Freiheit nicht nur als Abgrenzung begriffen wird. 58 Andererseits kann er, um seinen Bestand zu sichern, dementsprechende Integrationsgehalte unmittelbar von sich aus, mit Mitteln des Rechtszwanges und des autoritativen Gebotes nicht initiieren. Sittlichkeit in diesem integrativen Sinne kann von Staats wegen - und sei es in Gestalt einer expansiv gedeuteten Verfassung, nicht selbst verbindlich konzipiert werden, ohne die Freiheitlichkeit des Staates aufzugeben. 59 Dies meint der zum geflügelten Wort gewordene Satz Böckenfördes, der freiheitliche, säkularisierte Staat lebe von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren könne. 60 Er kann nur die für diese Integration erforderlichen bildungsmäßigen oder organisatorischen Rahmenvoraussetzungen etwa in Gestalt öffentlicher Schulen schaffen 61 oder in seiner Staatssymbolik eine Selbstdarstellung anbieten, die eine über den Kampf politischer Gruppen hinausgehende „gemeinsam gewollte einheitliche Staatsordnung ( . . . ) sichtbar macht" 62 . Dieses gemeinsame, eine relative Homogenität des politischen Lebens ausdrückende Wollen selbst, muß der Staat voraussetzen. Die Bedeutung dieser Voraussetzung für die limitierende Verfassungstheorie Böckenfördes wird an seiner Erörterung des Nationbegriffs deutlich, mit der er sich zugleich vom Verfassungspatriotismus der expansiven Verfassungstheorie abhebt.63
57 RSF 65. 58 Böckenförde kritisiert deshalb ein Freiheitsdenken, das die Freiheit des anderen nur als Begrenzung der eigenen Freiheit ansieht, vgl. RSF 48. Insofern besteht durchaus eine Nähe Böckenfördes zu Suhrs „neuem Paradigma" der „Freiheit durch Geselligkeit". Vgl. Suhr, 1984, S. 534 ff. Böckenförde folgt daher keineswegs einem eindimensional auf Abgrenzung zielenden, verkürzten Freiheitsbegriff, nur weil er die Mehrdimensionalität der Freiheit innerhalb des Rechtssystems nicht in der objektiv-rechtlichen Dimension der Grundrechte verankert sieht. Vgl. in dieser Hinsicht kritisch zu Böckenförde Trute, 1994, S. 251. 59 RSF 113. 60 RSF 67 ff.; 112. Damit betont Böckenförde den Wagnischarakter der Freiheit, wie Wenzel ihn aus Böckenfördes Schriften in philosophischer Perspektive treffend herausgearbeitet hat. Vgl. Wenzel, 1993. 61
Vgl. zu dieser Bejahung der Integrationsfunktion des Staates durch Böckenförde, ders., 1980a, S. 323. 62 Vgl. dazu Böckenförde, 1975, S. 123. Auch der Verweis auf Symbolik ist hier streng auf Staatsdarstellung begrenzt und wird nicht zu einer symbolischen Rechtstexttheorie ausgeweitet. Vgl. zum Zusammenhang von Topik und Symboltheorie im Rahmen expansiver Verfassungstheorie oben Kapitel B.I.l.a). 63 S. o. Kapitel B.III.2.
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bb) Die Nation als Voraussetzung der Verfassung Für Böckenförde reflektieren sich im Begriff der Nation Integrationsmomente des politischen Zusammenlebens, die er von den in die Verfassung hineingelesenen universal-materialen Einheitsbegründungen unterscheidet.64 Sie begründen die Integrationsfunktion der Verfassung allererst, und sie liegen ihr somit voraus. Im Nationbegriff erkennt man bei Böckenförde zugleich ein politisch-kulturelles Handlungsmoment als Element limitierender Verfassungstheorie, das kategorial von der Interpretation eines Rechtstextes unterschieden ist und die damit begründete Eigenständigkeit gegenüber der Verfassung begründet. Der Verfassungspatriotismus wie er oben als Element expansiver Verfassungstheorie nachgewiesen wurde 65 , konnte das mit Hilfe einer expansiv gedeuteten Verfassung nur solange verbergen, wie die Teilung Deutschlands dazu die historisch-politische Gelegenheit bot. Nach 1989 aber kann, Böckenförde zufolge, der „Rückgriff auf die Nation, solange eine solche besteht, auf das in ihr enthaltene, emotional bindungsfähige Wir-Bewußtsein" nicht umgangen werden. 66 Die limitierende Verfassungstheorie Böckenfördes entlastet also die Verfassung von der übermäßigen, der Verfassung selbst nicht angemessenen und allenfalls historisch kontingenten Funktion, politisches Selbstbewußtsein und daraus begründete politische Verantwortlichkeit einer Nation zu ersetzen.67 Die damit begründete Verlagerung verfassungstheoretischer Begriffselemente kann an Böckenfördes Entwicklung des Nationbegriffes verfolgt werden. In den historisch und in ihrem Staatsbezug sehr verschiedenen konkreten Ausprägungen von Nationalbewußtsein bestimmt Böckenförde den allgemeinen Begriff der Nation als ein politisch orientiertes Wir-Bewußtsein, das durch einen gemeinsamen Handlungswillen verknüpft ist. 68 Den Schwerpunkt legt er dabei auf die Differenz der verschiedenen historischen Ausprägungen dieses gemeinsamen Wir-Bewußtseins. An dieser Verschiedenheit zeigt er auf, „daß die konstituierenden Merkmale, die das Selbstbewußtsein einer Nation und die Zugehörigkeit zu ihr bestimmen, sich situationsbestimmt und konstellationsabhängig gebildet haben" und nicht etwa „einem präexistenten Nationbegriff 4 folgen, „anhand dessen sich diese Bewußtseinsbildung vollzieht." 69 Sind die Merkmale einer Nation als konkrete historische und damit auch kontingente Erscheinung somit nicht abstrakt festlegbar, konstatiert Böckenförde gleichwohl: „Hat sich aber ein nationales Bewußtsein konkret herausgebildet, tritt regelmäßig eine Verfestigung ein. Es verbreitet sich über die führende Schicht oder die Bildungselite hinaus, die diese nationale Identität zunächst behauptete und propagierte, faßt bei den Menschen insgesamt 64
Vgl. zu dieser Gegenüberstellung, SVD 50. Zur Problematik der verspäteten Entwicklung des Nationalbewußtseins in Deutschland, vgl. Plessner, 1959. « Vgl. oben Kapitel B.III.2. 66 Böckenförde, 1995b S. 2 Spalte 4. 67 Siehe, dazu oben Kapitel B.III.2. 68 Böckenförde, 1995b S. 1 Sp. 2. 69 A. a. O. S. 1 Sp. 6.
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C. Die limitierende Verfassungstheorie Böckenfördes
Wurzeln und gewinnt so eine eigene Entität." 70 Insbesondere über die Schule als Vermittlungsinstitution bilde sich „ein kollektives Bewußtsein und kollektives Gedächtnis, das zu einer sich forttragenden, quasi selbsttragenden Kraft wird. Dieses Gedächtnis bringt eine notwendig - blickverengte - Wahrnehmung und Interpretation der eigenen Geschichte hervor", die zu Nationalgeschichte werde und „die die Identitätsbehauptung der Nation stützt und legitimiert" oder „in historischer Projektion herstellt und so dem kollektiven Gedächtnis einprägt." 71 Insofern wird die Nation von Böckenförde begriffen als „eine Identität, die in sich bewegt ist" , die sich in Differenz ausforme aber auch wieder rückgeholt werden könne.72 Das voluntative Moment in diesem Nationbegriff ist für Böckenförde dabei aber nicht ausschlaggebend, vielmehr bedarf es einer „tragenden politischen Idee, verknüpft auch mit emotional bindenden großen Geschehnissen, die sich dem kollektiven Gedächtnis einbilden." 73 Diese Idee hätte in Deutschland 1989 nicht „ihre Kulmination in einer gemeinsamen Verfassungsgebung, der darin liegenden konstituierenden Kraft gefunden, verbunden mit dem politisch induzierten Aufbruch zu Opferbereitschaft und Lastenteilung."74 Verfassung erscheint hier also als Endpunkt und Ausdruck einer vorverfassungsmäßigen integrierenden Kraft und historischen Bewegung, nicht als Ersatz für ein desavouiertes politisches Selbstbewußtsein einer Nation als Staatsvolk. Das Volk aber als Träger dieses Bewußtseins wird gerade deshalb nicht zu einer pluralistischen Größe. Pluralismus und Differenzierung sozialer Verhältnisse in modernen Gesellschaften seien, sollen diese handlungsfähig bleiben, im Gegenteil gerade davon abhängig, daß Integration über ein gemeinsames, relative Homogenität ausdrückendes Kultur- und Politikbewußtsein geleistet wird. Deshalb könne „es nicht das Ziel sein, nationale Identität zu überholen und zu ersetzen, auch nicht zugunsten eines menschenrechtlichen Universalismus", sondern es könne lediglich darum gehen, auch das Integrationsmoment der Nation wiederum im Blick auf die Offenheit der Nationen für einen Teil eines größeren Ganzen zu betrachten. 75
70 A. a. O. S. 1 Sp. 6. 71 A. a. O. S. 2 Sp. 1. 72 A. a. O. S. 2 Sp. 2. 73 Ebd. Das Beispiel Frankreichs scheint nur das Gegenteil zu bedeuten: Es zeige, so Bökkenförde, wie ein politisch willentliches Nationalkonzept „auf einem unproblematischen Verhältnis zur eigenen politischen Geschichte und auf dem Glauben an die Assimilierungskraft des territorialen Staates und seiner Institutionen, nicht zuletzt der staatliche gelenkten Schule" beruhe. Voraussetzungen, die über einen bloßen Willensakt hinausgehen und die im übrigen beide etwa in Deutschland nicht gegeben waren und sind. 74 Böckenförde, 1995b S. 2 Sp. 2 f. 75 Ebd. und zur entsprechenden Offenheit des Staatsbegriffs bei Böckenförde, Beutler, 1995, S. 117 und oben Fn. 19.
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cc) Die verfassungsgebende
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Gewalt als Voraussetzung der Verfassung
Mit der Thematisierung der verfassungsgebenden Gewalt stellt Böckenförde vielleicht die verfassungstheoretisch genuine Frage nach den Voraussetzungen der Verfassung. 76 Wird doch unter dieser Überschrift nach einer der Setzung der Verfassung geschichtlich, legitimatorisch, wie begrifflich vorausliegenden, sich nicht aus der Verfassungsinterpretation selbst ergebenden Größe gefragt. Es handelt sich somit um einen „Grenzbegriff des Verfassungsrechtes" 77, der die Grenzen der Verfassung in ihrem Ursprung deutlich werden läßt: Verfassung gilt nicht fraglos, ist nicht in sich legitim, sondern muß, gerade wegen der ihr mit dem Staat vorausliegenden Gewaltverhältnisse, selbst durch eine ihr vorgängige reale Gewalt gerechtfertigt werden. Böckenförde bestimmt diese Legitimationsgröße weder rein normativ noch rein historisch-faktisch, wenn er im Blick auf die verfassungsgebende Gewalt ausführt, die Verfassung leite ihren „Geltungsanspruch und ihre besondere rechtliche Qualität,(... ) wenn nicht aus dem bloßen Faktum ihrer Entstehung, von einer ihr vorausliegenden Größe her, die sich als besondere Macht oder Autorität darstellt". 78 Die hypothetische Annahme einer Grundnorm reicht, als lediglich normative Bestimmung, nicht zur Begründung der Legitimität der Verfassung aus, weil Verfassung, auf der höchsten Stufe der Rechtsordnung, im Unterschied zum einfachen Gesetzesrecht, ihre Legitimation jedenfalls nicht durch „Rückführung von Recht auf Recht" 79 erhalten kann. Aber auch der Weg eines darüberhinausgehenden philosophischen Postulates einer allgemeinverbindlichen ideellen Legitimation der Verfassung ist verschlossen.80 Dies insbesondere deshalb, weil der Begriff der verfassungsgebenden Gewalt „nach seinem Ursprung und Inhalt nämlich ein demokratischer und revolutionärer Begriff* 81 ist und damit die Voraussetzungen für eine allgemeinverbindliche naturrechtliche oder normativ ideelle Legitimation der Verfassung notwendig fraglich, weil verfügbar und variabel sind. Die der Verfassung vorgelagerte und ihre Legitimation und fortdauernde Geltung begründende Macht und Autorität ist vielmehr „das Volk im politischen Sinn ( . . . ) d. h. die politisch sich zusammenfindende und abgrenzende Gruppe von Menschen, die sich ihrer selbst als politische Größe bewußt ist und als solche handelnd in die Geschichte eintritt." 82 Erst diese reale Macht und Autorität leistet die die Verfassungsgeltung begründende „Verknüpfung von Faktischem und Normativ-Legitimierendem", die für Böckenförde schon deshalb erforderlich ist, weil „Gerechtigkeits- und Richtigkeitsvorstellungen, (sowie) politische Ordnungsideen ( . . . ) (ihre) 76 SVD 92. 77 SVD 90 f. 78 SVD 91. 79 SVD 91. 80 So Böckenförde in Abgrenzung zu Kelsen und in Abgrenzung zur Legitimation der Verfassung von materialen Gerechtigkeitsvorstellungen, SVD 92 f. 81 SVD 94. 82 SVD 96.
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Gestaltungs- und Legitimationskraft für das Zusammenleben der Menschen erst dann" gewinnen, „wenn sie von Menschen oder Menschengruppen als lebendige Überzeugung bestätigt werden und sich in einer politischen Kraft als ihrem Träger verkörpern." 83 Der Begriff des Volkes wird hierbei von Böckenförde aber nicht als pluralistische Größe gefaßt 84, sondern als Staatsvolk85, insofern auch eine bestimmte Gruppe oder Schicht in einem Volk als Träger der verfassungsgebenden Gewalt in Betracht kommt, wenn sie erfolgreich als Repräsentant der Nation aufzutreten vermag. 86 Dem so begriffenen Volk kommt im Akt der Verfassungsgebung die „volle Verfügungsmacht über die Gestaltung der politisch-sozialen Ordnung" 87 zu, die aus der Perspektive des politischen Systems eine Selbstfestlegung bedeutet. Böckenförde bestimmt den Begriff der verfassungsgebenden Gewalt demnach als „die dem Volk (im Sinne einer vorverfassungsmäßigen Kompetenz) zukommende Kraft und Autorität, die Verfassung in ihrem normativen Geltungsanspruch hervorzubringen, zu tragen und aufzuheben." 88 Seine Verfassungstheorie tritt damit als im Kern demokratische Verfassungstheorie auf. Die Erfahrung der verbrecherischen Folgen ungebundenen Machtdenkens in Deutschland läßt er als Einwand gegen diese Demokratieorientierung der Verfassungstheorie nicht gelten. Zwar habe diese Entwicklung die Frage der Bindung der verfassungsgebenden Gewalt an überpositive Rechtsgrundsätze aufgeworfen. Böckenförde bezweifelt jedoch, daß solcherlei Bindung im Rahmen demokratischer Verfassungstheorie als einforderbares Recht konzipiert sein kann. Auch hier werde ja vorausgesetzt, daß die überpositiven Rechtsgrundsätze verfügbar sind. Außerdem setze schon die Fragestellung nach den der verfassungsgebenden Gewalt vorgegebenen überpositiven Rechtsgrundsätzen voraus, daß der Wille des Volkes zur Verfassungsgebung „normativ leer" sei, was Böckenförde, zugleich gegen den neukantianischen Methodendualismus gewendet, bestreitet: Geistige Ordnungsideen, ethisch sittliche Grundsätze, politische Impulse, die im Volk lebendig und gegenwärtig sind (und das bezeichnet Böckenförde als „Geist" eines Volkes) 89 , müssen vom Volk als Subjekt der verfassungsgebenden Gewalt erwartet werden. Daran führt, so könnte man fortfahren, weder das historische Scheitern, noch der Versuch, diese Leistung in eine expansiv zu deutende Verfassung hineinzuverlegen, vorbei. In diesem Geist könne eine politische Kraft durchaus einen ethisch-politischen Gestaltungswillen zum Ausdruck bringen. Er ist bestimmt vom „Willen zur Verfassung", und Verfassung wiederum meine „rechtliche Ordnung und Organisation staatlich-politischer M SVD 93. 84 So, wie Böckenförde es bei der expansiven Verfassungsinterpretation und ihrer Konzeption der offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten (Häberle) kritisierte, s. o. Kapitel B.I.2.a), S. 23 undFn. 15. 85 Entsprechend dem oben hergestellten Staatsbezug der Verfassung, s. o. C. l.I.2.a). 86 SVD 96. 87 SVD 95. 88 Vgl. SVD 295. 89 SVD 111, vgl. auch SVD 108.
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Macht" und beinhalte damit „deren Gliederung und Begrenzung." 90 Das diese verfassungsgebende Gewalt ausübende Volk ist das historische Subjekt, das seine später in hermeneutischem Zusammenhang zu thematisierende Antwort auf seine historisch-politischen Grunderfahrungen gibt. 91 In der verfassungsförmigen Entscheidung finden sie ihren formalen und positivierten Ausdruck. Die Verfassungsgebung selbst wird somit als schöpferische Reaktion des Volkes konzeptualisiert und setzt der oben dargestellten expansiven, schöpferischen Interpretation als „Konkretisierung" genau in diesem Akt der „Selbstbestimmung" Grenzen. Sie bleibt, indem sie Rechtsbindung begründet, vorrechtliche Selbstbindung.92 Die Verflüchtigung der verfassungsgebenden Gewalt des Volkes als Voraussetzung der Geltung der Verfassung kann aus dieser Perspektive Böckenfördes als Merkmal expansiver Verfassungstheorie begriffen und kritisiert werden: „Ist die verfassungsgebende Gewalt des Volkes als (auch) reale politische Größe und Kraft notwendig, um die Verfassung und ihren Geltungsanspruch zu legitimieren, so kann sie nicht, wenn sie dies getan hat, juristisch in ein Nichts verabschiedet werden". 93 Expansive Verfassungstheorie erscheint darin als interpretatorische Entmachtung der verfassungsgebenden Gewalt des Volkes. Je mehr nämlich interpretierend als Inhalt der Verfassung begriffen wird, desto weniger kann es Anlaß geben, das beunruhigende Element der verfassungsgebenden Gewalt des Volkes, an dem die limitierende Verfassungstheorie Böckenfördes als Geltungsgrund der Verfassung festhält, in Erinnerung zu rufen. 94 So kann die interpretierende Umbildung der Verfassung selbstläufig und ohne an die verfassungsgebende Gewalt rückgebunden zu werden, ungehindert fortschreiten. Ein Widerspruch der Verfassungsentwicklung zum von der verfassungsgebenden Gewalt des Volkes „gegebenen" Kerngehalt der Verfassung kann von der Basis expansiver Verfassungstheorie aus überhaupt nicht mehr sinnvoll behauptet werden. 95 Der im Begriff der verfassungsgebenden Gewalt sich ausdrückende Autonomiegedanke wird im Rahmen expansiver Verfassungstheorie im Gedanken der von Vorgaben befreiten autonomen, schöpferisch konkretisierenden Verfassungsinterpretation aufgehoben. Selbstgesetzgebung erscheint als diejenige der Verfassungsinterpreten und nicht als die einer handelnden politischen Größe, weil dieser aus fragwürdigen Gründen politisch-geschichtliche Autonomie nicht zugetraut wird. Damit aber kann auch die im Begriff der verfassungsgebenden Gewalt des Volkes begründete ursprüngliche Demokratieorientierung der Verfassungstheorie im Rahmen expansiver Verfassungs» SVD 107. Siehe dazu unten Kapitel C.I.2.C). 92 SVD 105. 93 Vgl. SVD 99. 94 SVD 99. 95 Die darin liegende Kritik kann als Hinweis auf einen jenseits der Tagespolitik liegenden, tieferen Grund für die nach dem Fall der Mauer ungeachtet revolutionsähnlicher Umstände erfolgte, die Stimme einer verfassungsgebenden Gewalt des Volkes im Keime erstikkende, „Übernahme" des Grundgesesetzes nach dem damaligen Art. 23 GG gelesen werden.
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theorie nicht durchgehalten werden. 96 Vielmehr wird durch Böckenfördes Entwicklung des Begriffs der verfassungsgebenden Gewalt des Volkes klar, daß expansive Verfassungstheorie notwendig ihren Bezug zu demokratischer Legitimation abschneidet. Es wurde nun die begriffliche und staatstheoretische Konstruktion limitierender Verfassungstheorie Böckenfördes vor Augen. Sie wirkt sich besonders deutlich in Einzelinterpretationen und verfassungsgerichtlichen Sondervoten Böckenfördes aus. Es lassen sich aber, bevor dies im Rahmen der Verfassungstheorie des Grundgesetzes verfolgt wird, gleichsam vor die Klammer gezogen, allgemeine methodische Folgerungen für die Verfassungsinterpretation ziehen. Sie betreffen insbesondere die Frage des interpretativen Positivismus bei Böckenförde.
2. Interpretativer Positivismus als methodisches Element limitierender Verfassungstheorie Im Rahmen der Darstellung von methodischen Elementen expansiver Verfassungstheorie kritisierte Böckenförde den Verlust der Orientierung an normativen Vorgaben bei der Verfassungsinterpretation. 97 Die damit verbundene Behauptung von der Interpretation vorgängigen normativen Entscheidungen wird gewöhnlich mit dem Stichwort „Positivismus" bezeichnet.98 Wie geht Böckenförde aber dann mit der von ihm selbst konstatierten „strukturellen Offenheit" der Verfassungsnormen um, die eine Entschiedenheit in dem, was sie ihren Adressaten als normativ verpflichtend aufgeben wollen, weitgehend vermissen lassen, so daß sich wegen dieser Offenheit die Abkehr vom positivistischen Methodenideal im Rahmen expansiver Verfassungstheorie nahelegte?99 Zwei Wege sind jedenfalls auch für Böckenförde ausgeschlossen: Erstens der Rückweg in den klassischen Positivismus, dessen Isolierung der Verfassung von jeglichem geistesgeschichtlichen und Politikbezug in ihrer Ideologiehaltigkeit für Böckenförde offenkundig ist. 1 0 0 Die Behauptung des normativ verbindlichen Charakters der Verfassung, das Festhalten „an ihrer Vorgegebenheit und nicht nur an ihrer Aufgegebenheit", setzt also auch für Böckenförde nicht „Isolierung und beziehungslose Trennung der Verfassung von dem ihr zugeordneten Wirklichkeitsbereich" voraus. 101 Die Darstellung der Lehre von den Voraussetzungen der Verfassung hat das schon auf der begrifflichen Ebene angedeutet.102 96 entgegen dem augenscheinlichen Demokratiebezug der „offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten" bei Häberle. Vgl. dazu oben B.I.l.b). 97 S. o. Kapitel B.I.
9R Vgl. etwa Müller, 1986 und Ott, 1992. 99 S. o. Kapitel B.I.2.a) und Fazit B. 100 SVD 25. ιοί SVD 85.
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Darüber hinaus ist aber für Böckenförde auch der Rückzug auf die am einfachen Gesetzesrecht ausgebildeten klassisch-hermeneutischen Regeln Savignys, deren alleinige Inbezugnahme für eine limitierende Verfassungsinterpretation durch Forsthoff Böckenförde als für die Verfassung nicht zutreffend kritisiert, ausgeschlossen. 103 Wollte Forsthoff die Verfassung als Gesetz begreifen und sie den für Gesetze geltenden Regeln der Auslegung unterstellen, um „die Verfassung in ihrem Sinn erweisbar und in ihrem Vollzug kontrollierbar" 104 zu machen, muß dieser Versuch, wenngleich in restriktiver verfassungstheoretischer Absicht vorgenommen, Bökkenförde zufolge, am Gegenstand der Verfassung und ihrem interpretationsmethodischen Unterschied zum einfachen Gesetzesrecht scheitern. 105 Positivistisch im klassischen Sinne kann die Position Böckenfördes also nicht sein. Böckenfördes interpretationsmethodischer Mittelweg besteht darin, in der Verfassung zu unterscheiden, wo relativ spezifische Anordnungen vorliegen, die rechtlich verbindlich sind, und wo Verfassung „offen" ist und „daher Geltung nicht beanspruchen" kann. 106 Methodenbewußte Interpretation hat diese Unterschiede bewußt zu machen und nicht durch „Konkretisierungen" zu verdecken. 107 Man kann diese Methodik als interpretativen Positivismus bezeichnen.108 Böckenförde folgt dabei dem im Rahmen der Identifikation expansiver Verfassungstheorie schon angedeuteten eingeschränkten Begriff von „Konkretisierung", der nur die Anwendung einer allgemeinen Verfassungsnorm auf einen besonderen Fall meint und darüber hinausreichende rechtsschöpferische, aktiv gestaltende Momente aus der Bedeutung für den Rechtsbegriff der Verfassung herausnimmt. 109 Darin grenzt er sich 102 S.o. Kapitel C.I.l.a). 103 SVD 56. ,04
Forsthoff, 1976a, S. 131. Forsthoff will hier also für das Grundgesetz den Typ einer rigiden, in detaillierten Regelungen sich ausdrückenden Verfassung annehmen. Im Gegensatz dazu steht der flexible Verfassungstypus. Diese Typisierung stammt von J. Bryce, Studies in History and Jurisprudence, I ( Oxford 1901) S. 196 ff., nachgewiesen bei Krüger, 1966, S. 293 Fn. 89. Nach dem Ideal der rigiden Verfassung soll der staatlichen Wirklichkeit in der Verfassung ein System fixer Normen gegenübergestellt werden, um dessen Wirklichkeit im Sinne der Verfassung festzuschreiben, flexible Verfassungstypen hingegen begnügen sich mit grundsätzlichen Erklärungen. Vgl. Krüger, a. a. O. In der neueren verfassungstheoretischen Diskussion wird das Argumentieren in den Kategorien „Rigidität" und „Flexibilität" von Verfassungen wieder aufgegriffen von Schuppert. Vgl. Schuppert, 1995. 105
SVD 56. Indem dies von Forsthoff nicht beachtet wird, muß aber auch die Absicht scheitern, der „Umbildung des Verfassungsgesetzes", deren staatsrechtliche Pointe Forsthoff wie Böckenförde im Übergang vom Rechtsstaat zum Justizstaat sehen, entgegenzuwirken. Böckenfördes Verfassungstheorie hebt darauf ab, innerhalb des GG Elemente von dessen Rigidität und Flexibilität spezifisch zu bestimmen und innerhalb einer Verfassungsurkunde voneinander zu unterscheiden. Im GG liegt insofern ein Mischtypus vor. i(*> Böckenförde, 1976, S. 2093. Vgl. zur daraus resultierenden Offenheit des Grundgesetzes, vgl. Gusy, 1984. 107 SVD 68. •o« Vgl. zur Bezeichnung der Methodik Böckenfördes als interpretativen Positivismus zuerst Brugger, 1991, S. 24.
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von expansiven Topik- und Konkretisierungskonzepten der Verfassungsmethodik ab, die der Verfassung eine ihr nicht zukommende komplexe Gesetzesfunktion 110 zuschreiben müssen, ohne dabei auf eine entsprechende Gesetzesstruktur der Verfassung zurückgreifen zu können. Drei Merkmale dieser methodischen Position lassen sich auch ohne Einzelfallbezug vorab entwickeln: Ein Regel-Prinzipien-Modell der Verfassung, das innere Grenzziehungen der Verfassung strukturell deutlich macht, die interpretationsmethodische Unterscheidung von Verfassung und Gesetz 111 , und die historisch-politische Verfassungshermeneutik Böckenfördes.
a) Das Regel-Prinzipien-Modell der Verfassung Um den interpretativen Positivismus Böckenfördes darzustellen, kann man zunächst auf seine Unterscheidungen in der Normierungstypik der Verfassung zurückgreifen. 112 Einige Normtexte begreift Böckenförde danach als bei aller Interpretationsbedürftigkeit im Einzelfall relativ spezifische und rechtlicher Vollziehbarkeit zugängliche Anordnungen. Sie haben, normtheoretisch formuliert, Regelcharakter, weil sie einer trotz Interpretationsschwierigkeiten im Einzelfall gleichwohl einfachen Sollenslogik gehorchen, etwa in der Form des Wenn-Dann Satzes.113 Dazu zählen für Böckenförde zunächst die Kompetenz- und Organisationsnormen des Grundgesetzes. 114 Sie sind entweder durch relativ deutliche Regelungsbereiche gekennzeichnet oder aber sie eröffnen von ihrem spezifischen Gegenstandsbereich her verfassungsrechtlich nicht determinierte Gestaltungsfreiräume. Der durch den Staatsbezug dieser Normen gegebene Rahmencharakter begründet hier eine relativ spezifische Anordnung, in der es um das „Innere" des Staates und seines Aufbaus, also die regelgeforderte Ordnung des Staates als organisierter Wirkeinheit geht und nicht um seine komplexe gesellschaftliche Umwelt. Hinzu kommen die Grundrechte als Abwehrrechte gegen den Staat: Wenn ein nicht gerechtfertigter Eingriff in einen als Grundrecht geschützten Bereich durch den Staat geschieht, dann folgt daraus die Verpflichtung, diesen Eingriff zu unterlassen. Die Einfachheit in der rechtlichen Struktur so verstandener Grundrechte ist in der von der Gewährleistung vorausgesetzten gesellschaftlichen Freiheit begründet, von deren komplexen Bedingungen die Verfassungsgeltung nicht abhängig gemacht werden muß. Auch Art. 20 Abs. 2 GG, nach dem das Volk die Staatsgewalt durch besondere Organe ausübt, ist ein Beispiel für diese Normtextgruppe bedeutungskla109 Vgl. dazu oben S. 21 f. (Kapitel B.I.2.a)). no SVD 81. m Diese Unterscheidung ist auf funktionell-rechtliche Argumente beziehbar, aber von ihnen unterscheidbar. 112 SVD 22. 113 Vgl. zu der Diskussion normtheoretischer Grundlegung eines Regel-Prinzipien-Modells der Grundrechte oben Kapitel B.II.2. und dort Fn. 114. ih Vgl. SVD 87.
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rer Verfassungsbestimmungen. Obwohl Ausformung des Demokratieprinzips, liegt nicht lediglich eine aus sich unverbindliche und konkretisierungsoffene Grundsatzregelung vor, sondern eine bestimmte und daher keine Ausnahmen zulassende „Vollregelung". 115 Eine klare Entschiedenheit in dem, was unmittelbar verfassungsrechtlich gewollt ist, liegt in diesen Normen vor. Die Verfassungsinterpretation hat sich an dieser Entschiedenheit zu orientieren und kann das eben wegen dieser klaren Vorgaben auch mit Hilfe klassischer Instrumente der Auslegung. In manchen Normtypen aber erkennt Böckenförde Kompromißformeln, die eine Unentschiedenheit des Verfassungsgebers ausdrücken. Politischer Hintergrund dieses Normtyps kann etwa ein Verfassungskompromiß einer verfassungsberatenden Versammlung sein, die den Streit über die anstehenden politischen Gestaltungsfragen auf Verfassungsebene gerade nicht schon verbindlich entscheiden will (oder kann) und deshalb bewußt nur eine grundsätzliche, programmatische Festlegung treffen will. 1 1 6 Dieser Normtyp erscheint in der Verfassung als ein Prinzip, das zur rechtlichen Konkretisierung aus der verfassungsunmittelbaren Anwendbarkeit hinausverweist. Die Beschränkung der verfassungsrechtlichen Festlegung auf eine Kernbestimmung und der Rahmencharakter der Verfassung wird an diesen Normen deutlich. An ihrer Verbindlichkeit ändert das für Böckenförde insofern nichts, als daß der durch die prinzipielle Bestimmung gesetzte Rahmen verbindlich ist, auch und gerade in seiner Offenheit, ein notwendiges Paradox der Verfassungsinterpretation. Als Beispiele für diesen Normtyp führt Böckenförde die „Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft" in Art. 28 Abs. 2 GG und die „Erfordernisse des Gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts" in Art. 109 Abs. 2 GG, aber auch Art. 20 Abs. 1 GG und die Strukturprinzipien des Grundgesetzes an 1 1 7 , sowie die „Schleusenbegriffe" der Verfassung. Beispiele für letztere sind die Beschränkung der allgemeinen Handlungsfreiheit durch „das Sittengesetz" in Art. 2 Abs. 1 GG und der „soziale Bundesstaat" in Art. 20 Abs. 1 GG. Verfassung ist auf dieser Normtextebene, auf der nur ein verfassungsrechtlicher Rahmen für organisatorische Gestaltung vorgegeben werden sollte, nicht als „normatives Programm von solcher inhaltlicher Bestimmtheit" anzusehen, „daß daraus die Entscheidung konkreter Rechtsfälle erfolgen kann" 1 1 8 . Das Strukturmoment des verfassungsrechtlichen „noch-nicht" in diesen unbestimmten Verfassungsbegriffen bringt Böckenförde in Grenzfällen sogar durch ihre Qualifizierung zu bloßen Zielbegriffen zum Ausdruck, die im Blick auf in der Zeit sich ändernde Verhältnisse eine Vielzahl von Handlungsfolgen zulassen.119 Dies gilt etwa für Art. 2 Abs. 1 GG, in dem kein „bestimmtes normatives Sittengesetz als solches" gemeint sei, „sondern die in der Gesellschaft präsenten (anerkannten) sittlichen Normen", die ins Rechtssystem je neu zu transformieren sind. 120 Mit welchem Ergebnis, ist in der Verfassung mit ihrer offenen Formulie115 SVD 369 Fn. 156. 116 Vgl. Böckenförde, 1966b S. 35. 117 Vgl. Böckenförde, 1993, S. 8. ne Vgl. SVD 81. "9 Ebd.
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rung gerade nicht festgelegt. Genausowenig kennt die Verfassung etwa, obwohl im Zusammenhang des als Abwehrrecht zu begreifenden Art. 4 GG formuliert, einen „Rechtsbegriff des Gewissens", sondern „verweist auf das Gewissen als eine im sozialen Leben vorgegebene Wirklichkeit." 121 Klar ist hier nur der Begriff von Freiheit in seiner Abwehrrichtung gegen den Staat und die der Wortgestalt unmißverständlich zu entnehmende Schrankenlosigkeit dieser Gewährleistung. In Art. 20 Abs. 1 GG (Sozialstaatsprinzip) legt sich die Verfassung nicht auf eine von den ständig sich im Wandel befindlichen „politisch-ideologisch geprägten Auffassungen über die notwendigen sozialen Gewährleistungsaufgaben des Staates" fest, sondern formuliert dort einen verfassungsrechtlichen Zielbegriff, der auf Realisierung ohne verfassungsrechtliche Determination aus der Verfassung hinausverweist. Kann nun im Grundrechtsbereich neben seinen Regelbestandteilen eine Prinzipienebene ausgemacht werden, indem die Intentionen des Verfassungsgebers über den Abwehrcharakter hinausgehende Zielvorstellungen beinhalten, haben diese gleichwohl am Fehlen der verfassungsrechtlichen Determination auf der Prinzipienebene teil und bieten nur eine allgemeine Orientierung. 122 Die im Rahmen des unbestimmten verfassungsrechtlichen Begriffs nur möglichen Sollensaussagen sind nicht einmal selbst Verfassungsrecht 123. Die Verfassung hat sich nämlich gerade darin festgelegt, eventuelle Normadressaten nicht auf eine verfassungsrechtlich vorgesehene Folge zu verpflichten. Die Verfassung gibt vielmehr nur einen Rahmen vor, dessen normativer Dichtegrad variiert und den der Gesetzgeber je nach normativer Dichte und nach den Strukturbedingungen des jeweiligen Sachbereiches frei ausgestalten kann. 124 Den Grund für die im juristischen Sinne unbestimmten Verfassungsbegriffe erblickt Böckenförde in ihrem zweckorientiert politischen Charakter, der „nicht allein im Wege der Wort- und Sinninterpretation ausgelegt und verarbeitet werden" kann. 125 Interpretation der Verfassung ist diesbezüglich über die Wort- und Sinninterpretation vielmehr auf Staats- und Verfassungstheorie angewiesen. Sie leitet die Interpretation der Verfassung. 126 Unmittelbar rechtlich relevante Bindung an die Verfassung selbst erfolgt nur in dem eingeschränktem Maße, in dem dies durch deutliche Regelung von der Verfassung selbst her erkennbar ist. Auch in diesem Zusammenhange gilt: Methodenbewußte Interpretation hat diese Unterschiede bewußt zu machen und nicht durch „Konkretisierungen" zu verdecken. 127 Mit dieser Unterscheidung wird auch das •20 Vgl. Böckenförde, 1993, S. 9. >2i SVD 240. 122 Vgl. B.II.l.a). Aus anderer Perspektive kritisch zu der Vorstellung eines „original intent" des Verfassungsgebers, Heun, 1991. 123 Ebd. 124 Vgl. Böckenförde, 1993, S. 8. 125 Vgl. Böckenförde, 1981 S. 334. 126 Vgl. o.S. 44 (Kapitel C.LI). 127 S V D 23.
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Schweigen der Verfassung interpretationsmethodisch verbindlich und Böckenförde kann demzufolge von „bewußtem Offenhalten" sprechen 128. Insofern können auch dem Wortlaut nach unbestimmte Normen die Interpretation im Sinne eines Offenhaltens „binden". Wenn aber demgegenüber relativ spezifische Anordnungen erkennbar sind, dann können und müssen, in diesem Rahmen, auch die Instrumente der klassischen Auslegungsregeln angewandt werden. Die dargestellte Unterscheidung der Normebenen muß aber, um Böckenförde richtig zu verstehen, noch in einem Punkte verfeinert werden, weil sie bislang nicht zwei Arten von Prinzipien unterscheidet: Verfassungsgestaltende Grundentscheidungen, „die als ausdrücklich festgelegte Prinzipien (z. B. Art. 1 I, 20 Ι-ΠΙ) eigene normative Bedeutung haben" und bloß deskriptive Prinzipien, „die einzelne Regelungen der Verfassung ex post unter einem gemeinsamen Begriff zusammenfassen, ohne daß diesen von Verfassung wegen eine eigene normative Bedeutung über die Einzelregelungen hinaus zukommen kann." 1 2 9 Beispiel für letztere ist etwa die Idee der religiös-weltanschauliche Neutralität des Staates, die die formal so verschiedenen Einzelbestimmungen der Art. 3 Abs. 3 , 33 Abs. 5, Art. 4 Abs. 1, 2 GG, 140 GG i.V.m. Art. 136 ff. WRV zusammenzufassen geeignet ist. 1 3 0 Unterläßt man diese Unterscheidung zugunsten eines allgemeinen Prinzipiendiskurses, würde die dogmatisch-differenzierende Funktion der in den normativen Grundentscheidungen gebrauchten und für wandelbare politisch-rechtliche und ethischrechtliche Ordnungsideen offenen „Schleusenbegriffen" 131 verfehlt. Die in den „Schleusenbegriffen" der Verfassung selbst angelegte Prinzipienargumentation muß also auf positive Festlegungen der Verfassung verbindlich beziehbar sein 132 und eine Prinzipientheorie des Grundgesetzes kann nur dazu führen, die in ihr selbst verbindlich gemachten Prinzipien verfassungstheoretisch zu entwickeln und sie so in ihrer Tragweite und ihrer Begrenzung zu verstehen. Dann erst erfüllen diese „Schleusenbegriffe" in Bezug auf sich wandelnde gesellschaftliche Verhältnisse auch für Böckenförde eine Vermittlungsleistung 133, die dem normativen Geltungsanspruch der Verfassung nicht entgegensteht. Interpretationsmethodisch kann es bei den deskriptiven Prinzipien also nur um die Ermittlung äußerster Grenzen gesetzgeberischer Gestaltungsfreiheit und Feststellung eklatanter Verfassungswidrigkeit gehen. 134
128 Ebd. 129 Vgl. Böckenförde, 1981, S. 388 f. und dort Fn. 44. 130 Ebd. 131 Vgl. Böckenförde, 1981, S. 388. 132 Vgl. Böckenförde, 1981, S. 389. 133 Vgl. a. a. O., S. 388. 134 Vgl. Böckenförde, 1974a, S. 60. 5 Mantcrfeld
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b) Die methodische Unterscheidung von Gesetz und Verfassung Die Entwicklung der limitierenden Idee der Verfassung bei Böckenförde führte oben zum Gesetz als von der Verfassung zu unterscheidenden Gestaltungsinstrument des Staates.135 Die dort entwickelte funktionale Unterscheidung hat bei Bökkenförde ein methodisches Pendant. Als weiteres Element des interpretativen Positivismus Böckenfördes ist daher die interpretationsmethodische Unterscheidung von Gesetz und Verfassung darzustellen, die von der kompetenziellen Unterscheidung von Verfassungsgericht und Gesetzgeber zu trennen ist. Für die Verfassung gilt danach: Anders als „normale Gesetzesbestimmungen"136 sind Verfassungsbestimmungen „ihrer Wortfassung und Sprachgestalt nach Lapidarformeln, die aus sich selbst inhaltlicher Eindeutigkeit weithin entbehren." 137 Verfassungsinterpretation wird hier also negativ in ihrem Unterschied zur Gesetzesinterpretation bestimmt. 138 Dies führt Böckenförde zwar einerseits zur Anerkennung der besonderen Interpretationsbedürftigkeit von Verfassungsnormen, andererseits aber zur Konstatierung einer Unentscheidbarkeit auf rein hermeneutisch-textbezogener Ebene. Berufsfreiheit in Art 12 GG etwa könne als Abwehrrecht, als Verbot von Berufszugangsregelungen im Sinne einer Bedarfs- und Bedürfnisprüfung oder als Anspruch auf hinreichende Vorhaltung von Ausbildungsstätten begriffen werden. „Aus sich selbst heraus", vom „Wortlaut" her sei und bleibe Art 12 GG für jeden dieser Interpretationsansätze offen. 139 Beim Normtyp Gesetz kann die Interpretation dagegen auf ein höheres Maß an normativen und textlich ausgestalteten Vorgaben mit einer höheren Sachhaltigkeit und Informiertheit der zu interpretierenden Normen zurückgreifen. Deshalb ist die Rechtstextinterpretation hier klarer vorgabengesteuert als bei der Verfassungstexinterpretation. Das Gesetz ist durch „ein relativ hohes Maß an inhaltlicher Bestimmtheit, Sinnentschiedenheit und normativbegrifflicher Durchbildung der Gesetzesregeln" im Sinne einer „inhaltsgewissen Verbindung von Tatbestand und Rechtsfolge" 140 zu charakterisieren. Dies drückt sich aber für Böckenförde nicht nur, wie seine Bezugnahme auf die Verbindung von Tatbestand und Rechtsfolge vermuten lassen könnte, in einer Konditionalprogrammierung von Wenn-Dann Sätzen aus, sondern auch noch auf der Ebene von 135 S.o. Kapitel C.I.l.b) 1.3.1. 136 SVD 115. 137 Ebd. 138 Dies geht natürlich nicht so weit, daß die am Gesetzesrecht ausgebildeten Interpretationsregeln (dazu zählt Böckenförde die grammatischen, logischen, historischen und die systematischen Elemente der Interpretation) für die Verfassungsinterpretation außer Kraft gesetzt wären, vgl. SVD 56. Es fehlt ihnen, auf die Verfassung bezogen, jedoch etwas Wesentliches: Die Orientierung an einem der einzelnen Verfassungsbestimmung „innewohnenden Gedanken", der auf das für die Verfassung im Unterschied zum Gesetz nicht vorauszusetzende, sondern zu erarbeitende „historisch-dogmatische Ganze" einer Verfassungsrechtsordnung verweist, vgl. SVD 59. 139 SVD 116. wo SVD 57.
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Finalprogrammierung oder, normtheoretisch ausgedrückt, auf der von der Regelebene zu unterscheidenden Prinzipienebene von Rechtsnormen. 141 Die Prinzipienebene des Rechts ist nämlich, auf der Ebene des einfachen Gesetzesrechtes, anders als im Verfassungsrecht, „in einen Kosmos schon bestehender strukturgleicher Regelungen, d. h. in den Zusammenhang einer ausgeformten gesetzlichen Rechtsordnung eingefügt, „von dem aus das einzelne Gesetz seinerseits inhaltlich weiter bestimmt und auch in seinen ,offenen Regelungen4 weiter ausgefüllt werden kann/' 1 4 2 Anders in der Verfassung, in der es für diese Bestimmbarkeit seiner „offenen Regelungen" kaum positive Anhaltspunkte gibt. Für Böckenförde können die ethischen und politischen Prinzipien als Rechtsgrundsätze des Gesetzesrechtes auf dieser Ebene des Rechtssystems substanzielle Rechtsgehalte vermitteln, ohne die Bindung der Interpretation an die gesetzliche Vorgabe und die Rechtssicherheit der Interpretation im gleichen Maße wie bei der Verfassungsinterpretation zu gefährden. Die Rechtsprinzipien bzw. Rechtsgrundsätze kommen also auf der Gesetzesebene im Rahmen von Rechtsregeln vor. Sie bilden einerseits deren Tiefenstruktur und erfahren vom Zusammenhang der positiven Regeln andererseits ihre Bestimmung und Bestimmtheit. 143 Die objektiv-rechtliche Dimension der Grundrechte braucht Böckenförde dazu nicht zu bemühen.144 Methodisch erkennt Bökkenförde also „die ( . . . ) in jeder juristischen Begriffsbildung" liegende „rechtsgestaltende Funktion" 145 auch von Gesetzesinterpretation durchaus an, ohne indes den Schwerpunkt kontinental-europäischen Rechtes bei der richterlichen Interpretation und schöpferischen Rechtsfortbildung aus Prinzipien zu sehen.146 Dieser Schwerpunkt liegt für Böckenförde nachwievor im staatlichen Gesetz und beim Gesetzgeber, gerade weil das Gesetz „gegenüber einer in den Menschenrechten zu ihrer funktionalen Selbstentfaltung freigesetzten Erwerbsgesellschaft eine stetig wachsende Bedeutung als deren Regulierungs- und Ordnungsfaktor erhält." 147 Die Geschichtlichkeit und Wandlungsfähigkeit des Rechts zeigt sich für Böckenförde auch auf dieser hermeneutischen Ebene nicht so sehr in der richterlichen Gestaltung als vielmehr in der politischen Steuerungseignung des Gesetzes, in der es faktisch geschichtsmächtig wurde und wird. 141 Vgl. zu dem normtheoretischen Dualismus von Regeln und Prinzipien oben Kapitel B.II.2 und dort Fn. 114. 142 S V D 57. 143 SVD 194. Vgl. dazu Koch, 1990, S. 156 f. Neben historischen Erfahrungen mag es nicht zuletzt dieser Unterschied von Verfassung und Gesetz sein, der aus angelsächsischer Perspektive den Stolz begründet, ohne Verfassung auszukommen. Vgl. hierzu das Zitat von I. Jennings aus „The Approach to Selfgovernment" (Cambridge 1956) S. 20 in der Staatslehre H. Krügers: „... in Britain we have no Bill of Rights; we merely have liberty according to law; and we think - truly, I believe - that we do the job better than any country which has a Bill of Rights or a Declaration of the Rights of Man." Vgl. Krüger, 1966, S. 293 Fn. 86.
ι 4 4 SVD 194 f. 145 Ebd. 146 SVD 29, Fn. 54 mit kritischem Verweis auf Esser, 1974, S. 242. 147 SVD 30 Fn. 56. 5*
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Dazu paßt ein Normbegriff, der Begriffskern und Begriffshof unterscheidet. 148 Im Begriffskern sammelt sich gesetzgeberische Steuerungsrationalität, die der Interpretation als Gehalt vorgegeben ist, die eine Interpretation als eigene Leistung des Richters gleichwohl nicht erübrigt. Auf den Teilgebieten, die Gesetze regeln, geschieht damit, anders als im Verfassungsrecht, die begrenzte normative Bestimmung eines bestimmten Regelungsbereiches. Und das Gesetz ist, umgekehrt, in weitaus stärkerem Maße als die Verfassung von sich aus sachhaltig geprägt, was die Voraussetzung für ein relativ starkes Maß an „Inhaltsgewißheit", Bindung und Begrenztheit der Interpretation ist. Die offen strukturierte Verfassung hingegen kann auch wegen dieser interpretationsmethodischen Strukturunterschiede zum Gesetz nur eine Rahmenordnung „ ·
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sein. Durch Betonung der höheren Informiertheit und Sachhaltigkeit des Gesetzes gegenüber der Verfassung eröffnet sich Böckenförde eine rechtssystematische, den Begriff der Grenzen der Verfassung berührende Argumentation: Im Gesetz lernt das Rechtssystem stärker als durch Interpretation von einmal festgelegtem Rechtstext durch immer neue Programmierung in Gestalt der Gesetzgebung und begründet so die Gestaltungsfunktion des Gesetzes. Die Verfassung kann mit ihrem einmal und für eine im Verhältnis zum einfachen Gesetzesrecht ungleich längere Dauer festgelegten Rechtstext diese Lern- und Gestaltungsfunktion nicht übernehmen. Verfassung kann aufgrund ihrer Normstruktur nur die Begrenzungsfunktion erfüllen, die sich in Grundentscheidungen der Verfassung ausdrückt. Die Erfüllung dieser begrenzten und begrenzenden Funktion erfordert nicht die sachliche Informiertheit des Gesetzes und kann gerade deshalb durch vorgabenorientierte Interpretation im klassischen Sinne bewältigt werden. Die expansive Verfassungstheorie war demgegenüber dadurch ausgezeichnet, daß sie im Wege der Interpretation versucht, Verfassung lernfähiger zu machen als sie von sich aus, von ihrer Normstruktur, Entstehung und ihrem Funktionszusammenhang her, ist. 1 5 0 Für Böckenfördes funktionale Beurteilung der Rechtsprechung ergeben sich daraus folgende Konsequenzen: Zur Entscheidung konkreter Rechtsfälle ist die normale Gerichtsbarkeit in ihrer Orientierung am Gesetz berufen und in der Lage, selbst wenn das Gesetz stellenweise unbestimmt ist und die Einzelfallentscheidung mit jeweils neuen, weil nie vorhersehbaren Besonderheiten aufwartet, die rechtsschöpferische Elemente der Rechtssprechungstätigkeit nicht erübrigt. Die dadurch ins Werk gesetzte „sekundäre Fortbildung" des Rechts geschieht Böckenförde zufolge nur „am Rande" 151 . Die im Verhältnis zur Verfassung relative sachliche wie normative Dichte stellt also für Böckenförde so starke Vorgaben dar, daß die Entscheidung in Bindung an den Gesetzestext höchstwahrscheinlich, jedenfalls aber u« RSF29Fn. 54 mit Verweis auf Jesch, 1957, S. 180-190. 149 SVD 58. 150 s.o. Kapitel B.I.l.a) und I.2.c). 151 Böckenförde, 1976b S. 173.
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im Rechtssystem rational überprüfbar ist. Die durch Gesetz normierten Sachbereiche wiederum können, anders als durch ein ausgeweitetes Verfassungsrecht und ein überfordertes BVerfG durch die Norm und den sie verabschiedendenden Gesetzgeber deshalb relativ präzise normativ gesteuert werden. Verfassungsrechtliche Überdeterminierung des Rechtssystems geschieht demgegenüber im Rahmen expansiver Verfassungstheorie genau dann, wenn dieser interpretationsmethodische Unterschied nicht beachtet wird und der Verfassung dadurch Funktionen zugetraut werden, die sie schon von ihrer Normstruktur her im Rechtssystem nicht erfüllen kann. Mit der interpretationsmethodischen Unterscheidung von Verfassung und Gesetz ist die Interpretationsbedürftigkeit von Grundrechtsbestimmungen, aber auch von Strukturprinzipien des Grundgesetzes vornehmlich negativ bestimmt. Der verbleibende verfassungsbezogene normative Rahmen muß aber, soll er nicht der gesetzgeberischen oder interpretatorischen Beliebigkeit anheimgestellt werden, „von sich aus" etwas sagen. Im Bereich von Grundrechten etwa, die als Abwehrrechte gegen den Staat aufgefaßt werden, müssen daher bestimmte, relativ spezifische Inhalte auch positiv ermittelt werden, und zwar trotz ihres lapidaren, für begrenzte Interpretation offenen Wortlautes. Nur dann könnte Böckenförde zurecht davon ausgehen, daß Bindung der Verfassungsinterpretation nicht vom Vorliegen detaillierter Regelung abhängig ist 1 5 2 , sondern auch im Prinzipienbereich der Verfassung möglich ist. Die hinter dieser Aussage stehende historisch-politische Hermeneutik Böckenfördes gibt darüber Aufschluß.
c) Historisch-politische Hermeneutik Um das „Von-sich-aus" der Verfassung positiv zu formulieren, entwickelt Bökkenförde eine historisch-politische Theorie, die berücksichtigt, daß das Problem der Bedeutungsoffenheit von Begriffen in neuzeitlichen Theoriezusammenhängen Ausdruck des Verlustes von feststehend „vorgegebenen" Inhalten ist. Es geht im folgenden also um den hermeneutisch-methodischen Bestandteil von Böckenfördes Versuch, Verfassung als historisch-politische Errungenschaft zu begreifen. 153 In traditioneller methodologischer Terminologie handelt es sich dabei um eine Bearbeitung historischer und systematischer Auslegungselemente.154 Ausgangspunkt dieser Hermeneutik ist, daß die Geschichtlichkeit der Verfassung sich gerade darin 152
SVD 22. Vgl. zur Frage der Gesetzesbindung im Verfassungsrecht, Koch, 1977 und unter sprachphilosophischem Aspekt, Koch, 1975, S. 27 ff., sowie - freilich von ganz anderen Voraussetzungen her - zur Gesetzesbindung aus rechtslinguistischer Perspektive, Christensen, 1989. 153 Zur Verfassung als historisch-politischer Errungenschaft in staatstheoretischem Zusammenhang vgl. oben Kapitel C.I.l.b)aa)(l). 154 Es ist zwischen historischer Auslegung im Sinne der Traditionsgebundenheit von Rechtstexten und der historischen Auslegung im Sinne der genetischen Methode zu unterscheiden, nach der die konkrete Entstehung des positivierten Rechtstextes als empirisches Interpretationsmoment herangezogen wird.
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C. Die limitierende Verfassungstheorie Böckenfördes
ausdrückt, daß die Identität eines in der Verfassung verwendeten Wortes noch nicht auf eine Identität der gemeinten Sache schließen läßt. In einer anderen verfassungsrechtlichen Gesamtordnung kann der gleiche Wortlaut also etwas je verschiedenes bedeuten. Andererseits verweisen verfassungsrechtliche Begriffe auf Verfassungstraditionen, die die Interpretation über den Wortlaut hinaus, auf historischpolitisch fortdauernde Sachverhalte führt. 155 Unter diesem Vorzeichen versucht Böckenförde, „die positive Verwirklichung und Aktualisierung der normativen Leitideen und Grundentscheidungen einer Verfassung, die als solche nur den Gehalt von Prinzipien haben, welche allererst näherer Ausgestaltung und Konkretisierung bedürfen" 156 zu erarbeiten. Böckenförde betont, daß zur Erreichung dieses Zieles nur die Kenntnis der geschichtlichen Entwicklung von Verfassungsbegriffen die Möglichkeit für ein systematisches Verstehen des jeweiligen Begriffes und die sich in diesem systematischen Verstehen ausdrückende konkrete Verbindlichkeit ergibt. 157 Dies gilt besonders für diejenigen Bestimmungen des GG wie Art. 20 Abs. 2 GG, „die für eine bestimmte Verfassungstradition stehen und nur aus dieser heraus sinnvoll interpretiert werden können" 158 . Traditionsgebundene Reflexion und Ermittlung geltungsbezogener gegenwärtiger Bedeutung von Verfassungsbegriffen sind also ursprünglich und nicht nur zufällig miteinander verknüpft. Für die Verfassungsinterpretation hinsichtlich der Grundrechte gilt dies, da in der Verfassung selbst historische Kontinuitäten in geistesgeschichtlicher und grundrechtlicher Hinsicht zum Ausdruck gelangen.159 So kann Böckenförde etwa einerseits (in geistesgeschichtlicher Hinsicht) auf das in den Grundrechten liegende Prinzip des modernen Freiheitsgedankens überhaupt stoßen 160 und andererseits (in grundrechtlicher Hinsicht) durch verfassungsgeschichtliche Vergleiche Entwicklungslinien der verfassungsurkundlichen Positivierung dieses Freiheitsprinzips aufzeigen, die das Spezifische der Grundrechte des Grundgesetzes deutlich werden lassen.161 Verfassungsinterpretation geschieht insofern nicht voraussetzungs- und damit bindungslos, sondern „nur in der Beachtung jener geistigen und geschichtlichen Kontinuität." 162 Dies ist aber, um Mißverständnissen vorzubeugen, nicht im Sinne lews Vgl. Böckenförde, 1980b, S. 58 und SVD 203 Fn. 7. Daß sich Böckenförde hierin mit Scheuner einig ist, der, von Smend herkommend der expansiven Verfassungstheorie zuzuordnen wäre, tut der Eigenständigkeit des Böckenfördschen Ansatzes in der Durchführung limitierender Verfassungstheorie keinen Abbruch. i * Vgl. Böckenförde, 1974a, S. 60. RSF 144. Die heutigen Fragen staatlicher Ordnung und der Gestaltung der Freiheit werden von Böckenförde auf diese Weise von ihren geschichtlichen Voraussetzungen und deren Kontext her erörtert und lassen so ihren allgemeinen Gehalt erkennen, vgl. RSF 8. Dabei geht es ihm um Erkenntnis realer geschichtlicher Bewegung und nicht um abstrakte Ideale oder Ideen. 158 Vgl. Böckenförde, 1974a, S. 67. 159 SVD 203. 160 SVD 203. 157
161 SVD 203. f. 162 SVD 203.
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diglich historischen Erinnerns zu verstehen, sondern „im Sinne der vollen Erkenntnis dessen, was hier zu seinem geschichtlichen Austrag gekommen ist." 1 6 3 Und indem dies herausgearbeitet wird, ist Verfassung gerade nicht offen für alle möglichen Inhalte, sondern erweist sich als inhaltlich positiv bestimmt und insoweit durch sich selbst begrenzt. Die verschiedenen möglichen Ausdeutungen etwa des Rechtsstaatsbegriffs können geschehen, ohne daß sich der Begriff vollständig verändert, d. h., ohne daß er seine Kontinuität verliert und damit zu einer gesetzgeberischer oder interpretatorischer Beliebigkeit anheimgestellten Leerformel herabsinkt. 164 Böckenförde hält hier also einerseits an etwas Vorgegebenem fest, muß aber andererseits nicht zu einem geschichtlichem Wandel entzogenen vorgegebenen Inhalt von Verfassungsbegriffen Zuflucht nehmen. Ist es so aber möglich, in einer begriffsgeschichtlichen Methode 165 „die Frage nach dem inneren Gefüge und der konkreten politisch-sozialen Bauform einer Zeit zu stellen" 166 , ist es allererst möglich, die Verfassung des GG als spezifische und (auch) deshalb in ihrem Geltungsanspruch begrenzte Antwort auf eine geschichtliche Grunderfahrung in ihrer vollen Tragweite zu erfassen. 167 Den Gegenstand der Grundrechtsinterpretation leitet Böckenförde deshalb zusätzlich aus dem Antwortcharakter auf besondere Freiheits- und Rechtsgefährdungen als einem Akt „historisch-verfassungsrechtlicher Sinngebung" 168 , der für jedes einzelne Grundrecht gesondert zu ermitteln ist 1 6 9 , ab. Und es verwundert nicht, daß er im Grundrechtsabschnitt erkennt, daß hier „das staatliche Gemeinwesen seinen Geist ausspricht". 170 Den Geist, den der staatsrechtliche Positivismus, von dem sich Böckenförde damit dezidiert abhebt, in umfassender Reinigungsabsicht aus der Staatsrechtswissenschaft hatte vertreiben wollen. 171 Aber auch über die Grundrechte hinaus gilt: Eine verfassungsgemäße Verfassungstheorie nimmt für Böckenförde ihren Ausgang von der Verfassung selbst und ihren Grundentscheidungen und tragenden Prinzipien, „den übernommenen oder modifizierten Elementen der Verfassungstradition, der errichteten Zuordnung der Balancen und der Funktionen / Gewalten u. a.m. Sie muß die darin sich ausdrükkende Ordnungsidee, die auch eine komplexe sein kann, ermitteln und zu einer systematischen Orientierung zu entfalten suchen." 172 Diese verfassungstheoretische
i« Vgl. Böckenförde, 1990, S. 33. 164 RSF 144. 165 Vgl. Böckenförde, 1995c, S. 211. 166 Ebd. 167 Zur verfassungsgebenden Gewalt des Volkes als »Antwortgeberin44 s. o. Kapitel C.I.l.b)cc). 168 SVD 203 f. Fn. 7. SVD 203. no SVD 247. 171 SVD 57 Fn. 17 „So kann man der Jurisprudenz den Geist austreiben.44. 172 SVD 84.
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C. Die limitierende Verfassungstheorie Böckenfördes
Entfaltung macht erst den vollen geschichtlichen Gehalt der hinter dem lapidaren Wortlaut der Verfassungsbestimmungen stehenden grundlegenden Entscheidungen deutlich. Damit ist zugleich die Leitfunktion der Verfassungstheorie für die Interpretation der Verfassung einsichtig. 173 Der jeweils zu ermittelnde Inhalt von Grundrechtsbestimmungen kann relativ unabhängig von einem „Fall" oder konkreten Rechtsproblemen „gefunden" 174 werden und ergibt das, was die Verfassung „von sich aus" sagt, ihre „normative Intention" oder „normative Grundentscheidung" 1 7 5 und die darauf aufbauende, in ihrer unmittelbaren Rechtsverbindlichkeit allerdings variierende Positivität. Deshalb braucht es Böckenförde nicht zu stören, daß er mit dieser Sichtweise einem Zirkelschluß unterliegt. Im „hermeneutischen Zirkel" erkennt Böckenförde nur eine Grundgegebenheit allen Verstehens, die deshalb auch bei einem an inhaltlichen normativen Vorgaben orientierten Verstehen im Rahmen limitierender Verfassungstheorie zu beobachten ist. 1 7 6 Die Wahrnehmung des subjektiven Vorverständnisses des Verfassungsinterpreten soll nur nicht selbst unter der Hand maßstäblich werden, sondern dazu führen, daß etwaige an einem zu lösenden „Fall" oder „Problem" sich bildende Vorverständnisse an den in den Grundentscheidungen der Verfassung zum Ausdruck gelangenden Vorgaben abgearbeitet werden und diese Vorgaben nicht im hermeneutischen Spiel subjektivistisch oder - wie im Rahmen der Topik 1 7 7 - fall- und problemorientiert aufgelöst werden, um sie später durch selbst vorgenommene Wertobjektivierungen wieder aufzufüllen. Vor diesem Hintergrund ist zugleich deutlich, daß bei Böckenförde nicht die Aufforderung zu historischer Psychologie mitschwingt. Zwar können die Motive der geschichtlichen Verfassungsgeber manchmal das Verständnis der Verfassung fördern und wir werden sehen, daß und wie Böckenförde sie bei seiner Verfassungsinterpretation heranzieht 178; aber das, was soeben als Geist der Verfassung bezeichnet wurde, überschreitet den Horizont dieser zeitgeschichtlichen Kontingenz. 179 Von dieser Warte aus können nun auch die über die historischen Elemente hinausgehenden und von Böckenförde als klassisch-hermeneutisch bezeichneten Auslegungsregeln Savignys im Rahmen der Verfassungsinterpretation sinnvoll in den Interpretationsprozeß integriert werden, ohne daß Böckenförde Verfassung 173 S.o. Kapitel C.I.l. 174 SVD 239. 175 Vgl. SVD 247 zur normativen Grundentscheidung und SVD 248 zur normativen Intention. 176 SVD 84. Böckenförde beantwortet so die Kritik von Dreier, R., 1981 S. 106 ff. 177 Siehe zur Topik oben Kapitel B.LI. 178 Siehe unten Kapitel C.II.2.c). 179 Insofern treffen Böckenfördes Ansatz nicht die Argumente, die in der Interpretationstheorie gegen die Berufung auf einen ursprünglichen Verfassungswillen bzw. die Intention der Verfassungsgeber ins Feld geführt werden. Vgl. dazu etwa die Erörterung der Argumentationsfigur des „original intent" in der amerikanischen Verfassungsinterpretation bei Heun, 1991.
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und Gesetz dafür methodisch gleichzusetzen bräuchte. 180 Der genetische und der historische Bestandteil methodischer Interpretationselemente 181 macht die konkrete, positive Geltung beanspruchende Gestalt der Grundentscheidungen in der Verfassung deutlich. Dabei kann es zwar zu der Erkenntnis kommen, daß die leitenden Grundideen der Verfassung der sozialen Wirklichkeit nicht mehr entsprechen und die Normativität der Verfassung deshalb gefährdet ist, wenn die Verfassung nicht - durch Verfassungstextänderung - dazulernt. Die Staatsrechtswissenschaft hat diese Diskrepanzen aufzuzeigen und auf verfassungspolitische Lösungsmöglichkeiten hinzuweisen, sie hat nicht die Aufgabe, diese Diskrepanzen selbst durch Begründung von Konkretisierungskonzeptionen zu beseitigen.182 Dadurch entlastet sie zugleich die Rechtsprechungstätigkeit, die diese Diskrepanzen nicht mit vorgeblicher Textinterpretation beseitigen muß. Im Rahmen dieser historisch-politischen Hermeneutik kann Böckenförde systemisch und strukturell-funktionale Aspekte von Geschichte und Verfassung, Staat und Gesellschaft mit Interpretationsperspektiven verbinden und die nur vordergründig aus leerformelhaften Worten bestehende Verfassung in ihrer besonderen Dignität erkennbar machen. Überdies bewältigt er die für Verfassungsbegriffe typische Offenheit und Vagheit und zeigt auf, inwiefern Bindung der Verfassungsinterpretation nicht vom Vorliegen detaillierter Regelungen abhängig ist. 1 8 3 Bevor einige Einzelinterpretationen Böckenfördes im Rahmen einer Verfassungstheorie des Grundgesetzes ausführlich untersucht werden, in der mehrere Elemente seines hier entwickelten interpretativen Positivismus vorkommen, sei zur Zusammenfassung und Veranschaulichung der historisch-politischen Hermeneutik Böckenfördes ein kleines Interpretationsbeispiel gesondert dargelegt: Als Ausdruck des Geistes eines staatlichen Gemeinwesens interpretiert Böckenförde die verfassungsrechtliche Formulierung des Rechtes der Kriegsdienstverweigerung in Art. 4 Abs. 3 GG als besondere Ausprägung der Gewissensfreiheit. 184 Die Freiheits- und Rechtsgefährdung durch den nationalsozialistischen Machtstaat liegt als historische Grunderfahrung in diesem Bereich auf der Hand. Dieser Staat konnte ein Recht dazu, ihm den Einsatz des eigenen Lebens zu verweigern, nicht garantieren und verlangte vielmehr die unbedingte Hingabe desselben für die staatliche Gemeinschaft. Der Geist des Jahres 1948/1949 drückt sich angesichts dieser Erfahrung zunächst in der, blickt man auf die übrigen europäischen Staaten, gar nicht selbstverständlichen Entscheidung aus, überhaupt die Grundrechtsform als über normale Gesetze oder Beschlüsse hinausgehende, besonders zentrale Ausgestal-
te Diesen Ausgangspunkt kritisierte Böckenförde an der von ihm so benannten klassischhermeneutischen Position Forsthoffs, vgl. SVD 56 Siehe auch oben S. 61 und Fn. 105. 181
Der „klassisch-hermeneutische" Ansatz Forsthoffs wird so in eine Verfassungstheorie eingebunden, wie Böckenförde es in SVD 60 postulierte. 182 SVD 25. 183 SVD 22 und s. o. Fn. 294 (S. 69). 184 SVD 247.
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C. Die limitierende Verfassungstheorie Böckenfördes
tungsmöglichkeit für ein Kriegsdienstverweigerungsrecht zu wählen. 185 Und m den innerhalb der Grundrechtsform möglichen Ausgestaltungsmöglichkeiten wird wiederum diejenige gewählt, die ein schrankenloses Grundrecht gewährt. Die inhaltliche Bedeutung dieser Entscheidung: Wie das Gewissen allgemein, sollte, angesichts der Erfahrungen im nationalsozialistischen Machtstaat, auch die Kriegsdienstverweigerung als für ein staatliches Gemeinwesen besonders prekäre und äußerlich wirksame Form der Gewissensausübung, grundsätzlich dem Staat vorgegeben sein. Also „auch und gerade in dem Fall, in dem der Konflikt mit den Belangen der staatlichen Gemeinschaft am schärfsten werden, möglicherweise existentielle Bedeutung erlangen kann. Auch dann soll dieser Staat nicht, koste es, was es wolle, zwingen können." 186 Diese Entscheidung ist als Ausdruck des normativen Willens des Verfassungsgebers verbindlich und Art. 4 Abs. 3 GG stellt die dementsprechende rechtssatzmäßige, auf rechtliche Durchsetzbarkeit hin konzipierte Verformung dieser normativen Grundentscheidung dar. 187 Auf diese Weise konstruiert Böckenfördes interpretativer Positivismus Grundentscheidungen der Verfassung in historisch-politischer Perspektive und erarbeitet die Bedeutung von Verfassungsbestimmungen mit an sich lapidarem Wortlaut, ohne dem positivistischen Subsumtionsideal zu folgen aber auch, ohne der normauflösenden Gefahr des Dezisionismus zu erliegen. 188
Fazit C.1: Der allgemeine Teil der limitierenden Verfassungstheorie Böckenfördes In Kapitel C.I. wurde die begriffliche und staatstheoretische Herleitung limitierender Verfassungstheorie bei Böckenförde verfolgt und sein interpretativer Positivismus, ausgehend von seinem engen Konkretisierungsverständnis, als methodischer Bestandteil seiner limitierenden Verfassungstheorie in drei Elementen dargestellt. Insoweit ist eine Alternative zu expansiver Verfassungstheorie aufgewiesen worden. Zunächst wurde der Begriff der Verfassung als Rahmenordnung entwickelt. Als Rahmenordnung trifft die Verfassung nur Grundsatzentscheidungen für das Verhältnis des Einzelnen zum Staat und legt Verfahrensregeln für den politischen 185 SVD 247.
186 SVD 247 f. 187 SVD 248. 188 Auf die starken Parallelen der eben dargestellten Methodik Böckenfördes zu der historisch-politischen Hermeneutik neuzeitlicher Bewegungsbegriffe mit ihrer zentralen Kategorie der „geschichtlichen Grundbegriffe" kann im Rahmen dieser Arbeit nicht näher eingegangen werden. Hingewiesen sei jedoch darauf, daß Böckenförde selbst in der damit angedeuteten historischen Forschungstraditon arbeitet und sie mit fortgebildet hat. Vgl. dazu Koselleck, 1985, mit Verweis auf Böckenförde, auf S. 115.
Fazit C.I: Der allgemeine Teil der Verfassungstheorie Böckenfördes
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Handlungs- und Entscheidungsprozeß fest. 189 Der Staatsbezug der limitierenden Verfassungstheorie Böckenfördes wurde daran deutlich gemacht. Qua Verfassungsgebung wird nur ein Kern von grundlegendsten Fragen des Staates geregelt. Die fragmenthafte Normstruktur der Verfassung spiegelt diesen Rahmencharakter der Verfassung wieder, wie dieser andererseits die begrenzte Integrationsleistung des BVerfG begründet. Die Anerkennung der wichtigen Funktion von ethischen Rechtsgrundsätzen für die Verpflichtungskraft des Rechtes im Rechtssystem führt nicht dazu, Verfassungsrecht verstärkt von dem Gedanken der Gerechtigkeit zu begreifen. Es bleibt bei der äußeren Durchsetzbarkeit als wesentlichem Merkmal auch des Verfassungsrechtes. Ethische Rechtsgrundsätze können deshalb, bei völlig offener Konkretisierungskompetenz, nur zur allgemeinen Orientierung des positiven Rechtes beitragen. Die im Rechtssystem sich stellende Frage nach der Konkretisierungskompetenz bezüglich dieser allgemeinen Orientierung wird also von der Frage nach der Verfassungsgeltung entkoppelt. Diese limitierende Idee der Verfassung entlastet deshalb die Verfassungsinterpretation von der Bürde, einen Konsens über die „richtige" Ordnung zu fingieren, der mit den Mitteln konsensualer Argumente faktisch nicht gelingen konnte. Läßt die Verfassung als Rahmenordnung also notwendig vieles ungeregelt, verweist ihr Begriff andererseits auf die Voraussetzungen der Verfassung, die ihrer fragmenthaften Formulierung vorausliegen. „Staat", „Nation" und „Verfassungsgebende Gewalt" wurden anhand von Böckenfördes Schriften als spezifische Voraussetzungen der Verfassung entwikkelt. Diese Begriffsarbeit stellt keine Verfassungskonkretisierung dar, ist aber für ein angemessenes Verfassungsverständnis von Bedeutung. Staat, verfassungsgebende Gewalt und Nation sind von der Positivität der Verfassungsrechtstexte zu unterscheidende verfassungstheoretische Elemente, die die selektive Positivität der verfassungstextlich fixierten Entscheidung als spezifische Anordnung begreifen lassen können. Die differenzierte Entwicklung des Staatsbegriffes Böckenfördes macht deutlich, daß die spezifische Konzentration von Gewaltverhältnissen im Staat angesichts komplexer und zeitlich unüberschaubarer Verhältnisse die Verfassung als Gesamtordnung allererst verständlich macht. In der Erörterung des Nationbegriffes als Voraussetzung der Verfassung betont Böckenförde das politischgeschichtliche Handlungsmoment vor dem interpretierenden Verfassungsverhalten. In der Lehre von der verfassungsgebenden Gewalt des Volkes hat Böckenförde diese Einsicht auf den die Verfassung selbst demokratisch legitimierenden Ursprung bezogen. Die Darstellung des interpretativen Positivismus Böckenfördes hat die Unterscheidung von spezifischen Verfassungsanordnungen und Prinzipiengehalten interpretationsmethodisch zu typisieren versucht, indem sie die geistesgeschichtlichen sowie historischen Bezüge von Böckenfördes Interpretationsansatz gegenüber der positivistischen Isolierung derselben abhob. Das Regel-Prinzipienmodell seines interpretativen Positivismus wurde anhand der interpretationsmethodischen Unterscheidung von Gesetz und Verfassung verdeutlicht, die das im Vergleich zur Verfassung stärkere Lernen des Rechtssystems im Gesetz zum Anlaß '89 Ebd.
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C. Die limitierende Verfassungstheorie Böckenfördes
nimmt, die Vorgegebenheit von normativen Gehalten für die Interpretation im Rechtssystem aufrechtzuerhalten. Auch aus diesem Grunde der nur begrenzten Lernmöglichkeit durch Verfassungsgebung liegt es nahe, für die Verfassung ihre Begrenzungsfunktion als ausreichend anzusehen. Damit ist allerdings erst die im engeren Sinne verfassungstheoretische Perspektive in einen konsistenten Zusammenhang gebracht worden. Verfassungstheorie ist aber nur plausibel, wenn diese, aus juristischer Perspektive, externe Theorieebene mit einer internen Dogmatikebene190 korrespondiert, wie sie sich in begrenzter Interpretationsarbeit zeigt. Auf dieser Basis erst könnte man von einer Verfassungstheorie des Grundgesetzes sprechen. Ob und inwieweit dies bei Böckenförde möglich ist, soll nun die Analyse ausgewählter Einzelinterpretationen Böckenfördes, bezogen auf drei wesentliche Teile der positiv geltenden Verfassung des GG zeigen.
II. Der besondere Teil der limitierenden Verfassungstheorie Böckenfördes Böckenfördes Verfassungstheorie wird in ihrem besonderen Teil anhand der drei wesentlichen Text- und Themengruppen der Verfassung rekonstruiert 191: Dem Organisationsteil mit der dazugehörigen Kompetenzverteilungsordnung, den Grundrechten und den Strukturprinzipien. 192
1. Organisationsteil und Kompetenzverteilungsordnung a) Normstruktur und Grundentscheidung Im Organisationsteil und in der Kompetenzverteilungsordnung herrscht Böckenförde zufolge im Blick auf die Normstruktur Klarheit und Eindeutigkeit des normativ Gewollten. Diese Verfassungsbestimmungen sind durch eine Regelstruktur nicht durch eine Prinzipienstruktur charakterisiert 193 und sind deshalb von sich aus eindeutig. Sie enthalten vornehmlich formale Vorgaben für den politischen Prozeß und den Prozeß der Gesetzgebung. Diese erhalten dadurch ihre regelgeforderte Siehe zu der Beziehung von interner Dogmatikperspektive und externer Theorieperspektive schon oben Kapitel A.II.l., S. 16 und Fn. 9. 191 SVD 87. 192 Wegen der auch von Böckenförde betonten Sonderstellung klammern wir den Teil Staat und Kirche hier aus.Vgl. dazu SVD 87. 193 Vgl. zum Organisationsteil des Grundgesetzes unter diesem Aspekt der Normklarkeit auch Schauer, 1992. Mit kritischem Verweis auf BVerfGE 62, 1 (37, 51) („Bundestagsauflösung") Rau, 1996, S. 237.
II. Der besondere Teil
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und effektive Ordnung. 194 Die spezifische Realität dieser Normen ist der Staat als „organisierte Wirk- und Handlungseinheit".195 Über den rein lexikalischen Gehalt hinaus begründet Böckenförde die Normklarheit in diesem Normbereich also mit dem auf die reale Staatsorganisation und ihre Rollenverteilung begrenzten Normadressatenkreis. 196 Für das BVerfG und seine durch die Verfassung selbst gezogene Begrenzung stellen diese Normen einen deutlich greifenden Prüfungsmaßstab dar, an dem die Bindung und die Überschreitung der Verfassungsinterpretation zu messen ist. 1 9 7 Für den Organisationsteil gilt deshalb: Er regelt wenig, dies aber eindeutig und lasse im übrigen viel Raum für den gestalterischen politischen Prozeß. Seine Normen werden, wo sie etwas regeln, streng auf Verfahrensregeln für den politischen Handlungs- und Entscheidungsprozeß festgelegt 198 und sind damit material anreichernden expansiven Interpretationen grundsätzlich und auch vom Normtext her verschlossen. Den so klar abgesteckten Rahmen erfüllt die Staatspraxis nach Zweckmäßigkeitskriterien. Letzteres sieht Böckenförde etwa für Art. 62, 65 GG (Regierungsorganisation) und das Verhältnis von Regierung und Parlament (Art. 63, 65, 67, 68 GG ) zueinander für gegeben an; der Organisationsteil stellt also „bewußt" 199 eine Rahmenordnung dar, weil „bestimmte Vorgänge des politischen Lebens, etwa das Verhältnis der leitenden staatlichen Organe zueinander, oder bestimmte Tätigkeitsbereiche, etwa auswärtige und Verteidigungspolitik, sich einer detaillierten und starren Normierung entziehen." 200 Die Kompetenzverteilungsordnung hingegen regele viel und dies zudem sehr deutlich, so daß auch hier für expansive „Konkretisierungen" und Überschneidungen mit anderen Regelungsbereichen auf dieser Ebene der Verfassung wenig übrig bleibt. 201
b) Interpretationsbeispiel: Sondervotum Böckenfördes in BVerfGE 69,1 ff. („Kriegsdienstverweigerung") Die limitierende Argumentationsweise Böckenfördes bezüglich der Kompetenzordnung und Organisationsbestimmungen der Verfassung soll nun in dem von Bökkenförde abgegebenen Sondervotum zum Urteil des Bundesverfassungsgerichtes 194 SVD 20 und Böckenförde, 1974a, S. 27. im S.o. Kapitel C.I.l.b)aa)(2). 196 Anders etwa der Großteil der Grundrechte, die für „jeden" oder für , jeden Deutschen" gelten. 197 So auch Schiaich, 1994, Rn. 491. 19H SVD 86 f. >99 SVD 17. 200
Vgl. SVD 17 f. Böckenförde nennt für das Grundgesetz die Bestimmungen über die Regierungsorganisation (Art. 62, 65) und das Verhältnis von Regierung und Parlament (Art. 63, 65, 67, 68). 201 SVD 87.
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C. Die limitierende Verfassungstheorie Böckenfördes
zur Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen deutlich gemacht werden. 202 Dieses Urteil hatte darüber zu befinden, ob eine Gesetzesnovelle zum Gesetz zur Kriegsdienstverweigerung verfassungsgemäß war. Es betrifft von der Normtypik der Verfassung her das Verhältnis von Grundrechtsnormen zu Kompetenz- und Organisationsnormen. In dem Sondervotum kritisiert Böckenförde, daß die Senatsmehrheit des Bundesverfassungsgerichts in den Art. 12a, 73 Nr. 1, 87a und 115b GG „eine über deren unmittelbaren Inhalt hinausgehende ,Verfassungrechtliche Grundentscheidung für eine wirksame militärische Landesverteidigung'" gesehen habe, „kraft derer unter anderem die Einrichtung und Funktionsfähigkeit der Bundeswehr verfassungsrechtlichen Rang* haben" soll 2 0 3 und die überdies die Schranken der Grundrechte soll bestimmen können. Zunächst, so Böckenförde, sei dieses Postulat einer verfassungsrechtlichen Grundentscheidung als nur nachträglich gebildetes Verfassungsprinzip zu begreifen, also nicht als von der Verfassung selbst gebrauchtes Verfassungsprinzip mit von sich aus normativem Geltungsanspruch 2 0 4 Demgemäß setzt Böckenförde dem Urteil in seinem Sondervotum entgegen, daß es verfassungsrechtlich unzulässig sei, aus „bundesstaatlichen Kompetenzvorschriften (Art. 73 Nr. 1 GG, 87 a GG), bloßen Ermächtigungsnormen (Art. 12 a GG) oder Organisationsregelungen (Art. 115 b GG)" Schranken der Grundrechte herzuleiten. 205 Unmittelbarer Inhalt von Kompetenzvorschriften, der Inhalt, den die Verfassung von sich aus als Grundentscheidung gebietet, ist die Abgrenzung der Handlungsbereiche von Bund und Ländern. Diese Normen stellen eine spezifische Anordnung für einen begrenzten Bereich dar, der von seiner Normstruktur nicht den offenen Prinzipiennormen des Grundgesetzes, sondern den Regelnormen mit relativ klarem Anordnungscharakter zuzuordnen ist. 2 0 6 Also ist aus ihnen nicht die „besondere Wertigkeit" einer gesellschaftlichen Institution zu schließen. Anlaß für Bedeutungsausweitung durch das BVerfG gibt es von der Verfassung her nicht. Dem an die Verfassung gebundenen Verfassungsgericht ist sie somit untersagt. Das diesbezügliche Schweigen der Verfassung ist verbindlich. Böckenfördes Argumentation läßt auch seinen interpretativen Positivismus deutlich werden. Sind nämlich relativ spezifische Anordnungen im Verfassungstext erkennbar, wie dies bei den Kompetenzverteilungs- und Organisationsnormen der Fall ist, dann können und müssen sie in ihrer Verbindlichkeit auch methodisch ernstgenommen werden. Deshalb kann Böckenförde auch zu Mitteln der klassischen Hermeneutik greifen, um dieses Verständnis der Kompetenz- und Organisa-
202 BVerfGE 69, 1 ff. 203 Vgl. ebd. S. 58. 204 Vgl. dazu schon die in Kapitel C.I.2.a) eingeführte Unterscheidung von positiv-rechtlichen Verfassungsprinzipien mit normativem Charakter und lediglich deskriptiven Verfassungsprinzipien. 205 Vgl. ebd. 206 Zum Regelcharakter von Normen vgl. oben Kapitel B.II.2.und C.I.2.a).
II. Der besondere Teil
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tionsnormen der Verfassung klar herauszuarbeiten. Wortlaut, systematische Stellung, Funktion und Entstehungsgeschichte dieser Normen zwingen zur Beschränkung auf diese „unmittelbaren" normativen Gehalte. 207 Hier sind diese Mittel nicht auf die Einbettung in eine Verfassungstheorie verwiesen und reichen also zur Interpretation aus. Folgen wir dieser klassisch hermeneutischen Argumentation Böckenfördes im einzelnen. Die Senatsmehrheit hatte Art. 12 a GG zur Begründung eines gegenüber dem Wehrdienst längeren Ersatzdienstes herangezogen, indem sie Art. 12 a GG von dem aus den wehrverfassungsrechtlichen Vorschriften abgeleiteten politischen Willen des Verfassungsgesetzgebers zu einer funktionsfähigen Landesverteidigung her interpretierte. 208 Böckenförde analysiert genauer: Dieser Wille sei zwar vorhanden gewesen, aber er sei „in einer Weise normativ umgesetzt worden, daß Einzelbestimmungen kompetenzieller, ermächtigender und organisatorischer Art in das GG eingefügt wurden, nicht aber so, daß eine eigene normative Grundentscheidung und ein ihr entsprechendes normatives Prinzip neben die in Art. 1 Abs. 1 GG, Art. 20 Abs. 1 bis 3 GG bereits vorhandenen gestellt wurde." 209 Dies erläutert Böckenförde näher, indem er die Materialien zur Entstehung des Art. 12 a Abs. 2 S. 2 GG heranzieht. Er zeigt, daß die Argumente für einen längeren Ersatzdienst schon gegen den damals nur vorgeschlagenen, erst später Verfassungsbestandteil gewordenen Art. 12 a Abs. 2 S. 2 GG im Räume standen: Die jetzige Formulierung habe man auch deshalb nicht gewollt, weil man Wehr- und Ersatzdienst zeitlich nicht gleichstellen wollte, dies aber im jetzigen Art. 12 a Abs. 2 S. 2 GG unmißverständlich ausgedrückt sei und gegen dessen Positivierung man sich aus diesen Gründen damals gewehrt hatte. 210 Genau diese politische Option wurde damit im und durch den Positivierungsvorgang ausgeschlossen. Positivierung heißt für Böckenförde damit nicht Inhaltslosigkeit, sondern spezifische Selektivität, die den Interpretationsspielraum einschränkt und die Grenzen der Verfassung absteckt. Im Blick auf die Normativität der Verfassung wird der Positivierungsvorgang bei den Organisations- und 207 BVerfGE 69, 1,61. 208 BVerfGE 69,1,21. Allerdings hier ohne tragende Funktion für die Begründung der Entscheidung, was auch Böckenförde in seiner Kritik zugesteht, vgl. ebd. S. 59 und S. 65. Bökkenförde ist insoweit aber als Kritiker expansiver Traditionsbildung zu lesen: Das nächste Urteil des Verfassungsgerichtes zu einer vergleichbaren Frage könnte sich schon begründend auf eine vorgefundene Rechtssprechung stützen. Vgl. zum Prozeß der Traditionsbildung und zur Genese des Traditionsargumentes in der Verfassungsrechtsprechung, Blankenagel, 1987. 209 BVerfGE 69,1,62. Kursiv vom Verfasser. In Organisations- und Kompetenzregelungen der Verfassung können natürlich auch über die Einzelregelung hinausgehende Grundentscheidungen ausgemacht werden. Böckenförde spricht dies im Sondervotum auf S. 62 aus. Aber als solche haben auch sie den auf das Prinzipielle beschränkten Gehalt einer nur allgemeinen Orientierung. Deshalb sieht Böckenförde konsequenterweise in dem der Verfassung später hinzugefügten hier gegenständlichen Artikel des GG keine über ihren unmittelbaren Regelungsgehalt hinausgehende eigene normative Grundentscheidung. Diese Bestimmungen haben an dem relativ klar umgrenzten normativen Charakter der in organisatorischen und kompetenziellen Regelungen generell zum Ausdruck gelangenden Grundentscheidung lediglich Anteil. 210 Ebd.
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Kompetenznormen so begriffen, daß die Verfassung sich in ihrer Positivität von politisch vielfältigen möglichen Inhalten relativ verselbständigt und gerade darin ihre im politischen Spannungsfeld wirkende, aber vom Politischen selbst zu unterscheidende Normativität gewinnt. Zusammengenommen geht Böckenförde damit für die Teile der Verfassung, die Kompetenz, Organisations- und Ermächtigungsnormen zum Gegenstand haben, von einer „inhaltlichen Bestimmtheit" der Verfassung aus, die es möglich macht, „sie auf die ihr zugrundeliegenden Sachverhalte wirklich anzuwenden."211 Dies begründet die Bindung der Interpretation. Wird diese Bindung nicht eingehalten, kommt es zu unkontrollierbaren Übergriffen auf andere Bereiche der Verfassung, wie etwa die Grundrechte. Ihre normative Geltung wird dann unter Umständen, nicht wie es im Rahmen expansiver Verfassungstheorie angestrebt sein mag, gestärkt, sondern geschwächt. So führt die vorgebliche Ableitung einer bestimmten Wertung staatlicher Institutionen wie der Bundeswehr aus Kompetenznormen zu einer künstlichen Aufladung von Verfassungsbegriffen und andererseits werden vorgängige gesellschaftliche Wertungen mit ihnen nicht zukommenden Verfassungsweihen versehen. Dies muß aber, wie schon hinsichtlich der Grundrechte als objektiver Grundsatznormen im Rahmen expansiver Verfassungstheorie ausgeführt 212 insgesamt zu einer Auflösung der Normativität der Verfassung führen, weil diese künstlich mit Verfassungsrang ausgestatteten Wertungen nun ihrerseits in der Lage sind, mit als verfassungsrechtlich anzuerkennenden Grundentscheidungen der Grundrechtsgeltung zu konkurrieren und diese damit zu relativieren. Man kann dieser Konsequenz Böckenförde zufolge nur entgehen, indem man sich an das durchaus Erkennbare des von der Verfassung im Kompetenzbereich relativ spezifisch Gewollten hält. Das Verfassungsgefüge kann dann auf seinen speziell ausgeformten Normierungsebenen insgesamt seine höchste Effektivität entfalten. Das spezifisch Erkennbare des hier interessierenden Art. 4 Abs. 3 GG sieht Bökkenförde in der intendierten Beschränkung und Begrenzung staatlicher Einflußnahme, 2 1 3 die hier „als solche, nach Maßgabe ihres Schutzbereichs und Gewährleistungsinhaltes"214 mit Mitteln herkömmlicher Interpretation zu ermitteln ist. Das Grundrecht aus Art. 4 Abs. 3 GG sei insoweit eine „verfassungsrechtlich eindeutige Entscheidung"215 für ein Freiheitsrecht der Kriegsdienstverweigerung aus Gewi ssensgründen gegen den Staat ohne Schranken. Unklarheit und Interpretationsbedürftigkeit bestehen im Schutzbereich und im Gewährleistungsgehalt, Klarheit aber in der Funktion der freiheitsorientierten Begrenzung von Staatsgewalt und in der Schrankensystematik: Vorliegen oder Nicht-Vorliegen von Schranken und die Art von Schrankenbestimmungen sind zweifelsfrei festzustellen. Die darin erkenn2N 212 213 214
Ebd. S. 63. S.o. Kapitel B.I1.1. BVerfGE 69, 1,64. Ebd. S. 64.
215 Ebd. S. 65.
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bare normative Grundentscheidung ist wiederum von der in den oben behandelten Organisations- und Kompetenznormen erkennbaren Grundentscheidung klar zu unterscheiden. Die expansive Verfassungsinterpretation der sich im Urteil durchsetzenden Senatsmehrheit unterscheidet diese Normierungsebenen nicht hinreichend. Der Verlust dieser Differenzierung von Normebenen führt zu einer verfassungsrechtlich nicht ausgewiesenen Ausweitung der Verfassung, die im Ergebnis weniger verfassungsrechtlich verbürgtes Recht, nämlich eine Einschränkung des Rechtes der Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen bedeutet. Böckenförde erkennt in der expansiven Verfassungsinterpretation, die ihre Bindung an die im Organisations- und Kompetenzteil der Verfassung klare Normierung aufgibt, im Blick auf Art. 4 Abs. 3 GG eine Relativierung verfassungsrechtlich verbürgter Freiheit. Ist dessen Gewährleistungsinhalt eindeutig gegen die militärdienstliche Inanspruchnahme durch den Staat gerichtet, wird durch die ausweitende Interpretation der spezifischen Kompetenz- und Organisationsnormen die Gewissensfreiheit nur ein Verfassungswert neben dem ebenfalls Verfassungsrang beanspruchenden Wert der Funktionsfähigkeit der Landesverteidigung. Dabei wird im Ergebnis dann „die Verteidigungsfähigkeit der Bundesrepublik das sich behauptende, die Kriegsdienstverweigerung das zurückweichende Element." 216 Die konkrete Positivität des Art. 4 Abs. 3 GG steht deutlich dagegen: Es sind keine Schranken vorgesehen. Genauso deutlich, kann man ergänzen, wie bei anderen Grundrechten Schranken vorgesehen sind. Der interpretative Positivismus Böckenfördes geht dabei aber nicht so weit, daß er bei schrankenlosen Grundrechten die Notwendigkeit von „immanenten Schrankenziehungen" verneinte. Diese setzt er aber erst dort an, wo im Einzelfall „die elementaren, letzten Zwecke des modernen Staates ( . . . ) unmittelbar bedroht sind: der innerstaatliche Friedenszustand, der Bestand des Staates und die Möglichkeit seiner Sicherung nach außen, die Sicherung von Leben und Freiheit der Person, die unbedingt zu schützenden Rechte des Einzelnen." 217 Erst dort müsse das Gewissen, „das vom Staat Freiheit und unbedingte Achtung verlangt, (...) auch seinerseits die Rechte und die Freiheit der anderen respektieren" 218, um nicht in einen Selbstwiderspruch zu geraten. Der nur vorgeblich aus Organisationsnormen gewonnene Wert der Funktionsfähigkeit der Bundeswehr sei dazu aber ungeeignet, zumal er erkennbar keine normative Grundentscheidung darstelle, der in der Verfassung ein normatives Prinzip entspreche. 219 Auf diese Weise werden in die Verfassung vielmehr, wie es für expansive Verfassungsinterpretation typisch ist, Spannungsverhältnisse hineinverlegt, „für deren Auflösung sie keine Maßstäbe enthält." 220 In der Aufrechterhaltung von normtypischen Unterschieden von 216 Ebd. S. 65. 232.
217 S V D
218 Ebd. 219 Ebd. Nur solche normativen Grundentscheidungen der Verfassung selbst also und ihre Herausarbeitung könnten dies leisten. 220 Ebd. S. 62. Das Prinzip der Einheit der Verfassung, das zur Problemlösung empfohlen wird, hilft Böckenförde zufolge nicht weiter, weil mit seiner Hilfe nicht angebbar sei, „auf 6 Manterfeld
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Grundrechten und Kompetenznormen sieht Böckenförde im Rahmen limitierender Verfassungstheorie also die Normativität der Verfassung gestärkt. Aber nicht nur zwischen Grundrechten und Kompetenz- bzw. Organisationsnormen sind normtypische Unterschiede interpretationsmethodisch aufrechtzuerhalten, sondern auch innerhalb des Grundrechtsabschnittes.
2. Der Grundrechtsteil des GG a) Normstruktur und Grundentscheidung Der Inhalt des Grundrechtsabschnittes ist auch für Böckenförde in sich heterogen 2 2 1 : „Individualrechte stehen neben institutionellen Garantien, der Schutz von Berufsfreiheit und Eigentum neben den Ermächtigungen zur Dienstverpflichtung und Sozialisierung." Und innerhalb eines Grundrechtsartikels können, wie etwa bei Art. 5 GG, „die vorwiegend als institutionelle Garantie und objektive Grundsatznorm verstandene ... Wissenschaftsfreiheit und die zweifellos individualrechtliche Meinungsfreiheit nebeneinander" stehen.222 Es kann sich im Grundrechtsabschnitt also im Blick auf den Grad unmittelbar rechtlicher Geltung vom grundrechtsliberalen Ausgangspunkt der Verfassung her interpretatorisch eine Abstufung nach unten ergeben, aus der deutlich wird, daß nicht jeder Artikel des Grundrechtsteiles ein Grundrecht in diesem individualrechtlichen Sinne enthält, sondern auch etwa „(bloß) eine institutionelle Garantie" 223 . Gerade diesen Unterschied gilt es dann wahrzunehmen und nicht mit dem Gehalt eines individuellen Freiheitsrechtes zu argumentieren, wo ein solches nur in von vornherein abgeschwächter Form vorliegt. Die limitierende Verfassungtheorie und der interpretative Positivismus Bökkenfördes differenzieren also danach, ob und inwieweit die herausgearbeitete normative Grundintention des Grundrechtsteiles im einzelnen in der durch die Verfassungspositivierung getroffenen und erst dadurch im Rechtssinne verbindlichen Entscheidung ausgestaltet wird. Vor dem Hintergrund der Rahmenbestimmung des Grundrechtsgehaltes ist auf die konkrete textliche Gestalt und systematische Stellung der einzelnen Bestimmungen genau zu achten, um die Positivität der Verfassung als Gehalt eigenständiger historisch-politischer Entscheidung zu begreifen. Auch innerhalb des Grundrechtsteiles geht es Böckenförde also um Unterschiede
welche Weise, d. h. nach welchem Vorrang- oder Ausgleichsprinzip, sie zu erfolgen hat." Dementsprechend bezeichnet Böckenförde dieses Prinzip im Gegensatz zu seinem Urheber (Hesse) auch als " Topos ", einem Begriff, der bei Böckenförde auch in anderen Zusammenhängen für Maßstabslosigkeit steht. Vgl. ebd. S. 63. Auch Alexy äußert, obwohl im übrigen Kunstrukteur expansiver Verfassungstheorie, ähnliche Zweifel, vgl. Alexy, 1977, S. 41 -43. 221 Vgl. zum folgenden Böckenförde, 1982, S. 78 rechte Spalte. 222 Ebd. 223 Ebd. Vgl. zum grundrechtsliberalen Ausgangspunkt der Verfassung im Rahmen einer liberalen Grundrechtstheorie Brugger, 1987.
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und damit um klare Grenzziehungen der Verfassung, die nicht durch zielorientierte oder funktionale „Konkretisierung" von Verfassungsnormen aufgehoben werden dürfen und die - trotz des lapidaren „Wortlautes" der Grundrechtstexte - möglich sind. Bevor jedoch diese Differenzierungen verfolgt werden, sollen Böckenfördes Aussagen zum Grundrechtsteil untersucht werden, insofern sie sich als Grundrechtstheorie und allgemeine Interpretationsentwicklung im Sinne limitierender Verfassungstheorie darstellen lassen. Den Inhalt der Grundentscheidung, die die Verfassung im Grundrechtsteil dokumentiert, entnimmt Böckenförde den klassischen Freiheitsrechten und dem Freiheitsprinzip des liberalen Rechtsstaates, die er „als Antwort auf die elementaren Freiheitsverletzungen der NS-Zeit" 2 2 4 begreift. Dafür argumentiert Böckenförde zunächst mit den Intentionen des historischen Verfassungsgesetzgebers, wie sie in den Beratungen des parlamentarischen Rates zum Ausdruck kamen 225 , sowie mit der „Anlage und konkreten Ausgestaltung des Grundrechtskatalogs" 226. Historisch-genetische, Wortlaut- und systematische Methodenelemente werden damit verbunden. Böckenförde weist, um diese Verbindung deutlich zu machen, auf die für das Grundgesetz spezifische Effektivierung der Idee der individuellen Freiheit besonders hin 2 2 7 : Individuelle Freiheit als subjektiv öffentliches Abwehrrecht sei als unmittelbar geltendes Recht konzipiert, das den Gesetzgeber binde (Art. 1 Abs. 3 GG) und diese Bindung durch Art. 93 Abs. 1, Art. 100 GG gerichtlicher Überprüfbarkeit unterstelle. Dagegen spreche auch nicht die Einschränkungsmöglichkeit von Freiheitsrechten durch den Gesetzgeber: Erstens sei die Einschränkung nur sehr begrenzt möglich, insoweit für jedes Grundrecht, (wenn es nicht ohnedies schrankenlos gewährleistet ist) sehr sorgfältige und differenzierte Schrankenbestimmungen angeordnet seien; zweitens sei die Einschränkung nur möglich, soweit sie ausdrücklich zugelassen sei (Art. 19 Abs. 1, Abs. 2 GG). 2 2 8 Zu den systematischen Intentionen des Verfassungsgebers beim Rückgriff auf den liberalen Rechtsstaatsgedanken sind hier nur kurze Erörterungen erforderlich, da diese Intentionen bei der Entwicklung des Staatsgedankens als Voraussetzung der Verfassung bereits dargestellt wurden 229 : Daß der Rückgriff auf den liberalen, am Abwehrgedanken orientierten Rechtsstaatsgedanken nach den Erfahrungen des NS-Machtstaates den Verfassungsgesetzgebern nahelag, ist unmittelbar einsichtig. Dagegen wird die Verfassung aber nicht aus dem Nichts gerichtet, sondern die Verfassungsgeber greifen auf einen ihnen vorgegebenen Gehalt und vorgegebene Traditionen des liberalen Rechtsstaatsdenkens zurück und aktualisieren sie in einem verbindlichen Rechtstext. Bezüglich der Grundrechte ergibt 224 SVD 143. 225 Vgl. ebd. mit Verweis auf v. Mangoldt, 1953, S. 34 ff. 226 SVD 143. Hier greift Böckenförde also auf Elemente klassischer Hermeneutik zurück (historische, systematische Auslegung). 227 Etwa im Unterschied zur Weimarer Reichsverfassung, in der Grundrechte nur unverbindlichen Programmcharakter hatten, vgl. dazu Böckenförde, SVD 161. 228 V g l . SVD 143. 229 S.o. Kapitel C.I.l.b)aa). *
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sich daraus: In der Verfassung wird genau die oben entwickelte vorstaatliche Freiheit durch die Grundrechte gesichert, die die punktuell zu bestimmenden negativen Ausgrenzungen zu dem in den Staatszwecken zum Ausdruck gelangenden staatlichen Integrationsanspruches beschreibt. 230 Von hier aus kann man den Bogen zur Methodendiskussion der Verfassungsinterpretation des Grundgesetzes schlagen231: Diese hat die komplexen Voraussetzungen und Folgen der Realisierung von in den Grundrechten gegen den Staat formulierten Gewährleistungen sowie staatliche Gestaltungsziele nicht selbst zu bewirken und kann sich deshalb darauf beschränken, an diesen Rahmen gebundene Interpretation eines Rechtstextes232 zu sein. Wurden durch die Konstruktion der objektiven Dimension der Grundrechte Spannungsverhältnisse in die Verfassung hineinverlegt, die mit den Mitteln der Verfassung und ihrer Interpretation nicht aufgelöst werden konnten, verlegt Böckenförde diese Verhältnisse aus ihr hinaus. Diese staatstheoretisch unterfaßte Grundrechtsauffassung ermöglicht es Böckenförde, von der Verfassung selbst aus, eine kompetentielle233 Eingrenzung der Rolle des Bundesverfassungsgerichtes vorzunehmen: Nach der Kompetenzordnung des Grundgesetzes obliegt es dem Bundesverfassungsgericht, „die Geltung der Grundrechte in einem näher geregelten Verfahren zu gewährleisten" 234, das ein gerichtliches Verfahren mit dafür typischen Beschränkungen ist. Ist der kompetentiell dem Verfassungsgericht aufgegebene Gegenstand der Verfassung aber in seinem normativen Anspruch auf ein subjektives Abwehrrecht beschränkt, beschränkt sich damit zugleich die jurisdiktionelle Kompetenz des Verfassungsgerichtes, das nun nicht mehr den innergesellschaftlichen oder gesetzgeberischen Bereich mit vorgeblich interpretierend gewonnenenen „Wertsetzungen" einer expansiv gedeuteten Verfassung bevormunden kann, sondern punktuelle Grundrechtsverletzungen des Staates und diesbezügliche Anträge der Betroffenen abzuwarten hat. 235
230 RSF 215. Die damit angesprochene negative Seite der Grundrechte wird als klassische Grundrechtsfunktion rekonstruiert von Schlink, 1984, S. 457 und Hellermann, 1993. Zu letzterem vgl. auch die Rezension von Heun, 1997. 231 S. o. Kapitel B.I. und C.I.2. 232 RSF 58. 233 Im Unterschied etwa zu Versuchen, funktionelle bzw. funktionenrechtliche Grenzen des Bundesverfassungsgerichtes zu bestimmen. Vgl. Hesse, 1981, S. 261 ff. 234 SVD 192. 235 Man kann fragen, wie es zu dieser Einschätzung paßt, daß Böckenförde „den wesentlichen maßstäblichen Ausführungen des Urteils" (vgl. Sondervotum Böckenfördes in JZ-Sonderausgabe vom 7. Juni 1993 S. 49) zum Urteil über den Schwangerschaftsabbruch vom 28. Mai 1993 zustimmt, obwohl dieses Urteil den Gesetzgeber vielleicht wie kein anderes sowohl in der Genese wie auch in der Form entmündigt hat. Böckenförde sieht dieses Urteil als Ausnahme an, die er damit begründet, daß anders „dem Problem der durch den Einigungsvertrag zunächst aufrechterhaltenen früheren Rechtslage in den alten Bundesländern, die strikt verfassungswidrig war und auch nicht Übergangs weise in Anwendung gelassen werden konnte, nicht beizukommen war." vgl. Böckenförde bei Klein, 1994, S. 18.
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Interpretationstheoretisch betrachtet, braucht der methodische Begriff der Konkretisierung nicht zu einem Vermittlungsbegriff für die Inblicknahme komplexer sozialer Gestaltungsaufgaben gemacht zu werden. 236 Diese Fragen können zwar am Rande der Grundrechtsinterpretation auftauchen, sie sind aber nicht „Inhalt" der Grundrechte und können deshalb nicht grundrechtlich reflektiert werden. Dies gilt auch für die Dialektik von Recht und gesellschaftlicher Macht als Infragestellung der vorausgesetzten Freiheit auf rein faktischer Ebene. 237 Die Träger gesellschaftlicher Macht können insofern, auch in einer entwickelten Industriegesellschaft, in der die Voraussetzungen des grundrechtlichen Freiheitsgebrauchs nicht „natürlich" gegeben sind und sogar faktisch gefährdet werden, nicht grundrechtsgebunden sein. Bezüglich der Grundrechte muß man, im Gegenteil, sagen, daß sie, trotz ihrer gelegentlich „ungerechten" Machtrealisierung grundrechtlich „legitimiert" und nicht begrenzt bzw. gebunden sind. 238 Historisch gesehen ist zwar der objektiv-rechtliche Gehalt von Freiheitsrechten auch für Böckenförde nicht per se ausgeschlossen.239 Diesen weitreichenden Aspekt des historischen liberalen Rechtsstaatsgedankens aber greift das Grundgesetz mit seiner Konzeption von Grundrechten als subjektiven Abwehrrechten gegen den Staat Böckenförde zufolge gerade nicht auf 2 4 0 . Wegen des damit begründeten Unterschieds von historisch objektiv-rechtlichem Gehalt von Freiheitsrechten und der Positivierung der Grundrechte des Grundgesetzes ist ihnen auch eine Wertordnung für das gesamte die Freiheitskoordinierung innerhalb der Gesellschaft organisierende Rechtsystems nicht zu entnehmen. Grundrechten gegenüber dem Staat entsprechen deshalb keine Grundpflichten gegenüber dem Staat. 241 Diese grundrechtsbezogene Typisierung der Elemente liberalen Rechtstaatsverständnisses ist nicht etwa willkürlich, sondern in der Struktur liberalen Freiheitsverständnisses angelegt: Weil den Grundrechten etwas bereits Vorhandenes, dem Staat Vorausliegendes zugrundeliegt, sind sie „aus sich heraus, d. h. unmittelbar auf der Verfassungsebene im Wege konkreter Rechtsansprüche durchsetzbar" 242. Dieser Schutz ist deshalb besonders effektiv und umfassend, weil er ohne inhaltliche Vorgaben in der Verfassung rein formal konzipiert ist 2 4 3 und gerade deshalb methodische Klarheit gewährleistet. Böcken236
RSF 151. Siehe dazu für die expansive Verfassungstheorie Kapitel B.1.2. und vgl. RSF 151. 237 RSF 169. 238 SVD 264 ff. 239 Vgl. SVD 189. Insofern ist die Bezeichnung des Rückgriffes auf klassische Grundrechte erklärungsbedürftig: Böckenförde bezieht sich hier auf die Erklärung der Bürger und Menschenrechte von 1789 und auf den Grundrechtskatalog der Belgischen Verfassung von 1831, der er eine Vorbildwirkung für die liberal-konstitutionelle Verfassungsbewegung des 19. Jahrhunderts in Deutschland zuspricht, vgl. Böckenförde, 1980b, S. 55. 240 Ebd. 241
Die Sonderstellung, die Art. 6 Abs. 2 GG mit seiner Verknüpfung von Berechtigung und Verpflichtung der Eltern diesbezüglich einnimmt, bestätigt für Böckenförde diese Regel, vgl. Böckenförde, 1980b, S. 68. 242 SVD 151.
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forde ergänzt diese Grundrechtskonzeption aber durchaus mit einer Wertkomponente, indem er dem Menschenwürdegebot des Art. 1 Abs. 1 GG für die Grundrechtsgeltung und das Rechtssystem eine „Ausstrahlungswirkung" beimißt. 244 Diese Ausstrahlungswirkung begründet aber keine expansive Verfassungsinterpretation: Sie konkretisiert sich einerseits gerade darin, daß Grundrechte dem Einzelnen als subjektive Freiheitsrechte gegenüber dem Staat gewährleistet werden, „um deren Freiheit und Autonomie zu sichern" 245 . Sie entsprechen damit der dem Grundrechtsteil zugrundezulegenden liberalen Grundrechtskonzeption Böckenfördes; andererseits realisiert sich die darüberhinausgehende universale, die Rechtssubjekte untereinander betreffende Geltung des Menschenwürdeartikels im Rahmen der Grundrechte nur dann, wenn „sich in ihnen ein Gehalt aus Art. 1 Abs. 1 GG verkörpert". 246 Dies aber wird von Böckenförde nur in den Grenzfällen angenommen, in denen eine konkrete Grundrechtsausübung zugleich eine Rechtsverletzung anderer bedeutet, die das Menschsein des anderen, seinen Wesenskern, sein Leben, in Frage stellt und deshalb die „Einheit der Rechtsmoral" gefährdet. 247 Eine prinzipielle Erweiterung und Verallgemeinerung des Grundrechtsgehaltes in Richtung objektiver Gehalte ist damit nicht verbunden. Der Rahmen für Bedeutung und normativen Gehalt der Grundrechte ist damit grundrechtstheoretisch abschließend bestimmt. Der Grundrechtsteil „regelt" auf der Verfassungsebene unmittelbar, im „Rahmen" der Verfassung „nur" das. Damit betont Böckenförde die innere Differenzierung des Grundrechtsteiles der Verfassung und seine Rigidität. 248 Besonders deutlich wird die innere Differenzierung des Grundrechtsteiles in einigen Einzelinterpretationen Böckenfördes.
b) Interpretationsbeispiele zum Grundrechtsteil Gegenstand dieses Abschnittes sind ausgewählte Einzelinterpretationen und Sondervoten Böckenfördes. Es wird sich zeigen, daß Böckenförde im Rahmen sei243
Vgl. zu diesem Zusammenhang, SVD 150. In der Betonung der Effektivität der Grundrechte durch ihre reduzierte Geltung stimmt Böckenförde mit Forsthoff überein. Vgl. Forsthoff 1976a, S. 131. 244 in Anlehnung an Dürig, vgl. SVD 170 und 195. 245 SVD 170. 246 SVD 170. 247 Ebd. Auch deshalb konnte Böckenförde das zweite Schwangerschaftsurteil in wesentlichen Teilen mittragen, vgl. zu weiteren Gründen schon oben Fn. 377. Akzeptiert man den (verfassungsrechtlich allerdings nicht vorentschiedenen und nicht vorentscheidbaren) Ausgangspunkt, daß Leben in dem vom BVerfG zugrundegelegten frühen Stadium schon vorliegt, muß man einen Grenzfall annehmen, der den Gehalt von Art. 1 Abs. 1 GG auch bei der Interpretation eines Freiheitsgrundrechtes aktiviert. Anders Dreier, H., 1995, S. 1036 ff., der die Problematik des Schwangerschaftsabbruchs ganz von der „schweren Bürde" des Art. 1 Abs. 1 GG abkoppeln und allein auf Art. 2 Abs. 2 GG stützen will. 248 Vgl. zu Rigidität und Flexibilität im Verfassungsrecht oben Fn. 104 f.
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nes interpretativen Positivismus' jedes einzelne Grundrecht und den spezifischen Fall genau danach befragt, ob eine über die individuelle Abwehrfunktion hinausgehende Bedeutung nach Wortlaut, Entstehungsgeschichte Systematik und Staatsfunktion möglich ist und ob eine „Abwägungssituation" besteht und wenn ja, worin. Die Verallgemeinerung einer grundrechtlichen Bedeutungsausweitung wird damit im Ansatz ausgeschlossen und erscheint als das spezifische Moment der Unterscheidung von expansiver und limitierender Verfassungsinterpretation im Grundrechtsbereich. Begonnen werden soll mit zwei schon älteren Interpretationsbeispielen, die jedoch zusammengenommen die Bereiche abstecken, die das Material der jüngeren und umstrittenen Kruzifix-Entscheidung des BVerfG liefern. 249
aa) Der Schulgebets streit Die literarische Form von Böckenfördes Äußerungen zum Problem des „Schulgebetes" christlicher Schüler ist die rechtswissenschaftliche Urteilsanmerkung und Diskussion. 250 Nicht die Einzelheiten der zugrundeliegenden Fälle, sondern das verfassungsrechtliche und methodische Vorgehen Böckenfördes sollen deshalb hier interessieren. Zunächst bestimmt Böckenförde die normativen Ansatzpunkte für eine verfassungsrechtliche Beurteilung des Schulgebetes : Es sind die Art. 7 Abs. 1 GG (Schulorganisationsgewalt), Art. 6 Abs. 2 (Erziehungsrecht) und Art. 4 Abs. 1 und 2 GG (Religionsfreiheit). Daraus ergibt sich für die Aufgabe der Verfassungsinterpretation: Die Gestaltungsbefugnisse des Staates, die Freiheits- und Einwirkungsansprüche der Schüler und der Eltern müssen aufeinander bezogen werden. Wie kann das im Rahmen limitierender Verfassungsinterpretation geschehen, ohne in der Abwägung von gleichberechtigten Wertsphären zu landen, die Böckenförde als Merkmal expansiver, die Vorgaben der Verfassung verlassender, Verfassungstheorie kritisiert? Zunächst schichtet Böckenförde das Elternrecht von den übrigen einschlägigen Normen ab. Der positive verfassungsrechtliche Befund zum Inhalt der 249 Vgl. BVerfGE 93, 1 ff. und oben Fn. 4 Böckenförde soll damit keine von ihm bislang nicht abgegebene inhaltliche Stellungnahme zu dem umstrittenen Urteil untergeschoben werden, sondern im Bewußtsein der Distanz zur Aktualität eine vielleicht nüchternere Betrachtung eröffnet werden. Im übrigen ist die Äußerung Böckenfördes, seit dem Kruzifix-Urteil habe sich etwas im Rechtssystem der Bundesrepublik Deutschland geändert, nicht auf die inhaltlichen Ausführungen im Urteil selbst zu beziehen, sondern auf die politischen Widerstand gegen das Urteil ankündigenden Äußerungen hoher politischer Repräsentanten. Vgl. Böckenförde, 1996, Spalte 1. Auch hieran wird erkennbar: Die Betonung der Grenzen der Verfassung hat mit BVerfG-Schelte nichts gemein. Hat das BVerfG entschieden, hat das Rechts- und Politiksystem sich danach zurichten,wie „ungerecht" und inhaltlich fragwürdig das Urteil aus den partikularen Perspektiven der pluralistischen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten auch immer sein möge. Ein Grund mehr, Verfassung und Verfassungsgerichtsbarkeit im Rahmen limitierender Verfassungstheorie systematisch von ihren Grenzen her zu bestimmen. 250 Vgl. dazu die zahlreichen Äußerungen von Böckenförde, 1966b, S. 30 ff., 1974b, S. 253 ff., und 1980a, S. 323.
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staatlichen Schulhoheit in Art. 7 Abs. 1 GG ergibt für das Schulgebet als religiöser Veranstaltung einen gegenüber dem Elternrecht relativ selbständigen schulischen Erziehungsauftrag als staatlichen Rahmen, 251 „der für die weitere Ausgestaltung durch die dafür kompetenten Länder offen" 252 , aber als Mindestregelung gleichwohl eigenständig und verbindlich ist. Im Rahmen des somit maßgeblichen staatlichen Erziehungsauftrages geht es Böckenförde dann um eine weitere Unterscheidung: Entweder stehen mit dem christlichen Schulgebet Unterrichts- und Erziehungsinhalte auf dem Spiel; damit würde das Christentum als Kultur- und Bildungsfaktor erscheinen, gegen das die negative Bekenntnisfreiheit aus Art. 4 GG nicht einschlägig ins Feld geführt werden könnte. Oder es geht beim Schulgebet um einen Akt religiösen Bekennens, der qualitativ über die Darstellung eines allgemeinen christlichen Kulturwertes hinausgeht und Art. 4 GG damit grundsätzlich einschlägig macht. Das Beten geht über die pädagogische Vermittlung von kulturellem Wissensgehalt hinaus und ist ist deshalb als Akt religiösen Bekennens zu bewerten, bei dem Art. 4 GG einschlägig ist. Böckenförde bestimmt den Charakter und den rechtlichen Ort des Schulgebetes deshalb wie folgt: Wenn das Schulgebet christlicher Schüler problematisch wird, liegt ein staatsorganschaftliches Handeln gar nicht vor. Die Schule erscheint hier als soziales Gebilde, in dem der Staat einen gesellschaftlichen Lebensbereich in seine Obhut nimmt und seiner organisatorischen Gestaltung unterstellt, ohne dessen Freiheit damit aufzuheben. Die praktische Bedeutung der Unterscheidung von Staat und Gesellschaft zeigt sich hierbei darin, daß die Sphäre der Begegnung von staatlichem Amtshandeln und gesellschaftlicher (bürgerlicher) Freiheit unterschieden und gerade darin aufeinander bezogen wird. 2 5 3 Wenn das Schulgebet aber Bekenntnisübung ist, hat der Staat, da nicht sein organschaftliches Handeln in Frage steht, in der Schule aber ein in staatlicher Obhut stehendes soziales Gebilde vorliegt, den organisatorischen Rahmen für diese religiöse Übung zu schaffen. In dem Ob, aber auch nur darin, hat er keine Entscheidungsfreiheit. Von sich aus anzubieten hat er das Schulgebet jedoch schon deshalb nicht, weil es Ausdruck vorausgesetzter gesellschaftlicher Freiheit ist. 2 5 4 Unmittelbare Grundrechtsgeltung begründet hier nur die Verpflichtung des Staates zur grundsätzlichen Zulassung des Schulgebetes. Eine Verweigerung auch dieser Zulassung könne sich nur aus der zu befürchtenden Verletzung des Grundrechts der negativen Bekenntnisfreiheit anderer ergeben oder aus der Unvereinbarkeit mit der Realisierung der anerkannten Schulzwecke. Die Verletzung der negativen Bekenntnisfreiheit aber sei schon durch die Sicherstellung der Freiwilligkeit der Teilnahme am Schulgebet auszuschließen, wobei die Beachtlichkeit des Widerspru-
251 Böckenförde, 1980a, S. 323. 252 Vgl. Böckenförde, 1980b, S. 59. 253 Böckenförde, 1980a, S. 324. 254 Vgl. zur Denkfigur der von der Verfassung vorausgesetzten Freiheit oben. Kapitel C.I.l.b)aa)(3)(b). Aus dem gleichen Grund gibt es für Böckenförde auch keinen grundrechtlich ableitbaren und deshalb auch keinen grundrechtlich einklagbaren Anspruch auf christlichen Religionsunterricht. Vgl. Böckenförde, 1980a, S. 325.
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ches auch nur eines Schülers zu berücksichtigen ist. Es stellt sich für Böckenförde hier keine Frage der Drittwirkung von Grundrechten der Schüler untereinander. 255 Vielmehr geht es um die Frage des Verhältnisses der betwilligen oder der betunwilligen Schüler zum Staat, der das Schulgebet, sei es zugelassen, sei es auf Widerspruch hin, verboten hat. Durch die Freiwilligkeit der Teilnahme ist eine Dominanz von negativer gegenüber positiver Bekenntnisfreiheit in ausreichender Weise zu verhindern. Hierzu wäre von der Schule zu überprüfen, ob durch die Zulassung des Schulgebetes psychischer Zwang ausgeübt werde. Nur so wäre ja der Staat in Gestalt der Schule Adressat eines Nichteingriffsanspruchs aus der negativen Bekenntnisfreiheit. Wegen des die Interpretation von Art. 4 Abs. 1 GG systematisch begleitenden Toleranzprinzips müßte, wenn für psychischen Druck reale Anhaltspunkte vorlägen, der Nachteil der Unaufgeklärtheit den Staat und die betwilligen Schüler treffen. Dieses Interpretationsbeispiel zeigt, wie vorgeblich konfligierende Grundrechtspositionen in ihrem spezifischen Aussagegehalt herausgearbeitet werden können und damit der vorschnelle Weg in die Abwägung gleichberechtigter Wertsphären vermieden werden kann.
bb) Der Streit um das Kreuz in Gerichtssälen Bei Böckenfördes Bearbeitung des Problems von Kruzifixen in im Zeichen staatlicher Allgemeinheit stehenden Gerichtssälen verfolgen wir Böckenfördes differenzierte Analyse der verfassungsrechtlichen Bindung staatlicher Selbstdarstellung. Im dem Böckenfördes Gutachten zugrundeliegenden Einzelfall war der Beschwerdeführer Jude, der sich weigerte, in einem mit dem Kruzifix ausgestatteten Gerichtssaal zu verhandeln. Möchte man hier hauptsächlich Erörterungen zur Religionsfreiheit erwarten, bietet Böckenförde im Großteil der Abhandlung eine verfassungsrechtliche Erörterung ohne Grundrechtsbezug. Es wird daran deutlich, welche objektiven und prinzipienorientierten Verfassungsgehalte dem Grundrechtsdiskurs im Rahmen limitierender Verfassungstheorie selbständig gegenübergestellt werden können. Weil bei der Verwendung von Kruzifixen in Gerichten die Bedeutung und staatliche Verwendung eines Symbols problematisch wird, beginnt Böckenförde seine Abhandlung mit der dadurch auf den Plan gerufenen Thematik der symbolischen Integration des Staates. Über demokratische Vielfalt hinaus wird durch Symbole 255 Böckenförde, 1980 a, S. 326. Gegen die Drittwirkung von Grundrechten auch deutlich Böckenförde 1980 b (zu Art. 6 GG), S. 62, obwohl in Art. 6 GG von der Verfassung ausnahmsweise eine Verpflichtung mit einem Grundrecht verbunden ist: Die Subjektstellung des Kindes gegenüber den Eltern ist nicht so zu bewerkstelligen, „daß Elternrecht und Kindergrundrechte als konkurrierende und kollidierende Freiheits- und Interessensphären einander entgegengesetzt werden, um sie dann durch Ausgleich und Abwägung gegeneinander zu begrenzen." Dies würde vielmehr „zur Auflösung des elterlichen Erziehungsrechts selbst führen, denn die Wahrung der das Elternrecht begrenzenden Kindesgrundrechte könnte ja nicht den Eltern selbst, sondern müßte einem permanenten Vormund anvertraut werden." Ebd.
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des Staates grundsätzlich eine gemeinsam gewollte einheitliche Staatsordnung durch staatliche Selbstdarstellung bewirkt 256 : Der durch wechselnde Amtsinhaber und politische Richtungsunterschiede nicht aufgehobene objektivierte Amtsauftrag staatlicher Organe und Funktionen wird dadurch sinnfällig. 257 Dabei sieht Böckenförde einen Zusammenhang von Repräsentationsfunktion und Integrationsfunktion: Der Staat als Organisation und Wirkeinheit ist nicht rein faktisch zu begreifen, er ist nicht unmittelbar präsent und deshalb darauf angewiesen, sich auch symbolisch zu integrieren und zu repräsentieren. In dieser begrenzten Hinsicht bejaht Böckenförde hier auch eine Nähe zu Smends Integrationslehre 258, die im übrigen für ihn Anknüpfungspunkt für expansive Verfassungstheorie ist. 2 5 9 Gerichtssäle sind Teil staatlicher Öffentlichkeit und die in ihnen betriebene staatliche Rechtspflege ist eine Funktion des Staates. Es stellt sich die Frage, ob und wie die Bindung staatlicher Selbstdarstellung an rechtliche Maßstäbe hier begründet werden kann. 260 Böckenförde begründet diese Bindung nicht nur in bezug auf die zufällige, durch kontingente Anlässe hervorgerufene Gesetzgebung. Er versucht vielmehr zu zeigen, daß staatliche Selbstdarstellung einer inneren Notwendigkeit gehorcht und auf einem tragenden Prinzip beruht, 261 da er den Staat selbst als eine von normativen Prinzipien bestimmte, auf bestimmte Ziele hin orientierte und sich dadurch an einem Sinn und Zweck ausweisende Wirkungs- und Handlungseinheit begreift. 262 Die Bindung an die den Staat selbst tragenden Prinzipien aber ist zwangsläufig desto stärker, je mehr er in seinen Kernfunktionen berührt ist. Im Blick auf die rechtliche Bindung der Selbstdarstellung des Staates unterscheidet Böckenförde deshalb: Erscheint die staatliche Wirkeinheit als Träger einer nur ihr zukommenden, nicht auswechselbaren Anordnungs- und Entscheidungsgewalt in Gestalt institutionalisierter Ämter und amtlicher Personen 263, und ist damit eine Kernfunktion des Staates beschrieben, ist die Gestaltungsfreiheit des Staates in seiner Selbstdarstellung gering. Anders ist es im oben im Rahmen der Schulgebetsproblematik dargestellten Bereich: Dort stand gesellschaftliches Leben in der Obhut des Staates und das öffentliche Schulwesen stellt damit ein soziales Gebilde dar, von dem allenfalls die Leitungsorgane staatliche Ämter bekleiden, deren übrige Mitglieder (Schüler) jedoch nicht als Rollenträger in die staatliche Organisation eingeordnet sind 2 6 4 Handelt es sich um Bereiche der Selbstdarstellung aus gesellschaftlicher und bürgerlicher Freiheit im lediglich organisatorischen Rahmen des Staates, kann 256 Vgl. zur Bedeutung der Integrationsfunktion des Staates auch Böckenförde, 1980b, S. 71 in bezug auf das Gegenüber zu einer geistig-ethisch pluralistischen Gesellschaft. 257 Böckenförde, 1975, S. 123. 258 A.a.O.,S. 125. 259 S. o. Kapitel B.I.3.a). 260 Böckenförde 1975, S. 125. 261 262 263 264
Vgl. Böckenförde, 1975, S. 125. Vgl. zum Staat als organisierter Wirkeinheit oben Kapitel C.I.l.b)aa)(2). Vgl. Böckenförde, 1975, S. 127. Vgl. oben Kapitel C.II.2.b)aa).
II. Der besondere Teil
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und muß staatliche Selbstdarstellung sich Ausdrucksformen verschaffen, die dem verfaßten Staat in den Kernfunktionen seiner Selbstdarstellung verwehrt sind. Hieraus ergibt sich, " daß die Ausstattung von Gerichtssälen mit Kreuzen eine andere Sache ist und anderen rechtlichen Gesichtspunkten und Bindungen unterliegt als etwa die Ausstattung von Klassenräumen in staatlichen Schulen oder Krankenzimmern in staatlichen Krankenhäusern mit Kreuzen (Kruzifixen)." 265 Bei der Wahrnehmung der Gerichtsfunktion aber handelt es sich um eine Kernfunktion des Staates und die Bindung an die den Staat selbst tragenden Prinzipien wird von Böckenförde dementsprechend als sehr eng begriffen. Das tragende Verfassungsprinzip, an das der Staat auch und gerade in der Wahrnehmung seiner Gerichtsfunktion gebunden ist, ist das der religiös-weltanschaulichen Neutralität des Staates. Diese wird von Böckenförde als objektives Rechtsprinzip der Verfassung begriffen, das weitere rechtsdogmatische Folgerungen trägt, obwohl es ausdrücklich nicht in der Verfassung benannt ist. 2 6 6 Böckenförde entnimmt dieses Prinzip der Verfassung, indem er in den Artikeln 4 Abs. 1 GG, 3 III, 33 ΙΠ, 140 iVm.Art. 1361 und IV, 137 WRV kein Bündel zufällig gleichlaufender Einzelnormierungen, ohne prinzipiellen Gehalt sieht. 267 Danach soll der Staat von seinem Ursprung her gemeinsame Ordnung und gemeinsames Haus für alle seine Bürger sein, ohne Rücksicht auf deren religiöse oder weltanschauliche Überzeugung. 268 Der Verfassungsgeber hätte zwar von diesem Prinzip, das er selbst statuiert, durch gewillkürte, kontingente Setzungen Ausnahmen machen können, dies habe er aber in Bezug auf die religiöse Neutralität des Staates nicht getan. 269 Was aber ist Inhalt dieses hier einschlägigen Prinzips? Der Begriff der Neutralität als solcher führt Böckenförde nicht weiter. Daher nimmt er eine Differenzierung nach Ansprüchen, Sachbereichen und Zielvorstellungen vor: Bei Kruzifixen in Gerichtssälen stellt sich die Frage der religiösen Neutralität im staatlichen Kernbereich. Wegen der betroffenen Kernfunktion des Staates ist hier für Böckenförde eine distanzierende Neutralität im Sinne der strikten staatlichen Nichtidentifikation erforderlich. 270 Kruzifixe in Gerichtssälen sind daher, weil dem Gebot einer distanzierenden Neutralität in einem staatlichen Kernbereich nicht entsprochen wird, objektiv verfassungswidrig. Damit ist jedoch noch nichts über die Möglichkeit gesagt, im Wege der Verfassungsbeschwerde einen Anspruch auf Entfernung von Kruzifixen durchzusetzen. Die verfassungsgerichtlich allein bedeutsame normative Ebene ist durch die ver265
A. a. O. S. 128. In dieser Differenzierung liegt m.E. ein wesentlicher Unterschied zum jüngeren Kruzifixurteil des BVerfG in BVerfGE 93,1 ff. Vgl. zu der Unterscheidung von verfassungstheoretisch zu erarbeitenden deskriptiven Verfassungsprinzipien und ausdrücklichen Verfassungsprinzipien oben, Kapitel C.I.2.a) und das Interpretationsbeispiel in C.II.l.b). Vgl. Böckenförde, 1975, S. 129. 2 68 Ebd. a» A.a.O. S. 133. 2 ?o A.a.O.S. 130.
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C. Die limitierende Verfassungstheorie Böckenfördes
fassungsprinzipielle Herleitung der Neutralität des Staates noch überhaupt nicht betreten. Von der Interpretation eines Grundrechtes im Sinne eines subjektiven Rechtes sind sie klar zu unterscheiden. Die Grundrechtsinterpretation selbst aber ist, wie sich im folgenden zeigen wird, durch diese von ihr unterschiedene Prinzipiendiskussion entlastet. Die sich bei Böckenförde anschließende Prüfung der Verletzung der Religionsfreiheit selbst kann deshalb knapp und unter Bezug auf klassische Inhaltsbestimmungen erfolgen, ohne verkürzend zu sein: Gewährleistet wird in Art. 4 Abs. 1 und 2 GG die Freiheit, eines beliebigen religiösen oder weltanschaulichen Bekenntnisses. Werden nicht-christliche Verfahrensbeteiligte in diesem Grundrecht nun dadurch beeinträchtigt, daß sie in einem mit einem Kruzifix ausgestatteten Gerichtssaal erscheinen und verhandeln müssen? Böckenförde kommt zu einem negativen Ergebnis: Weder sei der eigene Glauben behelligt, noch werde eine Äußerung über den Glauben verlangt. 271 Auch die freie Religionsausübung (Art. 4 Abs. 2 GG) ist nicht beeinträchtigt. Weder werde die Vornahme privater oder öffentlicher religiöser Kulthandlungen staatlicherseits behindert, noch werde sie angeordnet. Eine Verletzung der Religionsfreiheit liegt also durch das Aufhängen von Kreuzen in Gerichtssälen, wiewohl aus anderen Gründen als verfassungswidrig erwiesen, nicht vor. Anders steht es bei der Gewissensfreiheit ( Art. 4 Abs. 1 GG ). Zunächst arbeitet Böckenförde ihre neben der Religionsfreiheit selbständige Bedeutung heraus. 272 Im Unterschied zu den Verfassungen des 19. Jahrhunderts sieht das Grundgesetz die Gewissensfreiheit nicht mehr als die geringste Stufe der Religionsfreiheit an. Vielmehr sollte nach der normativen Intention des Grundgesetzes angesichts der „tausendfachen Bedrohung gerade der Freiheit von Glauben, Gewissen und Bekenntnis im »Dritten Reich4 ( . . . ) dieser Bereich als ein jedem staatlichen Zugriff entzogener Bereich der Freiheit des einzelnen gesichert werden; nicht nur die Freiheit, sondern die Unverletzlichkeit der Freiheit von Glauben, Gewissen und Bekenntnis wird gewährleistet. Der Einzelne soll in dem, ( . . . ) was den Kern seiner Persönlichkeit ausmacht, unbehelligt und unverletzt bleiben." 273 Wie für die Religions· und Bekenntnisfreiheit, sei vor diesem historisch-politischen Hintergrund auch die Gewissensfreiheit als über die reine Innerlichkeit hinausgehende Gewissensbetätigungsfreiheit zu begreifen. Eine das Gewissen dagegen auf seine reine Innerlichkeit beschränkende „restriktive Interpretation würde die normative Intention des Verfassungsgebers in ihr Gegenteil verkehren." 274 Interpretativer Positivismus im Rahmen limitierender Verfassungstheorie ist hier deutlich in seiner verfassungsstärkenden Position erkennbar. Den Inhalt der Gewissensfreiheit bestimmt Böckenförde dementprechend sowohl dahingehend, daß die Bildung von Gewissensüberzeugungen „sich frei, d. h. ohne Beeinträchtigungen durch Maßnahmen 271 A.a.O.S. 139. 272 A. a. O. S. 140 f. 273 A. a. O. S. 141. 274 A. a. O., S. 142.
II. Der besondere Teil
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der öffentlichen Gewalt, vollziehen kann", als auch dahingehend, daß diese Freiheit es umfaßt, „von der öffentlichen Gewalt innerhalb bestimmter, im einzelnen zu bestimmender Grenzen der Gemeinverträglichkeit nicht zu einem Verhalten (...) gezwungen zu werden, das den Geboten des eigenen Gewissens widerspricht." 275 Deshalb werden „Bedeutung und Funktion des Gewissens" darin gesehen, „die konsistente moralische Selbstdarstellung des einzelnen als sittliche Persönlichkeit" zu gewährleisten und den einzelnen „davor zu bewahren, seine Identität als diese Persönlichkeit zu verlieren, dem untreu zu werden, was für ihn die Normen seines Lebens ausmachen und sich dadurch preiszugeben'." Darin zeige sich zugleich der Menschenwürdebezug der Gewissensfreiheit : „Im ungebrochenen Vollzug der eigenen moralischen Selbstdarstellung, wie das Gewissen sie dirigiert und kontrolliert, hat und realisiert der Einzelne seine Würde." 2 7 6 Eine Verletzung des so bestimmten Gewissens liege damit nur vor, wenn dem Einzelnen die Möglichkeit der konsistenten moralischen Selbstdarstellung genommen wird und dadurch eine gebrochene Persönlichkeit erscheint. Dabei könne das vom Gewissen geforderte Verhalten zwar nicht gegenständlich eingeschränkt werden, da die konsistente moralische Selbstdarstellung in jedem Verhalten kritisch betroffen sein könne. Dies führt Böckenförde aber nicht zu einer generalisierbaren Gewissensposition 2 7 7 , sondern zum Hinweis auf die individuelle Verschiedenheit der das Gewissen bestimmenden Faktoren, die im Einzelfall als die Identität einer Person ausmachende Gewissenspositionen aufzuweisen und darin von bloßen Meinungen oder Auffassungen abzuheben seien. 278 Auch hier finden wir also, wie auch schon im Prinzipiendiskurs, klare inhaltliche Unterscheidungen im Rahmen der limitierenden Verfassungstheorie Böckenfördes, auf die auch deshalb nicht die These des Rückzuges auf einen formalen Rechtsstaatsbegriff anzuwenden ist. 2 7 9 Im dem dem Gutachten zugrundeliegenden Fall kann Böckenförde die Weigerung eines Juden, „unter dem Kreuz" vor Gericht zu verhandeln, nun im konkreten Fall als Gewissensposition begreifen, weil er anerkennt, daß das Gelingen der Selbstdarstellung als sittliche Persönlichkeit von im Dritten Reich verfolgten Juden vor dem Hintergrund einer scheinbar christlich motivierten jahrhundertelangen Verfolgungspraxis davon abhängen kann, „daß sie sich konsequent auf anscheinend christlich geprägte Situationen nicht einlassen." 280 Insofern besteht hier für Böckenförde ein Anspruch zur Beseitigung der durch die Verhandlung „unter dem Kreuz" hervorgerufenen individuellen Konfliktlage aus dem Grundrecht der Gewissensfreiheit. 281 275 Ebd. 276 A. a.O.S. 143. 277 A. a.O.S. 145.
278 A. a.O.S. 144. 279 Anders Grimm, 1980, S. 704 f., dem insoweit zu widersprechen ist. 280 A.a.O. S. 144. 281 A. a. O. S. 145. Hervorgehoben bei Böckenförde.
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C. Die limitierende Verfassungstheorie Böckenfördes
Ausführungen zu immanenten Schranken der Gewissensfreiheit, die diesen Anspruch beeinträchtigen könnten, erübrigen sich für Böckenförde hier, weil der Gewissenskonflikt im Fall der Kruzifixe in Gerichtssälen „durch eine objektiv verfassungswidrige Lage verursacht wird" und er deshalb unabhängig von der Frage nach immanenten Schranken des einschlägigen Grundrechtes beseitigt werden müsse. 282 Die Unterscheidung von Prinzipiendiskurs und Grundrechtsdiskurs behält dadurch ihren Wert für eine klare rechtspraktische Aussage. Der grundrechtsunabhängige Prinzipiendiskurs hat darüberhinaus gezeigt, daß er zur Spezifizierung und Reduktion des Umfangs von Grundrechtsdiskursen beitragen kann.
cc) Die Interpretation
der Rundfunkfreiheit
Böckenförde argumentiert bei der Rundfunkfreiheit gegen ein liberales Grundrechtsverständnis individueller Freiheitsbetätigung. Das mag angesichts seiner oben dargestellten liberalen Grundrechtstheorie verwundern, erweist aber einmal mehr die im Rahmen des interpretativen Positivismus gegebene Notwendigkeit, genau zu prüfen, ob und inwieweit die herausgearbeitete normative Grundintention des Grundrechtsteiles im Einzelnen in der durch die Verfassungspositivierung getroffenen Entscheidung ausgestaltet wird. Es kann sich dabei, wie nun am Beispiel der Rundfunkfreiheit genauer verfolgt wird, herausstellen, daß nicht jede Bestimmung im Grundrechtsteil die Stärke und die normative Dichte einer individuellen Freiheitsgarantie erreicht. Auch im Grundrechtsbereich gibt es also normative und textlich ausgewiesene Abstufungen, an denen sich die innere Differenzierung der Verfassung deutlich machen läßt. An der grundrechtstheoretischen Bestimmung der Grundrechte als staatsgerichtete Abwehrrechte jedoch, ändert sich dadurch nichts. Dieser Gehalt ist nur nicht in jeder Bestimmung des Grundrechtsteiles gleich verwirklicht. Wie bestimmt Böckenförde vor diesem Hintergrund nun den Inhalt von „Rundfunkfreiheit"? 283 Das Wortlautargument führt ihn zunächst zur kritischen Hinterfragung der Wortbildung „Rundfunkfreiheit": Dieser Begriff suggeriere eine Parallele zu „Meinungsfreiheit" und „Pressefreiheit", diese Gleichstellung sei aber nicht gerechtfertigt: In Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG geht es schon dem Wortlaut nach um die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk, also „nicht um die Freiheit des Rundfunkes schlechthin, sondern um die Freiheit eines bestimmten und wichtigen Elements im 282 A. a. O. S. 145. Böckenförde setzt im übrigen die immanenten Schranken der Gewissensfreiheit bei den letzten Zwecken des Staates, dem innerstaatlichen Friedenszustand und dem Bestand des Staates an, weil er am Grundcharakter der Gewissensfreiheit als eines vorbehaltlosen individuellen Freiheitsgrundrechtes festhalten will, der gerade für diejenigen Freiheit bedeutet, die „mit den herrschenden Auffassungen" nicht konform gehen, den Außenseitern und Dissidenten. Vgl. dazu SVD 231 f. Auf die Darstellung von Böckenfördes kurzer Erörterung von Art. 2 Abs. 1 GG soll hier, nicht zuletzt wegen der einschlägigen spezielleren Grundrechte, verzichtet werden. 2 «3 Vgl. hierzu und zum folgenden, Böckenförde, 1982, S. 78 ff.
II. Der besondere Teil
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Bereich von Rundfunk und Rundfunkveranstaltung, eben der Berichterstattung." 2 8 4 Auch verweise die Freiheit der Berichterstattung auf die Freiheit publizistischer Tätigkeit und nicht auf die Freiheit zur Berichterstattung von jedermann. Damit ist zunächst eine Parallelisierung von Rundfunkfreiheit und Meinungsfreiheit auszuschließen. Darüberhinaus ist die Parallelisierung der zwar im gleichen Satz aufeinander folgenden, aber in ihrer Gewährleistungsform voneinander unterschiedenen Begriffe „Rundfunk" und „Presse" zu verneinen. 285 Eine Gleichartigkeit in der „Sache" Presse und in der Sache „Rundfunk" wird mit Verweis auf die „Unterschiede in Intensität, Wirkungsweise, kommunikativer Kraft und Macht beider Medien" von Böckenförde abgelehnt.286 Deshalb wird der Schluß von der privatwirtschaftlichen Organisationsform der Presse auf die Rundfunkorganisation als beste Form ihrer Freiheitsgewährleistung nicht übernommen, jedenfalls aber nicht als von der Verfassung vorgegeben betrachtet. 287 Argumente systematischer Interpretation von Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG für eine individualrechtliche Deutung lehnt Böckenförde ebenfalls ab: In Art. 5 GG liege kein einheitliches Grundrecht vor, das eine systematische Interpretation in diesem Sinne rechtfertigen könnte. 288 Im Umkreis von Art. 5 I S. 2 GG kämen sowohl individualrechtliche Momente (Meinungsfreiheit) wie auch stärker institutionell geprägte Momente (Wissenschaftsfreiheit) zum Tragen, und für die Rundfunkfreiheit gerade das individualrechtliche als systematischen Bezugspunkt auszusuchen, erscheint Böckenförde daher willkürlich, jedenfalls aber der deutlichen Sprache der Verfassungsregelung nicht angemessen. Um seine eigene Deutung der Rundfunkfreiheit positiv zu begründen, wendet Böckenförde sich zunächst der Entstehungsgeschichte von Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG zu, betreibt also, in methodischer Diktion formuliert, genetische Verfassungsinterpretation. 289 Als Grundintention des parlamentarischen Rates arbeitet Böckenförde die Sicherstellung der Informiertheit der Allgemeinheit durch die publizistische Tätigkeit der Massenmedien, zur freien Bildung der öffentlichen Meinung als Antwort auf die diesbezüglich „üblen Erfahrungen" im Dritten Reich heraus. 290 Er entwickelt den Zielgehalt dieses Grundrechtsteiles also von der Intention der Verfassungsgeber her. Besonderes Augenmerk legt Böckenförde auf die damalige Erörterung der Organisationsform des Rundfunks als Ort der praktischen Verwirklichung einer informierten Öffentlichkeit. Gibt es dazu klare und für die InterpretaEbd. Ebd. 286 Ebd. 287 Ebd. 288 Ebd. 289 Seine Bezugsquellen sind neben dem Jahrbuch für öffentliches Recht auch die stenographischen Protokolle der Ausschußberatungen im Parlamentarischen Rat. Vgl. zur Einordnung genetischer Interpretationselemente in den Rahmen historischer Methodenelemente oben Fn. 154. 284 285
290 Böckenförde, 1982, S. 79.
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C. Die limitierende Verfassungstheorie Böckenfördes
tion verbindliche positive Aussagen? Zu dem im Rat gemachten Vorschlag, Rundfunksendern ihre Stellung als öffentlich-rechtliche Anstalten zu gewährleisten, führt er Stimmen im Rat an, die mit Verweis auf mögliche technische und gesellschaftspolitische Entwicklungen der Zukunft, darauf verzichten wollten, „im Grundgesetz die Gesetze der nächsten Jahre im voraus zu bestimmen." 291 Zu der organisatorischen Zielerreichung von „Rundfunkfreiheit" gibt es also nur die negative Aussage, daß grundgesetzlich gerade keine Organisationsform verbindlich gemacht werden sollte. Die Organisation des Rundfunks sollte vielmehr im Grundgesetz nicht festgelegt, sondern dem Gesetzgeber überlassen werden. 292 Für die Inhaltsbestimmung von „Rundfunkfreiheit" ergibt sich daraus eine freie Meinungsbildung der Bürger bei offener Organisationsform des Rundfunks. Dies spricht nicht gegen eine privatwirtschaftliche Organisation des Rundfunks, eine solche läßt sich aber genausowenig mit der Verfassung begründen und muß also, wenn sie denn gewünscht und politisch gewollt wird, anders als mit der Verfassung gerechtfertigt werden. Die Verfassung steht zur Legitimation nicht bereit. Auch hier also ein Beispiel für die Offenheit des Grundgesetzes, für ein Schweigen der Verfassung einerseits und durch den Gesetzgeber zu realisierender, nicht aber unmittelbar grundrechtlich zu überprüfender Zielgehalte andererseits. Wenn nun aber kein Individualgrundrecht vorliegt, wie ist Rundfunkfreiheit dann genauer systematisch zu bestimmen? Böckenförde grenzt sie zunächst vom ursprünglichen Gehalt des Begriffes einer institutionellen Garantie ab, da dieser eine konkrete, geformte und garantierte Einrichtung öffentlich-rechtlichen Charakters meint. 293 Bei der Interpretation von Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG erkennt Böckenförde diese institutionelle Garantie nicht, da das System der öffentlich-rechtlichen Anstalten gerade nicht gewährleistet werden sollte. Freiheit der Berichterstattung sichert vielmehr „ein bestimmtes Strukturmerkmal des Rundfunks, ( . . . ) um die freie Berichterstattung im Rundfunk und die unverzerrte Information der Bürger zu sichern, um Meinungsmanipulation zu verhüten und eine freie Bildung der öffentlichen Meinung zu ermöglichen." 294 Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG erthält den Charakter einer institutionellen Rahmen- oder Strukturgarantie und weicht damit zielorientiert von einem als individuelles Abwehrrecht gegen den Staat begriffenen Grundrecht ab. Die Abwehrrichtung gegen einen Rundfunk als Instrument des Staates einerseits und gegen gesellschaftliche Manipulation andererseits werden von Böckenförde zusammenbetrachtet. Die Gefahren aus der Gesellschaft für die Freiheit des Rundfunks sieht Böckenförde dabei genauso, wie die eines staatsbestimmten Rundfunks, und Böckenförde geht es damit um die doppelte Schutzrichtung der Rundfunkfreiheit gegen staatliche und gesellschaftliche Macht. 295 Spielen
»i 292 293 294
Böckenförde, 1982, S. 79. Ebd. Böckenförde, 1982, S. 80. Böckenförde, 1982, S. 82.
295 A. a. O. S. 82.
II. Der besondere Teil
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aber so nicht doch objektiv-funktionalistische Elemente in die Grundrechtsauslegung hinein, die dadurch ihre Prinzipienorientierung und den Grundsatzcharakter der Grundrechte offenbart? Wird liberale Freiheit hier nicht zur dienenden, auf objektive Zwecke hin relativierten Freiheit, die zudem Gestaltungsaufgaben der Gesellschaft verfassungsrechtlich vorentschieden sieht oder wie expansive Grundrechtstheorie ihre verfassungskräftige Konkretisierung begründet? Eine rein begrifflich geführte Argumentation muß zu diesem Ergebnis und damit zu einer Nähe Böckenfördes zu der von ihm kritisierten objektiv-rechtlichen Grundrechtsauffassung kommen. Die Konsistenz der Position Böckenfördes wäre gefährdet. Allerdings ist hier ein wichtiger Unterschied zur Schutzdimension der Grundrechte als objektiver Grundsatznormen zu markieren: Nach der Auffassung Böckenfördes ist dem Gesetzgeber dieser Schutz zwar als Prinzip vorgegeben, aber die Art der Ausgestaltung in den Rundfunkgesetzen steht ihm dagegen frei. 296 Damit zieht Bökkenförde die Konsequenz daraus, Rundfunkfreiheit nicht nach dem Muster eines individuellen liberalen Abwehrrechtes zu begreifen. Der teleologische Gehalt des Grundrechtes wird dabei inhaltlich so weit gefaßt, daß er sich nicht als Grundrechtsgehalt für verfassungsgerichtliche Überprüfung eignet. Die Verwirklichung der interpretativ ermittelten Zielvorgabe von Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG ist also nicht verfassungsrechtlich und damit nicht verfassungsgerichtlich überprüfbar vorgezeichnet, sondern komplexe Aufgabe für die Gestaltungsphantasie zwischen Staat und Gesellschaft. Den gegenüber einem Individualgrundrecht geringeren Verbindlichkeitsgrad dieser Zielvorgabe hat der Gesetzgeber bei der Art und Ausgestaltung von Rundfunkfreiheit gleichwohl zu berücksichtigen. 297 Eine dementsprechende Rundfunkorganisation müsse es dem Bürger ermöglichen, sich umfassend und unverzerrt zu informieren und auch eine von der hinter einer Meinung stehenden wirtschaftlichen Macht unabhängige Meinung zu bilden und zu äußern, ohne daß dies jedoch nach dem Muster eines individuellen Freiheitsgrundrechtes verfassungsgerichtlich einklagbar ist. Diese Interpretation von Rundfunkfreiheit entspricht schließlich der Schrankensystematik des Art. 5 Abs. 2 GG. Muß die individualrechtliche Deutung, wenn sie die Vermittlungsleistung des Staates gegenüber dem freien Wettbewerb nicht ganz aufgeben will, als Regulativ für die einmal angenommene, grundrechtlich geschützte Freiheit starke Regelungen des Gesetzgebers vorsehen, obwohl die Einschränkbarkeit nach Abs. 2 von Art. 5 GG ja nur in allgemeinen, nicht speziell auf die Grundrechtsausübung zielenden Gesetzen bestehen darf, kann Böckenförde Rundfunkfreiheit ihrer klar erkennbaren Schrankensystematik entsprechend so interpretieren, daß der Staat seine Verantwortung in diesem Bereich wahrnehmen kann, ohne daß andererseits die Freiheit des Rundfunks vom Staat aus dem Blick gerät.
Ebd. 297 Ebd. 7 Mantcrfcld
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C. Die limitierende Verfassungstheorie Böckenfördes
dd) Die Interpretation
der Eigentumsfreiheit
(1) Genereller Interpretationsansatz Auch die in Art. 14 GG bestimmte Eigentumsfreiheit interpretiert Böckenförde nicht allein nach dem Muster eines liberalstaatlichen Abwehr- und Individualgrundrechtes, ohne andererseits expansiver Grundrechtstheorie zu folgen. 298 Neben dem privatindividualistisch ausgerichteten Recht auf Eigentum als Recht auf freien Zugang zum Eigentum für jedermann und dem Recht des Eigentums als ausgeformtem Rechtsinstitut, das den Fortbestand dieses Rechtes ermöglicht, wird die inhaltliche Bestimmung des Eigentums in Art. 14 Abs. 1 S. 2 GG „der - wechselnden - Festlegung durch den Gesetzgeber anheimgegeben"299 und damit erkennbar „nicht durch die Verfassung selbst vorbestimmt". 300 Das diesbezügliche Schweigen der Verfassung wird von Böckenförde ernst genommen. Nur dürfe nicht das Eigentum und eine Privatrechtsordnung überhaupt, entgegen der Verbürgung des Art. 14 Abs. 1 S. 1 GG und der auch für Art. 14 GG geltenden Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG aufgehoben werden. 301 Überdies widerspreche die in Art. 14 Abs. 2 GG bestimmte, durch die Ermächtigung des Gesetzgebers zur Ausgestaltung der Eigentumsordnung über einen ethischen Appell hinausgehende Sozialpflichtigkeit des Eigentums einer das freie Belieben des Eigentümers in den Vordergrund rückenden liberalistischen Interpretation von Art. 14 GG. 3 0 2 Diese Betonung der Sozialpflichtigkeit gehe, wie Art. 14 Abs. 3 GG erkennen lasse, sogar bis zur, freilich nur gegen Entschädigung gegebenen Möglichkeit, der Entziehung individuellen Eigentums, wenn Gründe des Gemeinwohls dies erforderlich machten, wobei wiederum dem Gesetzgeber die erforderliche Abwägung von Allgemein- und Individualinteresse, von Individualfunktion und Sozialfunktion des Eigentums obliege. Hier erkennt man bei Böckenförde das notwendige Zusammenspiel kompetenzieller und methodisch-interpretativer Elemente limitierender Verfassungstheorie. Schweigt die Verfassung bezüglich der zur Abwägung erforderlichen normativen Kriterien, gibt es auch für ein Verfassungsgericht keine hinreichenden normativen Anhaltspunkte in der Verfassung, die dessen interpretierendes Tätigwerden allein rechtfertigen könnten. Dementsprechend legen die in Art. 14 GG gemeinten Bindungen dem Eigentümer noch nicht verfassungsunmittelbar eine Verpflichtung auf und es geht deshalb in Art. 14 GG „um Begrenzungen und Bindungen in der Ausnutzung des Eigentums, die Ausnutzung als solche, in ihrem „ob", bleibt hingegen frei und potentiell privatnützig." 303 Das „GG hält damit die enge Beziehung von 298 Vgl. Böckenförde, Staat, Gesellschaft, Freiheit, S. 319 ff., ( SGF 319 ff.). 299 SGF 319. 300 Ebd. 301 Ebd. 302 Ebd.
II. Der besondere Teil
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individueller Freiheit und (privatem) Eigentum, das diese Freiheit abstützt und befestigt, fest", es eröffnet aber andererseits „der sozialen und gemeinschaftsbezogenen Ausgestaltung und Begrenzung dieses Eigentums ein weites Feld ( . . . ) , um zugleich die Sozialfunktion des Eigentums zur Geltung zu bringen." 304 Wie diese Vermittlung auszusehen hat, ist, gerade weil dem Gesetzgeber von der Verfassung der große Gestaltungsspielraum eröffnet wurde und sie selbst hierzu keine anderen als die aufgezeigten rahmenhaften Festlegungen enthält, notwendig allein Sache des Gesetzgebers. Dieser hat den Wandel gesellschaftlicher Verhältnisse, unter dem sich die Bedingungen dieser Vermittlung je neu darstellen, zu erfassen, und muß die darin beschlossene Problematik - immer neu - bewältigen und seine diesbezüglichen Entscheidungen mit ihren komplexen Folgewirkungen umfassend verantworten. 305 Er ist darin durch die Verfassung, die auch in dieser Hinsicht „Rahmenordnung" ist und die komplexen Vermittlungsfragen bewußt offenläßt, gerade nicht festgelegt. Ob also und wie der Sozialstaat um- bzw. abgebaut wird und wie dabei die je neu zu leistende und zu verantwortende Vermittlung von Individualund Sozialfunktion des Eigentums gestaltet werden muß und wie hoch dazu welche Steuern erhoben oder abgeschafft werden, dazu sagt die Verfassung in Art. 14 des GG nichts. Die Verfassung selbst braucht und darf deshalb für Böckenförde in dieser Hinsicht nicht durch expansive Interpretation „gewandelten Verhältnissen" angepaßt werden, indem sie konkreter gemacht wird, als sie mit einer methodisch korrekt auf die lückenhaften Anhaltspunkte der Verfassung beschränkten Interpretation gemacht werden kann. Es bestätigt sich also hier die im systematischen Zusammenhang formulierte Erkenntnis 306 , daß Reflexionsmedium gesellschaftlichen Wandels für Böckenförde nicht in erster Linie die Verfassungsinterpretation, sondern der Prozeß der Gesetzgebung ist. In die Verfassung aber durch expansive Interpretation in der Frage der Vermittlung von Individualfunktion und Sozialfunktion des Eigentums eine konkrete Festlegung des Gesetzgebers hineinzuinterpretieren, muß die Verfassung verfehlen.
(2) Das Sondervotum Böckenfördes in BVerfGE 93, 121 ff. („Einheitswerte") Solcherlei Verfehlung der Verfassung lag bezüglich Art. 14 des GG aus der Sicht Böckenfördes in der Entscheidung des BVerfG zu den Einheitswerten bei der Vermögensbesteuerung vor und hat ihn als an der Entscheidung beteiligten Richter zur Abgabe eines für seine limitierende Verfassungstheorie aufschlußreichen Sondervotums veranlaßt, dessen Analyse hier den Abschluß der Erörterung von Art. 14 GG im Rahmen der Rekonstruktion limitierender Verfassungstheorie darstellt. 307 303 304 305 306 307 *
Vgl. Böckenförde, 1980b, S. 68. SGF320. A. a. O. S. 322. s.o. Kapitel C.I.l.b)cc)(l). BVerfGE 93 , S. 121 ff. ( „Einheitswerte") vom 22. 6. 1995.
C. Die limitierende Verfassungstheorie Böckenfördes
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Zugleich wird hieran expansive Grundrechtsinterpretation des BVerfG unabhängig von der Wertordnungstradition erkennbar. Der zweite Senat des Bundesverfassungsgerichtes hatte im Beschlußverfahren die Unvereinbarkeit von § 10 Nr. 1 des Vermögenssteuergesetzes mit Art. 3 Abs. 1 GG festgestellt. Um die Argumentation Böckenfördes auch zu Art. 14 GG richtig verorten zu können und seine Position im Sondervotum transparent zu machen, muß sowohl kurz auf die Argumentation des Senats zu Art. 3 Abs. 1 GG als auch auf die steuerrechtlichen Gegebenheiten eingegangen werden, die dem Fall zugrundeliegen. In Böckenfördes Kritik wird auf dieser Basis die Unterscheidung expansiver von limitierender Verfassungstheorie unter mehreren Aspekten klar werden. § 10 Nr. 1 VermStG bemaß die Vermögenssteuer nach einem einheitlichen prozentualen Anteil am steuerpflichtigen Vermögen. Die dazu erforderliche Bewertung von den das Vermögen bildenden, unter Umständen sehr verschiedenen Bestandteilen ist im Bewertungsgesetz geregelt, das bei der Bildung des steuerpflichtigen Gesamtvermögens festgelegte Einheitswerte von am aktuellen Marktwert orientierten gemeinen Werten unterscheidet. 308 Für inländische Grundstücke war bei der Bemessung der Vermögenssteuer und dem sich darauf stützenden Vermögenssteuerbescheid der Einheitswert nach Wertverhältnissen von 1964 zugrundezulegen 309 , während für nicht grundstücksbezogene Vermögensgegenstände310 der nicht einheitswertgebundene aktuelle, und damit natürlich der weitaus höhere gemeine Wert zugrundezulegen war. 311 Wesentlich Ungleiches, einheitswertgebundenes und nicht einheitswertgebundenes Vermögen, wurde damit in § 10 Nr. 1 VermStG vermögenssteuerrechtlich gleich behandelt. Der den darin liegenden Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG feststellende Tenor der verfassungsgerichtlichen Entscheidung312, der den Gesetzgeber zur Neuregelung verpflichtete und die dazu auf Art. 3 Abs. 1 GG bezogene Begründung der Entscheidung313 werden von Böckenförde mitgetragen. 314 Die Entscheidung hat jedoch, über die auf den Gleichheitssatz bezogene Argumentation hinaus und ohne daß dies direkt von der Vorlage veranlaßt wurde, aus Art. 14 GG und Art. 2 GG abgeleitete maßstäbliche Erwägungen zur Eigenart und Ausgestaltung des Vermögenssteuerrechtes hinzugefügt, die zu einer absoluten Grenzziehung in der Besteuerung des Vermögens führen. Ausgehend von der Feststellung, daß die Vermögenssteuer „als wiederkehrende Steuer auf das ruhende - in 308 BVerfGE 93, 121,128 f. 309 BVerfGE 93, 121, 127. 310 Wie etwa Wertpapiere oder vertragliche Forderungen im Ausgangsfall. 311 312 313 314
BVerfGE BVerfGE BVerfGE BVerfGE
93, 121, 129. 93, 121. 93,121, 133 und 142. 93, 121, 149.
II. Der besondere Teil
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aller Regel aus bereits versteuertem Einkommen gebildete - Vermögen ausgestaltet" ist, wird aus Art. 14 GG hergeleitet, die Vermögenssteuer dürfe „nur so bemessen werden, daß sie in ihrem Zusammenwirken mit den sonstigen Steuerbelastungen die Substanz des Vermögens, den Vermögensstamm, unberührt läßt und aus den üblicherweise zu erwartenden, möglichen Erträgen (Sollerträge) 315 bezahlt werden kann. Andernfalls führe eine Vermögensbesteuerung im Ergebnis zu einer schrittweisen Konfiskation, die den Steuerpflichtigen dadurch übermäßig belasten und seine Vermögens Verhältnisse grundlegend beeinträchtigen würde". 316 Daraus wurde, dies sei zur Identifikation aktueller expansiver Verfassungsinterpretation außerhalb der Diskussion um die objektiv-rechtliche Dimension der Grundrechte in diesem Zusammenhang festgehalten, der mittlerweile als neuer Verfassungsinhalt etablierte „Halbteilungsgrundsatz" entwickelt. 317 Danach darf, soll ein Verstoß gegen den Substanzschutz des Art. 14 Abs. 1 GG durch den Steuergesetzgeber vermieden werden, die Vermögenssteuer zu den übrigen Ertragssteuern „nur hinzutreten, soweit die steuerliche Gesamtbelastung des Sollertrages ( . . . ) in der Nähe einer hälftigen Teilung zwischen privater und öffentlicher Hand verbleibt." 318 Diesen maßstäblichen Erwägungen allein gilt die im Sondervotum durch Böckenförde vorgenommene Kritik. An dieser Kritik sollen nun Eigenart und Vorgehen expansiver Verfassungstheorie in ihrem Gegensatz zur limitierenden Verfassungstheorie Bökkenfördes noch einmal beispielhaft deutlich gemacht werden. Böckenfördes Kritik hat eine formelle, an die Gerichtsförmigkeit der Entscheidungen des BVerfG erinnernde und eine materielle, die Auslegung von Art. 14 Abs. 1 GG betreffende Seite. 315 Vgl. zum Begriff der an den Sollerträgen orientierten Sollertragssteuer BVerfGE 93, 121, 140 f.: Die Sollertragssteuer besteuert Vermögen nicht nach dem tatsächlich mit ihm erzielten Gewinn bzw. Ertrag, sondern nach einer vom Gesetzgeber zu typisierenden Ertragserwartung. 316 BVerfGE 93, 121, 137.
3" BVerfGE 93, 121, 136 und der Halbteilungsgrundsatz ebd. S. 138. Vgl. als steuerrechtlichen und -politischen Rezeptionsbeleg etwa, Lang, 1997, S. 38 und den Ministerpräsidenten Baden-Württembergs, Teufel, 1997. Baden-Württemberg kann in seiner gemeinsam mit Bayern angestrengten Verfassungsklage gegen die Praxis des Länderfinanzausgleiches in der Bundesrepublik Deutschland durch die vom BVerfG betriebene expansive Interpretation des Art. 14 GG nun auch das schwere Geschütz der Grundrechtsgeltung für den Schutz landespolitischer Interessen benutzen. Zur juristischen Unterstützung der Klageländer vgl. das Gutachten von Arndt, 1997. Die Anwendbarkeit des aus der Grundrechtskonkretisierung gewonnenen Grundsatzes der hälftigen Teilung auf den verfassungssystematisch in Art. 107 Abs. 1 GG ganz anders als grundrechtlich zu behandelnden Länderfinanzausgleich wird darin immerhin noch überprüft und insofern nicht vorausgesetzt. Vgl. Arndt, 1997, S. 22, 24, 28. Ging es bislang in der Rechtsprechung zum Länderfinanzausgleich - in Übereinstimmung mit der verfassungsrechtlichen Regelung in Art, 107 Abs. 1 GG - noch um unbestimmte Verfassungsbegriffe und etwaige Beurteilungsspielräume des Gesetzgebers (vgl. etwa BVerfGE 72, 330 (399) ), scheint die Verfassung hier nun plötzlich sehr konkret zu sprechen und die Beurteilungsspielräume zu schließen. Die einmal grundrechtlich begründete, aber nicht von der Verfassung gedeckte Grundrechtsausweitung setzt sich - ohne absehbares Ende - in alle Bereiche des Rechtssystems hinein fort. 318 BVerfGE 93,121, 138.
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C. Die limitierende Verfassungstheorie Böckenfördes
In formeller Hinsicht beanstandet Böckenförde, daß das Bundesverfassungsgericht aus Art. 14 und Art. 2 GG gewonnene maßstäbliche Erörterungen zu „Grund, Ausmaß, Bemessungsgrundlagen und rechtlicher Eigenart der Vermögensbesteuerung" 3 1 9 vornimmt und sich nicht auf den vom Gericht selbst bestimmten Entscheidungsgegenstand, d. h. auf die Frage der Verletzung von Art. 3 Abs. 1 GG, beschränkt. Wirken die hierbei gleichsam, von Art. 3 Abs. 1 GG aus betrachtet, frei schwebend entwickelten Maßstäbe nämlich „auch bei der Subsumtion in keiner Weise sachlich in die Prüfung des Gleichheitssatzes hinein" - diese methodische Kritik macht noch einmal die auf unterschiedliche Regelungsgehalte der Verfassung abhebende Hermeneutik Böckenfördes deutlich - , bleibt nur ihre für den Gesetzgeber maßstäbliche Funktion: „Die Prüfung der Vermögenssteuer am Maßstab des Art. 2 Abs. 1 und Art. 14 Abs. 1 GG und die hieraus gewonnen Maßgaben dienen ( . . . ) speziell dazu, die dem Gesetzgeber nunmehr obliegenden Entscheidungen zur Korrektur der Vermögensbesteuerung durch vermögensschützende Vorgaben begrenzend vorzuprägen und teilweise vorwegzunehmen." 320 Man könnte Bedenken gegen dieses Vorgehen nun im Ansatz mit der Behauptung zerstreuen, diese „maßstäblichen" Erörterungen seien ja, gerade wenn sie den Tenor nicht tragen, gar nicht entscheidungserheblich und rechtlich daher nicht bindend und also praktisch nicht bedeutsam. Böckenförde formuliert seine Kritik aber unabhängig von der strittigen Frage nach der Reichweite der Bindungskraft der Begründung verfassungsgerichtlicher Entscheidungen und sie ist deshalb auch unabhängig davon zu berücksichtigen. 321 Böckenfördes Erinnerung an die Gerichtsförmigkeit von Verfassungsgerichtsentscheidungen weist zunächst lapidar darauf hin, daß durch die maßstäblichen Erörterungen des zweiten Senates des BVerfG zur Vermögensbesteuerung eine Kompetenzüberschreitung unter Umgehung des nach aktueller Zuständigkeitsregelung für diese Fragen eigentlich zuständigen ersten Senates vorliegt. 322 Auch das Bundesverfassungsgericht wird also von Böckenförde im Rahmen seiner limitierenden Verfassungstheorie in seiner Spruchtätigkeit als Institution funktionell differenzierter staatlicher Gerichtsbarkeit betrachtet und deshalb, wie jede Gerichtsbarkeit, an seine Zuständigkeitsordnung gebunden und darin in seiner Initiative als begrenzt vorgestellt. In formeller Hinsicht hebt Böckenförde ferner auf die Mißachtung des Äußerungsverfahrens nach §§ 82, 77 BVerfGG ab, nach denen den an einem verfassungsgerichtlichen Verfahren Beteiligten die Gelegenheit gegeben werden muß, Stellung zu den das Verfahren betreffenden Fragen zu nehmen. Die Äußerungsberechtigten des vorliegenden Verfahrens konnten, so kritisiert Böckenförde, von diesem Recht schon deshalb keinen Gebrauch machen, weil sie mit maßstäblichen verfassungsrechtlichen Erörterungen zu Umfang und Grenzen der Vermögenssteu319 BVerfGE 93, 121, 150. 320 BVerfGE 93 121, 150. 321 Ebd. 322 BVerfGE, 121, 150.
II. Der besondere Teil
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er in diesem durch Zuständigkeit und Vorlage klar begrenzten Verfahren nicht rechnen konnten und mußten. Schließlich kritisiert Böckenförde in formeller Hinsicht den durch die nicht verfassungsrechtlich und verfassungsgerichtlich veranlaßten Ausführungen erfolgten Übergriff auf den Kompetenzbereich des Gesetzgebers und die darin liegende Verletzung des Gebotes richterlicher Selbstbeschränkung. Dadurch werde die schon bestehende Verschiebung der grundgesetzlich vorgesehenen Gewaltenteilung zwischen Gesetzgeber und Verfassungsgericht weiter verstärkt. 323 Das damit als Bestandteil limitierender Verfassungstheorie benannte Gewaltenteilungsargument entfaltet Böckenförde mit dem Verweis auf die in der Verfassung selbst vorgenommene Zuweisung an den Gesetzgeber, „gegebenenfalls erforderliche Innovationen mit politischer Gestaltungskraft zu entwickeln, sowie sich dabei ergebende Folgewirkungen, auch im Blick auf die Verfassungsmäßigkeit der ins Auge gefaßten Regelung einzuschätzen und zu verantworten." 324 Demgegenüber zeige sich die Bindung des BVerfG an Gerichtsförmigkeit und Richterlichkeit in dem ihm fehlenden Initiativrecht, ja, der fehlenden Befugnis zu „begleitender Verfassungskontrolle gesetzgeberischen Handelns." 325 Das BVerfG muß in seiner Eigenschaft als Gericht also damit warten, die Verfassung ins Spiel zu bringen, bis „abgeschlossene und politisch verantwortete Entscheidungen des Gesetzgebers" vorliegen 326 und selbst dann, wenn die objektive Verfassungsmäßigkeit dieser Entscheidungen fraglich ist, müssen sie noch „in einem zulässigen Verfahren vor Gericht gebracht werden." 327 Diese durchaus nicht geringfügigen Hindernisse für eine verfassungsgerichtliche Beurteilung der Vermögenssteuer übersieht und überspringt die voreilige Initiative des Gerichts. Und zwar selbst dann, wenn sie fürsorglich und in favorem des Gesetzgebers erfolgen sollte, „um ihn durch verbindliche Orientierungspunkte vor dem Risiko eines späteren Scheiterns zu bewahren." 3 2 8 Die damit aufgezeigte Verfehlung der Gerichtsförmigkeit des Gerichtes widerspreche der Verfassung, die diese Gerichtsförmigkeit in Art. 93, 94 GG selbst vorgesehen habe und in Verbindung mit dem Bundesverfassungsgerichtsgesetz der „Gewähr der Verfassung ( . . . ) dadurch eine bestimmte Struktur gegeben und sie auch begrenzt" habe. 329 Soweit der formale Aspekt limitierender Verfassungstheorie des Grundgesetzes im Rahmen des Sondervotums Böckenfördes. Böckenfördes materiale Kritik setzt bei der Ableitung der Begrenzung der Vermögenssteuer aus Art. 14 Abs. 1 GG an. 3 3 0 Der Schutz von Art. 14 Abs. 1 GG, so 323 A.a.O. S. 151. 324 A.a.O. S. 151. 325 Ebd. 326 Ebd. 327 Ebd. 328 BVerfGE 93, 121, 152. Zurecht spricht Schulze-Fielitz hier von verfassungsgerichtlichem Paternalismus, vgl. Schulze-Fielitz, 1997, S. 8 f. 329 Ebd.
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C. Die limitierende Verfassungstheorie Böckenfördes
Böckenförde, greife erst bei dem Entzug konkreter Eigentumspositionen und erreiche deshalb regelmäßig nicht die Auferlegung allgemeiner Geldleistungspflichten, „die den Steuerschuldner nur in seinem Vermögen als Ganzem betrifft." 331 Der Senat aber, so muß man Böckenförde verstehen, legt demgegenüber Art. 14 Abs. 1 GG insofern erweiternd aus, als er die Vermögenssteuer als Steuerart, nur weil sie sich auf (Soll-) Erträge bereits versteuerten Einkommens bezieht, dem Substanzschutz des Art. 14 Abs. 1 GG unterstellt. Eine Begrenzung von Besteuerung ergibt sich freilich auch für Böckenförde, wenn die Steuerverpflichtung „den Pflichtigen übermäßig belastet und seine Vermögensverhältnisse grundlegend beeinträchtigt." 3 3 2 Auch bei der Prüfung dieser Frage sei aber das gesamte Vermögen zu berücksichtigen und nicht - mit Art. 14 GG nur scheinbar legitimiert - von vornherein ein Teil herauszuschneiden. Es werde damit bezüglich der Besteuerung des Vermögens - unter Bezugnahme auf Art. 14 GG - ein prinzipiell neues „steuerrechtstheoretisches und steuerrechtspolitisches Konzept" 333 entwickelt. Nach diesem Konzept sei „die Intensität, in der das Vermögen durch Art. 14 GG gegenüber der Besteuerung geschützt wird, unterschiedlich, je nachdem, ob es sich um die Besteuerung des Vermögenszugangs in der Erwerbsphase ( . . . ) , des Vermögensbestandes ( . . . ) oder ( . . . ) der Vermögensverwendung" handelt 334 . Das zu Art. 14 GG von Böckenförde festgestellte Schweigen der Verfassung, der mangelnde normative Anhalt für die komplexen Abwägungsaufgaben des Gesetzgebers zur Gestaltung der Eigentumsverhältnisse 335 werden ignoriert. Art. 14 GG gibt aber nach einer dieser Verfassungsbestimmung angemessenen Verfassungsinterpretation, für ein solches Konzept, „das sowohl Grund wie auch Intensität und Grenze der Besteuerung aus einer in sich differenziert interpretierten Eigentumsidee herleitet ( . . . ) keine Grundlage ab." 3 3 6 Genau so wenig findet Böckenförde in Art. 14 GG Anhaltspunkte für „die vom Senat zusätzlich aufgestellte Maßgabe, nach der den Vermögensinhabern auch Rund die Hälfte der Erträge zu belassen ist." 3 3 7 So konkret spricht die Verfassung in Art. 14 GG von sich aus nicht und die Herstellung der Konkretheit durch den Senat ist ein Fall von expansiver Verfassungskonkretisierung, in der der Senat „eigene, durch die Verfassung nicht ausgewiesene Angemessenheitserwägungen" anstellt. 338 Dieses „Eigene" muß erst in die Verfassung hineingelesen werden, um es als ihren Inhalt zu behaupten. Insbesondere gelte das für die Unterscheidung zwischen Vermögensarten, die „für sich betrachtet jeweils Eigentum im Sinne von Art. 14 GG" seien. 339 „Dafür, daß dieses Eigentum ver330 BVerfGE 93, 121, 153. 331 Ebd. 332 BVerfGE 93,121, 154. 333 A .a. O. S. 154. 334 A .a. O. S, 154. 335 s. o. Kapitel C.II.2.b)dd). 336 A. a. O.S. 154 f. 337 A. a. O. S. 157. 338 Ebd. Zur Verfassungskonkretisierung durch das BVerfG vgl. Dolzer, 1982.
II. Der besondere Teil
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schiedenartig bewertet und - gegenüber der Besteuerung - verschieden geschützt wird, gibt Art. 14 nach Text, Entstehungsgeschichte und Gewährleistungsinhalt nichts her." 3 4 0 Die Ausgestaltung der Steuerrechtsordnung ist für Böckenförde deshalb keine mit Hilfe des Art. 14 GG zu lösende Verfassungsfrage, sondern nur „eine Frage der Steuerpolitik und - soweit es um die Klassifizierung geht - der Steuerrechtswissenschaft." 341 Die damit markierte Grenze der Verfassung überschreitet expansive Verfassungsinterpretation und „erhebt dabei die begrifflich klassifikatorische Frage nach dem Charakter der Vermögenssteuer zu einer normativ-maßstäblichen."342 Dieser nüchterne Blick auf die Grenzen der Verfassung und ihre Überschreitung in der Bestimmung der Eigentumsfrage eröffnet Böckenförde zugleich die unbefangene Wahrnehmung und kritische Beurteilung der Folgen ihrer Überschreitung. Zunächst weist er darauf hin, daß das neue, nun verfassungsrechtlich abgesicherte Steuerkonzept innerhalb der Steuerrechtswissenschaft als eine unter mehreren rechtswissenschaftlichen Postitionen identifizierbar und umstritten ist. 3 4 3 Damit macht Böckenförde klar, daß eine partikulare rechtswissenschaftliche Meinung durch die expansive Verfassungsinterpretation von Teilen des Senates eine verfassungsrechtliche Weihe erhält, die ihr im Rahmen des rechtswissenschaftlichen Diskurses nicht zukäme. Die Verfassung wird damit aber nicht nur, wie oben zur wirklichkeitswissenschaftlichen Methodik bereits festgestellt wurde, zum Spiegel partikularer wissenschaftlicher Wertungen und Begrifflichkeiten, die ihre Normativität gefährden 344, sondern die Verfassungübertreibung bleibt auch nicht ohne Rückwirkungen auf den steuerrechtswissenschaftlichen Diskurs selbst, der verfassungsrechtlich bevormundet und stillgestellt ist. Darüberhinaus bestimmt diese verfassungsgerichtliche Bevormundung aber auch den schon tätig gewordenen Gesetzgeber und die im Steuerrechtssystem bestehende Gesetzeslage, die nun verfassungsrechtlich zur Disposition gestellt ist. 3 4 5
339 A. a. O. S. 155. 340 Ebd. 341 B V e r f G E 9 3 , 121, 156.
342 BVerfGE 93, 121, 160. 343 BVerfGE 93, 121, 154. Böckenförde verweist hier für das mit der Verfassung hergeleitete neue Steuerkonzept auf die in der Steuerrechtswissenschaft insbesondere durch Kirchhof vertretene Position. Vgl. Kirchhof, 1981, S. 213, 226 ff., 287, 299 ff. Kirchhof war im Beschlußverfahren Berichterstatter. 344 Siehe zur wirklichkeitswissenschaftlichen Verfassungsmethodik oben Kap. B.I.3. (S. 27 ff.). Die Gefährdung der Normativität der Verfassung könnte für diesen Zusammenhang darin zu sehen sein, daß die unterlegene wissenschaftliche Position, die nicht das Glück hatte, die verfassungsrechtliche Weihe zu erlangen, sich auch gegenüber der Verfassung und ihrem normativen Anspruch auf ihre wissenschaftlichen Argumente besinnt und die nun mit Verfassungsrang ausgestatteten Argumente dennoch nicht gelten läßt und gleichsam Widerstand aus dem Geiste freier Wissenschaft leistet. 345 BVerfGE 93, 121, 158 f.
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C. Die limitierende Verfassungstheorie Böckenfördes
Als weitere Folge erkennt Böckenförde, daß dem Steuergesetzgeber durch den absoluten Substanzschutz konsolidierten Vermögens gerade die „Zugriffsmöglichkeit auf solches Vermögen entzogen" wird, das ein hohes „Potential an Leistungsfähigkeit" besitzt. 346 Im Verhältnis der Vermögenssteuerverpflichteten untereinander führe diese Steuerkonzeption zu einer Privilegierung von Inhabern besonders hoher Vermögen, die bei entsprechender Anlage keine Vermögenssteuer mehr zahlen müßten, gegenüber denjenigen Inhabern weniger hohen Vermögens. 347 Damit aber wird der Gesetzgeber, ohne daß politische Diskussion und demokratische Verantwortlichkeit zum Zuge käme, „auch gegenüber der Eigendynamik kumulierenden Kapitals von vornherein zur Machtlosigkeit verurteilt." 348 Abgesehen von inhaltlichem Für und Wider wird dadurch schon die bloße Möglichkeit des Gesetzgebers, „den ökonomisch-sozialen Umständen mit verschiedenen Konzepten Rechnung" zu tragen und dafür auch staatliche, den Einzelnen entlastende , Jnfrastrukturleistungen, wie etwa im Ausbildungs- und Hochschulwesen" ins Auge zu fassen, im Ansatz beschränkt. Nicht mehr als diese Möglichkeit also will die limitierende Verfassungsinterpretation Böckenfördes wieder eröffnet sehen, eben weil die Verfassung von sich aus hier offen ist, nicht weil sie etwa ein wiederum partikulares anderes Steuerkonzept nahelegen würde. Ist aber die in diesem Zusammenhang von Böckenförde aufgewiesene Eigentumsproblematik nicht nur Konsequenz der von Böckenförde selbst betonten freiheitlichen Rechtsordnung? Die „für den modernen Staat selbstverständliche Annahme der rechtlichen Freiheit und Gleichheit aller Bürger" 349 führt auch für Bökkenförde, in der Verbindung mit der Garantie des Eigentums, unweigerlich „zur Entstehung materieller Ungleichheit unter den Bürgern" und dies - als „elementarer Inhalt einer freiheitlichen Rechtsordnung" auch „gewollt". Die Ungleichheit dieser frei gesetzten Gesellschaft, so Böckenförde, gerinne jedoch im Eigentum zur Materie „und wird Ausgangspunkt neuer Ungleichheiten", die bis zur Selbstaufhebung der freiheitlichen Rechtsordnung führen können. Insoweit bedürfe es gerade wegen dieser freiheitlichen Rechtsordnung eines Ausgleiches, den das Grundgesetz „durch die Einführung des Sozialstaatsprinzips (Art. 20 Abs. 1 GG)" wiewohl nicht in den Einzelheiten bestimmt, gleichwohl im Grundsatz normativ verpflichtend aufgegeben habe. 350 Eine durch expansive Verfassungsinterpretation des Art. 14 GG entwickelte Fixierung des Steuergesetzgebers darf deshalb die Möglichkeit, diesen Ausgleich durch das für die Gestaltung der Eigentumsverhältnisse und des Sozialstaats elementare Mittel der Steuergestaltung zu leisten, nicht von vornherein verbauen. 351 346 BVerfGE 93, 121, 155. 347 BVerfGE 93, 121, 161. 348 BVerfGE 93, 121, 155. 349 BVerfGE 93, 121, 162. 350 BVerfGE 93, 121, 163. 351 BVerfGE 93, 121, 163.
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Schließlich ist festzuhalten: Wie bei der Erörterung der Religionsfreiheit, avisiert Böckenförde auch im Rahmen der Interpretation von Art. 14 GG einen grundrechtsunabhängigen Prinzipiendiskurs, der die Grundrechtsinterpretation entlasten, bzw. spezifizieren und angemessen reduzieren kann. 352 Gerade die limitierende Interpretation der Verfassung bringt dabei die wirtschaftliche, institutionelle und sozialpolitische Realität der mit der Interpretation zusammenhängenden Fragestellungen angemessener zum Ausdruck, als dies im Rahmen expansiver Verfassungsinterpretation der Fall ist. Gleichwohl bleiben auch im Rahmen limitierender Verfassungstheorie Spannungen zwischen normativer Grundintention und realer Entwicklung des Rechts- und Politiksystems, das eine Rechtsfortbildung auch des Verfassungsrechts unabhängig von der Setzung neuen Verfassungsrechts durch den Verfassungsgeber erforderlich macht. Wie bearbeitet Böckenförde dieses Problem?
c) Rechtsfortbildung im Rahmen limitierender Grundrechtsinterpretation Der Verwirklichungsprozeß der Verfassung hat auch im Rahmen der limitierenden Verfassungstheorie Böckenfördes Brechungen zwischen normativer Grundintention der Verfassung und der Entwicklung des Rechts- und Politiksystems zur Folge. 353 Böckenförde erarbeitet deshalb Rechtsfortbildungen, die diesen festgelegten Rahmen einerseits nicht wie die expansive Grundrechtsinterpretation sprengen, andererseits aber den Grad von Flexibilität der Grundrechtsinterpretation auch im Rahmen limitierender Verfassungstheorie deutlich machen. Interpretative Fortbildung des Rechts geschieht hier allerdings, wie auch im Rahmen normalen Gesetzesrechts, „nur am Rande". 354 Die von der Situation in der Weimarer Reichsverfassung abweichenden Ausgangslage auch für eine interpretative Rechtsfortbildung benennt Böckenförde mit Verweis auf Art. 1 Abs. 3 und 19 Abs. 2 GG, wonach Grundrechte als unmittelbar geltendes und alle drei Staatsfunktionen bindendes Recht zu verstehen sind, deren Wesensgehalt auch vom Gesetzgeber beachtet werden muß und gegen deren Verletzung das Institut der Verfassungsbeschwerde geschaffen wurde. 355 Dies begründet Böckenförde zufolge aber keineswegs die expansive Sicht der Verfassung! Der Verweis auf Art. 1 Abs. 3 GG für eine umfassende Grundrechtsgeltung im Sinne objektiver Grundsatznormen wird vielmehr von Böckenförde als unzutreffend abgelehnt. 356 Die interpretative Entfaltung der Grundrechte als subjektiver Abwehr352 Vgl. dazu schon oben Kapitel C.II.2.b)aa). 353 SVD 73. Böckenfördes Verfassungstheorie enthält hier Momente der Flexibilität des Verfassungsrechts, die über den Verweis der Verfassungstheorie auf die Flexibilität des übrigen Rechtssystems hinausgehen. Zur Argumentation der Verfassungstheorie in den Kategorien „Flexibilität" und „Rigidität" vgl. schon oben Kapitel C.I.2 und Fn. 104. 354 Vgl. Böckenförde, 1976b, S. 13. 355 Vgl. Böckenförde, 1993, S. 13 f.
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C. Die limitierende Verfassungstheorie Böckenfördes
rechte vollzieht sich für Böckenförde wesentlich in drei Schritten. Sie betreffen die vom BVerfG seit dem Elfes-Urteil vorgenommene weite Auslegung der allgemeinen Handlungsfreiheit in Art. 2 Abs. 1 GG 357 (1), die Grundrechtsgeltung im Bereich der besonderen Gewaltverhältnisse(2) und die Entwicklung des Verhältnismäßigkeitsprinzips(3). (1) Die weite Auslegung des Art. 2 Abs. 1 GG und die damit verbundene weite Einschränkungsmöglichkeit wird von der Wortfassung des Artikels her von Bökkenförde als zumindest möglich angesehen, wenn auch die Motive, methodisch betrachtet, etwas anderes zu erkennen geben. Diese Interpretation kann nämlich den Grundrechtscharakter als unmittelbar geltendes Abwehrrecht gegen den Staat beibehalten und muß damit den ihr vorgegebenen Rahmen nicht im Blick auf eine bloße Zielorientierung verlassen. 358 Die institutionellen Folgen seien zwar im Blick auf die Kompetenzausweitung des BVerfG weitreichend, Argumente dagegen könnten aber nur von der Kompetenzordnung im funktionell-rechtlichen Sinne und, wegen der vom Wortlaut her weiten Fassung des Art. 2 GG, nicht unmittelbar über Methodenkritik unter Bezugnahme auf die Verfassung erfolgen. 359 (2) Auch die Grundrechtsgeltung im besonderen Gewaltverhältnis stellt eine Erweiterung der Geltung von Grundrechten gegenüber ihrer Geltung im BürgerStaat-Verhältnis dar. Sie ist aber für Böckenförde in Art. 1 Abs. 3 GG selbst angelegt und deshalb als interpretative Rechtsfortbildung zu begreifen. Sie besagt lediglich, daß eine Einschränkung der Grundrechte nicht bereits durch die Existenz von sogenannten besonderen Gewaltverhältnissen, sondern, wegen des Gesetzesvorbehaltes, nur durch Gesetz erfolgen kann. Die Folge wird von Böckenförde dann auch lediglich in der rechtsstaatlichen Durchformung von Sonderrechtsverhältnissen gesehen.360 Aus limitierender Sicht der Verfassung braucht dies nicht kritisiert zu werden, da der Rahmen der Verfassung als solcher dadurch ja nicht verlassen wird, Verfassung vielmehr praktisch im Sinne der Steigerung und Effektivität von allgemeiner Rechtskultur wirksam geworden ist. (3) Auch die Begrenzung der Einschränkbarkeit der Grundrechte in der Entwicklung des Verhältnismäßigkeitsprinzips begreift Böckenförde als interpretative Rechtsfortbildung. 361 Sie stellt sich ihm als Konsequenz aus Art. 19 Abs. 2 GG dar, wonach Grundrechte im Unterschied zur Situation unter der Weimarer Reichsverfassung nicht nur nach Maßgabe des Gesetzgebers gelten. Der Raum für den Gesetzgeber bei seiner Aufgabe, das Gemeinwohl zu verfolgen, werde dadurch aber noch nicht so eingeschränkt, daß man darin schon eine verfassungsrechtliche Überdeterminierung des einfachen Gesetzes sehen müßte. Dies gelte selbst noch 356 Böckenförde, 1989, S. 22. 357 BverfGE 6, 32 ff. 358 Vgl. Böckenförde, 1989, S. 15. 359 Siehe Böckenförde, 1966a S. 364 f. 360 Vgl. Böckenförde, 1989, S. 16 ff. 361 Vgl. dazu Böckenförde, 1989, S. 19.
II. Der besondere Teil
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für die Wechselwirkungstheorie, wenn man in ihr lediglich das besonders hohe Begründungserfordernis des Gesetzgebers für Einschränkungen von Grundrechten durch Gesetz erblickt und damit wiederum eine Effektuierung von Grundrechten bewirkt wird, die von Art. 19 Abs. 2 GG her aufgegeben ist. 3 6 2 Interpretative Rechtsfortbildung erkennt Böckenförde auch bei der Entwicklung von immanenten Grundrechtsschranken, sofern diese ausschließlich für schrankenlose Grundrechte betrieben wird. Es drückt sich darin nur die allgemeine rechtslogische Regel aus, daß immanente Schranken der Freiheit anderer, die Ermöglichung der gleichen Freiheit aller sind. 363 Interpretative Rechtsfortbildung ist hier auch deshalb erforderlich, weil ein Dazwischentreten des Gesetzgebers in der Verfassung nicht vorgesehen ist. Bei vorgefundener Schrankenlosigkeit eines Grundrechtes ist dies also von der Verfassung gedeckt. 364 Dieser Gedanke wird von Böckenförde aber nicht generell auf die Grundrechte angewandt. Böckenförde kritisiert deshalb die Übertragung der aus der interpretativen Rechtsfortbildung gewonnen Einsicht in das verfassungsimmanente Schrankendenken auf Grundrechte mit Schrankenvorbehalt durch die Schaffung eines neuen, allgemein geltenden Verfassungsprinzips der „immanente Schranke". 365 Die Einschränkbarkeit ist für die Grundrechte mit Schrankenvorbehalt ja klar geregelt: Sie erfolgt durch Gesetz. Eine Übertragung des Gedankens der „immanenten Schranken" kann für diesen Bereich also interpretativ nicht gerechtfertigt werden. Zusammenfassend kann man für die Grundrechtskonzeption Böckenfördes festhalten: Grundrechte sind als liberal-staatliche Abwehrrechte nach dem Muster klassischer Freiheitsrechte zu begreifen, die allein gegen staatliche Integrationsansprüche gerichtet sind. Dieser Gehalt der Grundrechte ist interpretativ zu ermitteln, weil die komplexen Voraussetzungen ihrer Realisierung nicht Gegenstand der Grundrechtsinterpretation sein müssen. Methodisch betrachtet, muß der Konkretisierungsbegriff nicht zum Vermittlungsbegriff für komplexe soziale Realität werden. Diese grundrechtstheoretische und methodische Begrenzung der Grundrechtsinterpretation führt zur Entlastung und kompetenziellen Begrenzung des Bundesverfassungsgerichtes. Die Rigidität der Verfassung steht hierbei im Vordergrund. Ihre Flexibilität im Grundrechtsbereich wird in eingeschränktem Maße am Rande der Rechtsfortbildung situiert. Diese Grundrechtstheorie konnte an der positiven Gestalt des heterogenen Grundrechtsteiles in Einzelinterpretationen Böckenfördes überprüft werden. Bei der Rundfunkfreiheit und bei der Eigentumsfreiheit wurden signifikante Abweichungen von der liberal-staatlichen Grundintention innerhalb des Grundrechtsteiles deutlich, die gesellschaftliche und organisatorische Bedingungen von Freiheitsausübung in den Blick nahm. Diese Abweichungen bedeuteten aber nicht eine prinzipienorientierte Anreicherung der Grundrechte und ihrer 3^2 3« 364 365
Ebd. Vgl. Böckenförde, 1966a, S. 363. Vgl. Böckenförde, 1966a, S. 363 linke Spalte. Ebd.
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C. Die limitierende Verfassungstheorie Böckenfördes
Ausweitung auf Schutzpflichten oder Drittwirkungskonstellationen, wie sie für expansive Grundrechtstheorie typisch ist. Bei der Konstatierung des für die Gestaltung komplexer gesellschaftlicher Verhältnisse geringen normativen Gehaltes des Grundrechtsteiles blieb es auch hier. Für Böckenförde liegt allerdings die unmittelbare verfassungsrechtliche und verfassungsgerichtliche Steuerung dieser Verhältnisse mit der Interpretation des Grundrechtsteiles nicht darin beschlossen. Das diesbezügliche Schweigen der Verfassung wird von Böckenförde ernst genommen. Das Hineinlesen komplexer Lösungsansätze in die Verfassung wird als auf die Verfassung nicht korrekt zurückführbare und damit nicht legitimierte verfassungsgerichtliche Bevormundung sowohl des für die flexible und zweckmäßige Gestaltung dieser Verhältnisse verantwortlichen Gesetzgebers als auch des Wissenschaftssystems kritisch betrachtet. Am Beispiel der limitierenden Interpretation des Art. 14 GG konnte auf dieser Grundlage Böckenfördes realistische Wahrnehmung und kritische Beurteilung der Folgen ihrer verfassungskonkretisierenden Überschreitung unabhängig vom Diskurs über Grundrechte als Grundsatznormen verfolgt werden. Der Wissenschaftsdiskurs erscheint nach der expansiven Interpretation von Art. 14 GG im nun verfassungsgerichtlich bestimmten Bereich ohne wissenschaftsinterne Veranlassung auf einer partikularen Position stillgestellt. Gesetzgeberisches Tätigwerden wird ohne Anlaß im Keim erstickt und ein partikulares und nicht aus der Verfassung ableitbares steuerpolitisches Modell wird zur für die Politik verbindlichen Vorgabe und dem politischen Diskurs dadurch dauerhaft entzogen. Die Gerichtsförmigkeit des verfassungsgerichtlichen Verfahrens wird dabei außer Acht gelassen und führt zu einer über die ohnehin für Gerichtsverfahren typischen Unsicherheit hinausreichenden Unberechenbarkeit des verfassungsgerichtlichen Urteilsspruches. Auch im Rahmen der limitierenden Verfassungsinterpretation Bökkenfördes werden also die komplexen Rahmenbedingungen der Verfassung und der Verfassungsgerichtsbarkeit reflektiert. Das Maß ihrer funktionalen und legitimationsbezogenen Autonomie gegenüber der Verfassungsinterpretation wird jedoch höher angesiedelt als im Rahmen expansiver Verfassungstheorie. Zugleich wird von Böckenförde neben der Grundrechtsinterpretation ein nicht als Grundrechtsinterpretation auftretender, staatstheoretisch unterfaßter Prinzipiendiskurs geführt, der zur Reduktion und Spezifikation des Grundrechtsdiskurses beiträgt. Er findet seine Ergänzung im Rahmen der limitierenden Verfassungstheorie des Grundgesetzes daher bei der Erörterung von ausdrücklichen Verfassungsprinzipien. Obwohl normtheoretisch betrachtet bei Böckenförde ein Regelmodell des Rechts die Verfassungstheorie bestimmt 366 , muß daher im Rahmen der Konsistenzprüfung seiner Theorie nun abschließend die Rolle von Verfassungsprinzipien für limitierende Verfassungstheorie erörtert werden.
366 Vgl. zu den normtheoretischen Grundlagen ausführlich Esser, 1974, Sieckmann, 1987; Dreier, R., 1990, Alexy, 1991 und 1987 und oben Kapitel B.II.2. und Fn. 124, sowie Kapitel C.I.2.a).
II. Der besondere Teil
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3. Verfassungsprinzipien des GG Die Darstellung der Prinzipien des GG im Rahmen der Rekonstruktion der limitierenden Verfassungstheorie Böckenfördes wird hier auf das Sozialstaatsprinzip und das Demokratieprinzip beschränkt, weil sich dabei die Alternativen zu einem expansiven Verfassungsverständnis am deutlichsten zum Ausdruck bringen las-
a) Das Sozialstaatsprinzip Auf der Basis eines Staatskonzepts, nach welchem sich der Staat aus dem freien Spiel der Kräfte von Markt und Gesellschaft nur herauszuhalten brauchte, wäre der Geltungsanspruch der Verfassung und d. h. deren Normativität für die gegenwärtige Gesellschaft gefährdet. Wird diese doch, auch wenn die aktuelle Renaissance des Neoliberalismus dem entgegenzustehen scheint, durch den Verlust des „individuell beherrschten Lebensraumes" 368 und den Wandel vom individuell zum „sozial beherrschten Lebensraum" 369 gekennzeichnet.370 Genau dies war einer der Gründe expansiver Verfassungstheorie, insbesondere die Grundrechtsinterpretation auf diese neuen Verhältnisse zuzuschneiden und ihnen eine verfassungsrechtliche Grundsatzwirkung auch in diesen Bereichen zuzuschreiben. 371 Die Verfassung bleibt aber nicht bei dem Grundrechtskatalog stehen. Der Inhalt des Sozialstaatsprinzipes wird deshalb von Böckenförde als strukturell notwendige Ergänzung des Gehaltes des Grundrechtsteiles bestimmt. Die Herstellung und die Art der Herstellung der Beziehung von Grundrechtsverständnis und Strukturprinzipien bestimmt das limitierende Verfassungsverständnis Böckenfördes. Sie geschieht auf zwei Ebenen: Einmal in Anknüpfung an die bereits oben entwickelten sozialtheoretischen Prämissen des liberalen Rechtsstaatsverständnisses372 und andererseits durch 367
Zum ebenfalls zentralen Prinzip der Neutralität des Staates konnten Böckenfördes Ausführungen schon im Grundrechtsteil verfolgt werden. S. o. Kapitel C.II.2.b)bb), S. 91 ff. 368 Vgl. dazu Forsthoff, 1938, S. 4 ff. und ders., 1976b, S. 146 f. Der „beherrschte Lebensraum" wird darin als Sphäre gekennzeichnet, in der der einzelne über sich selbst verfügt und der im vorindustriellen Zeitalter weitgehend mit dem effektiven Lebensraum identisch war. 369 Vgl. Suhr, 1970, S. 79. 570 Von diesem Paradigmenwechsel her kritisiert Habermas Böckenförde, indem er ausführt, die Verwirklichung der Prinzipien des Rechtsstaates verlange heute - aus Habermas' diskurstheoretischer Sicht des Rechts - eine andere Antwort als die des liberalen Rechtsparadigmas. Vgl. Habermas, 1993, S. 306 f. Daß und inwiefern diese Kritik, auf die Positivität der Verfassung bezogen, zu kurz greift, zeigen die folgenden Ausführungen im Text. In sozialphilosophischer Hinsicht lebt die Kritik darüberhinaus von einer Idealisierung der Diskursbedingungen des Verfassungsrechts, die die bleibenden Spannungen zwischen Rechtsstaat und Sozialstaat, Demokratie und Rechtsstaat weitgehend unterschlägt. Vgl. dazu Schlink, 1993, S. 59 f. 371 S. o. Kapitel B.II. 3 72 S. o. Kapitel C.II.l.b)aa)(3)(b) zur Verfassung als Form der Freiheit und Kap. CII.2.a) zum liberalen Rechtsstaat.
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C. Die limitierende Verfassungstheorie Böckenfördes
die Konzeption des Sozialstaatsprinzips als verfassungsrechtlichem Sozialstaatsauftrag im Unterschied zur Form der Positivierung der Grundrechte. Zunächst weist Böckenförde die Ergänzungsbedürftigkeit der Grundrechtsbestimmungen des Grundgesetzes auf, indem er auf die „blinden Flecken" der den grundrechtlichen Verfassungsbestimmungen zugrundeliegenden liberalen Staatsauffassung zu sprechen kommt. Diese sei wesentlich dadurch bestimmt, daß Staat und Gesellschaft im Dienste des vorstaatlichen, natürlichen Freiheitsbegriffs als völlig voneinander gesonderten Sphären zugehörig gedacht wurden, bei der dem Staat lediglich die Aufgabe zufiel, diese Freiheit durch eine allgemeine Rechtsordnung zu sichern und zu gewährleisten, sich aber ansonsten aus der Gestaltung der gesellschaftlichen Sphäre herauszuhalten hatte. Gerade diese Form der staatlich unterstützten Freiheitsorganisation habe aber in Gestalt der allgemeinen Handlungs- und Erwerbsfreiheit auf der Grundlage der Rechtsgleichheit dazu geführt, daß die Voraussetzungen für die Realisierung der grundrechtlich gewährleisteten Freiheit für immer weniger Bürger gegeben waren. 373 Die stillschweigende Voraussetzung des liberalen Staats- und Freiheitsverständnisses, der Staat könne an eine ihm vorgegebene, „natürliche" Gesellschaft aus Freien und Gleichen anknüpfen, erwies sich damit als brüchig. Der Staat konnte angesichts dieser Bedingungen der Freiheitsorganisation in der Gesellschaft nicht mehr darauf beschränkt werden, Adressat eines Nichteingriffsanspruches zu sein, sondern mußte als Adressat eines Verschaffungsanspruches verstanden werden, der auch für die Möglichkeit der Realisierung der grundrechtlich gewährleisteten Freiheit verantwortlich zu sein hat. Dies muß notwendig mit der den Grundrechten zugrundeliegenden Vorstellung von einer dem Staat prinzipiell vorausliegenden freien, gesellschaftlichen Sphäre konfligieren: Ist die Realisierung der Freiheit gerade an staatliche Intervention in den gesellschaftlichen Ablauf gebunden, kann unbedingte Freiheit nicht mehr als Leitidee von Verfassungsbestimmungen fungieren. Der Staat muß die Voraussetzungen der Realisierung von Freiheit in bestimmtem Maße und in bestimmten Bereichen gerade erst schaffen, kann also nicht an bereits Vorhandenes anknüpfen und dementsprechend kann Freiheit nicht mehr allgemein als dem Staat prinzipiell vorausliegend begriffen werden. Es stellt sich somit die Frage, wie die Verfassung diesen Konflikt abbildet, wie sie juristisch darauf reagiert. Böckenförde erwägt zumindest, daß das Grundgesetz eine andere Konzeption der Grundrechte hätte vornehmen können, da sie für sich genommen das Grundverhältnis von Staat und Gesellschaft nicht ausreichend reflektieren. Denkbar wäre nämlich gewesen, neben den Freiheitsgrundrechten, soziale Grundrechte zu schaffen. 374 Böckenfördes VerfassungsVerständnis ist nun aber gerade dadurch gekennzeichnet, daß er in der Verfassung die Probleme der Bedingtheit gesellschaftlicher Freiheit nicht auf der Ebene der Grundrechte, sondern ausschließlich auf der anderen Verfassungsebene des Sozialstaatsprinzipes in Gestalt des allgemeinen Sozial373 374
SVD 149. Vgl. SVD 157.
II. Der besondere Teil
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staatsauftrages in Art. 20 Abs. 1 und Art. 28 GG angesprochen sieht. Aber auch hier ist Böckenförde verfassungstheoretisch zurückhaltend: Die Ergänzung des allgemeinen Sozialstaatsauftrages durch „etliche näher umschriebene besondere soziale Verfassungsaufträge" kann, „kraft der darin liegenden Verbindlichkeit, in gewissem Umfang eine Prioritätensetzung zugunsten der in diesen Aufträgen enthaltenen sozialen Gestaltungsziele zur Folge" haben, was „im Zeichen nicht ausreichender Ressourcen notwendig zulasten anderer, nicht ausdrücklich benannter Gestaltungsziele" gehe. 375 Böckenförde hebt also auf die notwendige und strukturell stetige Konflikthaftigkeit des im Sozialstaatsauftrag des Grundgesetzes angesprochenen sozialen Freiheitsparadigmas ab. Diese Konflikte sind vielfältig und nicht einmal andeutungsweise in der Verfassung gelöst und deshalb auch nicht durch verfassungsgerichtliche Bezugnahme auf die Verfassung zu lösen. Auch hierin ist Böckenfördes Kritik an der strukturellen Überforderung der Verfassung und der sie interpretierenden Verfassungsgerichtsbarkeit mit komplexen Gestaltungsaufgaben wiederzuerkennen 376. Daher sieht Böckenförde die Normativität der Verfassung bezüglich der die natürliche Freiheit einschränkenden interdependenten Gesellschaft anders strukturiert, als bezüglich der - unaufhebbaren Momente - individueller Freiheit, wie sie als Abwehrrecht gegen den Staat im GG ihre positivierte Gestalt gefunden haben. Verschafft die Verfassung der individuellen Freiheit direkt unmittelbaren Schutz, gibt sie den Realisierungsmomenten der Freiheit nur indirekten Schutz, indem sie den Gesetzgebung und Verwaltung bindenden Sozialstaatsauftrag nur prinzipienorientiert formuliert, die Übersetzung in eine vollzugsnahe Regelform jedoch nicht mitliefert. Die Realisierungsbedingungen der grundrechtlich gewährleisteten und vorausgesetzten Freiheit tauchen im Rahmen „einer demokratisch rechtsstaatlichen Verfassungsordnung" 377 damit auch normtheoretisch auf einer anderen Ebene auf. Die Prinzipienorientierung des Sozialstaatsgedankens im Grundgesetz ist dadurch charakterisiert, daß sie durch ihre Positivierung keine Positionen schafft, die rechtlich einklagbar sind. 378 Als Verfassungsauftrag ist der Sozialstaatsauftrag allerdings an die staatlichen Organe in Gesetzgebung und Verwaltung adressiert und beinhaltet eine objektive Verpflichtung, ohne auf rechtliche Überprüfbarkeit im Sinne subjektiv-öffentlicher Rechte ausgerichtet zu sein. 379 Indem die Verfassung mit der Festlegung des Sozialstaatsauftrages als eines verbindlichen Verfassungsprinzipes die Schaffung der sozialen Realisierungsbedingungen von grundrechtlicher Freiheit dem Staat als Aufgabe zuordnet 3 8 0 , wird also eine in kategorialer Differenzierung von Grundrechten und Ver-
375 Vgl. ebd. 376 Vgl. dazu oben Kapitel C.II.2.b)cc) und bzgl. der Rundfunkfreiheit o. S. 96 und bzgl. der Eigentumsfreiheit o. S. 99. 377 SVD 155. 378 r s f 160. In diesem Sinne stimmt Böckenförde mit Forsthoff überein. Zu den Unterschieden zwischen Forsthoff und Böckenförde im methodischen Bereich vgl. oben S. 61 und Fn. 105. 379 Vgl. RSF 156. 8 Mantcrfcld
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C. Die limitierende Verfassungstheorie Böckenfördes
fassungsaufträgen bestehende Nebenordnung von Grundrechten und Sozialstaatsprinzip vorgenommen. Böckenförde kann das Sozialstaatsprinzip im Unterschied zu den Grundrechten in stilistischer Hinsicht deshalb auch als Bekenntnis erfassen und damit eine unmittelbare verfassungskräftige Rechte gewährende Position auch in dieser Hinsicht ausschließen.381 Bleibt es damit aber nicht doch bei dem liberalen Rechtstaatsgedanken, der den Grundrechten als Abwehrrechten gegen den Staat verfassungstheoretisch zugrundegelegt werden mußte? Wie ist es also um die Verbindlichkeit des Sozialstaatsauftrages bestellt, wenn er nicht nach einem Regelmodell des Rechts zu begreifen ist? Die Verbindlichkeit des Sozialstaatsauftrages zeigt sich für Böckenförde etwa darin, daß letzterer dem Staat in Gestalt des einfachen Gesetzgebers Regelungs- und Eingriffsbefugnisse verschafft werden, grundrechtlich gewährleistete Freiheit zu beschränken 382 und so die „grundrechtliche Freiheit des einen nicht nur mit der gleichen rechtlichen Freiheit des anderen, sondern auch mit deren Realisierungsmöglichkeit kompatibel zu halten und ihrer Ausdehnung von daher Maß und Grenze zu setzen." 383 . Dieser objektivrechtliche Gehalt des Sozialstaatsprinzips bedarf also einerseits nichtverfassungsrechtlicher und damit für Böckenförde nicht primär verfassungsinterpretierender Übersetzung auf eine Regelebene des Rechts. Das Sozialstaatsprinzip des Grundgesetzes gibt dafür aber andererseits die vor dem Hintergrund der im übrigen weitgehend liberal ausgestalteten Verfassung erforderliche verfassungskräftige Legitimation. Gerade dieser Zusammenhang ist nicht nur Theorie geblieben, sondern hat, so Böckenförde, empirisch betrachtet praktisch dazu geführt, daß das liberal-rechtsstaatliche Gefüge in 2 Punkten zu einem Einbruch gekommen ist: Immer stärker werde in die Gesellschaft durch spezifisch sozial steuernde Maßnahmegesetze eingegriffen. Ferner werde im Zuge des Sozialstaatsgedankens die prinzipielle Trennung von Steuergewalt und Eigentumsgarantie vorgenommen, die verfassungsrechtlich die materiellen Voraussetzungen für den Staat eröffnet, seine Steuerungsleistungen für die Gesellschaft auch tatsächlich zu erbringen. 384 Wären dieser Sicht des Sozialstaatsprinzips gegenüber auch die sozialstaatlichen Gehalte der Verfassung wie Freiheitsgrundrechte unmittelbar verfassungsrechtlich geschützt und einklagbar, würde nach Auffassung Böckenfördes die verfassungsrechtliche Freiheitsorganisation in sich widersprüchlich, da die Form ihrer Positivierung nicht mehr an die Vorgegebenheit gesellschaftlicher Freiheit anknüpfen könnte, sondern die Gewährleistung an die Bedingung beim Staat vorhandener oder zu schaffender Kapazitäten knüpfen müßte. 385 Den Grund für diese strukturelle Notwendigkeit und Begrenzung der verfassungsrechtlichen Freiheitsgewähr wurde oben schon durch 380
SVD 144.
381 RSF 162. 382 SVD 151. 383 SVD 145. 384 RSF 163. Diese realitätsnahe Interpretation des Sozialstaatsprinzips entspricht der limitierenden Interpretation des Art. 14 GG. Vgl. oben Kapitel C.II.2.b)dd). 385 SVD 152.
II. Der besondere Teil
115
die Bezugnahme Böckenfördes auf Lorenz v. Stein erarbeitet: Ist in der rechtstaatlichen Verfassung die Form der Freiheit bereits erreicht, kann die Auflösung des im Sozialen entstandenen Gegensatzes auch nur im Sozialen erreicht werden, dort also, wo er real entstanden ist und nicht unmittelbar auf der rechtlichen Verfassungsebene.386 Die Brücke zur Methodik der Verfassungsinterpretation läßt sich auch hier leicht schlagen: Die Ausfüllung der bedeutungsoffenen Verfassungsbegriffe ergibt sich nicht durch Interpretation der Verfassung als für die gesamte Rechtsordnung inhaltlich bestimmendes Normgefüge, sondern wird im Prozeß der Gesetzgebung je neu und in einfachgesetzlicher Differenzierung gefunden. Die Verfassung selbst ist unmittelbar diesbezüglich nur Rahmenordnung, die diesen Prozeß ermöglicht und enthält in sich nicht schon das Material, das zu einer Harmonisierung der verschiedenen Rechtspositionen untereinander führt. 387 Im Rahmen und auf der Ebene der Verfassung gilt also: Grundrechtsbestimmungen und Sozialstaatsprinzip ergänzen sich vor dem Hintergrund der Realisierung gesellschaftlicher Freiheit, indem das Sozialstaatsprinzip, gesetzgeberisch vermittelt, die als solche nur liberale, individuelle Grundrechtsgeltung modifiziert, ohne daß die verfassungsstrukturellen Unterschiede zwischen grundrechtlicher Freiheitsgewährleistung und Freiheitsrealisierung im Rahmen des Sozialstaatsauftrags aufgehoben werden. Damit betont Böckenförde die Bedeutung des einfachen Gesetzgebers und Gesetzesanwenders und zugleich ein demokratietheoretisches Element, da der Gesetzgeber in Gestalt des Parlamentes im Vergleich zum Bundesverfassungsgericht direkter demokratisch legitimiert ist. Deshalb gilt es nun, die Verfassungstheorie Böckenfördes auf seine Behandlung des Demokratieprinzips hin zu befragen.
b) Das Demokratieprinzip Schon bei der Erörterung der verfassungsgebenden Gewalt des Volkes als Voraussetzung der Verfassung, wurde die Demokratieorientierung der limitierenden Verfassungstheorie Böckenfördes betont. 388 Dieser Demokratiebezug limitierender Verfassungstheorie wird nun mit der Erörterung des Demokratieprinzips bei Bökkenförde präzisiert, indem insbesondere die für limitierende Verfassungstheorie charakteristische Verlagerung von Diskursgehalten nachgewiesen wird. Die Präzisierung erfolgt in 3 Schritten: Demokratie wird als Regierungsform des Staates dargestellt, Surrogate für den expansiven verfassungsrechtlichen Diskurses werden aufgewiesen, und die Unterscheidung von Konzeptionen unmittelbarer und reprä-
386 s. o. Kapitel C.I.l.b)aa)(3)(b) und RSF 161. 387 SVD 198. 388 S. o. Kapitel I.l.b)cc) und dort besonders S. 58 f. 8*
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C. Die limitierende Verfassungstheorie Böckenfördes
sentativer (mittelbarer) Demokratie wird als Merkmal limitierender Verfassungstheorie aufgezeigt.
aa) Demokratie als Regierungsform
des Staates
Art. 20 Abs. 2 GG bringt die Entscheidung für die Demokratie als Staats- und Regierungsform zum Ausdruck und positiviert damit das Prinzip der Volkssouveränität. 389 Nur diejenige staatliche Machtausübung ist danach legitim, zu der die ihr Unterworfenen ihre Zustimmung gegeben haben. Dementsprechend reflektiert Böckenförde im Demokratiebegriff auch „nicht die Aufhebung oder Überwindung staatlich organisierter politischer Herrschaft, sondern eine bestimmte Organisation dieser Herrschaft." Für den Gehalt des Demokratieprinzipes aus limitierender Sicht ist also der bereits entwickelte Staatsbezug von Verfassung maßgeblich und nicht der Gesellschaftsbezug. 390 Weder eine unmittelbare Identität von Regierenden und Regierten, noch ein verfassungsrechtlicher Gesellschaftsbezug demokratischer Legitimation ist vom Demokratieprinzip des Grundgesetzes gedeckt. Staatsgewalt bleibt als „Herrschaft von Menschen über Menschen ( . . . ) auch in der Demokratie bestehen und wirksam, löst sich nicht in einer ( . . . ) Identität von Regierenden und Regierten, auch nicht im herrschaftsfreien Diskurs auf." 391 Die Faktizität gesellschaftlicher Machtverhältnisse kann daher nicht dem Demokratieprinzip des Grundgesetzes unterworfen, kann weder demokratisch legitimiert noch demokratisch kritisiert werden. Die bereits herausgearbeitete limitierende und gerade darin starke Bedeutung der Grundrechte wird vor diesem Hintergrund besonders deutlich: Die grundrechtlich gewährleistete Freiheit ist von der demokratischen Mitwirkungsfreiheit kategorial geschieden. Durch die Grundrechte wird „nur" - dies aber unmittelbar verfassungskräftig und klar - individuelle Freiheit als Freiheit auch von einer staatliche Integration bewirkenden demokratischen Mitwirkungsfreiheit gewährleistet. Der Freiheitsgehalt der so verstandenen Grundrechte wird durch die kategoriale Scheidung von der demokratischen Mitwirkungsfreiheit nicht von ihrem Wert für die Demokratie her begriffen oder konsensabhängig verdünnt. Vor dem Hintergrund der Demokratie als Regierungsform des Staates spielt in organisatorisch-personeller Hinsicht der Gedanke der ununterbrochenen Legitimationskette staatlicher Funktionsträger als formeller aber hinreichender Nachweis der im Rahmen des Demokratieprinzips zu prüfenden Verfassungsgemäßheit staatlicher Herrschaftsausübung die entscheidende Rolle. 392 Normtheoretisch kommt es damit auch im Rahmen der Geltung eines Verfassungsprinzips wesentlich auf den überprüfbaren Regelcharakter des Rechts und nicht auf seinen Prinzipiencharakter
389 SVD 296. 390 Vgl. Kapitel C.I.l.b)aa).
391 SVD 297. 392 SVD 302.
II. Der besondere Teil
bb) Demokratiebezogene Surrogate für den verfassungsrechtlichen
117
Diskurs
In Böckenfördes Entwicklung des Demokratieprinzips wird Ersatz angeboten für die nach expansiver Verfassungstheorie dem grundrechtlichen und verfassungsgerichtlichen Diskurs zugeordneten Inhalte. Die folgende Darstellung dieser Alternativen soll die mögliche Verlagerung von Diskursmaterien im Rahmen limitierender Verfassungstheorie gegenüber expansiver Verfassungstheorie deutlich machen.
(1) Der Minderheitendiskurs Dem wertorientierten Grundrechtsdiskurs und seiner materialen Begründung von Minderheitenrechten wird in Böckenfördes Erörterung des Demokratieprinzips ihre grundrechtlich nicht geleitete Zuordnung zum demokratischen Diskurs entgegengesetzt.394 Auf diesen Diskurs verweist das Grundgesetz im Demokratieprinzip lediglich. Minderheit ist dabei schlicht der Gegenbegriff zu Mehrheit. Sie erreicht jedoch, auch dies ein Ausfluß der kategorialen Scheidung von demokratischer Mitwirkungs- und grundrechtlich-individueller Freiheit, nicht die Qualität von verfassungskräftigen Grundrechten. Minderheit wird nie zum Argument im Rahmen der Interpretation eines Individualgrundrechtes, sondern bleibt ein Kollektivum ohne Grundrechtsrelevanz. Im offenen und öffentlichen Prozeß politischer Willensbildung und parlamentarischer Entscheidungsfindung könne es zwar zur Durchdringung von Minderheits- und MehrheitsVorstellungen und auch zu Kompromissen kommen; das Ergebnis dieses verfahrensmäßig ausgestalteten Prozesses ergebe sich aber immer aus der von im substantiellen Sinne geltend gemachten Minderheitswertungen und inhaltlichem Konsens relativ unabhängigen Mehrheitsregel. 395 Dies gelte auch „für politisch weittragende oder irreversible Entscheidungen."396 Deshalb kann es in der Demokratie als Staats- und Regierungsform auch keine mit dem Demokratieprinzip zu vereinbarende Behauptung der Nichtentscheidbarkeit von weittragenden Fragen geben. Sie müßte zwangsläufig zur Durchsetzung einer demokratischer Gleichheit widerstreitenden, priviligierten Minderheit führen. 397 Mit dem Verweis auf die Mehrheitsregel setzt sich der Regelcharakter des Rechts in Böckenfördes Argumentation wiederum vor seinem Prinzipiencharakter durch. Abweichungen von der dargestellten Regelmäßigkeit können sich zwar „als Maxime politischer Klugheit und demokratischer politischer Kultur" empfehlen, 398 393 Siehe oben Kapitel B.II.2. zu der normtheoretischen Unterscheidung von Regeln und Prinzipien. 394 SVD 337 ff. 395 SVD 339. Dem Minderheitenschutz dient im Rahmen des Demokratieprinzips vielmehr das Erfordernis qualifizierter Mehrheiten. Vgl. SVD 338. 396 SVD 341. 397 SVD 343. 398 SVD 341.
118
C. Die limitierende Verfassungstheorie Böckenfördes
diese ist jedoch nicht dem verfassungsrechtlichen Diskurs, sondern dem demokratischen oder bloß verfassungstheoretischen Diskurs und seinen Voraussetzungen zuzuordnen. (2) Die Voraussetzungen der Demokratie Böckenförde benennt vielfältige Voraussetzungen der Demokratie als Staatsund Regierungsform, 399 die die Begrenztheit des Verfassungsrechtsdiskurses aufweisen. Die Verlagerung vom verfassungsrechtlichen zum nichtverfassungsrechtlichen Diskurs wird daran besonders deutlich. Auch hier handelt es sich, wie bei der Erörterung des allgemeinen Staatsbegriffes als Voraussetzung des Verfassungsbegriffes schon deutlich gemacht 400 , nun aber auf die Demokratie als Staats- und Regierungsform des Grundgesetzes bezogen, um Gegebenheiten, von denen die Demokratie lebt, die sie aber als Staats- und Regierungsform nicht garantieren kann. Vom Vorhandensein dieser Voraussetzungen ist also die Lebens- und Funktionsfähigkeit der Demokratie als Organisationsprinzip der Herrschaftsausübung abhängig, sie ist mit der Errichtung und urkundlichen Verfassung der Demokratie jedoch nicht schon real, sondern ist umgekehrt, politisch kulturelle Vorgabe für die Demokratie als historischer und je neu zu leistender Errungenschaft. 401 Zu den soziokulturellen Voraussetzungen der Demokratie in diesem Sinne zählt Böckenförde zunächst die Emanzipationsstruktur der Gesellschaft. Sie drückt sich in dem Freiheitsbewußtsein der Gesellschaft von staatlich vermittelten religiösen Einheitsvorstellungen aus. Demokratie als Staats- und Regierungsform hat daher die Abwesenheit von theokratisch-fundamentalistischen Religionsformen zur Voraussetzung. Gleichwohl kommt Demokratie als Staats- und Regierungsform nicht ohne ein gewisses Maß an relativer Homogenität in der Gesellschaft aus 4 0 2 Diese ist daher eine zweite sozio-kulturelle Vorausetzung der Demokratie. Dauerhafte extreme wirtschaftlich-sozialen Gegensätze etwa lassen nicht nur das Sozialstaatsprinzip, sondern auch die Demokratie als Staats- und Regierungsform zur leeren Form erstarren. Ausdruck dieser relativen Homogenität kann für Böckenförde ein sozialpsychologischer Zustand sein, den er mit dem Begriff „Wir-Bewußtsein" umschreibt. 403 Dieses Bewußtsein geht für Böckenförde über den Staat als Organisation hinaus und begründet die Festlegung der staatlichen Ordnung selbst mit einem 399 SVD 344 ff. 400 s.o. Kapitel C.I.l.b)aa). 401 SVD 344. 402 Vgl. dazu und zum folgenden auch die Ausführungen zum Nationbegriff im allgemeinen Teil der Rekonstruktion von Böckenfördes limitierender Verfassungstheorie, Kapitel C.I.l.b)bb). 403 SVD 348. Kritisch zu diesem substantiellen Postulat eines Wir-Bewußtseins Wenzel, 1993, S. 556 f.
II. Der besondere Teil
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erheblichen positiven Konsensbedarf, der ein Übermaß von Dissoziation überwindet. In der demokratietheoretischen Tradition findet er den Rekurs auf das Erfordernis einer relativen Homogenität bei so gegensätzlichen Denkern wie Rousseau und Montesquieu, die in der Überschaubarkeit der Sitten eine Funktionsbedingung von Demokratie erkennen. 404 Die Integration der Gesellschaft in einer relativen Homogenität erscheint damit aber, wenn sie denn gelingt, jedenfalls als kulturspezifische Leistung eines Volkes, die in der Demokratie vorausgesetzt werden muß und die über die Verabschiedung und Interpretation einer Verfassung notwendig hinausgeht und von ihr kategorial zu unterscheiden ist. Besonders wichtige, aber nicht etwa selbstverständlich gegebene Voraussetzungen der Demokratie sind, neben geistig-bildungsmäßigen Voraussetzungen405 solche politisch-struktureller Art. Gerade die Einsicht Böckenfördes in die Problematik dieser Voraussetzungen der Demokratie macht deutlich, daß es sich limitierende Verfassungstheorie mit ihrem Verweis auf den demokratischen Prozeß nicht leicht machen kann. Differenzierte politisch-soziale Verhältnisse, wie sie in der Bundesrepublik Deutschland vorausgesetzt werden müssen, kommen nicht um vertrauensbegründende Entscheidungsdelegation herum, bedürfen aber andererseits eines rationellen Verhältnisses von Wissen und Erfahrung, 406 um die inhaltliche Steuerbarkeit des Handelns der Staatsgewalt als Voraussetzung der Demokratie zu gewährleisten. Der hohe Grad von Komplexität der notwendig wissensmäßigen Fundierung politischer Entscheidungen aber gefährde diese Steuerbarkeit und damit zugleich die Funktionsfähigkeit von Demokratie. Diese Gefährdung nehme häufig die Gestalt einer Diskrepanz zwischen Sachwissen und politischer Entscheidung an. Das Sachwissen habe selbständigen Einfluß auf die Politik, ohne demokratisch legitimiert zu sein. 407 Es müßte also eine Integration des Fachwissens im Blick auf politische Zielvorgaben geschehen. Böckenförde sieht, daß es faktisch vielmehr andersherum ist: Die Experten gestalten mit ihrem Wissen Politik und die Exekutive verliert gegenüber den Experten die Position des höheren Dritten. Sie gerät in Abhängigkeit von dem in Wirtschaft und Gesellschaft zwar verfügbaren, aber nicht politisch neutralen, sondern interessierten Wissen, und das Parlament als zentrale demokratische Institution teilt diese Abhängigkeit. Innergesellschaftlich hindert zudem die Vereinzelung von Interessen die allgemeine Willensbildung der Bürger, die deshalb zunehmend von Stimmung und Parolen bestimmt werde. Um politische Sachentscheidungen in ihren Folgen durchschaubar zu halten, müßte die Interdependenz von Entscheidungen begrenzbar sein und eine Reduzierung von Komplexität gelingen. 408 Wo dies nicht gelingt und nurmehr an überschaubaren Rändern operiert wird, herrscht der Schein der Beherrschbarkeit und damit symbolische Politik oder politische Rhetorik. 409 Beide verfehlten notwendig die Steuerbarkeit gesellschaftSVD 349. 405 SVD 351 f. 406 SVD 353. 404
355. SVD 356.
407 S V D 408
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C. Die limitierende Verfassungstheorie Böckenfördes
licher Teilsysteme durch allgemeinverbindliche politische Entscheidungen.410 Es setze sich dann die Sachlogik autonomer Teilsysteme durch, die Einfluß auf Politik nehmen, um ungestört zu funktionieren. 411 Die Steuerungsfähigkeit des politischen Systems, eine übergreifende, auf Ausgleich, Setzung von Schranken und ändernde Gestaltung gegenüber den Teilsystemen zielende Regulierung, wird der Funktionslogik von Machtgewinn und Machterhalt unter Konkurrenzbedingungen geopfert und politische Entscheidungsgewalt wird zum bloßen Teilsystem.412 Eine übergreifende Sachlogik müßte dagegen Einwirkungen und Forderungen der Teilsysteme, in denen ihre eigenen Legitimationsspender, die Bürger, als jeweilige Rollenträger agieren, so verarbeiten, daß die eigene Funktionslogik und Stabilität nicht zum politischen Kriterium schlechthin werden. Dazu aber wiederum bedürfte es eines demokratischen Ethos in dem für die Demokratie konstitutiven Volk, in dem eine Idee von Staatsbürgerschaft zum Tragen kommt, die die eigene Interessengebundenheit im Blick auf die Verantwortung für das Ganze vermittelt und überwind e t 4 1 3 Die Verfassungsinterpretation aber, so wird man im Gegenschluß argumentieren, kann diese Vermittlung strukturell nicht leisten und darf deshalb auch dann nicht in die Bresche springen, wenn diese politische Vermittlungsleistung nicht gelingt. Auch sie könnte nicht mehr als symbolischen Politikersatz leisten, der an den Voraussetzungen und Anstrengungen gelungener Demokratie vorbeijudiziert. 414 Der Gedanke der notwendigen Vermittlungsarbeit führt uns zu dem dritten Element des Verweises limitierender Verfassungstheorie auf demokratische Verantwortlichkeit, nämlich die Unterscheidung von mittelbarer (repräsentativer) und unmittelbarer Demokratie.
cc) Die Repräsentationsstruktur
der Demokratie
Der Idee nach könnte auch eine Konzeption unmittelbarer Demokratie zu einer Begründung der Grenzen der Verfassung führen. Eine solche Konzeption ist Bökkenförde zufolge aber Ausdruck „emphatischer Theoriebildung", 415 die die Verwirklichungsbedingungen von Demokratie in komplexen Gesellschaften und damit zugleich das im Grundgesetz vorgefundene und auf eine solche Gesellschaft ge409
In diesen Bereich politischer Rhetorik wird im Rahmen expansiver Verfassungstheorie auch das BVerfG gedrängt. Es herrscht durch seine expansive Verfassungsinterpretation der Schein der Integration. 410 SVD 357. 411 SVD 357. 412 SVD 358. 413 SVD 363. 414 Auch zu dieser Surrogatfunktion paßt die von rhetorischer Tradition abgeleitete und zur Symboltheorie ausgeweitete topische Verfassungsmethodik expansiver Verfassungstheorie. Vgl. zur Beziehung von Topik, Rhetorik und Symboltheorie der Verfassungsinterpretation oben Kapitel B.l.l. 415 Böckenförde, 1983, S. 301.
II. Der besondere Teil
121
münzte Demokratieprinzip nicht begreifen kann. 416 Die Strukturgegebenheiten gesellschaftlich differenzierten Lebens sprechen gegen ein Konzept unmittelbarer Demokratie: „Demokratie in Unmittelbarkeit, organisiert in einem Beschluß und ein Handlungsorgan, das mit den Bürgern identisch ist, erscheint nur dort möglich, wo das Bestehen einer solchen Handlungs- und Wirkungseinheit, wie sie für Selbstbehauptung, Sicherung nach außen, Gewährleistung eines differenzierten Lebens nach innen unerläßlich ist, keine Rolle spielt." 417 Im Rahmen einer Verfassungstheorie des Grundgesetzes kann es aber nicht gleichgültig sein, welche Bedeutung für den Verweis auf den demokratischen Prozeß das im Grundgesetz vorgefundene Demokratieprinzip hat, das deshalb im Rahmen und als Bestandteil der limitierenden Verfassungstheorie Böckenfördes nicht als Prinzip unmittelbarer Demokratie, sondern als Prinzip repräsentativer Demokratie rekonstruiert wird. Bökkenförde geht zunächst von politisch-soziologischen Beobachtungen und Erfahrungen aus, die in der Tradition von Staatstheorie und politischer Philosophie verarbeitet sind und die die Annahme einer Repräsentationsstruktur der Demokratie nahelegen. Ein unmittelbar anwesendes Volk werde dort zwar vorgestellt, um die unmittelbare, unveräußerbare und unrepräsentierbare Selbstherrschaft des Volkes zu begründen. 418 Abgeordnete hätten nach dieser Vorstellung nur den Status eines Beauftragten ohne eigene Entscheidungsgewalt.419 Was aber, wenn es um die Selbstbestimmung des Volkes in den größeren Zusammenhängen eines komplexen politischen Systems geht, in dem die unmittelbare Anwesenheit des Volkes nicht vorausgesetzt werden kann? Kann auch dann Repräsentation nach dem Muster eines Beauftragten begriffen werden? Es geht Böckenförde um Möglichkeiten des konkreten Selbst dieses Volkes, die demokratisch aktualisiert werden müssen. Dies setzt eine Frage voraus, in der die Konkretisierung dieser Möglichkeiten angelegt ist und auf die das Volk antworten kann. Bei der Formulierung dieser Frage ist das Volk unmittelbar nicht initiativ, da es als plurale Gesamtheit im Blick auf das Allgemeinwohl nur begrenzte Äußerungsmöglichkeiten hat. Das Interesse an politischer Beteiligung ist für Bürger nicht in der Weise fundamental, daß es alle anderen Interessen überlagert und bleibt daher eine Sache von aktiven Minderheiten. Auch im Verhältnis von Parlament zu Regierung sind diese Äußerungsmöglichkeiten begrenzt. 420 Darin sieht Böckenförde den Grund für die Ausbildung von Elitestrukturen, in denen sich die Initiative zu fundamentalen politischen Fragestellungen sammelt. Die Leitungsorgane müssen in ihrer Repräsentativfunktion für das Volk die Verantwortungsstrukturen und entsprechenden Fragestellungen ausbilden, auf die das Volk antworten kann. Dies setzt für Böckenförde ein forderndes und führendes Handeln weniger 416 417 418 419 420
Böckenförde, 1983 S. 301. A.a.O.,S. 312. A. a. O., S. 304. A. a. O., S. 305. A. a. O., S. 308.
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C. Die limitierende Verfassungstheorie Böckenfördes
und repräsentativer Organe, die notwendig selbständig handeln, voraus. Dabei mag die Herausforderung zu diesem Handeln von Vielen veranlaßt sein; die konkrete, inhaltlich bestimmte Initiative aber, die die Willensvereinheitlichung durch Selektion und Wirkungseinheit hervorruft, ist selbst schöpferisch und nicht Vollzug oder Anwendung von bereits Festgelegtem nach dem Stile von Beauftragten. Immer müssen dabei diejenigen, die die organisatorisch vereinigten Machtleistungen aktualisieren, über ein gewisses Maß an Entscheidungsfreiheit und damit demokratisch nicht gebundener Macht verfügen. 421 Das dynamisch gestaltende und schöpferische Element der expansiven Verfassungsinterpretation wird hier bei Böckenförde im repräsentativen Charakter der Demokratie erkennbar. 422 Vor diesem Hintergrund interpretiert Böckenförde den Wortlaut in Art. 20 Abs. 2 GG dahingehend, daß dort kein Totalvorbehalt gemeint sein kann. Art. 20 Abs. 2 GG schließe es aus, die vollziehende Gewalt einem umfassenden Parlamentsvorbehalt zu unterwerfen 4 2 3 Das Volk übt seine legitimierende Gewalt auch durch die Exekutive aus. Es muß nur das Instrument der Weisungsabhängigkeit als Vermittlungselement in den Legitimationsprozeß eingebaut werden. 424 Der Verfassungsgeber, das Volk, konstituiert so die je eigenen Funktionen und Organe als für sich genommen demokratisch legitimiert. Darauf aufbauend läßt sich nun mit Hilfe von Bökkenförde ein für das Verhältnis von Verfassungsinterpretation und Verfassungstheorie interessanter Zusammenhang herstellen, der die Ergänzungsbedürftigkeit methodischer Elemente der Verfassungstheorie aufzeigt: Zwischen der demokratischen Verantwortlichkeit und der Weisungsabhängigkeit auf der einen und Gesetzesbindung auf der anderen Seite besteht ein korrelativer Zusammenhang: „Entfallen wie bei der Rechtsprechung ( . . . ) demokratische Verantwortlichkeit und Weisungsabhängigkeit, so ist die strenge Bindung an das inhaltlich bestimmte Gesetz ohne eigene Gestaltungsspielräume das notwendige Korrelat dieser Unabhängigkeit ( . . . ) . " 4 2 5 Ist das Gesetz hingegen „nur Rahmen und Grenze (exekutiven) staatlichen Handelns" ( . . . ) und räumt Ermessensspielräume ein, sind Verantwortlichkeit bzw. Weisungsabhängigkeit für die demokratische Legitimation unerläßlich. 4 2 6 Greift also der gerichtlicher Überprüfung zugängliche Regelcharakter des Rechts nicht, müssen Verantwortlichkeit und Weisungsabhängigkeit beachtet werden, ohne daß es jedoch einer expansiven Verfassungsinterpretation bedürfte, die vor den Schwächen dieser Alternativen zur verfassungsrechtlich gebundenen staatlichen Handlung bewahren könnte. In der Begründung dieser Repräsentativstruktur von Demokratie hat also die von Böckenförde in Bezug genommene Konzeption von demokratischer Verantwortlichkeit ihren Ort. Er sieht sie auch dem aus dem Amerikanischen entlehnten Konzept der Responsivität bzw. Responsiveness427 421 A. a. O., S. 311. 422 SVD 336. 423 SVD 301. 424 SVD 307. 425 SVD 307. 426 SVD 307.
II. Der besondere Teil
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verbunden. Verantwortlichkeit der Repräsentanten besteht danach in einer Aufnahmebereitschaft und Sensibilität für die Wünsche und Interessen der Repräsentierten, verbunden mit einem dementsprechenden Perzeptionsvermögen. 428 Diese Verantwortlichkeit begibt sich aber nicht in eine mechanische Abhängigkeit von den Repräsentierten und begründe deshalb keine bloße Vollstreckerrolle der Repräsentanten. Sie bewahrt vielmehr die Eigeninitiative und Fähigkeit zur Antizipation von Bedürfnissen und Interessen sowie die Bereitschaft, im Falle inkompatibler und divergierender Interessen und Forderungen sachorientierte Entscheidungen zu treffen, die am Gedanken des gerechten Ausgleichs oder übergreifender, allen gemeinsamer Interessen orientiert ist. 4 2 9 Verfassungstextlich und verfassungsrechtlich vorgegeben und determinierbar ist dieser Gerechtigkeitsbezug mit dem Demokratieprinzip allerdings nicht. Es geht ja um das Ausloten der Alternativen zu verfassungsrechtlich gebundener staatlicher Handlung. Deshalb und in dieser Hinsicht kann Böckenförde den Ort für Abwägungsprozesse, Gerechtigkeitserwägungen und Sachorientierung von politisch relevanten Entscheidungen, die nach dem Verständnis expansiver Verfassungstheorie schon umfassend in der Verfassungsinterpretation zu leisten sind, von den Voraussetzungen des Demokratieprinzips her begreifen. Dabei ist die Konzeption demokratischer Verantwortlichkeit von einer Vermittlung normativer Vorstellungen mit faktischen Prozessen getragen. 430 Repräsentation erscheint als Prozeß, nicht als bloße Darstellung und Vergegenwärtigung von etwas schon Fertigem. Sie wird hervorgerufen durch ein Handeln der Repräsentanten, das bestimmten inhaltlichen Anforderungen entspricht: Dem Einbringen der - verschiedenen - Interessen und Bedürfnisse in ihr Handeln und Entscheiden, zugleich aber der Darstellung und Aktualisierung dessen, was von den Bürgern als verbindend Gemeinsames der Ordnung ihres Zusammenlebens gewußt und empfunden wird. Legitimität erscheint damit im Rechts- und Politiksystem weniger als Ergebnis von verfassungsgerichtlich vermittelten Interpretationsprozessen denn als Ergebnis von Repräsentationsprozessen, die, wenn sie gelingen, bewirken, daß sich die Einzelnen im Handeln der Repräsentanten wiederfinden, sich repräsentiert sehen und innerlich verpflichten lassen.431 Dies führt Böckenförde zu einer klaren Definition von demokratischer Repräsentation: „Demokratische Repräsentation bedeutet die Aktualisierung und Darstellung des in den Bürgern angelegten eige427
Vgl. SVD 396. Ohne sich dabei auf Böckenförde zu beziehen, wird das Konzept der Responsivität von Haltern aufgegriffen, der es ebenfalls im Blick auf die Grenzen bundesverfassungsgerichtlicher Integrationsansprüche bei seiner Bezugnahme auf die neuere Institutionenforschung gebraucht. Vgl. Haltern, 1997, S. 66 und ders., 1996, S. 564 ff. Zum Begriff der „Responsivenes", der im Rahmen evolutionärer Rechtsstheorie einen Fortschritt von einem repressiv-instrumental isti sehen Rechtsverständnis hin zu einem flexibel-zweckorientierten, bürgernahen und partizipationsfreundlichen Recht avisiert, vgl. Nonet/Selznick, 1978, insbesondere S. 73 ff. und dazu die Sammelrezension von Brugger, 1981, S. 564 ff. (573 f). 428 SVD 396. 429 SVD 396. 430 SVD 396 f. 431 SVD 397.
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C. Die limitierende Verfassungstheorie Böckenfördes
nen Selbst des Volkes sowie des Bildes, das in der Vorstellung der Bürger von der Art der Behandlung der allgemeinen Fragen sowie der Vermittlung der Bedürfnisse und Interessen auf das Allgemeine hin lebendig ist." 4 3 2 Die damit angesprochene Orientierung politischer Herrschaft „an den gemeinsam verbindenden Auffassungen der Bürger" wird als Konfliktarbeit begriffen, denn sie stellt sich nicht von selbst her, aus der Identität und Unmittelbarkeit des Volkes, sie muß vielmehr erst errungen und bewußt herbeigeführt werden. Die relative Verselbständigung des politischen Entscheidungshandelns gegenüber demokratischer Unmittelbarkeit und seine repräsentative Ausgestaltung ist dafür die Voraussetzung. Werde die darin liegende Möglichkeit des Volkes von den Repräsentanten nicht ergriffen, „kann (inhaltliche) Repräsentation nicht Zustandekommen und das Volk entbehrt der Möglichkeit der Artikulation seiner selbst." 433 Die Verantwortung für das Gelingen der Demokratie legt Böckenförde damit zuerst in die Hände ihrer „repräsentativen Leitorgane" 434 . Er scheint die Demokratie damit zugleich einer moralischen, persönlichen Verantwortungsebene zuzuordnen. In der Tat ist Böckenförde der Auffassung, daß Demokratie über die rational-funktionalen Vorkehrungen der Organisation und Legitimation hinaus „ebenso der ethisch-normativen Orientierungen" bedarf, denn: „Was im Leben der einzelnen von großer Bedeutung ist..., kann im politischen Zusammenleben der Menschen nicht auf einmal irrelevant werden" 4 3 5 Die Chance aber, daß die ethisch-normativen Orientierungen sich im offenen politischen Prozeß überhaupt auf ein Allgemeines hin vermitteln lassen, ist auch für Böckenförde starken Zweifeln ausgesetzt, da die interessenpluralistische Gesellschaft diese Orientierung und Vermittlung auf das Allgemeine hin oft allein von den staatlichen Leitungsorganen und im Bereich der Politik erwarte, diese aber gerade deshalb „kontinuierlich überanstrengt" werden. 436 Ferner stehe auch die kurzfristige Orientierung am Wahlerfolg der Anstrengung einer wirklichen Repräsentation oft eher im Wege. 437 Die eine gelungene Repräsentation erstrebende Anstrengung selbst ist jedoch in der anspruchsvollen Staatsform der Demokratie nicht ersetzbar. 438 Eine expansiv gedeutete Verfassung und ein dementsprechend agierendes Verfassungsgericht aber liefern einen besonders verführerischen Ersatz für diese Anstrengung und untergraben sie somit im Ansatz.
432 SVD 398. 433 SVD 400. 434 SVD 401. 435 SVD 402. 436 SVD 404. 437 438
SVD 404. SVD 405.
Fazit C.II: Der allgemeine und der besondere Teil
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Fazit C.II: Der allgemeine und der besondere Teil der limitierenden Verfassungstheorie Böckenfordes als Alternative zur expansiven Verfassungstheorie Die Darstellung ausgewählter Einzelinterpretationen und Sondervoten Böckenfördes (Kapitel C.II.) hat den allgemeinen Teil der limitierenden Verfassungstheorie Böckenfördes (Kapitel C.I.) mit Leben erfüllt. Damit wurde die Möglichkeit limitierender Verfassungstheorie am Beispiel eines konsistenten verfassungstheoretischen Modells nachgewiesen. Die Korrespondenz von interner Dogmatik- und externer Theorieperspektive limitierender Verfassungstheorie wurde durch die Beziehung von allgemeinem und besonderem Teil in Böckenfördes Verfassungstheorie aufgezeigt. In diesem Sinne konnte beim besonderen Teil der Verfassungstheorie Böckenfördes (Kapitel C.II.) von einer Verfassungstheorie des Grundgesetzes gesprochen werden. 439 Böckenfördes Aufweis innerer und äußerer Differenzierung der Verfassung hat die expansive Verfassungstheorie als - von der Verfassung selbst her - unnötige, ja die Verfassungsgeltung sogar gefährdende Ausweitung erscheinen lassen. Weder Organisations- und Kompetenznormen, noch die Grundrechte legen, sieht man einmal von dem für wirkliche Grenzfälle einschlägigen Art. 1 Abs. 1 GG ab, ihre wert- oder prinzipienorientierte Interpretation nahe. Die von dieser Interpretation ausgehende Angemessenheits- und Abwägungsrechtsprechung des BVerfG ist insofern genauso entbehrlich, wie deren expansive verfassungstheoretische Reformulierung. Am Beispiel der Interpretation des Art. 14 GG zeigte sich besonders deutlich, wie realistisch und konfliktbewußt die limitierende Verfassungstheorie dabei gegenüber expansiver Verfassungstheorie argumentieren kann. Faktische innergesellschaftliche Machtprozesse erscheinen im Rahmen des Grundrechtsdiskurses limitierender Verfassungstheorie aber nicht positiv grundrechtlich determinierbar. Vielmehr war ein liberales Modell der Grundrechte als Grundintention limitierender Verfassungstheorie zu erkennen. Im Rahmen des interpretativen Positivismus' Böckenfördes war aber auch immer neu zu fragen, ob diese Grundintention in der Verfassung auch die konkrete positive Gestalt eines individuellen Grundrechtes erhalten hat. Zugleich wurde bei Böckenförde ein staatstheoretisch unterfaßter Prinzipiendiskurs nachgewiesen, der zur Reduktion und Spezifikation auch des Grundrechtsdiskurses beiträgt. Die dadurch erreichte und für limitierende Verfassungstheorie typische Verlagerung von Diskursgehalten der Grundrechtstheorie auf die Demokratieund Staatstheorie konnte anhand des Sozialstaatsprinzips einerseits und des Demokratieprinzips andererseits deutlich gemacht werden. Die notwendige Ergänzung der sozi al theoretischen Prämissen des liberalen Rechtsstaatsverständnisses wird dabei von Böckenförde genauso betont wie der kategoriale Unterschied des verfassungsrechtlichen Sozialstaatsauftrags im Vergleich zur Form der Positivierung der Grundrechte. Hierin bestätigt sich Böckenfördes Kritik an der strukturellen Über439 S.o. Fazit C.I.
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C. Die limitierende Verfassungstheorie Böckenfördes
forderung der Verfassung und der sie interpretierenden Verfassungsgerichtsbarkeit mit komplexen Gestaltungsaufgaben. Die Brücke zur Methodik der Verfassungsinterpretation ließ sich auch hier schlagen: Die Ausfüllung der bedeutungsoffenen Verfassungsbegriffe ergibt sich nicht durch Interpretation der Verfassung als für die gesamte Rechtsordnung inhaltlich bestimmenden Normen, sondern wird im Prozeß der Gesetzgebung je neu und in einfachgesetzlicher Differenzierung gefunden. Die Verfassung selbst ist unmittelbar nur Rahmenordnung, die diesen Prozeß ermöglicht und enthält in sich nicht schon das Material, das zu einer Harmonisierung der verschiedenen Rechtspositionen untereinander führt. Das Demokratieprinzip erwies seine limitierenden Elemente in seinem Staatsbezug, nach dem nur staatliche Herrschaft im Sinne des Demokratieprinzips legitim sein muß, nicht auch gesellschaftliche Machtausübung. Die in der Entwicklung des Demokratiebegriffes gegenüber expansiver Verfassungstheorie deutlich werdende Verlagerung von Diskursgehalten von der Grundrechtstheorie auf die Staats- und Demokratietheorie bezog sich vor allem auf den Minderheitendiskurs, die Voraussetzungen der Demokratie und ihre Repräsentationsstruktur. Im Minderheitendiskurs wird Minderheit nicht zum Argument im Rahmen der Interpretation eines Individualgrundrechtes, sondern bleibt ein Kollektivum ohne Grundrechtsrelevanz. Dieser Diskurs ist - auch für politisch weittragende oder irreversible Entscheidungen das Ergebnis eines verfahrensmäßig ausgestalteten Prozesses. Er ergibt sich aus der von geltend gemachten Minderheitswerten und inhaltlichem Konsens relativ unabhängigen Mehrheitsregel. Die Behauptung der Nichtentscheidbarkeit von weittragenden Fragen, die auf diese Weise der Mehrheitsregel entzogen werden sollen, führt nur zur Durchsetzung einer demokratischer Gleichheit widerstreitenden, priviligierten Minderheit und muß elitäre Argumentationsstrukturen verwenden. Die Voraussetzungen der Demokratie werden besonders vor dem Hintergrund ihrer politisch-strukturellen Problematik erörtert (die Sachlogik gesellschaftlicher Teilsysteme setzt sich gegenüber einem übergeordneten politischen Steuerungsanspruch durch). Expansive Verfassungsinterpretation würde hier jedoch nicht mehr als den Schein von Lösungen liefern können. Die Betonung der Repräsentationsstruktur der Demokratie setzt im Rahmen limitierender Verfassungstheorie statt auf verfassungsrechtlich ins Spiel gebrachter unmittelbarer Wertung auf die Struktur demokratischer Verantwortlichkeit, in der Abwägung, Gerechtigkeitsorientierung und Sachorientierung ihren angestammten Ort haben. Die von Böckenförde zwar so nicht formulierte, aber seinen Schriften zu entnehmende Kernthese limitierender Verfassungstheorie gegenüber expansiver Verfassungstheorie kann auf folgenden Nenner gebracht werden: Die Beibehaltung und Beachtung der inneren wie äußeren Grenzen der Verfassung macht ein Zusammenwirken verschiedener Formprinzipien von Verfassung und Verfassungstheorie deutlich, das insgesamt und d. h. im Rechts- und Politiksystem gerade wegen die-
Fazit C.II: Der allgemeine und der besondere Teil
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ser Begrenztheit mehr Verfassungsgeltung begründen kann und sich zudem als verfassungsgemäßer darstellt, als dies im Rahmen expansiver Verfassungstheorie möglich ist. Damit ist die Verfassungstheorie Böckenfördes insgesamt eine Theorie des Rangverhältnisses zwischen einfachem Recht und Verfassungsrecht sowie eine demokratiefreundliche und auf Rechtssicherheit bedachte Theorie über das Verhältnis der Gewalten. Sie beruht auf der Einsicht in die Differenziertheit der Rechtsordnung und auf der Betonung der Effizienz sowie der allerdings als fragil angesehenen moralisch-prinzipiellen Orientierung der Rechtsordnung auf ihren Ebenen. Bezüglich der Normativität der Verfassung stellt sie eine „schwache" Theorie dar, indem sie die Annahme eines spezifisch beschränkten Geltungsanpruches einer Verfassung nahelegt, die gerade in ihrer Begrenztheit ihre Stärke erweist. Die Unterschiede zu expansiver Verfassungstheorie lassen sich schwerpunktmäßig zusammenfassen: Sie liegen in methodischer Hinsicht besonders im Konkretisierungskonzept bzw. im interpretativen Positivismus Böckenfördes begründet. In dogmatischer Hinsicht ist der entscheidende Punkt die Ablehnung der Auffassung von Grundrechten als Elementen objektiver Wertordnung. In inhaltlich-theoretischer Hinsicht setzt Böckenförde gegenüber expansiver Verfassungstheorie statt auf Elemente materialer Legitimität und empirischer Zweckrationalität der Verfassungsinterpretation stärker auf die dem Rechtsstaatsprinzip zuzuordnenden Elemente der Rechtssicherheit und der formellen demokratischen Legitimation. 440 Normtheoretisch drückt sich das in der Bevorzugung eines allerdings gemäßigten Regelmodells des Rechtes aus. Diese nur scheinbar bloß formale Position blendet die materialen Fragen der Rechtsbegründung, Legitimation und Zweckrationalität nicht aus, sondern nimmt sie lediglich in ihrer von der Verfassungsinterpretation zu unterscheidenden relativen Autonomie im politischen und wissenschaftlichen Diskurs wahr. Diese Unterschiede sind zugleich der Ausgangspunkt für die an den genannten Schwerpunkten orientierte Diskussion und Kritik limitierender Verfassungstheorie. Der engere Werkbezug der Rekonstruktion limitierender Verfassungstheorie Bökkenfördes, der die bisherige Arbeit dominiert hat, wird dabei notwendig erweitert.
440 Vgl. zu den damit benannten drei Bestandteilen eines juristischen Begriffs des Gemeinwohls, Brugger, 1994, S. 2 ff. und oben S. 52, Fn. 43.
D. Diskussion und Kritik I. Methodik der Konkretisierung jenseits expansiver Verfassungstheorie: Das Beispiel Friedrich Müllers Ein erster möglicher Widerspruch zur limitierenden Verfassungstheorie Bökkenfördes ergibt sich aus Begriff und Methodik der Konkretisierung. Es wurde im Fortgang der Arbeit zwar deutlich, daß und wie Böckenfördes limitierende Konkretisierungskonzeption in die Praxis seines interpretativen Positivismus eingebettet war und insofern eine positivistische Methodik im klassischen Sinne nicht vorliegt. 1 Aus dem Begriff der Konkretisierung wurde jedoch der aktiv schöpferische Eigenanteil des Verfassungsinterpreten am Verfassungsrecht als zur unkontrollierten Verfassungsexpansion führend weitgehend ausgeschlossen.2 Aus der Perspektive expliziter Konkretisierungskonzeptionen der Rechtsmethodik muß deshalb auch der interpretative Positivismus Böckenfördes als positivistische Fehleinschätzung praktischer Rechtsarbeit und ihrer Sprachhandlungen erscheinen, die deren schöpferische Dimension nur jenseits von Verfassung und Gesetz und nur außerhalb normativer Bindung anzusiedeln vermag.3 Aus Konkretisierungskonzeptionen der Verfassungsmethodik erwächst damit scheinbar ein zentrales Gegenargument zum methodischen Bestandteil der limitierenden Verfassungstheorie Böckenfördes. Es kann besonders gut am Beispiel von F. Müllers Konkretisierungskonzeption der Verfassungsinterpretation entfaltet werden, da sie das Konkretisierungskonzept am weitesten ausgearbeitet hat und, was jedoch bislang zu wenig gesehen wurde, diese methodische Konzeption wiederum in eine Verfassungstheorie eingebunden ist. 4
ι S. o. Kapitel C.I.2. 2 S. o. Kapitel B.I.2. 3 Vgl. etwa Müller, 1995, S. 153. 4
Vgl. dazu im folgenden Müller, 1995 und ders., 1994. Die Auswahl Müllers liegt auch deshalb nahe, weil bei Müller trotz seiner Konkretisierungskonzeption, die ihn von Böckenförde unterscheidet, gleichwohl eine gewisse Nähe Müllers zu Grundintentionen limitierender Verfassungstheorie festgestellt werden kann. S. o. Kapitel B.I.2. und zur Einbettung des Müllerschen Konkretisierungskonzepts in eine limitierende Verfassungstheorie unten Kapitel D.I.2.
I. Friedrich Müller
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1. Konkretisierung als Vorgang Die Beobachtung und Analyse juristischer Entscheidungsarbeit insbesondere im Verfassungsrecht führt in Müllers Konkretisierungskonzept zu der Erkenntnis, daß die Interpretation eines (Verfassungs-) Normtextes nur ein, wenn auch besonders wichtiges, Element im komplexen Vorgang der Normkonkretisierung ist.5 Über den Normtext hinaus geht es bei der Norminterpretation auch um die Berücksichtigung und Erarbeitung von Sach- und Rechtsstrukturen, die der Normtext insbesondere im Verfassungsrecht 6 nur andeutet, die aber, um die Norm zu verstehen, als ihr Bestandteil notwendig mitgedacht werden müssen. Deshalb sind schon die Normen, die ein Verfassungsgericht zu konkretisieren hat und ist nicht erst die Entscheidung dieses Gerichtes auf politische Realitäten oder Sachstrukturen bezogen, von denen das mit der Entscheidung befaßte Gericht sich allererst ein genaues Bild verschaffen muß.7 Der damit bezeichnete, vom Normtext jeweils zu unterscheidende Normbereich ist also notwendiger Bestandteil der Norm, ohne aus dem Normtext ablesbar zu sein. Der Normtext bietet in seiner sprachlichen Struktur positiv zumeist nur juristische Signal- oder Anknüpfungsbegriffe für das, woran als Entsprechung in der sozialen Realität gedacht ist 8 und nur selten eine fertig vorgegebene, „anwendbare" Regelung.9 Negativ begrenzt der Normtext die zulässigen Sinnvarianten im Konkretisierungsprozeß. 10 Die normative Bedeutung des Rechtstextes ist im Normtext also nicht adäquat anwesend, ihr Sollgehalt nicht unmittelbar gegeben11 und deshalb auch nicht aus dem Rechtstext subsumtionslogisch ableitbar. Konkretisierung muß danach, anders als wir es für Böckenfördes Konkretisierungsverständnis herausgearbeitet haben, gerade im Verfassungsrecht mit seinen offenen Formulierungen mehr sein, als die interpretative Zuspitzung eines an sich vorhandenen normativen Gehaltes von Verfassungsbestimmungen auf die Besonderheiten eines einzelnen Falles.12 Ist die konkrete normative Bedeutung für den zu entscheidenden Fall nicht schon mit dem Normtext gegeben, bietet der Norm5 Müller, 1995, S. 34-64 und S. 153, ders., 1994, S. 114-201. Es geht dabei, obwohl sich Parallelen von sprachphilosophischen und linguistischen Diskussionen der Gegenwart und Müllers Verfassungstheorie nachweisen lassen, nicht um eine Übertragung von abstrakt entwickelten Text -oder Sprachtheorien auf die Verfassungstheorie. 6
Etwa im Unterschied zu Spezialvorschriften enger umgrenzter Rechtsgebiete, vgl. Müller, 1994, S. 161. 7 Müller, 1994, 137 f. Dies gilt etwa für staatspolitische Erwägungen zur faktischen Lage der Parteien bei Wahlrechtsentscheidungen des BVerfG oder zu den im Normtext von Art. 12 GG nur angedeuteten gesellschaftlichen Lebens- und Arbeitsverhältnissen im Apothekenurteil des BVerfGE 7, 377 ff. 8 Müller, 1995, S. 130. Müller, 1995, S. 151, 167. Fertig vorgegebene Regelungen in diesem Sinne sind etwa Fristen, Termine, Form- und Verfahrens Vorschriften. Vgl. Müller, ebd. >o Müller, 1995, S. 167, 272 f. 9
π Müller, 1994, S. 147. 12 Vgl. dazu oben Kapitel B.I.2. 9 Mantcrfcld
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D. Diskussion und Kritik
text aber gleichwohl relativ spezifische Vorgaben für die von ihm ausgehende Konkretisierung. 13 Die Notwendigkeit des schöpferischen Eigenanteils des Verfassungsinterpreten an der Normbildung wird deshalb aber nicht überflüssig. Norminterpretation wird von Müller vielmehr als Normbildung begriffen, gerade um die vom Gesetzgeber bzw. Verfassungsgeber geleistete Vorgabe in der Konkretisierungsarbeit angemessen verbindlich realisieren zu können. Da die von Müller kritisierte positivistische Annahme, im Normtext schon sei grundsätzlich eine subsumtionsfähige Norm vorhanden, die die Überprüfung der rechtsstaatlich zu fordernden Rationalität dieser schöpferischen Normbildung von ihren Voraussetzungen her notwendig ausblendet, wird eine Methodik der Konkretisierung erforderlich, die diesen Normbildungsprozeß in überprüfbaren Einheiten darzustellen in der Lage ist. Schon dieser Ausgangspunkt methodischer Konkretisierung deutet an, daß der schöpferische Eigenanteil an der Verfassungsinterpretation nichts mit dem den Juristen subjektiv bestimmenden Vorlieben 14, wahllos ins Spiel gebrachten Fakten 15 oder situativer Jeweiligkeit 16 zu tun haben muß, die einen Gutteil der Skepsis Böckenfördes gegenüber den Konkretisierungskonzeptionen des Verfassungsrechtes begründet haben. Durch die Analyse des Vorgangs der Konkretisierung werden die Grundannahmen dieses methodischen Ausgangspunktes bestätigt. Im Vorgang der Normkonkretisierung können zwei Grundoperationen, die der Normtextauslegung und die der Normbereichsanalyse, unterschieden und entfaltet werden. 17 Die Normtextauslegung arbeitet in einer ersten Grundoperation mit den herkömmlichen hermeneutischen Mitteln. Schon zu Beginn der Normkonkretisierung muß die am Wortlaut des Normtextes orientierte grammatische Auslegung den möglichen Normsinn in bezug auf den zu entscheidenden Fall vorwegnehmend deuten und greift daher notwendig auf andere methodische Elemente zurück, die auch Texte von Nicht-Normen berühren: 18 Andere Normtexte werden mit der für den Fall in Aussicht genommene Vorschrift in Zusammenhang gebracht (systematische Auslegung), auf den (nicht normativen) Wortlaut von Vorläufern der zu konkretisierenden Norm (historische Auslegung) und auf (Nicht-Normtexte 19 darstellende) Gesetzgebungsmaterialien (genetische Auslegung) wird Bezug genommen. Durch die mit diesen Mitteln vorgenommene differenzierte Interpretationsarbeit wird ein Normprogramm erarbeitet, das den Suchvorgang in der zweiten Grundoperation des Normkonkretisierungsvorgangs, dem der Normbereichsanalyse, selektiv steuert. Ein ausführliches normatives Programm, das konkrete Geltung als soziale Tatsache begründen könnte, ist mit den juristischen Signal- oder Anknüp-
13 Müller, 1995, S. 167 Fn. 293 b. 14 Müller, 1994, S. 397. 15 Müller, 1994, S. 233. 16 Müller, 1994, S. 379. π Müller, 1995, S. 270. ι» Müller, 1995, S. 272 und ders. 1994, S. 237. 19 Vgl. zu einzelnen Beispielen Müller, 1995, S. 205.
I. Friedrich Müller
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fiingsbegriffen des Normtextes ja noch nicht vorhanden und macht daher die Normbereichsanalyse als weitere Grundoperation erforderlich. Diese zweite Grundoperation der Normkonkretisierung erarbeitet die Sach- und Rechtsstrukturen, die der Normtext und das erarbeitete Normprogramm nur andeuten. Auch dabei sind, wie schon bei der Normtextauslegung, verschiedene Elemente voneinander abzuschichten. Die allgemeinen Berührungspunkte der Norm mit der sozialen Realität bilden den Sachbereich der Norm und verdichten sich durch die dem Juristen von seiner Ausbildung oder seiner Berufspraxis her vertrauten „typischen Fallgestaltungen" zu einem Fallbereich. 20 Vom erarbeiteten Normprogramm aus wird dann der für die Norm relevante Normbereich als Teil der sozialen Wirklichkeit (= dem Sachbereich) hervorgehoben und begründet damit eine spezifisch juristische selektive Wahrnehmung des für sich genommen unbegrenzten Sachbereiches.21 Mit der Entwicklung des Normprogramms wird die Eigendynamik des Sozialbereiches begrenzt, läßt sie aber auch, wenn die Norm gerade die Eigendynamik des fraglichen Bereiches schützen will, frei. Gesellschaftliche Sachgesetzlichkeiten stehen daher auch im Rahmen der Konkretisierungskonzeption der Verfassungsmethodik immer auch zur Disposition des Normprogramms und seiner Sollwertvorgaben. 22 Dies ist für Müller Ausdruck der positiv-rechtlich verbindlichen Priorität der demokratisch gesetzten Sprachdaten im Konkretisierungsprozeß vor den Realdaten.23 Die Einbeziehung komplexer Wirklichkeit wird im Rahmen der Normkonkretisierung damit methodisch beherrschbar und deutlich von der Aufnahme oder lediglich affirmativen Abbildung von Sachgesetzlichkeiten unterscheidbar. 24 Der normative Anspruch der Verfassung, den Böckenförde durch das Konzept der Konkretisierung methodisch gefährdet sah, wird deshalb hier aufrechterhalten. Ergebnis des Konkretisierungsvorgangs ist schließlich die Formulierung der Entscheidungsnorm, etwa in Gestalt eines Entscheidungstenors. Sprachund Realdaten können auf diese Weise typisierend erfaßt und in die Entscheidungsnorm am Ende des Konkretisierungsprozesses eingehen.25 Der Konkretisierungsvorgang wird von Müller zusammenfassend wie folgt beschrieben: „In der zeitlich empirischen, wie auch in der systematisch begrifflichen Abfolge des Entscheidungsprozesses werden die textlich geformten Arbeitselemente in der Sequenz vom Normtext über die Rechtsnorm zur Entscheidungsnorm, vom Fall her und für den Fall beurteilt, zunehmend konkreter." 26 Erst dieser gesamte Konkretisierungsvorgang begründet Normgeltung und diese ist damit Ergebnis praktisch gestaltender Rechtsarbeit, die über den Nachvollzug von Vorentschiedenem notwendig hinausgeht. Der Konkretisierungsvorgang füllt so den großen zeitlichen und komple20 Müller, 1995, S. 169, 273. 21 22 23 24
Vgl. Christensen/Kromer, 1987, S. 44. Christensen/Kromer, 1987, S. 46. Müller, 1995, S. 296. Müller, 1975, S. 33.
25 Ebd. 26 Ebd. 9*
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D. Diskussion und Kritik
xen Zwischenraum zwischen Normtext und Norm aus, indem er deren ursprüngliche und bleibende Differenz in einem praktischen und umfassenden Sinne bearbeitet. 27 Damit wird der Konkretisierungsvorgang auch im Verfassungsrecht trotz seiner Komplexität und gerade in seiner Qualität als Rechtserzeugungsprozeß nach einem Regelmodell28 des Rechts begriffen, der ohne die für expansive Verfassungstheorie typische Prinzipienorientierung auskommt. Der Regelbegriff lebt bei Müller aber nicht von seiner kategorialen Entgegensetzung zum Prinzipienbegriff, sondern ist an der praktischen Verwendungsweise von Rechtstexten im juristischen Gebrauchszusammenhang orientiert. 29 Der komplexe Vorgang der Regelbefolgung wird dabei nicht von dem konditionalen Muster „Wenn" (Tatbestand) „Dann" (Rechtsfolge) her begriffen, als würde das Hineinlesen dieses Musters in die Rechtstexte einen rechtssicheren Vollzug oder auch nur eine subsumtions- oder argumentlogische Behandlung von Rechtsproblemen gewährleisten. 30 Auf der Grundlage dieses differenzierten Konkretisierungskonzeptes kann die schöpferische Dimension praktischer Rechtsarbeit auch im Verfassungsrecht schon vom Konkretisierungsbegriff her innerhalb normativer Bindung angesiedelt werden. 31 Böckenfördes Kritik an der unkontrollierten Ausweitungsfunktion von Konkretisierungskonzepten im Verfassungsrecht ist daher zumindest im Blick auf Müllers Konkretisierungsbegriff zu relativieren. Rechtsklarheit und Rechtssicherheit auf der einen, Bindung an das demokratisch legitimierte, positiv gesetzte Recht auf der anderen Seite, rücken Müllers Konkretisierungskonzept darüberhinaus in die Nähe der rechtsstaats- und demokratieorientierten Grundintention von Böckenfördes ebenfalls an einem Regelmodell des Rechts orientierten limitierenden Verfassungstheorie. Die Methodik der Konkretisierung führt also nicht notwendig zu expansiver Verfassungstheorie und sie ist deshalb kein Argument für sie. Um auch diesen Bezug von Methodik und Theorie zu verdeutlichen, wird das methodische Konkretisierungskonzept Müllers nun auch in seiner verfassungstheoretischen Konsequenz betrachtet. Es müssen dazu die zum Großteil methodisch orientierten Bahnen der Rezeption seines Werkes verlassen werden.
27 Müller, 1994, S. 234. 28 Vgl. zur Diskussion von Regel- und Prinzipienmodellen des Rechts oben B.II.2. 29 Vgl. Müller, 1995, S. 113 und zu den sprachphilosophischen, an der praktischen Verwendungsweise von Worten in einem „Sprachspier4 orientierten Parallelen zu Wittgenstein, Müller, 1975, S. 33 „Ein Sprachspiel ist ... eine Sprachsituation, innerhalb welcher gesagt werden kann, daß hier - aber eben nur hier - die Bedeutung der Wörter das Ding ist, auf das sie sich beziehen." Vgl. Müller, ebd. 30 Vgl. Zur Komplexität des Vorgangs der Regelbefolgung aus sprachphilosophischer Sicht allgemein Kemmerling, 1975, S. 104 ff. und für die Rechtstexstinterpretation, Busse, 1988, S. 305 ff. Auf der Basis dieses differenzierten Regelmodells auch des Verfassungsrechts kann die im Rahmen expansiver Verfassungstheorie entwickelte Prinzipientheorie der Grundrechte (vgl. Kapitel B.II.2.) schon in sprachpragmatischer Hinsicht nicht verfangen.
3» Vgl. Müller, 1995, S. 153.
I. Friedrich Müller
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2. Limitierende Verfassungstheorie und Konkretisierung Die im Konkretisierungskonzept Müllers formulierte rationale Methodik ist Bestandteil einer Theorie des bürgerlichen demokratischen Verfassungsstaates, nach der dessen Legitimität sich gerade und vornehmlich in der alltäglichen Legalität ihrer Rechtsarbeit und nicht neben ihr zeigen muß. 32 Ihre Entscheidungen müssen dazu „nach den Regeln der Methodik als an Rechtsnormen ausweisbare Entscheidungsnormen" getroffen werden 33 , nicht aber nach Kriterien normgelöster Güterabwägung.34 Insbesondere die nicht unmittelbar demokratisch legitimierte Justiz hat sich „durch beständiges, in jedem Entscheidungsfall von neuem zu erweisendes rechtsstaatlich regelhaftes Einbeziehen und offenes Verarbeiten demokratisch gesetzter Normtexte" 35 ihre Legitimation erst zu erwerben. Letztlich ist es damit die grundgesetzliche Demokratie, die für die Konkretisierungskonzeption Müllers die entscheidende Grundlage darstellt. 36 Sie arbeitet damit im Zeichen einer auf Rationalisierung von Herrschaft ausgerichteten Liberalität. 37 Werden jedoch unter Integrations- und Funktionsgesichtspunkten gewünschte Ergebnisse nur nachträglich und damit nur scheinbar methodisch rational gerechtfertigt, tritt die ambivalente Doppelrolle der Rationalität des Verfassungsstaates auf den Plan: Neben ihrer liberalisierenden Wirkung übernimmt sie auch autoritäre, auf Herrschaftserhalt ausgerichtete Funktion. 38 So führte normtextentbundene prinzipienorientierte Verfassungsargumentation zur Öffnung der verfassungsgerichtlichen Argumentation für ihrerseits normentbundene Staatsgrundsätze39 und zur Funktionsfähigkeit gesellschaftlicher Institutionen als Rechtsargument, das grundrechtlich gewährleistete Freiheitsbereiche einzuschränken in der Lage sei. 40 Für Müller wird damit aber neben der Liberalisierungsfunktion der geschriebenen Verfassung zugleich auch ihre Demokratiechance der Effektivierung von Herrschaft untergeordnet. 41
32 Müller, 1976, S. 50. 33 Ebd. 34 Müller, 1995, S. 113 zu Alexys Prinzipienmodell der Grundrechte. 35 Müller, 1995, S. 300. 36 Müller, 1995, S. 303. Vgl. auch ebd. Vorwort zur 5. Auflage, S. 11: In der Methodenlehre gehe es darum, „den Rechtsstaat beim Wort zu nehmen, damit Demokratie nicht nur ein Wort bleibe." Diese demokratietheoretische Argumentationslinie setzt sich bis zum (vorläufig ?) letzten Teil der Verfassungstheorie F. Müllers konsequent fort. Vgl. dazu Müller, 1995 a und Müller, 1997. 37 Ebd. 38 Müller, 1976, S. 50. 39 Müller, 1979 S. 39. 40
A. a. O. S. 73. Vgl. dazu die parallele Argumentation bei Böckenförde in Kapitel C.II.l.b). Christensen/Kromer, 1987, S 42.
D. Diskussion und Kritik
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Im Gegenzug dazu nimmt Müllers Verfassungstheorie, ähnlich wie die limitierende Verfassungstheorie Böckenfördes, auch das Schweigen der Verfassung als bewußtes Offenhalten von Fragen ernst, in denen auch die liberalisierende Wirkung rechtsstaatlicher Methodik begrenzt ist. 42 Dazu gehört insbesondere das Gewährenlassen bürgerlicher Eigengesetzlichkeit einer durch Grundrechtsgarantien nur punktuell abgesicherten, inhaltlich aber nicht positiv festgelegten Wirtschaftsgesellschaft. 43 Bewußtes Aussparen und Offenhalten der Verfassung verbiete es deshalb zu meinen, die den positiven Normen zugrundeliegenden Rechtsbegriffe „seien nach Bedarf unbegrenzt expansiv".44 Mehr von dieser liberalen Verfassung zu erwarten, heißt deshalb zu verkennen, daß das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland den Sozialstaat noch nicht in den Mittelpunkt gerückt hat. 45 Freilich könne man mehr von der Verfassung erwarten, indem man verfassungsgeschichtlich bzw. -politisch den Schritt von der liberalen zur sozialen Verfassung tue. Dies ändert aber an der dagegenstehenden, für die methodisch korrekte Interpretation verbindlichen Positivität des Grundgesetzes als im Kern liberaler Verfassung nichts. 46 Die konservierende Funktion rechtsstaatlicher Formqualität wird von Müller also trotz bzw. wegen seines komplexen, und zugleich präzisen Konkretisierungskonzeptes nicht durch expansive Verfassungsinterpretation überspielt, sondern einer auf Normtextänderung zielenden verfassungspolitischen Option anheimgestellt.47 Dementsprechend ist die Verfassung von ihrem Begriffe her auch im Rahmen eines Konkretisierungskonzeptes des Rechts bei Müller nicht als „erschöpfendes Grundbuch von Staat und Gesellschaft" zu betrachten, „ist nicht die Totalität des Lebens beider Bereiche." 48 Auf der Basis eines Konkretisierungskonzeptes des Rechts lassen sich daher Grundintentionen limitierender Verfassungstheorie verfolgen. Konkretisierungsmethodik und limitierende Verfassungstheorie stehen also nicht notwendig gegeneinander. Diese allgemeine verfassungstheoretische Konsequenz bestätigt sich auch in spezielleren Untersuchungen zu einzelnen Verfassungsbereichen bei Müller. In Müllers Konkretisierungskonzept führen Normbereichsanalysen von Grundrechten dazu, die Grundrechte als relativ spezifische, voneinander abgrenzbare, sachgeprägte Ordnungsmodelle und inhaltlich klar geprägte Einzelgarantien darstellen zu können, ohne den für expansive Verfassungstheorie charakteristischen Rekurs auf Grundrechte als Werte oder als Wertsystem zu benötigen.49 Das für die Wertordnungstheorie der Grundrechte typische Verfahren der Abwägung, in dem « 43 44 45 46 47 48 49
Müller, Müller, Müller, Müller, Ebd. Ebd. Müller, Müller,
1976, S. 53. 1976, S. 53. 1979, S. 108. 1976, S. 53.
1979, S. 100. 1990, S. 103.
I. Friedrich Müller
135
Grundrechtspositionen begrenzt und vermittelt werden, wird als nicht auf die Sprache der Verfassung zurückführbar betrachtet. 50 Das Ganze der Wertordnung werde in solch einem Verfahren durch einen sittlichen Grundgehalt als neuem Verfassungsinhalt bestimmt, von dem her „das einzelne Grundrecht eine inhaltliche Begrenzung" 51 erfahre. Man könne diese Grundrechte als Grundsatznormen aber nicht bezeichnen, d. h., man kann sich für sie nicht methodisch korrekt auf den Verfassungstext beziehen. Grundrechte als Wertordnung lassen Grundrechte vielmehr als sprachlich unzugängliches kompaktes Ganzes erscheinen.52 Nur noch das Ganze, das den positiven Normen vorgeht, ist dann das Wahre. 53 „Das Ganze des Sinnes oder der Funktion der Rechtsordnung entpuppt sich als partiell und außerrechtlich und zwar deshalb, weil Vorstellungen über Wert und Gerechtigkeit von so diffuser Art rechtlich gerade nicht geformt und gesetzt sind; und partiell deswegen, weil „die" Gemeinschaft, (...) bei näherem Zusehen gerade auf dem Feld der sozialen Normen als geschichtete, von Schicht zu Schicht in vielem beziehungslose, als zerrissene wirkliche Gesellschaft deutlich wird." 5 4 Ähnlich wie bei Böckenförde korrespondieren hier bei Müller limitierende Verfassungstheorie und Einsicht in die hartnäckige, durch expansive Verfassungsinterpretation nur zu verdeckende Konflikthaftigkeit realer gesellschaftlicher Prozesse. Hinsichtlich der formal begriffenen Kompetenzvorschriften lassen sich ebenfalls Parallelen zu Böckenfördes limitierender Auffassung feststellen. Der Normtext von Kompetenznormen verweise deutlich auf seinen begrenzten Normbereich 55 und gibt daher für ausweitende Interpretation weder Raum, noch Notwendigkeit. Diese Vorschriften begründen auch auf der Basis des Konkretisierungskonzeptes von Müller lediglich Zuständigkeiten und setzen voraus, daß die jeweils zugewiesene Aufgabe legitim ist. Sie sind also nicht geeignet für eine expansive Verfassungsinterpretation und begründen selbständig keine Legitimität. Durch die Mißachtung dieser spezifischen Grenzen der Kompetenzvorschriften des Grundgesetzes spreche sich das BVerfG in Einzelfällen wie für Böckenförde auch für Müller vielmehr selbst die Kompetenz zu, unkontrolliert und nicht durch die Verfassung gedeckt „mit Bindungswirkung für Behörden und Gerichte operieren zu dürfen". 56 Sowohl von der methodischen Voraussetzung her als auch in der verfassungstheoretischen Konsequenz, steht eine ausgeführte Konkretisierungskonzeption von Recht, anders als die in dieser Arbeit vorgenommene Rekonstruktion der Auffasse Müller, 1995, S. 63. A. a. O. S. 37 Wie bei Böckenförde (vgl. oben Kapitel C.II.l.b), S. 81), wird auch hier bei Müller die expansive Grundrechtsausdehnung mit einer Minderung der Grundrechtsgeltung in Verbindung gebracht. 52 A. a. O.S. 38. 53 Ebd. 54 A . a. O. S. 45. 55 Müller, 1979, S. 19. 56 Müller, 1979, S. 20.
D. Diskussion und Kritik
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sung Böckenfördes dies vermuten läßt, limitierender Verfassungstheorie nicht notwendig entgegen. Die Notwendigkeit, Verfassungsrecht methodisch von einem ausgearbeiteten Konkretisierungskonzept her zu begreifen, begründet andersherum also keineswegs die Notwendigkeit, Verfassung expansiv zu interpretieren.
II. Prinzipientheorie der Grundrechte Als weiterer Schwerpunkt der Unterschiede von limitierender und expansiver Verfassungstheorie ist die unterschiedliche Gewichtung von grundrechtstheoretischem und demokratietheoretischem Diskurs in den verschiedenen Theoriekonzeptionen zu nennen. Die expansive Grundrechtstheorie entfaltet sich als Prinzipiennormtheorie, die limitierende Verfassungstheorie entwickelt stärker demokratietheoretische Elemente.
1. Der Prinzipiengehalt der Grundrechte In einer Prinzipientheorie der Grundrechte sah Böckenförde die expansive Verfassungsinterpretation der Grundrechte auf den Begriff gebracht, ohne daß er sich selbst damit inhaltlich dieser Theorie anschloß.57 Aus dieser normtheoretischen Perspektive ist die limitierende Sicht der Verfassung und insbesondere die der Grundrechte unzureichend. Böckenförde, so heißt es, vertrete eine „Einpunktetheorie" der Grundrechte 58, indem er die Grundrechte auf ein Prinzip zurückführe, nämlich die liberalstaatliche Abwehrthese. Dabei aber übersehe er, daß es „angesichts der Vielfalt und Komplexität dessen, was Grundrechte regeln", überraschend wäre, könnte man sie auf nur ein Prinzip zurückführen. 59 Prinzipiengehalte der Grundrechte müßten vielmehr in einer mehrdimensionalen Prinzipientheorie, die als Sonderfall des allgemeinen praktischen Diskurses auch moralische Begründungsstrukturen beinhaltet, entwickelt werden. 60 Posititiv-rechtlich spreche schon Art. 1 Abs. 3 GG für Bindung auch der objektiven Dimension von Grundrechten 61 und mache damit eine solche Prinzipientheorie erforderlich. Grundrechte sind daher ihrem Prinzipiencharakter nach auf Optimierung im Blick auf tatsächliche und rechtliche Möglichkeiten angelegt, in deren Rahmen die Regelebene der Grundrechte als subjektiver Abwehrrechte gegen den Staat nur ein Bestandteil ist. 62
57 S. o. Kapitel B.II.2. 58 Vgl. Alexy, 1991, S. 30. 59 Ebd. 60 Vgl. Alexy, 1991, S. 498 ff. 61 Ebd. S. 471 f. 62 Alexy, a. a. O. S. 54.
II. Prinzipientheorie der Grundrechte
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Schon die Beschreibung des limitierenden Grundansatzes von Böckenförde kann nach obiger Darstellung seiner Verfassungstheorie nicht aufrechterhalten werden. Jedenfalls ergibt sich für Böckenfördes Verfassungstheorie kein reines Regelmodell des Rechts, sondern ein gemäßigtes Regelmodell des Rechts, das die Orientierungsfunktion und rechtsinterpretatorische Bedeutung auch von Prinzipien im Rechtssystem zulassen kann. Es liegt insofern eine spezifische Unterscheidung von Regel- und Prinzipienebene innerhalb eines positiven Rechtstextes vor. 63 Ferner wird bei der prinzipienorientierten Kritik Böckenfördes durch Alexy nicht hinreichend berücksichtigt, daß die Annahme der liberalen Grundintention der Grundrechte thetischen Charakter hat, der sich im Rahmen von Untersuchungen zu Einzelinterpretationen und ihrer spezifischen Bedingungen im Rahmen von limitierender Verfassungstheorie bei Böckenförde als falsifizierbar erwies, ohne jedoch in eine Prinzipientheorie der Grundrechte zu münden. Grundrechte sind also ihrer positiven Struktur entsprechend durchaus als heterogen wahrzunehmen, und im Interpretationsprozeß ist diese Differenzierung aufrechtzuerhalten. Über den Verweis auf die positive Gestalt des Rechtstextes hinaus kann man dafür inhaltliche Gründe ins Feld führen: Gerade weil man die besondere Schärfe des subjektiven öffentlichen Rechts des Einzelnen gegen den Staat im Rahmen des interpretativen Positivismus als Recht des Individuums besonders ernst nimmt, ist man gegenüber einer für den Grundrechtsabschnitt postulierten Verallgemeinerung dieses Gedankens aus der Sicht limitierender Verfassungstheorie genauso skeptisch wie gegenüber der prinzipienorientierten Konstruktion einer objektiv-rechtlichen Dimension der Grundrechte. Es muß eine relativ spezifische Textur vorliegen, um eine Annahme von Subjektivität im Rechtssystem zu begründen. Dies kann, wie wir mit Interpretationen des Grundrechtsteiles durch Böckenförde belegt haben, durchaus Hand in Hand gehen mit der interpretativen Wahrnehmung differenzierter sozialer Verhältnisse, ohne daß damit die Behauptung verbunden ist, es handele sich um subjektiv rechtlich einklagbare Grundrechtsgehalte, die als solche „von sich aus" vieles regeln. Inhaltlich bleibende Unterschiede zwischen prinzipienorientierter expansiver und limitierender Verfassungstheorie bestehen jedoch darüber hinaus: In der Kritik an einer „Einpunktetheorie" der Grundrechte wird vorausgesetzt, was mit Böckenförde aus der Sicht limitierender Verfassungstheorie gerade zu bestreiten ist, nämlich daß und wie Grundrechte „Vielfältiges und Komplexes" im Blick auf eine „Optimierung" regeln sollen. Zwar bleibt die subjektiv-rechtliche Bedeutung der Grundrechte auch im Rahmen einer Prinzipientheorie der Grundrechte erhalten, wenn sie durch eine Subjektivierungsthese ergänzt wird, nach der die Argumentationslast bei demjenigen liegt, der bei einer Grundrechtsnorm einen bloß objektiven Charakter annimmt. 64 Der Begründungsdiskurs für die mit dem objektiven Charakter der Grundrechte begründeten Optimierung ist aber nur schwer juristisch hand63
Vgl. dazu oben, Kapitel C.I. 64 Alexy, 1990, S. 61.
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D. Diskussion und Kritik
habbar. Die mangelnde Gerechtigkeit und Zweckmäßigkeit staatlichen Handelns etwa läßt sich im Rahmen der als objektiver Grundsatznormen aufgefaßten Grundrechte stets so rekonstruieren und reformulieren, daß ein Problem der Grundrechte daraus wird. Warum wird dieser Versuch, das Gemeinwohl juristisch zu formulieren, aber gerade bei den Grundrechten aufgehängt, obwohl doch einerseits die textlichen, strukturellen und institutionellen Rationalitätspotentiale des einfachen Rechts und der daran gebundenen Gerichtsbarkeit dafür weit mehr hergeben und andererseits einer rechtsautonomen Moral ebenfalls einiges zuzutrauen ist? 65 Auch deshalb liegt die Beweislast dafür, daß Grundrechte in diesem Sinne „vieles regeln", bei denen, die diese Behauptung aufstellen.
2. Demokratietheorie und Grundrechtstheorie Die von der Positivität der Verfassung nicht gedeckte Prinzipialisierung des Rechtssystems verstellt überdies den Blick auf die Notwendigkeit, Verfassungstheorie wesentlich als Demokratietheorie zu konzipieren. Die Prinzipialisierung der Grundrechte unterschätzt damit zugleich die positive Rolle, die das Demokratieprinzip im Rahmen einer verfassungsgemäßen Verfassungstheorie spielen müßte 66 und vernachlässigt damit zudem die Möglichkeit, die Bestimmung des Gemeinwohls wesentlich durch das Parlament und den von angeblichen Verfassungsvorgaben freien öffentlichen Diskurs geschehen zu lassen.67 In diesem Zusammenhang ist zwar zu berücksichtigen, daß auch eine Prinzipientheorie der Grundrechte mittlerweile die Rolle prozeduraler Elemente der Demokratie für das Gemeinwohl realisiert und dadurch die materiate Bestimmtheit des Rechtssystems durch Verfassungsinhalte begrenzt. 68 Insofern werden Intentionen limitierender Verfassungstheorie aufgenommen. Kann dies aber auf der einmal angenommenen, weiten Prinzipientheorie der Grundrechte wirklich durchgehalten werden und, wenn ja, bleibt Demokratie nicht auch mit dieser Erweiterung eine Randerscheinung in einer expansiven Verfassungstheorie, die wesentlich auf einen moralphilosophischen Diskurs angewiesen bleibt ? Eine Umkehr der Beweislast für die Notwendigkeit einer durch moralische Begründungsstrukturen angereicherten expansiven Grundrechtstheorie scheint auch und gerade aus einer sozialphilosophischen Perspektive nahezuliegen, nach der ein Vorrang der Demokratie vor der Philosophie konstatiert wird. 69 65
Vgl. dazu im Blick auf die Rechtsfortbildung durch die Fachgerichte, Wank, 1980, S. 545 ff. und die angelsächsische Hochschätzung des einfachen Gesetzesrechtes, wie sie oben in C.I.2.b) Fn. 143 wiedergegeben wurde. 66 Zur positiven Rolle des Demokratieprinzips bei Böckenförde, s. o. C.II.3.b) und C.I.l.b)cc)). 67 Brohm, 1988, S. 795. 68 Alexy, 1987, S. 413.
II. Prinzipientheorie der Grundrechte
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Dabei wird insbesondere in Frage gestellt, daß eine liberale Demokratie überhaupt eine philosophische Begründung gebraucht. 70 Die Abhängigkeit moralphilosophisch begründeter Gerechtigkeitskonzeptionen von historischen Bedingungen71 führt zur Kritik der Vorstellung, daß moralische und politische Auseinandersetzungen auf Prinzipien zurückgeführt werden sollten oder daß umgekehrt, moralische und politische Schlußfolgerungen aus einer prinzipienorientierten Ordnung von Prämissen gezogen werden. 72 Die diskursive Überlagerung von partikular vernetzten Wortschätzen, Meinungen und Wünschen wird als lediglich empirischer Versuch politischer Diskussion begriffen. 73 Ein darüber hinausgehender, in Prinzipiennormen bestimmbarer normativer Grundriß für diese politische Diskussion liegt aus dieser Sicht, die in moralphilosophischer Hinsicht lediglich die Verpflichtung zu freier Diskussion und zur experimentellen Zusammenarbeit in politischen Institutionen aufrechterhalten will, jedenfalls nicht nahe.74 Warum sollten Grundrechtstheorie und Verfassungsrechtsprechung aber dann mit der Schaffung eines solchen moralphilosophischen normativen Grundrisses belastet werden bzw. einen solchen Grundriß als „Wertordnung" voraussetzen oder in einer Prinzipientheorie der Grundrechte rational rekonstruieren? Vielmehr legt dieser Zweifel innerhalb der Moralphilosophie eine Beschränkung auch der verfassungsrechtlichen Diskursmöglichkeiten nahe. Auch aus moralphilosphischer Perspektive kann limitierende Verfassungstheorie also gegen ein ausgeweitetes Verfassungsverständnis auf den verfassungsgerichtlich weitgehend nicht determinierbaren demokratischen Prozeß verweisen. Die prinzipienorientierte Ausweitung der Verfassung hingegen usurpiert insofern nicht nur den Text der Verfassung mit ihm unangemessenen philosophischen Begründungs versuchen, sondern sie besetzt auch den freien politischen Diskurs in normativ-werthaftem Überschwang.
69 Vgl. dazu und im Folgenden Rorty, 1988, S. 82 ff. Diese Position ist freilich - sozialphilosophisch - nicht unumstritten. Vgl. etwa Habermas, 1993, S. 85 f. und die dort angegebene weiterführende Literatur. Aber gerade die sozialphilosophische Umstrittenheit macht deutlich, daß die Verfassungstheorie sich so wenig wie möglich mit philosophischen Begründungslasten für die ausgeweitete Verfassungsinterpretation belasten sollte und insofern die Beweislast für die Heranziehung von Gründen aus dem allgemeinen praktischen Diskurs im Rahmen der Verfassungstheorie auf seiten der expansiven Verfassungstheorie liegt. Dem eingeschränkten Zweck, dies beispielhaft zu verdeutlichen, dient die Darstellung der sozialphilosophischen Position von Rorty. 70 Vgl. Rorty, a. a. O. S. 82 ff. und Rortys anti-universalistische Rawls-Interpretation, sowie S. 94 f. zur Begründung von Sozialpolitik ohne einen prinzipiellen Berechtigungsnachweis und nur in Abhängigkeit von einer Einbettung des öffentlichen Lebens in geschichtliche Traditionen, die von radikal situierten Individuen und Gemeinschaften errungen werden müssen, a. a. O. S. 100. 71 Ebd. S. 84. 72 Ebd. 73 Ebd. S. 103 und S. 105. 74 Ebd. S. 109.
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D. Diskussion und Kritik
Zu einer anderen Bewertung des Verhältnisses von expansiver und limitierender Verfassungstheorie könnte es freilich führen, wenn man von vornherein akzeptieren würde, daß das Bundesverfassungsgericht, ohne sich dafür verfassungstextlich oder dogmatisch legitimieren zu können, ausdrücklich normtextentbundene politisch-ethische Würdigungen vornimmt, die die spezifische Konstellation eines Falles so streng herausarbeiten, daß auch die Partikularität dieser Entscheidung und ihre damit verbundene beschränkte Bedeutung deutlich wird. 75 Für die in Deutschland übliche Beschreibung der Funktion von Gerichtsbarkeit wäre dies aber zumindest unüblich und überdies unwahrscheinlich, weil mit dieser Öffnung auch ein dem bislang noch unbestrittenen Souveränitätsanspruch des Gerichts abträgliches, kritisches Argumentationspotential Einzug in die Konstruktion von Verfassungsgerichtsentscheidungen hielte.
I I I . Hoffen auf das Gesetz und den Gesetzgeber Der Verweis auf den demokratischen Prozeß im Rahmen limitierender Verfassungstheorie Böckenfördes beinhaltet auch eine Hoffnung auf das Gesetz und den Gesetzgeber und die Rationalität des Gesetzgebungsprozesses als wesentlichem Element repräsentativer Demokratie. Im Rechtssystem steht die Hoffnung auf den Gesetzgeber für Gleichheit vor dem Gesetz, Bestimmtheit des Gesetzes, Vorhersehbarkeit, Gleichheit, und Berechenbarkeit staatlicher Machtausübung.76 Den ersten möglichen Ansatzpunkt einer Kritik limitierender Verfassungstheorie in diesem Punkte gibt Böckenförde selbst an, indem er befürchtet, der Gesetzgeber könne die in den einzelnen Rechtsgebieten bestehenden Rechtsgrundsätze und die darin zum Ausdruck kommenden ethisch-moralischen Prinzipien, die Böckenförde als Alternative zu der verfassungsrechtlich ausgeweiteten Prinzipienebene vorsieht, nur unzureichend berücksichtigen 77. Anders ausgedrückt, zweifelt Böckenförde selbst an der hinreichenden Rationalität des Gesetzgebungsvorganges78 bzw. an der Durchsetzungsfähigkeit der Rechtsgrundsätze in der jeweiligen konkreten Gestalt einzelner Rechtsmaterien gegenüber einer hypertrophen Gesetzgebungsmaschinerie. Hinzu kommen Zweifel an der Steuerungsfähigkeit des Gesetzes angesichts wachsender Staatsaufgaben. 79 Die hochdifferenzierte, pluralistische und durch schnellen Wandel gekennzeichnete Gesellschaft läuft den auf Dauer angelegten 75 So etwa Schlink, 1989, S. 170. 76 Im Rechtssystem lassen sich damit die drei zentralen Gemeinwohlelemente Legitimität, Zweckmäßigkeit, Rechtssicherheit dem Gesetz zuordnen. Vgl. zu einem Rechtsbegriff des Gemeinwohls in diesem Sinne Brugger, 1994, S. 2 ff. sowie C.II. Fn. 440. 77 Vgl. SVD 195, wo Böckenförde von den „Federstrichen des Gesetzgebers" als problematischem Punkt seiner Alternative spricht. 78 Das Hoffen auf die Rationalität des Gesetzgebers hinterfragt auch Dreier bezüglich der als Legalismus zu bezeichnenden Auffassung Böckenfördes. Vgl. Dreier, R., 1990, S. 88.
III. Hoffen auf das Gesetz und den Gesetzgeber
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normativen Fassungs- und Steuerungsversuchen des Gesetzgebers davon. Das Gesetz als generelle Regelung vermag auch bei noch so starker Spezialisierung nicht die Differenziertheit der heutigen Gesellschaft zu erfassen. 80 Gegen die Allgemeinheit des Gesetzes spricht die Notwendigkeit situationsgerechter Lösungen. Komplexe Probleme müssen tentativ, rekursiv, revisibel gelöst werden. Rückmeldung und Information sei erforderlich und nicht die unsichere und unflexible Prognose des Gesetzgebers.81 Gerade deshalb vermag das Gesetz auch die an es gebundene Verwaltung nur unzureichend zu determinieren und die politische Verwaltung wendet insofern nicht einfach Gesetze an. 82 Die Wirkungsforschung zeigt vielmehr, daß auch die Verwaltung in der Praxis weitgehend Selbstprogrammierung vornimmt. 83 Die Ausweitung der Staatsaufgaben im Zuge des Wohlfahrtsstaates wird zur Begründung dieser Strukturschwäche herangezogen. Sie ist es nämlich, die die Änderung des Normprogramms von Gesetzen zur Folge hat: Die Finalprogrammierung durch Gesetzestexte wird bei Gestaltungsaufgaben der Verwaltung wichtiger, weil der Gesetzgeber noch weniger als vormals die Gestaltung im einzelnen vorwegnehmen kann. Der Verwaltung werden in Gesetzen zunehmend Ziele vorgegeben, deren konflikthafte Verwirklichung die Verwaltung zu selbständigen Abwägungsprozessen nötigt und die Gesetzesbindung der Verwaltung in Frage stellt. Auch Gerichte können mangels Maßstabes auf dieser Basis nicht mehr im eigentlichen Sinne Recht sprechen, sondern müssen justizförmige Politik betreiben. 84 Das rechtliche Modell der demokratischen Kontrolle und Bindung der Verwaltung an das Gesetz aber ist damit weithin nicht einlösbar, weil die Problemverarbeitungs- und Steuerungskapazität der Parlamente und Regierungen nicht zuletzt im Zuge der Staatsaufgabenausweitung zu gering ist. 85 Stellt der verstärkte Rekurs auf die Verfassung durch ein immer stärker in Anspruch genommenes Verfassungsgericht angesichts dieser Schwächen des Gesetzes nicht doch eine sinnvolle Ergänzungsfunktion im Rechtssystem dar? Schließlich fehlt es im Gesetzgebungsverfahren oft an der erforderlichen Kompromißfähigkeit der beteiligten politischen Parteien, die den Gang nach Karlsruhe deshalb auch aus politisch-taktischen Erwägungen heraus antreten. Angesichts dieser funktionalen, strukturellen und praktisch-politischen Schwächen des Gesetzes mag sich der verstärkte Rekurs auf die Verfassung und das Verfassungsgericht subsidiäres rechtliches Steuerungselement für die Gesellschaft tatsächlich empfehlen. ™ Vgl. Grimm (Hg.), 1990 u. Schulze-Fielitz 1990. 8» Brohm, 1988, S. 794. «ι Ebd. «2 Luhmann, 1993, S. 429 ff. «3 Vgl. Gawron/Rogowsky, 1996, S. 177 ff. 84 Grimm, 1994, S. 174 und S. 189. 85 Von Brünneck, 1990, S. 255. Zu Steuerungsproblemen und zum Steuerungsbegriff in politiktheoretischer Sicht vgl. Mayntz, 1987, S. 89 ff.
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D. Diskussion und Kritik
Fraglich ist aber, ob dieser Empfehlung im Rahmen der Verfassungstheorie gefolgt werden kann, denn: Die unübersichtliche wie unübersehbare „Verrechtlichung" 86 aller Lebens- und Gesellschaftsbereiche ist zumindest auch eine Reaktion auf eine durch immer komplexere Informationsstrukturen und Sachgesetzlichkeiten charakterisierte Gesellschaft, für die nicht ersichtlich ist, wie auf Basis der Verfassung eine bessere und d. h. nicht nur eine effektivere, sondern auch eine eher an ethisch-politischen Prinzipien orientierte rechtliche Informationsverarbeitung soll geleistet werden können als auf Basis des Gesetzes. Überdies werden die konstatierten Vollzugsdefizite im Rahmen des Gesetzesvollzuges häufig dem Vollzugsapparat zuzurechnen sein und nicht dem Gesetz und seiner defizitären Struktur. 87 Andererseits sollten die kreativen und funktionalen Möglichkeiten der Verwaltung als Institution gegenüber dem Bundesverfassungsgericht als Institution nicht unterschätzt werden: Ihre Verfahrensgestaltung schafft ein breites Informationssystem und macht so in ihrer alltäglichen Rechtsarbeit einen großen Problemhorizont zur Voraussetzung ihrer sachnahen Entscheidungen.88 Warum dann die Verfassung interpretatorisch künstlich aufladen und damit den Boden für die institutionelle Überforderung des BVerfG bereiten? Was die Angewiesenheit auch des Gesetzes auf intensive Konkretisierungsarbeit angeht, greift zunächst die oben rekonstruierte Argumentation Böckenfördes 89: Anders als bei der Konkretisierungsarbeit im Rahmen der Verfassungsinterpretation, ist der textliche Rahmen des Gesetzes sehr viel spezifischer und sachnäher gefaßt als der der Verfassung. Darüber hinaus gilt: Zwar werden im Gesetz nicht alle zu entscheidenden Fälle vorweggenommen, so daß eine bloße „Anwendung" des Gesetzes zur Lösung des Rechtsfalles führte, aber die Wahrscheinlichkeit, daß die im Gesetzgebungsprozeß vorweggenommenen Fallkonstruktionen die künftige praktische Rechtswirklichkeit adäquat typisieren und deren Gestaltung deshalb sachgerecht und zweckmäßig normativ anleiten, ist ungleich größer als bei der Formulierung von Verfassungstexten oder traditionsbildenden Verfassungsgerichtsentscheidungen, bei denen der Konkretisierungsaufwand deshalb ungleich höher ausfällt. 90 Institutionell sind es daher Parlament und Verwaltung, die trotz der Steuerungsdefizite des Gesetzes weiterhin in besonderer Weise geeignet sind, die Leitfunktion in der Steuerung des politischen Gemeinwesens zu übernehmen, und nicht ein durch expansive Verfassungsinterpretation überbewertetes und überfordertes Bundesverfassungsgericht. Überdies kann das politische System durch das Gesetz eher als durch die Verfassung auch kürzerfristige, differenzierte und begrenzte Lernprozesse textlich sym86 Vgl. den kritischen Überblick bei Deggau, 1989. 87 Brohm, 1988, S. 796. 88 A. a. O. S. 797. 89 S. o. Kapitel C.I.2.b) S. 66 f. 90 Vgl. dazu etwa den Versuch, den Gesetzgebungsprozeß als Kommunikationsprozeß aufzuklären von Baden, 1977.
IV. Perspektive systemtheoretischer Verfassungstheorie
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bolisieren bzw. seinen funktionalen Lernprozeß adäquater fortsetzen, als dies durch Rekurs auf die Verfassung möglich wäre. Neben diesen strukturellen und zweckbezogenen Argumenten sprechen auch legitimatorische Aspekte für das „Hoffen" auf den Gesetzgeber: Das Bundesverfassungsgericht ist durch seine Bindung nur an die Verfassung und eine parteipolitisch orientierte Richterwahl höchst mittelbar durch das Volk legitimiert, während der Konnex von demokratisch legitimiertem Parlament als Rechtssetzungsorgan zum Gesetz relativ eng ist.
IV. Kritik aus der Perspektive systemtheoretischer Verfassungstheorie Im Rahmen wirklichkeitswissenschaftlicher Verfassungsinterpretation wurde Verfassung vom Gesamtsinn einer funktional konzipierten gesellschaftlichen Wirklichkeit her gedeutet und Gesellschaft wird jenseits der Unterscheidung von Staat und Gesellschaft zum Paradigma systemtheoretisch argumentierender Verfassungstheorie. 91 Verfassungstheorie muß aus der Sicht systemtheoretisch ansetzender expansiver Verfassungstheorie aber darüber hinaus eingebettet werden in eine normative Theorie der Gesellschaft 92, die spezifische Mängel im Rechts- und Politiksystem nachweist und als Verfassungstheorie Lösungsansätze aufzeigt. 93 Aus dieser systemtheoretischen und zugleich normativen Perspektive wird limitierende Verfassungstheorie als zu kurz greifend kritisiert. Möglicherweise ist diese Kritik ihrerseits zu kritisieren und zwar mit Hilfe der soziologischen Systemtheorie Luhmanns als dem für die Rechtstheorie zentralen systemtheoretischen Ansatz.
1. Systemtheoretische Kritik limitierender Verfassungstheorie Verfassung wird im Gegensatz zu limitierender Verfassungstheorie aus der Perspektive systemtheoretisch argumentierender expansiver Verfassungstheorie als umfassender und die gesellschaftlichen Gegensätze überwindender Gesellschaftsvertrag aufgefaßt. 94 Für Verfassungstheorie und Verfassungspraxis bestehe die Vgl. oben die Darstellung der Merkmale expansiver Verfassungstheorie nach Böckenförde in Kapitel B.I.3.a) (Wirklichkeitswissenschaftliche Methodik) und B.III.3. (Verfassungsbegriff) und die Erläuterung der Nähe von systemtheoretischem Ansatz und expansiver Verfassungstheorie in B.I.3. Fn. 46. 92 Vgl. Ebsen, 1985, S. 215. 93 Entsprechend den Analysen zur expansiven Verfassungstheorie im ersten Teil dieser Arbeit wird auch von Ebsen R.Smends Integrationslehre herangezogen und die Verfassung als Sinnsystem begriffen. Vgl. Ebsen, 1985, S. 150. 94 Vgl. neben den in Kapitel B.I.3.a) und B.III, gegebenen Erläuterungen Ebsen, 1985, S. 68.
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D. Diskussion und Kritik
Aufgabe, normative Vorgaben der Grundrechte zu überindividuellen Steuerungszielen und -grenzen zu konkretisieren. 95 Die Flexibilität der Verfassung müsse sich dabei in der Fähigkeit der Verfassungstheorie ausdrücken, auf sozialen Wandel zu reagieren, um die relevanten gesellschaftlichen Machtprozesse nicht zu sehr dem normativen Anspruch der Verfassung zu entziehen. Für den Bereich der Grundrechte etwa heiße das, daß Bipolarität, Punktualität, Individualität und Aktualität des von limitierender Verfassungstheorie bevorzugten klassischen Schemas des Abwehrrechtes gegen den Staat überwunden werden müßten und Grundrechte zu einer Art Abwägungsposten in der umfassenden Konkordanzdemokratie werden 9 6 Dies ist der Grund, aus dem andere im Unterschied zu limitierender Verfassungstheorie für ein flächendeckendes Modell der Verfassung votieren, 97 das die Unterscheidung von Staat und Gesellschaft nicht mehr zum maßgeblichen Hintergrund ihrer Begriffsbildung macht und das die limitierende Verfassungstheorie, die an dieser Unterscheidung festhält, auch deshalb für unzureichend hält. Die normative Reichweite und der normative Anspruch der Verfassung wird dabei unabhängig von der inhaltlichen Determinierungsintensität verfassungsrechtlicher Normen hoch angesetzt.98 Ein Argument gegen ein expansives Verständnis der Verfassung wird in der mangelnden Determinierung der „offenen" Verfassungsnormen nicht gesehen.99 Unabhängig von methodischen Erwägungen wird das BVerfG rein funktional als von der Mehrheitsorientierung unabhängige, den demokratischen Prozeß und seine Defizite sinnvoll ergänzende Institution betrachtet. 100 Pluralismus- und Demokratiedefizite 101, die die limitierende Verfassungstheorie nicht ernst genug nimmt, würden dadurch und durch die inhaltliche Qualität verfassungsgerichtlicher Entscheidungen aufgearbeitet. Damit soll den durch die Verfassungsgarantien allgemein anerkannten Wertvorstellungen gegen die an partikularen Interessen orientierten Mehrheiten in den politischen Institutionen Geltung verschafft werden. 102 Die Steuerungsfunktion der Verfassungsgerichtsbarkeit erweist sich dabei in ihrer Orientierung an Zielen, die die Verfassung der Idee nach erfüllt und die den Gleichgewichtszustand des demokratischen Verfassungsstaates erhalten sollen. 103 Als Systemziele fungieren etwa die Sicherung individueller Freiheit, die Offenhaltung des politischen Machtprozesses und die Integration partikularer Interessen. 104 95 Hufen, 1990, S. 282. 96 Hufen, 1990, S. 279. 97 Vgl. Morlok, 1989, S. 107. 98 Vgl. Ebsen, 1985, S. 68. 99 Ebd. 100 A. a. O. S. 144. ιοί Ebsen, 1985, S. 200 f. 102 A. a. O. S. 145. 103 Ebsen, 1985 S. 228. 104 Ebsen, 1985. S. 321.
IV. Perspektive systemtheoretischer Verfassungstheorie
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Die Verfassung gibt danach dem politischen System diejenige Identität, die es aus sich heraus nicht haben kann. 105 Aus dieser systemtheoretisch ansetzenden Sicht der expansiven Verfassungstheorie wird limitierende Verfassungstheorie kritisiert, weil sie wesentliche Strukturänderungen des Verhältnisses von Staat und Gesellschaft und Schwächen des demokratischen Prozesses nicht ausreichend reflektiert. Die limitierende Verfassungstheorie knüpfe mit ihrem Staatsbezug der Verfassung auf einer Unterscheidung von Staat und Gesellschaft an, die die tatsächlich bestehenden Verflechtungen von Staat und Gesellschaft im Zuge des Wohlfahrtsstaates und die damit einhergehenden Freiheitsgefährdungen nicht angemessen berücksichtige. Dabei jage sie einem Mythos des Staates hinterher 106 und verliere zugleich den Anspruch der Verfassung aus den Augen, die Ausübung politischer Herrschaft umfassend zu regeln. 107 Die Verfassung sinke vielmehr zu einer Teilrechtsordnung herab, was im Ergebnis dazu führe, daß außerhalb der als staatsfrei ausgegrenzten individuellen Freiheitsbereiche technokratische Freiräume für eine lediglich am Ideal reibungslosen Funktionierens ausgerichtete Problemlösungsstrategie entstünden,108 jedenfalls aber ein weitreichender verfassungsrechtsfreier Raum. 109 Die von expansiver Verfassungstheorie gegenüber limitierender Verfassungstheorie angeführten Demokratiedefizite werden am faktisch mächtigen Wirken gesellschaftlicher Kräfte (Interessenkampf der Verbandsöffentlichkeit) aufgezeigt. Verbandsmäßig organisierte Partikularinteressen haben danach einen wesentlichen Anteil an gemeinschaftserheblichen Entscheidungen.110 Es wird auf die Gefahren des Mehrheitsprinzips aufmerksam gemacht. Sie werden in der machtorientierten Wiederwahlorientierung erblickt oder in der Macht der Mehrheit, die sich auch in der Organisation und Funktionsweise des Verwaltungsapparates niederschlage. Gesetze werden nicht gegen Mehrheitsinteressen und ihre Lobby durchgesetzt. Dies führt zur Konstatierung von Rationalitätsdefiziten in der gesetzlichen Steuerung und Verwaltung des Wohlfahrtsstaates, die letztlich auf ein Demokratiedefizit hinauslaufen. So erzeuge der Wohlfahrtsstaat in der Verbändedemokratie typischerweise Gruppenbetroffenheiten, die bei einer traditionellen Ausrichtung etwa der Grundrechtstheorie auf negativen Individualrechtsschutz nicht erfaßt würden. 111 Es bliebe danach nicht viel von dem Kern der Grundrechte, wenn sich Grundrechtspositionen aus den wichtigen gesellschaftlichen Entscheidungsprozessen zurückziehen und damit reale Grundrechtsverwirkli105 Hufen, 1975, S. 236. 106 Adam, 1994, S. 405. 107 Grimm, 1994, S. 153. Vgl. auch die systemtheoretisch orientierte Kritik an staatszentriertem Denken von Willke, 1987. Differenzierter Schuppert, 1989. io» Ebd. 109 Vgl. Morlok, 1989, S. 106. no Vgl. Ebsen, 1985, S. 197. m Ebd. und S. 191. 10 Manterfeld
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D. Diskussion und Kritik
chung preisgeben. Diesen funktionalen Mängeln des Demokratieargumentes könne nur durch eine Bedeutungsausweitung der Verfassung beigekommen werden, die auch Rechte von Minderheiten verstärkt. Nur dies werde auch der positiven Funktion der Verfassungsgerichtsbarkeit wie deren Stellung im Staatsgefüge gerecht. 112
2. Kritik der Kritik systemtheoretisch argumentierender expansiver Verfassungstheorie Auch diese demokratiekritischen und systemtheoretischen Argumente vermögen jedoch den Grundansatz limitierender Verfassungstheorie nicht überzeugend zu widerlegen. Dies gilt zunächst vom Staatsbezug der limitierenden Verfassungstheorie Böckenfördes. Begrifflich wie historisch ist die Verfassung auf die Begründung von Nationalstaatlichkeit als Ausdruck der Souveränität eines sich von anderen abgrenzenden Volkes gerichtet. Dies begrenzt den Verfassungsbedarf politischer Systeme spezifisch und kann an der Entkoppelung von politischem System und Nationalstaatlichkeit im Rahmen der Entwicklung der Europäischen Union belegt werden. 113 Gerade weil die Grundordnung der Europäischen Union nicht auf dem Konzept des Nationalstaates und dessen körperschaftlicher Rechtsmacht beruht, sondern dieses Konzept in theoretischer und praktisch sehr wirksamer Weise relativiert (ohne es freilich aufzuheben), wird die europäische Grundordnung sinnvollerweise nicht als Unionsverfassung bezeichnet, sondern - eher pragmatisch - als Grundstatut. 114 Jedenfalls aber führt die Relativierung des Staates zur Relativierung der Verfassung und nicht über einen ausgeweiteten Gesellschaftsbezug der Verfassung, wie die expansive Verfassungstheorie ihn konstruiert, zu steigendem Verfassungsbedarf. Darüber hinaus geht trotz der Relativierung von Staatskonzepten in der Politiktheorie auch die neuere sozial- und politikwissenschaftliche Staatsaufgabendiskussion nicht vom Absterben des Staates aus. 115 Die Arbeit am Staat und die Arbeit des Staates wird als kreativer Prozeß begriffen. 116 Die sozialwissenschaftliche Relativierung des Staates hin auf Einordnung in ein politisches System besagt lediglich, daß sich Politik, wie wir gerade anhand der Entwicklung zur europäischen Union erkennen, heute nicht mehr aus der Staatsperspektive hinreichend beschreiben läßt. Ohne die Argumentationsfigur „Staat" auszukommen, vermag der PoliΠ2 Von Brünneck, 1992, S. 133. 113 Vgl. dazu Koenig, 1996, S. 551. Zum Verhältnis Europa, Demokratie und Verfassung vgl. Böckenförde, 1997, S. 36 ff. Zu den Verfassungsgrundlagen einer europäischen Rechtsordnung vgl. jetzt Rodriguez-Iglesias, 1999, S. 1. Π4 Vgl. Koenig, ebd. Π5 Vgl. etwa Grimm, 1994, S. 9 ff. Vgl. zur auf Lorenz von Stein zurückgehenden Vorstellung eines „arbeitenden Staates" etwa die politiktheoretische Untersuchung von Hesse, J. J., 1987, S. 75 ff.
IV. Perspektive systemtheoretischer Verfassungstheorie
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tikdiskurs bislang nicht. Die dabei vorausgesetzte Unterscheidung von Recht und Politik bleibt relevant und hat Vorteile, die sich gerade aus systemtheoretischer Perspektive mit den Stichworten Stabilisierung, Konfliktvermeidung und Zivilisierung des politischen Diskurses beschreiben lassen.117 Es ist deshalb auch weiterhin sinnvoll und ausreichend, im Rahmen der Verfassungstheorie am spezifischen Staatsbezug der Verfassung festzuhalten. Was den von expansiver Verfassungstheorie ins Feld geführten Minderheitenschutz durch Verfassung anbelangt, fragt sich, inwieweit und auf welcher Basis gerade das Verfassungsgericht dazu berufen ist, durch Verfassungskonkretisierung und teleologisch orientierte Methodik über das Maß gesetzten Rechtes hinaus, Minderheiten Rechte zu gewähren. Steckt dahinter nicht eher ein elitärer Läuterungsanspruch 118 und ein gerade in Deutschland problematisches Mißtrauen gegen Demokratieprozesse, als ein rational an der Verfassung aufzuweisender Inhalt? Überdies fällt nicht nur bezüglich des Minderheitendiskurses die Inbezugnahme eines normativen Kerns expansiver Verfassungstheorie auf, der fraglich erscheinen läßt, ob sie selbst mit konsequent systemtheoretischer Argumentation zu vereinbaren ist. So geht es im Rahmen expansiver Verfassungstheorie, trotz der Öffnung für systemtheoretische und funktionale Argumentation, um die Beschreibung eines dem Konfliktbereich pluralistischer Gesellschaft entzogenen Konsensbereiches119, der als Verfassungsinhalt postuliert bzw. konstruiert wird. Die Normativität der Verfassung ist durch den Bezug auf die o.g. Systemziele aus Elementen zu gewinnen, „die im Prinzip - d. h. abgesehen von Randproblemen - von materiellem Verfassungskonsens getragen sind." 1 2 0 Verfassungsgerichtsbarkeit hat also aus Sicht expansiver systemtheoretischer Sicht die Aufgabe, diesen Verfassungskonsens auch im Konfliktbereich der Gesellschaft durchzusetzen. 121 Fraenkels pluralismustheoretisch begründete Grundprinzipien werden als nicht kontroverser Sektor der Gesellschaft für die Verfassungstheorie fruchtbar gemacht 122 . Demokratie erscheint nur funktionsfähig, wenn auch ihre jm Rahmen expansiver Verfassungstheorie entwickelten Grundprinzipien als nicht kontroverser Sektor der Auseinandersetzung entzogen sind. 123 Diese Grundannahmen expansiver Verfassungstheorie sind fragwürdig. Dies wird nicht zuletzt daran deutlich, daß, um auch im Rahmen systemtheoretischer Analyse weiter an normativen Zielen festhalten zu können, expansive Verfassungstheorie im Gegenzug eine Kritik von systemtheoretischen Ansätzen vornehmen H7 Luhmann, 1989, S. 358 ff. und ders. 1984, S. 317 ff. us So auch Haltern, 1996, S. 577 f. 119 Vgl. Ebsen, 1985, S. 321. Hier bezieht Ebsen sich ausdrücklich auf die Pluralismustheorie Fraenkels. Vgl. Fraenkel, 1974, insbesondere, S. 64 ff. und S. 197 ff. 120 Ebsen, 1985, S. 322. 121 Ebsen, 1985, S. 322. 122 A.a.O.S. 134. 123 von Brünneck, 1992, S. 134. 10*
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D. Diskussion und Kritik
muß, die zwischen normativen Perspektiven und funktionaler Methode streng unterscheiden wollen. 124 Luhmanns Systemtheorie etwa 125 wird im Zuge dieser Kritik in die Nähe eines „oberflächlichen Funktionalismus" gerückt. 126 Im Banne ihrer normativ-werthaften Intentionen nimmt expansive Verfassungstheorie also eine Idealisierung von Systemtheorie vor, die die Weite ihres analytischen Horizontes nutzen will, um ihre umfassenden materialen Ziele neu zu formulieren, ohne zu realisieren, daß der umfassende systemtheoretische Analyserahmen gerade voraussetzt, daß materiale Zweck- und Zielvorgaben als stets partikular identifizierbare Positionen in diesem Rahmen weitgehend aufgegeben werden. 127 Expansive Verfassungstheorie bedient sich also, um die Flexibilität und Kompatibilität der Verfassung mit aktuellen Wandlungs- und Wertungsprozessen darzustellen, zu Unrecht eines systemtheoretischen Analyserahmens. Darüber hinaus ist sogar zu vermuten, daß die Offenheit für systemtheoretische und soziologische Reflexion gesellschaftlicher Wirklichkeit in der Verfassungstheorie nicht ein Privileg der expansiven Verfassungstheorie ist und sich umgekehrt auch limitierende Verfassungstheorie und die Betonung der Grenzen der Verfassung mit systemtheoretischer Reflexion belegen lassen. Diese Vermutung bestätigt sich, wenn wir uns kurz auf Luhmanns Darstellung der Verfassung als evolutionärer Errungenschaft einlassen.128
3. Systemtheorie als limitierende Verfassungstheorie am Beispiel N. Luhmanns Für Luhmann ist das strukturell Neue in der Entwicklung des Verfassungsbegriffes seit dem Ende des 18. Jahrhunderts, das in seiner Bedeutung über die es begün124
Gemeint ist insbesondere Luhmann. Vgl. Hufen, 1975, S. 213-216. Vgl. zu ihr schon oben B.I.3.a) Fn. 46. Hufen, a. a. O. S. 196. »2? Vgl. etwa Luhmann, 1973, S. 18 ff. oder ders., 1993, S. 231. Der Kontrolle der Wertabwägung durch das BVerfG wird am zuletzt genannten Ort von Luhmann ihr objektiver Nimbus genommen, in dessen Schein das Gericht die eigene Bindung an „Normzwecke" suggeriert, dadurch jedoch sein bloßes Gutdünken und die jeweils eigenen Wichtigkeitsurteilen kaschiert und unweigerlich politisch wird. Die Kritik von Luhmanns Theorie sozialer Systeme im Blick auf das Erfordernis normativer Steuerung durch Werner, 1992, S. 201 ff. und Krawietz, 1992, S. 249 f. richtet sich im wesentlichen gegen die genuin soziologische und insofern fachperspektivisch verzerrte Universalität der von Luhmann entwickelten Systemtheorie und verhält sich daher zu der Vereinnahmung der Systemtheorie für Intentionen expansiver Verfassungstheorie neutral. Sehr früh sah die Problematik der unzureichenden Typisierung juristischer Arbeit im Rahmen von Luhmanns soziologischer Systemtheorie bereits Brohm, vgl. Brohm, 1972, S. 249 und ebd. Fn. 16. 125
12
* Vgl. Luhmann, 1990, S. 176 ff. Vgl. zunächst die Erläuterungen zu Luhmann und expansiver Verfassungstheorie oben Fn. 56. Zur allgemeinen Einführung in die rechtssoziologische Perspektive Luhmanns, Smid, 1986, S. 513 ff.
IV. Perspektive systemtheoretischer Verfassungstheorie
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stigenden historischen Anlässe hinausging, „die Vorstellung, daß es ein Gesetz gebe, das als Maß für die Rechtmäßigkeit bzw. Rechtswidrigkeit aller anderen Gesetze und sonstiger Rechtsakte diene." 129 Mit der Verfassung im modernen Sinne ist also jedes Gesetz potentiell rechtswidrig, überprüfbar und insofern kontingent. 130 Nicht etwa nur, weil der Gesetzgeber Gesetze machen und auch wieder abändern könne, sondern weil das Gesetz, gemessen an der Verfassung, nun erstmals per se auch Unrecht sein könne, mit Ausnahme der Verfassung selbst. 131 Diese wiederum gehe als einmal gesetztes Recht, obwohl dazu bestimmt, altes Recht zu werden, dem jeweils neuen Recht in Bedeutung und Geltung vor. 1 3 2 Zur Beantwortung der Frage danach, wie diese Ausnahmeposition der Verfassung verdient sein könne, untersucht Luhmann den Verfassungsbedarf des Rechtsund Politiksystems133. Ganz im Sinne limitierender Verfassungstheorie wird dieser Verfassungsbedarf für das Rechts- wie Politiksystem als begrenzt eingestuft. Daran kann man sehen, wie sich Ergebnisse limitierender Verfassungstheorie gerade von der soziologischen Systemtheorie her nahelegen. Der Verfassungsbedarf des Rechtssystems muß zunächst vor dem Hintergrund der Positivierung des Rechts gesehen werden. Soll Recht in diesem Sinne nur noch autonom durch Recht und nicht mehr durch Natur oder einen politischen Willen erzeugt vorgestellt werden, ohne daß die Idee der Unveränderbarkeit und der Höchstwertigkeit im Rechtssystem als solche obsolet wird, müsse diese Idee als Gehalt des Rechtssystems selbst konstruiert werden. Die Verfassung ist dann lediglich die (Text-)Form, in der genau dies geschieht, indem Kollisionsregeln den Vorrang des Verfassungsrechtes vor dem anderen Recht regeln. Mit der Verfassung reagiert das Rechtssystem so auf seine eigene Autonomie. 134 Darüber hinausreichende inhaltliche Zielvorstellungen, wie sie sich in den einzelnen der jeweiligen Verfassungsartikel gegenständlich fassen lassen, sind demgegenüber historischkontingent. Für den Verfassungsbedarf des politischen Systems gilt ähnliches wie für den Bedarf des Rechtssystems. Nur wurde es hier erforderlich, die Einheit des Systems als Entscheidungsproblem einer ungebundenen, souveränen Machteinheit zu formulieren, die gerade wegen ihrer Souveränität nur - notwendig paradox - als Selbstbindung gedacht werden konnte. 135 Im Sinne dieses „Souveränitätsparadoxes" konnte politische Gewalt, auch und gerade nachdem sie als Ausfluß von 129 Ders., a. a. O. S. 182. Kursiv bei Luhmann. 130 A. a. O. S. 183. 131 Ebd. 132 A.a.O.S. 183. 133 A.a.O.S. 184. 134 A. a. O. S. 187. 135 Vgl. Luhmann, 1990, S. 196.
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D. Diskussion und Kritik
Volkssouveränität auftrat, sowohl rechtmäßig als auch rechtswidrig ausgeübt werden. Genau diese Ambivalenz wird nun in der Verfassung zugunsten des Rechtes und in die Rechtsform hinein aufgehoben 136, der insofern eine Schutzfunktion zukommt. Neu im Verfassungsbegriff ist also, daß das Souveränitätsparadox nicht mehr auf Kosten des Rechts, sondern mit Hilfe des Rechts gelöst wird. 1 3 7 Zusammengefaßt ergibt sich als systemtheoretische Formulierung der Verfassungsfunktion eine eher nüchterne Feststellung: „Die Neuheit des Verfassungskonzepts des 18. Jahrhundert liegt darin, daß die Verfassung eine rechtliche Lösung des Selbstreferenzproblems des politischen Systems und zugleich eine politische Lösung des Selbstreferenzproblems des Rechtssystems ermöglicht." 138 Deshalb besteht die Funktion der Verfassung gerade nicht in der Realisation bestimmter Wertbeziehungen, wie sie expansive Verfassungstheorie ins Feld führt. Solcherlei Wertbeziehungen können auch nicht qua Interpretation aus den Texten herausgezogen werden. 139 Auch auf dieser Basis stellt Luhmann allerdings die Frage, „ob gewisse inhaltliche Prämissen des im weitesten Sinne liberalen Konstitutionalismus obsolet werden könnten." 140 Dazu zähle insbesondere die (auch von expansiver gegenüber limitierender Verfassungstheorie in Frage gestellte) Voraussetzung, daß es einen weiten Bereich von Handlungsmöglichkeiten gebe, in dem der Handelnde seine eigenen Interessen verfolgen könne, ohne jemandem anders zu schaden.141 Soziologische und ökonomische Analysen zeigten einhellig, wie problematisch solche Annahmen gerade angesichts der ökologischen Bedrohung seien. Luhmanns Anschlußüberlegung zeigt aber, wie wenig selbstverständlich es ist, nun auf Basis dieser Erkenntnisse eine ausgeweitete Funktion der Verfassung im Sinne expansiver Verfassungstheorie anzunehmen. Die Fragwürdigkeit der Prämissen des liberalen Konstitutionalismus führen Luhmann lediglich dazu festzustellen, daß man nicht deshalb schon auf Verfassungen verzichten könne 142 , Politik und Recht allerdings „Entscheidungsprobleme zu lösen haben, die nicht mehr auf das Souveränitätsparadox alten Stils zurückgerechnet werden können." 143 Gerade damit aber entfallt bezüglich dieser neuartigen Entscheidungsprobleme eine wesentliche Voraussetzung der Inanspruchnahme der Verfassung überhaupt. Die desungeachtet geübte ausgiebige Inbezugnahme der Verfassung ist vielmehr auch für Luhmann geeignet, darüber hinwegzutäuschen, „wie weit wir auf einem Wege schon fortgeschritten sind, der diese Grundlagen längst verlassen hat." 1 4 4 136 A. a. O. S. 198. 137 Ebd. 138 A. a. O. S. 202. 139 A. a. O. S. 213. 140 A. a. O. S. 215. 141 Ebd. 142 Ebd. 143 Ebd. 144 Ebd.
Fazit D: Möglichkeiten limitierender Verfassungstheorie
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Die Bezugnahme auf Ergebnisse systemtheoretischer Forschung für Begriff und Funktion der Verfassung legt es also nahe, den Integrationsanspruch von Verfassung und Verfassungsgerichtsbarkeit für die Gesellschaft geringer anzusetzen als dies im Rahmen expansiver Verfassungstheorie mit Hilfe systemtheoretischer Argumentation für notwendig erachtet wird. Mit anderen Worten: Auch systemtheoretische Forschung legt eine limitierende Verfassungstheorie nahe.
Fazit D: Möglichkeiten limitierender Verfassungstheorie Die Möglichkeiten limitierender Verfassungstheorie enden nicht notwendig dort, wo in methodischer Hinsicht Konkretisierungskonzepte den Ausgangspunkt der Verfassungstheorie bilden. Böckenfördes Kritik von Verfassungskonkretisierung als methodischem Element expansiver Verfassungstheorie mußte insoweit relativiert werden. Dies ergab die Analyse der limitierenden Verfassungstheorie F. Müllers. Die Methodik der Konkretisierung führt also nicht notwendig zu expansiver Verfassungstheorie und sie ist deshalb kein Argument für sie. In grundrechtstheoretischer Hinsicht wurde einerseits deutlich gemacht, daß die normtheoretische und philosophische Prinzipialisierung der Grundrechte im Rahmen expansiver Verfassungstheorie sich nicht unbedingt als Ergänzung der angeblichen Eindimensionalität liberalstaatlicher Grundrechtsinterpretation darstellt. Andererseits wurde die Demokratiefreundlichkeit limitierender Verfassungstheorie dem expansiven Grundrechtsverständnis gegenübergestellt und dafür gerade auch eine moralphilosophische Argumentation herangezogen. Die Demokratiefreundlichkeit limitierender Verfassungstheorie Böckenfördes hat einen wesentlichen Bezugspunkt in der zentralen Stellung des Gesetzes im Rechts- und Politiksystem. Die Steuerungsdefizite des Gesetzes sind angesichts autonomer gesellschaftlicher und verwaltungsorganisatorischer Teilsysteme zwar unübersehbar, aber das Gesetz steht gegenüber der expansiven Verfassungsinterpretation nach den Gemeinwohlkriterien von Rechtssicherheit, Zweckmäßigkeit und formaler Legitimitation nach wie vor genauso im Zentrum rechtlicher Gemeinwohlrealisierung wie die Verwaltungsarbeit. Systemtheoretisch argumentierende expansive Verfassungstheorie versucht unabhängig von methodischen Fragestellungen, Verfassungstheorie in eine normative Theorie der Gesellschaft einzubetten, die der Verfassung und der Verfassungsgerichtsbarkeit eine unentbehrliche Ergänzungsfunktion im von ständigem sozialem Wandel und gesellschaftlichen Machtprozessen geprägten Rechts- und Politiksystem zuschreibt. Aus dieser Sicht entzieht limitierende Verfassungstheorie mit ihrer Aufrechterhaltung der Unterscheidung von Staat und Gesellschaft die gesellschaftlichen Wandlungsprozesse zu sehr dem umfassenden normativen Anspruch der Verfassung, was sich insbesondere am fehlenden Minderheitenschutzkonzept limitierender Verfassungstheorie erweist.
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D. Diskussion und Kritik
Diese Kritik an limitierender Verfassungstheorie konnte aus mehreren Gründen nicht verfangen. Was den Minderheitenschutz durch Verfassung anbelangt, fragte sich, in welchem Maße und auf welcher Basis gerade das Verfassungsgericht dazu berufen ist, diesen Schutz zu gewähren. Die kritisierte Aufrechterhaltung der Unterscheidung von Staat und Gesellschaft und der Staatsbezug limitierender Verfassungstheorie erweisen sich auch angesichts neuerer Politiktheorie weiterhin als sinnvoll. Auch die Relativierung des Staates im Zuge der Entwicklung der europäischen Union spricht nicht gegen den Staatsbezug der Verfassung. Mit dem Schwinden der Bedeutung von Nationalstaaten wird nicht der Staatsbezug der Verfassung relativiert, sondern die Bedeutung von Verfassungen überhaupt. Ferner nimmt die systemtheoretisch argumentierende expansive Verfassungstheorie im Banne ihrer normativ-werthaften Intentionen eine Idealisierung von Systemtheorie vor.. Im Rahmen dieser Idealisierung instrumentalisiert expansive Verfassungstheorie die Weite des analytischen Horizontes der Systemtheorie zu Unrecht für ihre umfassenden materialen Ziele einerseits und für den Nachweis der Flexibilität und Kompatibilität der Verfassung mit aktuellen gesellschaftlichen Wandlungsprozessen andererseits. Dies bestätigt sich durch den Rekurs auf Luhmanns Darstellung der Verfassung als evolutionärer Errungenschaft, nach der systemtheoretische Argumentation zu einem limitierenden Modell der Verfassung führt.
E. Abschließende Thesen 1. Diese Arbeit hat das Thema der Grenzen der Verfassung verfassungstheoretisch analysiert. Verfassungstheorie muß als Theorie positiv geltenden Rechtes der Bundesrepublik Deutschland eine Verschränkung methodischer, begrifflicher und sozialphilosophischer Perspektiven auf das GG avisieren und anhand von Einzelinterpretationen ihre Plausibilität belegen. Anknüpfungspunkt für die Erreichung dieses Zieles war hier das verfassungsrechtliche Werk E.-W. Böckenfördes, das unter dem systematischen Aspekt der Grenzen der Verfassung rekonstruiert wurde. 2. Im verfassungsrechtlichen Werk Böckenfördes läßt sich idealtypisch ein Gegensatz von limitierender und expansiver Verfassungstheorie rekonstruieren, der über den engeren Werkbezug hinaus systematische Bedeutung hat. Expansive Verfassungstheorie überschreitet die Grenzen der Verfassung, die limitierende Verfassungstheorie aufrechterhalten will, gerade um die Normativität der Verfassung in ihrer - begrenzten - Gestalt zu stärken. 3. Die expansive Verfassungstheorie ist dadurch gekennzeichnet, daß sie in methodischer, begrifflicher und sozialphilosophischer Hinsicht eine Bedeutungsausweitung der Verfassung begründet, die durch die Verfassung selbst, ihre Text- und Normstruktur sowie ihren Rahmencharakter nicht mehr gedeckt ist. Komplexe gesellschaftspolitische Gestaltungsaufgaben geraten in das Blickfeld der Verfassungsinterpretation. Dies bestätigt sich in einer expansiven Verfassungsrechtsprechung, wie sie insbesondere bei den als Grundsatznormen aufgefaßten Grundrechten, aber, wie die Rekonstruktion von Einzelinterpretationen Böckenfördes aufwies, auch unabhängig von dieser Grundrechtsdebatte zum Tragen kommt. Das überschießende Moment expansiver Verfassungstheorie hat seinen positiven Grund in sehr hohen Integrationserwartungen an die Verfassung und das BVerfG und in einer damit verbundenen starken materialen Legitimitäts- und Konsensorientierung, die in die Verfassung hineingelesen wird. Über die Beziehung Staat-Bürger hinaus, sollen auch innergesellschaftliche Machtbeziehungen verfassungsgerichtlich kontrolliert werden. „Gesellschaft" einerseits und materiale Legitimitätssuche des Gemeinwesens und nicht mehr „Staat" und demokratische Legitimierung seiner Regelungen wird zum Paradigma der Verfassungstheorie. Minderheitenschutz auch über das in diesem Punkt für unzureichend erachtete Demokratieprinzip und die Einzelgrundrechte hinaus soll mit Hilfe einer expansiv gedeuteten Verfassung gewährleistet werden. Die Steuerungsschwäche des Gesetzgebungsprozesses und des Gesetzes müssen im Rahmen expansiver Verfassungstheorie des GG im Rechtssystem verfassungsrechtlich und verfassungsgerichtlich ausgeglichen werden. Die ebenfalls für unzureichend erachtete liberale Grundrechtsinterpretation
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E. Abschließende Thesen
muß danach ergänzt werden, weil ihre sozialphilosophischen Grundannahmen nicht mehr auf die heutige Gesellschaftsformation passen. Zu guter Letzt ist die Verfassung in expansiver Deutung Surrogat eines in Deutschland problematischen Nationalbewußtseins. Die schmale Textbasis der Verfassung und die Schwierigkeit, auf ihrer Grundlage nach einem positivistischen Grundmodell zu subsumieren, wird dabei zum Argument für eine expansive Verfassungsinterpretation, die das Schweigen der Verfassung nicht angemessen reflektiert. 4. Die limitierende Verfassungstheorie Böckenfördes nimmt dagegen den Rahmencharakter der Verfassung ernst, ohne andererseits die in ihr enthaltenen relativ spezifischen Anordnungen zu übersehen. Gerade die Herausarbeitung und Beibehaltung der damit angesprochenen normstrukturellen Differenzen innerhalb der Verfassung kennzeichnet den interpretativen Positivismus Böckenfördes als wesentlichen Bestandteil seiner limitierenden Verfassungstheorie im Gegenüber zu expansiver Verfassungstheorie. In begrifflicher Hinsicht hält die limitierende Verfassungstheorie Böckenfördes an dem spezifischen Staatsbezug der Verfassung als ihrer historischen, organisatorischen und systematischen Voraussetzung und ihrer auch dadurch zum Ausdruck gebrachten begrenzten Geltung fest. Dies geschieht auch angesichts der Relativierung von Staatlichkeit nach dem Muster des Nationalstaates im Zuge der Entwicklung der Europäischen Union zu Recht. Mit dem Schwinden der Bedeutung von Nationalstaaten wird nicht der Staatsbezug der Verfassung relativiert, sondern die Bedeutung von Verfassungen überhaupt. Die Verfassung lebt von Voraussetzungen, die sie nicht selbst garantieren kann. Vielmehr erscheint sie als Form der Freiheit, die deren konfliktträchtige Realisierung als komplexe Aufgabe sozialer Gestaltung begreift und von Verfassungstextinterpretation kategorial unterscheidet. Damit geraten die innerhalb des differenzierten Rechtssystems vielfältigen Akteure der Gemeinwohlrealisierung in den Blick der Verfassungstheorie: Gesetzgebung in demokratischer Verantwortlichkeit, kreative und sachnah entscheidende Verwaltung sowie die einfache Gerichtsbarkeit und das einfache Gesetzesrecht konkretisieren das Gemeinwohl in relativer organisatorischer und normstruktureller Eigenständigkeit von Verfassung und Verfassungsgerichtsbarkeit. Auf dieser von der Verfassung unterschiedenen Ebene der Rechtsordnung findet auch eine eigene materiale Legitimitätssuche des Gemeinwesens statt, deren induktiver und relativer Charakter sie vom deduktiv absoluten Charakter expansiv gedeuteter Verfassung unterscheidet. Auch darin zeigen sich die Grenzen der Verfassung und machen eine expansiv gedeutete Verfassung überflüssig, ja im Blick auf die Realisierung von Gemeinwohl sogar schädlich. Expansive Verfassungstheorie verfehlt insofern den spezifisch begrenzten Ort der Verfassung im Rechtssystem. 5. Die Analyse der Einzelinterpretationen Böckenfördes bestätigt diese methodischen und theoretischen Aussagen limitierender Verfassungstheorie. Dies gilt insbesondere von Böckenfördes Ablehnung der Auffassung von Grundrechten als Elementen einer Wertordnung oder als Prinzipiennormen, aber auch hinsichtlich des für die Gestaltung sozialer Verhältnisse zentralen Art. 14 GG. Gerade dessen
E. Abschließende Thesen
limitierende Interpretation durch Böckenförde eröffnet die von expansiver Verfassungsinterpretation verdeckte konfliktträchtige Sozialdimension dieses Artikels des GG. Böckenfördes limitierende Verfassungstheorie ist damit insgesamt als realistische und konsistente Verfassungstheorie des Grundgesetzes rekonstruiert worden. 6. Mit einer methodisch orientierten Konkretisierungskonzeption von Recht ist expansive Verfassungstheorie nicht notwendig verbunden. Dies zeigt die Konfrontation von Böckenfördes Methodenkritik mit dem Konkretisierungskonzept F. Müllers, dessen Struktur und Einbettung in den Rahmen einer limitierenden Verfassungstheorie nachweisbar ist. Die Kritik Böckenfördes an der expansiven Funktion der Methodik der Konkretisierung muß insofern relativiert werden. 7. Aus den Steuerungsproblemen des Gesetzesrechtes erwächst kein Argument für expansive Verfassungstheorie. Das Gesetz, seine Interpretation und sein Vollzug stehen nach wie vor im Zentrum der Gemeinwohlrealisierung. Dies gilt in kompetenzieller und organisatorischer wie in normstruktureller und legitimatorischer Hinsicht. 8. Expansive Grundrechtstheorie vernachlässigt das Moment der demokratischen Verantwortlichkeit für die Gemeinwohlrealisierung, indem zu starke normtheoretische und philosophische Begründungslasten in den Rechtsdiskurs übernommen werden. 9. Soziologische Systemtheorie hat von sich aus, obwohl hauptsächlich von expansiver Verfassungstheorie in Anspruch genommen, mit ihrem differenzierten Analysehorizont eine stärkere Nähe zu limitierender Verfassungstheorie als zu expansiver Verfassungstheorie. Limitierende Verfassungstheorie erweist sich auch in dieser Hinsicht der expansiven Verfassungstheorie gegenüber als realistischer. 10. Die Grenzen der Verfassung verweisen auf die Möglichkeiten limitierender Verfassungstheorie des GG. Deren Rekonstruktion zeigt, daß, betrachtet man das Rechts- und Politiksystem insgesamt, weniger Verfassung mehr ist.
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Sach- und Personenregister Abgeordnete 121 Abwägung 87, 98, 134, 141, 144 Abwehrrechte 31, 48, 62, 64, 83 - Abwehrmöglichkeit 51 Alexy, R., 38 Fn. 114 Ämter 90 Angemessenheit 37 Ausgrenzung 30 Auslegung 24, 130 s.a. Interpretation - genetische 69 Fn. 154, 130 - historische 69, 130 - Savigny 61 - systematische 69, 130 Auslegungsmethode 39 Außenseiter 94 Fn. 282 Autonomie 51 f., 59, 86
Deutschland 40, 56,147 Dezision 45 Fn. 3 Dezisionismus 74 Differenzierung der Gesellschaft 14,56, 141 - Differenzierungsprozesse 49, 53 - im Gesetzgebungsprozeß 115 - innere Differenzierung der Verfassung 94 Diskurs 116 - Diskursgehalte 115 - Diskurstheorie des Rechts 111 Fn. 370 - Herrschaftsfreiheit 116 - praktischer Diskurs 136 Dissidenten 94 Fn. 282 Dogmatik 125 Dworkin, R., 38 Fn. 114
Begriffskern 68 Bekenntnis als Verfassungsstil 114 Bekenntnisfreiheit 47, 88, 92 Berichterstattung 95 Berufsfreiheit 66 Bildungssystem 47 Bindung der Verfassungsinterpretation 64, 80 - an Prinzipien 90 Bund 78 Bundesverfassungsgericht 13 ff., 84 - Gerichtsförmigkeit 103 - Leistungsfähigkeit 13 - Überforderung 142
Eigengesetzlichkeit 134 Eigentum 53 - Eigentumsfreiheit 98 ff. - Sozialpflichtigkeit 98 Einheit der Verfassung 81 Einheitsbegründung 55 siehe auch Integration Einheitswert 100 Elfes-Urteil 108 Elitestrukturen 121 - Bildungselite 55 Eltern 85 Fn. 241, 87 - Elternrecht 89 Fn. 255 Entscheidungsnorm 131 Entstehungsgeschichte 79, 95 Ersatzdienst 79 Erwerbsfreiheit 112 ethisch 45, 50 ff., 58,65, 74 ff., 139 f. - ethischer Appell 98 - ethisch-moralisch 51 - ethisch-normative Orientierung 124 Europa 67 - kontinental-europäisches Recht 67
Christentum 88 ff. - als Bildungsfaktor 88 Demokratie 28, 115 ff. - als Regierungsform des Staates 116 f. - demokratische Verantwortlichkeit 120 - Konkordanzdemokratie 144 - mittelbare 120
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Sach- und Personenregister
Europäische Union 146 ff. Experten 119 Flexibilität - des Rechtssystems 107 - der Verfassung 144 formales Rechtsverständnis 51 Forsthoff, E., 61; 111 Fn. 368 Fraenkel, V., 147 Freiheit 30 f., 36,51,80 - Form der 53 - Friedenszustand 80 - individuelle 83 - und Abgrenzung 54 - und Konflikt 113, 141 Freiheitsgedanke 70 Geist 58,71 ff. - eines Volkes 58 - und Geschichte 60,70 Gemeinschaft vs. Gesellschaft 135 Gemeinwesen 35, 142 Geltung 82 - als soziale Tatsache 130 Geltungsanspruch 30 Gemeinwohl 108, 121, 138, 140,154 Gerechtigkeit 30, 37,42, 57, 123, 135, 138 - Experten 35 Gerichtsbarkeit 140 Gerichtsförmigkeit des BVerfG 103 Gerichtsverfahren 13 Geschichtlichkeit der Verfassung 69 - geschichtliche Grunderfahrung 71 - geschichtlicher Wandel 71 Gesellschaftsvertrag 143 Gesetz 27,45, 50 f., 68, 108 - Gesetzesbindung 69, 141 - Gesetzesrecht 57 - Gesetzestext 68 - Gesetzeszweck 42 - Gesetzgeber 13, 26,42,50,96, 140 - Gesetzgebung 37, 76, 115 - Gestaltungsfunktion des Gesetzes 68 - Informiertheit des Gesetzes - Maßnahmegesetze 114 - und Gemeinwohl 108 - und komplexe Verhältnisse 41 - und Verfassung 45 Fn. 3
Gesinnung 51 Gestaltung 41 - Gestaltungsaufgaben 126 - Gestaltungsspielraum 99 Gewalt 48 - besonderes Gewaltverhältnis 108 - Gewaltenteilung 14, 37 ff. - Gewaltverhältnisse 57 - öffentliche 92 Gewissensfreiheit 92 Gleichheit 30 - demokratische 117 - Gleichheitssatz 100,102 Grenzen 13 ff., 47 - Grenzbegriff des Verfassungsrechts 57 - judicial selfrestraint 13 Fn. 2 - Verfassung 14 - Verfassungsgericht 13 Grundentscheidung 30, 33, 70,71, 78,79 Fn. 209; 81 f. Grunderfahrung, politische 73 Grundgesetz - Kompetenzverteilungsordnung 76 ff. - Kompetenzvorschriften 135 - Offenheit 96 - Organisationsteil 76 ff. Grundordnung 35 - europäische 146 Grundrechte 31 f., 33, 48, 83 ff., 89, 94 ff., 134 ff. - als Abwehrrechte 31,48, 94,96, 136 - als Werte 134 - Drittwirkung 89 Fn. 259 - Grundrechtstheorie 82 - Grundsatzwirkung 32 - immanente Schranken 94, 109 - Konfliktvermeidung 147 - Konsensbedarf 118 - Konsensfunktion der Verfassung 22 Fn. 13 - objektiv-rechtliche Dimension 33 f. - Programmcharakter 83 Fn. 227 - und Grundpflichten 85 - und Optimierung 136 - und Schutzdimension 97 Habermas, J., 40 Fn. 128, 111 Fn. 370, 139 Fn. 69 Halbteilungsgrundsatz 101
Sach- und Personenregister Handlungsfreiheit 108 Hart, H.L., 38 Fn. 114 Heller, H., 51 Hermeneutik 69 ff. - klassische 78 - klassische Inhaltsbestimmung 92 Homogenität 54, 56, 118
Konstitutionalismus, liberaler 150 Kriegsdientsverweigerung 74,78 ff. Krüger, H., 47 Fn. 15,61 Fn. 104; 67 Fn. 143 Kruzifixe 89 ff. Kruzifix-Urteil 87 Fn. 249; 91 Fn. 265 Kultur 117 kulturspezifisch 119
Identitätsfrage 41 Innerlichkeit 92 Integration 52, 54, 116, 119, 144 - Integrationsanspruch 151 - Integrationsarbeit 50 - Integrationsfunktion 90 - Integrationsfunktion des BVerfG 14 Fn. 5 - Integrationslehre Smends 90, 143 Fn. 93 - Integrationsleistung des BVerfG 45 - Integrationsprozeß 15 - Schein der Integration 120 Fn. 409 - und Repräsentation des Staates 90 Interpretation 13, 20 ff. s.a. Auslegung - Flexibilität der Grundrechtsinterpretation 107 - genetische 95 - Interpretationsmonopol 52 - klassische 92 - systematische 95 - und Funktion 13 - und Integration 54 - Verfassungsinterpretation 13
Länder 78 - Länderfinanzausgleich 101 Läuterungsanspruch 147 Lebensform 32 Lebensordnung 39 Lebensraum, beherrschter, 111 Legalismus 140 Legalität 133 Legitimität 51, 57, 127, 133, 135 - Legitimation 52, 124, 127 - Legitimationskette 116 - Legitimationssehnsucht 41 Leistung 50 Lernfunktion der Verfassung 68 Letztentscheidung 45 Linguistik 129 Fn. 5 Lobby 145 Lüth-Urteil 31 Luhmann, N., 27 Fn. 46; 47 Fn. 15; 141 Fn. 82; 147 Fn. 117; 148 ff.
Kant 36 Fn. 98 Kapital 106 Kelsen 57 Fn. 80 Kirche 76 Klugheit 117 Kompetenzausweitung des BVerfG 108 Kompetenzordnung des GG 108 Kompetenzüberschreitung des BVerfG 102 Komplexität 62, 119, 132, 136 Konditionalprogrammierung 66 Konkretisierung 23 ff., 37, 61, 64, 77, 83, 97, 121, 127, 129 ff., 142 - Grundrechtskonkretisierung 101 - Konkretisierungskompetenz 32,47, 51 - rechtsschöpferische 24 - Verfassungskonkretisierung 104 Konsens 22,42, 116 f., 147
- gesellschaftliche 96, 116 - Machtgewinn und - erhalt 120 - Machtlosigkeit 106 - Machtprozesse 125, 144 - wirtschaftliche 97 Massenmedien 95 Maßnahmegesetze 114 Mehrheit 117 Meinungsfreiheit 95 Menschenrechte 56 Menschenwürde 86,93 Methodenelemente 83 Methoden ideal 41 Minderheiten 121, 146 - Minderheitendiskurs 117 ff. Montesquieu 119
Macht 96
I91
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Sach- und Personenregister
Müller, F., 18, 23 Fn. 18,128 if., 151, 155 Mythos 23 Fn. 16, 145 Nachkriegsdeutschland 40, 52 Nation 40,53,55 ff. - als Voraussetzung der Verfassung 55 ff. - Frankreich 56 Fn. 53 - Selbstbewußtsein 40,55 Neutralität des Staates 91 ff. Nichtentscheidbarkeit 117 Norm 29 - normauflösend 74 - Normbereich 130 - Normklarheit 76 Fn. 193 - Normkonkretisierung 130 Normativität 16,45 Fn. 45,46 ff., 79, 82, 105, 147 - normative Grundentscheidung 74 Normbildung 41, 130 Normgeltung 131 Normprogramm 130 Normtext 63, 129 Normtypik 78 NS-Zeit 83 - drittes Reich 92 f. - Verfolgung von Juden 93 Offenheit des Grundgesetzes 61 - des Staates s. Staat - von Verfassungsbegriffen 73, 144 Optimierung 136 Optimierungsgebote 38 Parlament 77, 121 Parlamentarischer Rat 95 Partikularinteressen 145 Persönlichkeit 93 Pluralismus 14, 22,45,53, 55 f. - Pluralismusdebatte, Pluralisierung, 14 - Pluralismustheorie 147 Fn. 119 - pluralistisch 22,41,50 - pluralistische Verfassungstheorie 41 Politik 119, 124,141 - Politiktheorie 146 - justizförmige 141 - politische Klugheit 117
- politische Philosophie 121 - politische Willensbildung 117 - politische Ziel vorgaben 119 - Politiksystem 32, 36, 107, 142, 149 - symbolische Politik 119 - symbolischer Politikersatz 120 - und Verfassungsbedarf Positivierung 79, 85 - der Grundrechte 112 - der Verfassung 94 - des Prinzips der Volkssouveränität 116 - und Grenzen der Verfassung 79 - und Selektivität 79 Positivismus 60,71 - interpretativer 61, 74, 87,92, 94, 127, 129 - positivistisches Subsumtionsideal 74 Positivität der Verfassung 47, 72, 82 Presse 95 Prinzipien 38 Fn. 114; 42,63, 70 - Demokratieprinzip 115 ff. - Neutralität des Staates 91 ff. - Prinzipienbegriff 132 - Prinzipiendiskurs 93, 125 - Prinzipiengehalte von Grundrechten 42 - Prinzipienmodell des Rechts 38 - Prinzipientheorie der Grundrechte 31, 38, 42, 136 ff. - Sozialstaatsprinzip 111 ff. - Volkssouveränität 116 Privatrechtsordnung 98 Priviligierung von Minderheiten 117 Rahmenordnung 30,44 ff., 50,99 -Verfassung als Rahmenordnung 44 ff., 68 Rationalisierung von Herrschaft 133 Rationalität 133 - Rationalitätspotential des einfachen Rechts 138 Recht 27, 37, 57, 132 - Allgemeinheit des 52 - Begrenzungsfunktion 51 - Geschichtlichkeit 67 - u. Moralität 52 - verbindliches 32 Rechtsanwendung 37 Rechtsfortbildung 35,67, 107, 109 Rechtsgestaltung 35,42 Rechtsgrundsätze 46,51, 58, 67, 75, 140
Sach- und Personenregister Rechtskultur 108 Rechtsmoral 32, 86 Rechtsordnung 44 - das historisch-dogmatische Ganze 44 Rechtsprechung 68 Rechtsregeln 61, 67 - Regelbefolgung 132 - Regelcharakter des Rechts 116 f. - Regelmodell des Rechts 38 Fn. 114; 127 - Regelnormen 78 - und Savignys Methodik 61 - und Staatsorganisation 62 Rechtssetzung 37 Rechtssicherheit 127, 132 Rechtsstaat 71, 83 - Rechtsstaatsbegriff 71 Rechtssystem 36, 38, 107 Rechtstext 84 Rechtstheorie 38 Regelcharakter des Rechts 116 f., 122 Regierung 77, 121 - Demokratie als Regierungsform 115 Reichsverfassung, Weimarer 83, 108 Religionsformen 118 Religionsfreiheit 87, 89, 92 Religionsunterricht 88 Repräsentanten 123 Repräsentationsstruktur 120 f. Responsivität 122 Rhetorik 119 Rigidität der Verfassung 61, 86, 107 Fn. 353 Rundfunk 95 ff. - privatwirtschaftliche Organisation 95 Rundfunkfreiheit 94 ff. Sachbereich 91, 131 Säkularisierung 53 säkularisierter Staat 54 Savigny 61,72 Scheuner, U., 70 Fn. 155 Schmitt, C., 44 Fn. 3; 51 Fn. 35 Schranken - der Grundrechte 78 Schrankendenken 109 - immanente Schranke s. Grundrechte Schule 47, 56 Fn. 73 - als Vermittlungsinstitution 56 - Schüler 87
- Schulgebet 87 ff. - Schulorganisation 47, 87 Schutz 50, 51 Schwangerschaftsabbruch 84 Fn. 235 Schweigen der Verfassung 65, 78, 96, 134 Selbstbeschränkung, richterliche 103 Sicherheit 50 Sittlichkeit 54 Smend, R., 90, s. a. Integrationslehre Souveränität 23, 149 Sozialpolitik 139 Fn. 70 soziologisch 30 Staat 28 Fn. 46,45 ff., 146 - Absterben 146 - Aktivität des Staates 48 Fn. 19 - als begrenzendes Moment 47 - als Organisation 49 - als organisierte Wirkeinheit 77, 90 - arbeitender 146 Fn. 116 - Befriedungsfunktion 45, 50 - Bekenntnis zum Sozialstaat 114 - Gestaltungsbefugnis 8 - Gestaltungsfreiheit 90 - Kernfunktion 90 f. - Neutralität 90 - offene Staatlichkeit 47 Fn. 15; 56 - organisatorische Gestaltung 88 - Sozialstaat 106, 111 ff. - staatliche Intervention 112 - Staatsaufgaben 140 - und Allgemeinheit 50, 52 - und Gesellschaft 45 ff.; 88, 134, 144 - und Gewalt 48 Staatsaufgaben 140 Staatsbürgerschaft 120 Staatsrechtswissenschaft 71 Staatstheorie 121 Staatszwecke 36,42, 84 Stein, L. von, 53, 115 Steuer 100 - Sollertragssteuer 101 - Steuergestaltung 106 - Steuerpolitik 105 - Steuerrechtswissenschaft 105 - Steuerschuldner 104 Subjektivität 137 Subjektiv-öffentliches Recht 113 Subsumtion 102
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Sach- und Personenregister
Symbol 21, 30,42, 89 - symbolische Integration 89 f. - symbolische Politik 119 - textliche Symbolisierung 142 f. - Theorie 20 Fn. 1 - und Repräsentation des Staates 90 System 26 f., 47 Fn. 15 - autonome Teilsysteme 120 - autopoietisches 47 Fn. 15 - politisches 26, 32, 36, 107, 142, 145 - rechtliches 26 - Systemtheorie 27 Fn. 46, 47 Fn. 15; 143 ff. - und Voraussetzungen der Verfassung 47 Fn. 15 Topik 20 ff., 72 Toleranzprinzip 89 Traditionsbildung 79 Universalismus der Menschenrechte 56 Unionsverfassung 146 Vaterland 40 Verantwortlichkeit 55, 106, 110 - demokratische 121 f. Verantwortung 120 Verbandsöffentlichkeit 145 Verfassung 26 - als Lebensordnung 39 f. - als Rahmenordnung 26 - des 19. Jahrhunderts 92 - Gesetzesfunktion - Grundentscheidung s. a. Grundentscheidung - Integrationsgehalt 45 - liberale 134 - Rahmencharakter 63 - Rigidität 70 - Struktur 42 - Surrogatfunktion 41 - und Gesetz 66 ff. - Verbindlichkeit 70 - Verfassungsübertreibung 105 Verfassungsausweitung 35 Verfassungsbedarf 146 Verfassungsbegriff 15, 39 ff., 45 f. - geschichtlicher 70
Verfassungsbeschwerde 107 Verfassungsbewegung 85 Verfassungsfieber 16 Fn. 10 Verfassungsgeber 83,95,107 Verfassungsgebung 56 ff. Verfassungsgerichtsbarkeit 15, 23,144 Verfassungspatriotismus 39 ff., 45 Fn. 7,55 Verfassungsrechtsprechung 31 ff., 139 Verfassungsrichter 14 Verfassungstext 14, 25,41, 78 - Bindung der Interpretation 25 Verfassungstheorie 15 f., 87, 101 - verfassungstheoretisch 37 Verfassungswandel 26 Verfassungswerte 42 - Wertsphären 87 Verhältnismäßigkeit 35 Verhältnismäßigkeitsprinzip 35,42, 108 Vermittlung 25, 50 ff., 65, 85, 97, 99, 109, 124 - und Methodik der Konkretisierung 25 - und soziale Realität 25 - Vermittlungsarbeit 120 - Vermittlungsbegriff 85 Vermögenssteuer 100 Vernunft 46 Verrechtlichung 142 Verteidigungspolitik 77 Vertrauen 119 - pädagogisches 88 - und Allgemeinheit 124 Verwaltung 141 Verwaltungsrecht als konkretisiertes Verfassungsrecht 40 Volk 58, 120 f. - u. Verantwortung 121 - Volkssouveränitat 150 Vollstreckung und Rechtsbegriff 51 Fn. 35 Voraussetzungen der Verfassung 44,47 ff. - der Demokratie 118 ff. - und Rechtstext 47 - und Systemtheorie 47 Fn. 15 Wahlerfolg 124 Wandel 99 Wechselwirkungstheorie 108 Weisungsabhängigkeit 122 weltanschaulich 91
Sach- und Personenregister Wertbegriff 30 Wertordnung 31, 85 - Wertordnungstradition 100 Wertsetzung 84 Werttheorie 38 Wir-Bewußtsein 55,118 Wirklichkeit 29, 30, 73 Wissenschaftsfreiheit 95
Wohlfahrtsstart 145 Wortlaut 108 - Wortlautargument 94 Zivilgesellschaft 23 Fn. 16 Zivilisierung des politischen Diskurses 147 Zwecke des Staates 94 Fn. 282 Zweckrationalität 127