Die Strafprozeßordnung und das Gerichtsverfassungsgesetz. Großkomentar: Band 1 Einleitung, §§ 1 bis 212 b [22., neubearb. Aufl. Reprint 2019] 9783111621241, 9783110037456


195 106 96MB

German Pages 1159 [1160] Year 1971

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Vorwort zur 22. Auflage
Inhaltsverzeichnis
Verzeichnis der wichtigsten Abkürzungen und Zitate
Einleitung
1. Die Quellen des deutschen Strafverfahrensrechts und ihr Verhältnis zueinander
2. Zur Entstehungsgeschichte der Strafprozeßordnung und des Gerichtsverfassungsgesetzes
3. Die weitere Entwicklung der Strafprozeßordnung und des Gerichtsverfassungsgesetzes
4. Reformversuche und Reformbestrebungen
5. Das Wesen, die Gliederung und der Verlauf des Strafverfahrens
6. Verhältnis des Strafverfahrens zu anderen Verfahren
7. Strafprozeß und Justizverwaltung
8. Die Prozeßbeteiligten
9. Die Prozeßhandlungen
10. Die Verfahrensvoraussetzungen
11. Die Prozeßmaximen
12. Beweisverbote
13. Mitwirkung des Volkes bei der Rechtsprechung
14. Zur Frage des nichtigen Urteils
Strafprozeßordnung
ERSTER ABSCHNITT. Sachliche Zuständigkeit der Gerichte
ZWEITER ABSCHNITT. Gerichtsstand
DRITTER ABSCHNITT. Ausschließung und Ablehnung der Gerichtspersonen
VIERTER ABSCHNITT. Gerichtliche Entscheidungen und ihre Bekanntmachung
FÜNFTER ABSCHNITT. Fristen und Wiedereinsetzung in den vorigen Stand
SECHSTER ABSCHNITT. Zeugen
SIEBENTER ABSCHNITT. Sachverständige und Augenschein
ACHTER ABSCHNITT. Beschlagnahme, Überwachung des Fernmeldeverkehrs und Durchsuchung
NEUNTER ABSCHNITT. Verhaftung und vorläufige Festnahme
ZEHNTER ABSCHNITT. Vernehmung des Beschuldigten
ELFTER ABSCHNITT. Verteidigung
ZWEITES BUCH: Verfahren im ersten Rechtszug
ERSTER ABSCHNITT. Öffentliche Klage
ZWEITER ABSCHNITT. Vorbereitung der öffentlichen Klage
DRITTER ABSCHNITT. Gerichtliche Voruntersuchung
VIERTER ABSCHNITT. Entscheidung über die Eröffnung des Hauptverfahrens
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Die Strafprozeßordnung und das Gerichtsverfassungsgesetz. Großkomentar: Band 1 Einleitung, §§ 1 bis 212 b [22., neubearb. Aufl. Reprint 2019]
 9783111621241, 9783110037456

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Großkommentare der Praxis

w DE

G

Löwe-Rosenberg

Die Strafprozeßordnung und das Gerichtsverfassungsgesetz Großkommentar 22., neubearbeitete Auflage von Dr. Hanns Dünnebier Generalstaatsanwalt in Bremen Dr. Walter Gollwitzer Ministerialrat in München Dr. Max Kohlhaas Bundesanwalt in Karlsruhe Professor Dr. Werner Sarstedt Senatspräsident beim Bundesgerichtshof Dr. Karl Schäfer Senatspräsident i. R. in Frankfurt a. M.

Erster Band Einleitung, §§ 1 bis 212 b Einleitung: Schäfer

§§ 9 4 - 1 3 2 :

Dünnebier

§§

1—47: Dünnebier

§§ 133-136:

Sarstedt

§ § 4 8 - 7 1 : Kohlhaas

§§ 137-150:

Dünnebier

§§ 7 2 - 9 3 : Sarstedt

§§ 1 5 1 - 2 1 2 b : Kohlhaas

w

1971

G

Walter de Gruyter • Berlin • New York

DE

Erscheinungsdaten der Lieferungen Lieferung 1 (§§ 1-93): Januar 1971 Lieferung 2 (§§ 9 4 - 2 1 2 b): Mai 1971

ISBN 3 11 003745 9

© Copyright 1971 by Walter de Gruyter & Co., vormals G . J. Göschen'sche Verlagshandlung, J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung Georg Reimer, Karl J. Triibner, Veit & Comp., Berlin 30. Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der photomechanischen Wiedergabe, der Herstellung von Mikrofilmen und der Übersetzung, vorbehalten. — Printed in Germany. Satz und Druck: H. Heenemann K G , Berlin.

Vorwort zur 22. Auflage Mit der 21. Auflage und dem dazu erschienenen Ergänzungsband konnte den Benutzern des Löwe-Rosenberg ein Großkommentar zur Strafprozeßordnung in der Fassung der Bekanntmachung vom 17. September 1965 in die Hand gelegt werden. Inzwischen sind durch folgende Gesetze Vorschriften der Strafprozeßordnung und des Gerichtsverfassungsgesetzes geändert worden: Einführungsgesetz zum Gesetz über Ordnungswidrigkeiten vom 24. Mai 1968 (BGBl. I 503, 507); Achtes Strafrechtsänderungsgesetz vom 25. Juni 1968 (BGBl. I 741, 749); Gesetz zur Beschränkung des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses vom 13. August 1968 (BGBl. 1949,951); Erstes Gesetz zur Reform des Strafrechts vom 25. Juni 1969 (BGBl. I 645, 658); Gesetz zur allgemeinen Einführung eines zweiten Rechtszuges in Staatsschutz-Strafsachen vom 8. September 1969 (BGBl. 1582). Darüber hinaus haben Änderungen des Strafgesetzbuchs, des Gesetzes über Ordnungswidrigkeiten, des Jugendgerichtsgesetzes, der Abgabenordnung und des Bürgerlichen Gesetzbuchs auf die Kommentierung der Strafprozeßordnung eingewirkt. Da etwa 115 Paragraphen unmittelbar geändert worden sind, erschien es dem Verlag und den Verfassern unausweislich, dem Benutzer durch eine Neuauflage eine gründliche, neubearbeitete Kommentierung des geltenden Textes der Strafprozeßordnung und des Gerichtsverfassungsgesetzes vorzulegen, zumal da die zu erwartenden weiteren Änderungen erst in einigen Jahren zur Verkündung kommen werden. Frau Bundesrichterin Dr. Koffka, die am Ergänzungsband mitgearbeitet hatte, ist wieder ausgeschieden, weil sie sich ihren Arbeiten am Leipziger Kommentar widmen will. Verlag und Verfasser empfinden es als einen besonderen Verlust, daß Herr Senatspräsident beim Bundesgerichtshof a.D. Dr. Jagusch sich ganz dem Verkehrsrecht zugewendet und seine Beteiligung am Löwe-Rosenberg aufgegeben hat. Sowohl durch seine Beiträge als auch durch die Federführung hat er viel zur Entwicklung und Anerkennung des Werkes beigetragen. Es ist uns ein Bedürfnis, ihm auch an dieser Stelle dafür zu danken. In seinen Teil haben sich die Herren Senatspräsident beim Bundesgerichtshof Professor Dr. Sarstedt und Ministerialrat Dr. Walter Gollwitzer geteilt. Herr Gollwitzer, der neu in den Kreis der Autoren eingetreten ist, hat auch die früher von Herrn Senatspräsidenten beim Bundesgerichtshof Dr. Geier bearbeiteten Teile übernommen. Die neue Auflage erscheint in -einem leichter lesbaren Schriftgrad. Dadurch ist es erforderlich geworden, den Kommentar, um ihn handlich zu halten, in drei Bänden herauszugeben. Der Verlag ist um ein einheitliches äußeres Bild des Kommentars bemüht. Die Fortführung der Tradition und die Art der Darstellungsweise sorgen ferner für eine Übereinstimmung der Kommentierungsform. Die Verfasser haben sich bemüht, Wiederholungen in der Kommentierung, die durch die Aufteilung des Stoffes leicht auftreten, soweit zu vermindern, als es möglich schien. Dagegen ist es, wie in den Vorauflagen, bewußt unterblieben, die Beiträge der einzelnen Verfasser über die Systematik und die äußere Form hinaus aufeinander abzustimmen. Jeder Teil bringt die Ansicht seines Verfassers und trägt seine Handschrift. Wir sehen es als keinen Nachteil an, wenn zu gleichen oder ähnlichen Fragen an verschiedenen Stellen verschiedene Antworten gegeben werden, wie z. B. darüber, ob die Landespressegesetze die Vorschriften der Strafprozeßordnung über das Zeugnisverweigerungsrecht und die Beschlagnahmebeschränkungen bei der Presse abgelöst oder erhalten haben. Dieser Selbständigkeit der Beiträge sollte auch in der Zitierweise Rechnung getragen V

werden. Zwar erscheint es angemessen, den — 1879 von Löwe begonnenen, seit der von Rosenberg besorgten 13. Auflage an „Löwe-Rosenberg" benannten — Kommentar auch weiter unter dem Namen erscheinen zu lassen, mit dem er in Wissenschaft und Praxis eingeführt und anerkannt ist. Doch sollten die Autoren, deren Namen auf jeder zweiten Seite oben angegeben sind, bei Zitaten genannt werden. Dafür wird vorgeschlagen, der Abkürzung LR den Namen des Verfassers anzufügen (z. B. LRSchäfer). Im März 1971 Dünnebier, Gollwitzer, Kohlhaas, Sarstedt, Schäfer

VI

Inhaltsverzeichnis Seite

Vorwort

V

Verzeichnis der wichtigsten Abkürzungen und Zitate

XI

EINLEITUNG Kap. 1. Die Quellen des deutschen Strafverfahrensrechts und ihr Verhältnis zueinander 2. Zur Entstehungsgeschichte der StPO und des GVG 3. Die weitere Entwicklung der StPO und des GVG 1. Die Entwicklung bis zum Beginn des ersten Weltkrieges (1914) 2. Die Gesetze von 1914 bis 1924 3. Die Gesetze von 1925 bis 1932 4. Die Gesetzgebung von 1933 bis 1945 5. Die Nachkriegsgesetzgebung bis zur Entstehung der Bundesrepublik 6. Die Rechtsentwicklung in der Bundesrepublik 4. Reformversuche und Reformbestrebungen 5. Das Wesen, die Gliederung und der Verlauf des Strafverfahrens 1. Strafverfahren und materielles Recht 2. Ziel und Mittel des Strafverfahrens 3. Gestaltung des Verfahrens 4. Erweiterung der Zwecke des Strafverfahrens 6. Verhältnis des Strafverfahrens zu anderen Verfahren 1. Strafprozeß und Zivilprozeß 2. Strafprozeß und Verwaltungsstrafverfahren 3. Strafprozeß und Disziplinarverfahren 7. Strafprozeß und Justizverwaltung 8. Die Prozeßbeteiligten 9. Die Prozeßhandlungen 1. Begriff und Einteilung der Prozeßhandlungen 2. Wertung der Prozeßhandlungen 3. Widerruflichkeit von Prozeßhandlungen 4. Einfluß von Irrtum, Täuschung und Drohung 5. Bedingungen 10. Die Verfahrensvoraussetzungen A. Allgemeines 1. Begriff und Wesen der Prozeßvoraussetzungen 2. Einteilung der Prozeßvoraussetzungen 3. Zeitliche Geltung 4. Prüfung von Amts wegen, Freibeweis 5. Prüfung durch das Rechtsmittelgericht 6. Zusammentreffen von Verfahrenshindernissen 7. Geltung des Grundsatzes „in dubio pro reo" 8. Verfahren nach erkanntem Verfahrenshindernis. Folgen der Nichtbeachtung 9. Freispruch trotz fehlender Prozeßvoraussetzung

2 3 4 4 5 7 9 18 20 34 45 45 46 52 53 56 56 59 61 62 67 69 69 71 73 74 78 78 78 78 80 81 81 82 86 87 91 92 VII

Seite

11.

12. 13. 14.

B. Die hauptsächlichen Prozeßvoraussetzungen (Verfahrenshindernisse) . . . 1. Klage und Eröffnungsbeschluß 2. Gerichtsbarkeit und Gerichtsunterworfenheit 3. Unberührtheit der Sache 4. Niederschlagung 5. Verjährung 6. Eigenschaften und Beziehungen der Beteiligten a) Lebensalter des Beschuldigten b) Verhandlungsfähigkeit, Anwesenheit c) Zugehörigkeit zu einem Gesetzgebungsorgan d) Klagerecht und Prozeßfähigkeit des Klägers sowie Vertretungsmacht seines gesetzlichen Vertreters e) Adhäsionsverfahren f) Zeugen und Untersuchungspersonen 7. Erklärungen Dritter. Vorentscheidungen einer anderen Stelle a) Strafantrag des Verletzten b) Bejahung des besonderen öffentlichen Interesses (§ 232 StGB) c) Strafverlangen, Ermächtigung und ähnliche Erklärungen von Behörden d) Auflösung usw. der Ehe in den Fällen der §§ 170,238 StGB e) Vorabentscheidungen f) Rücksicht auf das Verhältnis zu einer ausländischen Behörde 8. Sachliche und örtliche Zuständigkeit 9. Sühneversuch Die Prozeßmaximen A. Allgemeines B. Die einzelnen Grundsätze 1. Der Anklagegrundsatz (Trennung von ermittelnder und entscheidender Tätigkeit. Durchbrechungen des Grundsatzes und Reformwünsche bezgl. Voruntersuchung. Eröffnungsbeschluß und Kreuzverhör) 2. Das Anklagemonopol des Staatsanwalts 3. Die Verfolgungspflicht 4. Die Pflicht zur Wahrheitserforschung (Instruktionsmaxime) 5. Der Grundsatz der Mündlichkeit und Unmittelbarkeit 6. Das Beweisantragsrecht der Beteiligten 7. Der Grundsatz des rechtlichen Gehörs 8. Öffentlichkeit der Verhandlung 9. Der gesetzliche Richter Beweisverbote Mitwirkung des Volkes bei der Rechtsprechung Zur Frage des nichtigen Urteils

93 93 96 97 115 116 120 120 121 122 123 124 124 124 124 124 126 126 126 128 128 130 131 131 132

132 138 139 145 152 156 159 163 166 167 181 184

Strafprozeßordnung ERSTES BUCH Allgemeine Vorschriften Erster Abschnitt. Sachliche Zuständigkeit der Gerichte Vorbemerkungen §§1-6

203 206

Zweiter Abschnitt. Gerichtsstand Vorbemerkungen §§ 7 - 2 1

226 230

VIII

Seite

Dritter Abschnitt. Ausschließung und Ablehnung der Gerichtspersonen Vorbemerkungen §§ 2 2 - 3 2

271 275

Vierter Abschnitt. Gerichtliche Entscheidungen und ihre Bekanntmachung Vorbemerkungen §§33-41

335 336

Fünfter Abschnitt. Fristen und Wiedereinsetzung in den vorigen Stand Vorbemerkungen §§ 4 2 - 4 7

375 379

Sechster Abschnitt. Zeugen Vorbemerkungen §§48-71

400 404

Siebenter Abschnitt. Sachverständige und Augenschein Vorbemerkungen §§ 72-93

482 488

Achter Abschnitt. Beschlagnahme, Überwachung des Fernmeldeverkehrs und Durchsuchung Vorbemerkungen §§ 94—111 a

552 557

Neunter Abschnitt. Verhaftung und vorläufige Festnahme Vorbemerkungen §§112-131

652 663

9 a. Abschnitt. Sonstige Maßnahmen zur Sicherstellung der Strafverfolgung und Strafvollstreckung 839 Vorbemerkungen 839 §132 Zehnter Abschnitt. Vernehmung des Beschuldigten Vorbemerkungen §§ 133—136a

842 842

Elfter Abschnitt. Verteidigung Vorbemerkungen §§ 137-150

874 874

ZWEITES BUCH Verfahren im ersten Rechtszug Erster Abschnitt. Öffentliche Klage §§ 151-157 . . . :

'

Zweiter Abschnitt. Vorbereitung der öffentlichen Klage Vorbemerkungen §§ 158-177

944 982 986

Dritter Abschnitt. Gerichtliche Voruntersuchung Vorbemerkungen §§178-197

1049 1050

Vierter Abschnitt. Entscheidung über die Eröffnung des Hauptverfahrens Vorbemerkungen §§ 198—212b

1081 1082 IX

Verzeichnis der wichtigsten Abkürzungen und Zitate (Die besondere Literatur zu einzelnen Abschnitten und Paragraphen ist am Anfang der betreffenden Abschnitte und Paragraphen aufgeführt)

Abg. AbgO ABl. ÄndG a. F. AG AGGewVerbrG AGGVG AGStPO AHK AktG

AktO Alsb.E Alsberg-Nüse amtl. Begr. AnwBl. AO AöR AOStrÄndG ArchKrim. ArchKrimAnthr. ArchPR ArchZivPr. AtomG

Abgeordneter s. AO Amtsblatt Änderungsgesetz alte Fassung in Verbindung mit einem Gesetz: Ausführungsgesetz Ausführungsgesetz zum Gesetz gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher und über Maßregeln der Sicherung und Besserung v. 24. 11. 1933 (RGBl. I S. 1000) Gesetz zur Ausfuhrung des Gerichtsverfassungsgesetzes (Landesrecht) Ausführungsgesetz zur Strafprozeßordnung (Landesrecht) Alliierte Hohe Kommission Gesetz über Aktiengesellschaften und Kommanditgesellschaften auf Aktien (Aktiengesetz) v. 6. 9. 1965 (BGBl. I S. 1089), zuletzt geändert durch Ges. v. 28. 8. 1969 (BGBl. I S. 1513,1520), BGBl. III 4121—1 Anweisung für die Verwaltung des Schriftguts bei den Geschäftsstellen der Gerichte und der Staatsanwaltschaften (Aktenordnung) Die strafprozessualen Entscheidungen der Oberlandesgerichte, herausgegeben von Alsberg und Friedrich (1927), 3 Bände Alsberg-Nüse, Der Beweisantrag im Strafprozeß, 4. Aufl. (1969) amtliche Begründung Anwaltsblatt Reichsabgabenordnung v. 13. 12. 1919 i. d. F. v. 22. 5. 1931 (RGBl. I S. 161), zuletzt geändert durch Ges. v. 23. 6. 1970 (RGBl. I S. 911,914), BGBl. III 6 1 0 - 1 Archiv des öffentlichen Rechts Gesetz zur Änderung strafrechtlicher Vorschriften der Reichsabgabenordnung und anderer Gesetze v. 10.8. 1967 (BGBl. I S. 877) Archiv für Kriminologie, vorher: Archiv für Kriminalanthropologie und Kriminalistik Archiv für Presserecht (Beilage zum „Zeitungs-Verlag und Zeitschriften-Verlag") Zeitschrift für die zivilistische Praxis Gesetz über die friedliche Verwendung der Kernenergie und den Schutz gegen ihre Gefahren (Atomgesetz) v. 23. 12. 1959 (BGBl. I S. 814), zuletzt geändert durch Ges. v. 23. 6. 1970 (BGBl. I S. 805,819), BGBl. III 7 5 1 - 1

XI

AuslG AV AWG BAO BAnz. Baumbach-Lauterbach BaWü. Bay. BayBS BayObLG BayObLGSt. BayVBl. BayVerf. BayVerfGH BayZ BB BBG BDH BDO

Begrdg. (Begr.) BEG-SchlußG Bek. Beling BelingBewVerb. Bennecke-Beling ber. BeurkG BFH BGB BGBl. I, II, III BGH BGHGrS BGHSt. BGHZ Binding

XII

Ausländergesetz v. 28. 4. 1965 (BGBl. S. 353), zuletzt geändert durch Ges. v. 23.6. 1970 (BGBl. I S. 805, 806), BGBl. III 2600-1 Allgemeine Verfügung Außenwirtschaftsgesetz v. ¿ 8 . 4 . 1961 (BGBl. I S. 481), zuletzt geändert durch Ges. v. 30. 7. 1968 (BGBl. I S. 874), BGBl. III 7400-1 Bundesärzteordnung v. 2.10.1961 i. d. F. v. 4 . 2 . 1 9 7 0 (BGBl. I S. 237), BGBl. III 2 1 2 2 - 1 - 1 Bundesanzeiger Baumbach-Lauterbach, Zivilprozeßordnung, Kurzkommentar, 30. Aufl. (1970) Baden-Württemberg Bayern, bayerisch Bereinigte Sammlung des Bayerischen Landesrechts (1802-1956) Bayerisches Oberstes Landesgericht Sammlung von Entscheidungen des Bayerischen Obersten Landesgerichts in Strafsachen Bayerische Verwaltungsblätter Verfassung des Freistaates Bayern v. 2. 12. 1946 (Bay BS I 3) Sammlung von Entscheidungen des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs Zeitschrift für Rechtspflege in Bayern (1905-34) Der Betriebs-Berater Bundesbeamtengesetz v. 14. 7. 1953 i. d. F. v. 22. 10. 1965 (BGBl. I S. 1776), zuletzt geändert durch Ges. v. 18. 3. 1971 (BGBl. I S. 208,222), BGBl. III 2 0 3 0 - 2 Bundesdisziplinarhof (jetzt Bundesverwaltungsgericht) Bundesdisziplinarordnung v. 28.11.1952 i.d.F. v. 20.7. 1967 (BGBl. I S. 751, ber. BGBl. I S. 984), zuletzt geändert durch Ges. v. 19. 7. 1968 (BGBl. I S. 848), BGBl. III 2031-1 Begründung Zweites Gesetz zur Änderung des Bundesentschädigungsgesetzes v. 14.9. 1965 (BGBl. I S. 1315), BGBl. III 2 5 1 - 1 Bekanntmachung Beling, Deutsches Reichsstrafprozeßrecht (1928) Beling, Die Beweisverbote als Grenzen der Wahrheitserforschung im Strafprozeß (1903) Bennecke-Beling, Lehrbuch des deutschen Strafprozeßrechts (1900) berichtigt Beurkundungsgesetz v. 24. 8. 1969 (BGBl. I S. 1513), BGBl. III 3 0 3 - 1 3 Bundesfinanzhof Bürgerliches Gesetzbuch v. 18.8. 1896 (RGBl. S. 195), zuletzt geändert durch Ges. v. 2 7 . 6 . 1 9 7 0 (BGBl. I S. 911, 912) BGBl. III 4 0 0 - 2 Bundesgesetzblatt Teil I, II und III Bundesgerichtshof Bundesgerichtshof, Großer Senat (hier in Strafsachen) Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Strafsachen Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Zivilsachen Binding, Grundriß des Deutschen Strafrechts, Allgemeiner Teil (1913)

Binding Lehrb. Birkmeyer BKrimAG

Bln. Bln.GVBl.Sb. Blutalkohol Bockelmann Bonn.Komm. BMI BMJ BR BRAGebO

Brandstetter BRAO

BRat. BRD B R D rucks. BReg. Brem. BRProt. BS BSG BTag BTDrucks. BTProt. BTRAussch. BTVerh. Bumke Burchardi-Klempahn BVerfG BVerfGE BVerfGG

BVerwG BVerwGE BZRG DA DAG

Dahs Dalcke

Binding, Lehrbuch des gemeinen Deutschen Strafrechts, Besonderer Teil, 2. Aufl. I 1902, II 1904/5 Birkmeyer, Deutsches Strafprozeßrecht (1898) Gesetz über die Einrichtung eines Bundeskriminalpolizeiamtes (Bundeskriminalamtes) v. 8. 3. 1951 (BGBl. I S. 165), letztes ÄndG v. 19.9. 1969 (BGBl. I S. 1717), BGBL. III 2190-1 Berlin Sammlung des bereinigten Berliner Landesrechts, Sonderband I (1806-1945) und II (1945-1967) Blutalkohol, Wissenschaftliche Zeitschrift für die medizinische und juristische Praxis Bockelmann, Die Unverfolgbarkeit der Abgeordneten nach deutschem Immunitätsrecht (1951) Kommentar zum Bonner Grundgesetz, Loseblattausgabe Bundesminister(-ium) des Inneren Bundesminister(-ium) der Justiz s. BRat Bundesgebührenordnung für Rechtsanwälte v. 26. 7. 1957 (BGBl. I S. 861), zuletzt geändert durch Ges. v. 27. 6. 1970 (BGBl. I S. 911, 915), BGBl. III 368-1 Brandstetter, Straffreiheitsgesetz, Kommentar (1956) Bundesrechtsanwaltsordnung v. 1.8.1959 (BGBl. I S. 565), zuletzt geändert durch Ges. v. 15. 8. 1969 (BGBl. I S. 1141), BGBl. III 303-8 Bundesrat Bundesrepublik Deutschland Drucksachen des Bundesrats Bundesregierung Bremen Protokolle des Bundesrates Sammlung des bereinigten Landesrechts Bundessozialgericht Bundestag Drucksachen des Bundestags s. BTVerh. Rechtsausschuß des Bundestags Verhandlungen des Bundestags Bumke, Gerichtsverfassung und Strafprozeßordnung (1927), Burchardi-Klempahn, Der Staatsanwalt und sein Arbeitsgebiet, 3. Aufl. (1966) Bundesverfassungsgericht Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Gesetz über das Bundesverfassungsgericht v. 12.3.1951 BGBl. I S. 243), letztes Ä n d G v. 21. 12. 1970 (BGBl. I S. 1765), BGBl. III 1104-1 Bundesverwaltungsgericht Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts Gesetz über das Zentralregister und das Erziehungsregister (Bundeszentralregistergesetz) v. 18. 3. 1971 (BGBl. I S. 243) Dienstanweisung Deutsches Auslieferungsgesetz v. 23.12.1929 (RGBl. I S. 239), zuletzt geändert durch Ges. v. 19. 12. 1964 (BGBl. I S. 1067) BGBl. III 314-1 Dahs, Handbuch des Strafverteidigers, 3. Aufl. (1971) Dalcke-Fuhrmann-Schäfer, Strafrecht und Strafverfahren, Kommentar, 37. Aufl. (1961)

XIII

Dallinger-Lackner DAR DDevR DDR Die Justiz Die Polizei Diss. Ditzen DJ DJT DJZ DÖV DOGE Dohna DR DRechtsw. Dreher

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XIV

Dallinger-Lackner, Jugendgerichtsgesetz und ergänzende Vorschriften, Kommentar, 1. Aufl. (1955), 2. Aufl. (1965) Deutsches Autorecht Deutsche Devisen-Rundschau (1951—59) Deutsche Demokratische Republik Die Justiz, Amtsblatt des Justizministeriums BadenWürttemberg Die Polizei (seit 1955: Die Polizei — Polizeipraxis) Dissertation Ditzen, Dreierlei Beweis im Strafverfahren (1926) Deutsche Justiz, Rechtspflege und Rechtspolitik (1933—45) Deutscher Juristentag (s. auch VerhDJT) Deutsche Juristenzeitung (1896—1936) Die Öffentliche Verwaltung Entscheidungen des Deutschen Obergerichts für das Vereinigte Wirtschaftsgebiet s. Graf zu Dohna Deutsches Recht (1931-45) Deutsche Rechtswissenschaft (1936—43) Dreher, Strafgesetzbuch, Kurzkommentar, begründet v. Schwarz und seit der 23. Aufl. (1961) fortgeführt von Dreher, jetzt 32. Aufl. (1970) Dreher-Maassen, Strafgesetzbuch, Kommentar, 3. Aufl. (1959), dann Lackner-Maassen, jetzt 6. Aufl. (1970) Deutsches Richtergesetz v. 8 . 9 . 1 9 6 1 (BGBl. I S. 1665), zuletzt geändert durch Ges. v. 25. 6. 1969 (BGBl. I S. 645), BGBl. III 3 0 1 - 1 Deutsche Richterzeitung Deutsche Rechtspflege (1936-39) Deutsche Rechtsprechung, herausgegeben von Feuerhake (Loseblattsammlung) Drucksache Deutsche Rechts-Zeitschrift (1946-50) Deutsches Steuerrecht Deutsches Strafrecht (1934-44) Deutsche Strafrechts-Zeitung (1914-22) Deutsches Verwaltungsblatt Durchführungsverordnung Dienst- und Vollzugsordnung v. 1. 12. 1961 i.d.F. v. 1. 1. 1970 (bundeseinheitlich) Entscheidung Eberhard Schmidt, Lehrkommentar zur Strafprozeßordnung und zum Gerichtsverfassungsgesetz, Teil I: Die rechtstheoretischen und die rechtspolitischen Grundlagen des Strafverfahrensrechts, 2. Aufl. (1964), Teil II: Erläuterungen zur Strafprozeßordnung und zum Einführungsgesetz zur Strafprozeßordnung (1957); Nachträge und Ergänzungen zu Teil II (1967), Teil III: Erläuterungen zum Gerichtsverfassungsgesetz und zum Einführungsgesetz zum Gerichtsverfassungsgesetz (1960) Einführungsgesetz Einführungsgesetz zum Bürgerlichen Gesetzbuch v. 18. 8. 1896 (RGBl. S. 604), zuletzt geändert durch Ges. v. 27. 6. 1970 (BGBl. I S. 911), BGBl. III 4 0 0 - 1

EGGVG EGOWiG EGStGB EGStGB-Entw. 1930 EGStPO EGZPO EhrenGHE EJF Emminger-VO EntlG Entw.

Erbs Erbs ErgBd. ErmächtG EurGHMR EurKomMR

Einführungsgesetz zum Gerichtsverfassungsgesetz v. 27. 1. 1877 (RGBl. S. 77), zuletzt geändert durch Ges. v. 8. 8. 1969 (BGBl. I S. 1582), BGBl. III 3 0 0 - 1 Einführungsgesetz zum Gesetz über Ordnungswidrigkeiten v. 24.5. 1968 (BGBl. I S. 503), geändert durch Ges. v. 25. 6. 1969 (BGBl. I S. 645, 671), BGBl. III 4 5 4 - 2 Einfuhrungsgesetz zum Strafgesetzbuch v. 3 1 . 5 . 1 8 7 0 (RGBl. S. 195), zuletzt geändert durch Ges. v. 28. 7. 1969 (BGBl. I S. 1006), BGBl. III 4 5 0 - 1 Entwurf eines Einfiihrungsgesetzes zum Allgemeinen Deutschen Strafgesetzbuch und zum Strafvollzugsgesetz 1930 (RTDrucks. Nr. 2 0 7 0 = Mat. zur StrRRef. Bd. 7) Einführungsgesetz zur Strafprozeßordnung v. 1.2. 1877, zuletzt geändert durch Ges. v. 12.9. 1950 (BGBl. S. 455), BGBl. III 3 1 2 - 1 Einführungsgesetz zur Zivilprozeßordnung v. 30. 1. 1877 (RGBl. S. 244), zuletzt geändert durch Ges. v. 27. 6. 1970 (BGBl. I S . 911,913) Ehrengerichtliche Entscheidungen (der Ehrengerichtshöfe der Rechtsanwaltschaft des Bundesgebietes und des Landes Berlin) Entscheidungen aus dem Jugend- und Familienrecht (1951-1969) Verordnung über Gerichtsverfassung und Strafrechtspflege v. 4. 1. 1924 (RGBl. I S. 1179) Gesetz zur Entlastung der Gerichte v. 11.3. 1921 (RGBl. S. 229), zuletzt geändert durch Ges. v. 5. 11. 1965 (BGBl. I S. 2065), BGBl. III 3 0 2 - 2 Entwurf Entwurf einer Strafprozeßordnung und Novelle zum Gerichts Verfassungsgesetz nebst Begründung (1908), E 1908 (NE I), Mat. zur StrRRef. Bd. 11; Entwürfe 1. eines Gesetzes, betreffend Änderungen des Gerichtsverfassungsgesetzes, 2. der Strafprozeßordnung (1909), E 1909 ( N E U ) , RT-Verhandl. Bd. 254 Drucks. Nr. 1310= M a t - z u r StrRRef. Bd. 12; Entwürfe 1. eines Gesetzes zur Änderung des Gerichtsverfassungsgesetzes (1919), 2. eines Gesetzes über den Rechtsgang in Strafsachen (1920), E 1919/1920 (NE III), Mat. zur StrRRef. Bd. 14; Entwurf eines Einführungsgesetzes zum Allgemeinen Deutschen Strafgesetzbuch und zum Strafvollzugsgesetz 1930, EGStGB-Entw. 1930, RTDrucks. Nr. 2 0 7 0 = Mat. zur StrRRef. Bd. 7; Entwurf einer Strafverfahrensordnung und einer Friedensund Schiedsmannsordnung (1939), StPO-Entw. 1939, Bericht der Amtlichen Strafprozeßkommission; Entwurf eines Gesetzes zur Änderung der Strafprozeßordund des Gerichtsverfassungsgesetzes (1960), nung StPO-Entw. 1960, BTDrucks. III Nr. 2 0 3 7 = IV Nr. 63 Strafrechtliche Nebengesetze, Kurzkommentar von Erbs, Kohlhaas, Lorz, Mayr, Potrykus, Zipfel, Loseblattsammlung Erbs, Handkommentar zur Strafprozeßordnung, 1950 Ergänzungsband Ermächtigungsgesetz v. 13. 10. 1923 (RGBl. I S. 943) Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte Europäische Kommission für Menschenrechte XV

EWG FAG FamRZ Feisenberger FGG

FGO Floegel-Hartung Frank FristablSbdG

Europäische Wirtschaftsgemeinschaft Gesetz über Fernmeldeanlagen v. 6 . 4 . 1 8 9 2 i.d.F. v. 14. 1. 1928 (RGBl. I S. 8), geändert durch Ges. v. 24. 5. 1968 (BGBl. I S. 503, 538), BGBl. III 9 0 2 0 - 1 Zeitschrift für das gesamte Familienrecht Feisenberger, Strafprozeßordnung und Gerichtsverfassungsgesetz (1926) Gesetz über die Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit v. 17. 5. 1898 i.d.F. v. 20. 5. 1898 (RGBl. S. 771), zuletzt geändert durch Ges. v. 27. 6. 1970 (BGBl. I S. 911, 913), BGBl. III 3 1 5 - 1 Finanzgerichtsordnung v. 6.10.1965 (BGBl. I S. 1477), zuletzt geändert durch Ges. v. 17. 12. 1970 (BGBl. I S. 1727, 1729), BGBl. III 3 5 0 - 1 Floegel-Hartung, Straßenverkehrsrecht, Kurzkommentar, seit der 17. Aufl. fortgeführt von Jagusch, jetzt 19. Aufl. (1971) Frank, Das Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich, 18. Aufl. (1931) Gesetz über den Fristablauf am Sonnabend v. 10. 8. 1965 (BGBl. I S. 753), BGBl. III 4 0 0 - 2

Fuhrmann-D alcke FVG

s. Dalcke Gesetz über die Finanzverwaltung v. 6.9. 1950 (BGBl. S. 448), zuletzt geändert durch Ges. v. 12. 8. 1968 (BGBl. I S. 953,958), BGBl. III 6 0 0 - 1

G 10

Gesetz zur Beschränkung des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses (Gesetz zu Artikel 10 Grundgesetz) v. 13. 8. 1968 (BGBl. I S. 949), BGBl. III 1 9 0 - 2 Goltdammer's Archiv für Strafrecht (vor 1953: Archiv für Strafrecht und Strafprozeß) Generalbundesanwalt Gesetzblatt Gesetz, betreffend die Erwerbs- und Wirtschaftsgenossenschaften v. 1.5. 1889 i.d.F. v. 20.5. 1898 (RGBl. S. 810), zuletzt geändert durch Ges. v. 28. 8. 1969 (BGBl. I S. 1513, 1520) Gerland, Der Deutsche Strafprozeß (1927) Der Gerichtssaal (1849-1942) Gesetz zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten v. 23. 7. 1953 (BGBl. I S. 700), ÄndG v. 25. 8. 1969 (BGBl. I S. 1351), BGBl. III 2 1 2 6 - 4 Gewerbeordnung v. 21. 6. 1869 i.d.F. v. 26. 7. 1900 (RGBl. S. 871), zuletzt geändert durch Ges. v. 23. 6. 1970 (BGBl. I S. 805, 812), BGBl. III 7 1 0 0 - 1 Gesetz gegen gefahrliche Gewohnheitsverbrecher und über Maßregeln der Sicherung und Besserung v. 24.11.1933 (RGBl. I S. 995) Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland . v. 23. 5. 1949 (BGBL S. 1), letztes ÄndG v. 18. 3. 1971 (BGBl. I S. 207), BGBl. III 1 0 0 - 1 Giese, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, 8. Aufl. (1970) Gerichtskostengesetz v. 18. 6. 1878 i.d.F. v. 26. 7. 1957 (BGBl. I S. 941), zuletzt geändert durch Ges. v. 27. 6. 1970 (BGBl. I S. 911, 915), BGBl. III 3 6 0 - 1

GA (GoltdA) GBA GBl. GenG

Gerland GerS GeschlkrG

GewO

GewVerbrG

GG Giese GKG

XVI

Glaser GmbHG GMB1. GnO Goehler Goldschmidt GoltdA Graf zu Dohna Grau-Schäfer Grethlein-Brunner GrSSt. Gruchot Grunau GRUR GS GSNW GSSchl.-H GStA GV GVB1. GVB1. II GVG GWB Hahn Hamb. HambJVBl. Hans. HansGZ HansJVBl. HansOLGSt. HansRGZ HansRZ Hellwig Henkel HdR Hess.

Glaser, Handbuch des Strafprozesses, in Binding, Systematisches Handbuch der Deutschen Rechtswissenschaft (I 1883, II 1885) Gesetz, betreffend die Gesellschaften mit beschränkter Haftung v. 20.4.1892 i.d.F. v. 2 0 . 5 . 1 8 9 8 (RGBl. S. 846), zuletzt geändert durch Ges. v. 28. 8. 1969 (BGBl. I S. 1513) Gemeinsames Ministerialblatt Gnadenordnung (Landesrecht) Goehler, Gesetz über Ordnungswidrigkeiten, Kurzkommentar, 2. Aufl. (1970) Goldschmidt, Der Prozeß als Rechtslage (1925) s. GA Graf zu Dohna, Das Strafprozeßrecht, 3. Aufl. (1929) Grau-Schäfer, Strafvollstreckung, 2. Aufl. (1932) Grethlein-Brunner, Jugendgerichtsgesetz, Kommentar, 3. Aufl. (1969) Großer Senat in Strafsachen Beiträge zur Erläuterung des deutschen Rechts, begründet von Gruchot Grunau, Vollzug von Freiheitsentziehung, Teil I Kommentar zur Untersuchungshaftvollzugsordnung (1966) Gewerblicher Rechtsschutz und Urheberrecht Gesetzsammlung Sammlung des bereinigten Landesrechts Nordrhein-Westfalen (1945-56) Sammlung des schleswig-holsteinischen Landesrechts, 2 Bde. (1963) Generalstaatsanwalt Gemeinsame Verfügung (mehrerer Ministerien) Gesetz- und Verordnungsblatt Sammlung des bereinigten Hessischen Landesrechts Gerichtsverfassungsgesetz v. 27. 1. 1877 (RGBl. S. 41) i.d.F. v. 12.9. 1950 (BGBl. S. 513), zuletzt geändert durch Ges. v. 8. 9. 1969 (BGBl. I S. 1582), BGBl. III 3 0 0 - 2 Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen v. 27. 7. 1957 i.d.F. v. 3. 1. 1966 (BGBl. I S. 37), zuletzt geändert durch Ges. v. 22. 7. 1969 (BGBl. I S. 901), BGBl. III 7 0 3 - 1 Hahn, Die gesamten Materialien zur Strafprozeßordnung und dem Einführungsgesetz, Bd. I (1880), Bd. II (1881) Hamburg Hamburgisches Justizverwaltungsblatt Hanseatisch (hamburgisch) Hanseatische Gerichtszeitung (1880—1927) Hanseatisches Justizverwaltungsblatt (bis 1946/47) Entscheidungen des Hanseatischen Oberlandesgerichts in Strafsachen (1879-1932/33) Hanseatische Rechts- und Gerichtszeitschrift (1928—43), vorher: Hanseatische Rechtszeitschrift für Handel, Schiffahrt und Versicherung, Kolonial- und Auslandsbeziehungen sowie für Hansestädtisches Recht (1918-27) Hellwig, Psychologie und Vernehmungstechnik bei Tatbestandsermittlung, 4. Aufl. (1951) Henkel, Strafverfahrensrecht, Lehrbuch, 2. Aufl. (1968) Handwörterbuch der Rechtswissenschaft, herausgegeben v. Stier-Somlo und Elster (1926-37) Hessen XVII

HESt. HGB v. Hippel Holtkotten HRR HV i.d.F.v. IKV JA Jagusch JahrbÖR JahrbPostw. JAVollzO JBeitrO JB1. JBIRh-Pf. JBlSaar Jeschek Jessnitzer JGG JKassO JKostG JMB1. JMB1NRW John JR JurJahrb.: JuS Justiz JVB1. JVKostO JVollz. JW JZ Kalsbach Karl Peters Kaufmann Keller Kern Kern XVIII

Höchstrichterliche Entscheidungen, Sammlung von Entscheidungen der Oberlandesgerichte und der Obersten Gerichte in Strafsachen (1948-49) Handelsgesetzbuch v. 10.5.1897 (RGBl. S. 219), zuletzt geändert durch Ges. v. 28. 8. 1969 (BGBl. I S. 1513, 1523), BGBl. III 4 1 0 0 - 1 von Hippel, Strafprozeß recht (1941) s. Bonn.Komm. Höchstrichterliche Rechtsprechung (1928-42) Hauptverhandlung in der Fassung vom Internationale Kriminalistische Vereinigung Juristische Arbeitsblätter für Ausbildung und Examen Jagusch, Straßenverkehrsrecht, Kurzkommentar, 19. Aufl. (1971), vorher Floegel-Hartung Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart Jahrbuch des Postwesens (1937—41/42) Jugendarrestvollzugsordnung v. 12. 8. 1966 (BGBl. I S. 505), BGBl. III 4 5 1 - 1 - 1 Justizbeitreibungsordnung v. 11.3.1937 (RGBl. I S. 298), zuletzt geändert durch Ges. v. 27.6. 1970 (BGBl. I S. 911, 915), BGBl. III 3 6 5 - 1 Justizblatt Justizblatt Rheinland-Pfalz Justizblatt des Saarlandes Jeschek, Lehrbuch des Strafrechts, Allgemeiner Teil (1969) Jessnitzer, Der gerichtliche Sachverständige, 3. Aufl. (1966) Jugendgerichtsgesetz v. 4 . 8 . 1953 (BGBl. I S. 751), zuletzt geändert durch Ges. v. 18.3.1971 (BGBl. I S. 243, 254), BGBl. II 4 5 1 - 1 Justizkassenordnung Justizkostengesetz (Landesrecht) Justizministerialblatt Justizministerialblatt für das Land Nordrhein-Westfalen John, Strafprozeßordnung (I 1884, II 1888, III 1889) Juristische Rundschau Juristen-Jahrbuch Juristische Schulung Die Justiz, Amtsblatt des Justizministeriums Baden-Württemberg Justizverwaltungsblatt VO über Kosten im Bereich der Justizverwaltung v. 14.2.1940 (RGBl. I S. 357), zuletzt geändert durch Ges. v. 18. 3. 1971 (BGBl. I S. 243, 254), BGBl. III 3 6 3 - 1 Jugendstrafvollzugsordnung; s. auch JAVollzO Juristische Wochenschrift Juristen-Zeitung Kalsbach, Bundesrechtsanwaltsordnung, Kommentar, 1960 s. Peters Kaufmann, Der polizeiliche Eingriff in Freiheiten und Rechte (1951) Keller, Die Strafprozeßordnung für das Deutsche Reich nebst Einführungsgesetz, 2. Aufl. (1882) Kern, Gerichtsverfassungsrecht, 4. Aufl. (1965) Kern, Strafverfahrensrecht, Kurzlehrbuch, 8. Aufl. (1967), dann:

Kern-Roxin KG KGJ

Kl.

Klein Kleinknecht-Müller

KO

Kohlrausch Kohlrausch— Lange KostÄndG

KostMaßnG von Kries Krim. Kühn L Lackner-Maassen LegPer. LG von Lilienthal LK

LM Löffler Löwenstein LPG Lucas—Dürr LuftVG LVerf. LZ von Mangoldt—Klein

Kern-Roxin, Strafverfahrensrecht, Kurzlehrbuch, jetzt 10. Aufl. (1970) Kammergericht Jahrbuch der Entscheidungen des Kammergerichts in Sachen der freiwilligen Gerichtsbarkeit, in Kosten-, Stempel- und Strafsachen ( 1 8 8 1 - 1 9 2 2 ) Kleinknecht, Strafprozeßordnung mit G V G und Nebengesetzen, Kurzkommentar, 29. Aufl. (1970); bis zur 22. Aufl. (1960) von Schwarz, bis zur 28. Aufl. (1969) von SchwarzKleinknecht s. von Mangoldt-Klein Kleinknecht-Müller, Kommentar zur Strafprozeßordnung und zum Gerichtsverfassungsgesetz, begründet von Kleinknecht, Müller und Rittberger, 4. Aufl. (1958) von Kleinknecht und Müller; jetzt 6. Aufl. (1966) von Müller und Sax Konkursordnung v. 10.2.1877 ( R G B l . S. 351) i.d.F. v. 2 0 . 5 . 1 8 9 8 ( R G B l . S. 612), zuletzt geändert durch Ges. v. 27. 6. 1970 (BGBl. I S. 911, 914), BGBl. I I I 3 1 1 - 4 Kohlrausch, Strafprozeßordnung und Gerichtsverfassungsgesetz, 24. Aufl. (1936) Kohlrausch—Lange, Strafgesetzbuch, Kommentar, 43. Aufl. (1961) Gesetz zur Änderung und Ergänzung kostenrechtlicher Vorschriften v. 26.7. 1957 (BGBl. I S. 861), letztes Ä n d G v. 29. 10. 1969 (BGBl. I S. 2049), BGBl. I I I 3 6 9 - 1 Gesetz über Maßnahmen auf dem Gebiet des Kostenrechts v. 7. 8. 1952 (BGBl. I S. 401), BGBl. I I I 3 6 3 - 2 von Kries, Lehrbuch des deutschen Strafprozeßrechts (1892) Kriminalistik, Zeitschrift für die gesamte kriminalistische Wissenschaft und Praxis Kühn, Abgabenordnung / Finanzgerichtsordnung, 9. Aufl. (1968) Leitsatz Lackner-Maassen, Strafgesetzbuch, Kommentar, 6. Aufl. (1970); bis zur 3. Aufl. (1959) Dreher-Maassen Legislaturperiode Landgericht von Lilienthal, Strafprozeßrecht (1923) Leipziger Kommentar zum Strafgesetzbuch, begründet von Ebermayer, Lobe und Rosenberg, 9. Aufl., Lieferung 1 — 10 (1970) herausgegeben von Baldus und Willms Nachschlagewerk des Bundesgerichtshofs (Loseblattsammlung), herausgegeben von Lindemaier, Möhring u. a. Löffler, Presserecht, 2. Aufl., Bd. I Allgemeines Presserecht (1969), Bd. II Landespressegesetze (1968) Löwenstein, Die Revision in Strafsachen, 2. Aufl. (1919) Landespressegesetz Lucas—Dürr, Anleitung zur strafrechtlichen Praxis, 5. Aufl. (1931) Luftverkehrsgesetz v. 1. 8. 1922 i.d.F. v. 4. 11. 1968 (BGBl. I S. 1113), geändert durch Ges. v. 23. 6. 1970 (BGBl. I S. 805, 817), BGBl. I I I 9 6 - 1 Landes verfass ung Leipziger Zeitschrift für Deutsches Recht (1907—33) von Mangoldt—Klein, Das Bonner Grundgesetz, 2. Aufl., 6. Lieferung (1969), 7. Lieferung (1970) s. Hahn

Mat.

XIX

MatStrRRef. Maunz—Düring—Herzog Maurach MDR Meves Meyer—Höver MittJKV

Materialien zur Strafrechtsreform (1954) Maunz—Düring—Herzog, Grundgesetz, Kommentar, 3. Aufl. (1970) Maurach, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 4. Aufl. (1971); Besonderer Teil, 3. Aufl. (1959) Monatsschrift für Deutsches Recht Meves, Das Strafverfahren nach der deutschen Strafprozeßordnung (1882) Meyer—Höver, Gesetz über die Entschädigung von Zeugen und Sachverständigen, 13. Aufl. (1968) mit Nachtrag (1969) Mitteilungen der Internationalen Kriminalistischen Vereinigung (1889-1914; 1926-33)

MiStra.

Anordnung über Mitteilung in Strafsachen v. 15. 1. 1958 — bundeseinheitlich — (BAnz. Nr. 12), zuletzt geändert durch AV v. 24. 3. 1970 (BAnz. Nr. 59)

Mot. MRG MRK

Begründung zur Strafprozeßordnung bei Hahn (s. dort) Militärregierungsgesetz Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten v. 4. 11. 1950; Ges. v. 7. 8. 1952 (BGBl. II S. 685, 953), Bek. v. 15. 12. 1953 (BGBl. 1954 II S. 14) Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform Monatsschrift für Kriminalpsychologie und Strafrechtsreform (1904/05-36) Militärstrafgerichtsordnung i.d.F. v. 29.9.1936 (RGBl. I S. 755) Müller—Sax, Kommentar zur Strafprozeßordnung und zum Gerichtsverfassungs— und Ordnungswidrigkeitengesetz, begründet von Kleinknecht, Müller und Reitberger (KMR), seit 4. Aufl. (1958) von Kleinknecht und Müller, 6. Aufl. (1966) Abkommen zwischen den Parteien des Nordatlantikvertrags v. 19. 6. 1951 über die Rechtsstellung ihrer Truppen (BGBl. 1961 II S. 1183, 1190), Bek. v. 16. 6. 1963 (BGBl. II S. 745) Niedersachsen Niedersächsische Rechtspflege s. Entwurf neue Fassung Niedersächsisches Gesetz— und Verordnungsblatt, Sonderband I und II, Sammlung des bereinigten niedersächsischen Rechts Niese, Doppelfunktionelle Prozeßhandlungen (1950) Neue Justiz Neue Juristische Wochenschrift Notverordnung VO zur Sicherung von Wirtschaft und Finanzen v. 1.12. 1930 (RGBl. I S . 517) VO zur Sicherung von Wirtschaft und Finanzen v. 6.10.1931 (RGBl. I S. 537, 563) VO zur Sicherung von Wirtschaft und Finanzen und zum Schutz des inneren Friedens v. 8. 12. 1931 (RGBl. I S. 743) VO über Maßnahmen auf dem Gebiet der Rechtspflege und Verwaltung v. 14. 6. 1932 (RGBl. I S. 285) Nordrhein-Westfalen Osterreichische Juristen—Zeitung Entscheidungen des Obersten Gerichtshofes für die Britische Zone in Strafsachen (1949/50)

MSchrKrim. MSchrKrimPsych. MStGO Müller—Sax

NATO-Truppenstatut Nds. NdsRpfl. NE I, II, III n. F. Nieders. GVB1. Sb. I, II Niese NJ NJW NotVO

NRW ÖsÜZ OGHSt.

XX

OLGSt. Olshausen—Niethammer OrgStA

OVG OWiG

O W i G 1952

Peters

Entscheidungen der Oberlandesgerichte zum Straf- und Strafverfahrensrecht von Olshausen, Kommentar zum Strafgesetzbuch, 12. Aufl. (1942) Anordnung über Organisation und Dienstbetrieb der Staatsanwaltschaften v. 1.6. 1960, zuletzt geändert zum 1.4. 1970 (bundeseinheitlich) Oberverwaltungsgericht Gesetz über Ordnungswidrigkeiten v. 24. 5. 1968 (BGBl. I S. 481), zuletzt geändert durch Ges. v. 27.6. 1970 (BGBl. I S. 911, 915), BGBl. III 454-1, vorher: Gesetz über Ordnungswidrigkeiten v. 25. 3. 1952 (BGBl. I S. 177), zuletzt geändert durch Ges. v. 26. 7. 1957 (BGBl. II S. 713); am 1. 10. 1968 außer Kraft getreten Peters, Strafprozeß, Lehrbuch, 2. Aufl. (1966) mit Nachtrag (1970)

Piller—Hermann

Piller—Hermann, sammlung

Pohlmann Polizei PostO

Pohlmann, Strafvollstreckungsordnung, 4. Aufl. (1966) s. Die Polizei Postordnung v. 16.5.1963 (BGBl. I S. 341), ÄndVO v. 19. 5. 1964 (BGBl. I S. 327), BGBl. III 9 0 1 - 1 - 1 Potrykus, Kommentar zum Jugendgerichtsgesetz, 4. Aufl. (1955) Preußen Preußische Gesetzsammlung (1810—1945) Pressegesetz (Landespressegesetz — L P G —) Protokoll Puchelt, Die Strafprozeßordnung für das Deutsche Reich

Potrykus Pr. PrGS PrG Prot. Puchelt PVG RA RAbgO RAHG RAussch. RBerG RdErl. RdK RDStH RDStO Rebmann—Roth—Hermann Recht Reg. RegBl. RG RGBl., RGBl. I, II RGRspr. RGSt. RGZ RHG (RAHG)

Justizverwaltungsvorschriften,

Loseblatt-

(1881)

Polizeiverwaltungsgesetz Rechtsanwalt s. A O s. R H G Rechtsausschuß Rechtsberatungsgesetz v. 13.12.1935 (RGBl. I S. 1478), ÄndG v. 24. 5. 1968 (BGBl. I S. 503), BGBl. III 303-12 Runderlaß Das Recht des Kraftfahrers (1926-43, 1949-55) Entscheidungen des Reichsdienststrafhofs (1939—41) Reichsdienststrafordnung v. 26. 1. 1937 (RGBl. I S. 71) Rebmann—Roth—Hermann, Gesetz über Ordnungswidrigkeiten, Loseblattkommentar (1968) Das Recht, begründet von Soergel (1897-1944) Regierung Regierungsblatt Reichsgericht Reichsgesetzblatt, von 1922 bis 1945 Teil I und II Rechtsprechung des Reichtsgerichts in Strafsachen (1879 bis 1888) Entscheidungen des Reichsgerichts in Strafsachen Entscheidungen des Reichsgerichts in Zivilsachen Gesetz über die innerdeutsche Rechts- und Amtshilfe in Strafsachen v. 2.5.1953 (BGBl. I S. 161), letztes ÄndG v. 19. 12. 1964 (BGBl. I S. 1067), BGBl. III 312-3

XXI

RHGDVO Rh-Pf. RiAA RiJGG RiOWiG

RiStBV RiStV RiVASt. RKG RMB1. RMilGE Rosenberg Rosenfeld Rosenfeld StrafprR Rotberg Roxin Rpfleger RpflG Rspr. RT RTDrucks. RTVerh. RVerf. RVO SaBremR Sachs Arch. SächsOLG Sarstedt Sauer Sauer Grdl. SbdFristablG Schäfer-Dalcke SchiedsmZ SchlH SchlHA SchlHOLG Schmid XXII

Verordnung zur Durchführung des Gesetztes über die innerdeutsche Rechts- und Amtshilfe in Strafsachen v. 23. 12. 1953 (BGBl. I S. 1569), BGBl. III 3 1 2 - 3 - 1 Rheinland-Pfalz Grundsätze des anwaltlichen Standesrechts — Richtlinien gem. § 177 II 2 BRAO v. 3. 5. 1962 Richtlinien zum Jugendgerichtsgesetz v. 15. 2. 1955, zuletzt geändert ab 1. 5. 1970 (bundeseinheitlich) Gemeinsame Anordnung über die Zuständigkeit der Staatsanwaltschaft zur Verfolgung von Ordnungswidrigkeiten und über die Zusammenarbeit mit den Verwaltungsbehörden v. 14. 11. 1968 (bundeseinheitlich) Richtlinien für das Straf- und Bußgeldverfahren v. 1. 1. 1970 (bundeseinheitlich) Richtlinien für das Strafverfahren v. 1. 12. 1966 (BAnz. Nr. 239), bundeseinheitlich Richtlinien für den Verkehr mit dem Ausland in strafrechtlichen Angelegenheiten v. 15. 1. 1959 (BAnz. Nr. 9), bundeseinheitlich Reichskriegsgericht Reichsministerialblatt, Zentralblatt für das Deutsche Reich (1923-45) Entscheidungen des Reichsmilitärgerichts Rosenberg, Lehrbuch des Zivilprozeßrechts, 10. Aufl., 2 Bde., Bd. I 1969 Rosenfeld, Der Reichsstrafprozeß, 4 . - 5 . Aufl. (1912) Rosenfeld, Deutsches Strafprozeßrecht (1926) Rotberg, Gesetz über Ordnungswidrigkeiten, 4. Aufl. (1969), neubearbeitet von Kleinwefers, Boujong und Wilts s. Kern—Roxin • Der deutsche Rechtspfleger Rechtspflegergesetz v. 5. 11. 1969 (BGBl. I S. 2065), ÄndG v. 27. 6. 1970 (BGBl. I S. 911), BGBl. III 3 0 2 - 2 Rechtsprechung Reichstag Drucksachen des Reichtstags Verhandlungen des Reichtstags s. WeimVerf. Reichsversicherungsordnung v. 19. 7. 1911 i. d. F. v. 15. 12. 1924 (RGBl. I S. 779), zuletzt geändert durch Ges. v. 22. 7. 1970 (BGBl. I S. 1846, 1849), BGBl. III 8 2 0 - 1 Sammlung des bremischen Rechts (1964) Sächsisches Archiv für Rechtspflege, seit 1924 (bis 1941/42) Archiv für Rechtspflege in Sachsen, Thüringen und Anhalt Annalen des Sächsischen Oberlandesgerichts zu Dresden (1880-1920) Sarstedt, Die Revision in Strafsachen, 4. Aufl. (1962) Sauer, Allgemeine Prozeß rechtslehre (1951) Sauer, Grundlagen des Prozeßrechts, 2. Aufl. (1929) s. FristablSbdG s. Dalcke Schiedsmannszeitung (1926—45), seit 1950 Der Schiedsmann Schleswig-Holstein Schleswig-Holsteinische Anzeigen Schleswig-Holsteinisches Oberlandesgericht zu Schleswig Werner Schmid, Die Verwirkung von Verfahrensrügen im Strafprozeß (1967)

Schmidt-Räntsch Schönke-Schröder Schulz Schwarz Schwarz-Dreher Schwarz-Kleinknecht

Schwinge SchwZStr. SeemG

SeufïBl. SGG

SGV.NW SJZ SortenSchG SprengstG StA Staats G H StaatsschStrafsG

StÄG Stein-Jonas

StenB Stenglein Stenglein Lehrb. StGB

StHaftEntschG *

Stock StPÄG

StPO

StPO-Entw.

Schmidt-Räntsch, Deutsches Richtergesetz (1962) Schönke-Schröder, Strafgesetzbuch, Kommentar, 15. Aufl. (1970) Georg Schulz, Strafprozeßordnung, 3. Aufl. (1966) Schwarz, Strafprozeßordnung, Kurzkommentar, 22. Aufl. (1960), fortgeführt von Dreher, jetzt 32. Aufl. (1970) s. Schwarz Schwarz-Kleinknecht, Strafprozeßordnung mit G V G und Nebengesetzen, Kurzkommentar, 28. Aufl. (1969); 29. Aufl. (1970) von Kleinknecht Schwinge, Grundlagen des Revisionsrechts, 2. Aufl. (1960) Schweizer Zeitschrift für Strafrecht Seemannsgesetz v. 26. 7. 1957 (BGBl. II 713), zuletzt geändert durch Ges. v. 23.6.1970 (BGBl. I S. 805, 817), BGBl. III 9513-1 Seufferts Blätter für Rechtsanwendung (1836-1913) Sozialgerichtsgesetz v. 3.9. 1953 i.d.F. v. 23.8. 1958 (BGBl. I S. 613), zuletzt geändert durch Ges. v. 27. 7. 1969 (BGBl. I S. 946,953), BGBl. III 330-1 Sammlung des bereinigten Gesetz- und Verordnungsblatts für das Land Nordrhein-Westfalen (Loseblattsammlung) Süddeutsche Juristenzeitung (1946—50), dann Juristenzeitung Gesetz über den Schutz von Pflanzensorten (Sortenschutzgesetz) v. 20.5.1968 (BGBl. I S.429), BGBl. III 7822-2 Gesetz über explosionsgefahrliche Stoffe (Sprengstoffgesetz) v. 25.8. 1969 (BGBl. I S. 1358, ber. BGBl. 19701 S. 224), BGBl. III 7134-1 Staatsanwalt, Staatsanwaltschaft Staatsgerichtshof Gesetz zur allgemeinen Einführung eines zweiten Rechtszuges in Staatsschutz-Strafsachen v. 8. 9. 1969 (BGBl. I S. 1582), BGBl. III 3 0 0 - 2 - 1 s. StRÄndG Stein-Jonas, Zivilprozeßordnung, bearbeitet seit 1953 von Pohle, seit 1967 fortgeführt von Grunsky, Leipold, Münzberg Schlosser, Schumann; 19. Aufl., 11. Lieferung (1970) Stenographischer Bericht Stenglein, Kommentar zur Strafprozeßordnung, 3. Aufl. (1898) Stenglein, Lehrbuch des Strafprozeßrechts (1878) Strafgesetzbuch v. 15.5. 1871 i.d.F. v. 1.9. 1969 (BGBl. I S. 1445), zuletzt geändert durch Ges. v. 24. 3. 1971 (BGBl. I S. 265), BGBl. III 4 5 0 - 2 Gesetz, betreffend die Entschädigung der im Wiederaufnahmeverfahren freigesprochenen Personen v. 20.5. 1898 (RGBl. S. 345), zuletzt geändert durch Ges. v. 8. 9. 1969 (BGBl. I S. 1582, 1585), BGBl. III 313-1 Stock, Strafprozeßrecht, Grundriß (1952) Gesetz zur Änderung der Strafprozeßordnung und des Gerichtsverfassungsgesetzes v. 19.12.1964 (BGBl. I S. 1067), BGBl. III 312-6 Strafprozeßordnung v. 1.2.1877 (RGBl. S. 253) i.d.F. v. 17.9. 1965 (BGBl. I S. 1374), zuletzt geändert durch Ges. v. 18. 3. 1971 (BGBl. I S. 243, 254), BGBl. III 312-2 s. Entwurf

* aufgehoben durch § 17 StrEG

XXIII

StrafrAbh. StRÄndG (StÄG)

Straßen VSichG StrEG StRegVO

StrFG

StrRG (StrRRefg)

st.Rspr. StTilgG

StVG StVO StVollstrO StVollzGK StVZO

XXIV

Strafrechtliche Abhandlungen, herausgegeben von Bennecke, dann von Beling, v. Lilienthal und Schoetensack Strafrechtsänderungsgesetz 1. - v. 30. 8. 1951 (BGBl. I S. 739), BGB III 4 5 0 - 3 2. — v. 6.3. 1953 (BGBl. I S . 42) 3. — v. 4 . 8 . 1 9 5 3 (BGBl. I S. 735), geändert durch Ges. v. 25. 6. 1969 (BGBl. I S. 645), BGBl. III 4 5 0 - 4 4. - v. 11. 6. 1957 (BGBl. I S. 597), zuletzt geändert durch Ges. v. 20. 5. 1970 (BGBl. I S. 505), BGBl. III 4 5 0 - 5 5. - v. 24. 6. 1960 (BGBl. I S. 477), BGBl. III 4 5 0 - 6 6. - v. 30. 6. 1960 (BGBl. I S. 478) 7. - v. 1. 6. 1964 (BGBl. I S. 337) 8. — v. 25.6.1968 (BGBl. I S. 741), letztes ÄndG v. 24. 3. 1971 (BGBl. I S. 265), BGBl. III 4 5 0 - 1 1 9. - v. 4. 8. 1969 (BGBl. I S. 1065) 1 0 . - v . 7. 4. 1970 (BGBl. I S. 313) Gesetz zur Sicherung des Straßenverkehrs (Straßenverkehrssicherungsgesetz) v. 19. 12. 1952 (BGBl. I S. 832) Zweites vom 26. 11. 1964 (BGBl. I S. 921) Gesetz über die Entschädigung für Strafverfolgungsmaßnahmen v. 8.3. 1971 (BGBl. I S . 157), BGBl. III 3 1 3 - 1 ; 3 1 3 - 2 Strafregisterverordnung v. 12.6.1920 i.d.F. v. 17.2.1934 (RGBl. I S. 140), zuletzt geändert durch Ges. v. 25. 6. 1969 (BGBl. I S. 645), BGBl. III 3 1 2 - 4 ; ab 1. 1. 1972 aufgehoben durch das Bundeszentralregistergesetz —BZRG— v. 18.3. 1971 (BGBl. I S . 243) Straffreiheitsgesetz - 1949 v. 31. 12. 1949 (BGBl. IS. 37) - 1954 v. 17. 7. 1954 (BGBl. I S. 203) - 1968 v. 9.7.1968 (BGBl. I S. 773), BGBl. III 4 5 0 - 1 2 - 1970 v. 20. 5. 1970 (BGBl. I S. 509) Gesetz zur Reform des Strafrechts 1. - v. 25. 6. 1969 (BGBl. I S. 645), zuletzt geändert durch Ges. v. 14.8.1969 (BGBl. I S. 1112), BGBl. III 450-13-1 2. — v. 4 . 7 . 1 9 6 9 (BGBl. I S. 717), BGBl. III 4 5 0 - 1 3 - 2 3. - v. 20. 5. 1970 (BGBl. I S. 505) ständige Rechtsprechung Gesetz über die beschränkte Auskunft aus dem Strafregister und die Tilgung von Strafvermerken v. 9.4. 1920 (RGBl. S. 507), zuletzt geändert durch Ges. v. 25. 6. 1969 (BGBl. I S. 645), BGBl. III 3 1 2 - 5 ; ab 1. 1. 1972 aufgehoben durch das Bundeszentralregistergesetz —BZRG— vom 18.3. 1971 (BGBl. I S. 243) Straßenverkehrsgesetz v. 3.5.1909 i.d.F. v. 19.12.1952 (BGBl. I S. 837), zuletzt geändert durch Ges. v. 23. 6. 1970 (BGBl. I S. 805, 815), BGBl. III 9231-1 Straßenverkehrsordnung v. 13. 11. 1937 i.d.F. v. 16. 11. 1970 (BGBl. I S . 1565, ber. 1971 S. 38), BGBl. III 9233-1 Strafvollstreckungsordnung v. 15.2.1956 (BAnz. Nr. 42), zuletzt geändert durch AV v. 22.6. 1970 (BAnz. Nr. 116); bundeseinheitlich Strafvollzugsgesetz-Kommissionsentwurf, herausgegeben vom Bundesministerium der Justiz Straßenverkehrs-Zulassungs-Ordnung v. 13.11.1937 i.d.F. v. 6.12.1960 (BGBl. I S. 897), ÄndVO v. 16.11.1970 (BGBl. I S. 1615), BGBl. III 9232-1

Thilo UdG UHaftEntschG *

UrhG

UVollzO UWG

UZwG

VDA VDB

VerbringungsverbG

VereinfV O

VereinhG

VereinsG

VerfGH Verh.(Vhdlgen) VerkMitt. VermStrVO VG VGH Vhdlgen VO VOB1. Voitus VRS

Thilo, Die Strafprozeßordnung für das Deutsche Reich (1878) Urkundsbeamter der Geschäftsstelle Gesetz, betreffend die Entschädigung für unschuldig erlittene Untersuchungshaft v. 14. 7. 1904 (RGBl. S. 321), zuletzt geändert durch Ges. v. 8.9. 1969 (BGBl. I S. 1582, 1585), BGBl. III 313-2 Gesetz über Urheberrecht und verwandte Schutzrechte (Urheberrechtsgesetz) v. 9. 9. 1965 (BGBl. I S. 1273), zuletzt geändert durch Ges. v. 23. 6. 1970 (BGBl. I S. 805, 808), BGBl. III 4 4 0 - 1 Untersuchungshaftvollzugsordnung v. 12.2.1953 (bundeseinheitlich), letzte Änderungen gültig seit 1.3. 1971 Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb v. 7.6. 1909 (RGBl. S. 499), zuletzt geändert durch Ges. v. 23.6. 1970 (RGBl. I S. 805, 808), BGBl. III 4 3 - 1 Gesetz über den unmittelbaren Zwang bei Ausübung öffentlicher Gewalt durch Vollzugsbeamte des Bundes v. 10.3.1961 (BGBl. I S. 165), geändert durch Ges. v. 25. 6. 1969 (BGBl. I S. 645, 664) BGBl. III 201-5 Vergleichende Darstellung des Strafrechts, Allgemeiner Teil, Bd. 1 - 6 Vergleichende Darstellung des Strafrechts, Besonderer Teil, Bd. 1 - 9 Gesetz zur Überwachung strafrechtlicher und anderer Verbringungsverbote v. 24.5.1961 (BGBl. I S. 607), geändert durch Ges. v. 24. 5. 1968 (BGBl. I S. 503, 515), BGBl. III 12-2 Vereinfachungsverordnung V O über Maßnahmen auf dem Gebiet der Gerichtsverfassung und Rechtspflege v. 1. 9. 1939 (BGBl. I S. 1658) V O zur weiteren Vereinfachung der Strafrechtspflege v. 13.8. 1942 (RGBl. I S . 508) Dritte V O zur Vereinfachung der Strafrechtspflege v. 29. 5. 1943 (RGBl. I S . 342) Gesetz zur Wiederherstellung der Rechtseinheit auf dem Gebiete der Gerichtsverfassung, der bürgerlichen Rechtspflege, des Strafverfahrens und des Kostenrechts v. 12. 9. 1950 (BGBl. S. 455), BGBl. III 300-6 Gesetz zur Regelung des öffentlichen Vereinsrechts (Vereinsgesetz) v. 5. 8. 1964 (BGBl. I S. 593), zuletzt geändert durch Ges. v. 25. 6. 1968 (BGBl. I S. 741, 752), BGBl. III 2180-1 Verfassungsgerichtshof Verhandlungen des Bundestages (BT), des Deutschen Juristentages (DJT) usw. Verkehrsrechtliche Mitteilungen V O über Vermögensstrafen und Bußen v. 6. 2. 1924 (RGBl. I S. 44) Verwaltungsgericht Verwaltungsgerichtshof s. Verh. Verordnung; s. auch N o t V O Verordnungsblatt Voitus, Kommentar zur Strafprozeßordnung (1877) Verkehrsrechts-Sammlung

* aufgehoben durch § 17 StrEG

XXV

VwGO VwZG Wach WDO WeimVerf. Welzel Werner Schmid Wieczorek WiStG

WStG WZG ZAkDR ZfZ ZollG ZPO ZRP ZStW ZuSEntschG ZustErgG

ZVG

ZWehrR ZZP

XXVI

Verwaltungsgerichtsordnung v. 21. 1. 1960 (BGBl. I S. 17), zuletzt geändert durch Ges. v. 25. 6. 1969 (BGBl. I S. 645, 669), BGBl. III 3 4 0 - 1 Verwaltungszustellungsgesetz v. 3. 7. 1952 (BGBl. I S. 379), zuletzt geändert durch Ges. v. 6. 10. 1965 (BGBl. I S. 1477), BGBl. III 2 0 1 - 3 Wach, Handbuch des Deutschen Zivilprozeßrechts (1885) Wehrdisziplinarordnung v. 15.3.1957 i.d.F. v. 9 . 6 . 1 9 6 1 (BGBl. I S. 697), zuletzt geändert durch Ges. v. 24. 5. 1968 (BGBl. I S. 503, 523), BGBl. III 5 2 - 2 Weimarer Verfassung, Verfassung des Deutschen Reichs v. 11.8. 1919 (RGBl. S. 1383) Welzel, Das deutsche Strafrecht, 11. Aufl. (1969) s. Schmid Wieczorek, Zivilprozeßordnung und Gerichtsverfassungsgesetz, 2. Aufl. (1966) Gesetz zur weiteren Vereinfachung des Wirtschaftsstrafrechts (Wirtschaftsstrafgesetz 1954) v. 9 . 7 . 1 9 5 4 (BGBl. I S. 175), zuletzt geändert durch Ges. v. 24. 5. 1968 (BGBl. I S. 503, 522), BGBl. III 4 5 3 - 1 1 Wehrstrafgesetz v. 30. 3. 1957 i.d.F. v. 1. 9. 1969 (BGBl. I S. 1502), BGBl. III 4 5 2 - 2 Warenzeichengesetz v. 5.5. 1936 i.d.F. v. 2. 1. 1968 (BGBl. I S. 29), zuletzt geändert durch Ges. v. 23. 6. 1970 (BGBl. I S. 805, 808), BGBl. III 4 2 3 - 1 Zeitschrift der Akademie für Deutsches Recht (1934—44) Zeitschrift für Zölle und Verbrauchssteuern Zollgesetz v. 14.6.1961 i.d.F. v. 18.5.1970 (BGBl. I S. 529), BGBl. III 6 1 3 - 1 Zivilprozeßordnung v. 30. 1. 1877 i.d.F. v. 12. 9. 1950 (BGBl. I S. 533), zuletzt geändert durch Ges. v. 27. 6. 1970 (BGBl. I S. 911, 912), BGBl. III 3 1 0 - 4 Zeitschrift für Rechtpolitik Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft Gesetz über die Entschädigung von Zeugen und Sachverständigen v. 26. 7. 1957 i.d.F. v. I. 10. 1969 (BGBl. I S. 1757), BGBL III 3 6 7 - 1 Gesetz zur Ergänzung von Zuständigkeiten auf den Gebieten des Bürgerlichen Rechts, des Handelsrechts und des Strafrechts (Zuständigkeitsergänzungsgesetz) v. 7.8. 1952 (BGBl. I S. 407), BGBl. III 3 1 0 - 1 Gesetz über die Zwangsversteigerung und die Zwangsverwaltung (Zwangsversteigerungsgesetz) v. 24. 3. 1897 i.d.F. v. 20.5. 1898 (RGBl. S. 369, 713), letztes ÄndG v. 4. 12. 1968 (BGBl. I S. 1295), BGBl. III 3 1 0 - 1 4 Zeitschrift für Wehrrecht (1936/37-44) Zeitschrift für Zivilprozeß, begründet von Busch

Einleitung Übersicht Kap.

1. Die Quellen des deutschen Strafverfahrensrechts und ihr Verhältnis zueinander 2. Zur Entstehungsgeschichte der StPO und des GVG 3. Die weitere Entwicklung der StPO und des GVG 1. Die Entwicklung bis zum Beginn des 1. Weltkrieges (1914) 2. Die Gesetze von 1914 bis 1924 3. Die Gesetze von 1925 bis 1932 4. Die Gesetzgebung von 1933 bis 1945 5. Die Nachkriegsgesetzgebung bis zur Entstehung der Bundesrepublik 6. Die Rechtsentwicklung in der Bundesrepublik 4. Reformversuche und Reformbestrebungen 5. Wesen, Zweck, Ziel, Gliederung und Verlauf des Strafverfahrens. Die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit, der Fürsorgepflicht und des fair play 6. Verhältnis des Strafverfahrens zu anderen Verfahren 1. Strafprozeß und Zivilprozeß 2. Strafprozeß und Verwaltungsstrafverfahren 3. Strafprozeß und Disziplinarverfahren 7. Strafprozeß und Justizverwaltung 8. Die Prozeßbeteiligten 9. Die Prozeßhandlungen 10. Die Verfahrensvoraussetzungen (Verfahrenshindernisse) A. Allgemeines 1. Begriff und Wesen der Prozeßvoraussetzungen 2. Einteilung der Prozeßvoraussetzungen 3. Zeitliche Geltung 4. Prüfung von Amts wegen, Freibeweis 5. Prüfung durch das Rechtsmittelgericht 6. Zusammentreffen von Verfahrenshindernissen 7. Geltung des Grundsatzes „in dubio pro reo" 8. Verfahren nach erkanntem Verfahrenshindernis. Folgen der Nichtbeachtung

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Kap.

9. Freispruch trotz fehlender Prozeßvoraussetzung B. Die hauptsächlichen Prozeßvoraussetzungen (Verfahrenshindernisse) 1. Klage und Eröffnungsbeschluß 2. Gerichtsbarkeit und Gerichtsunterworfenheit 3. Unberührtheit der Sache (Rechtshängigkeit und Verbrauch der Strafklage durch die Rechtskraft) 4. Niederschlagung 5. Verjährung 6. Eigenschaften und Beziehungen der Beteiligten a) Lebensalter des Beschuldigten b) Verhandlungsfähigkeit, Anwesenheit c) Zugehörigkeit zu einem Gesetzgebungsorgan d) Klagerecht und Prozeßfähigkeit des Klägers e) im Adhäsionsverfahren 0 Zeugen und Untersuchungspersonen 7. Erldärungen Dritter. Vorentscheidungen einer anderen Stelle a) Strafantrag des Verletzten b) Bejahung des besonderen öffentl. Interesses (§ 232 StGB) c) Strafverlangen, Ermächtigung und ähnliche Erklärungen von Behörden d) Auflösung usw. der Ehe in den Fällen der §§ 170,238 StGB e) Vorabentscheidungen 0 Rücksicht auf das Verhältnis zu einer ausländischen Behörde 8. Sachliche und örtliche Zuständigkeit 9. Sühneversuch 11. Die Prozeßmaximen A. Allgemeines B. Die einzelnen Grundsätze 1. Der Anklagegrundsatz (Trennung von ermittelnder und entscheidender Tätigkeit. Durchbrechungen des Grundsatzes und Reformwünsche bzgl. Voruntersuchung, Eröffnungsbeschluß und Kreuzverhör)

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1

Einleitung (Schäfer) 2. Das Anklagemonopol des Staatsanwalts 3. Die Verfolgungspflicht 4. Die Pflicht zur Wahrheitserforschung 5. Mündlichkeit und Unmittelbarkeit 6. Das Beweisantragsrecht der Beteiligten

7. Der Grundsatz des rechtlichen Gehörs 8. Öffentlichkeit der Verhandlung 9. Der gesetzliche Richter 12. Beweisverbote 13. Mitwirkung des Volkes bei der Rechtsprechung 14. Zur Frage des nichtigen Urteils

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1.

Die Quellen des deutschen Strafverfahrensrechts und ihr Verhältnis zueinander Die Reichsgesetzgebung erfüllte nach der Reichsgründung 1871 die Aufgabe, ein einheitliches Verfahrensrecht für das Reichsgebiet herzustellen, dadurch, daß sie im Januar und Februar 1877 die mit dem Namen der „großen Reichs-Justizgesetze" bezeichneten vier Gesetze, nämlich das Gerichsverfassungsgesetz, die Strafprozeßordnung, die Zivilprozeßordnung und die Konkursordnung, je mit einem Einfuhrungsgesetz erließ. Jene Gesetze wurden als Teile eines einheitlichen Ganzen geschaffen. Namentlich hängen die drei erstgenannten, wie die Motive zum Gerichtsverfassungsgesetz bemerken, „so eng miteinander zusammen und bedingen sich gegenseitig in so eingreifender Weise, daß keines ohne das andere bestehen kann. Das Gesetz über die Einrichtung der Gerichte ist insbesondere die gemeinsame Grundlage und die wesentliche Voraussetzung der beiden Gesetze über das Verfahren". Aus dem Zusammenhang des Gerichtsverfassungsgesetzes mit den beiden Prozeßordnungen erklärt sich, daß in das erstere neben den Vorschriften über die Ordnung des Gerichtswesens auch solche über Gegenstände rein verfahrensrechtlicher Art, wie die Rechtshilfe, die Öffentlichkeit der Verhandlung, die Sitzungspolizei, die Gerichtssprache, die Beratung und Abstimmung der Gerichte, aufgenommen wurden. Die Aufnahme dieser Gegenstände beruhte im wesentlichen auf äußeren Gründen, nämlich darauf, daß ein großer Teil der Vorschriften gleichermaßen für das bürgerliche Streitverfahren und für das Strafverfahren gelten sollte. Auch mit der Zivilprozeßordnung ist die Strafprozeßordnung insofern innerlich verbunden, als sie mehrfach, so in den §§ 37,283,406b, 463 auf jene verweist. Zu den Quellen des geltenden Strafverfahrensrechts gehören ferner, soweit nicht inzwischen aufgehoben, die gemäß § S des Einfuhrungsgesetzes zur Strafprozeßordnung aufrechterhaltenen verfahrensrechtlichen Vorschriften der Reichsgesetze, die vor der Strafprozeßordnung ergangen sind, sowie die Gesetze und Verordnungen, die nach dem Inkrafttreten der Strafprozeßordnung ändernd oder ergänzend in sie eingegriffen haben. Neben dem Bundesrecht gelten (in geringem Umfang) landesrechtliche Vorschriften in dem durch die Einfuhrungsgesetze zur StPO und zum GVG zugelassenen Rahmen. Eine Besonderheit der neueren Rechtsentwicklung besteht darin, daß neben die die Einzelheiten des Gerichtsverfassungs- und Verfahrensrechts regelnden einfachen Bundesgesetze Vorschriften der Verfassung und des zwischenstaatlichen Rechts getreten sind, die in knapper, verallgemeinernder Form bestimmte Grundsätze aussprechen. Die im IX. Abschnitt („Die Rechtsprechung") zusammengefaßten Vorschriften der Art. 92 ff. G G brachten teils neues Recht, teils erhoben sie bisher schon geltendes Recht zum Rang von Verfassungsrecht, und teils statteten sie hergebrachte Rechtseinrichtungen mit institutioneller Garantie aus. Neben diesen Artikeln enthält das G G weitere verfahrensrechtlich bedeutsame Vorschriften, wie etwa die Art. 2 (Persönliche Freiheitsrechte) 1 ), Art. 10 (Brief-, Postund Fernmeldegeheimnis), Art. 13 (Unverletzlichkeit der Wohnung), Art. 16 Abs. 2 (Auslieferungsverbot), Art. 35 (Rechts- und Amtshilfe), Art. 4 6 , 4 7 (Immunität und Zeugnisverweigerungsrecht der Abgeordneten). Der Grundsatz der Unantastbarkeit der Menschenwürde (Art. 1 GG) führt zu wichtigen Folgerungen bei der Auslegung und Handhabung 1

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Schrifttum: B a u m a n n : Die Bedeutung des Art. 2 GG für die Freiheitsbeschränkungen im Strafprozeß, Festschrift f. Eb. Schmidt 1961 S. 525 ff. Über die Bedeutung des (auch) aus Art. 2 abgeleiteten Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes s. unten S. 48.

Zur Entstehungsgeschichte der StPO und des GVG

Kap. 2

der Verfahrensvorschriften2). Zwischenstaatlich vereinbartes Verfahrensrecht in grundsatzartiger Ausprägung enthält die kraft Gesetzes vom 7. 8. 1952 (BGBl. II 685, 953) einen Bestandteil des innerdeutschen Rechts bildende *) Konvention der Mitgliedstaaten des Europarats zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. 11. 1950 (Menschenrechtskonvention — MRK —), die gemäß Bekanntmachung v. 15. 12. 1953 (BGBl. 1954 II 14) in Kraft getreten ist, in Berlin geltend gemäß Ges. v. 20. 12. 1956 (BGBl. II 1879). Vgl. dazu ergänzend Bekanntm. der Verfö der Europ. Komm, und des Europ. Gerichtshofs für Menschenrechte v. 2. 5. 1963 (BGBl. II 332) und die Gesetze und Bekanntm. v. 9. 5. 1968 (BGBl. II 422), 9. 5. 1968 (BGBl. II 1109) und v. 10. 12. 1968 (BGBl. II 1111). Das geltende innerdeutsche Verfahrensrecht entspricht den Anforderungen der Menschenrechtskonvention auch wo sie Grundsätze aufstellt, die die StPO in dieser Form nicht enthält5).

2. Zur Entstehungsgeschichte der Strafprozeßordnung und des Gerichtsverfassungsgesetzes") Schon Art. 4 Nr. 13 der Verfassung des Norddeutschen Bundes sah eine einheitliche Regelung des Strafverfahrens für das Bundesgebiet vor. Die ersten Schritte zur Schaffung einer einheitlich geltenden StPO fallen noch in die Zeit vor Gründung des Deutschen Reichs. Im Jahre 1868 beschloß der Reichstag des Norddeutschen Bundes, den Bundeskanzler aufzufordern, Entwürfe eines gemeinsamen Strafrechts und einer gemeinsamen Strafprozeßordnung einschließlich der für die Gerichtsorganisation erforderlichen Vorschriften vorbereiten und dem Reichstag vorlegen zu lassen; der Bundesrat trat diesem Beschluß bei. Im Jahre 1869 ersuchte der Bundeskanzler den preuß. Justizminister um Aufstellung des Entwurfs einer StPO. Der im November 1870 fertig vorliegende Referentenentwurf wurde im Jahre 1871 im preuß. Justizministerium wiederholt beraten und in der Gestalt, in der er aus diesen Beratungen hervorging, dem Reichskanzler übermittelt, auch Anfang 1873 2

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Schrifttum: S c h o r n , Der Schutz der Menschenwürde im Strafverfahren 1963. Die Pflicht zur Achtung der Menschenwürde ist vornehmlich von Bedeutung bei den Beweisverboten (vgl. dazu etwa BGHSt. 14 358 betr. Verwendung heimlich erfolgter Tonbandaufnahmen als Beweismittel; BGHSt. 19 325 betr. Eingriffe in die Intimsphäre durch Verwendung von Tagebuchaufzeichnungen als Beweismittel; näheres unten S. 172). Zur Konstruktion der innerdeutschen Geltung und des Gesetzesranges der M R K vgl. B G H Z 45, 46, 49; BGHSt. 21, 81, 84; K l e i n , Die Europ. M R K und Art. 25 G G , in Festschrift f. Laun, 1962 und die Nachw. bei K l [29] Vorb. 1,2 vor Art. 1 (S. 1249f.). Vgl. den schriftlichen Bericht des Bundestagsausschusses BT.-Drucksache der 1. Wahlperiode 1949 Nr. 3338. Wie z. B. Art. 6 Abs. 2 der Konvention: „Bis zum gesetzlichen Nachweis seiner Schuld wird vermutet, daß er wegen einer strafbaren Handlung Angeklagte unschuldig ist." Aus der Rechtsprechung: Die sog. Unschuldsvermutung, die unausgesprochen auch der StPO zugrunde liegt (BGHSt. 14 358), verstärkt den Grundsatz, daß jedes Strafverfahrensrecht auch Beschuldigten gerecht werden muß, die unschuldig sind (BGHSt. 20,281,283). Sie will in erster Linie verhindern, daß jemand ohne den Nachweis seiner Schuld in einem gesetzlich geregelten Verfahren als schuldig behandelt wird; dem innerstaatlichen Recht bleibt jedoch die Bestimmung überlassen, was zum gesetzlichen Nachweis der Schuld gehört und auf welche Weise der Schuldnachweis zu fuhren ist (BGHSt. 21 306, 308). Art. 6 M R K hat an den Vorschriften des G V G über die Öffentlichkeit der Hauptverhandlung nichts geändert (BGHSt. 23 82). Art. 13 M R K gibt kein selbständiges Beschwerderecht gegen eine nach deutschem Recht nicht mehr weiter anfechtbare Entscheidung (BGHSt. 20,68). Aus dem Schrifttum über die Bedeutung der M R K für den Strafprozeß vgl. u . a . P i e c k , Der Anspruch auf ein rechtsstaatliches Gerichtsverfahren — Art. 6 Abs. 1 M R K — in seiner Bedeutung für das deutsche Verfahrensrecht, Bedin 1966; W o e s n e r NJW 1961 1381; H e r b s t . Öffentlichkeit der Hauptverhandlung, Arztgeheimnis und Schutz der Menschenwürde, NJW 1969 546; K l [29] S. 1249ff. m. w. Nachw. Im einzelnen ist die Bedeutung der M R K jeweils bei den einschlägigen Vorschriften der StPO und des GVG näher behandelt. Eine ausführliche Darstellung findet sich in der 19. Aufl. dieses Werkes, auf die hier verwiesen werden muß.

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mit Begründung im Druck der Öffentlichkeit vorgelegt. Der Bundesrat beschloß am 13. 3. 1873 die Einsetzung einer beratenden Kommission von elf Mitgliedern, die sich aus Ministerialbeamten, Richtern und Staatsanwälten sowie einem Professor der Rechte und einem Rechtsanwalt zusammensetzte. In der nach heutigen Vorstellungen unwahrscheinlich kurzen Zeit vom 17. 4. bis 3. 7. 1873 beriet diese Kommission in 39 Sitzungen den Entwurf in drei Lesungen, dessen Grundsätze sie im wesentlichen billigte, darunter auch die Vorschläge, die Schwurgerichte durch große Schöffengerichte zu ersetzen und Schöffen auch zu den erkennenden erstinstanzlichen Gerichten mittlerer und unterster Ordnung zuzuziehen. Der Bundesrat beriet den Entwurf im Jahre 1874; die wesentlichsten Änderungen, die er vornahm, waren die Wiederaufnahme der Schwurgerichte in bisheriger Form und die Zuziehung von Schöffen nur zu den Strafgerichten unterster Ordnung. Im Herbst 1874 wurde der Entwurf der StPO (zusammen mit den Entwürfen einer ZPO und eines GVG) im Reichstag eingebracht, der die drei Entwürfe in erster Lesung vom 24.-26. 11. 1874 beriet und einer Kommission von 28 Mitgliedern des Reichstags überwies. Diese bestand zur Hälfte aus Richtern (14), im übrigen gehörten ihr ein Generalstaatsanwalt, vier Verwaltungsbeamte, sechs Advokaten, zwei Professoren der Rechte und ein Irrenheilanstaltsdirektor an; Namen wie etwa Miquel, Bähr, Gneist, Lasker, tauchen auf. Die Kommission erledigte ihre Aufgabe, die drei Entwürfe zu beraten, unter Hinzuziehung von Vertretern des Reichsjustizamts und der Landesjustizverwaltungen in der Zeit vom 26.4. 1875 bis zum 3. 7. 1876; durch zwei Reichsgesetze vom 23. 12. 1874 und 1. 2. 1876 wurde sie ermächtigt, ihre Beratungen jeweils nach Schluß der laufenden Session des Reichstages bis zum Beginn der folgenden ordentlichen Session fortzusetzen. Zu den schriftlich mitgeteilten Beratungsergebnissen der Reichstagskommission nahm der Bundesrat teils zustimmend, teils ablehnend Stellung; die Reichstagskommission blieb jedoch in der Mehrzahl der strittigen Punkte bei ihren früheren Beschlüssen stehen. Im Reichstag erfolgte die zweite Lesung des GVG in der Zeit vom 17.-26. 11., die der StPO vom 27. 11.-2. 12. 1876; der Reichstag trat in den meisten Punkten, in denen die Reichstagskommission vom Bundesrat abwich, der Stellungnahme der Reichstagskommission bei. Dies veranlaßte den Reichskanzler, dem Reichstag mit Schreiben vom 12. 12. 1876 eine Reihe von Punkten mitzuteilen, bei denen die Reichstagsbeschlüsse für den Bundesrat unannehmbar seien. Das führte zu vertraulichen Verhandlungen zwischen einer Reihe von Reichstagsmitgliedern und den Vertretern des Bundesrats. Das Ergebnis der Erörterungen war die Einbringung der sogenannten Kompromißanträge, die bei einem Teil der strittigen Punkte der Ansicht des Bundesrats Rechnung trugen, während bei einem anderen Teil die Landesregierungen ihren Widerspruch gegen die Auffassung des Reichstags aufgaben. In der dritten Beratung vom 18.—21. 12. 1876 nahm der Reichstag die Kompromißanträge mit einzelnen unwesentlichen Änderungen an; der Bundesrat erteilte seine Zustimmung, und das GVG nebst Einführungsgesetz wurde unter dem 27. 1. 1877, die StPO nebst Einführungsgesetz unter dem 1. 2. 1877 vom Kaiser vollzogen und im RGBl, verkündet. Sie traten am 1. 10. 1879 in Kraft.

3. Die weitere Entwicklung der Strafprozeßordnung und des Gerichtsverfassungsgesetzes 1. Die Entwicklung bis zum Beginn des ersten Weltkriegs (1914). StPO und GVG wahrten von ihrem Inkrafttreten am 1. 10. 1879 ab geraume Zeit hindurch einen unveränderten Bestand und wurden bis zum Jahr 1913 nur von wenigen Änderungen betroffen. a) EGGVG und GVG - Das Ges. v. 17. 3. 1886 (RGBl. S. 61) änderte den § 136 — damals § 137 - , das Ges. v. 5. 4. 1888 (RGBl. S. 133) befaßte sich mit den §§ 172 bis 175 - damals §§ 173 bis 176 - sowie mit dem § 193 GVG. Der § 1 des Ges. v. 12. 6. 1889 (RGBl. S. 95) hob den § 12 EGGVG auf. Dann zog die Neugestaltung des bürgerlichen Rechts Änderungen der Gerichtsverfassung nach sich. Das Ges. v. 17.5. 1898 (RGBl. S. 252) gab den §§ 9 und 10 EGGVG sowie dem § 22 und dem die ausschließliche Zustän-

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digkeit der Strafkammern betreffenden § 74 GVG eine andere Fassung. Der Reichskanzler veröffentlichte daraufhin auf Grund der Ermächtigung, die ihm das Ges. v. 17. 5. 1898 (RGBl. S. 342) erteilt hatte, das GVG in der geänderten Fassung (RGBl. S. 371). Danach hob § 29 Abs. 2 des Ges. v. 22. 6. 1899 (RGBl. S. 325) den damals gültigen § 74 Nr. 2 GVG auf. Später wurden die §§ 2 7 , 2 8 , 5 5 , 7 5 , 9 6 und 153 GVG durch die Ges. vom 5 . 6 . 1 9 0 5 (RGBl. S. 533) und v. 29.7.1913 (RGBl. S. 617) geändert, der § 1 3 4 GVG durch den Art. XII des Ges. v. 22. 5. 1910 (RBG1. S. 772) vorübergehend außer Kraft gesetzt und der § 55 a GVG, der in der Folgezeit die Stelle des § 55 einnahm, durch das Ges. v. 29. 7. 1913 neu geschaffen. b) StPO — Sie wurde vom Einfluß des neuen bürgerlichen Rechts nur insofern berührt, als der Art. 35 EGBGB den § 11 Abs. 1 und den § 149 Abs. 2 StPO änderte, und im übrigen einer Änderung nur dadurch unterzogen, daß das Ges. v. 13. 6. 1902 (RGBl. S. 227) dem § 7 den Abs. 2 über den Gerichtsstand der Presse hinzufügte. c) Sonstiges. — In jener Zeit traten zwei auf das Strafverfahren bezügliche Gesetze in Kraft, nämlich das Ges. betreffend die Enttschädigung der im Wiederaufnahmeverfahren freigesprochenen Personen v. 20. 5. 1898 (RGBl. S. 345) und das Ges. betreffend die Entschädigung der im Strafverfahren freigesprochenen Personen für unschuldig erlittene Untersuchungshaft v. 14. 7. 1904 (RGBl. S. 321) 7 ). 2. Die Gesetze von 1914 bis 1924. Während des Krieges von 1914 bis 1918 erfolgten nur geringfügige Änderungen, die dem Personenmangel Rechnung trugen (Verordnungen v. 4 . 6 . und 7. 10. 1915, RGBl. S. 325, 562, die das Gebiet des Strafbefehls ausdehnten und die Zuständigkeit des Schöffengerichts erweiterten, später ersetzt durch das Ges. zur Vereinfachung der Strafrechtspflege vom 21. 10. 1917, das nur bis zum Ablauf eines Jahres nach Beendigung des Kriegszustands Geltung haben sollte). Die wirtschaftliche Not der Nachkriegszeit, das Anwachsen der Kriminalität und die politische Neugestaltung in der Zeit der Weimarer Republik führten dann aber zu einer Fülle von mehr oder weniger einschneidenden Änderungen des bisherigen Bestands, und die Unruhe, die damals in der Gesetzgebung über Gerichtsverfassung und Strafverfahren einsetzte, hat sich von da ab nicht mehr gelegt. Aus der Fülle der Vorschriften, die bis zur Währungsreform Ende 1923 ändernd in das GVG und die StPO eingriffen, sind etwa hervorzuheben: die VO über Sondergerichte gegen Schleichhandel und Preistreiberei — Wuchergerichte - v. 27. 11. 1919 (RGBl. S. 1909), die am 20.3. 1924 (RGBl. I S. 371) wieder aufgehoben wurde; das Ges. zur Verfolgung von Kriegsverbrechen und Kriegsvergehen v. 18. 12. 1919 (RGBl. S. 2125) mit dem Ergänzungsges. v. 24. 3. 1920 (RGBl. S. 341); das Ges. v. 2.4. 1920 (RGBl. S. 431), das die Aburteilung der in das hochverräterische Unternehmen vom März 1920 verwickelten Heeresangehörigen den bürgerlichen Gerichten übertrug; das Ges. über Aufhebung der Militärgerichtsbarkeit v. 17.8. 1920 (RGBl. S. 1579), das den § 34 Nr. 9 GVG sowie die §§ 50 Abs. 4, 69 Abs. 5 und 77 Abs. 2 StPO beseitigt; das Ges. zur Entlastung der Gerichte v. 11. 3. 1921 (RGBl. S. 229), das die Zuständigkeit des Schöffengerichts abermals erweiterte und hierdurch zugleich die Geschäftslast des RG erleichterte, das ferner die Zulässigkeit der Privatklage und des Strafbefehls ausdehnte, die Übertragung richterlicher Geschäfte auf andere Beamte teils vorschrieb, teils gestattete, die kürzere Anberaumung der Hauptverhandlung in gewissen Verratssachen ermöglichte, die Stellung der Reichsanwälte verbesserte und den § 180 GVG a. F., der die

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Diese Vorschriften wurden in der Folgezeit durch Anordnungen der Justizverwaltungen ergänzt, nach denen auch bei Einstellung des Ermittlungsverfahrens eine Billigkeitsentschädigung für unschuldig erlittene Untersuchungshaft gewährt wird (vgl. jetzt die bundeseinheitlich geltende A V v. 15. 12. 1956, BAnz. Nr. 247). Im übrigen sind die Entschädigungsgesetze v. 1898 und 1904 mit ihrer Konstruktion eines Aufopferungsanspruchs (vgl. unten S. 108) im wesentlichen unverändert geblieben. Ihre Reform mit dem Ziel weitergehender Entschädigung ist im Gange. Über Aufopferungsansprüche bei unrichtigen gerichtlichen Entscheidungen vgl. auch Staudinger-Schäfer [11] Vorb. Rz. 20 ff. vor § 839 BGB.

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Kap. 3

Einleitung (Schäfer)

2 Festsetzung einer Ordnungsstrafe wegen Ungebühr gegen einen bei der Verhandlung beteiligten Rechtsanwalt oder Verteidiger vorgesehen hatte, aufhob. Femer sind als bedeutungsvoll zu nennen: die RAbgO v. 19. 12. 1919 (RGBl. S. 1993), später mehrfach geändert, die das Verfahren in Abgabenstrafsachen neu regelte; der § 2 des Ges. zur Erweiterung des Anwendungsgebiets der Geldstrafen und zur Einschränkung der kurzen Freiheitsstrafen v. 21. 12. 1921 (RGBl. S. 1604); das Gesetz zur Änderung des Ges. über die Ausbildung von Kriegsteilnehmern zum Richteramt v. 12.4. 1922 (RGBl. I S. 439); das Ges. über die Heranziehung der Frauen zum Schöffen- und Geschworenenamt v. 25. 4. 1922 (RGBl. I S. 465); der Abschm. III §§ 6, 7 der VO zum Schutz der Republik v. 26. 6. 1922 (RGBl. I S. 522); das Ges. zur weiteren Entlastung der Gerichte vom 8. 7.1922 (RGBl. I S . 569); das Ges. über die Zulassung der Frauen zu den Ämtern und Berufen der Rechtspflege v. 11. 7. 1922 (RGBl. I S. 573); der Abschn. II §§ 12, 13, des Ges. zum Schutz der Republik v. 21. 7. 1922 (RGBl. I S. 588); das J G G v. 16. 2. 1923 (RGBl. I S. 135); der Art. I des zweiten Ges. zur weiteren Entlastung der Gerichte v. 27. 3. 1923 (RGBl. I S. 217); das Ges. zur Vereinfachung der Urliste v. 11. 7.1923 (RGBl. I S. 647); die WuchergerichtsVO v. 13. 7. 1923 (RGBl. I S . 724); der Art. I der VO zur Entlastung der Gerichte v. 23. 7. 1923 (RGBl. I S. 742); die 2. und 3. VO zur Entlastung der Gerichte v. 15.9. 1923 (RGBl. I S. 884) und v. 30. 10. 1923 (RGBl. I S. 1041); die VO über die Aburteilung der Landesverrats- und Spionagefälle durch die Oberlandesgerichte vom 12. 12. 1923 (RGBl. I S. 1197); die weitere VO zur Entlastung der Gerichte und über die Gerichtskosten v. 12. 12. 1923 (RGBl. I S . 1186); die VO über die beschleunigte Aburteilung von Straftaten v. 17. 12. 1923 (RGBl. I S. 1231). Die rasch aufeinanderfolgenden gesetzgeberischen Maßnahmen, von denen jeweils die spätere eine frühere überbot oder verdrängte, erschwerte den Überblick über den geltenden Rechtszustand ungemein und machten allein schon eine Neuredaktion der Texte des GVG und der StPO dringend erforderlich. Diese Aufgabe wurde unabweisbar, als die die Zeit der Inflation beeendende Währungsreform Ende 1923 zu durchgreifenden Ersparnismaßnahmen zwang, die sich auf das Gebiet des Strafverfahrens und der Gerichtsverfassung erstreckten. Diese Maßnahmen erfolgten durch die auf das Ermächtigungsgesetz vom 8. 12. 1923 (RGBl. I S. 1179) gestützte VO über Gerichtsverfassung und Strafrechtspflege v. 4. 1. 1924 (RGBl. I S. 11), die nach dem damaligen Reichsjustiz minister sog. „EmmingerVerordnung". Die VO setzte die Zahl der Richter in den Senaten der Oberlandesgerichte und des R G herab. Sie überwies alle Sachen, für die bisher die Strafkammer im ersten Rechtszug zuständig gewesen war, und einen Teil der Sachen, die zur Zuständigkeit des Schwurgerichts gehört hatten, in die Zuständigkeit des Amtsgerichts (Näheres Anm. 1 zu § 24 GVG). In weitem Umfang entschied nunmehr der Amtsrichter als Einzelrichter, und zwar in Sachen von größerer Bedeutung dann, wenn die Staatsanwaltschaft es beantragte. Soweit nicht der Einzelrichter zuständig war, hatte das aus dem Amtsrichter und zwei Schöffen zusammengesetzte Schöffengericht zu entscheiden. Wenn die Staatsanwaltschaft es beantragte, mußte das Schöffengericht dadurch erweitert werden, daß ein zweiter Amtsrichter zugezogen wurde. Für die neu in die Zuständigkeit des Amtsgerichts überwiesenen Sachen wurde der Umfang der Beweisaufnahme zum Nachteil des Angeklagten gegenüber dem bisherigen Recht eingeschränkt. Die Strafkammer war als erkennendes Gericht nur noch mit Aufgaben des Berufungsgerichts betraut. Sie war als kleine Strafkammer mit dem Vorsitzenden und zwei Schöffen besetzt, wenn sich die Berufung gegen ein Urteil des Amtsrichters richtete, dagegen als große Strafkammer mit drei Richtern und zwei Schöffen, wenn ein Urteil des Schöffengerichts angefochten war. Das bisherige Schwurgericht behielt diesen Namen bei, wurde aber dem Wesen nach in ein großes, aus drei Richtern und sechs Geschworenen zusammengesetztes Schöffengericht verwandelt, bei dem Richter und Geschworene über die Schuld- und Straffrage gemeinsam zu entscheiden hatten. Die Zuständigkeit des Schwurgerichts wurde auf bestimmte, besonders schwere Straftaten beschränkt. Für das Verfahren vor dem Schwurgericht waren die Vorschriften maßgebend, die bisher für das Verfahren vor der Strafkammer im ersten Rechtszug gegolten hatten. Für die Entscheidung über die Revision gegen die Urteile der kleinen Strafkammer und gegen diejenigen der großen Strafkammer, wenn im ersten Rechtszug das Schöffengericht in der regelmäßigen Besetzung entschieden hatte, waren die Oberlandesgerichte zuständig, für die Entscheidung über die Revision gegen die Urteile des Schwurgerichts und der großen Strafkammer, wenn im

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ersten Rechtszug das erweiterte Schöffengericht entschieden hatte, das RG. Im übrigen führte die VO Ausnahmen vom Verfolgungszwang ein und erweiterte und erleichterte die Voraussetzungen für die öffentliche Zustellung, für die Befreiung des Angeklagten vom Erscheinen in der Hauptverhandlung und für den Erlaß eines Strafbefehls. An diese VO schlössen sich zwei auf den Art. 48 Abs. 2 RVerf. gegründete VOen. vom 4. und 13. 1. 1924 (RGBl. I S. 23 u. 29) an. Bedeutung für das Strafverfahren hatten weiter noch die VO über Vermögensstrafen und Bußen v. 6. 2. 1924 (RGBl. I S. 45) und die VO über das Verfahren in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten v. 13.2. 1924 (RGBl. I S . 135). Der Reichsjustizminister, der durch § 43 der „Emminger-VO" ermächtigt worden war, das GVG und die StPO mit den später erlassenen Gesetzen und Verordnungen in Einklang zu bringen und in neuer Fassung zu veröffentlichen, kam diesem Auftrag durch die Bekanntmachung v. 22. 3. 1924 (RGBl. I S. 299,322) nach. Die z. T. tief einschneidenden Neuerungen der Emminger-Reform, die weit über den Rahmen bloßer Not- und Vereinfachungsmaßnahmen hinausgingen, waren in ihrem Wert lebhaft umstritten. Die geschichtliche Entwicklung hat aber gezeigt, daß eine Reihe von Hauptpunkten, insbesondere die Begründung der Zuständigkeit des Amtsrichters als Einzelrichter in gewissem Umfang, die Hinzunahme von Schöffen auch in die Strafkammer, die Ersetzung des alten Schwurgerichts mit seiner Teilung in eine Geschworenenbank und eine Richterbank, die Lockerung des Verfolgungszwangs in Fällen von geringer Bedeutung u. a. m., wertvolle und unverzichtbare Neuerungen darstellten, von denen namentlich die Lockerung des Verfolgungszwanges aus dem System des heutigen StrafVerfahrensrechts nicht mehr wegzudenken ist. Als eine verfehlte Maßnahme erwies sich aber die Beseitigung der Strafkammer als Gericht des ersten Rechtszuges für schwerwiegende Straftaten; unter dem Zwang praktischer Notwendigkeiten wurde, wie weiter unten zu schildern, im Lauf der Zeit die erstinstanzliche Zuständigkeit der Strafkammer schrittweise wieder begründet. Auch die allenfalls nur als Notmaßnahme für beschränkte Zeit vertretbare Beschränkung des Umfangs der Beweisaufnahme mußte schon bald nach Besserung der wirtschaftlichen Verhältnisse wieder beseitigt werden. 3. Die Gesetze von 1925 bis 1932. Die durch die Neufassung des GVG und der StPO erreichte Klarheit des Textes und Übersichtlichkeit des Rechtszustandes wurde alsbald wieder durch Gesetzesänderungen von mehr oder weniger großem Gewicht zerstört. Das Ges. zur Änderung der StPO v. 22. 12. 1925 (RGBl. I S. 475) gab den §§ 245 Abs. 2 und 313 StPO eine andere Fassung und stellte den durch die Emminger-VO geänderten früheren Rechtszustand auf dem Gebiet des Beweisrechts wieder her. Das Ges. vom 13.2.1926 (RGBl. IS. 99) hob den § 33 Nr. 3 GVG auf. Durch das Ges. v. 22.2. 1926 (RGBl. I S. 103) wurde das militärgerichtliche Verfahren, soweit es noch in Geltung war, verschiedenen Vorschriften der StPO angepaßt. Das Ges. zur Änderung des Ges. zum Schutz der Republik v. 31. 3. 1926 (RGBl. I S. 190) änderte die §§ 134 Abs. 1,139 GVG und beseitigte den § 137 GVG. Durch den Art. II Nr. 4 des Ges. zur Vereinfachung des Militärstrafrechts v. 30. 4. 1926 (RGBl. I S. 197) wurden die §§ 435 und 444 Abs. 2 Satz 3 StPO gestrichen. In dieser Zeit beginnt auch der Einfluß verfassungsmäßiger „Grundrechte" auf die Gestaltung des Strafverfahrensrechts sich deutlich abzuzeichnen. Das Grundrecht der Unverletzlichkeit der Freiheit der Person (Art. 114 Weim. Verf.) führte zu einer Änderung und Ergänzung des Rechts der Untersuchungshaft mit dem Ziel, den Beschuldigten vor unbegründeter Untersuchungshaft zu schützen. Das Ges. v. 27. 12. 1926 (RGBl. I S. 523 - lex Höfle —), das die mündliche Verhandlung über den Haftbefehl und das Haftprüfungsverfahren einrührte, betraf die §§ 53 Abs. 1 Nr. 4, 114, 114a bis 114d, 115, 115a bis 115d, 124,126,131 Abs. 4 , 1 3 2 , 1 4 8 A b s . 3 , 2 0 0 Abs. 2, 201, 218,245 Abs. 1 und 3 , 3 4 0 , 4 4 5 Abs. 2 StPO sowie den § 28 JGG. Dem Ziel, der Freiheitsentziehung rechtsstaatliche Grenzen zu ziehen, diente auch das deutsche Auslieferungsges. v. 23. 12. 1929 (RGBl. I S. 239). Es ordnete das Verfahren, das bei der Auslieferung eines von der Behörde eines ausländischen Staats wegen einer strafbaren Handlung verfolgten oder verurteilten Ausländers einzuhalten ist. Es traf insbesondere Vorschriften über die Auslieferungshaft, über die Ver7

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nehmung des Verfolgten und über seine Unterstützung durch einen Rechtsbeistand. Im § 50 änderte es die StPO durch Aufnahme der §§ 154a und 456a ab, die die Voraussetzungen regelten, unter denen von der Erhebung der öffentlichen Klage oder von der Vollstreckung einer Freiheitsstrafe im Inland mit Rücksicht auf die Auslieferung abgesehen werden kann. Weitere Änderungen von GVG und StPO brachte Art. I des Ges. v. 31. 3. 1927 (RGBl. I S. 175) durch Änderung des Titels XI und des § 153 GVG. Entsprechend diesem Gesetz gab die VO über die Abänderung des Wortlauts verschiedener Gesetze und Verordnungen aus Anlaß des Fortfalls der Bezeichnungen „Gerichtsschreiberei" und „Gerichtsschreiber" v. 3. 11. 1927 (RGBl. I S. 334) den hier in Betracht kommenden Vorschriften des GVG und der StPO eine neue Fassung. Das ReichsministerG. v. 27. 3. 1930 (RGBl. I S. 96), das in § 7 Abs. 3 die Berufung der Reichsminister zum Amt der Schöffen und Geschworenen und in § 9 ihre Vernehmung als Zeugen und Sachverständige während der Dauer und nach Beendigung des Amts einer besonderen Regelung unterwarf, brachte unter anderem Änderungen des § 34 GVG sowie der §§ 50, 54 und 76 StPO. Die in den Jahren 1930 bis 1932 als Folge einer weltweiten Wirtschaftskrise stark und stärker in Erscheinung tretende Finanznot von Reich und Ländern führte dazu, sich auch auf dem Gebiet der Strafgerichtsverfassung und des Strafverfahrensrechts nach weiteren Vereinfachungs- und Ersparnismöglichkeiten umzusehen. Die Änderungen erfolgten, da bei der zunehmenden parteilichen Zerklüftung des Reichstages Maßnahmen im Wege der ordentlichen Gesetzgebung nicht mehr zu erreichen waren, durch Notverordnungen des Reichspräsidenten auf Grund des Art. 48 Weim. Verf. Die VO zur Sicherung von Wirtschaft und Finanzen v. 1. 12. 1930 (RGBl. I S. 517) ermöglichte die gleichzeitige Zugehörigkeit eines Amtsrichters zu mehreren Amtsgerichten und die von der Landesjustizverwaltung anzuordnende Zuweisung der Erledigung von Rechtshilfeersuchen an ein Amtsgericht für die Bezirke mehrerer Amtsgerichte. Sie bestimmte ferner, dem § 479 RAbgO i. d. Fass. v. 22. 5. 1931 (RGBl. I S. 161) vorgreifend, inwieweit die §§ 419 bis 429 StPO für Steuerstrafsachen außer Kraft traten. Die VO zur Sicherung von Wirtschaft und Finanzen v. 6. 10. 1931 (RGBl. I S. 537, 563) brachte für sog. Monstreprozesse — Verfahren von ungewöhnlichem Umfang oder ungewöhnlicher Dauer — die Wiedereinfiihrung der erstinstanzlichen Zuständigkeit der Strafkammer, gegen deren Urteile nur die Revision zulässig war, um die kostspielige Wiederholung des Verfahrens in einer zweiten Tatsacheninstanz auf Berufung hin auszuschließen. Die VO erklärte die Große Strafkammer für zuständig für Verbrechen und Vergehen, die an sich zur Zuständigkeit des Amtsgerichts gehörten, wenn eine Voruntersuchung stattgefunden hatte, mit einer Verhandlungsdauer von mehr als sechs Tagen zu rechnen war und die Staatsanwaltschaft bei Einreichung der Anklageschrift die Hauptverhandlung vor der großen Strafkammer beantragte. Sie machte weiter die Verfolgung der Übertretungen davon abhängig, daß das öffentliche Interesse sie erfordere, erweiterte im übrigen das Recht der Staatsanwaltschaft zur Einstellung des Verfahrens unter bestimmten Voraussetzungen, regelte das beschleunigte Verfahren nach § 212 StPO neu, gestattete die Befreiung des Anklagten von der Pflicht zum Erscheinen in der Hauptverhandlung über den im Gesetz gezogenen Rahmen hinaus, führte die Befugnis der Oberlandesgerichte, eine Revision durch Beschluß als offensichtlich unbegründet zu verwerfen, ein, erlaubte dem Gericht die Einstellung des Verfahrens bei den im Weg der Privatklage verfolgten Vergehen wegen geringfügiger Bedeutung und beschränkte die Rechtsmittel in Privatklagesachen. Sie ermächtigte endlich die Reichsregierung, im Bedürfnisfall Sondergerichte einzusetzen. Die VOen zur Bekämpfung politischer Ausschreitungen v. 28. 3. 1931 (RGBl. I S. 79), über beschleunigte Aburteilung von Zuwiderhandlungen gegen die VO über Devisenbewirtschaftung v. 1. 8. u. 17. 11. 1931 (RGBl. I S. 421, 679), zur Sicherung von Wirtschaft und Finanzen und zum Schutz des inneren Friedens v. 8. 12. 1931 (RGBl. I S. 743), über Devisenbewirtschaftung v. 23.5. 1932 (RGBl. I S. 231) und gegen politische Ausschreitungen v. 14.6.1932 (RGBl. I S. 297) ließen das abgekürzte Verfahren gemäß §212 StPO in den von der Staatsanwaltschaft verfolgten Strafsachen wegen gewisser politischer Ausschreitungen und anderer öffentlich begangener Handlungen, wegen Verletzung der Vorschriften über Devisenbewirtschaftung und wegen Beleidigung ohne die Voraussetzung der freiwilligen Gestellung oder der Vorführung infolge vorläufiger Festnahme zu. Die VO

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v. 8. 12. 1931 räumte dem Gericht zugleich für Fälle, in denen eine Beleidigung den Gegenstand der Klage bildete, eine freiere Stellung gegenüber dem Beweisverlangen der am Verfahren Beteiligten ein. Die VO zum Schutz der Wirtschaft v. 9. 3. 1932 (RGBl. I S. 121) befaßte sich mit den §§172 bis 175 GVG. Diese verhältnismäßig kleinen Mittel genügten aber bei der sich verschärfenden Finanznot nicht. Die „Diktatur der Armut" zwang zu radikaleren Eingriffen. Dabei sollten auch neben Maßnahmen von zeitbedingter Dauer Reformgedanken von dauernder Bedeutung durchgeführt werden, wobei z. T. auf Vorschläge zurückgegriffen wurde, die der dem Reichstag am 20. 5. 1930 vorgelegte Entwurf eines Einführungsgesetzes zum Allgemeinen Deutschen Strafgesetzbuch und zum Strafvollzugsgesetz (RT.-Drucks. IV. Wahlperiode Nr. 2070) enthielt. Die VO über Maßnahmen auf dem Gebiet der Rechtspflege und Verwaltung v. 14.6. 1932 (RGBl. I S. 285; Erläuterungen von K o f f k a und K. S c h ä f e r 2. Aufl. 1933) brachte vor allem die allgemeine Wiedereinsetzung der großen Strafkammer als Gericht des ersten Rechtszugs. Sie änderte die Vorschriften über die sachliche Zuständigkeit unter Aufhebung des erweiterten Schöffengerichts dahin ab, daß die große Strafkammer im ersten Rechtszug für einen Teil der im § 24 Nr. 3 GVG bezeichneten Verbrechen ohne weiteres zuständig wurde und daß ihre Zuständigkeit für alle in der Zuständigkeit des Schöffengerichts verbleibenden Strafsachen durch einen Antrag der Staatsanwaltschaft begründet werden konnte. Sie ordnete weiter eine Beschränkung der Rechtsmittel gegen die Urteile des Amtsrichters und des Schöffengerichts in dem Sinn an, daß nach Wahl des Anfechtungsberechtigten die Berufung an das Landgericht oder die Revision an das Oberlandesgericht stattfand und daß der Berechtigte, der Berufung eingelegt hatte, nicht mehr Revision einlegen durfte. Sie gewährte ferner dem Gericht für die Verhandlungen vor dem Amtsrichter und vor dem Schöffengericht, ebenso vor dem Landgericht im Berufungsrechtszug das Recht, den Umfang der Beweisaufnahme nach freiem Ermessen zu bestimmen, ohne hierbei durch Anträge, Verzichte oder frühere Beschlüsse gebunden zu sein. Die weiteren Vorschriften der VO hatten den Verzicht auf das Haftprüfungsverfahren, die Befugnisse des Verteidigers im Schnellverfahren, die Erstreckung der Frist, innerhalb derer eine unterbrochene Hauptverhandlung fortzusetzen ist, die Verwerfung des gegen eine polizeiliche Strafverfügung angebrachten Antrags auf gerichtliche Entscheidung beim unentschuldigten Ausbleiben des Angeklagten in der Hauptverhandlung, die Ausdehnung der Wahlperiode der Schöffen und Geschworenen auf zwei Jahre und die Einführung des Einzelrichters in Jugendsachen zum Gegenstand. 4. Die Gesetzgebung von 1933 bis 1945. Die im Jahre 1933 mit der Ergreifung der Macht durch den Nationalsozialismus einsetzende umfangreiche Gesetzgebungstätigkeit auf dem Gebiet des Gerichtsverfassungs- und Strafverfahrensrechts ist von sehr verschiedenem Gehalt. Eine Reihe von Vorschriften ergab sich aus dem Übergang der Justizhoheit der Länder auf das Reich und aus der Wiedereinführung der Militärgerichtsbarkeit nach Erneuerung der allgemeinen Wehrpflicht. Andere Vorschriften stellen sich als rechtstechnische Neuerungen ohne eine besondere kriminalpolitische Grundtendenz dar. Echte Reformvorschriften griffen z. T. auf Reformvorschläge aus vornationalsozialistischer Zeit zurück, z. T. aber wurden sie durch neue kriminalpolitische Grundvorstellungen aus der Ideenwelt des Nationalsozialismus beeinflußt, unter denen u. a. die Gedanken einer größtmöglichen Beschleunigung der Strafverfahren unter Beschränkung oder Verzicht auf Rechtsmittel und andere Maßnahmen zum Schutz des Beschuldigten (insbes. Bildung von Sondergerichten als Dauereinrichtung), der Einflußnahme der Staatsführung auf das Strafverfahren durch Erweiterung der Befugnisse des weisungsgebundenen Staatsanwalts unter Beschränkung oder Wegfall richterlicher Prüfungsmaßnahmen (Beschränkung der Voruntersuchung, Wegfall des Eröffnungsverfahrens) oder durch Wegfall des Präsidialsystems bei den Kollegialgerichten, und schließlich der „Durchsetzung der materiellen Gerechtigkeit gegenüber der formalen Rechtssicherheit" unter Beschränkung der bisherigen Konsumtionswirkung der Rechtskraft (Erweiterung der Voraussetzungen für die Wiederaufnahme des Verfahrens zuungunsten des Angeklagten, Nichtigkeitsbeschwerde gegen rechtskräftige Urteile, Beseitigung des Verbots der reformatio in peius), hervortreten. In chronologischer Reihenfolge und unter Verzicht auf Vorschriften

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Einleitung (Schäfer)

4 von zeitlicher oder nur begrenzt örtlicher Bedeutung — eine vollständige Übersicht findet sich in der Einleitung zur 20. Aufl. S. 6 ff. — sind folgende das GVG und die StPO berührende Vorschriften zu nennen: Von 1933 bis 1935. a) Sondergerichte. - Durch die auf die NotVO des Reichspräs. v. 6. 10. 1931 (RGBl. I 537) gestützte VO über die Bildung von Sondergerichten v. 21.3.1933 (RGB1.I S. 136) wurden für den Bezirk jedes Oberlandesgerichtes Sondergerichte zur beschleunigten Aburteilung gewisser nicht in die Zuständigkeit des RG — später des Volkgsgerichtshofs — oder des Oberlandesgerichts fallender politischer Verbrechen und Vergehen geschaffen und die Besetzung der Sondergerichte und ihr Verfahren geregelt. Wesentliche Punkte waren u. a. der Ausschluß der gerichtlichen Voruntersuchung, die Beseitigung des Eröffnungsbeschlusses, die Beschränkung des Umfangs der Beweisaufnahme und der Wegfall von Rechtsmitteln; als Ersatz für den Wegfall von Rechtsmitteln ließ die VO eine Wiederaufnahme des Verfahrens zugunsten des Verurteilten auch schon zu, wenn Umstände vorlagen, die die Nachprüfung der Sache im ordentlichen Verfahren notwendig erscheinen ließen. Die Zuständigkeit der Sondergerichte beschränkte sich ursprünglich auf Verbrechen und Vergehen gegen die VO zum Schutz von Volk und Staat v. 28. 2. 1933 (RGBl. I S. 83) und die VO zur Abwehr heimtückischer Angriffe gegen die Regierung der nationalen Erhebung vom 21. 3. 1933 (RGBl. I S. 135, später das Ges. gegen heimtückische Angriffe auf Staat und Partei und zum Schutz der Parteiuniformen v. 20. 12. 1934, RGBl. I S. 1269). In der Folgezeit aber wurde die Zuständigkeit der Sondergerichte ständig erweitert, und zwar — in der hier zu betrachtenden Zeit bis 1935 — auf die Verbrechen nach § 1 des Ges. zur Abwehr politischer Gewalttaten v. 4 . 4 . 1933 (RGBl. I S. 162); die Verbrechen und Vergehen gegen § 8 des Ges. gegen Verrat der deutschen Volkswirtschaft v. 12.6. 1933 (RGBl. I S. 360); die Verbrechen nach §§ 1 und 2 des Ges. zur Gewährleistung des Rechtsfriedens v. 13. 10. 1933 (RGBl. I S. 723); die Vergehen gegen die §§ 134a und 134b StGB auf Grund der VOen v. 20. 12. 1934 (RGBl. 1935 I S. 4) und 24. 9. 1935 (RGBl. I S. 1179); die Verbrechen nach § 315 Abs. 1 Satz 2 StGB gemäß Art. 8 Nr. 4 des Ges. v. 28. 6. 1935. b) Militärgerichtsbarkeit — Wehrmachtsstrafverfahren. — Die Wiedereinführung der Militärgerichtsbarkeit erfolgte durch das Ges. v. 12. 5. 1933 (RGBl. I S. 264). Sie trat gemäß § 1 des Einfuhrungsges. zur Militärstrafgerichtsordnung v. 4. 11. 1933 (RGBl. I S. 921) mit Wirkung vom 1. 1. 1934 ab wieder allgemein in Kraft. Die gleichfalls am 4. 11. 1933 bekanntgemachte MStGO (RGBl. I S. 924) schrieb den Umfang und die Ausübung der Militärgerichtsbarkeit und das Verfahren vor den Militärgerichten vor. Ausfiihrungsbestimmungen hierzu ergingen in der VO v. 21. 11. 1933 (RGBl. I S. 989). Die Ges. v. 23. 11. 1934 (RGBl. I S. 1165) und v. 9. 10. 1935 (RGBl. I S. 1223) änderten die MStGO. c) Allgemeine Gerichtsverfassung. — Das Ges. zur Änderung -der Vorschriften des GVG über die Präsidien der Gerichte v. 1. 7. 1933 (RGBl. I S. 451) verbesserte den Inhalt der § § 6 2 bis 64 GVG und änderte im neuen § 64a die Zusammensetzung und das Verfahren der Präsidien (Schaffung eines verkleinerten Präsidiums bei großen Land- und Oberlandesgerichten). Durch Art. 1 des Ausführungsges. zum Ges. gegen gefahrliche Gewohnheitsverbrecher und über Maßregeln der Sicherung und Besserung v. 24. 11. 1933 (RGBl. I S. 1000) wurden die §§ 2 6 a u n d 171 a in das GVG eingefügt. Die Erledigung von Strafsachen bei Aufhebung von Gerichten der Länder regelte das Ges. über die Zuständigkeit der Gerichte bei Änderung der Gerichtseinteilung v. 6. 12.. 1933 (RGBl. I S. 1037). Das Ges. zur Überleitung der Rechtspflege auf das Reich v. 16. 2. 1934 (RGBl. I S. 91) bestimmte unter anderem, daß alle Gerichte im Namen des deutschen Volkes Recht sprechen. Das Ges. v. 24. 4. 1934 (RGBl. I S. 341) brachte im Zeichen der beginnenden militärischen Wiederaufrüstung verschärfte Vorschriften gegen Hoch- und Landesverrat, insbesondere Verrat militärischer Geheimnisse; im Zusammenhang damit wurde — aus Mißtrauen, daß bei den ordentlichen Gerichten eine nachhaltige Verfolgung einschlägiger Delikte nicht gewährleistet sei — dem Reichsgericht die erst- und letztinstanzliche Zuständigkeit für Hoch- und Landesverratssachen (§ 134 a. F. GVG) entzogen und dem neugebildeten, nur zum Teil mit Berufsrichtern besetzten Volksgerichtshof übertragen mit der Möglichkeit, weniger schwer-

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wiegende Sachen an die Oberlandesgerichte abzugeben. Durch Ges. v. 28. 6. 1935JRGB1.1 Wehrmittelbeschädigung (§ 134 a Abs. 3 StGB a. F.) ausgedehnt. Das Ges. zur Änderung des GVG v. 13. 12. 1934 (RGBl. I S. 1233) brachte Vorschriften über die Befreiung von der deutschen Gerichtsbarkeit, über die Berufung der Vertrauenspersonen bei dem Ausschuß zur Wahl der Schöffen und Geschworenen und über die Rechtshilfe bei der Strafvollstreckung. Im dritten Ges. zur Überleitung der Rechtspflege auf das Reich v. 24. 1. 1935 (RGBl. I S. 68) ordnete die Reichsregierung unter anderem an, daß mit dem 1. 4. 1935 die Justizbehörden der Länder Reichsbehörden Und die Justizbeamten der Länder unmittelbare Reichsbeamte wurden. Das Ges. über die Beseitigung der Gerichtsferien v. 7. 3. 1935 (RGBl. I S. 352) hob den 17. Titel des GVG auf. Die VO v. 19.3. 1935 (RGBl. I 383) brachte die Aufhebung des BayObLG. Die VO zur einstweiligen Regelung der Gerichtsverfassung v. 20.3. 1935 (RGBl. I S. 403), die sich auf den Art. 5 des ersten Ges. zur Überleitung der Rechtspflege auf das Reich stützte, brachte eine reichseinheitliche Ordnung für gewisse bisher landesrechtlich geregelte Materien auf dem Gebiet der Gerichtsverfassung. Sie regelte u. a. die Errichtung und Aufhebung von Gerichten und die Verlegung des Gerichtssitzes, die Änderung der Abgrenzung der Gerichtsbezirke, bei den Amtsgerichten die Errichtung von Zweigstellen und Abhaltung von Gerichtstagen, die Bestellung der aufsichtsführenden Amtsrichter und die Verteilung der Geschäfte, bei den Land- und Oberlandesgerichten die Zuständigkeit zur Errichtung von Kammern und Senaten, ferner die Erledigung von richterlichen Geschäften durch Hilfsrichter und die Ausübung der Dienstaufsicht. Der Einbruch in das Präsidialsystem der Kollegialgerichte, das das Ges. v. 1.7. 1933 (RGBl. I s. 451) noch unberührt gelassen hatte, zeichnet sich hier bereits durch die Bestimmungen ab, daß der Reichsjustizminister Grundsätze für die Verteilung der Geschäfte bei den Land- und Oberlandesgerichten aufstellen könne (§§ 7, 8). Schließlich eröffnete die Reichsregierung den Übergang zu der von ihr beabsichtigten völligen Umgestaltung des Verfahrensrechts im Ges. zur Änderung von Vorschriften des Strafverfahrens und des GVG v. 28. 6. 1935 (RGBl. I S. 844), das sich an das zugleich erlassene Ges. zur Änderung des StGB (RGBl. I S. 839) anschloß. Das erstere Ges. griff in das GVG ein, indem es das RG ermächtigte, von Urteilen aus der Zeit vor dem 1.9. 1935 ohne Herbeiführung einer Plenarentscheidung abzuweichen, die Bildung von Großen Senaten beim R G anordnete und die §§ 136 bis 138 demgemäß durch andere Vorschriften ersetzte. Schließlich machte die Rückgliederung des Saargebietes an das Reich Übergangsvorschriften zur Anpassung der bisher dort geltenden Gerichtsverfassung erforderlich, die durch VO v. 2 2 . 2 . 1 9 3 5 (RGBl. I S. 246) getroffen wurden. d) Allgemeine Strafverfahren. — Die VO zum Schutze des deutschen Volkes v. 4. 2. 1933 (RGBl. I S. 35) dehnte im § 24 die Zulässigkeit des beschleunigten Verfahrens nach § 212 aus. Die VO gegen Verrat am deutschen Volke und gegen hochverräterische Umtriebe v. 28. 2. 1933 (RGBl. I S. 85), deren Inhalt später in das bereits unter c) erwähnte Ges. v. 24.4. 1934 übernommen wurde, traf insbesondere Vorschriften über den Ermittlungsrichter des RG; sie bestimmte überdies, daß die Voruntersuchung in den zur Zuständigkeit des R G gehörenden Strafsachen bei einfachem Tatbestand entfalle. In derselben Richtung bewegte sich die VO zur Beschleunigung des Verfahrens in Hochverrats- und Landesverratssachen v. 13. 3. 1933 (RGBl. I S. 131); sie ermöglichte die Überweisung von Hochverratssachen an die Oberlandesgerichte und ordnete die Einschränkung der Voruntersuchung für die zur Zuständigkeit der Oberlandesgerichte gehörenden Strafsachen sowie den Wegfall des Eröffnungsbeschlusses in den vor dem R G oder vor den Oberlandesgerichten zu verhandelnden Sachen an; auch diese VO ging hernach in dem Ges. v. 24. 4. 1934 auf. Das Ges. gegen Verrat der deutschen Volkswirtschaft v. 12.6.1933 (RGBl. I S. 360) ordnete an, daß das Abwesenheitsverfahren nach den §§ 277 ff. gegen Angeklagte stattfinde, denen ein Verbrechen oder Vergehen im Sinn des Ges. zur Last gelegt wird; diese Vorschrift wurde später durch die Umgestaltung des Verfahrens gegen Flüchtige im Ges. v. 28.6. 1935 überholt. Die VO zur Vereinfachung der Zustellung v. 17.6. 1933 (RGBl. S. 394) änderte die §§ 35, 146, 218 und 378 StPO sowie den § 87 GVG; sie beeinflußte das Strafverfahren auch im übrigen. Das schon genannte AGGewVerbrG v. 24. 11. 1933 fügte die §§ 5a, 80a, 81a, 81b, 126a, 233a sowie die das Sicherungsverfahren betreffenden §§ 429a — 429e und die auf die Strafvollstreckung bezüglichen §§ 456d und 463 a in die 11

Kap. 3

Einleitung (Schäfer)

4 StPO ein und änderte die §§ 81, 113, 127-129, 131, 140, 145, 148, 149, 154, 154a, 160, 207, 260, 263, 265, 267, 270, 299, 305, 358, 359, 363, 371, 384, 407, 456a, 458, 465,466 und 467; die im Art. 14 des Ges. enthaltene Übergangsvorschrift, die ein nachträgliches Sicherungsverfahren zum Gegenstand hatte, gewann für die folgenden Jahre eine große Bedeutung. Das Ges. zur Einschränkung der Eide im Strafverfahren v. 24.11.1933 (RGBl. I S. 1008), das ein kriminalpolitisch viel umstrittenes Problem anfaßte, war von dem Bestreben getragen, die Zahl unnötiger Eidesleistungen im Interesse der Heiligkeit des Eides nach Möglichkeit einzuschränken (Änderung der §§ 57—66, Einfügung der §§ 66a—66e). Es ersetzte den Voreid durch den Nacheid und erweiterte erheblich die Zahl der Fälle, in denen das Gericht nach seinem Ermessen von einer Beeidigung absehen durfte, ohne daß es indessen diesem Gesetz gelungen wäre, dem Streit um die rechtsstaatlich und kriminalpolitisch erwünschte und vertretbare Begrenzung des Eideszwanges ein Ende zu bereiten. Das unter c) erwähnte Ges. v. 24.4. 1934 (RGBl. I S. 341) brachte das Haftprüfungsverfahren für den ganzen Bereich der StPO in Wegfall. Das Ges. über Devisenbewirtschaftung v. 4. 2. 1935 (RGBl. I S. 106) nahm verfahrensrechtliche Vorschriften auf, die sich mit der Aburteilung von Devisenzuwiderhandlungen im beschleunigten Verfahren nach §212 sowie mit der Unterwerfung des Beschuldigten unter die von der Devisenstelle festgesetzte Strafe befaßte. Von besonderer Bedeutung war das bereits unter c) erwähnte Ges. v. 28. 6. 1935 (RGBl. I S. 44). Es beließ es bezgl. des Umfangs der Beweisaufnahme bei dem durch die NotVO v. 14. 6. 1932 geschaffenen Rechtszustand, wonach der „Strengbeweis" des § 245 Abs. 1 StPO nur für erstinstanzliche Gerichte galt, gegen deren Urteile es keine Berufung, also keine zweite Tatsacheninstanz gab, während freies Ermessen des Gerichts entschied, wenn zwei Tatsacheninstanzen gegeben waren, führte aber auch, soweit Strengbeweis galt, das freie Ermessen des Gerichts für den Beweis durch Augenschein und durch Sachverständige ein. Ein Schritt von bleibender Bedeutung war, daß der neu eingefügte § 245 Abs. 2 im Anschluß an die in der Rechtsprechung des RG ausgebildeten Grundsätze die Voraussetzungen genau und abschließend umschrieb, unter denen in den Fällen des Strengbeweises allein ein Beweisantrag abgelehnt werden kann. Einer mißbräuchlichen Handhabung des freien Ermessens sollte der als beherrschender Grundsatz an die Spitze der Beweisaufnahme gestellte § 244 Abs. 2 entgegenwirken, wonach das Gericht von Amts wegen alles zu tun hat, was zur Erforschung der materiellen Wahrheit notwendig ist. Im übrigen bestimmte die Novelle, wie zu verfahren sei, wenn es sich um Rechtsschöpfung durch entsprechende Anwendung eines Strafgesetzes oder um Wahlfeststellung handelte, hob das in den §§ 331, 358 upd 373 enthaltene Verbot der reformatio in peius auf, beseitigte die notwendige Voruntersuchung, führte den Hilfsuntersuchungsrichter ein, schuf als neue Haftgründe, neben Fluchtverdacht und Verdunkelungsgefahr, die Gefahr des Mißbrauchs der Freiheit zu neuen Straftaten und die durch die Schwere der Tat hervorgerufene Erregung der Öffentlichkeit und regelte das Verfahren gegen Flüchtige und bei Verletzung der Wehrpflicht. e) Strafverfahrensrechtliche Verwaltungsvorschriften. — Die aus Anlaß des Übergangs der Justizhoheit der Länder auf das Reich auf Vereinheitlichung bisher landesrechtlich geregelter Materien gerichteten gesetzgeberischen Maßnahmen wurden ergänzt durch umfassende Vorschriften der Reichsjustizverwaltung für solche Gebiete, die einer Ordnung durch Justizverwaltungsanordnung zugänglich waren. Es sind hier u. a. zu nennen die Gnadenordnung v. 6. 2. 1935 (DJ 1935 203), die Richtlinien für das Strafverfahren v. 13.4. 1935 (Sonderveröffentlichung Nr. 7 der DJ), die Strafvollstreckungsordnung v. 7 . 1 2 . 1 9 3 5 (DJ 1935,1800), die Allgemeine Verfügung des Reichsministers über die Vereinheitlichung der Staatsanwaltschaft v. 18. 12. 1934 (DJ S. 1608), die Aufbau und Gliederung der Staatsanwaltschaft, die Aufsicht und Leitung, Zeichnungsbefugnis, Geschäftsverteilung und die Bestellung der Hilfsbeamten der Staatsanwaltschaft regelte, und die Allg. Verf. über Mitteilungen in Strafsachen v. 21. 5. 1935 (Amtl. Sonderveröffentl. der DJ Nr. 8). Diese (und andere) in der Folgezeit vielfach geänderten und ergänzten Anordnungen (Zusammenstellung bei K r u g / S c h ä f e r / S t o l z e n b u r g , Strafrechtl. Verwaltungsvorschriften, 3. Aufl. 1943) waren für die praktische Handhabung der Strafrechtspflege von wesentlicher Bedeutung und haben im Wandel der Zeiten auch nach dem Rückfall der Justizhoheit auf die Länder ihre Wirksamkeit zum größten Teil in der Weise behalten, daß sie durch einheitlich gel12

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Kap. 3 4

tende, durch Vereinbarungen zwischen den Justizverwaltungen des Bundes und der Länder geschaffene Vorschriften ersetzt wurden (s. unten S. 22). Von 1936 bis zum Ausbruch des Krieges. Die gesetzgeberischen Maßnahmen der Jahre 1933—1935, soweit sie über die Regelung aktueller Bedürfnisse hinaus kriminalpolitische, oben S. 9 gekennzeichnete Grundgedanken erkennen lassen, waren nur Vorläufer eines bald nach der Machtergreifung beschlossenen Planes, neben die bereits in Angriff genommene Reform des materiellen Strafrechts eine umfassende Reform der Gerichtsverfassung und des Strafverfahrens treten zu lassen. Nachdem das Ges. v. 28. 6. 1935 die für dringend notwendig erachteten Neuerungen auf diesen Gebieten vorweggenommen hatte, berief der Reichsjustizminister im Jahr 1936 eine Strafprozeßkommission ein, die einen den Anschauungen und Bedürfnissen des neuen Strafrechts entsprechenden Entwurf einer Strafverfahrensordnung und einer Friedensrichterordnung aufstellen sollte (vgl. dazu unten S. 39). Die Hoffnung auf baldigen Abschluß der Reform veranlaßte den Gesetzgeber zur Zurückhaltung, so daß die Zahl der in diesem Zeitraum erlassenen Gesetze gegenüber der vorangegangenen Zeit stark zurücktritt. a) Gerichtsverfassung. — Das Gesetz über die Geschäftsverteilung bei den Gerichten v. 24. 11. 1937 (RGBl. I S. 1286) erklärte die Geschäftsverteilung für eine Angelegenheit der Justizverwaltung, übertrug sie den Präsidenten der Gerichte und hob die Vorschriften des GVG über das Präsidium auf. Damit war die dem Grundsatz des „gesetzlichen Richters" (§ 16 GVG) entsprechende justizformige Regelung der Geschäftsverteilung und Besetzung der Kammern und Senate beseitigt und der Staatsführung auf dem Weg der Weisung an den als Justizverwaltungsorgan weisungsgebundenen Gerichtspräsidenten die politische Einflußnahme auf die Strafrechtspflege im allgemeinen, u. U. auch auf den Einzelfall, eröffnet; zugleich waren dem „Führerprinzip" zuliebe die ohnedies bescheidenen Ansätze einer kollegialen richterlichen Selbstverwaltung zum Schaden der — formell nicht angetasteten — richterlichen Unabhängigkeit vernichtet. Auf den aufrechterhaltenen § 2 GVG bezogen sich das Ges. über die Befähigung zum Richteramt v. 27. 2. 1937 (RGBl. I S. 127), ferner die VOen über die Befähigung zum Richteramt, zur Staatsanwaltschaft, zum Notariat und zur Rechtsanwaltschaft v. 4. 1. 1939 (RGBl. I S. 5), über die Vorbildung und die Laufbahnen der deutschen Beamten v. 28. 2. 1939 (RGBl. I S. 371) und über die Laufbahn für das Amt des Richters und des Staatsanwalts v. 16.5.1939 (RGBl. I S. 917) mit den Durchführungsbestimmungen v. 6. 6. 1939 (DJ 1939,996). b) Volksgerichtshof. - Das Ges. v. 18.4. 1936 (RGBl. I S. 369) sprach dem Volksgerichtshof die Eigenschaft als ordentliches Gericht im Sinn des GVG zu — tatsächlich blieb es trotz dieser Etikettierung ein Sondergericht; vgl. BGH NJW 1954 1777 — und bestimmte die Besetzung des Volksgerichtshofs sowie die Stellung der Beamten, die dort das Amt der Staatsanwaltschaft ausübten. Mit der Besetzung, der Zuständigkeit und dem Verfahren des Volksgerichtshofs befaßten sich weiter die VOen v. 18.4. 1936 (RGBl. I S. 398) und v. 4. 5. 1936 (RGBl. I S. 341) sowie die Ges. zur Änderung des Strafgesetzbuchs v. 2. 7. 1936 (RGBl. I S. 532) und gegen Wirtschaftssabotage v. 1. 12. 1936 (RGBl. I S. 999). c) Sondergerichte. - Zunächst dehnte die VO v. 5. 2. 1936 (RGBl. I S. 97) die Zuständigkeit dieser Gerichte noch weiter aus; eine gewisse Einschränkung brachte der durch das Ges. v. 4. 5. 1936 in die Sondergerichts VO v. 21. 3. 1933 neu aufgenommene § 3 a, wonach die Anklagebehörde die Untersuchung an die Staatsanwaltschaft zur Behandlung im ordentlichen Verfahren abgeben konnte, wenn die alsbaldige Aburteilung der Tat für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung oder für die Staatssicherheit von minderer Bedeutung oder wenn der Täter ein Jugendlicher war. War aber bis dahin die Zuständigkeit der Sondergerichte auf Zuwiderhandlungen gegen bestimmte Strafvorschriften beschränkt geblieben, so ermächtigte nunmehr die VO über die Erweiterung der Zuständigkeit der Sondergerichte v. 20. 11. 1938 (RGBl. I S. 1632) die Anklagebehörde dazu, bei allen Verbrechen, die zur Zuständigkeit des Schwurgerichts oder eines niedrigeren Gerichts gehören, Anklage vor 13

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Einleitung (Schäfer)

4 dem Sondergericht zu erheben, wenn die sofortige Aburteilung durch das Sondergericht nach der Ansicht der Anklagebehörde wegen der Schwere oder der Verwerflichkeit der Tat oder wegen der in der Öffentlichkeit entstandenen Erregung geboten war. Das bedeutete die Preisgabe des die §§ 13 und 16 GVG tragenden Grundsatzes, der verlangt, daß die Sondergerichtsbarkeit von der ordentlichen Gerichtsbarkeit durch Grenzen getrennt wird, die nach der Eigenart der Täter oder der Taten oder nach Geltungsraum oder Geltungszeit scharf bestimmt sind. Schließlich reihte die VO über Strafen und Strafverfahren bei Zuwiderhandlungen gegen Preisvorschriften v. 3. 6. 1939 (RGBl. I S. 999) weitere Straftaten in die Zuständigkeit der Sondergerichte ein. d) Wehrmachtsstrafverfahren. - Das Ges. v. 26. 6. 1936 "(RGBl. I S. 517) ordnete die Wiedereinrichtung eines Obersten Gerichtshofes der Wehrmacht an. Die VO v. 5. 9. 1936 (RGBl. I S. 718) schuf demzufolge das Reichskriegsgericht mit dem Sitz in Berlin. Das RG gab die Arbeit, die es bisher als Revisionsgericht geleistet hatte, an den neuen Gerichtshof ab. Durch die Bekanntmachung v. 29. 9. 1936 (RGBl. I S. 751) erhielten die MStGO und das EGMStGO eine neue Fassung. Vom Ausbruch des Krieges bis zum 8. 5. 1945. Die umfangreiche Gesetzgebung während des Krieges auf dem Gebiet des Strafgerichtsverfassungs- und Strafverfahrensrechts hat zwiespältigen Charakter. Sie ist einerseits gekennzeichnet durch einschneidende Maßnahmen, die, durch die Kriegsverhältnisse, insbesondere den Kräftemangel und das Bedürfnis, die öffentliche Ordnung auch in gefährdeten Zeiten durch nachdrückliche Ahndung von Straftaten aufrechtzuerhalten, veranlaßt, als zeitlich begrenzte Notbehelfe gedacht waren. Zugleich aber zeigte sich, nachdem durch den Kriegsausbruch und die Dauer des Krieges die Hoffnung, die weit gediehenen Pläne nach einer umfassenden Reform des materiellen und des Gencntsverfassungs- und Verfahrensrechts bald zu verwirklichen, geschwunden war, das Bestreben, wichtige Reformpunkte unter dem Gesichtspunkt (oder dem Vorwand) einer kriegsgebotenen Vereinfachung vorwegzunehmen und damit auf Dauer berechnetes Recht zu schaffen. Das gilt z. B. für die Einführung des außerordentlichen Einspruchs und der Nichtigkeitsbeschwerde, die Neugestaltung der sachlichen Zuständigkeit, die allgemeine Preisgabe des Eröffnungsverfahrens, den Einbau eines Verfahrens zur Entschädigung des Verletzten, die Änderung der Vorschriften über die Wiederaufnahme des Verfahrens sowie die Umwandlung der Jugendgerichtsverfassung und des Jugendstrafverfahrens. Nicht einzugehen ist an dieser Stelle auf gewisse außerhalb des geschriebenen Rechts vollzogene Maßnahmen und Verlautbarungen wie den bekannten, aus Mißtrauen gegen die Justizgerichte geborenen Beschluß des Reichstages v. 26. 4. 1942, der den „Führer" zum „obersten Gerichtsherm" erklärte mit dem Recht, auch den Richter „ohne Einleitung vorgeschriebener Verfahren aus seinem Amte, aus seinem Rang und seiner Stellung zu entfernen". Was hier an faktischen, gegen die richterliche Unabhängigkeit gerichteten politischen Einflußnahmen geleistet wurde, mag man etwa aus der Darstellung bei S c h o r n , „Der Richter im Dritten Reich" (1959) ersehen. a) Gerichtsverfassung. — Die VO über Maßnahmen auf dem Gebiet der Gerichtsverfassung und der Rechtspflege v. 1. 9. 1939 (RGBl. I S. 1658) ermächtigte den Reichsminister der Justiz, Gerichte zu errichten und aufzuheben, ihren Sitz zu verlegen und ihre Bezirke anders zu begrenzen; sie verpflichtete die Richter zur Wahrnehmung von Dienstgeschäften auch außerhalb des Gerichts, dem sie als ständig angestellt angehörten, und ermöglichte die Verwendung von Hilfsrichtern und ihre Betrauung mit dem Vorsitz bei allen Gerichten. Die Mitwirkung der Laienrichter entfiel; die VO übertrug die Zuständigkeit des Schöffengerichts auf den Amtsrichter, die des Schwurgerichts auf die Strafkammer. Sie verringerte ferner die Zahl der in der Hauptverhandlung des ersten Rechtszuges mitwirkenden Richter der Strafsenate der Oberlandesgerichte. Zu dieser ersten VereinfachungsVO ergingen die DurchführungsVOen v. 8. 9. 1939 (RGBl. I S. 1709) u. v. 4. 10. 1939 (RGBl. I S. 1994). Das Ges. zur Änderung von Vorschriften des allgemeinen Strafverfahrens, des Wehrmachtsstrafverfahrens und des Strafgesetzbuchs v. 16. 9. 1939 (RGBl. I S. 1841) regelte die Überweisung von Strafsachen aus der allgemeinen Gerichtsbarkeit an die Wehrmachtsgerichtsbarkeit und begründete den Besonderen Strafsenat des R G zur Entscheidung über den außerordentlichen Einspruch (s. unten c) und als Gericht des ersten Rechtszugs in Straf14

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Sachen von großer Bedeutung, die nicht zur Zuständigkeit des Volksgerichtshofs gehörten. Dem Ges. folgten die DurchführungsVOen v. 17. 9. 1939 (RGBl. I S. 1847) und v. 11. 12. 1939 (RGBl. I S. 2402) nach. Die VO zum Schutz gegen jugendliche Schwerverbrecher ermächtigte den Staatsanwalt, Anklage gegen einen bei Tatbegehung über 16 Jahre alten Jugendlichen vor dem Erwachsenengericht zu erheben. Die VO v. 17. 10. 1939 (RGBl. I S. 2107) begründete eine Sondergerichtsbarkeit in Strafsachen für Angehörige der SS und für die Angehörigen der Polizeiverbände bei besonderem Einsatz. Weitere Eingriffe von tiefer und breiter Wirkung vollzog die VO über die Zuständigkeit der Strafgerichte, die Sondergerichte und sonstige strafverfahrensrechtliche Vorschriften v. 2 1 . 2 . 1 9 4 0 (RGBl. I S. 105). Sie bestimmte die sachliche Zuständigkeit der Strafgerichte nach neuen Grundsätzen derart, daß die Strafgewalt („Strafbann") des Amtsrichters bis zu zwei Jahren Zuchthaus reichte und von den Maßregeln der Sicherung und Besserung nur die Sicherungsverwahrung und die Entmannung nicht umfaßte, während die Strafgewalt der Strafkammer keine Grenze hatte, und daß der Staatsanwalt die Anklage vor dem Amtsrichter erhob, wenn er dessen Strafgewalt für ausreichend hielt, im übrigen vor der Strafkammer, daß er aber auch bei ausreichender Strafgewalt des Amtsrichters vor der Strafkammer anklagen konnte, wenn er dies mit Rücksicht auf den Umfang oder die Bedeutung der Sache oder aus einem anderen Grund für angezeigt erachtete. Die DurchfVO v. 13. 3. 1940 (RGBl. I S. 489) setzte in § 21 Nr. 3 unter anderen die §§ 2 4 - 2 6 a , 28, 7 9 - 9 2 , 134, 139 Satz 2 GVG sowie den § 9 EGGVG außer Kraft. Eine weitere Heranziehung von Referendaren zur selbständigen Wahrnehmung von Geschäften des Richters, des Staatsanwalts und des Rechtsanwalts wurde durch die VO zur Vereinfachung der Gerichtsverfassung, der bürgerlichen Rechtspflege und des Kostenrechts v. 16. 5. 1942 (RGBl. I S. 333) ermöglicht; der Reichsjustizminister erließ hierzu die Allg. Verf. v. 4. 7. 1942 (DJ 454, 455). Die zweite VO zur Vereinfachung der Strafrechtspflege v. 13. 8. 1942 (RGBl. I S. 508) erweiterte die Strafgewalt des Amtsrichters auf fünf Jahre Zuchthaus und schrieb vor, daß der Vorsitzer oder sein regelmäßiger Stellvertreter die Entscheidungen der Strafkammer, des Sondergerichts und des Strafsenats beim Oberlandesgericht allein treffen konnte, wenn er wegen der einfachen Sach- und Rechtslage die Mitwirkung der Beisitzer für entbehrlich hielt und der Staatsanwalt zustimmte. Der Art. 1 der VO zur weiteren Kräfteersparnis in der Strafrechtspflege v. 29. 5. 1943 (RGBl. I S. 346) schritt in derselben Richtung fort, indem er den Vorsitzer der zuvor genannten Gerichte unter derselben Voraussetzung ermächtigte, zu bestimmen, daß ein Beisitzer die Entscheidung allein trifft und daß Entscheidungen in der Besetzung von zwei Richtern mit Einschluß des Vorsitzers getroffen werden könnten; er ermöglichte dieselbe Besetzung für die außerhalb der Hauptverhandlung ergehenden Beschlüsse des Strafsenats und des Besonderen Strafsenats beim Reichsgericht. b) Jugendgerichtsverfassung und Jugendstrafverfahren. — Mit Wirkung vom 1. 1. 1944 trat das RJGG vom 6. 11. 1943 (RGBl. I S. 639) an die Stelle des J G G vom Febr. 1923. In dem die Jugendgerichtsverfassung betreffenden Teil traf es insbesondere Vorschriften über die Jugendgerichte, die Aufgaben des Jugendrichters und die Bestellung der Jugendstaatsanwälte. c) Allgemeines Strafverfahren. — Die VereinfachungsVO v. 1.9. 1939 (oben Buchst, a) beschränkte die Rechtsmittel, engte die Voraussetzungen der notwendigen Verteidigung und der Bestellung eines Verteidigers von Amts wegen in anderen Fällen ein, gab dem beschleunigten Verfahren und dem Strafbefehl einen noch weiteren Raum, stellte die Entscheidung über Beweisanträge allgemein in das (pflichtmäßige) Ermessen des Gerichts (§ 24) und ermöglichte die Aussetzung der Entscheidung über einen Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens. Das Ges. v. 16. 9. 1939 (oben Buchst, a) eröffnete eine bisher nicht gegebene Möglichkeit der Verbindung von Strafsachen der allgemeinen Gerichtsbarkeit und der Wehrmachtsgerichtsbarkeit, führte den „Außerordentlichen Einspruch gegen rechtskräftige Urteile" neu ein, der zur Folge hatte, daß der Besondere Strafsenat des R G in der Sache von neuem entschied, und verlieh dem Oberreichsanwalt beim RG das Recht, Anklage vor diesem Senat in Sachen zu erheben, für die nicht der Volksgerichtshof zuständig war. Das Verfahren des Revisionsgerichts war Gegenstand der VO zur Durchführung und Ergänzung der VO gegen Gewaltverbrecher v. 28. 12. 1939 (RGBl. 1940 I S. 17). Die ZuständigkeitsVO v. 21.2. 1940 (oben Buchst, a) faßte die bisherigen Vorschriften über das beschleu15

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4 nigte Verfahren vor dem Amtsrichter zusammen und ließ dieses Verfahren innerhalb der Strafgewalt des Amtsrichters auch bei Verbrechen zu, beugte aber den großen Gefahren, die aus der Beschleunigung für die Gerechtigkeit des Urteils hervorgehen können, dadurch vor, daß sie den Amtsrichter berechtigte und verpflichtete, die Aburteilung im beschleunigten Verfahren abzulehnen, wenn sich die Sache zur Verhandlung in diesem nicht eigne. Dieselbe VO änderte die Vorschriften über die Verteidigung abermals und schuf in der „Nichtigkeitsbeschwerde des Oberreichsanwalts" einen weiteren Rechtsbehelf gegen rechtskräftige Entscheidungen des Amtsrichters, der Strafkammer und des Sondergerichts. Die Nichtigkeitsbeschwerde war zeitlich beschränkt und nur zur Abhilfe gegenüber einem Fehler bei Anwendung des Rechts auf die festgestellten Tatsachen zulässig; die Entscheidung über sie wurde den ordentlichen Strafsenaten des RG übertragen. Die zur ZuständigkeitsVO erlassene DurchführungsVO v. 13. 3. 1940 (oben Buchst, a) erklärte im § 21 Nr. 1 u. 28 unter anderem die §§ 5a, 140, 141, 142, 144 Abs. 1, 212, 270 Abs. 1 Satz 2. 281, 407 Abs. 4, 422 Abs. 2 StPO und die §§ 2 0 - 2 2 der VereinfachungsVO v. 1. 9. 1939 für nicht mehr gültig. Vorschriften über das Strafverfahren waren ferner in der VerbrauchsregelungsStrafVO v. 6.4. 1940 (RGBl. I S. 610) enthalten. Die VO über den Geltungsbereich des Strafrechts v. 6. 5. 1940 (RGBl. I S. 754) nahm die §§ 8 a und 153 a in die StPO auf. Die zweite VO zur Vereinfachung der Strafrechtspflege v. 13. 8. 1942 (oben Buchst, a) schrieb die Beseitigung des Eröffnungsbeschlusses vor, ließ den Strafbefehl bis zur Höhe von sechs Monaten Freiheitsstrafe auch bei Verbrechen zu, ermächtigte den Staatsanwalt zum Verzicht auf Teilnahme an der Hauptverhandlung im Verfahren vor dem Amtsrichter, beseitigte den Zwang zur Mitwirkung eines Schriftführers in der Hauptverhandlung allgemein und schränkte die Rechtsmittel durch das Erfordernis einer besonderen Zulassung der Beschwerde und der Berufung des Angeklagten, des Privatklägers oder des Nebenklägers ein. Sie erweiterte die Voraussetzungen der Nichtigkeitsbeschwerde so, daß sie erhoben werden konnte, wenn die Entscheidung wegen eines Fehlers bei der Anwendung des Rechts ungerecht erschien oder wenn ein erhebliches Bedenken gegen die Richtigkeit der tatsächlichen Feststellungen oder gegen den Strafausspruch bestand, und ermächtigte den Oberreichsanwalt zur Abgabe der mit der Nichtigkeitsbeschwerde angefochtenen Sachen an den Generalstaatsanwalt beim Oberlandesgericht. Das Privatklageverfahren wurde wesentlich beschränkt; Privatklagen wegen Beleidigung konnten grundsätzlich erst nach Ablauf eines Monats seit Erlangung der Kenntnis von Tat und Täter erhoben werden; in anderen Privatklagesachen konnte das Verfahren auf einen Monat ausgesetzt werden, wenn in dieser Zeit mit der Einkehr des Friedens zwischen den Beteiligten zu rechnen war. Als Dauerrecht waren die Vorschriften über die Erledigung des Privatklageverfahrens in Fällen von geringerer Schwere durch F r i e d e n s s p r u c h gedacht (Art. 8 §§ 2—4). Im Friedensspruch konnte das Gericht eine Verwarnung aussprechen, dem Täter eine Friedensbuße in Geld auferlegen oder ihm, wenn zu befürchten war, daß er dem Verletzten gegenüber nicht Frieden halten werde, eine Friedensbürgschaft durch Leistung einer Sicherheit in Geld auferlegen, die verfiel, wenn er innerhalb der im Spruch bestimmten Zeit nicht Frieden hielt. Mit dem Friedensspruch konnten Feststellungen zur Wiederherstellung des guten Rufs des Verletzten verbunden werden. Weiter hob die VO die §§ 3 8 , 1 7 2 - 1 7 7 , 220,386 Abs. 2, 395 Abs. 2, und 472 StPO auf, so daß die unmittelbare Ladung durch den Angeklagten, den Privatkläger und den Nebenkläger, das Klageerzwingungsverfahren und das Kreuzverhör in Wegfall kamen. Sie ersetzte die §§ 232, 233 und 233 a StPO, die sich mit der Aburteilung des abwesenden Angeklagten befaßten, durch einen neuen § 232 und gab dem § 235 demzufolge eine andere Fassung. Sie änderte überdies die §§ 36 Abs. 2, 116, 152, 153, 195 Abs. 1, 214 Abs. 1, 222, 229, 260, 266, 377 Abs. 1, 382 und 388 StPO; damit wurden die Befugnisse des Staatsanwalts erweitert, der nunmehr bei Antragsdelikten und geringfügigen Vergehen auch ohne amtsrichterliche Zustimmung von der Anklageerhebung absehen und über Beschränkungen während der Untersuchungshaft im Vorverfahren neben dem Amtsrichter entscheiden konnte. Die VO zur Beseitigung des Eröffnungsbeschlusses im Strafverfahren v. 13.8. 1942 (RGBl. I S. 512) regelte im einzelnen das nach der Beseitigung des Eröffnungsbeschlusses einzuschlagende Verfahren; an die Stelle der Eröffnung des Hauptverfahrens trat die Anordnung der Hauptverhandlung, die nur unter bestimmten eng begrenzten Voraussetzungen vom Gericht abgelehnt werden konnte. Diese Neuerung hatte so zur Folge, daß die §§ 213, 215, 264 Abs. 2 StPO gestrichen und die §§ 16, 25, 148, 156, 217 16

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Abs. 2, 243 Abs. 2, 4, 265, 267 Abs. 4, 270 Abs. 2, 3 und 279 Abs. 1 StPO geändert wurden oder anders als bisher angewandt werden mußten. Mit Rücksicht auf die Neugestaltung der Vorschriften des StGB über den Meineid und auf die Neuaufnahme einer Vorschrift über die Bestrafung der falschen uneidlichen Aussage änderte der Art. 4 der VO v. 29. 5. 1943 (RGBl. I S. 341) die §§ 57, 59 und 66b Abs. 2 Satz 2 vornehmlich in dem Sinn ab, daß das Gericht nach pflichtmäßigem Ermessen entschied, ob ein Zeuge zu vereidigen war; er strich demzufolge die §§ 61, 62, 79 Abs. 1 Satz 2, § 223 Abs. 3 und § 286 Abs. 2. Die dritte VO zur Vereinfachung der Strafrechtspflege v. 29.5. 1943 (RGBl. I S. 342) vereinfachte das Verfahren bei Ausschließung und Ablehnung von Gerichtspersonen, änderte den § 200 Abs. 2 im Sinn einer Vereinfachung, ermöglichte allgemein die Abkürzung der Ladungsfrist bis auf vierundzwanzig Stunden und erleichterte die Verlesung von Niederschriften in der Hauptverhandlung. Darüber hinaus brachte sie als Dauerrecht gehaltene Neuerungen, indem sie das Adhäsionsverfahren einführte (Änderung der bisherigen §§ 403—406) und das Recht der Wiederaufnahme des Verfahrens in dem Sinne umgestaltete, daß sie die Gründe für die Wiederaufnahme des Verfahrens zuungunsten des Angeklagten denjenigen über die Wiederaufnahme zugunsten des Verurteilten anglich; zugleich wurde die Wiederaufnahme gegen einen rechtskräftigen Strafbefehl zugelassen. d) Volksgerichtshof. — Das Ges. v. 16. 9. 1939 (oben Buchst, a) ließ den „außerordentlichen Einspruch" auch gegen die Urteile des Volksgerichtshofs zu, über den ein besonders zusammengesetzter Besonderer Senat des Volksgerichtshofs zu entscheiden hatte. Die ZuständigkeitsVO v. 21. 2. 1940 (oben Buchst, a) faßte die Vorschriften über die Zuständigkeit des Volksgerichtshofs zusammen und erklärte die Verteidigung vor diesem Gericht für notwendig. Die VO über die erweiterte Zuständigkeit des Volksgerichtshofs v. 10. 12. 1941 (RGBl. I S. 776) begründete seine Zuständigkeit für Spionage im Sinn des § 2 der KriegssonderstrafrechtsVO unter der Voraussetzung, daß das Oberkommando der Wehrmacht oder der Gerichtsherr erklärte, daß die militärischen Belange die Aburteilung durch ein Wehrmachtsgericht nicht erforderten. e) Sondergerichte. — Die VereinfachungsVO v. 1.9. 1939 (oben Buchst, a) erweiterte den Tätigkeitsbereich der Sondergerichte. Sie ermöglichte die Erhebung der Anklage vor dem Sondergericht bei Verbrechen und Vergehen, die zur Zuständigkeit des Schwurgerichts oder eines niedrigeren Gerichts gehörten, ohne eine Grenze nach dem Gegenstand der Straftat zu ziehen. Dann unterstellten die VOen über außerordentliche Rundfunkmaßnahmen v. 1. 9. 1939 (RGBl. I S. 1683), gegen Volksschädlinge v. 5. 9. 1939 (RGBl. I S. 1679) und gegen Gewaltverbrecher v. 5. 12. 1939 (RGBl. I S. 2378, 19401 S. 17) bestimmte Verbrechen der ausschließlichen Zuständigkeit der Sondergerichte. Schließlich faßte die ZuständigkeitsVO v. 21.2. 1940 (oben Buchst, a) die Vorschriften über den Aufbau und die Zuständigkeit der Sondergerichte, über das vor diesen Gerichten einzuhaltende Verfahren und über das Verhältnis zwischen Sondergerichten und ordentlichen Gerichten zusammen. Die bei den Landgerichten gebildeten Sondergerichte waren danach für bestimmte Straftaten ausschließlich und für andere Verbrechen und Vergehen dann zuständig, wenn die Anklagebehörde die Aburteilung durch das Sondergericht mit Rücksicht auf die Schwere oder die Verwerflichkeit der Tat, wegen der in der Öffentlichkeit hervorgerufenen Erregung oder wegen ernster Gefahrdung der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit für geboten erachtete. Die Unanfechtbarkeit der Entscheidungen der Sondergerichte wurde aufrechterhalten. 0 Wehnnachtsstrafverfahren. — Am 26.8. 1939 trat die VO über das militärische Strafverfahren im Krieg und bei besonderem Einsatz — Kriegsstrafverfahrensordnung — v. 17. 8. 1938 (RGBl. I S. 1457) gemäß der VO v. 26. 8. 1939 (RGBl. I S. 1482) in Kraft. Das Ges. v. 16. 9. 1939 (oben Buchst, a) regelte die Verbindung von Strafsachen der allgemeinen Gerichtsbarkeit und der Wehrmachtsgerichtsbarkeit und änderte mehrere Vorschriften der MStGO; hierbei fanden neue Vorschriften über die „Außerordentliche Wiederaufnahme auf Anordnung des Führers und Obersten Befehlshabers der Wehrmacht", über den für die erneute Verhandlung und Entscheidung zuständigen Sondersenat des Reichskriegsgerichts und über das Verfahren vor diesem Senat Aufnahme in die MStGO. Von den VOen, die dann noch Einfluß auf das Wehrmachtsstrafverfahren ausübten, sind die vierte VO zur 17

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Durchführung und Ergänzung der KStVO v. 1. 11. 1939 (RGBl. I S. 2132) sowie die VO v. 10. 12. 1941 (oben Buchst, d) hervorzuheben. Das Mißtrauen, das die politische Führung den Justizgerichten entgegenbrachte (oben S. 10, 14) erstreckte sich gegen Ende des Krieges auch auf die Wehrmachtsgerichte. So wurden die an den Ereignissen des 20. 7. 1944 beteiligten Offiziere der Aburteilung durch die Wehrmachtsgerichte entzogen und dem Volksgerichtshof überstellt. Auf weitere Einzelheiten ist in diesem summarischen Uberblick nicht einzugehen. 5. Die Nachkriegsgesetzgebung bis zur Entstehung der Bundesrepublik. Das Kriegsende im Mai 1945 hinterließ ein Rechtschaos. Schon die seit der letzten umfassenden Neutextierung durch die Bekanntmachung vom 22.3. 1924 bis zum Beginn des Krieges im Sept. 1939 ergangenen, das GVG und die StPO ändernden und ergänzenden Vorschriften hatten den Rechtsstand schwer übersehbar gemacht; eine dringend gebotene Neutextierung war aber wegen der im Gang befindlichen Reform unterlassen worden. Erst recht war jede Übersichtlichkeit geschwunden, als die rasch aufeinanderfolgenden und sich übersteigernden und überlagernden Kriegsmaßnahmen nicht mehr erkennen ließen, was als zeitgebundenes Notrecht und was als Dauerrecht gedacht war. Die Gesetzgebung sah sich jetzt vor eine doppelte Aufgabe gestellt; einmal, die Kriegsmaßnahmen abzubauen, soweit nicht die in der Nachkriegszeit weiterbestehenden und neuauftretenden Schwierigkeiten zu ihrer Aufrechterhaltung zwangen, zum anderen, nach dem grundsätzlichen Wandel der politischen Verhältnisse und Anschauungen diejenigen aus der Zeit der Herrschaft des Nationalsozialismus stammenden Änderungen, die als spezifisch nationalsozialistisch empfunden wurden, auszumerzen. Diese Aufgabe aber konnte nicht reichseinheitlich von einer zentralen deutschen Gesetzgebung gelöst werden, da das Reich durch den Fortfall seiner Organe als Folge der bedingungslosen Kapitulation funktionsunfähig geworden war. Die Reichsgesetzgebungsgewalt wurde von den Besatzungsmächten ausgeübt. Als zwangsläufige Folge des Wegfalls der Reichsgewalt ergab sich im übrigen der Rückfall der Justizhoheit auf die — überwiegend neu gebildeten — Länder. Zum Erlaß von Gesetzen mit Wirkung für das Reichsgebiet errichteten die Oberbefehlshaber der Besatzungsgruppen durch KontrollratProklamation Nr. 1 v. 30. 8. 1945 einen Kontrollrat. Die Methoden der gesetzgebenden Gewalt des Kontrollrats wurden durch Kontrollrat-Direktive Nr. 10 v. 22.9. 1945 dahin festgelegt, daß der Kontrollrat seine Anordnungen allgemeinen Inhalts durch Proklamationen, Gesetze, Befehle oder Direktiven erlassen konnte. Das Gerichtsverfassungs- und Strafverfahrensrecht betrafen vornehmlich die Kontrollrat-Proklamation Nr. 3 betr. Grundsätze für die Umgestaltung der Rechtspflege v. 20. 10. 1945 (ABl. des Kontrollrats 1945 S. 22) und das Kontrollratsgesetz Nr. 4 über Umgestaltung des deutschen Gerichtswesens v. 30.10.1945 (ABl. S. 26). Die Kontrollrats-Proklamation Nr. 3 stellte lediglich einige Grundsätze auf, denen die Strafrechtspflege genügen müsse; insbesondere betraf sie die Schutzrechte des Angeklagten im Strafverfahren, sprach die Unabhängigkeit der Richter aus und hob den Volksgerichtshof und die Sondergerichte auf. Das Kontrollratsgesetz Nr. 4 regelte in großen Umrissen Aufbau und Zuständigkeit der Strafgerichte, wobei die Umgestaltung der Gerichte grundsätzlich in Übereinstimmung mit dem GVG in der Fassung der Bekanntmachung v. 22. 3. 1924 erfolgen sollte. Als ordentliche Gerichte wurden die Amts-, Land- und Oberlandesgerichte wiederhergestellt; das Reichsgericht war nicht mehr vorgesehen. Die Zuständigkeit der Amts- und Landgerichte sollte sich im allgemeinen nach dem am 30. 1. 1933 geltenden Recht richten. Über Berufungen gegen amtsgerichtliche Entscheidungen sollten die Landgerichte entscheiden; die Oberlandesgerichte waren Revisionsgerichte. Weiterhin grenzte das Gesetz die Zuständigkeit der deutschen Gerichte gegenüber derjenigen der Besatzungsgerichte ab. Die Durchführung dieser Grundsätze oblag den in den einzelnen Besatzungszonen bestehenden Gesetzgebungsgewalten. In der folgenden kurzen Übersicht soll nur die Rechtsentwicklung in den westlichen Besatzungszonen geschildert werden. a) In der amerikanischen Besatzungszone erließen die Länder Bayern, Bremen, Hessen und Württemberg-Baden auf Veranlassung der Militärregierung das Strafgerichtsverfassungsgesetz (StGVG) 1946 und die StPO 1946, die zwar in jedem Land als Landesgesetz ergingen, zunächst aber mit geringfügigen Abweichungen wörtlich übereinstimmten (Bayr. 18

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GVB1. 1946 Nr. 8, Hess. GVB1. 1946 Nr. 2 - 6 , Württ.-Baden RegBl. 1946 Nr. 9). In beiden Gesetzen wurde zwar weitgehend auf den Rechtsstand der vornationalsozialistischen Zeit zurückgegriffen, doch blieben auch eine Reihe von Änderungen aus der Zeit von 1933— 1945, wie etwa die Beseitigung des Eröffnungsbeschlusses, aufrechterhalten. Wesentlich war die einem Verlangen der Besatzungsmächte entsprechende Beseitigung des polizeilichen Strafverfügungsrechts, die zu einer Überflutung der Gerichte mit Übertretungsfiillen führte. Das GVG wurde in der Folgezeit durch mehrere Länderratsgesetze ergänzt. Die Bildung von Schöffen- und Schwurgerichten und die Abgrenzung ihrer Zuständigkeit sowie die Besetzung der Strafkammern mit Schöffen blieb Anordnungen der obersten Landesjustiz überlassen. Sie haben von dieser Ermächtigung erst in der Zeit ab 1947 Gebrauch gemacht (vgl. die Aufzählung in der Voraufl. S. 17). Diese Anordnungen der Länder waren nicht einheitlich und hatten z. T. weitgehende Verschiedenheiten in der Besetzung und sachlichen Zuständigkeit der Strafgerichte zur Folge. Die durch die Emminger-Verordnung 1924 erfolgte Umwandlung des Schwurgerichts wurde im allgemeinen aufrechterhalten, doch wurde es z. B. in Hessen mit zwei Richtern und sieben Geschworenen besetzt. Aus dem Rahmen der in den übrigen Ländern getroffenen Anordnungen fiel die bayerische Neuordnung der Besetzung des Schwurgerichts heraus (VO v. 13.7. 1948, GVB1. 234); sie führte, z . T . unter Rückgriff auf den Rechtszustand vor der Emminger-Reform, die Trennung in eine Richterbank (drei Richter) und eine Geschworenenbank (zwölf Geschworene) ein, wobei über die Schuldfrage allein die Geschworenen entschieden, während über die Strafbemessung Richter und Geschworene gemeinsam entschieden. In Bayern wurde durch Gesetz v. 11.5. 1948 (GVB1. S. 83) das im Jahre 1935 aufgehobene BayObLG wiedererrichtet. Durch Länderratsgesetz wurde 1948 in das GVG ein § 13 a eingefügt, der die Landesgesetzgebung ermächtigte, die in die Zuständigkeit der Amtsgerichte fallenden Strafsachen Friedensgerichten oder Friedensrichtern zur Entscheidung zuzuweisen. Von dieser Ermächtigung hat Württemberg-Baden durch Ges. über die Friedensgerichtsbarkeit v. 20.3. 1949 (RegBl. S. 47), das bei der Wiederherstellung der Rechtseinheit im Bundesgebiet aufrechterhalten wurde, für Übertretungen Gebrauch gemacht. Über das Schicksal dieses Gesetzes vgl. unten S. 197. b) In der britischen Besatzungszone (Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, SchleswigHolstein, Hamburg) galt die von der Militärregierung erlassene Allg. Anweisung für Richter Nr. 2; durch VO der brit. Militärregierung v. 1. 10. 1945 (ABl. S. 50) wurde diese Anweisung, die im wesentlichen dem in der amerikanischen Zone geltenden Recht entsprach, mit Gesetzeskraft ausgestattet. In der Folgezeit wurde, zunächst durch übereinstimmende VOen der OLG-Präsidenten, dann, nach Bildung des Zentral-Justizamtes für die britische Zone, durch VOen dieser Stelle der Text von GVG und StPO mehrfach geändert, so daß schließlich erhebliche Unterschiede gegenüber dem Recht der amerikanischen Zone bestanden. Auch in der britischen Zone wurde das polizeiliche Strafverfügungsrecht beseitigt und statt dessen durch VOen der OLG-Präsidenten (z. B. für Hamburg VO v. 10. 8. 1946, HansJustVerwBl. S. 43, für Düsseldorf VO v. 18. 8. 1946, JustBl. S. 57) neben dem Strafbefehl als weiteres summarisches Erledigungsmittel die amtsrichterliche Strafverfügung eingeführt. Das Recht der britischen Zone ist gekennzeichnet durch das Bestreben nach einheitlicher Rechtsetzung und Rechtsanwendung. Neben dem Zentraljustizamt, dem die zoneneinheitliche Gesetzgebungsbefugnis übertragen war, wurde als zonenhöchstes Revisionsgericht, dem an Stelle des weggefallenen Reichsgerichts die Wahrung der Rechtseinheit in der Rechtsprechung oblag, durch VO Nr. 98 der brit. Militärregierung und DurchfVO des Zentraljustizamts v. 17. 11. 1947 (VOB1. S. 149) der Oberste Gerichtshof für die britische Zone mit dem Sitz in Köln geschaffen. Nach Bildung des die amerikanische und britische Zone umfassenden vereinigten Wirtschaftsgebiets wurde ferner durch Proklamation Nr. 8 der brit. und amerik. Militärregierung im Jahre 1948 das „Deutsche Obergericht für das Vereinigte Wirtschaftsgebiet" mit dem Sitz in Köln errichtet, das — freilich in engen Grenzen — über die Revision gegen Entscheidungen von Strafgerichten in der Doppelzone entschied, wenn es sich um grundsätzlich bedeutsame Fragen der Auslegung von Gesetzen der Verwaltung des vereinigten Wirtschaftsgebiets handelte. — Die Wiedereinführung der Schöffen- und Schwurgerichte und die Abgrenzung ihrer Zuständigkeit erfolgte in der brit. Zone durch VO des Zentraljustizamts v. 22. 8. 1947 (VOB1. S. 115).

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6 c) In der französischen Besatzungszone erließen die Länder (Rheinl.-Pfalz, Baden, Württ.-Hohenzollern, bay. Kreis Lindau) in den Jahren 1946 und 1947 inhaltlich im wesentlichen übereinstimmende Vorschriften, deren Grundgedanke war, daß sich das Verfahren im allgemeinen nach dem am 8. 5. 1945 geltenden Recht, Aufbau, Zuständigkeit und Besetzung der Gerichte dagegen nach dem GVG i. d. F. der Bekanntm. v. 22. 3. 1924 unter Berücksichtigung der bis zum 30. 1. 1933 erfolgten Änderungen richtete (vgl. die Aufzählung auf S. 18 der Vorauflage). Auch in der französischen Zone wurden wieder Schöffen und Geschworene tätig, die Zahl der Geschworenen wurde aber von sechs auf neun erhöht. Ein wesentlicher Unterschied gegenüber dem Recht der amerikanischen und der britischen Zone bestand u. a. darin, daß die polizeiliche Strafverfügung beibehalten wurde. Das Ergebnis dieser in kurzen Zügen geschilderten Nachkriegsentwicklung war eine weitgehende Rechtszersplitterung. Nicht nur, daß die in den Ländern und Zonen geltenden Vorschriften im Wortlaut und in der Sache z. T. erheblich voneinander abwichen, es fehlte auch an einer einheitlichen Steuerung der Rechtsanwendung, da nach dem Wegfall des Reichsgerichts das letzte Wort in der Frage der Gesetzesauslegung jeweils dem einzelnen Oberlandesgericht (bzw. dem Obersten Gerichtshof der brit. Zone, dem BayObLG) für seinen örtlichen Bereich zustand. Auch das hatte freilich wiederum sein Gutes: Die neuen „höchsten" Revisionsgerichte prüften frei und bindungslos, inwieweit die Ergebnisse der reichsgerichtlichen Rechtsprechung mit dem Wandel der Verhältnisse und Anschauungen vereinbar seien, und wenn auch die innere Autorität, die den Erkenntnissen des Reichsgerichts beigemessen wurde, sich weiterhin im großen und ganzen als ein einigendes Band erwies, so hat doch die Nachkriegsrechtsprechung auch in wesentlichen Fragen begonnen, sich von der Rechtsprechung des Reichsgerichts abzulösen; der Hinweis auf die Frage der Bedeutung des Strafrechtsirrtums mag hier genügen. 6. Die Rechtsentwicklung in der Bundesrepublik. a) Die Wiederherstellung der Rechtseinheit. — Das Bonner Grundgesetz (GG) v. 23. 5. 1949 enthält eine Reihe von Vorschriften, die unmittelbar das Strafverfahren und die Gerichtsverfassung betreffen. Neben Vorschriften wie etwa Art. 3 (Gleichheit vor dem Gesetz), Art. 10 (Unverletzlichkeit des Brief- und Postgeheimnisses), Art. 13 (Unverletzlichkeit der Wohnung), Art. 16 (Verbot der Auslieferung Deutscher), Art. 35 (Rechts- und Amtshilfe), Art. 46, 47 (Immunität und Zeugnisverweigerungsrecht der Abgeordneten), Art. 60 (Begnadigungsrecht des Bundespräsidenten) kommt hier insbesondere der Abschn. IX („Die Rechtsprechung", Art. 92ff.) in Betracht. Art. 96 schrieb für die ordentliche Gerichtsbarkeit die Errichtung eines oberen Bundesgerichts vor; Art. 74 Nr. 1 legte dem Bund die konkurrierende Gesetzgebungsbefugnis für die Gebiete des Strafrechts und des Strafvollzuges, der Gerichtsverfassung und des gerichtlichen Verfahrens bei. Auf dieser Grundlage konnte das Werk, die verlorengegangene Rechtseinheit auf dem Gebiet der Gerichtsverfassung und des Strafverfahrens für das Gebiet der Bundesrepublik wiederherzustellen, in Gang gesetzt werden. Im Jahre 1950 legte der Bundesminister der Justiz dem Bundestag den Entwurf eines Gesetzes zur Wiederherstellung der Rechtseinheit auf dem Gebiet der Gerichtsverfassung, der bürgerlichen Rechtspflege, des Strafverfahrens und des Kostenrechts mit Begründung vor (BT-Drucks. Nr. 530). Bei der Dringlichkeit des Zieles mußte der Gedanke an eine umfassende Reform oder auch nur an wesentliche Neuerungen in größerer Zahl ausscheiden und ein solches Vorhaben späteren Zeiten vorbehalten bleiben. Um zu einem baldigen Abschluß der Rechtsvereinheitlichung zu gelangen, sollte vielmehr, wie die Begründung ausführt, in jedem Fall auf eine Regelung zurückgegangen werden, die vor dem Jahr 1945 schon einmal in Deutschland als einheitliches Recht bestanden und sich bewährt hatte. Die Vorschriften, die nationalsozialistisches Gedankengut enthielten oder aus dem Zwang der Kriegsverhältnisse erwachsen und mit einer geordneten, zuverlässig arbeitenden Rechtspflege unvereinbar waren, sollten beseitigt werden. Nur ausnahmsweise sollte das nach dem Jahr 1945 geschaffene Recht eines Landes oder eines Besatzungsgebietes in der Bundesrepublik eingeführt werden. Im Kern beabsichtigte also der Entw., das Recht der Gerichtsverfassung, des bürgerlichen Streitverfahrens und des Strafverfahrens wieder so in Kraft zu setzen, wie es vor den Eingriffen der nationalsozialistischen Regierung im Jahr 1933 be-

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standen hatte. Später eingeführte und im ganzen Reichsgebiet in Kraft gewesene Neuerungen sollten nur insoweit beibehalten werden, als sie Beratungen oder Entwürfen aus der Zeit vor dem Jahr 1933 entstammten und einen Fortschritt darstellten. Die Beratung im Bundestag führte nur zu wenigen Änderungen, die aber mehrere wichtige Vorschriften betrafen und von dem Bestreben getragen waren, die Rechtsstaatlichkeit des Verfahrens stärker zu gewährleisten, die Stellung des Beschuldigten zu verbessern und den Forderungen des G G zu genügen. So wurden die §§ 136a, 69 Abs. 3, 161 Abs. 2, 163 Abs. 2 betr. verbotene Vernehmungsmittel neu in die StPO eingestellt. Von praktisch weittragender Bedeutung war die gegenüber dem Entwurf abweichende Regelung der summarischen Verfahren. Während der Entw. das nach Beseitigung der polizeilichen Strafverfiigung in der amerik. und brit. Besatzungszone dort eingeführte vereinfachte Strafbefehlsverfahren in Übertretungssachen (Erlaß eines Strafbefehls oder einer Strafverfiigung durch den Richter auf Vorschlag der Polizeibehörde ohne Beteiligung des Staatsanwalts) beibehalten, daneben aber auch die noch in der französischen Besatzungszone gehandhabte polizeiliche Strafverfügung allgemein wieder zulassen wollte (§§ 412a, 413), lehnte der Bundestag die polizeiliche Strafverfiigung ab und ließ nur — unter der Bezeichnung „Strafverfügung" — die summarische Ahndung von Übertretungen durch den Richter ohne Beteiligung des Staatsanwalts zu*. Das vom Bundestag am 12. 9. 1950 beschlossene Gesetz wurde am 20. 9. 1950 verkündet (BGBl. S. 455); es trat am 1. 10. 1950 in Kraft. Die Verkündung des die Gerichtsverfassung berührenden, zur Ausführung des Art. 96 Abs. 2 G G ergangenen Richterwahlgesetzes v. 25.8. 1950 (BGBl. S. 368) war vorausgegangen. Das im Art. 96 vorgesehene obere Bundesgericht erhielt die Bezeichnung „Bundesgerichtshof' und übernahm die Aufgaben, die das Reichsgericht ausgeübt hatte. Seine Stellung als Hüter einer einheitlichen Rechtsanwendung wurde — im Anschluß an Vorschläge des EGStGB-Entw. 1930 — gestärkt durch die Einführung einer Vorlegungspflicht, wenn ein Oberlandesgericht als Revisionsgericht in einer Rechtsfrage von einer Entscheidung des BGH oder eines anderen OLG abweichen will (§ 121 Abs. 2 GVG). Damit war die dringlichste Aufgabe, auf dem Gebiet der Gerichtsverfassung und des Verfahrensrechts die Einheitlichkeit des Gesetzes sowohl wie die Einheitlichkeit der Rechtsanwendung wiederherzustellen, geleistet. Wie nach der Emminger-Reform i. J. 1924 wurde auch diesmal im Interesse der Übersichtlichkeit der gesamte Text von GVG, StPO und ZPO in der nunmehr geltenden Fassung in Anlagen zum Rechtsvereinheitlichungsgesetz bekanntgemacht. Die entsprechende Aufgabe für das Gebiet des materiellen Strafrechts, unter Verzicht auf eine umfassende Reform die in den Jahren 1933—1945 erfolgten Änderungen und Ergänzungen des StGB und die Eingriffe des Besatzungsrechts daraufhin zu überprüfen, was beizubehalten und was auszuscheiden sei, wurde erst durch das 3. Strafrechtsänderungsgesetz v. 4.8. 1953 (BGBl. I 735) und die Bekanntmachung des bereinigten StGBTextes v. 25. 8. 1953 (BGBl. I 1083) gelöst. Aber auch für die Gerichtsverfassung und das Verfahrensrecht war die Überprüfungs- und Rechtsvereinheitlichungsarbeit noch nicht vollständig durchgeführt. Das RJGG 1943 war nicht in das Rechtsvereinheitlichungsgesetz

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Der tiefere Grund für diese den damaligen Wünschen der Strafrechtspraxis, die in der polizeilichen Strafverfügung ein brauchbares und bewährtes Mittel sah, den Strafrichter von Bagatellverfahren zu entlasten, zuwiderlaufende Entschließung war wohl ein Ressentiment, geboren aus der Erinnerung an Bestrebungen in der Zeit des Nationalsozialismus, die Befugnisse der Polizei auf dem Gebiet der Strafverfolgung auf Kosten der Justiz zu erweitern, also der Gedanke des Schutzes vor polizeilicher Willkür. Die dogmatische Überlegung, daß Art. 92 G G (Rechtsprechungsmonopol der Gerichte) auch einer summarischen vorläufigen Ahndung durch Verwaltungsbehörden mit dem Vorbehalt der Anrufung des Strafrichters entgegenstehe, konnte jedenfalls damals nicht der tragende Grund fiir die Beseitigung der polizeilichen Strafverfügung sein, denn damit wäre es unvereinbar gewesen, die Befugnis der Finanz-, Zoll- und anderer Verwaltungsbehörden, Abgabenzuwiderhandlungen durch Strafbescheid vorläufig zu ahnden, aufrechtzuerhalten. Das aber geschah in dem neu gefaßten § 6 Abs. 2 Nr. 2 EGStPO. Einen gewissen Ausgleich für den Wegfall der polizeilichen Strafverfügung fanden die Länder durch Wiedereinführung der polizeilichen gebührenpflichtigen Verwarnung bei leichteren Übertretungen. Über das spätere Schicksal des Strafbescheidverfahrens und über die heutige polizeiliche Verwarnung mit Verwarnungsgeld vgl. unten S. 59 ff.

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Kap. 3

Einleitung (Schäfer)

6 einbezogen worden, weil hier in absehbarer Zeit mit einer Gesamterneuerung gerechnet werden konnte; sie erfolgte durch das JGG v. 4. 8. 1953 (BGBl. I 753). Bald nach der Vereinheitlichung der maßgebenden Gesetze wurde auch die Arbeit in Angriff genommen, die für die Praxis so bedeutsamen zusammenfassenden Justizverwaltungsanordnungen auf dem Gebiet der Strafrechtspflege (oben S. 12) den veränderten Verhältnissen anzupassen und möglichst bundeseinheitlich zu gestalten. Die hier auftauchenden Schwierigkeiten ergaben sich daraus, daß nach dem Rückfall der Justizhoheit auf die einzelnen Länder solche Maßnahmen nicht mehr von einer zentralen Stelle getroffen werden konnten, sondern daß es einer Einigung der einzelnen Landesjustizverwaltungen und, soweit auch sie beteiligt war, der Justizverwaltung des Bundes (des Bundesjustizministers) bedurfte, die dann jeweils eigne Weisungen mit inhaltlich übereinstimmendem Text erlassen mußten. Der Versuch, einen möglichst weitgehend bundeseinheitlich geltenden Text einer neuen Gnadenordnung als Ersatz für die GnadenO des Reichsjustizministers von 1935 zu schaffen, mißlang freilich, weil die Gegensätze in den einzelnen Ländern, welche Stellen als „Gnadenbehörden" tätig sein sollten, sich als unüberbrückbar erwiesen. Die Gandenordnungen der Länder weichen infolgedessen z. T. erheblich voneinander ab (vgl. die Darstellung in DalckeFuhrmann-Schäfer [371 S. 1782ff.). Dagegen gelang im Lauf der Zeit die Schaffung einheitlicher Texter der „Richtlinien für das Strafverfahren" v. 1. 8. 1953; der Richtlinien zum J G G v. 15.2. 1955, der Strafvollstreckungsordnung nebst Anordnung über die Einforderung und Beitreibung von Vermögensstrafen und Verfahrenskosten v. 15.2.1956, der „Mitteilungen in Strafsachen" v. 15. 1. 1958 (Bundesanz. Nr. 12) und der „Richtlinien über den Verkehr mit dem Ausland in strafrechtlichen Angelegenheiten" v. 15. 1. 1959. Zu ihnen trat später die von den Landesjustizverwaltungen bundeseinheitlich erlassene „Anordnung über Organisation und Dienstbetrieb der Staatsanwaltschaften" — OrgStA — v. 1.6. 1960. Diese Vorschriften sind seither wiederholt geändert, z. T. auch in neuer Fassung bekannt gemacht worden. Der Schaffung möglichst bundeseinheitlich geltenden Rechts dienen außerdem die inhaltlich weitgehend übereinstimmenden Rechtsverordnungen der Länder über die auf Grund des § 152 GVG zu Hilfsbeamten der Staatsanwaltschaft bestellten Beamtenklassen sowie eine Reihe von Ländervereinbarungen, von denen insbesondere diejenigen zur Erweiterung des § 167 GVG zu erwähnen sind. b) Beschränkungen der deutschen Gerichtsbarkeit. — Auch nach der Gründung der Bundesrepublik und dem Erlaß des Besatzungsstatuts, das die Grenzen der Befugnisse der Besatzungsmächte festlegte, blieben, wenn auch in geringerem Umfang als früher, gewisse Beschränkungen bestehen, denen die Ausübung der deutschen Gerichsbarkeit zugunsten der von den Besatzungsmächten eingerichteten Besatzungsgerichtsbarkeit durch eigene Besatzungsgerichte unterlag. Die hiernach bestehenden Beschränkungen waren in dem von dem Rat der Alliierten Hohen Kommission erlassenen Gesetz Nr. 13 v. 25. 11. 1949 (ABl. der AHK Nr. 6) betr. Gerichtsbarkeit auf den vorbehaltenen Gebieten aufgezählt. Danach behielten sich die Besatzungsmächte eine Reihe von Gebieten vor, auf denen deutsche Gerichte nur mit ausdrücklich (allgemein oder im Einzelfall) erteilter Genehmigung des Hohen Kommissars der betreffenden Zone Gerichtsbarkeit ausüben durften. Die Vorbehalte betrafen insbesondere Taten von Angehörigen der alliierten Streitkräfte, Straftaten gegen die alliierten Streitkräfte und ihre Angehörigen, Zuwiderhandlungen gegen Rechtsvorschriften der Besatzungsmächte und die Nachprüfung der Gültigkeit oder Rechtmäßigkeit von Vorschriften, Entscheidungen oder Anordnungen der Besatzungsmächte. Entscheidungen deutscher Gerichte, die ohne Genehmigung auf den vorbehaltenen Gebieten ergingen, wurden für nichtig erklärt. In der Folgezeit wurden den deutschen Gerichten — in den einzelnen Besatzungszonen nicht einheitlich — eine Reihe von Ermächtigungen erteilt. Diese Beschränkungen blieben bis zur Aufhebung des Besatzungsregimes und Wiedererlangung der Souveränität der Bundesrepublik am 5. 5. 1955 bestehen. Die seitdem kraft zwischenstaatlicher Vereinbarung noch bestehenden Beschränkungen der deutschen Gerichtsbarkeit gegenüber den auf deutschem Boden befindlichen Angehörigen der fremden Stationierungsmächte ergaben sich zunächst aus dem sog. Truppenvertrag (vgl. Bd. II, Anhang C der 20. Aufl. dieses Werkes) und jetzt aus dem Nato-Truppenstatut v. 19.6. 1951 (BGBl. 1961 II 1183, 1190), das gemäß Bekanntmachung v. 16. 6. 1963 (BGBl. II 745) am 1.7. 1963 in Kraft trat. Es 22

Die weitere Entwicklung der StPO und des GVG

Kap. 3 6

wird ergänzt durch das Zusatzabkommen v. 3. 8. 1959 (BGBl. 1961 II 1183, 1218) nebst Unterzeichnungsprotokoll v. 3.8. 1959 (BGBl. 1961 II 1183, 1313) und Gesetz v. 18.8. 1961 (BGBl. II 1183) sowie die Art. 7 - 9 des 4. Strafrechtsänderungsges. v. 11.6. 1957 (BGBl. I 597) i. d. F. von Art. 5 des 8. Strafrechtsänderungsges. v. 25.6. 1968 (BGBl. I 741). c) Spätere Änderungen von GVG und StPO bis zum Strafprozeßänderungsges. v. 19. 12. 1964. — Bald nach dem Erlaß des Rechtsvereinheitlichungsgesetzes wurden GVG und StPO wieder geändert. Das 1. Strafrechtsänderungsgesetz v. 30.8. 1951 (BGBl. I 739) brachte neue Strafvorschriften gegen Hochverrat, Staatsgefahrdung und Landesverrat. Die Art. 2 und 3 änderten und ergänzten die für die Verfolgung dieser Taten maßgebenden Vorschriften des GVG und der StPO (§§ 24, 74 a - Staatsschutzstrafkammer - , 120, 122, 134, 134 a, 139 GVG - erstinstanzliche Zuständigkeit des BGH und der OLGe - , §§ 153 a, 168 a, 354, 374, 395, 433 StPO). Art. 15 des Ges. über Maßnahmen auf dem Gebiet des Kostenrechts v. 7. 8. 1952 (BGBl. I 401) änderte die §§ 304,465 StPO. Art. 3 des Ges. zur Sicherung des Straßenverkehrs v. 19. 12. 1952 (RGBl. I 832) fügte den § l i l a StPO (vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis) ein und änderte oder ergänzte die §§ 212b, 232, 233, 305, 463a StPO. Durch das JGG v. 4. 8. 1953 (BGBl. I 1393), das das R J G G 1943 ersetzte, wurde § 26 GVG geändert und § 74b GVG eingefügt. Zahlreiche Änderungen und Ergänzungen brachte das 3. Strafrechtsänderungsges. v. 4. 8. 1953 (RGbl. I 735). Sie bestanden vor allem in der Anpassung der genannten Gesetze an die Änderungen des materiellen Strafrechts, insbesondere der Einführung der Strafaussetzung zur Bewährung und der bedingten Entlassung, die auf dem genannten Gesetz beruhten. Daneben wurden einzelne Streitfragen authentisch geklärt und in gewissem Umfang auch kleinere Reformen durchgeführt mit dem Ziel, die Rechtsstellung des Beschuldigten zu verbessern (z. B. Einfügung des § 35 a StPO, der bei allen Entscheidungen, die durch eine befristetes Rechtsmittel anfechtbar sind, eine Rechtsmittelbelehrung vorschreibt, Änderung des § 308 StPO, wonach das Beschwerdegericht auf Beschwerde hin eine Entscheidung zum Nachteil des Beschwerdegegners nur abändern darf, wenn ihm zuvor rechtliches Gehör gewährt wurde, Ergänzung des § 467 StPO betr. obligatorische Auslagenerstattung zugunsten des Beschuldigten bei Freispruch wegen erwiesener Unschuld) oder das Verfahren zu vereinfachen und zu verbessern (z. B. Änderung des § 188 Abs. 4 _StPO betr. Zulassung der Kurzschrift bei Protokollierung). Im übrigen bezogen sich die Änderungen des 3. Strafrechtsergänzungsges. auf die §§ 29 (Wiedereinführung des erweiterten Schöffengerichts), 51, 134, GVG, §§ 13a, 35a, 39, 53, 53a, 81a, 81c, 97, 101a, 152a, 170, 188, 247, 260, 263, 267, 268, 268a, 268b, 305a, 308, 346, 350, 362, 364, 374, 391, 395, 408, 429e, 431, 450, 453, 453a, 454, 467 StPO. Durch Ges. v. 9. 8. 1954 (BGBl. II 729) wurde ein neuer § 220a StGB (Völkermord) geschaffen; die Aburteilungszuständigkeit wurde unter Erweiterung des § 134 GVG dem BGH übertragen. Bei der Wiedereinführung der Wehrpflicht und der Bildung der Bundeswehr wurde zwar grundsätzlich von der Erneuerung einer besonderen Militärstrafgerichtsbarkeit abgesehen. Der durch Ges. v. 19.3. 1956 (BGBl. I 111) in das G G eingefügte Art. 96 a (jetzt Art. 96 Abs. 2) übertrug aber dem Bund das Recht, Wehrstrafgerichte für die Streitkräfte als Bundesgerichte einzurichten, die indessen Strafgerichtsbarkeit nur im Verteidigungsfall sowie über Angehörige der Streitkräfte ausüben können, die in das Ausland entsandt oder an Bord von Kriegsschiffen eingeschifft sind. Gericht letzter Instanz ist hier der BGH. Der Bund hat bisher von dieser Ermächtigung keinen Gebrauch gemacht. Das 4. Strafrechtsänderungsges. v. 11.6. 1957 (BGBl. I 597) brachte neue Straftatbestände auf dem Gebiet der Landesverteidigung; im Zusammenhang damit wurde die Zuständigkeit der Staatsschutzstrafkammer (§ 74 a GVG) auf bestimmte die Landesverteidigung gefährdende Taten und die Vergehen nach § 42 a. F. BVerfGG erweitert und klargestellt, daß die Zuständigkeit dieser Strafkammer auch die in § 73 Abs. 1 GVG bezeichneten Entscheidungen umfasse. Für bestimmte Verbrechen und Vergehen aus dem Anhang A zum Truppenvertrag (oben unter b) wurde die erstinstanzliche Zuständigkeit des BGH begründet. Im übrigen wurden die §§ 98, 105 StPO ergänzt (betr. Beschlagnahme und Durchsuchung von militärischen Dienstgebäuden und Anlagen) und § 153 c StPO geschaffen, der bei staatsgefahrdenden und landesverräterischen Handlungen unter gewissen Voraussetzungen die Einstellung des Verfahrens zuließ. Durch das Kostenrechtsänderungsgesetz v. 26. 7. 1957 (BGBl. I 861) wurden § 55 23

Kap. 3

Einleitung (Schäfer)

6 GVG und die §§ 71, 84 StPO geändert und die §§ 165 GVG, 150 StPO aufgehoben. Das Atomgesetz v. 23. 12. 1959 (BGBl. I 814) ergänzte in seinem § 51 Abs. 4 die §§ 79, 80 GVG. Bei der Schaffung der Verwaltungsgerichtsordnung durch Ges. v. 21. 1. 1960 (BGBl. I 17) wurde § 17 GVG geändert, ein § 17 a GVG geschaffen und das EGGVG durch Vorschriften ergänzt (§§ 23—30), die zur Nachprüfung der Rechtmäßigkeit von Maßnahmen der Justiz- und Vollzugsbehörden auf dem Gebiet der Rechtspflege den ordentlichen Rechtsweg eröffnen. Das 6. Strafrechtsänderungsges. v. 30.6. 1960 (BGBl. I 478) erweiterte die Zuständigkeit der Staatsschutzstrafkammer durch Ergänzung des § 74a GVG. Das in Erfüllung des Art. 98 Abs. 1, 3 GG geschaffene Richtergesetz v. 8. 9. 1961 (BGBl. I 1665) hatte zahlreiche Änderungen des GVG zur Folge (Aufhebung oder Änderung der §§ 2 - 1 1 , 29, 62, 68, 70, 77, 83, 88, 118, 125, 148,198). Das Vereinsgesetz v. 5. 8. 1964 (BGBl. I 593), das u. a. die Vorschriften des StGB über sog. Organisationsdelikte neu ordnete, änderte § 153 c StPO und § 74 a GVG. Das 2. Strafverkehrssicherungsges. v. 26. 11. 1964 (BGBl. I S. 921) brachte im Gefolge der Einführung des Fahrverbots (§37 n. F. StGB) und weiterer die Verkehrsdelikte betreffender Änderungen des StGB Änderungen und Ergänzungen der §§ 111 a, 232, 233, 267, 407-409, 413, 450, 463 und die Einfügung des § 463 b StPO (betr. Beschlagnahme des Führerscheins und ausländischer Fahrausweise); die Neufassung des § l i l a sollte die in der Rechtsprechung entstandenen Meinungsverschiedenheiten über das Verhältnis der vorläufigen Maßnahmen des § 94 StPO (vorläufige Sicherstellung oder Beschlagnahme des Führerscheins) zu § 111 a a. F. (vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis) weitgehend klären (vgl. dazu BGHSt. 22, 385). d) Die kleine Strafprozeßreform 1964. — Einschneidende Änderungen brachte dann die auf dem Strafprozeßänderungsges. (StPÄG) v. 19. 12. 1964 (BGBl. I 1067) beruhende „Kleine Strafprozeßreform". Wie schon oben (S. 20) ausgeführt, kam es nach der Gründung der Bundesrepublik bei dem Rechtsvereinheitlichungsgesetz 1950 darauf an, so rasch wie möglich der in der Zeit nach dem 8. 5. 1945 bis zum Inkrafttreten des Grundgesetzes eingetretenen Rechtszersplitterung ein Ende zu bereiten und bei der Ausmerzung nationalsozialistischer Gedanken einen raschen Gang der parlamentarischen Erörterungen dadurch zu gewährleisten, daß im allgemeinen auf Regelungen zurückgegriffen wurde, die in der vornationalsozialistischen Zeit gegolten hatten. Eine umfassende Reform mußte notgedrungen ruhigeren Zeiten überlassen werden. Mit ihrer Vorbereitung sollte nach den damaligen Vorstellungen erst begonnen werden, wenn wenigstens die Konturen einer zunächst in Angriff zu nehmenden Generalreform des materiellen Strafrechts sich nach dem Gang der parlamentarischen Erörterungen und den Beschlüssen der Gesetzgebungsorgane einigermaßen deutlich abzeichneten. Die Strafrechtsreform wurde bekanntlich i. J. 1954 mit der Bildung einer „Großen Strafrechtskommission" eingeleitet, brachte aber — von der Erneuerung einiger Teilgebiete abgesehen — erst mit dem 1. Strafrechtsreformgesetz v. 25. 6. 1969 (BGBl. I 645) und dem am 1. 10. 1973 in Kraft tretenden 2. Strafrechtsreformgesetz v. 4. 7. 1969 (BGBl. I 717) die ersten gesetzgeberischen Ergebnisse. Angesichts des erwartungswidrig verlangsamten Ganges der Reform des materiellen Rechts war die Bundesregierung der Auffassung, daß gewisse Fragen des Prozeßrechts so dringend regelungsbedürftig, gewisse Punkte so dringend änderungsbedürftig seien, daß ihre Behandlung nicht bis zu einer Gesamtreform zurückgestellt werden dürfe, sondern alsbald der Weg einer Teilreform beschritten werden müsse. Sie legte im Sommer 1960 den Entwurf eines Gesetzes zur Änderung der Strafprozeßordnung und des Gerichtsverfassungsgesetzes vor, der erst nach erneuter Wiedereinbringung in der nächsten Wahlperiode verabschiedet werden konnte. Zahl und Bedeutung der Änderungen, die das StPÄG v. 19. 12. 1964 brachte, rechtfertigen es, von einer „kleinen Strafprozeßreform" zu sprechen. Die Entstehungsgeschichte des Gesetzes im einzelnen, sein wesentlicher Inhalt, dessen Bedeutung im Licht der Reformforderungen und die anknüpfende Kritik sind im Ergänzungsband der 21. Auflage — S. lff. — ausführlich dargestellt. Im Rahmen der vorliegenden Einleitung ist nur in Kürze auf die wichtigsten Änderungen, die das Gesetz enthält, hinzuweisen. Sein Hauptziel war die Verbesserung der Stellung des Beschuldigten im Strafverfahren durch Eröffnung einer rechtlich gesicherten Einflußnahme auf den Gang der Ermittlungen und die Entschließungen der Staatsanwaltschaft. In großen Zügen brachte das Gesetz folgende grundsätzlich bedeutsame Änderungen. 24

Die weitere Entwicklung der StPO und des GVG

Kap. 3 6

I. StPO a) Art. I brachte eine Neufassung der Vorschriften über die Untersuchungshaft (§§ 112 ff.)- Die Neuerungen bezweckten die Beschränkung der Untersuchungshaft. Nach dem alle staatlichen Eingriffe beherrschenden Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (vgl. dazu unten S. 48) darf sie nicht außer Verhältnis zur Bedeutung der Sache und der zu erwartenden Strafe oder Maßregel der Sicherung und Besserung stehen (§112 Abs. 1 Satz 2). Bei Straftaten von geringerer Bedeutung (Straftaten, die nur mit Freiheitsstrafe bis zu sechs Monaten oder Geldstrafe bedroht sind) darf die Untersuchungshaft wegen Verdunklungsgefahr überhaupt nicht (§113 Abs. 1), wegen Fluchtgefahr nur unter den engen Voraussetzungen des § 113 Abs. 2 angeordnet werden. Im übrigen wurden die Haftgründe — mit der Tendenz der Einschränkung — schärfer umrissen. Die Fluchtgefahr ist stets in Würdigung aller Umstände des Einzelfalles zu prüfen; eine Vorschrift entsprechend dem früheren § 112 Abs. 2 Nr. 1 StPO, wonach bei Verbrechen der Fluchtverdacht keiner weiteren Begründung bedurfte, kennt das Gesetz nicht mehr. Der Haftgrund der Verdunkelungsgefahr wurde nicht nur genauer umschrieben, sondern setzt als zusätzliches Erfordernis voraus, daß aus der erkennbaren Absicht des Beschuldigten, Verdunklungsmaßnahmen zu ergreifen, die Gefahr droht, er werde dadurch die Ermittlung der Wahrheit erschweren. Der Haftgrund der Verdunklungsgefahr entfallt danach, wenn zwar die Absicht des Beschuldigten erkennbar ist, auf Mitbeschuldigte oder Zeugen in unlauterer Weise einzuwirken, aber schon genügende Beweise zur Feststellung der Wahrheit zur Verfügung stehen. Ausnahmen von den so verschärften Erfordernissen der Flucht- und Verdunklungsgefahr als Voraussetzungen eines Haftbefehls bestehen darin, daß nach § 112 Abs. 3 bei bestimmten Sittlichkeitsverbrechen auch die Wiederholungsgefahr einen Haftgrund bildet, d. h. die auf bestimmte Tatsachen gegründete Gefahr, daß der (dringend tatverdächtige) Beschuldigte vor rechtskräftiger Aburteilung eine weitere Tat dieser Art begehen werde, die nur durch die Haft abgewendet werden kann, und als nach § 112 Abs. 4 bei dringendem Tatverdacht des Mordes, Totschlags (außer den Fällen des §213 StGB) und Völkermordes der Haftbefehl nicht auf Flucht- oder Verdunklungsgefahr im technischen Sinn des § 112 Abs. 2, 3 gestützt zu werden braucht; doch reicht die Schwere des Delikts auch hier allein zur Anordnung der Untersuchungshaft nicht aus (vgl. BVerfGE 19,342). Ferner wurden die Möglichkeiten erweitert, den Vollzug einer angeordneten Untersuchungshaft durch schonendere Maßnahmen abzuwenden (§ 116), und zwar nicht nur, — wie nach bisherigem Recht (§117 a. F.) — beim Haftbefehl wegen Fluchtverdacht, sondern auch bei Verdunklungsgefahr, wenn weniger einschneidende Maßnahmen „die Erwartung hinreichend begründen, daß sie die Verdunklungsgefahr erheblich vermindern werden"; als eine vornehmlich in Betracht kommende Maßnahme nennt das Gesetz die richterliche Anweisung des Beschuldigten, mit Mitbeschuldigten, Zeugen oder Sachverständigen keine Verbindung aufzunehmen. Der Einschränkung der Dauer der Untersuchungshaft dient vor allem auch die Einführung der „Sechsmonatsgrenze": nach § 121 darf, solange kein auf Freiheitsstrafe oder freiheitsentziehende Maßregel lautendes Urteil ergangen ist, der Vollzug der Untersuchungshaft wegen derselben Tat über 6 Monate hinaus nur aufrechterhalten werden, wenn die besondere Schwierigkeit oder der besondere Umfang der Ermittlungen oder ein anderer wichtiger Grund (z. B. längere Erkrankung wichtiger Zeugen) das Urteil noch nicht zulassen und die Fortdauer der Haft rechtfertigen; die Entscheidung darüber obliegt dem Oberlandesgericht (ausnahmsweise dem Bundesgerichtshof). Die so angestrebte grundsätzliche Höchstdauer des Haftvollzugs auf 6 Monate soll dem Art. 5 Abs. 3 der Menschenrechtskonvention besser Rechnung tragen, wonach der Beschuldigte „Anspruch auf Aburteilung innerhalb einer angemessenen Frist oder auf Haftentlassung während des Verfahrens" hat. b) Die Art. 2 , 4 brachten eine Verbesserung der Rechtsstellung des Beschuldigten im Vorverfahren durch Erweiterung des rechtlichen Gehörs, und zwar durch Einführung der grundsätzlich obligatorischen Vernehmung des Beschuldigten (§ 163 a StPO) und — im Anschluß an entsprechende Vorschläge in den Entwürfen von 1908, 1920 und 1939 — durch Einführung des Schlußgehörs durch die Staatsanwaltschaft in bedeutenderen Strafsachen (§ 169 b). Nach § 169 a hat die Staatsanwaltschaft, wenn sie die Erhebung der öffentlichen Anklage durch Einreichung einer Anklageschrift erwägt, den „Abschluß der Ermittlungen" in den 25

Kap. 3

Einleitung (Schäfer)

6 Akten zu vermerken. Spätestens vor dem Abschluß der Ermittlungen muß, sofern das Vorverfahren nicht zur Einstellung führt, der Beschuldigte vernommen werden; in einfachen Sachen genügt es, wenn ihm Gelegenheit zu schriftlicher Äußerung gegeben wird (§ 163 a). In Vorwegnahme seines Beweisantragsrechts in der Hauptverhandlung (§ 244 Abs. 3) wurde dem Beschuldigten nunmehr auch im Vorverfahren das Recht eingeräumt, Entlastungsbeweise zu beantragen, denen die Strafverfolgungsbehörde entsprechen muß, wenn sie von Bedeutung sind (§ 163 a Abs 2). Neben diese in allen Strafsachen vorgeschriebene Anhörung tritt im Bereich der schwereren Kriminalität noch das Schlußgehör durch die Staatsanwaltschaft. Erwägt diese nämlich, die Anklage vor dem Landgericht oder einem Gericht höherer Ordnung zu erheben, so hat sie den Abschluß der Ermittlungen dem Beschuldigten und seinem Verteidiger mitzuteilen und zugleich den Beschuldigten zu belehren, daß er binnen einer zu bestimmenden Frist beantragen könne, von der Staatsanwaltschaft zu dem Ergebnis der Ermittlungen gehört zu werden. Die Pflicht zur Gewährung des Schlußgehörs entfallt, wenn der Aufenthalt des Beschuldigten unbekannt ist oder seine Teilnahme in angemessener Frist wegen großer Entfernung unverhältnismäßige Schwierigkeiten bereiten würde oder er im Termin unentschuldigt ausbleibt oder nicht durch einen Verteidiger vertreten ist (§ 169 c). Die Vorschriften über das Schlußgehör gelten auch im Jugendstrafverfahren (§ 69 Abs. 3 Satz 2 n. F. JGG) sowie nach Schluß einer vorangegangenen Voruntersuchung (§ 197 StPO). Erwägt die Staatsanwaltschaft die Einreichung der Anklageschrift beim Schöffengericht, so ist sie zur Gewährung des Schlußgehörs nur verpflichtet, wenn es mit Rücksicht auf Art und Umfang der Beschuldigung oder aus anderen Gründen zweckmäßig erscheint. Die Einführung des (auf Antrag) obligatorischen Schlußgehörs in den zur erstinstanzlichen Zuständigkeit des Landgerichts und der Gerichte höherer Ordnung gehörigen Sachen bietet mit der Intensivierung des Vorverfahrens zugleich in gewisser Weise einen Ausgleich für die dort fehlende zweite Tatasacheninstanz. c) Neben diese Maßnahmen, die darauf gerichtet sind, dem Beschuldigten zu seiner Entlastung Einfluß auf Gang und Umfang des Vorverfahrens einzuräumen, tritt zur weiteren Verbesserung der Stellung des Beschuldigten die Erweiterung des Umfangs der notwendigen Verteidigung und die Stärkung der Stellung des Verteidigers. Nach Art. 3 ist die Verteidigung nunmehr auch in der Hauptverhandlung vor der erstinstanzlichen großen Strafkammer notwendig (§ 140 Abs. 1 Nr. 1) — also stets, wo nur eine Tatsacheninstanz gegeben ist —, und bei Verbrechen und langdauernder Untersuchungshaft erfolgt die Bestellung eines Verteidigers von Amts wegen und ohne Rücksicht auf den Antrag eines Verfahrensbeteiligten (§ 140 Abs. 1 Nr. 2, 5). Im Zusammenhang mit der Einführung des Schlußgehörs wurde auch in weiterem Umfang die Amtsbestellung eines Verteidigers schon im Vorverfahren vorgesehen. Nach dem Abschluß der Ermittlungen muß auf Antrag des Staatsanwalts vom Vorsitzenden des für das Hauptverfahren zuständigen Gerichts ein Verteidiger bestellt werden, und der Staatsanwalt soll diesen Antrag stellen, wenn die Gewährung des Schlußgehörs in Betracht kommt und nach seiner Auffassung in dem gerichtlichen Verfahren die Verteidigung nach § 140 Abs. 1 notwendig sein wird (§ 141 Abs. 3). Der Sinn dieser Vorschriften ist, dem Beschuldigten die Beratung durch einen Verteidiger schon dann zu gewährleisten, wenn es sich darum handelt, ob der Beschuldigte die Gewährung des Schlußgehörs beantragen soll; deshalb ist vorgeschrieben, daß die Mitteilung über den Abschluß der Ermittlungen, die die Frist für den Antrag auf Schlußgehör in Lauf setzt, erst nach Bestellung des Verteidigers erfolgen soll (§ 141 Abs. 3 letzter Satz). Die Stellung des Verteidigers ist durch die neue Fassung des § 147 (Akteneinsichtsrecht) und des § 148 (Verkehr des Verteidigers mit dem verhafteten Beschuldigten) gestärkt worden. Grundsätzlich hat danach der Verteidiger das Recht, die Verfahrensakten einzusehen, und zwar nicht nur die Gerichtsakten, sondern auch die des Vorverfahrens („die dem Gericht im Falle der Erhebung der Anklage vorzulegen wären"). Dieses Recht ist unbeschränkt, sobald der Abschluß der Ermittlungen in den Akten vermerkt ist; vor diesem Zeitpunkt kann — in den Grenzen des § 147 Abs. 2 — die Akteneinsicht versagt werden, wenn sie den Untersuchungszweck gefährden könnte. Der Verkehr mit dem Verhafteten unterliegt keinen Beschränkungen. 26

Die weitere Entwicklung der StPO und des GVG

Kap. 3

6 d)Zur Vereinfachung und Beschleunigung der Verfahren milderte der neue § 154 a den Verfolgungszwang weiter dahin ab, daß abtrennbare Teile einer Tat (insbes. bei Sammelverbrechen und fortgesetzten Handlungen) und bei Tateinheit einzelne Gesetzesverletzungen von der Verfolgung ausgenommen werden können, soweit sie für die zu erwartende Strafe oder Maßregel nicht ins Gewicht fallen. e) Das Eröffnungsverfahren ist zwar — entgegen weitergehenden, auf Abschaffung gerichteten Reformwünschen — beigehalten, aber modifiziert worden. Das Eröffnungsgericht prüft wie bisher (§ 203), ob der Angeklagte der strafbaren Handlung hinreichend verdächtig erscheint, im Fall der Bejahung aber lautet der Eröffnungsbeschluß nicht mehr dahin, daß der Angeklagte der Tat hinreichend verdächtig sei, sondern spricht nur (§ 207 n. F.) aus, daß das Hauptverfahren eröffnet und die „Anklage zur Hauptverhandlung zugelassen" werde. In der Hauptverhandlung wird nicht mehr der Eröffnungsbeschluß durch das Gericht, sondern (§ 243 Abs. 3 n. F.) der Anklagesatz durch den Staatsanwalt verlesen. Durch diese Gestaltung soll bei dem rechtunkundigen Angeklagten die irrige Vorstellung vermieden werden, das Gericht habe sich mit dem Erlaß des Eröffnungsbeschlusses in der tatsächlichen und rechtlichen Beurteilung seines Falles schon mehr oder weniger festgelegt (amtl. Begr. BT-Drucksache Nr. 2037 S. 38). Eine besondere Lage ergibt sich, wenn das Gericht die Anklage nicht unverändert zur Hauptverhandlung zuläßt, z. B. bei Anklage wegen Tatmehrheit die Eröffnung des Hauptverfahrens wegen einzelner Taten ablehnt oder die Verfolgung nach § 154 a (vorstehend zu d)) beschränkt oder die Tat rechtlich abweichend von der Anklageschrift würdigt. In diesen Fällen legt das Gericht im Eröffnungsbeschluß die Änderungen dar, mit denen es die Anklage zuläßt. Das weitere Verfahren gestaltet sich verschieden. Bei Beschränkung der Eröffnung auf einzelne von mehreren Handlungen oder auf einzelne abtrennbare Teile einer Handlung hat der Staatsanwalt eine dem Eröffnungsbeschluß entsprechende Anklage einzureichen, die nunmehr die Grundlage des weiteren Verfahrens bildet. Bei Ausscheidung einzelner Gesetzesverletzungen bei Tateinheit hat der Staatsanwalt bei der Verlesung des Anklagesatzes in der Hauptverhandlung die vom Gericht bei der Zulassung der Anklage beschlossenen Änderungen zu berücksichtigen (§ 243 Abs. 3 n. F.). Bei abweichender rechtlicher Würdigung trägt er in der Hauptverhandlung den Anklagesatz mit der dem Eröffnungsbeschluß zugrundeliegenden rechtlichen Würdigung vor; er kann seine abweichende Rechtsansicht äußern. f) Über die bereits bestehenden Einzelvorschriften und die neuen §§ 163 a, 169 a und b (s. oben S. 25) hinaus schuf Art. 8 ergänzende Vorschriften, um dem Verfassungsgebot des rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) volle Beachtung zu sichern und im einzelnen die Folgerungen zu ziehen, die sich aus dem Verfassungsgrundsatz als prozessuale Rechte und Pflichten ergeben. Dies geschah in erster Linie durch die Einführung einer Generalklausel (neuer § 33 Abs. 3), wonach das Gericht bei Entscheidungen außerhalb der Hauptverhandlung — abgesehen von der Beteiligung der Staatsanwaltschaft — andere Verfahrensbeteiligte zu hören hat, bevor zu ihrem Nachteil Tatsachen oder Beweisergebnisse, zu denen sie noch nicht gehört sind (also auch dann, wenn diese vor Beginn ihrer Verfahrensbeteiligung liegen), verwertet werden. Der Gewährleistung des rechtlichen Gehörs dient es auch, wenn zwar dem Revisionsgericht die Befugnis blieb, eine Revision als offensichtlich unbegründet durch Beschluß zu verwerfen (§ 349 Abs. 2) — die dagegen z. T. im Schrifttum erhobenen Bedenken hielt9 der Gesetzgeber insoweit mit Recht nicht für durchgreifend —, dem Beschwerdeführer aber zuvor Gelegenheit gegeben werden muß, schriftlich zum Antrag der Staatsanwaltschaft Stellung zu nehmen, den § 349 Abs. 2 nunmehr als Voraussetzung des Beschlußverfahrens fordert. Die §§33 Abs. 4, 407 Abs. 4, 413 Abs. 4 n. F. sehen Ausnahmen von der Pflicht des Gerichts zu vorgängiger Anhörung vor, wenn — wie bei Anordnung der Untersuchungshaft oder Beschlagnahme — diese den Zweck der Anordnung gefährden würde und wenn es sich um den Erlaß eines Strafbefehls oder einer Strafverfügung handelt; in den letzteren Fällen bleibt aber die Pflicht zu vorheriger Anhörung durch Staatsanwaltschaft oder Polizei9

Vgl. dazu S i e g e r t NJW 1959 2152; v. S t a c k e l b e r g NJW 1960 505; J a g u s c h NJW 1960 73; S a r s t e d t JR 1960 1.

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Kap. 3

Ginleitung (Schäfer)

6 behörde unberührt (vgl. für den Strafbefehl §§ 163 a, 407 Abs. 4 Satz 1, für die StrafverFügung § 413 Abs. 1 Satz 1). g) Auf dem schon für die Umgestaltung des Eröffnungsbeschlusses maßgeblichen Gedanken, bei dem Angeklagten die Vorstellung einer Befangenheit der Richter wegen einer Beteiligung an einem vorangehenden Verfahrensabschnitt auszuschließen, beruht es auch, wenn nach dem neuen Abs. 2 des § 23, einem alten Reformanliegen entsprechend, in Wiederaufnahmeverfahren die Richter kraft Gesetzes ausgeschlossen sind, die bei der durch Wiederaufnahmeantrag angefochtenen Entscheidung mitgewirkt haben; bei Rechtsmittelentscheidungen erstreckt sich die Ausschließung auch auf die Richter der unteren Instanz. Den weitergehenden Wünschen, die Richter der Vorinstanz allgemein auch dann auszuschließen, wenn auf Revision ein Urteil aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung zurückverwiesen wird (vgl. S e i b e r t JZ 1958, 609), hat das Gesetz (neuer Abs. 2 des § 354) nur insofern entsprochen, als die Zurückverweisung an eine andere Abteilung oder Kammer oder einen anderen Senat des Gerichts zu erfolgen hat; dagegen ist nicht ausgeschlossen, daß in dieser anderen Kammer usw. Richter mit der zurückverwiesenen Sache befaßt werden, die schon bei dem aufgehobenen Urteil mitwirkten (vgl. BGHSt. 21,242; OLG Celle NJW 1966, 168). h) Neu ist auch die zeitliche Erweiterung des Rechts zur Ablehnung eines Richters wegen Befangenheit, die ebenfalls an frühere Reformarbeiten anknüpft. Während nach § 25 a. F. StPO die Ablehnung nur bis zum Beginn des an die Vernehmung des Angeklagten zur Sache anschließenden Teils der Hauptverhandlung zulässig war, wurde die Ablehnungsbefugnis in der Hauptverhandlung bis zum letzten Wort des Angeklagten (§ 258 Abs. 2) ausgedehnt, aber nur, wenn die Umstände, auf die die Ablehnung gestützt ist, erst nach dem Beginn der Vernehmung des Angeklagten zur Sache eingetreten oder dem Ablehnungsberechtigten bekannt geworden sind, und die Ablehnung unverzüglich geltend gemacht wird. Einem Mißbrauch des Ablehnungsrechts will § 26 a vorbeugen (Verwerfung der Ablehnung unter Mitwirkung der abgelehnten Richter als unzulässig, wenn dadurch offensichtlich das Verfahren nur verschleppt oder nur verfahrensfremde Zwecke [Demonstration] verfolgt werden sollen). i) Von weiteren bedeutsamen Änderungen mögen noch erwähnt werden die Verlängerung der Revisionsbegründungsfrist von zwei Wochen auf einen Monat, wenn im ersten Rechtszug das Landgericht oder das erweiterte Schöffengericht (§ 29 Abs. 2 GVG) entschieden hat (neuer § 345 Abs. 1), die Einführung der Parteiöffentlichkeit bei der Beweisaufnahme im Wiederaufnahmeverfahren gemäß § 369 nach Zulassung des Wiederaufnahmeantrags (neuer § 369 Abs. 3,4), sowie Änderungen auf dem Gebiet des Kostenrechts (§§467, 467a, 472), die u.a. die Beseitigung des sog. Freispruchs zweiter Klasse (= Freispruch mangels Beweises im Gegensatz zum Freispruch wegen erwiesener Unschuld oder Fehlen eines begründeten Verdachts) einleiteten. II. GVG a) die viel früher erörterte Frage, in welchem Umfang in der Hauptverhandlung Film-, Rundfunk- und Fernsehaufnahmen zulässig seien (vgl. dazu BGHSt. 10,202; NJW 1961, 1781) wurde in dem neuen Satz 2 des § 169 dahin geklärt, daß Ton- und Fernseh-Rundfunkaufnahmen sowie Ton- und Filmaufnahmen zwecks öffentlicher Vorführung oder Veröffentlichung ihres Inhalts unzulässig seien; das gilt auch für solche Aufnahmen während der Urteilsverkündung. b) Die Ergänzung des § 69 GVG (betr. Verteilung der Geschäfte innerhalb einer Kammer oder eines Senats durch den Vorsitzenden) durch einen neuen Abs. 2 dient einer möglichst weitreichenden Durchfuhrung des Grundsatzes des gesetzlichen Richters (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG); Abs. 2 soll in Ergänzung der Grundsätze über die Geschäftsverteilung zwischen den Abteilungen, Kammern und Senaten und über ihre Besetzung gewährleisten, daß durch eine vor Beginn des Geschäftsjahres erfolgende Anordnung des Vorsitzenden über die Mitwirkung der einzelnen Richter (hauptsächlich bei den sog. überbesetzten Spruchgremien) die mit einer Sache befaßten Richter möglichst im voraus feststehen.

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Die weitere Entwicklung der StPO und des GVG

Kap. 3

6 e) Änderungen von StPO und GVG nach der „Kleinen Strafprozeßreform" aa) Auf Grund der Ermächtigung in Art. 17 des StPÄG 1964 wurde die StPO unter dem 17. 9. 1965 in neuer Fassung bekannt gemacht (BGBl. I 1373). Nach einer immerhin etwa dreijährigen Ruhepause erfolgten förmliche Änderungen der StPO wieder i. J. 1968. Das Sortenschutzgesetz v. 20. 5. 1968 (BGB1.I 429) ergänzte (§ 55) die Nr. 8 des § 374 Abs. 1 StPO. Dann brachte Art. 2 des EG OWiG v. 24. 5. 1968 (BGBl. I 503) zahlreiche Änderungen und Ergänzungen der StPO. Geändert oder ergänzt wurden die §§ 10, 45, 55, 110, 111 a, 272, 335, 385, 396,407,409,413,462,464,465,466,467,467 a, 469,470,471, 472, 473. Gänzlich umgestaltet wurden die §§ 430—432 a. F. (jetzt: 430—442). Neu eingeführt wurden die §§ 127a, 132, 268c, 444,464a, 472b. Nur z. T. sind diese Änderungen und Ergänzungen unmittelbar durch die nötige Anpassung der StPO an die materiell- und verfahrensrechtliche Neuordnung des Rechts der Ordnungswidrigkeiten durch das neue OWiG v. 24. 5. 1968 (BGBl. I 481) veranlaßt, vielmehr verwirklichen sie z. T. auch selbständige Reformwünsche und dienen der Klärung hervor getretener Zweifel oder der Beseitigung von Unbilligkeiten des bisherigen Rechts. Hervorzuheben ist etwa die im Zusammenhang mit der Neuregelung der Einziehung (§§40 ff. StGB i. d. F. von Art. 1 EG OWiG) erfolgte umfassende Ordnung der verfahrensrechtlichen Stellung der „Nebenbeteiligten", die, ohne Täter oder Teilnehmer zu sein, von einer Einziehung betroffen werden, weil sie Eigentümer oder Inhaber eines sonstigen Rechts am Einziehungsgegenstand sind. §§ 430—432 a. F. StPO regelten lediglich die Stellung der Einziehungsbeteiligten im selbständigen (objektiven) Verfahren; eine Beteiligung des tatunbeteiligten Dritteigentümers oder eines sonstigen durch die Einzeihung Betroffenen am subjektiven Verfahren war früher allgemein verneint worden, und eine abweichende Auffassung wurde in der Rechtsprechung erst in jüngster Zeit durch BGHSt. 1 9 , 7 = NJW 1963, 1988 angebahnt (vgl. dazu Vorbem. 7 A b vor § 430 in der 21. Aufl.). Die §§ 430ff. n. F. regeln nunmehr ausführlich die Beteiligung der Einziehungsbeteiligten am subjektiven Verfahren. Die Änderung der kostenrechtlichen Vorschriften ist zwar weitgehend durch die Berücksichtigung der Nebenbeteiligten bedingt; selbständige Bedeutung kommt aber insbesondere dem § 467 n. F. zu, durch dessen Gestaltung die von dem StPÄG 1964 eingeleitete (kostenrechtliche) Beseitigung des „Freispruchs 2. Klasse" (s. oben S. 28) 10 zugunsten des unverurteilt aus dem Verfahren entlassenen Angeklagten vollendet und die grundsätzliche Überbürdung der ihm durch das Verfahren erwachsenen notwendigen Auslagen auf die Staatskasse angeordnet wurde. bb) Die Reform des Staatsschutzstrafrechts durch das 8. Strafrechtsänderungsges. v. 25.6. 1968 (BGBl. I 741) führte zu Änderungen der §§ 125, 128, 153b, 153d (bisher § 153 c), 165, 172, 395, 443 (bisher § 433) und zur Einfügung des § 153 c StPO betr. weitere Lockerung des Verfolgungszwangs bei Staatsschutzdelikten, wenn die Durchführung des Verfahrens die Gefahr eines schweren Nachteils für die Bundesrepublik herbeiführen würde, oder wenn der Verfolgung sonstige überwiegende öffentliche Interessen entgegenstehen. Geändert wurden ferner die Vorschriften des GVG über die Zuständigkeit der Staatsschutzstrafkammer und des BGH im ersten und letzten Rechtszug (§§ 74 a, 134). cc) Durch das Gesetz zur Beschränkung des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses (Ges. zu Art. 10 GG) v. 13. 8. 1968 (BGBl. I 949) wurden die §§ 100a und 100b StPO eingefügt, die die bei Straftaten der schwersten Kriminalität und bei bestimmten Staatsschutzdelikten unter engen Voraussetzungen zugelassene Überwachung und Aufnahme des Fernmeldeverkehrs auf Tonträger betreffen. dd) Sodann machte das 1. Strafrechtsreformges. v. 25. 6. 1969 (BGBl. I 645), das u. a. die Einheits(freiheits)strafe einführte, Ehrenstrafen sowie den Ausspruch der Eidesunfahig10

Die Beseitigung des Freispruchs 2. Klasse erweist sich als Folgerung aus der Unschuldsvermutung des Art. 6 Abs. 2 der Menschenrechtskonvention, die nur durch die Feststellung der Schuld (im Urteil) widerlegbar ist. Vgl. dazu W i m m e r , Unschuldsvermutung - Verdacht - Freispruch, ZStrW 80 [1968] 369 und BVerfGE 25 327, wo Angriffe gegen die Grundgesetzmäßigkeit des § 467 in seiner jetzt geltenden Fassung zurückgewiesen werden.

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Kap. 3

Einleitung (Schäfer)

6 keit beseitigte und eine Reihe von Strafvorschriften aufhob, zahlreiche Anpassungsänderungen der StPO (§§ 60, 61, 68a, 80a, 112, 113, 140, 209, 212b, 232, 246a, 267, 268a, 277, 305a, 375, 413, 431, 453, 453b, 454, 460, 462, Einfügung des § 265a) und des GVG (§§ 24, 25, 32, 36, 74, 175) erforderlich 11 . Auch hier wurde die Gelegenheit benutzt, über die notwendige Anpassung hinaus selbständige Änderungen vorzunehmen (vgl. den die Vereinfachung der Vorschlagsliste betreffenden neu eingefügten Abs. 3 des § 36 GVG). ee) Das Gesetz zur allgemeinen Einführung eines zweiten Rechtszuges in Staatsschutz-Strafsachen v. 8.9. 1969 (BGBl. I 1582) beseitigte, alten Reformforderungen entsprechend, die erst- und letztinstanzliche Zuständigkeit des BGH und der Oberlandesgerichte in Staatsschutz-Strafsachen. Danach wurde die bisherige erstinstanzliche Aburteilungszuständigkeit des BGH den Oberlandesgerichten (in den Landeshauptstädten) als Gerichten des 1. Rechtszuges übertragen, während der BGH über die Revision gegen erstinstanzliche Urteile der Oberlandesgerichte und (in beschränktem Umfang, § 304 Abs. 4 Satz 2, § 310 StPO) über die Beschwerde gegen deren Beschlüsse entscheidet. Da es sich aus Gründen wirksamer Bekämpfung der Staatsschutzdelikte als erforderlich erwies, in weitem Umfang das Ermittlungsverfahren wie bisher durch den Generalbundesanwalt durchführen zu lassen, diesem auch als einem Bundesorgan in beschränktem Umfang die Kompetenz zur Erhebung und Vertretung der Anklage vor den Oberlandesgerichten als Gerichten der Länder zu überlassen (vgl. § 142 a Abs. 2,3 GVG), bedurfte es zur Bereinigung der Kompetenzschwierigkeiten neuer konstruktiver Wege. Sie wurden dadurch eröffnet, daß der durch das Gesetz v. 26.8. 1969 (BGBl. I 1357) eingefügte Abs. 5 des Art. 96 G G den Bundesgesetzgeber ermächtigte, zu bestimmen, daß Gerichte der Länder Gerichtsbarkeit des Bundes ausüben (sog. Organ-Leihe). Nach § 120 Abs. 6 n. F. GVG üben die erstinstanzlich zuständigen Oberlandesgerichte, soweit nach § 142 n. F. der Generalbundesanwalt zur Verfolgung der Strafsachen als Bundesorgan zuständig ist, Gerichtsbarkeit des Bundes aus. Gerichtsbarkeit des Landes üben sie aus, wenn der Generalbundesanwalt das Verfahren gemäß § 142 a Abs. 2, 3 n. F. GVG an die Landesstaatsanwaltschaft abgegeben hat. Auf weitere Einzelheiten ist hier nicht einzugehen. Die Neuordnung des Instanzenzuges führte zu Änderungen des GVG (§§ 24, 61, 74, 74a, 120, 130, 135, 139,166; Einfügung des § 142a; Streichung der §§ 134, 134a) und der StPO (§§ 121, 122, 140, 153b, 153c, 153d, 168a, 172, 178, 186, 198, 209, 210, 304, 310, 333, 354, 452, 462; Streichung des § 474 a. F.). 0 Verfahrensrechtlich bedeutsame Änderungen außerhalb von GVG und StPO. — Außerdem sind eine Reihe von Gesetzen ergangen, die, ohne daß GVG oder StPO förmlich geändert oder ergänzt worden wären, doch für die Gerichtsverfassung und das Strafverfahren von Bedeutung sind. Das Gesetz über die Einrichtung eines Bundeskriminalpolizeiamts v. 8.1.1951 (BGBl. I 165) i. d. F. des Ges. v. 19.9.1969 (BGBl. I 1717), das das Reichskriminalpolizeigesetz v. 21. 7. 1922 (RGBl. I 593) ablöste, schrieb zur Bekämpfung des nicht ortsgebundenen Verbrechertums die Einrichtung eines Bundeskriminalamts (mit dem Sitz in Wiesbaden) durch den Bund und die Errichtung von Landeskriminalämtern durch die Länder vor, ermächtigte unter bestimmten Voraussetzungen das Bundeskriminalamt zur Verfolgung strafbarer Handlungen im Einzelfall unter Einsetzung eigner Vollzugsbeamten und regelte das Zusammenwirken des Bundeskriminalamts mit den Polizeidienststellen der Länder und den Justizbehörden. Im Gegensatz zum Bundeskriminalamt sind dem auf Grund des Gesetzes v. 27. 9. 1950 (BGBl. 682) errichteten Bundesamt für Verfassungsschutz keine besonderen Befugnisse auf dem Gebiet der Strafverfolgung eingeräumt. Das Gesetz über das Bundesverfassungsgericht (BVerfGG) v. 12. 3. 1951 (BGBl. I 243) brachte die Möglichkeit, gegen rechtskräftige Strafentscheidungen das BVerfG mit der Behauptung der Verletzung von Grundrechten und bestimmter Verfassungssätze durch Verfassungsbeschwerde anzurufen (§§ 90ff.) und schuf den Wiederaufnahme-Grund der Verurteilung auf Grund eines nichtigen Gesetzes (§§ 79, 96; vgl. S. 196). Das Zugeständigkeitsergänzungsgesetz v. 7. 8. 1952 (BGBl. I 401) bestimmte das für die Fortführung oder die Wiederaufnahme eines Verfahrens zuständige Gericht und die zuständige Vollstreckungsbehörde in solchen Fällen, in denen das früher zuständige Gericht seit dem 8. 5. 1945 weg11

Über Grund und Tragweite der Änderungen im einzelnen vgl. W u l f , JZ 1970 160.

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Kap. 3 6

gefallen ist oder an seinem Sitz deutsche Gerichtsbarkeit nicht mehr ausgeübt wird; § 18 a. a. O. erweiterte zugleich die Voraussetzungen für die Wiederaufnahme des Verfahrens zugunsten des Verurteilten gegenüber der früheren Wehrmachts- und Sondergerichte. Ferner sind hier zu nennen das Gesetz über das gerichtliche Verfahren in Binnenschiffahrtssachen v. 27.9. 1952 (BGBl. I 641) i. d. F. v. 14.5. 1965 (BGBl. I 389) und 7. 7. 1966 (BGBl. II 560); das Gesetz über die innerdeutsche Rechts- und Amtshilfe v. 2.5. 1953 (BGBl. I 161), das sich insbesondere mit der Vollstreckbarkeit sowjetzonaler Strafurteile in der Bundesrepublik befaßt, das Gesetz über das gerichtliche Verfahren bei Freiheitsentziehungen v. 29.6. 1956 (BGBl. I S. 599) und das Rechtspflegerges. v. 5. 11. 1969 (BGBl. I 2065) nebst Änderungsges. v. 27. 6. 1970 (BGBl. 1917) und VO v. 26. 7. 1970 (BGBl. I 992), das die Mitwirkung des Rechtspflegers im Strafvollstreckungsverfahren regelt (§§ 22, 31). Das Gesetz zur Wahrung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung der obersten Gerichtshöfe des Bundes v. 19.6. 1968 schuf den Gemeinsamen Senat der Obersten Gerichtshöfe, der entscheidet, wenn ein oberster Gerichtshof in einer Rechtsfrage von der Entscheidung eines anderen obersten Gerichtshofs oder des Gemeinsamen Senats abweichen will. Auf das Ges. v. 7. 8. 1952 (BGBl. II 685, 953) betr. Beitritt zur Menschenrechtskonvention ist bereits oben (S. 3) hingewiesen worden. Wegen der Neuregelung der Beteiligung der Finanzbehörden am Steuerstrafverfahren vgl. unten S. 60. g) Strafverfahren und Bußgeldverfahren. — Gegenüber den vorgenannten Gesetzen ragen an dogmatischer und praktischer Bedeutung für das Strafverfahren weit hervor die gesetzgeberischen Bestrebungen, die auf die Herauslösung des sog. Ordnungsunrechts aus dem Kriminalunrecht gerichtet sind, um einer hypertrophischen Anwendung der Kriminalstrafe entgegenzuwirken. aa) Zunächst erging das inzwischen ersetzte (unten cc) Gesetz über Ordnungswidrigkeiten (OWiG) v. 25.3. 1952 (BGBl. I 177). Es ging von dem Grundgedanken aus, daß bei reaktionsbedrohten Gesetzesverstößen zwischen der Straftat und der Ordnungswidrigkeit zu unterscheiden sei. Zwischen den verschiedenen Arten der Gesetzesverstöße bestehe, so wird gelehrt, ein Unterschied, der nicht nur gradmäßiger (quantitativer), sondern wesensmäßiger (qualitativer) Art sei. Dem Gebiet des Kriminalunrechts ist danach die ethisch verwerfbare Verletzung wesentlicher Gemeinschaftsbelange zuzurechnen, dem des Ordnungsunrechts die ethisch indifferente, „wertneutrale" Verletzung von Vorschriften, die technischer Art sind und der Vorsorge für einen glatten Ablauf der Vorgänge und Spannungen dienen, die sich aus dem äußeren Zusammenleben der Menschen ergeben. Die Straftat löst die Kriminalstrafe aus, die der Richter im Strafverfahren verhängt; das strafrichterliche Erkenntnis hat die Bedeutung eines ethischen Unwerturteils über die Tat. Die Ornungswidrigkeit dagegen führt nur zur Geldbuße'als einer „scharfen Pflichtenanmahnung", die die Verwaltungsbehörde durch einen Verwaltungsakt, den Bußgeldbescheid, in einem elastisch geordneten Verwaltungsverfahren, dem Bußgeldverfahren, festsetzt. Die Geldbuße dient zwar auch der Ahndung des Gesetzesverstoßes (§§9, 11 OWiG), d. h. der repressiven Beantwortung des Gesetzesverstoßes durch den Staat; der Idee nach aber sollte sie nach dem OWiG 1952 vorzugsweise ein weiteres Mittel des Verwaltungszwanges in der Hand der Verwaltungsbehörden sein, um die äußere gute Ordnung des Gemeinwesens durchzusetzen. Und während die Verfolgung von Straftaten grundsätzlich vom Legalitätsprinzip beherrscht wird, wurde die Verfolgung von Ordnungswidrigkeiten dem im allgemeinen die Tätigkeit der Verwaltungsbehörden beherrschen Opportunitätsprinzip unterstellt (§ 7 OWiG). Wie jeder beschwerende Verwaltungsakt, so wurde auch, entsprechend dem Gebot des Art. 19 Abs. 4 GG, der Bußgeldbescheid der gerichtlichen Nachprüfung unterworfen. Aber die Rechtskontrolle stand hier nicht den Verwaltungsgerichten (nach den Vorschriften der Verwaltungsgerichtsordnung v. 21. 1. 1960), sondern an ihrer Stelle den Strafgerichten zu (§§ 54 ff, 75 OWiG). Da sich andere praktikable Abgrenzungsmerkmale qualitativer Art nicht gewinnen ließen, zog das OWiG 1952 die Grenzlinie zwischen Straf- und Ordnungsrecht durch Aufstellung eines rein formalen Merkmals: Ordnungsunrecht liegt vor, wenn der Gesetzgeber im Einzelfall einen Gesetzesverstoß nur mit Geldbuße bedroht (§ 1 Abs. OWiG 1952), Kriminalunrecht dagegen, wenn ausschließlich Kriminalstrafe angedroht ist. Dazu trat die Sonderfigur der Mischtatbestände (§ 1 Abs. 3 OWiG 1952), die dadurch gekennzeichnet sind, daß ein Straftatbestand bei Hinzutritt privilegierender Umstände Geldbuße,

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Kap. 3

Einleitung (Schäfer)

6 ein Ordnungswidrigkeitstatbestand bei Hinzutritt qualifizierender Merkmale Kriminalstrafe androht; dann ist die Handlung, je nachdem die besonderen Merkmale vorliegen oder nicht, entweder Straftat oder Ordnungswidrigkeit (§ 2 OWiG 1952). bb) Die Grundkonzeption des OWiG 1952 stieß z.T. in Rechtsprechung und Schrifttum auf Widerspruch12. Es wurde insbesondere darauf hingewiesen, daß eine überzeugende materielle Abgrenzung des Ordnungsunrechts vom Kriminalstrafrecht nicht möglich sei, daß der Gesetzgeber bei der formalen Abgrenzung der Bedrohung mit Geldbuße das Gebiet des geringfügigen Gesetzesunrechts, das dem der Übertretungen etwa entspreche, grundsätzlich verlasse, wenn er Geldbußen in Höhe vier- und fünfstelliger Zahlen oder in noch größerer Höhe androhe, daß die Belegung mit solchen Geldbußen den Betroffenen, auch wenn er dadurch nicht „vorbestraft" sei, und trotz ihrer Qualifizierung als „lediglich" eine nachdrückliche Pflichtenmahnung, härter treffe als die Ahndung mit einer geringen Vergehensgeldstrafe. Von diesem Standpunkt aus wurde im Hinblick auf die Art. 92 GG (Rechtsprechungsmonopol der Gerichte) die Grundgesetzmäßigkeit des OWiG angezweifelt. Zur Verstärkung der Bedenken konnte es beitragen, als durch § 81 des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen v. 27.7. 1957 (BGBl. I 1081) im Kartellbußgeldverfahren die Konstruktion des OWiG verlassen und die Festsetzung der Geldbuße der Verwaltungsbehörde entzogen und dem Gericht (OLG) übertragen wurde (inzwischen wieder beseitigt; vgl. jetzt §§81 ff. GWB i. d. F. von Art. 62 EG OWiG 1968); auch konnte die Ahndungsbefugnis der Verwaltungsbehörde als widersprüchlich empfunden werden gegenüber dem Verlangen, die Strafbescheidbefugnis der Verwaltungsbehörden zu beseitigen, weil sie mit Art. 92 GG unvereinbar sei (vgl. unten S. 59). Das BVerfG (E 8, 207 = NJW 1958, 1963; E 9, 167 = NJW 1959, 619; E 22, 7 8 = NJW 1967, 1219) wies indessen die Angriffe gegen die Grundgesetzmäßigkeit des Bußgeldverfahrens zurück; nur die Kriminalstrafe sei eine echte, mit einem ethischen Schuldvorwurf verbundene Strafe, der Buße fehle dagegen der „Ernst der staatlichen Strafe". Es handele sich daher bei dem Bußgeldverfahren der Verwaltungsbehörde nicht um ein verkapptes Strafverfahren, sondern um die durch den grundsätzlichen Unterschied der Ordnungswidrigkeit von der Straftat begründete grundgesetzmäßig einwandfreie Ausübung von Verwaltungstätigkeit. cc) Mit der Grundkonzeption des OWiG 1952 war unvereinbar das Nebeneinanderbestehen von Ordnungswidrigkeiten und Übertretungen; der mit dem OWiG beschrittene Weg führte zwangsläufig zur Beseitigung der Übertretungen und leichterer (nur mit Geldstrafe bedrohter) Vergehen. Das vollzog und vollzieht sich in Stufen. Zunächst wurde nach dem Inkrafttreten des OWiG 1952 grundsätzlich auf die Schaffung neuer Übertretungstatbestände und neuer Vergehenstatbestände, die nur Geldstrafe androhen, verzichtet und bei der Reform älterer Gesetze wurden die entsprechenden Tatbestände zu Ordnungswidrigkeiten umgestaltet. Der entscheidende Schritt wurde getan, als 1968 (Art. 3 EG OWiG) die Masse der verbliebenen Übertretungen — die Verkehrsübertretungen — dem Ordnungsrecht zugeordnet wurde. Der Rest der Übertretungen verschwindet am 1. 10. 1973 mit dem Inkrafttreten des 2. Strafrechtreformges. v. 4. 7. 1969 (BGBl. I 717); der neue Allgemeine Teil des künftigen StGB kennt keine Übertretungen mehr. Nunmehr erwies sich aber eine grundlegende Reform des OWiG in verfahrensmäßiger Hinsicht als erforderlich, die das OWiG 1968 durchführte. Der Grundgedanke des OWiG 1952, daß die Wesensverschiedenheit von Straftaten und Ordnungswidrigkeiten notwendigerweise auch zu einer klaren Trennung bei der Verfolgung führen müsse und die Zuständigkeit der Strafverfolgungsbehörden scharf von der Verfolgungs- und Ahndungsbefugnis der Verwaltungsbehörde abzusetzen sei, erwies sich gerade bei den Verkehrszuwiderhandlungen als praktisch undurchführbar, weil hier die Übergänge zwischen strafbarem und nur ordnungswidrigem Verhalten in besonderem Maße fließend sind und sich vielfach nicht von vornherein, sondern erst nach abschließender Aufklärung Gewißheit ergibt, wessen sich der Täter schuldig gemacht hat, etwa ob die in § 315 c Abs. 1 StGB unter Nr. 1 und 2 beschriebenen Verhaltensweisen von einer Ordnungswidrigkeit nach StVO oder StZVO in ein Vergehen umschlugen, weil sie mit einer konkreten Gefährdung von Leib oder Leben eines anderen oder fremder Sachen von bedeutendem Wert verbunden waren. Das OWiG 1968 ermöglicht deshalb, wenn eine Rechts12

Vgl. dazu etwa S c h o r e i t , Die sogenannten Ordnungswidrigkeiten, GA 1967 225 und M e r t e n P f e n n i g MDR 1970 807.

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Die weitere Entwicklung der StPO und des GVG

Kap. 3 6

Verletzung eine Ordnungswidrigkeit, aber auch eine Straftat sein kann, eine abschließende Entscheidung in einem Verfahren und ebenso eine einheitliche verfahrensmäßige Behandlung, wenn Ordnungswidrigkeiten mit Straftaten zusammenhängen. Nach dem OWiG 1952 stand die Ahndung einer Ordnungswidrigkeit grundsätzlich nur der Verwaltungsbehörde zu, sie setzte durch den Verwaltungsakt des Bußgeldbescheids die Folgen der Ordnungswidrigkeit fest. Beantragte der Betroffene gerichtliche Entscheidung, so beschränkte sich die Nachprüfung des Gerichts darauf, ob der Bußgeldbescheid aufrecht zu erhalten, zu ändern oder aufzuheben sei. Die Aufgabe der Staatsanwaltschaft bestand grundsätzlich nur in der Kontrolle, ob die Verwaltungsbehörde nicht einen Sachverhalt erfasse, der als Straftat in die Verfolgungszuständigkeit der Strafjustizorgane fallt; im übrigen wirkte sie im gerichtlichen Stadium des Bußgeldverfahrens nicht mit (Ausnahme: § 56 Abs. 4 OWiG 1952). Die Rolle des Verfolgungsorgans verblieb vielmehr auch in diesem Stadium der Verwaltungsbehörde; sie war im gerichtlichen Verfahren zu hören und konnte Rechtsbeschwerde einlegen. Nach dem OWiG 1968 ist dagegen im Strafverfahren die Staatsanwaltschaft für die Verfolgung der Tat (i. S. des § 264 StPO) auch unter dem rechtlichen Gesichtspunkt der Ordnungswidrigkeit zuständig (§ 40). Sie kann der Verwaltungsbehörde die Verfolgung einer Ordnungswidrigkeit entziehen und sie selbst übernehmen, wenn sie eine Straftat verfolgt, die mit einer Ordnungswidrigkeit zusammenhängt (§ 42). Erhebt sie wegen der Straftat die öffentliche Klage, so erstreckt sie diese auch auf die Ordnungswidrigkeit (§ 64). Eine entsprechende umfassende Kognitionspflicht trifft auch das Gericht. Wird es durch Einspruch des Betroffenen gegen den Bußgeldbescheid der Verwaltungsbehörde mit der Sache befaßt, so ist es an die Beurteilung der Tat als Ordnungswidrigkeit nicht gebunden und kann vom Bußgeld- zum Strafverfahren übergehen (§ 81); im Strafverfahren nach Erhebung der öffentlichen Klage beurteilt es die in der Anklage bezeichnete Tat zugleich unter dem rechtlichen Gesichtspunkt einer Ordnungswidrigkeit (§ 82). Der fließende Übergang der Ordnungswidrigkeit zur Straftat führte dazu, das Verfahren der Verwaltungsbehörde und das der Staatsanwaltschaft bei Aufrechterhaltung des Opportunitätsprinzips grundsätzlich den Regeln der StPO zu unterstellen (§ 46 Abs. 1, 2); „im Grundsatz geht das OWiG 1968 . . . von einer einheitlichen Verfahrensordnung aus und bestimmt davon nur die Abweichungen, die auf eine ganz wesentliche Vereinfachung des Verfahrens bei Ordnungswidrigkeiten abzielen" (Göhler [2] Einl. S. 7). Die so entstandene Rechtslage, daß sowohl die Verwaltungsbehörde durch Bußgeldbescheid (mit dem Vorbehalt, daß der Betroffene durch Einspruch die Entscheidung des Strafrichters herbeiführen kann), wie das Gericht im Verfahren auf Anklage der Staatsanwaltschaft unter der Herrschaft gleichartiger Verfahrensgrundsätze und in Anwendung desselben materiellen Rechts die gleichen Sanktionen für Gesetzesunrecht aussprechen können, daß insbesondere das Fahrverbot sowohl vom Gericht als Nebenstrafe neben einer Kriminalstrafe (§37 StGB) wie von der Verwaltungsbehörde unter dem Gesichtspunkt der Nebenfolge einer Ordnungswidrigkeit neben einer Geldbuße durch Bußgeldbescheid ausgesprochen werden kann (§ 25 StVG) führte erneut unter Berufung auf Art. 92 GG zu Angriffen gegen die Grundgesetzmäßigkeit des OWiG 1968. Sie wurden von BVerfG NJW 1969, 1619 mit der Begründung zurückgewiesen, daß das Rechtsprechungsmonopol der Gerichte (Art. 92 GG) sich nur auf den Kernbereich des Strafrechts erstrecke, der alle bedeutsamen Unrechtstatbestände umfasse, während es verfassungsmäßig nicht zu beanstanden sei, wenn der Gesetzgeber Gesetzesverstöße mit geringerem Unrechtsgehalt, die sich von kriminellen Vergehen durch den Grad des ethischen Unwertgehalts unterscheiden, dem Bereich der materiellen Rechtsprechung entziehe und sie repressiv mit einer „nachdrücklichen Pflichtenmahnung" erwidere, die keine ins Gewicht fallende Beeinträchtigung des Ansehens und des Leumunds des Betroffenen zur Folge habe. Der grundsätzliche Unterschied zwischen dem Fahrverbot als Nebenstrafe (§37 StGB) und dem Fahrverbot nach § 25 StVG als Nebenfolge der Ordnungswidrigkeit ist nach BVerfG NJW 1969,1623 darin zu sehen, daß letzteres nach der gesetzgeberischen Intention in 1. Linie eine Erziehungsfunktion habe, sich als „Denkzettel- und Besinnungsmaßnahme" darstelle, aber keinen „gezielten Angriff auf die Kraftfahrerehre" enthalte und den Betroffenen nicht „im Kern seiner Persönlichkeit" träfe. Ob namentlich diese letzteren Ausführungen gesteigerten Ansprüchen nach begrifflich-dogmatischer Vertiefung genügen, wo doch mit der Festsetzung des Fahrverbots nach § 25 StVG dem Betroffenen der Vorwurf gemacht wird, daß er grob oder beharr33

Kap. 4

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lieh die Pflichten eines KFZ-Führers verletzt habe, mag dahingestellt bleiben. Theoretisch bleibt die Frage, ob wirklich der behauptete wesensmäßige Unterschied zwischen dem Kriminalunrecht und dem „bloßen" Ordnungsrecht besteht. Es ließe sich die Auffassung wohl vertreten, daß materiell auch die Ahndung durch die Verwaltungsbehörde im Bußgeldverfahren Ausübung von Rechtsprechung darstellt, und daß die Vereinbarkeit mit Art. 92 G G deshalb zu bejahen ist, weil letztlich dem Richter die Entscheidung zusteht. Eine Vertiefung dieser Fragen würde indessen den Rahmen der über die Rechtsentwicklung berichtenden Übersicht überschreiten.

4. Reformversuche und Reformbestrebungen Jede Strafverfahrensregelung stellt sich letztlich dar als ein positivrechtlicher Ausgleich des Gesetzgebers zwischen den Interessen der durch den Staat verkörperten Rechtsgemeinschaft an einer möglichst raschen und zielstrebigen Strafverfolgung zur Wiederherstellung des Rechtsfriedens und möglichst umfassenden Mitteln zur Aufklärung des Sachverhalts auf der einen Seite und denen des Beschuldigten an möglichst weitgehenden Schutzrechten zur Verteidigung gegen den erhobenen Vorwurf. Die Vorstellungen über den kriminalpolitisch richtigen Ausgleich und über den zweckmäßigsten Weg zur Wahrheitsfindung aber sind wandelbar und werden durch Änderung der politischen und sozialen Verhältnisse, der Anschauungen über die Grenzen der Macht des Staates und der Bedeutung der Würde und Rechte des Individuums beeinflußt. Davon abgesehen, erweist sich auch eine umfassende gesetzliche Neuregelung des Verfahrens in der Regel alsbald in mehr oder weniger großem Umfang als verbesserungsbedürftig, weil die gehegten Praktikabilitätserwartungen sich nicht erfüllen und unvorhergesehene Zweifelsfragen, Mängel und Unvollkommenheiten hervortreten. Weiter werfen neu hervortretende Erkenntnisse und Erfindungen auf anderen Gebieten, etwa der Medizin und der Technik, die sich zur Verwendung bei der Verbrechensaufklärung eigenen (Daktyloskopie, Blutproben, erbbiologische Ähnlichkeitsvergleiche, Wahrheitsseren, Lügendetektor, Tonbandaufnahmen), neue Probleme auf und machen neue Verfahrensvorschriften erforderlich. Schließlich führen Änderungen des materiellen Strafrechts, aber auch außerstrafrechtliche Neuerungen, insbesondere die Ausprägung von Grundrechten in neuen Verfassungen und überstaatliche Vereinbarungen zu Anpassungen auf dem Gebiet des Gerichtsverfassungs- und Verfahrensrechts. Die Klinke der Gesetzgebung muß also zwangläufig oft betätigt werden, und die vielberufene Unrast der modernen Gesetzgebung beruht, soweit es sich um das Verfahrensrecht handelt, oft genug weniger auf ungezügeltem Reformdrang und perfektionistischem Bestreben als auf dem Zwang außerverfahrensrechtlicher Anstöße, denen die Verfahrensgesetzgebung genügen muß. Solange es geht, wird der Gesetzgeber sich mit Novellen begnügen; von Zeit zu Zeit muß dann das flickenübersäte Gewand durch ein neues ersetzt werden (in der Form der Bekanntmachung eines durchgängig bereinigten Textes). Immer wieder erhebt sich aber daneben der Ruf nach der umfassenden, der „großen" Reform, der Reform an Haupt und Gliedern. In der Übersicht unter 3 ist dargestellt worden, welche Änderungen StPO und GVG seit dem 1. 10. 1879 erfahren haben. Die dort gegebene Übersicht ist hier nach der Richtung zu ergänzen, daß die nicht verwirklichten Änderungswünsche wesentlicher Art, insbesondere aber die Versuche einer umfassenden Reform im Zusammenhang kurz geschildert werden 13 , auch soweit ihre Vorschläge inzwischen z. T. verwirklicht sind. a) Reformbestrebungen von 1879—1914. — Die'Bestrebungen nach Änderung der StPO setzten schon bald nach deren Inkrafttreten am 1. 10. 1879 ein; sie hatten u . a . das bis heute umstrittene Problem der Einführung einer zweiten Tatsacheninstanz gegen erstinstanzliche Strafkammerurteile zum Gegenstand 14 . In den Jahren 1883 und 1884 stellten 13

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Eine eingehende Darstellung der älteren Reformbestrebungen mit Quellenangabe findet sich in der 19. Aufl. des Kommentars, S. 11 ff. In der Darstellung des Textes sind die dort geschilderten einzelnen Entwicklungsphasen summarisch zusammengefaßt. Vgl. dazu T r ö n d l e , Zur Frage der Berufung in Strafsachen — Rückblick und Ausblick, GA 1967

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einige Abgeordnete im Reichstag den Antrag, die Berufung gegen Urteile der Strafkammern in 1. Instanz einzuführen, über die die Strafsenate der Oberlandesgerichte entscheiden sollten. Die Reichstagskommission, der diese Anträge überwiesen wurden, beantragte am 3. 2. 1885, der Reichstag möge die Erwartung aussprechen, daß die Regierung beschleunigt dem Reichstag einen entsprechenden Gesetzentwurf vorlege. Eine Beschlußfassung des Reichstagsplenums unterblieb mit Rücksicht darauf, daß der Bundesrat damals mit einer Novelle zum GVG und zur StPO befaßt war, von der eine Regelung der Frage erwartet wurde. Der von der Regierung am 9. 5. 1885 vorgelegte Entwurf einer Novelle, die übrigens nicht im Reichstag beraten wurde, enthielt aber die Einführung der Berufung gegen Strafkammerurteile nicht, weil, wie es in der Begründung hieß, die Regierung sich nicht habe überzeugen können, daß diese Maßnahme das geeignete Mittel sei, gerügten Übelständen abzuhelfen. Aus der Mitte des Reichstags wurde daraufhin erneut der frühere Antrag eingebracht, der diesmal auf Vorschlag der Reichstagskommission vom Plenum des Reichstags im Jahre 1886 in allen wesentlichen Punkten angenommen wurde. Der Bundesrat beharrte aber im März 1887 bei seinem Standpunkt. Abermals wurden in den Jahren 1887—1892 von den Abgeordneten Münckel und Reichensperger mehrfach entsprechende Anträge eingebracht, die zwar nicht im Reichstag verhandelt wurden, aber schließlich den Erfolg hatten, daß in dem am 6. 12. 1894 von der Reichsregierung erneut dem Reichstag vorgelegten Entwurf einer Novelle neben anderen Änderungen auch die Berufung gegen erstinstanzliche Strafkammerurteile vorgesehen war. Der bei Sessionsende unerledigt gebliebene Regierungsentwurf wurde mit gewissen Änderungen im Dezember 1895 erneut dem Reichstag vorgelegt, schließlich aber zurückgezogen, weil die Regierung auf den Wunsch der Reichstagskommission, die erstinstanzliche Strafkammer mit 5 Richtern zu besetzen — der Regierungsentwurf sah nur 3 vor —, nicht eingehen wollte. Nach mehrfachen erfolglosen Versuchen in den Jahren 1896 und 1897, die ins Stocken geratene Reform durch vermittelnde Anträge aus der Mitte des Reichstags wieder zu beleben, forderte schließlich der Reichstag bei den Verhandlungen über die Militärstrafgerichtsordnung am 4 . 5 . 1898 einstimmig die Regierung auf, dem Reichstag in der nächsten Session alsbald einen Gesetzentwurf über die Berufung in Strafsachen vorzulegen. Eine entsprechende Resolution faßte der Reichstag erneut und wiederum einstimmig am 19. 4. 1902. Zur Vorbereitung einer umfassenden Reform berief nunmehr das Reichsjustizamt eine Kommission von 21 Mitgliedern, die aus Richtern, Staatsanwälten und Rechtslehrern bestand; ein Teil der Mitglieder waren zugleich Reichstagsabgeordnete. Die Kommission erledigte ihre Aufgabe in der Zeit vom 16. 2. 1903 bis 1. 4. 1905 in 86 Sitzungen. Die Protokolle und eine Zusammenstellung der Kommissionsbeschlüsse wurden im Jahre 1905 veröffentlicht; eine lebhafte Kritik schloß sich in der juristischen Öffentlichkeit daran an Im September 1908 veröffentlichte das Reichsjustizamt einen von ihm ausgearbeiteten „Entwurf einer Strafprozeßordnung und Novelle zum GVG" nebst Begründung (Verlag Otto Liebmann, Berlin 1908) — bei den Erläuterungen in diesem Werk als „NE I" zitiert —, der auf die Beschlüsse der Kommission wenig Rücksicht nahm. Der Entwurf sah die Berufung gegen erstinstanzliche Strafkammerurteile vor; doch sollten darüber nicht die Oberlandesgerichte, sondern bei den Landgerichten gebildete besondere Berufungssenate entscheiden. Weitere wichtige Vorschläge betrafen die Einschränkung des Legalitätsprinzips, die Erweiterung der Parteienöffentlichkeit, die Verbesserung des Zwischenverfahrens, die Regelung des Beweisantragsrechts und der Untersuchungshaft, die Beschleunigung des Verfahrens und das Verfahren gegen Jugendliche. Nachdem der Bundesrat dem Entwurf im wesentlichen zugestimmt hatte, wurde er am 26.3. 1909 dem Reichstag vorgelegt (RT-Verhandl. Bd. 254 Drucks. Nr. 1310 — im vorliegenden Kommentar als „NE II" zitiert —), aber nicht mehr beraten und deshalb in der nächsten Periode am 26. 11. 1909 unverändert neu eingebracht (RT-Verhandl. Bd. 270 Nr. 7). In der 1. Lesung v. 15. 1. 1910 16 überwies der Reichstag den Entwurf einer Kommission, die am 18. 1. 1911 einen eingehenden Bericht erstat-

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Vgl. u. a. A s c h r o t t , Reform des Strafprozesses 1906, v. L i s z t , Die Reform des Strafverfahrens 1906, H e i n e m a n n , Die rechtliche Stellung des Angeklagten 1906; Mitteilungen der IKV. 14 239, 300,305,309. Sten. Ber. S. 566.

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tete 1 7 . Am 6. 2. 1911 begann im Reichstag die 2. Lesung des Entwurfs. Sie wurde jedoch schon während der Beratung des G V G abgebrochen, da eine Einigung über die Besetzung der Berufungssenate nicht zu erreichen war. Der Streit ging um die Mitwirkung von Laienbeisitzern in der Berufungsinstanz, die der Reichstag forderte, die Regierung aber ablehnte. Die Weiterberatung der Vorlage wurde zunächst bis zum Herbst 1911 zurückgestellt, zu diesem Zeitpunkt aber nicht wieder aufgenommen. Die Reform tfar damit gescheitert. Der Ausbruch des Weltkrieges 1914 setzte den Reformplänen ein vorläufiges Ende. b) Reformbestrebungen von 1919 bis zur Emminger-Reform 1924. — Erst nach dem Kriege begannen unter weitgehend veränderten Verhältnissen die Reformvorhaben wieder Gestalt anzunehmen. Im Dezember 1919 ließ der damalige Reichsjustizminister Schiffer den Entwurf eines Gesetzes veröffentlichen, dem bald darauf — 1920 — der Entwurf über den Rechtsgang in Strafsachen folgte 18 — im vorliegenden Kommentar zitiert als „ N E I I I " —. Dieser Entwurf entfernte sich weitgehend von den Grundgedanken der früheren Regierungsentwürfe und wollte neue Wege beschreiten. Unter den Vorschlägen sind hervorzuheben auf dem Gebiet der Gerichtsverfassung die Beseitigung der Strafkammer als Gericht erster Instanz und die Übertragung ihrer Zuständigkeit auf das Schöffengericht, die Besetzung auch der Berufungsgerichte mit Schöffen, die Heranziehung der Frauen zum Schöffen- und Geschworenenamt und auf dem Gebiet des Strafverfahrens die Beseitigung der Voruntersuchung und des Eröffnungsbeschlusses, die Ausdehnung der Privatklage (Eigenklage) und der Parteienöffentlichkeit, die Einschränkung der Untersuchungshaft und des Legalitätsprinzips. Diese Entwürfe, deren Vorschläge in der Öffentlichkeit z. T. heftige Kritik hervorriefen19, gelangten nicht an den Reichstag; der Entw. 1920 ist schon vom Reichsrat nicht verabschiedet worden. Am 1 9 . 6 . 1921 legte der damals amtierende Reichsjustizminister Dr. Radbruch dem Reichsrat den Entwurf eines Gesetzes zur Neuordnung der Strafgerichte 2 0 vor. Auch dieser Entwurf hielt an dem Gedanken fest, die Strafkammer als Gericht erster Instanz zu beseitigen und ihre Zuständigkeit einem Schöffengericht mit erweiterter Besetzung zu übertragen. In den Schöffengerichten und den Strafkammern als Berufungsgerichten sollten die Schöffen die Mehrheit haben. Weitere Vorschläge betrafen die Zusammensetzung der Ausschüsse für die Wahl der Schöffen und Geschworenen; das Stimmrecht des Amtsrichters und des Staatsverwaltungsbeamten sollte beseitigt und die Mitglieder dieses Ausschusses sollten nach den für die Wahl in politischen Angelegenheiten geltenden Grundsätzen gewählt werden. Der Entwurf wurde, nachdem zwischen Regierung und Reichsrat eine Einigung erzielt war, mit wesentlichen Abweichungen gegenüber der ursprünglichen Regierungvorlage am 29. 5. 1923 von dem neuen Reichsjustizminister Heinze dem Reichstag vorgelegt 21 . Die wichtigste Abweichung bestand in dem Vorschlag, das Schwurgericht unter Beibehaltung seines Namens und unter Herabsetzung der Geschworenenzahl in ein besonders großes Schöffengericht umzuwandeln. Die Vorschläge des Entwurfs Radbruch, daß die Schöffen im Großen Schöffengericht und in der Berufungsstrafkammer die Mehrheit haben sollten und daß der Ausschuß für die Wahl der Schöffen und Geschworenen umzugestalten sei, wurden fallengelassen. Der Reichstag überwies in seiner Sitzung v. 5. 6. 1923 den Entwurf dem Rechtsausschuß; zu einer Beschlußfassung des Rechtsausschusses ist es nicht mehr gekommen. Nachdem in der Zwischenzeit bereits einige Reformanliegen durch Einzelgesetze verwirklicht waren (Gesetz über die Heranziehung der Frauen zum Schöffen- und Geschworenenamt v. 25. 4. 1922 — R G B l . 1 4 6 5 —, Gesetz über die Zulassung der Frauen zu den Ämtern und Berufen der Rechtspflege v. 1 1 . 7 . 1922 - R G B l . I 573 - , Jugendgerichtsgesetz v. 16. 2. 1923 — R G B l . I 135 —), machte die Reichsregierung von der ihr aus Anlaß der Währungsstabilisierung durch das Ermächtigungsgesetz v. 8. 12. 1923 ( R G B l . I 1179) eingeräumten Befugnis Gebrauch, durch Verordnungen Recht zu setzen, um wesentliche Gedan17 18 19 20 21

Bd. 2 7 8 Nr. 6 3 8 S. 3 1 0 8 . Erschienen im Verlag Otto Liebmann, Berlin 1920. Vgl. J W 1 9 2 0 2 5 9 . Veröffentlicht im Reichsanzeiger Nr. 157 v. 19. 7. 1922. RT.-Drucksache Nr. 5 8 8 4 der 1. Wahlperiode.

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Reformversuche und Reformbestrebungen

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ken der steckengebliebenen Reform im Verordnungswege zu verwirklichen. Die oben (S. 6) besprochene „Emminger"-VO v. 4. 1. 1924 (RGBl. I 15) führte die Vorschläge der Entwürfe Radbruch und Heinze hinsichtlich der Beseitigung der Strafkammern als Gerichte erster Instanz durch, wandelte die Schwurgerichte in große Schöffengerichte um und schränkte den Verfolgungszwang ein. Die Dreigliedrigkeit in der Besetzung des Amtsgerichts — Einzelrichter, Schöffengericht in der Besetzung mit einem Richter und zwei Schöffen und erweitertes Schöffengericht mit zwei Richtern und zwei Schöffen — führte zu einer beweglichen Wahlzuständigkeit dergestalt, daß es in weitem Umfang von dem Willen der Staatsanwaltschaft abhängig gemacht wurde, ob die Verhandlung vor dem Einzelrichter, dem einfachen oder dem erweiterten Schöffengericht stattfand, und von dieser Entschließung hing es wiederum ab, ob für die Berufung die Kleine oder die Große Strafkammer und ob es für die Revision das Oberlandesgericht oder das Reichsgericht zuständig war. Die auf Beschränkung der Untersuchungshaft gerichteten Vorschläge fanden erst aus Anlaß eines aufsehenerregenden Einzelfalles in der Novelle v. 27. 12. 1926 ihre Verwirklichung. Die viel angegriffene Methode der Emminger-Reform, unter Ausschaltung eines langwierigen parlamentarischen Gesetzgebungsganges Reformen durch Regierungsdekret einzuführen — mochten sie zunächst auch nur als eine unter dem Druck der Verhältnisse notwendige Zwischenlösung gedacht sein —, hatte aber immerhin den Vorteil, daß nunmehr praktisch erprobt werden konnte, ob die alte und umstrittene Reformforderung, grundsätzlich in allen Sachen eine zweite Tatsacheninstanz zu eröffnen, sich auf dem Weg einer Beseitigung der erstinstanzlichen Strafkammer befriedigend lösen lasse. Die Entwicklung hat gezeigt, daß diese „Patentlösung" sich nicht halten ließ. Diese Beurteilung wird auch nicht dadurch in Frage gestellt, daß es wiederum der Druck der Verhältnisse, die „Diktatur der Armut" war, die schrittweise durch die NotVOen v. 6. 10. 1931 und 14. 6. 1932 die Wiederherstellung der erstinstanzlichen Strafkammer erzwang. Das Verlangen, den Schwerpunkt der erstinstanzlichen Strafrechtspflege wieder an die Landgerichte zu verlegen, war schon vorher erhoben worden. 22 . Die Erfahrung hatte jedenfalls gezeigt, daß die Befassung mit umfangreichen Verfahren die Kräfte auch eines erweiterten Schöffengerichts oft übersteigt. Das Problem der zweiten Tatsacheninstanz war damit freilich noch nicht erledigt, doch war auch nach dieser Richtung Erfahrungsmaterial insofern angefallen, als gerade die Figur der Monstreprozesse, die den ersten Anstoß zur Wiedereinführung der erstinstanzlichen Strafkammer gab, die Bedenken zeigte, die einer umfassenden Wiederholung des gesamten ProzeßstofFs in einer zweiten Tatsacheninstanz entgegenstehen können. c) Die Reformvorschläge des EGStGB-Entw. 1930. — Neue Impulse zu umfassenderen Reformvorschlägen ergaben sich im Zusammenhang mit den Bemühungen um die Schaffung eines Allgemeinen Deutschen Strafgesetzbuchs. Im Jahre 1927 hatte der Reichsjustizminister dem Reichstag mit Zustimmung des Reichsrats den Entwurf eines neuen StGB vorgelegt, dessen parlamentarische Behandlung im Rechtsausschuß schließlich infolge der Zuspitzung der innenpolitischen Lage auf zunehmende Schwierigkeiten stieß. Im Jahre 1930 war das Schicksal der Reform bereits kritisch geworden. Der gleichfalls im Jahre 1927 dem Reichstag vorgelegte Entwurf eines Strafvollzugsgesetzes, der namentlich eine gesetzliche Regelung der Rechtsstellung des Strafgefangenen im Vollzug vorsah (RT-Drucks. Nr. 3628), war noch nicht beraten worden. Unter dem 20. 5. 1930 legte der Reichsjustizminister mit Zustimmung des Reichsrats dem Reichstag den Entwurf eines „Einfuhrungsgesetzes zum Allgemeinen Deutschen Strafgesetzbuch und zum Strafvollzugsgesetz 1930" 23 vor (RT-Drucks. Nr. 2070). Dieser Entw. enthielt in den Art. 68—71 zahlreiche Vorschläge zur Änderung von GVG und StPO. Den Gedanken einer gleichzeitigen mit der Strafrechtsreform durchzuführenden umfassenden Neuregelung des Strafverfahrens, verbunden mit einem tiefgreifenden Umbau der Gerichtsverfassung, wie letzterer damals namentlich von dem früheren Reichsjustizminister Schiffer 24 wieder gefordert wurde, lehnte die amtl. Begründung freilich ab als unvereinbar mit dem Ziel, die Strafrechtsreform mög22 23 24

Vgl. namentlich Graf zu D o h n a , Gutachten zum 35. Deutschen Juristentag, Verhandl. Bd. 1 S. 129 ff. Im folgenden als EGStGB-Entw. 1930 zitiert. S c h i f f e r , „Die deutsche Justiz", und S c h i f f e r , „Entw. eines Gesetzes zur Neuordnung des deutschen Rechtswesens nebst Begründung", Berlin 1928.

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liehst bald durchzuführen und in Kraft setzen zu können; dieses Ziel sei nach den Erfahrungen der früheren Reformversuche und angesichts der Meinungsverschiedenheiten darüber, welche Linien eine Gesamtreform einzuhalten hätte, nur erreichbar, „wenn Gerichtsverfassung und Strafverfahren in ihren wesentlichen Grundzügen aufrechterhalten werden und das Einführungsgesetz sich damit bescheidet, solche Vereinfachungen und Verbesserungen des bestehenden Zustandes herbeizuführen, die sich in den vorhandenen Aufbau ohne große Schwierigkeiten und insbesondere ohne Zeitverlust organisch eingliedern lassen". Eine umfassende Reform oder die Regelung umstrittener Teilprobleme — die Begründung führt als Beispiele die Ersetzung des Offizialprinzips durch das Parteiprinzip nach englischem Muster und die Beseitigung der Voruntersuchung an — müsse einer späteren Zukunft vorbehalten bleiben. Immerhin wollte sich auch in diesem beschränkten Rahmen der Entwurf nicht nur mit solchen Änderungen von GVG und StPO begnügen, die in einer mehr oder weniger zwangsläufigen Anpassung an die Neugestaltung des materiellen Strafrechts bestanden, sondern gleichzeitig — z. T. im Anschluß an die früheren Entwürfe — eine Reihe von Reformen bringen, deren Lösung im Zusammenhang mit der Strafrechtsreform zwar nicht unbedingt geboten sei, aber ihrem Geiste entspreche und zweckmäßig sei. So wollte der Entw. auf dem Gebiet des GVG es zwar bei der Beseitigung der erstinstanzlichen Zuständigkeit der Strafkammer und bei der Umgestaltung des Schwurgerichts belassen, doch sollte die Zuständigkeit des Einzelrichters gegenüber dem bisherigen Recht eingeschränkt werden (Art. 68 Nr. 30). Zur Erhaltung einer einheitlichen Rechtsprechung sollte eine Vorlegungsptlicht eingeführt werden, wenn ein OLG als Revisionsgericht von einer in einer amtlichen Sammlung veröffentlichten Entscheidung des RG in einer Rechtsfrage des Reichsstrafrechts, Reichsstrafprozeßrechts oder der reichsrechtlichen Gerichtsverfassung abweichen wollte (Art. 68 Nr. 30). Die Öffentlichkeit des Verfahrens sollte in weiterem Umfang ausgeschlossen werden können, insbesondere dann, wenn die Verhandlung persönliche Angelegenheiten (z. B. intime Dinge des Privat- und Familienlebens) zum Gegenstand hat, die das öffentliche Interesse nicht berühren, sofern von einer öffentlichen Verhandlung für den Betroffenen erhebliche, außerhalb des Zweckes liegende Nachteile zu besorgen sind (Art. 68 Nr. 42 ff.). Auf dem Gebiet der StPO sind an bedeutsamen Vorschlägen u. a. zu erwähnen: die Beseitigung des Eröffnungsbeschlusses und sein Ersatz durch die Anordnung der Hauptverhandlung seitens der Vorsitzenden (Art. 70 Nr. 115), die Erleichterung der Wiederaufnahme des Verfahrens gegenüber einem rechtskräftigen Urteil oder Strafbefehl, wonach in erster Linie die Wiederaufnahmevoraussetzungen zugunsten des Verurteilten, in gewissem Umfang aber auch diejenigen zuungunsten des Angeklagten erweitert werden sollten (Art. 70 Nr. 195). Zur Verbesserung des Ehrenschutzes war die Ermöglichung eines besonderen Feststellungsverfahrens bei übler Nachrede vorgesehen, wonach der Verletzte als Privatoder Nebenkläger im Strafverfahren oder selbständig durch Erhebung einer Feststellungsklage, die in einem dem Privatklageverfahren ähnlichen Verfahren durchgeführt werden sollte, gegen den, der eine ehrenrührige Behauptung aufgestellt oder verbreitet hat, die Feststellung sollte beantragen können, daß der Inhalt der Behauptung unwahr sei (Art. 70 Nr. 219). Weitere Vorschläge betrafen die Einführung des Adhäsionsverfahrens (Art. 70 Nr. 220) und die Einführung eines vereinfachten Verfahrens zur polizeilichen Ahndung von Übertretungen, wonach die Polizeibehörde bei bestimmten Arten von Übertretungen gegen den auf frischer Tat betroffenen Täter Geldstrafen in geringer Höhe sofort sollte festsetzen und erheben können, wenn der Täter die Zwiderhandlung vorbehaltlos einräumt und zu sofortiger Zahlung der Geldstrafe bereit ist (Art. 70 Nr. 234). Als wichtige Änderungsvorschläge sind ferner noch zu nennen die Festlegung der Voraussetzungen, unter denen ein Beweisantrag abgelehnt werden kann (Art. 70 Nr. 136; Ergänzung des § 244 im Anschluß an die Entwürfe von 1908 und 1920), die Erweiterung des notwendigen Inhalts der Urteilsgründe (Art. 70 Nr. 145, § 267e: Zwang zur Angabe der Tatsachen, aus denen beim Indizienbeweis die Täterschaft gefolgert wird, Darlegung der Gründe, die für die Überzeugung des Gerichts maßgebend sind, Zwang zur Würdigung von Tatsachenbehauptungen, deren Aufnahme ein Beteiligter als entscheidungswesentlich in das Protokoll begehrt hat, obligatorische Anführung der Strafbemessungsgründe), die Erweiterung des Inhalts des Protokolls und die Einführung des Protokollberichtigungsverfahrens (Art. 70 Nr. 149, §§ 273, 273 a), die Schaffung eines Gerichtstands des Verwahrungsorts (Art. 70 Nr. 2, neuer § 8 a), die Rechtsmittel38

Reformversuche und Reformbestrebungen

Kap. 4

belehrung bei Entscheidungen, die mit fristgebundenem Rechtsmittel anfechtbar sind (Art. 70 Nr. 15), die Verminderung der Eidesleistungen, indem die Beeidigung eines Zeugen nur noch ausnahmsweise, nämlich nur dann zulässig sein sollte, wenn das Gericht der Aussage ausschlaggebende Bedeutung für die Urteilsfindung beimißt und die Beeidigung bei Würdigung der Sachlage als äußerstes Mittel zur Herbeiführung einer wahrheitsgemäßen Aussage erachtet, während für den Regelfall der Zeugeneid durch eine Versicherung der Richtigkeit und Vollständigkeit der Aussage unter Berufung auf die Pflicht zur Wahrheit ersetzt werden sollte (Art. 70 Nr. 30). Endlich sollten die Vorschriften über die Strafvollstreckung (§§ 449— 463) in das Strafvollzugsgesetz übernommen und deshalb in der StPO gestrichen werden (Art. 70 Nr. 243). In Wahrheit bezweckte danach angesichts der Zahl und Bedeutung der Änderungsvorschläge, trotz gegenteiliger Versicherung der amtl. Begr., der Entwurf «ine umfassende, eine „große", Verfahrensreform. Mit dem Scheitern der Strafrechtsreform war auch das Schicksal des EGStGB-Entw. 1930 besiegelt; doch hat, wie oben unter 3 dargestellt, die spätere Gesetzgebung auf eine Reihe von Vorschlägen des Entwurfs zurückgegriffen und sie unverändert oder abgewandelt zum Gesetz erhoben. d) Der StPO-Entw. 1939. — Im Gegensatz zu den vorgeschilderten Reformplänen, zunächst eine Strafrechtsreform und erst später eine Erneuerung der Strafgerichtsorganisation und des Verfahrensrechts herbeizuführen, gingen die Absichten in der Zeit der Herrschaft des Nationalsozialismus von vornherein dahin, eine Totalreform auf den genannten Gebieten gleichzeitig durchzuführen. Während die „Amtliche Strafrechtskommission" mit der Aufstellung eines StGB-Entwurfs beschäftigt war, begann noch im Jahre 1933 eine innerhalb des Reichsjustizministeriums aus Praktikern und den Ministerialreferenten gebildete Vorkommission mit der Aufstellung des Vorentwurfs einer Strafverfahrensordnung, die zugleich die Strafgerichtsorganisation enthalten sollte. Nach Beendigung dieser Arbeit berief der Reichsjustizminister im November 1936 eine größere Kommission, die aus Richtern, Staatsanwälten, Rechtslehrern, einem Vertreter der Rechtsanwaltschaft und den Kommissaren des Reichsjustizministeriums bestand und unter dem Vorsitz des damaligen Reichsjustizministers Dr. Gürtner tagte. Der an Hand des Vorentwurfs erstellte Entwurf wurde in zwei Lesungen beraten. Die Arbeiten der „Amtlichen Strafprozeßkommission" waren Ende 1938 beendet. Ihr Ergebnis ist der am 1.5. 1939 abgeschlossene „Entwurf einer Strafverfahrensordnung und einer Friedensrichter- und Schiedsmannsordnung" mit Begründung, der im Druck vorlag, der Öffentlichkeit aber nicht zugänglich gemacht wurde. Diese wurde vielmehr nach der ersten Lesung durch den im April 1938 vom Reichsjustizminister unter Mitwirkung von Mitgliedern der Kommission und Sachbearbeitern des Reichsjustizministeriums herausgegebenen „Bericht der Amtlichen Strafprozeßkommission" unterrichtet. Der endgültige Entwurf weicht von dem Entwurf erster Lesung, der den Gegenstand des „Berichts" bildet, nach mehreren Richtungen ab; die Abweichungen betreffen insbesondere die Gestaltung der Urteilsrüge (s. u. S. 43) und die Einführung von zwei außerordentlichen Rechtsbehelfen, des außerordentlichen Einspruchs und der Nichtigkeitsbeschwerde. Der Ausbruch des Krieges setzte den Reformplänen ein Ende, doch wurden, wie oben S. 14ff. geschildert, durch die Kriegsgesetzgebung eine Reihe wesentlicher Reformpunkte in Form von Novellen durchgeführt. Was den Entwurf 1939 entscheidend von seinen Vorgängern abhebt, sind nicht die einzelnen Abweichungen vom bisherigen Recht, etwa nach dem Stand vom 30. 1. 1933, oder von den vorangegangenen Entwürfen zu einer Neuordnung des Verfahrensrechts — der Entwurf 1939 greift in einer Reihe von Fällen auf frühere Reformvorschläge zurück, und manches von dem, was aus ihm während des Krieges in Novellenform in Kraft gesetzt worden ist, gehört auch heute noch als wirklicher Fortschritt zum gesicherten Bestand —, sondern ist seine geistig-weltanschauliche Grundhaltung. Die amtl. Begründung (S. 1) führt dazu aus: „Die bisher geltende Strafprozeßordnung von 1877 ist individualistisch ausgerichtet. Sie bildet eine Ergänzung verfassungsmäßiger Grundrechte', die die möglichste ,Freiheit' des Einzelnen gegenüber der Staatsgewalt zum Ausgangspunkt und Ziel haben. Die Voraussetzungen und Wege, unter denen sie Eingriffe in Ehre, Freiheit und Vermögen des Einzelnen zuläßt, sind wesentlich darauf abgestimmt, die Individualfreiheit zu schützen. Das Schutz- und Sühnebedürfnis der Volksgemeinschaft ist demgegenüber in der Strafprozeß39

Kap. 4

Einleitung (Schäfer)

Ordnung von 1877 stark vernachlässigt worden. Ein solches Verfahrensrecht, dessen Ausgangspunkt und Grundgedanken im Gegensatz zum nationalsozialistischen Rechtsdenken stehen, kann nicht durch Änderung einzelner Vorschriften derart umgestaltet werden, daß es den Anforderungen des neuen Rechtsdenkens entspricht. Eine von nationalsozialistischem Geist getragene Rechtswendung kann nur gewährleistet werden, wenn die Grundsätze dieses neuen Rechtsdenkens alle Einzelheiten durchdringen und die Arbeitsordnung der Strafrechtspflege im ganzen neu gestalten . . . " In der Tat waren alle bisherigen Reformbemühungen davon ausgegangen, daß das Interesse des Staates, den Strafanspruch zur Sicherung der Allgemeinheit rasch und nachdrücklich durchzusetzen, auf der einen Seite, und der Schutz des Beschuldigten, dessen Schuld oder Unschuld ja erst festgestellt werden soll, vor nicht unumgänglich notwendigen Eingriffen in seine Persönlichkeitssphäre auf der anderen Seite gleichrangige Anliegen seien und daß die staatlichen Zugriffsmöglichkeiten ihre Grenzen in der unverzichtbaren Achtung der Menschenwürde des Beschuldigten finden müssen, wobei die eigentlichen Schwierigkeiten in der richtigen Grenzziehung, in der gerechten Berücksichtigung der widerstreitenden Interessen lagen und liegen. Indem der Entw. 1939 unter Preisgabe dieser Grundhaltung dem „Schutz- und Sühnebedürfnis der Volksgemeinschaft" grundsätzlich den Vorrang gegenüber dem „individualistischen" Bestreben nach möglichst weitgehendem Schutz der „Freiheit" des Beschuldigten einräumen wollte, erweist er sich als eine Episode in der Geschichte der modernen Strafverfahrensreform. Nur wäre es ungerecht, allen Vorschlägen des Entwurfs mit gleichem Mißtrauen zu begegnen; im einzelnen bringt der Entwurf, der ja selbst altes Reformgut aufnahm, manchen Gedanken, der, von der vorbezeichneten Grundeinstellung nicht berührt, bei künftigen Reformarbeiten der Erörterung wert erscheint. Der Entw. enthält zunächst Vorschriften über die sachliche Zuständigkeit und den Rechtsmittelzug in Strafsachen, während die Strafgerichtsorganisation im übrigen im GVG geregelt werden sollte. Als Strafgerichte des 1. Rechtszuges waren vorgesehen a) für die kleine und mittlere Kriminalität der Amtsrichter als Einzelrichter. Eine Beteiligung von Schöffen sollte es beim Amtsgericht nicht mehr geben. Die Strafgewalt des Amtsrichters sollte Haft, Gefängnis und Festungshaft bis zu fünf Jahren, Zuchthaus bis zu zwei Jahren und die sichernden Maßregeln mit Ausnahme von Sicherungsverwahrung, Entmannung und Berufsverbot auf Lebenszeit umfassen; b) für die schwere Kriminalität die beim Landgericht gebildete Schöffenkammer, in der Hauptverhandlung besetzt mit drei Berufsrichtern und zwei Schöffen. Das Schwurgericht sollte wegfallen. Die Strafgewalt der Schöffenkammer sollte sämtliche im Gesetz vorgesehenen Strafen und Maßregeln umfassen. Die Zuständigkeit von Amtsrichter oder Schöffenkammer im Einzelfall zu bestimmen, sollte Sache des Staatsanwalts bei Erhebung der Anklage sein; er sollte Anklage vor dem Amtsrichter erheben, wenn er dessen Strafgewalt für ausreichend hielt, und die Schöffenkammer nur angehen, wenn er die amtsrichterliche Strafgewalt nicht für ausreichend oder die Verhandlung vor dem Amtsrichter mit Rücksicht auf Umfang oder Bedeutung der Sache nicht für angezeigt hielt. Als erstinstanzliche Strafgerichte für Sonderfälle waren vorgesehen: a) die beim Landgericht gebildete Strafkammer in der Besetzung mit drei Berufsrichtern (also ohne Schöffen), die an die Stelle der bisherigen Sondergerichte treten und deren Zuständigkeit neben einer Reihe bestimmter Straftaten solche Delikte umfassen sollte, bei denen der Staatsanwalt mit Rücksicht auf ihre Schwere oder Verwerflichkeit oder die in der Öffentlichkeit hervorgerufene Erregung die sofortige Aburteilung durch die Strafkammer für geboten hält; b) der Volksgerichtshof und — kraft Abgabe — die Oberlandesgerichte in Hoch- und Landes Verratssachen und bei einigen gleichgestellten Delikten; sie sollten in der Hauptverhandlung mit zwei Berufsrichtern und drei ehrenamtlichen Richtern besetzt sein; c) der Besondere Strafsenat des Reichsgerichts, besetzt mit drei Berufsrichtern und zwei ehrenamtlichen Richtern, wenn — für seltene Ausnahmefälle gedacht — der Oberreichsanwalt vor ihm wegen der besonderen Bedeutung der Sache Anklage erhob. Die Rechtsmittel sollten gegenüber dem bisherigen Recht beschränkt werden. Gegen Urteile des Amtsrichters sollte es nur die Berufung an die Schöffenkammer des Landgerichts geben, die dann letztinstanzlich entschied; die Oberlandesgerichte hätten damit aufgehört, Revisionsgerichte in Strafsachen zu sein. Gegen erstinstanzliche Urteile der Schöffenkammern war (nur) die Urteilsrüge, die an die Stelle der bisherigen Revision treten sollte, an das Reichsgericht, besetzt mit fünf Berufsrichtern, vorgesehen. Unanfechtbar sollten sein

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Reformversuche und Reformbestrebungen

Kap. 4

die erstinstanzlichen Urteile der Strafkammern, der Oberlandesgerichte, des Volksgerichtshofs und des Besonderen Strafsenats des Reichsgerichts. Diese Beschränkung der ordentlichen Rechtsmittel sollte mit einer Erweiterung der außerordentlichen Rechtsbehelfe gegen rechtskräftige Urteile verbunden werden. Neben der — namentlich zuungunsten des Angeklagten — erweiterten Wiederaufnahme des Verfahrens kannte der Entwurf noch an außerordentlichen Rechtsbehelfen gegen rechtskräftige Urteile die Nichtigkeitsbeschwerde („wenn das Urteil wegen eines groben Fehlers bei der Anwendung des Rechts auf die festgestellten Tatsachen ungerecht ist", § 370) und den außerordentlichen Einspruch („wegen schwerwiegender Bedenken gegen die Richtigkeit des Urteils", § 373), die nur dem Oberreichsanwalt beim Reichsgericht zustehen und zu einer Entscheidung des Reichsgerichts führen sollten. Die Gestaltung des Verfahrens wird vornehmlich von zwei Gesichtspunkten beherrscht: der „Auflockerung des Verfahrens" zur Verwirklichung „wahrer Gerechtigkeit" und der Erweiterung der Machtbefugnisse des weisungsgebundenen Staatsanwalts auf Kosten bisheriger gerichtlicher Befugnisse. Die ,Auflockerung des Verfahrens" sollte — abgesehen von der vorerwähnten Beschränkung der Rechtskraft durch Erweiterung und Vermehrung der außerordentlichen Rechtsbehelfe — vor allem in der „Beseitigung aller nicht unbedingt notwendigen Formvorschriften" (Begr. S. 4) und in der Erweiterung des richterlichen Ermessens durch Beseitigung der das Ermessen beschränkenden Vorschriften bestehen — also in einem Abbau der bisherigen rechtsstaatlichen Garantien zum Schutze des Angeklagten. So sollten z. B. die im bisherigen Recht bestehenden förmlichen Bindungen des Gerichts an eine Zustimmung des Angeklagten zu bestimmten Verfahrenshandlungen beseitigt werden. Der Strertgbeweis des bisherigen Rechts sollte abgemildert werden. Die Einschränkungen des richterlichen Ermessens bei der Ablehnung von Beweisanträgen sollten entfallen. Über den Umfang der Beweisaufnahme besagten die §§ 64, 65 nur, daß das Gericht von Amts wegen alles zur Wahrheitserforschung Notwendige zu tun habe und daß über Beweisanträge der Vorsitzer, der auch sonst, entsprechend dem „Führerprinzip", grundsätzlich die dem Urteil vorangehenden Entscheidungen zu treffen hatte (§ 50), durch Beschluß entscheide. Weiterhin sollten — in Einschränkung des Grundsatzes der Unmittelbarkeit — grundsätzlich alle vorhandenen Beweismittel ausgeschöpft werden können. „Der Entwurf lockert daher die zu starren Regeln des geltenden Rechts über die Zulassung und Verwendung von Beweismitteln. Die Möglichkeit, beim Mangel besserer Beweismittel Schriftstücke zu verlesen, wird im Interesse der Wahrheitsforschung erweitert. Das hervorragendste Beweismittel, die Zeugenaussage, wird für das Strafverfahren in weiterem Umfange nutzbar gemacht als bisher. Die Befugnis zur Aussageverweigerung aus persönlichen Gründen wird dem höheren Interesse der Volksgemeinschaft an der Wahrheitserforschung und Strafverfolgung untergeordnet" (Begr. S. 4). Die Erweiterung der Machtbefugnisse des Staatsanwalts, die die Eingriffsmöglichkeiten der Justizverwaltung durch Erteilung von Weisungen sichern sollte, wird nach dem Entw. erreicht durch eine scharfe Trennung des Vorverfahrens vom Hauptverfahren. Für das Vorverfahren sollte der Staatsanwalt, für das Hauptverfahren das Gericht „die Verantwortung tragen". Das kommt im Vorverfahren zunächst durch eine stärkere Betonung des Anklagemonopols der Staatsanwaltschaft zum Ausdruck: Die Privatklage, die Nebenklage des Verletzten und das Anklageerzwingungsverfahren (§§ 172 ff. StPO) sollten beseitigt werden. An die Stelle des Privatklageverfahrens sollte nach dem Entwurf der Friedensrichterordnung ein friedensrichterliches Verfahren mit dem Ziel einer Gesamtbefriedung der Beteiligten durch friedensrichterliche Mittel und unter Verzicht auf die Verhängung krimineller Strafen treten. Das Legalitätsprinzip wurde grundsätzlich aufrechterhalten, sollte aber allgemein dahin gelockert werden, daß der Staatsanwalt (ohne richterliche Kontrolle) von Verfolgung sollte absehen können, „wenn sie nicht zum Schutz des Volkes oder zur Sühne der Tat geboten und wenn die Schuld des Täters so gering ist, daß voraussichtlich von Strafe abgesehen oder höchstens auf Gefängnis, Festungshaft oder Haft von einem Monat, Geldstrafe von 30 Tagesbußen . . . erkannt werden würde" (§ 15). Vor allem sollten die Machtmittel des Staatsanwalts als Untersuchungsführer im Vorverfahren erweitert werden. Für Zeugen und Sachverständige war die Pflicht zum Erscheinen und zur Aussage vor dem Staatsanwalt und der ihn unterstützenden Polizei vorgesehen; dem Staatsanwalt sollte das Recht zustehen, Ungehorsamsstrafen zu verhängen und Zwangsmaßnahmen anzuordnen (§ 186) und nur bei Freiheitsentziehung sollte dagegen die Anrufung des Gerichts möglich

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Kap. 4

Einleitung (Schäfer)

sein. Auch die Entscheidung über die sonstigen prozessualen Zwangsmittel — Vorführung des Beschuldigten, Untersuchungshaft, Beschlagnahme, Durchsuchung, Untersuchung von Menschen — war nach dem Entwurf im Vorverfahren dem Staatsanwalt übertragen; nur gegen die Anordnung der Vermögensbeschlagnahme und gegen den Haftbefehl des Staatsanwalts (und auch erst nach mehr als zweiwöchiger Dauer der Untersuchungshaft) sollte das Gericht (der Vorsitzer der Strafkammer) angerufen werden können, während im übrigen gegen Verfügungen des Staatsanwalts nur die Beschwerde an seinen Vorgesetzten zulässig sein sollte (§§ 215, 249, 314). An richterlichen Tätigkeiten im Vorverfahren waren nur — auf Antrag des Staatsanwalts — die Vorwegnahme einer Beweisaufnahme des Hauptverfahrens durch Vernehmung von Zeugen und Sachverständigen und Augenscheinseinnahme, wenn sie im Hauptverfahren voraussichtlich unmöglich waren, und die eidliche Vernehmung von Zeugen zur Herbeiführung einer wahrheitsgemäßen Aussage vorbehalten. Die Voruntersuchung wollte der Entwurf grundsätzlich beseitigen; sie sollte nur noch ausnahmsweise in Betracht kommen, wenn „wegen außergewöhnlicher Umstände" die Führung des Vorverfahrens durch einen Richter geboten erschien (§ 377); gedacht war, wie die Begr. (S. 182) ergibt, an Fälle, „in denen die Vornahme der Ermittlungen durch einen weisungsgebundenen Staatsanwalt zu Mißdeutungen Anlaß geben könnte, z. B. wenn eine Untersuchung wegen der Persönlichkeit des Täters oder der Art der Tat unter innen- oder außenpolitischen Gesichtspunkten besonders heikel ist". Daß die Wahl zwischen der erstinstanzlichen Zuständigkeit des Amtsrichters oder der Schöffenkammer in die Hand des anklagenden Staatsanwalts gelegt werden sollte, ist bereits oben hervorgehoben. An bedeutsameren Vorschlägen mögen im übrigen noch erwähnt werden: die Pflicht zur Vernehmung des Beschuldigten vor Erhebung der Anklage (§ 12), die Pflicht des Staatsanwalts, in wichtigeren Sachen den Beschuldigten nach Abschluß der Ermittlungen zu deren Ergebnis zu hören und seinem Verteidiger Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben (§ 13 Abs. 2), das Recht des Verteidigers, in die Akten des Vorverfahrens Einsicht zu nehmen (§ 146), die Beseitigung des Eröffnungsverfahrens und sein Ersatz durch die Anberaumung der Hauptverhandlung seitens des Vorsitzers (§§ 32 ff.), die Vorschriften über den Ehrenschutz des Verletzten (§§ 423ff.), wonach im Strafverfahren wegen Ehrenkränkung das Gericht auf Antrag des Verletzten im Urteilsspruch eine Feststellung über die Unwahrheit der ehrenrührigen oder herabsetzenden Behauptung trifft, und, wenn es zu einem Hauptverfahren nicht kommt, der Staatsanwalt auf Antrag des Verletzten gegen den, der eine solche Behauptung aufgestellt oder verbreitet hat, eine Feststellungsklage erheben kann (selbständiges Feststellungsverfahren), die Rehabilitierung des Freigesprochenen durch Niederlegung in den Urteilsgründen, wenn das Gericht ihn für unschuldig erachtet oder überzeugt ist, daß kein begründeter Verdacht gegen ihn besteht (§91), elastischere Gestaltung der Kostenvorschriften unter Erweiterung des richterlichen Ermessens zur Vermeidung von Unbilligkeiten und Härten (§ 453), die Umgestaltung des Wiederaufnahmerechts durch Parallelisierung der Gründe für die Wiederaufnahme zugunsten wie zuungunsten des Verurteilten oder Freigesprochenen und durch Zulassung eines neuen Wiederaufnahmegrundes der Beschwer durch die die Ehre des Angeklagten berührenden Gründe eines freisprechenden oder verfahrenseinstellenden Urteils (§§ 354ff.), und die Einführung des Adhäsionsverfahrens (§§ 438ff.). Neue Wege beschreiten die Vorschläge über die Ausgestaltung der beiden ordentlichen Rechtsmittel gegen Urteile, der Berufung und der Urteilsrüge. Bei der durch das Ges. v. 28. 6. 1935 verfügten Aufhebung des Verbots der reformatio in peius sollte es bleiben. Die rechtzeitige Anfechtung hemmt nach dem Entw. die Rechtskraft des Urteils im ganzen (§317); eine Teilrechtskraft durch Beschränkung des Rechtsmittels sollte es wegen der bei Tatmehrheit oder Mehrheit von Rechtsverletzungen im StGB-Entw. 1936 vorgesehenen Einheitsstrafe und im Interesse einer richtigen Bewertung der Gesamtpersönlichkeit nicht mehr geben. Neu ist, daß beide Rechtsmittel sich auch gegen die Urteilsgründe richten können, wenn die Gründe eines freisprechenden oder einstellenden Urteils die Ehre des Angeklagten schwer mindern oder ihn sonst erheblich schädigen (§ 316). Eine Neuerung bei der Berufung sollte — an § 357 StPO anknüpfend — darin bestehen, daß, wenn von mehreren Mitangeklagten nur einer Berufung einlegt, während die übrigen das Urteil rechtskräftig werden lassen, das Berufungsgericht von Amts wegen in Durchbrechung der Rechtskraft die 42

Reformversuche und Reformbestrebungen

Kap. 4

Erstreckung der Verhandlung auf den rechtskräftig Abgeurteilten sollte beschließen können, wenn auf die Berufung hin mit Aufhebung des Urteils zu rechnen ist und der Aufhebungsgrund auch die rechtskräftige Verurteilung beeinflußt haben kann (§ 327). Die bei weitem wesentlicheren Vorschläge des Entw. aber betrafen die Umgestaltung der heutigen Revision zur Urteilsrüge, und hier bietet der Entw. in der Tat wertvolles Reformmaterial, das, losgelöst von der politisch-weltanschaulichen Tendenz des Entwurfs im übrigen, bei künftigen Reformarbeiten Beachtung fordert. Die Revision des geltenden Rechts dient in erster Linie der Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung durch einheitliche Gesetzesauslegung und Rechtsanwendung. Die Gerechtigkeit des Spruchs des Tatrichters im Einzelfall nachzuprüfen, steht dem Revisionsgericht nur insoweit zu, als es im Rahmen der reinen Rechtsprüfung liegt. Bei Verfahrensrügen erstreckt sich die Nachprüfung nur auf die Tatsachen, aus denen der Beschwerdeführer den Verfahrensmangel herleitet; die Richtigkeit der tatsächlichen Feststellungen und die Ausübung des richterlichen Ermessens, insbesondere bei der Strafzumessung, sind grundsätzlich der Nachprüfung des Revisionsgerichts entzogen. Das bedeutet, daß das Revisionsgericht — von den stets von Amts wegen zu berücksichtigenden Verfahrenshindernissen abgesehen — offensichtliche, aber nicht gerügte Verfahrensmängel, die erkennbar das Urteil beeinflußt haben, unberücksichtigt lassen muß und daß es verfahrensrechtlich einwandfrei getroffene tatsächliche Feststellungen auch dann hinnehmen muß, wenn sich, insbesondere nach Lage der Akten, schwere Bedenken gegen ihre Richtigkeit erheben oder gar ihre Unrichtigkeit dargetan ist. Nicht zum wenigstens auch der verhältnismäßig enge Bereich der Nachprüfungsbefugnisse des Revisionsgerichts war es, der, wie oben (S. 34) dargestellt, schon früh das Verlangen auslöste, allgemein die Berufung gegen erstinstanzliche Urteile zuzulassen. Der Entw. 1939 wollte zwar bei erstinstanzlichen Urteilen der Schöffenkammern diesen Weg nicht gehen, aber wenigstens durch Erweiterung der Nachprüfungsbefugnisse des Urteilsrügegerichts einen gewissen Ausgleich für die fehlende zweite Tatsacheninstanz schaffen (Begr. S. 146, 148). Nach den §§ 331 ff. des Entw. sollte sich bei Urteilsrüge die Nachprüfung des angefochtenen Urteils darauf erstrecken: 1. ob es auf einem Fehler im Verfahren beruht, 2. ob es wegen eines Fehlers in der Anwendung des Rechts auf die festgestellten Tatsachen oder bei A usÜbung des richterlichen Ermessens, insbesondere der Bemessung der Strafe, ungerecht ist, 3. ob ein so schweres Bedenken gegen die Richtigkeit der tatsächlichen Feststellungen besteht, daß eine neue Entscheidung notwendig ist. Die Abweichungen gegenüber dem geltenden Recht bestehen im einzelnen darin: a) das Urteil muß im Einzelfall auf dem Verfahrensfehler beruhen; absolute Revisionsgründe sollte es nicht mehr geben; b) fehlerhafte Anwendung des sachlichen Rechts berührt den Bestand des Urteils nur, wenn es dadurch ungerecht erscheint; der Rechtsfehler soll unberücksichtigt bleiben, wenn das Urteil im Ergebnis richtig ist; c) die Nachprüfung umfaßt auch die gerechte Ermessensausübung; d) die Nachprüfung erstreckt sich in engen Grenzen auch auf die tatsächlichen Feststellungen, nämlich nach der Richtung, ob sich — gleichviel ob aus den Urteilsgründen, dem Akteninhalt im übrigen oder auf andere Weise — ein so schweres Bedenken gegen die Richtigkeit der tatsächlichen Feststellungen ergibt, daß sie nicht als Grundlage der Entscheidung hingenommen werden können, sondern eine Klärung der Bedenken in einer neuen Entscheidung erforderlich erscheint (Beispiel: In einer Strafsache wegen Untreue hat die Schöffenkammer ein Buch, das die Eingänge und Ausgänge einer Kasse darstellt, als Beweismittel gebraucht. Der Vergleich der Urteilsgründe mit dem Inhalt des Buchs macht es in hohem Grad wahrscheinlich, daß die tatsächlichen Feststellungen zuungunsten oder zugunsten des Angeklagten unrichtig geworden sind, indem eine in dem Buch eingetragene Zahl versehentlich falsch gelesen wurde). In diesem Fall sollte im Interesse der Beschleunigung das Reichsgericht — freilich nur auf Antrag des Oberreichsanwalts — befugt sein, Beweise selbst aufzunehmen oder durch einen beauftragten oder ersuchten Richter vornehmen zu lassen (§ 340); gedacht war vorzugsweise an den Fall, daß es sich um leicht und schnell zu treffende Ergänzungen der tatsächlichen Feststellungen handelt; e) die Nachprüfung auf Verfahrensmängel sollte sich, entsprechend dem bisherigen Recht, zunächst nur auf die unter Angabe der entsprechenden Tatsachen erhobenen Verfahrensrügen erstrecken; doch sollte das Gericht, über das bisherige Recht hinaus, auch einen nicht gerügten Mangel von Amts wegen berücksichtigen, wenn es ihn bei Prüfung von Verfahrensrügen oder bei Nachprüfung des Urteils im übrigen bemerkt (§§ 333,341). Schließlich sollte bei Aufhebung des Urteils das Urteilsrügegericht die Wahl haben, die

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Kap. 4

Einleitung (Schäfer)

Sache zurückzuverweisen oder — über die Grenzen des § 354 StPO hinaus — selbst in der Sache zu entscheiden (§ 342). Gänzlich neue Wege beschritt der gleichzeitig mit dem Entw. der Strafverfahrensordnung aufgestellte Entwurf einer Friedensrichter- und Schiedsmannsordnung25. Der StPO-Entw. wollte das bisherige Privatklageverfahren beseitigen, weil es unvereinbar sei mit dem Anklagemonopol der Staatsanwaltschaft. Aber das war nur die „dogmatische" Einkleidung der Erkenntnis, daß im Hauptanwendungsgebiet der heutigen Privatklage ein in den Formen des Strafverfahrens sich abspielendes Verfahren, das den Strafrichter auf die Feststellung einer kriminellen Schuld und gegebenenfalls auf die Verhängung einer Kriminalstrafe beschränkt, dem praktischen Bedürfnis nicht genügt. Bestimmte häufig vorkommende Straftatbestandsverwirklichungen von geringerer Schwere, wie insbesondere Beleidigungen, aber auch leichte Körperverletzungen, Hausfriedensbruch, Sachbeschädigungen haben ihre Wurzel vielfach in den Reibungen und Spannungen des täglichen Nebeneinanderlebens und in Meinungsverschiedenheiten der Beteiligten über Inhalt und Umfang zivilrechtlicher Befugnisse. In diesen Fällen ist es vom Standpunkt des öffentlichen Interesses aus weniger wichtig, daß die Tatbestandsverwirklichung mit einer Kriminalstrafe geahndet wird, als daß der gestörte Rechtsfrieden durch schlichtende Maßnahmen wiederhergestellt und vor künftigen Störungen geschützt wird. Als Schlichtungsmittel stehen heute nur der Sühneversuch vor dem Schiedsmann vor Erhebung der Privatklage, im Verfahren nur der Abschluß eines Vergleichs der Beteiligten, den der Richter aber nur anregen und fördern kann, zur Verfügung. Den vielfach beklagten Unzulänglichkeiten des Privatklageverfahrens wollte der Entwurf 1939 dadurch abhelfen, daß er bestimmte Tatbestandsverwirklichungen von geringem kriminellem Unrechtsgehalt der Untersuchung und Ahndung in einem Kriminalverfahren entziehen und sie statt dessen einem Friedensrichter (dem Amtsrichter) zur Schlichtung durch das Hinwirken auf eine gütliche Einigung der Beteiligten, bei Erfolglosigkeit dieser Bemühungen aber zur Befriedung durch grundsätzlich unanfechtbaren Friedensspruch mit nichtkriminellen Maßnahmen in einem freigestalteten Verfahren ohne Mitwirkung des Staatsanwalts überweisen wollte. Der Verletzte sollte danach durch Erhebung einer Klage, der in gewissen Fällen ein Sühneversuch vor dem Schiedsmann vorangehen muß, den Friedensrichter anrufen können bei Beleidigung, leichter vorsätzlicher und fahrlässiger Körperverletzung, Hausfriedensbruch, Verletzung des Briefgeheimnisses und Sachbeschädigung. Die Abgrenzung der friedensrichterlichen Zuständigkeit gegenüber der dem Strafrichter vorbehaltenen Aburteilungszuständigkeit bei ernsteren Vergehen war letztlich dem Staatsanwalt übertragen. Nach § 2 Abs. 2 der Friedensrichterordnung sollte der Friedensrichter nicht tätig werden dürfen, wenn der Staatsanwalt es für geboten hält, die Tat mit den Mitteln des Strafrechts zu ahnden. Die Aufgaben des Friedensrichters bestanden nach § 1 der FriedensrichterO darin, dem Verletzten Genugtuung zu verschaffen und den Frieden zwischen den Beteiligten wiederherzustellen, Maßnahmen zur Verhütung künftiger Friedensstörungen unter den Beteiligten zu treffen und schließlich Streitigkeiten beizulegen, die die Ursache des Unfriedens bilden oder zu neuem Unfrieden Anlaß geben können. Inhalt des Friedensspruchs konnten nach §§ 5 ff. sein: die Auferlegung einer Friedensbuße in Geld oder die Erteilung einer Verwarnung zur Ahndung der Tat, ferner zur Verhütung künftig zu besorgender Friedensstörungen die Auferlegung einer Friedensbürgschaft durch Leistung einer Sicherheit in Höhe eines bestimmten Geldbetrages, der der Staatskasse verfallt, wenn der Verpflichtete innerhalb der vom Friedensrichter bestimmten Frist eine neue Tat begeht. Inhalt des Friedensspruchs sollten weiterhin sein bei ehrenrührigen Behauptungen auf Antrag des Verletzten die Feststellung der Unwahrheit der Behauptung zur Wiederherstellung des guten Rufs und schließlich zur Sicherung des Rechtsfriedens die Entscheidung über Streitigkeiten bürgerlich-rechtlicher Art, die mit der Tat zusammenhängen oder zu künftigen Friedensstörungen führen können, wenn ein Beteiligter es beantragt, das Amtsgericht sachlich zuständig ist und bestimmte Wertgrenzen nicht überschritten werden. Das Verfahren sollte der Friedensrichter nach pflichtgemäßem Ermessen bestimmen, wobei ihm die Grundsätze des Strafverfahrensrechts als Richtschnur dienen und er von Amts wegen alles zur Erforschung der Wahrheit Notwendige zu tun hat. Die Verhandlung sollte grundsätzlich nicht öffentlich sein. Auf weitere Einzelheiten ist hier nicht einzugehen. Uber die Teilverwirk25

Schrifttum: K o h l r a u s c h im Bericht der amtl. Strafprozeßkommission S. 538.

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lichung dieser Vorschriften während des Krieges durch Art. 8 oder VO v. 13. 8. 1942 s. oben S. 16.

5. Das Wesen, die Gliederung und der Verlauf des Strafverfahrens 1. Strafverfahren und materielles Recht. — Das Strafgesetz (das materielle Strafrecht) regelt zum Schutz der Rechtsordnung die Rechtsfolgen strafrechtlicher Art, die sich an die Verwirklichung eines gesetzlichen Straftatbestandes anschließen. Das Strafprozeßrecht dient der Verwirklichung des materiellen Strafrechts, der Durchsetzung der Strafdrohung im Einzelfall. Da es die Formen regelt, unter denen sich die Aufklärung des Sachverhalts, die Feststellung der Schuld und die Verhängung der Strafe und sonstiger im Strafgesetz angedrohter Unrechtsfolgen vollzieht, wird es auch formelles Strafrecht genannt. Die Vorschriften über das Strafverfahren gehören gleich denen über das Verbrechen und seine Bestrafung dem öffentlichen Recht an. Auch sie erzeugen öffentlich-rechtliche Rechte und Pflichten. Doch decken die Rechte und Pflichten, die auf dem Boden des Verfahrensrechts erwachsen, sich nicht mit denen, die aus dem sachlichen Recht hervorgehen. Sie weichen vielmehr von diesen hinsichtlich des Grundes, hinsichtlich der Träger der Rechte und Pflichten und hinsichtlich ihres Inhalts ab. Das Verbrechen begründet die Pflicht des Verbrechers, als Ausfluß seiner Unterwerfung unter das Gesetz, das zu leiden, was das Strafgesetz als die Folge des Verbrechens vorschreibt. Zugleich mit dieser Pflicht des Verbrechers entsteht als Gegenstück die Pflicht des Staates, Justiz zu gewähren und dem Rechtsbrecher die im materiellen Strafrecht angedrohten Unrechtsfolgen aufzuerlegen. Denn nachdem der Staat in einem langen Kampf gegen Selbsthilfe und Privatrache das Recht zu strafen bei sich monopolisiert hat, erwächst ihm daraus die im Wesen des Rechtsstaats (Art. 28 GG) begründete Pflicht, der Androhung von Unrechtsfolgen im Strafrecht deren Verwirklichung im Strafprozeß nach Begehung der Tat folgen zu lassen; der dahinterstehende Verfolgungszwang gibt der Strafdrohung die rechte generalprävenierende Kraft. Solange nun das Verbrechen oder die Täterschaft des Verbrechers verborgen bleibt, führen das nach Maßgabe des sachlichen Strafrechts begründete Recht (der „Strafanspruch") und die Pflicht des Staates zu strafen ein Dasein ohne äußere Wirkung. Dauert dieser Zustand eine geraume, je nach der Schwere der Rechtsverletzung bemessene Zeit an, so bleibt der Rechtsbrecher straffrei, wobei an dieser Stelle nicht weiter zu erörtern ist, ob diese Wirkung der Verjährung materiellrechtlich als ein „Erlöschen des Strafanspruchs" oder verfahrensrechtliche als Verfolgungshindernis, als Verbot der Verfolgung zu würdigen ist, oder ob die Verjährung zugleich materiellrechtliche und verfahrensrechtliche Züge aufweist. Die dem Verfahrensrecht entspringenden Rechte und Pflichten sind an andere Voraussetzungen gebunden. Die Strafdrohungen des materiellen Strafrechts gelten nur dem, der wirklich nach der äußeren und inneren Seite den gesetzlichen Tatbestand verwirklicht; nur gegen ihn wird ein staatlicher Strafanspruch nach sachlichem Recht begründet, und nur ihn trifft materiellrechtlich die Pflicht, Strafe auf sich zu nehmen und ihren Vollzug zu erdulden. Verfahrensrechtlich gesehen aber verschiebt sich das Bild. Die Strafverfolgungsorgane, denen der Staat die Verwirklichung des Strafanspruchs übertragen hat, müssen der Natur der Sache nach grundsätzlich schon einschreiten, wenn ein genügender Verdacht vorliegt, daß eine strafbare Handlung begangen sei, und ihre Maßnahmen gegen den richten, der der Tat verdächtig ist. Das Verfahren richtet sich nicht gegen den (wirklichen) Täter, sondern gegen den der Tat (mit Recht oder zu Unrecht) Beschuldigten. Gewiß ist es Ziel des Strafverfahrens, im Einklang mit dem sachlichen Strafrecht nur den Täter der Bestrafung zuzuführen, den Unschuldigen aber aus dem Verfahren zu entlassen, spätestens durch Freispruch in der Hauptverhandlung. Durch die Unzulänglichkeit menschlichen Erkennens und Könnens kann es aber dahin kommen, daß das Strafverfahren mit einem dem materiellen Recht entgegengesetzten Ergebnis endet, daß der Schuldige freigesprochen und der Unschuldige bestraft wird. Zu einem solchen Fehlurteil kann es kommen, ohne daß dem Gericht daraus ein Vorwurf zu machen ist, so wenn das Gericht seine Uberzeugung von der Schuld des Angeklagten auf eine glaubwürdige, aber objektiv falsche Zeugenaussage oder auf ein 45

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Einleitung (Schäfer)

2 nach Lage des Falles glaubhaftes, aber objektiv unrichtiges Geständnis des Angeklagten stützt. Wird ein solches Urteil rechtskräftig, so bewirkt, soweit und solange nicht etwa auf dem Weg der Wiederaufnahme des Verfahrens eine dem materiellen Recht entsprechende Lage hergestellt werden kann, die Rechtskraft des Urteils, daß an die Stelle der aus dem materiellen Recht sich ergebenden Rechtslage fortan die dem Urteil gemäße Rechtslage tritt: Bei unrichtigem Freispruch bleibt die Weisung des Strafgesetzes („wird bestraft") unvollzogen, und der falsch Verurteilte muß den Vollzug der Strafe dulden (vgl. dazu unten S. 107). Während der Idee nach der Strafrichter delatorisch über Schuld und Nichtschuld entscheidet, wirkt das Fehlurteil — nicht anders als das unrichtige Urteil im Zivilprozeß — wie ein Gestaltungsurteil 26 . Der Fall des Fehlurteils infolge unrichtiger tatsächlicher Feststellung aber ist nicht der einzige Fall, in dem materielle Rechtslage und Urteil voneinander abweichen können. Aus Gründen, die noch zu erörtern sind (unten 2 u n d S . 167), gestattet das Gesetz den Strafverfolgungsorganen nicht, alle zur Aufklärung möglichen und zur Überführung des Beschuldigten geeigneten Beweismittel einzusetzen, sondern zieht der Benutzung von Beweismitteln Schranken durch Beweis- und Beweisverwertungsverbote. Bei der Urteilsfindung entscheidet der Strafrichter zwar ohne Bindung an Beweisregeln nach seiner freien Überzeugung, aber nur, soweit er diese Überzeugung auf das Ergebnis einer verfahrensrechtlich zulässigen und prozeßordnungsgemäß durchgeführten Beweisaufnahme stützen kann (§ 261 StPO). Das bedeutet, daß gewissermaßen das Verfahrensrecht die Tragweite der materiellrechtlichen Strafdrohung einengt: Nach materiellem Recht wird bestraft, wer eine Tat begangen hat; das Verfahrensrecht aber läßt die Bestrafung nur zu, wenn der Beweis mit zugelassenen, m i t , justizförmigen" Mitteln erbracht ist. So kann es dahin kommen, daß das Gericht von der Schuld des Angeklagten überzeugt, aber durch das Verfahrensrecht, insbesondere durch die Sperrkraft der mit unzulässigen Mitteln herbeigeführten Aussage (§ 136 a Abs. 3 Satz 2) gehindert ist, zu verurteilen, und im Widerspruch zum materiellen Recht den Angeklagten freisprechen muß. Dann ist das Urteil materiellrechtlich „falsch", verfahrensrechtlich aber „richtig". Eine entsprechende Lage ergibt sich, wenn das Verbot der Verschlechterung (§§ 331,358) oder die durch Teilanfechtung oder Teilaufhebung eingetretene Teilrechtskraft das Gericht daran hindern, in vollem Umfang die aus dem materiellen Recht sich ergebenden Folgerungen bei der Urteilsfindung zu ziehen, wenn es also z. B., falls der Angeklagte nur gegen den Strafausspruch Berufung eingelegt hat, den rechtskräftig gewordenen Schuldspruch hinnehmen und eine Strafe auf der Grundlage der früher getroffenen Schuldfeststellungen auswerfen muß, auch wenn sich in der Hauptverhandlung zur Straffrage die Zurechnungsfähigkeit des Angeklagten zur Tatzeit ergibt 27 . Schließlich entfernen sich die durch das Verfahrensrecht begründeten Rechte und Pflichten noch nach einer anderen Richtung von denen, die sich aus dem materiellen Recht ergeben, indem das Verfahrensrecht auch Personen, die an der Straftat unbeteiligt sind (Zeugen, Sachverständige, Besitzer von Beweisgegenständen), Mitwirkungs- und Duldungspflichten auferlegt. 2. Ziel und Mittel des Strafverfahrens. Das Strafverfahren dient dazu 28 , zur Verwirklichung des materiellen Strafrechts festzustellen, ob gegen eine bestimmte Person ein staatlicher Strafanspruch entstanden ist und besteht, bejahendenfalls die Schuld auszusprechen und die Unrechtsfolgen festzusetzen, verneinendenfalls den Beschuldigten aus dem Verfahren zu entlassen. Das Ziel des Verfahrens ist zunächst die Aufklärung des Sachverhalts, die Ermittlung der Wahrheit (vgl. S. 145). Aber es wäre mit rechtsstaatlichen Vorstellungen unvereinbar, die Aufklärung des wirklichen Sachverhalts mit allen vorhandenen Mitteln zu betreiben, vielmehr kommt eine Ermittlung der Wahrheit nur in einem geregelten Verfahren und nur mit justizförmigen Mitteln in Betracht. Die Prozeßordnung kennt keinen Grundsatz, daß die Wahrheit um jeden Preis erforscht werden müßte (BGHSt 14, 358). „Es geht in der Strafrechtspflege nicht nur um die materiellrechtliche Richtigkeit der Urteile, 26

Weitergehend wird gelehrt, daß jedes verurteilende Erkenntnis ein Gestaltungsurteil darstellt (so z.B. Eb. S c h m i d t Lehrkomm. Teil I [2] Rz 30f.), weil es den Beschuldigten aus dem Rechtszustand des „Nichtbestraftseins" in den des „Bestraftseins" versetzte. Die Frage ist hier nicht zu erörtern. 27 Vgl. BGHSt. 7 283; 10 71. 28 Von besonderen Gestaltungen (objektives Verfahren, Sicherungsverfahren usw.) abgesehen.

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sondern ebensosehr auch um ihre Gewinnung auf keinem anderen als dem justizförmigen Wege" (Eb. S c h m i d t JZ 1958 601). Dieser Grundsatz wird in seinen Auswirkungen keineswegs immer als selbstverständlich empfunden. Einem naiven Gemüt mag es als verdienstlich oder wenigstens erträglich erscheinen, den leugnenden Mörder zu überlisten, indem der Kriminalbeamte ihm als angeblicher Mitgefangener und Zellengenosse ein Geständnis entlockt. Aber § 136 a verbietet die Verwertung eines solchen „Geständnisses" (vgl. B a d e r JZ 1958 499) und hält dem Beschuldigten zugute, daß er ja nicht der Strafverfolgungsbehörde gegenüber eingestehen, sondern dem angeblichen Mitgefangenen, auf dessen Verschwiegenheit er unter der Einwirkung der Täuschung baute, ein Geheimnis anvertrauen wollte. Die Würde der Rechtspflege verbietet es, die Überführung des Schuldigen auf solche „Tricks" zu gründen. Auch der schwerster Straftaten Beschuldigte und dringlich Verdächtige hat Anspruch auf ein faires, gesetzmäßiges Verfahren. Bei jedem Angeklagten wird bis zum gesetzmäßigen Nachweis seiner Schuld vermutet, daß er unschuldig ist (Art. 6 Abs. 2 der Menschenrechtskonvention). Keinerlei Ausnahmen sind zulässig; in keinem Fall heiligt der Zweck die Mittel. Diese Starrheit rechtfertigt sich, mag auch im Einzelfall ein Verbrecher der verdienten Strafe entgehen, aus der Erwägung, daß von der ausnahmsweise hingenommenen Überlistung zur psychischen Aussageerpressung nur ein Schritt wäre, und am Ende stünde die „verschärfte" Vernehmung. So läßt sich das Ziel des Strafverfahrens kennzeichnen als die Gewinnung eines auf Wahrheit und Gerechtigkeit beruhenden Urteils29. Das Strafverfahren in seiner heutigen Gestalt ist dadurch gekennzeichnet, daß über Schuld und Strafe nur das unabhängige, örtlich und sachlich zuständige, von vornherein nach abstrakten Merkmalen berufene Gericht (der „gesetzliche Richter") in einem vorgeschriebenen Verfahrensgang entscheidet, in dem die Befugnisse der staatlichen Organe begrenzt, die Rechte des Beschuldigten aber durch feste Vorschriften, vor allem über Art und Umfang der Beweisaufnahme, auf die das Gericht seine Überzeugung von der Schuld des Angeklagten gründen darf, gewährleistet sind. Diese Gestaltung ist das Ergebnis einer langen und mühseligen, von Rückschritten immer wieder zeitweise unterbrochenen und noch im Fluß befindlichen Entwicklung, deren Grundtendenz sich schlagwortartig etwa als die Erhöhung des Angeklagten vom Prozeßobjekt zum Prozeßsubjekt und die Festigung und der Ausbau dieser Stellung charakterisieren ließe. Mancherlei geistige, politische und soziale Strömungen und Gedankengänge, die hier nur anzudeuten sind, haben diese Entwicklung beeinflußt. In der Aufklärungszeit beginnt die Beseitigung der Folter, der Zwang zum Geständnis wird als menschenunwürdig, aber auch als untauglich zur Erforschung der Wahrheit erkannt. Die Achtung vor der Menschenwürde des Beschuldigten und das Wissen um die Gefahren für die Wahrheitsfindung durch die Grenzen menschlicher Erkenntnis wirken fortan und in zunehmendem Maße auf die Gestaltung des Verfahrens ein. Heute begrenzt Art. 1 GG: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt" verfassungsmäßig über und neben den Einzelnormen des Verfahrensrechts den Umfang der Macht- und Zwangsbefugnisse der staatlichen Organe auch im Strafprozeß30. Diesem Verfassungsgebot förmlich Ausdruck zu verleihen, ist der Sinn des § 136 a StPO, und Fragen wie z. B. die, ob als Beweismittel die Verwendung eines Lügendetektors oder heimlicher Tonbandaufnahmen von Aussagen eines Beschuldigten zulässig ist, hat die Rechtsprechung aus dem Geist des Verfassungsgrundsatzes heraus verneinend beantwortet (BGHSt. 5 332; 14 358 = NJW 1960 1580); dazu unten S. 172. Das Wissen um die Grenzen menschlicher Erkenntnisfahigkeit, das Bestreben, das Äußerste zu tun, was zumutbarerweise möglich ist, um der Verteidigung des Beschuldigten Raum zu geben und vorschnelle Urteilsfindung mit der Gefahr des Justizirrtums auszuschließen, führt 29

Der Umstand, daß kraft des Grundsatzes der Gesetzmäßigkeit (Rechtsstaatlichkeit) des Verfahrens der Ermittlung der Wahrheit Grenzen gesetzt sind und daß andererseits auch ein gesetzmäßig zustande gekommenes, aber materiell unrichtiges Urteil zu respektieren ist (oben S. 46), hat z. T. im Schrifttum zu der Auffassung geführt, daß das Ziel des Strafverfahrens anders zu bestimmen sei. So ist nach Eb. S c h m i d h ä u s e r („Zur Frage nach dem Ziel des Strafprozesses" in Festschrift für Eb. S c h m i d t , 1961 S. 511 ff.) die Schaffung von Rechtsfrieden, nicht die Verwirklichung der Gerechtigkeit im materiellen Sinn das letzte Ziel des Strafverfahrens; nach L a m p e G A 1968 33, 48 ist Prozeßziel „die Rechtskraft: die Herstellung der Rechtssicherheit". Gegen solche Auffassungen wendet sich nachdrücklich Eb. S c h m i d t Lehrkomm. I [21 Rz. 20 und JZ 1968 683. 30 Vgl. A r n d t NJW 1961 897; W o e s n e r NJW 1961 533; BGH NJW 1962 1876.

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2 schließlich zu dem Grundsatz der gebundenen Beweisaufnahme, des Strengbeweises (§§ 244, 245). Daneben erheben sich im 19. Jahrhundert die Forderungen nach Rechtsstaatlichkeit und Rechtssicherheit. Der Ausgangspunkt ist die Überlegung, daß der Beschuldigte auch bei noch so starkem Tatverdacht nicht als Schuldiger behandelt werden darf, solange seine Schuld nicht durch rechtskräftiges Urteil festgestellt ist. (Heute Art. 6 Abs. 2 der Menschenrechtskonvention: „Bis zum gesetzlichen Nachweis seiner Schuld wird vermutet, daß der wegen einer strafbaren Handlung Angeklagte unschuldig ist.") Die Freiheit des Individuums aber, wie auch des Beschuldigten, muß gegenüber der allmächtigen Staatsgewalt geschützt werden; der Staat darf in die Rechtssphäre des Individuums nur insoweit eingreifen, als es im Interesse des Gemeinwohls unabwendbar ist. Die Freiheit der Person, die Unverletzlichkeit der Wohnung, die Wahrung des Briefgeheimnisses usw. werden schließlich zu Verfassungssätzen erhoben. Das führt dazu, einmal die Grenzen staatlicher Zwangsbefugnisse im Strafverfahren unter dem Gesichtspunkt zu ordnen, inwieweit sie im Interesse der Verbrechensbekämpfung und -Verfolgung unentbehrlich sind; die Entwicklung geht dabei — insbesondere bei der Untersuchungshaft — deutlich dahin, die Anforderungen an die Unentbehrlichkeit zu verschärfen (vgl. oben 25). Die Rechtsstaatlichkeit fordert weiter die Einhaltung eines bestimmten Ablaufs des Verfahrens, die Wahrung vorgeschriebener Förmlichkeiten, die Beachtung von Fristen, dergestalt, daß sich der Beschuldigte darauf einrichten kann, und die Befolgung der zu seinem Schutz und im Interesse seiner Verteidigung erlassenen Vorschriften nur unterbleiben darf, wenn er, soweit dies zulässig ist, darauf verzichtet. Die Rechtssicherheit verlangt schließlich, daß eine einmal abgeurteilte Sache grundsätzlich nicht wieder aufgerollt werden darf. Art. 103 Abs. 3 G G hat im Hinblick auf die Aushöhlung der Rechtskraft in der vorangehenden Zeit dem Verbot „ne bis in idem" Verfassungskraft beigelegt. Nur in engen Grenzen läßt das Gesetz (§§ 359 ff. StPO) Ausnahmen durch die Wiederaufnahme des Verfahrens zu. Heute ergeben sich auch ungeschriebene Grenzen staatlichen Vorgehens und Eingreifens der staatlichen Strafverfolgungsorgane weithin aus dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, den die Rechtsprechung aus den Einzelvorschriften der StPO, im übrigen aber aus dem Prinzip des Rechtsstaats (Art. 28 GG) und aus dem Wesen der Grundrechte, namentlich der Art. 1,2 G G in Verbindung mit der Unschuldsvermutung des Art. 6 Abs. 2 der Menschenrechtskonvention entwickelt hat. Er besagt, daß das Ob und Wie, die Art und Schwere staatlicher Verfolgungsmaßnahmen in einem angemessenen Verhältnis zur Schwere und Bedeutung der dem Beschuldigten zur Last gelegten Tat stehen, daß die Schwere des bestehenden Tatverdachts sie rechtfertigen und daß die Maßnahme zur Ermittlung und Verfolgung erforderlich sein muß, weil andere, weniger einschneidende Mittel zur Erreichung des Zwekkes nicht zur Verfügung stehen (BVerfGE 16 194; 17 108, 117; 20 162, 187; NJW 1970 505). Der die gesamte Verfahrensgestaltung beherrschende Grundsatz der Verhältnismäßigkeit hat verfassungsrechtlichen Rang (BVerfGE 19 342, 348). Aus ihm ergibt sich, daß es nicht genügt, daß ein Eingriff in die Sphäre des Beschuldigten, insbesondere in seine körperliche Freiheit und körperliche Unversehrheit, aber auch in die Meinungs-, Presseund Informationsfreiheit, auf einer gesetzlichen Grundlage beruht. Denn das Gesetz, das den Eingriff erlaubt, muß seinerseits im Licht der Bedeutung schützender Grundrechte gesehen werden (BVerfGE 7 198; 17 117; 20 162, 176; 25 44, 55; NJW 1970 235, 237). Die Verfahrensgestaltung „rückt damit aus dem Bereich des nur Zweckmäßigen hinaus. In diesem Sinn kann die Verfassung eine bestimmte Verfahrensgestaltung erzwingen, wobei u. U. an sich beachtliche Gesichtspunkte zweckmäßigen Verfahrenablaufes hinter das Gebot des Grundrechtsschutzes zurücktreten und auch verfahrensrechtliche Unbequemlichkeiten in Kauf genommen werden müssen" (BVerfGE 17 108, 117 f.). Aufgabe des Richters ist es demgemäß, wenn die einen Eingriff zulassenden verfahrensrechtlichen Vorschriften nicht eine erkennbar abschließende Regelung im Hinblick auf die Bedeutung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes enthalten, im Einzelfall eine Abwägung der Bedürfnisse der Strafrechtspflege unter Berücksichtigung der wertsetzenden Bedeutung der Grundrechte und des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes vorzunehmen (BVerfGE 20 162, 189). Aus dem verfassungsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsgrundsatz wird z. B. abgeleitet, daß er nicht nur bei der Anordnung der Untersuchungshaft zu berücksichtigen ist — das besagt bereits § 112 Abs. 1 Satz 2 StPO —, sondern daß er über die Beschränkungen des § 121 StPO („Sechsmonatsgrenze") hinaus eine ungewöhnlich lange Dauer der Untersuchungshaft verbietet,

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wenn die Strafverfolgungsorgane nicht alle möglichen und zumutbaren Maßnahmen ergriffen haben, um die notwendigen Ermittlungen mit der gebotenen Schnelligkeit abzuschließen; der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz schließt aus, daß Versäumnisse der Strafrechtspflege zu Lasten des Beschuldigten gehen, mag er auch schwerster Straftaten dringend verdächtig sein (BVerfGE 20 45). Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ist in der Rechtsprechung der übrigen Gerichte (vgl. z.B. BGHSt. 20 232) und im Schrifttum (vgl. E b S c h m i d t JZ 1968 354 m. w. Nachw. S. 359) allgemein anerkannt. Seiner Auswirkung im einzelnen kann im Rahmen dieser summarischen Darstellung nicht nachgegangen werden; sie ergibt sich aus den Anmerkungen zu den einzelnen in Betracht kommenden Vorschriften. Hier ist nur ergänzend auf die Schattenseiten des lichtvollen Grundsatzes — eine gewisse Rechtsunsicherheit — hinzuweisen. Denn „die Folge dieser Herrschaft des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes im gesamten Bereich des Strafprozeßrechts besteht darin, daß der Richter niemals darauf vertrauen darf, daß der Strafprozeßgeber selbst bei der Festsetzung der Voraussetzungen für die einzelnen prozessualen Zwangsmaßnahmen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz schon mit hat maßgebend sein lassen" ( E b S c h m i d t JZ 1968 354, 359). Die Gefahren des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes liegen weniger in seiner relativen Unbestimmtheit — der Richter ist daran gewöhnt, allgemeine Obersätze, deren Grenzen der Natur der Sache nach nicht fest umrissen sind, im Einzelfall auf ihre Anwendbarkeit zu prüfen — als vielmehr in seiner exzessiven Anwendung. Das Gefüge des Prozeßrechts wird erschüttert, aus Wohltat wird Plage, wenn der Richter sich selbst über zwingende Vorschriften des Prozeßrechts mit der Begründung hinwegsetzt, der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gebiete es, wenn der Grundsatz durch „fanatische Übertreiber" diskreditiert wird, oder wenn er gar in Pervertierung der Grundrechtsidee als Mittel zum Angriff gegen die staatliche und gesellschaftliche Ordnung benutzt wird. Gegen solche Auswüchse richten sich die berechtigtermaßen im Schrifttum erhobenen Warnungen (vgl. u. a. Eb. S c h m i d t JZ 1968 361; ZStrW 80 [1968] 567, 574; H e i n i t z JR 1965 265; K l [29] Einl. 1 E am Ende). Ein neuer Gedankengang tritt hinzu. Auch wenn der verfolgende Staat die Machtmittel und Befugnisse seiner Organe begrenzt, sind die Mittel, die er zur Aufklärung des Sachverhalts einsetzen kann, ungleich größer als die des einzelnen Beschuldigten, der sich verteidigen will. Der Staatsanwalt kann z. B. im Vorverfahren zu Ermittlungen die Amtshilfe aller Behörden in Anspruch nehmen, insbesondere die Polizeibehörden ersuchen, und die mitunter sehr hohen Aufwendungen der Ermittlungstätigkeit trägt die Staatskasse. Der Beschuldigte hat keine vergleichbaren Befugnisse; hätte er sie, so würden sie dem meist rechtsunkundigen und vermögenslosen Beschuldigten nichts nutzen. Das Gesetz sucht diesen Mangel auszugleichen, indem es dem Staatsanwalt die Rolle des objektiven Sachwalters zuweist; er hat nicht nur die zur Belastung, sondern auch die zur Entlastung dienenden Umstände zu ermitteln (§ 160 Abs. 2), und die Rechtsprechung betont diese objektive Stellung, indem sie dem die Anklage in der Hauptverhandlung vertretenden Staatsanwalt, wenn er als Zeuge benannt und vernommen wird, die Fähigkeit, weiter in der Sache Anklagevertreter zu sein, zur Erhaltung seiner Unbefangenheit nur insoweit zuspricht, als sich die staatsanwaltlichen Aufgaben von der Erörterung und Bewertung seiner Zeugenaussage trennen lassen (BGHSt. 14 265; 21 85) 31 . Die Erfahrung zeigt, daß die Staatsanwaltschaft diese ihre Aufgabe ernst nimmt („objektivste Behörde der Welt"). Aber mit den Augen des Beschuldigten sehen sich die Dinge anders an. Er wird in dem Staatsanwalt in vielen Fällen weniger oder gar nicht den obejektiven Sachwalter als vielmehr den Verfolger sehen, gegen den er sich wehren will. Von seinem Standpunkt aus muß es erwünscht sein, daß ihm schon von Beginn des gegen ihn gerichteten Verfahrens an die Rolle eines Gegenspielers des Staatsanwalts mit selbständigen, denen des Anklägers soweit wie möglich angeglichenen Befugnissen zur Einwirkung auf die Sammlung und Gestaltung des Prozeßstoffs zugewiesen wird und daß ihm, wenn er nicht selbst die Mittel zur Gestellung eines Verteidigers besitzt, in möglichst weitem Umfang von Amts wegen ein Verteidiger zugeordnet wird, der ihm bei der Ausübung seiner Rechte beisteht. 31

Es wird sogar die Auffassung vertreten, daß der Beschuldigte im Ermittlungsverfahren einen im Wege der §§ 23 ff. EGGVG durchsetzbaren Rechtsanspruch auf Ablösung eines befangenen Staatsanwaltes habe (so — schwerlich zu Recht — B u c k e r t NJW 1970 847 gegen OLG Hamm NJW 1969 808).

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Aus solchen Vorstellungen erwächst schließlich das Verlangen nach völliger Waffengleichheit von Ankläger und Beschuldigtem und gipfelt in dem Verlangen, die Hauptverhandlung nach dem Vorbild des englisch-amerikanischen Rechts in der Weise durchzuführen, daß die Durchführung der Beweisaufnahme in den Händen der „Parteien" liegt (Kreuzverhör), während die Aufgabe des Gerichts unter Ausschluß einer eignen inquirierenden Tätigkeit und unter Ausschluß von Vorabentscheidungen, die seine Unvoreingenommenheit beeinträchtigen könnten, sich auf die äußere Leitung der Verhandlung und auf die Fällung des Urteils beschränkt (vgl. dazu S. 136ff). Das geltende Recht entspricht dem Verlangen nach Waffengleichheit in unterschiedlichem Maße. Der Gedanke der Waffengleichheit tritt in der Hauptsache deutlich erst in der Hauptverhandlung hervor, am stärksten in der Regelung des Beweisantragsrechts der „Parteien" (§ 244). Hatte der Staatsanwalt im Vorverfahren das Übergewicht durch die Möglichkeit, alle ihm zur Überführung des Beschuldigten geeignet erscheinenden Ermittlungen anzustellen, so gewährt das Beweisantragsrecht dem Angeklagten in der Hauptverhandlung den Ausgleich, indem es ihm die Macht verleiht, die Erhebung der ihm geeignet erscheinenden Entlastungsbeweise grundsätzlich zu erzwingen. Aber die Rechtsentwicklung geht deutlich dahin, die Stellung des Beschuldigten schon im Vorverfahren im Sinn einer Annäherung an den Gedanken der Waffengleichheit zu verbessern, mag man dies damit begründen, die Rechtsstaatlichkeit verlange die uneingeschränkte Möglichkeit, sich schon gegen die Beschwer einer Hauptverhandlung zu verteidigen (so A r n d t NJW 1960 1192), oder mit BGHSt. 12 136, 139 den Gedanken der Waffengleichheit mit dem Gleichheitsgrundsatz des Art. 3 G G in Verbindung zu bringen. Den Anfang einer solchen Entwicklung mag man in der Untersuchungshaftnovelle 1926 erblicken, die dem in Untersuchungshaft Befindlichen das Recht einräumte, mündliche Verhandlung über die Aufrechterhaltung des Haftbefehls zu beantragen (jetzt §§ 117—118a). Einen entscheidenden Schritt vorwärts vollzog die „Kleine Strafprozeßreform" 1964 (vgl. oben S. 25), indem sie u. a. dem Beschuldigten ein beschränktes Recht auf Beweiserhebungen zu seiner Entlastung (§§ 163 a Abs. 2, 169 a Abs. 2) und das Recht auf Schlußgehör in schwereren Sachen (§ 169b) einräumte, den Umfang der notwendigen Verteidigung erweiterte (§§ 140, 141, insbesondere § 141 Abs. 3) und die Befugnisse des Verteidigers verstärkte(§§ 147, 148). Der Gedanke, daß das Übergewicht der staatlichen Mittel gegenüber den beschränkten Möglichkeiten des Beschuldigten den Staat zur Selbstbeschränkung verpflichte, schlägt sich nieder in der Forderung, daß die Strafverfolgungsorgane fair verfahren (Grundsatz des ,/air play"). So darf der Staatsanwalt die ihm zustehenden gesetzlichen Befugnisse nicht rechtsmißbräuchlich ausüben. Es kann z. B. die Staatsanwaltschaft, wenn Mord in Tateinheit mit einem Vergehen gegen das Waffengesetz in Frage steht, sich gemäß § 154 a Abs. 1 StPO auf die Erhebung der Mordanklage beschränken; rechnet sie nach dem Beweisergebnis der Hauptverhandlung mit einem Freispruch, so steht es ihr frei, einen Antrag auf Einbeziehung des Vergehens gegen das Waffengesetz zu stellen, dem das Gericht entsprechen muß (§ 154 a Abs. 3). Hat sie aber einen solchen Antrag vor dem Tatrichter nicht gestellt und lautet das Urteil erwartungswidrig auf Freispruch, den mit der Revision anzugreifen keinen Erfolg verspricht, so geht es nicht an, daß sie den Einbeziehungsantrag noch in der Revisionsinstanz stellt mit dem Ergebnis, daß das Revisionsgericht, da es nicht tatrichterlich verhandeln kann, die ganze Sache an den Tatrichter zurückverweisen müßte; „es würde den Sinn (des § 154 a) verfälschen, sollte sich die Strafverfolgungsbehörde des Einbeziehungsantrags als eines Mittels bedienen können, ein ihr unerwünschtes, mit der Revision aber nicht angreifbares Urteil zu Fall zu bringen u n d . . . die nochmalige Verhandlung über eine Mordanklage zu erzwingen" (BGHSt. 21 326, 329). Unter diesem Gesichtspunkt wäre der Entscheidung auch dann im Ergebnis beizupflichten, wenn man (so z. B. Kl [29] 6 B zu § 154 a) der Auffassung des BGH über die Beschränkung der bindenden Wirkung des Einbeziehungsantrags in der Revisionsinstanz nicht folgen wollte. Ferner: hat der Staatsanwalt wegen der besonderen Bedeutung der Sache Anklage vor dem Landgericht erhoben, so darf er die Anklage nicht vor der Entscheidung über die Eröffnung des Hauptverfahrens (§156 StPO) wieder zurücknehmen und Anklage vor dem Schöffengericht erheben, um eine im Zwischenverfahren zutage getretene, für den Erfolg der Anklage möglicherweise ungünstige Auffassung der Eröffnungskammer auf diese Weise zu umgehen (BGHSt. 15 11, 17); ein solches Verhalten käme auch auf eine gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 G G verstoßende Richterentziehung hinaus. Weiterhin: wenn es richtig sein sollte, daß bei der Beweiswürdi-

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gung für den Angeklagten nachteilige Folgerungen daraus gezogen werden können, falls er bei der polizeilichen Vernehmung eine Einlassung verweigert und erst bei seiner richterlichen Vernehmung sich zum Schuldvorwurf geäußert hat, so würde es die Fairness gebieten, die polizeiliche Belehrung über das Aussageverweigerungsrecht (§§ 136 Abs. 1 Satz 163 a Abs. 4 StPO) mit dem Hinweis auf die daraus möglicherweise drohenden Nachteile zu verbinden (BGHSt. 20 281, 284). Uber weitere Auswirkungen des Gedankens der Fairness vgl. unten S. 76. Der Gedanke, das Übergewicht der staatlichen Machtmittel abzumildern, liegt schließlich dem Grundsatz der Fürsorgepflicht des Gerichts, aber auch, soweit es mit seinen Aufgaben vereinbar ist, des Staatsanwalts (vgl. LG Aachen NJW 1961 86) gegenüber dem Beschuldigten zugrunde (dazu Kl [29] Einl. 7). Sie umfaßt zunächst die Pflicht, die nachteiligen Folgen eines unvermeidlichen Eingriffs in die Rechtssphäre nach Möglichkeit herabzumindern (vgl. L ü t t g e r / K a u l GA 1961 77). Uber die mehr und mehr in ihren Einzelfolgerungen durch Gesetz und Rechtsprechung ausgeformte Pflicht zur Gewährung des rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) hinaus ist es danach ferner Aufgabe der Strafjustizorgane, dem Beschuldigten, der durch Rechtsunkenntnis, Unerfahrenheit, mangelnde Mittel, insbesondere aber, weil es ihm am Beistand eines Verteidigers fehlt, Gefahr läuft, seine rechtlichen Belange nicht vertreten und verfahrensrechtliche Befugnisse nicht wahrnehmen zu können oder sonst fehlerhaft zu handeln und dadurch Schaden zu erleiden, in geeigneter Weise zu helfen (vgl. Niethammer JZ 1953 472). So gebietet etwa, wenn der Angeklagte zulässigerweise der Hauptverhandlung fernbleibt, in der Erwartung, daß seine Verteidigung durch den von ihm bestellten Wahlverteidiger gewährleistet sei, die Nichtzulassung dieser Person als Wahlverteidiger durch das Gericht in der Hauptverhandlung, die Fürsorgepflicht dem Gericht in der Regel, die Sache von Amts wegen zu vertagen, um dem Angeklagten die Wahl eines anderen geeigneten Verteidigers oder die Anwesenheit in der neuen Hauptverhandlung zu ermöglichen (OLG Köln NJW 1970 720). Die Fürsorgepflicht gegenüber dem Beschuldigten entfallt nicht ohne weiteres deshalb, weil er einen Verteidiger hat; so kann, wenn der Verteidiger ohne Erfolgsaussicht die Ladung eines im Ausland wohnenden Zeugen vor das Prozeßgericht beantragt, die Befragung geboten sei, ob er sich auch mit einer kommissarischen Vernehmung im Ausland begnügen würde (BGHSt. 22 118, 122). Die Fürsorgepflicht besteht übrigens auch gegenüber anderen hilfsbedürftigen Verfahrensbeteiligten (so muß das Gericht möglichst verhindern, daß der Zeuge in Meineidsgefahr gebracht wird) und gegenüber dem durch die Straftat Verletzten. Die Fürsorgepflicht als allgemeines Prinzip läßt sich aus den zahlreichen Einzelvorschriften ableiten, in denen unter dem Gesichtspunkt der Fürsorge Verhaltenspflichten als Rechtspflichten begründet sind, insbesondere aus solchen, die eine Belehrung über die Rechtslage, über Antrags- und Aussageverweigerungsrechte usw. vorschreiben (vgl. z. B. §§ 52 Abs. 2, 55 Abs. 2, 63, 115 Abs. 3,4, 115a Abs. 3, 136, 163a, 169a, 169b Abs. 3, 201 Abs. 1 Satz 2, 288 Abs. 3, 235 Satz 2, 265 Abs. 1, 436 Abs. 1). Die Tendenz der neueren Gesetzgebung geht dahin, die Belehrungspflichten zu erweitern. So ist durch das 3. Strafrechtsänderungsgesetz v. 4. 8. 1953 allgemein bei Entscheidungen, die durch ein befristetes Rechtsmittel angefochten werden können, die Pflicht zur Belehrung des Betroffenen über die Möglichkeiten der Anfechtung und die dafür vorgeschriebenen Fristen und Formen eingeführt worden (§ 35 a StPO). Durch das Strafprozeßänderungsgesetz 1964 (s. oben S. 24) wurden eingeführt die Belehrung des Beschuldigten über sein Recht, die Aussage zur Sache zu verweigern (§ 136 Abs. 1, § 163 a) und das Schlußgehör zu beantragen (§ 169b Abs. 3), die Belehrung der Zeugen über Zeugnisverweigerungsrecht auch bei Vernehmung durch Staatsanwaltschaft oder Polizei (§ 163 a Abs. 5). Eine über diese Einzelvorschriften hinausgehende, aus dem Obersatz ableitbare Fürsorgepflicht kann Rechtspflicht sein, wenn sie sich aus dem durch erweiternde Auslegung zu gewinnenden Sinn von Rechtspflichten begründenden Einzelvorschriften ergibt (vgl. dazu OLGe Düsseldorf GA 1958 54; Hamburg M D R 1967 608 zu § 228 Abs. 2 StPO), andernfalls folgt sie als nobile officium aus der Amtspflicht (MüllerSax [6] Einl. 12 II f.). Zusammenfassend läßt sich danach der Zweck des Strafverfahrens dahin kennzeichnen: Das Strafverfahren dient der Verwirklichung des materiellen Strafrechts, d. h. der Feststellung, ob sich im Einzelfall ein Beschuldigter nach der äußeren und inneren Tatseite einer 51

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3 Straftat schuldig gemacht hat, um je nach dem Ergebnis gegen den Schuldigen die im sachlichen Strafrecht vorgesehenen Unrechtsfolgen zu verhängen, den nicht für schuldig Befundenen aber aus dem Verfahren zu entlassen und den Unschuldigen zu rehabilitieren. U m die Wahrheit festzustellen, muß der Staat die Organe — Gericht und Verfolgungsorgane —, in deren Hand er die Verfolgung des Verbrechens und die Ausübung der Strafgewalt gelegt hat, mit den nötigen Mitteln und Befugnissen ausstatten. Aber der Staat muß auch Vorsorge treffen, daß nicht Irrtum und menschliche Unzulänglichkeit auf das Ergebnis Einfluß gewinnen. Er muß den Gegensatz zwischen dem Interesse des Staates an nachhaltiger Verbrechensbekämpfung, an Ermittlung, Überführung und Bestrafung des Rechtsbrechers einerseits und der Menschenwürde, dem Schutz der Intimsphäre und dem Interesse des Beschuldigten, der im Rechtssinn erst mit der Rechtskraft des Schuldspruchs zum Schuldigen wird, sich zu verteidigen, Ruf und Freiheit zu erhalten, und, selbst wenn er sich schuldig fühlt, ein möglichst günstiges Urteil anzustreben, andererseits, ausgleichend Rechnung tragen und darf gegen den Beschuldigten nur insoweit Zwangsmittel anwenden, als es zur Erreichung des Prozeßziels unvermeidlich ist. Er muß auch Vorsorge treffen, daß Dritte, die zur Aufklärung in Anspruch genommen werden müssen, so wenig wie möglich beschwert werden. 3. Gestaltung des Verfahrens. — Aus den vorbezeichneten Absichten heraus ist das Strafverfahren so gestaltet, daß drei in Unterabschnitte zerlegte Abschnitte mit verschiedenen Zielen, nämlich das Vorverfahren, das Hauptverfahren und die Vollstreckung, unterschieden werden können. Das Vorverfahren soll aufklären, ob eine Wahrscheinlichkeit für die Täterschaft und die Schuld des Beschuldigten, ein „hinreichender Verdacht" i. S. des § 203 besteht. Das Ziel des Hauptverfahrens bildet die Entscheidung darüber, ob die Täterschaft und die Schuld des Angeklagten zur Überzeugung des Gerichts nachgewiesen und welche Folgen der Vorschrift des Strafgesetzes gemäß über ihn zu verhängen sind oder ob er mangels des Nachweises der Täterschaft oder der Schuld freizusprechen ist. Im Abschnitt der Vollstreckung, in dem der Vollzug von Freiheitsstrafen und freiheitsentziehenden Maßregeln der Sicherung und Besserung an erster Stelle steht, werden die in der rechtskräftigen Entscheidung ausgesprochenen Unrechtsfolgen dem Urteil gemäß verwirklicht, soweit es hierzu besonderer Ausführungsmaßnahmen bedarf, und es werden ferner in diesem Abschnitt Unrechtsfolgen, die im Urteil nur bedingt oder von unbestimmter Dauer festgesetzt sind, durch ergänzende gerichtliche Entscheidung konkretisiert, z. B. die Strafaussetzung zur Bewährung wegen Nichtbewährung widerrufen, die ausgesetzte Strafe nach Ablauf der Bewährungsfrist erlassen, der Vollzug einer freiheitsentziehenden Maßregel wegen Erreichung des Zweckes beendet. Trotz der Aufteilung des Verfahrens in Abschnitte bildet es eine Einheit; das zeigt sich darin, daß eine jeweils vom zuständigen Richter getroffene und auf Weiterentwicklung berechnete Anordnung nicht ohne weiteres mit Abschluß des Abschnitts gegenstandslos wird, sondern fortwirkt, bis sie der zuständige Richter des nächsten Abschnitts aufhebt (BGHSt. 8 196). In den drei Abschnitten aber greifen immer wieder mannigfache Handlungen der staatlichen Organe, der Beteiligten und Dritter ineinander. Die „Prozeßhandlungen" (s. unten S. 69) bezwecken, das Verfahren seinem Ende in der Richtung auf ein vom Handeln erstrebtes Ergebnis näher zu bringen. Sie bewirken die Entstehung von Verfahrenslagen ( E b . S c h m i d t , Lehrkomm. I [2] Rz. 53), von denen jeweils die eine die andere ablöst, bis ein im Prozeßgesetz vorgesehener endgültiger Abschluß des Verfahrens erreicht ist. Auch diese Handlungen lassen, wenn ihre Besonderheiten beachtet werden, eine Dreiteilung zu. Die handelnden Personen machen von den Mitteln Gebrauch, die das Verfahrensgesetz gewährt, damit die Untersuchung und Entscheidung des Falls geordnet verlaufen; sie verfahren. Bei diesem Verfahren betreiben sie die ihnen dienlichen Zwecke, auf deren Widerstreit oben hingewiesen ist; sie verfolgen. Durch die verfahrensmäßige Verfolgung aber wirken sie auf den Stoff, der im einzelnen Fall bearbeitet wird, nämlich auf die Bereitung eines Bildes des der Vergangenheit angehörenden, als Verbrechen bezeichneten Ereignisses, auf seine rechtliche Würdigung sowie auf die Verwirklichung der gesetzlich vorgeschriebenen Folge, je nach Zweck und Vermögen aufklärend oder verwirrend, fördernd oder hemmend ein; sie gestalten die Sache. So wickelt sich der Lebensvorgang, der entsprechend den Verfahrensvorschriften der Untersuchung, Aburteilung und Sühne eines Verbrechens gewidmet ist, in den Handlungen der staatlichen Organe, der Beteiligten und der Dritten schrittweise ab; es 52

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wird prozediert. Manchmal findet die Entwicklung ihren Abschluß schon innerhalb des ersten Abschnitts, des Vorverfahrens, manchmal dringt sie in den zweiten Abschnitt, in das Hauptverfahren, oder auch darüber hinaus in den dritten Abschnitt, in die Vollstreckung, vor. Freilich ist das Prozedieren keineswegs regelmäßig ein gerades Vorschreiten. Viele Schritte geschehen zurück oder zur Seite, sowohl äußerlich, indem die Bearbeitung in einen durchschrittenen Unterabschnitt zurückversetzt wird, als auch innerlich, indem Unerheblichem nachgegangen oder von der in greifbare Nähe gerückten Wirklichkeit und der ihr entsprechenden Folge abgeirrt wird. Das Umsonst und das Beinahe sind häufige Erscheinungen im Strafverfahren. Im allgemeinen 32 stellt sich also das Strafverfahren als ein staatlich geordneter Vorgang dar, in dem staatliche Behörden tätig werden, um die Frage, ob eine strafbare Handlung begangen sei und wer sie begangen habe, zu klären, um, sofern die vorbereitenden Nachforschungen die Täterschaft eines bestimmten Menschen wahrscheinlich gemacht haben, eine gerichtliche Entscheidung über jene Frage und über die Folge ihrer Beantwortung herbeizuführen und um die rechtskräftig gewordene Entscheidung zu vollstrecken. Hierbei ist auf folgendes hinzuweisen: Zum Strafverfahren gehört auch das Verfahren, das der Vorbereitung der öffentlichen Klage dient. Herr dieses Vorverfahrens ist die Staatsanwaltschaft. Sie kann sich zur Erfüllung ihrer Aufgaben mit Ersuchen und Aufträgen an die Behörden und Beamten des Polizeiund Sicherheitsdienstes und, wenn die Vornahme einer richterlichen Untersuchungshandlung erforderlich wird, mit Anträgen an die Amtsrichter wenden. Sie kann die Einstellung des Verfahrens mangels genügenden Anlasses zur Erhebung der öffentlichen Klage verfugen und von der Klageerhebung unter gewissen Voraussetzungen wegen mangelnden Strafbedürfnisses oder aus Zweckmäßigkeitsgründen absehen. Dem Strafverfahren ist es nicht wesentlich, daß eine Strafe für den Fall einer Täterschaft und der Schuld verhängt werden müsse. Vielmehr werden im Strafverfahren auch gerichtliche Entscheidungen gefallt, die gemäß §§ 153 ff. StPO trotz angenommener Schuld auf Einstellung des Verfahrens lauten oder die zwar die Schuld feststellen, aber von Bestrafung absehen (§ 260 Abs. 4) oder die Entscheidung über die Bestrafung zurückstellen (§ 27 JGG), wenn das sachliche Strafrecht dies zuläßt. Hierher gehören auch Entscheidungen, die den Täter in Anwendung der §§ 199 oder 233 StGB straffrei lassen. Im künftigen Recht tritt hinzu die Verwarnung mit Strafvorbehalt (§§ 59ff. StGB i. d. F. des 2. Strafrechtsreformges. v. 4. 7. 1969, BGBl. 1717). Ein Strafverfahren ist auch das Verfahren, in dem der Verletzte von dem Recht Gebrauch macht, strafbare Handlungen im Weg der Privatklage zu verfolgen, während die zur Erhebung der öffentlichen Klage berufene Staatsanwaltschaft untätig bleibt, weil sie ein öffentliches Interesse an der Verfolgung nicht für vorliegend erachtet. 4. Erweiterung der Zwecke des Strafverfahrens. — Innerhalb des Strafverfahrens werden gegen den, dessen Täterschaft festgestellt ist, nicht nur Strafen und strafähnliche Nebenfolgen als Erwiderung auf den Rechtsbruch, als „gerechte Vergeltung", ausgesprochen, sondern auch sichernde und bessernde Maßregeln angeordnet, die die Verhütung künftiger, von dem Täter der Allgemeinheit drohender Gefahren bezwecken, und zwar in gewissem Umfang selbst dann, wenn eine Bestrafung wegen mangelnder Schuld nicht möglich ist. In eingeschränktem Maße bestand diese Möglichkeit seit langem (Zulässigkeit von Polizeiaufsicht, „unterschiedslose" Einziehung, Unbrauchbarmachung von Schriften und Darstellungen 32

Allgemeinere, von der konkreten Gestaltung des geltenden Verfahrensrechts abstrahierende Begriffsbestimmungen sind meist farblos. Die Begriffsbestimmung von Eb. S c h m i d t , Lehrkomm. I [2] Rz 56 „Der Prozeß ist der rechtlich geordnete, von Lage zu Lage sich entwickelnde Vorgang zwecks Gewinnung einer richterlichen Entscheidung über ein materiell-rechtliches Rechtsverhältnis" trifft in dieser Allgemeinheit uneingeschränkt nur für das Stadium von der Anklageerhebung ab zu; für das Vorverfahren, das ja schließlich auch „Prozeß" ist, gilt diese Zielsetzung nur bedingt: Ein großer Teil der Vorverfahren endet nach mehr oder weniger umfangreichen Ermittlungen mit der Einstellung des Verfahrens durch die Staatsanwaltschaft. Gänzlich aus einer Begriffsbestimmung ausscheiden muß die unergiebige und richtigerweise (vgl. zutreffend Eb. S c h m i d t Lehrkomm. I [2] R z 4 6 mit Schrifttumsangaben; a. M. z. B. B. P e t e r s [2] S. 85) zu verneinende Frage, ob der Strafprozeß als ein Prozeßrechtsverhältnis anzusehen ist.

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4 usw.). Die neuere Gesetzgebung hat die Pflicht oder wenigstens das Recht der Strafgerichte, Rechtsfolgen auszusprechen, die nicht die Eigenschaft eines dem Täter um seiner Schuld willen auferlegten Strafübels haben, sondern den Schutz der Allgemeinheit vor künftigen Rechtsbrüchen des Täters bezwecken, weit ausgedehnt. Das Gewohnheitsverbrecherges. v. 24. 1. 1933 insbesondere brachte die Maßregeln der Unterbringung in einer Heil- oder Pflegeanstalt, in einer Trinkerheil- oder Entziehungsanstalt, der Sicherungsverwahrung und des Berufsverbots, das Straßenverkehrssicherungsges. v. 19. 12. 1952 (BGBl. I 832) die Entziehung der Fahrerlaubnis ( § 4 2 m StGB; s. dazu § l i l a StPO) und das Bundesjagdges. v. 29. 11. 1952 (BGBl. I 780) die Entziehung des Jagdscheins (§ 41). Den Strafgerichten ist hier — nach den Vorstellungen des früheren Rechts — eine von Haus aus materiell-polizeiliche Aufgabe (Verbrechensverhinderung) übertragen, wie sich schon daraus ergibt, daß ein Teil dieser Maßnahmen auch von den zuständigen Verwaltungsbehörden angeordnet werden kann. Zunächst haben prozeßökonomische Gesichtspunkte zu dieser Erweiterung des strafrichterlichen Aufgabenbereiches geführt: die Sachkenntnis, die das Strafgericht durch die Untersuchung des Falles gewonnen hat, seine Kenntnis von Tatumständen und der Persönlichkeit des Täters soll ausgenutzt werden, um alsbald die Maßnahmen zu treffen, die sonst — sofern zulässig — später anderen Behörden oblägen und dann gegebenenfalls erneut richterlicher Nachprüfung — dann aber z. B. des Verwaltungsrichters — unterbreitet werden müßten. Aber mehr und mehr tritt als Ergebnis der Reformideen der soziologischen Strafrechtsschule der Gedanke in den Vordergrund, daß es sich bei dieser Erweiterung des Aufgabenbereichs des Strafrichters gar nicht um eine nur mit Zweckmäßigkeitserwägungen begründbare Koppelung seiner „eigentlichen" Aufgaben mit materiell außerstrafrechtlichen handelt, sondern um eine legitime Erweiterung seiner spezifisch strafrichterlichen Aufgaben, die sich aus dem Wandel der Anschauungen über Ziel und Zweck des Strafrechts und des Strafverfahrens ergibt: über die bloße Ahndung der Tat, ihre repressive Beantwortung, an die sich nur gedanklich die Zwecke der Spezial- und Generalprävention anschließen, gehört es danach auch zu den „eigentlichen" Aufgaben des Strafrichters, mit selbständigen Mitteln, die ihm das sachliche Strafrecht zur Verfügung stellt, die Resozialisierung des Täters und die Verhütung künftiger Rechtsbrüche anzustreben, wenn die begangene Tat bei Würdigung ihrer Umstände und der Persönlichkeit des Täters zeigt, daß die Strafe — ihre Verhängung und ihr Vollzug — allein nicht ausreicht, die naheliegende Gefahr künftiger Straftaten auszuschließen. Die Verbrechensverhütung ist damit zu einem Bestandteil der den Strafrechtspflegeorganen übertragenen Verbrechensbekämpfung geworden, sobald sich aus der Begehung einer mit Strafe bedrohten Handlung die Gefahr künftiger weiterer Verletzungen strafrechtlich geschützter Rechtsgüter ergibt. Die Strafe hat damit ihre Monopolstellung als Mittel der Verbrechensbekämpfung verloren; sie ist zwar noch immer das Hauptmittel, aber doch nur noch ein Mittel neben anderen, die an ihre Seite getreten sind. Auch wenn „nur" bestraft wird, besteht die Bedeutung der Bestrafung in weitem Umfang nicht mehr in der Festsetzung des Strafübels, das die Vollstreckungsbehörden durchführen müssen und das der Verurteilte zu erdulden verpflichtet ist. Bei der Strafaussetzung zur Bewährung (§§ 23ff. StGB, § 20ff. JGG) kommt es bei erwartungsgemäßem Verhalten des Verurteilten gerade nicht zum Vollzug. An die Stelle der allein möglichen Vollstreckungsstrafe tritt hier, zwar nicht im rechtstechnischen Sinn, aber dem materiellen Gehalt nach, auflösend-bedingt die Aussetzungsstrafe, über deren begriffliche Einordnung, namentlich wenn sie mit Bewährungsauflagen (§ 24 a), Führungsanweisungen (§ 24 b) und Bewährungshilfe ( § 2 4 c ) verbunden ist, sich streiten läßt (Besserungsmaßregel? Sicherungsmaßregel eigner Art? „Neue selbständige dritte Spur" der staatlichen Reaktionsmittel? Vgl. dazu D a l c k e / F u h r m a n n / S c h ä f e r [37] Vorbem. zu § 23 StGB; D r e h e r [31] zu § 24a). Noch weiter von den klassischen Vorstellungen über das Strafverfahren entfernt sich das Jugendstrafverfahren, in dem die Verhängung einer Strafe die Ausnahme und die Festsetzung von Maßnahmen ohne Strafcharakter (Erziehungsmaßregeln, Zuchtmittel) die Regel ist. Die Konsequenz dieser Entwicklung ist, daß auch im Erwachsenenstrafrecht neben das klassische Strafverfahren, das gegen einen bestimmten Beschuldigten betrieben wird mit dem Ziel, eine Entscheidung über seine Schuld herbeizuführen und bejahendenfalls eine Strafe zu verhängen und daneben etwaige Sicherungs- und Besserungsmaßregeln anzuordnen, ein in den Formen eines Strafverfahrens betriebenes Verfahren tritt, das nur der Anordnung 54

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einer Sicherungs- oder Besserungsmaßregel dient, weil die Verhängung einer Strafe von vornherein wegen fehlender Zurechnungsfähigkeit oder wegen eines Verfahrenshindernisses entfallt, während das sachliche Recht die Anordnung der Maßregel unabhängig von einer Bestrafung zuläßt. Ein solches selbständiges Verfahren kannte das Verfahrensrecht schon früher in der F o r m des objektiven Verfahrens (§§ 4 3 0 ff. a. F., jetzt § 4 4 0 StPO), wenn es sich um Einziehung oder Unbrauchbarmachung körperlicher Gegenstände handelte, die infolge ihrer Beschaffenheit objektiv gefahrlich sind. Die Voraussetzungen einer selbständigen Einziehung (Unbrauchbarmachung), wenn die Durchführung eines subjektiven Verfahrens nicht möglich ist, sind jetzt erweitert (vgl. §§ 4 0 Abs. 2 Nr. 2, Abs. 3 , 4 , 4 1 , 4 1 b S t G B , §§ 4 4 0 f f . StPO). Mit der Einführung weiterer Maßregeln der Sicherung und Besserung trat das Bedürfnis hervor, auch gegen eine bestimmte Person, die den Tatbestand einer mit Strafe bedrohten Handlung verwirklicht hat, zur Verhinderung künftiger Rechtsgutverletzungen die im sachlichen Recht unabhängig von einer Bestrafung zugelassenen Maßregeln anordnen zu können. Das geltende Recht kennt solch ein selbständiges Verfahren nur in F o r m des Sicherungsverfahrens (§§ 4 2 9 ä f f . S t P O ) für den Fall, daß die Unterbringung eines zur Tatzeit Zurechnungsunfähigen in einer Heil- und Pflegeanstalt (§ 4 2 b S t G B ) angeordnet werden soll. B G H S t 13, 91 = N J W 1959 1185 läßt in erweiternder Auslegung des § 4 2 9 a neben der Unterbringung auch die Entziehung der Fahrerlaubnis zu, die nach § 4 2 m S t G B auch gegenüber dem zur Tatzeit Zurechnungsunfähigen durch strafgerichtliches Urteil ausgesprochen werden kann. Die Beschränkung der selbständigen Anordnung im geltenden Recht genügt dem praktischen Bedürfnis nicht; § 71 in der am 1. 10. 1973 in Kraft tretenden Fassung des 2. Strafrechtsreformges. v. 4 . 7 . 1969 ( B G B l . I 7 1 7 ) sieht deshalb unter der Voraussetzung, daß ein subjektives Strafverfahren wegen Schuldunfahigkeit oder Verhandlungsunfahigkeit des Täters undurchführbar ist, die selbständige Anordnung vor bei der Unterbringung in einer psychiatrischen Krankenanstalt, einer Entziehungsanstalt oder sozialtherapeutischen Anstalt und bei der Entziehung der Fahrerlaubnis und dem Berufsverbot (vgl. auch Vorbem. 2 vor § 4 2 9 a). Die vielfach übliche Bezeichnung des selbständigen Verfahrens als „unechter Strafproz e ß " geht von der Vorstellung aus, daß ein „echtes", ein „eigentliches" Strafverfahren nur ein solches sei, das auf Feststellung von strafrechtlicher Schuld oder Nichtschuld und für den Fall der Schuldfeststellung (in der Regel) auf die Verhängung einer Strafe gerichtet ist. Sieht man aber in der Verhütung rechtswidriger Taten, nachdem die Wiederholungsgefahr durch eine rechtswidrige Tatbestandsverwirklichung erkennbar geworden ist, einen der repressiven Beantwortung gleichwertigen originären Zweig der den Strafrechtspflegeorganen übertragenen Verbrechensbekämpfung, dann ist auch das selbständige Verfahren ein „echtes" Strafverfahren; es ist dann unter „Strafverfahren" — die Bezeichnung knüpft nur an den Regelfall an — jedes Verfahren zu verstehen, das von den Strafjustizorganen in den vorgeschriebenen Formen zur Verwirklichung der im sachlichen Strafrecht an die rechtswidrige Tatbestandsverwirklichung geknüpften Rechtsfolgen betrieben wird, gleichviel ob diese Folgen in Strafe neben Maßregeln oder nur in Maßregeln bestehen. Auch das Jugendstrafverfahren ist j a ein „echtes" Strafverfahren, auch wenn von vornherein nicht die Verhängung von Jugendstrafe, sondern nur die Anordnung von Erziehungsmaßregeln oder Zuchtmitteln in Frage steht. Nur in dem Sinn ist das selbständige Verfahren ein „unechter" Strafprozeß, als hier die Regeln des Normalprozesses, die auf den Fall der Verhängung einer Strafe für den Fall der Schuldfeststellung zugeschnitten sind, nur mit den — z. T. tiefgreifenden — Abweichungen („entsprechend") anzuwenden sind, die sich aus der Besonderheit der Lage und Zielsetzung des Verfahrens ergeben (vgl. N a g l e r Ger. S. 112, 133, 1 4 4 , 3 0 8 ; 1 1 3 , 1 ) . Dieser Unterschied wird verwischt, wenn z. B. § 4 2 9 a vom „Beschuldigten" statt richtigerweise von „Betroffenen" spricht (vgl. Vorbem. 1 vor § 4 2 9 a). Eine Erweiterung der Zwecke des Strafverfahrens besteht auch darin, dem Täter die Verbrechensbeute (die scelere quaesita) zu entziehen und damit darzutun, daß Straftaten sich „nicht auszahlen". Das geltende Recht trägt diesem Gedanken nur in Form von Einzelvorschriften (vgl. z. B. § 9 2 b Abs. 2 Satz 1; § 335 S t G B , §§ 8ff. des Wirtschaftsstrafges. v. 9. 7. 1954, B G B L I 175) oder dadurch Rechnung, daß es die Abschöpfung von Verbrechensentgelt und -gewinn auf dem Weg über die Bemessung der Geldstrafe vorsieht (§ 27 b StGB). Demgegenüber ordnet künftig nach § 7 3 S t G B i. d. F . des 2. Strafrechtsreformges. v. 4. 7. 1969 das Gericht generell, ggbf. selbständig ( § 7 6 a ) den Verfall des

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Vermögensvorteils an, den der Täter für eine objektiv rechtswidrige Tat oder aus ihr erlangt hat, soweit er Ersatzansprüche des Verletzten übersteigt. Über eine andere Ausdehnung der Zwecke des Strafverfahrens ein Hinblick auf den Verletzten (Rufwiederherstellung, Entschädigung) s. unten S. 58.

6. Verhältnis des Strafverfahrens zu anderen Verfahren 1. Strafprozeß und Zivilprozeß. a) Die beiden Verfahrensarten weisen im Großen und im Kleinen viel Gemeinsames auf. In beiden wird angesichts der Behauptung einer Verletzung der Rechtsordnung das Ziel verfolgt, daß das Gericht sich in einem geordneten Verfahren durch Handlungen und Wahrnehmungen eine Vorstellung von den erheblichen tatsächlichen Ereignissen oder Zuständen verschaffe, die anzuwendenden Rechtssätze ermittle und auf Grund der tatsächlichen Feststellung und der rechtlichen Würdigung eine Entscheidung zur Sache erlasse, die mit dem Eintritt der Rechtskraft Geltung und Wirkung auch dann erlangt, wenn sie von dem durch die Tatsachen erzeugten Recht, dem wahren Recht, abweicht. Die Vorschriften über die Ausschließung und Ablehnung der Gerichtspersonen, über die Zustellungen, über den Beweis durch Zeugen und Sachverständige und über die Rechtsmittel sind für beide Verfahrensarten in Einzelheiten ähnlich gestaltet. Andererseits scheidet ein tiefreichender Gegensatz das Strafverfahren vom Verfahren im bürgerlichen Rechtsstreit ab. Begriffe, deren Entwicklung dem letzteren forderlich geworden ist, können auf den ersteren nicht ohne weiteres übertragen werden. Der Gegensatz wird durch den Unterschied der Gegenstände begründet. Die Erfüllung der bürgerlich-rechtlichen Verpflichtungen erfordert keine gerichtliche Entscheidung. Die weit überwiegende Zahl dieser Verpflichtungen wird ohne gerichtliches Verfahren erfüllt. Das bürgerliche Recht räumt grundsätzlich dem Berechtigten die freie Verfügung über seine Rechte und Ansprüche ein, sofern nicht Ausnahmen um des öffentlichen Wohls willen, insbesondere in den Ehe-, Kindschafts- und Entmündigungssachen, stattfinden. Das Recht der freien Verfügung über private Rechte bestimmt auch entscheidend die Gestaltung des Zivilprozesses; es gilt die Parteimaxime. Was die vor Gericht streitenden Einzelnen, die Parteien, nicht vorbringen, um den Grund ihrer Ansprüche oder Einwendungen nachzuweisen, ist vom Gericht nicht zu beachten. Das Gericht muß die von einer Partei behaupteten Tatsachen als wahr gelten lassen, wenn die Gegenpartei sie ausdrücklich oder stillschweigend zugesteht und nicht etwa ersichtlich ist, daß das Zugeständnis gegen die im § 138 Abs. 1 ZPO bestimmte Wahrheitspflicht verstößt. Es ist für die Prüfung der Wahrheit der bestrittenen Tatsachen grundsätzlich auf die Benutzung der von den Parteien bezeichneten Beweismittel beschränkt („formelle Wahrheit"). Was die Parteien nicht begehren, um sich die Befriedigung ihrer Ansprüche zu verschaffen, darf ihnen vom Gericht nicht zugesprochen werden. Hierbei gilt die Gleichberechtigung der Parteien. Demzufolge treten im bürgerlichen Rechtsstreit, wenn das Verhältnis zwischen Gericht und Parteien betrachtet wird, eine weitgehende Freiheit der Parteien und als ihr Gegenstück eine starke Gebundenheit des Gerichts mit ausschlaggebender Wirkung auf die Sachgestaltung hervor. Dagegen bedarf es stets der im Strafverfahren getroffenen gerichtlichen Entscheidung, um die Rechtsfolgen zu verwirklichen, die das sachliche Strafrecht an die Erfüllung eines Straftatbestands knüpft. Im Strafverfahren verlangt das öffentliche Wohl immer und überall Berücksichtigung. Der Staat wird hier in der Regel von Amts wegen erforschend, entscheidend und vollstreckend tätig, damit unverzichtbare Rechte ausgeübt und unerlaßbare Pflichten abgetragen werden, damit der Rechtsbruch geahndet, der Nichtschuldige aber von dem Schuldvorwurf freigesprochen werde. Die Regeln des Strafprozeßrechts sind grundsätzlich zwingendes Recht, das nur ausnahmsweise einer gewissen Disposition der Beteiligten unterliegt (vgl. z. B. § 245 Satz 3, § 251 Abs. 1 Nr. 4). Das Hauptgewicht der staatlichen Tätigkeit ist für das Strafverfahren auf die vom Gericht zu fallende Entscheidung ge56

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legt. Das Hauptverfahren muß, soweit nicht Verfahrenshindernisse eingreifen (§§ 205, 206 a) oder Einstellung nach §§ 153 ff. stattfindet, bis zu dem am Schluß der Hauptverhandlung zu erlassenden Urteil durchgeführt werden (§ 260). Eine Erledigung des Verfahrens durch Privatdisposition (Vergleich, Anerkenntnis oder Verzicht) gibt es, wenn man von gewissen Möglichkeiten bei den Antragsdelikten und den Privatklageverfahren absieht, nicht. Das Gericht kann der öffentlich-rechtlichen Pflicht, dem Recht gemäß zu entscheiden, nur nachkommen, wenn es von dem Verhalten, dem Willen und den Wünschen der Beteiligten unabhängig ist. Es muß, gleichviel was die Beteiligten vorbringen und begehren, die Wahrheit (die „materielle Wahrheit") mit allen zu Gebote stehenden Beweismitteln selbständig erforschen und aus seiner Überzeugung heraus das Urteil bilden, das den Rechtssätzen entspricht. Für eine volle Gleichberechtigung der Beteiligten aber ist grundsätzlich kein Raum, weil der Hauptbeteiligte angesichts des gegen ihn bestehenden Verdachts des Verbrechens einem Zwang unterworfen werden muß, der gegenüber dem Ankläger nicht Platz greifen kann. Andererseits ist der öffentliche Kläger kein echter „Gegner", denn es gehört zu seinen Amtspflichten, auch entlastend für den Beschuldigten einzutreten (vgl. insbes. §§160 Abs. 2, 296 Abs. 2). Der allgemeine Sprachgebrauch verleiht diesem Gegensatz einen treffenden Ausdruck. Die Parteien des Zivilprozesses „prozessieren miteinander"; im Strafverfahren aber wird dem Schuldigen „der Prozeß gemacht". Das vorstehend über das Beweisrecht Gesagte gilt ohne Einschränkung für das ordentliche Verfahren, hier aber auch in Übertretungssachen (§§ 244,245) und in Privatklageverfahren. Gewisse Abweichungen bestehen bei den sog. summarischen Verfahren, dem Strafbefehls- und Strafverfügungsverfahren (§§ 407 ff. StPO), wo sich der Richter mit einer knappen Sachaufklärung zufrieden geben darf, wenn sie ihm zur Bildung seiner Überzeugung von der Täterschaft und Schuld ausreichend erscheint. Dies beruht auf dem Bestreben, fiir gewisse häufig vorkommende Delikte von geringerer Bedeutung ein möglichst einfaches und formloses Verfahren zur beschleunigten Erledigung des Falles zur Verfügung zu stellen. Der Gesetzgeber sieht hier die Rechte des Beschuldigten dadurch als genügend gewahrt an, daß er ihm ermöglicht, gegen die Straffestsetzung Einspruch einzulegen, der dann zu einer mit allen Rechtsgarantien ausgestatteten ordentlichen Hauptverhandlung führt. Verfehlt wäre es aber, diesen vorläufigen Verzicht auf eine umfassende Sachaufklärung unter dem Gesichtspunkt zivilrechtlicher oder zivilprozessualer Erledigungsmöglichkeiten zu würdigen, etwa als eine „vertragsähnliche Abmachung der Angelegenheit" zwischen dem Beschuldigten und den Strafjustizorganen oder als ein Gegenstück zum Mahnverfahren des Zivilprozesses, dergestalt, daß der Richter lediglich die im Strafbefehlsantrag des Staatsanwalts aufgestellten Behauptungen als wahr unterstellt (vgl. Anm. 7 zu § 407). b) Die Pflicht des Gerichts, die materielle Wahrheit selbständig mit allen Mitteln zu erforschen und nur der eignen auf dieser Grundlage gewonnenen Überzeugung entsprechend zu entscheiden, führt dazu, daß der Strafrichter auch über zivilrechtliche Vorfragen (z. B. über die Fremdheit der Sache im Fall des § 242 StGB) selbständig zu entscheiden hat und an Urteile des Zivilprozeßgerichts (ausgenommen Gestaltungsurteile, vielleicht auch Urteile mit Rechtskraft inter omnes) nicht gebunden ist (§ 262 Abs. 1 und die Anmerkungen hierzu, ferner Bruns, Festschrift für Lent [1956] 107ff.; S c h w a b NJW 1960 2169); auch ein zivilprozessuales Urteil, das nach den Vorschriften des bürgerlichen Rechts zurückwirkt, hat diese Bedeutung nur für das bürgerliche Recht (OLG Hamm NJW 1969 805; aM M e y e r NJW 1969 1360). Er darf aber das Strafverfahren aussetzen, um die Ergebnisse eines Zivilprozesses für seine eigne Untersuchung nutzbar zu machen (§ 262 Abs. 2). Er kann sogar einem Beteiligten eine Frist zur Erhebung der Zivilklage setzen; doch kann, wenn der Beteiligte der Auflage nicht nachkommt, dies zwar gegebenenfalls bei der Beweiswürdigkeit bedeutsam sein, während sich weitere Folgerungen für das Strafverfahren daraus nicht ergeben. Anders liegt es dagegen im Vorverfahren; hängt bei einem Vergehen die Erhebung der öffentlichen Klage von der Beurteilung einer zivilrechtlichen Vorfrage ab, so kann nach § 154d auch der Staatsanwalt dem Beteiligten eine Frist zur Austragung der Frage im Zivilprozeß bestimmen, aber mit der Folge, daß er das Vorverfahren einstellen kann, wenn die Auflage unbeachtet bleibt. Entsprechende Grundsätze gelten bei Vorfragen auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts; doch greifen hier gewisse Ausnahmen Platz (Art. 21 Abs. 2 Satz 2 GG; s. auch unten S. 126). 57

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l c) Der Strafrichter entscheidet nicht nur über zivilrechtliche Vorfragen, sondern auch über zivilrechtliche Ansprüche, dann nämlich, wenn der Verletzte (sein Erbe) einen aus der Straftat, die den Gegenstand des Strafverfahrens bildet, erwachsenen vermögensrechtlichen Anspruch oder ein Verlangen nach Buße gegen den Beschuldigten geltend macht (§§ 403 ff.) und das Gericht nicht „von einer Entscheidung absieht" (§ 405). In den Formen des Adhäsionsprozesses wird auch über den Anspruch auf Rückerstattung des Mehrerlöses entschieden, den bei einem Preisvergehen der Geschädigte gegen den Täter geltend macht (§ 9 des Wirtschaftsstrafges. v. 9. 7. 1954, BGBl. I S. 175). Der Strafrichter tritt hier also an die Stelle des Zivilprozeßrichters, und seine dem Anspruch stattgebende Entscheidung hat die Bedeutung eines im Zivilprozeß ergangenen Endurteils (§ 406 Abs. 3). Die Untersuchung und Entscheidung erfolgt aber nicht in einem von dem Strafverfahren getrennten Nebenverfahren — die Bezeichnung als .Anhangs-" oder „Adhäsionsverfahren" ist deshalb irreführend —, sondern im Strafverfahren, sie bildet einen Bestandteil des Strafverfahrens. Dies zeigt sich insbesondere darin, daß für die Verhandlung, die Beweiserhebung und die Bildung der richterlichen Überzeugung nicht die Regeln des Zivilprozesses mit den Grundsätzen der Parteimaxime und der formellen Wahrheit, sondern — in gleicher Weise wie bei der Feststellung der strafrechtlichen Folgen der Tat — die Vorschriften des Strafprozesses maßgebend sind. Es gelten also nicht die Bestimmungen der ZPO über die Wirkung von Geständnis, Anerkenntnis oder Verzicht (s. die Anm. zu § 403), und die Beweiserhebung richtet sich nach dem Grundsatz des § 244 Abs. 2; strittig ist lediglich, ob das Gericht nach den Grundsätzen der gebundenen Beweisaufnahme (§ 244 Abs. 3) zu verfahren hat oder den Umfang der Beweisaufnahme nach pflichtmäßigem Ermessen bestimmt (s. Anm. 10 zu § 404). Auch die Anfechtung des Urteils über den Anspruch durch den Verurteilten erfolgt mit den nach der StPO zulässigen Rechtsmitteln (Anm. 2 zu § 406 a). Daß andererseits auch im Strafverfahren und vor dem Strafgericht ein wirksamer Vergleich (§ 794 ZPO) über den geltend gemachten vermögensrechtlichen Anspruch geschlossen werden kann, ergibt sich ohne weiteres daraus, daß der Anspruch seinen Charakter als dispositionsfahiges privates Rechtsgut auch im Adhäsionsprozeß beibehält. Die Erweiterung des strafrichterlichen Aufgabenbereichs, wenn es zum Adhäsionsverfahren kommt, beruht wie bei der Anordnung von Maßregeln der Sicherung und Besserung (oben S. 54) zunächst auf der prozeßökonomischen Überlegung, daß sich getrennte Prozesse vermeiden lassen, wenn die tatsächlichen Feststellungen, die der Strafrichter ohnedies für seine Entscheidung über den strafrechtlichen Vorwurf treffen muß, alsbald auch für die Klärung der vermögensrechtlichen Auswirkungen der Tat nutzbar gemacht werden. Aber neben diese bloße Zweckmäßigkeitserwägung tritt auch hier der andere Gedanke, daß sich die „eigentliche" Aufgabe des Strafrechts und des Strafverfahrens nicht in repressiven Maßnahmen gegen den Täter erschöpft, sondern auch dazu dient, dem Verletzten in einem mit dem Hauptzweck des Strafverfahrens verträglichen Ausmaß Genugtuung und Schadensausgleich zu verschaffen 33 . Im sachlichen Strafrecht dienen die Buße (§§ 188,231 StGB) und die Urteilsbekanntmachung zur Rufwiederherstellung (§§ 165, 200 StGB), im Verfahrensrecht die Neben- und die Privatklage von jeher diesen Zwecken. In neuerer Zeit tritt die mit der Strafaussetzung zur Bewährung verbundene Auflage hinzu, den durch die Tat angerichteten Schaden wiedergutzumachen (§ 24 a Abs. 2 Nr. 1 StGB). Mit ihrem durch die Drohung des Aussetzungswiderrufs (§ 25 Abs. 2 Nr. 2 StGB) begründeten mittelbaren Erfüllungszwang kann sie einen Zivilprozeß entbehrlich machen oder den Vollstreckungszwang eines bereits erstrittenen Zivilurteils verstärken. Die Reformbestrebungen sind darauf gerichtet, den Umfang der im (weiteren) Rahmen eines Strafverfahrens möglichen Maßnahmen zur Schadloshaltung eines Verletzten zu erweitern. Dem Mangel des geltenden Rechts, daß ein Strafverfahren wegen Beleidigung mit Freispruch wegen Wahrnehmung berechtigter Interessen oder mit Einstellung wegen eines Verfahrenshindernisses (Amnestie) enden kann (oder daß es aus diesen Gründen überhaupt nicht zur Erhebung der Anklage kommt), ohne daß der Verletzte eine strafrichterliche Feststellung über die Unwahrheit oder Nichterweislichkeit der gegen ihn gerichteten ehrenrührigen Behauptung erreichen kann, wollten Art. 70 Nr. 219 EGStGB-Entw. 1930, §423ff. StPO-Entw. 1939 (vgl. oben S. 38 und 42) und der Entwurf des 1. Strafrechtsänderungs33

S. dazu K ü h l e r ZStrW 71 (1959) 617.

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Verhältnis des Strafverfahrens zu anderen Verfahren

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ges. (BT-Drucks. 1949 Nr. 1307 S. 18 ff.) durch die Einführung eines mit dem .Strafverfahren verbundenen, notfalls selbständigen strafrechtlichen Feststellungsverfahrens abhelfen 34 . In beschränktem Umfang wurde — abgesehen von den Vorschriften der Kriegsgesetzgebung über den Inhalt des Friedensspruchs im Privatklageverfahren (oben S. 16) — dieser Gedanke in den Straffreiheitsgesetzen v. 31. 12. 1949 (BGBl. S. 37) - § 8 - und vom 17.7. 1954 (BGBl. I S. 203) - § 18 - verwirklicht. In der Folgezeit wurde die Frage der Rufwiederherstellung durch objektive Feststellung der Wahrheit oder Unerweislichkeit einer ehrenrührigen Behauptung sogar als ein Problem des materiellen Strafrechts bezeichnet und seine Regelung im Strafgesetzbuch erwogen. Der StGB-Entw. 1962 ist aber diesen Vorschlägen nicht gefolgt, sondern hat, hauptsächlich aus Zweckmäßigkeitsgründen, die Regelung dieser Frage der Strafprozeßreform überlassen. Insgesamt aber ergibt sich im Zusammenhalt mit den in die Hand des Strafrichters glelegten sichernden und bessernden Maßnahmen (oben S. 53) ein in der Verwirklichung begriffenes Vorstellungsbild von den Aufgaben des Strafverfahrens im weiteren Sinn, das etwa so zu kennzeichnen ist, daß es über die Feststellung von strafrechtlicher Schuld oder Nichtschuld und über die strafrechtliche Ahndung der Tat gegenüber den für schuldig Befundenen hinaus Zweck des Strafverfahrens ist, in möglichst umfassender Weise den gestörten Rechtsfrieden wiederherzustellen und Maßnahmen zu möglichst dauerhafter Bewahrung des Rechtsfrieden zu treffen. 2. Strafprozeß und Verwaltungsstrafverfahren. - Das frühere Recht kannte die Einrichtung des Verwaltungsstrafverfahrens. Sein Wesen bestand darin, daß Verwaltungsbehörden die Befugnis übertragen war, bei leichteren Straftaten — Vergehen und Übertretungen — Kriminalstrafen „vorläufig" durch Verwaltungsakt („Strafverfügung", „Strafbescheid") in der Weise festzusetzen, daß der Beschuldigte dagegen durch Einspruch oder Antrag auf gerichtliche Entscheidung die Entscheidung des Strafrichters herbeiführen konnte. Nach der Beseitigung der polizeilichen Strafverfügung (oben S. 21) kam schließlich ein Verwaltungsstrafverfahren nur noch im Betracht bei Zuwiderhandlungen gegen die Vorschriften über die Entrichtung von Postgefallen (§ 5 EG StPO i. Verb. m. §§ 34ff. des Postgesetzes v. 28. 10. 1871), bei Steuer- und Abgabezuwiderhandlungen nach §§421 ff. a. F. RAbgO und solchen landesrechtlichen Vorschriften, die auf die §§ 421 ff. RAbgO verwiesen (§ 6 Abs. 2 Nr. 2 EG StPO). Die Strafbefugnis beschränkte sich auf Geldstrafen und Nebenstrafen, die Festsetzung von Freiheits- und Ersatzfreiheitsstrafen war bereits durch Art. 104 Abs. 2 G G dem Richter vorbehalten. Die Grundgesetzmäßigkeit des Verwaltungsstrafverfahrens war lange Zeit umstritten. Gegen seine Weitergeltung wurden im Schrifttum Bedenken im Hinblick auf Art. 92 G G (Rechtsprechungsmonopol der Gerichte) und auf Art. 6 Abs. 1 MRK (Anspruch auf Entscheidung durch ein Gericht) erhoben. Auch wurde geltend gemacht, daß im Verwaltungsstrafverfahren — wie ehedem im Inquisitionsprozeß — die Aufgaben des Ermitteins und Entscheidens, die Rollen des Anklägers und des Richters, in einer Hand vereinigt seien, eine solche Gestaltung des Verfahrens aber mit dem Grundgedanken des modernen Strafverfahrens und dem Grundsatz der Gewaltenteilung unvereinbar sei. Die Gegenmeinung, die namentlich von den Gerichten (BGHSt. 13 1 0 2 = NJW 1959 1230; BFH NJW 1958 846) vertreten wurde, ging dahin, daß es sowohl auf dem Gebiet des Strafrechts wie auch in außerstrafrechtlichen Angelegenheiten (vgl. BSG JZ 1959,378) dem Rechtsprechungsmonopol der unabhängigen Gerichte und dem Grundsatz der Gewaltenteilung nicht widerspreche, Verwaltungsbehörden materielle Rechtsprechungsaufgaben zu übertragen, sofern nur der Betroffene gegen ihre Entscheidungen den Richter anrufen könne, so daß letztlich das unabhängige Gericht entscheidet. Den Meinungsstreit beendete BVerfG E 22 4 9 = NJW 1967 1219, indem es aussprach, Kriminalstrafen könnten nach Art. 92 G G nur durch den Richter verhängt werden und dürften deshalb auch bei minder gewichtigen strafrechtlichen Unrechtsstatbeständen nicht in einem „Vorverfahren" oder „Vorschaltverfahren" ausgesprochen werden; die §§421, 445 34

Vgl. dazu K e r n , Ehrenschutz im künftigen Strafverfahren: in Materialien zur Strafrechtsreform Bd. I Bonn 1954 S. 303, und J e s c h e c k G A 1957 363.

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Kap. 6

Einleitung (Schäfer)

2 und 447 a. F. RAbgO wurden als grundgesetzwidrig für nichtig erklärt. Implicite wurden damit auch die (praktisch wenig bedeutungsvollen) Vorschriften über die verwaltungsmäßige Ahndung von Postgefällszuwiderhandlungen für nichtig erklärt; in dem neuen Gesetz über das Postwesen v. 28. 7. 1969 (BGBl. I 1006), das das Reichspostgesetz v. 28. 10. 1871 ersetzte, fehlt es demgemäß an entsprechenden Vorschriften. Der Bundesgesetzgeber zog aus der Entscheidung des BVerfG für Steuerzuwiderhandlungen die Konsequenzen durch die Gesetze zur Änderung der RAbgO v. 10. 8. 1967 (BGBl. I 887) und v. 12. 8. 1968 (BGBl. I 953>. Eine Reihe bisheriger Steuerstraftatbestände wurden in Steuerordnungswidrigkeiten umgestaltet und ihre Ahndung durch Bußgeldbescheid (nach den Vorschriften des OWiG 1968) dem Finanzamt übertragen (§§403ff., 446 ff. n. F. RAbgO). Bei den bestehen gebliebenen mit Kriminalstrafe bedrohten Steuervergehen führt in der Mehrzahl der Fälle das Finanzamt das Ermittlungsverfahren selbständig durch und nimmt dabei die Rechte und Pflichten wahr, die der Staatsanwaltschaft im Ermittlungsverfahren zustehen (§§ 421, 433 n. F. RAbgO); bieten nach Abschluß der Ermittlungen diese genügenden Anlaß zur Erhebung der öffentlichen Klage, so beantragt das Finanzamt beim Amtsgericht den Erlaß eines Strafbefehls (§§407 ff. StPO), wenn die Sache zur Behandlung im Strafbefehlsverfahren geeignet erscheint; andernfalls überläßt das Finanzamt die weitere Behandlung der Staatsanwaltschaft (§ 435). Führt nicht das Finanzamt (selbständig), sondern die Staatsanwaltschaft das Ermittlungsverfahren durch, so hat das Finanzamt die gleichen Rechte und Pflichten wie die Polizeibehörden nach der StPO; es kann Zwangsmaßnahmen (Beschlagnahmen, Durchsuchungen und Untersuchungen) nach den für Hilfsbeamte der Staatsanwaltschaft (§ 152 GVG) geltenden Vorschriften anordnen (§ 437 RAbgO). Im gerichtlichen Verfahren wird das Finanzamt in und außerhalb der Hauptverhandlungen gehört, d. h. es erhält Gelegenheit, die Gesichtspunkte vorzubringen, die von seinem Standpunkt für die Entscheidung von Bedeutung sind (§ 441 RAbgO). Indem § 435 RAbgO in Form des Rechts zum Antrag auf Erlaß eines Strafbefehls der Verwaltungsbehörde ein beschränktes Recht einräumt, durch einen der öffentlichen Klage der Staatsanwaltschaft entsprechenden Akt auf die Einleitung eines gerichtlichen Strafverfahrens hinzuwirken, knüpft er an § 413 StPO an, wonach bei Übertretungen die Übersendung der Verhandlungen durch die Polizeibehörden an den Amtsrichter und der darin liegende Antrag auf Erlaß einer amtsrichterlichen Strafverfügung einen entsprechenden Antrag der Staatsanwaltschaft ersetzt und die der öffentlichen Klage entsprechende verfahrensrechtliche Grundlage für das mit dem Erlaß der Strafverfügung beginnende gerichtliche Verfahren bildet. Darin zeigt sich ein Nachklang des früheren Strafverfügungs- und Strafbescheidsverfahrens der Verwaltungsbehörde. Gewisse Nachwirkungen des ehemaligen Verwaltungsstrafverfahrens zeigen sich auch in der polizeilichen „Verwarnung mit Verwarnungsgeld" bei Übertretungen. Als § 413_a. F. StPO den Ländern die Befugnis einräumte, die Polizeibehörden zur Bestrafung von Übertretungen durch polizeiliche Strafverfügung — vorbehaltlich der Anrufung des Strafrichters — zu ermächtigen, waren die ermächtigten Polizeibehörden auch befugt, unter den Voraussetzungen des § 153 StPO wegen Geringfügigkeit von einer Ahndung abzusehen. Im Rahmen der landesrechtlichen Regelungsbefugnis lag es, zu bestimmen, daß ein solches Absehen von Strafe mit einer gebührenfreien oder gebührenpflichtigen Verwarnung verbunden werden könne (vgl. z.B. § 5 9 PrPolVerwGes. v. 1.6. 1931, GS 77). Als die polizeiliche Strafbefugnis beseitigt wurde (oben S. 21), erhob sich die Frage, ob es dem Landesrecht noch zustehe, die Polizeibehörden zu ermächtigen, bei leichteren Übertretungen von einer Strafanzeige an die Staatsanwaltschaft (§ 163 StPO) oder der Übersendung ihrer Verhandlungen an den Richter (§413 StPO) abzusehen und statt dessen eine gebührenpflichtige polizeiliche Verwarnung zu erteilen. Für die Masse der damaligen Übertretungen, die Verkehrsübertretungen, wollte § 2 2 Abs. 1 des Straßenverkehrsges. v. 19. 12. 1952 (BGBl. I 837) den Zweifeln ein Ende bereiten; er ließ im Anschluß an § 8 OWiG 1952 zu, daß dazu ermächtigte Polizeibeamte den bei leichteren Übertretungen auf frischer Tat betroffenen Täter verwarnten und eine geringe Gebühr (ursprünglich bis zu 2, später bis zu 5 DM) erhoben, vorausgesetzt, daß der Betroffene nach Belehrung über sein Weigerungsrecht mit der Verwarnung einverstanden und zur sofortigen Zahlung der Gebühr bereit sei. Nach Zahlung der Gebühr konnte nach § 22 Abs. 2 aaO. die Zuwiderhandlung nicht mehr als Übertretung

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Verhältnis des Strafverfahrens zu anderen Verfahren

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verfolgt werden. Indessen wurden gegen die Grundgesetzmäßigkeit dieser Vorschrift Einwendungen erhoben: die Gebühr sei in Wahrheit ein Strafgeld, nicht eine Gebühr im Rechtssinn, die die Erbringung einer behördlichen Sonderleistung voraussetze; der Strafcharakter zeige sich auch in der strafklageverbrauchenden Wirkung der Zahlung; damit aber stelle sich die gebührenpflichtige Verwarnung als ein Eingriff in das Rechtsprechungsmonopol der Strafgerichte (Art. 92 GG) dar. BVerfGE 22 125 (v. 4. 7. 1967) bejahte gegenüber solchen Einwendungen die Grundgesetzmäßigkeit des § 22 StVG: die gebührenpflichtige Verwarnung bezwecke und bewirke keine Vergeltung und unterscheide sich vor allem wesensmäßig von der Strafe. Sie enthalte auch keinen ethischen Schuldvorwurf und könne deshalb, aber auch wegen der geringen Höhe der Gebühr, vom Betroffenen nicht als Kriminalstrafe empfunden werden; im übrigen sei außerhalb des nur die bedeutsamen Unrechtstatbestände umfassenden „Kernbereichs des Strafrechts", also bei mindergewichtigen strafrechtlichen Unrechtstatbeständen, der Gesetzgeber befugt, sie generell unter Umgestaltung zu Ordnungswidrigkeiten aus dem Strafrecht herauszunehmen, und ebenso könne er, solange sie zum Strafrecht gehörten, eine Beilegung durch gebührenpflichtige Verwarnung vorsehen; das gehöre nicht zur Rechtsprechung, weil der Polizeibeamte nicht über die Verkehrsübertretung urteile, sondern diese nur zum Anlaß einer Verwarnung nehme. Seitdem sind durch Art. 3 EG OWiG v. 24. 5. 1968 (BGBl. I 503) die Verkehrsübertretungen in Verkehrsordnungswidrigkeiten umgewandelt worden, und die polizeiliche Verwarnung findet nunmehr ihre gesetzliche Grundlage in § 56 bis 58 OWiG 1968 v. 24. 5. 1968 (BGBl. I 481). Die Ausführungen in BVerfG E 22 125 ermöglichten es aber dem Bundesgesetzgeber, den landesrechtlichen Vorschriften, die bei den verbliebenen Übertretungen eine Erledigung durch polizeiliche gebührenpflichtige Verwarnung vorsehen, eine bundesgesetzliche Rechtsgrundlage zu verschaffen. Dies geschah durch Art. 154 EG OWiG 1968, der bestimmt, daß Vorschriften des Landesrechts, die bei Übertretungen die Erteilung einer gebührenpflichtigen Verwarnung vorsehen, mit der Maßgabe anzuwenden sind, daß an die Stelle der dort bestimmten Gebühr ein Verwarnungsgeld tritt und die Vorschriften in § 56 Abs. 2 bis 4 OWiG 1968 (also einschließlich der Verzehrwirkung einer wirksamen Ververwarnung) entsprechend gelten. 3. Strafprozeß und Disziplinverfahren. Das Dienststrafrecht regelt, inwieweit Dienstvergehen von Beamten, Richtern und Soldaten mit (nichtkriminellen) Dienststrafen geahndet werden können. Im gesetzlich geregelten berufs- oder ehrengerichtlichen Verfahren werden die Verletzung der Berufs- und Standespflichten der Angehörigen bestimmter Berufe (Rechtsanwälte, Ärzte usw.) geahndet. Das Disziplinarrecht hat mit dem Kriminalstrafrecht nichts zu tun, sondern ist ein Bestandteil des die Rechtsverhältnisse dieser Personen regelnden Rechts (des Beamtenrechts usw.). Demgemäß hat auch das Disziplinarverfahren wesensmäßig mit dem Strafverfahren nichts zu tun, auch wenn es in weitem Umfang dem Strafverfahren nachgebildet ist oder Vorschriften der StPO für entsprechend anwendbar erklärt sind. Das Dienststrafverfahren unterscheidet sich im übrigen von dem Strafverfahren vor allem dadurch, daß für die Verfolgung von Dienstvergehen das Opportunitätsprinzip gilt. Zwischen Strafverfahren und Diensstrafverfahren ergeben sich aber Berührungspunkte, wenn das vorgeworfene Dienstvergehen zugleich eine Straftat darstellt. Für das Strafverfahren ist es ohne Bedeutung, ob wegen des Sachverhalts ein Dienststrafverfahren anhängig oder sogar schon rechtskräftig durchgeführt ist. Das Disziplinarurteil verbraucht die Strafklage nicht, und die tatsächlichen Feststellungen des Disziplinarrichters binden den Strafrichter nicht (§§ 261,262 StPO). Zunächst schließt bei Beamten ein auf Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr wegen eines Verbrechens oder auf Amtsunfahigkeit lautendes Urteil die Einleitung oder den Fortgang eines Disziplinarverfahrens aus, da der Verurteilte aufhört, Beamter zu sein (§§ 31 ff. StGB; § 48 BBG und § 24 des Beamtenrechtsrahmengesetzes i. d. F. der Art. 18, 19 des 1. Strafrechtsreformges. v. 25. 6. 1969, BGBl. I 645). Nach diesen Vorschriften tritt Verlust des Amtes auch ein, wenn ein Beamter wegen eines vorsätzlich begangenen Vergehens zu Freiheitsstrafe von einem Jahr oder längerer Dauer oder wegen vorsätzlicher Begehung bestimmter gegen den Staat gerichteter Delikte (Friedensverrat, Hochverrat usw.) zu Freiheitsstrafe von sechs Monaten oder längerer Dauer verurteilt wird. Materiell handelt es sich hier um beamtenrechtli61

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Einleitung (Schäfer)

che Folgen der Verurteilung, um Disziplinarmaßnahmen, die zur Vermeidung eines überflüssigen Disziplinarurteils kraft Gesetzes an das Strafurteil geknüpft sind; wegen der daraus sich ergebenden Folgerungen für die Gnadenzuständigkeit vgl. Anm. 13 vor § 12 GVG. Ferner muß nach § 17 BDO i. d. F. v. 20. 7. 1967 (BGBl. 1 750) und des Art. 8 EG OWiG v. 24. 5. 1968 (BGBl. 1 503) ein Disziplinarverfahren bis zur Beendigung des strafgerichtlichen Verfahrens ausgesetzt werden, wenn wegen derselben Tatsachen, die das Dienstvergehen begründen, die öffentliche Klage im Strafverfahren erhoben ist. Ein Freispruch im Strafverfahren bewirkt, daß wegen der Tatsachen die Gegenstand des strafgerichtlichen Urteils waren, ein Disziplinarverfahren nur eingeleitet oder fortgesetzt werden kann, wenn diese Tatsachen, ohne den Tatbestand eines Strafgesetzes zu erfüllen, ein Dienstvergehen enthalten. Wenn auch im Verhältnis der Kriminal- zur Disziplinarstrafe der Grundsatz „ne bis in idem" nicht gilt, so hat doch die Verhängung einer Strafe durch den Strafrichter zur Folge, daß wegen desselben Sachverhalts disziplinarische Maßnahmen nur in beschränktem Umfang zulässig sind. So sind nach § 14 BDO neben einer Kriminalstrafe vermögensrechtliche Disziplinarstrafen nur zulässig, wenn dies zusätzlich erforderlich ist, um den Beamten zur Erfüllung seiner Pflichten anzuhalten und das Ansehen des Beamtentums zu wahren (vgl. dazu auch § 115 b Bundesrechtsanwaltsordnung i. d. F. des Ges. v. 13. 1. 1969, BGBl. I S. 25). Bei Soldaten ist es nach BVerfGE 21 3 7 8 = NJW 1967 1651 mit dem Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit nicht vereinbar, daß eine strafgerichtliche Verurteilung ohne Berücksichtigung einer vorangegangenen disziplinarischen Bestrafung mit Arrest erfolgt. Ob dieser Grundsatz auch beim Zusammentreffen einer kriminellen Geldstrafe mit einer vermögensrechtlichen Disziplinar-, ehren- oder berufsgerichtlichen Bestrafung gilt, ist streitig (verneinend BVerfG NJW 1970 507 — aber mit 4 gegen 4 Stimmen —; dazu Kreuzer in der Anm. zu dieser Entscheidung). Endlich sind für die Entscheidung im Disziplinarverfahren grundsätzlich die tatsächlichen Feststellungen eines rechtskräftigen strafgerichtlichen Urteils, auf denen dieses beruht, bindend; eine nochmalige Nachprüfung solcher Feststellungen durch das Disziplinargericht findet nur statt, wenn seine Mitglieder mit Stimmenmehrheit deren Richtigkeit bezweifeln (§ 18 BDO).

7. Strafprozeß und Justizverwaltung Als Strafrechtspflege kann man die von den zuständigen Behörden entfaltete Tätigkeit bezeichnen, die — allgemein oder im Einzelfall — darauf gerichtet ist, der Strafrechtsordnung Geltung zu verschaffen und die Rechtsfolgen zu verwirklichen, die das materielle Strafrecht an die Verwirklichung von Straftatbeständen knüpft. Diese Tätigkeit ist entweder Rechtsprechung oder Justizverwaltung. Rechtsprechung i. S. des Art. 92 G G (Rechtsprechung im weiteren Sinn) ist jede von Gerichten oder Richtern in richterlicher Unabhängigkeit entfaltete Rechtspflegetätigkeit. Einen Ausschnitt aus ihr bildet die Rechtsprechung im engeren („materiellen") Sinn, d. h. die dem Richter übertragene Tätigkeit zur Entscheidung eines konkreten Rechtsstreits (vgl. Vorbem. 2 vor § 1 GVG und über den Bereich der Rechtsprechung im weiteren Sinn unten S. 65). Die Rechtsprechung im engeren Sinn umfaßt nicht nur die eigentliche Entscheidung, die das Verfahren der Instanz abschließt, und die im Lauf eines Verfahrens vom Richter zu treffenden Zwischenentscheidungen, sondern auch die der Entscheidung vorausgehende und sie vorbereitende Tätigkeit, die in die Hand des Richters gelegt ist und die in der Aufklärung des Sachverhalts oder in der Ergreifung der Zwangsmaßnahmen zur Ermöglichung oder Sicherung der Durchführung eines Vorverfahrens besteht. Zur Rechtsprechung gehören also auch die Leistung von Rechtshilfe (§§ 156 ff. GVG) und die „richterlichen Untersuchungshandlungen" i. S. des § 162 StPO, um die im Vorverfahren der Staatsanwalt den Amtsrichter ersuchen kann. Hier kommen nicht nur solche Handlungen in Betracht, die nur ein Richter vornehmen kann, wie die eidliche Vernehmung von Zeugen und die Anwendung von Zwangsmitteln oder die uneidliche Vernehmung eines Zeugen, der sich weigert, vor dem Staatsanwalt oder der Polizeibehörde (§§ 161, 163 StPO) zu erscheinen oder aus62

Strafprozeß und Justizverwaltung

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zusagen, sondern auch solche Handlungen, die, wenn es sich nur um die Aufklärung des Sachverhalts handelte, ebensogut der Staatsanwalt selbst vornehmen könnte, die aber eine bestimmte verfahrensfördernde Wirkung nur haben, wenn sie ein Richter vornimmt, wie die Verjährungsunterbrechenden richterlichen Verfolgungshandlungen i. S. des § 68 StGB, die z. B. in der Einforderung von Akten bestehen können. Jede Tätigkeit der an der Strafrechtspflege beteiligten Stellen, die nicht zur Rechtsprechung im engeren oder weiteren Sinn gehört, ist Justizverwaltung. Es gehört hierher die Bereitstellung der sachlichen und personellen Mittel, die allgemein erforderlich sind, um anfallende Strafverfahren durchzuführen, wie die Errichtung und Instandhaltung von Gerichtsgebäuden, die Anstellung der nötigen Zahl von Richtern und Staatsanwälten, die Einrichtung und der Betrieb von Geschäftsstellen usw., oder die im Einzelfall für Zwecke eines bestimmten Verfahrens benötigt werden wie die Zuweisung eines geeigneten Sitzungssaals oder eines Protokollführers (vgl. Anm. 5 zu § 158 GVG). Justizverwaltung ist weiterhin die Ausübung der Dienstaufsicht über Richter, Staatsanwälte und das sonstige Personal der Justizbehörden mit der Folge, daß die nach dem Richtergesetz v. 8 . 9 . 1961 (BGBl. I 1655) errichteten Dienstgerichte für Richter, die in disziplinar- und dienstrechtlichen Angelegenheiten sowie dann zu entscheiden haben, wenn ein Richter von einer Maßnahme der Dienstaufsicht behauptet, daß sie seine richterliche Unabhängigkeit beeinträchtige, materiell Verwaltungsgerichtsbarkeit ausüben (vgl. S c h l e e DRiZ 1961 227). Verwaltungstätigkeit, mithin Justizverwaltung im allgemeinen Sinn, mag auch der Begriff „Justizverwaltung" herkömmlicherweise in einem engeren Sinn gebraucht werden, ist aber auch begrifflich die Tätigkeit des Staatsanwalts (und seiner Hilfsorgane; vgl. dazu BVerfG M D R 1956 313) im Strafverfahren, und zwar sowohl im Vorverfahren wie im Hauptverfahren 35 . Denn der Staatsanwalt übt nicht Rechtsprechung aus; dies ist nur dem Richter vorbehalten (Art. 92 GG); die Beteiligung des Staatsanwalts bei der Ausübung der Rechtsprechung ist mithin Verwaltungstätigkeit, wenn auch Verwaltungstätigkeit eigner Art 3 6 . Daß er dabei — wie der Richter — gesetzesgebunden und im Dienst von Wahrheit und Gerechtigkeit handelt, dem Legalitäts- und nicht dem Opportunitätsprinzip unterstellt ist, begründet keinen Sondercharakter, denn die Ausübung von Verwaltungstätigkeit ist auch außerhalb der Justiz in weitem Umfang gesetzesgebunden und selbst vom Legalitätsgrundsatz beherrscht. Dagegen kommt der Charakter der Tätigkeit des Staatsanwalts deutlich in seiner Weisungsgebundenheit (§ 146 GVG) zum Ausdruck, auch wenn dem Weisungsrecht verhältnismäßig enge Grenzen gesetzt sind. So, wie die Ausübung der Weisungs- und Aufsichtsbefugnis der Vorgesetzten selbst, namentlich des Justizministers, Justizverwaltung ist, ist es auch die weisungsgebundene Tätigkeit der Staatsanwaltschaft.

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Gegen diese rechtliche Einordnung der Tätigkeit des Staatsanwalts im Strafverfahren sind Einwendungen erhoben worden, und zwar hauptsächlich aus Anlaß der Entscheidung des B G H NJW 1960 2346 über die Auswirkung des Bestehens einer festen höchstrichterlichen Rechtsprechung auf die Anklagepflicht des Staatsanwalts (vgl. S. 141) und im Zusammenhang mit der Frage, ob auch die Rechtsstellung des Staatsanwalts im neuen Richtergesetz zu regeln sei (vgl. u . a . Eb. S c h m i d t DRiZ 1957 279; M R K 1964 629, 713; K a i s e r NJW 1961 201; G ö b e l N J W 1961 856; s. auch Vorbem. 5 vor § 141 GVG). Es wird geltend gemacht, daß der Staatsanwalt — in gleicher Weise wie der Richter — zur Erforschung der materiellen Wahrheit und zur Herbeiführung eines gerechten Urteilsspruchs tätig werde, daß seine Art, den Tatsachenstoff zu würdigen und die Rechtslage zu beurteilen, sich in nichts von der richterlichen Betrachtungsweise unterscheide, daß Staatsanwalt und Richter gemeinsam die Erfüllung der staatlichen Justizgewährungspflicht übertragen sei, daß sie zusammengehörende Organe der Strafrechtspflege seien, usw. D a s alles ist gewiß richtig — und § 122 des Richtergesetzes v. 8. 9. 1961 (BGBl. I 1655) beruht auf dem Bestreben, die „Nähe zum Richteramt" beim Staatsanwalt zu betonen (vgl. Bericht des Rechtsausschusses BT-Drucks. Nr. 2785 zu B XI) —, rechtfertigt aber nicht Folgerungen wie die, daß der Staatsanwalt „zur rechtsprechenden Gewalt gehöre" ( G ö b e l aaO.), daß die Funktionen des Staatsanwalts „durchaus richterlicher Art" seien ( K a i s e r aaO.). Der entscheidende Unterschied bleibt, daß der Staatsanwalt nicht Recht spricht und nicht Recht sprechen kann, weil ihm die Unabhängigkeit fehlt, mag auch der Bereich seiner Weisungsgebundenheit noch so eng gezogen werden (a. M. auch A r n d t DRiZ 1961 374). S. hierzu auch OLG Koblenz, JVB1. 61 237 (StA ist Justizbehörde i. S. des § 23 E G G V G ) und A l t e n h a i n D R i Z 1963 8ff. (9).

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Vgl. BVerwG NJW 1961 1496, 1835.

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Kap. 7

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Zur Justizverwaltung gehört weiterhin die Strafvollstreckung und der Vollzug von Freiheitsstrafen und freiheitsentziehenden Maßregeln der Sicherung und Besserung (vgl. Vorbem. 3 vor § 449 StPO), die Leistung von Amtshilfe, soweit die Beistandsleistung nicht in einer richterlichen Handlung, also in einem Rechtsprechungsakt, d. h. in der Gewährung von Rechtshilfe im technischen Sinn (s. oben), besteht (vgl. die Vorbem. vor § 156 GVG), ferner das Strafregisterwesen und schließlich die Ausübung von Gnadenbefugnissen gegenüber rechtskräftigen Strafurteilen (vgl. Vorbem. IV 6 vor § 12 GVG). An Stelle des Ausdrucks „Justizverwaltung" verwendet das Deutsche Richtergesetz den Ausdruck „Gerichtsverwaltung" (§ 4 Abs. 2 Nr. 1). Eine Sinnesänderung ist mit diesem Ausdruckswechsel nicht verbunden; der Wechsel beruht darauf, den in der ordentlichen Gerichtsbarkeit entwickelten Begriff der Justizverwaltung mit gleichem Sinngehalt für alle Gerichtsbarkeitszweige einzuführen (amtl. Begr. zum Entw. des Richterges., BT-Drucks. Nr. 516 zu §4). § 4 EGGVG gestattet es dem Landesrecht, den „betreffenden Landesbehörden" (den Gerichten und Staatsanwaltschaften) „Geschäfte der Justizverwaltung" zu übertragen. Hier ist nur an solche Geschäfte gedacht, die nicht bereits, wie die Tätigkeit der Staatsanwaltschaft im Strafverfahren oder bei der Strafvollstreckung (§ 451 StPO), durch Bundesrecht diesen Behörden zugewiesen sind oder für die nicht das Bundesrecht selbst eine besondere Übertragungsermächtigung vorsieht (vgl. § 451 Abs. 3 StPO, der die Landesjustizverwaltung ermächtigt, den Amtsrichtern in den zur Zuständigkeit der Amtsgerichte gehörenden Sachen die Strafvollstreckung zu übertragen). Übertragungen dieser Art sind vor allem in der Zeit nach Übergang der Justizhoheit der Länder auf das Reich durch die VO zur einheitlichen Regelung der Gerichtsverfassung v. 20.3. 1935 (RGBl. I 403) — vgl. im Anh. in Bd. 2 dieses Werkes — einheitlich für das damalige Reichsgebiet ausgesprochen worden. § 13 aaO. verpflichtet die Präsidenten der Gerichte und aufsichtsführenden Amtsrichter sowie die Leiter der Staatsanwaltschaften zur Erledigung der ihnen von der Ministerialinstanz zugewiesenen Justizverwaltungsgeschäfte und überträgt ihnen das Recht, die ihrer Dienstaufsicht unterstellten Richter und Beamten zu Geschäften der Justizverwaltung heranzuziehen. § 14 aaO. regelt die Zuständigkeit zur Ausübung der Dienstaufsicht. In diesen Rechtszustand hat z . T . das Deutsche Richtergesetz v. 8.9. 1961 ändernd eingegriffen, soweit es sich um die Heranziehung der Gerichte und Richter zu Geschäften der Justiz-(Gerichts-)verwaltung handelt. § 4 spricht zwar aus, daß ein Richter außer Aufgaben der rechtsprechenden Gewalt und anderen aufgrund eines Gesetzes Richtern oder Gerichten zugewiesenen Aufgaben dienstlich auch Aufgaben der Gerichtsverwaltung einschl. Prüfungsangelegenheiten wahrnehmen darf. Eine Verpflichtung zur Erledigung von Aufgaben der Gerichtsverwaltung, zu denen er herangezogen wird, trifft ihn jedoch nach § 42 nur insoweit, als der Umfang dieser Aufgaben den Charakter und den herkömmlichen Rahmen einer Nebentätigkeit nicht überschreitet; bei einem Streit, ob diese Grenze gewahrt ist, entscheidet das Dienstgericht (§ 62 Abs. 1 Nr. 4 d, § 78 Nr. 4 d). Für eine ausschließliche, also hauptamtliche Verwendung in der Gerichtsverwaltung ist jetzt (abweichend von § 13 der vorgenannten VO v. 20. 3. 1935) die Einwilligung des Richters erforderlich. Soweit hiernach Angelegenheiten der Justizverwaltung Gerichten und Richtern übertragen werden, handeln diese nicht unter richterlicher Unabhängigkeit, die sich grundsätzlich nur auf die Rechtsprechungstätigkeit erstreckt, sondern als weisungsgebundene Organe der Justizverwaltung (vgl. insbesondere Anm. 4 a zu §451). Beschwerden gegen ihre Maßnahmen sind also keine Beschwerden i. S. der §§ 304 ff. StPO, über die ein Beschwerdegericht zu entscheiden hätte, sondern werden grundsätzlich ,4m Dienstaufsichtswege" erledigt (§ 17 der VO v. 20. 3. 1935); z. T. ist das Beschwerderecht auch dahin geregelt, daß — neben der stets zulässigen Dienstaufsichtsbeschwerde, also der Beschwerde an die Justizverwaltungsbehörde, die die persönliche Dienstaufsicht über den Richter ausübt — die Beschwerde an die Stelle vorgesehen ist, die den Richter mit sachlichen Weisungen versehen kann (vgl. § 21 der StrVollstrO und über die Konkurrenz der allgemeinen Dienstaufsichtsbeschwerde mit der besonders geregelten Beschwerde an den Fachvorgesetzten bei Beschwerden gegen die Maßnahmen des Amtsrichters als Strafvollstreckungsorgan Anm. 4 zu § 4 5 1 StPO). Zwischen die Rechtsprechung im engeren („materiellen") Sinn, die in der richterlichen Mitwirkung zur Entscheidung eines konkreten Rechtsstreits besteht, und die Justiz-(Ge-

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richts-)Verwaltung schiebt sich als Zwischenfigur die Rechtsprechung im weiteren Sinn ein37. Der Gesetzgeber ist nicht gehindert, auch Aufgaben, die nicht Rechtsprechung im materiellen Sinn sind, dem Richter anzuvertrauen (vgl. BVerfGE21 139,144 = NJW 1967 1123; NJW 1969 1104, 1106). „Hat sich der Gesetzgeber hierzu entschlossen, so muß das Verfahren mit den verfassungsrechtlichen Garantien des gerichtlichen Verfahrens ausgestattet sein. Art. 92 G G garantiert deshalb in jedem vom Gesetzgeber als Rechtsprechung eingeführten Verfahren, auch wenn der Gesetzgeber zur Zuweisung gerade dieser Materie zur rechtsprechenden Gewalt verfassungsrechtlich nicht verpflichtet gewesen wäre, den gesetzlichen und unabhängigen Richter und das rechtsstaatliche Gerichtsverfahren des IX. Abschnitts des GG" (BVerfGE 22 49, 78 = NJW 1967 1219, 1220; BVerfGE 25 336, 346 = NJW 1969 1104, 1106). Dies alles gilt auch, wenn der Gesetzgeber nicht ein Verfahren im ganzen, sondern bestimmte Akte, die nicht in der Mitwirkung bei der Entscheidung eines konkreten Rechtsstreits bestehen, einem Gericht (Richter) als Rechtsprechungsmaßnahme (im weiteren Sinn) zugewiesen hat. Ob ein Gericht (Richter) rechtsprechende Tätigkeit oder Justizverwaltung ausübt, richtet sich demgemäß nicht nach dem sachlichen Gehalt der Tätigkeit, sondern ob die Erledigung in richterlicher Unabhängigkeit oder als weisungsgebundene Maßnahme erfolgt (BVerwG E 5 69). So ist, um den Grundsatz des gesetzlichen Richters (Art. 101 GG) und der richterlichen Unabhängigkeit in voller Reinheit durchzuführen, die personelle Besetzung der Abteilungen des Amtsgerichts, der Kammern und Senate und die Verteilung der Geschäfte auf sie bestimmten aus Richtern bestehenden Kollegien, dem Vorsitzendenkollegium und dem Präsidium übertragen, die ihre Aufgabe unter richterlicher Unabhängigkeit erfüllen (§§ 22 a, 22 b, 22c, 62 ff., 117,131 GVG; § 168 a Abs. 2, § 186 Abs. 1 Satz 2 StPO). Da die Geschäftsverteilung vor Beginn des Geschäftsjahres und für seine Dauer erfolgt, fehlt es hier an der Beziehung dieser Tätigkeit zu einem konkreten Rechtsstreit, vielmehr handelt es sich um einen Akt allgemeiner Vorsorge für anhängige wie für künftig anfallende Verfahren, der materiell — nicht anders als die Schaffung der personellen und sachlichen Voraussetzungen für die Durchführung von Verfahren wie die Anstellung der nötigen Zahl von Richtern, die Bestimmung der erforderlichen Zahl von Kammern und Senaten (vgl. §§ 7, 8 der VO v. 20.3. 1935, § 130 GVG) — Justizverwaltungstätigkeit ist, deren Besonderheit aber darin besteht, daß sie von Richtern unter richterlicher Unabhängigkeit ausgeübt wird. Gleiches gilt für die Bestellung der Vorsitzenden und der übrigen richterlichen Mitglieder des Schwurgerichts durch das Präsidium des Oberlandes- bzw. des Landgerichts (§ 83 GVG). Ähnliche Fälle dieser Art etwa sind die Mitwirkung des Amtsrichters bei der Wahl der Schöffen und Geschworenen (§§ 40 ff., 84 GVG), die Auslosung der Schöffen und Geschworenen für die einzelnen Sitzungen und die Tagungen des Schwurgerichts (§§ 4 5 , 7 7 , 8 6 GVG), die Mitwirkung des Präsidiums bei der Einberufung der Hilfsrichter (§ 70 Abs. 1 GVG), die Bestimmung eines zeitweiligen Vertreters durch den Präsidenten (§ 67 GVG und dazu BGHSt. 21 40, 108). Daß es für die Zuordnung zur Rechtsprechung im weiteren Sinn auf den sachlichen Gehalt der Maßnahme, darauf, ob sie „von Haus aus" zur Rechtsprechung oder zur Justizverwaltung zu rechnen wäre, nicht ankommt, zeigt sich darin, daß mitunter dieselbe Maßnahme teils ,justizförmig", teils rein justizverwaltungsmäßig getroffen wird. So ist z. B. die Bildung (Errichtung) der Kammern und Senate der Kollegialgerichte (nicht ihre Besetzung) Sache der Justizverwaltung (§§ 7, 8 der VO v. 20. 3. 1935, § 130 GVG), während die Bildung von Hilfskammern und -Senaten sowie von Ferienkammern und -Senaten (§ 201 GVG) als eine nur dem Präsidium zustehende Aufgabe der Geschäftsverteilung angesehen wird (BGHSt. 21 260). Maßgeblich ist also nur die positivrechtliche Ausgestaltung der Maßnahme durch den Gesetzgeber. Daß qualitative Unterscheidungen mit Überzeugungskraft nicht möglich sind, zeigt der Wechsel der Gesetzgebung und der Reformarbeiten zu der Frage, ob bestimmte Aufgaben als Rechtsprechungs- oder als Justizverwaltungsaufgaben zu erledigen seien, so z. B. bei der Strafvollstreckung, wie in Anm. II 1 zu § 451 näher ausgeführt ist. Die Strafaussetzung zur Bewährung, der Straferlaß und die Anordnung 37

Ein Teil der hier in Betracht kommenden Fälle gehört zu den früher von Eb. S c h m i d t , Lehrk. I [ 1] Rz 79, 389, 390 im Anschluß an G r ü n h u t , MonSchr. f. KrimPsych. u. Strafrechtsreform 1930, Beiheft 3 S. 17 als ,justizförmige Verwaltungsakte" bezeichnete Tätigkeiten; diese Bezeichnung hat Eb. S c h m i d t , Lehrk. I [2] Rz 4 8 6 inzwischen aufgegeben.

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Einleitung (Schäfer)

der Auskunftsbeschränkung nach §§ 23, 25 a StGB sind daher echte Rechtsprechungsakte, auch wenn es daneben eine Strafaussetzung und einen Straferlaß als Gnadenakt und strafregisterliche Auskunftsbeschränkung im Verwaltungsweg (§ 8 des Straftilgungsges.) gibt und früher nur diese Wege offenstanden. Rechtsprechungsakte sind auch mit Rücksicht auf die Auswirkung auf den veranlassenden Einzelfall trotz ihrer hauptsächlich in die Zukunft weisenden Bedeutung die auf Vorlegung gemäß § 121 Abs. 2 GVG ergehenden Entscheidungen des BGH und die Entscheidungen des Großen Senats in Fragen von grundsätzlicher Bedeutung zur Fortbildung des Rechts nach § 137 GVG. Akte der (reinen) Justizverwaltung können unter Umständen Gegenstand strafgerichtlicher Nachprüfung und damit eines Strafverfahrens im weiteren Sinn sein. Nach Art. 19 Abs. 4 G G steht dem, der durch die öffentliche Gewalt in seinen Rechten verletzt wird, der Rechtsweg offen, und zwar der Rechtsweg zu den ordentlichen Gerichten, soweit nicht die Zuständigkeit eines anderen Gerichtsbarkeitszweiges begründet ist. Nach der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) v. 21. 1. 1960 (BGBl. I 17) können beschwerende Verwaltungsakte grundsätzlich mit der bei den allgemeinen Verwaltungsgerichten zu erhebenden Anfechtungsklage angefochten werden. Die Zuständigkeit der Verwaltungsgerichte ist aber, soweit es sich um beschwerende Justizverwaltungsakte handelt, zugunsten des Rechtswegs zu den ordentlichen Gerichten ausgeschlossen worden durch § 179 VwGO, der dem EGGVG die §§ 23 ff. einfügte. Was die hier allein interessierende Strafrechtspflege anlangt, so entscheiden danach über die Rechtmäßigkeit von Anordnungen, Verfügungen oder sonstigen Maßnahmen, die von den Justizbehörden zur Regelung einzelner Angelegenheiten auf dem Gebiet der Strafrechtspflege getroffen werden, auf Antrag die ordentlichen Gerichte (ein Strafsenat des Oberlandesgerichts, § 25). Das gleiche gilt für Anordnungen usw. der Vollzugsbehörden im Vollzug der Freiheitsstrafen, der Maßregeln der Sicherung und Besserung, des Jugendarrests und der Untersuchungshaft. Der Antrag auf gerichtliche Entscheidung ist nur zulässig, wenn der Antragsteller geltend macht, durch die Maßnahme oder die Ablehnung oder Unterlassung eines von ihm begehrten Verwaltungsakts in seinen Rechten verletzt zu sein. Diese Regelung hat nur subsidiäre Bedeutung; sie gilt nicht, soweit die ordentlichen Gerichte bereits auf Grund anderer Vorschriften angerufen werden können (§ 23 Abs. 3). Das Hauptanwendungsgebiet der §§ 23 ff. auf dem Gebiet der Strafrechtspflege ist die Nachprüfung von Maßnahmen der Vollstreckungsbehörden beim Vollzug von Freiheitsstrafen und sonstigen durch strafgerichtliche Entscheidung angeordneten Freiheitsentziehungen. Der Rechtsweg aus § 458 StPO, der früher über seinen Wortlaut hinaus zur Gewinnung einer gerichtlichen Entscheidung herhalten mußte, steht jetzt nur offen, soweit diese Bestimmung unmittelbar eingreift (BHSt. 19 240; NJW 1964 166,167; h. M.). Wegen der Tragweite des § 23 EG GVG im einzelnen muß auf die Anmerkungen zu dieser Vorschrift im vorliegenden Werk verwiesen werden. Nur beispielshalber sei auf folgendes hingewiesen: Die Tätigkeit des Staatsanwalts im Strafverfahren unterliegt in aller Regel nicht einer Nachprüfung nach §§ 23 ff., da sie bereits durch die Vorschriften der StPO überall da, wo beachtliche Interessen des Beschuldigten oder des Verletzten auf dem Spiel stehen, letztlich einer Rechtskontrolle durch das Strafgericht unterliegt (vgl. dazu OLG Hamm NJW 1969 808). Das gilt insbesondere für die Entschließung des Staatsanwalts, die öffentliche Klage nicht zu erheben (§§ 172 ff. StPO). Ja, man kann geradezu sagen, daß die Vorschriften der StPO sich auf dem Gebiet des Strafverfahrens als abschließende Regelung, als leges speciales gegenüber der lex generalis der §§ 23 ff. EGGVG darstellen. Wenn z. B. § 172 Abs. 2 bestimmt, daß in den dort genannten Fällen das Klageerzwingungsverfahren ausgeschlossen ist, so ist damit zugleich ausgesprochen, daß der unzulässige Antrag auch nicht im Wege des § 23 EGGVG verfolgt werden kann. Ganz allgemein muß § 23 Abs. 3 EGGVG dahin verstanden werden, daß nicht nur die Vorschriften der StPO, die bereits die Möglichkeit einer Anrufung des Gerichts vorsehen, unberührt bleiben, sondern daß auch solche Vorschriften nicht berührt werden, die ausnahmsweise die nach der StPO grundsätzlich zulässige Anrufung ausschließen. Maßnahmen der Strafregisterbehörde im Vollzug des Straftilgungsgesetzes (Beispiel: Ablehnung der Tilgung eines Strafvermerks im Strafregister, wenn der Verurteilte geltend macht, daß ein Straffreiheitsgesetz sich über den Erlaß der Strafe hinaus auf das Strafregister erstrecke), sind Maßnahmen einer Justizbehörde zur Regelung einer einzelnen Angelegenheit auf dem Gebiet der Strafrechtspflege i. S. des § 23 EGGVG, denn das Strafregistei 66

Die Prozeßbeteiligten

Kap. 8

dient in erster Linie Zwecken der Strafrechtspflege (BGHSt. 20 205). Daher findet eine gerichtliche Nachprüfung statt, wenn ein Gesuch des Verurteilten um vorzeitige Tilgung des Strafvermerks oder Auskunftsbeschränkung von dem Bundesjustizminister oder der obersten Landesjustizverwaltung abgelehnt wird (vgl. § 8 des Straftilgungsges.). Dagegen ist die viel umstrittene Frage, ob die Ablehnung eines Gnadengesuchs durch den Inhaber des Gnadenrechts oder die von ihm zur Bescheidung von Gnadengesuchen ermächtigten Stellen der Justizverwaltung einen ,justizlosen" Hoheitsakt darstellt oder der gerichtlichen Nachprüfung unterliegt, die nach § 23 EGGVG zu erfolgen hätte, mit Wirkung für die praktische Handhabung von BVerfGE 25 352 = NJW 1969 1985 (dazu v. P r e u s c h e n NJW 1970 458) im ersteren Sinne beantwortet worden; der Umstand, daß der Beschluß mit 4 gegen 4 Stimmen gefaßt wurde, läßt freilich mit Sicherheit erwarten, daß die wissenschaftliche Diskussion weiter anhält.

8. Die Prozeßbeteiligten In einem Strafverfahren kann eine Vielzahl von Stellen und Personen handelnd auftreten. Das Verfahren kann z. B. durch die Anzeige einer Privatperson, meistens des Verletzten, veranlaßt werden. Die Beziehung des Anzeigers zum Verfahren zeigt sich dann u. a. in der Vorschrift des § 469 StPO. Das Verfahren kann auch durch Stellung eines Strafantrags bedingt sein; dann erlangt der Verletzte sogar Verfügungsmacht über das Verfahren in dem Sinn, daß die zulässige (§ 64 StGB) Zurücknahme des Strafantrags dem Verfahren ein Ende setzt. Der Staatsanwalt, in dessen Hand das Vorverfahren liegt, kann sich bei seinen Ermittlungen der Hilfe der Polizeibehörden bedienen. Der Beschuldigte 38 wird vernommen, Zeugen und Sachverständige werden gehört. Dem Beschuldigten kann ein Verteidiger, ein Beistand (§ 149 StPO, § 69 JGG) oder der Erziehungsberechtigte oder gesetzliche Vertreter (§§ 149 Abs. 2, 298, 365 StPO, § 67 JGG) helfend zur Seite stehen oder für ihn tätig werden. Schon in diesem Stadium kann das Gericht zur Anordnung von Zwang (Haftbefehl usw.) und zur Vornahme einzelner Untersuchungshandlungen (§ 162 StPO) tätig werden. Die Erhebung der öffentlichen Klage durch die Staatsanwaltschaft führt zur „gerichtlichen Untersuchung" (§151 StPO) in Form der Voruntersuchung, des Eröffnungsverfahrens (des sog. Zwischenverfahrens) und des Hauptverfahrens, das mit der Hauptverhandlung abgeschlossen wird; im Stadium der gerichtlichen Untersuchung ist das Gericht „Herr" des Verfahrens. Nach Erhebung der öffentlichen Klage, die er gegebenenfalls erzwingen kann (§§ 172 ff. StPO), kann sich der Verletzte als Nebenkläger dem Verfahren anschließen und neben und unabhängig von dem Staatsanwalt auf den Betrieb des Verfahrens hinwirken; schon im Vorverfahren kann er sich auch durch Geltendmachung seiner gegen den Beschuldigten aus der Straftat erwachsenen zivilrechtlichen Ansprüche am Verfahren beteiligen, ohne freilich dadurch weitere prozessuale Einwirkungsmöglichkeiten zu erlangen (vgl. Anm. 5 zu § 404). In gewissem Umfang können auch andere Stellen und Personen ganz oder zum Teil die sonst der Staatsanwaltschaft übertragenen Aufgaben übernehmen. Im Privatklageverfahren erhebt der Verletzte die Klage und tritt auch für das weitere Verfahren — mit gewissen Einschränkungen — an die Stelle des Staatsanwalts (§ 385 StPO). Bei Steuervergehen kann das Finanzamt mit gleichen Rechten und Pflichten wie die Staatsanwaltschaft das Ermittlungsverfahren selbständig durchführen; es kann den Erlaß eines Strafbefehls und den Antrag auf Einziehung von Gegenständen im objektiven Verfahren stellen und wird im gerichtlichen Verfahren durch Anhörung beteiligt (§§ 421,433,435, 436,440,441 RAbgO). Im Strafverfügungsverfahren bildet der Antrag der Polizeibehörde die prozessuale Grundlage der richterlichen Entscheidung, der Strafverfugung (vgl. Anm 4 zu § 413). Weiterhin können am Verfahren beteiligt sein dritte Personen, die durch eine Beschlagnahme von Gegenständen zu Beweiszwecken betroffen sind (§111 StPO), oder die Rechte an dem Gegenstand besitzen, dessen Einziehung, Vernichtung, Unbrauchbarmachung oder Verfall38

Zur Frage, wann ein Ermittlungsverfahren die Beschuldigteneigenschaft einer in die Ermittlungen einbezogenen Person beginnt, vgl. v o n G e r l a c h NJW 1969 776.

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Kap. 8

Einleitung (Schäfer)

erklärung in Frage steht (§§431 ff. StPO); entsprechend liegt es, wenn bei einem Preisvergehen auf einen Mehrerlös, der zur Staatskasse abgeführt werden soll, ein Dritter Ansprüche erhebt (§§ 8 ff. des Wirtschaftsstrafges.). Endlich werden im Strafverfahren neben dem Staatsanwalt und dem Gericht noch andere Justizorgane tätig, so die Geschäftsstelle des Gerichts und vor allem der Urkundsbeamte der Geschäftsstelle (§§ 168, 187, 226 StPO); doch kann man diese in Nebenrollen Mitwirkenden nicht mehr als Prozeßbeteiligte bezeichnen. Unter diesen am Prozeß Beteiligten ragen, sobald es zum Hauptverfahren oder, wo dem Hauptverfahren die formliche Erhebung einer Klage vorausgeht, zur Erhebung der Klage gekommen ist, drei Beteiligte hervor, ohne die nach der heutigen Gestaltung des Verfahrensrechts begrifflich von einem Prozeß überhaupt nicht gesprochen werden könnte, nämlich das Gericht, der Kläger und der Beschuldigte. Ihre besondere Eigenart beruht darin, daß ihnen die Rechtsmacht verliehen ist, aktiv gestaltend auf die Bereitung des Bildes von dem Lebensvorgang einzuwirken, der den Gegenstand der Anklage und der Entscheidung bildet. Für das Gericht ergibt sich Recht und Pflicht zu solcher Tätigkeit aus der Wahrheitserforschungspflicht (§ 244 Abs. 2); die Rechtsmacht von Kläger und Beschuldigtem zeigt sich vornehmlich in der Möglichkeit, durch Beweisanträge, denen das Gericht grundsätzlich entsprechen muß (§ 244 Abs. 3), bestimmend auf den Umfang der Beweisaufnahme einzuwirken, wobei Kläger und Beschuldigter jeweils in der Absicht handeln, dem Gericht ein Bild zu vermitteln, das zu dem von ihnen gewünschten und erstrebten Urteil führt. Durch diese Zweckrichtung des prozessualen Verhaltens unterscheidet sich das Handeln von Kläger und Beschuldigtem grundsätzlich von demVerhalten der Zeugen und Sachverständigen im Prozeß: auch sie wirken durch ihre Aussagen und Gutachten auf die Bildung der richterlichen Überzeugung ein. aber ihre Aufgabe besteht nur in der objektiven, wahrheitsgetreuen Übermittlung ihres Wissens, ohne eine subjektive Zielrichtung ( P e t e r s [2] S. 89, H e n k e l [2] S. 117). Daran ändert sich auch nichts, wenn der Zeuge zulässigerweise die Aussage verweigert, um nicht durch Bekundung der Wahrheit den Beschuldigten zu belasten; denn nicht zu dem Zweck, auf die Urteilsfindung einzuwirken, ist dem Zeugen das Verweigerungsrecht eingeräumt, sondern in Würdigung seiner eigenen Konfliktslage, die ihm eine wahrheitsgemäße Aussage unzumutbar machen kann. Zeugen und Sachverständige sind daher grundsätzlich nicht Prozeßbeteiligte im engeren Sinn, sie sind es nur in einem Nebenstreit, in dem über Ungehorsamsfolgen und Zeugnisverweigerungsrecht entschieden wird. Die tragende Rolle, die Gericht, Kläger und Beschuldigter im Verfahren spielen, rechtfertigt es, sie als Prozeßsubjekte zu b e z e i c h n e n ( E b S c h m i d t , L e h r k o m m e n . I [ 2 ] R z 7 6 , P e t e r s [2] S. 89), und gerade die Erhöhung des Beschuldigten vom Untersuchungsobjekt zum Prozeßsubjekt ist das Kennzeichen des modernen Prozesses, die Verbesserung seiner Rechtsstellung durch Erweiterung der Rechtsgarantien und prozessualer Befugnisse im Interesse seiner Verteidigung das Bestreben aller Reformarbeiten. Aber wenn auch Kläger und Beschuldigter gleichermaßen Prozeßsubjekte und in gewissem Umfang auch „gleichberechtigt" sind, so kann doch — jedenfalls im Offizialverfahren — keine Rede davon sein, daß sich im Strafprozeß Staatsanwalt und Beschuldigter als Parteien gegenüberstünden. Zunächst besteht der wesensbedingte Unterschied, daß der Beschuldigte Eingriffen in seine Rechtssphäre (Untersuchungshaft usw.) unterliegt, die den Staatsanwalt nicht treffen können. Im übrigen bleibt bei allen Bestrebungen des Gesetzgebers, die Rechtsstellung des Beschuldigten zu verbessern und den Organen, die den Staat bei der Verbrechensverfolgung repräsentieren, beim Einsatz der staatlichen Machtmittel Beschränkungen aufzuerlegen (oben S. 49), doch bestehen, daß Staatsanwalt und Beschuldigter gänzlich verschiedene Zwecke verfolgen. Der Ankläger vertritt den Staat, der im Interesse des Gemeinwohls Ahndung des Bruchs der staatlichen Rechtsordnung begehrt. Der Staatsanwalt hat kraft seiner Amtspflicht für Wahrheit und Gerechtigkeit einzutreten; ihm obliegt die Ermittlung entlastender Umstände; er darf einen Schuldspruch nur beantragen (§ 258 StPO), wenn er von der Schuld des Angeklagten überzeugt ist; er kann auch zugunsten des Beschuldigten Rechtsmittel einlegen, und nach Arndt DRiZ 1959 368 kann er sogar „einem Treuhänder gleich" auch Verfassungsbeschwerde für einen Angeklagten erheben. Bei dem Beschuldigten dagegen achtet der Gesetzgeber, daß er, einem natürlichen Drange folgend, selbst dann bemüht sein wird, möglichst glimpflich aus dem Verfahren herauszukommen, wenn er sich schuldig fühlt. Ihn trifft keine Pflicht, für die Feststellung der Wahr68

Die Prozeßhandlungen

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heit tätig zu werden. Er darf nicht nur untätig bleiben und durch Aussageverweigerung jede Mitwirkung an der Aufklärung des Sachverhalts ablehnen, er darf auch leugnen (auf die Frage, ob für ihn eine Wahrheitspflicht ohne Wahrheitszwang besteht, ist hier nicht einzugehen), und es dürfen daraus allein grundsätzlich auch bei der Strafzumessung keine nachteiligen Folgerungen gezogen werden. Ergänzend darf auf Vorbem. 5 vor § 141 GVG verwiesen werden. Wie der Kläger ist auch der Nebenkläger Prozeßsubjekt. Der Verteidiger dagegen ist grundsätzlich nicht Prozeßsubjekt, sondern als Beistand des Beschuldigten (vgl. Vorbem. 3 vor § 137) Prozeßsubjektsgehilfe (so B e l i n g und E b S c h m i d t Lehrk. I [2] Rz. 79). Freilich ist der Verteidiger ein „Gehilfe" besonderer Art. Denn seine besondere Aufgabe im Strafprozeß, dem Schutz des Beschuldigten zu dienen, zur Beachtung aller ihm günstigen Tatsachen beizutragen und dadurch zur Findung eines gerechten Urteils mitzuwirken, hat er unter eigner Verantwortung und unabhängig vom Beschuldigten zu erfüllen (BGHSt. 13 343), unabhängig auch von Einflüssen außerhalb des Verfahrens stehender Stellen (BGH NJW 1961 614). Wille und Weisung des Beschuldigten binden den Verteidiger nur beschränkt (vgl. Vorbem. 3 b vor § 137). Auch gehen einerseits seine verfahrensrechtlichen Rechte z. T. über die des Beschuldigten hinaus (vgl. insbes. §§ 147, 239 StPO), und andererseits setzen die Standespflichten und die Stellung als Organ der Rechtspflege (§ 1 BRAO) seinem Verhalten Grenzen, die für den Beschuldigten nicht gelten (vgl. Vorbem. 3d vor § 137). So darf er z. B. nicht, der ihm bekannten Wahrheit zuwider, das Leugnen des Angeklagten unterstützen, wohl aber darf er auch bei Kenntnis der Schuld den Freispruch seines Mandanten anstreben, solange er sich auf verfahrensrechtlich erlaubte Mittel beschränkt und sich jeder Verdunkelung des Sachverhalts enthält (vgl RGSt. 70 393; BGHSt. 2 375; BGH MDR 1958 48). Ausnahmsweise, nämlich wo das Gesetz es ausdrücklich zuläßt, kann der Verteidiger den abwesenden Beschuldigten in der Hauptverhandlung vertreten (vgl. §§ 234, 329, 350, 387, 411,413 StPO) und bedarf dazu sowieso auch sonst zur Ausübung von Antragsrechten des Beschuldigten in dessen Namen einer Vertretungsvollmacht (so die h. M.; vgl. z.B. BGHSt. 12 367 = JZ 1959 780; a. M. S p e n d e l JZ 1959 736, wonach der Verteidiger Vertreter des Beschuldigten und der weitgehend feststehende Umfang seiner Vollmacht nur in bestimmten Fällen erweiterungfähig oder beschränkbar ist). Über die Merkmale, die die Prozeßsubjekte aufweisen müssen, ist an dieser Stelle nicht weiter zu sprechen. Sie werden im Zusammenhang mit den Prozeßvoraussetzungen und den Prozeßhandlungen zu erörtern sein.

9. Die Prozeßhandlungen 1. Begriff und Einteilung der Prozeßhandlungen. Prozeßhandlungen sind die Handlungen der Prozeßbeteiligten, die auf die Gestaltung des Verfahrens, letztlich auf die Herbeiführung des erstrebten Prozeßausgangs gerichtet sind, die ZPO von Prozeßhandlungen spricht (vgl. z. B. § 295), kennt die StPO einen entsprechenden terminus technicus nicht. Die Ergebnisse der wissenschaftlichen Bemühungen und die Durchdringung des Begriffs der Prozeßhandlung, die vom Zivilprozeß her ihren Ausgang nahmen 39 , erweisen sich auch für die Erkenntnis des strafprozessualen Begriffs als fruchtbar, sofern man sich die Grenzen einer Übertragung vor Augen hält, die sich aus dem grundsätzlichen Unterschied zwischen Zivilprozeß und Strafprozeß ergeben. Ein entscheidender Unterschied liegt z. B. darin, daß es im Strafprozeß Prozeßhandlungen mit Doppelnatur, die, wie Prozeßvergleich, Anerkenntnis, Verzicht oder Aufrechnung, zugleich sachlichrechtliche Rechtsgeschäfte und verfahrensrechtlich wirkende Handlungen sind, nicht geben kann; 39

Grundlegend G o l d s c h m i d t , Prozeß als Rechtslage. Aus dem neueren Schrifttum vgl. etwa B a u m g ä r t e l , Wesen und Begriff der Prozeßhandlung einer Partei im Zivilprozeß, 1957, R. B r u n s , Der Begriff der Parteiprozeßhandlung JZ 1959 204; R o e d e r , Die BegrifFsmerkmale des Urteils im Strafverfahren, ZStrW 79 (1967) 251, 258.

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Einleitung (Schäfer)

der Begriff der Prozeßhandlung beschränkt sich hier auf das verfahrensgestaltende Verhalten, dessen Voraussetzungen und Wirkungen vom Prozeßrecht geregelt sind. Die Erforschung der materiellen Wahrheit schließt auch Prozeßhandlungen aus, die, wie das gerichtliche Geständnis im Zivilprozeß (§§ 288 ff. ZPO), sich als prozessuale Erklärung des Einverständnisses mit ungeprüfter Verwertung von vorgetragenen Tatsachen darstellen; das Geständnis im Strafverfahren löst keine derartigen verfahrensrechtlichen Folgen aus. Es kann demgemäß auch nur verwirren, wenn in der älteren Literatur bei Prozeßhandlungen, die eine Rechtsfolge im Strafprozeß willensgemäß auslösen, in Anknüpfung an den spezifisch bürgerlichrechtlichen Rechtsbegriff des Rechtsgeschäfts von „strafprozeßrechtlichen Rechtsgeschäften" gesprochen wird ( E b S c h m i d t Lehrkomm. I [2] Rz 204ff.). Im einzelnen herrscht über die Abgrenzung des Begriffs der Prozeßhandlung Streit. Die am weitesten gehende Auffassung (so z. B. _Beling 162ff.) will jedes prozeßbedeutsame Verhalten, auch reine Tatakte (z. B. das Öffnen der Türen des Gerichtssaals durch den Justizwachtmeister zur Herstellung der Öffentlichkeit) einschließen, die wohl engste ( K e r n 85) nur solche Erklärungen erfassen, die eine Rechtsfolge im Prozeß willensgemäß auslösen, die also den Prozeß dem erklärten Willen gemäß weiter fördern sollen. Aber die Ausdehnung auf Handlungen nur nebensächlich am Prozeß Beteiligter erscheint zu weit, die Beschränkung auf Rechtsfolgen auslösende Willensäußerungen zu eng. Bei den Mittelmeinungen besteht insbesondere Streit, ob auch Aussagen und Bekundungen (des Beschuldigten, des Zeugen oder Sachverständigen) Prozeßhandlungen sind. Zeugen und Sachverständige sind indessen im allgemeinen keine Prozeßbeteiligten (oben S. 68), ihre Aussagen, da sie nicht willensmäßig auf Gestaltung des Verfahrens gerichtet sind, keine Prozeßhandlungen (ebenso E b S c h m i d t Lehrk. I [2] Rz 202 Fußn. 358). Dagegen ist (gegen P e t e r s [2] 211) der Aussage des Beschuldigten die Eigenschaft einer Prozeßhandlüng nicht abzusprechen (ebenso E b S c h m i d t aaO). Sein Verhalten wirkt willensgemäß auf die Bildung der richterlichen Uberzeugung ein. Namentlich da, wo es sich um Vorgänge im Innern des Beschuldigten handelt, die in weitem Umfang einer Klärung durch eine förmliche Beweisaufnahme unzugänglich sind, ist es oft die „nicht zu widerlegende Einlassung" des Angeklagten, von der das Gericht bei der Urteilsfindung ausgehen muß. Und da ja der Angeklagte keiner Wahrheitspflicht unterliegt, handelt es sich um mehr als „die bloße Klärung des Sachverhalts": es liegt — man denke z. B. an eindrucksvolle Unschuldsbeteuerungen — eine prozeßordnungsmäßig zulässige psychische Einwirkung auf den Richter mit dem Ziel eines dem Angeklagten günstigen Urteils vor. Qualitativ unterscheidet sich die Vernehmung zur Sache (§ 243 Abs. 3) schwerlich von den Ausführungen und Anträgen des Angeklagten nach Schluß der Beweisaufnahme (§ 258 Abs. 1), die doch zweifellos Prozeßhandlungen sind. Einen breiten Raum bei den Erörterungen in der Wissenschaft nimmt die Frage nach der Gruppierung der Prozeßhandlungen ein. Man kann sie mit S a u e r (Allg. Prozeßl. § 9 III 2, Gründl. S. 187 ff.) nach der Nähe zum Prozeßziel in solche einteilen, die das Verfahren, die Verfolgung und die Sachgestaltung betreffen (s. S. 52), doch läßt sich diese Einteilung angesichts des Vor- und Rückwärtsschreitens des Verfahrens und des Ineinandergreifens der einzelnen Verfahrensstadien und -abschnitte nur mit Schwierigkeiten durchführen. Andere Einteilungen nehmen den Ausgang von Prozeßsubjekten (Handlungen des Gerichts auf der einen, des Klägers und des Beschuldigten auf der anderen Seite oder hoheitliche Maßnahmen des Gerichts und des öffentlichen Klägers auf der einen und nichthoheitliche (private) des Beschuldigten), vom Inhalt (Erklärungen und Realakte) oder von der Bedeutung der Handlung für das Verfahren (prozeßtragende Handlungen wie Strafantrag, Klage, Eröffnungsbeschluß, Urteil, Rechtsmitteleinlegung und schlichte Prozeßhandlungen, wie Beweisanträge) usw. Eine Auseinandersetzung mit diesen Lehren liegt nicht im Rahmen der vorliegenden Einleitung. Die folgende Darstellung geht von der Unterscheidung von Handlungen des Klägers und des Beschuldigten gegenüber denjenigen des Gerichts aus und schließt sich, soweit es sich um die erstere Gruppe handelt, der von G o l d s c h m i d t (Prozeß als Rechtslage S. 364 ff.) erarbeiteten, im Schrifttum weitgehend anerkannten grundsätzlichen Einteilung der Prozeßhandlungen in Erwirkungs- und Bewirkungshandlungen an. Erwirkungshandlungen sind danach Handlungen, die dazu bestimmt sind, durch psychische Einwirkung auf den Richter eine Entscheidung bestimmten Inhalts herbeizuführen; Bewirkungshandlungen sind alle Prozeßhandlungen des Klägers oder des Beschuldigten, die nicht Erwirkungshandlungen sind und in Erklärungen oder Realakten bestehen können.

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Die Prozeßhandlungen

Kap. 9 2

Die Frage, ob die Bewirkungshandlungen, soweit sie in Erklärungen bestehen, einer weiteren Differenzierung (etwa in Willenserklärungen, Willens- und Vorstellungsmitteilungen — so G o l d s c h m i d t a. a. O. 457ff. — oder in Willenserklärungen, Wollenserklärungen und Wissenserklärungen — so P e t e r s 2 1 6 — ) zugänglich sind, soll hier unerörtert bleiben 40 , da sich keine praktischen Folgerungen daran knüpfen. Erwirkungshandlungen sind hauptsächlich die Anträge. Sie enthalten das Begehren an das Gericht, eine Entscheidung bestimmten Inhalts zu erlassen, wobei Sachanträge auf die Gestaltung des Urteilsinhalts, Prozeßanträge auf das Verfahren betreffende Entscheidungen abzielen. Eine Erwirkungshandlung ist auch die Einlegung eines Rechtsmittels (OLG Köln NJW 1957 641), denn darin liegt stets der Antrag auf Abänderung der angefochtenen Entscheidung. Zu den Bewirkungshandlungen gehören insbesondere rechtsgestaltende Erklärungen, also Erklärungen, die mit sofortiger Wirkung die prozessuale Rechtslage entsprechend ihrem Inhalt gestalten, wie der Verzicht auf Rechtsmittel und die Zurücknahme eines Rechtsmittels, die den Eintritt der (mindestens relativen) Rechtskraft der Entscheidung zur Folge haben. Bei einzelnen Prozeßhandlungen besteht über ihre Zuordnung zu den Bewirkungs- oder den Erwirkungshandlungen Streit, so etwa bei der Anschlußerklärung des Nebenklägers, die E b S c h m i d t Anm. 11 zu § 396 und, ihm folgend, OLG Köln NJW 1960 306 — gegen die h. M. — zu den Bewirkungshandlungen rechnen. Die Prozeßhandlungen des Gerichts zerfallen in die das Verfahren abschließenden Entscheidungen, also in erster Linie die Urteile, und in die vorangehenden, auf die Gewinnung der abschließenden Entscheidung gerichteten Maßnahmen, die unter den Oberbegriff der Prozeßleitung gebracht werden können und ihrerseits in Entscheidungen (Beschlüssen und Verfügungen) oder Realakten (Durchführung der Beweisaufnahme, Entgegennahme 41 von Anträgen und Erklärungen von Kläger und Beschuldigtem usw.) bestehen können. Die Entscheidungen können Sach- oder Prozeßentscheidungen sein 42 . Als doppelfunktionelle Prozeßhandlungen (vgl. N i e s e , Doppelfunktionelle Prozeßhandlungen, 1950) werden Prozeßhandlungen bezeichnet, die Wirkungen sowohl verfahrensrechtlicher wie materiellrechtlicher Art entfalten. So sichert z. B. der Haftbefehl die Durchführung des Verfahrens, indem er ausschließt, daß dem Verfahren das Prozeßhindernis der Abwesenheit des Beschuldigten entgegenstehen könnte; gleichzeitig schafft er materiellrechtlich einen Rechtfertigungsgrund für den Eingriff in die Freiheit des Beschuldigten. Oder es schließt das auf Freiheitsstrafe lautende Urteil das Verfahren ab und legt zugleich dem Verurteilten die Pflicht auf, den Vollzug des Urteils zu erdulden, und bildet damit einen Rechtfertigungsgrund für das Vorgehen der Vollstreckungs- und Vollzugsorgane. 2. Weitung der Prozeßhandlungen. Für die Vornahme von Prozeßhandlungen stellt das Verfahrensrecht bestimmte, im Einzelfall verschiedene Voraussetzungen auf. Es fragt sich, welche Bedeutung einer Prozeßhandlung für das Verfahren zukommt, wenn die vorgeschriebenen Voraussetzungen nicht vorliegen43. Im Anschluß an die (freilich umstrittene) Lehre von S a u e r lassen sich vier prozessuale Wertkategorien unterscheiden: Gültigkeit, Wirksamkeit, Zulässigkeit und Begründetheit, die aber nicht bei jeder Prozeßhandlung durchführbar sind. Erwirkungshandlungen unterliegen vorzugsweise einer Wertung unter den Gesichtspunkten der Zulässigkeit und der Begründetheit. Zulässigkeit bedeutet, daß die verfahrens40

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42 43

Vgl. dazu Eb. S c h m i d t Lehrkomm. I [2] Nr. 220: „Eine erschöpfende Aufzählung der Bewirkungshandlungen ist weder möglich noch nötig, wie auch Einteilung und Gruppierung kein wissenschaftliches Problem darstellen". Prozeßhandlungen der „Parteien" sind grundsätzlich, soweit das Gesetz nichts Abweichendes bestimmt, gegenüber der Stelle vorzunehmen, die „Herr" des maßgeblichen Verfahrensabschnitts ist; ein Verzicht auf das Privatklagerecht müßte also gegenüber dem für die Erhebung der Privatklage zuständigen Gericht ausgesprochen werden (vgl. H ä r t u n g N J W 1961 523). Vgl. dazu P e t e r s , Die Parallelität von Prozeß- und Sachentscheidungen, ZStrW 68 (1956) 374 ff. kommt es im inländischen Verfahren auf die Frage der Wirksamkeit eines im Ausland erfolgten Verfahrensaktes an, z. B. ob eine rechtskräftige gerichtliche Entscheidung vorliegt (vgl. § 6 0 Abs. 3 StGB), so entscheidet nach dem Grundsatz ,Jocus regit actum" darüber das Recht des Staates, in dessen Hoheitsbereich er vorgenommen wurde (BGHSt. 2 0 198,201).

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Einleitung (Schäfer) Kap. 9 2 rechtlichen Voraussetzungen gegeben sein müssen, bevor der Richter, an den sie sich wenden, Veranlassung hat, sich mit ihrer inhaltlichen Bedeutung für das erstrebte Prozeßziel (mit ihrer Begründetheit) zu befassen. So ist das nicht frist- und formgerecht eingelegte Rechtsmittel unzulässig, und die Unzulässigkeit hindert das Gericht, sich mit der Begründetheit des Rechtsmittels, mit der Berechtigung des Verlangens, die angefochtene Entscheidung zu ändern, überhaupt zu befassen (s. dazu unten S. 82). Streitig ist, ob — ausnahmsweise — Erwirkungshandlungen unter den Gesichtspunkten der Gültigkeit und Wirksamkeit gewertet werden können, wobei Ungültigkeit bedeutet, daß der Handlung wegen Fehlens der wesentlichen Merkmale jede Beachtlichkeit fehlt, während Unwirksamkeit vorliegt, wenn der Handlung eine Wirkung im Sinne der Herbeiführung einer neuen Verfahrenslage abgeht. Die Frage ist zu bejahen. So läge etwa Ungültigkeit vor, wenn der Beweisantrag eines Geisteskranken offensichtlich unsinnig ist (ebenso P e t e r s [2] 219). Im allgemeinen aber sind Erwirkungshandlungen gültig, d. h. der Richter darf sie nicht ohne weiteres unbeachtet lassen, sondern muß sie bescheiden (vgl. § 244 Abs. 6). Anders als im Zivilprozeß ist ein besonderes Rechtsschutzbedürfnis keine Zuverlässigkeitsvoraussetzung der strafprozessualen Erwirkungshandlung (vgl. S t e p h a n NJW 1966 2394). Diese kann aber „überholt" sein, wenn sich der Prozeß zu einer Verfahrenslage fortentwickelt hat, die für die erstrebte gerichtliche Entscheidung keinen Raum mehr bietet. Das Problem der überholten Prozeßhandlung taucht insbesondere auf, wenn sich die Beschwerde gegen die Vornahme eines gerichtlichen Aktes richtet, der im Zeitpunkt der Entscheidung bereits vollzogen ist. In solchen Fällen ist — was für die Kostenentscheidung von Bedeutung ist — zu unterscheiden: konnte mit der Beschwerde schon im Zeitpunkt ihrer Einlegung ein prozessualer Erfolg nicht mehr erreicht werden, so ist sie unzulässig; tritt aber der erledigende Umstand erst nach ihrer Einlegung ein, so wird sie gegenstandslos, ohne daß die deklaratorische Feststellung des Gerichts, sie sei „erledigt" oder „gegenstandslos geworden", mit einer Kostenbelastung des Beschwerdeführers verbunden wäre (vgl. E b S c h m i d t JZ 1968 354, 362f.). Bei Bewirkungshandlungen dagegen kommt vorzugsweise eine Wertung unter den Gesichtpunkten der Gültigkeit und Wirksamkeit in Betracht. So ist etwa ungültig die Rechtsmittelzurücknahme, die der Angeklagte im Zustand der Verhandlungsunfähigkeit — im Fieberdelirium, in einem epileptischen Anfall — oder unter Zwang (s. unten S. 75) erklärt, unwirksam dagegen die Rechtsmittelzurücknahme durch den Verteidiger ohne ausdrückliche Ermächtigung des Angeklagten (§ 302 Abs. 2). Was die Prozeßhandlungen des Gerichts anlangt, so unterliegen die Sachleitungsmaßnahmen des Vorsitzenden einer Bewertung unter dem Gesichtspunkt der Zulässigkeit; nach § 238 Abs. 2 entscheidet das Gericht, wenn eine Sachleitungsmaßnahme von einem Verhandlungsbeteiligten als unzulässig beanstandet wird. Auch gerichtliche Entscheidungen können wegen Fehlens der verfahrensrechtlichen Voraussetzungen unzulässig sein. So ist z. B. der Erlaß eines Sachurteils unzulässig, wenn ein Verfahrenshindernis einer sachlichen Entscheidung entgegensteht (vgl. S. 79). Der Fehler hat aber keine weitergehende Bedeutung, als wenn das Urteil aus anderen Gründen — wegen falscher tatsächlicher Feststellungen oder wegen Verstoßes gegen das sachliche oder Verfahrensrecht — unrichtig ist, d. h. die Unrichtigkeit kann nur durch Anfechtung mit den allgemein zulässigen Mitteln geltend gemacht werden, und der Mangel wird bedeutungslos, wenn das Urteil rechtskräftig wird. Die Wertkategorien der Ungültigkeit und Unwirksamkeit (Unbeachtlichkeit) scheiden also grundsätzlich beim Urteil aus. Ob es davon in extremen Fällen Ausnahmen gibt, wird an anderer Stelle (S. 184) zu erörtern sein. Entsprechendes gilt auch für andere gerichtliche, insbesondere für die von dem Urteil vorangehenden Entscheidungen. So ist auch ein mit schweren Mängeln behafteter Eröffnungsbeschluß (vgl. S. 93) nicht unbeachtlich (wirkungslos), sondern führt zur Eröffnung des Hauptverfahrens. Wird der Mangel während des Hauptverfahrens bemerkt und kann er nicht nachträglich behoben werden, so ist das Verfahren formlich einzustellen; bleibt er aber unbemerkt und ergeht ein Sachurteil, so liegt wieder der zuvor erörterte Fall vor, daß zulässigerweise ein Urteil gefallt ist, das wegen des Fehlens einer Verfahrensvoraussetzung (der ordnungsmäßigen Eröffnung) nicht hätte ergehen dürfen. Bei den gerichtlichen Entscheidungen, die nicht einem Urteil vorangehen, insbesondere bei denjenigen, die nach einem Urteil ergehen, entfallt zwar der bei den dem Urteil voran72

Die Prozeßhandlungen

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gehenden Entscheidungen für die Beachtlichkeit trotz fehlender rechtlicher Voraussetzungen angeführte Gesichtspunkt, daß der Fehler nur durch Anfechtung des Urteils geltend gemacht werden kann und die Rechtskraft des Urteils den Mangel heilt. Aber auch bei ihnen verlangt die Rechtssicherheit und das öffentliche Vertrauen in die Beständigkeit eines Richterspruchs, daß sie trotz wesentlicher Mängel grundsätzlich nicht unbeachtlich sind. Soweit sie mit der Beschwerde anfechtbar sind, ergibt sich daraus, daß dies nach der Auffassung des Gesetzgebers der (einzige) Weg ist, die Mangelhaftigkeit geltend zu machen, so daß die formelle Rechtskraft der Entscheidung den Mangel bedeutungslos macht. Soweit Entscheidungen aber nach gesetzlicher Vorschrift einer Anfechtung entzogen sind, folgt daraus die Absicht des Gesetzes, daß ihre „Richtigkeit" nicht mehr in Zweifel gezogen werden soll; das muß dazu führen, daß solche Entscheidungen, auch wenn sie von einem funktionell unzuständigen Gericht erlassen sind, unanfechtbar und wirksam sind (vgl. RGSt. 40 273: Gewährung der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Revisioneinlegungsfrist durch die Strafkammer statt durch das allein zuständige Revisionsgericht). Die Frage, ob bei besonders krassen Verstößen Ausnahmen denkbar sind, gehört auch hier zum Problem der nichtigen Entscheidung, das an anderer Stelle (S. 184) gesondert erörtert wird. Zu beachten ist aber, daß auch nicht anfechtbare oder unanfechtbar gewordene Beschlüsse in gewissem Umfang nachträglich geändert werden können und insoweit nur eine beschränkte materielle Rechtskraft haben (vgl. z. B. § 25 a Abs. 2 StGB, §§ 33 a, 311 a, 211 StPO). 3. Widerruflichkeit von Prozeßhandlungen. Eine Reihe von Prozeßhandlungen sind nach ausdrücklicher Vorschrift oder nach der Natur der Sache unwiderruflich (nicht mehr zurücknehmbar und nicht mehr oder — bei Entscheidungen — nur auf Rechtsmittel oder Rechtsbehelfe hin abänderbar) oder nur zeitlich oder in anderer Weise beschränkt widerruflich. Einschränkende Vorschriften gelten z. B. für die Zurücknahme des Strafantrags (§ 64 StGB), der Klage (§§ 156, 411 StPO), des Einspruchs gegen Strafbefehl oder Strafverfügung (§§411,413) und des Rechtsmittels (§ 303). Unwiderruflich sind namentlich Urteile und urteilsähnliche Entscheidungen wie Strafbefehl, Strafverfügung und der die Revision als offensichtlich unbegründet verwerfende Beschluß des Revisionsgerichts nach § 349 Abs. 2 (BGH NJW 1955 1966; BGHSt. 17 94, 97), sowie im Hinblick auf § 311 Abs. 3 Satz 1 (s. aber auch Satz 2) die mit sofortiger Beschwerde anfechtbaren Entscheidungen, ferner der Eröffnungsbeschluß wegen seiner verfahrenstragenden Bedeutung, sowie Rechtsmittelverzicht und Rechtsmittelzurücknahme, die die Rechtskraft herbeiführen (BGHSt. 10 247). Unwiderruflich ist auch z. B., weil die Rechtslage unmittelbar konstitutiv geändert wird, die Gewährung der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (§ 46 Abs. 2); nur beschränkt widerruflich sind Straferlaß sowie Anordnung der Auskunftsbeschränkung nach Ablauf der Bewährungsfrist (§ 25 a Abs. 2 StGB). Im übrigen sind Anträge und Behauptungen von Kläger und Beschuldigtem grundsätzlich widerruflich und änderbar, soweit nicht der Prozeßabschnitt, in dem die Prozeßhandlung erfolgte, durch den weiteren Prozeßablauf endgültig abgeschlossen ist; so kann nach Ablauf der Revisionsbegründung eine zunächst form- und fristgerecht begründete Verfahrensrüge nicht zurückgenommen und durch eine andere zu derselben Verfahrensvorschrift ersetzt werden (BGHSt. 17 338). Das gleiche gilt für gerichtliche Beschlüsse, die mit einfacher oder einfacher weiterer Beschwerde anfechtbar sind, da sie — anders als die mit sofortiger Beschwerde anfechtbaren - nicht in (formelle) Rechtskraft erwachsen (RGSt. 43 229; BGHSt. 8 194; OLG Bremen NJW 1951 854). Hier ist das Gericht des ersten Rechtszugs auch dann abänderungsbefugt, wenn keine Beschwerde eingelegt ist. Ob auch das Beschwerdegericht, wenn weitere Beschwerde nicht zulässig ist, seine Entscheidung auf Gegenvorstellung abändern darf, ist streitig (vgl. W o e s n e r NJW 1960 2129). Auch ist, wo die Anfechtbarkeit mit sofortiger Beschwerde eine Änderung der Entscheidung ausschließt (§311 Abs. 3), das Gericht nicht gehindert, bei erneuter Befassung mit der Sache (z. B. bei Wiederholung eines abgelehnten Antrags) einer Änderung der Sachlage Rechnung zu tragen. Im Einzelfall können Zweifel bestehen, wo die Grenze der Widerruflichkeit (Abänderbarkeit) verläuft. So ist z. B. strittig, inwieweit ein die Revision wegen Fristversäumnis als unzulässig verwerfender Beschluß (§§ 346, 349 Abs. 1) zurückgenommen werden kann, 73

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4 wenn sich nachträglich ergibt, daß entgegen der Annahme des Gerichts die Frist gewahrt war. Meist wird dem Revisionsgericht die Änderungsbefugnis zugestanden, wenn es sich in einem tatsächlichen Irrtum befand, dagegen nicht bei Rechtsirrtum (RGSt. 59 419, offen gelassen von B G H NJW 1951 77; BGHSt. 17 94, 96; O L G Nürnberg M D R 1966 351), während sie dem judex a quo (§ 346 Abs. 1) versagt wird (RGSt. 55 236; O L G Celle Nds. Rpfl. 1960 120). In diesen Bereich gehört auch die Frage, ob, wenn zur Anfechtung eines Urteils wahlweise Berufung und Revision zur Verfügung stehen (§§ 312,335 StPO), der Anfechtungsberechtigte von der eingelegten Berufung zur Revision und von der eingelegten Revision zur Berufung übergehen kann. Die Rechtsprechung ist hier schrittweise dazu gelangt, einen solchen Wechsel innerhalb der Revisionsbegründung zuzulassen, und sieht in dem Wechsel weder eine (unzulässige) Anfechtung wegen Irrtums noch einen (unzulässigen) Widerruf eines Verzichts auf das andere Rechtsmittel (vgl. BGHSt. 2 63; 5 338; 13 388; 17 44). Die in BGHSt. 13 388 gemachte Einschränkung, daß eine erkennbar endgültige Wahl der Revision den Übergang zur Berufung ausschließe, erweckt Bedenken (vgl. E b S c h m i d t N J W 1960 1651; BGHSt. 17 4 4 , 4 8 = JZ 1962 370). 4. Einfluß von Irrtum, Täuschung und Drohung. a) Irrtum. Die Frage, inwieweit Willensmängel den Bestand einer Prozeßhandlung berühren, erhebt sich vorzugsweise bei unwiderruflichen Willenserklärungen des Beschuldigten und hier insbesondere bei den Bewirkungshandlungen, wie Rechtsmittelverzicht, Rechtsmittelzurücknahme oder Einverständnis eines Verfolgten mit der Auslieferung (§ 7 DAG). Wenn z. B. nach Verkündung eines auf neun Monate Freiheitsstrafe lautenden Urteils der Angeklagte die Frage des Vorsitzenden, ob er das Urteil annehme, bejaht, weil er sich verhört hat und glaubt, das Urteil lautet auf drei Monate Freiheitsstrafe: ist er an seine einen Rechtsmittelverzicht darstellende Erklärung gebunden, wenn er nachträglich seinen Irrtum erkennt und er bei Kenntnis der wahren Sachlage nicht auf Rechtsmittel verzichtet hätte? Die Vorschriften des bürgerlichen Rechts (§§ 117 ff. BGB) über die Bedeutung von Willensmängeln, die auf einer Abwägung der Belange der privaten Beteiligten beruhen, können im Strafprozeß auch keine entsprechende Anwendung finden; das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Rechtskraft eines Strafurteils schließt es grundsätzlich aus, daß die Rechtskraft entfallen könnte, weil der Angeklagte seine Rechtsmittelverzichtserklärung wegen Irrtums anficht (h. M.; vgl. RGSt. 57 83; 64 14; B G H N J W 1954 687; E b S c h m i d t Lehrkomm. I [2] Rz 206; H e n k e l [2] 242; P e t e r s [2] 230). Das gleiche gilt für andere, die Rechtslage unmittelbar gestaltende Erklärungen wie etwa die Einverständniserklärung gemäß § 7 D A G . Verfahrensbedeutsame Erklärungen muß der Erklärende so gegen sich gelten lassen, wie sie für die anderen Verfahrensbeteiligten erkennbar zum Ausdurck gekommen sind, wobei der unrichtige Gebrauch technischer Ausdrücke nicht schadet (§ 300). Nur bei Mehrdeutigkeit des Wortlauts der Erklärung ist der Sinn durch Auslegung zu ermitteln (BGHSt. 7 162, 165). Auf den hinter der Erklärung stehenden Willen kommt es dagegen nicht an. Beantwortet der Angeklagte nach Belehrung über die zulässigen Rechtsmittel (§ 35 a StPO) die Frage, ob er auf Rechtsmittel verzichte, vorbehaltlos bejahend, so liegt ein bindender Rechtsmittelverzicht vor, gleichviel, ob er glaubt, zu einer geringeren als der erkannten Strafe verurteilt zu sein — Irrtum im Motiv — (vgl. R G JW 1929 49 Nr. 19 mit Anm. von O e t k e r ; P e t e r s [2] 232) oder ob er die Frage mißverstanden und geglaubt hat, er werde gefragt, ob er Berufung einlege — Irrtum über den Inhalt der Erklärung — (so die h. M.; vgl. Nachweise bei H e n k e l [2] 242 Fußnote 20; OLGe Bremen N J W 1961 2271; Köln N J W 1968 2349; Hamburg N J W 1969 1976; a. M. z. B. P e t e r s [2] 231). Den Erklärungsirrtum unberücksichtigt zu lassen, mag im Einzelfall zu Härten führen und die Bemühungen des Schrifttums um Einschränkung des Grundsatzes oder um Abhilfemöglichkeiten (vgl. insbes. O e t k e r und P e t e r s a.a.O.) sind verständlich. Aber andererseits: wenn schon nach bürgerlichem Recht (§ 122 BGB) der Erklärungsgegner des Irrenden oder ein Dritter Vertrauensschutz genießt, um wieviel mehr verdient das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Rechtsbeständigkeit des formell rechtskräftigen Urteils Schutz gegenüber der Gefahr, daß der Angeklagte, indem er sich auf Erklärungsirrtum infolge Mißverstehens, Verhörens usw. beruft, in Wahrheit die Folgen einer vorschnell abgegebenen Verzichtserklärung zu korrigieren versucht. Auch darf die Situation des Anfechtungsgegners — 74

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4 man denke namentlich an den Privat- oder Nebenkläger — nicht unberücksichtigt bleiben, wenn er sich etwa nur durch den Rechtsmittelverzicht des Angeklagten seinerseits zum Rechtsmittelverzicht veranlaßt sah. Schließlich war es Sache des Angeklagten, sich die Tragweite seiner Erklärung vor Augen zu halten und sich, wenn er nicht sicher sein konnte, ob er richtig verstanden und die Sachlage voll erfaßt habe, durch Fragen Gewißheit zu verschaffen. Eine andere Frage ist, ob Unbeachtlichkeit des Motiv- oder Erklärungsirrtums und — was dem Irrtum gleich zu stellen wäre — der mangelnden Einsicht in die Tragweite vorschnell und unüberlegt abgegebener Erklärungen auch dann anzunehmen ist, wenn der Willensmangel (im weiteren Sinn) auf objektiv fehlerhaftes Verhalten der beteiligten Strafverfolgungsorgane, insbesondere des Gerichts zurückzuführen ist (s. darüber unten b). Bei gerichtlichen Entscheidungen kann sich, wenn sie unwiderruflich sind, die Frage nach der Bedeutung eines Verlautbarungsirrtums erheben, wenn die beschlossene Entscheidung von der verkündeten abweicht oder die Formel mit den Gründen der Entscheidung in Widerspruch steht. Die Frage, unter welchen Voraussetzungen ein solches Versehen durch Berichtigung behoben werden kann, ist in Anm. 5 zu § 268 eingehend erörtert. b) Täuschung und Drohung. — Nach § 136 a StPO darf die Freiheit der Willensentschließung und Willensbetätigung des Beschuldigten nicht durch Täuschung und Drohung mit verfahrensrechtlich unzulässigen Maßnahmen beeinträchtigt werden. Das Verbot gilt für den Richter, den Staatsanwalt (§ 163 a Abs. 3), die Polizei (§ 163 a Abs. 4), aber auch für den Sachverständigen als Richtergehilfen (BGHSt. 14 21). Ein die Entschlußfreiheit beeinträchtigender Irrtum dagegen, in den der Beschuldigte von selbst oder durch seinen Verteidiger geraten ist, begründet nicht die Anwendung des § 136 a (BGHSt. 14 192). § 136a gilt zwar nach seiner Stellung im Gesetz unmittelbar nur für Vernehmungen (vgl. das Aussageverwertungsverbot in § 136 a Abs. 3). Eine zeitweise herrschende Meinung wollte dem § 136a aber eine weitergehende Bedeutung beimessen und erklärte ihn für entsprechend anwendbar, wenn die Organe und Hilfsorgane der staatlichen Strafverfolgung in einer die Voraussetzungen des § 136 a erfüllenden Weise in die Freiheit der Willensschließung und -betätigung des Beschuldigten bei Prozeßhandlungen eingreifen und ihn etwa durch Täuschung oder Drohung zur Zurücknahme eines Beweisantrages oder eines Rechtsmittels oder zu einem Rechts mittel verzieht veranlassen (vgl. OLG Bremen JZ 1955, 680 m. Anm. Eb S c h m i d t ; OLGe Hamm JMB1. NRW 1956 250, NJW 1960 1967; Düsseldorf NJW 1960 210; Schrifttumsnachw. S. 69 der Vorauflage). BGHSt. 17 14 (Beschluß nach Vorlegung gemäß § 121 Abs. 2 G V G ) = NJW 1962 5 9 8 = JZ 1963 226 m. zust. Anm. O e h l e r = JR 1962 92 m. krit. Anm. E b S c h m i d t beschritt indessen andere Wege. Die Entscheidung lehnte einerseits die entsprechende Anwendung des § 136a auf Rechtsmittelerklärungen ab, weil es an der erforderlichen Rechtsähnlichkeit der zu vergleichenden Rechtsgebiete fehle; auch Gründe der Gerechtigkeit zwängen nicht dazu, die Frage der Gültigkeit solcher durch Willensmängel beeinflußten Erklärungen nach genau den gleichen Gesichtspunkten zu beurteilen wie die Frage, mit welchen prozessualen Mitteln die Wahrheit erforscht werden dürfe, und unter welchen Voraussetzungen das Gericht Beweisverboten unterliegen solle; auch eigneten sich nicht alle Einzelregelungen des § 136a zu einer Anwendung auf Rechtsmittelerklärungen. Andererseits aber bekannte sich BGHSt. 17 14 zu dem Grundsatz, daß Willensmängel bei Rechtsmittelerklärungen nicht grundsätzlich und ausnahmslos unbeachtlich seien. Die Gerechtigkeit zwinge zu Ausnahmen; bei der Frage des Ausmaßes der Ausnahmen könnten die Grundgedanken des § 136a mit berücksichtigt werden; im übrigen entschieden die Art des Willensmangels und seiner Entstehung darüber, ob überwiegende Gründe der Gerechtigkeit den Vorrang vor dem Gesichtspunkt der Rechtssicherheit beanspruchen müßten. Das sind nun freilich sehr unbestimmte Kriterien (vgl. die Einwendungen von E b S c h m i d t JR 1962 92 gegen BGHSt. 17 14). Indessen muß zugegeben werden, daß auch mit einer entsprechenden Anwendung des § 136 a keine weitergehende Rechtssicherheit gewonnen wäre. Denn abgesehen davon, daß diese Vorschrift selbst an einer gewissen Unbestimmtheit leidet und manchen Zweifel aufwirft (vgl. die Anm. zu § 136 a), verlangt sie grundsätzlich ein zweckgerichtetes Verhalten, und eine „entsprechende" Anwendung des § 136 a böte nur dann eine ausreichende Grundlage für die gerechte Behandlung mancher in der Praxis 75

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vorkommenden Fälle, falls man von einer „Täuschung" auch dann sprechen könnte, wenn der Beschuldigte durch eine objektiv unrichtige Erklärung des Gerichts, Staatsanwalts usw. ohne jede Täuschungsabsicht, etwa durch eine, die Verfahrenslage verkennende unrichtige richterliche Belehrung zu seiner Rechtsmittelerklärung veranlaßt wurde. Und selbst, wenn dies zu bejahen wäre (so die obengenannten OLGe und BFH NJW 1959 911; E b S c h m i d t JZ 1955 680; a. M. B i n d o k a t NJW 1956 51), wären die Fälle nicht erfaßt, in denen der Betroffene durch objektiv unrichtige Maßnahmen anderer Art der staatlichen Organe zu seiner ihn benachteiligenden Rechtsmittelerklärung veranlaßt wurde. Die Rechtsprechung bewegt sich jedenfalls jetzt auf der Grundlage der in BGHSt. 17 14 aufgestellten Grundsätze, die auch im Schrifttum überwiegend Anerkennung gefunden haben, so daß die frühere h. M. von einer neuen h. M. abgelöst wurde. In den entschiedenen Einzelfallen kommt der Gedanke zum Ausdruck, daß es in den durch die Bedürfnisse der Rechtssicherheit gezogenen Grenzen zur „Fairness" der staatlichen Strafverfolgung (s. dazu oben S. 50) gehört, den Betroffenen von den nachteiligen Folgen einer Rechtsmittelerklärung zu entbinden, die er im Irrtum oder in Übereilung abgab, wenn diese Lage durch objektiv unrichtige Maßnahmen der staatlichen Strafverfolgungsorgane herbeigeführt wurde. Letztlich leitet sich diese Pflicht zur Fairness aus der auch nach dem Spruch nachwirkenden Wahrheitserforschungsund Aufklärungspflicht, verbunden mit der Fürsorgepflicht, her (vgl. dazu BGHSt. 21 38) 44 . Im Rahmen dieser kurzen Übersicht ist kein Raum für eine eingehende Darstellung der Einzelfälle; eine Beschränkung auf einige Beispiele, die die Marschrichtung der neueren Rechtsprechung aufzeigen, ist erforderlich. Schon R G JW 1933 1069 Nr. 22 hatte einen Rechtsmittelverzicht des Angekl., hervorgerufen durch die unrichtige Belehrung des Vorsitzenden, das Urteil sei unanfechtbar, für unbeachtlich erklärt, weil eine Erklärung, sich einem vermeintlich unanfechtbarem Urteil unterwerfen zu wollen, nicht ernstlich als Verzicht auf ein zustehendes Rechtsmittel verstanden werden könne. Im Fall BGHSt. 18 2 5 7 = NJW 1963 263 mit krit Anm. S t r a t e n w e r t h , in dem die Bindungswirkung eines Rechtsmittelverzichts verneint wurde, hatte das Gericht, wenn auch ungewollt, durch eine unzulässige Strafaussetzung zur Bewährung (die nicht bestehen bleiben konnte, wenn die Staatsanwaltschaft Revision einlegte), den Angekl. zum Rechtsmittelverzicht „geradezu begünstigt", den er dann auch (im Vertrauen auf den Bestand der Aussetzung) auf die ohne sachlich zureichenden Grund gestellte Frage des Vorsitzenden, ob er das Urteil annehmen wolle, aussprach; Bemühungen des Verteidigers, mit dem Angeklagten darüber zu sprechen, ob es bei dieser Erklärung bleiben solle, unterband der Vorsitzende mit dem Hinweis, daß der Angekl. an seine Erklärung gebunden sei. Nach BGHSt. 19 101 = NJW 1963 2236 entspricht es mindestens in Schwurgerichtssachen dem Sinn der notwendigen Verteidigung, daß der Angekl. die Frage, ob er ein Rechtsmittel einlegen soll oder nicht, erst nach Beratung mit dem Verteidiger oder Gewährung von Gelegenheit zur Beratung entscheidet. „Wird dem Angekl. vom Vorsitzenden in einem solchen Fall eine Erklärung über seinen Rechts mittel verzieht abverlangt, ohne daß er zugleich darauf hingewiesen wird, er solle eine solche Erklärung erst nach eingehender Beratung mit seinem Verteidiger abgeben, und verzichtet der Angekl. dann auf Rechtsmittel, muß der praktisch unter Umgehung oder Ausschaltung des Verteidigers erwirkte Rechts mittel verzieht als unwirksam angesehen werden, weil er durch eine unzulässige Einwirkung zustande gekommen ist, wenn auch keines derjenigen Beeinflussungsmittel angewendet worden ist, die § 136 a StPO ausdrücklich verbietet." Im Fall OLG Hamburg NJW 1964 1039 werden als „ganz besondere Umstände", die es trotz eindeutiger Erklärung eines Rechtsmittelverzichts ausnahmsweise rechtfertigen, ihn abweichend von dem Grundsatz der Unanfechtbarkeit und Unwiderruflichkeit als bindend anzusehen, angeführt, daß der Angekl. durch eine mißverständliche Formulierung einen ihm mit der Anklageschrift übersandten Vordruck dahin verstanden habe, er könne die Bestellung eines Pflichtverteidigers nicht beantragen (der ihm auf Antrag bestellt worden wäre), daß ihm auch nicht von Amts wegen ein Verteidiger bestellt worden sei, obwohl dies nahe gelegen hätte, und daß man von dem unverteidigten Angekl. trotz seiner Jugend (22 Jahre) und der Höhe der erkannten Strafe (2 Jahre 6 Monate

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Zur Frage der Unwirksamkeit des Rechtsmittelverzichts vgl. S c h m i d t NJW 1965 1210 und JuS 1967 158 m. w. Nachw.

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Freiheitsstrafe) unmittelbar nach Urteilsverkündung überhaupt einen Rechts mittel verzieht entgegengenommen habe, statt ihm zu.raten, den Verzicht in Ruhe zu überlegen. Unbeachtlichkeit des Rechtsmittelverzichts, weil der Angeld, (oder sein Verteidiger) durch Handlungen des Gerichts in einen für die Rechtsmittelerklärung ursächlichen unverschuldeten Irrtum versetzt worden sei, hat OLG Köln NJW 1968 2349 = JR 1969 392 mit abl. Anm. K o f f k a in einem Fall angenommen, in dem nach der verkündeten Formel und der mündlichen Begründung des Berufungsurteils der Angekl. (sein Verteidiger) davon ausgehen durften, eine im 1. Urteil ausgesprochene Nebenstrafe sei aufgehoben, während die schriftlichen Urteilsgründe und ein zur Klärung herbeigeführtes Urteil nach § 458 StPO (nach Auffassung des OLG) unrichtigerweise die Nebenstrafe als fortbestehend bezeichnete. Dagegen liegt nach OLG Hamburg NJW 1969 1976 keine für einen Irrtum ursächliche Fehlhandlung des Gerichts, sondern ein unbeachtlicher Motivirrtum vor, wenn das Gericht die erkannte Freiheitsstrafe zu Unrecht als durch eine kürzere Untersuchungshaft für verbüßt erklärt und der Angekl. in der Annahme, die Sache sei nunmehr für ihn vollständig erledigt, auf Rechtsmittel verzichtet: er hätte — angesichts des Antrags der Staatsanwaltschaft auf eine höhere Strafe — damit rechnen müssen, daß die StA Berufung mit dem Ziel einer höheren Strafe und Anrechnung nur der tatsächlichen Dauer der erlittenen U-Haft einlegen werde. Übrigens zeigen die vorstehend erörterten Fälle die Wichtigkeit des Hinweises in Nr. 140 RiStBV, es liege nicht im Sinn des Gesetzes, den Angeklagten zu veranlassen, im unmittelbaren Anschluß an die Urteilsverkündung zu erklären, ob er auf Rechtsmittel verzichte. Würden dies und die dort gegebenen weiteren Hinweise ernstlicher beachtet, so würden Fragen nach der Bedeutung des Irrtums beim Rechtsmittelverzicht weniger häufig auftauchen. Unbeachtlich ist dagegen, wenn die Prozeßhandlung des Beschuldigten durch Täuschung seitens Dritter veranlaßt wird; hier greift, wie beim Irrtum des Beschuldigten, der Gesichtspunkt durch, daß die Prozeßsicherheit, das öffentliche Vertrauen in die Rechtsbeständigkeit des Urteils den Vorrang beanspruchen. Das gilt grundsätzlich auch, wenn eine Prozeßhandlung durch die Drohung eines Dritten veranlaßt wird; doch kann hier in besonders liegenden Ausnahmefallen die Gerechtigkeit den Vorrang vor dem Gesichtspunkt der Rechtssicherheit beanspruchen, so etwa, wenn eine Rechtsmittelzurücknahme von einem Dritten unter ernster Todesdrohung erzwungen worden ist, die dem Beschuldigten keinen anderen Ausweg ließ (vgl. BGH St. 17 14,18; P e t e r s [2] 234). Nach § § 6 9 Abs. 3, 72 darf auf Zeugen und Sachverständige nicht in einer die Voraussetzungen des § 136 a erfüllenden Weise eingewirkt werden. Auch diese Vorschriften enthalten einen allgemeinen und erweiterungsfähigen Gedanken dahin, daß neben dem Beschuldigten auch andere am Verfahren beteiligte private Personen (Privat- und Nebenkläger) gegen Beeinträchtigung ihrer Willensfreiheit durch Maßnahmen der Verfolgungsorgane, in engsten Grenzen ausnahmsweise auch bei Einwirkung dritter Personen, Schutz genießen (vgl. OLG Neustadt NJW 1961 1984). Keinesfalls wird aber die Wirksamkeit der Zurücknahme einer Privatklage dadurch in Frage gestellt, daß der Privatkläger durch die täuschende Erklärung des Angekl., er habe die ihm vorgeworfenen beleidigenden Äußerungen nicht getan, dazu veranlaßt wurde (OLG Neustadt a.a.O.). Endlich kommt bei gerichtlichen Entscheidungen eine Beeinträchtigung der Wirksamkeit durch eine arglistige Täuschung oder Drohung gegenüber dem Gericht nicht in Betracht (ebenso E b S c h m i d t Lehrkomm. [2] R z 2 1 0 ; a. M. — bezgl. der Drohung — P e t e r s [2] 234). Daß ein Urteil durch Täuschung (falsche Angaben des Beschuldigten, falsche Zeugenaussagen usw.) herbeigeführt wird, gehört zu den Alltäglichkeiten; zur Abhilfe stehen nur die zulässigen Rechtsmittel und nach Rechtskraft der Weg der Wiederaufnahme (§§ 359ff.) zur Verfügung. Der Richter, der unter der Einwirkung einer Drohung das sachliche oder Verfahrensrecht wider sein Gewissen und seine bessere Überzeugung falsch anwendete, beginge Rechtsbeugung (§ 336 StGB), was wiederum, wie sich aus § 359 Nr. 3, § 362 Nr. 2 StPO ergibt, nach Rechtskraft des Urteils nur im Weg der Wiederaufnahme berücksichtigt werden könnte. Entfiele die Schuld des Richters durch Nötigungsstand (§ 52 StGB; vgl. das Beispiel bei P e t e r s [2] 235: Bedrohung mit Erschießen), so würde dies nach dem Sinn des § 364 StPO der Durchführung eines Wiederaufnahmeverfahrens nicht entgegenstehen; die fehlende Schuld trotz objektiver rechtswidriger Verwirklichung des Tatbestand des § 336 StGB müßte i. S. des § 364 als ein „anderer Grund" gewertet wer77

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AI den, der der Einleitung oder Durchführung eines Strafverfahrens entgegensteht, so daß das Wiederaufnahmeverfahren unabhängig von einer vorgängigen Verurteilung des Richters durchführbar wäre. 5. Bedingungen. Dem Begriff der Prozeßhandlung als einer gestaltenden, auf die Herbeiführung des erstrebten Prozeßausgangs gerichteten Handlung entspricht es, daß Erklärungen im allgemeinen bedingungsfeindlich sind, da einer bedingten Erklärung, deren Wirkung von einem zukünftigen ungewissen Ereignis abhängig gemacht wird, die Eignung abgeht, den Prozeß dem endgültigen Anschluß näher zu bringen. Bedingungsfeindlich mit der Wirkung, daß die Hinzufügung einer Bedingung die Erklärung unwirksam macht, sind insbesondere die Einlegung eines Rechtsmittels (BGH NJW 1954 243) sowie die auf den Eintritt der Rechtskraft gerichteten Bewirkungshandlungen der Rechtsmittelzurücknahme und des Rechtsmittelverzichts (RGSt. 66 267). Bedingungsfeindlich ist auch der Strafantrag (RGSt. 74 188; OLG Oldenburg MDR 1953 55); auflösende Bedingungen sind unbeachtlich (RGSt. 14 96); aufschiebende Bedingungen machen den Strafantrag unwirksam (RGSt. 74 188). Ebenso ist eine nur bedingt ausgesprochene Zurücknahme des Antrags wirkungslos (RGSt. 48 195); dagegen ist nach Sinn und Zweck des § 470 Satz 2 StPO zulässig die Zurücknahme unter der Bedingung, daß der Antragsteller nicht mit Verfahrenskosten und Auslagen des Beschuldigten belastet wird (BGHSt. 9 149). Auch im übrigen können Prozeßhandlungen mit Bedingungen verbunden werden, soweit dies mit ihrer besonderen Zweckbestimmung vereinbar ist. So kann ein Beweisantrag bedingt gestellt werden (vgl. RG JW 1929 677 Nr. 24).

10. Die Verfahrensvoraussetzungen A. Allgemeines 1. Begriff und Wesen der Prozeßvoraussetzungen. Nach § 274 ZPO sind mehrere nicht zu den Prozeßhandlungen gehörende Tatsachen, darunter die Unzuständigkeit des Gerichts, die Unzulässigkeit des Rechtswegs, die Rechtshängigkeit sowie der Mangel der Parteifähigkeit, der Prozeßfähigkeit und der gesetzlichen Vertretung durch „prozeßhindernde Einreden" vorzubringen. Der Ausdruck ist irreführend; die Stellungnahme des Gesetzes zu der Frage, was für die Zulässigkeit eines Prozesses vorausgesetzt werden muß, ist auch sonst unzulänglich ( L e n t ZAkDR 1942 244). Indes haben Rechtslehre und Rechtsprechung den Begriff der Prozeßvoraussetzungen in dem Sinn herausgearbeitet, daß, während der Betrieb des Prozesses im allgemeinen der Parteiherrschaft unterworfen ist, doch die Prüfung von Amts wegen da verlangt werden muß, wo Erfordernisse des Verfahrens nicht nur den Bedürfnissen der Parteien zu dienen, sondern das öffentliche Wohl zu wahren haben (RGZ 70 179,185; 158 153, 160 344). Die StPO war in ihrer ursprünglichen Fassung, obwohl die Untersuchung und Entscheidung der Strafsachen immer aus Gründen des öffentlichen Wohls erfolgt, noch dürftiger mit Vorschriften darüber ausgestattet, welche Bedeutung das Fehlen gewisser verfahrensrechtlich bedeutsamer Umstände hat, wann es zu berücksichtigen und wie es festzustellen ist. Aus § 260 a. F. StPO ergab sich nur, daß es neben Urteilen, die eine Sachentscheidung auf die erhobene Anklage (Verurteilung oder Freisprechung) enthalten, Urteile gibt, die auf 45

Schrifttum: G o l d s c h m i d t , Der Prozeß als Rechtslage, 1925; B e l i n g 85, 100, 165; derselbe ZStrW Bd. 42 257 ff.; G r a f zu D o h n a 51; v. H i p p e l 9,471; Eb S c h m i d t Lehrk. I [2] Rz 113ff.; P e t e r s [2] 235ff.; H e n k e l [2] 230ff.; M ü l l e r - S a x [6] Einl. 11; Kl [29] Einl. 6; S a u e r Grdl. 149,211,323,363,657; derselbe, Allgemeine Prozeßlehre 1951 S. 227; N i e t h a m m e r DStR 1937 127; N i e s e , Prozeßvoraussetzungen und -hindemisse und ihre Festeilung im Strafprozeß DReZ 1949 S. 505; S a x JZ 1968 534.

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Die Verfahrensvoraussetzungen (Verfahrenshindernisse)

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Einstellung des Verfahrens lauten, also das Verfahren förmlich abschließen, ohne eine Sachentscheidung zu treffen; als Gründe für eine Einstellung nannte das Gesetz das Fehlen oder die Zurücknahme des zur Strafverfolgung erforderlichen Strafantrags. § 205 a. F. sah die vorläufige Einstellung durch gerichtlichen Beschluß vor, wenn nach erhobener Anklage Abwesenheit des Beschuldigten oder nachträglicher Verfall in Geisteskrankheit dem weiteren Verlauf entgegensteht. Die Rechtslehre sah angesichts der Schweigsamkeit des Gesetzes ihre Aufgabe darin, die Bedeutung der Verfahrensvoraussetzungen im Strafverfahren klarzulegen. Sie konnte hierbei auch aus den reicheren Quellen des Zivilprozeßrechts schöpfen 46 . Die Rechtsprechung ist zunächst nur zögernd und manchmal schwankend nachgefolgt. Ihre Zurückhaltung erklärte sich aus der Vorsicht, die da geübt werden muß, wo die Bewährung einer umkämpften Meinung in der Anwendung noch nicht sicher berechnet werden kann, aus der Schwierigkeit, ältere Entscheidungen zu überwinden, und aus der Abneigung gegen das Ansinnen, nicht gerügten Mängeln nachzuspüren, um, wenn sich ein solcher ergibt, ein sachlich einwandfreies Urteil aufzuheben. Die Rechtsentwicklung nach dem ersten Weltkrieg, namentlich die seitdem in größerem Umfang einsetzende Amnestiegesetzgebung, bot reichlichen Anlaß zur Vertiefung der Probleme und führte schließlich zu einer in den Grundzügen gefestigten Rechtsprechung, deren Ergebnisse z. T. in Novellenform Eingang in die StPO, z. T. auch ihren Niederschlag in einem Ausbau der Verfahrensvorschriften in den einzelnen Amnestiegesetzen fanden. Zunächst dehnte die Rechtsprechung den Satz, daß fehlender Strafantrag zur Einstellung des Verfahrens durch Urteil führe, auf alle Verfahrenshindernisse (Niederschlagung, vorgängige rechtskräftige Aburteilung, Rechtshängigkeit usw.) aus und ließ weiter die Einstellung auch durch Beschluß außerhalb der Hauptverhandlung zu, wenn der Mangel einer Verfahrensvoraussetzung auch ohne Hauptverhandlung einwandfrei festzustellen war. Diese Rechtsprechung legalisierte der Gesetzgeber durch Einführung des § 206a (VO v. 13.8. 1942, RGBl. 1512; vgl. Anm. zu § 206 a). Die gleiche VO erweiterte den § 205 auf alle in der Person des Angeschuldigten liegenden Hindernisse, die der Durchführung einer Hauptverhandlung entgegenstehen. Und schließlich erhielt der Abs. 3 des § 260 durch das Vereinheitlichungsges. v. 12. 9. 1950 — im Anschluß an den Vorschlag in Art. 70 Nr. 142 EGStGB = Entw. 1930 — seine heutige Fassung, die die Voraussetzungen für die Einstellung des Verfahrens durch Urteil generell umschreibt: „Die Einstellung des Verfahrens ist auszusprechen, wenn ein Verfahrenshindernis besteht." Die Rechtsentwicklung ist seitdem gekennzeichnet durch vermehrte Anerkennung der von Amtswegen zu berücksichtigenden Verfahrenshindernisse; das erklärt sich aus dem „immer bewußter und entschiedener werdenden Streben nach Rechtsstaatlichkeit des Verfahrens" (OLG Hamburg JR 1969 310 m. Anm. E b S c h m i d t ) . Ein Verfahrenshinderais ist also ein Umstand, der den Erlaß eines Sachurteils, aber auch schon, sobald dieser Umstand erkannt ist, das weitere Prozedieren mit dem Ziel eines Sachurteils 47 , ausschließt. Ein Verfahrenshindernis liegt, anders und genauer ausgedrückt, vor, wenn eine Bedingung dafür fehlt, daß es zulässig ist, in einem bestimmten Verfahren — vor diesem Gericht, unter Mitwirkung dieser Prozeßsubjekte — zu einem Sachurteil in einer bestimmten Sache zu gelangen. Solche Zulässigkeitsbedingungen bezeichnet man als Prozeßvoraussetzung; das Wesen der Prozeßvoraussetzung besteht darin, Zulässigkeitsbedingung dafür zu sein, unter den gegebenen Umständen zu einem Sachurteil zu gelangen (BGHSt. 10 75). Die Begriffe Verfahrenshindernis und Prozeßvoraussetzung drücken danach, wie heute fast allgemein anerkannt ist, keinen Gegensatz aus, sondern bringen den gleichen Gedanken in negativer oder positiver Form zum Ausdruck; es kommt auf das gleiche hinaus, 46

Grundlegend für den Zivilprozeß O. Bülow, „Die Lehre von den Prozeßeinreden und den Prozeßvoraussetzungen" (1868). Als erster hat von Kries in einem im Jahr 1885 erschienenen Aufsatz (ZStW 51) den Voraussetzungen des Strafprozesses eine eingehende Darstellung gewidmet. 47 Kein „Prozedieren" in diesem Sinn ist die Bestimmung des zuständigen Gerichts durch ein übergeordnetes Gericht, z. B. gemäß § 13 a StPO; erst dem so bestimmten Gericht und der danach zuständigen Strafverfolgungsbehörde obliegt die Prüfung, ob ein Verfahrenshindernis besteht (BGHSt. 18 19 = JZ 1963 564 m. Anm. Jescheck). Bei tateinheitlichem Zusammentreffen äußert sich die Wirkung des Verfahrenshindernisses, das der Verfolgung einer der Gesetzesverletzungen entgegensteht, darin, daß dieses Delikt aus dem Verfahren ausscheidet; ebenso entfallt für Einzelhandlungen einer fortgesetzten Tat, die von einem Verfahrenshindernis betroffen sind, die Einbeziehung in die fortgesetzte Handlung (BGHSt. 17 157). 79

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Einleitung (Schäfer)

A2 ob man z. B. das Vorhandensein des erforderlichen Strafantrags als Prozeßvoraussetzung oder sein Fehlen als Verfahrenshindernis bezeichnet. Inhaltlich gehört zum Begriff der Prozeßvoraussetzung, daß es sich um einen Umstand handelt, der nach dem ausdrücklich erklärten oder aus dem Zusammenhang ersichtlichen Willen des Gesetzes für das Strafverfahren so schwer wiegt, daß von seinem Vorhandensein oder Nichtvorhandensein die Zulässigkeit des Verfahrens im ganzen abhängig gemacht werden muß (BGHSt. 15 287 = N J W 1961 567; BGHSt. 19 273, 278; BayObLG N J W 1969 807), daß sie eine Zulässigkeitsbedingung für das Verfahren in seiner Gesamtheit und nicht nur für eine bestimmte Verfahrenshandlung innerhalb des Verfahrens darstellt. Dagegen gibt es Prozeßvoraussetzungen, die schon begrifflich nur für bestimmte Verfahrensabschnitte bedeutsam sind. So ist die Erhebung einer ordnungsmäßigen Klage nur für das Eröffnungs- und Hauptverfahren, nicht aber für das davorliegende Vorverfahren Prozeßvoraussetzung. Begrifflich ist auch die wirksame Anfechtung Prozeßvoraussetzung des dadurch eingeleiteten Rechtsbehelfs- oder Rechtsmittelverfahrens. Indessen führt eine wegen Nichtbeachtung der Vorschriften über Frist und Form des Rechtsbehelfs oder Rechtsmittels unwirksame Anfechtung zur Verwerfung des Rechtsmittels als unzulässig und nicht etwa zur Einstellung des Rechtsmittelverfahrens wegen der der Sachentscheidung entgegenstehenden Rechtskraft der angefochtenen Entscheidung (vgl. dazu Anm. 3 a zu § 449). Denn Einstellung bedeutet die förmliche Beendigung des Verfahrens in seiner Gesamtheit ohne Sachurteil. Die Auffassung der Verfahrensvoraussetzungen als Voraussetzungen der Zulässigkeit des Verfahrens beugt ihrer Verwechslung mit den materiellrechtlichen Voraussetzungen der Bestrafung vor. Die Frage, ob der Beschuldigte sich in das Verfahren mit dem Ziel der Entscheidung über seine Täterschaft und Schuld einlassen müsse, kann nicht von der Feststellung der Tatsachen abhängig gemacht werden, deren Vorhandensein oder Nichtvorhandensein maßgebend dafür ist, ob er für schuldig zu erklären und wie er zu bestrafen oder ob er freizusprechen sei. Allein wenn die begriffliche Unterscheidung einleuchtet, so tauchen doch hinsichtlich gewisser Bestimmungen in Vorschriften des sachlichen Rechts Zweifel darüber auf, ob sie Tatbestandsmerkmale, Bedingungen der Strafbarkeit oder Verfolgungsvoraussetzungen aufstellen. Die nachfolgende Übersicht (S. 93) über die einzelnen Verfahrensvoraussetzungen wird solche Zweifel erörtern. Die Abgrenzung der Voraussetzungen der Zulässigkeit des Verfahrens im ganzen von Voraussetzungen geringeren Rangs, nämlich von den Voraussetzungen der Zulässigkeit einzelner Verfahrenshandlungen, ist durch die Natur der Sache geboten und läßt sich, wenn sie auch in einzelnen Fällen erheblichen Schwierigkeiten begegnen mag, doch der Grundrichtung nach durchführen. Die Vorschriften der StPO treffen in ihrer weit überwiegenden Zahl lediglich Anordnungen darüber, wie die einzelnen Verfahrenshandlungen, insbesondere hinsichtlich der Zeit, des Orts und der Form vorzunehmen sind. Sie enthalten „Rechtsnormen über das Verfahren" im Sinn der §§ 328 Abs. 2, 344 StPO. Verstöße gegen diese Rechtsnormen ereignen sich oft und vielfach. Ihnen ist ein weit geringeres Gewicht beizumessen als den geschriebenen oder ungeschriebenen Rechtssätzen, von denen die Zulässigkeit des Verfahrens im ganzen, also die Frage abhängt, nicht nur, wie vorzugehen ist, sondern ob überhaupt in diesem Verfahren vorgegangen werden darf. Unter diesen Umständen bestehen keine Bedenken dagegen, es den Beteiligten zu überlassen, daß sie die Nachteile, die aus der Verletzung von Rechtsnormen über das Verfahren befürchtet werden, durch den Gebrauch der gesetzlich gebotenen Rechtsbehelfe abwehren. Der Grund zu einer Prüfung von Amts wegen, wie sie bei den Prozeßvoraussetzungen geboten ist (s. unten), tritt gegenüber solchen Fehlern regelmäßig nicht hervor. 2. Einteilung der Prozeßvoraussetzungen. Das Schrifttum hat sich bemüht, die einzelnen Prozeßvoraussetzungen in Kategorien einzuordnen. Rein äußerlich schon läßt sich z. B. unterscheiden zwischen solchen, die, wenn sie bei Verfahrensbeginn vorliegen, von Anfang an jedes Prozedieren ausschließen, wie etwa fehlender Strafantrag (s. aber § § 1 2 7 Abs. 3, 130 StPO), Verjährung oder vorgängige rechtskräftige Aburteilung, und solchen, die nur von einem bestimmten Verfahrensstadium ab bedeutsam sind, wie etwa das Fehlen der Klage, die ja erst nach Abschluß des Ermittlungsverfahrens für das künftige Verfahren Bedeutung als Prozeßvoraussetzung gewinnt.

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Man kann auch unterscheiden zwischen allgemeinen Prozeßvoraussetzungen, die bei jedem Beschuldigten und bei jeder strafbaren Handlung gegeben sein müssen, z. B. die Unberührtheit der Sache, und den besonderen Voraussetzungen, die nur bei bestimmten Delikten oder bei bestimmten Beschuldigten oder nur bei bestimmten Verfahrensarten vorliegen müssen, z. B. der Strafantrag bei Antragsdelikten, die Verfolgungsgenehmigung der gesetzgebenden Körperschaft bei Abgeordneten. Eine weitere Unterscheidung betrifft behebbare oder nur vorübergehende und unbehebbare, die Verfolgung endgültig ausschließende Hindernisse; bei den ersteren kann ggf. unterschieden werden zwischen solchen, die nur der Tatrichter zu beachten hat, und solchen, bei denen auch das Revisionsgericht zu prüfen hat, ob sie noch bestehen und nicht nach Erlaß des angefochtenen tatrichterlichen Urteils weggefallen sind (vgl. BGHSt. 21, 55 betr. die Voraussetzung des selbständigen Einziehungsverfahrens, daß keine bestimmte Person verfolgt oder verurteilt werden kann). Oder es wird unterschieden nach der Herkunft der Prozeßvoraussetzung, ob sie dem Gebiet des Straf-, des bürgerlichen, des Verwaltungs-, Staats- oder Völkerrechts entstammt. Über die Befriedigung des Bedürfnisses nach systematischer Durchdringung hinaus sind solche Unterscheidungen für die praktische Rechtshandhabung ohne wesentliche Bedeutung, da sie Unterschiede hinsichtlich des Wesens und der Wirkung der Prozeßvoraussetzungen, soweit und solange sie fehlen, nicht begründen. Dies gilt auch für die Versuche einer Einteilung nach materiellen Kategorien, etwa nach Sachgestaltungs-, Verfolgungs- und Verfahrensvoraussetzungen ( S a u e r ) , nach Prozeßvoraussetzungen im engeren Sinn und Strafklagerechtsvoraussetzungen usw., die E b S c h m i d t Lehrk. I [2] Rz 113ff. kritisch würdigt mit dem resignierenden Ergebnis: „Die Einteilung der Prozeßvoraussetzungen als wissenschaftliches Problem aufzufassen lohnt nicht. Es handelt sich nur um eine Frage einer möglichst übersichtlichen Darstellung" (a.a.O. Fußnote 227).

3. Zeitliche Geltung. Die Verfahrensvoraussetzungen treten mit dem Gesetz, das sie ausspricht oder aufhebt, also z. B. das Antragserfordernis aufstellt oder fallen läßt, in und außer Kraft; sie äußern ihre Wirkung, falls das betreffende Gesetz nichts Abweichendes bestimmt, auch innerhalb schon anhängiger Verfahren (RGSt. 75 311; 77 160, 183; BGHSt. 20 22, 27; 21 367; OLG Hamm NJW 1961 2030; 1970 578; BayObLG NJW 1961 2268). Dies entspricht dem allgemein für das Strafverfahren geltenden Grundsatz, daß neues Strafverfahrensrecht, soweit nicht ausschließlich etwas anderes bestimmt ist, auch für bereits anhängige Verfahren gilt, die in der Lage, in der sie sich beim Inkrafttreten der neuen Vorschriften befinden, nach diesen weiterzuführen sind (BGHSt. 22 321, 325). 4. Prüfung von Amts wegen. Freibeweis. Auf die Verfahrensvoraussetzungen ist grundsätzlich in jeder Lage des Verfahrens48 — auch in der Revisionsinstanz — von Amts wegen zu achten (RGSt. 65 150; 66 173; 67 55 und 323; 68 19 u. 107; 69 126, 245 u. 319; 71 252 u. 261; 72 5, 102, 143 u. 379; 73 114; 74 187 u. 192; 75 257; BGHSt. 10 75; 11 394; 13 128; 21 242). Denn die im Strafverfahren immer und überall durchdringende Rücksicht auf das allgemeine Wohl läßt, sofern ein Gesetz nicht ausdrücklich eine gegenteilige Regelung trifft, nicht zu, daß Versäumnisse und Verzichte der Beteiligten einen Einfluß gegenüber verfahrenshindernden Mängeln gewinnen. Dies gilt auch, wenn ein Formalurteil wie das Verwerfungsurteil des Berufungsgerichts nach § 329 Abs. 1 StPO nur mit der allgemeinen Sachrüge angegriffen wird (BGHSt. 21 242). Selbst der Umstand, daß das Urteil durch Teilanfechtung schon zum Teil rechtskräftig ge48

Wenn unter Ablehnung des Antrags auf Voruntersuchung das Hauptverfahren eröffnet wurde und gegen die Ablehnung der Voruntersuchung Beschwerde eingelegt ist, hat nach OLG Köln NJW 1961 1784 das Beschwerdegericht nur über die Notwendigkeit der Voruntersuchung, nicht auch über das Eingreifen von Verfahrenshindernissen wie Verjährung oder Amnestie zu entscheiden. Ob dieser mit Gesichtspunkten der Prozeßökonomie begründeten Ausnahme zuzustimmen ist, bedarf hier nicht der Erörterung.

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Einleitung (Schäfer)

A5 worden ist, schließt nicht aus, daß das mit dem angefochtenen Teil befaßte Rechtsmittelgericht von Amts wegen das Vorhandensein von Verfahrenshindernissen prüft und, wenn es solche feststellt, die daraus sich ergebende Folgerung nicht nur für den noch anhängigen Teil, sondern für das Verfahren in seiner Gesamtheit zieht. Beschränkt sich also ein Rechtsmittel nur auf das Strafmaß oder nur auf einen Nebenpunkt, z. B. eine angeordnete Einziehung oder den Kostenausspruch, und wird ein Verfahrenshinderais, etwa fehlender Strafantrag oder Anwendbarkeit eines Straffreiheitsgesetzes, festgestellt, so wird das g a n z e Verfahren eingestellt (RGSt. 74 206; BGHSt. 6 304; 8 269 = JZ 1956 417 mit Anm. von J e s c h e c k ; BGHSt. 11 393; 13 128 [betr. Beschränkung des Rechtsmittels auf den Kostenpunkt]; 21 242; N J W 1961 228). Die Einstellung wegen eines Verfahrenshindernisses durch das Revisionsgericht erstreckt sich ferner gemäß § 357 StPO auf die Mitangeklagten, die keine Revision eingelegt haben, soweit das Hindernis auch sie betrifft (RGSt. 68 18; BGHSt. 12 3 4 0 = JZ 1959 713; BGHSt. 19 320, 321); und die gleiche Wirkung kommt als einem Surrogat des Einstellungsurteils dem gemäß § 206 a wegen Außerachtlassung eines Verfahrenshindernisses ergehenden Einstellungsbeschluß zu (BayObLG JZ 1952 179; O L G Celle JZ 1959 180 mit zust. Anm. von K l ; a. M. B G H JZ 1956 31). Die Prüfung von Amts wegen aber erfordert, daß das Gericht unabhängig von den Regeln des §§ 244 ff. StPO bei der Nachforschung den gesamten Akteninhalt heranzieht und überhaupt alle verfügbaren Erkenntnisquellen benützt, also nach den Regeln des Freibeweises verfährt (RGSt. 51 72; 56 109; 59 36 u. 56; 61 118; 62 14; 63 321; 64 187 u. 237; 65 166; 66 319; 71 261; 72 5; BGHSt. 16 164, 166; 21 21, 81). Demnach kann von den Grundsätzen der Mündlichkeit und der Öffentlichkeit insoweit abgewichen werden, als Erhebungen über Verfahrensvoraussetzungen anzustellen sind. Auch bleiben die Vorschriften außer Anwendung, die für die Beweisaufnahme zur Aufklärung der Tat und der Schuld und zur Bemessung der Strafe gelten. Ermittlungsanträge der Beteiligten, die sich auf Verfahrensvoraussetzungen beziehen, sind nur als Anregungen anzusehen; das Gericht nimmt ihnen gegenüber eine freie Stellung ein und kann sich einer besonderen Bescheidung solcher Anträge enthalten (RGSt. 53 231; 59 36 u. 56). Einfache Stimmenmehrheit genügt, wie sich aus § 263 Abs. 3 StPO ergibt, für die Entscheidung über das Vorliegen der Verfahrensvoraussetzungen (RGSt. 53 276; K G G A 70 43). Das Revisionsgericht hat zwar über die Voraussetzungen eines Verfahrenshindernisses grundsätzlich selbst zu entscheiden; es ist ihm aber nicht schlechthin verwehrt, die Sache zur Nachholung fehlender Feststellungen an den Tatrichter zurückzuverweisen, z. B. wenn das Verfahrenshindernis an bestimmte Voraussetzungen gebunden ist wie bei der Niederschlagung durch ein Straffreiheitsges. (BGHSt. 16 399, 403). 5. Prüfung durch das Rechtsmittelgericht. 1. In der Rechtsmittelinstanz setzt jedoch die Prüfung der Prozeßvoraussetzungen von Amts wegen voraus, daß die spezielle Verfahrensvoraussetzung des Rechtsmittelverfahrens, eine form- und fristgerechte Anfechtung, gegeben ist. Das Rechtsmittelgericht kommt demnach nur dann in die Lage, die Zulässigkeit des Verfahrens im Hinblick auf Verfahrenshindernisse zu prüfen, wenn es die Zulässigkeit des Rechtsmittels bejaht hat. 2. In der Revisionsinstanz zu unterscheiden:

gilt dieser Grundsatz jedoch nur mit Einschränkungen. Es ist

a) Ist die Revision nicht /ns/gerecht eingelegt (§ 341 StPO), so ist das Urteil rechtskräftig, da nur die rechtzeitig eingelegte Revision die Rechtskraft des Urteils hemmt (§ 343 StPO). Das Rechtsmittel ist als unzulässig zu verwerfen, und ein vom Tatrichter übersehenes Verfahrenshindernis bleibt außer Betracht. Denn die Verwerfung des Rechtsmittels als unzulässig hat dann nur deklaratorische Bedeutung (h. M.; vgl. K ü p e r G A 1969 365, 366 m. Nachw.); einer sachlichen Befassung mit dem bereits rechtskräftigen Urteil stünde das Verbot ne bis in idem (Art. 103 Abs. 3 GG) entgegen. b) Anders liegt es, wenn die Revision fristgerecht eingelegt wurde, die Frage, ob die Einlegung /ormgerecht erfolgte und/oder die Revisionsanträge form- und fristgerecht angebracht sind, aber noch nicht abschließend (§ 346 Abs. 2 StPO) beschieden ist. Nach h. M. 82

Die Verfahrens Voraussetzungen (Verfahrenshindernisse)

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(vgl. Anm. 3a zu § 449; K ü p e r a.a.O.) tritt in solchen Fällen die Rechtskraft erst mit der Verwerfungsentscheidung des Revisionsgerichts (§ 346 Abs. 2) ein. Daß das Urteil nach § 346 Abs. 2 Satz 2 schon von der Verwerfungsentscheidung des iudex a quo ab vollstreckbar ist, bedeutet in diesen Fällen nach h. M., daß nicht bereits dieser Verwerfungsbeschluß die Rechtskraft des Urteils herbeiführt, sondern daß hier — abweichend von dem Grundsatz des § 449 — das Urteil schon vor eingetretener Rechtskraft vorläufig vollstreckbar ist (vgl. BGHSt. 22 213). Hinsichtlich der Berücksichtigung von Verfahrenshindernissen bei der Entscheidung des Revisionsgerichts nach § 346 Abs. 2 kommen' 3 Möglichkeiten in Betracht: aa) ein Verfahrenshindernis, mag es vor oder nach der Entscheidung des Tatrichters eingetreten sein, schlägt stets durch, führt also zur Einstellung des Verfahrens (so E b S c h m i d t JZ 1962 155; Lehrk. I [2] Rz 200). bb) ein Verfahrenshindernis ist — ohne Rücksicht darauf, ob vor oder nach dem Urteil eingetreten — nur zu berücksichtigen, wenn zuvor festgestellt ist, daß die Revisionsanträge und ihre Begründung frist- und formgerecht angebracht sind (so die Vorauflage S. 74 mit Schrifttumsnachw.), weil für eine Prüfung der Zulässigkeit des Verfahrens nur Raum ist, wenn der Rechtsbehelf des Beschwerdeführers in vollem Umfang „die Probe seiner Zulässigkeit bestanden hat"; cc) Die Nichtbeachtung eines vor dem Urteil eingetretenen Verfahrenshindernisses durch den Tatrichter stellt, weil „in das Urteil eingegangen", eine Gesetzesverletzung dar, die wie jede andere Gesetzesverletzung nur geprüft werden kann, wenn durch eine fristund formgerecht eingelegte und begründete Revision dem Revisionsgericht der Zugang zur sachlichen Prüfung eröffnet ist; ist aber das Hindernis erst nach dem Urteil eingetreten, so hat es den Vorrang vor der speziellen Verfahrensvoraussetzung einer formgerechten Einlegung und frist- und formgerechter Begründung der Revision, führt also zur Einstellung des Verfahrens. Die Rechtsprechung hat geschwankt. BGHSt. 15 203 = NJW 1961 228 = JZ 1961 390 m. Anm. S t r a t e n w e r t h bekannte sich zu der Auffassung, auch das vom Tatrichter übersehene Hindernis sei zu berücksichtigen, weil es dem Revisionsgericht nicht zuzumuten sei, einem zu Unrecht ergangenen Urteil zur Rechtskraft zu verhelfen; es wäre eigenartig, wenn das Revisionsgericht einen erkannten Mangel (Nichtberücksichtigung eines Verfahrenshindernisses) nicht berücksichtigen dürfte und den offenbar zu Unrecht Verurteilten auf den Weg der Gnade verweisen müßte. Von dieser Auffassung ist der BGH aber abgegangen. Die jetzt in der Rechtsprechung vertretene (vgl. BGHSt. 16 1 1 5 = JW 1961 1684 = JZ 1962 172 = LM Nr. 4 zu § 346 StPO; BGHSt. 22 213 = NJW 1968 2253 = JR 1969 347 m. Anm. K o f f k a = LM Nr. 5 zu § 346 StPO m. Anm. M a r t i n ; BayObLGSt. 1953 97; NJW 1961 432; OLG Hamburg NJW 1963 265), auch im Schrifttum überwiegend anerkannte (vgl. K ü p e r a.a.O. m. Nachw.) Auffassung unterscheidet, ob das Verfahrenshindernis (z. B. Verjährung) schon bei Erlaß des tatrichterlichen Urteils vorlag (vom Tatrichter also übersehen oder verkannt ist) oder erst nach dem Erlaß des tatrichterlichen Urteils eintrat und daher vom Tatrichter nicht berücksichtigt werden konnte. Im ersteren Fall hat auch das Revisionsgericht das Verfahrenshindernis nicht zu berücksichtigen, während Verfahrenshindernisse zur Einstellung in der Revisionsinstanz führen, die erst nach Erlaß des tatrichterlichen Urteils eingetreten sind. Dieser Auffassung ist (unter Aufgabe der in der Vorauflage vertretenen Auffassung) zuzustimmen. Hat der Tatrichter ein bereits im Zeitpunkt des Erlasses seiner Entscheidung bestehendes Verfahrenshindernis unberücksichtigt gelassen, so hat die darin liegende Verletzung des Gesetzes qualitativ keine andere, keine weitergehende Wirkung als jeder andere Gesetzesverstoß auf dem Gebiet des sachlichen oder des Prozeßrechts, kann also vom Revisionsgericht nur berücksichtigt werden, wenn ihm eine den Vorschriften des Prozeßrechts entsprechende Anfechtung des Urteils den Weg einer sachlichen Nachprüfung des Urteils eröffnet hat. Dagegen beruht das Urteil nicht auf einer Gesetzesverletzung, wenn das Verfahrenshindernis erst nach Erlaß des tatrichterlichen Urteils eingetreten ist; es schlägt dann, da das Urteil begrifflich nicht auf einer Gesetzesverletzung des Tatrichters beruhen kann, der Grundsatz durch, daß ein Verfahrenshindernis in jeder Lage des anhängigen Verfahrens zu berücksichtigen ist, während der Grundsatz, 83

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A5 daß nur eine prozeßordnungsgemäße Anfechtung den Zugang zu einer sachlichen Befassung mit dem Urteil eröffnet, unanwendbar ist, weil er nur gilt, wenn die Revision darauf gestützt ist, daß das Urteil auf einer Verletzung des Gesetzes beruhe (§ 337 StPO). Übrigens spielt die Streitfrage, ob schon der Verwerfungsbeschluß des iudex a quo nach § 346 Abs. 2 StPO die Rechtskraft herbeiführt, keine Rolle bei nachträglich vom Gesetzgeber geschaffenen Verfahrenshindernissen, so wenn Art. 96 des 1. StrRG v. 25.6. 1969 die Einstellung von anhängigen Strafverfahren über Straftaten anordnete, die mit dem Inkrafttreten des Gesetzes nicht mehr strafbar waren; dieses Verfahrenshindernis hat nach dem Sinn der Vorschrift das rechtzeitig angerufene Revisionsgericht auch dann zu beachten, wenn die Rechtshängigkeit schon durch den Beschluß des Tatrichters nach § 346 Abs. 1 beendet sein sollte (BayObLG JZ 1970 74). Die vorstehend geschilderte Kontroverse findet eine Entsprechung auf dem Gebiet des Ordnungswidrigkeitenrechts. Nach § 79 OWiG 1968 ist gegen ein Urteil oder einen Beschluß (§ 72), soweit nicht die Zulässigkeitsvoraussetzungen nach § 79 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 bis 5 gegeben sind, die Rechtsbeschwerde nur zulässig, wenn sie zur Nachprüfung der Entscheidung zwecks Fortbildung des Rechts oder zwecks Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung vom Rechtsbeschwerdegericht zugelassen ist (§ 79 Abs. 1 Satz 2, § 80 OWiG). Auch hier endet, wenn ein Antrag auf Zulassung der Rechtsbeschwerde gestellt wird, die Rechtshängigkeit erst mit dem den Antrag verwerfenden Beschluß des Rechtsbeschwerdegerichts (§ 80 Abs. 2, 3 OWiG), und auch hier erhebt sich die Frage, ob das mit einem form- und fristgerecht angebrachten und ordnungsgemäß begründeten Zulassungsantrag befaßte Rechtsbeschwerdegericht ohne Entscheidung über den Antrag das Verfahren einstellen kann, wenn ein Verfahrenshindernis erst jetzt erkennbar wird oder nachträglich eingetreten ist. Die bisher zu dieser Frage vorliegenden Entscheidungen der Rechtsbeschwerdegerichte wollen zwar für die Revision im Strafverfahren den von BGHSt. 22 213 entwickelten Grundsätzen folgen, ziehen daraus aber für die Rechtsbeschwerde ganz verschiedene Folgerungen. BayObLG NJW 1970 620 = VRS 37 424 = JR 1970 189 m. Anm. G ö h l e r hält die Übertragung dieser Grundsätze in vollem Umfang auf die Rechtsbeschwerde nicht für angängig, weil die Prüfung der Zulassungsvoraussetzungen eine, wenn auch auf diesen Blickwinkel beschränkte, so doch umfassende sachliche Prüfung der angefochtenen Entscheidung auf etwaige Rechtsfehler materiellrechtlicher wie verfahrensrechtlicher Art erfordere und daher auch das vor Erlaß der tatrichterlichen Entscheidung eingetretene Verfahrenshindernis (hier: Verjährung) berücksichtigt werden könne. OLG Stuttgart NJW 1970 823 hält dagegen die Übertragung der Grundsätze von BGHSt. 22 213 uneingeschränkt für möglich, so daß eine vor Erlaß der amtsgerichtlichen Entscheidung eingetretene Verjährung bedeutungslos ist, wenn die Rechtsbeschwerde nicht zugelassen ist, während eine nach Erlaß der angefochtenen Entscheidung eingetretene Verjährung zur Einstellung führt, auch wenn die Rechtsbeschwerde nicht zugelassen wird. Nach O L G Celle NJW 1970 720 kann das Rechtsbeschwerdegericht, solange nicht die Rechtsbeschwerde zugelassen ist, überhaupt keine Folgerungen aus dem Bestehen von Verfahrenshindernissen ziehen, weil bei einer nur mit dem Zulassungsantrag verfolgten Rechtsbeschwerde das Bußgeldverfahren auflösend bedingt rechtskräftig abgeschlossen und mit der Verneinung der Begründetheit des Zulassungsantrags die auflösende Bedingung eingetreten sei; es liege dann nicht anders, als wenn das Rechtsbeschwerdegericht andere mit dem Zulassungsantrag ordnungsgemäß gerügte Fehler erkenne, die zum Freispruch führen würden, wenn dem Zulassungsantrag stattgegeben würde. Die Einstellung des Verfahrens nach § 47 OWiG, weil eine Ahndung nicht geboten ist, setzt, als Einstellung wegen eines Verfahrenshindernisses aufgefaßt, nach OLG Hamm NJW 1970, 622 eine vorherige Zulassung der Rechtsbeschwerde nicht voraus, weil durch deren Einlegung Rechtskraft noch nicht eingetreten und daher die Einstellung ohne Beschränkung zulässig sei. Ein weiteres Eingehen auf die hier auftauchenden Fragen, die nur angedeutet wurden, um die Problematik aufzuzeigen, liegt außerhalb der Aufgaben der vorliegenden Einleitung (s. dazu auch G e h r l i n g NJW 1970 931). 3. Zur Bindung des Revisionsgerichts an tatsächliche, das Verfahrenshindernis betreffende Feststellungen des Tatrichters. a) Ist dem Revisionsgericht der Weg zur Prüfung der Zulässigkeit des Verfahrens eröffnet, so ist es an die tatsächlichen Feststellungen des angefochtenen Urteils nicht gebun84

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den, die unmittelbar hinsichtlich der Verfahrensvoraussetzung, also etwa, wenn die Rechtzeitigkeit des Strafantrags zu prüfen ist, hinsichtlich der Kenntnis des Antragsberechtigten von Tat und Täter getroffen sind. Es ist aber auch nicht gebunden an Feststellungen, die der Tatrichter zwar hinsichtlich der den Gegenstand der Urteilsfindung bildenden Tat getroffen hat, und die mittelbar für ein Verfahrenshindernis (Verjährung, Eingreifen eines Straffreiheitsgesetzes, Fehlen des rechtzeitig gestellten Strafantrags) Bedeutung haben, die aber nicht zugleich für den Schuldspruch und die sichere Erfassung der ihm zugrunde liegenden Tat unerläßlich sind. Hat z. B. der Tatrichter — auch im Hinblick auf die Rechtzeitigkeit des gestellten Strafantrags — einen bestimmten Zeitpunkt der Tatbegehung in den Urteilsgründen angenommen, so bindet diese Feststellung das Revisionsgericht nicht, wenn die genaue datumsmäßige Festlegung des Tatgeschehens für den Schuldspruch als solchen entbehrlich wäre. So mit Recht BGHSt. 22 90 in Übereinstimmung mit der im Schrifttum im Vordringen begriffenen Auffassung — Nachweise bei E b S c h m i d t Lehrk. I [2] Rz 197 Fußn. 349 —; a. M. P e t e r s [2] 578, die Vorauflage S. 75 und die frühere Rechtsprechung (RGSt. 69 318; 71 259 und BGH v. 28. 10. 1954 bei D a l i i n g e r MDR 1955 143). RGSt. 69 318 hatte zu der Frage, ob das Revisionsgericht bei Prüfung des Eingreifens eines Straffreiheitsgesetzes an Feststellungen des Tatrichters über den Zeitpunkt der Tat gebunden sei, die Auffassung vertreten, die Nachprüfung durch das Revisionsgericht im Wege des Freibeweises erstrecke sich nur auf die dem jeweiligen Straffreiheitsgesetz „wesenseigenen" Merkmale, wie Motive („aus wirtschaftlicher Not") und Gesinnungsmerkmale, die die Straffreiheit begründen oder ausschließen („gemeine Gesinnung"), während zu den die Tat selbst betreffenden tatsächlichen Feststellungen, an die das Revisionsgericht gebunden ist, auch die Feststellungen über Tatort und Tatzeit gehörten, da Raum und Zeit einen unlösbaren und nicht wegzudenkenden Bestandteil der Tat bildeten. BGHSt. 22 90 (betr. Rechtzeitigkeit des Strafantrags) hält dem entgegen, daß die Identität eines bestimmten geschichtlichen Vorgangs nicht notwendig und immer von der genauen datenmäßigen Einordnung des Vorgangs abhänge, eine datenmäßige Verschiebung diese Identität vielmehr häufig unberührt lasse; im übrigen aber könne es für die Frage der Bindung des Revisionsgerichts nicht auf die bloße Zufälligkeit ankommen, ob der Urteilsverfasser sich in den Gründen mit einer zum Schuldspruch ausreichenden Bezeichnung einer unbestimmten Zeitspanne („in nicht rechts verjährter Zeit", „zu Anfang des Monats Dezember") begnügt oder statt dessen ein „in der Beweisaufnahme einer Überprüfung gar nicht für wert befundenes und am Ende nicht einmal mehr besonders erwähntes Tagesdatum" anführt. „In dieser Weise Einstellung oder Nichteinsteilung eines Strafverfahrens von reinen Zufälligkeiten abhängig zu machen, ist nicht vertretbar." Nur dann sind danach tatrichterliche Feststellungen zur Tatzeit für das Revisionsgericht verbindlich, wenn sie für den Schuldspruch und die sichere Erfassung der Tat unerläßlich sind, so vor allem, wenn eine Begehung der Tat durch den für überführt erachteten Angeklagten zu einem anderen als diesem genau fixierten Zeitpunkt nach den Umständen nicht in Betracht kommen könnte. Entsprechendes gilt dann auch für tatrichterliche Feststellungen über die Tatzeit, die mittelbar für die Verjährung von Bedeutung ist. Die Folge dieser Auffassung ist dann freilich, daß auch sorgfaltige und in Anwendung des Strengbeweises getroffene Feststellungen vom Revisionsgericht beiseite geschoben werden können, wenn diesem Bedenken hinsichtlich des Verfahrenshindernisses auftauchen; nur daß eben das Revisionsgericht gegenüber solchen Feststellungen in aller Regel keinen Anlaß zu eigenen Feststellungen haben wird. b) Eine andere Frage ist, ob diese Grundsätze auch für solche tatrichterlichen Feststellungen gelten, die auf dem unmittelbaren persönlichen Eindruck des Tatrichters und der sich darauf gründenden Würdigung des Sachverhalts beruhen. Dies gilt namentlich für die Frage, ob dem Prozedieren das Verfahrenshindernis der Verhandlungsunfahigkeit des Beschuldigten (vgl. unten S. 121 entgegensteht. RGSt. 64 15 (betr. Bedenken gegen die Rechtswirksamkeit eines Rechtsmittelverzichts wegen Verhandlungsunfahigkeit des Angeklagten) nahm an, daß die im angefochtenen Urteil getroffene Feststellung der Verhandlungsunfahigkeit in tatsächlicher Beziehung einer Nachprüfung des Revisionsgerichts entzogen sei. Im Schrifttum ist diese Entscheidung auf Widerspruch gestoßen (vgl. E b S c h m i d t Lehrk. I [2] Rz 197). In der Tat erscheint es bedenklich, Unterschiede zu machen, je nachdem ob der Richter auf Grund seines persönlichen Eindrucks urteilt oder ob seiner Auffassung etwa 85

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A6 nur das Gutachten eines Sachverständigen zugrunde liegt. Auch hier gilt, daß im allgemeinen das Revisionsgericht zu eigenen Ermittlungen keinen Anlaß haben wird, wenn es erkennt, daß der Tatrichter sich bemüht hat, sich mit Hilfe eines Sachverständigen und auf Grund eigner unmittelbarer Wahrnehmungen ein zutreffendes Bild von der psychischen und physischen Beschaffenheit des Angeklagten zu verschaffen. 4. Bei Zulässigkeit des Rechtsmittels hat das Rechtsmittelgericht grundsätzlich auch zu prüfen, ob für die Tätigkeit der Vorinstanzen die speziellen Prozeßvoraussetzungen für ihr Verfahren gegeben waren. Das Revisionsgericht prüft also, wenn gegen die Sachentscheidung des Berufungsgerichts form- und fristgerecht Revision eingelegt ist, ob gegen das Urteil des Amtsgerichts rechtzeitig Berufung eingelegt war, und es prüft, wenn das Amtsgericht eine Sachentscheidung gefällt hat, nachdem ein vorangegangenes summarisches Verfahren (Strafbefehls- und Strafverfügungsverfahren) durch Einspruch in das ordentliche Hauptverfahren übergeleitet war, ob der Rechtsbehelf form- und fristgerecht angebracht worden ist. Denn wenn diese Fragen zu verneinen sind, so stand in den Vorinstanzen dem Erlaß eines Sachurteils das Verfahrenshindernis der Rechtskraft entgegen. Wenn also das Revisionsgericht feststellt, daß der Einspruch gegen den Strafbefehl verspätet eingelegt war, so verwirft es den Einspruch als unzulässig und hebt die in Verkennung der bereits eingetretenen Rechtskraft ergangenen Urteile des Amtsgerichts und des Berufungsgerichts auf(BGHSt. 13 306 = NJW 1960 109, das sich mit Recht gegen die Auffassung wendet, daß statt auf Aufhebung der Urteile neben der Verwerfung des Einspruchs auf Einstellung des weiteren Verfahrens erkannt werden könne, weil es keine gewisse Verfahrensabschnitte beschränkte Einstellung gibt). Hat aber das Amtsgericht, die Verspätung des Einspruchs übersehend, auf eine gegenüber dem Strafbefehl mildere Strafe erkannt, so muß, wenn der Angeklagte Berufung eingelegt hat, das Berufungsgericht auch hier dem Verbot der Verschlechterung (§ 331 StPO) Rechnung tragen und darf unter Aufhebung des angefochtenen Urteils den Einspruch nur mit der Maßgabe als unzulässig verwerfen, daß es bei der herabgesetzten Strafe verbleibt (BGHSt. 18 127 = NJW 1963 166; BayObLGSt. 1953 34; OLG Hamm NJW 1970 1092). Das gleiche gilt für das Revisionsgericht, wenn der Angeklagte Revision einlegt, nachdem das Berufungsgericht, die bereits eingetretene Rechtskraft des Strafbefehls übersehend oder verkennend, die Strafe gegenüber dem ersten Urteil herabsetzte. Entsprechendes muß dann aber auch gelten, wenn der Vorderrichter in anderer Weise gegen den Grundsatz ne bis in idem verstieß, also z.B. das Berufungsgericht übersah, daß die Berufung sich nur gegen den Strafausspruch richtete und den schon rechtskräftig gewordenen Schuldspruch zum Vorteil des Angeklagten abänderte (vgl. dazu OLG Bremen JZ 1958 546 mit Anm. von S p e n d e l ) oder bei einer Beschränkung der Berufung auf die Ablehnung der Strafaussetzung zur Bewährung die Rechtskraft des Strafausspruchs übersah und die Strafe herabsetzte (vgl. OLG Oldenburg NJW 1959 1983). Auch hier muß das Revisionsgericht dem Verbot der Verschlechterung (§ 358) Rechnung tragen. Eine solche Behandlung ist allerdings nur möglich und gerechtfertigt, wenn man davon ausgeht, daß ein im Widerspruch zu dem Grundsatz ne bis in idem ergangenes Urteil nicht schlechthin nichtig ist, sei es, daß man überhaupt dem Verstoß gegen das Verbot der Doppelbestrafung die Folge der Nichtigkeit der späteren Entscheidung abspricht, sei es, daß man mit BGHSt. 13 3 0 6 = NJW 1960 109; BGHSt. 18 127= NJW 1963 166 die Nichtigkeit jedenfalls dann verneint, wenn der Verstoß sich innerhalb desselben Verfahrens in verschiedenen Abschnitten oder Rechtszügen ereignet. Vgl. dazu unten S. 109 und 188. 6. Zusammentreffen von Verfahrenshindernissen. Außer dem zuvor (Nr. 5) erörterten Fall, daß ein Rechtzugshindernis und ein allgemeines Verfahrenshindernis zusammentreffen, ist auch eine Konkurrenz mehrerer allgemeiner Verfahrenshindernisse möglich, z. B. fehlender Strafantrag neben Verjährung. Dieser Fall bietet im allgemeinen keine Probleme: die Verfahrenshindernisse sind grundsätzlich rechtlich gleichwertig, und es spielt keine Rolle, ob die Einstellung aus dem einen oder dem anderen Grunde oder aus beiden Gründen ausgesprochen wird, wenn beide Verfahrenshindernisse dargetan sind. Ein Rangverhältnis zwischen mehreren Verfahrenshindernissen besteht nach der Rechtsprechung nur, wenn die Niederschlagung durch ein Straffreiheits86

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gesetz mit anderen Verfahrenshindernissen (fehlender Strafantrag, Verjährung) zusammentrifft. Dann haben diese vor der Niederschlagung den Vorrang, weil es für den Beschuldigten in der Wertung der Öffentlichkeit im allgemeinen beschwerender wirkt, wenn er „nur" auf Grund einer allgemeinen Amnestie aus dem Verfahren entlassen wird (so für das Verhältnis von Amnestie zu fehlendem Strafantrag R G DStR 1937 206, und von Amnestie zu Verjährung RG H R R 1939 Nr. 1014; BGHSt. 12 15; vgl. Anm. 9d zu § 260). 7. Geltung des Grundsatzes „in dubio pro reo" 4 9 a) Eine Verurteilung setzt in sachlichrechtlicher Beziehung voraus, daß das Gericht in tatsächlicher Hinsicht die Uberzeugung von einem bestehenden staatlichen Strafanspruch erlangt hat, d. h. die Überzeugung (vgl. unten S. 149), daß positiv der Angeklagte alle Merkmale des gesetzlichen Tatbestandes rechtswidrig und schuldhaft verwirklicht hat, und daß negativ keinerlei Strafausschließungs- und Strafaufhebungsgründe sachlichrechtlicher Art ihm zur Seite stehen; nicht behebbare Zweifel an dem Vorliegen dieser Voraussetzungen wirken sich zugunsten des Angeklagten aus („in dubio pro reo"). Noch nicht abschließend geklärt ist die Frage, ob der Grundsatz der Wohltat des Zweifels allgemein auch für die Prozeßvoraussetzungen (d. h. für ihre tatsächlichen Grundlagen) mit der Wirkung gilt, daß ein Sachurteil nicht ergehen kann, wenn nicht zur Überzeugung des Gerichts die Prozeßvoraussetzung vorliegt, oder — negativ ausgedrückt — wenn nicht auszuschließen ist, daß ein Verfahrenshindernis vorliegt. aa) Das R G hatte hinsichtlich der Niederschlagung durch ein Straffreiheitsgesetz in ständiger Rechtsprechung (vgl. RGSt. 71 263; 72 5, 25) unter weitgehender Zustimmung des Schrifttums die Geltung der Zweifelsbegünstigung mit der Begründung verneint, bei der Niederschlagung handele es sich um einen ausnahmsweise ergehenden Eingriff in den regelmäßigen Gang der Rechtspflege; dem Ausnahmecharakter entsprechend könne sie nur da eingreifen, wo ihre Voraussetzungen — es handelte sich dabei vornehmlich um den amnestieerheblichen Zeitpunkt der Tatbegehung — voll nachgewiesen seien. Als aber im Lauf der Zeit die Amnestievoraussetzungen durch den Einbau einschränkender und ausschließender Merkmale (Not, Gewinnsucht, gemeine Gesinnung, Vorstrafen) mehr und mehr verfeinert wurden, gewann die Auffassung Boden, daß wenigstens bei der Feststellung dieser Merkmale der Satz „in dubio pro reo" anzuwenden sei, weil es sich wiederum um Ausnahmen von der Regel der Gewährung der Straffreiheit handele (vgl. BGH JR 1954 355 m. Anm. N ü s e ) . Diese Konstruktion einer Ausnahme von der Ausnahme zeigt die Brüchigkeit einer verschiedenartigen Behandlung der einzelnen tatsächlichen Amnestievoraussetzungen; ein überzeugender Grund für eine solche Differenzierung läßt sich nicht aufstellen (vgl. S t r e e , in dubio pro reo S. 68ff. m. Nachw., a. M. Kl [29] 8 zu § 261). Der vom RG entwickelte Gedanke, daß Verfahrenshindernisse, die „ausnahmsweise in den regelmäßigen Gang der Rechtspflege eingreifen", voll nachgewiesen werden müßten, wirkte aber noch nach bei dem Verfahrenshindernis der res iudicata. So wollte OLG Hamm NJW 1960 1784 (Vorlegungsbeschluß wegen beabsichtigter Abweichung von BayObLGSt. 1956 70) das Verfolgungsverbot des § 22 Abs. 2 a. F. StVG, also das Verfahrenshindernis des ne bis in idem nur eingreifen lassen, wenn die Erteilung einer gebührenpflichtigen Verwarnung voll nachgewiesen war. Auch diese Folgerung wird im Schrifttum ganz überwiegend abgelehnt. bb) BGHSt. 1 207 wollte zwischen Prozeßvoraussetzungen und Prozeßhindernissen unterscheiden und nur bei ersteren den genannten Grundsatz gelten lassen. Diese Unterscheidung fand aber keine Zustimmung, denn ein solcher Unterschied besteht nicht (vgl. oben S. 79). cc) Nach anderer Auffassung (vgl. K G JR 1954 470; S a r s t e d t , Revision [41 245; S a x JZ 1958 178; M ü l l e r - S a x [6] S. 217) läßt sich entgegen den Auffassungen imSchrift45

Aus dem Schrifttum vgl. — außer den im Text Genannten — u. a. S t r e e , In dubio pro reo, Tübingen rechtswissenschaftl. Abhandlungen 5 (1962); H o l t a p p e l s , Die Entwicklungsgeschichte des Grundsatzes „in dubio pro reo", Heft 55 der Hamburger Rechtsstudien (1965); D. und U. M a n n , Die Anwendbarkeit des Grundsatzes J n dubio pro reo" auf Prozeßvoraussetzungen, ZStrW 76 (1964) 264; S a r s t e d t , Revision in Strafsachen [4] 246.

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A7 tum, die allgemein den Zweifelsgrundsatz, wenn auch z. T. mit verschiedener Begründung, auf die tatsächlichen Grundlagen erstrecken wollen (vgl. z.B. H e n k e l [2] 353; P e t e r s [2] 249; E b S c h m i d t Lehrk. I [2] Rz. 198; M a n n ZStrW 76 [1964] 264), die Geltungsfrage nicht einheitlich beantworten, sondern bedarf jeweils einer besonderen Prüfung für die einzelnen Hindernisse. Auch nach BGHSt. 18 274, 2 7 7 = NJW 1963, 1209= LM Nr. 13 zu § 67 StGB m. Anm. H e n g s b e r g e r = JZ 1963 605 m. Anm. E b S c h m i d t verbieten die Grundsätze der Gerechtigkeit und Rechtssicherheit „eine schablonenhafte Antwort, die einheitlich gelten könnte". b) Bei den in der täglichen Rechtshandhabung häufigsten Fällen hat sich aber jetzt eine verhältnismäßig weitgehende Übereinstimmung, eine „hM" ergeben, und es fragt sich, ob sich auf dieser Grundlage nicht eine generelle Antwort finden läßt, die so lange Geltung beansprucht, bis sich bei bestimmten Hindernissen erweist, daß eine Ausnahme geboten ist. aa) Entgegen der früheren Rechtsprechung ist seit BGHSt. 18 274 jetzt wohl allgemein anerkannt, daß der nicht behebbare Zweifel, ob die Verfolgung der Tat verjährt ist, zugunsten des Angeklagten ausschlägt, denn „Gerechtigkeit und Rechtssicherheit stehen miteinander besser in Einklang, wenn sich das Verlangen nach Bestrafung des Schuldigen dem Anliegen unterordnet, ihn nicht in — möglicherweise — durch Verjährung wiedererlangter Rechtssicherheit anzutasten, als wenn es dieses Anliegen zurückdrängt und dabei die etwaige Ungesetzlichkeit der Strafe in Kauf nimmt. Ein Verdacht ungesetzlichen Strafens schadet dem Vertrauen in die Rechtssicherheit der Strafrechtspflege mehr als es die Gerechtigkeit befriedigt, wenn der Täter — nach langer Zeit — doch noch zur Rechenschaft gezogen wird" (BGH a.a.O.) Das gilt naturgemäß nicht nur bei Zweifeln, wann die Tat begangen ist, sondern auch bei tatsächlichen Zweifeln anderer Art. z. B. über den Zeitpunkt einer Verjährungsunterbrechungshandlung. Hinzuzufügen ist noch, daß ein Zweifel über den Ablauf der Verjährungsfrist auch dann den Beschuldigten begünstigt, wenn es sich um die Frage handelt, ob durch eine spätere gesetzliche Verlängerung der Verjährungsfrist zulässigerweise eine noch laufende Verjährungsfrist verlängert wurde, oder ob eine unzulässige Wiedereröffnung einer bereits eingetretenen Verjährung vorliegt (vgl. unten S. 116 ff.). Ist ein z. Z. der NS-Herrschaft begangenes Verbrechen erst nach dem 8. 5. 1945 einer Strafverfolgungsbehörde bekannt geworden, so greift die Verjährungshemmung nach den nach Kriegsende erlassenen landesrechtlichen Gesetzen zur Ahndung natsoz. Straftaten nur ein, wenn sicher ist, daß die Verfolgung während der natsoz. Herrschaft an einem Eingreifen von hoher Hand gescheitert wäre (BGHSt. 23 137). bb) Daß tatsächliche Zweifel, ob ein wirksamer Strafantrag vorliegt, zugunsten des Angeklagten wirken, ist seit jeher anerkannt (RGSt. 47 238; BayObLGSt. 1961 66; OLG Celle NJW 1963 68; BGHSt. 22 90). Das gilt auch dann, wenn der Tatrichter, um die Rechtzeitigkeit des Strafantrags darzutun, tatsächliche Feststellungen über den Zeitpunkt der Tatbegehung getroffen hat, die vom Revisionsgericht im Wege des Freibeweises angestellten Ermittlungen aber zu einem non liquet führen (BGH a.a.O.). cc) Der Grundsatz in dubio pro reo gilt bei tatsächlichen Zweifeln über den Verbrauch der Strafklage. BayObLG NJW 1969 2118 hat zutreffend dargelegt, daß abweichende und einschränkende Auffassungen, wie sie früher in Rechtsprechung und Schrifttum vertreten wurden, durch BGHSt. 18 274 überholt seien. Das leuchtet schon deshalb ein, weil der verfassungsmäßig (Art. 103 Abs. 3 GG) garantierte Grundsatz ne bis in idem keine geringere Wirkung entfalten kann als die Verjährung. dd) Bei den speziellen Prozeßvoraussetzungen des Rechtsmittelverfahrens und eines sonstigen durch Ergreifung eines Rechtsbehelfs eröffneten Nachprüfungsverfahren ist streitig, ob bei einem Zweifel über die Wirksamkeit des Rechtsmittels oder Rechtsbehelfs, soweit er sich auf die tatsächlichen Umstände der Einlegung oder des Weiterbestehens bezieht, überhaupt der Grundsatz in dubio pro reo Anwendung findet, und ob z. B. unter diesem Gesichtspunkt ein vom Angeklagten eingelegtes Rechtsmittel als rechtzeitig eingelegt anzusehen ist, wenn ein nicht aufklärbarer Zweifel über den Zeitpunkt der Einlegung besteht. Überwiegend wird hier verneint, daß der Satz in dubio pro reo die Grundlage für die Entscheidung bilden könne. Die Begründung dafür ist nicht einheitlich. So wird etwa geltend 88

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gemacht, ob ein Rechtsmittel als rechtzeitig eingelegt zu behandeln sei, könne unmöglich von dem späteren sachlichrechtlichen Ausgang des Verfahrens abhängig gemacht werden (vgl. OLG Celle NdsRpfl. 1967 137). Nach anderer Auffassung bildet der Satz vom Ausschlag des Zweifels zugunsten des Angeklagten deshalb keine Entscheidungsgrundlage, weil die Frage, ob ein Rechtsmittel bei unbehebbaren Zweifeln als rechtzeitig eingelegt zu behandeln ist, nur einheitlich für alle Verfahrensbeteiligten beantwortet werden könne, also gleiphviel, ob es sich um ein Rechtsmittel des Angeklagten oder um ein zu seinen Ungunsten eingelegtes Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft, des Privat- oder Nebenklägers handelt (vgl. BGH NJW 1960 2202). Die von dieser Grundlage aus unternommenen Lösungsversuche gelangen zu sehr verschiedenen Ergebnissen mit widersprechenden Maximen: (,4m Zweifel zugunsten der Rechtskraft"; ,4m Zweifel zugunsten des Rechtsmittels"). Bei der Lösung des Problems bildet z. T. die Erwägung den Ausgangspunkt, daß die Rechtskraft automatisch durch Fristablauf eintrete, wenn sie nicht durch einen Gegenakt, durch rechtzeitige Einlegung eines Rechtsmittels gehemmt wird (§§ 316, 343 StPO). Daraus wird — gewissermaßen unter dem Gesichtspunkt des Verhältnisses von Regel zur Ausnahme — gefolgert, daß die Rechtskraft nur entfalle, wenn die Rechtzeitigkeit des Rechtsmittels feststeht; ist dies bei dem vom Angeklagten eingelegten Rechtsmittel nicht der Fall, so hat die Rechtssicherheit den Vorrang vor dem Verteidigungsbedürfnis des Angeklagten. Es gilt dann also der Grundsatz: im Zweifel zugunsten der Rechtskraft; gegenüber dem Vorwurf einer unbilligen Verkürzung der Belange des Angeklagten wird auf die Möglichkeit einer Wiedereinsetzung in den vorigen Stand verwiesen (so K G JR 1954 470 m. abl. Anm. S a r s t e d t ; OLG Düsseldorf NJW 1964 1684 m.abl. Anm. S c h ü r m a n n N J W 1964 2265). In der gleichen Richtung liegt BGHSt. 10 245 mit abl. Anm. S a x in JZ 1958 179: hat der Verteidiger das von ihm eingelegte Rechtsmittel zurückgenommen und ist nicht aufklärbar, ob der Angeklagte die Rücknahmeermächtigung (§ 302 Abs. 2) vor oder nach der Rücknahme widerrufen hatte, so geht, nachdem der Angeklagte einmal dem Verteidiger die Rücknahmeermächtigung erteilt hatte, die Ungewißheit, ob er sie rechtzeitig widerrufen hatte, zu seinen Lasten (,4m Zweifel für Fortbestand der Rücknahmeermächtigung", d. h. praktisch „im Zweifel zugunsten der Rechtskraft"). Im entgegengesetzten Sinn hat aber BGH NJW 1960 2202 den Fall entschieden, daß an ein und demselben Tag innerhalb der Anfechtungsfrist ein Rechts mittel verzieht des Angeklagten und eine zeitlich später von ihm angefertigte Rechtsmittelschrift bei Gericht eingingen und nicht festgestellt werden konnte, welche der beiden Erklärungen zeitlich früher eingegangen war. Der BGH nimmt — im Gegensatz zu K G JR 1954 470 — an, daß das Rechtsmittel als rechtzeitig eingelegt zu behandeln sei. Wenn nämlich, so heißt es in der Entscheidung, die Rechtzeitigkeit des Rechtsmittels in Frage stehe, so sei es nach §§ 319, 346 StPO nur als unzulässig zu verwerfen, wenn es verspätet sei; der Richter müsse also die Überzeugung von der Verspätung erlangt haben und bei einem nicht behebbaren Zweifel von der Rechtzeitigkeit der Einlegung ausgehen. Der Vorwurf von OLG Celle NdsRpfl. 1967 137, daß der BGH die Wirksamkeit der Einlegung „vornehmlich aus Gründen reiner ,Wortinterpretation'" folgere, ist insofern nicht begründet, als der BGH sein Ergebnis an dem Erfordernis der Rechtssicherheit mißt, wenn er ausführt: „Die Rechtssicherheit wird nicht dadurch gefährdet, daß ein Rechtsmittel als zulässig behandelt wird, sofern nicht seine verspätete Einlegung feststeht. Das Gesetz geht von dem Gedanken aus, daß in den Fällen, in denen ein Rechtsmittel vorgesehen ist, die Nachprüfung im nächsthöheren Rechtszug grundsätzlich der gerechteren Entscheidung der Sache dient. Gerade dadurch wird die Rechtssicherheit am besten gewährt." Zuzugeben ist aber, daß die Argumentation aus dem Wortlaut der §§ 319, 346 nicht zwingend ist — die §§ 316, 343 lassen sich ebensogut dahin auslegen, daß die Rechtskraft nur durch rechtzeitige Einlegung gehemmt wird und daß als verspätet i. S. der §§ 319, 346 ein Rechtsmittel zu verwerfen ist, wenn seine Rechtzeitigkeit nicht feststeht — und daß die hier zutage tretenden Vorstellungen von der Bedeutung der Rechtssicherheit (Rechtssicherheit = Ermöglichung besserer Rechtsfindung) sich von den Vorstellungen entfernen, die üblicherweise mit dem Begriff der Rechtssicherheit verbunden werden. Das zeigt sich alsbald, wenn bei einem von der Staatsanwaltschaft zuungunsten des Angeklagten eingelegten Rechtsmittel unbehebbare Zweifel bestehen, ob es rechtzeitig eingelegt ist. Nach OLG Celle NdsRpfl. 1967 137 ist ein solches Rechtsmittel als unzulässig 89

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A7 zu verwerfen, denn aus Gründen der Rechtssicherheit (oder der Gerechtigkeit) müsse der Angeklagte sicher sein dürfen, daß er nicht in ein Rechtsmittelverfahren hineingezogen wird, das die Möglichkeit eines für ihn ungünstigen Ausgangs eröffnet, ohne daß sich die Wirksamkeit der Rechtsmitteleinlegung feststellen läßt: „Ein Angeklagter darf nicht darunter leiden, daß das Rechtsmittel möglicherweise nicht verspätet ist." Aber rflit Rücksicht auf den in BGH NJW 1960 2202 ausgesprochenen Grundsatz, daß die Frage, ob ein Rechtsmittel bei unbehebbaren Zweifeln an der Rechtzeitigkeit seiner Einlegung als rechtzeitig zu behandeln sei, für alle verfahrensbeteiligten Rechtsmittelführer nur einheitlich beantwortet werden könne, sieht sich OLG Celle nunmehr zu der Folgerung veranlaßt, daß auch das vom Angeklagten oder von der Staatsanwaltschaft zu seinen Gunsten eingelegte Rechtsmittel bei unaufklärbaren Zweifeln an der Rechtzeitigkeit der Einlegung als unzulässig zu verwerfen sei. Es gilt danach eben doch der Grundsatz „im Zweifel zugunsten der Rechtskraft", weil es „Sinn der strengen Fristbestimmungen nun einmal ist, daß die vorgeschriebenen Fristen eingehalten sein müssen; daß sie möglicherweise gewahrt sind, kann nicht genügen". Damit setzt sich das OLG Celle in offenen Widerspruch zu BGH NJW 1960 2202, und seine Darlegungen, daß eine Vorlegungspflicht nach § 121 Abs. 2 GVG nicht bestehe, lassen sich kaum halten. Im Ergebnis zeigt sich, daß sich BGH NJW 1960 2202 mit dem Grundsatz „im Zweifel zugunsten des Rechtsmittels, gleichviel von wem es eingelegt ist", in der Rechtsprechung der Oberlandesgerichte (OLG Düsseldorf NJW 1964 1684; OLG Celle NdsRpfl. 1967 137) nicht durchzusetzen vermochte, diese vielmehr an dem Grundsatz „im Zweifel zugunsten der Rechtskraft" festhielten. Das aber erscheint, soweit es sich um das vom Angeklagten oder zu seinen Gunsten eingelegte Rechtsmittel handelt, unbillig. Da jedoch auf der anderen Seite nicht zu leugnen ist, daß sein von O L G Celle a.a.O. zutreffend dargelegtes Interesse an Rechtssicherheit mit dem von BGH NJW 1960 2202 aufgestellten Grundsatz der Gleichbehandlung aller Rechtsmittel nicht in Einklang zu bringen ist, fragt es sich, ob nicht doch — ungeachtet aller theoretischen Skrupel über den Anwendungsbereich des Grundsatzes in dubio pro reo — eben die konsequente Durchhaltung dieses Grundsatzes zu billigen Ergebnissen führt. Den Ausgangspunkt böte dann die in BGHSt. 18 274, 278 angestellte Erwägung, daß „Gerechtigkeit und Rechtssicherheit miteinander besser im Einklang stehen, wenn sich das Verlangen nach Bestrafung des Schuldigen dem Verlangen unterordnet, ihn nicht in möglicherweise . . . wiedererlangter Rechtssicherheit anzutasten, als wenn es dieses Anliegen zurückdrängt und dabei die etwaige Ungesetzlichkeit der Strafe in Kauf nimmt. Ein Verdacht ungesetzlichen Strafens schadet dem Vertrauen in die Rechtsstaatlichkeit der Strafe mehr, als es die Gerechtigkeit befriedigt...". Das ist freilich nur für die Verjährung ausgesprochen, aber diese Erwägungen sind ganz allgemeingültiger Art und fordern auch bei Zweifeln über die speziellen Verfahrensvoraussetzungen eines zuungunsten des Angeklagten eingelegten Rechtsmittels Beachtung. Unter diesen Gesichtspunkten erscheint die Forderung vertretbar, die These von der Gleichbehandlung aller Rechtsmittel bei unaufklärbaren Zweifeln über die Rechtzeitigkeit der Einlegung usw. preiszugeben. Wenn der Angeklagte selbst ein Rechtsmittel einlegt, so ist er durch das Verbot der reformatio in peius vor einer weitergehenden Bestrafung geschützt; er kann seine Stellung nur verbessern. Ergreift er Rechtsbehelfe, bei denen dies Verbot nicht gilt (§§411 Abs. 3, 413 StPO), so nimmt er freiwillig das Risiko einer härteren Bestrafung auf sich. Ergreift er keine Rechtsmittel, sei es, daß er dazu keinen Anlaß (und keine Möglichkeit) hat, weil das Urteil auf Freispruch oder Einstellung lautet, sei es, daß er sich mit der verurteilenden Erkenntnis abfindet, so wird mit ungenutztem Ablauf der Rechtsmittelfrist das Urteil ihm gegenüber unanfechtbar; er erlangt damit einen Besitzstand, der ihm nur entzogen werden kann, wenn rechtzeitig ein Rechtsmittel zu seinen Ungunsten eingelegt wird. Die Rechtsstaatlichkeit mit den ihr immanenten Postulaten der Rechtssicherheit und Gerechtigkeit verlangt dann aber, wie OLG Celle a.a.O. zutreffend dargelegt hat, daß er, wenn eine erweislich rechtzeitig gegen ihn gerichtete Anfechtung nicht erfolgt ist, in seinem Vertrauen auf den erworbenen prozessualen Besitzstand geschützt wird, daß er „nicht darunter leiden darf, daß das Rechtsmittel möglicherweise nicht verspätet ist". Wenn für das Verfahrenshindernis der res iudicata der Grundsatz in dubio pro reo gilt (s. o. S. 88), so ist nicht einzusehen, warum dies nicht auch in den Fällen gelten sollte, in denen der Zweifel, ob die Sache rechtskräftig erledigt ist, darauf beruht, daß nicht auf-

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klärbar ist, ob das gegen den Angeklagten betriebene Rechtsmittel rechtzeitig eingelegt wurde. c) Insgesamt würde das Ergebnis der vorstehenden Einzelerörterungen dahin zusammenzufassen sein, daß der Grundsatz in dubio pro reo (gleichviel ob unmittelbar oder nach seinem Sinngehalt) grundsätzlich überall dort gilt, wo aus tatsächlichen Gründen ein unaufklärbarer Zweifel besteht, ob ein durchsetzbarer staatlicher Strafanspruch noch besteht. Wenn in BGHSt. 18 274, 277 trotz der weitreichend dieses Ergebnis unterstützenden allgemeinen Erwägungen doch vor einer schablonenhaften Antwort gewarnt wird, die einheitlich gelten könnte, so mag dies durch die Vorsicht gerechtfertigt sein, die immer angebracht ist, wenn sich ein oberster Gerichtshof mit dem Teilaspekt eines Problems befaßt, das bis dahin in der Rechtsprechung überwiegend anders behandelt worden ist. Der Nachdruck liegt dabei auf der Warnung vor einer schablonenhaften Antwort, und es wäre in der Tat verfehlt, gewaltsam auf die Behandlung nach dem Grundsatz in dubio pro reo dringen zu wollen, wenn neue Fragen hervortreten sollten, bei denen überwiegende Gründe eine andere Behandlung erfordern. Die bisher in den Blickpunkt der Betrachtung getretenen Fälle von dauernden Verfahrenshindernissen scheinen aber zu einer differenzierenden Behandlung keinen Anlaß zu geben. d) Abschließend sei eine Bemerkung allgemeinerer Art gestattet: Den Ausgangspunkt für die Behandlung der Frage der Erstreckung des genannten Grundsatzes auf die tatsächlichen Grundlagen der Prozeßvoraussetzungen bildete vielfach — ausgesprochen oder empfunden — die an zivilprozessuale Beweislastgrundsätze anklingende Vorstellung, daß einerseits die Entstehung eines staatlichen „Strafanspruchs" voll bewiesen werden müsse, daß andererseits aber auch prozessuale Hindernisse, die sich ausnahmsweise der Durchsetzung des Anspruchs im Verfahren entgegenstellen, voll bewiesen sein müßten. Dem läßt sich aber die andere Betrachtungsweise entgegenstellen, daß der Staat nur dann aburteilend in die Rechtsgüter des einzelnen, in seine Freiheit, seine Ehre, sein Vermögen, eingreifen dürfe, wenn a l l e Voraussetzungen eines solchen Eingriffs vorliegen und voll bewiesen sind. Auf dem Gebiet des materiellen Rechts geht die Entwicklung eindeutig in die Richtung, überall die volle Feststellung der Schuld zu fordern, mit der Wirkung, daß das Anwendungsgebiet des Satzes in dubio pro reo sich entsprechend erweitert. Die Schuld- und Beweisvermutungen sind bereits weitgehend beseitigt; wo sie noch bestehen, sind die Reformpläne auf ihre Preisgabe gerichtet (vgl. z. B. § 286 StGB-Entw. 1962, der die Beweisregel in § 259 StGB Hehlerei — aufgeben will). Der alte Satz von der Bedeutungslosigkeit des Strafrechtsirrtums (ignorantia iuris nocet) hat im Strafrecht keine Stätte mehr; die den Verbotsirrtum betreffenden Feststellungen aber stehen unter der Herrschaft von der Rechtswohltat des Zweifels. Auch die Figur der objektiven Bedingung der Strafbarkeit hat durch die Berücksichtigung des Verbotsirrtums (vgl. § 113 Abs. 4 StGB i. d. F. des 3. Strafrechtsreformges. v. 20.5. 1970, BGBl. I 505) ihre frühere schuldunabhängige Bedeutung verloren. Es ist angesichts dessen nur folgerichtig, daß auch die Rechtsentwicklung auf dem Gebiet verfahrensrechtlicher Voraussetzungen für eine Bestrafung sich parallel vollzieht in dem Sinn, daß auch hier die volle Uberzeugung von dem Vorliegen der Voraussetzungen (in tatsächlicher Beziehung) gefordert werden wird, von denen die Zulässigkeit einer Strafe abhängt. 8. Verfahren nach erkanntem Verfahrenshindernis. Folgen der Nichtbeachtung. Ergibt die Nachforschung, daß eine Verfahrensvoraussetzung fehlt, und ist die alsbaldige Beseitigung des Mangels nicht — wie z. B. bei fehlendem Strafantrag durch dessen fristgemäße, auch in der Revisionsinstanz noch zulässige (RGSt. 68 120; BGHSt. 3 74) Nachholung — durchführbar, so muß gemäß §§ 260 Abs. 3, 206 a grundsätzlich das Verfahren je nach Lage durch Urteil oder Beschluß eingestellt werden (RGSt. 53 52, 249, 276; 69 158), und zwar, wenn mit späterer Behebung des Mangels gerechnet werden kann, vorläufig, andernfalls endgültig. Doch muß oder kann ausnahmsweise dem Verfahrenshindernis auch in anderer Weise als durch Einstellung Rechnung getragen werden. So führt fehlende sachliche Zuständigkeit im allgemeinen zur Verweisung an das sachlich zuständige Gericht; die in der Revisionsinstanz erkannte Verletzung des Innehaltungsgebots nach §§164 Abs. 3, 191 StGB begründet nicht die Einstellung des Verfahrens, sondern die Aufhebung des Ur91

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A9 teils und die Zurückverweisung der Sache an die Vorinstanz (BGHSt. 8 154); bei doppelter Rechtshängigkeit kann ggf. das Revisionsgericht das zuerst ergangene Urteil aufheben und die Vorinstanz zur Verbindung der beiden Verfahren anweisen (BGHSt. 10 363; s. unten S. 97). Auf jeden Fall aber schließt der Mangel der Verfahrensvoraussetzung eine Sachentscheidung durch das mit der Sache befaßte Gericht aus; es ist also auch unzulässig, mit der Einstellung wegen eines Verfahrenshindernisses eine Sachentscheidung, sei es auch nur in der Form eines Schuldausspruchs ohne Strafausspruch, zu verbinden (BGHSt. 20 225, 333, 335). Ergeht trotzdem eine Sachentscheidung, weil das Gericht den Mangel der Verfahrensvoraussetzung nicht erkannt hat oder sich der Unzulässigkeit der Sachentscheidung nicht bewußt geworden ist, so ist diese doch der äußeren und der inneren Rechtskraft fähig; wird sie nicht rechtzeitig angefochten, so ist der Gegenstand des Verfahrens grundsätzlich' entsprechend dem Inhalt der Sachentscheidung erledigt (RGSt. 40 271, 273; 55 100; 56 352). Ob es hiervon in gewissen Fällen Ausnahmen gibt, mit der Folge, daß der Gesetzesverstoß dem Urteil die Beachtlichkeit entzieht, wird im Zusammenhang mit der Behandlung der Frage der Nichtigkeit gerichtlicher Entscheidung zu erörtern sein (unten S. 184). 9. Freispruch trotz fehlender Prozeßvoraussetzung. Die Pflicht des Gerichts, sich beim Fehlen einer Prozeßvoraussetzung einer Sachentscheidung zu enthalten, kann für den Beschuldigten wie für den Verletzten im Einzelfall zu Unbilligkeiten führen. Das ist namentlich bei den verschiedenen Amnestien, die in der Zeit seit dem ersten Weltkrieg erlassen worden sind, zutage getreten. Die Niederschlagung eines anhängigen Strafverfahrens kann für den Beschuldigten zur Folge haben, daß ihm die Möglichkeit verlorengeht, durch einen Freispruch von dem erhobenen Verdacht gereinigt zu werden; für den durch eine Beleidigung Verletzten kann sie den Verlust der Rehabilitierungsmöglichkeit bedeuten, wenn über die Unwahrheit oder Nichterweislichkeit der rufgefährdenden Behauptung nicht mehr im Strafurteil entschieden wird. Die neuere Amnestiegesetzgebung ist bemüht, diesen Mängeln abzuhelfen, und zwar, indem sie dem Beschuldigten, der seine Unschuld geltend macht, das Recht einräumt, die Fortsetzung des Verfahrens zu beantragen 50 , und dem Verletzten das Recht, die Weiterführung des Verfahrens mit dem Ziel einer Feststellung über die Unwahrheit der Behauptung zu beantragen (oben S. 58). Darüber hinaus hat die Rechtsprechung im Interesse der Rehabilitierung bei dem Verfahrenshindernis der Niederschlagung die sachentscheidungsausschließende Wirkung wesentlich abgeschwächt, indem sie trotz Eingreifens eines Amnestiegesetzes die Freisprechung auch dann zuläßt und fordert, wenn deren Voraussetzungen nach dem Ergebnis der Hauptverhandlung vorliegen, es also weiterer Aufklärung nicht bedarf (RGSt. 70 193; BGHSt. 13 272 = NJW 1959, 2272; BGHSt. 20 333, 335; BayObLGSt. 1963 44, 47; vgl. Anm. 9 zu § 260; Vorbem. IVb vor § 12 GVG). Dieser Grundsatz muß aber auch im Verhältnis zu anderen Verfahrenshindernissen, insbesondere bei der Verjährung durchgreifen (vgl. BGHSt. 20 333, 335; OLG Celle NJW 1968 2119; Anm. 8a zu § 260). Es muß dann das Verfahrenshindernis hinter der ,Justizgewährungspflicht" zurücktreten, wenn der Sachverhalt schon im Sinne eines Freispruchs geklärt ist, weil sonst die als Wohltat fiir den Betroffenen gedachte Einstellung sich zu seinen Ungunsten auswirkte. § 85 des StPO-Entw. 1939 wollte dies durch folgende Vorschrift klarstellen: „Das Gericht stellt das Verfahren ein, wenn ein Verfahrenshindernis besteht und das Ergebnis der Hauptverhandlung den Freispruch nicht begründet 51 ". Ja, es scheint sogar die Auffassung vertretbar, daß das Gericht in Wahrnehmung seiner Fürsorgepflicht, mindestens eines nobile officium, berechtigt ist, 50

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Vgl. zuletzt die Straffreiheitsges. v. 9 . 7 . 1 9 6 8 , BGBl. 1 7 7 3 ( § 9 ) und v. 2 0 . 5 . 1 9 7 0 , BGBl. I 509 (§ 11). Diese Fassung läßt das, was gewollt war, nicht ganz deutlich erkennen. Der Wortlaut könnte dahin verstanden werden, als ob zunächst die Hauptverhandlung vollständig durchzuführen sei und dann erst die Frage, ob auf Einstellung oder Freispruch zu erkennen sei, sich stelle. D a ß die Vorschrift so nicht gemeint war, ergibt sich aus der Begründung zu § 85 (S. 54): „Ist in dem Zeitpunkt, in dem beurteilt werden kann, ob ein Verfahrenshindernis besteht, der Sachverhalt dahin geklärt, daß der Angeklagte gar nicht schuldig ist, so hat ihn das Gericht demnach freizusprechen. Für eine Einstellung des Verfahrens ist nur Raum, wenn in diesem Zeitpunkt die Frage der strafrechtlichen Schuld oder Nichtschuld noch nicht geklärt ist, sondern weiterer Aufklärung bedürfte."

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die Hauptverhandlung trotz Feststehens eines Verfahrenshindernisses ausnahmsweise fortzusetzen, wenn die Möglichkeit eines Freispruchs sehr naheliegt und die noch erforderliche vollständige Sachaufklärung mit präsenten Beweismitteln und ohne nennenswerte Verzögerung erreichbar ist. Auch wenn das Gericht verfahrenswidrig trotz feststehenden Verfahrenshindernisses die Hauptverhandlung bis zur Sachaufklärung weiterführt, die Schuld feststellt und erst dann das Verfahren einstellt, in den Urteilsgründen aber die Schuldfeststellung ausspricht, kann der Angeklagte dagegen nicht mit Erfolg Rechtsmittel mit der Begründung einlegen, daß die Einstellung sofort hätte erfolgen müssen und er durch die Schuldfeststellung in den Urteilsgründen beschwert sei (BGHSt. 13 75). Denn nach herrschender, freilich (namentlich für den Fall des Freispruchs wegen Zurechnungsunfahigkeit statt aus objektiven Gründen) sehr umstrittener Auffassung 52 muß der Angeklagte unmittelbar durch den Inhalt des Spruchs beschwert sein, während eine Beschwer durch die Urteilsgründe nicht genügt. Auch ein Freispruch mangels Beweises nach durchgeführter Hauptverhandlung statt der sofortigen Einstellung wegen eines offen zutage liegenden Verfahrenshindernisses (z. B. Verjährung) beschwert den Angeklagten nicht, weil ihn das freisprechende Urteil nicht schlechter stellt als das Einstellungsurteil, ihn vielmehr insofern begünstigt, als der Freispruch mit der Überbürdung seiner notwendigen Auslagen auf die Staatskasse verbunden ist, während bei alsbaldiger Einstellung wegen eines Verfahrenshindernisses ggf. die Auslagenüberbürdung entfallen kann (§ 467 Abs. 1, Abs. 3 Nr. 2 StPO). Ist im Fall der Tateinheit oder der Gesetzeskonkurrenz der schwerere Schuldvorwurf nicht nachweisbar, während ein Schuld- und Strafausspruch wegen des geringeren Delikts durch ein Verfahrenshindernis ausgeschlossen ist, so lautet das Urteil einheitlich auf Freispruch (vgl. Anm. 8a zu § 260; s. dazu auch wegen eines Sonderfalles H e r t w e c k NJW 1968 1462).

B. Die hauptsächlichen Prozeßvoraussetzungen (Verfahrenshindernisse) 1. Klage und EröfTnungsbeschluß. Klage und EröfTnungsbeschluß sind Verfahrensvoraussetzungen; sie grenzen das Verfahren in persönlicher und sachlicher Hinsicht gegenüber anderen Personen und Taten ab. Ihr Fehlen stellt ein von Amts wegen zu berücksichtigendes Hindernis für das weitere Verfahren dar. Dem Fehlen eines Eröffnungsbeschlusses steht im Fall einer Nachtragsanklage (§ 266) das Fehlen des Einbeziehungsbeschlusses gleich (BGH NJW 1970 904). Der von der Staatsanwaltschaft beherrschte, der Vorbereitung der öffentlichen Klage gewidmete erste Unterabschnitt des Strafverfahrens ist formfreier und unabhängiger gestaltet als die gerichtliche Untersuchung. In ihm können und müssen auch Ermittlungen angestellt werden, die zugleich oder ausschließlich der Aufklärung der Frage dienen, ob das Verfahren zulässig oder ob seine Unzulässigkeit etwa durch den Mangel des Antrags oder durch Verjährung begründet sei. Die Umstände des einzelnen Falls können Anlaß dazu bieten, die Ermittlungen gemäß § 162 StPO durch richterliche Untersuchungshandlungen von einschneidender Wirkung, wie durch Anordnung der Beschlagnahme oder der Durchsuchung, der Verhaftung oder der Vorführung, auf die Gefahr hin zu betreiben, daß die Unzulässigkeit des Verfahrens als Ergebnis der Ermittlungen hervortritt. Dagegen ist die Eröffnung einer gerichtlichen Untersuchung nach § 151 StPO durch die Erhebung einer Klage bedingt. Die Untersuchung und Entscheidung des Gerichts erstreckt sich gemäß § 1 5 5 StPO immer nur auf die in der Klage bezeichnete Tat und auf den durch sie beschuldigten Menschen. Nur innerhalb dieser Grenzen ist das Gericht zu einer selbständigen Tätigkeit berechtigt. Die Klage ist hiermit als eine Voraussetzung für die Zulässigkeit der gerichtlichen Untersuchung und Entscheidung gekennzeichnet. Abgesehen von den besonderen Arten des Verfahrens (Strafbefehl und Strafverfügung) kann nur ausnahmsweise (im beschleunigten Verfahren, § 212, und bei Klageerweiterung, § 266) ohne schriftliche Klage und ohne EröfTnungsbeschluß zur Hauptverhandlung geschritten werden. 52

Vgl. z. B. H e n k e l [2] 366; K o f f k a ZStrW 81 (1969) 964 und unten S. 152.

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Bl Der Übergang vom Vorverfahren zum gerichtlichen Hauptverfahren erfolgt nach einem Zwischenverfahren (§§201, 202 StPO) durch den Eröffnungsbeschluß. Nach § 207 a. F. hatte er die dem Angeklagten zur Last gelegte Tat unter Hervorhebung ihrer gesetzlichen Merkmale und das anzuwendende Strafgesetz zu bezeichnen; in der Hauptverhandlung wurde lediglich der Eröffnungsbeschluß — nicht die Anklage — verlesen (§ 243 Abs. 2 a. F.). Damit war klargestellt, daß von seinem Ergehen ab der Eröffnungsbeschluß die Grundlage des weiteren Verfahrens bildete mit der Folge, daß das Fehlen eines Eröffnungsbeschlusses sich als Verfahrenshindernis darstellte, das grundsätzlich zur Einstellung des Verfahrens führte, auch wenn die Klage ordnungsmäßig erhoben war (BGH JZ 1958 93 mit Anm. K e r n ) . Mit dem Inkrafttreten des StPÄG 1964 hat sich das Bild geändert. Nach wie vor besteht zwar die Bedeutung des Eröffnungsbeschlusses in der (nicht mehr förmlich ausgesprochenen) Bejahung, daß der Angeschuldigte nach den Ergebnissen des vorbereitenden Verfahrens einer strafbaren Handlung hinreichend verdächtig erscheint (§ 203). Nach § 207 n. F. läßt aber der Eröffnungsbeschluß — ggf. mit Änderungen — die Anklage zur Hauptverhandlung zu, und in der Hauptverhandlung wird der Anklagesatz, aber nicht der Eröffnungsbeschluß verlesen (§ 243 Abs. 3 n. F.). Das bedeutet aber nicht, daß der Eröffnungsbeschluß lediglich eine Zwischenfunktion erfüllte und seine Bedeutung als Verfahrensgrundlage jedenfalls dann eingebüßt hätte, wenn das Gericht die Anklage ununverändert zur Hauptverhandlung zuläßt. Denn auch in diesen Fällen hat der Eröffnungsbeschluß nicht nur die Bedeutung der grundsätzlichen Fixierung des Gerichts, vor dem die Hauptverhandlung stattfinden soll, sondern er bildet die Grundlage für die zugelassene Anklage. Damit stellt sich auch der Eröffnungsbeschluß in seiner neuen Gestalt weiterhin als eine Grundlage des Hauptverfahrens dar, so daß sein Fehlen sich als Verfahrenshindernis erweist. Daraus, daß Anklage und Eröffnungsbeschluß Verfahrensvoraussetzungen bilden, ist im einzelnen zu folgern: Macht der Untersuchungsrichter von der im § 191 StPO eröffneten Möglichkeit Gebrauch, die Untersuchung auf einen im Antrag der Staatsanwaltschaft nicht bezeichneten Beschuldigten oder auf eine dort nicht angegebene Tat auszudehnen, so muß er doch die von Amts wegen vorgenommene Untersuchung einstellen, sobald die Staatsanwaltschaft zu erkennen gibt, daß sie die Erstreckung der Klage auf den neuen Täter oder die neue Tat ablehnt. Die trotzdem fortgesetzte Untersuchung ist unzulässig. Unzulässig ist das Vorgehen des an sich sachlich und örtlich zuständigen Gerichts, das sich mit der Untersuchung oder der Entscheidung einer Sache befaßt, obwohl die Klage, die öffentliche oder die Privatklage, fehlt (RGSt. 37 408; 41 155; 56 113; 63 269; 67 59; 68 291; 72 143; 77 21). Dem Fehlen der Klage stehen schwerwiegende Mängel der Klage, wie etwa Fehlen der Angabe des Beschuldigten oder der ihm zur Last gelegten Tat oder eine unzulängliche Bezeichnung der Tat gleich (RGSt. 41 155; 67 59; 68 107, 291; 77 21; BGHSt. 10 140). Da die Zulassung der Anklage zur Hauptverhandlung zum notwendigen Inhalt des Eröffnungsbeschlusses gehört, sind schwere Mängel der zugelassenen Anklage zugleich Mängel des Eröffnungsbeschlusses (OLG Köln NJW 1966 429 m. Anm. K o h l h a a s ) . Ein Fall gänzlichen Fehlens des Eröffnungsbeschlusses liegt vor, wenn das örtlich zuständige Gericht sich zu Unrecht, aber durch unangefochten gebliebene Entscheidung für unzuständig erklärte, dann aber das Verfahren fortsetzt (BGHSt. 18 1) oder wenn das Verfahren vor einem örtlich unzuständigen Gericht eröffnet ist und dieses (unzulässigerweise) die Sache an das örtlich zuständige Gericht verweist und letzteres das Verfahren entsprechend dem Verweisungsbeschluß fortsetzt (OLG Hamm NJW 1961 232). Wie bei der Klage steht es dem Fehlen des Eröffnungsbeschlusses gleich, wenn er an schweren Mängeln leidet, die nicht durch ergänzende Heranziehung der mangelfreien Anklageschrift ausreichend behoben werden können (RGSt. 43 218, BGHSt. 5 225; 10 137, 278; JZ 1958 93). Als solcher Mangel kommt z. B. in Betracht, wenn der Beschluß des Kollegialgerichts statt von drei Richtern nur von zwei oder einem Richter erlassen wird (wobei es nicht auf die Zahl der Unterschriften, sondern der bei der Fassung des Beschlusses Mitwirkenden ankommt; BGHSt. 10, 278). Streitig ist, ob das genannte Verfahrenshindernis vorliegt, wenn beim Eröffnungsbeschluß ein Richter mitwirkt, der von der Ausübung des Richteramts kraft Gesetzes ausgeschlossen ist (so RGSt. 55 113; BGH 1 StR 283/54 v. 9.7. 1954; offengelassen in BGHSt. 10 278 = JZ 1958 93; wohl mit Recht verneinend K e r n JZ 1958 93), 94

Die Verfahrensvoraussetzungen (Verfahrenshindernisse)

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während andere Mängel in der Besetzung der Beschlußkammer die Wirksamkeit des Eröfifnungsbeschlusses nicht berühren und, nicht anders als Mängel in der Besetzung des in der Hauptverhandlung erkennenden Gerichts (vgl. § 338 Nr. 1), nur auf Verfahrensrüge zu berücksichtigen sind (BGHSt. 10 278; 22 169). Wegen weiterer Einzelheiten vgl. die Anm. zu § 207. Wird das dem Verfahren die Grundlage entziehende Fehlen von Anklage und/oder Eröffnungsbeschluß bzw. die Behaftung mit schweren, dem Fehlen gleichstehenden Mängeln bemerkt, so ist das Verfahren einzustellen, ohne daß auf andere Verfahrenshindernisse, wie Verjährung oder Eingreifen eines Straffreiheitsgesetzes, einzugehen wäre (RG H R R 1939 Nr. 545), und in der Rechtsmittelinstanz ist die Einstellung des gesamten Verfahrens auch dann geboten, wenn das Rechtsmittel auf einen Teil des Urteils, etwa auf den Strafausspruch, beschränkt ist (oben S. 82). Jedoch kann im ersten Rechtszug die Einstellung des Verfahrens wegen fehlenden und mangelhaften Eröffnungsbeschlusses dadurch vermieden werden, daß der Eröffnungsbeschluß nachträglich erlassen wird (OLG Oldenburg NJW 1960 353). Bei fehlender Zustellung des Eröffnungsbeschlusses genügt es, wenn der Vorsitzende in der Hauptverhandlung feststellt, daß ein die Anklage zulassender Eröffnungsbeschluß vorliege (OLG Karlsruhe MDR 1970 438). Nach OLG Hamburg NJW 1962 1360 soll auch genügen, wenn ein versehentlich nicht unterschriebener Entwurf eines Eröffnungsbeschlusses vom Gericht in der Hauptverhandlung verlesen wird; a. M. OLG Stuttgart NJW 1962 1834. Mängel der zugelassenen Anklage, die auch den Eröffnungsbeschluß berühren, können behebbar sein, so etwa, wenn Art und Umfang des Schuldvorwurfs zwar in der zugelassenen Anklage nicht genügend klar bezeichnet sind, dies aber durch Hinzuziehung eines Haftbefehls oder sonstiger Aktenteile ausgeglichen werden kann und in der Hauptverhandlung zusätzliche Erläuterungen des Staatsanwalts oder des Vorsitzenden Zweifel über die Tragweite des Schuldvorwurfs ausschließen (vgl. Kl [29] Anm. 5 zu § 207 und aus der früheren Rechtsprechung RGSt. 31 104; 43 218; RG JW 1928 2260 m. Anm. O e t k e r ; BGH NJW 1961 1413). S. aber auch über die Grenzen solcher Erläuterungen und Ergänzungen durch den Vorsitzenden BGH GA 1963 188. Verfahrensfehler im Zwischenverfahren und bei der Eröffnung wie Zustellung der Anklage erst nach Erlaß des Eröffnungsbeschlusses — entgegen § 201 — oder Eröffnung vor Ablauf der gemäß § 201 gesetzten Äußerungsfrist berühren die Zulässigkeit des weiteren Verfahrens nicht (vgl. BGHSt. 6 109, 114). Der Angeklagte kann dann nur in der Hauptverhandlung unter Berufung auf solche Verfahrensfehler gegebenenfalls beantragen, die Hauptverhandlung zur genügenden Vorbereitung seiner Verteidigung — entsprechend dem Rechtsgedanken des § 265 Abs. 4 StPO — auszusetzen; macht er von dieser Möglichkeit keinen Gebrauch, so beruht das Urteil nicht auf den im Zusammenhang mit dem Erlaß des Eröffnungsbeschlusses begangenen Verfahrensfehlern (BGHSt. 15 40). Der spätere Verlust der Urschrift des Eröffnungsbeschlusses steht dem Fortgang des Verfahrens nicht entgegen (RGSt. 55 159; 65 252). Die Gewährung des Schlußgehörs ist auch in den Fällen des § 169 b StPO keine Verfahrensvoraussetzung; unterbleibt es versehentlich, so muß die Staatsanwaltschaft, wenn der Fehler bemerkt wird, die Anklage zurücknehmen und das Schlußgehör gewähren. Kann aber nach Eröffnung des Hauptverfahrens die Anklage nicht mehr zurückgenommen werden (§ 156 StPO), so wird die Zulässigkeit des weiteren Verfahrens durch den Fehler nicht berührt (BGH NJW 1967 1869 und dazu K o h l h a a s NJW 1968 26). Was zuvor über die schriftlich erhobene Anklage ausgeführt ist, gilt entsprechend auch für die mündlich erhobene Anklage (§§ 212 a, 266 StPO). Im Wiederaufnahmeverfahren bildet der im § 366 StPO bezeichnete Antrag die Voraussetzung für das in den §§ 367 bis 370 StPO vorgesehene Zulassungsprüfungsverfahren. Die Wiederaufnahme des Verfahrens und die Erneuerung der Hauptverhandlung setzt voraus, daß das Gericht sie gemäß § 370 Abs. 2 StPO beschlossen hat (RGSt. 35 353). In den besonderen Arten des Verfahrens kommt die Eigenschaft einer Verfahrensvoraussetzung in demselben Sinn wie der Klage im ordentlichen Verfahren den Anträgen des Staatsanwalts nach § 407 StPO (bei Steuervergehen den Anträgen des Finanzamts, § 435 RAbGO) für den Strafbefehl und nach § 429a StPO für das Sicherungsverfahren zu. Der Strafbefehl bildet, wenn der Beschuldigte rechtzeitig Einspruch erhoben hat, den Eröffnungsbeschluß ersetzend, die notwendige Grundlage für das weitere Verfahren; auch 95

Kap. 10

Einleitung (Schäfer)

B2 hier steht dem völligen Fehlen eine durch das Fehlen wesentlicher Merkmale bedirjgte unheilbare Fehlerhaftigkeit gleich. Dagegen führen heilbare oder unwesentliche Fehler, wie etwa die unrichtige Bezeichnung des angewandten Strafgesetzes, die Versäumung der Angabe der Beweismittel oder bloße Mängel in der Konkretisierung der Tat, die durch entsprechende Hinweise des Vorsitzenden in der Hauptverhandlung behebbar sind, nach BayObLG NJW 1961 1782 auch die versehentliche Nichtunterzeichnung des Strafbefehls, nicht zur Einstellung des Verfahrens (näheres Anm. 2 zu § 409). Im Sicherungsverfahren ersetzt die vorliegende Anklageschrift die fehlende Antragsschrift nicht (RGSt. 68 291; 72 143), und es muß das Gericht, wenn die Antragsschrift den wesentlichen Erfordernissen des § 429 b StPO nicht genügt, die Eröffnung des (Sicherungs-) Hauptverfahrens bis zur Beseitigung des Mangels ebenso ablehnen wie im ordentlichen Verfahren, wenn die Anklageschrift wesentliche Mängel aufweist (RG JW 1935 532 Nr. 37, 2368 Nr. 18; s. Anm. 3 zu § 429 b). Im Strafverfügungsverfahren (§413 StPO) tritt an die Stelle des Antrags der Staatsanwaltschaft auf Erlaß eines Strafbefehls der Antrag der Polizeibehörde auf Erlaß einer Strafverfügung; über die aus Mängeln des Antrags sich ergebenden Folgen vgl. Anm. 4 ff. zu § 413. Für die Strafverfügung als Prozeßvoraussetzung der Hauptverhandlung, wenn der Beschuldigte Einspruch einlegt, gilt das über den Strafbefehl Gesagte. 2. Gerichtsbarkeit und Gerichtsunterworfenheit. 1. Gerichtsbarkeit. — Sie stellt eine Verfahrensvoraussetzung dar, die Staatsanwaltschaft und Gericht zur Prüfung zwingt, ob der Gegenstand ihrer Betätigung eine Strafsache i. S. des § 13 GVG ist (vgl. dazu oben S. 53) und ob nicht die Zuständigkeit eines Sondergerichts in Betracht kommt. Die Gerichtsbarkeit ist, wie jede andere Verfahrensvoraussetzung in jeder Lage des Verfahrens, auch vom Revisionsgericht von Amts wegen zu prüfen (RGSt. 12 125; 17 244; 18 55; 27 145; 34 256; 59 36; 69 156; BGHSt. 14 139). Der Mangel der Gerichtsbarkeit führt auch hier zur Einstellung des Verfahrens. Ist die Gerichtsbarkeit des ordentlichen Gerichts durch die Zuständigkeit eines Sonderstrafgerichts beschränkt, so kann der Mangel der Gerichtsbarkeit des unrichtigerweise in der Sache tätig gewordenen ordentlichen Gerichts nachträglich geheilt werden, indem — falls zulässig — die Anklagebehörde des Sondergerichts die Sache zur Behandlung im ordentlichen Verfahren abgibt, bevor das Revisionsgericht gegen das Urteil des ordentlichen Gerichts entscheidet (RGSt. 72 379). Wird der durch die Zuständigkeit eines Sondergerichts begründete Mangel der Gerichtsbarkeit übersehen, so heilt die Rechtskraft den Mangel (vgl. Anm. 13 e zu § 13 GVG). Wegen weiterer Einzelheiten wird auf die §§ 13 ff. GVG und die dortigen Anmerkungen verwiesen. 2. Gerichtsunterworfenheit. Die Frage, inwieweit das deutsche Strafrecht nicht nur für die im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland, sondern auch für die außerhalb dieses Gebiets begangenen strafbaren Handlungen, und nicht nur für Deutsche, sondern auch für Ausländer, gilt, gehört dem sachlichen Recht an; sie ist in den §§ 3 bis 6 StGB geregelt. Sie behandeln das Ausmaß der Geltung des sachlichen Strafrechts und befassen sich nicht mit der verfahrensrechtlichen Frage nach dem Umfang der Strafgerichtsbarkeit (BGHSt. 20 22, 25). Nach den genannten Vorschriften erfaßt die deutsche Gerichtsbarkeit grundsätzlich auch Täter, die Ausländer sind oder sich im Ausland aufhalten. Daß der Aufenthalt im Ausland die Ausübung der Gerichtsgewalt beeinträchtigt, ändert hieran nichts. Aus völkerrechtlichen Rücksichten durchbrechen jedoch die §§18,19 und 21 GVG den bezeichneten Grundsatz, indem sie die Leiter und Mitglieder der bei der Bundesrepublik Deutschland beglaubigten diplomatischen Vertretungen sowie andere nach Völkerrecht oder Staatsvertrag von der deutschen Gerichtsbarkeit befreite Personen, ihre Familienmitglieder, Geschäftsgehilfen und Bediensteten, die nicht Deutsche sind, sowie unter bestimmten Voraussetzungen auch die in der Bundesrepublik Deutschland angestellten Konsuln der deutschen Gerichtsbarkeit entziehen. Die hiermit vorgeschriebene Einschränkung dieser Gerichtsbarkeit macht das Verfahren gegen die Befreiten durchweg unzulässig (RGSt. 17 51) und ein gleichwohl ergehendes Strafurteil nichtig (RGSt. 71 377). Auf zwischenstaatlichen Vereinbarungen beruhen ferner — nachdem die in der Zeit nach dem 2. Weltkrieg bis zur Wiedererlangung der vollen Souveränität der Bundesrepublik am 5. 5. 1955 bestehenden besatzungsrechtlichen 96

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Beschränkungen der deutschen Gerichtsgewalt weggefallen sind und hier keiner Darstellung mehr bedürfen — die weiteren Exemptionen, die sich aus der Stationierung von Truppen fremder Mächte auf dem Boden der Bundesrepublik ergeben. Diese Exemptionen waren zunächst im „Truppenvertrag" (BGBl. 1955 II 231 ff.; Ges. v. 24.3. 1955, BGBl. II 213; Bek. v. 30.3.1955, BGBl. II 301) geregelt (abgedruckt und erläutert in der 20. Aufl. dieses Werkes Bd. II S. 343 ff.), der jetzt durch das Nato-Truppenstatut ersetzt ist (Ges. v. 18.8.1961, BGBl. II 1183 und dazu Art. 19 des Zusatzabkommens BGBl. II 1961, 1218). Auch hier ist das Strafurteil des deutschen Gerichts, das staatsvertragswidrig gegen ein Mitglied der ausländischen Streitkräfte ergeht, nichtig (BayObLG NJW 1960 162). Für die Wiederaufnahme eines durch rechtskräftiges besatzungsgerichtliches Urteil beendeten Verfahrens sind die deutschen Gerichte nicht zuständig (BGH NJW 1959 779; BGHSt. 21 29; J e s c h e c k JZ 1966 808). Zu der Frage, inwieweit eine frühere besatzungsgerichtliche Aburteilung die Verfolgung von Straftaten im Rahmen der deutschen Gerichtsbarkeit hindert, vgl. BGSt. 12 36; 14 137; 21 29 und NJW 1959 779; v. W e b e r JZ 1958 751; OLGe Bremen-NJW 1960 783; Schleswig SchlHA 1960 146; S c h o r n JR 1961 330.

3. Unberiihrtheit der Sache. a) Grundsätzliches. — Im Strafverfahren herrscht der Grundsatz der Einmaligkeit der Strafverfolgung. Unzulässig ist das Verfahren, das gegen den Beschuldigten ungeachtet dessen betrieben wird, daß gegen ihn wegen derselben Tat schon eine gerichtliche Untersuchung bei demselben oder einem anderen Gericht eröffnet und noch nicht beendet oder eine rechtskräftige Entscheidung seitens desselben oder eines anderen Gerichts ergangen ist. Die Unberührtheit der Sache bildet in diesem Sinn eine Verfahrensvoraussetzung. Die Rechtshängigkeit, also die noch bestehende Befassung desselben oder eines anderen Gerichts mit derselben Sache, und die Rechtskraft, also die Erledigung der Sache durch eine mit den ordentlichen Rechtsmitteln nicht mehr anfechtbare Entscheidung desselben oder eines anderen Gerichts, hindern das Verfahren. Beim Verfahrenshindernis der Rechtshängigkeit, das sich aus § 12 StPO ergibt, wiegen Gründe der Zweckmäßigkeit vor. Das Verfahrenshindernis der Rechtskraft hat dagegen eine viel ernstere Bedeutung. Insoweit wahrt der Grundsatz der Einmaligkeit die allgemeine Rechtssicherheit und gehört zu den großen Geboten der Gerechtigkeit. Art. 103 Abs. 3 G G trägt der hervorragenden Bedeutung jenes Grundsatzes Rechnung, indem er das Verbot des „ne bis in idem" in einprägsamer, wenn auch unvollständiger Form zum Verfassungssatz und zum Grundrecht erhebt: „Niemand darf wegen derselben Tat auf Grund der allgemeinen Strafgesetze mehrmals bestraft werden." Das Verfahrensrecht zieht die Folgerungen aus dem Verfassungssatz und umschreibt zugleich dessen Grenzen, indem es den Angriff auf die Rechtskraft des Urteils nur durch Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens unter den in §§ 359ff. StPO bezeichneten Voraussetzungen zuläßt (vgl. dazu unten S. 99). Doch verlangt das deutsche Recht nur Rücksichtnahme auf eine beim inländischen Gericht eröffnete und noch nicht abgeschlossene Untersuchung sowie auf eine vom inländischen Gericht gefällte, nicht mehr anfechtbare Entscheidung. Ein von einem ausländischen Gericht erlassenes, rechtskräftig gewordenes Urteil wird nur insoweit berücksichtigt, als das deutsche Recht (vgl. § 60 Abs. 3 StGB) es vorschreibt (RGSt. 16 319; BayVerfGH NJW 1963 1003). Wegen der Bedeutung der in der Zeit des Besatzungsregimes ergangenen rechtskräftigen besatzungsgerichtlichen Strafurteile vgl. oben zu 2. Besonderheiten gelten aber mit Rücksicht auf die Spaltung Deutschlands in zwei Staatsgewalten mit z. T. sehr unterschiedlicher Rechtsauffassung im Verhältnis zu gerichtlichen Verfahren, die bei deutschen Gerichten der Ostzone anhängig und zu rechtskräftigen Strafurteilen, die von diesen Gerichten erlassen sind. In welchem Umfang trotz Anhängigkeit einer gerichtlichen Untersuchung in der Ostzone oder trotz eines dort ergangenen rechtskräftigen Strafurteils ein Strafverfahren in der Bundesrepublik eingeleitet und durchgeführt werden darf und in welchem Umfang die dort erlassenen rechtskräftigen Entscheidungen einer Nachprüfung in der Richtung unterliegen, ob sie in der Bundesrepublik Vollstreckungswirkungen entfalten, ist in dem Gesetz über die innerdeutsche Rechts- und Amtshilfe in Strafsachen v. 2.5. 1953 geregelt, dessen Einschränkungen mit Art. 103 Abs. 3 G G vereinbar sind (BVerfG JZ 1961 420). 97

Kap. 10

Einleitung (Schäfer)

B3 b) Rechtshängigkeit". — Das Gericht muß, wenn sich ein Anlaß hierzu bietet, die Rechtshängigkeit von Amts wegen prüfen (RGSt. 67 53; BGHSt. 10 363). Die Prüfung ist selbständig vorzunehmen (RGSt. 52 262). Rechtshängigkeit liegt auch vor, wenn die Staatsanwaltschaft zunächst im subjektiven Verfahren Anklage beim Amtsgericht erhebt und das Verfahren unter Zulassung der Anklage eröffnet wird und sie später wegen des gleichen Sachverhalts die Eröffnung des Sicherungsverfahrens (§ 429 a) beim Landgericht beantragt (BGHSt. 22 185). Wird die anderweitige Rechtshängigkeit erkannt, so muß auch ein Gericht höherer Ordnung sein Verfahren einstellen, sobald es davon Kenntnis erlangt, daß ein Gericht niederer Ordnung die Untersuchung zuerst eröffnet hatte, soweit nicht durch Verbindung gemäß § 4 Abs. 2 oder durch Verweisung gemäß § 270 StPO die Zuständigkeit des Gerichts höherer Ordnung begründet wird; das Verbot mehrfacher Rechtshängigkeit geht auch der Regelung des § 269 StPO vor (BGHSt. 22 232). Eine Ausnahme von dem Grundsatz, daß dem Verfahren der Vorrang gebührt, das zeitlich zuerst anhängig geworden ist, gilt aber, wenn bei dem nicht durch Priorität begünstigten Gericht eine Fortsetzungstat, bei dem anderen Gericht aber nur einzelne, von diesem Zusammenhang miterfaßte Teilhandlungen Gegenstand des Verfahrens sind; dann gebührt dem Gericht der Vorzug, vor dem die umfassendere, die Sache erschöpfende Aburteilung möglich ist (BGHSt. 5 384). Ebenso liegt es, wenn eine Straftat mehrere Gesetzesverstöße enthält und eine Verletzung getrennt vor einem niederen Gericht verfolgt wird, während tateinheitlich zusammentreffende Verletzungen zur Zuständigkeit eines höheren Gerichts gehören und bei diesem verfolgt werden. Dann gebührt die Verfolgung dem Gericht höherer Ordnung, um zu vermeiden, daß dieses, vor dem allein die Sache rechtlich erledigt werden kann, sein Verfahren einstellen, das Gericht niederer Ordnung aber nach § 270 StPO verfahren müßte (RGSt. 70 336; RG HRR 1938 Nr. 132; BGH JZ 1953 639, 640; BGHSt. 19 177, 181). In einem solchen Fall bedeutet der auf der höheren Zuständigkeit beruhende Vorrang, daß die Untersuchung und Entscheidung dem Gericht höherer Ordnung auch dann überlassen werden muß, wenn sich erst, nachdem das zuerst mit der Sache befaßte Gericht niederer Ordnung ein Urteil erlassen hat und dieses Urteil mit einem Rechtsmittel angefochten wird, herausstellt, daß die den Gegenstand des Urteils bildende Tat im Sinn des § 73 StGB zugleich ein die Zuständigkeit des höheren Gerichts begründendes Gesetz verletzt hat und deshalb bei diesem verfolgt wird (RGSt. 70 337 - gegen RGSt. 29 179). Aber auch unter Gerichten der gleichen Ordnung ist der Prioritätsgrundsatz dahin eingeschränkt, daß dem Gericht der Vorrang gebührt, dem die Sache zu umfassenderer, den Sachverhalt erschöpfender Aburteilung unterbreitet ist (BGHSt. 5 384), also z. B. dem später tätig gewordenen Gericht, wenn es die Untersuchung wegen einer in Fortsetzungszusammenhang begangenen Tat eröffnet hat, während nur eine Einzelhandlung den Gegenstand der bei dem anderen Gericht früher eröffneten Untersuchung bildet (RGSt. 41 109; 66 19; 67 56; 70 337). Befassen sich aber zwei Gerichte gleicher Ordnung je mit einer fortgesetzen Handlung, so tritt der Prioritätsvorrang nicht deshalb zurück, weil das zweite Verfahren Einzelhandlungen von größerer Zahl oder erheblicherem Gewicht zum Gegenstand hat (BGH JZ 1953 246). Demnach liegt es, wenn in den gedachten Fällen die gerichtliche Untersuchung zuerst vom Gericht niedrigerer Ordnung und hernach vom Gericht höherer Ordnung eröffnet worden ist, dem ersteren ob, das Verfahren einzuschlagen, das erforderlichenfalls zur Verweisung an das letztere führt. Im übrigen aber, also insbesondere im Verhältnis gleichgeordneter Gerichte zueinander, muß das Gericht, bei dem Hauptverhandlung in der schon anderweit anhängigen Sache angeordnet ist, sich einer Sachentscheidung enthalten und das Verfahren — übrigens nur vorläufig, bis zur Beseitigung der mehrfachen Rechtshängigkeit — einstellen (RGSt. 41 109; 52 264). Hat aber das den zeitlichen Vorrang nicht genießende Gericht eine Sachentscheidung unter bewußter oder unbewußter Nichtachtung der Rechtshängigkeit erlassen und ist diese Entscheidung rechtskräftig geworden, so bleibt freilich dem Gericht, dessen an sich begründeter Vorrang unbeachtet blieb, nichts übrig als die endgültige Einstellung des Verfahrens (RG 1 D 279/20 v. 19. 5. 1920). Auch in der Revisionsinstanz ist die doppelte Rechtshängigkeit von Amts wegen zu prüfen. Doch zwingt hier § 260 Abs. 3 nicht immer zur Einstellung auch nur eines der beiden Verfahren, vielmehr ist so zu verfahren, wie es der Sachlage am besten entspricht. So kann 53

Ergänzend vgl. Vorbem. V (17 ff.) vor § 151.

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Die Verfahrensvoraussetzungen (Verfahrenshindernisse)

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das Revisionsgericht, wenn die Anwendbarkeit des § 73 StGB auf das gesamte Verhalten des Angeklagten in Frage steht, das Urteil aufheben und die Vorinstanz anweisen, die beiden Verfahren zu verbinden. Es kann sogar in der Sache selbst entscheiden, wenn im Falle einer Zurückverweisung und Verbindung an Art und Höhe der Strafe im Hinblick auf § 358 Abs. 2 nichts mehr geändert werden dürfte und eine Zurückverweisung einer umfangreichen Sache nur zwecks umfassender Berücksichtigung auch der rechtlichen Gesichtspunkte, die den Gegenstand des anderen Verfahrens bilden, dem Gebot der Prozeßwirtschaftlichkeit widerspräche; der Schutz des Angeklagten vor zweimaliger Verurteilung wird dadurch nicht beeinträchtigt, da die endgültige Einstellung des anderen Verfahrens die zwangsläufige Folge einer solchen Behandlung ist (BGHSt. 10 358). Ein der Doppelrechtshängigkeit vergleichbares Problem ergibt sich, wenn dieselbe Einzelstrafe in verschiedenen Verfahren in eine Gesamtstrafe einbezogen worden ist; dann muß in der Revisionsinstanz dem Verbot der Doppelbestrafung auch dann Geltung verschafft werden, wenn das Urteil, das die Gesamtstrafe richtig gebildet hat, nicht auf einer Gesetzesverletzung beruht und früher als das rechtskräftig gewordene Urteil mit der unrichtig gebildeten Gesamtstrafe erlassen wurde (BGHSt. 9 190). Übrigens schränkt der Wandel, den die Rechtsprechung in der rechtlichen Würdigung des Wesens der gewerbs- und gewohnheitsmäßig begangenen Straftaten vollzogen hat, indem sie die Lehre von der materiell- und verfahrensrechtlichen Zusammenziehung der Einzelhandlungen zu e i n e r Straftat (Sammelverbrechen) aufgab, den Wirkungsbereich des Verfahrenshindernisses der Rechtshängigkeit stark ein. Hatte das R G früher die Frage, wie zu verfahren sei, wenn eine gewerbsmäßig begangene Straftat desselben Täters bei einem Gericht, eine andere derselben Art bei einem anderen Gericht anhängig geworden ist, dahin entschieden, daß eines der beiden Gerichte sein Verfahren einstellen müsse, da eine und dieselbe Tat vorliege (RGSt. 41 109; 66 19; 67 56), so gilt dieser Grundsatz jetzt nach Anerkennung der rechtlichen Selbständigkeit der mehreren Einzelhandlungen — nicht mehr. Näheres s. unten S. 114. Schließlich ist hinsichtlich der Strafbefehle zu beachten, daß für die Rechtshängigkeit ähnliche Rechtsregeln wie für die Rechtskraft gelten (vgl. dazu Anm. 2 zu § 410), daß also ein noch anfechtbarer Strafbefehl der Einleitung einer Untersuchung im ordentlichen Verfahren nicht entgegensteht, sofern sie auf einen neuen, im Strafbefehl nicht gewürdigten und eine erhöhte Strafbarkeit begründenden rechtlichen Gesichtspunkt gestützt wird (RGSt. 56 253; 61 290). Entsprechendes gilt für die amtsrichterliche Strafverfügung (§413 StPO). Im Bußgeldverfahren vor der Verwaltungsbehörde ergeben sich keine Rechtshängigkeitsprobleme, weil bis zum Erlaß des Bußgeldbescheids die Staatsanwaltschaft die Verfolgung der Ordnungswidrigkeit übernehmen kann (§§ 2 , 4 4 OWiG) und nach dem Erlaß des mit Einspruch angefochtenen Bußgeldbescheids die Staatsanwaltschaft die zuständige Verfolgungsbehörde ist (vgl. G ö h l e r [2] Anm. 5, insbes. B, E). c) Rechtskraft 54 . A. Grundsätzliches. Die Rechtskraft eines Urteils, das in die Sache eingeht, verbraucht 55 die Strafklage, so daß derselbe Täter wegen derselben Tat nicht mehr gerichtlich verfolgt werden darf — auch 44 55

Ergänzend vgl. Vorbem. VI (Nr. 20ff.) vor § 151 StPO. Lit.: T i e d e m a n n , Entwicklungstendenzen der strafprozessualen Rechtskraftlehre, Tübingen 1969. Die nachfolgende Darstellung beschäftigt sich mit der Rechtskraft lediglich unter dem Gesichtspunkt eines Verfahrenshindernisses für künftige Verfahren, die den gleichen Gegenstand betreffen. Die streitige und von der Rechtsprechung (RGSt. 33 303; 44 257; O L G Hamm NJW 1959 1982) verneinte Frage, ob die Rechtskraft über diese negative Verbrauchs- oder Sperrwirkung hinaus positive Bindungswirkungen (Bindung an die Feststellung der Schuld oder Nichtschuld oder gar an die den Spruch tragenden tatsächlichen Feststellungen) entfaltet, wenn die rechtskräftige Entscheidung die präjudizelle Vorfrage für einen späteren Prozeß mit anderem Gegenstand bildet, ist hier nicht zu erörtern (vgl. dazu eingehend H . J . B r u n s . Festschrift für Eb Schmidt [1961] 602ff.). Die Darstellung beschäftigt sich weiterhin nur mit der Sperrwirkung des im vollen Umfang rechtskräftig gewordenen Urteils, also nicht mit den Wirkungen der Teilrechtskraft, z. B., wenn infolge Teilaufhebung oder Teilanfechtung das Urteil nur im Schuld-, nicht aber im Strafausspruch rechtskräftig wird (vgl. dazu B r u n s , Teilrechtskraft und innerprozessuale Bindungswirkung des Straf-

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Kap. 10

Einleitung (Schäfer)

B3 nicht auf Grund einer anderen rechtlichen Würdigung der Tat (RGSt. 68 19; 70 30; 72 102). Das Nichtvorhandensein einer dieselbe Sache betreffenden gerichtlichen Entscheidung ist eine Verfahrensvoraussetzung, die jedes Gericht — auch das Revisionsgericht — in jeder Lage des Verfahrens von Amts wegen beachten und der es unter Verwendung aller verfügbaren Erkenntnismittel nachgehen muß (RGSt. 35 367; 41 152; 61 226; 64 42, 164; 68 19; 69 171; BGHSt. 7 283; 13 306; 20 292). Der Satz ne bis in idem ist in der StPO nicht ausdrücklich ausgesprochen; erst Art. 103 Abs. 3 G G brachte eine förmliche Vorschrift. An der Geltung dieses Satzes hatte freilich auch vorher kein Zweifel bestanden; er ergibt sich ohne weiteres aus den Vorschriften über die Wiederaufnahme des Verfahrens, die nur unter engen Voraussetzungen die Wiederaufrollung eines rechtskräftig abgeschlossenen Strafverfahrens zulassen. Art. 103 Abs. 3 G G hat also, was die Anerkennung des Grundsatzes anlangt, nur deklaratorische Bedeutung. Aber auch die inhaltliche Umschreibung in der genannten Verfassungsschrift brachte keine Änderung der Rechtslage. Sie konnte es auch nicht, weil Art. 103 Abs. 3 eine zwar einprägsame, aber inhaltlich unvollständige Formulierung des Grundsatzes darstellt. Denn er verbietet nur die „mehrmalige Bestrafung", und von einer solchen kann, streng genommen, nur gesprochen werden, wenn bereits e i n e Bestrafung erfolgt war. Bei wörtlicher Auslegung würde sich also Art. 100 Abs. 3 G G darauf beschränken, daß er eine nochmalige Bestrafung, auch in Form einer nachträglichen Verschärfung einer rechtskräftig erkannten Strafe oder einer zusätzlichen Bestrafung in anderer Weise verbietet. Der Satz ne bis in idem reichte und reicht aber viel weiter, denn er verbietet insbesondere auch die erneute Verfolgung eines rechtskräftig Freigesprochenen, wie auch den nachträglichen Freispruch eines rechtskräftig Schuldiggesprochenen 56 oder eine nachträgliche Milderung einer erkannten Strafe durch Urteilsspruch, sofern nicht die gesetzlichen Voraussetzungen einer Wiederaufnahme des Verfahrens gegeben sind. Offensichtlich wollte Art. 103 Abs. 3 G G aber die Grenzen der Rechtskraft, die ihr durch das Verfahrensrecht gezogen sind, nicht einengen; Art. 103 Abs. 3 verbietet daher auch die Einleitung eines neuen Strafverfahrens gegen einen Freigesprochenen (BGHSt. 5 323). Andererseits wollte er aber auch den bisherigen Bereich des Verbots der Doppelverfolgung nicht ausdehnen. BVerfG E 3, 248 = NJW 1954 69 hat denn auch ausgesprochen, durch Art. 103 Abs. 3 sei der Grundsatz ne bis in idem nur mit den Einschränkungen verfassungsmäßig garantiert, die ihm durch des Stand des Prozeßrechts und dessen Auslegung bei Inkrafttreten des G G gezogen worden seien und hat mit dieser Begründung die auf Art. 103 Abs. 3 gestützten Angriffe gegen die Lehre von der beschränkten Rechtskraftwirkung des Strafbefehls zurückgewiesen. Das gleiche gilt, soweit der Grundsatz ne bis in idem in die Landesverfassungen aufgenommen ist (Bay VerfGH NJW 1963 1003). Nur insoweit berührt Art. 103 Abs. 3 G G die früher entwickelten Grundsätze über den Umfang der Sperrwirkung der Rechtskraft, als diese Grundsätze inhaltlich auf die objektive Wertordnung des G G auszurichten sind (vgl. BVerfGE 23 191 = NJW 1968 982, 983 betr. die Frage, ob die aus Gewissensgründen erfolgende wiederholte Nichtbefolgung einer Einberufung von Kriegsdienstverweigerern zum zivilen Ersatzdienst dieselbe Tat i. S. des Art. 103 Abs. 3 G G darstelle, wenn bereits einmal eine Verurteilung

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urteils, 1961; G r ü n w a l d , Die Teilrechtskraft im Strafverfahren, 1964; S i e v e k i n g , Neue Aspekte und Wege der mit der Teilanfechtung von Urteilen verbundenen Probleme, Hamb. Diss. 1965). Die Rechtsprechung (vgl. insbesondere BGHSt. 7 283; 10 71; OLG Saarbrücken NJW 1958 1740; BayObLG D A R 1958 23; vgl. dazu aus dem Schrifttum etwa M a y N J W 1960 4 6 5 ; E c k e l s N J W 1960 1643) sieht hier die Wirkung der Rechtskraft in der Bindung des über die Straffrage entscheidenden Richters nicht nur an den Schuldspruch als solchen (Schuldfahigkeit, Schuldart, rechtliche Beurteilung der Tat), sondern auch an die dem Schuldspruch zugrunde liegenden Feststellungen, aus denen sich die Tat in ihrer konkreten Ausgestaltung ergibt. Anders liegt es bei der Aburteilung von zwei in Tatmehrheit begangenen Taten in einem Verfahren, wenn dieselben Tatsachen beiden Verurteilungen zugrunde gelegt worden sind und nur die Verurteilung wegen der einen Tat angefochten wird; die rechtskräftig gewordene Verurteilung hat im weiteren Verfahren nur Beweisbedeutung, nicht anders als bei einer Aburteilung der beiden Delikte in getrennten Verfahren (BayObLG JZ 1960 31 mitAnm. von H e i n i t z ) . Demgemäß steht, wenn der Schuldspruch — durch Beschränkung des Rechtsmittels auf das Strafmaß oder durch Aufhebung des Urteils nur im Strafausspruch — rechtskräftig geworden ist, die Rechtskraft einem Freispruch entgegen, wenn sich in der erneuten Hauptverhandlung die Zurechnungsunfähigkeit des Angeklagten zur Tatzeit ergibt (BGHSt. 7 283).

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Die Verfahrensvoraussetzungen (Verfahrenshindernisse)

K a p . 10 B3 wegen Dienstflucht erfolgt ist, oder ob die einer solchen Verurteilung nachfolgende Nichtbefolgung einer erneuten Einberufung eine neue Straftat i. S. des § 264 StPO darstellt, weil die erste Verurteilung das Dauerdelikt des Fernbleibens unterbrochen habe). Die Bedeutung des Art. 103 Abs. 3 besteht danach in erster Linie darin, daß er einen verfahrensrechtlichen Grundsatz zum Rang eines Verfassungssatzes und eines Grundrechts erhebt, dessen Verletzung mit der Verfassungsbeschwerde geltend gemacht werden kann (§ 90 BVerfGG). Die institutionelle Garantie der Rechtskraftsperrwirkung bedeutet aber auch das Verbot einer Aushöhlung durch die Prozeßgesetzgebung, wie sie die Kriegsgesetzgebung (oben S. 16) brachte, und der Ausweitung der rechtlichen Möglichkeiten einer erneuten Aburteilung in Durchbrechung der Rechtskraft in einem Maße, daß das Verhältnis von Regel zur eng umgrenzten Ausnahme verlorengeht. Die Vorschriften über die Wiederaufnahme des Verfahrens regeln, wann ausnahmsweise ein rechtskräftiges Urteil beseitigt und durch ein neues Urteil ersetzt werden darf. Die Wiederaufnahmevorschriften besagen aber nichts darüber, wie weit die materielle Rechtskraft, die strafklageverbrauchende Wirkung eines formell rechtskräftigen Urteils, reicht, in welchem Umfange also das Urteil, das sich mit einem bestimmten Sachverhalt befaßt, ihn erledigt und das Verhalten des Beschuldigten abgilt. Auf diese Frage kommt es aber entscheidend an, wenn zweifelhaft ist, ob ein im Urteil nicht gewürdigter Teil des Sachverhalts von der materiellen Rechtskraft umfaßt wird. Denn nur im Umfang der Rechtskraftwirkung kommt eine Durchbrechung der Rechtskraft des Urteils unter den engen Voraussetzungen über die Wiederaufnahme des Verfahrens in Betracht, während ein von der Rechtskraftwirkung nicht erfaßter Teil des Sachverhalts ohne weiteres Gegenstand eines neuen Verfahrens sein kann, das das rechtskräftig abgeschlossene Verfahren um den unerledigt gebliebenen Teil ergänzt. Der Staatsanwalt kann durch eine Ergänzungsklage die Vervollständigung der bisherigen Teilaburteilung herbeiführen. Die Frage, nach welchen Merkmalen sich der Umfang der Verbrauchswirkung bestimmt, ist Gegenstand lebhaften Streits. Nach § 264 StPO ist Gegenstand der Urteilsfindung die in der Anklage bezeichnete Tat, wie sie sich nach dem Ergebnis der Verhandlung darstellt. Es fragt sich daher, nach welchen Merkmalen der Umfang der „Tat" zu bestimmen ist, die im Urteil abgeurteilt wurde. Die herrschende, namentlich vom RG schrittweise entwickelte und vom BGH übernommene und ausgebaute Auffassung sieht in der „Tat" i. S. des § 264 StPO einen selbständigen verfahrensrechtlichen Begriff, der sich nicht mit dem materiell-rechtlichen Handlungsbegriff (§§73, 74 StGB) deckt, und lehrt, die Verzehrwirkung umfasse die Tat als geschichtlichen Vorgang in dem Umfang, in dem das erkennende Gericht die Strafklage nach § 265 umzuwandeln befugt war, ohne Rücksicht darauf, ob das Gericht von dieser Befugnis Gebrauch macht und ob es nach Sachlage konkrete Veranlassung gehabt hat, die Aufklärungspflicht über den dargebotenen Prozeßstoff hinaus auszudehnen. „Tat" i. S. des § 264 bedeutet „den vom Eröffnungsbeschluß betroffenen Vorgang einschließlich aller damit zusammenhängenden und darauf bezüglichen Vorkommnisse, die geeignet sind, das in diesen Bereich fallende Tun des Angeklagten unter irgendeinem rechtlichen Gesichtspunkt als strafbar erscheinen zu lassen, also das gesamte Verhalten des Angeklagten, soweit es mit dem durch den Eröffnungsbeschluß bezeichneten geschichtlichen Vorkommnis nach der Auffassung des Lebens einen einheitlichen Vorgang bildet, ohne Rücksicht darauf, ob sich bei der rechtlichen Beurteilung eine oder mehrere strafbare Handlungen statt oder neben der im Eröffnungsbeschluß bezeichneten Tat ergeben" (so — die Ergebnisse der Rechtsprechung mit Nachweisen zusammenfassend — BGH JZ 1970 327, 328 mit krit. Anm. G r ü n w a l d ) . Der Begriff „Tat" erstreckt sich danach zunächst auf die Handlung im materiell-rechtlichen Sinn des § 73 StGB, und die Verzehrwirkung umfaßt alle durch die Handlung verwirklichten Gesetzesverletzungen, insbesondere alle tateinheitlich und in Gesetzeskonkurrenz zusammentreffenden Delikte und bei einer fortgesetzten Handlung sämtliche Einzelakte ohne Rücksicht darauf, ob ihr Umfang dem erkennenden Gericht bekannt war. Es werden danach aber auch — und zwar auch hier ohne Rücksicht darauf, ob sie in der Hauptverhandlung hervortraten — in Tatmehrheit begangene Delikte, überhaupt der vom Eröffnungsbeschluß betroffene geschichtliche Vorgang in seiner Gesamtheit einschließlich aller damit zusammenhängenden und darauf bezüglichen Vorkommnisse und tatsächlichen Umstände erfaßt, die nach der Auffassung des Lebens eine „natürliche Einheit" bilden (BGHSt. 13 321). Eine solche natürliche Einheit setzt in den Fällen der sachlichrechtlichen Tatmehrheit einen 101

Kap. 10

Einleitung (Schäfer)

B3 engen sachlichen Zusammenhang, eine notwendige innere Verknüpfung der mehreren Beschuldigungen voraus, die sich unmittelbar aus den ihnen zugrundeliegenden Handlungen und Ereignissen ergeben muß, dergestalt, daß keine der Beschuldigungen sinnvoll für sich allein abgeurteilt werden kann, vielmehr eine getrennte Würdigung und Aburteilung in verschiedenen Verfahren als unnatürliche Aufspaltung eines einheitlichen Lebensvorganges empfunden würde (BGHSt. 13 21 = JR 1959 427 mit Anm. von E b S c h m i d t ) . Soweit danach die Tatidentität reicht, ist für die Kognitionspflicht des Gerichts wie für den Umfang der Verzehrpflicht ein etwa fehlender Verfolgungswille des Klägers für Teile des Tatvorgangs bedeutungslos (BGH NJW 1961 1981); die Verzehrwirkung des rechtskräftigen Urteils erstreckt sich auch auf die nach § 154 a Abs. 1, 2 ausgeschiedenen Tatteile (BGHSt. 21 327), und sie wird auch nicht dadurch ausgeschlossen, daß das Urteil ausdrücklich die Erledigung eines Teils des einheitlichen Vorgangs einem späteren Verfahren „vorbehält" (BGHSt. 18 381,386). Dieser in der Praxis herrschenden und auch von einem Teil des Schrifttums gebilligten Auffassung mit ihrer verhältnismäßig weitgehenden Ausdehnung der Verbrauchswirkung, aber auch mit ihrer gewissen Unbestimmtheit, die sich aus der Verweisung auf die „natürliche Einheit nach der Auffassung des Lebens" ergibt, stehen Auffassungen des Schrifttums gegenüber, die den Umfang der Verzehrwirkung enger begrenzen wollen. Sie sind aus dem Bestreben erwachsen, gewissen als unerträglich empfundenen Folgerungen zu entgehen, zu denen die herrschende Auffassung führt, wenn diese die Verzehrwirkung auf Tatseiten erstreckt, die dem Gericht bei der Aburteilung unbekannt waren, falls es nur r e c h t l i c h in der Lage gewesen wäre, sie zu erfassen, auch wenn es tatsächlich dazu keine Möglichkeit hatte, weil eine konkrete Veranlassung zu weiterer Sachaufklärung nicht bestand. Vom Standpunkt der h. M. aus ist die Strafklage auch dann verbraucht, wenn der im Urteil gewürdigte Teil des Lebensvorgangs einen verhältnismäßig geringfügigen Teil des Gesamtvorgangs darstellt, der Schwerpunkt aber auf der unerkannt und ungewürdigt gebliebenen Tatseite ruht und dadurch die erkannte Strafe in keinem Verhältnis zur Strafwürdigkeit des Gesamtverhaltens steht. So etwa, wenn in dem bekannten Schulbeispiel der Täter, der einen Schuß abgegeben hatte, nur wegen gefahrlichen Schießens (Übertretung nach § 367 Nr. 8 StGB), allenfalls noch wegen Führens einer Schußwaffe ohne Waffenschein (Vergehen nach §§ 14,26 des Waffengesetzes v. 18.3. 1938) verurteilt wird und erst nachträglich hervortritt, daß der Schuß einem Menschen galt und ein versuchtes oder vollendetes Tötungsverbrechen tateinheitliqh begangen wurde, dessen nachträglicher Verfolgung die Rechtskraft des Urteils entgegensteht (vgl. RGSt. 70 30; weitere Nachweise bei P e t e r s [2] 438). Oder wenn die Wegnahme eines Gegenstandes in Zueignungsabsicht nur mit einer geringen Strafe wegen Diebstahls vergolten wird und unerkannt blieb, daß der Täter sich ein Staatsgeheimnis zu Verratszwecken verschaffen wollte (§ 96 Abs. 1 StGB; vgl. dazu R K G 2 31 und N i e t h a m m e r ZWehrR 5 261). Oder wenn der Täter, weil er sich Aufnahme, Unterbringung und Verköstigung in einem Flüchtlingslager erschlich, eine geringe Betrugsstrafe erhält, und nicht erkannt wurde, daß er als Auslandsagent diesen Weg wählte, um seine geheimdienstliche Tätigkeit zu den Lagerinsassen aufzunehmen und er damit ein zur erstinstanzlichen Zuständigkeit des OLG gehöriges Vergehen nach § 99 StGB beging (vgl. BGHSt 9 10)57. Weitere Fälle dieser Art sind etwa, daß der Täter nur wegen fahrlässiger Körperverletzung verurteilt wird, weil unbekannt war, daß das Opfer an den Folgen der Verletzung inzwischen verstorben war, oder nur wegen einfacher vorsätzlicher Körperverletzung, während — dem Gericht unbekannt — eine schwere Körperverletzung (§ 224 StGB) vorlag 58 . Hierher gehört schließ57

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In BGHSt. 9 10 wurde das Vergehen nach § lOOe a. F. zwar als selbständige Tat (§ 74 StGB) gegenüber dem Betrug, aber als Teil eines einheitlichen Lebensvorgangs gewürdigt. Die Strafe wegen Betrugs war aber dort durch Strafbefehl festgesetzt worden, und nur wegen der beschränkten Verzehrwirkung des Strafbefehls konnte die Frage einer erneuten Verfolgung wegen des Vergehens aus § lOOe aufgeworfen werden. Anders liegt es, wenn der schwerere Erfolg im Zeitpunkt der Aburteilung noch nicht eingetreten war und deshalb denkgesetzlich nicht berücksichtigt werden konnte. Mit H e n k e l [2] 388, B u s c h ZStrW 68 (1956) 11 f. und B r u n s JZ 1960585 ist davon auszugehen, daß hier die herrschende Rechtskraftlehre einer ergänzenden Verfolgung (wegen fahrlässiger Tötung oder schwerer Körperverletzung) nicht entgegensteht, da die Verzehrwirkung die Tat nur in den Grenzen der Umgestaltungsmöglichkeit erfaßt, eine Einbeziehung des späteren Erfolgs aber bei der Aburteilung begrifflich

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Die Verfahrensvoraussetzungen (Verfahrenshindernisse)

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lieh auch der Fall, daß bei der Aburteilung einer fortgesetzten Handlung nur wenig Einzelakte bekannt waren und sich später herausstellt, daß sie nur einen verschwindend geringen Bruchteil der tatsächlich begangenen Einzelhandlungen darstellen (vgl. BGHSt. 6 122: Verurteilung wegen fortgesetzten Betrugs auf Grund von 7 Einzelakten; später wurden 266 weitere bekannt, die infolge der Rechtskraft nicht mehr verfolgbar waren). Es ist klar, daß, wer den Ausgangspunkt der h. M. teilt, den als unbillig und ungerecht empfundenen Folgerungen, zu denen sie im Einzelfall führt, nicht mit der allgemeinen Erwägung ausweichen kann, die Verzehrwirkung müsse entfallen, wenn die für den gewürdigten Teil des Vorgangs erkannte Strafe außer jedem Verhältnis zu der Strafe stehe, die bei voller Kenntnis des Gesamtvorgangs als angemessen verhängt worden wäre. Der Verfassungssatz ne bis in idem (Art. 103 Abs. 3 GG) verlangt, daß der Umfang der Rechtskraftwirkung sich nach festen Grundsätzen bemißt, die nicht mehr oder weniger willkürlich im Einzelfall preisgegeben werden dürfen. Eine Entscheidung wie die des OLG München DJ 1938 724, die aus den damaligen Vorstellungen von dem Vorrang der „materiellen" Gerechtigkeit gegenüber der „formalen" Rechtssicherheit erwachsen ist, daß nämlich der Grundsatz ne bis in idem zurücktrete, wenn das Festhalten daran „das Rechtsempfinden in schwerster Weise verletzen würde", ist heute schlechterdings unvorstellbar, Die im Schrifttum vertretenen, von der herrschenden Lehre abweichenden Auffassungen sind denn auch darauf gerichtet, feste Maßstäbe zu gewinnen, die zu einer Einengung der Verzehrwirkung führen. Diesen Bemühungen kann nicht etwa von vornherein mit der Erwägung begegnet werden, daß Art. 103 Abs. 3 G G ihnen entgegenstehe, weil der Verfassungsgesetzgeber sich stillschweigend mit der herrschenden Auslegung identifiziert habe (so aber wohl BGHSt. 18 141, 146). Allerdings hat BVerfG E 3 248; JZ 1961 420 ausgesprochen, daß Art. 103 Abs. 3 G G keinen selbständigen, aus sich heraus auslegbaren Inhalt habe, sondern den Grundsatz ne bis in idem nur in den Grenzen verfassungsmäßig garantiere, die ihm durch den Stand des Prozeßrechts und dessen Auslegung bei Inkrafttreten des G G gezogen worden seien. Aber mit diesen Ausführungen, die sich dagegen wenden, daß die in der Rechtsprechung herrschende Auffassung von der beschränkten Verzehrwirkung des rechtskräftigen Strafbefehls mit Art. 103 Abs. 3 G G unvereinbar sei, sollte zweifellos nicht zum Ausdruck gebracht werden, daß Art. 103 Abs. 3 G G Gesetzgebung und (herrschende) Auslegung bis in die Einzelheiten auf den Stand bei Inkrafttreten des G G festlege und jede weitere Beschränkung der Rechtskraftwirkung ausschließe. Art. 103 Abs. 3 G G steht jedenfalls Grenzkorrekturen kleineren und größeren Ausmaßes nicht entgegen. Im Schrifttum sind die verschiedensten Wege und Methoden zu einer mehr oder weniger weitgehenden Beschränkung der Rechtskraftverzehrwirkung vorgeschlagen worden, etwa durch Verengerung des Begriffs der Tat in § 264 StPO 59 , durch Verneinung der Tatidentität bei Tatmehrheit 60 , durch Beschränkung der Verzehrwirkung auf die Rechtsgutverletzung 6 0 ', auf die „Handlungssubstanz", auf den „Kerngehalt" des Vorgangs, über den der Richter urteilt 61 (vgl. P e t e r s [2] 440 zu dem oben [S. 102] genannten Schulbeispiel: „Wer

nicht möglich war (in Fällen, in denen ein Ableben in absehbarer Zeit möglich erscheint, wird der Richter aber die Verhandlung ansetzen; vgl. OLG Saarbrücken JR 1969 430). D a s gilt auch, wenn in einem solchen Fall die Bestrafung wegen Körperverletzung nicht durch Urteil, sondern durch rechtskräftigen Strafbefehl erfolgte. Die Zulässigkeit ergänzender Verfolgung beruht hier nicht auf der beschränkten Verzehrwirkung des Strafbefehls, da die Nichtberücksichtigung des Todes nicht auf der summarischen Sachaufklärung des Strafbefehlsverfahrens, sondern — nicht anders als beim Urteil — auf der rechtlichen Unmöglichkeit beruht, noch nicht eingetretene Tatfolgen zum Gegenstand der Aburteilung zu machen (so mit Recht B r u n s aaO. zu OLGe. Koblenz und Stuttgart JZ 1960 607, 608). BGHSt. 18 41 = NJW 1963 260 kommt ebenso wie OLG Saarbrücken N J W 1969 804 = JR 1969 4 3 0 mit zust. Anm. K o f f k a zu dem gleichen Ergebnis auf der Grundlage der bisherigen Rechtsprechung, daß die Rechtskraft des Strafbefehls nicht die Verfolgung unter einem anderen, eine erhöhte Strafbarkeit begründenden rechtlichen Gesichtspunkt hindert. 59

S. dazu D e d e s G A 1965 102; H r u s c h k a JZ 1966 700 - dagegen B i n d o k a t G A 1967 362. Nachweise bei E b S c h m i d t Lehrkomm. I [2] Rz 300, Fußnote 535. 60 ' B e r t e l , Die Identität der Tat, Wien 1970, 134, 196fT. 61 O e h l e r , Die Identität der Tat in Festschrift für Rosenfeld (1949) 319ff., P e t e r s [2] 440ff.; weitere Nachweise bei J e s c h e c k JZ 1957 30; P e t e r s JZ 1961 426. 60

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Kap. 10

Einleitung (Schäfer)

B3 das Schießen beurteilt, beurteilt nicht das Töten"), durch Beschränkung auf das tatsächliche Geschehen in den Grenzen der praktisch erfüllbaren richterlichen Kognitionspflicht 62 oder auch durch Ausschließung der Verzehrwirkung bei Verurteilung wegen Übertretung (oder allgemein wegen eines Polizeidelikts ohne Beschränkung auf Übertretungen) für ideell konkurrierende kriminelle Delikte" oder durch Ausschließung der Verbrauchswirkung eines amtsoder landgerichtlichen Urteils für solche (nicht gewürdigten) Tatseiten, die in die erst- und letztinstanzliche Aburteilungszuständigkeit des OLG fallen 64 . Eine eingehendere Auseinandersetzung mit den Rechtskraftlehren des Schrifttums kann nicht Aufgabe dieser Einleitung sein. Folgende Bemerkungen seien gestattet: Die Rechtsprechung hat auch im Einzelfall befremdlich anmutende Folgerungen, die sich aus den in zahllosen Fällen bewährten Grundsätzen ergaben, um der Festigkeit willen hingenommen, die es bei Fragen der Rechtskraft aufzubringen gilt (vgl. BGHSt. 6 122; s. auch BGHSt. 20 77, 80: „Gründe der Gerechtigkeit wiegen nicht unter allen Umständen Anliegen der Rechtskraft und der Rechtssicherheit auf."). Andere Grundsätze könnten nur dann mit Recht beanspruchen, an die Stelle der bisher gehandhabten zu treten, wenn sie nicht die beanstandeten Folgerungen ausschlössen, sondern auch ihrerseits, ohne den der Verzehrwirkung grundsätzlich gebührenden Raum entscheidend einzuengen, unbillige Folgerungen vermieden; vor allem aber so beschaffen wären, daß mit ihrer Hilfe im Einzelfall die Frage, ob der Satz ne bis in idem einer weiteren Verfolgung entgegensteht, möglichst eindeutig beantwortet werden kann. Das verlangt die Rechtssicherheit, das verfassungsmäßig geschützte Bedürfnis des Abgeurteilten nach Rechtsruhe. Unvollkommenes^ durch Unvollkommenes ersetzen zu wollen, wäre kein berechtigtes Anliegen. Ein solches Übergewicht gegenüber der herrschenden Rechtskraft— lehre kommt aber den im Schrifttum empfohlenen Grundsätzen über die Begrenzung der Rechtskraftwirkung nicht zu. Die Auffassung etwa, die nicht gewürdigte real konkurrierende Delikte von der Verzehrwirkung ausschließen will, vermeidet — von anderen Mängeln abgesehen (vgl. v. H i p p e l 369; P e t e r s [2] 438) — weder eigene Unbilligkeiten noch bringt sie Abhilfe, wenn bei Tateinheit das Schwergewicht so auf der nicht gewürdigten Gesetzesverletzung ruht, daß die erkannte Strafe außer Verhältnis zur Schwere der Tat steht. Ein Abstellen auf den „Kerngehalt" der Tat führt zu schwierigen und angreifbaren Unterscheidungen, die den Umfang der Rechtskraftwirkung ungewiß machen. Aber auch die Beschränkung der Verzehrwirkung auf den Sachverhalt, den der Richter bei Erfüllung seiner Aufklärungspflicht nach den gegebenen Umständen feststellen kann, führt, wie B u s c h ZStrW 68 5 ff. zutreffend dargelegt hat, zu erheblicher Unsicherheit. Denn es fragt sich, welcher Maßstab bei der Beurteilung anzulegen ist, ob das Gericht seiner Aufklärungspflicht (§ 155 Abs. 2) in dem erforderlichen Maß nachgekommen ist. Maßgebend soll sein, was von einem „Normalrichter" in einer solchen Lage billiger- und vernünftigerweise an Sachaufklärung zu fordern und zu erwarten ist. Aber die Vorstellungen darüber, wie weit im Einzelfall die praktisch erfüllbare Kognitionspflicht reichte, können sehr auseinandergehen. Der Ankläger und der Richter des späteren „Ergänzungsverfahrens" hätten dann darüber zu befinden, ob der frühere Richter seine Pflicht erfüllt hat. Problematisch erscheint auch die Forderung, daß ein Urteil, das nur über eine Übertretung entscheidet, keine Verzehrwirkung für nicht gewürdigte ideell konkurrierende Vergehen und Verbrechen haben dürfe. Für die Zukunft wird das Problem in dieser Gestalt dadurch 62

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H e n k e l [2] 389, ähnlich H a l l DRechtsw. 1941 305; S a u e r AllgProzRL 241; S t o c k , StrafprozR 136. So B u s c h ZStrW 68 (1956) 12; O e h l e r a.a.O. 152. Zu dem Vorschlag des EGStGB-Entw. 1930, diesen Gedanken bei der Begrenzung der Verzehrwirkung des rechtskräftigen Straßefehls nutzbar zu machen, vgl. Anm. 2 zu § 410. In der 20. Aufl. (S. 46) dieses Werkes führte N i e t h a m m e r unter Hinweis auf R K G 2 31 und seine Besprechung Z W e h r R 5 261 sowie auf V G H DJ 1941 1077 und O L G Dresden H R R 1942 Nr. 832 hierzu aus: „Ein Bedürfnis, sich von den Fesseln der Rechtskraft zu lösen, kann nur für oberste Gerichte des ersten Rechtszugs, für den B G H und für die Oberlandesgerichte in Sachen wegen Hochverrats oder Landesverrats bei einem groben Mißverhältnis zwischen der Strafwürdigkeit der Tat und der im rechtskräftigen Urteil an sie geknüpften Rechtsfolge mit zwingender Gewalt hervortreten... Innerhalb solcher Schranken mag eine Ausnahme vom Grundsatz des Verbrauchs der Strafklage durch eine rechtskräftige Entscheidung erträglich sein. Im übrigen ist Zurückhaltung dringend geboten."

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Die Verfahrensvoraussetzungen (Verfahrenshindernisse)

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entfallen, daß es nach dem 2. Strafrechtsreformges. v. 4. 7. 1969 (BGBl. I 717) - § 12 vom 1. 10. 1973 ab Übertretungen nicht geben und der Rest der heute noch vorhandenen Übertretungen in Ordnungswidrigkeiten (oder Vergehen) umgewandelt wird. Über die Rechtskraftwirkung einer Entscheidung, die eine Ordnungswidrigkeit zum Gegenstand hat, hat aber § 84 OWiG 1968 in einer Weise Bestimmung getroffen, die sich wesentlich von § 65 Abs. 2 OWiG 1952 unterscheidet, und die die in der Vorauflage (S. 89) an die letztere Vorschrift geknüpften Überlegungen gegenstandslos gemacht hat. Nach § 84 OWiG 1968 kommt es für die Rechtskraftwirkung entscheidend darauf an, ob es sich um den rechtskräftigen Bußgeldbescheid der Verwaltungsbehörde oder um das rechtskräftige Urteil des Strafrichters über die Tat handelt. Die Rechtskraft des Bußgeldbescheids der Verwaltungsbehörde bewirkt, daß die Tat (im verfahrensrechtlichen Sinn) nicht mehr als Ordnungswidrigkeit, wohl aber als Straftat verfolgt werden kann. Dagegen steht das rechtskräftige Urteil über die Tat als Ordnungswidrigkeit auch ihrer Verfolgung als Straftat entgegen; dem rechtskräftigen Urteil stehen in dieser Wirkung der Beschluß nach § 72 OWiG und der Beschluß des Beschwerdegerichts (§ 79) gleich. Die erweiterte Verzehrwirkung der Rechtskraft der gerichtlichen Entscheidung im Bußgeldverfahren hat ihren Grund darin, daß das Gericht im Bußgeldverfahren nach § 81 OWiG die Tat auch unter strafrechtlichen Gesichtspunkten prüft, während der Verwaltungsbehörde eine entsprechende Kognitionsmöglichkeit fehlt ( G ö h l e r [2] 3 A und 4 B zu §84). Dabei macht das Gesetz keinen Unterschied, ob die vom Richter objektiv zu Unrecht nur als Ordnungswidrigkeit gewürdigte „Tat" in Wahrheit ein Vergehen oder ein Verbrechen darstellt; nur im Wege der Wiederaufnahme des Verfahrens kann die weitreichende Verzehrwirkung unter den (gegenüber § 362 StPO erleichterten) Voraussetzungen des § 85 Abs. 3 OWiG zuungunsten des Betroffenen beiseite geschoben werden. Wenn aber der Gesetzgeber an die gerichtliche Entscheidung über die Ordnungswidrigkeit im Interesse der Rechtsklarheit bewußt diese weitgehende Verzehrwirkung geknüpft hat, läßt es sich nicht mehr mit guten Gründen vertreten, daß dem strafrichterlichen Urteil, das nur über eine Übertretung entscheidet (solange es noch Übertretungen gibt), eine geringere Verzehrwirkung beizumessen sei als dem nur über eine Ordnungswidrigkeit befindenden Urteil. Daß beide Urteile sich z. Zt. immerhin noch dadurch unterscheiden, daß bei dem letzteren Urteil nach § 85 Abs. 3 Satz 2 OWiG der Weg der Wiederaufnahme auf Grund neuer Tatsachen oder Beweismittel mit dem Ziel der Bestrafung wegen eines Verbrechens offen steht, der bei dem ersteren Urteil nur unter den engen Voraussetzungen des § 362 Nr. 4 StPO gegeben ist, kann und muß als eine erträgliche Unebenheit während der Übergangszeit hingenommen werden. Im übrigen aber ist noch folgendes zu erwägen: Die Bemühungen des Schrifttums, den Umfang der Verzehrwirkung einzuengen, erklären sich daraus, daß das geltende Recht (§ 362) die Wiederaufnahme des Verfahrens zuungunsten des Beschuldigten nur in engstem Rahmen zuläßt, und daß die Beibringung neuer Tatsachen zwar die Wiederaufnahme zugunsten des Verurteilten, aber nicht zuungunsten des Beschuldigten rechtfertigt. Das Problem der Rechtskraftwirkung wäre ohne wesentliche praktische Bedeutung, wenn, wie dies die Vereinfachungs VO v. 29. 5. 1943 (oben S. 17) im Anschluß an § 354 StPO = Entw. 1939 vorsah, die Gründe der Wiederaufnahme pro und contra parallel gestaltet wären und die Beibringung neuer Tatsachen die Wiederaufnahme mit dem Ziel einer wesentlich strengeren „Ahndung" (so § 354 StPO = Entw. 1939) ermöglichte. So gesehen laufen die Versuche, die Verzehrwirkung enger als die h. M. zu begrenzen, im Grunde darauf hinaus, den Folgen auszuweichen, die sich aus der starken Beschränkung der Wiederaufnahme zuungunsten des Beschuldigten ergeben, oder, wie man auch sagen könnte, die Schranken des Wiederaufnahmerechts auf dem Wege einer einschränkenden Bestimmung der Rechtskraftverzehrwirkung entscheidend zu erweitern, indem die Beibringung neuer Tatsachen zwar keine Wiederaufnahme, wohl aber ein neues ergänzendes Strafverfahren ermöglicht 65 . Es fragt sich aber gerade, ob dies dem Sinn des geltenden Wiederaufnahmerechts mit seinem starken, ja vielleicht überstarken Schutz des abgeurteilten Angeklagten vor erneuter Verfolgung entspricht. Bei der schwierigen und heiklen Abwägung zwischen dem Interesse des Beschuldigten an Rechtssicherheit und Schutz vor erneuter Aburteilung und den Belangen der Allgemeinheit an Durchsetzung der „materiellen" Gerechtigkeit hat die StPO unmiß65

Über ähnliche Korrekturtendenzen beim Problem des nichtigen Urteils vgl. S. 193.

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Kap. 10

Einleitung (Schäfer)

B3 verständlich dem Interesse des Beschuldigten den Vorrang eingeräumt. Die Gesetzgebung des „Dritten Reiches" ging den umgekehrten Weg und schuf neben der Erweiterung der Wiederaufnahmevoraussetzungen zur weiteren Durchbrechung der Rechtskraft im Interesse der „materiellen" Gerechtigkeit die Einrichtung der Nichtigkeitsbeschwerde und des außerordentlichen Einspruchs. Das Vereinheitlichungsgesetz v. 12.9. 1950 ist zur Strenge des ursprünglichen Rechts zurückgekehrt. Mit der Aufnahme des Satzes ne bis in idem in das G G (Art. 103 Abs. 3) hat die Verfassung die hohe Bedeutung der Rechtskraftsperrwirkung für ein rechtsstaatliches Verfahren zum Ausdruck gebracht und ihrerseits eine Sperre gegen eine Verflüchtigung der Sperrwirkung errichten wollen. Das hindert den Prozeßgesetzgeber nicht, bei künftigen Reformen in Abwägung des Für und Wider Grenzkorrekturen vorzunehmen, und unter diesem Gesichtspunkt sind die wissenschaftlichen Auseinandersetzungen über die sinnvollste Bemessung des Umfanges der Verzehrwirkung wertvoll. Aber es hindert die Rechtsprechung, die Aufgabe des Gesetzgebers übernehmend, aus Bedürfnissen des Einzelfalles eine ständige Rechtshandhabung grundsätzlich zu ändern. „Vielmehr tut es not, genau auf die gesetzliche Regelung, wie sie in der Wiederaufnahme des Verfahrens vorliegt und auf die allgemeine Wirkung im Rechtsleben, also darauf zu achten, daß nicht eine Ausnahme von d e m . . . Grundsatz, indem sie einer einzelnen rechtskräftig abgeurteilten Sache zu einer anderen, der Forderung der Gerechtigkeit mehr genügenden Erledigung verhilft, den festen Grund, auf dem viele tausend rechtskräftige Urteile ruhen, in unerträglicher Weise erschüttere" ( N i e t h a m m e r in der 20. Auflage dieses Werkes S. 46; s. auch E b S c h m i d t Lehrk. I [2] Rz 312). Die unbeschränkte Verzehrwirkung ist nur dem Strafurteil eigen, das auf Grund einer Hauptverhandlung erging, in der das Gericht in Anwendung des § 264 StPO berechtigt und verpflichtet war, die Strafklage umzuwandeln, und das inhaltlich auf Grund eines Strafgesetzes zu der Frage Stellung nimmt, ob der Beschuldigte strafrechtlich verantwortlich zu machen sei (RGSt. 56 166; 70 216; 72 102; 75 388; 76 270) oder ob gegen den Zurechnungsunfähigen ein staatlicher Sicherungsanspruch bestehe (RGSt. 68 171, 384, 392; 69 170; BGHSt. 11 322; vgl. Anm. 6 a zu § 429b). Ohne Bedeutung ist es, ob das Urteil auf öffentliche oder Privatklage erging (LG Hamburg NJW 1948 352) und ob es sich um die Entscheidung eines ordentlichen Gerichts oder eines Sondergerichts handelt. Auch ein auf Einstellung lautendes Urteil hat Verzehrwirkung, wenn es das Vorliegen eines unbehebbaren Hindernisses feststellt, das jedem weiteren Verfahren entgegensteht. Ein Urteil, das einstellt, weil eine Übertretung nach § 370 Nr. 5 StGB vorliege und der erforderliche Strafantrag fehle, schließt, wenn der Antrag nicht mehr nachholbar ist, eine erneute Verfolgung unter dem Gesichtspunkt eines gemeinen, eines Strafantrages nicht bedürftigen Diebstahls aus. Nur beschränkt ist die Verzehrwirkung der rechtskräftigen Urteilssurrogate (Strafbefehl, Strafverfügung — vgl. Anm. 2, 3 zu § 410 —) Eine beschränkte Verbrauchswirkung kommt auch gewissen gerichtlichen Beschlüssen (§§ 174 Abs. 2, 211) zu, während der Einstellungsbeschluß nach § 206 a eine Sonderstellung einnimmt, indem er, wie ein Einstellungsurteil nach § 260 Abs. 3, auf eine endgültige Erledigung des Verfahrens abzielt (BGHSt. 6 111; 8 383), aber einem neuen Verfahren nicht entgegensteht, wenn sich aus Tatsachen, die dem Gericht unbekannt geblieben waren, nachträglich ergibt, daß das angenommene Verfahrenshindernis nicht bestand, z. B. wenn bei einer Einstellung wegen fehlenden Strafantrags sich nachträglich herausstellt, daß ein Antrag rechtzeitig gestellt, dies aber dem Gericht nicht bekannt war (ebenso M ü l l e r - S a x [6] zu § 206a). Eine beschränkte Verzehrwirkung ist schließlich auch Akten von Verwaltungsbehörden außerhalb des Strafverfahrens beigelegt, nämlich der polizeilichen Verwarnung mit Verwarnungsgeld bei Übertretungen nach den landesrechtlichen Vorschriften (oben S. 61). Wegen des Umfangs der Verzehrwirkung in diesen Fällen vgl. BGHSt. 17 101: ist der Täter wegen eines Verhaltens, das tateinheitlich mehrere Übertretungen umfaßt, nicht wegen aller dieser Übertretungen mit Verwarnungsgeld verwarnt worden, so darf er trotz Zahlung des Verwarnungsgeldes wegen der ungerügt gebliebenen Übertretungen noch strafgerichtlich verfolgt werden. Diese zu § 22 a. F. StVG entwickelten Grundsätze gelten jetzt allgemein für die polizeiliche Verwarnung mit Verwarnungsgeld bei Übertretungen, da Art. 154 EG OWiG v. 24. 5. 1968 (BGBl. I 503) wegen des Umfangs der Verzehrwirkung auf § 56 Abs. 4 OWiG 1968 verweist, der seinerseits dem § 22 Abs. 2 a. F. entspricht.

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Die Verfahrensvoraussetzungen (Verfahrenshindernisse)

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Dabei ist es ohne Bedeutung, daß statt des Wortes „Zuwiderhandlung" in § § 2 2 Abs. 2 a. F. StVG jetzt in § 56 Abs. 4 OWiG 1968 das Wort „Tat" verwendet wird. Der Wechsel im Ausdruck legt zwar die Annahme nahe, der Begriff „Tat" sei ganz allgemein i. S. des § 264 StPO zu verstehen; der Gesetzgeber ging aber davon aus, daß BGHSt. 17 191 für die Auslegung des § 56 Abs. 4 OWiG 1968 grundlegende Bedeutung behalten habe (vgl. G ö h l e r [2] 11 A zu 8 56). Keinerlei Verbrauchswirkung kommt gerichtlichen Einstellungsbeschlüssen zu, die nur deklaratorisch den aktenmäßigen Abschluß des Verfahrens vermerken, z. B. wenn das Gericht das Verfahren „einstellt' (vgl. Anm. 3 zu § 411), weil nach vorangegangenem Strafbefehl auf Einspruch hin der Staatsanwalt nach § 411 die Klage fallen läßt (RGSt. 63 268). Außer der negativ-prozessualen Bedeutung als Verfahrenshindernis maß früher die Rechtsprechung des R G der Rechtskraft auch eine positiv-materiellrechtliche Bedeutung bei: eine erneute Aburteilung sei auch deshalb ausgeschlossen, weil die strafrechtliche Schuld durch das rechtskräftige Urteil getilgt sei (RGSt. 25 29; 35 369ff; 41 153; 43 62; 49 170; 62 154; 66 423; 72 102). Diese im Schrifttum (vgl. z.B. E b S c h m i d t Lehrkom. I [2] Rz 276ff. mit Nachweisen; a. M. P e t e r s ZStrW 68 (1956) 388 unter Berufung auf die „reinigende Kraft" der Verurteilung) überwiegend abgelehnte Lehre von der Doppelwirkung der Rechtskraft entstand zu einer Zeit, als das Wesen der Prozeßvoraussetzungen als stets von Amts wegen zu berücksichtigender Verfahrenshindernisse noch nicht in voller Schärfe erkannt war, aus dem praktischen Bedürfnis heraus, die Verletzung des Satzes ne bis in idem auch dann als materiellrechtlichen Verstoß berücksichtigen zu können, wenn sie als Verfahrensverstoß nicht prozeßordnungsgemäß gerügt war oder — wie im Fall des früheren § 340 StPO — die Revision nur auf bestimmte Verfahrensverstöße gestützt werden konnte. Nachdem sich die Erkenntnis von der Unberührtheit der Sache als einer stets von Amtswegen zu berücksichtigenden Verfahrensvoraussetzung durchgesetzt hat und überdies Art. 103 Abs. 3 G G den Angeklagten dagegen schützt, daß durch einfaches Gesetz die Sperrwirkung der Rechtskraft beiseite geschoben werden könnte (vgl. BGHSt. 5 523), hat die Lehre von der Doppelwirkung keine praktische Bedeutung mehr. Für den Verurteilten bedeutet der Satz ne bis in idem, daß er das rechtskräftige Urteil hinnehmen muß und eine weitere Nachprüfung seiner Richtigkeit außer auf dem Wege der Wiederaufnahme des Verfahrens nicht mehr herbeiführen kann. Widerspricht das Urteil der materiellen Rechtslage, so kann natürlich auch die Rechtskraft des Urteils, das den Angeklagten des Diebstahls zu Unrecht schuldig spricht, ihn nicht von Rechts wegen zum Dieb machen. Aber das richtige wie das unrichtige rechtskräftige Urteil gestaltet die Rechtslage, indem es den bisher nur der Tat Beschuldigten in die rechtliche Stellung eines Schuldiggesprochenen und Verurteilten versetzt und die Vollstreckungs- und Vollzugsorgane zur Durchführung des Urteils berechtigt und verpflichtet ( P e t e r s [2] 434). Der Verurteilte könnte sich, wenn er sich bei Ergreifung zwecks Vollstreckung den Amtshandlungen der Vollstreckungsbeamten widersetzt, in dem Strafverfahren wegen Widerstands (§113 StGB) nicht darauf berufen, daß er zu Unrecht verurteilt sei und seine Freiheit gegen rechtswidrige Angriffe verteidigt habe. Der Richter dürfte in eine Nachprüfung des Urteils nicht eintreten, und zwar nicht deshalb, weil der Satz ne bis in idem entgegenstünde — er greift nicht ein, da es sich nicht um denselben Gegenstand handelt — oder er an die Feststellung der Schuld oder die getroffenen tatsächlichen Feststellungen des früheren Urteils gebunden wäre — vgl. dazu Fußnote 55 auf S. 99 —, sondern weil er von der Gestaltungswirkung des früheren Urteils auszugehen hat, kraft derer die Vollstreckungsbeamten zur Durchführung des Urteils berechtigt und verpflichtet sind. Das Gesetz mutet auch dem zu Unrecht Verurteilten, dessen Unschuld infolge der Unzulänglichkeit menschlicher Erkenntnis bei der Aburteüung unbekannt blieb, im Interesse des Rechtsfriedens der Allgemeinheit zu, daß er sich dem Urteil gemäß behandeln lassen müsse. Stellt sich später bei einer Wiederaufnahme des Verfahrens die Unrichtigkeit des Urteils heraus, so wird der Verurteilte wegen des ihm durch die Strafvollstreckung entstandenen Schadens entschädigt (Ges. v. 20. 5. 1898, RGBl. 345), aber nicht unter dem Gesichtspunkt, daß der durch einen objektiv rechtswidrigen Eingriff des Staates in die Rechtssphäre des Beschuldigten entstandene Schade wieder gutgemacht werden müßte — der Staat handelt auch objektiv nicht rechtswidrig, wenn er die niemals ganz ausgeschlossene, aber nach ordnungsmäßiger Durchführung des Verfahrens gering gewordene Möglichkeit eines Justizirrtums unberücksichtigt läßt —, son-

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Kap. 10

Einleitung (Schäfer) B3 dem unter dem Gesichtspunkt eines Aufopferungsanspruches dafür, daß der Staat dem Verurteilten im höheren Interesse der Allgemeinheit an der Verbrechensbekämpfung und der Sicherung des Rechtsfriedens zumutet und zumuten durfte, das Urteil an sich vollziehen zu lassen und das Rechtsgut seiner persönlichen Freiheit zu opfern. Grundsätzlich anders ist die — namentlich und mit Nachdruck von E b S c h m i d t a.a.O. Rz 284 vertretene — Lehre, die dem unrichtigen Urteil jede rechtliche Kraft zur Veränderung der prozessualen Rechtslage abspricht. Die Vollstreckung eines unrichtigen Urteils kann danach „nur eine rechtswidrige Rechtsgüterverletzung in der Rechtssphäre des Betroffenen bedeuten. Wer eingesperrt wird, weil ein unrichtiges rechtskräftiges Urteil über ihn, der nicht gestohlen hat, eine Diebstahlsstrafe von 6 Monaten Gefängnis verhängt hat, erleidet eine rechtswidrige Freiheitsberaubung". Die Vollstreckungsorgane, die pflichtgemäß das Urteil vollstrecken, handeln zwar, weil durch den Urteilsbefehl gedeckt, schuldlos, begehen danach aber objektiv Freiheitsberaubung. Die Folgerung freilich, daß der Verurteilte, wenn er die Vollstreckungshandlung unter Eingriff in Rechtsgüter der Vollstreckungsbeamten abzuwehren sucht, etwa den den Vollstreckungshaftbefehl vollziehenden Polizeibeamten niederschießt, sich auf Notwehr berufen könnte, will auch E b S c h m i d t nicht ziehen. Indem der Gesetzgeber für die Beseitigung von Unrichtigkeiten der staatlichen Justizgewährungsakte die ordentlichen und außerordentlichen Rechtsbehelfe zur Verfügung stellt gebe er deutlich zu erkennen, daß jede andere Art, gegen diese Justizgewährungsakte anzugehen, untersagt sei. „Dem staatlichen Urteilsvollstreckungsbetrieb gegenüber greift § 5 3 StGB nicht Platz." Das faktische Duldenmüssen sei aber kein rechtliches Duldensollen. Praktisch bedeutet aber doch das auf der Versagung rechtlicher Abwehrmöglichkeiten beruhende „faktische Duldenmüssen", wenn ein anderer „Gerichtsbehelf' als die Wiederaufnahme des Verfahrens nicht in Betracht kommt, nichts anderes, als daß der Verurteilte die Vollstreckung des Urteils zu erdulden verpflichtet ist, bis dem Urteil durch den rechtsgestaltenden Akt der Wiederaufnahmeanordnung (§ 370 Abs. 2) die Vollstreckbarkeit entzogen ist. Bis dahin kann sich weder der Verurteilte noch ein Dritter (etwa ein Begünstigter, der den Verurteilten der Vollstreckung zu entziehen sucht, § 257 StGB) auf die „Rechtswidrigkeit" des unrichtigen Urteils berufen 66 . Einer näheren Erörterung bedarf die Frage, welche Folgen sich ergeben, wenn das Verfahrenshindernis der rechtskräftig abgeurteilten Sache in dem neuen Verfahren unbemerkt bleibt und auch das neue Verfahren mit einem rechtskräftigen Sachurteil endet. Eine im Schrifttum vertretene Auffassung will an die Verletzung des Art. 103 Abs. 3 G G die Folge der Urteilsnichtigkeit knüpfen (vgl. E b S c h m i d t Lehrkom. I [2] Rz. 257; P e t e r s [2] 541; und in Festschrift f. K e r n [1968] 338; H e n k e l [2] 258; M ü l l e r - S a x [6] Einl. 10b II (1) B; ebenso — aber inkonsequent; s. unten — LG Darmstadt NJW 1968 1642). Zur Begründung (soweit der hergebrachte Satz einer solchen überhaupt für bedürftig angesehen wird) beruft man sich dabei auf § 17 EGMilStGO 1898: „Ist ein Angeklagter sowohl durch ein militärisches wie durch ein allgemeines Gericht in einer denselben Gegenstand betreffenden Strafsache abgeurteilt worden, so gilt das Urteil, das zuerst die Rechtskraft erlangt hat", und sieht darin einen Rechtssatz von allgemein gültiger Bedeutung. Indessen regelte diese Vorschrift in erster Linie die Folgen eines Überschreitens der Gerichtsbarkeit (vgl. Anm. 13 e zu § 13 GVG) und kann schon deshalb nicht ohne weiteres zur Begründung 66

Für das hier erörterte Problem der Bedeutung des „wirklichen Rechts" gegenüber dem (unrichtigen) rechtskräftigen Urteil ist schwerlich dadurch etwas gewonnen, daß zwischen dem materiellen Strafanspruch und dem prozessualen Strafanspruch unterschieden wird. Nach Z i p f G A 1969 234, 236 ist der aus der Tatbegehung entstehende „materielle Strafanspruch weder realisierungsfähig noch bedürftig. Er ist automatische Folge der Tat. Er ist nicht Gegenstand des Verfahrens, sondern existiert unabhängig davon und wird von seinem Ausgang nicht berührt. Ein unberechtigter Freispruch bringt keineswegs den materiellen Strafanspruch in Fortfall. Eine Verurteilung bestätigt nicht den materiellen Anspruch, sondern gibt dem prozessualen Strafverlagen s t a t t . . . Nur die Stellungnahme des Gerichts zum Strafverlangen (die Entscheidung über den behaupteten prozessualen Strafanspruch) erwächst in Rechtskraft." Immerhin hat der (unrichtige) rechtskräftige Freispruch zur Folge, daß der Täter die Fortexistenz des unberührbaren materiellen Strafanspruchs angesichts der Enge der Wiederaufnahmegründe (§ 362) mit Gelassenheit ertragen, und daß er gegen jeden, der die Fortexistenz des materiellen Strafanspruchs behauptet („ist tatsächlich ein Dieb, obwohl der prozessuale Strafanspruch verneint worden ist") vorgehen kann ( § 1 9 0 Satz 2 StGB).

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des Satzes dienen, daß das spätere Urteil schlechthin unwirksam sei. Aber auch wenn man unterstellt, daß — über den Fall eines Uberschreitens der Gerichtsbarkeit hinaus — in Ausnahmefallen ein formell rechtskräftiges Urteil wegen offenkundiger gröbster Gesetzesverletzungen nichtig (unwirksam) sein kann mit der Folge, daß jedermann zu jeder Zeit und in jeder Form die Unbeachtlichkeit des Urteils geltend machen kann (vgl. dazu S. 184 ff.), fragt es sich, ob es sich bei dem Verstoß gegen den Satz ne bis in idem um einen Mangel von solcher Schwere handelt, daß die Aufrechterhaltung des späteren Urteils nach dem Geist der Rechtsordnung nicht erträglich wäre und ob die globale Annahme der Unwirksamkeit des späteren Urteils in allen Fällen eine gerechte und zweckmäßige Lösung darstellt. In anderem Zusammenhang (oben S. 86) ist der Fall behandelt, daß in demselben Verfahren die schon vorher eingetretene Rechtskraft oder Teil rechts kraft einer vorangegangenen Entscheidung unbemerkt blieb und nach Rechtsbehelf oder Rechtsmittel der spätere Richter sich erneut mit der res iudicata befaßt. Hier wird, wenn das spätere Urteil rechtskräftig wird, der Verstoß nicht einmal (für Dritte, Außenstehende) offenkundig, denn das spätere Urteil ändert die frühere Entscheidung ab und diese Änderung beruht auf der in dem späteren Urteil (wenn auch u. U. nur stillschweigend) getroffenen, freilich unrichtigen Feststellung, daß die frühere Entscheidung infolge rechtzeitiger und wirksamer Anfechtung nicht rechtskräftig geworden sei. Und wenn gar die spätere Entscheidung die frühere zugunsten des Angeklagten änderte, so leuchtet nicht ein, daß die Gerechtigkeit und Unverbrüchlichkeit der Rechtsordnung unabdingbar erfordern sollten, dem Angeklagten die, wenn auch per nefas gewonnene günstigere Position zu entziehen. Jedenfalls dann, wenn die erneute Aburteilung in demselben Verfahren erfolgt, ist von einer Nichtigkeit der späteren Entscheidung nicht zu sprechen (so auch BGHSt. 13 306 = NJW 1960 109; BGHSt. 18 127 = NJW 1963 166; OLG Bremen JZ '1958 546 und S p e n d e l in der Anm. dazu mit weiteren Nachweisen, während OLG Oldenburg NJW 1959 1983 unterscheiden will, ob es sich um einen offensichtlichen, aus dem Urteil ohne weiteres entnehmbaren Verstoß gegen den Satz ne bis in idem handele, der das Urteil nichtig mache, oder ob es an der Offensichtlichkeit fehle). Die Rechtsfrage kann aber nicht anders beurteilt werden, wenn das spätere Urteil in einem neuen, gegenüber dem früheren selbständigen Verfahren ergeht. Auch hier kann keineswegs immer oder auch nur in der Mehrzahl der Fälle von einem groben offenkundigen und unerträglichen Gesetzesverstoß gesprochen werden. Die unten (S. 110 Fußn. 67) erwähnte Entscheidung des BVerfGE 23 1961= NJW 1968 982 betr. die Frage, ob die nach Aburteilung eines Kriegsdienstverweigerers wegen Dienstflucht aus Gewissensgründen andauernde Nichtbefolgung einer Einberufung zum zivilen Ersatzdienst noch dieselbe Tat i. S. des Art. 103 Abs. 3 GG, § 264 StPO darstelle, über die selbst innerhalb des BVerfG divergierende Auffassungen zutage traten, macht deutlich, welche Schwierigkeiten die Frage bereiten kann, ob der Grundsatz ne bis in idem verletzt ist. Um ein weiteres Beispiel anzuführen: Bliebe — vgl. das oben Seite 102 erörterte Schulbeispiel — in einem Verfahren wegen Mordes oder Totschlags unbemerkt, daß der Angeklagte früher wegen Schießens in gefahrlicher Nähe von Gebäuden zu einer geringfügigen Ubertretungsstrafe (durch Urteil auf Grund einer Hauptverhandlung) verurteilt war, so leuchtet schon vom Ergebnis her ein, daß das neue auf eine schwere Freiheitsstrafe lautende rechtskräftige Urteil nicht absolut nichtig sein kann mit der Folge, daß die Unbeachtlichkeit zu jeder Zeit und in jeder Form geltend gemacht werden dürfte und daß schon die Vollstreckungsbehörde von der Vollstreckung absehen könnte, wenn sie der Meinung ist, das spätere Urteil verstoße gegen das Verbot der Doppelbestrafung und sei nichtig. Angesichts der Schwierigkeit und Zweifelhaftigkeit der Frage, wie weit die Verzehrwirkung des ersten Urteils reicht, könnte von einem offenkundigen schweren Mangel des späteren Urteils, der ihm jeden Anspruch auf Geltung und Beachtung von vornherein entzöge, nicht die Rede sein. Freilich gibt es verhältnismäßig einfache Fälle, in denen klar zutage liegt, daß eine gesetzwidrige Doppelbestrafung erfolgte. Es kommt z. B. nicht selten vor, daß Strafanzeigen wegen der gleichen Tat (insbesondere bei fortgesetzter Handlung oder Dauerdelikten) von verschiedenen Stellen bei zwei verschiedenen Staatsanwaltschaften eingehen und jede Staatsanwaltschaft, ohne von der anderen zu wissen, bei dem jeweils zuständigen Gericht einen Strafbefehl erwirkt, die der Beschuldigte beide rechtskräftig werden läßt. Die preußische Gnadenpraxis (vgl. G r a u - S c h ä f e r , Preuß. Gnadenrecht [1931] S. 126) ging früher davon aus, daß beide Strafbefehle wirksam seien

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B 3 und Abhilfe nur im Gnadenweg zu schaffen sei, wobei z. T. aus Billigkeitsgründen nicht ohne weiteres die später festgesetzte, sondern die schwerere der beiden Strafen erlassen wurde. Den doppelt Verurteilten an die Gnade zu verweisen, wäre aber keine rechtsstaatlichen Anforderungen und der Bedeutung des Art. 103 Abs. 3 G G Rechnung tragende Lösung. Als eine solche schlug — ebenfalls von der Vorstellung ausgehend, daß beide rechtskräftigen Straferkenntnisse wirksam nebeneinander bestehen — Art. 70 Nr. 195 EGStGB = Entw. 1930 die Einfügung eines § 3 6 0 a StPO vor, wonach im Fall der Doppelverurteilung die Beseitigung des späteren Urteils oder Strafbefehls im Weg der Wiederaufnahme des Verfahrens erfolgen sollte. Dieser Weg ist, ohne daß es einer solchen Ergänzung der StPO bedürfte, heute ohne weiteres gangbar. Es ist eine „neue Tatsache", wenn nachträglich bekannt wird, daß bereits durch eine vorausgegangene Entscheidung der Strafanspruch verbraucht war. Die Beschränkungen in § 359 Nr. 5 a. F. StPO ( Ausschluß von Tatsachen, die der Verurteilte im früheren Verfahren kannte und geltend machen konnte), die früher einer Wiederaufnahme des Verfahrens zugunsten des Verurteilten in solchen Fällen in amtsgerichtlichen Sachen entgegenstanden, sind jetzt weggefallen. Einer Freisprechung i. S. des § 359 Nr. 5 entspricht auch die Einstellung des späteren Verfahrens wegen des Verfahrenshindernisses der rechtskräftigen Verurteilung (vgl. die Anm. zu § 359). Steht aber zur Beseitigung eines Urteils der Weg der Wiederaufnahme zur Verfügung, so ergibt sich grundsätzlich schon daraus, daß nach dem Willen der Rechtsordnung nur dieser Weg beschreitbar ist und eine ipso iure-Nichtigkeit des Urteils entfällt. Ist dies richtig, so kommt auch der — als Ausweg vorgeschlagene — Weg einer Anrufung des Vollstreckungsgerichts nach § 4 5 8 nicht in Betracht 67 . 67

E b S c h m i d t Lehrk. I [2] Rz. 257 Fußn. 464 macht demgegenüber geltend, das Wiederaufnahmeverfahren sei kein geeigneter Weg, das 2. Urteil aus der Welt zu schaffen, weil § 373 Abs. 1 StPO, der den Inhalt des in der erneuten Hauptverhandlung ergehenden Urteils eindeutig bestimme, hier nicht passe. Warum soll § 373 Abs. 1 nicht passen, wenn das Urteil im Wiederaufnahmeverfahren auf Aufhebung des zweiten Urteils und Einstellung des Verfahrens lautet? Der hier vertretenen Auffassung folgt LG Hannover NJW 1970 288, 289. Widersprüchlich LG Darmstadt NJW 1968 1642, das auf der einen Seite ein unter Verletzung des Verbots der Doppelbestrafung ergangenes Urteil für „unbeachtlich" erklärt, andererseits aber den Antrag (hier: die Staatsanwaltschaft zugunsten des Verurteilten) auf Wiederaufnahme des Verfahrens für zulässig hält, „weil Urteile die Vermutung der Wirksamkeit für sich haben und daher ihre Unwirksamkeit einer Feststellung bedarf." Wenn die Unwirksamkeit einer Feststellung bedarf, so ist dies doch das Gegenteil einer „Unbeachtlichkeit", deren Wesen darin besteht, daß sie jederzeit von jedermann in beliebiger Form geltend gemacht werden kann. Eine andere Frage ist, ob es angängig ist, als „neue Tatsache" i. S. des § 359 Nr. 5 StPO auch Entscheidungen des BVerfG anzusehen, die eine Rechtsfrage abweichend von der bisherigen Rechtsprechung beurteilen. Die Frage tauchte erstmals auf, als das BVerfG — im Gegensatz zu vorangegangenen OLG-Entscheidungen — bestimmte Normen der D D R als mit rechtsstaatlichen Grundsätzen unvereinbar erklärte und die Unzulässigkeit der Vollstreckung der auf solchen Normen beruhenden Urteile von Gerichten der DDR in der Bundesrepublik aussprach (vgl. dazu unten S. 200). Unter Berufung auf BVerfGE 12 338 = NJW 1961 1203, das in der Veränderung der Rechtsauffassung eine neue, eine erneute Entscheidung rechtfertigende Tatsache i. S. des § 9 des Ges. über die innerdeutsche Rechts- und Amtshilfe in Strafsachen v. 2. 5. 1953 (BGBl. 1161) sah, wollen LG Darmstadt NJW 1968 1642 mit zust. Anm. H o f m a n n und AG Hagen JMB1. NRW 1969 184 in der Entscheidung des BVerfGE 23 191 = NJW 1968 982 (betr. Unzulässigkeit wiederholter Bestrafung wegen Dienstflucht, wenn ein Kriegsdienstverweigerer nach vorangegangener Bestrafung erneut aus Gewissensgründen der Einberufung zum zivilen Ersatzdienst keine Folge leistet) eine neue Tatsache auch i. S. des § 359 Nr. 5 StPO sehen, die die Wiederaufnahme gegen ein verurteilendes Urteil zuläßt, das auf der vom BVerfG abgelehnten Rechtsauffassung beruht. LG Hannover NJW 1970 288, 290 mit Anm. B ö c k e n f ö r d e NJW 1970 870 will dem nicht folgen, weil eine bloße Änderung der Rechtsprechung vorliege, die keine neue Tatsache darstelle, und sieht nur in der fristgebundenen (§ 93 BVerfGG) Verfassungsbeschwerde die Abhilfemöglichkeit. Ohne daß hier Raum wäre für eine Vertiefung der Frage, dürfte der Auffassung des LG Darmstadt der Vorzug zu geben sein (vgl. dazu unten S. 199). S. dazu auch den interessanten, aber doch de lege lata problematischen Vorschlag von B ö c k e n f ö r d e NJW 1970 870: § 7 9 Abs. 1 BVerfGG sei entsprechend anwendbar; die verfassungsrechtlich bedingte restriktive Auslegung einer Norm durch das BVerfG sei grundsätzlich dasselbe, als wenn mit Gesetzeskraft eine Norm, soweit sie (nach ihrem Wortlaut) eine andere Auslegung ermöglicht, teilweise für verfassungswidrig und damit für nichtig erklärt werde.

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Zur Verneinung der Urteilsnichtigkeit führt schließlich auch die Erwägung, daß nach Erschöpfung der prozeßordnungsmäßigen Abhilfemöglichkeiten die Verletzung des Art. 103 Abs. 3 G G mit der Verfassungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht geltend gemacht werden kann (§ 90 BVerfGG). Erweist sie sich als begründet, so hebt nach § 95 Abs. 2 BVerfGG das BVerfG die auf dem Verstoß beruhende Entscheidung auf. Auch hier folgt daraus, daß die Rechtsordnung zur Behebung des Mangels einen förmlichen und fristgebundenen (§ 93 Abs. 1 BVerfGG) Weg eröffnet hat, daß nach der Vorstellung des Gesetzgebers der Mangel nicht die ipso iure= Nichtigkeit bewirkt. B. Einzelheiten. a) Der Strafklageverbrauch setzt Identität der Tat und des Täters voraus. Hierzu ist in grundsätzlicher Hinsicht — wegen der Einzelheiten sei auf die Anm. zu § 264 und auf die Vorbem. vor § 151 verwiesen — dem bereits unter A ausgeführten folgendes ergänzend hinzuzufügen: aa) Nämlichkeit dessen, der verfolgt wird. — . Es versteht sich von selbst, daß eine zum Verbrauch der Strafklage geeignete Entscheidung diese immer nur gegenüber demjenigen verbraucht, über den sie entschieden hat. Ist A wegen einer von ihm allein begangenen Straftat rechtskräftig verurteilt worden, so bleibt es jederzeit zulässig, ein Strafverfahren gegen B zu betreiben, weil er der alleinige Täter sei; das setzt nicht voraus, daß zuvor die Wiederaufnahme des Verfahrens zugunsten des rechtskräftig Angeklagten in Angriff genommen werde. Ist A des schweren Diebstahls angeklagt, sieht aber das Gericht nur Mundraub als gegeben an, der wegen fehlenden Strafantrags und Verjährung nicht bestraft werden kann, so kann doch trotz des Freispruchs des A jederzeit gegen B als Mittäter eines schweren Diebstahls oder gegen C und D wegen Anstiftung oder Beihilfe zum schweren Diebstahl vorgegangen werden. Eine andere Frage ist, gegen wen entschieden ist, wenn Anklage und Eröffnungsbeschluß sich gegen A richten, in der Hauptverhandlung aber B erscheint und vorgibt, der A zu sein, und eine rechtskräftige Verurteilung erfolgt, ohne daß die Täuschung erkannt wird. Kann also z.B. wenn A nur wegen Beihilfe angeklagt war und das Urteil auf eine milde Strafe lautet, der an Stelle des A erschienene Haupttäter B in einem künftig gegen ihn wegen der Täterschaft betriebenen Verfahren sich auf die Rechtskraft des Urteils berufen, weil es nur vermeintlich gegen A, tatsächlich aber gegen ihn ergangen sei? Die Auffassungen gehen auseinander. Nach der einen Meinung richtet sich das Urteil gegen denjenigen, gegen den das Verfahren durch Anklageerhebung und Eröffnungsbeschluß rechtshängig geworden ist, also gegen A (so LG Lüneburg MDR 1949 768). Nach anderer Auffassung trifft das Urteil den, der tatsächlich vor Gericht gestanden hat, also B; wird das Urteil formell rechtskräftig, so erlangt es auch materielle Rechtskraft und es bleibt nur der Weg der Wiederaufnahme des Verfahrens, wenn dessen Voraussetzungen vorliegen (so L u c a s - D ü r r 243, 359). Nach einer dritten Auffassung ist das Urteil „unbeachtlich", also nichtig (so E b S c h m i d t Lehrkomm. I [2] Rz. 293; M ü l l e r - S a x [6] Einl. 14 B Ie), weil es sich gegen eine Person richtet, die gar nicht (durch Anklage und Eröffnungsbeschluß) in das Verfahren gezogen war. Den Vorzug dürfte die erstere Auffassung verdienen. Das Verfahren war gegen A rechtshängig geworden, über seine Schuld wollte das Gericht entscheiden. Wenn tatsächlich in seiner Abwesenheit entschieden wurde, so fehlte es für das Verfahren an einer Verfahrensvoraussetzung (der Anwesenheit des Angeklagten, s. S. 121), und es wurde der Grundsatz des rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) verletzt. Die Nichtbeachtung der Prozeßvoraussetzung wird aber, wenn das Urteil unangefochten bleibt, durch die Rechtskraft geheilt. A kann, wenn er sich durch das Urteil benachteiligt fühlt, ggf. Verfassungsbeschwerde wegen Versagung des rechtlichen Gehörs mit dem Ziel der Aufhebung des Urteils einlegen (§§ 90,95 BVerfGG). bb) Nämlichkeit der Tat, deretwegen verfolgt wird. — Wie oben (S. 101) ausgeführt, umfaßt die abgeurteilte „Tat" das den Gegenstand der Anklage bildende geschichtliche Vorkommnis in dem Umfang, als es sich um einen nach natürlicher Betrachtung einheitlichen Lebensvorgang handelt. Jede Aburteilung (Verurteilung, Freispruch, Absehen von Strafe, endgültige Einstellung) einer Beteiligung (im weitesten Sinne) an dem einheitlichen Lebens111

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Vorgang bewirkt, daß der Betroffene auch nicht wegen einer anderen tatsächlichen oder rechtlichen Beteiligung an diesem Lebensvorgang in einem neuen Verfahren zur Verantwortung gezogen werden kann, wenn es bei der früheren Aburteilung rechtlich möglich (zulässig) war, auch diese Form der Beteiligung strafklageumgestaltend (ggf. durch Verweisung nach § 270) in die Aburteilung einzubeziehen. Es schließt demgemäß die Aburteilung als Anstifter oder Gehilfe eine spätere Verfolgung als Haupttäter aus. Das gleiche gilt aber auch für Formen der Beteiligung, die der Haupttat vorangehen oder nachfolgen. So verhindert der Freispruch von der Anklage der Nichtanzeige eines geplanten Verbrechens (§ 138 StGB) die spätere Verfolgung wegen Täterschaft des Verbrechens selbst oder der Teilnahme daran (RGSt. 21 78; a. M. P e t e r s [2] 443), wie umgekehrt auch der Freispruch von der Anklage des Mordes einer späteren Verfolgung wegen Nichtanzeige des Mordes entgegensteht (RGSt. 14 78). Ebenso wird durch die Aburteilung der Begünstigung oder Hehlerei die Strafklage auch bzgl. der Vortat verbraucht, wie umgekehrt der Freispruch von der Anklage des Diebstahls einer späteren Aburteilung als Hehler entgegensteht (RGSt. 55 187). Es ist für den Umfang der Verzehrwirkung der Rechtskraft stets ohne Bedeutung, ob das rechtskräftige Urteil ein tatsächliches Stück der Tat außer acht gelassen, oder ob es eine mögliche rechtliche Würdigung nicht angestellt hat. Es darf also z. B. gegen denjenigen, der von der Beschuldigung eines Betrugs freigesprochen worden ist, der darin liegen sollte, daß er bei der Versicherungsgesellschaft Sachen, die nicht verbrannt sind, als verbrannt angegeben habe, später nicht wegen des Betrugs vorgegangen werden, den er damals zugleich verübt habe, indem er seiner Rechtspflicht zuwider verschwieg, den Brand schuldhaft verursacht zu haben (RG H R R 1936 Nr. 651). Ohne Bedeutung ist es auch, ob der Staatsanwaltschaft und dem Gericht daraus, daß der Vorgang nicht in dem rechtlich zulässigen Umfang zum Gegenstand der Untersuchung und Entscheidung gemacht wurde, ein Vorwurf erwächst oder nicht. Nur dann greift — und zwar auch bei Gesetzesverletzungen, die mit der abgeurteilten Tat in Tateinheit stehen — der Verbrauch der Strafklage nicht durch, wenn im früheren Verfahren die Verfolgung der Tat in einer bestimmten Richtung dem Gericht aus irgendeinem Grund von Rechts wegen verwehrt war, etwa, weil die Gerichtsbarkeit fehlte oder die Bedingung eines Auslieferungsvertrages entgegenstand oder der erforderliche Strafantrag noch nicht vorlag; dann ist für ein neues Verfahren zu dem Zwecke Raum, um die schon abgeurteilte Tat nachträglich daraufhin zu prüfen, ob der Angeklagte auch in der bisher der Prüfung verschlossenen Richtung gefehlt habe und die sich hieraus ergebende Rechtsfolge tragen müsse (RGSt. 46 367; 56 166). Dagegen wird die Verzehrwirkung nicht dadurch ausgeschlossen, daß das Gericht in Verkennung der Rechtslage Tatteile des einheitlichen Lebensvorganges von der Aburteilung ausgenommen hat, z. B. in der Annahme, es liege Tatmehrheit vor, das Verfahren z. T. abgetrennt hat, während bei richtiger rechtlicher Beurteilung Tateinheit gegeben ist. Ein solcher Fehler zwingt, wenn nur der Angeklagte Revision eingelegt hat, nicht zur Aufhebung des Urteils zwecks Ergänzung des Schuldspruchs, wenn prozeßökonomische Gründe (bei einer umfangreichen Sache) es erträglich erscheinen lassen, daß die nicht gewürdigten Gesetzesverletzungen im Schuldspruch außer Betracht bleiben, zumal wenn wegen des Verbots der reformatio in peius am Strafausspruch nichts geändert würde (BGHSt. 10 363). Einer besonderen Betrachtung bedürfen die Fälle der fortgesetzten Handlung, des Sammelverbrechens und der Dauerstraftat. a) Wird eine Mehrheit von Willensbetätigungen wegen des auf der Einheit des verletzten Rechtsguts, der Gleichartigkeit der Begehungsform und der Einheitlichkeit des Vorsatzes beruhenden Zusammenhangs zu einer fortgesetzten Handlung im Sinne des sachlichen Rechts zusammengefaßt, so erledigt das Urteil, das den Angeklagten wegen einer im Fortsetzungszusammenhang begangenen Gesetzesverletzung verurteilt, sobald es rechtskräftig wird, alle vor der Verkündigung des Urteils begangenen, in den Fortsetzungszusammenhang gehörigen Einzelhandlungen, gleichviel, ob das erkennende Gericht sie berücksichtigt hat oder nicht, ob es sie kannte oder nicht, ob es Anlaß und Gelegenheit, sich Kenntnis von ihnen zu verschaffen, hatte oder nicht (RGSt. 66 50), ob die Einzelakte sich gegen im Verfahren bekannt gewordene oder auch gegen unbekannt gebliebene Verletzte richten (RGSt. 51 254; a. M. P e t e r s [2] 442) und ob die Zahl der bekannt gewordenen Einzelhandlungen nur einen kleinen Bruchteil der tatsächlich begangenen Einzelhandlungen bildet, so daß die 112

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erkannte Strafe außer Verhältnis zur Schwere der Tat steht (BGHSt. 6 122: Verurteilung wegen fortgesetzten Betruges auf Grund von 7 Einzelhandlungen, während nachträglich 226 weitere bekannt wurden). Die Strafklage ist dann auch wegen einer Straftat verbraucht, die nur mit einer der Einzelhandlungen in Tateinheit zusammentrifft (RG HRR 1939 Nr. 212). Zwar ist mit der neueren Rechtsprechung davon auszugehen, daß, wenn zwischen einem Einzelakt und einem schwereren Delikt Tateinheit besteht, dadurch nicht Tateinheit zwischen dem schwereren Delikt und der Fortsetzungstat hergestellt wird und daß mehrere selbständige strafbare Handlungen nicht durch eine tateinheitlich begangene minderschwere Fortsetzungs- oder Dauertat untereinander zur tateinheitlich begangenen Tat verbunden werden, vielmehr insoweit selbständige Handlungen vorliegen. Das ändert aber verfahrensrechtlich nichts daran, daß wegen der Einheitlichkeit des Lebensvorganges die rechtskräftige Aburteilung des fortgesetzten Delikts einer späteren Verfolgung des vorher nicht bekannten schwereren Delikts entgegensteht (BGHSt. 6 92 gegen BGHSt. 3 165; einschränkend aber BGH JZ 1970 327 m. abl. Anm. G r ü n w a l d ) . Da aber die Urteilsfällung den Gegenstand der Urteilsfindung zeitlich so begrenzt, daß alles, was nach der Verkündung des letzten tatrichterlichen Urteils geschieht, von diesem nicht erfaßt, durch dieses nicht erledigt wird, sondern einer künftigen Strafverfolgung zugänglich bleibt, so müssen Einzelhandlungen, die der Täter nach der Urteilsfällung begeht, auch dann im Verhältnis zum Vorangegangenen als selbständige Taten gelten, wenn sie, vom Rechtsbegriff der fortgesetzten Handlung aus betrachtet, als unselbständige Glieder der vom Urteil ergriffenen Tat anzusehen wären (RGSt. 66 47). In Fällen dieser Art begrenzt, wenn das Urteil des ersten Rechtszuges mit der Berufung angefochten worden ist, das Urteil des Berufungsgerichts den Fortsetzungszusammenhang, weil dieses Gericht berechtigt und verpflichtet ist, seine Entscheidung nicht nur auf alles das zu erstrecken, was vom angefochtenen Urteil im Rahmen des § 264 bei erschöpfender tatsächlicher und rechtlicher Würdigung als die unter Anklage gestellte Tat zu erfassen gewesen wäre, sondern darüber hinaus auch noch auf die begrifflich zu dieser Tat gehörigen, erst nach Verkündung des angefochtenen Urteil begangenen Einzelakte (RGSt. 66 48). In diesem Fall wie auch bei Zurückverweisung durch die Revisionsinstanz erfordert es, wenn der Angeklagte das Rechtsmittel eingelegt hat, die Gerechtigkeit, daß das Verbot der reformatio in peius in dem Umfange entfallt, als es zur Abgeltung der nach dem ersten Urteil begangenen Einzelhandlungen erforderlich ist (BGHSt. 9 3 2 4 = JZ 1957 479 mit abl. Anm. von P e t e r s ; BGHSt. 17 5, 9). Nach den zuvor dargelegten Grundsätzen muß das Gericht im neuen Verfahren selbständig prüfen, ob die Strafklage durch ein früheres Urteil verbraucht ist, das wegen einer fortgesetzten Tat verurteilt, aber die jetzt abzuurteilende Handlung nicht gekannt und deshalb nicht erwogen hat, ob auch sie in den Fortsetzungszusammenhang falle (BGH JZ 1961 426). Verzehrwirkung für die nicht gewürdigten Einzelhandlungen hat aber nur die verurteilende Entscheidung; der Freispruch von der Anklage der fortgesetzten Handlung beschränkt aus Gründen der Gerechtigkeit seine Wirkung auf die gewürdigten, nicht auf die unbekannt gebliebenen Einzelhandlungen (RGSt. 66 26; M ü l l e r - S a x [6] Einl. 14 B If.) Darin liegt — gegen B e l i n g 267, E b S c h m i d t LehrK I [1] Rz. 262 — auch keine Inkonsequenz. Denn zum Freispruch genügt, wenn ein Merkmal des inneren oder äußeren Tatbestandes zu verneinen ist, und das kann bei den untersuchten Einzelfallen zutreffen, ohne daß es auch für die unbekannt gebliebenen gelten müßte. Der Begriff der fortgesetzten Handlung aber ist kein apriorisch gegebener, sondern seine materiellrechtliche Begrenzung und verfahrensrechtliche Behandlung ist nach den Grundsätzen der Gerechtigkeit und Prozeßökonomie gestaltbar. Für den Verbrauch der Strafklage in Bankrottsachen kam das R G zu Ergebnissen, die mit den beim Fortsetzungszusammenhang maßgeblichen Grundsätzen in weitem Umfang übereinstimmten, indem es annahm, daß dieselbe Zahlungseinstellung oder Konkurseröffnung äußerlich und innerlich getrennte Handlungen, auch sofern sie gegen verschiedene Strafgesetze verstoßen, zu einer Einheit vereinige (RGSt. 66 91, 269; 67 63). BGHSt. 1 190; 3 26 hat sich aber mit Recht von dieser Auffassung abgewandt, da der Umstand, daß die Zahlungseinstellung oder Konkurseröffnung als objektive Bedingung der Strafbarkeit gleichmäßig zur Verwirklichung des Tatbestandes der mehreren Delikte erforderlich ist, nicht ausreicht, zeitlich getrennte selbständige Handlungen zu einer rechtlichen Einheit zu verbinden. Im übrigen war auch hier schon vorher anerkannt, daß die Strafklage nicht ver-

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braucht ist, wenn der Gemeinschuldner nach der Aburteilung mit Bezug auf denselben Konkurs eine neue Bankrotthandlung begeht (RGSt. 71 375). ß) Das R G hatte früher angenommen, daß in den Fällen, in denen die gewerbs-, gewohnheits-, berufs- oder geschäftsmäßige Begehung ein strafbegründendes oder strafschärfendes Tatbestandsmerkmal bildet, die mehreren dieses Merkmal erfüllenden Einzelhandlungen materiell- und verfahrensrechtlich eine Einheit (ein Sammel- oder Kollektivverbrechen) bildeten mit der Folge, daß die Strafe des Gesamtverbrechens nur einmal verwirkt sei und daß die Aburteilung alle bis zum Tage des tatrichterlichen Urteils geschehenen Einzelfalle decke, daß also die abermalige Strafverfolgung wegen später ermittelter Verfehlungen unzulässig sei (RGSt. 68 298). Diese Rechtsprechung, die zu einer kriminalpolitisch nicht vertretbaren Schwächung der Verbrechensbekämpfung führte, hat das R G vom Jahre 1938 ab allgemein aufgegeben und ausgesprochen, daß die einzelnen Tatbestandsverwirklichungen die Eigenschaft selbständiger Handlungen dadurch nicht verlieren, daß sie gewerbs-, gewohnheits-oder geschäftsmäßig begangen werden (RGSt. 72 164,257,285,401,313;77 16, 98, 329). Die spätere Rechtsprechung hat daran festgehalten (BGHSt. 1 42; Bay ObLG MDR 1956 119). Demnach hindert die Rechtskraft eines Strafurteils, das den Angeklagten einer solchen Straftat für schuldig erkannt hat, nicht, daß er wegen eines weiteren Falls derselben Straftat verfolgt wird, die er vor dem früheren Urteil in derselben inneren Verfassung wie die abgeurteilte Tat begangen hat. Die Änderung der Rechtsprechung ist im Schrifttum überwiegend gebilligt worden, hat aber auch Widerspruch hervorgerufen. Man hat auf die Nachteile hingewiesen, die aus ihr insofern erwachsen können, als bei Verbrechen (vgl. § 260 StGB, gewerbsmäßige Hehlerei) die Staatsanwaltschaft den Gesamtkomplex bis in die letzten Einzelheiten ermitteln müsse und keine irgendwie in Betracht kommende Einzelhandlung unerörtert lassen dürfe (so E b S c h m i d t Lehrkom. I [2] Rz. 311), als es ferner nicht mehr möglich sei, Einzelfalle einer gewerbs-, gewohnheits- oder geschäftsmäßig begangenen Straftat, die erst im Laufe des Hauptverfahrens bekannt werden, ohne weiteres als unselbständige Teile der in der Anklage bezeichneten Tat zum Gegenstand der Verhandlung und Entscheidung zu machen, und als die Gefahr bestehe, daß zeitlich weit zurückliegende Einzelhandlungen in Rücksicht auf ihre Selbständigkeit wegen Verjährung nicht mehr verfolgt werden können, während sie der Verfolgung zugänglich geblieben wären, wenn die Verjährung ihnen gegenüber erst mit dem Abschluß der letzten im Sammelverbrechen vereinigten verbrecherischen Tätigkeit des Schuldigen begonnen hätte. Man hat ferner eingewandt (so P e t e r s [2] 443), es wäre richtiger, statt die Sammelstraftat in selbständige Einzeltaten aufzulösen, die Rechtskraft zu lockern und eine Nachtrags- oder Ergänzungsklage wegen der im früheren rechtskräftigen Urteil nicht berücksichtigten Einzelfalle zuzulassen. Dem gegenüber ist folgendes zu bemerken: Auch bei Verbrechen ermöglicht § 154 StPO eine Beschränkung des Prozeßstoffs durch Einstellung bzgl. solcher Einzelfalle, die für die Strafzumessung nicht ins Gewicht fallen (s. auch § 154 a). Im übrigen mag das auf der rechtlichen Selbständigkeit der Einzelhandlungen beruhende Erfordernis einer besonderen Anklage und eines besonderen Eröffnungsbeschlusses allerdings, wenn eine Tat ermittelt wird, während das Hauptverfahren wegen einer anderen Tat schon im Lauf ist, hin und wieder dazu führen, daß eine Hauptverhandlung auf kurze Zeit ausgesetzt werden muß. Doch betrifft dieser Nachteil nur den Gang des Verfahrens, dagegen nicht die Erledigung der Sache und hat angesichts des schweren Nachteils, dem abzuhelfen war, nichts zu bedeuten. Die Fälle, in denen Einzelhandlungen einer früheren Verjährung dadurch unterliegen, daß sie nicht mehr mit anderen zu einer Tat zusammengefaßt werden können, sind bei der langen Dauer der hier in Betracht kommenden Verjährungsfristen selten. Jedenfalls wiegt der Nachteil, der insoweit hingenommen worden ist, weit weniger schwer als der behobene Nachteil. Eine die Grenzen des § 266 StPO überschreitende Nachtrags- oder Ergänzungsanklage aber wäre ihrem Wesen nach als ein mit neuen Tatsachen und Beweismitteln begründeter Antrag des Staatsanwalts auf Wiederaufnahme des durch rechtskräftiges Urteil geschlossenen Verfahrens zum Zweck einer wesentlich strengeren Ahndung gekennzeichnet. Der Gesetzgeber hat ein solches Verfahren bewußt ausgeschlossen. y) Eine Dauerstraftat liegt vor, wenn der gesetzliche Tatbestand durch eine schuldhafte Willensbetätigung — Handlung oder Unterlassung — erfüllt wird, die ununterbrochen während eines gewissen Zeitraums fortdauert. Hier gilt, wie bei der Fortsetzungstat, der Grund114

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satz, daß das Urteil nur das vor der Aburteilung liegende Verhalten erfaßt und bei Aufrechterhaltung der Dauerstraftat über den Zeitpunkt der letzten Tatsacheninstanz hinaus eine neue Straftat vorliegt, deren Verfolgung die Rechtskraft des vorangegangenen Urteils nicht entgegensteht (vgl. dazu BayObLG NJW 1958 110); das gilt auch, wenn das vorangegangene Urteil auf Freispruch lautet (BayObLG DRZ 1932 Nr. 763). b) Die Verbrauchswirkung der Rechtskraft des im Strafverfahren ergangenen Urteils hinsichtlich der Durchführung eines selbständigen Sicherungsverfahrens (§§ 429äff. StPO) und der Rechtskraft des im selbständigen Sicherungsverfahren ergangenen Urteils für den Straf- wie für den Sicherungsanspruch ist in Anm. 6 zu § 429 b eingehend erörtert; darauf kann hier verwiesen werden. c) Verbrauch der Strafklage im Rechtsmittelzug Für die Rechtsmittelgerichte ergibt sich die Unzulässigkeit des weiteren Verfahrens auch dann, wenn das andere von ihnen zu berücksichtigende Urteil erst nach der Verkündung des ihrer Prüfung unterworfenen Urteils in Rechtskraft erwachsen ist (RGSt. 30 341; 49 170). Im übrigen legt die Pflicht, von Amts wegen zu prüfen, ob das Vorhandensein einer dieselbe Sache betreffenden rechtskräftigen Entscheidung dem Fortgang des Verfahrens entgegensteht, den Rechtsmittelgerichten vornehmlich auch die Erörterung der Frage nach der Wirksamkeit des Rechtsmittels auf (vgl. oben S. 82). Die Rechtsmittelbeschränkung hat, wenn sie wirksam ist, zur Folge, daß das Urteil insoweit rechtskräftig wird, als der Beschwerdeführer von der Anfechtung rechtlich abgetrennter Teile Abstand genommen hat. Es liegt Teilrechtskraft vor. Daher müssen die Rechtsmittelgerichte auch von Amts wegen prüfen, ob und inwieweit Teilrechtskraft die weitere Untersuchung und Entscheidung verwehre (RGSt. 62 13; 63 344; 64 20, 152; ferner Fußnote 56 auf Seite 100). Teilrechtskraft kann auch dadurch eintreten, daß das Revisionsgericht der uneingeschränkt eingelegten Revision nur zum Teil stattgibt, im übrigen aber das Urteil bestätigt. Übrigens kann ein Rechtsmittel auch in der Art beschränkt werden, daß der Beschwerdeführer nur den Einwand der rechtskräftig entschiedenen Sache erhebt (RGSt. 33 22; 40 274). 4. Niederschlagung Wie in den Vorbem. Vf. vor § 12 GVG eingehend dargestellt ist, kann durch Bundesgesetz (Straffreiheitsgesetz) mit Wirkung für alle Strafjustizorgane der Bundesrepublik die Niederschlagung anhängiger (= noch nicht rechtskräftig abgeschlossener) Strafverfahren unter generell bestimmten Voraussetzungen angeordnet werden. In gleicher Weise kann der Landesgesetzgeber im Rahmen seiner Gnadenzuständigkeit und soweit das Landesverfassungsrecht es zuläßt, durch Landesgesetz unter generell bestimmten Voraussetzungen Strafverfahren niederschlagen. Sind nach den §§ 7 ff. StPO die Gerichte mehrerer Länder zur Verfolgung derselben Straftat zuständig, so wirkt eine solche Maßnahme, wenn ein Gericht des niederschlagenden Landes zuerst die Untersuchung eröffnet hat und dadurch gemäß § 12 StPO ausschließlich zuständig geworden ist, dahin, daß auch die Strafjustizorgane der anderen Länder die Sache nicht verfolgen dürfen; dagegen ist sie außerhalb des eigenen Landes ohne Bedeutung, wenn sie angeordnet wird, bevor ein einheimisches Gericht gemäß § 12 ausschließlich zuständig geworden ist oder nachdem die ausschließliche Zuständigkeit eines Gerichts eines anderen Landes begründet war (näheres Vorbem. VI 5 vor § 12 GVG). Schließlich kommt noch die Möglichkeit in Betracht, daß ein einzelnes bestimmtes Verfahren durch Einzelgnadenerweis des zuständigen Inhabers des Gnadenrechts niedergeschlagen wird (Abolition); diese Möglichkeit ist praktisch ohne Bedeutung, da Art. 60 G G kein Niederschlagungsrecht des Bundespräsidenten bei den in die Gnadenzuständigkeit des Bundes fallenden Strafsachen (§ 452 StPO) kennt und auch in den Ländern eine Niederschlagung durch Einzelgnadenerweis im allgemeinen ausgeschlossen ist (Vorbem. VI 3 vor § 12 GVG). In allen Fällen hat die Niederschlagung einen Doppelcharakter: materiellrechtlich bildet sie einen persönlichen Strafaufhebungsgrund, verfahrensrechtlich wirkt sie sich als Verfahrenshindernis aus, das in jeder Lage des Verfahrens von Amts wegen zu beachten ist (RGSt. 69 126; BGHSt. 3 136; 4 289). Nach früherer Auffassung beendete die Niederschlagung 115

Kap. 10

Einleitung (Schäfer)

B5 kraft Gesetzes die Rechtshängigkeit des Verfahrens und in der gerichtlichen Einstellungsentscheidung wurde lediglich der deklaratorische, das Verfahren aktenmäßig abschließende Ausspruch erblickt, daß das Verfahren kraft Gesetzes sein Ende gefunden habe. Daraus wurde gefolgert, daß das Gericht an diese Entscheidung nicht gebunden sei, sondern das Verfahren fortsetzen könne, wenn es später erkenne, daß es infolge eines tatsächlichen oder rechtlichen Irrtums zu Unrecht die Niederschlagung als eingetreten angesehen habe (so RGSt. 54 11; 67 236, 385; 69 126). Diese Auffassung ermöglichte zwar, die meist sehr zahlreichen Fälle, in denen die Anwendbarkeit des Straffreiheitsgesetzes in Frage stand, rasch auf Grund einer vielfach summarischen Aufklärung zu erledigen, ohne den Verlust des Strafanspruchs als Folge einer vorschnellen Beurteilung befürchten zu müssen, trug aber dem berechtigten Verlangen des Beschuldigten nach Rechtssicherheit nicht Rechnung. Sie ist durch die Entwicklung der neueren Amnestiegesetzgebung überholt. So sahen z. B. die Straffreiheitsgesetze v. 17. 7. 1954 (BGBl. 1403) - § 16 - , v. 9. 7. 1968 (I 773) § 7 — und v. 20. 5. 1970 (I 509) — § 7 — die Möglichkeit vor, schon im vorbereitenden Verfahren, aber auch im Stadium zwischen Anklageerhebung und Eröffnungsbeschluß durch gerichtliche, mit befristetem Rechtsmittel anfechtbaren Beschluß über das Vorliegen der Amnestievoraussetzungen zu entscheiden und legten einem unanfechtbaren Einstellungsbeschluß die Wirkung bei, daß wegen der Tat nur auf Grund neuer Tatsachen oder Beweismittel Anklage erhoben werden könne. Daraus folgt, daß ein EinstellungsurtoV, das die Anwendbarkeit einer Amnestie bejaht, in gleicher Weise den Strafanspruch verbraucht wie jedes andere Urteil, das das Verfahren wegen eines endgültigen, unbehebbaren Verfahrenshindernisses einstellt (BGHSt. 10 115; vgl. oben S. 79). Dagegen würde ein die Amnestievoraussetzungen verneinender formell unanfechtbarer Gerichtsbeschluß das erkennende Gericht nicht binden und nicht von der Pflicht befreien, von Amts wegen und unter Benutzung aller Erkenntnisquellen nach den Grundsätzen des Freibeweises selbständig zu prüfen, ob das Verfahrenshindernis der Niederschlagung vorliegt. Das Verfahren, auch eine Hauptverhandlung, ist nur solange fortzusetzen, bis beurteilt werden kann, ob die Voraussetzungen der Straffreiheit vorliegen; wird dies bejaht, so hat das Urteil weder im Spruch noch in den Gründen eine Schuldfeststellung zu treffen, sondern in den Gründen den Sachverhalt nur soweit darzulegen, als es zur Beurteilung der Straffreiheit erforderlich ist (BGHSt. 10 113). Die Einstellung durch Urteil entfallt, wenn nach durchgeführter Hauptverhandlung die Voraussetzungen eines Freispruchs gegeben sind (RGSt. 70 193; BGHSt. 13 272). Auch kann nach den neueren Amnestiegesetzen der Beschuldigte durch Antrag auf Fortsetzung des Verfahrens das Verfahrenshindernis der Niederschlagung zunächst beiseite schieben, während der durch Beleidigung, üble Nachrede oder Verleumdung Verletzte trotz Einstellung die Weiterführung des Verfahrens mit dem Ziele einer Feststellung der Unwahrheit oder Haltlosigkeit der von dem Beschuldigten aufgestellten oder verbreiteten Behauptung tatsächlicher Art verlangen kann (vgl. S. 92). Wegen der gerade bei der Niederschlagung besonders bedeutsamen Frage nach der Anwendbarkeit des Grundsatzes in dubio pro reo vgl. oben S. 87. 5. Verjährung Uber das Wesen der hier allein interessierenden Verfolgungsverjährung herrscht ein bis heute unausgetragener Streit 6 ', der darum geht, ob die Verjährung nur dem materiellen Strafrecht (Erlöschen des staatlichen Strafanspruchs) oder nur dem Verfahrens recht (Verfahrenshindernis) angehöre oder ob sie einen Doppelcharakter habe und sowohl materiellrechtliche wie verfahrensrechtliche Züge aufweise. Auf diese Streitfrage ist hier nur kurz einzugehen. Die Rechtsprechung empfand schon früh das Bedürfnis, die verfahrensrechtliche Seite zu betonen. Die rein materiellrechtliche Betrachtung würde dazu führen, daß bei Eintritt der Verjährung der Angeklagte freizusprechen wäre — so in der Tat früher das R G (RGSt. 12 436; 40 90; G A Bd. 47 159) obwohl der rehabilitierende Charakter des Freispruchs als Lossprechung von strafrechtlicher Schuld der Sachlage nicht gemäß wäre und den wirklichen Grund der Entlassung aus dem Verfahren verschleierte, der nur durch Ein68

Vgl. dazu etwa L o r e n z GA 1966 371; D r e h e r [31] 1 De zu § 2; 2 zu § 66 StGB; P a w l o w s k i NJW 1969 594; S c h r e i b e r ZStrW 80 [19681 349; A r z t GA 1969 14, jeweils m. w. Nachw.

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Die Verfahrensvoraussetzungen (Verfahrenshindernisse)

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Stellung des Verfahrens richtig zum Ausdruck kommt (RGSt. 32 251; 53 276; 63 321; 66 328; 76 160). Für die prozessuale Betrachtung spricht ferner das praktische Bedürfnis, die mangelnde Rechtzeitigkeit der Verfolgung in jeder Lage des Verfahrens von Amts wegen zu berücksichtigen und, sobald sie mit dem Mittel des Freibeweises festgestellt ist, das Verfahren alsbald durch Einstellungsbeschluß nach § 206 a StPO beenden zu können, ohne eine bei klarer Sachlage überflüssige Hauptverhandlung durchführen zu müssen. Diesem praktischen Anliegen konnte auch die Lehre von der Doppelnatur gerecht werden, die den Grund der Verjährung sowohl materiellrechtlich in dem durch den Zeitablauf eingetretenen Wegfall des Strafbedürfnisses wie verfahrensrechtlich in der Beweisschrumpfung sieht. Tatsächlich hat sich dann auch nach anfänglichem Schwanken das R G in ständiger Rechtsprechung (vgl. zuletzt RGSt. 59 199; 61 20; 66 328) und mit ihm die im Schrifttum überwiegende Meinung zu der Lehre von der Doppelnatur bekannt, ohne daß dabei berechtigte verfahrensrechtliche Anliegen zu kurz gekommen wären. Die Doppelnatur war bei dieser Handhabung, ähnlich wie etwa die Doppelnatur der materiellen Rechtskraft (oben S. 107) lediglich ein Gegenstand dogmatischer Bemühungen ohne praktische Bedeutung. Denn wo die Doppelnatur in der Rechtsprechung in Anspruch genommen wurde, um praktische Folgerungen daraus zu ziehen, geschah dies in einer Zeit, in der Wesen und Wirkungen der Prozeßvoraussetzungen als stets von Amts wegen zu berücksichtigender Verfahrenshindernisse noch nicht voll erkannt waren, so wenn RGSt. 12 434 aus der materiellrechtlichen Natur der Verjährung die Folgerung ableitete, daß eine nur auf Verletzung materiellen Rechts gestützte Revisionsrüge auch die Nachprüfung der Verjährung ermögliche oder wenn unter der Herrschaft des § 340 a. F. StPO, der bei der Sprungrevision grundsätzlich die Rüge der Verletzung von Verfahrensrecht ausschloß, die Rüge fehlerhafter Anwendung der Verjährungsvorschriften mit der Begründung für zulässig erklärt wurde, daß die Vorschriften über die Verjährung nicht ausschließlich dem Verfahrensrecht angehörten (so RGSt. 59 199; 66 328). In beiden Fällen hätte es bei der heutigen Auffassung vom Wesen des Verfahrenshindernisses eines Rückgriffs auf die Doppelnatur nicht bedurft. Die praktische Bedeutung der Lehre von der Doppelnatur zeigt sich aber, wenn die Frage auftaucht, ob eine durch Gesetz erfolgende Verlängerung von Verfolgungsverjährungsfristen bei bestimmten Delikten auch vor dem Inkrafttreten des Gesetzes begangene Taten erfaßt und ob die Verlängerung gar auch eine Verfolgung solcher Taten ermöglicht, bei denen die Verjährungsfrist des alten Rechts bei Inkrafttreten der neuen Vorschrift schon abgelaufen war, nicht aber die verlängerte Verjährungsfrist des neuen Rechts. a) Solange Art. 103 Abs. 2 G G nicht galt, hinderte das Rückwirkungsverbot des § 2 Abs. 2 StGB den Gesetzgeber jedenfalls nicht daran, noch nicht abgelaufene Verjährungsfristen zu verlängern. Bei rein prozessualer Auffassung der Verjährung setzte er sich mit diesem Verbot überhaupt nicht in Widerspruch, vom Standpunkt der rein materiellrechtlichen Würdigung oder der Lehre von der Doppelnatur aus gesehen bestanden keine rechtlichen Hindernisse, den § 2 Abs. 2 StGB einzuschränken, und es konnte nur die Frage sein, ob es bei einer VerjährungsVerlängerung im Willen des Gesetzgebers lag, daß bei bereits begangenen Taten § 2 Abs. 2 zurücktreten und einer Verfolgung der Tat innerhalb der neuen Verjährungsfrist nicht entgegenstehen solle. In dieser Weise hat i. J. 1942 RGSt. 7 6 , 6 4 das Problem angefaßt und hat, ohne zu Auseinandersetzungen über die rechtliche Natur der Verjährung genötigt zu sein, darauf abgestellt, daß nach dem Willen des Gesetzgebers die verlängerte Verjährungsfrist auch für die vor dem Inkrafttreten der Verlängerung begangenen Taten gelten solle. Die Frage nach der Rechtsnatur der Verjährung konnte aber nicht offen bleiben, wenn die Frage zu beantworten war, ob die Verlängerung einer Verjährungsfrist auch die Verfolgung solcher Taten ermögliche, bei denen die Verjährung nach dem früheren Recht bereits abgelaufen war, als die die Verjährung verlängernde Vorschrift in Kraft trat. Denn bei materiellrechtlicher Betrachtungsweise war dann der staatliche Strafanspruch bereits erloschen und konnte nach den Gesetzen der Rechtslogik nicht wieder aufleben. RGSt. 76, 159 vertrat, dieser Frage gegenübergestellt, die Auffassung, bei der Verjährung handele es sich um ein rein verfahrensrechtliches Institut. Es begründe nur ein Verfahrenshindernis; sachlichrechtlich ändere der Zeitablauf nichts an der Schuld des Täters und seiner Strafbarkeit; werde die Vorschrift, die das Verfahrenshindernis begründet, nach der Tatbegehung beseitigt, so sei die Verfolgung der Tat von da ab ebenso zulässig, wie wenn ihr von Anfang

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Kap. 10

Einleitung (Schäfer)

B5 an kein Hindernis entgegengestanden hätte. Damit war in der Rechtsprechung des RG der Übergang zur rein verfahrensrechtlichen Wertung der Verjährung vollzogen. Das Schrifttum folgte dem in weitem Umfang (vgl. z.B. E b S c h m i d t Lehrk. I [2] Rz 188; S c h ö n k e - S c h r ö d e r [15] Rz. 3 zu § 66; LK [8] 1 zu § 66), ohne daß man indessen bis heute von einer insoweit h. M. sprechen könnte. b) Unter der Herrschaft des Art. 103 Abs. 2 G G stand die Frage der Rechtsnatur der Verjährung unter dem Gesichtspunkt der Möglichkeit einer nachträglichen gesetzlichen Verjährungsfristverlängerung wiederholt im Brennpunkt der Erörterungen, und zwar mit unterschiedlichen Ergebnissen. Anlaß zu Erörterungen boten zunächst die nach Kriegsende von den Ländern erlassenen Vorschriften, wonach Taten, deren Verfolgung in den Jahren 1933 bis 1945 aus politischen Gründen unterblieben war, trotz inzwischen eingetretener Verjährung verfolgt werden konnten. Ihre Grundgesetzmäßigkeit wurde vom BVerfG (E 1 418) bejaht. Da diesen Gesetzen der Gedanke eines partiellen Stillstands der Rechtspflege während der NS-Zeit zugrunde liegt, ergeben sich gegen ihre Gültigkeit auch bei (zugleich) materiellrechtlicher Bewertung der Verjährung keine Bedenken. Unabhängig davon schlössen sich aber BGHSt. 2 300, 305; 4 382; NJW 1952 271 der Auffassung von RGSt. 76 159 an und verneinten auch mit dem Hinweis auf den rein verfahrensrechtlichen Charakter der Verjährung einen Widerspruch mit Art. 103 Abs. 2 GG, wenn durch Gesetz rückwirkend die Verjährungsfrist verlängert wird. Spätere Entscheidungen des BGH befassen sich dagegen nicht mehr mit dieser Frage. BGHSt. 11 393, 395 besagt lediglich, wenn auch unter Hinweis auf BGHSt. 2 300, die Verjährung sei ein Verfahrenshindernis, läßt also offen, ob sie nur ein Verfahrenshindernis sei; BGHSt. 18 274, 277 (bei Prüfung der Frage, ob der Grundsatz in dubio pro reo auch für die Verjährung gilt) und BGHSt. 21 232, 237 lassen die Rechtsnatur der Verjährung offen, und BGHSt. 21 367 betr. die Bedeutung einer nachträglichen Verkürzung der Verjährungsfrist, gegen deren Vereinbarkeit mit Art. 103 Abs. 2 G G auch vom Standpunkt der materiellrechtlichen Lehre und der Lehre von der Doppelfunktion keine Bedenken bestehen, legt sich nicht auf eine der Lehren von der Rechtsnatur der Verjährung fest, sondern prüft die Bedeutung der Verkürzung an Hand der drei Theorien. Dagegen setzte sich bei den Erörterungen in der großen Strafrechtskommission über die künftige Regelung der Verjährung (vgl. die Erörterungen in Bd. 2 S. 329 ff. der „Niederschriften" [1958]) der Gedanke durch, daß die von der Rechtsprechung gezogene Konsequenz einer rein verfahrensrechtlichen Ausgestaltung, abgelaufene Verjährungsfristen rückwirkend durch Gesetz verlängern zu können, zur Rechtsunsicherheit führe und mit rechtsstaatlichen Grundsätzen nicht zu vereinbaren sei, und daß es deshalb geboten sei, die Doppelnatur der Verjährung, die dem Prozeßrecht beläßt, was es billigerweise beanspruchen kann, durch Aufnahme der Verjährungsvorschriften in das StGB und eine verdeutlichende Umschreibung der Verjährungswirkung klarzustellen. Dem entsprach der StGB-Entw. 1962 (vgl. dazu die amtl. Begr. S. 257ff.). Durch die Fassung des § 127 Abs. 1: „Durch Verjährung werden die Ahndung der Tat und die Anordnung von M a ß n a h m e n . . . ausgeschlossen" sollte ermöglicht werden, „die Verjährung als Einrichtung sowohl des sachlichen als auch des Verfahrensrechts zu deuten" (Begr. zu § 127)69. Die Erwägung, daß gesetzgeberische Maßnahmen, die durch Rückwirkung eine sonst nicht bestehende Bestrafungsmöglichkeit eröffnen, mit rechtsstaatlichen Vorstellungen unverträglich sind, auch wenn sie im Gewand „lediglich" verfahrensändernder Vorschriften auftreten, bestimmte auch im Jahre 1960, als bei einer Berechnung der Verjährungsfrist ab Kriegsende (8. 5. 1945) die Verjährung der in der NS-Zeit begangenen Totschlagsdelikte bevorstand, den Bundestag, sich Wünschen auf Verlängerung noch laufender Verjährungsfristen für die in der Zeit vor dem 8. 5. 1945 begangenen Straftaten zu versagen (vgl. A r n d t NJW 1961 15). Der Streit entbrannte aber i. J. 1965 in voller Heftigkeit, als auch die Verjährung der in der NS-Zeit begangenen Mordtaten bevorstand. Jetzt wurde weithin in der öffentlichen Diskussion die Verlängerung der Verjährungsfrist gefordert, aber unter Ausschluß der Verlängerung („Wiedereröffnung") in den Fällen, in denen die Verjährung bereits eingetreten sei. 69

S. jetzt den künftigen § 78 StGB i. d. F. des 2. Strafrechtsreformges. v. 4. 7. 1969 (BGBl. I 717): „Die Verjährung schließt die Ahndung der Tat und die Anordnung von Maßnahmen . . . aus."

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Die Verfahrensvoraussetzungen (Verfahrenshindernisse)

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Art. 103 Abs. 2 GG, so wurde etwa geltend gemacht, stehe einer Verlängerung nicht entgegen, da die Verjährung rein verfahrensrechtlichen Charakter trage und Art. 103 Abs. 2 G G das Vertrauen des Rechtsunterworfenen auf eine bestehende Rechtslage nur insoweit schützen wolle, als es schutzwürdig sei; das aber sei nur der Fall, soweit es sich um den Straftatbestand und die Höhe der angedrohten Strafe handele. Das Verbot der Wiedereröffnung der Verfolgbarkeit nach bereits eingetretener Verjährung aber ergebe sich aus dem allgemeinen Rechtsstaatsprinzip — nicht aus Art. 103 Abs. 2, der diese Frage nicht betreffe. Der aus dem rechtsstaatlichen Prinzip der Rechtssicherheit abgeleitete Vertrauensgrundsatz verbiete, den, der bereits den Besitzstand der NichtVerfolgbarkeit erlangt habe, in seinem Vertrauen zu enttäuschen. Abweichende Auffassungen gingen von einem anderen Verständnis des Rückwirkungsverbots aus, nämlich dem der auch in zeitlicher Hinsicht objektiven Begrenzung der Strafgewalt des Staates, die nicht nachträglich erweitert werden könne. Das im Widerstreit der Meinungen zustande gekommene Gesetz über die Berechnung strafrechtlicher Verjährungsvorschriften v. 13. 4. 1965 (BGBl. 1315) sollte die Weiterverfolgung von NS-Mordtaten bis zum 31. 12. 1969 ermöglichen, soweit sie nicht bei Inkrafttreten des Gesetzes bereits verjährt waren. Um das Ziel zu erreichen, wurde indessen nicht der Weg einer formlichen Verlängerung der Verjährungsfrist gewählt, sondern im Gesetz ausgesprochen, es bleibe bei der Berechnung der Verjährungsfrist die Zeit vom 8.5. 1945 bis zum 31. 12. 1949 außer Betracht; in dieser Zeit habe die Verfolgungsverjährung geruht. Dem anschließenden Streit um die Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes bereitete BVerfG E 25 269 = NJW 1969 1059 ein Ende, das seine Grundgesetzmäßigkeit bejahte. Zwar habe, so wird in der (nicht einstimmig, sondern nur mit Stimmenmehrheit gefaßten) Entscheidung ausgeführt, die Verfolgung nicht i. S. des § 69 StGB „geruht", denn eine Verfolgung dieser Taten sei in der Zeit v. 8. 5. 1945 bis 31. 12. 1949 möglich gewesen. Im Ergebnis stelle sich daher die Feststellung des Ruhens als eine Verlängerung der Verjährungsfristen dar. Diese sei aber nicht grundgesetzwidrig, da Art. 103 Abs. 2 G G nur die rückwirkende Strafbegründung und rückwirkende Strafverschärfung verbiete; eine Verlängerung oder Aufhebung von Verjährungsfristen falle aus dem Geltungsbereich des Art. 103 Abs. 2 G G heraus, da solche Vorschriften nur die Verfolgbarkeit beträfen, die Strafbarkeit aber unberührt ließen. Die Verlängerung stehe auch nicht im Widerspruch mit dem Rechtsstaatsprinzip und dem ihm immanenten Postulat der Rechtssicherheit, die für den Bürger in erster Linie Vertrauensschutz bedeute. Denn zur Rechtsstaatlichkeit gehöre nicht nur die Rechtssicherheit, sondern auch die materielle Gerechtigkeit und bei einem Widerstreit dieser Prinzipien sei es Aufgabe des Gesetzgebers, sich für die eine oder andere Seite zu entscheiden; geschehe dies ohne Willkür, so könne die gesetzgeberische Entscheidung aus Verfassungsgründen nicht beanstandet werden. Insbesondere könne sich der Bürger nicht auf den Vertrauensschutz berufen, wenn sein Vertrauen auf den Fortbestand einer gesetzlichen Regelung eine Berücksichtigung durch den Gesetzgeber billigerweise nicht beanspruchen könne. Das aber sei hier der Fall, da die Verlängerung der (noch nicht abgelaufenen) Verjährungsfristen für die Verfolgung von Verbrechen, die mit lebenslanger Freiheitsstrafe bedroht sind, keinen verfassungsrechtlichrelevanten Vertrauensschaden zur Folge habe; die Hoffnung des Täters, bis zum Ablauf der regulären Verjährungsfrist unverfolgt zu bleiben, sei bei der Schwere der in Frage stehenden Taten so wenig schutzbedürftig wie etwa die bei Tatbegehung gehegte Erwartung eines Mörders, die Spuren seines Verbrechens zu verwischen und dadurch der angedrohten Strafe entgehen zu können. Ebenso werde der gleichfalls vom Rechtsstaatsgedanken umfaßte Grundsatz der Verhältnismäßigkeit durch die Verlängerung nicht verletzt; angesichts der gesetzgeberischen Bewertung des Mordes und der Höhe der angedrohten Strafe liege in der Verlängerung der Verjährungsfristen keine übermäßige Ausweitung der staatlichen Strafgewalt. Endlich sei auch der Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) nicht verletzt, denn die Verlängerung oder Aufhebung der Verjährungsfrist bei den mit lebenslanger Freiheitsstrafe bedrohten Verbrechen sei sachlich vertretbar und widerspreche nicht dem Sinn und Zweck der Verjährung. Mit dieser Entscheidung war der Boden bereitet für weitere gesetzgeberische Maßnahmen hinsichtlich der Verjährungsverlängerung, als sich i. J. 1969 herausstellte, daß die durch das Gesetz v. 13.4.1965 durchgeführte Verjährungsfristverlängerung bis zum 31.12.1969 nicht ausreichte. Die Verlängerung erfolgte nunmehr in allgemeiner Form durch das 9. Strafrechtsänderungsgesetz v. 4. 8. 1969 (BGBl. I 1065), das bei schweren Straftaten neue Ver119

Kap. 10

Einleitung (Schäfer)

B6 jährungsfristen einführte (§ 67 Abs. 1 Nr. 1,2) und Völkermord (§ 220 a) für unverjährbar erklärte (§ 66 Abs. 2 n. F.). Auch diese Verlängerung bewirkt nicht die Wiedereröffnung der Verfolgbarkeit, wenn bei Inkrafttreten des Gesetzes bereits Verjährung eingetreten war. Der Streit um die Rechtsnatur der Verjährung aber besteht auch jetzt noch weiter (vgl. D r e h e r [31] 2 zu § 66 StGB). Wie bereits ausgeführt, führt auch die Auffassung der Verjährung als eines gemischt materiell- und verfahrensrechtlichen Instituts dazu, daß im Verfahren die prozessuale Wirkung der nicht rechtzeitigen Verfolgung als Verfahrenshindernis voll zum Ausdruck kommt. Auf die Verjährung ist also in jeder Lage des Verfahrens von Amts wegen zu achten. Die Feststellung erfolgt, auch in der Revisionsinstanz, mit den Mitteln des Freibeweises. Zu der Frage, ob das Revisionsgericht an die tatsächlichen Feststellungen der Vorinstanz gebunden ist, die sich auf den Zeitpunkt der Tatbegehung beziehen, vgl. oben S. 85. Beschränkt sich eine Revision auf die Rüge unrichtiger Anwendung der Verjährungsvorschriften, so führt dies ohne weiteres auch zur Nachprüfung der sachlichrechtlichen Würdigung des Sachverhalts, da die Frage, ob die Tat verjährt ist, sich gemäß § 67 StGB danach richtet, mit welcher Strafe die Tat bedroht ist und diese Frage sich erst bei rechtlich zutreffender Einordnung der Tat beantworten läßt (BGHSt. 2 385). Kommen für eine Einstellung sowohl Verjährung wie Niederschlagung in Betracht, so hat die Verjährung den Vorrang (RGSt. 53 276; BGH NJW 1958 1451; vgl. S. 87). Bei Teilanfechtung, z.B. bei Beschränkung des Rechtsmittels auf den Strafausspruch oder auf eine Nebenstrafe oder Nebenfolge erfaßt auch hier (vgl. S. 82) das Verfahrenshindernis den gesamten Urteilsausspruch, wobei zu berücksichtigen ist, daß die Verjährung auch nach Verkündung des Urteils weiterläuft, solange nicht eine in vollem Umfang rechtskräftige und vollstreckbare Entscheidung vorliegt (RG DRZ 1931 Nr. 39; BGHSt. 11 3 9 3 = NJW 1958 1307; OLG Bremen NJW 1956 1248). Bei Beschränkung der Anfechtung auf eine von mehreren selbständigen Taten ist, wenn das angefochtene Urteil auf eine Gesamtstrafe lautet, das Verfahren auch wegen der nicht angefochtenen Einzeltaten einzustellen, wenn die unter Übersehung der Verjährung erkannten Einzelstrafen in die Gesamtstrafe einbezogen sind (BGHSt. 8 269). Das Rechtsmittelgericht hat auch eine Verjährung zu berücksichtigen, die erst nach der Verkündung des angefochtenen Urteils eingetreten ist. Voraussetzung für die Berücksichtigung ist aber eine fristgerechte Anfechtung (vgl. oben S. 82). Auch wenn es in der StPO nicht ausdrücklich als Grundsatz ausgesprochen ist, hat der Beschuldigte ein Recht darauf, daß das Verfahren in angemessener Frist durchgeführt und er ohne vermeidbare Verzögerung abgeurteilt oder aus dem Verfahren entlassen wird; das ergibt sich aus Art. 6 Abs. I MRK i. Verb, mit zahlreichen Einzelvorschriften der StPO, die, wie insbes. § 121 (Sechsmonatsgrenze der Untersuchungshaft) und Vorschriften über die Anfechtungsfristen, eine Beschleunigung des Verfahrens bezwecken (vgl. B a u m a n n in Festschrift f. E b S c h m i d t , 1961 S. 540; S c h w e n k , Das Recht des Beschuldigten auf alsbaldige Hauptverhandlung, ZStr W 79 [1967] 721). Indessen bildet die Verletzung des Beschleunigungsgrundsatzes in der Regel kein selbständig neben der Verjährung bestehendes Verfahrenshindernis (BGHSt. 21 81 = NJW 1966 2023; OLG Stuttgart NJW 1967 508; a. M. S c h e n k aaO. 736, wonach sich das Verfahrenshinderais aus dem Gesichtspunkt der Verwirkung des Strafanspruchs oder der sinngemäßen Anwendung der Vorschriften über die Verfolgungsverjährung ergibt). 6. Eigenschaften und Beziehungen der Beteiligten a) Lebensalter des Beschuldigten. Die Vorschriften in §§ 50 ff. ZPO über Parteifähigkeit und Prozeßfähigkeit finden im Strafverfahren auf den Beschuldigten keine Anwendung. Die strafrechtliche Verantwortlichkeit ist untrennbar vom Beschuldigten; eine Vertretung ist hierin ausgeschlossen; der Beschuldigte muß seine Rechte grundsätzlich selbst wahrnehmen (RG Rspr. 7 377; B e l i n g 180). § 1 Abs. 3 JGG schließt aber, indem er für das sachliche Recht die strafrechtliche Verantwortlichkeit des zur Zeit der Tat noch nicht vierzehn Jahre alten Täters verneint, zugleich das Verbot einer strafgerichtlichen Verfolgung in sich (RGSt. 57 207). Ergibt sich in der Verhandlung, daß der Angeklagte zur Zeit der Tat noch nicht vierzehn Jahre alt gewesen war, so ist das verbotswidrig betriebene Verfahren einzustellen, und zwar ohne Rücksicht darauf, ob er zur Zeit der Eröffnung der gerichtlichen Un120

Die Verfahrensvoraussetzungen (Verfahrenshindernisse)

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tersuchung oder der Aburteilung das vierzehnte Lebensjahr vollendet hatte (vgl. zu dieser sehr umstrittenen Frage D a l l i n g e r - L a c k n e r [2] 39fT. zu § 1 J G G mit reichen Schrifttumsangaben; P e t e r s ZStrW 68 (1956) 389; G r e t h l e i n - B r u n n e r [3] 3b zu § 1 JGG). Die materiellrechtliche Grundlage des Verfahrenshindernisses muß hier aber dazu führen, daß bei unaufklärbaren Zweifeln über das Alter zur Zeit der Tatbegehung nach dem Grundsatz in dubio pro reo zu verfahren ist (BGHSt. 5 366; D a l l i n g e r - L a c k n e r aaO. Anm. 9). Nach § 80 J G G kann gegen einen Jugendlichen (d. h. eine Person, die zur Tatzeit jugendlich war, mag sie auch zu der Zeit, zu der der Verletzte gegen sie vorgehen will, das 18. Lebensjahr vollendet haben; vgl. D a l l i n g e r - L a c k n e r 4 zu § 80), Privatklage nicht erhoben werden; das fehlende Alter ist hier Verfahrenshindernis. Dagegen ist gegen einen jugendlichen Privatkläger (bei der Klageerhebung vertreten durch seinen gesetzlichen Vertreter) Widerklage zulässig (§ 80 Abs. 3 JGG). b) Verhandlungsfähigkeit, Anwesenheit. Das ordentliche Verfahren findet ferner grundsätzlich nur statt, wenn der Beschuldigte nach seiner körperlichen und geistigen Beschaffenheit seine Rechte wahrzunehmen vermag, und wenn er sich im tatsächlichen Machtbereich der deutschen Gerichte befindet, so daß das erkennende Gericht den Beschuldigten vor sich bringen und das Urteil über ihn gestalten kann, indem es ihn sieht und hört (RGSt. 52 37; 70 176). Verhandlungsunfähigkeit und Abwesenheit bilden also Verfahrenshindernisse, die der Durchführung des Verfahrens entgegenstehen. aa) Zeitweilige Verhandlungsunfähigkeit ist ein vorübergehendes (§ 205 StPO), nicht behebbare Verhandlungsunfähigkeit ein dauerndes Verfahrenshindernis (§ 206 a)70. Verhandlungsunfähigkeit, die nicht gleichbedeutend ist mit Zurechnungsunfähigkeit ( E b S c h m i d t Lehrk. I [2] Rz 145 Fußn. 260) liegt vor, wenn der Beschuldigte auf Grund seiner physichen und psychischen Verfassung nicht in der Lage ist, der Verhandlung zu folgen, die Bedeutung des Verfahrens sowie der einzelnen Verfahrensakte zu erkennen und sich sachgemäß zu verteidigen (BGH bei D a l l i n g e r MDR 1958 141; K G NJW 1961 2167; OLG Frankfurt NJW 1969 570; s. Anm. 3 zu § 205). Ob die Verhandlungsunfähigkeit vom Angeklagten selbst herbeigeführt worden ist (z. B. durch einen mißglückten Selbstmordversuch), ist ohne Bedeutung (BGHSt. 19 144). Das Revisionsgericht muß von Amts wegen sowohl prüfen, ob der Angeklagte zur Zeit der Hauptverhandlung vor dem Tatrichter verhandlungsfahig war, als auch, ob er gegenwärtig verhandlungsfähig ist, also, wenn ihn ein Leiden am Erscheinen vor dem Revisionsgericht hindert, ob er genug Kraft und Klarheit hat, um mit seinem Verteidiger zu verhandeln und ihm alles mitzuteilen, was zu seiner Verteidigung vorgebracht werden kann (RG HRR 1936 Nr. 1477). Der Verzicht des Gesetzes auf die Anwesenheit in der Revisionshauptverhandlung (§ 350 Abs. 2) umfaßt naturgemäß nicht auch den Verzicht auf die Verhandlungsfähigkeit, wenn deren Fehlen dem Angeklagten die Wahrnehmung seiner Verteidigung unmöglich macht. Zur Frage, ob in der Revisionsinstanz die im angefochtenen Urteil getroffene Feststellung der Verhandlungsfähigkeit einer Nachprüfung des Revisionsgerichts in tatsächlicher Beziehung entzogen ist, vgl. oben S. 85. Verhandlungsunfähigkeit des zur Tatzeit Zurechnungsunfähigen steht der Durchführung des Sicherungsverfahrens nicht entgegen (§429c). Der Tod des Beschuldigten hat mit Verhandlungsunfähigkeit nichts zu tun; er setzt dem subj. Verfahren ohne weiteres und ohne daß eine einstellende Entscheidung in Betracht käme, ein Ende (OLG Hamm NJW 1961 522). Der Tod ist kein Verfahrenshindernis, vielmehr ist begrifflich ein subjektives Verfahren mit dem Ziel der Feststellung, ob Unrechtsfolgen aus Anlaß einer rechtswidrigen Tatbestandsverwirklichung auszusprechen sind, ausgeschlossen, da solche Folgen gegen den Toten nicht angeordnet werden können ( E b S c h m i d t Lehrkomm. I [2] Rz. 149). 70

Bei beschränkter Verhandlungsunfähigkeit — der Angeklagte ist infolge seines Zustandes an jedem Tag nur auf Stunden beschränkt verhandlungsfahig — wirkt sich das Verfahrenshindernis dahin aus, daß ohne ihn jeweils nach Eintritt der Verhandlungsunfähigkeit nicht weiter verhandelt werden darf (BGHSt. 19 144).

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Kap. 10

Einleitung (Schäfer)

B6 bb) Abwesenheit des Angeklagten 7 1 in der Hauptverhandlung des 1. Rechtszugs bildet nach § 230 Abs. 1 StPO ein Verfahrenshindernis (ein Hindernis für die Durchführung der Hauptverhandlung), sofern keiner der Gründe (vgl. §§ 231 Abs. 2 , 2 3 2 , 2 3 3 , 2 4 7 , 2 7 7 StPO) vorliegt, die eine Durchführung der Hauptverhandlung auch gegen den nicht anwesenden Angeklagten zulassen. Das Hindernis der Abwesenheit ist vom Revisionsgericht ohne besondere Rüge von Amts wegen zu berücksichtigen (OLG Hamburg JR 1969 310 m. zust. Anm. E b S c h m i d t ) . Streitig ist die Bedeutung des unentschuldigten Ausbleibens in den Fällen, in denen das Gesetz an das unentschuldigte Ausbleiben des Angeklagten, der ein Rechtsmittel eingelegt (§ 329) oder einen Rechtsbehelf ergriffen hat ( § § 4 1 2 , 4 1 3 ) , die Folge der Verwerfung ohne sachliche Prüfung knüpft. Für § 329 StPO wird jetzt allgemein angenommen, daß zwar das Berufungsgericht von Amts wegen zu prüfen habe, ob die Voraussetzung der Verwerfung vorliegt, daß aber das unentschuldigte Ausbleiben keine Verfahrensvoraussetzung darstellt, die in der Revisionsinstanz von Amts wegen zu prüfen wäre, vielmehr die Verkennung dieses Merkmals nur einen auf Verfahrensrüge nachprüfbaren Verfahrensverstoß darstellt (vgl. BGHSt. 15 287 = N J W 1961 567; BayObLG NJW 1969 807 = JR 1969 311). Dagegen wurde früher in den Fällen der §§ 412, 413 dem unentschuldigten Ausbleiben z . T . in der Rechtsprechung (vgl. O L G Karlsruhe M D R 1957 760; Düsseldorf M D R 1958 623; s. auch Anm. l e zu § 412 der Vorauflage) die Bedeutung einer Verfahrensvoraussetzung beigemessen; doch lassen sich für eine unterschiedliche Behandlung der Fälle der §§ 329, 412, 413 keine überzeugenden Gründe finden (so auch O L G Hamburg N J W 1965 315). Das Ungehorsamsverfahren des § 232 StPO findet nach dessen Abs. 2 keine Anwendung, wenn es der öffentlichen Ladung bedarf; es ist also nur statthaft, wenn der Angeklagte für die deutsche Gerichtsgewalt greifbar ist, aber ohne genügende Entschuldigung fernbleibt; die Greifbarkeit ist Verfahrensvoraussetzung. Dagegen ist das besonders gestaltete Verfahren gegen Abwesende, d. h. gegen Personen, die sich im Inlande verborgen halten oder für die deutsche Gerichtsgewalt unerreichbar im Ausland verharren, gerade gekennzeichnet durch die öffentliche Ladung (§ 279) — es sei denn, daß die Ladung zu Händen eines Zustellbevollmächtigten möglich ist (BGHSt. 10 62) — und die öffentliche Zustellung des etwa ergehenden Abwesenheiturteils (§ 282 a Abs. 2). c) Zugehörigkeit des Beschuldigten zu einem Gesetzgebungsorgan 72 . — Nach Art. 46 Abs. 2 G G darf ein Bundestagsabgeordneter wegen einer mit Strafe bedrohten Handlung nur mit Genehmigung des Bundestags zur Verantwortung gezogen oder verhaftet werden, es sei denn, daß er bei Begehung der Tat oder im Lauf des folgenden Tages festgenommen wird. Nach Art. 46 Abs. 3 G G bedarf es auch zu jeder anderen Beschränkung der persönlichen Freiheit des Abgeordneten der Genehmigung und nach Art. 46 Abs. 4 G G ist jedes Strafverfahren gegen einen Abgeordneten auf Verlangen des Bundestags auszusetzen. § 152 a StPO bestimmt, daß landesgesetzliche Vorschriften über die Voraussetzungen, unter denen gegen Mitglieder eines Landesgesetzgebungsorgans eine Strafverfolgung eingeleitet oder fortgesetzt werden darf, auch für die Strafverfolgungsorgane in den anderen Ländern und im Bund wirksam sind. Fehlt eine danach erforderliche Genehmigung zur Strafverfolgung usw. oder liegt ein Aussetzungsverlangen (Art. 46 Abs. 4 G G ) vor, so besteht ein Verfahrenshindernis, und zwar ein zeitlich begrenztes, das vorbehaltlich des Art. 49 G G spätestens mit dem Zeitpunkt endet, zu dem der Beschuldigte aufhört, Abgeordneter zu sein (vgl. § 205 StPO). Der Abgeordnete selbst kann auf die Immunität nicht verzichten. Die Nr. 199, 200 RiStBV enthalten — in Form von Weisungen an den Staatsanwalt — Erläuterungen über die Tragweite des Verfolgungshindemisses und über das einzuschlagende Verfahren, wenn die Aufhebung der Immunität durch Herbeiführung der Genehmigung des Parlaments erstrebt wird. Die fehlende Genehmigung ist ein persönliches Verfahrenshindernis (§ 205); sie hindert nicht, daß gegen Mittäter, Anstifter, Gehilfen oder andere 71

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Vgl. dazu K ü p e r , Kontumazialverfahren, Anordnung des persönlichen Erscheinens und Abwesenheitsverhandlung, NJW 1969 493. Vgl. dazu Rdschreiben des BM d. Inneren v. 28. 9. 1967 betr. Indemnität und Immunität der Abgeordneten, GMB1. 454.

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an der Tat des Abgeordneten beteiligte Personen ein Verfahren eingeleitet oder durchgeführt wird; auch besteht, wenn gegen andere Personen ein Strafverfahren durchgeführt wird, kein Hindernis, unter Beachtung der §§ 53 Abs. 1 Nr. 4, 53 a, 97 Abs. 3, 4 StPO, den Abgeordneten als Zeugen zu vernehmen, bei ihm Durchsuchungen vorzunehmen oder von ihm die Herausgabe von Gegenständen nach § 95 StPO zu verlangen. Kein „Zurverantwortungziehen" ist nach Sinn und Zweck des Art. 46 Abs. 2 G G die Einleitung eines Verfahrens gegen den Abgeordneten zwecks Einstellung des Verfahrens, wenn (gegebenenfalls nach einer Stellungnahme des Abgeordneten zu der ihm mitgeteilten Anschuldigung) der Sachverhalt die Einstellung ohne Beweiserhebung rechtfertigt (Nr. 199 Abs. 4 b RiStBV). Unzulässige Verfolgungsmaßnahmen sind dagegen auch Beweissicherungen — § 205 Satz 2 ist unanwendbar — und richterliche Handlungen zur Unterbrechung der Verjährung (die sich erübrigen, weil wegen der Zeit der Unverfolgbarkeit die Verjährung ruht; s. dazu BGHSt. 20 248). Streitig ist, ob es zur Fortsetzung eines Strafverfahrens, das vor dem Erwerb des Mandats eingeleitet worden ist, einer Genehmigung bedarf; verneinend die h. M. (OLG Celle Nds. Rpfl. 1953 72; Oldenburg Nds. Rpfl. 1954 53; B o c k e l m a n n , Unverfolgbarkeit der Abgeordneten nach deutschem Immunitätsrecht [1951] 44; E b S c h m i d t Lehrkomm. I [2] Rz 153: Müller-Sax [61 3c zu § 205; a. M. M e y e r , Bundestag und Immunität [1953] lOff.) sowie der Immunitätsausschuß des Bundestages. Nr. 199 Abs. 3 RiStBV weist die Staatsanwaltschaft an, in solchen Fällen (vorsorglich) die Genehmigung einzuholen. Einzelfragen (betr. Vollstreckung von Freiheitsstrafen und Verhängung von Ungebührstrafen) sind in Anm. 2 c zu § 449 StPO und Anm. 1 c zu § 178 GVG behandelt. Wird die Genehmigung zur Strafverfolgung erteilt, so bestimmt der Genehmigungsbeschluß des Parlaments den Umfang und die Grenzen der Verfolgungsbefugnis. Lautet der Genehmigungsbeschluß nur auf „Genehmigung zur Strafverfolgung", so ergeben sich Inhalt und Umfang der Genehmigung aus den vorangegangenen parlamentarischen Verhandlungen in Verbindung mit dem von der Staatsanwaltschaft gestellten Antrag auf Erteilung der Genehmigung. Die ohne erkennbare Einschränkungen erteilte Genehmigung bezieht sich auf den in dem Antrag bezeichneten bestimmten geschichtlichen Vorgang (i. S. des § 264 StPO), wie er sich nach dem Ergebnis der Hauptverhandlung darstellt und ohne Bindung an die rechtliche Beurteilung der Staatsanwaltschaft in ihrem Genehmigungsantrag (BGH NJW 1961 518). d) Klagerecht und Prozeßfähigkeit des Klägers sowie Vertretungsmacht seines gesetzlichen Vertreters. — In seltenen Fällen kann zu erörtern sein, ob derjenige, der die öffentliche Klage erhoben hat, befugt (vgl. dazu Anm. 5d zu § 142 GVG) und in Hinblick auf seine geistige Verfassung befähigt gewesen sei, im Namen der zuständigen Staatsanwaltschaft zu handeln. Tritt das Bedürfnis einer solchen Erörterung hervor, so muß die Prüfung von Amts wegen einsetzen. Sie richtet sich im Endergebnis auf die Feststellung des Vorhandenseins oder Nichtvorhandenseins der Verfahrensvoraussetzung der Klage, so daß auf die Ausführungen Seite 93 zu verweisen ist. Ebenso steht die zuvor bezeichnete Verfahrensvoraussetzung in Frage, wenn das Gericht, wozu häufig Anlaß geboten wird, von Amts wegen zu prüfen hat, ob dem Privatkläger das Recht zur Klage nach den Vorschriften des sachlichen Rechts als dem Verletzten oder sonstwie Antragsberechtigten zusteht (§ 374 Abs. 1 und 2 StPO in Verbindung mit § 65 StGB, § 22 UWG und anderen Vorschriften), ob er zur Klageerhebung befähigt ist oder ob derjenige Vertretungsmacht gehabt hat, der bei der Klageerhebung als sein gesetzlicher Vertreter aufgetreten ist (OLG Dresden JW 1931 1638 28 mit Anm. von H e g l e r ; B e l i n g 124, 176; S a u e r Grdl. S. 311, 663). Aus § 374 Abs. 3 StPO folgt, daß die „Prozeßfähigkeit" des Privatklägers und die Vertretungsmacht seines gesetzlichen Vertreters in Anlehnung an die entsprechenden Vorschriften der ZPO geregelt sind (vgl. die Anm. zu § 374). Auch der Nebenkläger muß in diesem Sinne prozeßfähig oder durch einen Prozeßfähigen gesetzlich vertreten sein (vgl. die Anm. zu § 395). Doch betrifft beim Nebenkläger, der ja erst nach Erhebung der öffentlichen Klage in das Verfahren eintritt, der Mangel der Prozeßvoraussetzung nicht die Zulässigkeit des Verfahrens im ganzen, sondern immer nur der einzelnen Verfahrenshandlung, vornehmlich des Rechtsmittels. Auch insoweit ist Prüfung von Amts wegen noch im Verfahren vor dem Revisionsgericht geboten (RGSt. 35 25; 38 405; 44 7; 53 215; 59 127; 62 209; BayObLG DRiZ 1931 Nr. 458). Im Jugendstrafver-

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B7 fahren ist Nebenklage unzulässig (§ 80 Abs. 3 JGG). Wie beim Nebenkläger ist auch im Hinblick auf § 395 Abs. 2 Nr. 2 StPO für die Wahrnehmung der Rechte als Verletzter im Klageerzwingungsverfahren nach § 172 StPO Prozeßfähigkeit oder Vertretung durch einen gesetzlichen Vertreter zu fordern (OLGe Nürnberg GA 1965 118; Hamburg NJW 1966 1934). e) Adhäsionsverfahren. — Auch im Verfahren nach §§ 403 ff. muß der Antragsteller prozeßfähig oder gesetzlich vertreten sein. Fehlt es daran, so ist von einer Entscheidung über den Antrag abzusehen (§ 405 und die dort. Anm.). Wegen der beim Beschuldigten nötigen Erfordernisse vgl. die Anm. zu § 403. f) Bei Zeugen und Untersuchungspersonen i. S. des § 81 c StPO kann es ebenfalls auf ihre geistige Beschaffenheit ankommen, zwar nicht im Sinne eines Hindernisses für das Verfahren im ganzen, aber für die Vornahme von Untersuchungshandlungen und die Verwertung des Ergebnisses, nämlich dann, wenn die Vernehmung des Zeugen den Verzicht auf ein Zeugnisverweigerungsrecht voraussetzt und wenn die Vornahme einer Untersuchung von der Einwilligung des zu Untersuchenden abhängt. In diesen Fällen ist es für die Wirksamkeit des Verzichtes oder der Einwilligung entscheidend, ob die Beweisperson geistig reif ist in dem Sinne, daß sie das erforderliche Verständnis für die ihr vom Gesetz eingeräumte Berechtigung hat; fehlt es an dieser Reife, so steht die Ausübung der Berechtigung ihrem gesetzlichen Vertreter zu (BGHSt. 12 235,240; 14 159). 7. Erklärungen Dritter. Vorentscheidungen einer anderen Stelle In dieser Gruppe sind ausschließlich besondere Verfahrensvoraussetzungen, das heißt solche vereinigt, die nur bei bestimmten strafbaren Handlungen oder bei bestimmten Verhältnissen des Beschuldigten Platz greifen. Sie beruhen auf Gründen mannigfacher Art: a) Antrag des Verletzten nach §§ 61 ff. S t G B " . - Der Strafantrag ist zwar im StGB geregelt, hat aber keinen materiellrechtlichen Charakter, sondern, wie heute allgemein anerkannt ist, lediglich verfahrensrechtliche Bedeutung; er bildet eine Verfahrensvoraussetzung (RGSt. 61 46; 67 55; 68 124; 73 114; 74 187; 75 257,306; 76 327; 77 160,183; BGHSt. 6 155; 18 123, 125). Daß er im StGB und nicht in der StPO geregelt ist (dabei bleibt es auch im künftigen Recht, vgl. §§ 77 ff. StGB i. d. F. des 2. Strafrechtsreformges. v. 4. 7. 1969), erklärt sich nur aus dem praktischen Bedürfnis, das Strafantragserfordernis jeweils bei den einschlägigen Vorschriften des Besonderen Teils hervorzuheben; das führt dazu, auch die allgemeinen für den Strafantrag geltenden Regeln im StGB aufzustellen. Als Verfahrensvoraussetzung, deren Fehlen sich als Verfahrenshindernis auswirkt (mit den aus §§127 Abs. 3, 130 StPO sich ergebenden Einschränkungen) unterliegt der Strafantrag in vollem Umfange den oben (Seite 83,88) dargestellten Grundsätzen: sein Fehlen führt also z. B. zur Verfahrenseinstellung, sein Vorhandensein ist in jeder Lage des Verfahrens mit den Mitteln des Freibeweises von Amts wegen zu prüfen (BGHSt. 6 155); sein Mangel ist in jeder Lage des Verfahrens, also auch noch in der Revisionsinstanz durch fristgemäße Nachholung zu beheben (RGSt. 68 124; BGHSt. 3 74; 6 157); bei Teilanfechtung führt die Feststellung des Mangels zur Einstellung des gesamten Verfahrens (RGSt. 62 262; 65 150) usw. Hervorgehoben werden mag, daß die Verfahrensvoraussetzung unter besonderen Umständen schon durch Stellung des Antrags vor Begehung der Tat geschaffen werden kann (BGH NJW 1960 443). Im übrigen wird, da der Antrag im StGB geregelt ist, auf die Erläuterungswerke zum StGB verwiesen. b) § 232 StGB enthält für leichte vorsätzliche und alle fahrlässigen Körperverletzungen eine sonst dem Strafrechtssystem unbekannte Regelung dahingehend, daß der grundsätzlich erforderliche Strafantrag entbehrlich wird, wenn die Strafverfolgungsbehörde ein Einschreiten von Amts wegen um des besonderen öffentlichen Interesses an der Strafverfolgung willen für geboten erachtet; die Erklärung der Staatsanwaltschaft verwandelt also das Antrags73

Schrifttum: S c h l i c h t e r , Strafantrag, Strafverfolgungsermächtigung und Anordnung der Strafverfolgung, GA 1966 353.

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delikt in ein antragsloses Offizialdelikt . Einer Ausdehnung auf andere Antragsdelikte im Wege entsprechender Anwendung ist diese Sonderregelung nicht fähig (BGHSt. 7 256). Die Staatsanwaltschaft kann diese Erklärung — die ihrerseits Prozeßvoraussetzung ist — auch noch abgeben, nachdem der Verletzte die Antragsfrist ungenutzt hat verstreichen lassen ( O L G H a m m M D R 1952 245) oder während laufender Antragsfrist auf sein Antragsrecht verzichtet (BGH M D R 1956 270) oder einen rechtzeitig gestellten Antrag zurückgenommen hat. Auch hindert die Einstellung des Privatklageverfahrens, selbst durch Urteil, wegen fehlenden Strafantrags die Staatsanwaltschaft nicht, von neuem Anklage wegen eines besonderen öffentlichen Interesses zu erheben. Die Erklärung der Staatsanwaltschaft kann in jeder Lage des Verfahrens, auch noch in der Revisionsinstanz nachgeholt werden (BGHSt. 6 285); diese Möglichkeit entfallt, wenn die Staatsanwaltschaft ein öffentliches Interesse verneint und das Verfahren vor dem Tatrichter daraufhin mit Einstellung oder Freispruch geendet hat (BGHSt. 19 377). Eine solche Verneinung liegt auch vor, wenn die Staatsanwaltschaft aus einem schwereren Strafgesetz Anklage erhoben hat und sie sich auf den Hinweis des Gerichts, daß abweichend von der im Eröffnungsbeschluß zugelassenen Anklage möglicherweise nur eine Verurteilung wegen eines in § 232 StGB bezeichneten Delikts in Betracht komme, weigert, eine Erklärung hierzu abzugeben (BGH aaO.). Streitig ist, ob die Staatsanwaltschaft, wenn sie bei der Anklageerhebung das öffentliche Interesse bejahte, diese Erklärung nach Eröffnung des Hauptverfahrens zurücknehmen kann. Z. T. wird unter Berufung auf § 156 StPO die Auffassung vertreten, daß die Staatsanwaltschaft durch eine abweichende Erklärung, ein besonderes öffentliches Interesse liege nicht oder nicht mehr vor, dem Verfahren seine prozessuale Grundlage nicht mehr entziehen könne und nur ggbf. eine Einstellung des Verfahrens wegen Geringfügigkeit nach § 153 Abs. 3 StPO in Betracht komme (RGSt. 77 72; O L G Bremen J Z 1956 663; Oehler J Z 1956 632). Den Vorzug verdient aber die Gegenmeinung, daß aus praktischen Gründen der Staatsanwalt entsprechend einer wechselnden Verfahrenslage den bei der Anklageerhebung eingenommenen bejahenden Standpunkt ändern könne mit der Folge, daß nunmehr eine Prozeßvoraussetzung entfällt (vgl. K G N J W 1961 59, dem sich BGHSt. 19 377, 380 und - vgl. BGHSt. 14 319 - O L G Bremen unter Aufgabe seines in JZ 1956 663 vertretenen Standpunktes, sowie O L G Düsseldorf N J W 1970 1054 angeschlossen haben). Die Streitfrage ist ohne Bedeutung, wenn die Staatsanwaltschaft ihre Erklärung, daß ein besonderes öffentliches Interesse die Verfolgung gebiete, nach Eröffnung des Hauptverfahrens in Fällen zurücknimmt, in denen der Fortgang des Verfahrens durch einen wirksamen Strafantrag gesichert ist; dann hat die Erklärung, daß ein besonderes öffentliches Interesse nicht oder nicht mehr vorliege, keinesfalls die Wirkung, daß dem Verfahren die prozessuale Grundlage entzogen wird, sondern sie stellt sich lediglich als eine materielle Bewertung der Tat dar. Zweifelhaft und streitig ist, wie zu verfahren ist, wenn das Gericht bei Beurteilung der Tat von der Bewertung der Staatsanwaltschaft abweicht, nämlich wenn die Staatsanwaltschaft Anklage aus einem schwereren Gesetz erhoben hat, während das Gericht ein geringeres Körperverletzungsdelikt annimmt. Hat z. B. die Staatsanwaltschaft Anklage aus § 223 a StGB (gefährliche Körperverletzung; kein Antragsdelikt) erhoben, während das Gericht nur einfache Körperverletzung (§ 223 StGB; Antragsdelikt) annimmt, so fragt sich, ob es, wenn ein wirksamer Strafantrag fehlt, zu deren Aburteilung einer ausdrücklichen Erklärung der Staatsanwaltschaft bedarf, daß sie ein besonderes öffentliches Interesse an der Verfolgung annehme, oder ob das Gericht davon auszugehen hat, daß bereits in der Anklageerhebung eine entsprechende Bewertung der Tat nach allen Richtungen liegt, solange nicht die Staatsanwaltschaft das Gegenteil erklärt. Die gleiche Frage stellt sich, wenn die Staatsanwaltschaft unter ausdrücklicher Bejahung des besonderen öffentlichen Interesses (vgl. Nr. 259 Abs. 2 RiStBV) Anklage wegen vorsätzlicher Körperverletzung erhoben hat, das Gericht aber nur fahrlässige Körperverletzung annimmt und ein wirksamer Strafantrag des Verletzten nicht vorliegt. N a c h RGSt. 75 341; 76 8; 77 357 und Nr. 259 Abs. 3 RiStBV ist 74

Grundsätzlich anders V o g e l NJW 1961 761, wonach nicht die Erklärung der Staatsanwaltschaft, sondern das (vom Gericht nachprüfbare) Bestehen eines besonderen öffentlichen Interesses an der Strafverfolgung den Wegfall des Antragserfordernisses bewirkt (vgl. dazu oben S. 66). Mit dem Gesetzeswortlaut ist diese Auffassung nicht in Einklang zu bringen (so auch BGH NJW 1961 2120).

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B7 davon auszugehen, daß die Staatsanwaltschaft, nachdem sie mit der Anklageerhebung die Verfolgung von Amts wegen für geboten hielt, unter diesen Umständen auch für das verbleibende Delikt die Verfolgung von Amts wegen wegen eines besonderen öffentlichen Interesses noch für geboten hält, solange sie nicht selbst eine gegenteilige Erklärung abgibt. Die Rechtsprechung des BGH in dieser Frage ist uneinheitlich; BGHSt. 19 377 = NJW 1964 1969 neigt, ohne die Frage zu entscheiden, zu der Auffassung, daß in einer kraft des Legalitätsprinzips erhobenen Anklage, weil es dabei für eine Ermessensentscheidung an jeder Grundlage fehle, eine positive Erklärung nach § 232 StGB nicht zu finden sei. Wegen weiterer Einzelheiten muß auf die Erläuterungswerke zum StGB verwiesen werden. Über die Frage, inwieweit die Erklärung der Staatsanwaltschaft nach der Richtung, ob ein besonderes öffentliches Interesse an der Strafverfolgung vorliegt, der gerichtlichen Nachprüfung unterliegt, vgl. oben S. 66 und Anm. 9 e zu § 23 EGGVG. c) In einer Reihe von Vorschriften wird die Durchführung eines Strafverfahrens davon abhängig gemacht, daß eine Behörde oder Stelle einen Antrag (z. B. § 122 b Abs. 3 StGB) oder ein Strafverlangen (§ 104a StGB) stellt oder die Ermächtigung (§§ 90 Abs. 4, 90b Abs. 2, 97 Abs. 3, 104a, 106b, 353a Abs. 2, 353b Abs. 4, 353c Abs. 4 StGB, § 2 a Abs. 2 Wirtschaftsstrafges. 1954) zur Verfolgung erteilt. Diese Akte sind in gleicher Weise wie der Strafantrag nach § § 6 1 ff. StGB Prozeß Voraussetzungen, doch unterliegen sie nicht der Regelung der § § 61 ff. StGB insbesondere sind sie nicht an die Frist des § 61 gebunden (RGSt. 75 365; 76 55; BGHSt. 11 188; GA 1953 73) und nicht zurücknehmbar, soweit die Zurücknehmbarkeit nicht — wie bei der Ermächtigung nach § 104a StGB und nach § 2a Abs. 2 Wirtschaftsstrafges. 1954 — ausdrücklich zugelassen ist; dagegen sind sie, wie der Strafantrag, sachlich und persönlich teilbar. Der Strafantrag des Vorgesetzten nach § 196 StGB ist ein Strafantrag i. S. des § 61 StGB. d) In den Fällen der §§ 170, 238 StGB ist die Auflösung und Nichtigkeitserklärung der Ehe nach h. M. nicht Tatbestandsmerkmal oder objektive Bedingung der Strafbarkeit, sondern Verfahrensvoraussetzung; ihr Mangel führt also zur Einstellung des Verfahrens (RGSt. 2 62; 6 334; 7 298; 15 122, 262; 22 137; 41 155; 74 382). e) Vorabentscheidung. — Bei bestimmten Straftaten macht das Gesetz — hauptsächlich zur Vermeidung widersprechender Entscheidungen in rechtlicher oder tatsächlicher Hinsicht — die Verfolgung von der Vorabentscheidung einer anderen Behörde oder eines anderen Gerichts abhängig. Diejenige Behörde soll nach dem Willen des Gesetzes mit der Entscheidung vorangehen, die über die besseren Mittel zur tatsächlichen Feststellung und zur rechtlichen Würdigung verfügt. Das Gericht darf eine Sachentscheidung in dem bei ihm eingeleiteten Verfahren nicht erlassen, bevor die andere Behörde, die gleichfalls ein Gericht sein mag, abschließend entschieden hat. Z. T. ist dabei auch vorgeschrieben, daß der Strafrichter an die in dem vorausgehenden Verfahren (vor einer Verwaltungsbehörde oder vor einem anderen Gericht) getroffene Entscheidung gebunden ist. Soweit es sich dabei um die Bindung an die im vorgehenden Verfahren getroffene Entscheidung eines anderen Gerichts handelt, unterliegen solche Vorschriften keinem rechtlichen Bedenken im Hinblick auf Art. 97 Abs. 1 GG. Denn diese Vorschrift garantiert die richterliche Unabhängigkeit nur im Verhältnis zu den Trägern nichtrichterlicher Gewalt; wird aber ein Gericht an die Entscheidung eines anderen Gerichts (des gleichen oder eines anderen Gerichtsbarkeitszweiges) gebunden, so liegt nur eine mit Art. 97 Abs. 1 G G vereinbare Aufteilung der Zuständigkeit unter verschiedene Gerichte vor (BVerfG NJW 1961 655). Rechtliche Bedenken bestehen auch nicht, wenn die Aussetzung des gerichtlichen Verfahrens bis zur Entscheidung einer Verwaltungsbehörde vorgeschrieben ist und diese Entscheidung entweder das Gericht nicht bindet oder nur deshalb bindet, weil es sich um einen rechtsetzenden (konstitutiven) Verwaltungsakt handelt (vgl. BayVerfGH 1963 376). Zweifelhaft ist dagegen, ob und inwieweit Vorschriften, die eine Bindung des Strafrichters an nichtrechtsetzende (nichtkonstitutive) Entscheidungen einer Verwaltungsbehörde vorsehen und eine Aussetzung des Strafverfahrens bis zum Ergehen einer solchen Entscheidung vorschreiben, mit der Unabhängigkeit der Gerichte und ihrem Rechtsprechungsmonopol (Art. 92, 97 GG) vereinbar sind. Diese Frage wurde besonders bezüglich der §§ 7,40 Abs. 3 des früher geltenden Personenbeförderungsgesetzes v. 4 . 1 2 . 1 9 3 4 (RGBl. 11217) erörtert (vgl. BayObLG NJW 126

Die Verfahrens Voraussetzungen (Verfahrenshindernisse)

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1960 1534 mit Nachw. aus Rechtsprechung und Schrifttum und G a l l NJW 1960 1509), wobei überwiegend und mit wechselnder Begründung diesen Vorschriften die Weitergeltung abgesprochen wurde. Die neuere Gesetzgebung ist deshalb dazu übergegangen, von Bindungen des Strafrichters an Vorabentscheidungen von Verwaltungsbehörden abzusehen. So ließ das Personenbeförderungsgesetz v. 21.3. 1961 - BGBl. 1241 - (§§ 10,60) die im Personenbeförderungsgesetz 1934 vorgesehene Bindung fallen. § 468 a. F. RAbgO, wonach die rechtskräftige Entscheidung der Finanzbehörde (oder des Finanzgerichts) über Grund und Betrag des Steueranspruchs in bestimmtem Umfang Voraussetzung für die Entscheidung des Strafrichters über die Steuerhinterziehung oder fahrlässige Steuerverkürzung war (vgl. BGHSt. 14 11), ist durch das Änderungsges. v. 10.8. 1967 (BGBl. I 877) aufgehoben worden, und § 442 n. F. bestimmt — in Klarstellung dessen, was sich bereits aus § 262 Abs. 2 StPO ergeben würde — lediglich, daß, wenn eine Verurteilung wegen Steuerhinterziehung davon abhängt, ob ein Steueranspruch besteht oder verkürzt ist oder ein Steuervorteil zu Unrecht gewährt ist, das Gericht das Strafverfahren bis zum rechtskräftigen Abschluß des Besteuerungsverfahrens aussetzen könne (vgl. dazu K ü h n , Abgabenordnung [9] zu § 442). Aufgehoben ist auch durch das gleiche Änderungsgesetz § 423 a. F. RAbgO, wonach die im ehrengerichtlichen Verfahren getroffene Feststellung einer Verletzung der Berufspflicht eine Voraussetzung für die Einleitung einer strafrechtlichen Verfolgung eines Rechtsanwalts wegen einer fahrlässigen Steuerzuwiderhandlung bildete; § 448 n. F. RAbgO, wonach gegen einen Rechtsanwalt, Steuerberater, Steuerbevollmächtigten, Wirtschaftsprüfer oder vereidigten Buchprüfer ein Bußgeldbescheid wegen einer Steuerordnungswidrigkeit, die er in Ausübung seines Berufs bei der Beratung in Steuersachen begangen hat, nur erlassen werden darf, wenn zuvor wegen dieser Handlung gegen ihn ehren- oder berufsgerichtliche Maßnahmen verhängt sind oder ihm durch den Vorstand der Berufskammer eine Rüge erteilt ist, gilt nur für Bußgeldbescheide des Finanzamts, nicht aber für Bußgelderkenntnisse des Gerichts nach §§ 45, 82 OWiG 1968 ( K ü h n aaO. Anm. 2 zu § 448). Im übrigen kann auf die Frage der Bindungswirkung hier nicht näher eingegangen werden. Hervorzuheben ist lediglich, daß das Problem der Vorabentscheidung als Verfahrensvoraussetzung sich nicht erhebt, wenn das Gesetz eine bestimmte vorangegangene Entscheidung eines Gerichts oder einer Verwaltungsbehörde zum Tatbestandsmerkmal oder wenigstens zur objektiven Bedingung der Strafbarkeit in der Strafnorm erhoben hat, wie dies — angesichts früherer Zweifelsfragen, die an §§ 90a 93, 129 a. F. StGB anknüpften (vgl. BGHSt. 6 318, 322 einerseits, BVerfG NJW 1961 723; BGH NJW 1961 1315 anderer seits) — jetzt bei den sog. Organisationsdelikten der Fall ist, deren Strafbarkeit von einem vorangegangenen unanfechtbaren oder wenigstens vollziehbaren Verbot (oder einer entsprechenden Feststellung ihres verbotenen Charakters) abhängt (vgl. dazu D r e h e r [31] Anm. 2 zu § 85 StGB). Die Hauptfalle, in denen der Strafrichter eine Vorentscheidung einer anderen Stelle abwarten muß, sind die folgenden: a) Die das Verfahren über die angezeigte Handlung abschließende Entscheidung der zuständigen Stelle ist gemäß § 164 Abs. 3 StGB zwingende Voraussetzung für die Entscheidung des Gerichts über die falsche Anschuldigung (RGSt. 31 231; 41 155; BGHSt. 8 151; 10 88). Da § 164 Abs. 3 nur widersprechende tatsächliche Feststellungen ausschließen will, ist die Vorschrift unanwendbar, wenn das Verfahren betr. die falsche Anschuldigung sich bereits in der Revisionsinstanz befindet und erst jetzt das andere Verfahren anhängig wird (RGSt. 26 365). Die Nichtbeachtung des Verfahrenshindernisses führt in der Revisionsinstanz nicht zur Einstellung, sondern zur Aufhebung und Zurück Verweisung (BGHSt. 8 154, oben S. 91). ß) Die das Verfahren über die behauptete strafbare Handlung abschließende Entscheidung muß nach § 191 StGB gegeben sein, damit das Gericht über die üble Nachrede entscheiden kann; es gilt im übrigen das zu a) gesagte. Der Tatrichter verstößt durch Aburteilung auch dann gegen das Aussetzungsgebot des § 191, wenn er zwar keine Kenntnis von der gegen den Beleidigten erstatteten Strafanzeige hat, sich diese Kenntnis aber aus den von ihm beigezogenen Akten hätte verschaffen können (BayObLG JZ 1959 253). 127

Kap. 10

Einleitung (Schäfer)

B8 y) In anderen Fällen ist die Entscheidung einer Rechtsfrage, auf die es für die Entscheidung ankommt, einem bestimmten Gericht übertragen, sei es wegen der überragenden Bedeutung dieser Frage, sei es im Interesse der Erhaltung oder Herbeiführung der Rechtseinheit. Dann hat das andere Gericht mit seinem eigenen Verfahren innezuhalten (Verfahrenshindernis) und die Frage dem dafür zuständigen Gericht vorzulegen und dessen Entscheidung als Vorabentscheidung für die eigene Entscheidung abzuwarten. Fälle dieser Art sind in § 121 Abs. 2 GVG und in Art. 100 Abs. 1,2,126 G G (Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen; Zweifel, ob eine Regel des Völkerrechts Bestandteil des Bundesrechts ist, Fortgeltung von vorkonstitutionellem Recht als Bundesrecht) geregelt (vgl. Anm. 4 zu § 1 GVG). Auch hier ist, wenn das Gericht das Verfahrenshindernis übersieht und selbst entscheidet, mit der Rechtskraft der Entscheidung der Mangel geheilt. f) Rücksicht auf das Verhältnis zu einer ausländischen Behörde. — Wird ein Beschuldigter von einer ausländischen Macht der deutschen Gerichtsgewalt ausgeliefert (Einlieferung), so kann der Umfang der Aburteilungsbefugnis, wie er sich aus den Vorschriften des deutschen Rechts ergibt, durch Erklärung des ausliefernden Staates im Einzelfall, durch bestehende Auslieferungsverträge und schließlich durch den allgemeinen völkerrechtlichen Grundsatz der sog. Spezialität, der nach Art. 25 G G als Inlandsrecht gilt, beschränkt sein (näheres Vorbem. 5 III vor § 156 GVG). Auslieferungsvertrag und Auslieferungsbescheid sind maßgebend für die tatsächliche und rechtliche Begrenzung der Verfolgung des ausgelieferten Beschuldigten (RGSt. 30 440; 34 199; 45 278; 55 285; 64 187; 66 174; BayObLG JW 1927 2054 3 ; C o n r a d Recht 1913 285, S a u e r Grdl. S. 327). Also müssen die Gerichte — auch die Rechtsmittelgerichte — wenn sie über einen Ausgelieferten zu urteilen haben, von Amts wegen prüfen, ob und inwieweit die Verfolgung des Beschuldigten nach dem im Einzelfall geltenden Auslieferungsrecht zulässig ist; wird die Zulässigkeit verneint, so muß das Verfahren wegen Mangels der Verfahrensvoraussetzung eingestellt werden (RGSt. 70 286; BGH St. 18 218; 19 119; NJW 1960 2201; gegen die Annahme eines Prozeßhindernisses v. W e b e r JZ 1963 515). Dagegen ist es Aufgabe der Behörden des ausliefernden Staats, darüber zu wachen, daß die Bewilligung der Auslieferung den dort geltenden Vorschriften entspricht; den deutschen Gerichten steht z. B. kein Nachprüfungsrecht zu, wenn der Beschuldigte geltend macht, daß er nicht habe ausgeliefert werden dürfen (RGSt. 70 287; Vorbem. 5 IIId vor § 156 GVG). Wird das Verfahrenshindernis der beschränkten Aburteilungsbefugnis übersehen und die ergangene Entscheidung rechtskräftig, so ist das Urteil wirksam, denn es liegt hier nicht ein Fall fehlender Gerichtsbarkeit vor, in dem die Überschreitung der Gerichtsbarkeit auch das rechtskräftige Urteil unwirksam (nichtig) macht (vgl. S. 185). 8. Sachliche und örtliche Zuständigkeit Auch sachliche und örtliche Zuständigkeit sind Verfahrensvoraussetzungen, deren Bedeutung sich im Hinblick auf den Grundsatz des gesetzlichen Richters (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG, § 16 GVG) ergibt. Und zwar ist sachliche Unzuständigkeit ein dauerndes Prozeßhindernis, örtliche Unzuständigkeit dagegen nur ein Hindernis von zeitlich vorübergehender Bedeutung (vgl. §§ 16,18 StPO). Wird der Mangel der örtlichen Zuständigkeit aber gerügt, so führt, auch er zur Einstellung des Verfahrens; dadurch wird eine erneute Anklage vor dem örtlich zuständigen Gericht nicht ausgeschlossen (BGHSt. 18 1). Die sachliche Unzuständigkeit indessen führt, wenn sie hervortritt — und darin unterscheidet sie sich von anderen dauernden Prozeßhindernissen — nicht zur Einstellung des Verfahrens 75 , sondern 75

In der 20. Auflage (Einl. S. 50) sprach N i e t h a m m e r — im Gegensatz zu der durchaus herrschenden Meinung (vgl. BGHSt. 18 79, 81 = NJW 1963 60) - der Zuständigkeit die Bedeutung als Verfahrensvoraussetzung ab, weil es bei einem Zuständigkeitsverstoß „lediglich gelte, ein an sich zulässiges Verfahren, das auf die falsche Bahn geraten ist, von dieser weg auf die rechte Bahn zu leiten". Indessen gehört zum Begriff des Prozeßhindernisses (des Fehlens einer Prozeßvoraussetzung) lediglich, daß es das Gericht an einer eigenen Sachentscheidung — also das sachlich zuständige Gericht am Erlaß eines Urteils hindert. Dagegen ist Einstellung des Verfahrens zwar die Regel, aber nicht die notwendige Folge bei Zutagetreten eines Verfahrenshindemisses (vgl. S. 127); es ist deshalb mit dem Begriff des Prozeßhindernisses nicht unverträglich, wenn das Gesetz im Falle der

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Die Verfahrensvoraussetzungen (Verfahrenshindernisse)

K a p . 10 B8

zur Verweisung an das sachlich zuständige Gericht; die Verweisung erfolgt in der Hauptverhandlung durch Beschluß nach § 270 StPO, in dem vorangehenden Verfahrensstadium durch Abgabebeschluß ohne Bindungswirkung (BGHSt. 18 290). Ist aber bei sachlicher Unzuständigkeit fehlerhafterweise nicht an das zuständige Gericht verwiesen, sondern das Verfahren eingestellt und diese Entscheidung formell rechtskräftig geworden, so hat dies die fortdauernde sachliche Unzuständigkeit des Gerichts in dieser Sache zur Folge, mag auch die Unzuständigkeitserklärung zu Unrecht erfolgt sein (BGHSt. 18 1). a) Sachliche Zuständigkeit. — Die Auslegung des § 6 StPO, wonach das Gericht seine sachliche Zuständigkeit in jeder Lage des Verfahrens zu prüfen hat, war früher in der Rechtsprechung des RG uneinheitlich. Zwar bestand kein Zweifel, daß nach dieser Vorschrift das Gericht des ersten Rechtszuges und das Berufungsgericht ihre sachliche Zuständigkeit stets nach den Regeln des Freibeweises zu prüfen haben und daß die Verweisungspflicht (§ 270 Abs. 1) nicht erst dann gegeben sei, wenn das Gericht die Tatsachen, aus denen die Zuständigkeit des anderen Gerichts folgt, als erwiesen, sondern schon dann, wenn es sie als wahrscheinlich ansieht (RGSt. 64 180; RG GA 50 284; 69 94; LZ 1923 142). Dagegen wurde die Frage, ob das Revisionsgericht nur seine eigene sachliche Zuständigkeit oder auch die des vor ihm mit der Sache befaßten Gerichts von Amts wegen zu prüfen habe, vom R G früher nicht einheitlich beantwortet. Nach RGSt. 34 256; 62 63 hatte zwar das RG seine eigene Zuständigkeit von Amts wegen zu prüfen, also, ob die Revisionszuständigkeit des R G oder des OLG gegeben sei; dagegen sollte das R G zur Prüfung der sachlichen Zuständigkeit der Vorinstanz nur berechtigt und verpflichtet sein, wenn ein Beteiligter die Unzuständigkeit rügte (so auch jetzt noch P e t e r s [2] 240). Im Gegensatz dazu sah RGSt. 61 322 in der Überschreitung der sachlichen Zuständigkeit durch den Vorderrichter einen Mangel, der auch ohne Rüge von Amts wegen aufzuklären und ohne Rücksicht darauf, ob das Urteil darauf beruht, durch Aufhebung des Urteils unter Verweisung nach § 355 zu berücksichtigen sei. Diese letztere Auffassung hat sich in der Folgezeit in der Rechtsprechung unangefochten durchgesetzt (RGSt. 66 256; 67 58; BGHSt. 7 26; 10 74; 13 157, 378; 14 64; 18 79, 81; NJW 1960 2203). Ohne Bedeutung ist dabei, ob der Angeklagte durch die Verkennung der sachlichen Unzuständigkeit beschwert ist oder nicht (BGHSt. 13 157; a. M. OLG Oldenburg NJW 1957 1329). In gleicher Weise hat das Revisionsgericht von Amts wegen zu beachten, wenn das Berufungsgericht entschieden hat, obwohl die Berufung nach § 313 StPO ausgeschlossen war (BayObLG NJW 1953 756; OLG Hamm NJW 1961 1369). Ein Fall der unter dem Gesichtspunkt einer fehlenden Verfahrensvoraussetzung von Amts wegen zu würdigenden sachlichen Unzuständigkeit lag nach der früheren Rechtsprechung auch vor, wenn die Erwachsenengerichte mit Sachen befaßt werden, die vor die Jugendgerichte gehören, also z. B. an Stelle des Jugendrichters der Amtsrichter (BayObLG NJW 1955 959) oder an Stelle des Jugend-Schöffengerichts oder der Jugendkammer die große Strafkammer (BGHSt. 7 26; 8 349; 10 64, 74, 100; NJW 1960 2203) entscheidet, oder wenn umgekehrt das Jugendgericht in die Zuständigkeit des Erwachsenengerichts eingreift, also z. B. die Jugendkammer nach unzulässiger Verbindung (§ 103 JGG) einen Erwachsenen aburteilt, der vor das Schwurgericht gehört (BGHSt. 9 399; 10 74). Diese Rechtsprechung führte zu Umständlichkeiten, die durch öffentliche Interessen nicht geboten sind. BGHSt. 18 79 (Gr S) = NJW 1963 60 hat sie daher aufgegeben und sieht eine von Amts wegen zu berücksichtigende sachliche Unzuständigkeit nur als vorliegend an, wenn das (Jugend- oder Erwachsenen-)Gericht die eigene Strafgewalt überschreitet, während im übrigen das versehentliche Eindringen in den Geschäftsbereich des Jugend- oder Erwachsenensachlichen Unzuständigkeit dem Gericht vorschreibt, sein eigenes Prozedieren zu beenden und ihm gleichzeitig aus prozeßökonomischen Gründen aufgibt, das Verfahren durch Verweisung (§ 270) „auf die rechte Bahn" zu bringen (ebenso E b S c h m i d t Lehrkomm. I [2] Rz 127). In der Berufungsinstanz bedarf es dazu, um dem zuständigen Gericht das Prozedieren zu ermöglichen, der Beseitigung des schon vorliegenden 1. Urteils. Deshalb schreibt § 328 Abs. 3 StPO vor, daß das Berufungsgericht die Verweisung „unter Aufhebung des (angefochtenen) Urteils" auszusprechen hat. Jedoch schließt die Abgabe durch das Berufungsgericht, da in ein und demselben Verfahren nur Raum für ein Urteil des 1. Rechtszuges sein kann, zwangsläufig den Fortfall des mit der Berufung angefochtenen Urteils ein, so daß es unschädlich ist, wenn das Berufungsgericht bei Verweisung den förmlichen Ausspruch der Aufhebung des Urteils unterläßt, der bloß der Klarstellung einer unabhängig davon allein schon mit der Verweisung eintretenden Folge dient (BGHSt. 21 245).

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Kap. 10

Einleitung (Schäfer)

B9 gerichts (z. B. Entscheidung durch den Amtsrichter statt durch den Jugendrichter) sich nur als ein Ubergriff in den Geschäftsbereich einer anderen Gerichtsabteilung gleichen Ranges darstellt und vom Revisionsgericht nur auf Rüge zu prüfen ist. Es kann danach das irrtümlich angegangene Erwachsenengericht die Sache an das gleichrangige Jugendgericht des Gerichtsbezirks abgeben und umgekehrt (BGHSt. 18 173). Ob im gerichtlichen Stadium des Bußgeldverfahrens das Gericht von Amts wegen die sachliche Zuständigkeit der Verwaltungsbehörde zu prüfen hat, die den mit Einspruch angefochtenen Bußgeldbescheid erlassen hat (so BayObLG NJW 1960 641) ist streitig (vgl. G ö h l e r [2] 8 zu § 36 OWiG 1968). Erwächst aber die Sachentscheidung, die das sachlich unzuständige Gericht erlassen hat, in Rechtskraft, so heilt die Rechtskraft den Mangel, wie sich ohne weiteres aus §§ 328 Abs. 3,388 Nr. 4,355 ergibt (RGSt. 55 100; 56 352; 71 378). b) Örtliche Zuständigkeit. — Sie steht an Bedeutung hinter der sachlichen Zuständigkeit weit zurück. Während die Wahrung des öffentlichen Wohls maßgebend dafür ist, daß die Untersuchung und Entscheidung bestimmter strafbarer Handlungen wegen ihrer Schwere oder Eigenart Gerichten höherer Ordnung oder Gerichten mit besonderer Besetzung (Jugendgerichte) anvertraut wird, üben auch Zweckmäßigkeitsgründe einen erheblichen Einfluß auf die Verteilung gleichartiger Strafsachen unter die nach örtlichen Rücksichten ausgewählten Gerichte gleicher Ordnung aus. Dementsprechend ist die örtliche Zuständigkeit durch die §§ 16 und 18 StPO in ihren Wirkungen abgeschwächt; die Erörterung der Frage der örtlichen Zuständigkeit ist eingeschränkt ( O e t k e r JW 1928 2260). Eine Prüfung von Amts wegen findet nach Eröffnung des Hauptverfahrens nicht mehr statt. Der Beschuldigte muß den Einwand der örtlichen Unzuständigkeit in der Hauptverhandlung bis zum Beginn der Vernehmung zur Sache geltend machen. Führt die Verhandlung, nachdem das Recht des Beschuldigten zur Erhebung eines Einwandes erloschen ist, zu einer tatsächlichen Feststellung oder zu einer rechtlichen Würdigung, aus der die Unzuständigkeit des Gerichts an sich folgen würde, so muß doch bei der einmal begründeten örtlichen Zuständigkeit verbleiben (RGSt. 65 267). Im Auslieferungsverfahren wird der Beschluß des O L G über die Zulässigkeit der Auslieferung durch den Mangel der örtlichen Zuständigkeit (§ 9 DAG) nicht berührt (BGH NJW 1958 759). c) Für bestimmte Strafsachen sieht das Gesetz eine Konzentration der Zuständigkeit bei einem Gericht innerhalb eines größeren Gerichts vor. So ist z. B. nach § 74 a GVG die Strafkammer des Landgerichts, in dessen Bezirk das Oberlandesgericht seinen Sitz hat, als Staatsschutzstrafkammer bei bestimmten politischen Verbrechen und Vergehen für den ganzen Oberlandesgerichtsbezirk zuständig. Über weitere Fälle dieser Art s. Anm. 1 zu § 74 GVG. In solchen Fällen handelt es sich um die Begründung einer sachlichen Zuständigkeit nur insoweit, als Gerichten mit Rang unter dem Gericht, bei dem die Zuständigkeit liegt (im Beispielsfall: den Amtsgerichten des OLG-Bezirks) die Zuständigkeit entzogen ist. Dagegen liegt im Verhältnis zu den gleichrangigen Gerichten des Bezirks nur die Begründung einer örtlichen Zuständigkeit vor, so daß also, wenn in einer der in § 74 a GVG bezeichneten Strafsachen statt der Staatsschutzstrafkammer am Sitz des Oberlandesgerichts eine andere Strafkammer des OLG-Bezirks entscheidet, nicht die Überschreitung der sachlichen, sondern nur die der örtlichen Zuständigkeit in Frage steht (BGHSt. 13 378; s. aber auch Anm. 2 zu § 74 a GVG). 9. Sühneversuch. — Nach § 380 StPO ist die Erhebung der Privatklage wegen bestimmter Vergehen erst zulässig, nachdem von einer Vergleichsbehörde die Sühne erfolglos versucht worden ist. Der Sühneversuch ist eine Klagevoraussetzung und erfordert Prüfung von Amts wegen. Hat ein Sühneversuch vor Erhebung der Klage nicht stattgefunden, so ist die Klage zurückzuweisen; eine Nachholung kommt — was freilich sehr streitig ist — nicht in Betracht (vgl. die Anm. zu § 380). Eröffnet aber (unrichtigerweise) das Gericht gleichwohl das Verfahren, so ist dadurch der Mangel der Klagevoraussetzung geheilt, da der Zweck, die Klage zu vermeiden, nicht mehr erfüllt werden kann und es dem Gericht jederzeit freisteht, den versäumten Sühneversuch durch die eigene Bemühung um gütliche Befriedung zu ersetzen (vgl. die Anm. zu § 380).

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Die Prozeßmaximen

Kap. 11 A

11.

Die Prozeßmaximen A. Allgemeines. Die Aufgabe, die die StPO dem erkennenden Gericht im Strafverfahren zuweist, ist, die Wahrheit zu erforschen und ein gerechtes Urteil zu fallen. Diese Zielsetzung erschien dem Gesetzgeber so selbstverständlich, daß sich die StPO in ihrer ursprünglichen Fassung nach beiden Richtungen eines ausdrücklichen Ausspruchs hierüber enthielt — erst Jahrzehnte nach dem Inkrafttreten der StPO und auch nur zur Verdeutlichung ist die Wahrheitserforschungspflicht des Gerichts in der Hauptverhandlung förmlich niedergelegt worden (vgl. Anm. 3 zu § 244) — und sich damit begnügte, den Weg zu regeln, auf dem die Wahrheit zu finden sei, und damit Garantien für die Fällung eines gerechten, dem sachlichen Recht entsprechenden Urteils zu schaffen. Dieser Weg aber ist nicht ein mehr oder weniger zwangsläufig durch die Natur der Sache, das Wesen des Prozesses oder Überlegungen der Dogmatik oder Rechtslogik gewiesener, sondern ist das Ergebnis eines positiv-rechtlichen Abwägens zwischen widerstreitenden Belangen (s. oben S. 34) und die Auffassungen über die zweckmäßigste Gestaltung des Verfahrens, über die „richtige", d. h. dem Ideal der Ausgleichung sich am meisten nähernde Grenzziehung zwischen der Macht des verfolgenden Staats und dem Schutzbedürfnis des Individuums, zwischen dem öffentlichen Interesse an straffer Durchführung des Prozesses im Zuge einer raschen und nachdrücklichen Verbrechensverfolgung und dem Interesse des Beschuldigten an möglichst weitgehender Ausdehnung seiner Schutz- und Verteidigungsrechte sind, wie die Darstellung der Änderungen, die StPO und G V G seit ihrem Inkrafttreten am 1. 10. 1879 bis heute erfahren haben, und die Übersicht über die in diesem Zeitraum hervorgetretenen und unerfüllt gebliebenen Reformwünsche (oben S. 4 ff. und S. 34 ff.) zeigen, wandelbar und werden vom Wechsel der weltanschaulichen Vorstellungen und der politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse, ja selbst von gewissen vorübergehenden Tagesbedürfnissen beeinflußt. Schließlich wirken auch Regelungen des Auslands, die ihrerseits — unbeschadet der Übereinstimmung in gewissen grundsätzlichen Fragen, die aus der Menschenrechtskonvention (S. 3) erhellt — von Staat zu Staat und von Kontinent zu Kontinent wechseln, auf die Reformideen und schließlich auch auf die gesetzgeberischen Maßnahmen ein. Immerhin haben sich aber mit der Durchsetzung des reformierten Strafprozesses im 19. Jahrhundert gewisse Grundprinzipien (Prozeßmaximen) herausgebildet, die, von der StPO übernommen, den deutschen Strafprozeß charakterisieren und die, in Zeiten des Krieges, wirtschaftlicher Not und entarteter Staatsgewalt vorübergehend abgeschwächt oder zurückgedrängt, bis heute, wenn auch nicht ohne mehr oder minder weitgehende Änderungen im einzelnen, so doch im Grundsatz in Geltung geblieben sind. Sie werden ihrerseits von dem obersten Prinzip der Rechtsstaatlichkeit beherrscht, dessen immanente Wesensmerkmale die Gerechtigkeit, die Rechtssicherheit und die Verhältnismäßigkeit des Mittels zu dem erstrebten Zweck sind (vgl. BVerfGE 7 89, 92; N J W 1969 1059; BGHSt. 18 274, 279). Diese Grundprinzipien sind aber nicht streng und bis zur letzten Konsequenz durchgeführt, sondern von Ausnahmen durchbrochen, zu denen die Ausgleichung gegensätzlicher Interessen zwang. So ist z. B. der Verfolgungszwang (unten S. 139) zur Milderung von Schärfen, die er im Einzelfall mit sich bringt, im Lauf der Zeit eingeschränkt worden. Und der Grundsatz der Mündlichkeit und Unmittelbarkeit (unten S. 152 ff.) gilt zwar, wenn es zur Hauptverhandlung kommt, aber die überwiegende Zahl der kleineren Straffalle wird ohne Hauptverhandlung, nämlich durch Strafbefehl oder Strafverfügung erledigt. Dem Grundsatz der Mündlichkeit wird hier dadurch Genüge getan, daß dem Beschuldigten das Recht zusteht, durch Einlegung des Einspruchs eine Hauptverhandlung herbeizuführen. Auch gestattet das Gesetz zuweilen in Fällen, in denen eine Hauptverhandlung grundsätzlich stattfindet, zur Beschleunigung des Verfahrens bei einfacher Sachlage von der Hauptverhandlung abzusehen und im schriftlichen Verfahren durch Beschluß zu entscheiden (§§ 349 Abs. 2 7 6 und 4, 371 Abs. 1,437 Abs. 4). 76

Bei der Diskussion um die Aufrechterhaltung des § 349 Abs. 2 (Verwerfung der Revision als offen-

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Kap. 11

Einleitung (Schäfer)

B1 B. Die einzelnen Grundsätze. 1. Der Anklagegrundsatz. a)Ein wesentliches Merkmal des gemeinrechtlichen Inquisitionsprozesses war die Vereinigung der Tätigkeiten des Verfolgens und des Richtens in einer Hand, der des Richters. Z u m Richten aber gehört innere Unbefangenheit, die bei dem nicht erwartet werden kann, der früher angreifend und ermittelnd in der Sache tätig geworden ist; und noch weniger wird der Beschuldigte dem Richter das Vertrauen der inneren Unbefangenheit und Unparteilichkeit entgegenbringen, wenn dieser ihm zunächst angreifend und inquirierend, gewissermaßen als Gegner gegenübergetreten ist. Auf der psychologischen Grunderfahrung von der Unvereinbarkeit der Stellung von Inquirent und Richter in einer Person beruhten die Forderungen in der Reformbewegung des 19. Jahrhunderts, beide Aufgabenbereiche zu trennen, die Aufgabe des Einschreitens und Ermitteins einem besonderen Organ, einem die Öffentlichkeit, die Staatsgewalt repräsentierenden Ankläger, zu übertragen und dem Gericht die weitere Verfügung über das Verfahren erst durch einen förmlichen Akt, die Erhebung der öffentlichen Klage, zu überlassen, wenn der Ankläger auf Grund seiner Ermittlungen und des zusammengetragenen Belastungsmaterials einen hinreichenden Tatverdacht für gegeben hält. Diese Forderungen fanden um die Mitte des 19. Jahrhunderts im reformierten Strafprozeß ihre gesetzgeberische Verwirklichung und auf diesem Grundgedanken beruht auch die Regelung der StPO. Grundsätzlich wird danach gegen strafbare Handlungen von Amts wegen eingeschritten. Das Einschreiten von Amts wegen ist jedoch dem Gericht verwehrt. Nur ausnahmsweise hat der Amtsrichter bei Gefahr im Verzug auf Grund des § 165 StPO als „Notstaatsanwalt" einzelne der Vorbereitung der öffentlichen Klage dienende Untersuchungshandlungen vorzunehmen. Vielmehr wird die Eröffnung einer gerichtlichen Untersuchung gemäß § 151 StPO durch die Erhebung einer Klage bedingt (Anklagegrundsatz). Die Klage bildet eine Voraussetzung für die Zulässigkeit der gerichtlichen Untersuchung und Entscheidung; sie ist Verfahrensvoraussetzung, der Mangel einer ordnungsmäßigen Klage ein Verfahrenshindernis (vgl. S. 93). Zur Erhebung der öffentlichen Klage ist nach § 152 Abs. 1 StPO der Staatsanwalt berufen. Er kann die von ihm erhobene öffentliche Klage nach § 156 StPO nicht mehr zurücknehmen, wenn die Voruntersuchung oder das Hauptverfahren eröffnet und damit die Herrschaft des Gerichts über das Verfahren begründet ist (Ausnahme § § 4 1 1 , 413), während der Privatkläger einer solchen Beschränkung nicht unterliegt (§391). In strengster Folgerichtigkeit durchgeführt würde der Anklagegrundsatz etwa zu folgender Verfahrensgestaltung führen: Die ermittelnde Tätigkeit liegt ausschließlich dem Staatsanwalt ob. Der Richter trägt keine Verantwortung für die Klage; die Klageerhebung führt alsbald zur Hauptverhandlung. In dieser treten zwei Beteiligte, der Kläger und der Angeklagte, behauptend und begehrend vor ihm auf. Sie tragen — zumeist widerstreitend — vor, was die Klage erhärten oder entkräften soll. Der Richter ist aus der untersuchenden Tätigkeit völlig verdrängt und ausschließlich damit betraut, den Stoff, den die am Verfahren Beteiligten vor ihm ausbreiten, in sich aufzunehmen und hieraus das Bild zu formen, auf das er die Entscheidung stützt. Das geltende Strafverfahren ist jedoch nicht so gestaltet. Zunächst ist dem Hauptverfahren, dessen Kernstück die Hauptverhandlung bildet, ein Zwischenverfahren, das Eröffnungsverfahren vorgeschaltet. Die Anklageschrift des Staatsanwalts enthält den Antrag, das Hauptverfahren vor einem bestimmten Gericht zu eröffnen (§ 200 Abs. 1); das Gericht ist an die Zuständigkeitsauffassung der Staatsanwaltschaft jedoch nicht gebunden. Das Gericht prüft aber nicht nur seine örtliche und sachliche Zuständigkeit, sondern auch, sichtlich unbegründet durch Beschluß des Revisionsgerichts; vgl. S. 27) war es also kein sinnvolles Argument gegen diese Vorschrift, wenn geltend gemacht wurde, das schriftliche Verfahren „verstoße" gegen den Grundsatz der Mündlichkeit, denn dieser Grundsatz gilt nicht apodiktisch, sondern nur in der Ausprägung und mit den Einschränkungen, die das geltende Recht vorsieht. Die Frage konnte also nur lauten, ob die lex lata insoweit auf einer zweckmäßigen Interessenabwägung beruhe. Auch mit Art. 6 Abs. 1 der Menschenrechtskonvention, soweit er dem Beschuldigten Anspruch auf „öffentliches Gehör" zuerkennt, steht § 349 Abs. 2 StPO nicht in Widerspruch, denn der Mündlichkeitsgrundsatz gilt in erster Linie für die Tatsacheninstanzen und läßt dem nationalen Gesetzgeber Raum für Vorschriften, die für das auf die rechtliche Nachprüfung beschränkte Revisionsverfahren Ausnahmen vorsehen.

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Die Prozeßmaximen

K a p . 11 B 1

ob der Angeschuldigte nach den bisherigen Ermittlungen einer strafbaren Handlung hinreichend verdächtig ist (§ 203). Der Angeschuldigte wird — auch in Einzelrichterstrafsachen — zuvor gehört (§ 201). Das Gericht kann ergänzende Ermittlungen anordnen (§ 202). Soweit es nicht wegen sachlicher Unzuständigkeit nach § 209 verfahrt, lautet seine abschließende Entscheidung auf Eröffnung des Hauptverfahrens und Zulassung der Anklage zur Hauptverhandlung oder Ablehnung der Eröffnung des Hauptverfahrens; vorübergehende Verfahrenshindernisse führen zu vorläufiger Einstellung des Verfahrens (§§ 203—205). Der Sinn dieses Zwischenverfahrens ist die „negative Kontrollfunktion": dem Angeschuldigten zu ersparen, sich in einer öffentlichen Hauptverhandlung verantworten zu müssen, wenn nach Sachlage mit einer Verurteilung mangels hinreichenden Verdachts nicht zu rechnen ist, aber auch das erkennende Gericht von der Belastung mit einer überflüssigen Hauptverhandlung freizuhalten. Die Kehrseite dieser Vorprüfung ist freilich, daß das in der Hauptverhandlung erkennende Gericht, obwohl an den Eröffnungsbeschluß nicht gebunden (§§ 261,264 Abs. 2), doch wenigstens in den Augen des Angeklagten als innerlich festgelegt erscheinen kann. So ist — von den Vorwürfen, daß es schleppend und umständlich, aber auch ungeeignet sei, die Interessen der Anklage oder des Beschuldigten zu wahren, ganz abgesehen — die Zweckmäßigkeit des Eröffnungsverfahrens seit langem umstritten (vgl. die Schrifttumsnachweise in Vorbem. 5 vor § 198) und auch die Stellungnahme des Gesetzgebers und der amtlichen Reformgremien hat im Laufe der Zeit gewechselt: Die VO vom 13. 8. 1942 hatte unter Vorwegnahme der im EGStGB = Entw. 1930 (Art. 70 Ziff. 115) und im StPO = Entw. 1939 (§§ 32ff.) vorgeschlagenen Regelung den Eröffnungsbeschluß beseitigt (vgl. oben S. 16), das Rechtsvereinheitlichungsgesetz v. 12. 9. 1950 hat ihn wieder hergestellt und das StPÄG 1964 hat zwar den Eröffnungsbeschluß dem Namen wie der Kontrollfunktion nach beibehalten, seinen Inhalt aber dahin verändert, daß er aus „optischen Gründen" förmlich nicht mehr die Feststellung enthält, der Angeschuldigte sei der ihm von der Anklage zur Last gelegten Tat hinreichend verdächtig, sondern sich mit dem Ausspruch begnügt, die Anklage werde „zur Hauptverhandlung zugelassen". Die Reformwünsche gehen dahin, daß das Gericht nur noch prüfe, ob Verfahrenshindernisse vorlägen, die Verdachtsfrage aber ungeprüft lasse (vgl. E b S c h m i d t NJW 1969 1143). Als weitere Durchbrechungen des Grundsatzes, den Richter von inquirierender Tätigkeit freizuhalten, kommen vornehmlich die durch §§ 178 ff. StPO geregelte Voruntersuchung und die im § 238 StPO angeordnete Übertragung der Vernehmung des Angeklagten und der Erhebung der Beweise in der Hauptverhandlung an den Vorsitzenden in Betracht. Seit langem werden diese Einrichtungen als lästige Überbleibsel älterer, nach dem Untersuchungsgrundsatz geformter Ordnungen nachdrücklich bekämpft. Reformvorschläge gipfeln in dem Wunsch nach Beseitigung der Voruntersuchung und nach allgemeiner Einführung des dem anglo-amerikanischen Vorbild angepaßten Kreuzverhörs 11 . a) In der (teils obligatorischen, teils fakultativen) Voruntersuchung fallt dem Untersuchungsrichter die Aufgabe zu, durch eigene Sachaufklärung die dem beschließenden Ge77

Auf das umfangreiche Schrifttum, das sich mit Fragen einer Umgestaltung der Hauptverhandlung nach anderer Richtung befaßt, wie etwa die Bestellung eines besonderen Verhandlungsführers, der die Akten kennt, bei der Entscheidung des Gerichts aber nicht mitwirkt, oder — neuerdings aus Anlaß des X. Internationalen Strafrechtskongresses 1969 in Rom in den Vordergrund getreten — die zunehmend empfohlene Einführung des sog. Schuldinterlokuts, d. h. die Zerlegung der Hauptverhandlung in zwei Abschnitte, von denen der erste die Schuldfeststellung — conviction —, der zweite den Strafausspruch — sentence — zum Gegenstand hat, kann im Rahmen dieser Einleitung nicht eingegangen werden (vgl. dazu etwa — jeweils mit weiteren Nachweisen — R ö m e r , G A 1969 333; B l a u und F i s c h i n g e r ZStrW 81 [1969] 31 ff., 49ff.; E b S c h m i d t M D R 1967 877; NJW 1969 1141 ff.; H e r r m a n n ZStrW 80 [1968] 775; J e s c h e c k JZ 1970 201). Es darf nur darauf hingewiesen werden, daß es einen ersten Schritt in der Richtung auf ein Schuldinterlokut bedeutet, wenn nach § 243 Abs. 4 (i. d. F. des StPÄG 1964) Vorstrafen, soweit sie für die Entscheidung von Bedeutung sind, frühestens bei der Vernehmung des Angeklagten zur Sache (nicht schon zur Person, § 243 Abs. 2) festgestellt werden dürfen. Über weitere Schritte in der Richtung auf ein informelles Schuldinterlokut durch die Praxis, die ausführliche Vernehmung des Angeklagten über seine Lebensumstände, die Erstattung psychiatrischer und psychologischer Persönlichkeitsgutachten, die Anhörung von Leumundszeugen usw. aufzuschieben, bis sich das Gericht durch eine interne Zwischenberatung einigermaßen Klarheit über den Schuldspruch verschafft hat, vgl. Kl [29] Anm. 5 zu § 243.

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Kap. 11

Einleitung (Schäfer)

B1 rieht obliegende Entscheidung vorzubereiten, ob gegen den Beschuldigten hinreichender Tatverdacht besteht. Abgesehen von der Erwägung, daß es dem Schutz des Beschuldigten diene, wenn die Ermittlungen nicht in der Hand eines weisungsgebundenen Staatsanwalts, sondern in der eines unabhängigen Richters lägen (vgl. BVerfG NJW 1969 1104, 1106), erwartete man bei der Schaffung der StPO von ihr eine besonders günstige Aufklärung des Sachverhalts und sah darin einen Ausgleich für das Fehlen einer zweiten Tatsacheninstanz in den erstinstanzlich vor das Reichsgericht, die Oberlandesgerichte, die Schwurgerichte und die Strafkammern gehörigen Sachen. Die Voruntersuchung hat seitdem zu den umstrittensten Einrichtungen der StPO gehört; man hat ihr insbesondere den Vorwurf gemacht, daß sie häufig den Abschluß des Vorverfahrens verzögere, ohne daß diese Verzögerung allgemein durch besonders gute Ergebnisse der Ermittlungen ausgeglichen würde. Der Gesetzgeber gab den auf Einschränkung oder Beseitigung der Voruntersuchung gerichteten Wünschen lange Zeit kein Gehör. Der EGStGB-Entw. 1930, der im übrigen keine Änderungen des bisherigen Rechts vorsah, wollte bei der fakultativen Voruntersuchung durch Einfügung eines Abs. 3 des § 178 StPO („Die Staatsanwaltschaft s o l l . . . den A n t r a g . . . nur stellen, wenn die Voruntersuchung nach Umfang oder Bedeutung der Sache notwendig erscheint") die Staatsanwaltschaft auf die Notwendigkeit der Vermeidung überflüssiger Voruntersuchungen hinweisen; die Begründung (S. 77) bemerkt aber dazu abschwächend: „Die Staatsanwaltschaft wird bei ihrer Entschließung allerdings zu beachten haben, daß die Voruntersuchung häufig geeigneter ist, tiefere Einblicke in die Persönlichkeit des Angeschuldigten zu eröffnen als das staatsanwaltschaftliche Ermittlungsverfahren, weil Angeschuldigte und Zeugen dem Richter oft unbefangener und offener gegenübertreten als dem Staatsanwalt". Erst in der Zeit des „Dritten Reichs" hat das grundsätzliche Anliegen des damaligen Gesetzgebers, die Tätigkeit des Richters vor dem Hauptverfahren in möglichst weitem Umfange durch die des weisungsgebundenen Staatsanwalts zu ersetzen (oben S. 9), zu einer erheblichen Einschränkung der Voruntersuchung geführt (Ges. v. 28. 6. 1935), indem die obligatorische Voruntersuchung beseitigt und das Recht, eine Voruntersuchung zu beantragen, nur dem Staatsanwalt eingeräumt wurde (vgl. S. 12). Der StPO-Entw. 1939 (§ 377) wollte noch weiter einschränken; nur bei „außergewöhnlichen Umständen" sollte der Staatsanwalt den Antrag auf Bestellung eines Untersuchungsrichters stellen können. Aber es ist doch bemerkenswert, daß selbst dieser Entwurf die Voruntersuchung in gewissem Umfange für unentbehrlich hielt. „Vereinzelt", so heißt es in der amtl. Begründung zu § § 3 77 ff. — S. 181 —, „kommen Fälle vor, in denen die Vornahme der Ermittlungen durch den weisungsgebundenen Staatsanwalt zu Mißdeutungen Anlaß geben könnte, z. B. wenn eine Untersuchung wegen der Persönlichkeit des Täters oder der Art der Tat unter innenoder außenpolitischen Umständen besonders heikel ist. Um auch den Anschein zu vermeiden, als ob in solchen Fällen die Ermittlungstätigkeit von unsachlichen Erwägungen beeinflußt sei, kann es im wohlverstandenen Interesse der Strafrechtspflege liegen, die Führung der Ermittlungen in die Hand des nichtweisungsgebundenen Richters zu legen. Um solcher Bedürfnisse willen soll die Voruntersuchung für Ausnahmefälle beibehalten werden". Das Rechtsvereinheitlichungsgesetz v. 12. 9. 1950 ist zwar im wesentlichen zu dem vor 1933 geltenden Recht zurückgekehrt und das StPÄG 1964 hat es dabei belassen. Indessen haben die auf Zurückdrängung der Voruntersuchung abzielenden Wünsche nach zwei Richtungen zu einer Beschränkung des früheren Rechts geführt: Der Voruntersuchungszwang in den zur erstinstanzlichen Zuständigkeit des OLG gehörenden und in Schwurgerichtssachen ist abgemildert und bei fakultativer Voruntersuchung (in Strafkammer- und Schöffengerichtssachen) kann auch die Staatsanwaltschaft Voruntersuchung nur beantragen, wenn sie erhebliche Gründe geltend macht, aus denen eine Voruntersuchung notwendig erscheint. Das Erfordernis der erheblichen Gründe aber wird in der Rechtsprechung einschränkend dahin ausgelegt, daß die Voruntersuchung nur in Ausnahmefällen zulässig sei, in denen wegen des Umfangs oder der Schwierigkeit der Sache die Hauptverhandlung überlastet wäre (OLG Köln 1960 1585; 1964 119). Der i. J. 1960 vorgelegte Entw. des StPÄG 1964 sah auch eine Beseitigung der Voruntersuchung in Schöffengerichtssachen vor; dieser Vorschlag ist aber nicht Gesetz geworden. BVerfG NJW 1969 1104, 1106 = DRiZ 1969 194 = RPfleger 1969 201 wirft die Frage auf, ob nicht die gleiche Zweckrichtung der Voruntersuchung wie die des Ermittlungsverfahrens der StA, Material für die Entscheidung des Gerichts über die Eröffnung des 134

Die Prozeßmaximen

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Hauptverfahrens zu sammeln, zu der Folgerung führe, daß der Untersuchungsrichter nicht als gesetzlicher Richter, sondern materiell als Organ der Staatsanwaltschaft tätig werde. Das wird zutreffend mit der Erwägung abgelehnt, daß der Untersuchungsrichter beim Erlaß eines Haftbefehls und bei der Anordnung von Durchsuchungen und Beschlagnahmen echte dem Richter vorbehaltene Aufgaben ausführe, daß es aber auch dem Gesetzgeber freistehe, Aufgaben, die nicht Rechtsprechung im materiellen Sinn sind, sondern ,4m Vorfeld" der Rechtsprechung im engeren Sinn liegen, dem Richter zur Wahrnehmung unter richterlicher Unabhängigkeit anzuvertrauen. Insgesamt wird man, wenn man praktischen Bedürfnissen den Vorrang vor dogmatischer Folgerichtigkeit einräumt, sagen müssen, daß eine vollständige Beseitigung der Voruntersuchung unvertretbar erscheint. Die oben zitierten Ausführungen der Begründung des StPOEntwurfs 1939 sind schlechthin zwingend: immer wieder werden Fälle größeren Ausmaßes vorkommen, in denen das Mißtrauen der Öffentlichkeit, die Regierung könne durch Weisungen an den Staatsanwalt auf den Gang und das Ergebnis der Ermittlungen Einfluß nehmen, nur dadurch zu beseitigen ist, daß die Ermittlungen in die Hand des unabhängigen Richters gelegt werden. Ist aber die Voruntersuchung als Institut schon aus diesen Gründen unverzichtbar, so wäre eine Beschränkung auf „außergewöhnliche Fälle" oder ähnliche vage umrissene Tatbestände mit rechtsstaatlichen Erfordernissen nicht vereinbar und noch weniger wäre es vertretbar, ein Antragsrecht nur dem Staatsanwalt zuzugestehen. Alles weitere ist Maßfrage. ß) Das Kreuzverhör ist im geltenden Recht nach § 239 StPO nur in beschränktem Umfange zulässig, nämlich nur, wenn Staatsanwalt und Verteidiger es übereinstimmend beantragen; es erstreckt sich nur auf die von ihnen benannten Zeugen und Sachverständigen. Sein Wesen besteht darin, daß die Aufnahme des Beweises insoweit vom Vorsitzenden (§ 238) auf die „Parteien" übergeht und die Sachleitung des Vorsitzenden während der Dauer des Kreuzverhörs sich auf die Verhinderung von Mißbräuchen und die Zurückweisung ungeeigneter oder nicht zur Sache gehöriger Fragen beschränkt (§ 241). Dagegen bewirkt das Kreuzverhör nicht, daß das Gericht für diesen Ausschnitt des Verfahrens in die Rolle des zuschauenden Unparteiischen versetzt wird, der lediglich das Ergebnis der Vernehmung, so, wie es von den Parteien geformt ist, entgegenzunehmen und im Urteil zu werten hat; vielmehr tritt nach Beendigung des Kreuzverhörs die Aufgabe des Gerichts, das zur Erforschung der Wahrheit Erforderliche zu tun (§ 244 Abs. 2) wieder in Kraft und der Vorsitzende hat demgemäß auch nach dem Kreuzverhör die ihm zur weiteren Aufklärung der Sache erforderlich erscheinenden Fragen an die Zeugen und Sachverständigen zu richten (§ 239 Abs. 2). Das Kreuzverhör in dieser Form hat keine praktische Bedeutung erlangt; in den seltensten Fällen wird von ihm Gebrauch gemacht. Das mag sich daraus erklären, daß im System eines Verfahrensrechts, das dem Gericht die Aufgabe zuweist, die materielle Wahrheit als Grundlage seines Urteils zu erforschen, das Kreuzverhör sich als ein Fremdkörper darstellt und auch von den an die Formen des deutschen Strafprozesses gewöhnten Beteiligten so empfunden wird. So fehlt es denn völlig an praktischen Erfahrungen für eine Prognose, mit welchen Ergebnissen zu rechnen wäre, wenn die Beweisaufnahme nach dem Vorbild des anglo-amerikanischen Rechts umgestaltet würde, von dem die Befürworter einer solchen Reform sich eine Abhilfe gegenüber den Mängeln des deutschen Rechts und im Ergebnis eine Verminderung von Fehlurteilen versprechen. Die Mängel des geltenden Rechts sehen seine Kritiker zunächst darin, daß der Vorsitzende (und neben ihm der Berichterstatter oder auch alle richterlichen Mitglieder des Gerichts) die Akten des Vorverfahrens kennt. Nach den Ergebnissen des Vorverfahrens könne er bereits eine mehr oder weniger feste Vorstellung von der Schuld des Angeklagten erlangt haben, die auf die Art seiner Verhandlungsleitung nicht ohne Einfluß sei. Es liege dann nahe, daß er seine Aufgabe darin sehe, den Angeklagten im Sinne der Anklage zu überführen. Auch verliere er, durch die Tätigkeit des Inquirierens in Anspruch genommen, den freien Uberblick. Die Befürchtung oder gar die aus dem Verhalten des Vorsitzenden entnehmbare Erkenntnis, daß dieser ihn bereits für schuldig halte, nehme dem Angeklagten den Glauben an die Unbefangenheit und Unparteilichkeit des Gerichts und hemme ihn in seiner Verteidigung, die ohnedies dadurch beschränkt sei, daß der Angeklagte nicht alles ihm geeignet erscheinende Entlastungsmaterial selbst aufbieten könne, sondern auf die Stellung von Be-

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Kap. 11

Einleitung (Schäfer)

B1 weisanträgen angewiesen sei und in der Furcht lebe, ob seinen Anträgen auch stattgegeben werde. Im englischen Strafprozeß 78 liegt es freilich entscheidend anders. Der englische Richter (übrigens stets ein ehemaliger Verteidiger) kennt keine Akten. Seine Stellung „läßt sich wohl am besten mit der eines Schiedsrichters in einem Fußballkampf oder eines Ringrichters in einem Boxkampf vergleichen" 79 . Er überwacht das fair play der Parteien. Er kann keine Zeugen laden, es gibt keine Beweisanträge, über die er zu entscheiden hätte, ihm obliegt nicht die Befragung des Angeklagten und die Vernehmung der Zeugen. Denn ein Richter, der selbst Zeugen vernimmt, „steigt sozusagen selbst in die Arena und ist in Gefahr, daß sein Blick vom Staub des Konflikts verdunkelt wird" 80 . Die Beweisaufnahme liegt vielmehr in vollem Umfang in den Händen der Parteien (des Staatsanwalts und des Verteidigers); sie bestimmen selbst und ausschließlich über Art und Umfang der Beweisaufnahme. Der englische Staatsanwalt 81 (übrigens kein berufsmäßiger Staatsanwalt, sondern ein Verteidiger, dem diese Rolle übertragen ist) ist — anders als sein deutscher Kollege (§§ 160 Abs. 2, 296 Abs. 2) — nicht gehalten, auf die Erforschung der materiellen Wahrheit auch zugunsten des Angeklagten hinzuwirken, sondern sieht seine Aufgabe darin, der Anklage zum Erfolg zu verhelfen. Jede Partei vernimmt zunächst die von ihr benannten Zeugen — auch der Angeklagte kann „in den Zeugenstand gerufen" werden — (examination-in-chief), dann folgt „cross-examination" durch den Gegner mit der Möglichkeit einer reexamination durch den ursprünglich Vernehmenden. Urteilsgrundlage ist lediglich das Beweismaterial, das die Parteien dazu bestimmen. Dazu tritt ein System von Beweisregeln, das dem deutschen Strafprozeß (vgl. § 261 StPO) fremd ist. 82 . Allerdings wird dem englischen Richter auch nicht zugemutet, auf der Grundlage dieser ohne sein Mitwirken erarbeiteten „formellen Wahrheit" über die Schuld des Angeklagten zu entscheiden. Diese Entscheidung erfolgt vielmehr durch den Wahrspruch der Geschworenen und die Mitwirkung des Richters beschränkt sich auf die Rechtsbelehrung der Geschworenen und den Strafausspruch, wenn der Wahrspruch auf schuldig lautet. Gerade darin, daß die Schuldfeststellung nicht beim Richter liegt und ihn niemals der Vorwurf mangelhafter Sachaufklärung und falscher Beweiswürdigung treffen kann, liegt der Grund seines hohen Ansehens, seine Autorität und „Macht" 83 . Gegen ein solches Urteil gibt es aber auch kein Rechtsmittel nach Art des deutschen Strafprozeßrechts. Der Freispruch ist jeder Anfechtung entzogen 84 und die sehr beschränkte Anfechtung der Verurteilung führt weder zu einer erneuten Nachprüfung in einer Tatsacheninstanz noch, wie die Revision des deutschen Rechts, zu einer umfassenden rechtlichen Nachprüfung, die ja nur auf der Grundlage eines ausführlich begründeten schriftlichen Urteils erfolgen könnte. Zur Abrundung des Bildes ist wichtig zu wissen, daß in England nur etwa 2% aller Strafsachen in dem geschilderten Verfahren unter richterlichem Vorsitz abgeurteilt werden; die übrigen 98% werden durch Magistrates — Laien-Friedensrichter — erledigt.85. Die Entwürfe haben sich gegenüber den Wünschen einer Umgestaltung des Hauptverfahrens zum Parteiprozeß bisher ablehnend verhalten. Art. 70 Nr. 133 EGStGB-Entw. 1930 schlug lediglich vor, das Kreuzverhör auch auf die von Amts wegen geladenen Zeugen und Sachverständigen zu erstrecken. Die Begr. (S. 83) bemerkt dazu, an die Erörterungen auf dem Salzburger Juristentag 1928 86 anknüpfend, „die zur Zeit noch nicht genügend geklärte 78

Vgl. dazu u. a. G r ü n h u t ZStrW 71 (1959) Mitteilungsblatt S. 144 und A l l e n ZStrW 72 (1960) Mitteilungsblatt S. 154ff., R e y n o l d s DRiZ 1962 74; 1964 127; M a x H i r s c h b e r g , D a s amerik. und deutsche Strafverfahren in rechtsvergleichender Sicht, 1963; H e r r m a n n , Beweisaufnahme durch die Parteien und Kreuzverhör im anglo-amerikanische Strafverfahren ZStrW 8 0 [19681 775 ff. und dazu der Bericht über das Kolloquium „Reform der deutschen Hauptverhandlung" in ZStrW 80 [1968] 815 ff. " A l l e n 157; s. auch H e r r m a n n ZStrW 80 [1968] 778 ff. 80 Ausspruch eines englischen Richters nach A l l e n aaO. 81 Über den Staatsanwalt im amerikan. Recht s. H ä n d e l D R i Z 1961 357. 82 H ä r t u n g in Festschrift für Rosenfeld (1950) S 231 ff. 83 G r ü n h u t aaO. 84 A l l e n 177. 85 G r ü n h u t aaO. 86 Vgl. 35. DJT S. 134 ff. - Graf zu Dohna - und S. 441 ff. - Alsberg - .

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Die Prozeßmaximen

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Frage" müsse einer späteren Gesamtreform der StPO überlassen werden, um so mehr, als gewichtige Stimmen aus den Kreisen der Wissenschaft und insbesondere der Praxis sich über die angeblichen Vorzüge des Kreuzverhörs sehr skeptisch ausgesprochen hätten. Selbst der Vorschlag der Reichsratsvorlage, das Zustandekommen eines Kreuzverhörs dadurch zu erleichtern, daß der Vorsitzende befugt sein sollte, schon auf Antrag einer der Parteien das Kreuzverhör anzuordnen, hatte im Reichsrat keine Mehrheit gefunden. Der StPO-Entwurf 1939 wollte das Kreuzverhör überhaupt beseitigen, weil es mit der Pflicht des Gerichts, die Wahrheit von Amts wegen zu erforschen, unvereinbar sei und in der gerichtlichen Praxis kaum Leben gewonnen habe. „Wurde es gelegentlich angewandt, so hat es meist dann versagt, wenn es auf die schwierige Feststellung innerer Tatsachen ankam. Die Gefahr eines Mißbrauchs, insbesondere durch suggestive Fragen, kann auch dadurch nicht ganz ausgeschlossen werden, daß der Vorsitzende nach der Regelung des bisherigen Rechts bei Mißbrauch einschreiten und nach Abschluß des Kreuzverhörs selbst ergänzende Fragen stellen kann". In Vorwegnahme dieser Reformpläne wurde das Kreuzverhör durch die 2. VereinfachungsVO v. 13.8.1942 (oben S. 16) beseitigt, durch das Rechtsvereinheitlichungsgesetz v. 12. 9. 1950 aber wieder in der bisherigen Form eingeführt. Aber auch in der Zeit danach hat das Kreuzverhör keine praktische Bedeutung erlangt. Dagegen hatte die deutsche Fachwelt Gelegenheit, in der Zeit nach dem 2. Weltkrieg, als Besatzungsgerichte in Anlehnung an die Grundsätze des anglo-amerikanischen Prozeßrechts auf deutschem Boden Recht sprachen, sich an Ort und Stelle ein Bild über die Handlung des Kreuzverhörs und seine angeblichen Vorzüge zu machen. Das Ergebnis dieser, freilich in einer ressentimentsgeladenen Zeit gewonnenen und deshalb nicht allgemein gültigen Erfahrungen hat N i e t h a m m e r unter Verweisung auf seine Ausführungen in JZ 1951 132 in der 20. Auflage dieses Werkes (S. 31) in die Worte gefaßt: „Die Lehre, die gezogen werden konnte, als fremde Gerichte das Kreuzverhör auf deutschem Boden gegen deutsche Angeklagte anwandten, läßt den Wunsch nicht aufkommen, daß diese Art der Beweiserhebung in der deutschen Strafrechtspflege Leben gewinne und sich ausbreite". Und ebenso meint E b S c h m i d t Lehrkomm. I [2] Rz. 365: „Daß unser Verfahrensrecht uns vor einem Anwalt des Staates bewahrt hat, der prozeßrechtlich in der Lage wäre, entlastendes Material zu unterdrücken, nur um als Partei die Anklage zu halten und die Verurteilung durchzusetzen, das sollte man gerade nach den Erfahrungen, die uns die Tätigkeit anglo-amerikanischer Ankläger in Prozessen auf deutschem Boden vermittelt hat, als eine niemals preiszugebende Errungenschaft zu würdigen wissen". Insgesamt überwiegen in der Nachkriegszeit im Schrifttum die ablehnenden Stimmen 87 . Dagegen sieht M. H i r s c h f e l d 8 8 , freilich mit wenig überzeugenden Gründen 89 , in der Übernahme des Parteiprozesses ein Mittel zur Verhütung von Fehlurteilen. Eine Beweisaufnahme nach anglo-amerikanischem Vorbild ausschließlich in der Hand der Parteien ist überhaupt nur denkbar in einem Verfahren, in dem nicht ein mit rechtsgelehrten Richtern (neben Laienrichtern) besetztes Gericht über Schuld oder Nichtschuld entscheidet. Denn es ist — jedenfalls nach unseren Rechtsvorstellungen — ein unzumutbares Verlangen an den Richter, daß er eine solche Entscheidung treffe, solange er nicht die Überzeugung erlangt hat, daß alles zur Erforschung der Wahrheit Mögliche und Nötige getan sei. Es ist wohl denkbar — wie es im alten Schwurgericht mit seiner Trennung von Richter — und Geschworenenbank der Fall war und im anglo-amerikanischen Strafprozeß noch ist —, dem Richter die Schuldfeststellung abzunehmen und sie dem Wahrspruch der Geschworenen zu überlassen und den Richter auf die Straffrage zu beschränken. Überträgt man dem Richter aber auch die Schuldfeststellung, so muß er unabdingbar auch die Möglichkeit 87

88 89

S. a u ß e r den-im Text Genannten u . a . B a d e r N J W 1949 737 ff.; derselbe in „Strafprozeß und Rechtsstaat" in der Festschrift für Pfenniger (1956) S. 8; derselbe J Z 1962 720 „ . . . die schweren Unzulänglichkeiten des englischen Strafverfahrens mit seinen halb antiquierten, halb spielerischen B e w e i s r e g e l n . . . " ; D a h m , Deutsches Recht 1951 6 3 6 ; E b S c h m i d t M D R 1951 X ff.; D R i Z 1957 279; P e t e r s [2] 303 (Gefahr suggestiver Einflüsse des Kreuzverhörs a u c h bei strenger richterlicher Kontrolle); H e n k e l [2] 109; G r ü t z n e r , G A 1967 221, 222: „ W ü r d e diese A r t von Kreuzverhör in Deutschland eingeführt, dann würde wohl k a u m einer die Neigung haben, als Zeuge auszusagen, sondern alle Möglichkeiten ausnutzen, dem zu entgehen". D a s Fehlurteil im Strafprozeß (1960). Treffend dagegen K l e i n k n e c h t G A 1961 4 5 f f .

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Kap. 11

Einleitung (Schäfer)

B2 haben, den Sachverhalt selbst so aufzuklären, daß er einen Spruch mit seinem Gewissen und seiner Überzeugung vereinbaren kann. Ein Schuldspruch auf der Grundlage einer lediglich von den Parteien erbrachten formellen Wahrheit wäre ein sacrificium intellectus 90 . Solange es also dabei bleibt, daß der Richter auch über die Schuldfrage entscheidet, wäre eine Annäherung an das System des anglo-amerikanischen Rechts nur in dem Sinne diskutabel, daß zwar den Parteien das Recht des (gegenüber dem geltenden Recht erweiterten) Kreuzverhörs zusteht, dem Gericht aber das Recht und die Pflicht verbleibt, eine ihm unvollständig erscheinende Beweisaufnahme zu ergänzen. Für solche Übergangsformen und Kombinationen des Untersuchungsgrundsatzes mit dem Verhör durch die Beteiligten, die die inquirierende Tätigkeit des Richters in der Hauptverhandlung zurücktreten lassen, finden sich Vorbilder im ausländischen Recht 91 . Ob sie aber bessere Ergebnisse versprechen als das geltende deutsche Recht, das doch immerhin auf eine jahrzehntelange Bewährung zurückblicken kann, ist eine ganz andere und hier nicht zu erörternde Frage. Immerhin gibt es auch in England Reformtendenzen, die auf die Übernahme von Grundsätzen des kontinentalen Strafprozesses abzielen (vgl. R e y n o l d DRiZ 1964 16); s. auch Bottoms JZ 1970 477,481). b) Die Wirkung der Anklage ist vor allem, daß sie den Prozeßgegenstand fest umgrenzt: Das gerichtliche Verfahren erstreckt sich nach § 155 Abs. 1 nur auf die in der Klage bezeichnete Tat (vgl. dazu § 264) und die durch die Klage beschuldigten Personen; nur unter den Voraussetzungen des § 266 kommt die Einbeziehung weiterer, in der Hauptverhandlung hervorgetretener Straftaten des Angeklagten in Betracht. Diese den Schutz des Beschuldigten gegen willkürliche Ausdehnung des gerichtlichen Verfahrens bezweckende Regelung richtet sich historisch gegen den Mißbrauch richterlicher Machtbefugnisse in der polizeistaatlichen Zeit des gemeinrechtlichen Inquisitionsprozesses ( E b S c h m i d t Lehrkomm. I [2] Rz. 353). c) In einer Reihe von Fällen findet ein gerichtliches Verfahren statt, ohne daß eine förmliche Anklage erhoben ist. Eine Durchbrechung des Anklagegrundsatzes liegt aber in diesen Fällen nicht vor, vielmehr treten an die Stelle der Anklage Anklagesurrogate, so beim Sicherungsverfahren (§ 429 b Abs. 2), beim selbständigen Einziehungsverfahren (§ 440) und beim Strafbefehlsverfahren (§ 407 Abs. 1) der Antrag der Staatsanwaltschaft, beim Strafverfiigungsverfahren der Antrag der Polizeibehörde (§ 413), beim Strafbefehlsverfahren wegen Steuervergehen der Antrag des Finanzamts (§ 435 RAbgO). 2. Das Anklagemonopol des Staatsanwalts. Die Erhebung der öffentlichen Klage steht grundsätzlich der Staatsanwaltschaft zu (§ 152 Abs. 1), die die Anklage auch in der Hauptverhandlung vertritt und ihre Anträge zum Urteil stellt (§ 258). Dieser Grundsatz ist aber nach mehreren Richtungen durchbrochen. Bei bestimmten Delikten, die das öffentliche Interesse weniger berühren, ist es dem Verletzten überlassen, durch Erhebung einer Privatklage die Verfolgung und Entscheidung herbeizuführen (§ 374). Soweit diese Möglichkeit besteht, wird die öffentliche Klage nur erhoben, wenn es im öffentlichen Interesse liegt (§ 376); doch steht es der Staatsanwaltschaft frei, ein auf Privatklage eingeleitetes Verfahren durch Übernahme der Verfolgung in ein Offizialverfahren umzuwandeln (§ 377). Nach Erhebung der öffentlichen Klage durch den Staatsanwalt kann neben ihm und mit selbständigen Rechten der Nebenkläger auftreten (§§ 395,397). Darüber, daß anstelle des Staatsanwalts im Strafverfügungsverfahren die Polizeibehörde, im Strafbefehlsverfahren in Steuersachen das Finanzamt antragsberechtigt ist, s. o. 90

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Übrigens setzt das Kreuzverhör stets voraus, daß der Angeklagte einen Verteidiger hat, der ihm, wenn er ohne die Mittel zur Bestellung eines Wahlverteidigers wäre, von Amts wegen bestellt werden müßte; die Verteidigung wäre immer obligatorisch. Das würde nicht nur für die schwerere Kriminalität gelten, die in England (s. S.136) allein vor den Richter kommt, sondern auch für die Masse der der Fälle aus dem Bereich der mittleren Kriminalität, die der deutsche Richter abzuurteilen hat. Oder sollte dann zweierlei Beweisrecht gelten? Vgl. die Darstellungen des skandinavischen und des spanischen Rechts in ZStrW 72 (1960) Mitteilungsblatt 110ff. Vgl. ferner G. T a c k e n b e r g , Kreuzverhör und Untersuchungsgrundsatz im spanischen Strafprozeß (1960) und dazu G e e r d s GA 1961 159, ferner K l GA 1961 53.

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Die Prozeßmaximen

Kap. 11 B3

Als Ausgleich dafür, daß der Verletzte, soweit er nicht im Wege der Privatklage gegen den Täter vorgehen kann, infolge des Anklagemonopols der Staatsanwaltschaft keine Möglichkeit besitzt, selbst ein Strafverfahren herbeizuführen, wenn der Staatsanwalt die Erhebung einer Klage ablehnt, gewährt ihm § 172 StPO das Recht, unter den dort bezeichneten Voraussetzungen die Erhebung der Anklage durch den Staatsanwalt zu erzwingen. Die Klageerzwingungsmöglichkeit reicht soweit, als das Legalitätsprinzip (unten zu 3) gilt, erfaßt also nach überwiegend vertretener Auffassung auch das Jugendstrafverfahren, in dem das Legalitätsprinzip durch § 45 J G G zwar in weiterem Umfange aufgelockert, aber nicht grundsätzlich durch das Opportunitätsprinzip ersetzt ist (OLG Braunschweig NJW 1960 1214; G r e t h l e i n - B r u n n e r [3] 1 zu § 45 J G G m. w. Nachw.). Die Verwaltung des Anklagemonopols und die Wahrung des Legalitätsprinzips ist also in diesem Umfange der gerichtlichen Kontrolle unterstellt. 3. Die Verfolgungspflicht. a) Die Kehrseite des Anklagemonopols, eine zwangsläufige Folgerung daraus, ist der durch § 346 StGB mit Strafschutz ausgestattete Grundsatz der Verfolgungspflicht (Legalitätsprinzip), ohne den eine rechtsstaatlichen Anforderungen genügende Strafrechtspflege undenkbar erscheint. Nach § 152 Abs. 2 ist die Staatsanwaltschaft, soweit nicht gesetzlich ein anderes vorgeschrieben ist, verpflichtet, wegen aller gerichtlich strafbaren und verfolgbaren Handlungen einzuschreiten, sofern zureichende tatsächliche Anhaltspunkte vorliegen. Die Verpflichtung der Polizei zum ersten Angriff von Amts wegen ist in § 163 und ihre Pflicht zur Mitwirkung bei der Verfolgung kraft Ersuchens in §§ 161,189 ausgesprochen. Der Verfolgungsgrundsatz ist aber von einer Reihe von Ausnahmen durchbrochen („soweit nicht gesetzlich ein anderes bestimmt ist"). Die Verfolgungspflicht entfällt dann mit der Folge, daß an die Stelle der Verfolgungspflicht Ermessensfreiheit (Opportunitätsprinzip) 92 tritt. Dies ist von jeher der Fall a) wenn die Tat im Wege der Privatklage verfolgt werden kann, es sei denn — worüber der Staatsanwalt nach pflichtmäßigem Ermessen entscheidet — daß ein öffentliches Interesse an der Verfolgung besteht (§§ 374,376). ß) im objektiven Einziehungsverfahren (§ 440). y) Weitaus bedeutsamer als diese Fälle sind die in den § § 1 5 3 bis 154 StPO und in § 45 J G G geregelten Ausnahmen vom Verfolgungszwang. Sie sind erst in einem späten Stadium der Geltung der StPO — beginnend mit der Lockerung des Verfolgungszwanges bei Übertretungen durch die Emminger-VO v. 4. 1. 1924 (oben S. 7) — geschaffen und nach und nach bis in die jüngste Zeit ausgebaut worden. Sie dienen dazu, Schärfen des Verfolgungszwangs abzumildern, wenn es sich handelt um Bagatellfälle (§ 153 Abs. 1), um Fälle von geringer Schuld und unbedeutenden Tatfolgen (§§ 153 Abs. 2, 153 a), um außerhalb der Bundesrepublik und Westberlins begangene Taten, die entweder das inländische Interesse nicht berühren, oder die aus der Konfliktssituation des einer anderen Rechtsordnung unterstehenden Täters erwachsen sind (§ 153 b Abs. 1 Nr. 1), um Fälle, in denen die Ahndung der Inlandstat eines Ausländers wegen der Besonderheit des Tatorts (ausländisches Schiff oder Luftfahrzeug) dem Heimatstaat überlassen werden kann (§ 153 b Abs. 1 Nr. 2), um Fälle, in denen die Bestrafung im Hinblick auf eine bereits erfolgte oder noch zu erwartende Bestrafung nicht ins Gewicht fällt (§ 153 b Abs. 1 Nr. 3, §§ 154,154 b), um Fälle, in denen die Durchführung eines Verfahrens die Gefahr eines schweren Nachteils für die Bundesrepublik herbeiführen würde, oder in denen der Verfolgung sonstige überwiegende öffentliche Interessen entgegenstehen (§§ 153 b Abs. 2, 153 c), um Fälle von Staatsschutzdelikten, in denen der Täter in bestimmter Weise tätige Reue geübt hat (§ 153 d), um Fälle, in denen im Interesse der Vereinfachung, Beschleunigung und klareren Gestaltung des Verfahrens eine Beschränkung der Verfolgung auf den Kern der Tat unter Ausscheidung einzelner abtrennbarer Teile einer Tat oder — bei Tateinheit — einzelner von mehreren Gesetzesverletzungen angezeigt erscheint, weil die ausgeschiedenen Teile für die zu erwartende Strafe oder Maßregel der Sicherung und Besserung nicht ins Gewicht fallen (§ 154 a), um Fälle, in denen we92

Vgl. H e i n i t z , Zweifelsfragen des Opportunitätsprinzips in Festschrift für Rittler 1957.

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Kap. 11

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B3 gen einer besonderen Konfliktssituation ein strafrechtliches Einschreiten unbillig wäre (§ 154 c), um Fälle, in denen die Auslieferung oder Ausweisung eines Täters eine inländische Verfolgung entbehrlich macht (§ 154 b) und schließlich um die Fälle, in denen die besonderen Aufgaben und Ziele des Jugendstrafrechts auf anderem Wege erreichbar sind (§ 45 JGG). Eine besondere Lage berücksichtigt § 154d, der dem Mißbrauch vorbeugen will, daß das Strafverfahren als kostenlose Vorbereitung eines Zivilprozesses oder eines sonstigen vor andere Gerichte gehörenden Rechtsstreits benutzt wird. Die Lockerung des Verfolgungszwanges als prozessuale Einrichtung ist an sich nicht zu verwechseln mit der materiellrechtlichen Lockerung des Strafzwangs, die dann gegeben ist, wenn das sachliche Recht es in das Ermessen des Gerichts stellt, von Strafe abzusehen (vgl. z. B. § 158 StGB); § 153 a StPO läßt aber den Verfolgungszwang entfallen, wenn nach materiellem Recht das Gericht von Strafe absehen darf. Die Entscheidung über die Abstandnahme von der Verfolgung trifft teils allein die Staatsanwaltschaft 9 3 , teils ist sie an die Zustimmung des Gerichts gebunden. Das Gegenstück zur Verfolgungspflicht des Staatsanwalts ist die Untersuchungspflicht des mit der Anklage angegangenen Gerichts (§ 155 Abs. 2). Auch sie ist von Ausnahmen durchbrochen. Der Grundsatz, daß die Anklage nach Eröffnung der Voruntersuchung oder des Hauptverfahrens nicht mehr zurückgenommen werden kann (§ 156), zwang zu Abhilfemöglichkeiten für den Fall, daß die Voraussetzungen, unter denen die Anklageerhebung nach §§ 153 ff. unterbleiben kann, erst nach Eröffnung der gerichtlichen Untersuchung zutage treten. Das Gesetz sieht hier teils die Zurücknahme der Klage „in jeder Lage des Verfahrens" (§§ 153 b Abs. 3, 153 c Abs. 2), teils die Einstellung des Verfahrens durch das Gericht auf Antrag oder mit Zustimmung des Staatsanwalts vor, jedoch ist eine solche Einstellung durch gerichtlichen Beschluß nur in einem Teil der Fälle möglich, in denen der Staatsanwalt von der Verfolgung absehen darf (§§ 153 Abs. 3, 153 a Abs. 2, 153 d Abs. 2, 154 a Abs. 2, 154 b Abs. 4 StPO, § 47 J G G im Gegensatz zu § 154 c StPO). Bei Privatklagesachen ist es in der Natur der Sache begründet, daß die Einstellung wegen Geringfügigkeit durch das Gericht erfolgt (§§ 383 Abs. 2, 390 Abs. 5) und einer Zustimmung des Privatklägers nicht bedarf. D a ß die Gesetzgebung von einem bestimmten Zeitpunkt an und fortan von Mal zu Mal die Verfolgungspflicht mit Rücksicht auf Besonderheiten des Einzelfalles in der vorgeschilderten Art einschränkte, während die StPO im Zeitpunkt ihres Inkrafttretens im Jahre 1879 Einschränkungen dieser Art nicht kannte, ist, soweit es sich um die Einstellung wegen Geringfügigkeit handelt, in der Hauptsache auf den stark vermehrten Anfall von Strafsachen zurückzuführen, der sich seinerseits durch gewisse technische Entwicklungen (Verkehrsdelikte), im übrigen aber im wesentlichen daraus erklärt, daß, etwa seit dem Ende des ersten Weltkrieges und seitdem in ständig zunehmendem Maß der Gesetzgeber einen Lebensbereich nach dem anderen ordnend erfaßte und mit Strafschutz ausstattete, insbesondere durch Schaffung zahlloser Übertretungstatbestände im Nebenstrafrecht. Der dadurch einsetzenden Überflutung der Strafjustizbehörden mit Fällen von Bagatellunrecht war nur durch Lokkerung des Verfolgungszwanges zu begegnen, wobei die Gesetzgebung schließlich dazu überging, die Sonderung der strafwürdigen Übertretungsfalle von den einer Reaktion nicht bedürftigen Gesetzesverletzungen im Einzelfall schon im Vorfeld den Polizeibehörden zu übertragen (vgl. S. 60). Bei der die neuere Rechtsentwicklung kennzeichnenden Abscheidung des Bagatellunrechts, des Ordnungsrechts, von der ernsteren Rechtsgutverletzung, dem kriminellen Unrecht, ist die Lehre aus diesen Erfahrungen gezogen und folgerichtig die Verfolgung und Ahndung der Ordnungswidrigkeiten dem Opportunitätsprinzip unterstellt worden (oben S. 31). Freilich wird auch mit der künftigen vollständigen Umgestaltung der Übertretungen des bisherigen Rechts in Ordnungswidrigkeiten im Kriminalstrafrecht das 93

D a s Absehen von Verfolgung ist im allgemeinen von der Absicht einer endgültigen Erledigung des Verfahrens getragen, ohne daß mit der Einstellung des Verfahrens durch die Staatsanwaltschaft der Verbrauch der Strafklage verbunden wäre. Es gibt aber auch Fälle, in denen die Einstellung von vornherein nur vorläufig erfolgt (vgl. § 154 Abs. 3 , 4 ) . Ein Fall der Ausnahme von der Verfolgungspflicht liegt nicht vor, wenn die Staatsanwaltschaft vorübergehend mit ihrem Verfahren innehält, etwa wegen tatsächlicher Hindernisse i. S. des § 205 oder um — von dem Fall des § 154d abgesehen — die Klärung einer präjudiziellen Vorfrage abzuwarten. Vgl. dazu K r a u s e , Die vorläufige Einstellung von Strafsachen praeter legem, G A 1969 97.

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Bedürfnis für Ausnahmen vom Verfolgungszwang aus der besonderen Lage des Einzelfalles nicht entfallen, aber der Grundsatz wieder reiner hervortreten, daß auf dem Gebiet des Kriminalunrechts die Verfolgung die Regel, die Nichtverfolgung die relativ seltene Ausnahme bildet. Weitgehende Aushöhlung des Verfolgungszwangs, wie sie § 15 des StPOEntw. 1939 vorsah (oben S. 41), würde das Mißtrauen nähren, daß es entgegen dem Gleichheitsgrundsatz (Art. 3 Abs. 1 GG) dem einflußreichen Rechtsbrecher auf dem Wege über Weisungen der Exekutive (§ 146 GVG) gelingen könnte, sich der verdienten Strafe zu entziehen. b) Eine besondere Lage ergibt sich, wenn die Verfolgung von dem Antrag des Verletzten oder einer sonstigen Erklärung einer dritten Person oder Stelle (vgl. oben S. 124) abhängt, deren Fehlen die Verfolgung hindert, falls diese Erklärung zwar nicht vorliegt, aber noch beibringbar ist. Dann bewirkt der Umstand, daß die Erklärung noch nicht abgegeben ist, keineswegs, daß dem Staatsanwalt jede Verfolgungstätigkeit verboten oder er von jeder Verfolgungspflicht von vornherein befreit wäre. Vielmehr ist er zunächst verpflichtet, eine Stellungnahme des Einwirkungsberechtigten herbeizuführen, ohne seinen Entschluß, ob er die Verfolgung begehrt oder nicht, zu beeinflussen. Ferner ist es während des Schwebezustandes Sache des Staatsanwalts, alles Erforderliche für den Fall zu tun, daß die gesetzlichen Verfolgungsvoraussetzungen eintreten (der Antrag gestellt, die Ermächtigung erteilt wird usw.), insbesondere Beweise zu sichern, eine Beschlagnahme anzuordnen, den Verdächtigen vorläufig festzunehmen oder den Richter um Erlaß eines Haftbefehls anzugehen (RGSt. 33 381). Die Verfolgungspflicht wird erst dann von dem aus einem Verfahrenshindernis sich ergebenden Verfolgungsverbot verdrängt, wenn der Ausfall der Verfahrensvoraussetzung feststeht, also z. B. der Antragsberechtigte erklärt, einen Strafantrag nicht stellen zu wollen oder die Antragsfrist ungenutzt abgelaufen ist. c) Die Verfolgungspflicht besteht nach § 152 Abs. 2 wenn „zureichende tatsächliche Anhaltspunkte vorliegen". Die Anforderungen nach dieser Richtung sind naturgemäß in den einzelnen Stadien des Verfahrens verschieden. Zum ersten Einschreiten genügt bereits Kenntnis vom Verdacht einer strafbaren Handlung: die Verfolgungspflicht besteht hier in der Erforschung des Sachverhalts bis zur Gewinnung eines Urteils, ob die öffentliche Klage zu erheben ist (§ 160). Die Anklage in Befolgung des Legalitätsgrundsatzes ist nach § 170 zu erheben, wenn die Ermittlungen „genügend Anlaß" zur Erhebung der öffentlichen Klage bieten 94 . Soweit es sich um die tatsächliche Würdigung des Ermittlungsergebnisses handelt, bedeutet dies, wenn die unmittelbare Erhebung der Anklage nach § 199 StPO in Frage steht, in der Regel, daß der Beschuldigte einer strafbaren Handlung hinreichend verdächtig im Sinne des § 203 sein muß, d. h. es muß in tatsächlicher Hinsicht eine Verurteilung wahrscheinlich 95 , die Erbringung des vollen Beweises in der Hauptverhandlung eher zu erwarten sein als ein non liquet. Denn nur wenn diese Voraussetzung gegeben ist, darf das Gericht die Eröffnung des Hauptverfahrens beschließen; aus dem Zusammenspiel der Verfahrensakte aber folgt ohne weiteres, daß die Erhebung der Anklage im allgemeinen nur gerechtfertigt ist, wenn der Staatsanwalt den Erlaß eines Eröffnungsbeschlusses erwarten kann (vgl. Anm. 5 zu § 170). Dagegen setzt die Erhebung der Anklage durch Antrag auf Eröffnung der Voruntersuchung notwendigerweise ein geringeres Maß von Verdachtsgründen voraus, da ja die Aufgabe der Voruntersuchung gerade in der weiteren Sachaufklärung besteht. Sehr streitig ist dagegen, wann für den Staatsanwalt „genügender Anlaß" zur Klageerhebung vorliegt, wenn die Beurteilung der Strafbarkeit oder Verfolgbarkeit von der Beantwortung zweifelhafter Rechtsfragen abhängt 96 . Für das über eine Anklage beschließende 94

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96

Vgl. hierzu im einzelnen L ü t t g e r , Der „genügende Anlaß" zur Erhebung der öffentlichen Klage, GA 1957 193 ff. Ausnahmsweise darf trotz eigener Zweifel der Staatsanwalt Anklage erheben, um eine richterliche Entscheidung herbeizuführen, wenn es wegen der Bedeutung des Prozeßstoffs und der Anteilnahme der Öffentlichkeit geboten erscheint, die Entscheidung dem unabhängigen Richter zu überlassen (vgl. G ü d e NJW 1960 519). Die Diskussion um dieses bis dahin sporadisch als Randproblem behandelte Thema entbrannte i. J. 1960 mit der Veröffentlichung der im Text erwähnten und aus besonderem Anlaß ergangenen

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Kap. 11

Einleitung (Schäfer)

B3 Eröffnungsgericht besteht hier kein Problem. Denn der unabhängige Richter entscheidet auch bei Rechtsfragen, soweit er nicht ausnahmsweise an die Rechtsauffassung des Revisionsgerichts (§ 358 Abs. 1) oder einer anderen Stelle (vgl. S. 126 ff.) gebunden ist, nur gemäß seiner eigenen Überzeugung und handelt auch dann gesetzmäßig, wenn er es ablehnt, sich einer „ständigen Rechtsprechung" der oberen Gerichte anzuschließen (vgl. Anm. 5 zu § 1 GVG). Darf auch der Staatsanwalt von der Anklage einer nach fester höchstrichterlicher Rechtsprechung eindeutig strafbaren Handlung absehen, weil er diese Auslegung des Gesetzes für unrichtig hält und etwa der im Schrifttum dagegen erhobenen Kritik sich anschließt? Gewiß wird der Staatsanwalt kaum jemals so verfahren und, selbst wenn ihm seine Arbeitslast Zeit ließe, sich in die Materie so zu vertiefen, daß er eine fundierte eigene Auffassung besäße, sich nicht auf seine wirklich oder vermeintlich bessere Einsicht versteifen, sondern den Rechtswirrwar bedenken, der entstehen müßte, wenn jeder Staatsanwalt nur seiner eigenen abweichenden Rechtsüberzeugung folgen wollte. Aber das sind praktische Erwägungen, die die grundsätzliche Rechtsfrage nicht berühren, ob der Staatsanwalt bei der Beurteilung des „genügenden Anlasses" von seiner eigenen Rechtsauffassung ausgehen darf, wenn er (ausnahmsweise) aus wohlerwogenen Gründen glaubt, sich der „ständigen Rechtsprechung" versagen zu müssen. Es ließe sich sehr wohl daran denken, die Antwort auf die Frage unmittelbar aus § 170 zu gewinnen, indem die mit den Worten „genügender Anlaß" angeordnete Prognose der Wahrscheinlichkeit einer Verurteilung nicht auf die tatsächliche Seite beschränkt, sondern auf die rechtliche Wertung erstreckt wird, wenn durch eine gleichförmige Rechtshandhabung — mag sie auch noch nicht zur Entstehung von Gewohnheitsrecht geführt haben — für die Strafrechtspraxis eine Rechtswirklichkeit entstanden ist, die eine Verurteilung im Falle der Anklageerhebung als gewiß erscheinen läßt (so wohl auch P e t e r s Z S t r W 68[ 1956] 383). Aber bei der Erörterung des Problems hat sich die Fragestellung verschoben. Woraus sollte sich, so wird gefragt (vgl. z. B. L ü t t g e r GA 1957 211; E b S c h m i d t MDR 1961 269), eine Bindung des Staatsanwalts bei seinen Entschließungen an Präjudizien ergeben, wenn auch der Richter (kraft seiner Unabhängigkeit) nicht daran gebunden ist und die Staatsanwaltschaft institutionell selbständig und im Einzelfall gemäß § 150 GVG von gerichtlichen Weisungen unabhängig ist? Muß der Staatsanwalt bei seiner Prognose überhaupt darauf abstellen, wie der Richter voraussichtlich die Rechtslage würdigen wird, oder ist nicht vielmehr fiir den Staatsanwalt maßgebend, welchen Antrag er selbst am Ende einer Hauptverhandlung bei Zugrundelegung seiner eigenen Rechtsauffassung stellen würde? (so z. B. K l [29] 1 A zu § 170.) Entgegen dieser die Entschließungsfreiheit des Staatsanwalts im Grundsatz bejahenden Auffassung hält BGHSt. 15 155 = NJW 1960 2 3 4 6 = JR 1961 30 den Staatsanwalt für anklagepflichtig, wenn sich auf der Grundlage einer festen höchstrichterlichen Rechtsprechung ein hinreichender Verdacht einer strafbaren Handlung ergibt, weil sich anderenfalls entgegen Art. 92 G G (Rechtsprechungsmonopol der Gerichte) der Staatsanwalt im Ergebnis dem Richter überordnete und auf dem Wege über die Weisungsbefugnis der Justizverwaltung (§§ 146,147 GVG) Strafbarkeit und Strafverfolgung nicht mehr von der Gesetzesanwendung durch unabhängige Gerichte, sondern von der Auffassung der dafür unzuständigen Exekutive abhinge. Eine Korrektur fester Ergebnisse der Rechtsprechung sei nicht Sache der Verwaltung, sondern nur des Gesetzgebers.

Entscheidung BGHSt. 15 155 und erneut, als der 45. Deutsche Juristentag 1964 es zum Verhandlungsthema erhob; dabei traten so unüberbrückbare Gegensätze in den Auffassungen zutage, daß keine Abstimmungsergebnisse zu erreichen waren (vgl. dazu Gutachten von Nowakowski, Bd. I Teil 2; Referate von S c h w a l m und H e r m a n n , Bd. II Teil D S. 7ff.; Diskussion S. 69ff). Aus dem reichen Schrifttum vgl. u. a. E b S c h m i d t MDR 1961 269; D ü n n e b i e r JZ 1961 3 1 2 ; A r n d t N J W 1961 1616; N ü s e JR 1964 281; S a r s t e d t NJW 1964 1756; K o h l h a a s DRiZ 1964 286. Daß dieses Problem trotz des damaligen literarischen Eifers mehr von dogmatischer als von praktischer Bedeutung ist, zeigt sich darin, daß es jetzt zwar allgemein von Lehrbüchern (z. B. H e n k e l [2] S. 139, 311; P e t e r s [2] 144) und Kommentaren (z. B. Kl [29] IA zu § 170 StPO; 5 vor§ 141 GVG; K o h l h a a s in der 21. Aufl. des vorliegenden Werkes Anm. 5 zu § 170) pflichtgemäß behandelt wird, einschlägige praktische Fälle aber, soweit ersichtlich, nicht mehr hervorgetreten sind. Offenbar haben praktische Vernunft und der Sinn für die Bedürfnisse der Rechtssicherheit und möglichst einheitlicher Gesetzesauslegung es nicht dazu kommen lassen, die theoretischen Gegensätze in den juristischen Alltag hineinzutragen. Der Verfasser dieser Einleitung sah keinen Anlaß, von seiner in der Vorauflage (S. 120 ff.) vertretenen Auffassung abzugeben.

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Ob dieser auch im Schrifttum vertretene 97 Gedanke eines Primats der Rechtsprechung gegenüber Staatsanwaltschaft und Justizverwaltung im Hinblick auf die institutionelle Selbständigkeit der Staatsanwaltschaft unbedingt zwingend ist, ob von einer Verletzung des Art. 92 G G gesprochen werden kann, wenn die Rechtsprechung keine Gelegenheit erhält, Entscheidungen zu fällen 98 , kann hier dahingestellt bleiben. Im Ergebnis ist jedenfalls der Auffassung des BGH beizutreten 99 . Es ist gewiß richtig, daß die Instanzgerichte auch an eine feste höchstrichterliche Rechtsprechung nicht gebunden sind. Aber das rechtfertigt nicht die Folgerung, daß der Staatsanwalt kraft des § 150 GVG nicht weniger von Präjudizien unabhängig sei als „der Richter" kraft der richterlichen Unabhängigkeit. Denn „der Richter" in toto ist keineswegs bei seiner Entscheidung völlig frei gegenüber Präjudizien, sondern unterliegt den Bindungen, die ihm im Interesse der Einheitlichkeit der Rechtsprechung auferlegt sind. Allerdings trifft diese Bindung (in Form der Anrufungs- und Vorlegungspflicht nach §§ 136, 121 Abs. 2 GVG; § 79 OWiG 1968, § 27 DAG, Ges. zur Wahrung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung der obersten Gerichtshöfe des Bundes v. 19. 6. 1968, [BGBl. I 661] und anderen entsprechenden Vorschriften) nur die Revisions- und die Rechtsbeschwerdegerichte, weil der Gesetzgeber eine ernstliche Gefahr für die Einheitlichkeit der Gesetzesauslegung nur von einem Auseinandergehen dieser Gerichte befürchtet, während er bei den Gerichten der Tatsacheninstanz die Gefahren, die sich aus der richterlichen Unabhängigkeit für die Gleichmäßigkeit der Rechtsanwendung ergeben können, dadurch als hinreichend gebannt ansieht, das ihre Urteile im Rechts mittel weg letztlich vor die Revisionsgerichte gebracht werden können. § 121 Abs. 2 GVG zeigt die zentrale Bedeutung, die die neuere Gesetzgebung mit Recht — denn was bleibt von der Rechtseinheit übrig, wenn das dem Wortlaut nach einheitlich geltende Gesetz nicht auch in der Strafrechtspflege einheitlich ausgelegt wird — dem Gedanken der Einheitlichkeit der Gesetzesauslegung beimißt (vgl. dazu Anm. 14 zu § 121 GVG) und der ihr so gewichtig erscheint, daß sie in dem zur Erreichung des Ziel gebotenen Umfang die richterliche Freiheit und Unabhängigkeit bei der Auslegung des Gesetzes zurücktreten läßt. Der Gedanke, daß die richterliche Freiheit eine Grenze an dem höheren Interesse an einheitlicher Gesetzesauslegung finden müsse, ist langsam gewachsen; erst das Rechtsvereinheitlichungsgesetz v. 12.9. 1950 hat den § 121 Abs. 2 GVG geschaffen. Die frühere Gesetzgebung hatte sich mit Vorschriften zur Erhaltung einer einheitlichen Rechtsprechung beim R G begnügt und selbst diese Vorschriften waren durch den — heute überwundenen (vgl. BGHSt. 10 94) — horror pleni in ihrer Bedeutung abgeschwächt. Art. 68 Nr. 30 EGStGB-Entw. 1930 hatte die Maßnahmen zur Erhaltung einer einheitlichen Auslegung nur vorsichtig erweitern wollen, indem er eine Pflicht zur Vorlegung an das RG vorsah, wenn ein OLG als Revisionsgericht in einer Rechtsfrage des Reichs-Straf-, Strafprozeß- oder Gerichtsverfassungsrechts von einer Entscheidung des R G abweichen wollte. Dagegen sollte die beabsichtigte Abweichung von der Entscheidung eines anderen OLG keine Vorlegungspflicht auslösen, sondern nur dem OLG die Befugnis gewähren, die Revision unter Darlegung seiner Rechtsauffassung dem R G zur Entscheidung vorzulegen. Eine weitergehende Bindung der höchstrichterlichen Besprechung der Oberlandesgerichte, so führte die Begründung (S. 41) aus, sei unerwünscht, „da ein übertriebener Präjudizienkult leicht zur Unterbindung einer gesunden Rechtsentwick97

v. K r i e s S. 484; P e t e r s ZStrW 68 (1956'» 384. Dieser Auffassung nähert sich der Gedanke von H e n k e l [2] 311, genügender Anlaß zur Erhebung der Klage bestehe, wenn eine höchstrichterliche (nicht notwendig eine „gefestigte" oder „ständige") Rechtsprechung die Strafbarkeit bejahe, weil diese Rechtsprechung „die Vermutung der Richtigkeit" für sich habe. Ähnlich auch M ü l l e r - S a x [6] 33: Der Staatsanwalt muß, auch wenn er von der Rechtsprechung nicht überzeugt ist, Anklage erheben, denn es hat „nicht er, sondern das Gericht den Rechtswillen der Gemeinschaft verbindlich zu formen". 98 Vgl. z. B. die kritischen Einwendungen von D ü n n e b i e r JZ 1961 312 und G ö b e l NJW 1961 856. "Manche Autoren, z.B. D ü n n e b i e r JZ 1961 312 treten im Ergebnis dem BGH bei, indem sie bei einer festen höchstrichterlichen Rechtsprechung in der Regel sowohl die Voraussetzungen des Gewohnheitsrechts als auch die des mit Rechtsquellencharakter ausgestatteten Richterrechts als erfüllt ansehen. Eine feste höchstrichterliche Rechtsprechung liegt nach D ü n n e b i e r im allgemeinen aber nur bei Ubereinstimmung mehrerer Gerichtskörper (mehrerer Senate des BGH, mehrerer Oberlandesgerichte) vor. Diese Gedankengänge führen z. T. zu anderen Ergebnissen als die oben im Text angestellten Erwägungen.

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B3 lung führen könnte". Die neuere Gesetzgebung hat dagegen diese Bedenken nicht geteilt, sondern dem gerade in Zeiten einer umfassenden Rechtserneuerung besonders dringlichen Anliegen nach möglichst gleichmäßiger Gesetzesauslegung in weitem Umfang den Vorrang eingeräumt. Und wie wenig begründet die Besorgnis eines Präjudizienkults im Sinne der kritiklosen Übernahme fremder Meinungen oder der resignierten Zurückstellung der eigenen Rechtsüberzeugung gegenüber Vorentscheidungen eines anderen Gerichts war, zeigt die Fülle der Vorlegungsbeschlüsse, die in Anwendung des § 121 Abs. 2 ergangen sind und noch täglich ergehen. So gesehen handelt es sich aber bei § 121 Abs. 2 nicht, wie L ü t t g e r GA 1957 211 meint, um einen seltenen Ausnahmefall einer Beschränkung der richterlichen Entscheidungsfreiheit, sondern um eine Bindung von grundsätzlicher und auch praktisch-quantitativ weittragender Bedeutung, die nicht ohne Auswirkung auf die Frage sein kann, welche Bedeutung einer festen höchstrichterlichen Rechtsprechung für die Entschließung des Staatsanwalts, ob Anklage zu erheben sei, zukommt. Die Staatsanwaltschaft ist zwar institutionell selbständig; aber sie ist an das Gesetz und damit an das Rechtsstaatsprinzip mit dem diesem immanenten Postulat der Rechtssicherheit (vgl. BVerfG NJW 1969 1059) gebunden und diese Bindung verpflichtet sie, als Organ der staatlichen Strafrechtspflege zu ihrem Teil im Interesse der Rechtssicherheit zur Verwirklichung einer einheitlichen Rechtsanwendung, mitzuwirken, auch wenn es an unmittelbaren ihr Verhalten regelnden Vorschriften fehlt. Es geht also nicht an, den Blick darauf zu richten, daß das eröffnende Amts- oder Landgericht an eine feste höchstrichterliche Rechtsprechung nicht gebunden ist und daraus zu folgern, daß für den Staatsanwalt keine weitergehende Bindung gelte. Der Gesetzgeber hat diesen Gerichten die Freiheit nicht belassen, um den Grundsatz der Unabhängigkeit und Bindungslosigkeit nicht anzutasten, sondern weil ihm insoweit eine Bindung, wie er sie den Revisionsgerichten auferlegte, zur Erreichung seines Zweckes nicht erforderlich erschien. Es muß vielmehr die Stellung, die der Staatsanwalt als „Herr" des Vorverfahrens bei seiner dieses Stadium beendenden Entschließung einnimmt, mit der Stellung des Revisionsgerichts als letzten „Herrn" im Hauptverfahren bei dessen abschließender Entscheidung verglichen werden. Wenn aber dieses Gericht bei der Entscheidung von Rechtsfragen in weitem Umfang um der Einheitlichkeit der Rechtsauslegung willen gebunden und ihm die Entscheidungsfreiheit entzogen ist, so wäre es mit den dieser Regelung zugrunde liegenden gesetzgesetzgeberischen Absichten unvereinbar, wenn der Staatsanwalt auch gegenüber einer festen höchstrichterlichen Rechtsprechung, gegenüber dem Recht, wie es in der praktischen Wirklichkeit lebt, rechtlich bindungslos wäre, zumal eine gerichtliche Nachprüfung einer Einstellungsverfügung nur unter den verhältnismäßig engen Voraussetzungen des § 172 StPO in Betracht kommt und da entfallt, wo es, wie namentlich bei den Delikten gegen den Staat und die öffentliche Ordnung, an einem durch die Tat Verletzten fehlt, während doch immerhin gerichtliche Entscheidungen mit Rechtsmitteln anfechtbar sind. Natürlich bleibt es dem so zur Anklageerhebung verpflichteten Staatsanwalt unbenommen, seine abweichende Auffassung in jeder geeigneten und prozessual zulässigen Form (durch eine an das Eröffnungsgericht gerichtete Anlage zur Anklageschrift, durch Vortrag in der Hauptverhandlung, durch Einlegung von Rechtsmitteln) zum Ausdruck zu bringen, um eine erneute gerichtliche Uberprüfung der „festen" Rechtsprechung herbeizuführen. Darüber hinaus aber wird man eine Verpflichtung des Staatsanwalts zur Erhebung der Anklage trotz eigener abweichender Rechtsauffassung, dem Grundgedanken des § 121 Abs. 2 GVG entsprechend, auch schon dann anzunehmen haben, wenn noch keine feste Rechtsprechung, wohl aber zu einer neuen oder nur gelegentlich auftauchenden Rechtsfrage bereits eine (nicht erkennbar überholte und nicht nur beiläufige) Entscheidung des BGH oder eines OLG vorliegt, die ein als Revisionsgericht erneut mit dieser Frage befaßtes O L G zur Vorlegung zwingen würde, wenn es von der Entscheidung abweichen will. Auch hier erfordert das öffentliche Interesse an einer einheitlichen Gesetzesauslegung, daß Bedenken gegen die Richtigkeit einer bereits vorliegenden höchstrichterlichen Entscheidung durch Herbeiführung einer neuen höchstrichterlichen Entscheidung, die die vorgetragenen neuen Gesichtspunkte zu würdigen hat, erledigt werden 100 . Auch solche Entscheidungen stellen (zunächst) für die Rechtshandhabung, für die Öffentlichkeit, der es auf eine bestimmte Ausb i n gleicher Weise wird der Staatsanwalt bei (eignen) Bedenken gegen die Verfassungsmäßigkeit

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legung des Gesetzes ankommt, konkretisiertes Recht dar. Der Bürger richtet sein Verhalten danach aus. Daß dies die Auffassung des Gesetzes ist, ergibt sich auch aus J 153 Abs. 1 StPO, wonach in Durchbrechung des grundsätzlichen Verfolgungsverbots Übertretungen trotz geringer Schuld zu verfolgen sind, wenn ein öffentliches Interesse an der Herbeiführung einer gerichtlichen Entscheidung besteht, und ein solches öffentliches Interesse liegt gerade auch dann vor, wenn es sich darum handelt, zur Gewährleistung gleichmäßiger Rechtsanwendung eine zweifelhafte Rechtsfrage der Klärung durch die höchstrichterliche Rechtsprechung zuzuführen. Erst recht muß unter diesem Gesichtspunkt bei Zugrundelegung des strengsten Standpunktes eine Anklagepflicht bejaht werden, wenn — was gelegentlich vorkommt, dann aber von besonderem Schaden für die Einheitlichkeit der Rechtsprechung ist — voneinander abweichende gleichrangige höchstrichterliche Entscheidungen vorliegen. Über den durch die Vorlegungspflicht nach § 121 Abs. 2 GVG bezeichneten Bereich hinaus die Anklagepflicht bei zweifelhafter Rechtslage auszudehnen, besteht allerdings keine Veranlassung. Ist also eine neu auftauchende Rechtsfrage bisher nur im Schrifttum streitig oder liegen nur widersprechende Entscheidungen von Amts- oder Landgerichten vor, so darf der Staatsanwalt seiner eigenen Rechtsüberzeugung folgen; einen Rechtssatz, daß er bei mehreren vertretbaren Auslegungsmöglichkeiten der strengeren den Vorzug einräumen müsse, gibt es nicht ( L ü t t g e r aaO. 213). Er ist aber auch nicht gehindert, entgegen seiner eigenen Auffassung Anklage zu erheben, wenn er dies zur Klärung der Streitfrage für angezeigt hält. Und er darf — das entspricht wiederum dem § 121 Abs. 2 GVG — selbst entgegen einer festen höchstrichterlichen Rechtsprechung, die zur Einstellung fuhren müßte, Anklage erheben, wenn er glaubt, daß gewichtige neue Gesichtspunkte zu einer Änderung dieser Rechtsprechung drängen. Für die Verfolgungspflicht der Polizei beim ersten Angriff (§ 163 StPO) gelten diese Ausführungen nur mit Einschränkungen. Es ist nicht Sache der Polizei als eines Hilfsorgans der Staatsanwaltschaft, in eigener Zuständigkeit über streitige Rechtsfragen zu entscheiden. Über eine feste Rechtsprechung darf sie sich nicht hinwegsetzen (BGH aaO.) und sie muß auch im übrigen, wenn die Strafbarkeit von der Beantwortung einer Rechtsfrage abhängt, dann einschreiten, wenn der Staatsanwalt zur Anklageerhebung verpflichtet ist. Bei einer unausgetragenen Streitfrage, die noch nicht Gegenstand einer höchstrichterlichen Entscheidung war, wird die Polizei im allgemeinen von dem strengeren Standpunkt ausgehen und die weitere Entschließung dem Staatsanwalt überlassen müssen. d) Nach § 146 GVG ist der Staatsanwalt an die dienstlichen Weisungen seiner Vorgesetzten einschließlich der Justizverwaltung (§ 147 Nr. 1,2 GVG) gebunden. Keinesfalls bedeutet dies eine Einschränkung des in § 152 StPO ausgesprochenen Verfolgungszwangs; das Legalitätsprinzip gilt vielmehr auch für die Justizverwaltung. Das ist heute ganz unbestritten (vgl. Anm. 3 zu § 146 GVG und BGHSt. 15 161). Das Recht, zur Nichterhebung einer Anklage anzuweisen, beschränkt sich sowohl nach der tatsächlichen wie nach der rechtlichen Seite auf den dem Staatsanwalt im Fall eigener Entschließung verbleibenden Ermessensspielraum. Weisungen, die entgegen einer klaren, einen vernünftigen Zweifel gar nicht aufkommen lassenden Sachlage erteilt worden, sind unverbindlich und setzen den, der sie erteilt und den, der sie gegen besseres Wissen befolgt, der Verfolgung nach § 346 StGB aus. Unzulässig und unverbindlich sind vor allem auch Weisungen, die sich über eine feste höchstrichterliche Rechtsprechung hinwegsetzen (BGH aaO.). Wenn Zentralbehörden bei Wahrnehmung ihres Aufgabenbereichs der Auffassung sind, daß eine solche Rechtsprechung, die durch die weisungsgemäß im Verfahren vom Staatsanwalt zur Geltung gebrachten Gegengründe nicht zu erschüttern ist, zu unvertretbaren Folgerungen und Störungen auf bestimmten Lebensgebieten führe, so steht zur Abhilfe nicht der Weg der Weisung an die Staatsanwaltschaften und Polizeibehörden, von der Verfolgung abzusehen, sondern nur der Weg zur Verfügung, eine Änderung des Gesetzes zu betreiben. 4. Die Pflicht zur Wahrheitserforschung (Instruktionsmaxime) Wie oben (S. 131) dargelegt, ist das vdrdergriindige Ziel des Strafprozesses die Erforschung und Feststellung der materiellen Wahrheit, um auf dieser Grundlage die Entscheieines Gesetzes Anklage erheben müssen, um auf die Einholung einer Entscheidung des BVerfG durch das Gericht (Art. 100 Abs. 1 GG) hinzuwirken; vgl. dazu Faller JZ 1961 478. 145

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B4 dung über Schuld oder Nichtschuld und die daraus zu ziehenden rechtlichen Folgerungen zu treffen. Dies ergibt sich aus der Summe der das Verfahren regelnden Vorschriften und würde auch gelten, wenn es an einem förmlichen Ausspruch darüber fehlte. Es ist deshalb zwar zu bedauern, aber unschädlich, daß die auf dem Ges. v. 28. 6. 1935 beruhende alte Fassung des § 244 Abs. 2: „das Gericht hat von Amts wegen alles zu tun, was zu Erforschung der Wahrheit notwendig" ist, durch die auf dem Vereinheitlichungsgesetz v. 12. 9. 1950 beruhende Neufassung abgelöst wurde, die nunmehr — wenn auch systemgemäß — sich darauf beschränkt, die Bedeutung des Obersatzes für die Beweisaufnahme in der Hauptverhandlung klarzustellen. Die Wahrheitserforschungspflicht verlangt vom Gericht (vom Tatrichter) die Benutzung aller zumutbaren Mittel, die nach der jeweiligen Verfahrenslage in Betracht kommen. Die Art der Mittel ist nicht begrenzt. Zulässig und geboten ist jedes Mittel, das nach den Beweisbedürfnissen und der Beweislage des einzelnen Falles Aufklärungserfolg verspricht. Dem Grundsatz der freien Beweiswürdigung (§ 261) entspricht die grundsätzliche Freiheit in der Wahl der Mittel, deren Gebrauch die Wahrheit fordern kann (BGH N J W 1960 2156). Die Grenzen dieser Freiheit ergeben sich aus den Ermittlungs-, Beweis- oder Beweisverwertungsverboten, die in Einzelvorschriften ausgesprochen sind oder aus allgemeinen Grundsätzen, insbesondere aus der Achtung der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 G G ) hervorgehen. Näheres dazu unten Kap. 12 (S. 167). Eine weitere Ausprägung des genannten Obersatzes enthält § 155 Abs. 2, wonach die Gerichte zu einer selbständigen — also von Amts wegen zu entfaltenden — „Tätigkeit" (zur Erforschung der Wahrheit) berechtigt und verpflichtet sind. Die Wahrheitserforschungspflicht macht sich also keineswegs nur in der Beweisaufnahme geltend, verlangt vielmehr bei jeder richterlichen Entschließung und Tat Gehorsam, schon bei der Frage, ob das Hauptverfahren zu eröffnen sei. Hat der Staatsanwalt eine Klageschrift eingereicht, ohne genügende Ermittlungen zur Vorbereitung der Klage angestellt zu haben, so ist das eröffnende Gericht berechtigt und verpflichtet, gemäß § 202 vorzugehen, gegebenenfalls auch dem Staatsanwalt eine Ergänzung seiner Ermittlungen anheimzugeben (RGSt. 76 255). Auch die Vorbereitung der Hauptverhandlung, insbesondere die Entscheidung des Gerichts über Beweisanträge des Angeklagten und die Entschließung des Vorsitzenden über die von Amts wegen zu treffende Anordnung der Ladung von Zeugen oder Sachverständigen oder der Herbeischaffung anderer Beweismittel, wird durch jene Pflicht bestimmt. Sie ist maßgebend, wenn in Frage kommt, ob eine Beschlagnahme anzuordnen oder Haftbefehl gegen den Angeklagten zu erlassen sei; denn die Verhaftung kann einerseits erforderlich sein, um eine Verdunkelung zu verhüten, andererseits die Aufklärung des Sachverhalts erschweren, indem sie den Angeklagten verhindert, Beweismittel zu erkunden und beizubringen. Bei der Entscheidung über die Aussetzung oder Unterbrechung der Hauptverhandlung, über das nach der Unterbrechung einzuhaltende Verfahren, über die Verbindung zusammenhängender Strafsachen sowie über die vorübergehende Entfernung des Angeklagten aus dem Sitzungsraum steht die Pflicht des Richters, sich einen möglichst ungetrübten und vollkommenen Einblick in das Geschehene zu verschaffen, im Vordergrund. Sie hat eine große Bedeutung für die Entschließung darüber, ob die Hauptverhandlung ohne den Angeklagten durchzuführen sei, da die allgemeine Lebenserfahrung lehrt, daß der Richter ein zuverlässiges Urteil über Täterschaft und Schuld, und, wenn Täterschaft und Schuld bejaht werden, über die angemessene Strafe kaum jemals fallen kann, ohne den Angeklagten gesehen und über die Klage und die Aussagen der Zeugen gehört zu haben. Die Wahrheitserforschungspflicht muß den Vorsitzenden bestimmen, wenn er die Verhandlung leitet, den Angeklagten vernimmt und die vorhandenen Beweise erhebt. Die Art, wie er diese Tätigkeit ausübt, kann — je nach der Gesinnung, Gewissenhaftigkeit, Selbstbeherrschung, Menschenkenntnis und Klugheit des Vorsitzenden — die Wahrheit fördern oder ihr schaden. In untrennbaren Zusammenhang mit der Wahrheitserforschungspflicht steht die Pflicht zu Gewährung des rechtlichen Gehörs an die Prozeßbeteiligten entsprechend dem Verfassungssatz des Art. 103 Abs. 1 G G , dessen Auswirkung zwar in zahlreichen Einzelvorschriften der StPO beschrieben, aber nicht erschöpfend geregelt ist (s. S. 159). Sie umfaßt die Sorge dafür, daß der Dolmetscher seiner Aufgabe genüge (RGSt. 76 177), und das im § 265 Abs. 4 ausgesprochene Verbot, den Angeklagten im Urteil mit der Feststellung eines für die Verurteilung wesentlichen tatsächlichen Gesichtspunktes zu überraschen, auf den er weder durch den Inhalt der Anklageschrift noch durch den Gang der Hauptverhandlung 146

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vorbereitet worden ist (RGSt. 76 85; BGHSt. 11 88,91; 19 88, 141). Das Verhältnis der Aufklärungspflicht des Gerichts zum Beweisrecht der Beteiligten ist unten (S. 156) näher darzustellen. Eine Pflicht, im Sinne der Erforschung der materiellen Wahrheit tätig zu werden, trifft aber auch — und gerade darin besteht der grundlegende Unterschied des „reformierten" Strafprozesses in seiner Ausprägung durch die StPO zu dem Parteiprozeß des anglo-amerikanischen Rechts (s. oben S. 136) — den Staatsanwalt. Sie ergibt sich aus § 160 Abs. 2 , 3 StPO und aus seinem Recht, Rechtsmittel zugunsten der Beschuldigten einzulegen (§§ 296 Abs. 2, 301) und den Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens zugunsten des Verurteilten zu stellen (§ 365). Diese Mitwirkungspflicht des Staatsanwalts erwächst aus seiner Stellung als Organ des verfolgenden Staates. Da der Staat nur daran interessiert sein kann und darf, daß den wirklich Schuldigen die im sachlichen Recht vorgesehenen Unrechtsfolgen treffen, so muß die Tätigkeit der zur Verwirklichung des staatlichen Strafanspruchs berufenen Staatsorgane gleichermaßen — die des Staatsanwalts nicht anders als die des Richters — von dem Bestreben getragen sein, alles zu tun, daß nur der Schuldige bestraft, der unschuldig in Verdacht geratete Beschuldigte aber aus dem Verfahren entlassen wird; diese Zielsetzung der dem Staatsanwalt übertragenen Aufgaben schließt es aus, ihn auch nur formell als Partei zu bezeichnen (vgl. S. 68 und BGHSt. 15 155). Wenn somit zwei Staatsorgane unter der gleichen Maxime der Wahrheitserforschungspflicht am Strafverfahren mitwirken, so besteht doch der entscheidende Unterschied zwischen ihnen, daß der Staatsanwalt weisungsgebunden, der Richter aber unabhängig ist; nur der weisungsfreie Richter darf lediglich nach seiner Überzeugung handeln und entscheiden (§ 261). Das bedeutet, da auch der weisungserteilende Vorgesetzte an das Legalitätsprinzip gebunden ist, gewiß nicht, daß der Staatsanwalt durch Weisungen gebunden und durch ihre Befolgung entschuldigt wäre, wenn er wider besseres Wissen den Unschuldigen anklagt und das Verfahren gegen den Beschuldigten einstellt (§§ 344,346 StGB), wohl aber muß er, auch wenn er selbst anderer Meinung ist, Weisungen befolgen, die sich — bei zweifelhafter oder verschieden beurteilbarer Tat- oder Rechtslage — innerhalb der Grenzen des zulässigen Ermessens halten (s. oben S. 145). Das gilt auch, jedenfalls nach geltendem Recht 1 0 1 (vgl. Anm. 3 zu § 146 GVG), für Weisungen, die dem Staatsanwalt bez. seines Verhaltens in der Hauptverhandlung, insbesondere seiner Schlußanträge erteilt werden. Eine im voraus erteilte Weisung, in der Tatfrage unabhängig von den Ergebnissen der Hauptverhandlung einen bestimmten Antrag zur Schuld- oder Straffrage zu stellen, wäre danach, weil dem Legalitätsgrundsatz widersprechend, unverbindlich ( D ü n n e b i e r JZ 1958 421), verbindlich dagegen die bei Kenntnis des Beweisergebnisses erteilte Weisung, auf Verurteilung anzutragen, wenn der Sitzungsvertreter bereits die Anwendbarkeit des Satzes in dubio pro reo bejaht, der Weisende aber in vertretbarer Weise gegenteiliger Ansicht ist. Im Zivilprozeß entscheidet sich bei unaufklärbarem oder nicht eindeutig geklärtem Sachverhalt der Ausgang des Prozesses danach, welche Partei die Beweislast hat; es unterliegt, wer beweisfällig geblieben ist, den ihm obliegenden Beweis nicht geführt hat. Im Strafverfahren gibt es keine Parteien — auch nicht im Privatklageverfahren, dessen Besonderheit insoweit nur darin besteht, daß an Stelle des Staatsanwalts der Privatkläger den staatlichen Strafanspruch durch Erhebung der Klage verfolgt und daß den Privatkläger die aus der Amtsstellung des Staatsanwalts sich ergebende Pflicht zur Mitwirkung bei der Wahrheitserforschung nicht trifft 102 — und damit auch keine Beweislast im zivilprozessualen Sinn. Sofern man überhaupt im Strafprozeß von Beweislast im übertragenen Sinn sprechen kann, so trifft sie kraft der Wahrheitserforschungspflicht die Behörde, die „Herr" des betreffenden Verfahrensabschnitts ist, also im Vorverfahren den Staatsanwalt, sonst das Gericht. Verfehlt 101

Der Deutsche Richterbund hatte (vgl. DRiZ 1961 22) vorgeschlagen, in das D R i G v. 8. 9. 1961 (BGBl. I S. 1665) eine Vorschrift einzufügen: „Im Rahmen der Hauptverhandlung (§§ 226ff. StPO) ist der Staatsanwalt in der Würdigung der erhobenen Beweise sowie in der Beurteilung der Rechts- und StrafTrage nur seiner pflichtgemäßen Überzeugung unterworfen". Der Bundestag hat es aber abgelehnt, Vorschriften über den Umfang der Weisungsgebundenheit des Staatsanwalts in das Richtergesetz aufzunehmen (vgl. Ausschußbericht BT-Drucks. Nr. 2785 S. 9). 102 Wegen der zweifelhaften Frage, ob der Privat- oder Nebenkläger Rechtsmittel zugunsten des Verurteilten einlegen kann, vgl. Anm. 3 zu § 390.

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B4 wäre auch die Vorstellung einer „materiellen" Beweislast, die darin bestehen soll, daß der Angeklagte, dessen Entlastungsbemühungen versagten, oder der Kläger, wenn das Gericht sich von der Schuld des Angeklagten nicht überzeugen kann, die Folgen der Ergebnislosigkeit der Bemühungen trage. Denn der Angeklagte ist zu solchen Bemühungen nicht verpflichtet, wenn es auch in seinem Interesse liegt, das Gericht durch die Angabe entlastender Umstände bei seiner Pflicht, die Wahrheit nach allen Richtungen zu erforschen, zu unterstützen, namentlich da, wo nach sachlichem Recht widerlegbare Beweisvermutungen bestehen (§ 259 StGB) oder ein non liquet bezüglich bestimmter Umstände zu Lasten des Angeklagten wirkt (vgl. § 186 StGB). Der Kläger aber entfaltet die Bemühungen nicht einmal in seinem Interesse, sondern schon kraft seiner Amtsstellung zur Unterstützung des Gerichts bei der diesem obliegenden Wahrheitserforschung. Diese Pflicht des Gerichts, jede prozeßordnungsmäßig zulässige Möglichkeit zur Aufklärung des wirklichen Sachverhalts auszunutzen, können ihm Kläger und Beschuldigter nicht durch Verzichte auf Wahrheitserforschung ersparen. Während nach anglo-amerikanischem Recht eine bei Verhandlungsbeginn abgegebene Schuldigerklärung des Angeklagten jede Beweisaufnahme erübrigt, darf sich das deutsche Gericht mit dem Geständnis des Angeklagten nur begnügen, wenn es ihm voll glaubwürdig und ausreichend erscheint, um Schuldspruch und Strafbemessung zu tragen (Anm. 6 zu § 244) und Entlastungsmöglichkeiten muß das Gericht auch gegen den Willen des Angeklagten nachgehen (RG H R R 1940 Nr. 840). Ein Versäumnisurteil — Verurteilung des ausgebliebenen Beschuldigten ohne Beweisaufnahme auf die Anklage hin — gibt es nicht; wo überhaupt die Verurteilung in Abwesenheit des Angeklagten stattfindet (S. 122), wird die Hauptverhandlung im übrigen nach den allgemeinen Vorschriften durchgeführt 103 . Wenn die StPO die Verwerfung von Rechtsmitteln und Rechtsbehelfen des unentschuldigt ausgebliebenen Beschuldigten vorsieht (§§ 329,391 Abs. 3, 412 Abs. 1, 413), so ist dies keine Durchbrechung des Wahrheitserforschungsgrundsatzes, vielmehr stellt das Gesetz eine (freilich unwiderlegliche) Vermutung auf, daß mit dem unentschuldigten Ausbleiben stillschweigend die Zurücknahme des Rechtsmittels (Rechtsbehelfs) zum Ausdruck gebracht sei (vgl. Anm 8 zu § 329; Anm. 1 a zu § 412) 104 ; es liegt nicht anders als bei der ausdrücklichen Rücknahmefiktion des § 391 Abs. 2 — Ausbleiben des Privatklägers —. Wollte man aber hier doch von Versäumnisurteilen sprechen, so liegt keine Verurteilung ohne Wahrheitserforschung vor, denn diese hat ja im vorangegangenen Verfahren stattgefunden und die Verwerfung des Rechtsbehelfs als unzulässig zieht die Folgerungen aus der Befugnis des Angeklagten, über das eingelegte Rechtsmittel (durch Zurücknahme oder ein der Zurücknahme gleichstehendes unentschuldigtes Ausbleiben) zu verfügen. Jedenfalls handelt es sich aber hier um Ausnahmen von dem Grundsatz, daß Abwesenheit des Beschuldigten ein Verfahrenshindernis darstellt (oben S. 122). Das zwingt dazu, die Verwerfungsvoraussetzungen „auf das engste" auszulegen (vgl. BGH NJW 1969, 1393, wo daran festgehalten wird, daß eine Verwerfung entfällt, wenn in einer früheren Hauptverhandlung der Instanz in Anwesenheit des Angeklagten zur Sache verhandelt worden ist, zumal „die Tendenz der Gesetze unserer Zeit keinesfalls dahin geht, die verfahrensmäßige Lage des Angeklagten zu verschlechtern"). 103

Mit dem Geist der StPO unvereinbar ist daher die Würdigung des Strafbefehlsverfahrens als eines Verfahrens, in dem der Richter die im Antrag des Staatsanwalts behauptete Tat mangels eigener Feststellung als wahr unterstellt und auf diese Behauptung hin eine Strafe festsetzt (so aber BVerfG NJW 1954 69; vgl. dazu Anm. 7 zu § 407). 104 Anders ist die Rechtslage im Fall des § 74 OWiG 1968, der die Folgen regelt, wenn der Betroffene nach Einspruch gegen den Bußgeldbescheid in der Hauptverhandlung ausbleibt. Hier setzt die Verwerfung des Einspruchs außer dem unentschuldigten Ausbleiben voraus, daß das persönliche Erscheinen des Betroffenen angeordnet war, und die Verwerfung ist nicht zwingend vorgeschrieben, sondern es steht im Ermessen des Gerichts, ob es den Einspruch verwerfen oder die Hauptverhandlung in Abwesenheit des Betroffenen durchführen will. Die Verwerfung beruht demgemäß hier nicht auf einer unwiderleglichen Vermutung, mit dem Ausbleiben sei die Rücknahme des Einspruchs zum Ausdruck gebracht. Die Verwerfung ist vielmehr als Antwort auf den Ungehorsam charakterisiert: lehnt der Betroffene es ab, zur Aufklärung des Sachverhalts beizutragen, so soll auch das Gericht von der Pflicht zur Prüfung der Beschuldigung entbunden sein; der Betroffene soll nicht in der Lage sein, die von ihm mit dem Einspruch erstrebte richterliche Entscheidung durch sein Ausbleiben zu verzögern (Begr. zu § 63 Entw. des OWiG; G ö h l e r [2] A e zu § 74).

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Eine Verurteilung setzt voraus, daß die Schuld des Angeklagten bewiesen ist, Das ist der Fall, wenn das Gericht die Überzeugung (über diesen Begriff s. Anm. 3 zu § 261; ferner BGHSt. 10 210 mit Nachweisen; OLG Zweibrücken MDR 1968 945) erlangt hat, daß er alle Merkmale des gesetzlichen Tatbestandes rechtswidrig und schuldhaft verwirklicht hat. Ein Zweifel, der nach Erschöpfung aller Aufklärungsmöglichkeiten nicht zu beheben ist, wirkt sich also zugunsten des Angeklagten aus. Der in dieser Form nicht ausdrücklich im Gesetz niedergelegte, aber aus § 261 StPO entnehmbare allgemein gültige verfahrensrechtliche Grundsatz: in dubio pro reo105 erstreckt sich auf sämtliche Merkmale des äußeren und inneren Tatbestandes und sämtliche schuld- und rechtswidrigkeitsausschüeßenden Umstände einschließlich persönlicher Strafaufhebungs- und Strafausschließungsgründe (BGHSt. 18, 274, 276) 106 . Die Rechtswohltat des Zweifels greift also z.B. ein, wenn die Möglichkeit der Zurechnungsunfahigkeit, des Handelns in Notwehr, des Vorliegens der Voraussetzungen eines strafbefreienden Rücktritts (§ 46 StGB), oder eines privilegierenden Umstandes (z. B. des Handelns aus Not, § 248 a StGB oder — nach der freilich umstrittenen Rechtsprechung des BGH [St. 10, 373]; vgl. K ü p e r JZ 1968, 651, 656 — des Vorliegens einer Erstbeleidigung als Voraussetzung für die Straffreierklärung des Zweitbeleidigers nach § 199 StGB, der die Erstbeleidigung auf der Stelle erwidert haben will) oder eines strafausschließenden Angehörigenverhältnisses (z. B. im Falle des § 248 a Abs. 3 oder des § 247 Abs. 2 StGB) nicht auszuschließen ist. Er umfaßt auch die für die Strafzumessung bedeutsamen Tatsachen,^dergestalt, daß die eine höhere Bestrafung begründenden Tatsachen zur richterlichen Überzeugung bewiesen sein müssen, während ein Zweifel, ob die Voraussetzungen für die Zubilligung mildernder Umstände oder für eine sonstige Milderung oder das Absehen von Strafe gegeben sind, sich zugunsten des Angeklagten auswirkt (vgl. zu § 157 StGB BGH bei D a l i i n g e r MDR 1952 407 und BGH v. 13. 12. 1960 - 1 StR 507/60 zit. von D r e h e r [31] zu § 157; a.M. betr. § 158 StGB U i b e l NJW 1960 1893). Kraft des Grundsatzes in dubio pro reo ist bei einer zulässigen Wahlfeststellung in der Urteilsformel nur das mildeste Gesetz zu erwähnen (über diese sehr streitige Frage vgl. D a l c k e - F u h r m a n n - S c h ä f e r [37] S. 9 u n d D r e h e r [31] 3 Bc zu§ 2b a. F. StGB). Darüber, inwieweit die Rechtswohltat des Zweifels auch bei Prozeßvoraussetzungen (Verfahrenshindernissen) in Betracht kommt, s. oben S. 87. Dagegen gilt der Grundsatz in dubio pro reo nicht für Rechtsfragen (BGHSt. 14 68, 73; OLG Celle NJW NJW 1968 2119). Bestehen also über die Auslegung oder Anwendbarkeit eines Gesetzes Zweifel, so darf sich das Gericht nicht deshalb für eine bestimmte Auffassung entscheiden, weil sie für den Angeklagten günstiger ist. Er gilt auch nicht für behauptete Verfahrensfehler (BGHSt. 16 164, 166); hier kann nur ein erwiesener — nicht aber nur ein möglicher — 105

Schrifttum: S t r e e , In dubio pro reo, 1962. ""Eine Auswirkung des Grundsatzes der Rechtswohltat des Zweifels ist es auch, wenn gegen einen Beschuldigten, bei dem nicht feststeht, daß er zur Tatzeit schon 18 Jahre alt war, Jugendstrafrecht (mit Ausnahme der Jugendstrafe von unbestimmter Dauer) anzuwenden ist (BGHSt. 5 366). Das gleiche gilt, wenn bei einem Heranwachsenden nicht festgestellt werden kann, ob er zur Zeit der Tat noch einem Jugendlichen gleichstand oder nicht (§ 105 Abs. 1 Nr. 1 JGG), und zwar weniger unter dem Gesichtspunkt, daß Jugendstrafrecht stets das mildere gegenüber dem allgemeinen Recht sei, als vielmehr, weil das vom Erziehungsgedanken beherrschte Jugendstrafrecht für die Entwicklung des Angeklagten günstiger erscheint (BGHSt. 12 116). Ohne Bedeutung für die Anwendbarkeit des Grundsatzes in dubio pro reo ist es, worauf die Unaufklärbarkeit des Sachverhalts beruht. Er ist demgemäß auch z. B. anwendbar, wenn der Nachweis der vom Angeklagten behaupteten, ihm günstigen Tatsachen daran scheitert, daß amtlich verwahrte Schriftstücke, auf die er sich beruft, gemäß § 96 StPO dem Gericht nicht zur Verfügung gestellt werden (vgl. BGHSt. 20 189). Zur Frage der entsprechenden Anwendung des Grundsatzes in dubio pro reo, wenn zweifelhaft bleibt, ob der Angeklagte mit Täter- oder mit Gehilfenvorsatz gehandelt hat, vgl. B G H NJW 1970 668 mit Anm. F u c h s N J W 1970 1053; dazu D r e h e r M D R 1970 369. BGHSt. 23 8 wendet den Grundsatz in dubio pro reo auch in übertragenem Sinn an, wenn es sich um generelle Fragen der Beweisanforderungen handelt. Danach gebietet, wenn in der Wissenschaft die Auffassungen darüber auseinandergehen, inwieweit in Grenzfällen bei der Beurteilung der Glaubwürdigkeit von jugendlichen Zeugen ein Psychologe ohne Mitwirkung eines Psychiaters das Vorliegen krankhafter Störungen ausschließen kann, der Grundsatz in dubio pro reo die Mitwirkung eines Psychiaters, wenn offen bleibt, ob der hinzugezogene Psychologe den Anforderungen entspricht, die von der strengeren Auffassung gestellt werden.

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B4 Verfahrensfehler den Bestand eines Urteils gefährden (BGHSt. 17, 351, 353). Der bezeichnete Grundsatz gilt schließlich nicht im Probationsstadium des Wiederaufnahmeverfahrens (§ 370 StPO), d. h. bei der Entscheidung, ob die im Wiederaufnahmeantrag aufgestellten Behauptungen eine genügende Bestätigung gefunden haben (OLG Köln N J W 1968 2119). Der Grundsatz in dubio pro reo ist aber in gewissem Umfang von Ausnahmen durchbrochen. In einigen Fällen stellt das materielle Recht Beweisregeln, widerlegbare Beweisvermutungen auf, die sich auf die innere Tatseite (so z.B. in § 259 StGB:„weiß oder den Umständen nach annehmen muß") oder auf das äußere Erscheinungsbild beziehen (so in § 42 m Abs. 2 StGB, wonach bei bestimmten Vergehen der Täter" in der Regel als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen anzusehen" ist, und in § 361 Nr. 8 StGB, wonach der Unterkunftslose bestraft wird, wenn er „nicht nachweisen kann, daß er . . . der von ihm angewandten Bemühungen ungeachtet nicht vermocht habe", sich fristgemäß ein anderweitiges Unterkommen zu verschaffen; s. dazu E b S c h m i d t Lehrk. I [2] Fußn. 760 zu Rz. 372) 10 ? In diesen Fällen ändert sich nichts daran, daß es eine Beweislast (eine Entlastungspflicht) für den Angeklagten nicht gibt. Vielmehr ist es auch hier in der Hauptverhandlung Sache des Gerichts, von Amts wegen alle Möglichkeiten zur Aufklärung des Sachverhalts auszunutzen; ein verbleibender Zweifel wirkt sich aber zuungunsten des Angeklagten aus (in dubio contra reum; vgl. zu § 259 BGHSt. 2 146). Eine entsprechende Sachlage besteht im Fall des § 186 StGB, wo die nicht erweisbare Wahrheit einer ehrenrührigen Behauptung Bedingung der Strafbarkeit für die üble Nachrede ist: Die Wahrheit der ehrenrührigen Behauptung ist Gegenstand der Amtsaufklärungspflicht; die Nichterweislichkeit der Wahrheit aber trifft den Täter 1 0 8 . Schließlich hat die Rechtsprechung (BGHSt. 9 390) im Falle des § 330a StGB im Wege der Auslegung die Anwendbarkeit des Satzes in dubio pro reo verneint, soweit es sich um das Tatbestandsmerkmal des die Zurechnungsfähigkeit ausschließenden Rausches handelt, und angenommen, daß wegen Volltrunkenheit nicht nur zu bestrafen ist, wenn die rauschbedingte Zurechnungsfähigkeit festgestellt ist, sondern auch, wenn sie nicht auszuschließen ist. Was die Maßregeln der Sicherung und Besserung (§ § 42 a ff. StGB) anlangt, so steht ihre Anordnung im allgemeinen ebenfalls unter dem Grundsatz in dubio pro reo (vgl. B r u n s JZ 1958 650; D a l c k e - F u h r m a n n - S c h ä f e r [37] Vorbem. vor § 4 2 a ; S t r e e , in dubio pro reo. 91 ff.; a.M. D r e h e r [31] Vorbem. 1 vor § 4 2 a ) ; das gilt wohl auch bezgl. der Frage, ob Entlassung aus der Unterbringung gemäß § 4 2 f. Abs. 2 StGB anzuordnen ist, weil verantwortet werden kann, zu erproben, ob sich der Untergebrachte außerhalb des Maßregelvollzugs straffrei verhalten wird. Die Wahrheitsfindung und die Entscheidung nach eigener Überzeugung finden ihre Grenze, wo das Gesetz eine Bindung an Vorabentscheidungen vorsieht (vgl. z . B . § 190 StGB, und oben S. 126). Prozessuale Beschränkungen ergeben sich, abgesehen von der Bindung des Vorderrichters an die Rechtsauffassung des Rechtsmittelgerichts bei Zurückverweisung und in Fällen einer Vorlegungspflicht bei streitigen Rechtsfragen (vgl. S. 143), durch das Verbot der reformatio in peius (§ 331) und die Sperrwirkung der Teilrechtskraft, wie sie durch Beschränkung des Rechtsmittels oder durch Teilaufhebung eines Urteils eintreten kann. So schließt die Beschränkung der Berufung auf das Strafmaß eine Nachprüfung der tatsächlichen Feststellungen des ersten Gerichts zur Schuldfrage durch das Berufungsgericht aus 1 0 9 (vgl. die Anm. zu § 327), während freilich Verfolgungshindernisse auch bei Teilanfechtung zu beachten sind (vgl. oben S. 81). 107

Die Rechtsentwicklung ist deutlich auf Beseitigung dieser Vermutungen, die früher insbesondere auf dem Gebiet des Steuer- und Zollstrafrechts eine große Rolle spielten, gerichtet. Im StGB-Entw. 1962 enthält der Hehlereitatbestand (§ 286) keine dem § 259 StGB entsprechende Beweisvermutung und die Vermutungstatbestände der §§ 245 a, 296 sind durch das 1. Strafrechtsreformges. v. 25. 6. 1969 gestrichen worden. D o c h sind unwiderlegbare Beweis- und Schuldvermutungen des geltenden Rechts weder mit rechtsstaatlichen Grundsätzen noch mit Art. 6 Abs. 2 der Menschenrechtskonvention unvereinbar (vgl. BVerfG NJW 1959 619; S c h r ö d e r NJW 1959 1903).

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Zweifelhaft ist, ob der Grundgedanke des § 186 oder der Grundsatz in dubio pro reo durchgreift, wenn der Täter eine ehrenrührige Tatsachenbehauptung nur dem Beleidigten gegenüber aufstellt (§ 185 StGB) und der Wahrheitsbeweis mit einem non liquet endet. Für Anwendung der Rechtswohltat des Zweifels BayObLG NJW »959 57; O L G Köln NJW 1964 2121; dagegen wohl mit Recht H ä r t u n g NJW 1959 640; H i r s c h , Ehre und Beleidigung [ 1967] 204ff.

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Einer Überzeugung des Gerichts davon, wie sich ein bestimmter Sachverhalt in der Außenwelt und im Inneren des Täters abgespielt habe, bedarf es nur zur Verurteilung einschließlich der Anordnung von Maßregeln der Sicherung und Besserung oder (soweit ein Schuldspruch ohne Verhängung einer Strafe zulässig ist, wie beim Absehen von Strafe — § 260 Abs. 4 Satz 2 StPO — oder bei der Aussetzung der Verhängung der Jugendstrafe nach § 27 J G G ) zum Erlaß eines Schuldspruchs. Zur Freisprechung genügt, daß das Gericht die für eine Verurteilung erforderliche Uberzeugung von der Schuld des Angeklagten nicht zu erlangen vermag. Sobald dies feststeht, kann die Hauptverhandlung mit einem Freispruch beendet werden und es erfordert die Wahrheitserforschungspflicht keine weitere Aufklärung nach der Richtung, ob über die Nichtbeweisbarkeit der Schuld hinaus die Unschuld des Angeklagten festgestellt und ein noch verbleibender, möglicherweise dringender Verdacht weiter entkräftet werden kann. Allerdings ist es für den Angeklagten unter einer Reihe von Gesichtspunkten (Rehabilitierung, Entschädigung für unschuldig erlittene Untersuchungshaft) von Bedeutung, ob der Freispruch nur mangels Beweises, der jeden Verdachtsgrad offen läßt oder deshalb erfolgt, weil die Unschuld erwiesen oder dargetan sei, daß ein begründeter Verdacht nicht vorliege 110 , während dies für den Ersatz der außergerichtlichen Kosten des Freigesprochenen aus der Staatskasse nach Beseitigung des sog. Freispruchs 2. Klasse (oben S. 29) keine Rolle mehr spielt 110a. Die Fürsorgepflicht des Gerichts (S. 51) kann — im Sinne eines nobile officiums — gebieten, diesen Belangen Rechnung zu tragen, wenn ohne Schwierigkeiten und ohne jede Verzögerung des Prozesses eine weitergehende Aufklärung nach dieser Richtung möglich ist. Kann aber eine dahingehende Feststellung nach dem bisherigen Beweisergebnis nicht ohne weitere Ermittlungen getroffen werden, so kann der Angeklagte nicht verlangen, daß das Verfahren in seinem (privaten) Interesse weitergeführt werde, nachdem das im öffentlichen Interesse aufgestellte Prozeßziel — die Feststellung der Schuld oder Nichtschuld - erreicht ist (vgl. BGHSt. 7 155; 8 53; 13 149; 15 374, 379; a.M. H e n r i c h s M D R 1956 196). Seinem Rehabilitierungsbedürfnis ist durch die im Freispruch liegende Verneinung strafrechtlicher Schuld genügt. Auch für ihn hat das rechtskräftige Urteil gestaltende Bedeutung, indem es ihn aus der Rechtsposition des Beschuldigten, auf dem der Vorwurf strafrechtlicher Schuld lastet, in die Rechtsposition des Freigesprochenen versetzt, gegen den ein Schuldvorwurf von Rechts wegen nicht mehr erhoben werden kann. Eine solche Verfahrensgestaltung verstößt — gegen S c h w e n k N J W 1960 1932, der in der Freisprechung mangels Beweises zum mindesten dann einen Verstoß gegen die Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 G G ) sehen will, wenn Beweise für die Unschuld des Angeklagten angeboten, aber nicht erhoben sind — grundsätzlich weder gegen Art. 1 Abs. 1 noch gegen Art. 2 G G (vgl. BVerfG 6 7; M D R 1957 22; BGHSt. 7 153; 13 149) und zwar um so weniger, als beim Hervortreten eines Verfahrenshindernisses, das zum Verzicht auf eine Sachentscheidung zwingt, wenn ein Freispruch nicht bereits ohne weitere Aufklärung nach dem bisherigen Ergebnis der Hauptverhandlung begründet ist (oben S. 92), der Beschuldigte grundsätzlich nicht einmal eine Fortsetzung des Verfahrens mit dem Ziele eines Freispruchs mangels Beweises verlangen kann 1 1 1 . 109

Mit der Folge, daß eine im Verfahren zur Straffrage hervortretende Zurechnungsunfähigkeit nur bei der Strafzumessung berücksichtigt werden kann, aber nicht zum Freispruch führt (BGHSt. 7 283; G A 1959 305). Auf Einzelfragen nach dem Umfang der Bindungswirkung ist hier nicht einzugehen; vgl. hierzu etwa BGHSt. 10 71; M a y und E c k e l s NJW 1960 465, 1942; S e i b e r t NJW 1961 9 und B r u n s , Zur Feststellungswirkung des rechtskräftigen Strafurteils in Festschrift für EbSchmidt (1961) 602 ff. (604). 110 Wegen ähnlicher Probleme beim Eingreifen eines Verfahrenshindernisses s. S. 92. 110 ' Nach dem Entw. eines Ges. über die Entschädigung von Strafverfolgungsmaßnahmen (BR = Drucks. Nr. 667/69) soll künftig jeder Freispruch grundsätzlich mit der Verpflichtung des Staates zur Entschädigung wegen der erlittenen Untersuchungshaft verbunden sein, also auch in diesem Bereich der sog. Freispruch 2. Klasse beseitigt werden. 111 Auch die Vorschriften der Amnestiegesetze, die dem Beschuldigten, der seine ..Unschuld" geltend macht, ein Recht zum Antrag auf Fortsetzung des Verfahrens beilegen (vgl. oben S. 92), führen nicht zur Durchführung des Verfahrens bis zur restlosen Aufklärung des Sachverhalts, sondern nur zu einer Fortsetzung des Verfahrens „nach den allgemeinen Vorschriften", d. h. bis zum Freispruch mangels Beweises, sobald dessen Voraussetzungen gegeben sind, ohne daß das Gericht genötigt wäre, den Sachverhalt weiter nach der Richtung aufzuklären, ob der Beschuldigte im engeren Sinne des Wortes unschuldig ist oder ein begründeter Verdacht nicht mehr besteht.

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Kap. 11

Einleitung (Schäfer)

B5 Der mangels Beweises Freigesprochene kann auch nicht Rechtsmittel einlegen mit dem Ziel, eine erneute tatsächliche Nachprüfung der Unschuld herbeizuführen, denn nach dem Grundgedanken des geltenden Rechtsmittelrechts kann eine Beschwer nur durch den Inhalt des Spruchs, nicht durch den Inhalt der Gründe, erfolgen. Ob es freilich richtig ist, diesen Grundsatz ausnahmslos und auch da durchzuführen, wo die Urteilsgründe in vermeidbarer Weise den Angeklagten in seiner Ehre und seinem Fortkommen schwer beeinträchtigen, ist eine andere Frage (wegen möglicher Verfassungsbeschwerde vgl. BVerfGE 6 7; MDR 1970 822). Nach überwiegend vertretener Auffassung kann sich das Gericht damit begnügen, den Angeklagten wegen Zurechnungsunfähigkeit zur Tatzeit freizusprechen, ohne den Sachverhalt nach der objektiven Seite weiter aufklären zu müssen, und der Freigesprochene kann dann mangels Beschwer durch den entscheidenden Teil des Urteils dieses nicht mit dem Ziel der Freisprechung aus objektiven Gründen anfechten (vgl. RGSt. 69 12; BGH NJW 1954 519; BGHSt. 16 374 - offen gelassen in BGHSt. 7 153 - und die Mehrzahl der Oberlandesgerichte). Aber die immer wieder im Schrifttum (s. oben S. 93) und in der Rechtsprechung erneuerten Angriffe gegen diese Auffassung (vgl. z. B. OLG Schleswig JZ 1958 374 mit abl. Anm. von E b S c h m i d t ; OLG Stuttgart NJW 1959 1840 mit abl. Anm. von Bech) 1 1 2 lassen zweifelhaft erscheinen, ob hier nicht das Rehabilitierungsbedürfnis des Angeklagten zu sehr zurückgedrängt wird. Auf dem Gebiet des Beleidigungsrechts, wo der Rehabilitierungsgesichtspunkt sowohl für den Verletzten wie auch für den Beschuldigten, der nicht als Ehrabschneider dastehen will, besonders bedeutsam ist (vgl. oben S. 92), ist die Rechtsprechung denn auch bereits andere Wege gegangen. Sie sieht es als unzulässig an, daß der Täter ohne Aufklärung, ob die behauptete Tatsache wahr, nichterweislich wahr oder unwahr ist, mit der Begründung freigesprochen wird, es bedürfe einer solchen Aufklärung nicht, weil im Falle der Wahrheit der Freispruch aus § 186 StGB, im Fall der Unwahrheit aus § 193 StGB (Wahrnehmung berichtigter Interessen) gerechtfertigt sei (BGHSt. 4 194; 7 392; 11 273). Obwohl hier die Beschwer nur in den Gründen des Urteils liegt, wird bei Unterlassung des Wahrheitsbeweises jedenfalls dem Verletzten die Anfechtung des Urteils zugestanden; sie muß aber (was BGHSt. 11 278 — zur Verneinung neigend — offen läßt) folgerichtig dem aus § 193 StGB Freigesprochenen zustehen, wenn der von ihm angebotene Wahrheitsbeweis nicht erhoben wurde, da sein Rehabilitierungsbedürfnis doch wohl nicht geringer gewertet werden kann, als das des Verletzten. Der StPO-Entw. 1939 (vgl. oben S. 42) wollte allgemein bei Freispruch oder Einstellung des Verfahrens dem Angeklagten die Anfechtung des Urteils und sogar die Wiederaufnahme des Verfahrens gewähren, wenn die Urteilsgründe seine Ehre schwer mindern oder ihn sonst erheblich schädigen (§§ 316, 355). 5. Der Grundsatz der Mündlichkeit und Unmittelbarkeit. a) Mündlichkeit. Nach § 261 StPO schöpft das Gericht seine Überzeugung „aus dem Inbegriff der Verhandlung", d. h. der Hauptverhandlung. Das bedeutet, daß das Urteil sich nur auf den Prozeßstoff stützen darf, der in die Hauptverhandlung prozeßordnungsgemäß eingeführt und zum Gegenstand der Erörterungen gemacht worden ist. Erkenntnisquellen außerhalb der Hauptverhandlung darf der Richter für sein Urteil nicht verwerten (RGSt. 71 325; BGHSt. 5 278, 354; 6 292; 7 6; 11 159; 13 73); er darf anderen Stoff auch dann nicht verwerten, wenn er den Verhandlungsteilnehmern bekannt und der Angeklagte mit seiner Verwertung einverstanden ist (BGHSt. 17 112, 120). Der das gemeinrechtliche schriftliche Inquisitionsverfahren kennzeichnende Grundsatz: quod non est in actis, non est in mundo erklärte sich daraus, daß in allen bedeutsameren Strafsachen nicht der Inquisitionsrichter selbst das Urteil fällte, sondern die Urteilsfallung dritten Stellen (Schöppenstühlen und Juristenfakultäten, an die die Akten versandt wurden, oder dem Landesherrn als Inhaber der richterlichen Gewalt) oblag, denen eine umfassende schriftliche Grundlage ihres Spruchs geboten werden mußte ( E b S c h m i d t Lehrkomm. I [2] Rz427f.), beruhte also auf praktischen Notwendigkeiten der damaligen Verfahrensgestaltung, die entfielen, als das moderne Recht dazu 112

Ein Parallelproblem bietet die streitige Frage, ob der Angeld., der seine Unschuld geltend macht, beschwert ist, wenn das Gericht durch Beschluß gem. § 206 a wegen dauernder Verhandlungsunfähigkeit einstellt (dazu - bejahend - OLG Hamburg JZ 1962 125; 1967 546).

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Die Prozeßmaximen

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überging, die Entscheidung ausschließlich dem Gericht vorzubehalten. Das allein hätte zur Aufgabe des Schriftlichkeitsgrundsatzes nicht gezwungen. Der Übergang zum Mündlichkeitsprinzip entstammt vielmehr der aus den Mängeln des Inquisitionsverfahrens gewonnenen Erkenntnis und Überzeugung, daß die eigne unmittelbare Wahrnehmung des Prozeßstoffs durch die erkennenden Richter in einem durch die Verfahrensgesetze vorgeschriebenen mündlichen Verkehr am besten geeignet sei, dem Gericht ein zuverlässiges Bild der entscheidungserheblichen Tatsachen zu verschaffen und so ein gerechtes Urteil zu gewährleisten. Denn der mündliche Verkehr ist regelmäßig erschöpfender und eindrucksvoller als ein schriftlicher Bericht über die in der Vergangenheit liegenden Ermittlungsergebnisse. Er ermöglicht es in ungleich größerem Maße, daß das erkennende Gericht sich ein zutreffendes Bild von der Persönlichkeit des Angeklagten, von der Glaubwürdigkeit, Wahrnehmungsund Beurteilungsfähigkeit der Zeugen usw. verschafft. Auf dem Gedanken, daß die mündliche Verhandlung, weil sie einen unmittelbaren Eindruck von der Person des Angeklagten vermittelt, eine größere Gewähr für die Findung der gerechten Strafe bildet als ein schriftliches Verfahren, beruht es z. B., wenn BGHSt. 12 1 die streitig gewordene Frage, in welchem Umfang die Bildung einer Gesamtstrafe dem schriftlichen Beschlußverfahren nach §§ 460,462 StPO überlassen bleiben könne, dahin beantwortet, daß grundsätzlich das erkennende Gericht in der Hauptverhandlung die Gesamtstrafe zu bilden habe. Freilich hat auch das Mündlichkeitsprinzip seine (im Schrifttum häufig hervorgehobenen) Schattenseiten, die vor allem darin bestehen, daß die mündlichen Ergebnisse der Beweisaufnahme nicht mehr verkörpert, sondern dem Täuschungen unterworfenen Erinnerungsvermögen anvertraut sind. Insbesondere bei sogenannten Monstreprozessen, die bei einer Vielzahl von Angeklagten oder Anklagepunkten eine mehrwöchige oder auch mehrmonatige Hauptverhandlungsdauer erfordern, werden an die Konzentrationsfähigkeit und die Gedächtnisstärke der Mitglieder des Gerichts, namentlich der solcher Anstrengung ungewohnten Laienrichter, aber auch der übrigen Prozeßbeteiligten, größte Anforderungen gestellt. Das seit dem StPÄG 1964 allgemein vorgeschriebene Protokoll über die Hauptverhandlung (§ 273 StPO) dient vorzugsweise zur Nachprüfung der Gesetzmäßigkeit der Hauptverhandlung in der höheren Instanz. Die Führung eines Nebenprotokolls in Kurzschrift, die zulässig ist (Anm.4 zu §261),aber das Protokoll i. S. der §§ 271, 273 nicht ersetzt ( E b S c h m i d t JZ 1956 206; R ö h l JZ 1956 591) oder die Aufnahme der Äußerungen von Angeklagten, Zeugen und Sachverständigen mit ihrer Zustimmung auf Tonband, um sie bei der Beratung als Gedächtnisstütze zu verwenden (vgl. BGHSt. 19 193; H. J. B r u n s GA 1960 160) mag in gewissem Umfang helfen können. Im allgemeinen aber bleibt es dem einzelnen Richter überlassen, sich Gedächtnisstützen in Form von Notizen zu schaffen. Durch beschränkende Vorschriften (§ 229: Höchstdauer der Unterbrechung, § 268 Abs. 2: Verkündung des Urteils spätestens am vierten Tag nach Schluß der Verhandlung, ausnahmsweise auch später innerhalb der Zehntagefrist des § 229 — BGHSt. 9 104 —) sucht das Gesetz den Gefahren für die Wahrheitsfeststellung, die sich aus der Schwäche der Erinnerung ergeben können, entgegenzutreten. Auch unter der Herrschaft des Mündlichkeitsgrundsatzes verlieren die Akten des Vorverfahrens mit den darin enthaltenen polizeilichen und sonstigen Vernehmungsprotokollen nicht gänzlich ihre Bedeutung für die Hauptverhandlung. Sie dienen zunächst dazu, dem Vorsitzenden eine zweckgerechte Gestaltung der Hauptverhandlung zu ermöglichen (vgl. dazu oben S. 133, 146) 112 \ In gewissem Umfang dürfen aushilfsweise auch Aktenbestandteile verlesen werden (§§ 249, 251, 253, 254). Im übrigen kann der Akteninhalt, insbesondere bei nicht verlesbaren Schriftstücken, in Befolgung der Wahrheitserforschungspflicht (§ 244 Abs. 2) Veranlassung zu Fragen und Vorhaltungen geben (vgl. Anm. 13 zu § 249, Anm. 6 ll2a

Wie der Vorsitzende, so dürfen selbstverständlich auch die richterlichen Beisitzer Aktenkenntnis haben, namentlich der Berichterstatter, der das Urteil abfassen soll. Für die Laienrichter gilt dies aber nicht. Die Rechtsprechung, gegen die sich freilich Bedenken erheben lassen (vgl. Anm. 2 zu § 261), sieht es bereits als einen Verstoß gegen die Grundsätze der Unmittelbarkeit und Mündlichkeit ( § 2 6 1 StPO) an, wenn die mitwirkenden Laienrichter vor oder während der Hauptverhandlung in das Ermittlungsergebnis der Anklageschrift Einblick nehmen (RGSt. 69 120), auch wenn dies ohne Zutun der richterlichen Mitglieder geschieht (BGHSt. 13 73 = JR 1961 30 mit zust. Anm. von E b S c h m i d t ) , weil die Lektüre der Anklageschrift geeignet sei, die Unbefangenheit der Laienrichter zu beeinträchtigen.

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Kap. 11

Einleitung (Schäfer)

B5 zu § 254); das muß freilich in einer Art und Weise geschehen, die bei den Beteiligten keinen Zweifel aufkommen läßt, daß nicht das vorgehaltene Schriftstück, sondern die Antwort des Befragten zur Beweisgrundlage werden soll. So darf das polizeiliche Protokoll über ein Geständnis des Angeklagten zwar nicht zum Zweck der Beweisaufnahme verlesen werden (§ 254 Abs. 1), es darf aber dem als Zeugen vernommenen Verhörsbeamten zur Stützung seines Gedächtnisses vorgehalten und zu diesem Zweck ihm sogar vorgelesen werden. In gleicher Weise kann auch das im Einverständnis mit dem Beschuldigten über ein Geständnis vor der Polizei aufgenommene Tonband zum Zweck des Vorhalts an die Verhörpersonen abgespielt werden (BGHSt. 14 339). Beweismittel bleibt aber allein die Erklärung des Zeugen. Kann er nur bekunden, die Angaben des Angeklagten getreulich aufgenommen zu haben, sich aber trotz Vorhalts an den Inhalt nicht mehr erinnern, so kann auf diese Zeugenaussage nicht die Feststellung gestützt werden, daß der Angeklagte ein polizeiliches Geständnis bestimmten Inhalts abgelegt habe, denn dann wäre in Wahrheit nicht die Zeugenaussage, sondern im Widerspruch zu § 254 das polizeiliche Protokoll die Beweisgrundlage (BGHSt. 14 310). Ebenso schließt, wenn ein vor der Hauptverhandlung richterlich vernommener Zeuge erst in der Hauptverhandlung von seinem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch macht, das Verlesungsverbot des § 252 nicht aus, den Richter, vor dem die Aussage gemacht wurde (nicht auch andere, bei der Vernehmung anwesend gewesene Personen, BGHSt. 13 394), über den Inhalt der Aussage als Zeugen zu vernehmen und ihm zur Unterstützung des Gedächtnisses den Inhalt der nichtverlesbaren Urkunde zu vergegenwärtigen; auch hier kann aber nur die Bekundung des Zeugen zur Beweisgrundlage gemacht werden (vgl. insgesamt zu dieser streitigen Frage Anm. 5 zu § 252). Der Mündlichkeitsgrundsatz beherrscht nur die Gewinnung des Tatsachenmaterials, das das Urteil über Täterschaft und Schuld und die sich daraus ergebenden Rechtsfolgen begründen soll; er gilt nicht bei der Feststellung von Tatsachen, die nicht unmittelbar Grundlage der Entscheidung zur Schuld- und Straffrage sein sollen (vgl. Anm. 4 zu § 244; Anm. 14, 15 zu § 251). Dies trifft z. B. zu für die Feststellung der gesetzlichen Voraussetzungen für die Vornahme von Prozeßhandlungen (BayObLG NJW 1960 687) und insbesondere für die Feststellung der Verfahrensvoraussetzungen, von denen die Zulässigkeit des ganze« Verfahrens abhängt (vgl. oben S. 82, 85); das folgt schon daraus, daß es zur Hauptverhandlung gar nicht kommt, das Verfahren vielmehr außerhalb der Hauptverhandlung durch Beschluß eingestellt wird (§ 206 a), wenn im Wege des Freibeweises das Vorliegen eines Verfahrenshindernisses festgestellt ist. Eine „mündliche Verhandlung" außerhalb der Hauptverhandlung kennt die StPO in den Fällen der §§ 118, 122 StPO. Über die Durchführung der mündlichen Verhandlung bestimmt § 118 a, daß die anwesenden Beteiligten „zu hören" seien. Die Beweisaufnahme erfolgt zwar nach den Regeln des Freibeweises, aus dem Begriff der mündlichen Verhandlung ergibt sich aber, daß als Grundlage der Entscheidung nur solche Umstände berücksichtigt werden dürfen, die Gegenstand der mündlichen Erörterung in der Verhandlung waren. Wegen des mündlichen Schlußgehörs vor dem Staatsanwalt vgl. § 169 b. b) Unmittelbarkeit. Der Grundsatz der Unmittelbarkeit steht in engem Zusammenhang mit dem Grundsatz der Mündlichkeit113. In ihm „verschränkten sich" zwei an und für sich verschiedene Gesichtspunkte miteinander, die Unmittelbarkeit der Beweiserhebung, wonach es grundsätzlich Aufgabe des erkennenden Gerichts ist, die Beweise selbst zu erheben, um von ihnen „in unmittelbarer eigener sinnlicher Wahrnehmung" Kenntnis zu erlagen, und die Unmittelbarkeit des Beweismittels, wonach sich das Gericht seine Überzeugung tunlichst durch solche Beweismittel verschaffen soll, deren Benutzung an die Klarstellung des Sachverhalts am nächsten heranführt ( E b S c h m i d t Lehrk. I [2] Rz. 444; H e n k e l [2] 342 ff). Dem Erfordernis der Mündlichkeit wäre an sich genügt, wenn der Prozeßstoff in irgendeiner Form mündlich (durch das gesprochene Wort) in die Verhandlung eingeführt und zum Gegenstand mündlicher Rede und Gegenrede gemacht würde. Es wäre mit diesem Grundsatz noch verträglich, wenn in weiterem Umfang die schriftlich niedergelegten Er113

Darauf beruht es, daß eine scharfe begriffliche Abtrennung beider Grundsätze Schwierigkeiten bereitet und die Begriffsbestimmungen im Schrifttum mindestens in Nuancen auseinandergehen, z. T. sogar ein begrifflicher Unterschied bezweifelt wird. Vgl. dazu eingehend E b S c h m i d t Lehrk. I [2] Rz. 430, 444 ff.

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gebnisse des Vorverfahrens (die Erklärungen des Beschuldigten, die Aussagen der Zeugen usw.) durch Verlesen in der Hauptverhandlung mündlich in dieser ausgebreitet werden könnten (vgl. § 249). Der Grundsatz der Unmittelbarkeit dagegen verlangt, daß in der Regel der Angeklagte selbst in der Hauptverhandlung seine Erklärungen abgibt, die Zeugen ihre Aussagen mündlich in der Hauptverhandlung machen, ein Augenschein vom Gericht in der Hauptverhandlung erhoben wird usw. und daß auf entsprechende Akte, die außerhalb der Hauptverhandlung erfolgt sind, in der Hauptverhandlung (durch Verlesen) nur dann zurückgegriffen werden darf, wenn eine Erbringung unmittelbar in der Hauptverhandlung nicht oder nur mit unverhältnismäßigen Schwierigkeiten möglich ist oder wenn andere Gründe dies ausnahmsweise rechtfertigen. So ist grundsätzlich eine Hauptverhandlung ausgeschlossen, wenn der Angeklagte ausbleibt (§ 230), weil es dann dem Gericht nicht möglich ist, sich nach seinem Verhalten und seiner Einlassung ein unmittelbares Bild von der Persönlichkeit des Angeklagten und seiner Einstellung zu dem Schuldvorwurf zu machen. Entfernt er sich unerlaubterweise aus der Hauptverhandlung, so darf diese nur dann ohne ihn zu Ende geführt werden, wenn er schon zur Anklage vernommen war und das Gericht seine weitere Anwesenheit nicht für erforderlich erachtet (§ 231), wenn das Gericht also bereits ein genügend deutliches unmittelbares Bild von dem Angeklagten und seiner Einlassung erlangt hat. Nur in den Fällen, in denen das Gesetz ausnahmsweise die Durchführung einer Hauptverhandlung gegen einen ausgebliebenen Angeklagten zuläßt (§§ 232,233), tritt an die Stelle seiner unmittelbar vorgetragenen Einlassung zur Anklage die Verlesung seiner richterlichen Vernehmung außerhalb der Hauptverhandlung (§ 232 Abs. 3, § 233 Abs. 2). Gegenüber dem in der Hauptverhandlung erschienenen Angeklagten ist ein Rückgriff auf seine früheren schriftlich niedergelegten Erklärungen durch Verlesen nur unter den Voraussetzungen des § 254 möglich. Am deutlichsten ist der Unmittelbarkeitsgrundsatz in § 250 ausgesprochen. Danach muß, wenn der Beweis einer Tatsache auf der Wahrnehmung einer Person beruht, diese in der Hauptverhandlung vernommen werden und es darf die Vernehmung nicht durch Verlesung des Protokolls über eine frühere Vernehmung oder einer schriftlichen Erklärung ersetzt werden. Nur wenn eine „unmittelbare" Vernehmung aus bestimmten, in § 251 Abs. 1 Nr. 1 bis 3, Abs. 2 bezeichneten Gründen nicht oder nur mit unzumutbaren Schwierigkeiten möglich ist — wobei ein strenger Maßstab angelegt werden muß; bei einem im Ausland wohnenden Zeugen muß sich das Gericht ggf. bemühen, ihn zum Erscheinen zu bewegen (BGHSt. 22 118) und u. U. ist selbst einem in Übersee wohnenden Zeugen das Erscheinen vor Gericht zuzumuten (BGHSt. 9 230) — oder wenn alle Prozeßbeteiligten einverstanden sind (§ 251 Abs. 1 Nr. 4), darf an ihre Stelle die mittelbare durch Verlesung der Niederschrift über frühere Vernehmungen (vgl. dazu § 223) treten. Der Unmittelbarkeitsgrundsatz verlangt auch eine prozeßordnungsmäßige Einbringung der von dem Sachverständigen in seinem Gutachten verwerteten Tatsachen, die er sich durch Selbstinformation verschafft hat (BGHSt. 9 292; s. dazu näheres unten). Dagegen ist der Grundsatz der Unmittelbarkeit in weiterem Umfange bei der Augenscheinseinnahme durchbrochen, indem § 225 ohne Einschränkung die Einnahme des Augenscheins außerhalb der Hauptverhandlung durch einen ersuchten oder beauftragten Richter zuläßt, deren Ergebnis in der Hauptverhandlung durch Verlesung des Augenscheinprotokolls verwertet wird (§ 249). Dagegen bedeutet der Grundsatz der Unmittelbarkeit nach der weitaus h. M. nicht, daß grundsätzlich und allgemein das der Beweisfrage nähere Beweismittel den Vorzug vor dem ferneren verdiene. Beruht z. B. der Beweis einer Tatsache auf der Wahrnehmung eines ausgebliebenen Zeugen, so verbietet zwar § 250 Satz 2 die Verlesung des Protokolls über dessen frühere Vernehmung, verbietet aber nicht die alsbaldige Vernehmung dritter Personen (Zeugen vom Hörensagen, mittelbare Zeugen), denen der unmittelbare Zeuge seine Wahrnehmungen mitgeteilt hat (BGHSt. 6 209; 7 382, 384 = NJW 1962 1876; BGHSt. 22 2 6 8 = JR 1969 427; a. M. P e t e r s [2] 267; G r ü n w a l d JZ 1966 494), einschließlich der Verhörspersonen einer früheren Vernehmung. In welchem Umfang der unmittelbare Zeuge den Vorrang vor mittelbaren Zeugen hat, ist also nicht aus dem Unmittelbarkeitsgrundsatz, sondern aus dem Wahrheitserforschungsgrundsatz des § 244 Abs. 2 zu beantworten 114 . 114

Unter diesen Gesichtspunkten behandelt die Rechtsprechung auch das umstrittene Problem der prozessualen Einführung des Wissens anonymer Gewährsmänner („V-Leute") von Verfassungs-

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B6 Eine Besonderheit gilt nach der Rechtsprechung (vgl. BGHSt. 18 107; 20 164; 22 268, 271) für den Sachverständigenbeweis: hier dürfen zwar sog. Zusatztatsachen (= Tatsachen, zu deren Ermittlung und Wahrnehmung keine besondere Sachkunde erforderlich ist, die vielmehr auch das Gericht mit den ihm zur Verfügung stehenden Erkenntnis- und Beweismitteln unmittelbar feststellen könnte) nicht ohne Einführung in die Hauptverhandlung durch eine weitere Beweisaufnahme — die ggf. auch in der Vernehmung des Sachverständigen als Zeugen bestehen kann — aus dem Gutachten übernommen werden, wohl aber die sog. Befundtatsachen (= Tatsachen, die nur der Sachverständige auf Grund seiner besonderen Sachkunde erkennen konnte). Wegen der Behandlung des Falles der Sachverständigenteamarbeit (der vom Gericht ernannte Sachverständige verwertet in seinem Gutachten die Untersuchungsergebnisse eines von ihm im Auftrag des Gerichts oder aus eigenem Entschluß herbeigezogenen Hilfssachverständigen, z. B. des vom Psychiater beigezogenen Psychologen) und des Falles, daß der Sachverständige an die selbständig ermittelten Ergebnisse eines anderen Sachverständigen anknüpft, vgl. BGHSt. 22 268. Der Grundsatz der Unmittelbarkeit gilt in der Berufungsinstanz nur mit Einschränkung (§ 325). 6. Das Beweisantragsrecht der Beteiligten 115 Die Wahrheitserforschungspflicht des Gerichts ist unabdingbar; sie kann dem Gericht durch Verzicht des Angeklagten oder des Anklägers auf weitere Beweiserhebung nicht abgenommen werden. Dagegen haben es Beschuldigter und Kläger in der Hand, das Gericht durch Beweisanträge (§ 244 Abs. 3) zu Ermittlungen zu zwingen, die das Gericht, hätte es frei über den Umfang der Beweisaufnahme zu bestimmen, nicht erheben würde, weil nach seiner Auffassung alles zur Erforschung der Wahrheit Erforderliche bereits getan ist. Eine weitere Beschränkung des gerichtlichen Ermessens ergibt sich aus dem Zwang, die Beweisaufnahme auf die präsenten Beweismittel zu erstrecken. Das Beweisantragsrecht der Beteiligten schlägt, sofern es ihnen eine gewisse Disposition über den ProzeßstofF einräumt, eine Brücke zu dem Beweiserhebungssystem des anglo-amerikanischen Prozeßrechts, bei dem die Parteien entscheiden, welche Beweise beigebracht werden sollen (vgl. S. 136) 116 . Die Frage, ob und in welchem Umfang das Gericht oder die Parteien den Umfang der Beweisaufnahme bestimmen dürfen, war schon im Entstehungsstadium der StPO lebhaft umstritten und seit dem Inkrafttreten der StPO hat die Auffassung des Gesetzgebers wiederholt gewechselt. Im Entwurf der StPO war vorgesehen, daß das Gericht allgemein nach freiem Ermessen den Umfang der Beweisaufnahme bestimme, ohne hierbei durch Anträge

schutzämtern, Polizei usw., die von diesen Stellen nicht als unmittelbare Zeugen „freigegeben" werden — § 54 StPO —, und über deren Angaben die Angehörigen dieser Stellen als Zeugen vom Hörensagen bekunden (vgl. BGHSt. 17 3 8 2 = NJW 1962 1876; BGHSt. 20 164; 22 311; OLG Hamm NJW 1970 821). Der 46 DJT 1966 sprach sich demgegenüber dafür aus, die Wahrnehmungen eines V-Mannes sollten nur durch dessen eigene Vernehmung in die Hauptverhandlung eingeführt werden können (vgl. Bericht NJW 1966 2051 unter II 3). S. im Sinne solcher Bestrebungen BGH GA 1968 370, wo Einschränkungen aus Art. 6 Abs. 3d MRK hergeleitet werden, und K o f f k a ZStrW 81 [1969] 963, wo die Frage aufgeworfen wird, „ob nicht eine solche Teilung der Aussagegenehmigung für einen Beamten seitens des Staates, der die Strafverfolgung betreibt, mißbräuchlich ist, und ob nicht deshalb der Strafrichter eine solche Teilgenehmigung wie eine verweigerte Genehmigung zu behandeln hat und die Aussage des Polizeibeamten ohne Angabe des Gewährsmanns als verweigerte Aussage". 115 Lit.: E b S c h m i d t ZStrW 61 429; G r a f zu D o h n a , Probleme der Strafrechtserneuerung (1944) 319; N i e t h a m m e r , Festschrift für Sauer (1949) 26; A l s b e r g - N ü s e , Der Beweisantrag im Strafprozeß, 1956. 116 Diese Brücke erscheint freilich dem englischen Juristen nicht weit genug gespannt; er sieht im Hinblick auf die Grenzen, die § 244 Abs. 3 dem Beweisantragsrecht zieht, den Vorzug des englischen Rechts darin, daß dem Angeklagten das angstvolle Warten erspart bleibt, wie das Gericht seinen Beweisantrag bescheidet (Allen ZStrW 72 [1960] Mitteilungsblatt 159). M. H i r s c h b e r g , Das Fehlurteil im Strafprozeß (1960) macht für Fehlurteile im deutschen Strafverfahren u. a. den Mißbrauch der Möglichkeit, Beweisanträge abzulehnen, verantwortlich und befürwortet auch aus diesem Grund die Übernahme des anglo-amerikanischen Systems. 156

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oder Verzichte der „Parteien" gebunden zu sein. Die Reichstagskommission sah darin eine zu weit gehende Beschränkung der Parteirechte, wobei der Blick naturgemäß vorzugsweise auf die Verteidigungsrechte des Beschuldigten gerichtet ist. Die Kompromißverhandlungen (oben S. 4) führten zu einem Mittelweg: in den Verhandlungen vor den Schöffengerichten und, sofern Übertretungen oder Privatklagevergehen den Gegenstand der Verhandlungen bildeten, auch in den Verhandlungen vor den Landgerichten in der Berufungsinstanz, sollte das Ermessen des Gerichts, im übrigen der Wille der Parteien insofern maßgebend sein, als sich die Beweisaufnahme grundsätzlich auf sämtliche vorgeladenen Zeugen und Sachverständigen sowie auf andere herbeigeschaffte Beweismittel erstrecken mußte; nur im Einverständnis mit Kläger und Angeklagtem durfte das Gericht von der Erhebung einzelner Beweise absehen. Das in dieser Form nur sehr summarisch geregelte Beweisrecht ist durch die Rechtsprechung des Reichsgerichts ausgebaut worden, das — gewissermaßen aus dem Nichts heraus — in langen Jahren feste Grundsätze entwickelte, wann bei dem „Strengbeweis" eine Ablehnung von Beweisanträgen zulässig sei. Sie beruhten auf dem Gedanken, daß eine Vorwegnahme der Beweiswürdigung unzulässig sei, weil die Erfahrung lehre, daß der Gebrauch eines zur Verfügung stehenden, nicht offensichtlich untauglichen Beweismittels das Bild des zu beurteilenden Sachverhalts selbst dann wider Erwarten verändern könne, wenn das Gericht glaubt, die Feststellung einer Tatsache unbedenklich auf das bisherige Beweisergebnis stützen zu können (RGSt. 65 305). Die Emminger-Reform 1924 führte, obwohl der Wortlaut des § 245 Abs. 2 a. F. (abgesehen von der Einbeziehung der Verhandlungen vor dem Amtsrichter als Einzelrichter) nicht geändert wurde, zu einer Erweiterung des Bereichs, in dem das Ermessen des Gerichts den Umfang der Beweisaufnahme bestimmte, weil infolge Beseitigung der erstinstanzlichen Strafkammern deren Zuständigkeit auf die Schöffengerichte überging. Diese aus der Finanznot der Währungsumstellung geborene Erweiterung wurde indessen bereits durch das Ges. v. 22. 12. 1925 (RGBl. I 475) wieder rückgängig gemacht. Danach bestimmte in Verhandlungen vor dem Amtsrichter, dem Schöffengericht und dem Landgericht als Berufungsinstanz das Gericht den Umfang der Beweisaufnahme nur noch bei Übertretungen und Privatklagevergehen. Auswüchsen des Parteibestimmungsrechts trat das Ges. v. 27. 12. 1926 (RGBl. I 529) entgegen, indem es zum Zweck der Prozeßverschleppung gestellte Anträge für unbeachtlich erklärte. Die „Diktatur der Armut" in den Zeiten der 1930 beginnenden wirtschaftlichen Depression brachte von neuem erhebliche Beschränkungen der Parteidisposition: die Not-VO v. 14. 6. 1932 (Erster Teil Kap. I Art. 3 § 1) bestimmte, daß in der Verhandlung vor dem Amtsrichter, dem Schöffengericht und dem Landgericht in der Berufungsinstanz das freie pflichtmäßige Ermessen des Gerichts den Umfang der Beweisaufnahme bestimme. Der „Strengbeweis" galt nunmehr nur noch für erstinstanzliche Gerichte, gegen deren Urteil es keine Berufung gab (Große Strafkammer, Schwurgerichte, Oberlandesgericht und Reichsgericht als Gerichte erster und letzter Instanz); das Erfordernis des Strenbeweises sollte hier die Gefahren abmildern, die sich aus dem Fehlen einer zweiten Tatsacheninstanz ergeben. Das Ges. v. 28. 6. 1935 übernahm diese (z. Z. ihres Erlasses als vorübergehende Notmaßnahme gedachte) Regelung formlich als Dauerrecht in die StPO, brachte aber wichtige Ergänzungen. Es führte für den Beweis durch Augenschein und Sachverständige allgemein das freie Ermessen des Gerichts ein und gab im übrigen dem Strengbeweis seinen gesetzlichen Inhalt, indem im Anschluß an die in der Rechtsprechung ausgebildeten Grundsätze die Voraussetzungen umschrieben wurden, unter denen ein Beweisantrag abgelehnt werden darf. Dabei wurde der bis dahin unausgesprochen gebliebene Grundgedanke, daß das Gericht von Amts wegen alles zur Erforschung der Wahrheit Erforderliche zu tun habe, förmlich niedergelegt und als beherrschender Grundsatz an die Spitze der Vorschriften über die Beweisaufnahme gestellt. Zugleich wurde die Pflicht des Gerichts, die Beweisaufnahme auf die präsenten Beweismittel zu erstrecken, beseitigt. Die Regelung durch das Ges. v. 28. 6. 1935 war zwar als Dauerrecht gedacht. Indessen wollte der StPO-Entw. 1939 erneut entscheidend abweichen und die Bestimmung des Umfangs der Beweisaufnahme allgemein dem richterlichen Ermessen überlassen. Das sollte zwar nicht mit dürren Worten, sondern in verhüllter Form ausgesprochen werden. Unter der Überschrift „Umfang der Beweisaufnahme" enthält § 64 des Entwurfs lediglich den Satz: „Das Gericht ist verpflichtet, von Amts wegen alles zu tun, was zur Erforschung der Wahr-

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B6 heit notwendig ist" und § 65 („Entscheidung über Beweisanträge") begnügt sich mit dem Satz: „Über Beweisanträge entscheidet der Vorsitzer durch Beschluß". Die Begründung (S. 46) führt dazu aus, der alles beherrschende Wahrheitserforschungsgrundsatz sei „so einfach und klar, daß eine gesetzliche Erläuterung des Umfanges der Beweisaufnahme durch Einzelvorschriften unnötig ist". Der Entwurf, so heißt es weiter, verzichte abweichend vom geltenden Recht darauf, die in der Rechtsprechung herausgearbeiteten Ablehnungsgründe ausdrücklich in das Gesetz aufzunehmen und dabei zwischen Verfahren mit einem oder zwei Tatsachenrechtszügen zu unterscheiden, „denn das Gebot, von Amts wegen die Wahrheit zu erforschen, ist die erschöpfende Grundlage dieser Regeln und muß auch künftig in der Rechtsprechung Leitstern für die Bestimmung des Umfangs der Beweisaufnahme sein". Aber während die summarischen Vorschriften des Entwurfs und die unklaren, das Problem verhüllenden Ausführungen der Begründung der Rechtsprechung Raum zur Entwicklung neuer Grundsätze gelassen hätten, bekannte die VO v. 1.9. 1939 (RGBl. I 1685) Farbe, deren § 24 bestimmte, daß das Gericht einen Beweisantrag ablehnen könne, wenn es nach seinem Ermessen die Erhebung des Beweises zur Erforschung der Wahrheit nicht für erforderlich halte. Der Sinn dieser Vorschrift ging eindeutig dahin, daß die bisher unterschiedliche Regelung des Beweisaufnahmerechts, je nachdem, ob zwei oder nur eine Tatsacheninstanz gegeben waren, entfallen und in den Verhandlungen vor allen Gerichten das pflichtmäßige Ermessen des Gerichts über den Umfang der Beweisaufnahme entscheiden solle. Die rechtspolitischen Bedenken gegen die globale Beseitigung des Verbots der vorweggenommenen Beweiswürdigung erwiesen sich aber stärker, als der Gesetzgeber angenommen hatte. Da die VO es unterlassen hatte, die Vorschriften der StPO förmlich zu bezeichnen und außer Kraft zu setzen, die durch die heuen Vorschriften ersetzt werden sollten, entstand im Schrifttum Streit, ob § 24 der VO nur den § 245 Abs. 1 (betr. Verhandlungen vor Amtsrichter, Schöffengericht und Landgericht als Berufungsinstanz) oder auch den § 245 Abs. 2 (betr. Verhandlungen vor den anderen Gerichten) ersetzt habe. Auch wurde darüber gestritten, nach welchen Gesichtspunkten das „freie Ermessen" auszuüben sei. Die Rechtsprechung des R G (St. 74 147; 75 11) - von N i e t h a m m e r in der 20. Aufl. S. 53f. hart getadelt — zeigte sich zum Nachgeben gegenüber den gesetzgeberischen Absichten bereit. Gegen ein Wiederaufleben solcher Tendenzen richten sich die beschwörenden Mahnungen N i e t h a m m e r s , die Wahrheitserforschungspflicht mit größtem Emst wahrzunehmen, die die Einleitung in der 20. Aufl. durchziehen. Das Vereinheitlichungsgesetz v. 12. 9. 1950 ist grundsätzlich zu dem vor der Not-VO v. 14. 6. 1932 geltenden, auf dem Ges. v. 22. 12. 1925 beruhenden Rechtszustand zurückgekehrt. Ja es zieht nach dem Gesetz des Pendelausschlags den Anwendungsbereich des Strengbeweises weiter als das frühere Recht. Während damals nach § 245 Abs. 2 a. F. in Übertretungs- und Privatklagesachen das Gericht den Umfang der Beweisaufnahme bestimmte, beschloß der Bundestag entgegen dem Vorschlag des Regierungsentwurfs, nur noch die Privatklagesachen dem Strengbeweis des § 244 Abs. 3, § 245 zu entziehen (§ 384 Abs. 2), während im übrigen zwischen Übertretungen, Vergehen und Verbrechen kein Unterschied mehr besteht. Überdies zeigt sich im Schrifttum (vgl. die Anm. 3 zu § 384) die Neigung, die Bedeutung der nur noch für Privatklagesachen bestehenden Ausnahme abzuschwächen und die Bedenken einer vorweggenommenen Beweiswürdigung zu betonen, während in der zu § 245 Abs. 2 a. F. erwachsenen Rechtsprechung (vgl. die Nachweise in der 19. Aufl. dieses Werkes, Anm. 9 zu § 245) kein Zweifel bestand, daß im Bereich der Ermessensfreiheit die Vorwegnahme der Beweiswürdigung statthaft sei und zur Begründung der Ablehnung eines Beweisantrags die Erklärung genüge, daß das Gericht die verlangte Beweiserhebung angesichts des Ergebnisses der Verhandlung nicht mehr für erforderlich halte. So versteht auch E b S c h m i d t Anm. 5 zu § 384 und OLG Köln, JMB1. 1955 131 den § 384 Abs. 2. Davon abzugehen — etwa aus der Vorstellung heraus, es handele sich bei § 384 Abs. 2 um einen letzten Rest einer im übrigen preisgegebenen, weil unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten nicht vertretbaren Rechtshandhabung — besteht kein Anlaßt Schließlich ist zu bedenken, daß die 1950 für Übertretungen getroffene Regelung nicht nur einen Bruch mit einem jahrzehntelang unangefochten geltenden Rechtszustand, sondern auch einen schwer zu harmonisierenden Widerspruch mit der für Ordnungswidrigkeiten geltenden Regelung bedeutet. Diese Diskrepanz tritt besonders deutlich hervor, seitdem inzwischen die Masse der bisherigen Übertretungen in Ordnungswidrigkeiten umgestaltet ist, der Rest der 158

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heutigen Übertretungen am 30. 9. 1973 aufhören wird, zu bestehen, und im übrigen zahlreiche Gesetzesverstöße, die früher Vergehen dargestellt hätten, in den neueren Gesetzen nur als Ordnungswidrigkeiten bedroht sind. Denn nach § 78 Abs. 1 OWiG 1968 bestimmt, wenn es zu einer Hauptverhandlung kommt, das Gericht den Umfang der Beweisaufnahme. Mit der Erwägung, daß es sich bei den Ordnungswidrigkeiten nicht um kriminelles Unrecht handelt 117 , ist diese Verschiedenheit nicht zu begründen, denn die Belegung mit einer erheblichen Geldbuße kann für den Betroffenen viel einschneidender sein als die Bestrafung mit einer geringen Geldstrafe (s. oben S. 32). Auch das Beweisantragsrecht der Beteiligten zwingt das Gericht nur zur Beweiserhebung über Tatsachen, die für das Urteil über Täterschaft und Schuld und die daraus sich ergebenden Rechtsfolgen von Bedeutung sind (BGHSt. 17 337, 344); es gilt nicht für sonstige prozeßerhebliche Umstände, insbesondere nicht für die Feststellung von Verfahrensvoraussetzungen (vgl. Anm. 7 zu § 244). 7. Der Grundsatz des rechtlichen Gehörs 118 . 1. Art. 103 Abs. I G G bestimmt: „Vor Gericht hat jedermann Anspruch auf rechtliches Gehör". Wer behauptet, in diesem Recht verletzt zu sein, kann nach Erschöpfung des Rechtswegs Verfassungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht erheben (§ 90 BVerfGG). Soweit es sich um das rechtliche Gehör des Beschuldigten im ordentlichen Strafverfahren handelt, sind die Vorschriften der StPO darauf ausgerichtet, daß der Beschuldigte schon frühzeitig und in allen Verfahrensstadien Kenntnis von dem gegen ihn erhobenen Schuldvorwurf und Gelegenheit zur Verteidigung erhält. a) Nach § 163 a StPO ist im Ermittlungsverfahren der Beschuldigte spätestens vor dem Abschluß der Ermittlungen zu vernehmen oder — in einfachen Sachen — ihm Gelegenheit zu schriftlicher Äußerung zu geben, es sei denn, daß das Verfahren zur Einstellung führt. Hinzu tritt, wenn die Staatsanwaltschaft die Erhebung der öffentlichen Klage durch Einreichung einer Anklageschrift erwägt, die Mitteilung an den Beschuldigten vom Abschluß der Ermittlungen und die Gewährung von Gelegenheit zu Verteidigungsmaßnahmen nach § 169 a sowie das Recht auf Schlußgehör nach Maßgabe des § 169 b und c StPO. Ist Anklage erhoben, so wird dem Angeschuldigten die Anklageschrift mitgeteilt, und er erhält vor dem Beschluß über die Eröffnung des Hauptverfahrens erneut Gelegenheit zu Einwendungen und Verteidigungsmaßnahmen (§ 201). b) Insbesondere die Vorschriften über die Gestaltung der Hauptverhandlung — grundsätzlich obligatorische Anwesenheit des Angeklagten, seine Vernehmung zur Sache schon zu Beginn der Hauptverhandlung nach Vortrag des Anklagesatzes nach Maßgabe der §§ 243 Abs. 4, 136 Abs. 2, die Befragung des Angeklagten nach der Vernehmung einer jeden Beweisperson und jedes Mitangeklagten und nach der Verlesung eines jeden Schriftstückes, ob er etwas zu erklären habe (§ 257), das Erklärungsrecht des Verteidigers nach § 257 a, die Belehrung über die Veränderung des rechtlichen Gesichtspunkts und neu hervorgetretene strafbarkeitserhöhende Umstände (§ 265), das Beweisantragsrecht (§ 244 Abs. 3), das Recht zum Schlußvortrag (§ 258 Abs. 1) und auf das letzte Wort (§ 258 Abs. 2, 3) u. a. m. — bezwecken, daß der Angeklagte von allem ihm nachteiligen Prozeßgeschehen Kenntnis erhält und sich verteidigen kann. Sie bringen den Grundgedanken des Gesetzes zum Ausdruck, daß der Angeklagte nicht durch das Urteil mit der Feststellung von Tatsachen überrascht werden darf, auf die er weder durch Anklage und Eröffnungsbeschluß " 7 S o BGHSt. 12 148 (150): „Allerdings werden bei bloßen Ordnungswidrigkeiten, soweit unbedeutendere Einzelheiten in Betracht kommen, häufig weniger strenge Anforderungen an die Aufklärungspflicht zu stellen sein als im eigentlichen Strafverfahren". Wegen der Bedeutung des § 78 Abs. 1 OWiG vgl. OLG H a m m N J W 1969 2161; G ö h l e r [2] 2 zu § 78. 118 Lit: L e s s e r DRiZ 1960 421; v. W i n t e r f e l d , Das Verfassungsprinzip des rechtlichen Gehörs NJW 1961 849; P f e i f f e r , Die Verfassungsbeschwerde (1959) 214ff; H. D a h s , D a s rechtliche Gehör im Strafverfahren, 1965; J a g u s c h NJW 1959 265; B r ü g g e m a n n , Rechtliches Gehör im Zivilprozeß JR 1969 361; Z e u n e r . Der Anspruch auf rechtliches Gehör in Festschrift für Nipperdey [1965] 1016.

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B7 noch durch den Gang der Hauptverhandlung ausreichend vorbereitet war (RGSt. 76 82; BGHSt. 8 92; JZ 1958 284). c) Auch dem Erlaß des Strafbefehls muß die Vernehmung des Beschuldigten vor Abschluß der Ermittlungen (§ 163 a StPO), dem Erlaß der Strafverfügung wenigstens seine Anhörung vorausgehen (§ 413 Abs. 1). Einer vorherigen gerichtlichen Vernehmung bedarf es freilich mit Rücksicht auf den Zweck des summarischen Verfahrens nicht (§ 407 Abs. 4, § 413 Abs. 4); das Recht, sich vor dem Richter zu verteidigen, bleibt dem Beschuldigten dadurch erhalten, daß er Einspruch gegen Strafbefehl und Strafverfügung einlegen und dadurch eine Hauptverhandlung erzwingen kann (BVerfGE 3 248, 253; 25 158, 1 6 5 = NJW 1969 1103, 1104). Dieses „Minimum von rechtlichem Gehör" darf dem Angeklagten nicht in verfassungswidriger Weise beschnitten werden. Zwar ist es nicht verfassungswidrig, den Lauf der Einspruchsfrist durch eine Ersatzzustellung nach § 181 oder § 182 ZPO zu eröffnen. Eine Verkürzung des Rechts auf rechtliches Gehör bedeutet es aber, wenn von einem Angeklagten, der eine ständige Wohnung hat und diese nur vorübergehend — z. B. während einer dreiwöchigen Urlaubsreise — nicht benutzt, verlangt wird, er müsse für die Zeit seiner Abwesenheit besondere Vorkehrungen treffen, daß ihm mögliche Zustellungen bekannt werden, und wenn ihm die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand versagt wird, weil es ihm zum Verschulden gereiche (vgl. § 44 Satz 2 StPO), daß er infolge Unterlassens solcher Vorkehrungen von der Zustellung keine Kenntnis erlangt habe; das gilt freilich nicht, wenn ihm ein Verschulden nach anderer Richtung zur Last gelegt werden kann, z. B. wenn er die Abholung vernachlässigt hat oder er sich einer erwarteten Zustellung vorsätzlich entziehen wollte (BVerfGE 25 158= NJW 1969 1103). 2. Es fragt sich, ob Art. 103 Abs. 1 G G lediglich den Grundsatz des rechtlichen Gehörs zum Verfassungssatz erhebt, seine Ausgestaltung im einzelnen aber dem Prozeßgesetzgeber überläßt und sich auch mit derjenigen Ausgestaltung zufrieden gibt, die das G G bei seinem Inkrafttreten in den damals geltenden Verfahrensvorschriften vorfand — in diesem Sinne hat BVerfG NJW 1954 69 die Bedeutung des Verfassungssatzes ne bis in idem in Art. 103 Abs. 3 G G aufgefaßt — oder ob die Vorschrift einen allgemeinen Programmsatz enthält, der den Prozeßgesetzgeber zur Prügung zwingt, ob es eines Ausbaues des Verfahrensrechts unter dem Gesichtspunkt weiterer Garantien des rechtlichen Gehörs bedarf oder ob schließlich die Verfassungsbestimmung unmittelbar geltendes Recht darstellt, indem sie — in freilich summarischer Weise und mit schwer übersehbaren Auswirkungen — das geltende Verfahrensrecht unmittelbar ändert und ergänzt, soweit es den Grundsatz des rechtlichen Gehörs nicht voll verwirklicht. In diesem letzteren Sinn hat die Rechtsprechung unter Führung des BVerfG die Bedeutung des Verfassungssatzes gewürdigt. Sie sieht in dem mit Verfassungskraft ausgestatteten Anspruch auf rechtliches Gehör ein Grundrecht (BVerfGE 9 95). Der Anhörungsanspruch ist danach eine Folgerung aus dem Rechtsstaatsgedanken für das Gebiet des gerichtlichen Verfahrens. Die Anhörung ist zunächst Voraussetzung einer richtigen Entscheidung. Darüber hinaus erfordert die Würde der Person, daß über ihr Recht nicht kurzerhand von Obrigkeits wegen verfügt wird; der einzelne soll nicht nur Objekt der richterlichen Entscheidung sein, sondern soll vor einer Entscheidung, die seine Rechte nachteilig betrifft, zu Wort kommen, um Einfluß auf das Verfahren und sein Ergebnis zu nehmen (BVerfG JZ 1959 207). Von dieser Wertung her hat sich das BVerfG auf den Standpunkt gestellt, daß das geltende Prozeßrecht und seine Anwendimg in der Praxis der Gerichte das rechtliche Gehör zwar weitgehend, aber doch nicht immer in ausreichendem Maß gewährleisten; es hat demgemäß den Art. 103 Abs. 1 G G nicht nur zur Auslegung des geltenden Verfahrensrechts herangezogen, sondern auch unmittelbar aus dem Grundrecht Anhörungspflichten hergeleitet (BVerfG aaO.). Wo aber das geltende Recht aus wohlerwogenen Gründen und in sorgfaltiger Abwägung zwischen widerstreitenden Interessen bewußt eine vorherige Anhörung nicht fordert oder gar untersagt, um den Zweck einer auf gerichtlicher Entscheidung beruhenden Maßnahme nicht zu gefährden (wie beim Erlaß des Haftbefehls, der Anordnung von Durchsuchung oder Beschlagnahme), ist es nicht der Sinn des Art. 103 Abs. 1 GG, solche Einschränkungen zu beseitigen; in solchen Fällen muß aber die Anhörung nachträglich erfolgen, dem Betroffenen Gelegenheit zu Gegenvorstellungen gegeben werden (BVerfG aaO.). Ebenso verstößt es nicht gegen das Gebot des rechtlichen Gehörs, wenn das Gesetz in gewissem Umfang eine Verhandlung oder Entscheidung

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gegen den ordnungsmäßig geladenen, aber ohne genügende Entschuldigung ausgebliebenen Angeklagten zuläßt; er hat die ihm gebotene Möglichkeit des rechtlichen Gehörs nicht genutzt, und es geht nicht an, daß er durch seinen Ungehorsam die Durchführung des Verfahrens verzögert oder unmöglich macht (vgl. BGHSt. 16 287, 289 zu § 329 StPO). 3. Der Grundsatz des rechtlichen Gehörs verpflichtet das Gericht, dem an einem Verfahren Beteiligten Gelegenheit zu geben, sich zu dem einer gerichtlichen Entscheidung zugrunde liegenden Sachverhalt zu äußern, sei es auch nur mit Rechtsausfiihrungen (BVerfGE 9 261, 267) und seiner Entscheidung nur solche Tatsachen und Beweisergebnisse zugrunde zu legen, zu denen Stellung zu nehmen den Beteiligten Gelegenheit gegeben war (BVerfGE 7 2 7 8 = N J W 1958 665; 9 2 6 1 , 2 6 7 = NJW 1959 1315; 9 303,305; BayVerfGH NJW 1960 1051). Das bedeutet a) Das Gebot, rechtliches Gehör zu gewähren, richtet sich an den Richter („vor Gericht") (ebenso BVerfGE 9 89; N J W 1970 240; BGHSt. 23 46, 55; H e n k e l [2] 248; P e t e r s [2] 177; M a u n z - D ü r i g Rz 92 ff. zu Art. 103 I). Den Staatsanwalt im Vorverfahren trifft keine aus Art. 103 Abs. 1 G G herleitbare Anhörungspflicht. Wenn der Prozeßgesetzgeber weitergehende Anhörungspflichten statuiert, so veranlassen ihn hierzu Gründe der Rechtsstaatlichkeit (vgl. BVerfG N J W 1970 240) oder der Zweckmäßigkeit, aber nicht das Verfassungsgebot. b) N u r Tatsachen und Beweisergebnisse sind Gegenstand der Anhörung. Zwar muß das rechtliche Gehör auch Gelegenheit zu Rechtsausfiihrungen geben (BVerfGE 9 266). Wo aber nur die rechtliche Würdigung eines Sachverhalts in Frage steht (wie bei einer auf die Rüge der Verletzung des sachlichen Rechts beschränkten Revision), besteht, soweit nicht die Verfahrensvorschriften (vgl. § 265) eine weitergehende Anhörung vorschreiben, keine durch Art. 103 Abs. 1 G G begründete Pflicht des Gerichts, die Rechtsauffassung des Gegners oder gar die Rechtsauffassung, von der das Gericht bei seiner Entscheidung auszugehen beabsichtigt, dem Beteiligten zur Stellungnahme bekannt zu geben; der Grundsatz des rechtlichen Gehörs verpflichtet das Gericht nicht, „Rechtsgespräche" mit den Beteiligten zu führen (h. M.; vgl. u. a. BGHSt. 22 336, 339; BayVerfGH N J W 1964 2295; L e s s e r DRiZ 1960 421; H e n k e l [2] 250 m. w. Nachw.; a.M. A r n d t N J W 1959 6; JZ 1963 65, 67; s. auch D a h s N J W 1961 2106; M ü l l e r NJW 1957 1016 und Anm. 2 c zu § 138 GVG). Legt also z. B. der Angeklagte Revision ein, mit der er Verletzungen sachlichen Rechts durch fehlerhafte Anwendung des Gesetzes auf die festgestellten Tatsachen rügt, so ist zwar die Revisionsschrift der Staatsanwaltschaft zuzustellen, die damit Gelegenheit erhält, in ihrer Gegenerklärung zur Rechtsfrage Stellung zu nehmen (§ 347 StPO); der Angeklagte hat aber keinen Anspruch darauf, daß ihm die Äußerung der Staatsanwaltschaft zwecks Gegenäußerung bekanntgegeben werde. Begründet der Angeklagte dagegen die Revision, mit Verfahrensmängeln und enthält die Gegenerklärung der Staatsanwaltschaft für die Beurteilung der Verfahrensrügen erhebliche neue Tatsachen oder Beweisergebnisse, so verlangt der Grundsatz des rechtlichen Gehörs, daß dem Angeklagten diese Gegenerklärung mitgeteilt wird (BVerfGE 7 275 = JZ 1958 433). c) Die Gewährung des Gehörs bedeutet, daß dem Beteiligten die entscheidungserheblichen Tatsachen und Beweisergebnisse in einer Weise mitzuteilen sind, daß er Gelegenheit hat, sich zu ihnen zu äußern 1 1 9 . In der Hauptverhandlung vor dem Tatsachengericht hat im allgemeinen der Grundsatz des Art. 103 Abs. 1 G G keine selbständige Bedeutung, da bereits die Verfahrensvorschriften das rechtliche Gehör sicherstellen. So verpflichtet nach BVerfG NJW 1960 30 der Grundsatz des rechtlichen Gehörs das Gericht, auch gerichtskundige Tatsachen zum Gegenstand der Verhandlung zu machen; für das Strafverfahren " ' E r muß also so rechtzeitig gehört werden, daß er vor der Entscheidung seine Erklärung abgeben kann. Dagegen läßt sich aus der Anhörungspflicht nicht herleiten, der Beschuldigte müsse so zeitig gehört werden, daß seine Erinnerung an die Vorgänge, aus denen der Vorwurf hergeleitet wird, noch nicht verblaßt sei (so mit Recht OLG Düsseldorf NJW 1961 1734). Eine solche Verpflichtung wäre in vielen Fällen gar nicht erfüllbar. Den Gefahren für die Sachaufklärung, die durch Zeitablauf drohen (Schrumpfung der Beweisgrundlagen), Rechnung zu tragen ist Sache der Verjährungsvorschriften (s. auch M e n d l e r NJW 1961 2103).

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B7 folgt dies aber bereits aus den allgemeinen verfahrensrechtlichen Grundsätzen (vgl. Anm. 2 b zu § 261). Immerhin können sich auch in der Hauptverhandlung Verfahrenssituationen ergeben, die unter Rückgriff auf Art. 103 Abs. 1 G G zu behandeln sind (vgl. BGH St. 13 123 = JZ 1959 535: Versagung des rechtlichen Gehörs durch Durchführung der Hauptverhandlung gegen einen gläubigen Juden an einem hohen jüdischen Feiertag, an dem er sich durch die Vorschriften seines Glaubens gehindert sieht, sich zur Sache zu erklären). Von besonderer Bedeutung im Strafverfahren ist aber das rechtliche Gehör in der Beschwerdeinstanz. Die mit der Einlegung der Beschwerde erstrebte Änderung der angefochtenen Entscheidung zun» Vorteil des Beschwerdeführers gereicht in der Regel dem Beschwerdegegner zum Nachteil. Der Grundsatz des rechtlichen Gehörs verlangt, daß das Gericht, wenn es der Beschwerde stattgeben will, sie dem Gegner zur Gegenerklärung mitteilen muß. Das 3. Strafrechtsänderungsgesetz v. 4. 8. 1953 zog die Folgerung aus Art. 103 Abs. 1 G G , indem es den § 308 StPO dahin ergänzte, daß das Beschwerdegericht in der Regel die angefochtene Entscheidung nicht zum Nachteil des Gegners ändern darf, ohne daß diesem die Beschwerde zur Gegenerklärung mitgeteilt worden ist. Hier kommt es nicht darauf an, ob die Beschwerde auf neue Tatsachen gestützt ist oder vom Beschwerdegericht angestellte Ermittlungenzu neuen Ergebnissen geführt haben; die Anhörung des Gegners ist vielmehr, um ihn vor Überraschungen zu schützen, auch bei unverändertem Sachverhalt vorgeschrieben. Mit der genannten Gesetzesänderung ist aber die Bedeutung des Art. 103 Abs. 1 G G für das Beschwerdeverfahren nicht erschöpft. Vielmehr muß das Beschwerdegericht, wenn nach seiner Auffassung die auf die Beschwerde hin angestellten Ermittlungen die Zurückweisung der Beschwerde rechtfertigen, dem Beschwerdeführer selbst unter Mitteilung des Ermittlungsergebnisses Gelegenheit zur Stellungnahme geben (BVerfGE 8 184,208). d) Aus der Pflicht zur Anhörung ergibt sich, daß das Gericht von der Stellungnahme des Gehörten Kenntnis zu nehmen und sie auch zu würdigen hat (BVerfGE 21 46, 48; BGHSt. 22 336, 339). Der Anspruch auf rechtliches Gehör ist demgemäß z. B. verletzt, wenn das Gericht gemäß § 153 Abs. 3 StPO das Verfahren mit Zustimmung der Staatsanwaltschaft einstellt, bevor es über den vorliegenden Antrag auf Zulassung als Nebenkläger (§ 396 StPO) entschieden hat (BVerfG NJW 1962 2248). Doch bedeutet die Pflicht zur Würdigung des Vorbringens des Gehörten nicht, daß das Gericht gehalten wäre, in den Gründen seiner Entscheidung auf jedes Argument einzugehen (BVerfG NJW 1969 1104, 1108). e) Der Anspruch auf Gehör ist verletzt, wenn die erforderliche Anhörung unterbleibt; ob das Gericht daran ein Verschulden trifft, ist ohne Bedeutung (BayVerfGH NJW 1961 451). Der Erlaß einer Entscheidung unter Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör bedeutet einen Verfahrensverstoß, der nach den allgemeinen Vorschriften durch Einlegung der zulässigen Rechtsmittel gegen die ergangene Entscheidung geltend gemacht werden kann. Jedoch ist ein Urteil nur aufzuheben, wenn es auf dem Verstoß beruhen kann; er bildet keinen absoluten Revisionsgrund (BGHZ 31 47; BVerfGE 7 95, 99, 239, 241; 8 253,256; 9 123, 124). Auch reicht die Bedeutung des Verstoßes nicht so weit, daß er, wenn Rechtsmittel nicht oder nicht mehr in Betracht kommen, das Urteil unwirksam machte (BGHSt. 11 288 = JZ 1958 486). Denn für die Frage, ob ein Gesetzesverstoß die darauf beruhende Entscheidung unwirksam machen kann, kann es immer nur auf das Maß der Fehlerhaftigkeit der Entscheidung, nicht aber darauf ankommen, ob die verletzte Norm in einem einfachen Gesetz enthalten oder — mehr oder weniger zufallig — (auch) in einem Verfassungssatz niedergelegt ist. Eine Besonderheit des vorliegenden Verfahrensverstoßes besteht aber darin, daß er — nach Erschöpfung der Rechtsmittel — gemäß § 90 BVerfGG mit der Verfassungsbeschwerde zum BVerfG geltend gemacht werden kann; wird der Verfassungsbeschwerde stattgegeben, so hebt nach § 95 Abs. 2 BVerfGG das BVerfG die Entscheidung, die auf der Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör beruht, auf. Um solche Verfassungsbeschwerden zu erübrigen, hat BGHSt. 22 26 den Grundsatz aufgestellt, daß in allen Fällen, in denen die Revision eine Verletzung des Art. 103 Abs. 1 in der durch § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO vorgeschriebenen Form schlüssig behauptet, schon das Revisionsgericht nicht nur berechtigt, sondern mit Rücksicht auf die Bedeutung der Verfassungsnorm auch verpflichtet sei, selbst den von der Revision erhobenen Vorwurf zu prüfen und sich dabei aller zur Verfügung 162

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stehenden Beweismittel (z. B. Einholung dienstlicher Äußerungen der beteiligten Richter) zu bedienen, auch wenn das Strafverfahrensrecht als solches eine Beweiserhebung nicht vorsieht (Freibeweis). Eine weitere Besonderheit der Verabsäumung des rechtlichen Gehörs besteht darin, daß die Anhörung von Amtswegen oder auf Antrag nachzuholen ist, wenn das Gericht in einem mit Rechtsmitteln oder Rechtsbehelfen nicht oder nicht mehr angreifbaren Beschluß zum Nachteil eines Beteiligten Tatsachen oder Beweisergebnisse verwertet hat, zu denen er noch nicht gehört worden ist, oder wenn das Beschwerdegericht einer Beschwerde durch nicht mehr anfechtbaren Beschluß ohne Anhörung des Gegners des Beschwerdeführers stattgegeben hat. Je nach dem Ergebnis der Anhörung und etwaiger daraufhin veranlaßter Aufklärungen kann das Gericht seinen Beschluß ändern (§§ 33 a, 311 Abs. 3 Satz 2, 311a, eingefügt durch das StPÄG 1964). Mit der in diesen Vorschriften zugelassenen Durchbrechung der Unanfechtbarkeit eines Beschlusses, die der Bedeutung des rechtlichen Gehörs Rechnung tragen und zugleich die Verfassungsbeschwerde gegen solche Beschlüsse weitgehend überflüssig machen soll, hat sich die früher lebhaft erörterte Streitfrage (vgl. S. 137 der Vorauflage) erledigt, ob trotz des grundsätzlichen Ausschlusses der weiteren Beschwerde in anderen als den in § 310 Abs. 1 StPO bezeichneten Fällen praeter oder contra legem die weitere Beschwerde zuzulassen sei (OLG Hamburg NJW 1965 2417). f) Art. 103 I G G bestimmt nicht, daß eine Person, die an einem gerichtlichen Verfahren beteiligt und darin gehört (oder zu Unrecht nicht gehört) worden ist, auch ein Rechtsmittel gegen eine sie belastende Entscheidung haben müßte (BVerfGE 1 433, 437; BGH NJW 1957 713; BGHSt. 19 7, 19). Doch entspricht es dem richtig verstandenen rechtlichen Gehör, einem Beteiligten, der nicht Beschuldigter ist, wenn er durch eine Entscheidung in gleicher oder gar stärkerer Weise wie der Angeklagte betroffen wird, zur Wahrung seiner Rechte diejenigen Rechtsmittel einzuräumen, deren sich auch der Angeklagte bedienen kann (BGHSt. 19 7, 19). Dagegen kann aus Art. 103 I G G nicht hergeleitet werden, daß ihm, wo das Gesetz gegen eine beschwerende Entscheidung Rechtsmittel nicht vorsieht, ein Rechtsmittelweg zur Nachholung und Vertiefung von Einwendungen in einer zweiten Instanz eröffnet werden müßte. 8. Öffentlichkeit der Verhandlung. 1. Der Grundsatz der Öffentlichkeit der Verhandlung (§§ 169 ff. GVG), eine der „grundlegenden Einrichtungen des Rechtsstaats" (BGHSt. 9 280), schließt aus, daß die Tätigkeit des Gerichts hinter verschlossenen Türen stattfindet und dadurch Mißdeutungen und dem Argwohn ausgesetzt ist. Über die Entstehungsgeschichte dieses Grundsatzes und seine allgemeine Bedeutung vgl. die Vorbemerkungen vor § 169 GVG. Der Grundsatz der Öffentlichkeit muß zurücktreten, wenn Schäden für vorgehende Belange — des öffentlichen Wohls wie auch von privaten Beteiligten — zu besorgen sind (§§ 170ff., namentlich § 172). Im Interesse der Erziehung Jugendlicher ist die Verhandlung vor den Jugendgerichten nicht öffentlich (§ 48 JGG); die Verhandlung gegen Heranwachsende ist zwar grundsätzlich öffentlich, doch kann auch hier die Öffentlichkeit ausgeschlossen werden, wenn dies im Interesse der Erziehung des Angeklagten geboten ist (§ 109 Abs. 1 Satz 2 JGG). Der Grundsatz der Öffentlichkeit verlangt, daß die Hauptverhandlung in einem Raum (an einem Ort) stattfindet, zu dem während der Dauer der Verhandlung grundsätzlich jedermann der Zutritt in dem nach der Größe und Beschaffenheit des Raums möglichen Umfang offensteht; die Öffentlichkeit ist auch dann gewahrt, wenn bei einem kleinen Raum Zuhörer nur in sehr begrenzter Zahl Zutritt haben, dagegen ist sie grundsätzlich gesetzwidrig beschränkt, wenn der Raum so eng ist, daß Zuhörer nicht teilnehmen können (BGHSt. 5 75). Über Einzelheiten s. Anm. 3 zu § 169 GVG. 2. Die technischen Errungenschaften der neueren und neuesten Zeit, die es ermöglichen, Vorgänge, die sich innerhalb eines Raumes abspielen, auch solchen Personen, die sich außerhalb dieses Raumes befinden, akustisch (Tonbandaufnahmen, Rundfunkübertragungen) oder optisch (Filmaufnahmen, Fernsehen) oder optisch und akustisch zugleich zu Wahrnehmung zu übermitteln, sei es durch unmittelbare Sendung aus dem Raum, sei es durch spätere Verbreitung von Film- und Tonbandaufnahmen, hat zu dem Problem der sogenann-

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B 8 ten mittelbaren Öffentlichkeit geführt 120 . Die Frage war namentlich, ob die Prozeßbeteiligten (insbesondere Angeklagter, Verteidiger, Zeugen), soweit der Vorsitzende Ton- und Bildaufnahmen nicht aus sitzungspolizeijjchen Gründen (§ 176 GVG) untersagte, es im Interesse eines Informationsrechts der Öffentlichkeit hinnehmen müßten, daß durch Bild und Ton ihr Verhalten vor Gericht, in gleicher Weise, wie es für die im Gerichtssaal Anwesenden wahrnehmbar ist, der Wahrnehmung durch die Öffentlichkeit außerhalb des Gerichtssaals zugänglich gemacht werde. a) Die Auffassungen darüber, inwieweit der einzelne Prozeßbeteiligte auf die Übermittlung seines Verhaltens an die allgemeine Öffentlichkeit — zustimmend oder ablehnend — Einfluß nehmen könne, gingen zunächst in Schrifttum und Rechtsprechung beträchtlich auseinander. Schließlich setzte sich aber in der — vom Schrifttum überwiegend begrüßten — Rechtsprechung die Auffassung durch (vgl. BGHSt. 10 202), daß es etwas anderes ist, ob der Prozeßbeteiligte vor der begrenzten Zahl von Zuhörern im Gerichtssaal auftritt, oder ob er sich gewissermaßen der breitesten Öffentlichkeit und ihrer Kritik gegenübergestellt sieht. Diese Vorstellung kann ihn in gesteigertem Maß befangen machen, den Angeklagten bei seiner Verteidigung und seinen Verteidiger bei der Wahrnehmung seiner Aufgabe hemmen, auf den Zeugen in einem für die Wahrheitsfindung ungünstigen Sinn einwirken usw. Setzt aber die Wahrheitserforschung schon der Gerichtsöffentlichkeit Grenzen (vgl. Anm. l a zu § 172 GVG), so muß dies erst recht gelten, wenn lediglich das Informationsinteresse der breiteren Öffentlichkeit in Frage steht. b) Die Rechtsprechung begnügte sich zunächst mit dem Satz, daß gegen den Widerspruch eines Prozeßbeteiligten, der damit zugleich sein allgemeines Persönlichkeitsrecht geltend macht, eine Übertragung des ihn betreffenden Teils der Verhandlung nicht zulässig sei. Der im Schrifttum vertretenen weitergehenden Auffassung, daß auch ohne Rücksicht darauf, ob ein Prozeßbeteiligter widerspricht oder einverstanden ist, das Gebot der Wahrheitsfindung es dem Vorsitzenden ausnahmslos oder doch in aller Regel verbiete, Aufnahmen von Teilen der Hauptverhandlung zwecks öffentlicher Vorführung oder Übertragung zuzulassen, schloß sich BGHSt. 16 111 = NJW 1961 1781; N J W 1964 602 insofern an, als dort ausgesprochen ist, daß alle Vorgänge in der Hauptverhandlung, auf die sich die Überzeugungsbildung des Gerichts stützen kann, nicht durch Fernsehen übertragen werden dürfen. c) Den (vorläufigen?) Abschluß der Entwicklung brachte schließlich der durch das StPAG 1964 eingefügte Satz 2 des § 169 G V G , wonach Ton- und Filmaufnahmen zum Zweck der öffentlichen Vorführung oder Veröffentlichung ihres Inhalts unzulässig sind, ohne Rücksicht darauf, ob die Prozeßbeteiligten den Aufnahmen widersprechen oder nicht, ob sie ausdrücklich mit ihnen einverstanden sind oder sie gar förmlich begehren, denn die Vorschrift ist u. a. auch dazu bestimmt, einen möglichen Anreiz für den Angeklagten „zum Herostratentum" auszuschließen (BGHSt. 22 83 = N J W 1968 804 m. Anm. E b S c h m i d t = JZ 1968 803 m. Anm. R o x i n betr. die Bedeutung eines Verstoßes als Revisionsgrund). Dieses Verbot gilt auch — was bis dahin rechtspolitisch umstritten war — für die Urteilsverkündung und ist auch insoweit durch das Gebot der Wahrheitsfindung begründet, indem es ausschließt, daß die Beteiligten sich durch die Aufnahme davon abhalten lassen, noch während der Urteilsverkündung das Wort zur Stellung von Anträgen zu erbitten, oder daß der Vorsitzende sich bei seiner Ermessensentscheidung, ob er einer Wortmeldung stattgeben soll, bewußt oder unbewußt von der Rücksicht auf die Aufnahme beeinflussen läßt, oder daß gar die Erwartung der Aufnahme der Urteilsverkündung für Rundfunk oder Femsehen die Beratung des Gerichts beeinflußt (BGH aaO.). d) Die rechtspolitischen Auseinandersetzungen über die Zulässigkeit von Aufnahmen dauern aber auch nach Schaffung des § 169 Satz 2 an. So ist die „mangelnde Durchsetz barkeit" der Vorschrift Gegenstand der Klage (vgl. K o h l h a a s N J W 1970 600). Bemängelt 120

Vgl. u. a. E b S c h m i d t , Öffentlichkeit oder Publicity in Festschrift für W. Schmidt 1959 S. 338; B o c k e l m a n n , Öffentlichkeit und Strafrechtspflege, NJW 1960 217; E r d s i e k , NJW 1960 1048; A r n d t , NJW 1960 423; E b S c h m i d t , Justiz und Publizistik, 1968; M a u l , Bild- und Rundfunkberichterstattung im Strafverfahren MDR 1970 286.

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wird auch die „kleinliche Enge" der Vorschrift, die es nicht gestatte, „dem Schutz der justiziellen Atmosphäre im Gerichtssaal, der Würde des Gerichts, dem Ernst der Strafrechtspflege" genügend Rechnung zu tragen (so E b S c h m i d t in der Anm. zu BGHSt. 23 123 = JZ 1970 108, wonach § 169 Satz 2 nicht gilt für Ton-, Fernseh- und Filmaufnahmen, die während einer Verhandlungspause in Abwesenheit des Angeklagten gemacht werden). 3. Die öffentliche Durchführung der Hauptverhandlung dient auch dazu, das Interesse der breiteren Öffentlichkeit an Informationen über Strafverfahren, die die Aufmerksamkeit erregen, auf legitime Art — in erster Linie durch die Berichterstattung in Tageszeitungen — in einem Zeitpunkt zu befriedigen, in dem nach der Auffassung des Gesetzgebers im allgemeinen von der öffentlichen Ausbreitung des Prozeßstoffs vor der Öffentlichkeit keine Gefahren für die Wahrheitsfindung mehr zu besorgen sind. Aber auch hier drohen Gefahren. So sind z. B. Zeugen nach § 58 StPO einzeln und in Abwesenheit der später anzuhörenden Zeugen zu vernehmen, damit der spätere Zeuge seine Aussage nicht auf die des früher Vernommenen abstimmen kann. Aber bei einer Hauptverhandlung von mehrtägiger Dauer können die noch nicht vernommenen Zeugen sich jeweils über die Aussagen der bereits vernommenen Zeugen aus den Zeitungsberichten über die Verhandlung unterrichten. Das Gesetz sieht diese und ähnliche Schattenseiten des Öffentlichkeitsgrundsatzes um der vorrangigen Zwecke, denen die Öffentlichkeit der Verhandlung dient, als erträglich an. Die Presseerörterung kann aber für die Rechtsfindung bedrohlich werden, wenn sie, statt den Prozeßverlauf wahrheitsgetreu und objektiv zu schildern, zu dem Prozeß in einer Weise Stellung nimmt, die geeignet ist, auf das Verfahren und seinen Ausgang einzuwirken. Die Rechtsprechung sieht den Unmittelbarkeitsgrundsatz bereits als verletzt an, wenn die Schöffen und Geschworenen vor oder während der Hauptverhandlung Kenntnis von dem Ermittlungsergebnis der Anklageschrift erhalten, weil sie davon eine Beeinträchtigung der Unbefangenheit des Laienbeisitzers, der die Darstellung der Anklageschrift schon als erwiesen ansehen könnte, befürchtet (vgl. S. 153). Aber nicht weniger wird seine Unbefangenheit gefährdet, wenn er in der Zeitung, mit großem Nachdruck und unter entsprechender Verteilung von Lob und Tadel an die Prozeßbeteiligten und Beweispersonen vorgetragen, liest, daß schon am ersten Verhandlungstag der Angeklagte vollständig überführt oder auch umgekehrt, daß die Anklage kläglich zusammengebrochen sei. Diese Gefahr für die Unbefangenheit der Prozeßbeteiligten ist aber keine spezifische Folge aus der Öffentlichkeit der Verhandlung, denn sie droht stets, wenn ein schwebendes Verfahren vor die Öffentlichkeit gebracht wird — durch Presse, Rundfunk, Film, Protestversammlungen usw. — und durch die Art der Darstellung, durch Kritiken, Prognose, Forderungen in einer Weise erörtert wird, die das Ergebnis des Verfahrens vorwegnimmt. Das geltende Recht bietet nur geringe Möglichkeiten, diesen Gefahren entgegenzutreten (vgl. §§ 17, 18 des Reichspressegesetzes: Verbot der Veröffentlichung der Anklageschrift und anderer amtlicher Schriftstücke eines Strafverfahrens durch die Presse vor der Kundgabe in öffentlicher Verhandlung oder vor Verfahrensende). Die Forderung nach Schließung dieser Lücke durch ein strafbewehrtes Verbot, das künftige Ergebnis schwebender Strafverfahren in öffentlicher Erörterung vorwegzunehmen, wird seit langem und gerade in neuerer Zeit mit besonderem Nachdruck erhoben. In Anknüpfung an den Entwurf des 1. Strafrechtsänderungsgesetzes 1950 (BT-Drucks. Nr. 1367 der Wahlperiode 1949/53) und an Vorbilder des ausländischen Rechts sieht § 452 StGB-Entw. 1962 eine Strafvorschrift gegen Störung der Strafrechtspflege vor: „Wer öffentlich während eines Strafverfahrens vor dem Urteil des ersten Rechtszuges in Druckschriften, in einer Versammlung oder in Darstellungen des Ton- oder Fernsehrundfunks oder des Films 1. den künftigen Ausgang des Verfahrens oder den Wert eines Beweismittels in einer Weise erörtert, die der amtlichen Entscheidung in diesem Verfahren vorgreift, oder 2. über das Ergebnis nichtamtlicher Ermittlungen, die sich auf die Sache beziehen, eine Mitteilung macht, die geeignet ist, die Unbefangenheit der Mitglieder des Gerichts, der Zeugen oder der Sachverständigen oder sonst die Findung der Wahrheit oder einer gerechten Entscheidung zu beeinträchtigen, w i r d . . . bestraft". Solange es an solchen gesetzlichen Maßnahmen zur Erhaltung der Unbefangenheit fehlt, kann der Ausweg nicht darin gesehen werden, mit Hilfe von Ablehnungsgesuchen die ehrenamtlichen Richter auszuschließen, die vor oder während der Verhandlung in der örtlichen Presse etwa eingehende Darstellungen des Tatgeschehens lesen, wonach an der Schuld 165

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B9 des Angeklagten kein Zweifel bestehe. Nach BGHSt. 22 289, 294 ist davon auszugehen, daß „auch der Laienrichter seine Pflicht, solchen Einwirkungen keinen Einfluß zu gewähren und seine Überzeugungen ausschließlich auf Grund der Hauptverhandlung zu gewinnen, kennt und b e a c h t e t . . . Wollte man . . . demgegenüber ohne besonderen Anhalt im Einzelfall ganz allgemein davon ausgehen, daß jeder Laienrichter durch die Lektüre eines die Ergebnisse des Verfahrens ungehörig vorwegnehmenden Zeitungsartikels einen Grund für seinen Ausschluß von der Mitwirkung an der Verhandlung und Entscheidung der betreffenden Sache schafft, so wäre damit nicht nur der Presse ein ihr nicht zukommender Einfluß auf die Besetzung der Gerichte eingeräumt, sondern auch die Mitwirkung von Laien an der Rechtspflege als Einrichtung von Grund auf in Frage gestellt". 9. Der gesetzliche Richter. 121 ' 1. Zu den Prozeßmaximen (im weiteren Sinn) läßt sich auch der Grundsatz zählen, daß niemand seinem Richter entzogen werden darf (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG, § 16 GVG). a) Diese Vorschrift richtet sich an den Gesetzgeber und an alle Organe der Staatsgewalt, auch an die Richter selbst und gilt auch, soweit es sich um Maßnahmen innerhalb der Gerichtsorganisation handelt (BVerfGE 4 12; BGHZ 20 358; BVerwG NJW 1960 1542). Verletzungen des Grundsatzes können auch mit der Verfassungsbeschwerde geltend gemacht werden (§§ 90 ff. BVerfGG). Inhaltlich besagt der aus dem Verbot der Richterentziehung entwickelte Grundsatz des gesetzlichen Richters, daß grundsätzlich im voraus durch Gesetz und die in ihm vorgesehenen Maßnahmen (Geschäftsverteilungsplan der Gerichte, §§ 62,63 GVG) nach generellen Merkmalen der künftig mit einer Sache befaßte Richter so eindeutig und genau wie möglich bestimmt werden muß (BVerfGE 18 345, 351; 21 139, 145) und daß niemand das Tätigwerden des Richters, der nach den allgemeinen (für jedermann geltenden) Vorschriften zur Entscheidung über die in Frage stehende Tat berufen ist, durch andere als verfahrensmäßig zulässige Maßnahmen 1 2 1 ausschließen darf. b) Uber den ursprünglichen Sinn der Regelung hinaus kann nach BVerfGE 10 200 (zustimmend K e r n JZ 1960 244) eine Richterentziehung auch dadurch erfolgen, daß die abstrakte Zuständigkeitsregelung des GVG verletzt wird, indem durch Gesetz allgemein gewisse Sachen einer Instanz zugewiesen werden, die nicht als Gericht i. S. des Art. 92 G G anzusehen ist. Eine Ausweitung des Verbots der Richterentziehung über den Wortlaut des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 G G hinaus liegt auch darin, daß nach BVerfGE 21 139 der Verfassungssatz nicht als eine „nur formale Bestimmung" verstanden werden darf, die stets dann schon erfüllt ist, wenn die Richterzuständigkeit allgemein und eindeutig geregelt ist; vielmehr wird aus ihm abgeleitet, es müsse im System der normativen Vorausbestimmung des gesetzlichen Richters Vorsorge dafür getroffen werden, daß im Einzelfall ein Richter, der nicht die Gewähr der Unparteilichkeit bietet, von der Ausübung seines Amtes ausgeschlossen ist oder abgelehnt werden kann. 2. Der Grundsatz des gesetzlichen Richters bedeutet aber nicht, schon die allgemeinen gesetzlichen Zuständigkeitsvorschriften müßten von vornherein so beschaffen sein, daß in jedem Einzelfall das sachlich und örtlich zur Entscheidung berufene Gericht unveränderlich und ohne weiteres aus dem Gesetz ablesbar nach abstrakten Merkmalen feststehen und jede Sache „blindlings" in die Hand bestimmter Richter gelangen müsse. Das ist freilich nicht unstreitig. Es ist die Auffassung vertreten worden, und wird z. T. noch jetzt vertreten, daß gesetzliche Vorschriften, die es Staatsorganen (Staatsanwaltschaft, Gericht) durch 121 121

' Lit.: E. M a r x , Der gesetzliche Richter im Sinne von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 G G , Berlin, de Gruyter, 1970. Selbst eine nach Verfahrensrecht zulässige Maßnahme wäre eine Entziehung, wenn sie darauf gerichtet ist, aus sachfremden Erwägungen den zunächst berufenen Richter durch einen anderen zu ersetzen, so wenn der Staatsanwalt die zunächst beim Landgericht wegen der besonderen Bedeutung der Sache erhobene Anklage vor der Eröffnung des Hauptverfahrens wieder zurücknähme (§ 156 StPO) und Anklage vor dem Schöffengericht erhöbe, um eine im Zwischenverfahren zutage getretene, für den Erfolg der Anklage möglicherweise ungünstige Auffassung der Eröffnungskammer auf diese Weise zu umgehen (BGHSt. 15 11, 17).

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Beweisverbote

Kap. 12 I

Einräumung von Beurteilungsfreiheit ermöglichen, im Einzelfall bestimmenden Einfluß auf die Begründung der Zuständigkeit des Gerichts zu nehmen, gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 G G verstießen. Mit dieser Begründung ist namentlich im Schrifttum die „bewegliche" Zuständigkeitsregelung in § § 2 4 bis 26 GVG, die dem Staatsanwalt in gewissem Umfang und vorbehaltlich der gerichtlichen Nachprüfung Beurteilungsspielraum läßt, das sachlich zuständige Gericht dadurch zu bestimmen, daß er bei ihm Anklage erhebt, als grundgesetzwidrig angegriffen worden (näheres zu § 16 GVG). Solche Auffassungen verkennen indessen das Wesen der Prozeßmaximen, die nicht starr gelten und bis zur letzten Konsequenz durchgeführt werden müssen, sondern dem Gesetzgeber Raum lassen, entgegengesetzten, überwiegenden Erfordernissen sachgemäßen Prozedierens ausgleichend Rechnung zu tragen (oben S. 131). Auch hier — wie bei dem Verbot der Doppelbestrafung in Art. 103 Abs. 3 G G (vgl. S. 100) - hat das G G dem Begriff des gesetzlichen Richters keinen völlig neuen Inhalt gegeben, sondern den Grundsatz in der durch die bisherige Gesetzgebung geprägten Form übernommen und mit institutioneller Verfassungsgarantie ausgestattet; dabei sind die der Durchführung des Verfassungsgrundsatzes dienenden einfachen gesetzlichen Vorschriften, wie jede andere Norm, verfassungskonform auszulegen. Unter diesen Gesichtspunkten hat BVerfGE 9 223 = N J W 1959 871 - wie schon vorher BGHSt. 9 367 und NJW 1958 889 - die Grundgesetzmäßigkeit der §§ 24, 25 G V G bejaht mit der Maßgabe, daß die Staatsanwaltschaft bei der Frage, bei welchem Gericht die Anklage zu erheben ist, nicht ein Ermessen auszuüben, sondern den unbestimmten Rechtsbegriff der „besonderen Bedeutung" auszulegen und den konkreten Fall darunter zu subsumieren hat, so daß die StA, wenn sie die besondere Bedeutung bejaht, Anklage beim Landgericht erheben muß und nicht beim Amtsgericht erheben darf. Entsprechendes gilt für die bewegliche Zuständigkeit nach §§ 26, 74b G V G (BGHSt. 13 2 9 7 = N J W 1960 56) und nach §§ 74 a Abs. 2, 120 Abs. 2 G V G sowie nach § 25 Nr. 2 c G V G (BVerfGE 22 2 5 4 = N J W 1967 2151; dazu kritisch G r ü n w a l d JuS 1968 452). Die Berücksichtigung des Grundsatzes des gesetzlichen Richters hat weiterhin die Rechtsprechung veranlaßt, feste Grundsätze aufzustellen, inwieweit die Überbesetzung einer Kammer oder eines Senats, d. h. ihre Besetzung mit mehr Beisitzern, als zu einem Spruch erforderlich sind, zulässig ist (vgl. BVerfGE 17 294; 18 65). Über das verfassungsmäßig Notwendige hinaus (BVerfGE 18 351; BGHSt. 21 254) soll schließlich der durch das StPÄG 1964 neu eingefügte § 69 Abs. 2 G V G einer weiteren Durchführung des Grundsatzes des gesetzlichen Richters dienen, indem er dem Vorsitzenden einer Kammer (Senat) die Pflicht auferlegt, vor Beginn des Geschäftsjahres für dessen Dauer zu bestimmen, nach welchen Grundsätzen die Mitglieder in der Kammer (Senat) an den durch den Geschäftsverteilungsplan zugewiesenen Verfahren mitwirken (vgl. dazu die Anm. zu § 69 GVG).

12. Beweisverbote I. Allgemeines. Zweck des Strafverfahrens ist die Erforschung der materiellen Wahrheit. Diese Erforschung ist nicht an bestimmte Beweismittel gebunden; entsprechend dem Grundsatz der freien Beweiswürdigung (§ 261) ist das Gericht vielmehr grundsätzlich frei in der Wahl der Mittel, die zur Ermittlung der Wahrheit dienlich sind (oben S. 145). Andererseits ist es aber „kein Grundsatz der StPO, daß die Wahrheit um jeden Preis erforscht werden müsse" (BGHSt. 14 365). Schon aus einer Reihe von Einzelvorschriften ergibt sich, „daß der Zweck, Straftaten aufzuklären und zu ahnden, zwar von überaus großer Bedeutung ist, aber nicht stets und unter allen Umständen das überwiegende Interesse des Staates ist und sein kann" (BGHSt. 19 329). So zeigen etwa die §§ 54, 96 StPO in Verb, mit §§ 61, 62 BBG, daß das staatliche Interesse an der Aufklärung von Straftaten hinter anderen staatlichen Interessen zurücktreten kann. Insbesondere tritt in den Vorschriften über das Zeugnisverweigerungsrecht (§§ 52 ff.), die dem Zeugen Konfliktslagen ersparen sollen, „der für einen Rechtsstaat selbstverständliche Grundsatz hervor, daß Zeugenpflicht und staatlicher

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Kap. 12

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I Strafanspruch nicht rücksichtslos und unter allen Umständen durchgesetzt werden sollen" (BGHSt. 17 337, 348). Allgemein steht auch die Wahrheitserforschung unter den Geboten der Gerechtigkeit, die es verbietet, die Erforschung der Wahrheit mit Mitteln zu betreiben, die für den Beschuldigten oder andere Verfahrensbeteiligte oder -betroffene, insbes. Zeugen, unzumutbar sind, die den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz grob verletzen, gegen die Menschenwürde verstoßen, zur Wahrheitsfindung ungeeignet sind oder sonst gegen öffentliche Interessen verstoßen. Diesem Zweck dienen die Beweis verböte 122. Eine Reihe von ihnen sind der StPO seit jeher bekannt. Parallel mit der „Ethisierung" des materiellen Strafrechts hat sich aber auch eine Ethisierung des Strafverfahrensrechts vollzogen, die zu einer Zunahme der geschriebenen Beweisverbote geführt hat. Andere Verbote hat die Rechtsprechung aus verfassungsrechtlichen Obersätzen, aus den Grundsätzen der Verhältnismäßigkeit, den Grundrechten des Schutzes der Persönlichkeit und der Menschenwürde hergeleitet. Die Entwicklung ist dadurch gekennzeichnet, daß früher die Beweisverbote als Ausnahmen, als Einschränkungen des Rechts, die Wahrheit mit sämtlichen zur Verfügung stehenden Mitteln zu erforschen, angesehen wurden, während heute der Gedanke in den Vordergrund tritt, daß „der den Gerichten zur Verfügung stehende Aufklärungsbereich schon in seinem Kern beschränkt wird" (Jescheck, Generalgutachten S. 4). Die Diskussion um die Beweisverbote wurde belebt, als der 46. Deutsche Juristentag 1966 sie zum Verhandlungsgegenstand wählte. Sie ist seitdem nicht mehr abgeklungen. Starke Gegensätze sind dabei zutage getreten, wie sie sich regelmäßig im Spannungsfeld zwischen den Bedürfnissen einer nachhaltigen Verbrechensbekämpfung und der Rücksichtnahme auf andere beachtliche Be-

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Die wissenschaftliche Behandlung des Themas beginnt mit B e l i n g , D i e Beweisverbote als Grenzen der Wahrheitsforschung im Strafprozeß 1903. Gutachten, Diskussionsbeiträge, sowie Abstimmungsergebnisse aus Anlaß des 46. DJT 1966 sind zusammengefaßt in „Beweisverbote im Strafprozeß", München, Berlin, Beck 1966 (Verhandlungen Bd. I T. 3 A und B., Bd. II, T. F.). Der Band enthält Gutachten von A n d e n a e s für die nordischen Länder, von M ü l l e r für den amerikanischen Strafprozeß, von N u v o l o n e für den romanischen Rechtskreis, von P e t e r s für das deutsche Strafverfahren, von R u p p über „Beweisverbote im Strafprozeß in verfassungsrechtlicher Sicht", ein rechtsvergleichendes Gutachten von J e s c h e c k — im Text als „Jescheck, Generalgutachten" zitiert — und die Referate von S a r s t e d t und K l u g . Uber die Verhandlungen des 46. DJT s. auch die in den Fachzeitschriften veröffentlichten Übersichten, z. B. NJW 1966 2049, 2050. Aus dem sehr umfangreichen Schrifttum — abgesehen von der Kommentarliteratur — vgl. etwa: E b S c h m i d t : Sinn und Tragweite des Hinweises auf die Aussagefreiheit des Beschuldigten, NJW 1968 1210; s. auchJZ 1970 337,340ff.; S p e n d e l : Wahrheitsfindung im Strafprozeß JuS 1964 465; d e r s e l b e : Beweisverbote im Strafprozeß NJW 1966 1602; S c h ü t z : Die Verletzung des § 55 StPO als Revisionsgrund, Erlanger Diss. 1960; E b S c h m i d t : Die Verletzung der Belehrungspflicht gem. § 55 Abs. 2 StPO als Revisionsgrund, JZ 1958 596; E s e r : Aussagefreiheit und Beistand des Verteidigers, ZStrW 79 [1967] Auslandsteil 213ff., 267; G r ü n w a l d : Beweisverbote und Verwertungsverbote im Strafverfahren, JZ 1966 497; H o n i g : Beweisverbote und Grundrechte im amerik. Strafprozeß, Recht und Staat in Geschichte und Gegenwart 333/334, Tübingen 1967; F i n c k e : Verwertbarkeit von Aussagen des nicht belehrten Beschuldigten, NJW 1969 1014; K l e i n k n e c h t : Die Beweisverbote im Strafprozeß, NJW 1966 1537; S e n d l e r : D i e Verwertung rechtswidrig erlangter Beweismittel im Strafprozeß mit Berücksichtigung des anglo-amerikanischen und des französischen Rechts, Diss., Berlin 1956; E g b e r t P e t e r s : Die Verwertbarkeit rechtswidrig erlangter Beweise und Beweismittel im Zivilprozeß, ZZP 1963 145; D ü n n e b i e r : Zur Tagebuchentscheidung des BGH, MDR 1964 1965; B a u m a n n : Sperrkraft der mit unzulässigen Mitteln herbeigeführten Aussage, GA 1959 33; F e l d m a n n : Verwertbarkeit widerrechtlich erlangter Beweise, NJW 1959 853; K o h l h a a s : Beweisverbote im Strafprozeß, DRiZ 1966 286; N ü s e : Zu den Beweis verboten im Strafprozeß JR 1966 281; O s m e r : D e r Umfang des Beweisverwertungsverbotes nach § 136a StPO, Hamb. Diss. 1966; B o s c h : Grundsatzfragen des Beweisrechts 1963; A r z t : Der strafrechtliche Schutz der Intimsphäre, Tübingen 1970; G. S c h m i d t : Zur Problematik des Indiskretionsdelikts, ZStrW 79 [1967] 74; K ü h n e : Strafprozessuale Beweisverbote und Art. 1 GG, Heymann, 1970.

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lange, insbesondere auf Individualinteressen ergeben. Viele Sachfragen sind noch im Fluß; sie betreffen insbesondere die Verwertbarkeit verbotswidrig erlangter Beweismittel. Aber auch hinsichtlich der Terminologie besteht noch keine Einigkeit. Die nachstehende kurze Darstellung im Rahmen einer Einleitung muß sich mit einer allgemeinen Übersicht begnügen; die Vertiefung der Einzelfragen ist Sache der Erläuterungen an gehöriger Stelle. II. Einordnung der Beweisverbote Die Beweisverbote lassen sich unter verschiedenen Gesichtspunkten einordnen 1. Man kann einmal nach dem Gegenstand des Verbots unterscheiden zwischen BeweisTw/tte/verboten, BeweisiAeraaverboten und Beweisme/Aocfenverboten. a) Ein Beweismittelverbot ist das Verbot, ein bestimmtes Beweismittel zu benutzen, während die Aufklärung des Beweisthemas mit anderen Mitteln offen steht. Beispiele: verboten ist die Benutzung der Aussage des Zeugen, der von seinem Zeugnisverweigerungsrecht als naher Angehöriger keinen Gebrauch gemacht hat, weil die Belehrung über sein Zeugnisverweigerungsrecht unterblieben war (§ 52 StPO). Bei Aussageverweigerung des Beschuldigten (§§ 136, 163 a Abs. 3,4, 243 Abs. 4) scheidet zwar seine Einlassung als Beweismittel aus; dies hindert aber nicht, den Beschuldigten anderen Personen zum Zweck der Klärung seiner Täterschaft gegenüberzustellen (vgl. dazu E b S c h m i d t , JZ 1968 354). b) Beim Beweisthemaverbot darf ein bestimmter Sachverhalt nicht Gegenstand eines Beweises sein, wie (grundsätzlich) die dem Beratungsgeheimnis unterliegenden Vorgänge in der Beratung (§§ 43,45 Abs. 3 DRiG), die Art der Ausübung des Wahlrechts bei geheimen Wahlen (Art. 28, 38 GG), die Wahrheit einer ehrenkränkenden Behauptung, wenn der Beleidigte vor der Behauptung wegen des Vorwurfs rechtskräftig freigesprochen worden war (§ 190 StGB). c) Ein BeweismethodenveTbot liegt vor, wenn eine bestimmte Art der Beschaffung eines Beweismittels absolut oder relativ (nach den Umständen des Einzelfalles) unzulässig ist, andere Methoden aber zur Verfügung stehen. Beispiele: der Ausforschungsbeweis, die Herbeiführung der Aussage des Beschuldigten oder der Bekundung eines Zeugen auf die in §§ 136a, 69 Abs. 3 StPO verbotene Weise; die Ermittlung der Zurechnungsfähigkeit des Beschuldigten durch eine Liquorentnahme (§ 81 a StPO) unter Verletzung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit bei unerheblichen Straftaten (BVerfGE 16 194). Ein Beweismethodenverbot ergibt sich ferner z. B. aus § 81 c StPO, wonach bei Zeugen, wenn zu ermitteln ist, inwieweit geistige Defekte ihre Glaubwürdigkeit berühren, eine Untersuchung nur mit ihrer Einwilligung (bzw. derjenigen ihres gesetzlichen Vertreters oder Pflegers) zulässig ist; die Verweigerung der Einwilligung schließt aber lediglich die Untersuchung aus und läßt andere Wege der Beweiserhebung unberührt, wie z. B. die Zuziehung eines Sachverständigen zur Vernehmung des Zeugen in der Hauptverhandlung und die Vorbereitung eines Gutachtens gemäß § 80 StPO (BGHSt. 23 1). Die Protokollverlesungsverbote der StPO (§§ 250ff.) spielen unter dem Gesichtspunkt der Beweisverbote nur insofern eine Rolle, als sie nicht der Wahrung der Grundsätze der Unmittelbarkeit und Mündlichkeit dienen, sondern im Zusammenhang mit Beweisverboten bedeutsam sind (vgl. § 252 i. Verb, mit § 52 StPO). Von den Beweisverboten zu unterscheiden sind die Beweisregelungen (Beweisverfahrensregeln)123, die aus Gründen der äußeren guten Ordnung des Verfahrens Modalitäten der Beweiserhebung regeln. Wegen des mehr formalen Charakters wiegen Verletzungen der Beweisregelung weniger schwer mit der Folge, daß das so gewonnene Beweismittel (mag auch der Verfahrensverstoß selbst nach anderer Richtung angreifbar sein) bei der Entscheidung verwendet werden darf, ohne daß darauf eine Verfahrensrüge gestützt werden könnte. So z. B. wenn eine Blutprobe (§ 81 a StPO) nicht von einem Arzt, sondern von einem Nichtarzt (Medizinalassistenten oder einer Krankenschwester) entnommen wird (str.; vgl. Anm. 12 zu § 81a; OLG Celle NJW 1969 567; Hamm NJW 1970 528, E b S c h m i d t MDR 1970 461; 123

Die Terminologie und selbst die Einordnung ist schwankend.

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Einleitung (Schäfer)

Ii J e s s n i t z e r MDR 1970 797; H e n k e l [2] 268); ebenso wenn eine Frau - entgegen § 8 1 d nicht von einer Frau oder einem Arzt, sondern von einem Nichtarzt untersucht wird, oder wenn entgegen § 58 der später gehörte Zeuge bei der Vernehmung eines früher gehörten Zeugen anwesend war. Nach anderer Auffassung ist das so gewonnene Beweismittel dann (und nur dann) verwertbar, wenn es im konkreten Fall auch bei ordnungsgemäßem Vorgehen erlangt worden wäre (vgl. G r ü n w a l d JZ 1966 489, 496). 2. Im Schrifttum wird z.T. (vgl. P e t e r s , Gutachten 93ff.; Lehrb. [2] 253) unterschieden nach den Intensität des Verbots zwischen Beweis verfolgungs- und Beweis verfahrensverboten, wobei als Verfolgungsverbote diejenigen verstanden werden, deren Verletzung in besonders schwerwiegender Weise verfassungsrechtlich geschützte Werte antastet. Der Unterscheidung wird insbesondere Bedeutung beigemessen für die Behandlung in der Revisionsinstanz: Die Verletzung von Beweisverfahrensverboten (z. B. Liquorentnahme nach § 81 a unter Verletzung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit) wird nur auf Verfahrensrüge (§ 344 Abs. 2) nachgeprüft, während die Verletzung von Beweisverfolgungsverboten (z. B. Einbruch in die Intimsphäre durch Verwertung höchstpersönlicher Tagebuchaufzeichnungen als Beweismittel; vgl. BGHSt. 19 325) wie ein Verfahrenshindernis behandelt wird (also Nachprüfung von Amts wegen), weil im letzteren Fall ein „strafverfolgungsfreier Raum" begründefsei. Dieser Unterscheidung fehlt die Überzeugungskraft; sie ist im wesentlichen ohne Nachfolge geblieben (vgl. — ablehnend — z. B. G r ü n w a l d JZ 1966 501; Kl NJW 1966 1544; K o h l h a a s DRiZ 1966, 288; S a r s t e d t , Referat S. F 27; H e n k e l [2] 269). 3. Es ist weiter zu unterscheiden zwischen Bev/eiserhebungs\erboten und Beweisverwertungsverboten. Die Unterscheidung betrifft die Frage, ob und inwieweit ein Beweis, der entgegen einem Verbot erhoben worden ist, bei der Urteilsfindung verwertet werden darf. Das Gesetz enthält nur z. T. ausdrückliche Regelungen. So sind z. B. nach § 52 StPO nahe Angehörige des Beschuldigten vor jeder Vernehmung über ihr Zeugnisverweigerungsrecht zu belehren; es besteht also ein Verbot, sie ohne diese Belehrung zu vernehmen. Ein Verbot, das Ergebnis der Vernehmung zu verwerten, wenn die Belehrung unterblieben ist, ist aber im Gesetz nicht ausdrücklich ausgesprochen. Dagegen ist ausdrücklich bestimmt, daß die Aussage eines Beschuldigten oder Zeugen und das Gutachten eines Sachverständigen, die durch die in § 136a verbotenen Vernehmungsmittel zustande gekommen sind, nicht verwertet werden dürfen, und zwar auch dann nicht, wenn der Betroffene der Verwertung zustimmt (vgl. § 136a Abs. 3, 163 a Abs. 3, 5). Entgegen einer im Schrifttum vertretenen Auffassung, daß grundsätzlich oder doch in der Regel jedem Beweiserhebungsverbot ein Beweisverwertungsverbot entspricht 124 , hält die Rechtsprechung daran fest, daß es, wenn ein Verwertungsverbot nicht ausdrücklich ausgesprochen ist, der Einzelprüfung bedarf, ob eine Verletzung des Beweisverbots auch ein Verwertungsverbot zur Folge hat (BGHSt. 19 325, 331). Die Ergebnisse der Einzelprüfung sind sehr unterschiedlich125. So ist es z. B. anerkannten Rechtens, daß Gegenstände, die entgegen dem Verbot des § 97 StPO beschlagnahmt worden sind, nicht für die Überzeugungsbildung verwertet werden dürfen (vgl. BGHSt. 18 227; OLG Celle Nds.Rpfl. 1963 20; H e i n i t z JR 1964443). Unverwertbar ist auch die Aussage des Zeugen, der über ein Verweigerungsrecht aus § 52 StPO nicht belehrt wurde (BGHSt. 11 213, 216). „Einfache" Beweisverbote, die nicht durch ein Verwertungsverbot „qualifiziert" sind, liegen dagegen vor, wenn das Gericht eine Aussage entgegennimmt, die ein Beamter über Umstände, auf die sich seine Pflicht zur Amtsverschwiegenheit bezieht, ohne die nach den beamtenrechtlichen Vorschriften erforderliche Genehmigung abgibt — § 54 StPO - (RGSt. 44 291; 48 38; BGH NJW 1952 151), oder wenn ein Zeuge vernommen wird, bei dem die erforderliche Belehrung über ein Zeugnisverweigerungsrecht nach § 55 Abs. 2 unterblieben war (BGHSt. 11 213). 124

Z. T. wird gelehrt, daß sich das Verwertungsverbot schon aus der Begriffsbestimmung des Beweisverbots ergebe; von diesem Standpunkt aus liegt überhaupt kein Beweisverbot, sondern nur eine Beweisregelung vor, wenn der Erhebungsverstoß kein Verwertungsverbot begründet (so z. B. H e n k e l [2] 270). Dem kann aber nicht gefolgt werden. 125 Nach J e s c h e c k Generalgutachten S. 10 wird „in der Regel" als Folge der Verletzung eines Erhebungsverbots ein Verwertungsverbot angenommen. In dieser Allgemeinheit trifft das kaum zu.

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III. Einzelheiten zur Verwertbarkeit von Aussagen, die unter Verletzung einer Pflicht zur Belehrung über ein Aussageverweigerungsrecht erfolgt sind. 1. Sehr streitig ist, welche Folgen sich daran knüpfen, wenn bei der Vernehmung des Beschuldigten der Hinweis unterlassen wird, daß es ihm freistehe, sich zu der Beschuldigung zu äußern oder nicht zur Sache auszusagen und jederzeit einen von ihm zu wählenden Verteidiger zu befragen (vgl. §§ 136 Abs. 1 Satz 2; 163 a Abs. 3 , 4 ; 243 Abs. 4 StPO). Die Vernehmung ohne diesen „Hinweis" (der Sache nach handelt es sich um eine „Belehrung" über den Grundsatz „nemo tenetur se ipsum accusare") läßt sich als ein relatives Beweismittelverbot auffassen: nur der belehrte und aussagebereite Beschuldigte soll zur Sache vernommen werden. Die Frage ist, ob die Verletzung eines solchen Beweisverbots durch Unterlassung des Hinweises (es handelt sich dabei vorzugsweise um die erste polizeiliche Vernehmung) die Aussage des Beschuldigten bei der Urteilsfindung unverwertbar macht, also ein Verwertungsverbot vorliegt, wenn der Beschuldigte in der Folgezeit schweigt. Die Auffassungen gehen weit auseinander (vgl. die eingehende Darstellung b e i E b S c h m i d t NJW 1968 1209 und die Nachweise über den Stand der Kontroverse in BGHSt. 22 129 Beschluß v. 30. 4. 1968 auf Vorlage gemäß § 121 Abs. 2 GVG - = JZ 1968 749 und in BGHSt. 22 1 7 0 = JZ 1968 750 m. Anm. G r ü n w a l d ; ferner F i n c k e NJW 1969 1014; E b S c h m i d t NJW 1969 1144 Fußn. 73; K e r n - R o x i n [9] 100; J e s c h e c k JZ 1970 206). Im Schrifttum wird wohl überwiegend ein Verwertungsverbot angenommen, wobei geltend gemacht wird, daß der früher üblichen Klassifizierung der Belehrungsvorschrift des § 136 a. F. als einer Soll- oder Ordnungsvorschrift nach der Neufassung der oben genannten Vorschriften durch das StPÄG 1964 der Boden entzogen sei, weil nach der Entstehungsgeschichte die Schaffung einer zwingenden Vorschrift beabsichtigt gewesen sei. Die Rechtsprechung des BGH und der Mehrzahl der Oberlandesgerichte lehnte schon früher und lehnt auch jetzt noch ein Verwertungsverbot ab. Eine gewisse Mittelmeinung vertritt E b S c h m i d t NJW 1968 1209, 1218, indem er zwar von einem Verwertungsverbot ausgeht, die Verwendung eines unter Unterlassung des Hinweises zustande gekommenen polizeilichen Vernehmungsprotokolls aber sowohl zu „Vorhalten" des Vorsitzenden in der Hauptverhandlung wie auch zur Stützung eines hinreichenden Tatverdachts bei der Anklageerhebung durch den Staatsanwalt und der Eröffnung des Hauptverfahrens durch das Gericht zulassen will. Für die Praxis jedenfalls haben die genannten Entscheidungen BGHSt. 22 129 und 170 (wenigstens bis auf weiteres) der Streitfrage ein Ende bereitet. Dort wird die_ Annahme eines Verwertungsverbots hauptsächlich mit der Begründung abgelehnt, daß die Änderungen des StPÄG 1964 nur in der Verdeutlichung einer schon vorher bestehenden Rechtslage zu finden seien; wenn der Gesetzgeber, dem die Auslegung des § 136 a. F. durch die Rechtsprechung bekannt gewesen sei, ihren Sinn in der Richtung eines Verwertungsverbots hätte ändern wollen, so hätte er es deutlich sagen können und müssen. Diese Argumentation (so formal sie ist) erscheint überzeugend; ihr ist an dieser Stelle nichts hinzuzufügen. Anders mag es liegen, wenn die Unterlassung des Hinweises in dem Beschuldigten den Irrtum hervorgerufen hätte, zur Aussage verpflichtet zu sein; eine in diesem Sinn beabsichtigte Unterlassung könnte, als einer Täuschung gleichkommend, die unmittelbare oder entsprechende Anwendbarkeit des § 136a Abs. 3 StPO begründen (vgl. OLG Bremen NJW 1967 2022; BGHSt. 22 175); einer versehentlichen Unterlassung wird aber diese Folge abzusprechen sein. Auf jeden Fall darf ein Geständnis, das der Angeklagte vor der Polizei nach ordnungsgemäßer Belehrung abgelegt hat, auch dann bei der Urteilsfindung verwertet werden, wenn er in einer vorausgegangenen Vernehmung durch Polizei und Staatsanwaltschaft inhaltsgleiche Angaben ohne Belehrung und selbst in der irrtümlichen Annahme einer Aussagepflicht gemacht hatte, denn durch die spätere in Kenntnis des Wahlrechts abgegebene Aussage ist der Mangel der unterbliebenen Belehrung geheilt (BGHSt. 22 135). Über die Art und Weise, in der frühere Aussagen des Beschuldigten verwertet werden können, wenn er in der Hauptverhandlung schweigt, vgl. § 254 StPO und die Anm. zu dieser Vorschrift; s. auch BGHSt. 21 285. 2. Bei der Frage, inwieweit Zeugenaussagen verwertbar sind, die unter Verletzung der für die Vernehmung von Zeugen geltenden Pflichten, insbes. der Pflicht zur Belehrung über ein Zeugnisverweigerungsrecht, zustande gekommen sind, spielt die in der Rechtsprechung 171

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Einleitung (Schäfer)

IV vertretene, im Schrifttum umstrittene sog. Rechtskreistheorie eine wesentliche Rolle. Danach ist zu unterscheiden zwischen Beweisverboten aus § 52 (s. S. 178 und zu §§ 53, 53 a S. 179) auf der einen und solchen aus §§ 5 4 , 5 5 StPO auf der anderen Seite. Nach der Rechtskreistheorie kann der Angeklagte die Verletzung der Beweisverbote nach §§ 54, 55 StPO nicht mit der Revision rügen, weil das erstere nur im staatlichen Interesse, das letztere nur im Interesse des Zeugen bestehe, beide Verbote also seinen Rechtskreis nicht berührten, soweit nicht §§ 136a Abs. 3, 163 a Abs. 3 , 5 eingreifen. Den durch das Beweisverbot Geschützten stehen ihrerseits keine Angriffsmittel gegen das Urteil zur Verfügung; auch die Staatsanwaltschaft hat kein Rechtsmittel, weil die Verwendung des verbotswidrig erlangten Beweismittels der Wahrheitsermittlung nicht schadet. Daraus ergibt sich eine mit Rechtsmitteln nicht angreifbare Verwertbarkeit des unter Gesetzesverletzung erlangten Beweismaterials (vgl. z.B. BGHSt. 11 2 1 3 = N J W 1958 557; BGHSt. 17 245 = N J W 1962 1259; B G H N J W 1952 151; K l N J W 1966 1539). Die Angriffe des Schrifttums gegen die Rechtskreistheorie (vgl. z. B. E b S c h m i d t JZ 1958 596; N J W 1968 1212; G o s s r a u M D R 1958 468, 469; S p e n d e l N J W 1966 1102, 1108; M ü l l e r - S a x [6] l b und 5 zu § 5 5 ; G r ü n w a l d JZ 1966 489) gehen dahin, § 55 diene — ebenso wie § 52 — dazu, die Gefahr falscher Aussagen von der Rechtspflege abzuwenden; allgemein wird der Theorie entgegengehalten, § 136a Abs. 3 Satz 2 StPO bringe einen allgemein gültigen Rechtsgedanken zum Ausdruck, nämlich daß Beweisverbote jeder Art als Einschränkungen der richterlichen Erkenntnisgewinnung zugleich Garantien gegen richterliche Schrankenlosigkeit seien, die auch bei der Wahrheitserforschung nur zu leicht zur Maßlosigkeit und damit zum Machtmißbrauch führe ( S p e n d e l aaO.). Dieser Auffassung steht aber der allgemeine strafprozessuale Grundsatz entgegen, daß der Angeklagte einen Verfahrensmangel nur insoweit rügen kann, als er durch ihn selbst beschwert ist; zur Wahrung der Rechtsstaatlichkeit des Verfahrens im allgemeinen ist er nicht berufen. Eine Verletzung des § 55 böte danach dem Angeklagten nur dann einen Revisionsgrund, wenn die Vorschrift zugleich bezweckte, mit Hilfe der Belehrung des Zeugen über sein Auskunftsverweigerungsrecht ihn von falschen, den Angeklagten benachteiligenden Aussagen fernzuhalten; das ist aber nicht der Zweck des § 55 (vgl. dazu ausführlich BGHSt. 11 213 (GrSen) = NJW1958 557). IV. Beweisverbote aus dem G G Beweiserhebungs- und -verwertungsverbote können eine unterschiedliche Bedeutung haben, je nachdem ob sie in einem geschriebenen Gesetz (hauptsächlich in der StPO) förmlich niedergelegt sind oder aus den Grundrechten der Verfassung hergeleitet werden. Im ersteren Fall ist der Rahmen des Verbots abgesteckt; seine Bedeutung im einzelnen, insbesondere seine Grenzen werden durch die Auslegung nach allgemeinen Grundsätzen bestimmt. Beweisverbote können sich aber auch aus den Grundrechten des G G ergeben. Zunächst können die Grundrechte die in der StPO vorgesehenen Eingriffe begrenzen und insoweit in Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zu relativen Beweisverboten führen. Dazu ist insbesondere auf die zu § 8 1 a StPO erwachsene Rechtsprechung des BVerfG (zuletzt N J W 1970 505) zu verweisen. Unabhängig von den Vorschriften der StPO sind aber Beweisverbote mit Verwertungsverbotswirkung auch unmittelbar aus dem G G ableitbar. Dies gilt in besonderem M a ß für Beweiserhebungen, die mit einer Verletzung der (durch §§ 298, 353 d StGB materiellrechtlich verstärkt mit Strafschutz ausgestatteten und verfahrensrechtlich auch durch Art. 8 M R K geschützten) Privat- und Intimsphäre verbunden sind; die StPO enthält insoweit keine abschließende Regelung (BGHSt. 19 325). Die Art 1 und 2 G G gewährleisten die Unantastbarkeit der Menschenwürde und das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit als Grundwerte der Rechtsordnung; sie binden den Staat und seine Organe, aber auch jedermann im privaten Bereich. Für das Strafverfahren hat ein solcher Schutzbereich die Bedeutung, daß grundsätzlich ein Verbot zur Verwertung der durch Einbruch in die Intimsphäre gewonnenen Beweismittel besteht, wenn der Betroffene nicht in die Benutzung als Beweismittel einwilligt. Auf dieser Grundlage hat BGHSt. 14 358 aus der Pflicht der öffentlichen Gewalt zur Achtung der Menschenwürde das grundsätzlich bestehende Verbot hergeleitet, im Strafverfahren ohne Zustimmung des Angeklagten gegen ihn Tonbandaufnahmen als Beweismittel zu verwenden, die außerhalb des Strafverfahrens heimlich von Gesprächsteilnehmern über von ihm geführte Privatgespräche hergestellt wur-

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den. In gleicher Weise ergibt sich nach BGHSt. 19 35 = NJW 1964 1139 m. Anm. H ä n d e l = LM Nr. 9 zu Art. 2 G G m. Anm. K r u m m e = MDR 1964 607 und dazu D ü n n e b i e r M D R 1964 965 — der viel erörterten sog. „Tagebuchentscheidung", die im Schrifttum Zustimmung gefunden, aber auch Widerspruch ausgelöst hat — aus der Pflicht zur Achtung der Menschenwürde und dem Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit das grundsätzliche Verbot, tagebuchartige Aufzeichnungen des Beschuldigten, die mit der Persönlichkeitssphäre des Verfassers verknüpft sind, und die er nicht zur Kenntnis Dritter bringen wollte, im Strafverfahren (in dem sie der Strafverfolgungsbehörde von dritter privater Seite zur Verfügung gestellt wurden) als Beweismittel gegen seinen Willen zu benutzen. Der Vorrang der Intimsphäre vor den Bedürfnissen der Strafrechtspflege nach Wahrheitserforschung tritt danach aber zurück, wenn in Anwendung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit unter Abwägung der Bedeutung des Grundrechts der Achtung der Menschenwürde und der freien Entfaltung der Persönlichkeit überwiegende Bedürfnisse der Strafrechtspflege die Zulässigkeit der Erlangung und Verwertung des Beweismittels verlangen, z. B. wenn die Verwertung solcher tagebuchartigen Aufzeichnungen das einzige strafprozessuale Mittel ist, eine andere Person von einer besonders schweren Anklage zu entlasten oder wenn gegen den Beschuldigten ein hinreichender Verdacht schwerer Angriffe auf die Rechtsordnung besteht (BGHSt. 19 325, 332 ff.). Entsprechende Erwägungen haben inzwischen — und darin liegt eine gewisse gesetzgeberische Anerkennung und Rechtfertigung der Rechtsprechung des BGH — in anderen Bereichen ihren gesetzlichen Niederschlag gefunden. Nach § 428 Abs. 2 Satz 2, 3 RAbgO i. d. F. des Ges. v. 10. 8. 1967 (BGBl. I 877) besteht in gewissem Umfang ein Verbot, Tatsachen oder Beweismittel, die der Staatsanwaltschaft oder dem Gericht in einem Strafverfahren aus Steuerakten des Finanzamts bekannt werden, gegen den Steuerpflichtigen für die Verfolgung einer Tat zu verwenden, die kein Steuerstrafgesetz verletzt. „Dies gilt nicht für Verbrechen und Vergehen, an deren Verfolgung ein zwingendes öffentliches Interesse besteht. Ein zwingendes öffentliches Interesse ist namentlich gegeben bei Verbrechen und vorsätzlichen Vergehen gegen Leib und Leben sowie bei Verbrechen und schwerwiegenden Vergehen gegen den Staat und seine Einrichtungen." Nach § 100 a StPO (i. d. F. des Ges. v. 13. 8. 1968, BGBl. I 949) tritt das grundsätzliche Beweisverwertungsverbot der Überwachung und Aufnahme des Fernmeldeverkehrs auf Tonträger zurück bei Verdacht bestimmter schwerer politischer und allgemeiner Straftaten. Diese Beispiele sprechen gegen den im Schrifttum (vgl. z. B. G r ü n w a l d JZ 1966 489, 496) aufgestellten Satz, daß die durch verbotene staatliche Eingriffe erlangten Beweismittel grundsätzlich ohne Rücksicht auf die Schwere der dem Beschuldigten zur Last gelegten Straftaten unverwertbar seien. Freilich wird die durch § 100 a StPO vorgenommene Abwägung des Strafverfolgungsinteresses gegenüber der geschützten Vertraulichkeit des Wortes im Schrifttum nicht als ein auf andere Eingriffe erweiterungsfähiges Beispiel einer gerechten Abwägung angesehen, weil § 100a auf einer „bedauerlichen Uberschätzung des öffentlichen Interesses an der Strafverfolgung und einer Unterschätzung des öffentlichen Interesses an Ermittlungen, die die Persönlichkeitsrechte des Verdächtigen achten", beruhe (vgl. A r z t , Der strafrechtliche Schutz der Intimsphäre [1970] 76; s. auch dort S. 91 f.). V. Zur Fernwirkung der Beweisverbote Das Problem der Fernwirkung kann in verschiedener Gestalt auftreten. Einmal fragt sich, ob, wenn die Erhebung eines Beweises dadurch ausgeschlossen ist, daß von einem Aussageverweigerungsrecht Gebrauch gemacht wird, gerade aus dieser Rechtsausübung bei der Bildung der Überzeugung des Gerichts nachteilige Folgerungen für den Angeklagten gezogen werden dürfen, oder ob nicht nach dem Sinn und Zweck des Beweiserhebungsverbots, als dessen Fernwirkung solche Folgerungen ausgeschlossen sind. Bei den Beweisverboten mit Verwertungsverbotswirkung erhebt sich die Frage, ob das Verwertungsverbot sich auf das unmittelbar prozeßwidrig erlangte Beweismittel beschränkt oder sich auf die Beweismittel erstreckt, die mit Hilfe des unverwertbaren unmittelbaren Beweismittels erlangt werden können oder erlangt sind. Endlich bleibt zu fragen, inwieweit ein nachträglich eingetretenes Beweisverbot den Rückgriff auf ein vorher rechtmäßig und verbotsfrei erlangtes Beweismittel ausschließt. 173

Kap. 12

Einleitung (Schäfer)

V A 1,2 A. Aussageverweigerung 1. Bedeutung der Aussageverweigerung des Beschuldigten Verweigert der Beschuldigte nach Hinweis auf sein Wahlrecht, auszusagen oder nicht auszusagen, die Aussage, so fragt sich, ob das damit eröffnete Verbot, Beweis durch seine Vernehmung zu erheben, sich darin erschöpft, daß seine Aussage als Beweismittel nicht geschaffen werden kann, oder ob ihm eine weitergehende Wirkung zukommt, nämlich die, daß auch aus der Tatsache der Aussageverweigerung selbst keine ihm nachteiligen Folgerungen bei der Überzeugungsbildung selbst gezogen werden dürfen. Hier ist es auch in der Rechtsprechung bisher nicht zur Entwicklung einheitlicher Grundsätze gekommen. Für den Fall, daß der Beschuldigte bei seiner polizeilichen Vernehmung eine Aussage völlig verweigert, weil er sie nur vor dem Richter machen wolle, hat BGH St. 20 281 = NJW 1966 210 — mit Recht — ausgeführt, daß daraus keine ihm nachteiligen Folgerungen gezogen werden dürften, denn andernfalls würde der Beschuldigte zur Vermeidung solcher Nachteile praktisch gezwungen, schon vor der Polizei auszusagen, obwohl ihm das Gesetz ausdrücklich das Recht zur Verweigerung der Aussage einräumt; das aber laufe auf eine nach § 136a verbotene Beeinträchtigung der Willensfreiheit durch Zwang hinaus. Über diesen konkreten Fall hinaus wird in Rechtsprechung (OLG Oldenburg NJW 1969 806 mit abl. Anm. O s t e r m e y e r NJW 1969 1187 und G ü l d e n p f e n n i g NJW 1969 1867) und Schrifttum ( K o h l h a a s NJW 1965 2282; S t r e e JZ 1966 593; S a r s t e d t im vorliegenden Werk [21] ErgBd. Anm. 6 zu § 136) die Folgerung gezogen, daß das völlige Schweigen des Angeklagten in allen Stadien des Verfahrens nicht zu seinem Nachteil verwertet werden dürfe, wobei freilich z. T. als Begründung angeführt wird, ein von Anfang an schweigender Angeklagter sei kein Beweismittel. Es hätte — jedenfalls im Sinne einer formalen Rechtslogik — nahe gelegen, aus den von BGHSt. 20 281 angestellten Erwägungen den allgemeinen Grundsatz abzuleiten, die Ausübung eines dem Beschuldigten ausdrücklich eingeräumten Rechts dürfe nicht zu seinem Nachteil ausschlagen, weil er sonst von der Ausübung dieses Rechts abgehalten würde (so etwa S c h m i d t - L e i c h n e r NJW 1966 189; S t r e e JZ 1966 593; S e i b e r t NJW 1965 1796; E b S c h m i d t , Nachträge zu Teil II Anm. 17 zu § 261; G ü l d e n p f e n n i g NJW 1969 1867). Diesen Weg ist aber die Rechtsprechung nicht gegangen; dem Satz „Im Spannungsfeld zwischen Aussagefreiheit und Wahrheitserforschung hat diese zurückzutreten; der Vorrang gebührt der Aussagefreiheit" ( S t r e e JZ 1966 593, 600) hat sie für den Fall, daß der Angeklagte nur teilweise schweigt (bei der Polizei aussagt, in der Hauptverhandlung aber schweigt oder sich nur teilweise zu dem Schuldvorwurf äußert) den Grundsatz entgegenstellt, daß der freien Beweiswürdigung (§ 261) der Vorrang vor der nur teilweise ausgenutzten Aussagefreiheit gebühre (vgl. BGHSt. 20 281, 282 = NJW 1966 210: BGHSt. 20 298 = NJW 1966 209 und dazu M e y e r JR 1966 352; E b S c h m i d t JZ 1970 340; OLG Oldenburg NJW 1969 806). Die unterschiedliche Bewertung des völligen Schweigens gegenüber der Teileinlassung durch die Rechtsprechung findet immerhin aber eine gewisse Entsprechung in der Auslagenerstattungsregelung des § 467 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 StPO i. d. F. des E G OWiG v. 24. 5. 1968. Während nämlich grundsätzlich bei Freispruch des Angeklagten die Überbürdung seiner notwendigen Auslagen auf die Staatskasse zwingend vorgeschrieben ist, entscheidet in gewissen Fällen ausnahmsweise das Gericht über die Auslagenüberbürdung nach freiem Ermessen. Die Ausnahme setzt aber voraus, daß der Angeschuldigte überhaupt, wenn auch nur teilweise, zur Sache ausgesagt hat („obwohl er sich zur Beschuldigung geäußert hat"); sie entfallt, wenn er im ganzen Verfahren sich nicht zur Sache geäußert hat (LG Hannover DAR 1969 248), „denn er soll sich nach der Entscheidung des Gesetzgebers in der Wahl des Schweigens als Verteidigung nicht durch eine drohende nachteilige Auslagenentscheidung gehindert fühlen" (Kl [29] 8 zu § 467). 2. Bedeutung der Aussageverweigerung eines verweigerungsberechtigten Zeugen. Nach der früheren Rechtsprechung ließ das Beweisverbot, das mit der Verweigerung des Zeugnisses eines nach § 52 StPO verweigerungsberechtigten Angehörigen entstand, kraft des Grundsatzes der freien Beweiswürdigung die Befugnis des Gerichts bestehen, bei der Bildung seiner Überzeugung aus der Zeugnisverweigerung Schlüsse zum Nachteil des Angeklagten zu ziehen (BGHSt. 2 351 m. w. Nachw.). Von dieser Rechtsprechung hat sich

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Beweisverbote

Kap. 12 VB 1

BGHSt. 22 113 (s. dazu S c h n e i d e r JuS 1970 271) abgewandt und aus den gleichen Gründen, die es nach BGHSt. 20 281 bei (völliger) Aussageverweigerung des Beschuldigten verbieten, daraus nachteilige Schlüsse zu ziehen, hergeleitet, daß auch die Zeugnisverweigerung nicht zum Nachteil verwertet werden darf: wenn der Angehörige damit rechnen muß, daß das Gericht seine Aussageverweigerung gegen den Angeld, verwerte, könne er von seinem Recht nicht unbefangen Gebrauch machen. Wiederum hätte es nahe gelegen, im Sinne der Rechtsprechung über die Bedeutung der Teileinlassung des Beschuldigten zu unterscheiden, ob der Zeuge „völlig" (d. h. in allen Verfahrensstadien) nicht aussagt, oder ob er zunächst (im 1. Rechtszug) die Aussage verweigert, um später (im 2. Rechtszug) auszusagen. Nach BayObLGSt. 1968 83 verbietet es aber der Gedanke, der Zeuge dürfe nicht durch die Befürchtung über Auswirkungen seines Verhaltens bei der Beweiswürdigung in der freien Entschließung über den Gebrauch seines Zeugnisverweigerungsrechts beeinträchtigt werden, Schlüsse auf die Unglaubwürdigkeit der den Angeklagten entlastenden Aussage zu ziehen, wenn der Angehörige von der Aussageverweigerung zur Aussage übergeht. B. Fernwirkungen des Verwertungsverbots 1. Ist die Verletzung des Beweisverbots mit einem Beweisverwertungsverbot verbunden, so taucht die Frage auf, ob nur die Verwendung des unmittelbar erlangten Beweismittels verboten ist, oder ob dem Verwertungsverbot eine sog. Fernwirkung in dem Sinne zukommt, daß auch die Verwertung solcher Beweismittel verboten ist, deren Erlangung erst durch das verbotswidrig erlangte Beweismittel ermöglicht wurde, jedenfalls nicht unabhängig von diesem möglich gewesen wäre. Wenn z. B. der Beschuldigte, der eines Tötungsverbrechens verdächtig ist, mit nach § 136a verbotenen Mitteln zum Geständnis gebracht wird, so ist nach § 136a Abs. 3 Satz 2 die Verwertung dieses Geständnisses bei der Urteilsfindung ausgeschlossen. Wird aber auf Grund des Geständnisses die vergrabene Leiche des Getöteten gefunden, und ermöglicht dieser Umstand in Verbindung mit weiteren Ermittlungen die Überführung des Verdächtigen, so fragt sich, ob unter Ausschaltung des Geständnisses als Beweismittel der Schuldspruch auf die weiteren Tatsachenfeststellungen gegründet werden darf, die erst durch das Geständnis ermöglicht wurden, oder ob auch die Verwendung der mittelbar erlangten Beweismittel ausgeschlossen ist. Im amerikanischen Recht gilt — mindestens bei der Verletzung bestimmter Beweisverbote wie unzulässige Durchsuchungen, Beschlagnahmen, Abhören von Telefongesprächen mittels Anzapfung der Leitung — der Grundsatz, daß sich das Beweisverwertungsverbot sowohl auf das unmittelbar durch Verletzung der Schutzregel erlangte Beweismaterial als auch auf die mittelbar dadurch erlangten Beweismittel erstreckt — „fruit of the poisonous tree doctrine" — (J es c h e c k , Generalgutachten S. 14). Begründet wird dieser Satz von der Unverwertbarkeit der „Früchte des verbotenen Baumes" besonders damit, daß er eine „Disziplinierung" der Polizei bezwecke; es ist das gleiche Argument, das im deutschen Schrifttum auch bei Angriffen gegen die „Rechtskreistheorie" verwendet wird (oben S. 172), daß nämlich ein weitgehendes Verwertungsverbot als Folge eines Beweiserhebungsverbots eine Garantie gegen richterliche Schrankenlosigkeit mit ihrer Gefahr der Maßlosigkeit und des Machtmißbrauchs darstelle. Im deutschen Schrifttum gehen die Meinungen weit auseinander (vgl. etwa die Nachweise bei H e n k e l [2] 271). Nach der Auffassung derer, die fürs in Femwirkungsverbot eintreten, ergibt sich die Unverwertbarkeit der „Früchte" als Beweismittel aus dem Gesetzeswortlaut: wenn § 136 a Abs. 3 die Verwertung der „Aussage" verbiete, so sei damit auch verboten, die Aussage zum Ausgangspunkt und zur Grundlage weiterer Ermittlungen zu machen (so H e n k e l [2] 271). Dem Gesetz wird als Grundgedanke entnommen, daß das Verfahren durch die verbotswidrige Herbeiführung der Aussage mit einem Makel behaftet sei, und daß die Rückkehr zu einem gesetzmäßigen, makelfreien Verfahren nur durch die radikale Auslöschung des Makels zu erreichen sei, d. h. dadurch, daß die Aussage als nie erfolgt fingiert werde. Aber auch die Gegenmeinung beruft sich auf den Gesetzeswortlaut: das Verbot der Verwertung der „Aussage" bedeute nur das Verbot, die Aussage selbst als Beweismittel bei der Urteilsfindung zu verwenden; ein Verbot, andere Beweismittel zu verwenden, seien sie auch mit Hilfe der „Aussage" erlangt, sei nicht ausgesprochen. Die Lehre von der Fernwirkung müsse auch zu kriminalpolitisch unerträglichen Folgen (Freispruch des unzweifelhaft überführten Mörders), häufig aber auch zu kaum lösbaren Kausalitäts175

Kap. 12

Einleitung (Schäfer)

V C 1,2 Prüfungen führen, ob wirklich weitere Beweisergebnisse nur mit Hilfe der verbotswidrig zustande gekommenen Aussage erlangt seien; schließlich sei der Gedanke der amerikanischen poisened fruit = Theorie und der ihr verwandten Makel-Theorie, erzieherisch auf das Vorgehen der Strafverfolgungsorgane einzuwirken, mit deutschen Rechtsvorstellungen so wenig vereinbar wie mit denen des nordischen Rechtskreises (zu letzterem vgl. J e s c h e c k Generalgutachten S. 15). Es ist im Rahmen dieser Einleitung nicht möglich, das Problem an dieser Stelle weiter zu vertiefen; dies muß den Erläuterungen zu § 136 a vorbehalten bleiben. Der Verfasser begnügt sich mit der Bemerkung, daß auf dem 46. DJT 1966 die weitaus größte Zahl der Teilnehmer sich gegen die Fernwirkung des Verwertungsverbots aussprach; er hält diesen Standpunkt für richtig. Aber selbst vom Standpunkt derer aus, die für die Fernwirkung eintreten, muß es Grenzen geben. Gelänge es etwa, in Anknüpfung an eine Aussage, die mit einem Mittel hart an der untersten (leichtesten) Grenze des § 136 a Abs. 1 zustande kam, einen Massenmörder zu überführen, der lange den Schrecken eines weiten Bereichs bildete, oder auch nur den Kidnapper (§ 239 a StGB), der das entführte Kind tötete, dessen erpresserisches Vorgehen gegen die gequälten Eltern aber die Öffentlichkeit in Atem gehalten hatte, so erscheint es undenkbar, einen Freispruch auf eine extensive, die Fernwirkung umfassende Auslegung des § 136a Abs. 3 Satz 2 zu gründen; es widerspräche der Gerechtigkeit, an einen im Verhältnis zur Tat geringen Verstoß der Strafverfolgungsorgane die Folge zu knüpfen, daß die Strafrechtsordnung kapitulierte und schwerste Rechtsbrüche nur deshalb ungeahndet lassen müßte, weil die eindeutigen Beweismittel nicht völlig von der (als Beweismittel unverwertbaren) Aussage losgelöst sind. Es mag dabei unter Verzicht auf weitere Ausführungen nur auf ein Parallelproblem aus dem Gebiet des Schutzes der Intimsphäre verwiesen werden: das deutsche Recht verbot bis vor kurzem — damit allein stehend ( J e s c h e c k , Generalgutachten S. 39) — ausnahmslos das Abhören von Telefongesprächen für Zwecke des Strafverfahrens (§ 12 FAG, Art. 10 GG); Durchbrechungen des Beweisverbots wurden als unzulässig angesehen (vgl. dazu Z i l l m e r NJW 1965 2094). Jetzt aber läßt (vgl. dazu oben S. 173) § 100a StPO (i. d. F. des Ges. v. 13. 8. 1968, BGBl. I 949) unter engen Voraussetzungen bei bestimmten Delikten die Überwachung und Aufnahme des Fernmeldeverkehrs auf Tonträger zu und räumt damit wesentlichen Interessen der Strafrechtspflege den Vorrang ein. Im Licht dieser Rechtsentwicklung müßte jedenfalls ein Fernwirkungsverbot, wenn es überhaupt anerkannt werden könnte, sich Ausnahmen unter Anwendung des so verstandenen Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes gefallen lassen. C. Das nachträglich eingetretene Beweisverbot 1. Unter dem Gesichtspunkt der Fernwirkung läßt sich auch der Problembereich erörtern, ob ein nachträglich eintretendes Beweisverbot es ausschließt, die frühere Aussage zu rekonstruieren. Nach § 252 StPO darf die Aussage eines vor der Hauptverhandlung durch eine Verhörsperson vernommenen Zeugen, der erst in der Hauptverhandlung von seinem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch macht, nicht verlesen werden. Die Frage ist zunächst, ob § 252 ein bloßes Verlesungsverbot statuiert, das die Einführung der früheren Aussage auf anderem Wege in die Hauptverhandlung nicht hindert, oder ob er — über das Verlesungsverbot hinaus — ein Beweisverbot enthält. Wird die Frage im Sinn der 2. Alternative beantwortet, so stellt sich die weitere Frage, ob § 252 der nachträglichen Zeugnisverweigerung und dem damit entstehenden Verbot des Beweises durch Vernehmung rückwirkende Kraft in dem Sinn beilegt, daß die frühere Aussage als nicht erfolgt angesehen werden muß, also in keiner Form bei der Urteilsfindung verwertet werden darf, nicht anders, als habe der Zeuge von vornherein die Aussage verweigert (umfassende Fernwirkung), oder ob das nachträglich entstandene Beweisverbot nur eine beschränkte Fernwirkung entfaltet, indem es in gewissem Umfang eine Rekonstruktion der früheren Aussage erlaubt. 2. Die Entwicklung der Rechtsprechung im einzelnen ist in den Anm. zu § 252 dargestellt; darauf muß hier verwiesen werden. Wie dort ausgeführt ist, sah das Schrifttum in § 252 stets ganz überwiegend ein umfassendes Verwertungsverbot, während das RG, dessen Rechtsprechung aber nicht einheitlich verlief, ihm aus Gründen nachhaltiger Verbrechensbekämpfung die Bedeutung eines Verlesungsverbotes (Einschränkung des Urkundenbeweises durch Ausschluß der Protokollverwertung) beimaß. Die Rechtsprechung des BGH 176

Beweisverbote

Kap. 12 VI

hat eine Mittelstellung eingenommen: sie gibt einerseits dem Schrifttum darin Recht, daß § 252 ein auf die Lage und Gefühle des nachträglich die Aussage verweigernden Zeugen Rücksicht nehmendes Verwertungsverbot enthalte, schränkt dies aber dadurch ein, daß sie bei den früheren Vernehmungen zwischen nichtrichterlichen und richterlichen Vernehmungen unterscheidet: die frühere Aussage darf nur (durch Vernehmung des Richters, Vorhaltungen an den Zeugen usw.) zum Gegenstand der Beweiserhebung gemacht und als Beweisgrundlage verwertet werden, wenn der Zeuge nach Belehrung gemäß § 52 Abs. 2 vom Richter (auch in einer früheren Hauptverhandlung) vernommen war. Dann muß die Rücksichtnahme auf den Zeugen hinter dem Grundsatz der Wahrheitserforschung und den Bedürfnissen der Verbrechensverfolgung zurücktreten, und es muß „der Zeuge sich an seiner eigenverantwortlich getroffenen damaligen Entscheidung in der Weise festhalten lassen, daß seine frühere Aussage mittelbar verwertbar bleibt" (BGHSt. 2 99, 106; 11 338, 341; 13 394, 398; 17 324, 326; 20 384; 21 149, 150, 218; B G H JZ 1970 261). Die Eigenverantwortlichkeit der früheren Aussage, die den Rückgriff auf sie erlaubt, wird dabei in der Rechtsprechung nachdrücklich betont: ein kindlicher Zeuge wird vor einer Aussagebereitschaft, deren mögliche Folge er vielleicht nicht erkennen und beurteilen kann, dadurch geschützt, daß er der Zustimmung des gesetzlichen Vertreters zur Aussage bedarf (BGHSt. 19 85, 86); aber auch wenn dieser zustimmt, kann das Kind dennoch die Aussage verweigern und ist darüber zu belehren (BGHSt. 21 303, 306; JZ 1970 261). Dagegen hat die Rechtsprechung bei nichtrichterlichen (polizeilichen) Vernehmungen an dem ^Verbot der Vernehmung der Verhörspersonen auch festgehalten, nachdem durch das StPÄG 1964 für diese die Pflicht zur Belehrung über das Zeugnisverweigerungsrecht eingeführt war (§ 163 Abs. 5 StPO); die Vernehmung des Polizeibeamten über den Inhalt der polizeilichen Vernehmung ist danach auch ausgeschlossen, wenn die Belehrung erfolgt war (BGHSt. 21 218). 3. Verstärkt richten sich die Angriffe im Schrifttum, das an dem Gedanken der umfassenden „Fernwirkung" der nachträglichen Ausübung des Zeugnisverweigerungsrechts festhält, auch gegen die Rechtsprechung des BGH. Die Vertreter dieser Auffassung sehen das Bild so: auf der einen Seite baut die neuere Gesetzgebung den Schutz des Angeklagten, dessen Rechtskreis auch durch die Zeugnisverweigerung günstig berührt wird, stark aus; „die Rechtsprechung hat diesen Schutz jedoch durch Ablehnung der sich daraus ergebenden Beweisverbote inzwischen (?) erheblich eingeschränkt. So wird die erst in der Hauptverhandlung erklärte Aussageverweigerung des Zeugen durch die Vernehmung des Ermittlungs- oder Untersuchungsrichters praktisch illusorisch gemacht und § 252 StPO durch die Verlesung des Protokolls zur Stützung des Gedächtnisses der Verhörspersonen geradezu umgangen" (so J e s c h e c k JZ 1970 206). Solche abwertenden Pauschalurteile werden dem aber nicht gerecht, daß die Rechtsprechung des B G H das Ergebnis einer langen Rechtsentwicklung und des Bemühens um einen gerechten Ausgleich im Spannungsfeld zwischen den Belangen des Beschuldigten (Zeugen) und denen der Verbrechensbekämpfung ist. 4. Den im Gesetz ausdrücklich mit Verwertungsverbot ausgestatteten Beweisverboten (so § 136a Abs. 3 Satz 2) ist eigen, daß auch eine Rekonstruktion durch Vernehmung der Verhörspersonen ausgeschlossen ist, denn sonst würde die Aussage, die nicht verwertet werden darf, ja doch wieder verwertet werden. Das Verbot einer solchen mittelbaren Verwertung kann sich auch aus der Natur des Gegenstandes und dem Grund ergeben, der ihn dem Zugriff als Beweismittel entzieht; so darf nach BGHSt. 19 325, 334, wenn Tagebuchaufzeichnungen intimen Inhalts unter den dort bezeichneten Voraussetzungen aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes nicht als Beweismittel verwendet werden dürfen, über ihren Inhalt auch nicht in anderer Weise, etwa durch Vernehmung von Personen, die Kenntnis von dem Inhalt haben, als Zeugen Beweis erhoben werden. VI. Einteilung der Beweisverbote nach den Gründen für ihre Aufstellung. Die Gründe, die zur Aufstellung gesetzlicher Beweisverbote führten, können unter dem Gesichtspunkt der Schutzbereichswirkung und des Verbotsadressaten von Bedeutung sein. Dies gilt insbes. für die Frage, ob dem unmittelbar durch das Verbot Begünstigten die Verfügungsmacht zusteht, auf seine Einhaltung zu verzichten. W o indessen über eine solche Verfügungsmacht nicht ausdrücklich Bestimmung getroffen ist (vgl. §§ 5 2 , 5 3 Abs. 2, 177

Kap. 12

Einleitung (Schäfer)

VI 1 , 2 136 a Abs. 3 Satz 2), können sich Zweifel ergeben, weil häufig Aufstellungsgründe zusammentreffen, die sowohl auf Berücksichtigung privater Interessen wie auf die öffentlicher Belange zurückzuführen sind. 1. Das Verbot des § 136a StPO ist ein typisches Beispiel für das Zusammentreffen einer Reihe von Verbotsgründen. Maßgebend sind hier sowohl die Gefahr für die Wahrheitsforschung, die Achtung der Menschenwürde, die Sicherung der Stellung des Beschuldigten als eines Prozeßsubjekts wie der Gedanke, daß Übergriffe der Verfolgungsorgane, auch wenn sie auf den Einzelfall beschränkt sind, doch geeignet sind, das Vertrauen der Allgemeinheit in die Rechtsstaatlichkeit des Strafverfahrens zu erschüttern und so dem Staatswohl zu schaden. Die Unverzichtbarkeit der Menschenwürde und die Rücksichtnahme auf das öffentliche Interesse schließen es hier aus, dem Beschuldigten eine Verfügungsmacht über die Verwertbarkeit der verbotswidrig zustande gebrachten Aussagen einzuräumen (§ 136a Abs. 3 Satz 2). Das Verbot richtet sich an die staatlichen Strafverfolgungsorgane und die etwa in ihrem Auftrag handelnden Personen (Sachverständige; vgl. BGHSt. 11 211). Es richtet sich aber nicht an Privatpersonen; würde etwa der Verletzte den Täter durch Androhung körperlicher Gewalt zu einem schriftlichen Geständnis zwingen, so wäre dieses, in das Verfahren eingeführt, als Beweismittel verwertbar, und die Art seines Zustandekommens wäre nur bei der Beweiswürdigung von Bedeutung. Der Grundsatz der Bedeutungslosigkeit privater Einwirkungen, die zur Hervorbringung des Beweismittels geführt haben, gilt im allgemeinen auch bei den sonstigen Beweisverboten. Er gilt aber nicht, wo Beweisverbote aus Obersätzen des G G (Schutz der Menschenwürde und Persönlichkeitsentfaltung und daraus folgender Schutz der Intimsphäre) abgeleitet werden. Vom Standpunkt der (freilich umstrittenen) Lehre von der Drittwirkung der Grundrechte aus ergibt sich die Folgerung, daß ein Beweismittel unverwertbar ist, wenn es durch schwere und offensichtliche Grundrechtsverletzungen seitens eines Privaten geschaffen wurde. Dieser Gedanke kommt auch in der bisherigen Rechtsprechung zum Ausdruck. So besteht nach der „Tagebuchentscheidung" (BGHSt. 19 331) bei Tagebuchaufzeichnungen, die mit der Persönlichkeitssphäre des Verfassers verknüpft sind und der Kenntnis Dritter entzogen sein sollten, das aus dem G G sich ergebende Verwertungsverbot „gleichviel ob die Aufzeichnungen durch staatlichen Akt oder durch privates Eingreifen zur Kenntnis der Strafverfolgungsbehörde gelangen" (s. dazu auch BGHSt. 14 364; K o h l h a a s Jur. Jahrb. Bd. 4, 70; E v e r s JZ 1965 663). 2. §§ 5 2 , 2 5 2 StPO. Bei dem Beweisverbot aus § 52 StPO steht der Gedanke im Vordergrund, dem Zeugen den aus dem nahen Angehörigenverhältnis sich ergebenden Konflikt zwischen der Zeugnispflicht und der Rücksichtnahme auf die Familienbande zu ersparen (RGSt. 19 396). Daneben entspringt - so BGHSt. 11 213, 216 - das Zeugnisverweigerungsrecht auch „der schonenden Rücksicht auf die Familienbande, die den Angeklagten mit dem Zeugen verknüpfen", d. h. nicht nur wegen des Gewissenskonflikts des Zeugen, sondern auch zum Schutz der Familie des Angeklagten ist dem Zeugen das Aussageverweigerungsrecht eingeräumt, und insofern wird der Rechtskreis des Angeklagten unmittelbar berührt, wenn bei unterlassener Belehrung der rechtsunkundige Zeuge sich nicht frei über den Gebrauch oder Nichtgebrauch des Weigerungsrechts entscheiden kann, mit der Folge, daß der Angeklagte die Nichtbelehrung des Zeugen mit der Revision rügen kann. Schließlich könnte auch die Gefahr unzuverlässiger Sachverhaltsfeststellung — die Gefahr, daß der Zeuge, der sich bei unterlassener Belehrung zur Aussage verpflichtet glaubt, falsch zugunsten des Beschuldigten aussagt — als Begründung des Zeugnisverweigerungsrechts eine Rolle spielen; sie tritt aber — da sie ja auch besteht, wenn der Zeuge nach Belehrung aussagebereit ist (vgl. dazu § 60 Nr. 2 StPO) — zurück, so daß das Gesetz es dem Zeugen überläßt, ob er aussagen will, ihm aber auch das Recht gibt, den Verzicht auf sein Weigerungsrecht später zu widerrufen. Der Widerruf hat die in § 252 StPO bezeichnete Folge, die aber nach der umstrittenen Rechtsprechung nicht so weit reicht, die einmal aus freiem Entschluß abgegebene Aussage jeglicher Verwertung zu entziehen (vgl. oben S. 177). Aus der Berücksichtigung der Konfliktslage als dem tragenden Grund des Zeugnisverweigerungsrechts ergibt sich, daß das (beschränkte) Verbot der Verwertung früherer Aussagen nicht nur Aussagen, die in der Eigenschaft als Zeuge erstattet wurden, sondern auch solche Aus178

Beweisverbote

Kap. 12 VI 3 5

sagen umfaßt, die der jetzige Zeuge in einem Strafverfahren gegen einen nahen Angehörigen früher als Angeklagter in einem gegen ihn selbst gerichteten Strafverfahren als Beschuldigter gemacht hat (BGHSt. 20 384). Andererseits sind frühere Aussagen des inzwischen verstorbenen Zeugen, weil die Konfliktslage entfallen ist, nach § 251 Abs. 2 verlesbar, auch wenn sie zu polizeilichem Protokoll abgegeben wurden und eine Belehrung nach § 163 a Abs. 5 unterblieben war, denn „die berechtigte Forderung der Allgemeinheit nach wahrheitsgemäßer Aufklärung von Straftaten, die dem § 251 Abs. 2 zugrunde liegt, braucht nicht weiter zurückzutreten, als es die schutzwürdigen Interessen des zeugnisverweigerungsberechtigten Zeugen verlangen" (BGHSt. 22 3 5 = N J W 1968 559). Das Verlesungs- und Verwertungsverbot des § 252 umfaßt auch Schriftstücke, die der Zeuge bei seiner polizeilichen Vernehmung überreicht und zum Bestandteil seiner Aussage gemacht hatte; Beweis über ihren Inhalt kann nur erhoben werden, wenn die Schriftstücke unabhängig von der früheren Vernehmung als selbständige Beweismittel in die Hauptverhandlung eingeführt werden können (BGHSt. 22 219). 3. Die §§ 5 3 , 5 3 a StPO beruhen ursprünglich auf dem Gesichtspunkt der Wahrung des Berufsgeheimnisses. Da aber der Katalog der verweigerungsberechtigten Personen im Lauf der Zeit ausgedehnt worden ist, ist das Zeugnisverweigerungsrecht nicht vom Geheimnischarakter der anvertrauten oder bekannt gewordenen Tatsachen abhängig. Maßgebend ist der Gedanke, ein bei der Berufsausübung bestehendes Vertrauensverhältnis deshalb zu respektieren, damit wichtige Berufe ungestört ausgeübt werden können. Eine Pflicht zur Belehrung über das Zeugnisverweigerungsrecht ist — anders als in § 52 Abs. 2 — nicht vorgesehen (BGHSt. 18 146, 150). Die in § 53 Abs. 2 bezeichneten Berufsangehörigen dürfen das Zeugnis nicht verweigern, wenn sie von der Verschwiegenheitspflicht entbunden sind; in den übrigen Fällen des § 53 läßt die Entbindung das Zeugnisverweigerungsrecht unberührt. Verzichtet der Nichtentbundene auf sein Zeugnisverweigerungsrecht, so kann es sein, daß er sich nach materiellem Strafrecht (vgl. z. B. § 300 StGB) strafbar macht. Denn materiellrechtlich ist die Preisgabe eines Geheimnisses nicht schon deswegen „befugt", weil sie vor Gericht erfolgt; verfahrensrechtlich aber ist auch die unter Bruch des Berufsgeheimnisses erstattete Aussage als Beweismittel verwertbar (BGHSt. 9 59). Der Verzicht auf das Verweigerungsrecht aus §§ 53, 53 a ist in gleicher Weise widerruflich wie im Fall des § 52 StPO, und zwar mit der Folge, daß § 252 StPO eingreift (BGHSt. 17 245; 18 146). 4. §§ 54, 96 StPO. § 54 dient dem Schutz der öffentlichen Belange. Eine Belehrung des Zeugen ist nicht vorgeschrieben. Die genehmigungslos gemachte Aussage darf das Gericht rügelos verwerten, da nach der (im Schrifttum umstrittenen) Rechtsprechung die Revision nicht darauf gestützt werden kann, daß der Beamte oder Zeuge ohne Genehmigung aussagte oder die Genehmigung inhaltlich überschritt und die Aussage als Beweismittel verwertet wurde, weil durch eine Wahrheitserforschung unter Verletzung anderer öffentlicher Belange der Rechtskreis des Angeklagten nicht berührt wird (vgl. oben S. 172). Die erteilte Aussagegenehmigung der Behörde ist widerruflich; widerruft sie, so darf zwar eine in einem früheren Verfahrensstadium erfolgte Aussage, auch bei richterlicher Vernehmung, nicht durch Vernehmung der richterlichen Verhörsperson verwertbar gemacht werden; dem steht das öffentliche Interesse entgegen. Die Rechtslage ist hier eine andere als bei späterem Widerruf des Verzichts auf das Aussageverweigerungsrecht in den Fällen der §§ 52, 5 3 , 5 3 a. Eine Verletzung dieser Pflichten ist aber wiederum für den Angeklagten unrügbar. § 54 wird ergänzt durch § 96; bei dessen Verletzung gelten die gleichen Grundsätze wie bei Verletzung des § 54. 5. Das Zeugnisverweigerungsrecht aus § 55 beruht — anders als dasjenige nach § 5 2 — nicht auf den Beziehungen des Zeugen zum Angeklagten, sondern ist ein Persönlichkeitsrecht des Zeugen; es soll — wie bei der Einlassungsfreiheit des Beschuldigten — dem Zeugen den Konflikt ersparen, gegen sich selbst auszusagen (BGHSt. 11 213, 216). Verweigert der Zeuge später die Aussage, so greift nach BGHSt. 17 245 der § 252 nicht ein; über die frühere Aussage dürfen die Verhörspersonen vernommen werden, auch wenn der Zeuge seinerzeit nicht über sein Aussageverweigerungsrecht belehrt worden ist. D a der Rechtskreis des Beschuldigten durch Verletzung des § 55 nicht berührt wird, kann er einen Verstoß gegen § 55 nicht mit der Revision rügen (BGHSt. 11 213; 17 245; s. oben S. 172).

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Kap. 12

Einleitung (Schäfer)

VII1 6. Wie § 96 den § 54, so ergänzt § 97 die §§ 52, 53, 53 a. Das Beschlagnahmeverbot beruht auf dem Gedanken, daß das auf das gesprochene Wort bezügliche Zeugnisverweigerungsrecht unvollkommen wäre, wenn es durch Beschlagnahme der schriftlichen Mitteilungen zwischen dem Beschuldigten und den zeugnisverweigerungsberechtigten Personen, die sich in deren Gewahrsam befinden, umgangen werden könnte. Das Beschlagnahmeverbot entfallt, wo der Gewahrsamsinhaber nicht als Zeuge, sondern (wegen Teilnahmeverdachts) als Beschuldigter in Betracht kommt (§ 97 Abs. 2 Satz 2). Diese ratio bestimmt die Auslegung des § 97. Ist z. B. nach § 97 Abs. 2 Satz 2 eine Beschlagnahme wegen Teilnahmeverdachts eines Zeugnisverweigerungsberechtigten zulässig, so dürfen die beschlagnahmten Gegenstände nicht als Beweismittel für andere Straftaten des Beschuldigten verwendet werden, hinsichtlich deren kein Teilnahmeverdacht des Gewahrsamsinhabers besteht; das Verwertungsverbot entfallt aber, wenn das Gericht die Zustimmung des Zeugnisverweigerungsberechtigten einholt, und zwar in den Fällen des § 52 in entsprechender Anwendung des § 52 Abs. 2 unter Belehrung über sein Recht, die Verwertung des Beschlagnahmegegenstandes als Beweismittel zu verweigern (BGHSt. 18 227). 7. Die Beschränkung der Beweiserhebung durch Übertragung und Aufnahme des Fernmeldeverkehrs auf Tonträger in § 100 a StPO dient dem öffentlichen Interesse an der Erhaltung des Post- und Fernmeldegeheimnisses. Daraus folgt die Unverwertbarkeit der Beweismittel, die in Überschreitung der in § 100 a zugelassenen Ausnahmefalle erlangt sind. Verstöße werden auch nicht durch Zustimmung des Betroffenen geheilt; das ergibt sich auch aus § 100 b Abs. 5 StPO. 8. Die aus dem Persönlichkeitsrecht ohne förmliche Grundlage in der StPO abgeleiteten Beweisverbote (vgl. BGHSt. 14 358; 19 325) dienen vorzugsweise dem Individualinteresse und unterliegen daher grundsätzlich der Verfügungsmacht des durch das Verbot Geschützten. VII. Die Rollenvertauschung 1. Unter dem Gesichtspunkt des Beweismethodenverbots wird auch die sog. Rollenvertauschung, d. h. der Austausch von Verfahrensrollen erörtert. Sie soll hier nur insoweit 126 kurz gestreift werden, als es sich um die Versetzung des Mitbeschuldigten oder -angeklagten in die Rolle des Zeugen handelt, die durch Abtrennung bisher nach §§ 2 bis 4 StPO verbundener Sachen herbeigeführt wird. Rechtsprechung und überwiegend auch das Schrifttum sehen eine Abtrennung zum Zweck des Rollenaustauschs grundsätzlich als zulässig an; nur das die gesamte Rechtsordnung beherrschende Willkürverbot verbiete es, daß die Strafverfolgungsbehörden aus sachfremden Erwägungen den Verdächtigen in die Rolle eines Zeugen drängen (BGHSt. 10 12). Nach BGH NJW 1964 1034 ist es aber nicht mißbräuchlich, wenn der Richter verbundene Sachen vorübergehend nur zu dem einzigen Zweck trennt, einen Mitangeklagten im Verfahren gegen den anderen zu Anklagepunkten, die ihn nicht betreffen, als Zeugen zu vernehmen, sofern er die Vernehmung als Zeugen für zweckmäßig oder sogar für erforderlich hält, weil ihm die Aussage als Zeuge bessere Gewähr für die Ermittlung der Wahrheit zu bieten scheint als die Äußerung des Mitangeklagten. Problematisch ist bei einer Abtrennung freilich, daß der Mitangeklagte (auch zum Vorteil des anderen Mitangeklagten) schweigen darf, der Zeuge aber wahrheitsgemäß aussagen muß (§§ 57, 70), soweit er nicht nach § 55 StPO die Antwort auf bestimmte Fragen verweigern darf. BGH GA 1968 305 hat daraus die Folgerung gezogen, „es ließe sich sehr wohl die Meinung vertreten, daß die vorübergehende Abtrennung der Strafsache gegen einen Angeklagten, nur um ihn im Verfahren gegen einen Mitangeklagten zu demselben Tatgeschehen, das auch ihm als Mittäter zur Last liegt, als Zeugen zu vernehmen, mit dem Gesetz nicht in Einklang stehe". Denn wenn auch im konkreten Fall der jetzige Zeuge nur über die Beteiligung des anderen Mitangeklagten an der Tat vernommen werden solle, so lasse sich 126

Unter dem Gesichtspunkt des verbotenen Rollenaustauschs wird auch das Problem erörtert, inwieweit die Erklärungen des anonymen V-Mannes durch Verhörspersonen in die Hauptverhandlung eingeführt werden können (s. dazu oben S. 155 f.); es wird dabei geltend gemacht, die Verhörsperson erfülle keine Zeugenfunktionen, sondern übernehme die dem Richter vorbehaltene Beweiswürdigung.

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Mitwirkung des Volkes bei der Rechtsprechung

Kap. 13

doch diese Beteiligung von dem gesamten Tatgeschehen nicht trennen, so daß der jetzige Zeuge notwendig auch über seine eigene Beteiligung aussagen müßte; es bestehe bei solchem Verfahren zumindest die Gefahr, daß die so zustande gekommene Zeugenaussage verwertet werde. Der Grundsatz, der hier für den konkreten Fall mit einer gewissen Zurückhaltung („es ließe sich sehr wohl die Meinung vertreten..."; zu einer Entscheidung der Frage war der BGH aus verfahrensrechtlichen Gründen nicht gezwungen) in Erscheinung tritt, wird im Schrifttum 127 zu einem allgemeinen, von den Umständen des konkreten Falles losgelösten Prinzip erweitert: die Rolle als Mitbeschuldigter oder Mitangeklagter entspringe einer von dem formalen Verfahrensstand unabhängigen Sachbeziehung; durch ein „ A r r a n g i e r e n " von Verfahrensverbindung und Verfahrenstrennung könne die Prozeßsstellung des Mitbeschuldigten nicht verändert werden; der Mitbeschuldigte werde auch bei Abtrennung nicht Zeuge, sondern bleibe Mitbeschuldigter. Damit würden die psychologischen Auswirkungen der Rollenvertauschung (Anschein größerer Glaubwürdigkeit des „Zeugen") mit ihrer Gefahr für die Wahrheitsfindung ausgeschaltet. Indessen spricht schon § 60 Nr. 2 StPO dagegen, dem geltenden Recht einen solchen allgemeinen Grundsatz zu entnehmen, der ohne zwingenden Grund die Ermittlungsmöglichkeiten erheblich einschränken würde, zumal sich die berechtigten Interessen der Beteiligten auch in anderer Weise wahren lassen (vgl. dazu K o f f k a ZStrW 81 [1969] 960f.). VIII. Verfahrensrechtliches Ob gegen ein Beweisverbot mit der Folge der Unverwertbarkeit des Beweismittels verstoßen ist, unterliegt den Regeln des Freibeweises. Dies gilt auch — gegen P e t e r s [2] 284 — für Verstöße gegen § 136 a im 1. Rechtszug (BGHSt. 16 164; allg. M.). In der Revisionsinstanz ist der Verstoß — anders als bei der Nichtbeachtung von Verfahrenshindernissen — nicht von Amts wegen, sondern nur auf Rüge gemäß § 344 Abs. 2 StPO zu beachten. Bei der Würdigung des Ergebnisses der Ermittlungen gilt der Grundsatz „in dubio pro reo" nicht; Verfahrensfehler müssen nachgewiesen werden (BGH aaO.).

13. Mitwirkung des Volkes bei der Rechtsprechung128 Zum Begriff des Gerichts i. S. des Art. 92 G G gehört, soweit es sich um die Besetzung handelt, daß wenigstens der Vorsitzende ein Berufsrichter ist (§ 28 Abs. 2 DRiG). Als Beisitzer können dagegen je nach den die Besetzung des Gerichts regelnden Vorschriften nur Berufsrichter oder neben Berufsrichtern ehrenamtliche Richter (sog. Laienrichter) oder nur ehrenamtliche Richter mitwirken. Diese ehrenamtlichen Richter sind nach Art. 97 Abs. 1 GG, § 45 DRiG v. 8. 9. 1961 (BGBl. I 1665) in gleicher Weise wie die Berufsrichter sachlich unabhängig und nur dem Gesetz unterworfen. Das geltende Recht sieht im Strafverfahren die Mitwirkung von Laienrichtern vor als Schöffen und Geschworene. Und zwar als Schöffen in der Hauptverhandlung vor dem Schöffengericht und vor der großen Strafkammer als Gerichte des ersten Rechtszuges und vor der großen und kleinen Strafkammer als Berufungsgerichten und als Geschworene in der Hauptverhandlung vor dem Schwurgericht (drei Berufsrichter und sechs Geschworene). Im Jugendstrafverfahren wirken Jugendschöffen mit in der Hauptverhandlung vor dem Jugendschöffengericht und vor der Jugendkammer als Gericht des ersten Rechtszuges und als Berufungsgericht. Eine Mitwirkung von Laienrichtern außerhalb der Hauptverhandlung kennt das Gesetz nicht. In der Hauptverhandlung üben die Schöffen und Geschworenen das Richteramt in vollem Umfang und mit gleichem Stimmrecht wie die Berufsrichter aus (§§ 30,82 GVG). Ohne Mitwirkung von Schöffen entscheiden der Amtsrichter und der Jugendrichter als Einzelrichter sowie die Oberlandesgerichte und der Bundesgerichtshof als Revisionsgerichte und die ' " P e t e r s , Gutachten für den 46. DJTundLehrb. [2] 290; K l u g , Verhandl. F 56f. 128 Lit.: S c h o r n , Der Laienrichter in der Strafrechtspflege 1955. Kritisch zur Laienrichtermitwirkung B aur in Festschrift für Ed. K e r n (1968) 49ff.

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Kap. 13

Einleitung (Schäfer)

Oberlandesgerichte als Gerichte des ersten Rechtszuges. Rechtlich besteht zwischen den Geschworenen und den Schöffen bei den Schöffengerichten und Strafkammern kein Unterschied. Vorschriften über das Geschlecht der Laienrichter (etwa dahin, daß Männer und Frauen je in gleicher Zahl mitwirken müßten) sind im Hinblick auf den Gleichberechtigungsgrundsatz (Art. 3 Abs. 2 GG) nicht vorgesehen, doch „sollen" nach § 33 Abs. 3 J G G als Jugendschöffen zu jeder Hauptverhandlung ein Mann und eine Frau herangezogen werden. Die Mitwirkung von Laienrichtern in der Strafrechtspflege beruht auf den Reformideen und -forderungen des 19. Jahrhunderts, die mit den Wünschen auf Mitwirkung des Volkes bei Gesetzgebung und Verwaltung parallel erhoben wurden. Die ursprüngliche Regelung, die StPO und GVG bei ihrem Inkrafttreten am 1. 10. 1879 vorsahen, beruhte im Anschluß an die Rechtsgedanken des französischen Rechts auf der in § 1 StGB vorgenommenen Einteilung der Straftaten in Verbrechen, Vergehen und Übertretungen. Über schwere und schwerste Verbrechen entschied das Schwurgericht, dessen Besonderheit die Trennung des Gerichts in die Richter- und die Geschworenenbank war: den 12 Geschworenen fiel die Entscheidung über die Schuldfrage, den 3 Berufsrichtern die Entscheidung über die Straffrage zu. Die übrigen Verbrechen und die Masse der Vergehen wurden von der ausschließlich mit (5) Berufsrichtern besetzten Strafkammer abgeurteilt. Für leichtere Vergehen und für Übertretungen war das Schöffengericht zuständig, bei dem die beiden Schöffen mit dem Berufsrichter gemeinsam über Schuld- und Straffrage entschieden. Bei den Rechtsmittelgerichten und beim Reichsgericht als erstinstanzlichem Gericht für Hoch- und Landesverrat wirkten Laienrichter nicht mit. Schon bald nach dem Inkrafttreten von StPO und GVG wurden Reformwünsche laut. Die Anhänger des Gedankens der Laienbeteiligung in der Strafrechtspflege bemängelten, daß die erstinstanzlichen Strafkammern nur mit Berufsrichtern besetzt und dadurch auf einem großen und wichtigen Gebiet das Volk von der Teilnahme an der Rechtsprechung ausgeschlossen sei. Ferner wurde die Zulassung der Berufung gegen erstinstanzliche Strafkammerurteile und die Besetzung auch der Berufungsinstanz mit Laienrichtern gefordert. Der Widerstand, den der Bundesrat gerade dem letzteren Verlangen entgegensetzte, hat schließlich zum Scheitern der vor dem ersten Weltkrieg betriebenen Reform geführt (oben S. 36). Sieht man von einer Erweiterung der Schöffengerichtszuständigkeit im ersten Weltkrieg (VO v. 21. 10. 1917, RGBl. 1037), von dem Gesetz über die Heranziehung der Frauen zum Schöffen- und Geschworenenamt v. 25.4. 1922 (RGBl. I 465), und von dem Gesetz zum Schutz der Republik v. 21. 7. 1922 (RGBl. I 585), das die erstinstanzliche Zuständigkeit des RG für Hochverratssachen auf den bei dem RG gebildeten, mit Berufs- und Laienrichtern besetzten „Staatsgerichtshof zum Schutze der Republik" übertrug, ab, so blieben die ursprünglichen Vorschriften über den Umfang der Laienbeteiligung unverändert bis zur Emminger-Reform v. 4. 1. 1924 bestehen. Diese brachte mit der Beseitigung der Strafkammer als Gericht erster Instanz die grundsätzliche Beteiligung des Laienelements bei der Aburteilung im ersten Rechtszug, die freilich wieder dadurch eingeschränkt wurde, daß in nicht unerheblichem Umfang die Zuständigkeit des Amtsrichters als Einzelrichter begründet wurde. Sie erfüllte weiter das alte Reformverlangen nach allgemeiner Eröffnung einer zweiten Tatsacheninstanz und ihrer Besetzung mit Schöffen und wandelte schließlich das alte Schwurgericht unter Beibehaltung seines Namens in ein großes Schöffengericht um. Die grundsätzliche Beteiligung von Laien bei der erstinstanzlichen Aburteilung blieb auch aufrechterhalten, als die VO v. 14. 6. 1932 allgemein die große Strafkammer als erstinstanzliches Gericht wieder einführte, deren Urteile aber nunmehr wieder nur mit der Revision anfechtbar waren. An diesem Rechtszustand ist auch in der Zeit nach 1933 und bis zum Beginn des zweiten Weltkrieges förmlich nichts geändert worden. Jedoch brachte die Einführung der mit drei Berufsrichtern besetzten Sondergerichte als Dauereinrichtung in beträchtlichem Umfang die Ausschaltung der Laien. Mit Kriegsbeginn (VO v. 1. 9. 1939, RGBl. I 1658) entfiel die Mitwirkung von Schöffen und Geschworenen. Zwar handelte es sich hierbei nicht um eine auf Dauer berechnete Maßnahme. Immerhin aber wollte der StPO-Entw. 1939 die Laienbeteiligung einschränken (Begr. S. 2). Bei der kleinen und mittleren Kriminalität sollte danach — unter Wegfall der Schöffengerichte — im ersten Rechtszug nur der Amtsrichter als Einzelrichter, über Berufungen gegen seine Urteile die mit 3 Berufsrichtern und 2 „Volksrichtern" besetzte „Schöffenkammer" entscheiden. In der gleichen Besetzung sollte — unter Wegfall 182

Mitwirkung des Volkes bei der Rechtsprechung

Kap. 13

der Schwurgerichte — die Schöffenkammer als erstinstanzliches Gericht für die schwere und schwerste Kriminalität zuständig sein, gegen deren Urteile nur die Revision vorgesehen war. Daneben sollten die bisherigen Sondergerichte in der Besetzung mit drei Berufsrichtern und unter der Bezeichnung als Strafkammer fortbestehen. Volksgerichtshof und die Oberlandesgerichte sollten im ersten und letzten Rechtszug für Hoch- und Landesverrat und einige gleichgestellte Straftaten zuständig sein und in der Besetzung mit 2 Berufs- und 3 „Volksrichtern" entscheiden. Die Zurückdrängung des Laienelements bei der kleineren und mittleren Kriminalität wurde mit der „angespannten Arbeitslage und dem Mangel an Arbeitskräften" begründet. Die Nachkriegsgesetzgebung führte allmählich — unterschiedlich in den einzelnen Ländern und Zonen — zur Wiederheranziehung der Schöffen und Geschworenen, und zwar im großen und ganzen im Anschluß an das Vorbild des vor Kriegsbeginn geltenden Rechts bei Wegfall der Sondergerichte. Aus diesem Rahmen fallt die Wiedereinführung des Schwurgerichts in alter Form mit der Trennung in Richter- und Geschworenenbank in Bayern (S. 19). Das Rechtsvereinheitlichungsgesetz v. 12.9. 1950 brachte auch hier die Rechtseinheit unter Rückgriff auf den durch die Emminger-VO geschaffenen und durch die VO v. 14. 6. 1932 geänderten Rechtszustand. Eine Neuerung von Belang bedeutete nur die Änderung der Vorschriften über die Wahl der Schöffen und Geschworenen. Sie erfolgte früher durch den Wahlausschuß aus den von den Gemeinden aufgestellten Urlisten, die alle schöffenfahigen Gemeindeeinwohner oder einen nach äußeren Merkmalen (Anfangsbuchstaben der Namen oder Straßen) beschränkten Teil enthielt. Nach dem neuen Recht ( § 3 6 GVG) trifft dagegen die Gemeindevertretung eine Vorwahl, indem sie aus der Zahl der schöffenfähigen Gemeindeeinwohner eine beschränkte Zahl auswählt (Vorschlagsliste); der Wahlausschuß (§ 40 GVG) ist dann bei seiner Wahl auf den in der Vorschlagsliste namhaft gemachten Personenkreis beschränkt. Durch diese Änderung sollte, von einer Vereinfachung des Schreibwerks abgesehen, vorzugsweise erreicht werden, daß dem Wahlausschuß nur für das Schöffenamt besonders geeignete Bürger präsentiert werden. Eine Vorschrift, daß Männer und Frauen in gleichem Ausmaß vorzuschlagen seien, enthält das Gesetz nicht. Einer Wahl nach parteipolitischen Gesichtspunkten suchen §§ 36 Abs. 1, 40 Abs. 2, 42 GVG entgegenzuwirken, wonach zur Aufnahme in die Vorschlagsliste die Zustimmung von 2 / 3 der gesetzlichen Mitgliederzahl der Gemeindevertretung erforderlich ist, die Vertrauenspersonen des Wahlausschusses mit einer 2 / 3 -Mehrheit gewählt werden müssen und der Wahlausschuß selbst mit 2 / 3 -Mehrheit wählt. Besonderheiten gelten für die Wahl der Jugendschöffen (§35 JGG). An die Stelle der allgemeinen Vorschlagsliste tritt hier die vom Jugendwohlfahrtsausschuß aufgestellte Vorschlagsliste, in die nur erzieherisch befähigte und in der Jugenderziehung erfahrene Personen aufgenommen werden sollen. Männer und Frauen sollen in gleicher Zahl vorgeschlagen und gewählt werden. Der Sinn der Laienbeteiligung ist, nachdem das alte Geschworenensystem mit seiner Aufgabenverteilung unter die Geschworenenbank und das Gericht der Vergangenheit angehört, allgemein der, das Vertrauen der Allgemeinheit (des Volkes) in die Strafrechtspflege zu erhalten und zu stärken. Über die durch die Öffentlichkeit der Hauptverhandlung gebotenen Möglichkeiten hinaus soll das Volk durch seine Vertreter Einblick auch in die Geschehnisse im Beratungszimmer erhalten, die Schwierigkeiten, Zweifel und selbst Gewissenskonflikte, die bei der Findung des gerechten Spruchs entstehen, kennenlernen und durch Mitübernahme der Verantwortung für den gefundenen Spruch einer sonst nur leicht aufkommenden Kritik entgegenwirken, daß Urteile „vom grünen Tisch" her durch „weit- und lebensfremde" Juristen gesprochen seien129. Den Richter aber soll die Laienmitwirkung davor bewahren, in Routine zu versinken; er soll die Richtigkeit seiner Wahrnehmungen und Vorstellungen, die Überzeugungskraft seiner Überlegungen an den Einwendungen messen 129

S. dazu BGHSt. 22 85: Ein Geschworener wird kurz vor Abschluß der Beweisaufnahme beim Besuch eines Ladengeschäfts auf den mutmaßlichen Ausgang des Verfahrens angesprochen, wobei ihm vorgestellt wird, dem Angeklagten sei bis jetzt noch nichts bewiesen worden. Seine Antwort „Das glauben Sie" führt zu seiner Ablehnung wegen Befangenheit, die B G H für unbegründet erklärt, weil einem beteiligten Geschworenen gegenüber der völlig einseitigen Abwertung der bisher erhobenen Beweise ein „klärendes Wort", mit dem er nicht zugleich in bestimmter Weise eine eigene Auffassung zur Frage der Schuld oder Unschuld äußert, nicht versagt werden könne.

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Einleitung (Schäfer)

und klären, die ihm aus dem ungeprüften Rechtsempfinden her entgegengesetzt werden. Der Gedanke, daß die Aufgabe der Laienrichter — etwa wie bei den Handelsrichtern der Kammern für Handelssachen, bei den Arbeitsrichtern der Arbeitsgerichte — im Strafverfahren auch darin bestehe, durch eigne Sachkunde und allgemeine oder besondere Vertrautheit mit der den Gegenstand der Verhandlung bildenden Materie den Richter zu unterstützen, liegt dem Gesetz fern; er tritt nur bei den Jugendschöffen zutage. Aus der beschränkten Zielsetzung des Gesetzgebers, durch die Beteiligung der Laien der Volkstümlichkeit der Rechtspflege in den Tatsacheninstanzen zu dienen, erklärt es sich auch, daß das Gesetz nicht die Gewinnung routinierter Laienrichter durch eine länger dauernde intensive Heranziehung zum Dienst anstrebt, wie sie etwa E b S c h m i d t Lehrkomm. I [2] Rz 574 empfiehlt. Doch hat der Gedanke, daß eine zu seltene Heranziehung einer sinnvollen Ausübung des Amtes abträglich ist, weil es dann an einer genügenden allgemeinen Bekanntschaft mit den gesetzlichen Bestimmungen fehlt, dazu geführt, daß die frühere Beschränkung der Heranziehung (zu höchstens 5 Sitzungstagen) aufgegeben wurde und während der zweijährigen Amtsdauer der Hauptschöffe mindestens zu 12 Sitzungstagen im Jahr herangezogen werden soll (§ 43 GVG). Im übrigen sollen Maßnahmen der Justizverwaltung (Übersendung eines Merkblatts an die Gewählten, z. T. Vorbereitung durch Vorträge, Empfehlungen an die Richter über die Durchführung der Hauptverhandlung und Beratung — s. RiStBV Nr. 122 —) bewirken, daß die Laienrichter Kenntnis von den ihre Obliegenheiten regelnden Vorschriften erhalten, daß sie den Vorgängen der Verhandlung mit Verständnis folgen können und an der Beratung selbständig und mit dem Gefühl der Mitverantwortlichkeit für die Entscheidung teilnehmen. S. im übrigen auch S. 166. Die Vorschläge de lege ferenda gehen im allgemeinen auf die Beibehaltung der Laienbeteiligung; nur vereinzelt wird im Schrifttum ihre Beteiligung als entbehrliches „Feigenblatt der Demokratie" empfohlen. Dagegen wird im Zusammenhang auf dem Problem eines künftigen dreigliedrigen Gerichtsaufbaues in der ordentlichen Gerichtsbarkeit (unter Beseitigung der Amtsgerichte) häufiger der Wegfall des Schwurgerichts als eines besonderen Spruchkörpers zur Diskussion gestellt.

14. Zur Frage des nichtigen Urteils130 Beruht ein Strafurteil auf unrichtigen (dem wirklichen Sachverhalt wiedersprechenden) tatsächlichen Feststellungen, so steht nach Eintritt der Rechtskraft in engen Grenzen der Weg der Wiederaufnahme des Verfahrens (§§ 359ff. StPO) zur Verfügung, um das falsche Urteil zu beseitigen und durch ein richtiges zu ersetzen. Es bedarf dann, wenn es sich um die hier vorzugsweise interessierende Wiederaufnahme zugunsten des Verurteilten handelt, und die Wiederaufnahmegründe der Nr. 1 — 4 des § 359 außer Betracht gelassen werden, der 130

Auf Fragen der Terminologie, über die keine Einigkeit besteht (nichtige Urteile, unbeachtliche oder unwirksame Urteile, Nichturteile, Scheinurteile usw.), soll hier nicht näher eingegangen werden, da sich keine praktischen Folgerungen daran knüpfen. Von „Nicht"-Urteilen wird meist gesprochen, wo nur durch die Wahl eines technischen Ausdrucks ganz entfernt eine Beziehung zu einem Urteil besteht, so wenn am Stammtisch Referendare ein „Urteil" in einer Prozeßsache „fallen" oder wenn sich (vgl. Dürrenmatt, Der Richter und sein Henker) ein pensionierter Richter, ein im Ruhestand befindlicher Staatsanwalt und ein aus dem Berufsleben ausgeschiedener Rechtsanwalt regelmäßig zusammenfinden, um mit einem Gast als Beschuldigten „Strafprozesse" durchzuführen, oder wenn ein bloßer Urteilsentwurf als Urteil behandelt wird. Diese Fälle interssieren hier nicht. Von Scheinurteilen wird gesprochen, wenn staatliche Organe reine Schauprozesse veranstalten, d. h. nur äußerlich und zum Schein ein gerichtliches Verfahren durchgeführt wird, während es sich in Wahrheit bei dem „Urteil" um die Verhängung reiner Willkürmaßnahmen handelt (vgl. BGHSt. 2 173; 10 300; K G NJW 1954 1901 - sog. Waldheimer Urteile). Von einem „bloßen Scheinurteil" spricht aber auch B G H NJW 1964 1568, 1569, wenn es „im Rechtssinn überhaupt nicht verlautbart" ist. Nach R o e d e r , Die Begriffsmerkmale des Urteils im Strafverfahren, ZStrW 79 [1967] 250, 294, 303 ist die Frage des nichtigen Urteils ein bloßes Scheinproblem; es gibt nur das Urteil („Strafurteil ist eine unter Mitwirkung mindestens eines mit Strafgerichtsbarkeit ausgestatteten, funktionell zuständigen Organes auf Grund einer vorausgegangenen mündlichen Verhandlung gefällte und in der Gerichtssprache verkündete Entscheidung über das Bestehen oder Nichtbestehen eines staatlichen Straf- oder Sicherungsanspruchs") und das Nichturteil, wobei auch das Strafurteil zum „Nicht-

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Beibringung neuer Tatsachen oder Beweismittel, die eine dem Verurteilten wesentlich günstigere Entscheidung zu begründen geeignet sind (§ 359 Nr. 5). Diese Voraussetzungen liegen nach verbreiteter Auslegung mangels Neuheit der Tatsachen nicht vor, wenn die Unrichtigkeit eines Urteils darauf beruht, daß das Gericht entscheidungserhebliche Umstände, die ihm aus der Verhandlung bekannt waren, bei der Urteilsfindung unberücksichtigt ließ oder daß es solche Umstände, wenn sie sich aus den Akten ergaben, versehentlich nicht in die Verhandlung einführte. Wird ein solches Urteil rechtskräftig, so sind, soweit nicht ausnahmsweise eine Verfassungsbeschwerde (§ 90 BVerfGG) in Betracht kommt und zum Erfolg fuhrt, Mängel dieser Art grundsätzlich „geheilt"; das gleiche gilt, wenn die Unrichtigkeit des Urteils auf Verfahrensverstößen oder auf unrichtiger Anwendung des Rechts auf die festgestellten Tatsachen beruht. Das erfordert die Rechtssicherheit: jedes Verfahren muß einmal ein Ende haben. Es fragt sich aber, ob es nicht doch Mängel von solcher Schwere gibt, daß es auch bei Berücksichtigung der Belange der Rechtssicherheit und Rechtsgewißheit und des öffentlichen Vertrauens in die Rechtsbeständigkeit rechtskräftiger Urteile vom Standpunkt der Gerechtigkeit schlechthin unerträglich wäre, den Spruch als unabänderlich wirksam hinzunehmen, soweit nicht die Gnade für Abhilfe sorgt. Bejaht man dies, so fragt sich weiter, ob die Lücke, daß das Gesetz für die Beseitigung solcher fehlsamer Urteile ein förmliches Verfahren nicht vorsieht 131 , dadurch auszufüllen ist, daß dem Urteil die rechtliche Wirksamkeit abgesprochen wird, dergestalt, daß die Unbeachtlichkeit (Nichtigkeit) überall und von jedermann, wo aus dem Urteil Folgerungen gezogen werden sollen, formlos geltend gemacht werden könnte. Es wäre dann etwa die Vollstreckungsbehörde, falls sie Nichtigkeit annimmt, in eigner Zuständigkeit und Verantwortung berechtigt und verpflichtet, von der Vollstreckung eines solchen Urteils abzusehen, so daß sie nur dann zur Einholung einer gerichtlichen Entscheidung nach § 458 StPO genötigt wäre, wenn sie den auf die Nichtigkeit des Urteils gestützten Einwendungen des Verurteilten gegen die Zulässigkeit der Strafvollstreckung nicht Raum gäbe (vgl. Anm. 5 zu § 458). Oder es könnte in einem Strafverfahren gegen denjenigen, der dem rechtskräftig Verurteilten beistand, um ihn der Vollstreckung der Strafe zu entziehen, der Angeklagte mit der Begründung freigesprochen werden, ein vollstreckbarer Strafanspruch habe nicht bestanden, weil das Urteil wegen schwerster Mängel nichtig (unbeachtlich) sei. In der Tat gibt es wenigstens einen Fall, in dem die Nichtigkeit eines Strafurteils mit den bezeichneten Folgen fast allgemein anerkannt ist, nämlich beim Fehjen der Gerichtsunterworfenheit (s. S. 96); über einen außerstrafrechtlichen Beispielsfall — Übergriff des Gerichts der freiwilligen Gerichtsbarkeit in das Gebiet der streitigen Gerichtsbarkeit — s. BGH JZ 1959 3 1 8 = NJW 1959 723) 1 3 1 \ Darüber hinaus wird in Rechtsprechung und Schrifttum die Möglichkeit, daß eine Entscheidung (Urteil oder Beschluß) auch in anderen Fällen wegen schwerster Mängel unheilbar nichtig sein könne, im Grundsatz weithin bejaht (vgl. u. a. RGSt. 40 273; 71 378; 72 78; 75 59; BGH M D R 1954 400; JZ 1963 289; BGHZ 42 360, 363; K G NJW 1954 1901; J R 1955 350; OLG Oldenburg J W 1931 2389; OLG Bremen J Z 1958 546; M ü l l e r - S a x [6] Einl. 10b; B e l i n g 202; G e r l a n d 294; v. H i p p e l 375; E b S c h m i d t , Lehrkomm. I [2] Rz 253ff.; Vorbem. 5 vor § 359; P e t e r s [2] 449; H e n k e l [2] 257; S p e n d e l ZStrW 67 (1955) 561 und J Z 1958, 547; H e i n i t z JZ 1963, 133; S c h n e i d e r M D R 1956,465; L u t h e r ZStrW 70 [1958] 87; R o e d e r ZStrW 79 (1967) 250; K l [29] Einl. 4 F a; P e t e r s , Festschrift f. K e r n , 1968,338; für den Bußgeldbescheid nach dem OWiG 1968 G ö h l er [2] Rz. 17 zu § 66). Die Stimmen, die die Unwirkurteil" wird, wenn es lautet 1. auf völlig unbestimmte oder vom Gesetz nicht vorgesehene Strafen, 2. auf Unrechtsfolgen gegen eine vom Gesetz der inländischen Strafgerichtsbarkeit entzogene Person und 3. auf eine bereits rechtskräftig abgeurteilte Tat". In den nachfolgenden Ausführungen werden „nichtig", „unbeachtlich" und „unwirksam" als synonyme Begriffe gebraucht. 131 Art. 19 Abs. 4 GG bildet keine Grundlage, gegen solche Entscheidungen anzugehen. Denn Art. 19 Abs. 4 G G eröffnet keinen neuen Rechtsweg gegen Gerichtsentscheidungen, weil zur öffentlichen Gewalt i. S. dieser Bestimmung die Rechtsprechung nicht gehört. Art. 19 Abs. 4 gewährt Schutz durch den Richter, nicht gegen ihn (BVerfGE 4 74, 96; BGHSt. 13 113; 15 73; M a u n z - D ü r i g - H e r z o g [3] Anm. 17c zu Art. 19). OLG Hamm NJW 1970 1805 bezeichnet einen vom Amtsrichter (statt von der Verwaltungsbehörde) erlassenen Bußgeldbescheid als „nichtig"; der Verstoß führt aber bei Einspruchseinlegung nur zur Verfahrenseinstellung.

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samkeit allgemein verneinen, treten an Zahl zurück (vgl. u. a. v. K r i e s , Lehrb. [1892] 708, 761; N i e t h a m m e r s . 61 der 20. Aufl. dieses Werkes; S a r s t e d t JR 1955 371; G r ü n w a l d ZStrW 76 [1964] 250). Soweit nicht die Nichtigkeit auf bestimmte Fallgestaltungen beschränkt wird — im Vordergrund steht dabei die Verletzung des Grundsatzes ne bis in idem — werden in der Regel die Voraussetzungen der Nichtigkeit mit allgemeinen Wendungen umschrieben, etwa, es müsse sich um einen so groben Mangel handeln, daß das Urteil in keiner Weise den Vorschriften und dem Geist der Rechtsordnung entspräche (RGSt. 72 78); es müsse das Urteil derart aus dem Rahmen der StPO herausfallen und ihrem Geiste widersprechen, daß es als schlechthin nichtig angesehen werden müßte (RGSt. 75 59); die gewollten Wirkungen der Entscheidung müßten vom Standpunkt unseres Rechts aus nicht denkbar sein, oder die Entscheidung müsse mit den Grundprinzipien unserer rechtsstaatlichen Ordnung im Widerspruch stehen und der Mangel für einen verständigen Beurteiler offenkundig sein (Kl [29] Einl. 4 Fa), oder es müsse an einer Norm für einen Spruch gänzlich fehlen usw. Liegen diese Voraussetzungen vor, so soll — so wird z. T. gelehrt — die Frage der Nichtigkeit nicht erst praktisch werden, wenn die Entscheidung formell rechtskräftig geworden ist. Da ein nichtiges Urteil Rechtskraftwirkung nicht erlangen könne, ist es nach dieser Auffassung ohne Bedeutung, ob sich der Betroffene darum bemüht, durch Ergreifung zur Verfügung stehender Rechtsbehelfe auf eine förmliche Aufhebung oder Abänderung der Entscheidung hinzuwirken. Es sei zwar zulässig und im Interesse einer alsbaldigen förmlichen Bereinigung auch zweckmäßig, von den zulässigen Rechtsmitteln und Rechtsbehelfen Gebrauch zu machen, die Geltendmachung der Nichtigkeit sei aber auf diesen Weg nicht beschränkt. Diese Auffassung ist aber mit zwingenden Bedürfnissen der Rechtssicherheit und einer geordneten Rechtspflege unvereinbar (so schon G o l d s c h m i d t , Prozeß 501 f.). Gewiß sollte jedenfalls sein, daß, wo die Gesetzgebung zur Geltendmachung von bestimmten erheblichen rechtlichen Mängeln eines rechtskräftigen Urteils außerordentliche Rechtsbehelfe zur Verfügung stellt (vgl. S. 196), in diesem Bereich von einer Nichtigkeit des Urteils, die vor oder nach Eintritt der formellen Rechtskraft auch auf andere Weise formlos geltend gemacht werden könnte, keinesfalls gesprochen werden kann. Die Rechtsprechung hat zwar im Grundsatz die Möglichkeit nichtiger Urteile für „ganz seltene Ausnahmefalle" (BGHZ 42 360, 363) bejaht; mitunter werden auch Beispielsfalle „besonders schwerer Mängel, die ausnahmsweise zur Unwirksamkeit führen", genannt (so BGH JZ 1963 289: Entscheidung durch ein Nichtgericht, fehlende Verlautbarung, fehlende Gerichtsbarkeit, inhaltliche Unmöglichkeit). Wo indessen in der Rechtsprechung die Frage der Nichtigkeit im Einzelfall zur Entscheidung stand, ist sie durchweg — häufig im Gegensatz zu Auffassungen des Schrifttums — verneint worden, und zwar bei den im Vordergrund des Interesses stehenden Verfahrensmängeln mit der Begründung, daß es sich im Vergleich mit Verfahrensverstößen, die die StPO nur als absolute Revisionsgründe wertet (§ 338 StPO) nicht um so schwerwiegende Mängel handele, daß ein darauf beruhendes Urteil aus dem Rahmen der StPO herausfalle. So ist z. B. die Nichtigkeit eines Urteils verneint worden, das entgegen der Vorschrift des § 173 Abs. 1 GVG nicht öffentlich verkündet wurde (RGSt. 71 381), das gegen einen Auslieferungsvertrag verstieß (RGSt. 72 78) oder unter Nichtbeachtung einer Amnestie erging (KG DStR 1937 165; OLG München SJZ 1950 623; Bremen NJW 1951 123). Das gleiche muß dann gelten, wenn das Verfahren zu Unrecht durch Urteil wegen Eingreifens einer Amnestie eingestellt wird (anders noch RGSt. 54 11 auf der inzwischen überholten Grundlage, daß es sich bei der Prüfung der Niederschlagung nicht um eine echte Entscheidung über das Vorliegen eines Verfahrenshindernisses, sondern um die aktenmäßige Konstatierung einer ipso iure eingetretenen Verfahrensbedingung handele; vgl. oben S. 116). Verneint wird die Nichtigkeit von Strafurteilen, die in Uberschreitung der sachlichen Zuständigkeit ergingen, z. B. eines amtsgerichtlichen Urteils, das entgegen § 24 Abs. 2 GVG auf eine Freiheitsstrafe von mehr als drei Jahren oder auf Sicherungsverwahrung erkennt. Namentlich wurde von je her verneint die Unwirksamkeit von Urteilen der Erwachsenengerichte gegen Jugendliche und Heranwachsende oder der Jugendgerichte gegen Erwachsene (vgl. oben S. 129). Die gleichen Grundsätze gelten für den rechtskräftigen amtsrichterlichen Strafbefehl: er ist nicht unwirksam, weil die festgesetzte Strafe zugunsten oder zuungunsten des Beschuldigten von dem Antrag des Staatsanwalts abweicht (vgl. Anm. 3 zu §408), weil — in Überschreitung der für diese Ver186

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fahrensart gesetzten sachlichen Grenzen — die geahndete Tat ein Verbrechen darstellt (Verstoß gegen § 407 Abs. 1) oder weil die Strafgrenze des § 407 Abs. 2 überschritten oder unter Verletzung des § 407 Abs. 2 nicht zugelassene Maßregeln der Sicherung und Besserung angeordnet wurden oder weil schließlich der Strafbefehl unter Verstoß gegen §§ 79, 104 J G G gegen einen Jugendlichen oder einen dem Jugendstrafrecht unterliegenden Heranwachsenden erging (BayObLG NJW 1957 838 = JZ 1957 389). Auch die Entscheidung eines funktionell unzuständigen Gerichts ist nicht als unwirksam angesehen worden, so z. B. nicht ein Beschluß, durch den das Gericht des ersten Rechtszugs die Wiedereinsetzung gegen die Versäumung der Frist zur Einlegung des Rechtsmittels gewährt, während diese Entscheidung nach § 46 StPO allein dem Rechtsmittelgericht zusteht (RGSt. 40 271) 132 oder ein rechtskräftiger Beschluß, durch den das Gericht des 1. Rechtszuges, nachdem es unter Übersehung des Eingreifens einer Amnestie ein verurteilendes Erkenntnis erlassen hatte, seinen Fehler erkennend unter Berufung auf die Vorschrift des betreffenden Amnestiegesetzes, die die Einstellung anhängiger Verfahren gestattete, das Verfahren einstellte (RGSt. 75 56) oder schließlich ein Beschluß, durch den im gerichtlichen Bußgeldverfahren das Amtsgericht eine Rechtsbeschwerde wegen Frist- oder Formmangels als unzulässig verwarf, obwohl diese Entscheidung nach § 56 Abs. 4 OWiG 1952 nur das OLG treffen durfte (vgl. K G JR 1955 350). Auch Mängel in der Person des Richters machen die Entscheidung nicht unwirksam, so wenn ein Gerichtsreferendar, dem nach Landesrecht gewisse richterliche Aufgaben übertragen werden können (§ 10 GVG), unter Überschreitung seines Auftrages oder unter Übergriff in den Bereich nicht übertragbarer Angelegenheiten eine Entscheidung fallt (OLG Frankfurt NJW 1954 207). Denn auch die Entscheidung eines Richters, bei dessen Anstellung infolge falscher Angaben unerkannt blieb, daß ihm die Befähigung zu Richteramt (§ 5 DRiG) fehlt, ist nicht nichtig. Die Anstellung ist zwar (ggf. auf Grund richterlicher Entscheidung) zurücknehmbar (§§ 19, 62, 78 DRiG). Damit steht aber nur fest, daß das erkennende Gericht nicht vorschriftsmäßig besetzt war (§ 338 Nr. 1 StPO), und dieser Fehler verliert mit Rechtskraft des Urteils seine Bedeutung, da die StPO — anders als § 579 Abs. 1 Nr. 1 ZPO — darin keinen Wiederaufnahmegrund sieht. Dann können aber auch keine Bedenken gegen die Wirksamkeit eines rechtskräftigen Urteils daraus hergeleitet werden, daß bei der Urteilsfällung ein geisteskranker oder ein kraft Gesetzes ausgeschlossener Richter mitgewirkt hat. Wenn das Gesetz dem Mangel der gesetzlichen Anstellungsvoraussetzungen keine Bedeutung für die Wirksamkeit der von dem Betroffenen erlassenen Amtshandlungen beimißt, so deshalb, weil die Rechtssicherheit es nicht zuläßt, die Wirksamkeit der vom Staat eingesetzten und unter staatlicher Autorität tätigen Organe im Hinblick auf die nachträglich — mitunter nach sehr langer Zeit — hervortretenden in ihrer Person liegenden Umstände in Zweifel zu ziehen, die im Zeitpunkt der Amtshandlung nicht erkennbar waren. Das gilt aber auch für Fälle der Ausschließung und der Geisteskrankheit des Richters. Die Frage, ob ein Richter kraft Gesetzes von der Ausübung des Richteramtes ausgeschlossen sei, bedarf regelmäßig einer eingehenden Untersuchung, bei der schwierige Rechtsfragen, wie die nach dem Begriff des Verletzten, zu lösen sind. Die Frage, ob Geisteskrankheit einen Richter unfähig gemacht habe, den Gegenstand der Klage zu erforschen und über ihn zu entscheiden, taucht immer nur dann auf, wenn das Leiden so verborgen war, daß es sich den mit dem Richter zusammenarbeitenden Menschen nicht rechtzeitig anzeigte; dann liegt aber der dem Urteil anhaftende Mangel nicht so offen zutage, daß jedermann zu jeder Zeit, also insbesondere auch ein Beamter, der im Sinne des § 346 StGB zur Mitwirkung bei der 132

In dieser Entscheidung folgerte das R G aus der Unanfechtbarkeit des die Wiedereinsetzung gewährenden Beschlusses (§ 46 Abs. 2) dessen „Rechtskraft", die auch der vom unzuständigen Gericht erlassenen Entscheidung zukomme. Im Gegensatz dazu hat sich für das zivilprozessuale Verfahren wie auch für das der freiwilligen Gerichtsbarkeit die Auffassung durchgesetzt, daß gegen einen nach gesetzlicher Vorschrift unanfechtbaren Beschluß eine Beschwerde dann zugelassen werden müsse, wenn die Entscheidung jeder gesetzlichen Grundlage entbehre und inhaltlich dem Gesetz fremd sei, insbesondere wenn eine Entscheidung dieser Art oder dieses Inhalts oder dieser Stelle oder auf Grund eines derartigen Verfahrens im Gesetz überhaupt nicht vorgesehen sei (vgl. B G H JZ 1958 482). S. noch BayObLG NJW 1961 1982 zur Frage der Wirkung eines Beschlusses durch den der unzuständige Tatrichter das Gesuch um Wiedereinsetzung gegen die Versäumung der Revisionsbegründungsfrist ablehnend beschieden hat.

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Einleitung (Schäfer)

Vollstreckung berufen ist, in der Lage sein und das Recht haben könnte, auf Grund seiner Ansicht zu erklären, das Urteil gelte nicht und sei nicht zu verwirklichen. Die vielerörterte Frage, ob eine Entscheidung unwirksam sei, die gegen den Satz ne bis in idem verstößt, ist bereits in anderem Zusammenhang erörtert worden (vgl. S. 86 und S. 108). Hier verneint die Rechtsprechung — entgegen Stimmen im Schrifttum — im allgemeinen die Unwirksamkeit des mit diesem Mangel behafteten späteren Urteils jedenfalls dann, wenn der Verstoß sich innerhalb desselben Verfahrens ereignet, also wenn unter Übersehung der bereits eingetretenen Rechtskraft oder Teilrechtskraft des ersten Urteils das Rechtsmittelgericht (oder trotz Rechtskraft des Strafbefehls auf verspäteten Einspruch hin das Amtsgericht) erneut entscheidet. Ist der Angeklagte dadurch beschwert, so kann er gegen die zweite rechtskräftige Entscheidung mit der Verfassungsbeschwerde (Art. 103 Abs. 3 G G , § 90 BVerfGG) angehen, die, wenn das BVerfG sie als durchgreifend ansieht, zur Aufhebung der Entscheidung führt (§ 95 BVerfGG). Die Eröffnung dieses Weges schließt die Annahme einer ipso iure eintretenden Urteilsnichtigkeit ohne weiteres aus. Aber auch wenn trotz einer vorausgegangenen rechtskräftigen Aburteilung dieselbe Sache in einem selbständigen Verfahren erneut abgeurteilt wird, ist das spätere Urteil nicht unwirksam, sondern unterliegt — gleichviel ob es für den Angeklagten günstiger oder ungünstiger ist als das zuerst rechtskräftig gewordene Urteil — der Beseitigung im Wege der Wiederaufnahme des Verfahrens (§ 359 Nr. 5 StPO), wenn die Tatsache der vorausgegangenen Aburteilung dem Gericht unbekannt war; auch hier ist außerdem die Verfassungsbeschwerde gegeben. Soweit es sich um die Verurteilung auf Grund einer kraß fehlerhaften Anwendung des sachlichen Strafrechts handelt, sind Rechtsprechung und Schrifttum geneigt, Urteilsnichtigkeit anzunehmen, wenn es an einer N o r m für den Spruch überhaupt fehlt (so z. B. O L G Bremen JZ 1958 546) 1 3 3 . D a s klingt auf den ersten Blick einleuchtend; die Bedenken er133

Die Fälle, die Veranlassung zur Aufstellung des Satzes gaben, lagen im allgemeinen so, daß das Rechtsmittel auf die Straffrage beschränkt war und das Rechtsmittelgericht zu dem Ergebnis kam, daß offensichtlich nach den tatsächlichen Feststellungen ein Strafgesetz, auf das der Strafausspruch gestützt werden könnte, nicht verletzt sei, so wenn infolge eines offensichtlichen Versehens die Verurteilung wegen Versuchs einer Tat erfolgt ist, obwohl der Versuch der Tat im Gesetz nicht mit Strafe bedroht ist (z. B. bei Verurteilung wegen Versuchs einer Übertretung oder wegen versuchter Beleidigung). Hier fragt sich zunächst, ob die Beschränkung der Nachprüfungsbefugnis des Rechtsmittelgerichts auf den angefochtenen Teil (§§ 318, 327, 344, 352) lediglich eine prozessuale Bindung darstellt, über die sich das Rechtsmittelgericht ausnahmsweise in dem zur Vermeidung eines ersichtlich ungerechten Urteils erforderlichen Maß hinwegsetzen darf oder ob die „Teilrechtskraft" eine echte materielle Rechtskraft mit Verzehrwirkung bezüglich des Schuldspruchs darstellt, so daß der Satz ne bis in idem (Art. 103 Abs. 3 GG) einer erneuten Befassung mit dem Schuldspruch entgegensteht. Nur vom Standpunkt der letzteren Auffassung kann sich das Problem ergeben, ob das Rechtsmittelgericht nur dadurch zu der dem sachlichen Recht entsprechenden Freistellung kommen kann, daß es den Schuldspruch als nichtig ansieht. Die Rechtsprechung legt der (durch Beschränkung der Anfechtung oder der Aufhebung des Urteils auf den Strafausspruch eingetretenen) Rechtskraft des Schuldausspruchs allerdings Verzehrwirkung hinsichtlich der Schuldfrage bei. Eine im Verfahren zum Strafausspruch hervortretende Änderung der tatsächlichen Grundlagen des Schuldspruchs (des Hervortretens der Zurechnungsunfähigkeit zur Tatzeit, oder einer anderen Schuldform) berührt — unbeschadet der Möglichkeit einer Wiederaufnahme des Verfahrens — im anhängigen Verfahren nicht die Strafbarkeit der Tat, sondern läßt nur eine Berücksichtigung im Rahmen der Strafzumessung zu (BGHSt. 7 282). Eine andere Frage ist aber, welche Folgerungen das Gericht beim Strafausspruch aus einem durch falsche Anwendung des sachlichen Rechts fehlerhaften Schuldspruch, den es hinnehmen muß, zu ziehen hat. Es ist nicht denkgesetzlich notwendig, aus der Rechtskraft des Schuldspruchs herzuleiten, daß eine Strafe auf jeden Fall ausgesprochen werden müsse, also etwa zwangsläufig bei rechtskräftigem Schuldspruch wegen versuchter Beleidigung mindestens auf die gesetzliche Mindeststrafe der vollendeten Beleidigung zu erkennen sei. Jedenfalls ist eine solche Folgerung nicht mehr zwingend, seitdem das Gesetz das Absehen von Strafe (freilich normalerweise nur in dem im materiellen Recht vorgesehenen Umfang) in leichtesten Fällen trotz rechtskräftiger Schuldfeststellung kennt (§ 260 Abs. 4 Satz 2 StPO). Die Figur des Absehens von Strafe in Fällen, in denen der rechtskräftige Schuldspruch inhaltlich keinen gesetzlichen Strafrahmen eröffnet, aus dem die Strafe entnommen werden kann, rechtsanalog anzuwenden erscheint zulässig und angemessen. Dieser Weg würde die widersprüchlichen Gedanken, dem rechtskräftigen Schuldspruche Anerkennung zu zollen, aber nur eine Strafe zu verhängen, die im

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geben sich aber bei näherer Prüfung an Hand praktisch denkbarer Fälle, was unter dem gänzlichen Fehlen einer N o r m zu verstehen ist. Gehört hierher z. B. die Verurteilung auf Grund einer nichtigen N o r m (vgl. K G JW 1932 1774; s. aber auch unten S. 196) oder auf Grund eines Gesetzes, das — infolge Hinausschiebung des Zeitpunkts seines Inkrafttretens — im Zeitpunkt der Verurteilung überhaupt noch nicht in Kraft getreten war? Auch die Verurteilung auf Grund eines Gesetzes, das zur Tatzeit noch nicht erlassen (entgegen Art. 103 Abs. 2 G G , § 2 Abs. 1 StGB) oder zur Zeit der Tat bereits aufgehoben war oder infolge Aufhebung nach Tatbegehung zur Zeit der Aburteilung nicht mehr galt (entgegen § 2 Abs. 2 StGB)? Fällt hierunter die - von S p e n d e l ZStrW 6 7 561 und JZ 1958 5646 hervorgehobene — Verurteilung wegen Versuchs einer Tat, wenn der Versuch nicht mit Strafe bedroht ist, z . B . wegen versuchter Beleidigung (vgl. RMilG 8 115, 127) oder versuchter Übertretung (vgl. BayObLGSt. 17 113, 115) oder auch - entgegen § 4 9 StGB - die Verurteilung wegen Beihilfe zur Übertretung? Wie steht es, wenn zwar der Schuldspruch rechtlich einwandfrei ist, aber die erkannte Strafe dem Gesetz widerspricht? Es kann freilich kein Zweifel bestehen, daß ein Urteil nichtig wäre, das auf eine dem Strafensystem unbekannte Strafe (Todesstrafe, Prügelstrafe) lautet (BGH bei D a l i i n g e r M D R 1 9 5 4 4 0 0 ) ; das aber gehört nur dem Bereich der Phantasie an 134 . Wie aber bei Überschreitung des gesetzlichen Gesetz vorgesehen ist, angemessen versöhnen und schon deshalb den Vorzug vor der Lösung von S p e n d e l ZStrW 67 (1955) 561 verdienen, daß das Rechtsmittelgericht unter Feststellung der Nichtigkeit den „nur faktisch vorhandenen" Urteilsspruch zu beseitigen und den Angeklagten freizusprechen habe. Gegen die Annahme einer Nichtigkeit des teilrechtskräftigen Urteils erhebt sich im übrigen der schwerwiegende Einwand, warum die Bindung des über die Straffrage entscheidenden Richters an den rechtlich falschen Schuldspruch unerträglicher sein soll als die Bindung an den „nur" tatsächlich falschen Schuldspruch. Aber selbst, wenn man dem Gedanken einer Unbeachtlichkeit des rechtskräftigen Schuldspruchs, der das „Schuldig" wegen einer im Gesetz nicht mit Strafe bedrohten Handlung ausspricht, in dem Sinn Raum gibt, daß das Rechtsmittelgericht nicht verpflichtet sei, den falschen Schuldspruch durch einen Strafausspruch zu vervollständigen, so ergeben sich daraus keine Folgerungen für die Behandlung des Falles, daß ein rechtskräftiges Vollurteil vorliegt, dessen Strafausspruch durch den gesetzwidrigen Schuldspruch nicht getragen wird (etwa bei Verurteilung wegen versuchter Beleidigung zu einer Strafe im Rahmen des § 185 StGB). Es wäre offenbar verfehlt, von einer Unbeachtlichkeit des Schuldspruchs bei Teilrechtskraft auf die Unbeachtlichkeit des Vollurteils zu schließen. Denn zunächst würde jene Unbeachtlichkeit nur für das Rechtsmittelgericht gelten, während eine Unbeachtlichkeit des Vollurteils darin bestünde, daß jedermann die Unbeachtlichkeit in jeder Form und zu jeder Zeit geltend machen könnte. Andererseits ist die Rechtskraftwirkung eines Schuldspruchs bei Teilrechtskraft gegenüber der eines Vollurteils sehr begrenzt. Der rechtskräftige Schuldspruch ist ein Torso, der rechtliche Bedeutung erst mit seiner Vervollständigung durch einen rechtskräftigen Strafausspruch gewinnt. Dieser Vervollständigung durch die Entscheidung des Rechtsmittelgerichts aber können z. B. Verfahrenshindernisse entgegenstehen, die bei der im Strafausspruch angefochtenen erstinstanzlichen Aburteilung übersehen worden oder erst nach dieser eingetreten sind oder auch ein Wechsel der Gesetzgebung (§ 354 a StPO), während das Übersehen von Verfahrenshindernissen oder ein Wechsel der Gesetzgebung den Bestand des rechtskräftigen Vollurteils nicht berührt. Es bedarf also auch vom Standpunkt derjenigen aus, die Unbeachtlichkeit des rechtskräftigen Schuldspruchs für das Rechtsmittelgericht annehmen, wenn eine dem sachlichen Recht unbekannte Schuldfeststellung getroffen ist, einer gesonderten Prüfung, ob auch gegenüber einem rechtskräftigen auf Strafe lautenden Urteil der Vorwurf der Unbeachtlichkeit wegen Fehlens einer die Verurteilung rechtfertigenden Norm erhoben werden kann. Verneinend z.B. J a u e r n i g NJW 1960 1885, der Nichtigkeit des Urteils wegen Fehlens einer den Spruch tragenden materiellrechtlichen Norm schlechthin ablehnt. 134

Nicht hierher gehört der Fall, daß im Widerspruch zu den Vorschriften des 1. Strafrechtsreformges. v. 25.6. 1969 nach dem 1.4. 1970 auf Zuchthausstrafe erkannt würde: ein solches Urteil wäre notfalls gemäß § 458 StPO dahin zu berichtigen, daß auf Freiheitsstrafe von gleicher Dauer erkannt ist. Anders läge es, wenn versehentlich auf dem neuen Recht nicht mehr bekannte Nebenstrafen und Sicherungsmaßregeln (Aberkennung der bürgerlichen Ehrenrechte, Eides Unfähigkeit, Unterbringung im Arbeitshaus) erkannt und das Urteil rechtskräftig würde. Dann müßte die Überlegung durchgreifen, daß ein solches per nefas ergangenes Urteil nach dem Inkrafttreten des 1. StrRG keine weitergehenden Wirkungen entfalten kann, als sie einem früheren Urteil, in dem nach dem damals geltenden Rechtszustand zu Recht auf diese Nebenstrafen und Sicherungsmaßregeln erkannt wurde, nach Art. 90 bis 92 des 1. StrRG jetzt zukämen; wenn man will, kann man von einer analogen Anwendung dieser Vorschriften sprechen.

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Einleitung (Schäfer)

Höchstmaßes der Strafart (zeitige Freiheitsstrafe von 20 Jahren) oder der bei der Deliktsart zulässigen Höchststrafe (Freiheitsstrafe von mehr als zwei Jahren, wenn die Höchststrafe zwei Jahre beträgt, Freiheitsstrafe, wenn nur Geldstrafe angedroht ist)? Wie, wenn gegen einen zur Tatzeit Jugendlichen Erwachsenenstrafrecht angewendet und er mit Erwachsenenfreiheits- oder Geldstrafe bestraft, wenn ein zur Tatzeit Strafunmündiger mit Jugendstrafe bestraft oder mit Jugendarrest belegt, wenn gegen einen zur Tatzeit Erwachsenen eine Maßnahme des Jugendstrafrechts verhängt wird? Liegt der Fall anders, als wenn ein zur Tatzeit jugendlicher Verwandter oder Verschwägerter absteigender Linie unter Übersehung der Altersgrenze entgegen § 173 Abs. 3 StGB wegen Blutschande bestraft wird? Wie schließlich, wenn auf eine Nebenstrafe oder Nebenfolge oder eine Maßregel der Sicherung und Besserung erkannt wird, ohne daß die gesetzlichen Voraussetzungen vorliegen, z. B. entgegen dem § 40 Abs. 2 Nr. 1 StGB producta et instrumenta sceleris eingezogen werden, die nicht z. Zt. der Entscheidung dem Täter oder Teilnehmer gehören? Wenn solche Fragen aufgeworfen werden, so ist zunächst folgendes zu erwägen: a) Der Richter ist kraft seiner Unabhängigkeit in der Auslegung des Gesetzes frei und weder an eine feste höchstrichterliche Rechtsprechung noch an „herrschende Meinungen" gebunden (vgl. S. 142). Wird sein Urteil rechtskräftig, so kann die Frage, ob seine auf Auslegung beruhende Rechtanwendung richtig oder falsch, ob bei „richtiger" Rechtsanwendung eine Norm für die Bestrafung überhaupt nicht vorhanden ist, nicht danach bemessen werden, wie das Revisionsgericht entschieden hätte, wenn gegen das Urteil Rechtsmittel eingelegt worden wären. Kraß falsch mit der Folge, daß Urteilsnichtigkeit in Erwägung zu ziehen wäre, kann also ein auf Auslegung des Gesetzes beruhendes Urteil nur sein, wenn Wortlaut und Sinn des anzuwendenden Rechts so eindeutig sind, daß für die rechtliche Würdigung des Sachverhalts im Urteil schlechterdings kein Raum ist, sondern der Rechtsmangel unmittelbar aus dem Urteil offen zutage tritt. Von einer solchen Offenkundigkeit kann keine Rede sein, wenn das Gericht, ohne daß das schlechthin unvertretbar wäre, eine vollendete Tat annimmt, während bei „richtiger" rechtlicher Würdigung nur ein strafloser Versuch vorliegt. b) Der Gedanke an eine Unwirksamkeit des Urteils muß ferner ausscheiden, wenn aus unrichtigen tatsächlichen Feststellungen rechtliche Folgerungen gezogen werden, die bei richtigen tatsächlichen Feststellungen zutreffend wären. Das ist z. B. der Fall, wenn das Gericht auf Grund unrichtiger Angaben über das Alter, die der Angeklagte macht oder die den Unterlagen in den Akten entnommen werden, tatsächlich feststellt, daß er zur Tatzeit die für die Anwendung des Jugend- oder des Erwachsenen-Strafrechts maßgebliche Altersgrenze erreicht habe, und ihn demgemäß verurteilt oder wenn es zu diesem Ergebnis durch unzutreffende Feststellungen über den Zeitpunkt der Tatbegehung gelangt. Stellt sich nachträglich heraus, daß bei dem vermeintlichen Jugendlichen das Verfahrenshindernis des kindlichen Alters vorlag (siehe oben S. 120) und daß der vermeintliche Heranwachsende durch Anwendung des Erwachsenenstrafrechts zu schwer bestraft worden ist, so steht zur Beseitigung der Weg der Wiederaufnahme des Verfahrens (§ 359 Nr. 5) zur Verfügung. Dann bleibt nur noch zu prüfen, ob und wie in solchen Fällen Abhilfe möglich ist, in denen es, wenn später die Unrichtigkeit des Urteils erkannt wird, (nach bisheriger Auslegung) an der Neuheit von Tatsachen oder Beweismitteln fehlt, weil das Gericht nicht über das wirkliche Alter irrte, sondern es versehentlich unterließ, diesem Umstand bei der Urteilsfällung Rechnung zu tragen. Aber im Schrifttum finden sich gelegentlich auch Stimmen, die die Folge der Urteilsnichtigkeit (ausnahmsweise) auch an das durch unzutreffende tatsächliche Feststellungen unrichtige Urteil knüpfen wollen. So ist nach L u t h e r ZStrW 70 (1958) 93 ein Urteil nichtig, das einen Jugendlichen mit einer Erwachsenenstrafe belegt, die dem Jugendstrafrecht fremd ist, ohne Rücksicht darauf, ob das Gericht irrtümlich von einer unzutreffenden Altersstufe ausging, weil ihm das wirkliche Alter nicht bekannt war, oder ob es trotz zutreffender Altersfeststellung versehentlich eine unrichtige rechtliche Einordnung vornahm, weil die Vollstreckung einer solchen jugendungeeigneten Strafe den Grundgedanken der Rechtsordnung zuwiderliefe135. Solchen Auffassungen kann nicht gefolgt werden. Die 135

Die früher von S c h m i d t NJW 1957 1628 vertretene Auffassung, ein Urteil, das gemäß § 40 a. F. StGB auf Einziehung der producta es instrumenta sceleris in der irrtümlichen Annahme erkennt,

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Korrektur von Urteilen, die sich nachträglich nach der tatsächlichen Seite als Fehlurteile erweisen, erfolgt nach den Grundgedanken des Prozeßrechts ausschließlich im Wege der Wiederaufnahme des Verfahrens; notfalls steht, wenn die (gewollte) Enge der Wiederaufnahmevoraussetzungen diesen Weg versperrt, die korrigierende Gnade zur Beseitigung von Unbilligkeiten zur Verfügung. Denn es ist ja gerade der Sinn der Wiederaufnahmeregelung, daß die Prüfung, ob neu beigebrachte Tatsachen und Beweismittel das Urteil als unrichtig erscheinen lassen, nicht incidenter, sondern nur in einem besonderen Verfahren erfolgen soll, ohne Rücksicht darauf, ob die Unrichtigkeit ohne Mühe festzustellen ist und alsbald offen zutage tritt — dann vereinfacht sich auch das Wiederaufnahmeverfahren (§ 371 Abs. 2) — oder ob umfangreiche Ermittlungen nötig sind, deren Ergebnis einer richterlichen Wertung bedarf. Eine Sonderbehandlung des Falles, daß gegen einen Jugendlichen eine Strafe des Erwachsenenrechts verhängt wird, kann auch nicht mit den schädlichen Folgen der Vollstreckung einer solchen Strafe begründet werden; schließlich ist ja auch eine Freiheitsstrafe, die gegen einen Erwachsenen erkannt wird, dessen schon zur Tatzeit vorhandene Geisteskrankheit erst nachträglich hervortritt, praktisch unvollziehbar, und doch kann nicht zweifelhaft sein, daß das Urteil nur durch Wiederaufnahme des Verfahrens zu beseitigen ist. Auch kann es nicht darauf ankommen, ob das Urteil gegen Vorschriften des Grundgesetzes verstößt; sonst müßten ja auch z. B. Verletzungen des Anspruchs auf rechtliches Gehör oder des Satzes: nulla poena sine lege (Art. 103 Abs. 1, 2 GG) das darauf beruhende Urteil nichtig machen, während die Vorschriften über die Verfassungsbeschwerde (§§ 90ff. BVerf GG) zeigen, daß Grundrechtsverletzungen allein die Wirksamkeit des Urteils nicht berühren, sondern nur — über das Rechtsmittel- und Rechtsbehelfssystem der StPO hinaus — mit Verfassungsbeschwerde geltend gemacht werden können, über die das BVerfG entscheidet. Eine Urteilsnichtigkeit kann daher nur in Betracht kommen, wenn es sich nicht um richtige Rechtsanwendung auf der Grundlage unrichtiger Tatsachenfeststellung, sondern um fehlerhafte Rechtsanwendung auf den (richtig oder falsch) festgestellten Sachverhalt handelt. Prüft man mit dieser Beschränkung des Fragenbereichs die Richtigkeit und Tragweite des in der Rechtsprechung z. T. aufgestellten Grundsatzes, ein Urteil sei nichtig, wenn es an einer Norm für die Verurteilung überhaupt fehle, so kann von Urteilseinigkeit jedenfalls dann keine Rede sein, wenn die Verurteilung in Anwendung eines zur Tatzeit noch nicht erlassenen oder noch nicht in Kraft gesetzten oder — was auf das gleiche hinauskommt — bereits wieder aufgehobenen Gesetzes erfolgt. Denn die Verletzung des Grundsatzes nulla poena sine lege (Art. 103 Abs. 2 GG) rechtfertigt die fristgebundene Verfassungsbeschwerde zum BVerfG (§§ 90, 93 BVerfGG); hat die Verfassungsbeschwerde Erfolg, so hebt das BVerfG die das Grundgesetz verletzende Entscheidung auf (§ 95 BVerfGG). Aus dieser Regelung — der Fristgebundenheit der Verfassungsbeschwerde, dem Entscheidungsmonopol des BVerfG, der Notwendigkeit einer förmlichen Aufhebung der Entscheidung — folgt zwingend, daß ein Urteil, das den genannten Verfassungssatz verletzt, nicht von vornherein und unheilbar nichtig ist mit der Folge, daß die Nichtigkeit von jedermann und zu jeder Zeit und in jeder Form geltend gemacht werden könnte. Die Wirksamkeit eines solchen Urteils, das nicht fristgemäß und nicht erfolgreich mit Verfassungsbeschwerde angegriffen ist, kann nicht mehr in Zweifel gezogen werden. Dann aber ist auch kein Raum mehr für die Annahme von Nichtigkeit eines Urteils, das in Anwendung eines zwar zur Tatzeit geltenden, zur Zeit der Aburteilung aber außer Kraft getretenen Gesetzes erfolgt, denn eine solche Verletzung eines einfachen Bundesgesetzes (§ 2 Abs. 2 StGB) kann keine weiterreichenden Folgen haben als die rückwirkende Anwendung von Gesetzen, um so weniger, als ein solcher Verstoß keineswegs stets offenkundig ist, sondern häufig die schwierige Frage auftaucht, ob nicht ein Zeitgesetz (§ 2 Abs. 3 StGB) vorliegt. Dann kann erst recht von Urteilsnichtigkeit keine Rede sein, wenn das Urteil geltendes Recht anwendet und nur die Grenzen der Strafbarkeit verkennt, also etwa wegen Versuchs bestraft, wo der Versuch nicht strafbar ist. Ein solcher Verstoß wiegt jedenfalls nicht schwerer als eine Bestrafung in Anwendung eines noch nicht oder nicht mehr geltenden Gesetzes oder auf Grund verbotener analoger Anwendung eines Gesetzes. Rechtsverstöße dieser Art liegen auf gleicher Ebene wie etwa die Bestrafung sie seien Eigentum des Täters oder Teilnehmers, während sie in Wahrheit einem tatunbeteiligten Dritten gehören, sei unheilbar nichtig, weil es sich um eine durch Art. 14 G G verbotene entschädigungslose Enteignung des Dritteigentümers handele, ist jetzt durch § 4 3 9 n. F. StPO überholt.

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eines Ehemannes wegen Diebstahls an der Ehefrau (entgegen § 247 Abs. 2 StGB), wenn das Gericht übersieht, daß die zur Zeit der Aburteilung geschiedene Ehe zur Tatzeit noch bestand, oder die Bestrafung des jugendlichen Verwandten oder Verschwägerten absteigender Linie wegen Blutschande, wenn das Gericht den § 173 Abs. 3 StGB übersieht, oder die Bestrafung wegen Versuchs in Übersehung, daß freiwilliger Rücktritt vorliegt (§ 46 StGB), oder schließlich eine Bestrafung, bei der das Vorliegen eines Verfahrenshindernisses wie Verjährung oder fehlender Strafantrag übersehen wird. Bei Rechtsfehlern dieser Art schließt schon das verhältnismäßig häufige Vorkommen den Gedanken an eine Nichtigkeit des rechtskräftig gewordenen Urteils aus; sie werden durch die Rechtskraft „geheilt". Kann es dann bei der Verhängung (der Art oder Höhe nach) gesetzwidriger Strafen anders liegen? BGH M D R 1954 400 nimmt — wie erwähnt — Urteilsnichtigkeit bei der Verhängung dem Strafensystem unbekannter Strafen (Todesstrafe, Prügelstrafe) an, will aber die Nichtigkeit wegen grober Gesetzwidrigkeit des Strafausspruchs auf diesen Fall beschränken und lehnt in Übereinstimmung mit OLG Hamburg NJW 1952 1252 die Annahme von Urteilsnichtigkeit ab, wenn das Gericht infolge unrichtiger rechtlicher Einordnung den Jugendlichen nach Erwachsenenstrafrecht aburteilt. Hier wird also darauf abgestellt, ob die Strafe ihrer Art nach dem Strafensystem unbekannt ist und ob sie in dem gesamten Strafensystem — nicht nur dem System des im Einzelfall anwendbaren Sonderrechts — unbekannt ist. Im Gegensatz dazu hat nach L u t h e r ZStrW 70 87 die Verhängung einer dem Jugendstrafrecht unbekannten Strafe des Erwachsenenstrafrechts stets Urteilsnichtigkeit zur Folge, während D a l l i n g e r - L a c k n e r [2] 21 zu § 1 J G G und L a c k n e r GA 1955 39 unterscheiden wollen: wurde (nach bisherigem Recht) ein Jugendlicher zu Zuchthausstrafe verurteilt, so ist Urteilsnichtigkeit anzunehmen „in krassen Fällen", wenn der Vollzug der Zuchthausstrafe „absolut abwegig und für die weitere Entwicklung des Jugendlichen unerträglich wäre", und ebenso soll es liegen, wenn ein Kind (trotz richtiger Beurteilung der Tatzeit und des Alters) zu Jugendstrafe verurteilt wird, falls es noch weit von der Altersgrenze entfernt ist. Indessen erscheint es unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten nicht angängig, die Frage einer Urteilsnichtigkeit von den Verhältnissen des Einzelfalles abhängig zu machen, etwa ein auf Jugendstrafe lautendes Urteil hinzunehmen, wenn das Kind die Tat unmittelbar vor der Erreichung des Strafmündigkeitsalters beging oder (nach bisherigem Recht) die Unerträglichkeit einer Zuchthausstrafe zu verneinen, wenn der Jugendliche einen Mord am Vorabend seines 18. Geburtstages ausführte. Der Gesetzgeber würde bei einer gesetzlichen Regelung des Problems einer Korrektur grob falscher Urteile nicht so verfahren dürfen, sondern müßte nach generellen Merkmalen suchen. Auch erscheint es nicht angängig, das Problem auf die grob unrichtige Bestrafung von Kindern und Jugendlichen zu beschränken; die Nachteile aus der Vollstreckung einer Strafe, die nach Art und Höhe nicht verhängt werden durfte, können auch bei Heranwachsenden und Erwachsenen, wenn auch vielleicht nach anderer Richtung, nicht weniger schwerwiegend sein als bei gesetzwidriger Bestrafung von Kindern und Jugendlichen. Aber wie sollte bei einer das gesetzlich zulässige Höchstmaß offenkundig übersteigenden Bestrafung die Grenze zwischen dem durch Rechtskraft heilbaren und dem unerträglichen, Nichtigkeit (des Urteils im Ganzen oder nur des Strafausspruchs, soweit er das zulässige Maß überschreitet?) bewirkenden Verstoß gezogen werden? Nimmt man zur Vereinfachung des Problems nur den gröbsten Fall, daß die Strafdrohung nur auf Freiheitsstrafe wegen Vergehens (früher Gefängnisstrafe) lautet, durch Versehen aber (etwa infolge Benutzung einer veralteten Textausgabe) auf eine das Höchstmaß der Vergehensstrafe überschreitende Freiheitsstrafe (früher: Zuchthausstrafe) erkannt und dieses Urteil (wiederum infolge Verkettung von Umständen) rechtskräftig geworden wäre 136 : müßte oder dürfte dieser Fall anders beurteilt werden, als wenn das GeGericht, obwohl ihm das Alter des Angeklagten bekannt ist, dies versehentlich bei der Urteilsfallung nicht berücksichtigt und den zur Tatzeit noch Jugendlichen wegen Unzucht mit einem minderjährigen Mann (§ 175 Abs. 1 Nr. 1 StGB) zu Freiheitsstrafe verurteilt, obwohl dieser Tatbestand voraussetzt, daß der Täter nicht mehr jugendlich ist? 136

Ist die Strafe infolge der fehlerhaften Rechtsanwendung „übermäßig hart", so kann eine Verletzung der Menschenwürde des Verurteilten (Art. 1 G G ) vorliegen (vgl. BayVerfGH Rpfleger 1962 12). Aber eine solche Verletzung wäre nur mit der fristgebundenen Verfassungsbeschwerde (§§ 90fT. BVerfGG) rügbar (vgl. S. 196).

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Hier handelt es sich nicht um ein Vergreifen im Strafrahmen, sondern um eine rechtsirrtümliche Subsumtion der Tat unter eine bestehende Norm. Es ist also keineswegs der zur Erörterung stehende Fall gegeben, daß es an einer Norm für den Spruch überhaupt fehlt; Nichtigkeit des Urteils kommt also auch bei Anerkennung des gedachten Satzes nicht in Betracht. Liegt aber dieser Fall einer unrichtigen Subsumtion infolge Übersehens entscheidungserheblicher Umstände qualitativ irgendwie anders als die versehentliche Entnahme der Strafe aus einem nicht zur Verfügung stehenden Strafrahmen? Läßt es sich wirklich mit Überzeugungskraft rechtfertigen, beide Fälle verschieden zu behandeln? Aber auch wenn man hier noch zweifeln wollte, weil der Beispielsfall infolge des Eingreifens einer Altersgrenze sich dem zuvor erörterten Fall der irrtümlichen Anwendung des Erwachsenenstrafrechts auf den zur Tatzeit noch Jugendlichen sehr nähert: wie wäre es, wenn das Gericht wegen schweren Diebstahls (§ 243 StGB) zu einer hohen Vergehensstrafe verurteilt und dabei übersieht, daß eindeutig nur eine Übertretung nach § 370 Nr. 5 StGB in Betracht kommt, die womöglich wegen Verjährung oder fehlenden Strafantrags nicht einmal mit einer Übertretungsstrafe hätte geahndet werden dürfen? Von Urteilsnichtigkeit wegen Fehlens einer Norm für die Vergehensstrafe könnte nicht gesprochen werden. Und wieder die Frage: liegt ein solcher Fall gröbst irrtümlicher Rechtsanwendung entscheidend anders als ein Vergreifen im Strafrahmen? Der Satz, daß ein Urteil nichtig sei, wenn es an einer Norm für den Spruch überhaupt fehle, mag also bestehen bleiben, aber er kommt dann nur für PhantasiefKlle wie die Verhängung von Todes- oder Prügelstrafe, also dem gesamten Strafensystem der Art nach unbekannter Maßnahmen, in Betracht, aber nicht für Fälle grob falscher Rechtsanwendung, die auf einem Übersehen der für den Schuld- oder Strafausspruch erheblichen Umstände beruht und auch nicht für Fälle, in denen lediglich das gesetzliche Höchstmaß der Strafe überschritten wird. Es ist nur zu verständlich, wenn die Rechtsprechung zwar in thesi — gewissermaßen rein platonisch — daran festhält, daß Urteilsnichtigkeit wegen gröbster Rechtsverletzung begrifflich möglich sei, sich aber — von dem Fall fehlender Gerichtsunterworfenheit abgesehen — weigert, bei den „Betriebsunfällen" praktische Folgerungen daraus zu ziehen. Bei der Frage, in welchem Umfang gegen ein rechtskräftiges Urteil Einwendungen gegen seine Richtigkeit erhoben werden können, wird — in gleicher Weise wie bei der Frage nach dem Umfang der Verzehrwirkung des rechtskräftigen Urteils (S. 105) — das problembeladene Spannungsfeld zwischen materieller Gerechtigkeit und Rechtssicherheit betreten. Mit der Regelung des Wiederaufnahmerechts hat der Gesetzgeber den Ausgleich in einer Weise vorgenommen, die eindeutig seine Auffassung erkennen läßt, daß eine Überprüfung des einmal nach Erschöpfung oder Nichtausnutzung der zulässigen Rechtsmittel rechtskräftig gewordenen Urteils (oder Urteilssurrogats) nur unter den dort bezeichneten Voraussetzungen und in dem dort beschriebenen Verfahren möglich und aus Gründen der Rechtssicherheit eine weitere Überprüfung ausgeschlossen sein soll. Wie bei jedem positivrechtlichen Ausgleich zwischen widerstreitenden Interessen sind Härten im Einzelfall unvermeidlich. Nach dieser Grundkonzeption soll auch eine grobe rechtliche Mangelhaftigkeit des Urteils ohne eine Veränderung der tatsächlichen Grundlagen bedeutungslos sein. Die Gesetzgebung hat zwar im Laufe der Zeit die Wiederaufnahmevoraussetzungen vorsichtig erweitert, und die jüngste Zeit hat sogar außerordentliche Rechtsbehelfe bei bestimmten Rechtsmängeln des rechtskräftigen Urteils gebracht (vgl. S. 196). An der Grundtendenz der Regelung, daß die Rechtssicherheit nur in engsten Grenzen die Anzweifelung der rechtlichen und tatsächlichen Richtigkeit des rechtskräftigen Urteils erlaubt, hat sich indessen nichts geändert. Es geht dann aber, wenn die zugelassenen Angriffsmöglichkeiten im Einzelfall als zu eng empfunden werden, nicht an, den Engpaß auf Kosten der Rechtssicherheit gewaltsam zu erweitern und neben die nach Voraussetzungen und Verfahren genau geregelten außerordentlichen Rechtsbehelfe der Wiederaufnahme und der Verfassungsbeschwerde (§ 90 BVerfGG) contra legem den außerordentlichen Rechtsbehelf der frei waltenden Urteilsnichtigkeit zu setzen. Damit freilich, daß man — von den Fällen fehlender Gerichtsbarkeit und der Verhängung von Strafen und Unrechtsfolgen, die die Rechtsordnung der Art nach überhaupt nicht kennt (Todesstrafe, Prügelstrafe) abgesehen — die Möglichkeit unheilbar nichtiger Urteile, die ohne weiteres als rechtlich wirkungslos behandelt werden könnten, verneint, ist das Problem nicht erschöpft. Es fragt sich, ob es nicht in gewissem Umfang dem Verfahrensrecht entsprechende 193

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und durch Auslegung, Gesetzes- oder Rechtsanalogie gewinnbare Abhilfemöglichkeiten gibt, wenn ein Urteil durch fehlerhafte Anwendung des Rechts, insbesondere durch Ubersehen entscheidungserheblicher Umstände grob unrichtig ist. Denn es erscheint allerdings sehr unbefriedigend, daß z. B. der Weg der Wiederaufnahme zur Verfügung steht, wenn der erforderliche Strafantrag zulässigerweise nach Eröffnung des Hauptverfahrens durch Schriftsatz gegenüber dem Gericht zurückgenommen wird, der Schriftsatz aber versehentlich aus den Akten verschwindet und infolgedessen dem erkennenden Gericht in der Hauptverhandlung die Zurücknahme unbekannt ist — die nachträgliche Aufklärung dieses Sachverhalts ist i. S. des § 359 Nr. 5 StPO die Beibringung einer neuen (dem Gericht bei der Aburteilung unbekannten) Tatsache, die die Freisprechung in Form der Einstellung des Verfahrens des Angeklagten zu begründen geeignet ist —, während nur die Verweisung auf den Weg der Gnade möglich sein sollte, wenn das Gericht bei der Aburteilung die in den Akten enthaltene Zurücknahmeerklärung übersieht und das Versehen erst nach Rechtskraft des Urteils anerkannt wird. Dazu kommt es aber, wenn als „neu" i. S. des § 359 Nr. 5 weithin nur solche Tatsachen angesehen werden, die dem erkennenden Gericht nicht vorgelegen haben, „bei der Entscheidung also nicht in Betracht gezogen werden konnten" (Anm. 18a zu § 359 der 21. Aufl.); aus den Akten sich ergebende, aber übersehene Tatsachen sind danach nicht neu (s. dazu aber unten S. 201). Ein Blick auf die Reformvorschläge und die gesetzgeberische Behandlung vergleichbarer Fragen mag Lösungsmöglichkeiten aufzeigen. Der EGStGB-Entw. 1930 wollte durch die in At. 70 Nr. 195 vorgesehenen Änderungen des Wiederaufnahmerechts über das bisherige Recht hinaus zur Beseitigung fehlerhafter Urteile den Weg der Wiederaufnahme des Verfahrens eröffnen. Und zwar sollte dies zunächst durch eine Ausweitung des Erfordernisses der „Neuheit" der beizubringenden Tatsache erreicht werden. Nach § 360 i. d. F. des Entw. setzt die Wiederaufnahme zugunsten des Verurteilten die Beibringung von Tatsachen voraus, die geeignet gewesen wären, die Einstellung des Verfahrens, die Freisprechung oder in Anwendung eines milderen Gesetzes eine geringere Bestrafung zu begründen, es sei denn, daß „die Tatsachen dem erkennenden Gericht in der Hauptverhandlung bekannt gewesen sind". Die Begründung (S. 96) bemerkt dazu, den Gesetzestext extensiv interpretierend, durch diese Fassung werde festgestellt, „daß neue Tatsachen . . . alle die sind, die bei der Urteilsfällung nicht berücksichtigt worden sind, ohne Rücksicht darauf, ob sie in den Akten des ursprünglichen Verfahrens bereits bekannt waren oder nicht". Damit wären in gewissem Umfang die Fälle des „Ubersehens" entscheidungserheblicher Tatsachen einer Korrektur im Wege der Verfahrenswiederaufnahme zugänglich gemacht worden. Darüber hinaus sollte nach dem neu vorgeschlagenen § 360 a die Wiederaufnahme zugunsten des Verurteilten zulässig sein, „wenn das Gericht auf eine Strafe, Nebenstrafe oder Nebenfolge oder auf eine Maßregel der Besserung und Sicherung erkannt hat, auf die nach dem Gesetz nicht erkannt werden konnte". Die Begründung führt als Anwendungsfalle die Verhängung einer Zuchthausstrafe, obwohl das Gesetz nur Gefängnis zuließ, oder die Festsetzung einer den gesetzlichen Strafrahmen übersteigenden Strafdauer, also Fälle der Überschreitung des gesetzlichen Strafrahmens an. Aber der Wortlaut der Vorschrift deckt zur Not auch den Fall der Verhängung einer Strafe, ohne daß die gesetzlichen Voraussetzungen einer Bestrafung vorlagen. Wären diese Vorschläge Gesetz geworden, so würde die Rechtsprechung vielleicht oder sogar wahrscheinlich in erweiternder Auslegung oder in entsprechender Anwendung der Vorschrift auch die Fälle hierher eingeordnet haben, in denen eine Strafe festgesetzt wurde, obwohl die Handlung im Gesetz nicht mit Strafe bedroht ist, also z.B. bei Verurteilung wegen versuchter Tat, obwohl der Versuch nicht mit Strafe bedroht ist, oder bei Verurteilung unter Anwendung einer Strafvorschrift, die zur Tatzeit bereits außer Kraft war. Endlich sah der Entwurf (§ 360 a Abs. 2) die Wiederaufnahme vor, wenn bei Eintritt der Rechtskraft des Urteils bereits eine andere rechtskräftige Entscheidung wegen derselben Tat vorlag. Diese Vorschläge sind zwar nicht Gesetz geworden 137 . Indessen bietet, wie oben (S. 110) dargelegt, das gel137

Der Vorschlag, bei einer inhaltlich dem Gesetz widersprechenden Strafe die Wiederaufnahme zuzulassen, fand aber im Disziplinarverfahren Verwirklichung und zwar zunächst im preuß. Recht (vgl. § 6 0 Nr. 5 der preuß. DienststrafO für die richterlichen Beamten v. 27. 1. 1932 PrGS S. 79), das die Verfahrenswiederaufnahme zuließ im Fall einer Bestrafung, „die nach Art und Höhe ge-

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tende Recht auch ohne ausdrückliche Vorschrift jetzt die Möglichkeit, Verstöße gegen den Grundsatz ne bis in idem im Wiederaufnahmeweg zu korrigieren, wenn dem später entscheidenden Gericht nicht bekannt war, daß eine rechtskräftige Aburteilung wegen derselben Tat vorlag; daneben steht jetzt auch der Weg der Verfassungsbeschwerde (Art. 103 Abs. 3 GG, § 90 BVerfGG) zur Verfügung, Auch steht kein zwingendes Hindernis dem im Wege, die vorgeschlagene Erweiterung des Begriffs der „neuen" Tatsachen im Wege der Auslegung schon auf dem Boden des geltenden Rechts durchzuführen (s. dazu unten S. 201). Mit dem Problem der Abhilfe bei grober rechtlicher Unrichtigkeit eines rechtskräftigen Urteils beschäftigte sich in der Folgezeit auch der StPO-Entwurf 1939. Er suchte aber im Gegensatz zum EGStGB-Entwurf 1930 die Lösung nicht in einer Erweiterung der Wiederaufnahmevoraussetzungen, sondern in der Einführung neuer außerordentlicher Rechtsbehelfe, der Nichtigkeitsbeschwerde 138 und des außerordentlichen Einspruchs gegen rechtskräftige Urteile (§§370 ff.), die an Vorbilder des österreichischen Strafprozeßrechts, die Nichtigkeitsbeschwerde des Generalprokurators und die außerordentliche Wiederaufnahme, anknüpften. Nach § 370 des Entwurfs sollte der Oberreichsanwalt beim Reichsgericht die Nichtigkeitsbeschwerde binnen sechs Monaten nach Rechtskraft des Urteils (des Amtsrichters, der Schöffenkammer und der Strafkammer) erheben können, wenn das Urteil wegen eines groben Fehlers bei der Anwendung des Rechts auf die festgestellten Tatsachen ungerecht ist; bei Erfolg der Nichtigkeitsbeschwerde sollte das Reichsgericht das Urteil aufheben und entweder selbst in der Sache entscheiden, oder, wenn die tatsächlichen Feststellungen des Urteils dazu nicht ausreichten, die Sache an das Instanzgericht zu erneuter Verhandlung zurückverweisen. Als Beispiele grober Fehler in der Rechtsanwendung führte die Begründung (S. 177) u.a. die Anwendung eines unrichtigen Strafgesetzes, die zu einer völlig abwegigen Beurteilung geführt hat, die irrige Anwendung oder Nichtanwendung eines Straffreiheitsgesetzes, die Wahl einer im angewendeten Strafgesetz nicht zugelassenen Strafart oder die Außerachtlassung der gesetzlichen Strafgrenzen an. Der ebenfalls vom Oberreichsanwalt beim Reichsgericht zu erhebende und in gleicher Weise wie die Nichtigkeitsbeschwerde fristgebundene außerordentliche Einspruch sollte nach § 378 des Entwurfs zulässig sein, wenn der Oberreichsanwalt „wegen schwerwiegender Bedenken gegen die Richtigkeit des Urteils eine neue Verhandlung und Entscheidung in der Sache für notwendig hält". Die „schwerwiegenden Bedenken" sollten die Rechtsanwendung, die Ausübung des richterlichen Ermessens, die Richtigkeit der tatsächlichen Feststellungen oder der Strafbemessung betreffen können (Begr. S. 179). Der Einspruch sollte nach § 374 den Wegfall des Urteils bewirken und zu einer neuen Verhandlung der Sache vor dem Reichsgericht führen (§ 375). Die Kriegsgesetzgebung verwirklichte mit gewissen Abwandlungen die Vorschläge des Entwurfs (vgl. S. 16). Durch die Nachkriegsgesetzgebung wurden Nichtigkeitsbeschwerde und außerordentlicher Einspruch wieder beseitigt. Das entsprach nicht nur dem Bestreben des Rechtsvereinheitlichungsges. v. 12.9. 1950, im Interesse einer raschen Wiederherstellung der Rechtseinheit schwierige Probleme auszuklammern, vielmehr kam darin zum Ausdruck, daß, ganz abgesehen von dem Odium des Mißbrauchs, mit dem diese Einrichtungen belastet waren, jedenfalls der außerordentliche Einspruch mit seinen unbestimmten Voraussetzungen, der auf den Vorstellungen der nationalsozialistischen Gesetzgebung von dem Vorrang der „materiellen" Gerechtigkeit gegenüber der „formalen" Rechtskraft beruhte, einen mit rechtsstaatlichen Anforderungen unverträglichen Eingriff in die Rechtskraft und die Rechtssicherheit bedeute. Die Nichtigkeitsbeschwerde als Rechtsinstitut, die das österreichische Recht auch nach dem Kriege beibehalten hat (vgl. L u t h e r ZStrW 70 102), begegnet dagegen bei sinnvoller Begrenzung solchen Bedenken nicht. setzlich nicht verhängt werden konnte", und von da aus im Reichs- und Bundesdisziplinarrecht (vgl. § 83 Abs. 2 R D O v. 26. 1. 1937 - RGBl. I 71 - ; § 97 B D O i. d. F. v. 20. 7. 1967 - BGBl. I 751 - und § 103 Abs. 2 WehrdisziplO i. d. F. v. 9. 6. 1961 - BGBl. I 627 - ) , wonach die Wiederaufnahme auch zulässig ist, „wenn rechtskräftig eine Disziplinarmaßnahme verhängt worden ist, die nach Art und Höhe im Gesetz nicht vorgesehen war". Ein Grund, der es rechtfertigen könnte, die Voraussetzungen des Wiederaufnahmeverfahrens in diesem Punkt im Dienststrafverfahren anders als im Strafverfahren zu behandeln, ist nicht erkennbar. "»Vgl. dazu S u c h o m e l , „Die außerordentliche Nichtigkeitsbeschwerde im künftigen Strafverfahren" in Festgabe für Bumke (1939) 134ff.

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Beiden Lösungsversuchen der genannten Entwürfe ist gemeinsam, daß sie — freilich in sehr verschiedenem Ausmaß und in technisch sehr verschiedener Ausgestaltung — zur Beseitigung von Urteilen, die durch fehlerhafte Rechtsanwendung unrichtig sind, den Weg einer förmlichen gerichtlichen Nachprüfung zur Verfügung stellen wollten. Beide Entwürfe wollten damit das Problem des nichtigen Urteils gegenstandslos machen, denn indem sie auch zur Beseitigung rechtlich mangelhafter Urteile Wege eröffneten, brachten sie zum Ausdruck, daß auf andere Weise und in anderen Fällen keine Einwendungen gegen die Rechtsbeständigkeit eines rechtskräftigen Urteils wegen falscher Rechtsanwendung in Betracht kommen sollten. So sehr die Lösungsversuche aus der Zeit der Weimarer Republik und aus der Zeit des Nationalsozialismus auch auseinandergehen, so liegt ihnen doch gemeinsam die Überzeugung der damals zur Mitwirkung bei der Gesetzgebung berufenen Organe zugrunde, daß es Fälle grob fehlerhafter Rechtsanwendung gibt, die der Abhilfe bedürfen, und bei denen die Verweisung auf die Korrekturmöglichkeiten der Gnadenstellen unangemessen wäre, daß abei, den Bedürfnissen einer geordneten Rechtspflege entsprechend, Abhilfe nur durch Prüfung und Entscheidung in einem förmlichen gerichtlichen Verfahren möglich sein kann. Diese Grundgedanken, mit denen die Annahme, daß gröbste Rechtsverstöße zu einer ipso iure eintretenden Nichtigkeit des Urteils führen könnten, unverträglich ist, sind von zeitloser Gültigkeit. Sie liegen auch eindeutig den Regelungen zugrunde, in denen auf Teilgebieten die Gesetzgebung der letzten Zeit neue Wege zur Nachprüfung rechtskräftiger Urteile zur Verfügung stellt, wenn bestimmte Mängel geltend gemacht werden 139 . a) Nach dem schon in anderem Zusammenhang mehrfach erwähnten § 90 BVerfGG kann jedermann mit der Behauptung, durch ein rechtskräftiges (ausnahmsweise nach § 90 Abs. 2 auch durch ein noch nicht rechtskräftiges) Strafurteil in einem Grundrecht oder in den in den in Art. 101, 103, 104 G G enthaltenen Rechten verletzt zu sein, fristgebundene (§ 93) Verfassungsbeschwerde zum BundesverfG einlegen. Wird ihr stattgegeben, so hebt das BVerfG das Urteil auf (§ 95 Abs. 2). Aus dieser Regelung erhellt ohne weiteres, daß Verstöße der gedachten Art — also auch die Verletzung des Satzes: ne bis in idem (Art. 103 Abs. 3) und die Verletzung des Satzes: nulla poena sine lege (Art. 103 Abs. 2) — das Urteil nicht nichtig machen; vielmehr kann nur das BVerfG und auch es nur auf fristgebundene Verfassungsbeschwerde hin ein solches rechtskräftiges Urteil nachprüfen. Dadurch wird ein Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens, soweit seine gesetzlichen Voraussetzungen in Betracht kommen, nicht ausgeschlossen; die Verfassungsbeschwerde ist dann erst zulässig, wenn der Rechtsweg auch nach dieser Richtung erschöpft ist (a.M. P f e i f f e r , Die Verfassungsbeschwerde [1959] 31; A r n d t NJW 1964 166). Hebt das BVerfG eine Entscheidung auf, so verweist es zugleich die Sache an ein sachlich zuständiges Gericht (BVerfG JZ 1961 537). In der Erstreckung der Verfassungsbeschwerde des Verurteilten auf jeden Verstoß gegen das materielle wie gegen das formelle Strafrecht, welches eine Entscheidung grob ungerecht macht, sieht L a m p e GA 1968 33 den richtigen Weg der Korrektur grob fehlerhafter Urteile (dazu kritisch E b S c h m i d t JZ 1968 681 mit Erwiderung L a m p e JZ 1969 287). b) Das BVerfG entscheidet im abstrakten Normenkontrollverfahren (Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG; § 76 BVerfGG), im konkreten Normenkontrollverfahren (Art. 100 GG) und im Verfahren auf Verfassungsbeschwerde (§ 90 BVerfGG) über die Verfassungswidrigkeit von Gesetzen. Bejaht es diese und spricht es mit rückwirkender Kraft die Nichtigkeit des Gesetzes aus (§§ 78, 82, 95 Abs. 3 BVerfGG), so ist nach §§ 79, 82, 95 Abs. 3 Satz 3 aaO. gegen ein rechtskräftiges Strafurteil, das auf der für nichtig erklärten Norm beruht, „die Wiederaufnahme des Verfahrens nach den Vorschriften der Strafprozeßordnung zulässig". "'Ergänzend zu der Darstellung der neuen Nachprüfungsmöglichkeiten (Verfassungsbeschwerde, Normenkontrollverfahren, Überprüfung von DDR-Urteilen) ist zu bemerken, daß auch die Menschenrechtskonvention eine Individualbeschwerde wegen Verletzung der in der Konvention enthaltenen Grundrechte — nach Erschöpfung des innerstaatlichen Rechtswegs — an die Menschenrechtskommission vorsieht. Sie ist aber in diesem Zusammenhang nicht weiter zu erörtern, da eine Aufhebung rechtskräftiger Erkenntnisse, die auf einem Verstoß gegen die Grundrechte beruhen, durch die in der Konvention vorgesehenen Kontrolleinrichtungen nicht in Betracht kommt (vgl. W o e s n e r NJW 1961 1381).

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Über die Bedeutung dieser Vorschriften ist ein lebhafter Streit entstanden, als BVerfGE 10 200 (= N J W 1960 186 = BGBl. I 1960 S. 9) auf Verfassungsbeschwerde hin die im ehemaligen Land Württemberg-Baden erlassenen Vorschriften über die Friedensgerichte für verfassungswidrig und nichtig erklärte, weil die Friedensgerichte nicht Gerichte i. S. des Art. 92 G G seien. Über das rechtliche Schicksal der von den Friedens- und Friedensobergerichten erlassenen rechtskräftigen Urteile traten die verschiedensten Auffassungen zutage 140 . Nach der extremsten Auffassung lagen von Nichtgerichten erlassene, rechtlich unbeachtliche Nichturteile vor. Nach anderer Ansicht war gegen die Strafurteile in Anwendung des § 79 Abs. 1 BVerfGG die Wiederaufnahme des Verfahrens zulässig. Nach einer dritten Meinung waren die Strafurteile, soweit sie nicht gemäß § 95 Abs. 2 BVerfGG vom BVerfG zugunsten derjenigen, die Verfassungsbeschwerde erhoben hatten, aufgehoben waren, wirksam und unangreifbar, weil § 79 BVerfGG nur an Strafurteile denke, die auf einer für nichtig erklärten Norm des materiellen Rechts beruhen. Streitig war schließlich die Bedeutung des § 79 Abs. 2 BVerfGG in diesem Zusammenhang. Auf die Einzelheiten ist hier nicht einzugehen. In diesen Meinungsstreit griff das BVerfG ein, indem es zunächst (NJW 1960 1051 = JZ 1960 536) aussprach, daß die Entscheidungen der Friedensgerichte keine „Nichturteile" seien, die von jedermann als nichtexistent behandelt werden könnten. Denn die Friedensgerichte hätten in einem förmlichen, dem des ordentlichen Gerichts nachgebildeten Verfahren entschieden, es seien Rechtsmittel an die Friedensobergerichte (Amtsgerichte) möglich gewesen; diese letzteren seien zwar als Teil der Friedensgerichtsbarkeit von der Nichtigkeit des Gesetzes im ganzen erfaßt, für sich gesehen aber zweifellos Gerichte i. S. des Art. 92 G G gewesen. „Schon deshalb" könnten Entscheidungen des Friedens- und Friedensobergerichts nicht als schlechthin nichtig angesehen werden; das verbiete auch das Interesse des Rechtsfriedens und der Rechtssicherheit, nachdem die Friedensgerichtsbarkeit ein Jahrzehnt bestanden habe, ohne daß ihre Verfassungswidrigkeit erkannt worden wäre. Schließlich hat das BVerfG (NJW 1960 1563 = JZ 1960 570) ausgesprochen, § 79 Abs. 1 (Wiederaufnahme des Verfahrens) gelte nur, wenn das Urteil auf einer für nichtig erklärten Norm des materiellen Rechts beruhe. Dem § 79 Abs. 2 liege der Gedanke zugrunde, daß bei der Behandlung von rechtskräftigen Gerichtsurteilen, die eine für nichtig erklärte Norm zur Grundlage haben, die Rechtssicherheit und der Rechtsfriede den Vorrang vor dem Rechtsschutz des einzelnen habe; solche Urteile könnten daher grundsätzlich nicht mehr angefochten werden. Nur für Strafurteile sei im § 79 Abs. 1 eine Ausnahme geschaffen, um den auf Grund einer nichtigen strafrechtlichen Norm Verurteilten die Möglichkeit einzuräumen, das Strafverfahren noch einmal aufzurollen. Auf Strafurteile, die auf nichtigen Normen des Gerichtsverfassungs- oder des Verfahrensrechts beruhten, erstrecke sich die Ausnahmevorschrift nach ihrem Sinn und Zweck nicht. Auf der Grundlage dieser Rechtsprechung ergibt sich folgendes Bild: Erklärt das BVerfG ein Gesetz für nichtig, so steht kraft der Wirkung, die § 31 BVerfGG dem Spruch beilegt, unangreifbar fest, daß das Gesetz von vornherein nichtig war. Bildet die für nichtig erklärte Norm die materiellrechtliche Grundlage eines Strafurteils, so ist jetzt offenkundig, daß es an einer Norm für die Verurteilung fehlte, mag auch das Fehlen einer die Verurteilung tragenden Norm zu der Zeit, als das Urteil erlassen wurde, nicht offenkundig gewesen sein. Die Wirksamkeit des (materiell unrichtigen) Urteils wird dadurch aber im Interesse der Rechtssicherheit nicht berührt. Das Gesetz überläßt es vielmehr — so muß die Verweisung in § 79 BVerfGG auf das Wiederaufnahmerecht verstanden werden — dem Verurteilten wie dem Staatsanwalt (§ 365 StPO), im Einzelfall einen Antrag auf rechtliche Nachprüfung des Urteils zu stellen, die in den Formen des Wiederaufnahmeverfahrens erfolgt. Die grundsätzliche Neuerung des § 79 BVerfGG besteht also darin, daß er — wie es schon der EGStGB-Entw. 1930 (S. 152) vorschlug — den neuen Wiederaufnahmegrund der Rechtsfehlerhaftigkeit des Urteil schuf, wenn auch dieser Wiederaufnahmegrund die Besonderheit aufweist, daß die Fehlerhaftigkeit des Urteils nicht auf einem Fehler des Gerichts, sondern auf einem Fehler des Gesetzgebers beruht (so E b S c h m i d t Vorb. 9 vor § 359 und ihm folgend BGHSt. 18 339 = N J W 1963 1364). D a die Wiederaufnahmevorschrif140

Vgl. u.a. LG Heidelberg NJW 1960 916, 929; LG Mannheim NJW 1960 917; LG Stuttgart NJW 1960 927, 929; LG Ulm NJW 1960 1313; OLG Stuttgart NJW 1960 1312; Röhl NJW 1960 179; H o p p n e r NJW 1960 513; Kern JZ 1960 244; J a u e r n i g NJW 1960 1885.

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ten nur darauf zugeschnitten sind, daß eine Erschütterung der tatsächlichen Grundlagen des Urteils in Frage steht, können sie gegenüber dem neu geschaffenen Wiederaufnahmegrund nur sinngemäß anwendbar sein (vgl. dazu BGH NJW 1963 1364). Gegenstand der Nachprüfung ist nur, welche Folgerungen sich aus dem Wegfall des für nichtig erklärten Gesetzes für den Schuld- und Strafausspruch ergeben. Die tatsächlichen Feststellungen des Strafurteils bleiben grundsätzlich unberührt (vgl. OLG Hamm NJW 1962 68). Ein Freispruch kommt nur in Betracht, wenn es nunmehr an jeder Grundlage für eine Verurteilung fehlt. Ist eine solche aber unter einem anderen rechtlichen Gesichtspunkt — wegen einer tateinheitlich zusammentreffenden Gesetzesverletzung, aus einer subsidiär anwendbaren Norm, die durch die für nichtig erklärte Norm verdrängt wurde usw. — gerechtfertigt, so ist die neue Entscheidung der veränderten Rechtslage anzupassen. So ist es möglich, daß die neue Entscheidung trotz der Änderung der Rechtslage im Ergebnis den Strafausspruch des Urteils unverändert aufrechterhält. Demgemäß führte, als das BVerfG (NJW 1962 1563) die §§ 49 StVO, 71 StVZO für nichtig erklärte, die auf Grund dieser Vorschriften ausgesprochenen Strafen aber in § 21 StVG eine Grundlage fanden, die Wiederaufnahme nur zu einer Auswechslung der Strafvorschriften im Spruch, ohne daß der Schuldspruch und die hierzu getroffenen Schuldfeststellungen nachzuprüfen gewesen wären (BVerfG NJW 1963 756; BGHSt. 19 46). c) In anderer Gestalt tritt das Problem der Urteilsnichtigkeit auf, wenn die Wirksamkeit der von Gerichten der DDR erlassenen Strafurteile in Frage steht. Diesen Fragenbereich regelt das Ges. über die innerdeutsche Rechts- und Amtshilfe in Strafsachen v. 2. 5. 1953 (vgl. dazu die Erläuterungen in Bd. II dieses Werkes). Dieses Gesetz beruht bekanntlich auf dem Grundgedanken, daß trotz der Entstehung neuer Staatsgewalten das Deutsche Reich in den Grenzen von 1937 durch die Ereignisse des Jahres 1945 nicht untergegangen und deshalb die SBZ von der Bundesrepublik her gesehen nicht Ausland, sondern staatsrechtlich ein Bestandteil des deutschen Gebietes ist, die Gerichte der D D R also deutsche Gerichte im Sinne der StPO und des GVG sind. Es geht weiterhin davon aus, daß trotz tiefstgreifender Unterschiede 141 in Gesetzgebung, Rechts- und Weltanschauung die beiden Teile Deutschlands im Grundsatz noch immer ein einheitliches Rechtspflegegebiet darstellen, daß es aber nicht angeht, Urteile von Gerichten der D D R in der Bundesrepublik anzuerkennen, wenn diese mit dem Recht der Bundesrepublik und rechtsstaatlichen Grundsätzen unvereinbar sind, sei es, daß die Rechtsstaatswidrigkeit dem materiellen Recht anhaftet, auf dem das Urteil beruht, oder dem Verfahren, in dem es zustande gekommen ist, oder dem Inhalt des Urteils selbst. Die Frage der Rechtsstaatswidrigkeit eines DDR-Urteils kann hervortreten, wenn es sich darum handelt, ob in der Bundesrepublik den DDR-Behörden Rechtshilfe bei der Vollstreckung des Urteils (durch Ergreifung und Zulieferung des Verurteilten oder Vollzug in den Anstalten der Bundesrepublik) zu leisten ist, ob die Rechtskraft eines DDR-Urteils einer erneuten Aburteilung in der Bundesrepublik entgegensteht, ob die Verurteilung in der Ostzone im Strafregister der Bundesrepublik zu vermerken ist und schließlich, wenn der Verurteilte ganz allgemein ein Interesse daran hat, daß die mangelnde Rechtsstaatlichkeit der Verurteilung (in Form des Ausspruchs der Unzulässigkeit der Vollstreckung, § 15 des Ges.) festgestellt wird. In allen diesen Fällen wird über die Rechtsstaatlichkeit der Verurteilung in einem förmlichen Verfahren entschieden, letztlich durch das Oberlandesgericht (§§ 5, 11, 15 des Ges.). Eine Nichtigkeit eines DDR-Urteils, die von jedermann und bei jeder in Betracht kommenden Gelegenheit geltend gemacht werden könnte und über die jeweils incidenter zu entscheiden wäre, gibt es hier grundsätzlich nicht (vgl. Anm. 2 c zu § 15), obwohl der Gedanke daran hier oft sehr viel näher läge als bei den Fällen, die im Schrifttum unter dem Gesichtspunkt des nichtigen Urteils behandelt werden. Nur bei den sog. Waldheimer-Urteilen hat die Rechtsprechung die Auffassung vertreten, daß es sich um offenkundige Willkürakte handele, die die Bezeichnung als Urteil überhaupt nicht verdienten (vgl. S. 184). Bevor die Frage abschließend erörtert wird, welche Folgerungen aus der zuvor geschilderten Rechtsentwicklung allgemein für das Problem des sog. nichtigen Urteils zu ziehen 141

Auch die seit 1953 eingetretene weitere Verschärfung der Gegensätze hat an der Wirksamkeit des Gesetzes nichts geändert (vgl. BVerfG NJW i960 1611 und BGBl. 1961 I S. 455).

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sind, ist zunächst noch zu prüfen, welche Bedeutung den erörterten Gesetzen in einem engeren Bereich, nämlich für den Fall zukommt, daß ein Gesetz in der Bundesrepublik, auf dem ein in der Bundesrepublik ergangenes Strafurteil beruht, durch ein anderes Gericht als das BVerfG für nichtig erklärt wird, und daß die Rechtsstaatswidrigkeit eines DDR-Gesetzes, auf dem ein DDR-Urteil beruht, in einem anderen als dem durch das Rechts- und Amtshilfegesetz geregelten Verfahren ausgesprochen wird. Es ist rechtlich möglich, daß auch andere Gerichte als das Bundesverfassungsgericht (und die Landesverfassungsgerichte) über die Gültigkeit von Rechtsnormen entscheiden. Denn das negative Entscheidungsmonopol des BVerfG erstreckt sich nicht auf vorkonstitutionelles Recht und nicht auf Rechtsverordnungen (vgl. Anm. 4 a zu § 1 GVG). Es besteht ferner keine Zuständigkeit des BVerfG, Gesetze des Landes Berlin auf ihre Vereinbarkeit mit dem G G zu prüfen (BVerfG JZ 1957 574) und schließlich steht allen Gerichten die Prüfung der formellen Gültigkeit, d. h. der ordnungsmäßigen Verkündung der angewendeten Vorschriften zu (Anm. 4 d zu § 1 GVG). In diesen Fällen sind die Strafgerichte zu einer selbständigen Prüfung der Rechtsbeständigkeit einer Norm, auf die sich der Schuldvorwurf stützt, berechtigt und verpflichtet 142 . Natürlich liegt es wesentlich anders, wenn ein Gericht im Einzelfall und nur mit Wirkung für diesen Einzelfall freispricht und in den Urteilsgründen ausführt, daß die Norm (etwa eine Polizeiverordnung), deren Verletzung dem Angeklagten zum Vorwurf gemacht wird, ungültig sei, als wenn das Verfassungsgericht im Normenkontrollverfahren oder auf Verfassungsbeschwerde mit bindender Wirkung für alle Organe der Staatsgewalt und mit rückwirkender Kraft ein Gesetz für nichtig erklärt. Immerhin kann sich eine diesem letzteren Fall vergleichbare Lage ergeben, wenn sich unter Führung der zuständigen Revisionsgerichte eine feste und gleichförmige Rechtsprechung über die Ungültigkeit einer bestimmten Norm bildet. Welche Bedeutimg hätte die Bildung einer solchen Rechtsprechung auf verurteilende Strafurteile, die früher in Anerkennung der Gültigkeit der Norm entgingen? Nach der bisher h. M. (vgl. z. B. BGH NJW 1962 2054) wäre ein solcher Wandel der Rechtsprechung — und zwar ebensowenig wie ein Wandel der Rechtsprechung über die Auslegung eines Gesetzes — keine neue Tatsache, die die Wiederaufnahme des Verfahrens zugunsten des Angeklagten ermöglichte. Unzulässig wäre es auch, einem solchen Urteil durch Entscheidung nach § 458 Abs. 1 StPO die Vollstreckbarkeit abzusprechen; es bliebe danach nur der Weg der „korrigierenden" Gnade. Nachdem aber § 79 Abs. 1 BVerfGG den Schritt vollzogen hat, auch grundlegende Veränderungen in der Rechtswelt zur Wiederaufnahmevoraussetzung zu erheben, erscheint es wohl vertretbar, in dem vorbezeichneten Fall im Wege der Rechtsanalogie die Wiederaufnahme des Verfahrens zuzulassen 143 (vgl. dazu oben S. 110). Entsprechend liegt es. wenn das BVerfG auf Verfassungsbeschwerde gegen die nach dem Rechts- und Amtshilfegesetz ergangene Entscheidung des OLG mit autoritativer Wir142

Vgl. die Übersicht bei S c h l ö s s e r NJW 1960 943 über Rechtsprechung und Schrifttum aus der Zeit nach dem 8. 5. 1945 zu der Frage, ob formell gültige Gesetze wegen Widerspruchs zu übergesetzlichen Normen unverbindlich sind. 143 Es versteht sich, daß damit nicht einer allgemeinen Erhebung des Wandels der Rechtsprechung zum Wiederaufnahmegrund das Wort geredet wird, obwohl es auch außerhalb der im Text erörterten Probleme Fälle geben kann, in denen der „Wandel der Rechtsprechung" die Frage nahelegt, ob es rechtspolitisch richtig ist, gegenüber rechtskräftigen Urteilen, die auf der Grundlage einer später aufgegebenen Auslegung erwachsen sind, in gleicher Weise wie bei einem Wandel der Gesetzgebung nur auf den Weg der Gnade oder eines mit einer Gesetzesänderung gekoppelten Straffreiheitsgesetzes zu verweisen. Insbesondere können sich bei neuen Gesetzen zunächst erhebliche Auslegungszweifel ergeben, bis sich schließlich eine feste Rechtsprechung bildet.. Die Kontroverse wird dann sozusagen auf dem Rücken der Angeklagten ausgetragen. Wenn etwa das OLG A als Revisionsgericht eine Auslegung vertrat, die die Verurteilung des Angeklagten zur Folge hatte, das O L G B aber die entgegengesetzte Auffassung, die zum Freispruch führen muß, für richtig hält und gemäß § 121 Abs. 2 GVG vorlegt, so ist, wenn der BGH dem vorlegenden OLG beistimmt und sich in der Folgezeit eine feste Rechtsprechung bildet, das im früheren Verfahren ergangene verurteilende Erkenntnis im Sinne der Rechtswirklichkeit als „falsch" erwiesen. Mit einer Nichtigkeitsbeschwerde, wie sie der StPO-Entw. 1939 vorsah, oder mit einer Erstreckung der Entscheidung des BGH nach Art. des § 357 StPO wäre zum Teil Abhilfe denkbar. Auf die Problematik dieses weiten Feldes einzugehen, würde den Rahmen der vorliegenden Einleitung überschreiten.

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Einleitung (Schäfer)

kung die Unzulässigkeit der Vollstreckung gewisser Urteile in der Bundesrepublik ausspricht, weil die ihnen zugrunde liegenden materiellrechtlichen Vorschriften der D D R mit rechtsstaatlichen Grundsätzen unvereinbar seien (vgl. BVerfG NJW 1960 1611). Der verfassungsgerichtliche Ausspruch, daß die sowjetzonale Norm rechts staatswidrig sei, steht im praktischen Ergebnis der Erklärung eines Bundesgesetzes als nichtig wegen Verfassungswidrigkeit gleich. Hat in solchen Fällen ein Oberlandesgericht vorher Anträge auf Feststellung der Unzulässigkeit der Vollstreckung abgelehnt ( § 1 5 des Rechts- und Amtshilfeges.), weil es die DDR-Vorschriften nicht für unvereinbar mit den Rechtsvorstellungen in der Bundesrepublik hielt, so ist es, dem Grundgedanken des § 95 Abs. 3 BVerfGG entsprechend, zulässig und geboten, in der Veränderung der Rechtsauffassung durch die Entscheidung des BVerfG eine neue Tatsache zu sehen, die eine erneute Entscheidung des OLG (§ 9 des Rechts- und Amtshilfesges.) zulässig macht (so auch BVerfGE 12 338 = NJW 1961 1203; K a y s e r NJW 1961 348 gegen O L G Bremen NJW 1961 378; s. auch P o p p e NJW 1961 1440). In noch weiterem Umfang hält B ö c k e n f o r d e NJW 1970 870 eine entsprechende Anwendung der §§ 79, 95 Abs. 3 BVerfGG für möglich (vgl. dazu oben S. 110). Sub specie der vorerörterten Regelungen muß das Gesamtproblem des nichtigen Urteils erörtert werden. Die genannten neueren Gesetze befassen sich mit Fällen, in denen ohne eine gesetzliche Regelung der Gedanke, ein Urteil als nichtig zu behandeln, mehr oder weniger nahe läge. Die gesetzgeberische Lösung der Probleme beruht aber gerade auf dem Gedanken, daß die Rechtssicherheit es ausschließt, ein mit Mängeln (inhaltlich, nach dem angewendeten Recht oder nach der Art seines Zustandekommens) behaftetes Urteil als nichtig anzusehen, dergestalt, daß die Unwirksamkeit jederzeit formlos geltend gemacht und incidenter darüber entschieden werden könnte; vielmehr können die schweren Mängel, mit denen sich der Gesetzgeber befaßt — des Verstoßes gegen Verfassungsvorschriften, der Verurteilung auf Grund eines nichtigen Gesetzes; der Rechtsstaatswidrigkeit eines DDRUrteils — nur in einem besonders geregelten Verfahren geltend gemacht und geprüft werden. Angesichts dieser Regelungen läßt es sich — wenn man die Fälle eines Überschreitens der Gerichtsbarkeit und sinnloser Strafaussprüche (Todesstrafe, Prügelstrafe) beiseite läßt — schlechterdings nicht mehr vertreten, daß es unheilbar nichtige Strafentscheidungen geben könnte, deren Unwirksamkeit bei jeder sich bietenden Gelegenheit geltend gemacht werden könnte. Wie soll, wenn die Verurteilung auf Grund eines autoritativ für nichtig oder rechtsstaatswidrig erklärten Gesetzes wirksam bleibt, solange nicht in einem förmlichen Verfahren die aus dem Mangel sich ergebenden Folgerungen gezogen sind, noch Raum sein für einen Satz, daß eine Entscheidung nichtig sei, wenn es an einer Norm für die Entscheidung fehle? Auf der anderen Seite zeigen die erörterten neueren Vorschriften, daß der Gesetzgeber — wie schon die Entwürfe der Jahre 1930 und 1939 — die Wiederaufnahmevorschriften des geltenden Rechts nicht als ausreichend ansah, um bei schweren Mängeln eines rechtskräftigen Urteils in dem durch die Gerechtigkeit und Rechtstreue geforderten Umfang eine Nachprüfung und Änderung des Urteils zu ermöglichen. Er erweiterte deshalb, ohne den Wortlaut der StPO zu ändern, die Wiederaufnahmevoraussetzungen dahin, daß nicht nur eine Erschütterung der tatsächlichen Grundlagen des Urteils, sondern auch eine Veränderung in der Rechtswelt (durch rückwirkenden Wegfall des dem Urteil zugrunde gelegten sachlichen Rechts) zur Nachprüfung des Urteils führt (s. S. 197). Er schuf ferner neben dem außerordentlichen Rechtsbehelf des Wiederaufnahmeverfahrens den außerordentlichen Rechtsbehelf der Verfassungsbeschwerde 144 . Die Frage erhebt sich, ob es nach den Grundgedanken und der Tendenz dieser Rechtsentwicklung möglich ist, auch andere mit groben Rechtsmängeln behaftete Urteile einer Nachprüfung und Korrektur in einem geordneten Verfahren im Wege einer (gewiß kühnen) Rechtsanalogie zuzuführen. Soweit verfahrensrechtliche Mängel eines Urteils in Frage stehen, ist das zu verneinen. Der Bereich der Verfassungsbeschwerde (§ 90 BVerfGG), mit der namentlich die Verletzung der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) und der in Art. 101, 103, 104 G G zu Verfassungsgeboten und -verboten erhobenen Rechtspflegefundamentalsätze geltend gemacht werden kann, ist so umfas144

Der weitere außerordentliche Rechtsbehelf des Unzulässigkeitsantrags gegenüber DDR-Strafurteilen nach § 15 des Rechts- und Amtshilfegesetzes trägt nicht allgemeinen kriminalpolitischen Forderungen, sondern einer besonderen staatsrechtlich-politischen Lage Rechnung und kann in diesem Zusammenhang außer Betracht bleiben.

200

Zur Frage des nichtigen Urteils

Kap. 14

send, daß mit Verfassungsbeschwerde nicht rügbare Verfahrensverstöße, die andere Abhilfemöglichkeiten zwingend geboten erscheinen lassen könnten, kaum denkbar sind, zumal nach der Auslegung des § 79 Abs. 1 BVerfGG durch das BVerfG (s. S. 197) der Wegfall Verfahrens- und gerichtsverfassungsrechtlicher Vorschriften durch Nichtigkeitserklärung nicht zur Wiederaufnahme des Verfahrens führt. Die Regelung in § 90 BVerfGG ist also was Verfahrensmängel anlangt, als abschließend anzusehen. Vertretbar erscheint es dagegen, bei sachlichrechtlichen Verstößen eine Nachprüfung in den Grenzen zuzulassen, in denen der EGStGB-Entw. 1930 eine Wiederaufnahme des Verfahrens zulassen wollte und das Dienststrafverfahren sie bereits heute zuläßt (vgl. S. 194). Dann wären z. B. die Fälle erfaßbar, in denen das Gericht Erwachsenen-Verbrechensstrafe gegen den zur Tatzeit Jugendlichen verhängt, weil es das ihm aus der Hauptverhandlung bekannte jugendliche Alter bei der Urteilsfällung außer Acht läßt. Es wäre auch nicht zu kühn, eine solche Nachprüfung und Abhilfe dem Wiederaufnahmeverfahren zuzuweisen, nachdem § 79 BVerfGG — darin dem Vorbild des EGStGB-Entw. 1930 folgend — und schon vorher das Disziplinarverfahrensrecht den grundsätzlichen Schritt vollzogen hat, das Wiederaufnahmeverfahren auf gewisse nachträglich zutage tretende Mängel des Urteils im sachlichen Recht zu erstrekken. Wer eine solche Rechtsanalogie für zu gewagt hält, könnte den prozessualen Anknüpfungspunkt in § 458 StPO suchen (a. M. G r ü n w a l d ZStrW 76 [1964] 259). Bekennt man sich ferner — entsprechend den Vorschlägen des EGStGB-Entw. 1930 — zu der Auffassung, daß als „neu" i. S. des § 359 Nr. 5 StGB auch Tatsachen anzusehen sind, die dem Gericht zwar aus den Akten bekannt oder erkennbar, aber versehentlich nicht in die Hauptverhandlung eingeführt und deshalb bei der Urteilsfällung nicht berücksichtigt worden sind (so K l [29] 6 A zu § 359: „den ,unbekannten' Beweismitteln stehen die versehentlich nicht benutzten gleich", und M e y e r , Zum Begriff der Neuheit von Tatsachen oder Beweismitteln im Strafverfahren, JZ 1968 7 m. w. Nachw.), so ist schon auf dem Boden des geltenden Rechts bei manchen durch „Übersehen" wesentlicher tatsächlicher Umstände (z. B. der Zurücknahme des Strafantrags) rechtlich unrichtigen Urteilen Abhilfe im Rechtsweg möglich und insoweit der Notbehelf der korrigierenden Gnade entbehrlich. Ein Gegenstück zum Problem des nichtigen Urteils bildet die Frage des unwirksamen sog. justizformigen Verwaltungsakts (oben S. 65). Sie ist im Zusammenhang mit der Frage erörtert worden, welche Wirkung es auf die Beschlüsse des Vorsitzendenkollegiums über die Verteilung des Vorsitzes in den Kammern und Senaten (§ 62 Abs. 2 GVG) und des Präsidiums über die Verteilung der Mitglieder und der Geschäfte auf die Kammern und Senate (§ 63 GVG) hat, wenn Vorsitzendenkollegium und Präsidium nicht ordnungsmäßig gebildet worden sind. Die Rechtsprechung (BGHSt. 12 227, 402; 13 268) hat offen gelassen, ob nicht diese Beschlüsse nichtig sind mit der Folge einer gesetzwidrigen Besetzung des Gerichts (§ 338 Nr. 1), wenn bei der Bildung der genannten Gremien offensichtlich gegen eindeutige Gesetzesvorschriften oder gar bewußt dagegen in der Absicht verstoßen wurde, sachfremden Einfluß auf die Besetzung der Kammern und Senate zu gewinnen, eine Nichtigkeit der Beschlüsse aber jedenfalls dann verneint, wenn die unrichtige Bildung des Präsidiums und Vorsitzendenkollegiums auf zwar letztlich unrichtiger, aber vertretbarer Auslegung nicht eindeutiger Gesetzesvorschriften beruht.

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Strafprozeßordnung Vom 1. Februar 1877 in der Fassung der Bekanntmachung vom 17. September 1965 (BGBl. I 1373)

ERSTES BUCH Allgemeine Vorschriften ERSTER A B S C H N I T T Sachliche Zuständigkeit der Gerichte Vorbemerkungen 1. Sachliche Zuständigkeit. Von der Zuständigkeit der Gerichte ist im Strafverfahren in doppelter Hinsicht die Rede, von der sachlichen und von der örtlichen. Die örtliche Zuständigkeit der Gerichte erster Instanz, der Gerichtsstand, ist im zweiten Abschnitt geregelt; wegen der örtlichen Zuständigkeit der Rechtsmittelgerichte s. 3 vor § 7. Die sachliche Zuständigkeit der Gerichte erster Instanz und der Rechtsmittelgerichte ist dem Gerichtsverfassungsgesetz zu entnehmen (§ 1). Dort wird u.a. auch bestimmt, welche Gerichte verschiedener Ordnung, vom Amtsrichter bis zum Oberlandesgericht, für die Untersuchung und Entscheidung einer Strafsache in der ersten Instanz zuständig sind. Auf Veränderungen dieser Zuständigkeit, der sog. sachlichen Zuständigkeit im engeren Sinne, i. S. einer Verschiebung der Zuständigkeit auf ein höheres Gericht bezieht sich — von noch zu behandelnden Ausnahmen abgesehen — der erste Abschnitt, der sonst selbst keine Vorschriften enthält, durch die eine sachliche Zuständigkeit begründet würde. Solche Bestimmungen finden sich aber über die Strafprozeßordnung und das Gerichtsverfassungsgesetz verteilt, wobei oftmals neben der sachlichen Zuständigkeit zugleich die örtliche und zuweilen auch die funktionelle festgelegt wird. Beispiele: § 27 Abs. 1 bis 3, § 46 Abs. 1, §§ 125, 126, 128, 129, § 162 Abs. 1, § 165, § 172 Abs. 4, §§ 184 bis 186, § 209, § 367 Abs. 1; § 4 2 9 b Abs. 3, § 441 Abs. 1 Satz 2, § 462 Abs. 1 und 3, §§ 4 6 2 a , 463a, § 157 GVG. - § 407 Abs. 1 und § 413 Abs. 2 sind keine Zuständigkeitsbestimmungen, sondern legen im Rahmen der in §§ 24, 25 G V G festgelegten Zuständigkeit besondere Verfahrensarten fest. Ergänzende Bestimmungen zur sachlichen Zuständigkeit enthalten das Jugendgerichtsgesetz ( § § 3 9 bis 41), das Gesetz über das gerichtliche Verfahren in Binnenschiffahrtssachen 1 und für Strafsachen, die am 8. 5. 1945 bei einem Gericht anhängig oder rechtskräftig abgeschlossen waren, an dessen Sitz deutsche Gerichtsbarkeit nicht mehr ausgeübt wird, das Zuständigkeitsergänzungsgesetz 2 . Außer von der Änderung der sachlichen Zuständigkeit handelt der erste Abschnitt noch von deren Nachprüfung in § 6. Dieser wird ergänzt durch § 269. Weitere Bestimmungen über die Nachprüfung der sachlichen Zuständigkeit und die Beseitigung dabei festgestellter Mängel enthalten § 270 Abs. 1, § 338 Nr. 4, § 348 Abs. 1 und § 355. § 453 Abs. 3 behandelt den Sonderfall der Verschiebung der Zuständigkeit an ein niederes Gericht. 1

Gesetz über das gerichtliche Verfahren in BinnenschifFahrts- und Rheinschiffahrtssachen vom 27. 9. 1952 - BGBl. III 310 - 5 - (§ 1: sachliche Zuständigkeit des Amtsgerichts auch in Strafkammersachen). 2 vom 7. 8. 1952 - BGBl. III 310 - 1 - (§§ 17 bis 19: Zuständigkeit der Strafkammer oder des Schwurgerichts).

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Vor § 1 Anm. 2 , 3

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

2. Sachliche Zuständigkeit der Rechtsmittelgerichte. Auch die Zuständigkeit der Rechtsmittelgerichte ist eine sachliche, eine örtliche und eine funktionelle Zuständigkeit; wegen der funktionellen s. 3 b, wegen der örtlichen 3 vor § 7. Die Regeln über die sachliche Zuständigkeit der Rechtsmittelgerichte bestimmen, welche Gerichte der verschiedenen Ordnung — Landgericht, Oberlandesgericht, Bundesgerichtshof — als Beschwerdegerichte (§ 73 Abs. 1, 2. Halbsatz GVG, §121 Abs. 1 Nr. 2 GVG, § 1 3 5 Abs. 2 GVG), als Berufungsgerichte (§ 74 Abs. 2 GVG), beim Landgericht in welcher von zwei Besetzungsarten (§ 76 Abs. 2 GVG), und als Revisionsgerichte (§ 135 Abs. 1 GVG) zuständig sind. Zuständig ist stets nur ein Gericht, bei der Strafkammer nur entweder die kleine oder die große, und die Zuständigkeit richtet sich allein danach, welches Gericht in erster Instanz entschieden hat; ob dieses Gericht sachlich zuständig war, ist gleichgültig ( B e l i n g § 16 III Anm. 4). Die sachliche Zuständigkeit eines Rechtsmittelgerichts kann nur in zwei Fällen geändert werden: einmal wenn das Oberlandesgericht eine Sache dem Bundesgerichtshof nach § 121 Abs. 2 GVG, nach § 29 Abs. 1 Satz 2 EGGVG oder nach § 79 Abs. 3 OWiG vorlegt und dieser nicht nur die Rechtsfrage, sondern über das Rechtsmittel selbst entscheidet; zum anderen, wenn das Revisionsgericht nach § 354 Abs. 1 anstelle des Berufungsgerichts in der Sache selbst entscheidet. Wegen der Verschiebung der örtlichen Zuständigkeit von Rechtsmittelgerichten s. 3 vor § 7. In der Regel wird die Zuständigkeit der Rechtsmittelgerichte zur sog. funktionellen Zuständigkeit (3) gerechnet. In Wahrheit gehört indessen die Einteilung in die Instanzen zur sachlichen Zuständigkeit 3 . Daß das Oberlandesgericht nicht als Beschwerdegericht oder als Gericht erster Instanz, sondern als Revisionsgericht entscheidet, weist sicher auf eine Funktion jenes Gerichts hin; aber diese Erkenntnis besagt nichts. Bedeutungsvoll ist allein, in welchem Falle das Oberlandesgericht und in welchem der Bundesgerichtshof, beides Revisionsgerichte, zur Entscheidung berufen ist. Das kann nur eine Regelung der sachlichen Zuständigkeit sein. Das gleiche gilt von der Zuständigkeit der Beschwerdegerichte; es trifft aber auch für das Berufungsgericht zu: die kleine und die große Strafkammer haben als Berufungsgerichte ebenso wie der Amtsrichter und das Schöffengericht als erstinstanzliche Gerichte eine verschieden sachliche Zuständigkeit 4 . Ob von jener Zuständigkeit im ersten Abschnitt die Rede ist, wird bei den einzelnen Bestimmungen zu behandeln sein. 3. Funktionelle Zuständigkeit. a) Begriff. Von der sachlichen und der örtlichen Zuständigkeit wird die sog. funktionelle oder geschäftliche Zuständigkeit geschieden. Man versteht darunter die Berufung verschiedener Rechtspflegeorgane, verschiedene Rechtspflegefunktionen in derselben Sache wahrzunehmen 5 . Da die Tätigkeit als Gericht erster Instanz in bezug auf die sonstigen gerichtlichen Tätigkeiten in derselben Sache ebenfalls eine Rechtspflegefunktion ist, muß, wer unter der funktionellen Zuständigkeit nur eine andersartige als die sachliche und die örtliche, nicht aber zugleich auch eine zusätzliche Zuständigkeit sieht, die erstinstanzliche Tätigkeit aus dem Begriff der funktionellen Zuständigkeit ausscheiden 6 . Aber auch innerhalb der gerichtlichen Untersuchung im ersten Rechtszug können sich verschiedene funktionelle Zuständigkeiten ergeben, so die als beschließendes und erkennendes Gericht. Demzufolge wird der Begriff noch weiter eingeschränkt auf die Zuständigkeit für Entscheidungen außerhalb des Erkenntnisverfahrens erster Instanz 7 . Da nun die funktionelle Zuständigkeit, die aus der Geschäftsverteilung erwächst, auch für das Erkenntnisverfahren erster Instanz eine Rolle spielt, folgt für die, die der eingeschlagenen Richtung folgen, eine weitere Einschränkung des Begriffs, indem die Zuständigkeit, die auf der Geschäftsverteilung aufbaut, als eine 3

W i e c z o r e k , ZPO, B V zu § 1: „sachliche Zuständigkeit im weiteren Sinn". D a l l i n g e r ( M D R 1954 153): Sachliche Zuständigkeit des Berufungsgerichts. " P e t e r s § 35 IV 2. 5 W a c h , Handbuch § 28 IV; R o s e n b e r g , Lehrb. § 29 II 3, § 301. 6 Z. B. K l 4 vor § 1: Die Zuständigkeit der Rechtsmittelgerichte und die Kompetenz für alle diejenigen richterlichen Prozeßhandlungen, die außerhalb der gerichtlichen Untersuchung im ersten Rechtszug vorzunehmen sind. 7 H e n k e l § 27 III l c ; M ü l l e r - Sax l c vor § 1.

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Erster Abschnitt. Sachliche Zuständigkeit (Dünnebier)

Vor § 1 Anm. 4

weitere Zuständigkeit, sowohl neben die örtliche und die sachliche, als auch neben die funktionelle Zuständigkeit gestellt wird (OLG Nürnberg NJW 1963 502). Ein solcher Begriff ist aber weder als vereinfachte Bezeichnung von Nutzen, noch bringt er eine systematische Gemeinsamkeit zum Ausdruck, aus der die gemeinschaftliche Geltung prozessualer Grundsätze herzuleiten wäre ( v . H i p p e l § 38 IV). Der Satz, die funktionelle Zuständigkeit sei — anders als die sachliche — keine vom Revisionsgericht von Amts wegen zu prüfende Verfahrensvoraussetzung 8 , ist im Grundsatz richtig, trifft aber gerade für das als Hauptfall der funktionellen Zuständigkeit angenommene Beispiel, die Instanzenordnung 9 , nicht zu. Für die eigene Zuständigkeit des Revisionsgerichts ergibt sich das aus § 348 Abs. 1; das Revisionsgericht würde aber auch, wenn ein örtlich unzuständiges Landgericht oder ein Oberlandesgericht über eine Berufung entschieden hätte, diesen Mangel von Amts wegen feststellen und auch ohne Antrag die in § 355 vorgesehene Entscheidung treffen. Demzufolge werden hier die Zuständigkeiten im Vorverfahren (§ 162 Abs. 1, § 165); in der Voruntersuchung (§§ 184 bis 186; § 73 Abs. 1, § 120 Abs. 3 GVG); als Rechtshilfegericht (§ 157 GVG) und als Rechtsmittelgericht (§ 73 Abs. 1, 2. Hälfte, § 74 Abs. 2, § 120 Abs. 3 und 4, § 121 Abs. 1, § 135 GVG) als besonders geregelte örtliche und sachliche Zuständigkeiten aufgefaßt (1 und 2 sowie 2 vor § 7). b) Umfang. Für die geschäftliche Zuständigkeit verbleibt die Zuständigkeit als erkennendes Gericht (§ 76 Abs. 2, § 122 Abs. 2, § 139 Abs. 1 GVG) einerseits und als beschließendes Gericht (§ 76 Abs. 1, § 122 Abs.l, § 139 Abs. 1 und 2 GVG) andererseits; als Kollegialgericht auf der einen und als Vorsitzender auf der anderen Seite (vgl. z.B. § 125 Abs. 2, § 1 2 6 Abs. 2); sowie die Zuständigkeit zufolge der Geschäftsverteilung (BGHSt. 13 380). Daraus ergibt sich, daß die funktionelle Zuständigkeit stets in mehrfacher Beziehung vorliegt, weil die Zuständigkeit immer auch nach der Geschäftsverteilung zu bestimmen ist. Bei Kollegialgerichten ist diese zudem in die Verteilung auf die Kammern (Senate) und die Bestimmung der Mitglieder dieser Gerichtskörper geschieden (§ 63 Abs. 1 GVG). Zur Feststellung der Zuständigkeit ist in jedem Fall nach den Bestimmungen, die in der Strafprozeßordnung und im Gerichtsverfassungsgesetz enthalten oder diesen Gesetzen durch Auslegung zu entnehmen sind, die sachliche, die örtliche und die geschäftliche Zuständigkeit festzustellen. Alle drei zusammen ergeben erst die richtige Zuständigkeit ( B a u m b a c h - L a u t e r b a c h ZPO 1 vor § 1). Alle drei Zuständigkeiten, die funktionelle meist in mehrfacher Beziehung, sind von dem angerufenen Gericht von Amts wegen zu prüfen, bis eine Entscheidung ergangen oder — im Ermittlungsverfahren oder beim ersuchten Richter — die nachgesuchte oder gebotene Amtshandlung vorgenommen ist (OLG Nürnberg NJW 1963 502), soweit nicht das Gesetz — wie in §§ 18,269 — Ausnahmen verordnet. Das Rechtsmittelgericht prüft die sachliche Zuständigkeit des Gerichts, das das angefochtene Urteil erlassen hat, von Amts wegen (BGHSt. 18 83), die örtliche ( M ü l l e r S a x 5a zu § 338) und die funktionelle Zuständigkeit (BGHSt. 13 378) nur auf Rüge. 4. Zuständigkeitsstreit. Im Gegensatz zu der ausdrücklichen Regelung, die in § 12 getroffen worden ist, um einen Streit über die örtliche Zuständigkeit dann auszuschließen, wenn mehrere Gerichte die Sache für sich in Anspruch nehmen, läßt die Strafprozeßordnung eine Vorschrift darüber vermissen, wie ein in bezug auf die sachliche Zuständigkeit entstandener positiver Kompetenzkonflikt zu lösen ist. Das Gesetz bietet jedoch, wie I 2 Abs. 2 zu § 12 ausgeführt, keinen Anhalt für die Annahme, § 12 habe nur Gerichte gleicher Ordnung im Auge; vielmehr ist der Zuständigkeitsregelung des Gerichtsverfassungsgesetzes zu entnehmen, daß § 12 auch dann gilt, wenn neben mehrfacher örtlicher Zuständigkeit auch verschiedene sachliche Zuständigkeit gegeben ist. Aber noch darüber hinaus beanspruchen die zu § 12 gewonnenen Ergebnisse allgemeine Gültigkeit. Denn der Grundsatz der Prävention (I 1 zu § 12) und die weiter zum Vorrang entwickelten Regeln — umfassende Zuständigkeit (14 zu § 12); Erlöschen des Vorrangs, wenn die nicht vorrangige Sache rechtskräftig entschieden worden ist (I 5 Abs. 3 zu § 12) — sind, weil sie auf der Wirkung der Rechtshängigkeit beruhen, allgemeiner Natur und damit auf jedes Verfahren bezogen «BGHSt. 13 380; M ü l l e r — S a x 4 c vor § l : K 1 4 v o r § 1. 5 W a c h § 28 IV; R o s e n b e r g §30; Kl 4 vor § 1; M ü l l e r - S a x 1 c vor § 1.

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§ 1 Anm. 1,2

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

(RGSt. 29 179). Danach ist § 12 Abs. 1 auch dann entsprechend anzuwenden, wenn bei gleicher örtlicher verschiedene sachliche Zuständigkeit vorliegt. Für die Lösung eines positiven Kompetenzkonflikts über die sachliche Zuständigkeit gilt alsdann das zu § 12 Abs. 1 Ausgeführte entsprechend. Für eine entsprechende Anwendung von § 12 Abs. 2, der keinen allgemeinen Rechtsgedanken, sondern eine Sonderregelung für die örtliche Zuständigkeit enthält, ist kein Raum. Ein negativer Kompetenzkonflikt ist durch die Zuständigkeitsregelungen, die in den §§ 209, 269, 270, 328 Abs. 3, § 355 getroffen worden sind, im allgemeinen ausgeschlossen, doch sind seltene Ausnahmefalle denkbar. In diesen ist er durch entsprechende Anwendung der §§ 14 und 19 zu lösen (BGHSt. 18 381), wobei jedoch das obere Gericht nicht auswählen („bestimmen") kann, sondern bindend dasjenige Instanzgericht festzustellen hat, das nach den zu § 12 entwickelten Regeln das (allein) zuständige ist 10 . § 14 bezieht sich nur auf Gerichte, die (auch) zur Entscheidung berufen sind, nicht also auf die Untersuchungsrichter. F e i s e n b e r g e r (7 zu §6) sieht daher keine Lösungsmöglichkeit, wenn sowohl der Bundesgerichtshof als auch die Strafkammer den Antrag der Staatsanwaltschaft, die Voruntersuchung zu eröffnen, wegen Unzuständigkeit abgelehnt haben. In der Praxis wird dann in der Tat meist keine Voruntersuchung stattfinden. Es ist aber gleichwohl eine Lösung für den Fall zu suchen, wo die Voruntersuchung notwendig ist11. Hier wird man, indem man auf den in § 209 Abs. 1 enthaltenen Grundgedanken zurückgreift, dem Oberlandesgericht die Macht einräumen müssen, die Eröffnung der Voruntersuchung beim Untersuchungsrichter des Landgerichts anzuordnen.

§1 Die sachliche Zuständigkeit der Gerichte wird durch das Gesetz über die Gerichtsverfassung bestimmt. 1. Inhalt. Die Bestimmung ist eine inhaltsleere, entbehrliche Verweisungsvorschrift, die zudem unvollkommen ist, weil Vorschriften über die sachliche Zuständigkeit der Gerichte auch außerhalb des Gerichtsverfassungsgesetzes zu finden sind (1 vor § 1). Für die sachliche Zuständigkeit der Staatsanwaltschaften vgl. § 142 GVG. 2. Gerichte des ersten Rechtszuges sind die Amtsgerichte, die Landgerichte und die Oberlandesgerichte. Im ersten Rechtszug sind zuständig der Amtsrichter (§ 25 GVG), das Schöffengericht (§§ 28, 24 GVG), auch in der Form des erweiterten Schöffengerichts (§ 29 Abs. 2 GVG), die große Strafkammer (§ 74 Abs. 1, § 76 Abs. 2,2. Alternative GVG), das Schwurgericht (§ 80 GVG), das Oberlandesgericht (§ 120 Abs. 1 und 2, § 122 Abs. 2 GVG) und das Bayerische Oberste Landesgericht (§ 120 Abs. 2 Satz 2 GVG, § 9 EGGVG, Art. 22 Nr. 1 AGGVG 1 . In Jugendsachen sind zuständig: der Jugendrichter (§ 39 JGG), das Jugendschöffengericht (§ 40 Abs. 1 JGG) und die Jugendkammer (§ 41 Abs. 1 JGG). Berufungsgericht ist die Strafkammer (§ 74 Abs. 2 GVG) in der Form der kleinen und der großen Strafkammer (§ 76 Abs. 2 GVG). Als Revisionsgerichte sind zuständig das Oberlandesgericht (§121 Abs. 1 Nr. 1 GVG) — in Bayern das Bayerische Oberste Landesgericht — und der Bundesgerichtshof (§ 135 Abs. 1 GVG), als Beschwerdegerichte die Strafkammer (§ 73 Abs. 1 GVG), das Oberlandesgericht (§121 Abs. 1 Nr. 2 GVG) und der Bundesgerichtshof (§ 135 Abs. 2 GVG).

10

B u s c h LM 1 zu § 14; vgl. auch OLG Saarbrücken NJW 1959 1889. Beispiel: Die Tat, wegen der die Voruntersuchung stattfinden soll, unterfallt der Zuständigkeit des Schwurgerichts (§ 80 GVG). Die Strafkammer lehnt es ab, die Voruntersuchung zu eröffnen mit der Begründung, die Tat enthalte auch ein Delikt, das zur Zuständigkeit des Oberlandesgerichts gehöre (§ 120 Abs. 1 und 2 GVG). Dieses lehnt die Voruntersuchung gleichfalls ab, weil es die Ansicht der Strafkammer aus Rechtsgründen verneint. Der Angeschuldigte beantragt die Voruntersuchung (§ 178 Abs. 1 Satz 3). 1 Vom 17. 11. 1956 (BayBS III 3) in der Fassg. des Gesetzes vom 25. 7. 1969 (GVB1. 182).

11

206

Erster Abschnitt. Sachliche Zuständigkeit (Dünnebier)

§ 1

Anm. 3 , 4 3. Die Einteilung der Delikte in Verbrechen, Vergehen und Übertretungen wollte der Entwurf des Gerichtsverfassungsgesetzes nach französischem Vorbild auch für die Einteilung der Instanzen maßgeblich machen. Der Plan wurde jedoch im Laufe der Gesetzgebung schon weitgehend aufgegeben. Zufolge späterer Änderungen des Gerichtsverfassungsgesetzes kommt der Deliktseinteilung für die Bestimmung der sachlichen Zuständigkeit kaum noch Bedeutung zu, nachdem die erstinstanzliche Zuständigkeit des Oberlandesgerichts (§ 120 Abs. 1 und 2 GVG), des Schwurgerichts (§ 80 GVG) und der Spezialstrafkammer (§ 74a GVG) durch Kataloge festgelegt worden und die Zuständigkeit der Strafkammer für alle Verbrechen und Vergehen begründet ist, die von der Staatsanwaltschaft wegen der besonderen Bedeutung des Falles bei ihr angeklagt werden oder für die mehr als drei Jahre Freiheitsstrafe oder die Anordnung der Sicherungsverwahrung zu erwarten ist (§ 74 Abs. 1 in Vbdg. mit § 24 Abs. 1 Nr. 2 GVG). Die Deliktseinteilung spielt nur noch insofern eine Rolle, als für Übertretungen nur der Amtsrichter (§ 24 Abs. 1 Nr. 1, § 25 Nr. 1 GVG) zuständig ist 2 . 4. Für die Einordnung der Delikte in die Deliktsgruppen der Verbrechen, Vergehen und Übertretungen ist entscheidend die angedrohte Regelstrafe; wenn das Gesetz verschiedene Strafen androht, die schwerere, und zwar auch dann, wenn im Einzelfall die mildere ausgeworfen wird (BGHSt. 2 393). Milderungen oder Schärfungen, die nach den Vorschriften des Ersten Teils des Strafgesetzbuchs oder bei mildernden Umständen, bei minder schweren, besonders schweren oder ähnlichen allgemein umschriebenen Fällen vorgesehen sind, bleiben für die Deliktseinteilung außer Betracht (§ 1 Abs. 4 StGB). Danach sind der besonders schwere Fall einer Übertretung (BGHSt. 3 47) sowie der minder schwere Fall eines Verbrechens keine Vergehen und der besonders schwere Fall eines Vergehens kein Verbrechen (BGHSt. 2 181). Qualifizierte Straftaten (z. B. § 118, § 221 Abs. 3, § 224, § 226, § 239 Abs. 2 und 3, § 321 Abs. 2 StGB) sind nach ihrer Strafandrohung zu beurteilen, doch sind besonders schwere Fälle selbst dann keine qualifizierten Tatbestände, wenn ihnen ein benannter Fall als Beispiel beigefügt ist (§ 1 Abs. 4 StGB). Bei der Bestimmung des Verbrechens findet zwischen der vollendeten Tat und dem Versuch, zwischen Täterschaft und Teilnahme kein Unterschied statt. Die Strafmilderungen für Versuch (§ 44 StGB), Beihilfe (§ 49 Abs. 2 StGB), im Falle des § 51 Abs. 2 StGB und beim Verbotsirrtum (BGHSt. 2 209) sind ohne Einfluß. Verletzt eine Straftat in Idealkonkurrenz mehrere Strafgesetze, so bestimmt sich die Zuständigkeit nach dem schwereren Gesetz. Realkonkurrenz verändert die Deliktsart und damit, wo auf diese (§ 24 Abs. 1 Nr. 1 GVG) und nicht auf die Strafhöhe (§ 24 Abs. 1 Nr. 2 GVG; vgl. § 462 a) abgestellt ist, auch die Zuständigkeit nicht. Somit bleibt der Amtsrichter auch dann zuständig, wenn jemand eine Mehrzahl von Übertretungen begangen hat und die Summe der zu verhängenden Geldstrafen den Betrag von 500 DM (§ 27 Abs. 2 Nr. 2 StGB) übersteigt.

§2 (1) Zusammenhängende Strafsachen, die einzeln zur Zuständigkeit von Gerichten verschiedener Ordnung gehören würden, können verbunden bei dem Gericht anhängig gemacht werden, dem die höhere Zuständigkeit beiwohnt. (2) Aus Gründen der Zweckmäßigkeit kann durch Beschluß dieses Gerichts die Trennung der verbundenen Strafsachen angeordnet werden.

2

Vom 1 . 1 0 . 1973 an wird es keine Übertretungen mehr geben (Art. 1 § 12 Abs. 1 und 2, Art. 7 des Zweiten Gesetzes zur Reform des Strafrechts vom 4 . 7 . 1969 — BGBl. 1717). Es ist bedauerlich, daß trotz des Wegfalls der Zuchthausstrafe der Begriff „Verbrechen" beibehalten werden soll (§ 12 Abs. 1). Er hat dann — außer dem stigmatisierenden Nachteil für den Täter — nur die Funktion einer gesetzestechnischen Vereinfachung, die entbehrlich wäre, am ehesten in der Strafprozeßordnung.

207

§2

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

Anm. I; II 1 Übersicht I. Vorbemerkung II. Gerichte verschiedener Ordnung 1. Erstinstanzliche Zuständigkeit 2. Verschiedene Ordnung 3. Jugendgerichte 4. Ausnahmen III. Verbindung 1. Zweck 2. Zulässigkeit 3. Ermittlungsverfahren 4. Anhängigmachen

5. 6. 7. 8.

Prozeßlage Beschwerde Dauer Staatsanwaltschaft

IV. Trennung (Absatz 2) 1. Natur der Trennung 2. Zweck und Zulässigkeit 3. Zeitpunkt und Form 4. Gerichtsbeschluß, Beschwerde 5. Urteil V. Revision

I. Vorbemerkung. In den § § 2 bis 5 wird die Verbindung zusammenhängender Strafsachen bei verschiedener sachlicher Zuständigkeit, in § 13 diejenige bei verschiedener örtlicher Zuständigkeit geregelt. Berührt die Verbindung sowohl die sachliche als auch die örtliche Zuständigkeit, so sind, wie sich aus § 4 Abs. 2 ergibt, die § § 2 bis 4 maßgebend (RGSt. 45 167; BGHSt. 22 234). § 237 ermöglicht zur prozeßtechnischen Erleichterung die Verbindung mehrerer bei demselben Gericht anhängigen Sachen zum Zwecke gleichzeitiger Verhandlung, wenn damit kein Eingriff in die sachliche Zuständigkeit verbunden ist. Sind die Sachen noch nicht anhängig und berührt das Verbunden-anhängig-machen weder die örtliche noch die sachliche Zuständigkeit, so können Anklage und Eröffnungsbeschluß eine Mehrheit von Strafsachen gegen denselben Angeklagten oder mehrere Angeklagte umfassen, solange zwischen ihnen irgendein Zusammenhang besteht (RG GA 36 171). Nach der Eröffnung des Hauptverfahrens ist ein Verbindungsbeschluß zu fordern, für den aber nicht auf § 337 zurückgegriffen zu werden braucht, wenn die mehreren Sachen sich gegen denselben Angeklagten richten und dieselbe sachliche, örtliche und funktionelle Zuständigkeit (einschließlich der nach der Geschäftsverteilung) besteht. Eine solche Verbindung ist jederzeit und in allen Instanzen möglich und in der Regel geboten, um eine Gesamtstrafe bilden zu können. Der Sonderfall einer Teilverbindung (BGHSt. 4 153) ist ohne Rücksicht auf die Vorschriften über die sachliche und örtliche Zuständigkeit in § 79 StGB, mit Sonderregelung für die Zuständigkeit in § 460, § 462 Abs. 3 behandelt. Strafsache i. S. des § 2 ist das staatsanwaltschaftliche oder gerichtliche Strafverfahren gegen eine Person wegen eines geschichtlichen Vorgangs, der Tat i. S. des § 264, der in der Regel eine, zuweilen aber auch mehrere Straftaten, Handlungen i. S. von § 3 (3 zu § 3) umfaßt. Wann ein Zusammenhang besteht, ist in § 3 bestimmt, der recht unglücklich zwischen § § 2 und 4 eingeschoben ist. Als Definitionsbestimmung gehörte er an den Anfang der Verbindungsvorschriften; dort ist er jedenfalls zu lesen. II. Gerichte verschiedener Ordnung. 1. Erstinstanzliche Zuständigkeit. Ob Strafsachen zur Zuständigkeit verschiedener Gerichte gehören, bestimmt sich, wie sich aus § 2 („anhängig machen") ergibt, nach der Zuständigkeit des erkennenden Gerichts - nicht des Untersuchungsrichters (RGSt. 45 167) - der ersten Instanz (RGSt. 48 297), auch wenn die Sachen in höherer Instanz anhängig sind. Die Befugnis des höheren Gerichts zur Verbindung beruht auf dem Gedanken, daß die weiter reichende Zuständigkeit die weniger weit reichende in sich birgt (RGSt. 68 417). Im Falle des § 2 Abs. 1 können nur erstinstanzliche Sachen verbunden werden („anhängig machen"). Für § 4 Abs. 1 folgt eine solche Beschränkung weder aus dem Wortlaut noch aus dem Zweck der Verbindung, noch endlich aus prozessualen Notwendigkeiten.

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Erster Abschnitt. Sachliche Zuständigkeit (Dünnebier) § 2 Anm. II 2 - 4 ; III 1,2 2. Verschiedene Ordnung. Nach dem Gerichtsverfassungsgesetz ergibt sich die Stufenfolge: Amtsrichter (§ 25 GVG) - Schöffengericht (§§ 24, 28 G V G ' ) - große Strafkammer (§ 74 Abs. 1, § 74 a Abs. 1 GVG) - Oberlandesgericht (§ 120 Abs. 1 und 2 GVG). Das erweiterte Schöffengericht ist gegenüber dem dreigliedrigen Schöffengericht kein höheres Gericht (RGSt. 62 270), ebenso nicht die Strafkammer des § 74 a GVG gegenüber den anderen Strafkammern (BGHSt. 13 378; a.A. S c h w a r z NJW 1956 1306). Die kleine Strafkammer (§ 76 Abs. 2 , 1 . Alternative GVG) ist kein erstinstanzliches Gericht. 3. Jugendgerichte. Der Bundesgerichtshof hatte früher die Auffassung vertreten: Die Jugendgerichte seien wegen ihrer besonderen Aufgabe, Besetzung und Verfahrensregelung Gerichte besonderer Art innerhalb der ordentlichen Gerichtsbarkeit (BGHSt. 7 28). Daher bestehe zwischen Erwachsenen- und Jugendgericht grundsätzlich kein Rangverhältnis (BGHSt. 8 355), jedenfalls vom Jugendlichen aus gesehen (BGHSt. 9 403). Demzufolge sei das Jugendschöffengericht kein niederes Gericht im Verhältnis zur allgemeinen Strafkammer (BGHSt. 8 355). Das gelte aber nicht für Erwachsene. Für diese sei das Schwurgericht ein Gericht höherer Ordnung gegenüber der Jugendkammer (BGHSt. 9 403; 10 II) 2 . Hatte ein Angeklagter Taten teilweise als Erwachsener und teilweise als Jugendlicher begangen, dann sollte wieder der Gesichtspunkt der Besonderheit der Jugendgerichtsbarkeit durchschlagen mit der Wirkung, daß der höhere Rang der Erwachsenenstrafkammer zu verneinen und die Verbindung nur bei dem Jugendgericht zulässig sei (BGHSt. 8 353). Diese die Einheit der Strafgerichtsbarkeit preisgebende Betrachtungsweise hat der Große Senat für Strafsachen zugunsten der richtigen Auffassung aufgegeben, daß die Jugendgerichte im Gefüge der ordentlichen Strafgerichte stehen, ihnen nicht bloß äußerlich angegliedert, sondern wesensgleich sind, und zwar einen besonderen Geschäftskreis, aber keine andersartige sachliche Zuständigkeit haben (BGHSt. 18 82), mithin Spruchabteilungen der ordentlichen Gerichte sind (BGHSt. 22 51). 4. Ausnahmen. Strafsachen gegen Jugendliche und Erwachsene dürfen nur verbunden werden, wenn es zur Erforschung der Wahrheit oder aus anderen wichtigen Gründen geboten ist (§ 103 Abs. 1 JGG). Dabei hat das Jugendgericht den Vorrang, wenn das Schwergewicht bei dem Verfahren gegen den Jugendlichen liegt. § 103 Abs. 2 J G G hebt dies für den Fall der Verbindung durch Anklage (§ 2 Abs. 1, § 13 Abs. 1) hervor. — Eine Privatklagesache darf nicht gleichzeitig mit einem Offizialverfahren vor dem Schwurgericht verhandelt werden (§ 384 Abs. 4). Erhebt die Staatsanwaltschaft die öffentliche Klage (§ 376) oder übernimmt sie die Verfolgung (§ 377 Abs. 2), dann verliert die Sache die Eigenschaft als Privatklagesache i. S. des § 384 Abs. 4 (RGSt. 46 130). III. Verbindung. 1. Zweck. Die Verbindung ist eine Ermessensentscheidung aus Gründen prozessualer Zweckmäßigkeit. Sie erleichtert es, den Sachverhalt umfassend zu bearbeiten und verhilft dazu, Zusammenhänge zu erkennen. Sie erspart Doppelarbeit und verhindert, daß derselbe Sachverhalt verschieden beurteilt wird (BGHSt. 11 133). Sie ermöglicht, die Täterpersönlichkeit auf breiter und umfassender Grundlage sachgemäß zu beurteilen (BGHSt. 18 239) und vermeidet die unerwünschte nachträgliche Gesamtstrafenbildung (BGHSt. 4 153). Die Verbindung einer Sache mit einer anderen, in der bereits ein Teil der Hauptverhandlung stattgefunden hat, bringt die Gefahr mit sich, daß das Gericht sich von den Eindrücken des bisherigen Teils des ersten Verfahrens nicht freihält (BGH NJW 1953 836). Sie ist daher zweckmäßigerweise zu vermeiden. 2. Zulässigkeit. Mag auch in dem zuletzt genannten Fall die Verbindung unzweckmäßig sein, so hat doch der Angeklagte weder einen Anspruch darauf, daß mehrere Sachen verbunden werden, damit die Möglichkeit einer sonst (wegen vorläufiger Einstellung der einen 1 2

RGSt. 62 270; BGHSt. 9 402; 18 83; 176; 19 178; O L G Saarbrücken JBI. Saar 1964 16. In gleicher Weise wurde die Strafkammer (nur) für den Erwachsenen als ein gegenüber dem Jugendschöflengericht höheres Gericht angesehen ( D a l l i n g e r — L a c k n e r 6 Abs. 2 zu § 103 JGG; M ü l l e r — S a x 8; a.A. — Erwachsener kann zusammen mit einem Jugendlichen auch in Schwurgerichtssachen vor der Jugendkammer abgeurteilt werden — H e n k e l JZ 1957 565).

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§2

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

Anm. III 3 Sache) unmöglichen Gesamtstrafenbildung geschaffen werde (OLG Stuttgart NJW 1960 2353) oder damit auf diese Weise ein Zeuge gegen ihn ausscheide, noch darauf, daß eine Verbindung unterbleibt, damit ihm ein Zeuge erhalten bleibe (RG GA 45 262; BGHSt. 18 240 = LM 4 zu § 4 mit zust. Anm. G e y e r)3, wenn es auch unerwünscht (und praktisch erfolglos) ist, in der genannten Absicht so zu verfahren (vgl. auch IV 2). Auch die Gefahr, Prozeßvorschriften, namentlich die §§ 231 und 261, zu verletzen, machen die Verbindung — wie auch die Trennung — grundsätzlich nicht unzulässig. Der Angeklagte kann nur die im Zusammenhang mit der Verbindung begangenen Verfahrensfehler angreifen (zust. BGHSt. 18 239). Dabei kann schon die bloße Tatsache einer auffalligen Verbindung ein Beweisanzeichen dafür sein, daß das Gericht gegen § 261 verstoßen hat (BGH NJW 1953 836). Allerdings sind Fälle des Mißbrauchs des richterlichen Ermessens zu verfahrensfremden Zwecken nicht völlig undenkbar. Aber auch bei Verbindung zu verfahrensrechtlich gerechtfertigten Zwecken kann bei Abwägung mit den Interessen des Angeklagten ein Ermessensmißbrauch vorliegen, etwa wenn ihm ohne ersichtlichen Verfahrensgewinn auf diese Weise die Verteidigung durch den Anwalt seines Vertrauens unmöglich gemacht wird. Alsdann ist die Verbindung unzulässig. Durch die Verbindung können die Sachen nicht vor ein Gericht gebracht werden, das für keine der beiden Sachen zuständig ist 4 . 3. Ermittlungsverfahren. Die Staatsanwaltschaft kann schon im Ermittlungsverfahren — formlos durch interne Verfügung in den Sachakten — verbinden. Entscheidend ist der Ermittlungszweck, die Sache so rasch wie möglich aufzuklären. Daher kann im staatsanwaltschaftlichen Verfahren mit den Ermittlungen gegen einen bekannten Täter das Verfahren gegen einen unbekannten Beteiligten verbunden werden. Solange es zweckmäßig ist, die Ermittlungen getrennt zu führen, ist eine beabsichtigte Verbindung zunächst zurückzustellen oder es sind trotz Verbindung, die den Vorzug hat, die Sachen bei einem Sachbearbeiter zu vereinigen, die Akten für die einzelnen Fälle getrennt zu halten (Sonderakten). Nach Abschluß der Ermittlungen ist nach der Maßgabe des Verhandlungszwecks zu verbinden. Die vorgesetzte Staatsanwaltschaft kann die der nachgeordneten zugeteilten Sachen ohne weiteres von sich aus verfolgen oder an sich ziehen (§ 145 Abs. 1 GVG). Der Fall eines positiven Kompetenzkonflikts ist damit ausgeschlossen. Dem negativen Kompetenzkonflikt (die untere Behörde will nicht verfolgen, weil sie die obere für zuständig hält) wird durch das Weisungsrecht (§ 146 GVG) begegnet. Will eine höhere Staatsanwaltschaft Sachen einer niederen Staatsanwaltschaft aus einem fremden Bezirk übernehmen, so hat sie sich mit dieser zu einigen. Kommt keine Einigung zustande, so entscheidet, da es sich bei der Übernahme aus einem fremden Bezirk um die Regelung der örtlichen Zuständigkeit handelt, nach § 143 Abs. 3 GVG der beiden Staatsanwaltschaften gemeinsam vorgesetzte Beamte der Staatsanwaltschaft, wenn keiner vorhanden ist, der Generalbundesanwalt (§ 143 Abs. 3 GVG). Da § 143 Abs. 3 GVG nicht für Streitigkeiten über die sachliche Zuständigkeit gilt, bindet die Entscheidung des Generalbundesanwalts nicht, soweit in der Zuweisung an eine bestimmte Staatsanwaltschaft zugleich eine Bestimmung der sachlichen 3

Davon unabhängig ist die hier nicht zu behandelnde Frage, ob der aus dem Prozeß vorübergehend entlassene oder in einem getrennten Verfahren angeklagte, am gleichen Sachverhalt beteiligte, Angeklagte als Zeuge vernommen werden darf. Verneint man das, kann er durch eine Verbindung keine Zeugeneigenschaft verlieren. Wird bei dieser Anschauung die Prozeßrolle solange unaustauschbar beibehalten, bis der Beteiligte rechtskräftig aus dem Verfahren ausgeschieden ist, dann taucht auch die Frage nicht auf, ob durch Verbindung und Trennung Beweisverbote verletzt werden können. Zu den aufgeworfenen Fragen s. P e t e r s , Beweisverbote im Straßprozeß, Vhdlgen des 46. DJT I 3 A 136; F u c h s , Beweisverbote bei der Vernehmung des Mitbeschuldigten, NJW 1959 14; v . G e r l a c h JR 1969 149.

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Beispiele: Ist gegen einen Angeklagten wegen eines in Elberfeld begangenen Mordes die Voruntersuchung dort und gegen mehrere Angeklagte, darunter auch gegen jenen, in Bonn wegen Betruges anhängig, dann können die Sachen nur bei dem Untersuchungsrichter in Elberfeld, nicht bei dem in Bonn verbunden werden (RGSt. 45 167). Ist eine Sache bei dem Schwurgericht Hamburg, die andere bei dem Schöffengericht München anhängig, dann können nicht beide durch Beschluß des Bundesgerichtshofs beim Schwurgericht München verbunden werden, auch wenn dies wegen der leichteren Vernehmung von Zeugen wünschenswert wäre.

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Erster Abschnitt. Sachliche Zuständigkeit (Dünnebier)

§ 2 Anm. III 4 - 6

Zuständigkeit erblickt werden könnte. Insoweit ist die Bestimmung der zufolge der Zuweisung örtlich zuständig gewordenen höheren Staatsanwaltschaft maßgebend. Der Frage kommt praktische Bedeutung nur in den wenigen Ländern zu, wo selbständige Amtsanwaltschaften bestehen. 4. Anhängigmachen. Nach Abschluß des Ermittlungsverfahrens bewirkt die Staatsanwaltschaft die gerichtliche Verbindung dadurch, daß sie die bei ihr verbundenen Sachen — gleichgültig, ob die Verbindung nur die sachliche oder auch die örtliche Zuständigkeit betrifft — in einer und derselben Klage bei dem Gericht der höheren Zuständigkeit anhängig macht oder, solange das Gericht die Voruntersuchung oder das Hauptverfahren noch nicht eröffnet hat, bei dem bereits angegangenen höheren Gericht auch eine zur Zuständigkeit eines niederen Gerichts gehörige Sache anklagt und die gemeinschaftliche Eröffnung beantragt. Es ist selbstverständlich, daß in der Klage (namentlich bei dem Antrag auf Voruntersuchung) nicht mit dem Verfahren gegen einen benannten Angeklagten zugleich auch ein Verfahren gegen Unbekannt mit anhängig gemacht werden kann (OLG Hamburg A 1 s b. E l 44). Klage ist (§ 170 Abs. 1) der Antrag auf Eröffnung der Voruntersuchung (§ 179), die Anklage durch Anklageschrift (§ 199 Abs. 2) oder die mündliche Anklage im beschleunigten Verfahren (§ 212a Abs. 2 Satz 2). Der Anklage stehen gleich der Antrag im objektiven Einziehungsverfahren (§ 440 Abs. 1) und der Antrag im objektiven Geldbußenverfahren gegen juristische Personen (§ 444 Abs. 3). Die Privatklage (§ 381), der Antrag auf Erlaß eines Strafbefehls (§ 408 Abs. 1), der polizeiliche Antrag auf Erlaß einer Strafverfügung ( § 4 1 3 Abs. 2) und der Antrag des Finanzamts (Hauptzollamts) auf Erlaß eines Strafbefehls (§ 435 AO) scheiden für das Anhängigmachen i. S. des § 2 Abs. 1 aus, weil der in diesen Verfahren zuständige Amtsrichter (§ 25 Nr. 2 Buchst, a GVG, § 407 Abs. 1, § 413 Abs. 2) keine höhere Zuständigkeit als ein anderes Gericht haben kann. Die Verbindung mehrerer Sicherungsverfahren (§ 429a) fallt nicht unter § 2 Abs. 1, weil die Zuständigkeit nur der Strafkammer begründet ist ( § 4 2 9 b Abs. 3), mehrere Sicherungsverfahren daher stets zur gleichen Zuständigkeit gehören. Bei der denkbaren aber seltenen Verbindung von Straf- und Sicherungsverfahren steht der Antrag im Sicherungsverfahren der öffentlichen Klage gleich (§ 429 b Abs. 2 Satzl). Doch ist diese Verbindung ausgeschlossen, wenn sich Straf- und Sicherungsverfahren gegen dieselbe Person wegen derselben Tat richten (BGHSt. 22 186). 5. Prozeßlage. Aus dem Zweck der Verbindung (III 1) muß die Einschränkung hergeleitet werden, daß nur Sachen verbunden werden können, die sich in derselben Verfahrenslage befinden. Danach ist es unzulässig, zwei Sachen zu verbinden, von denen sich eine in Voruntersuchung befindet, während bei der anderen das Hauptverfahren eröffnet worden ist (BGHSt. 18 130; K o h 1 h a a s LM 3 zu § 4). Desgleichen können nicht zwei Sachen verbunden werden, deren eine zur Tatsachen-, die andere zur Revisionsverhandlung ansteht, mag auch in beiden der genannten Fälle jeweils die eine Sache in der ersten Instanz vor ein niederes Gericht gehören als die andere. D a die Verbindung nur zu der Sache möglich ist, für welche die erstinstanzliche höhere Zuständigkeit gegeben ist, und da die untere Instanz nicht die Aufgaben der höheren übernehmen kann, ist die Verbindung einer in erster Instanz schwebenden Schöffengerichtssache mit einer Einzelrichtersache, die sich in der Berufungsinstanz befindet, unzulässig (OLG Hamburg N J W 1958 1698). 6. Beschwerde. Beläßt es das Gericht oder der Untersuchungsrichter bei der von der Staatsanwaltschaft vorgenommenen Verbindung, so steht dem Angeklagten gegen die (verbindende) Eröffnung des Hauptverfahrens kein Rechtsmittel (§ 210 Abs. 1), gegen die Eröffnung der Voruntersuchung nur der nach § 181 beschränkte Einwand zu. In Betracht käme nur der der Unzuständigkeit ( § 1 8 1 Abs. 1 Satz 1 in Vbdg. mit § 180 Abs. 1). Dieser Einwand kann aber nicht erhoben werden, weil durch die Verbindung die Zuständigkeit des an sich unzuständigen Untersuchungsrichters begründet wird. Auch im übrigen ist keine Beschwerde gegeben. Denn wenn der Untersuchungsrichter mit einer schon eröffneten Sache eine weitere verbindet, eröffnet er die Voruntersuchung auch insoweit, so daß das im letzten Satz Gesagte gilt. 211

§ 2 Anm. III 7,8; IV 1

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

7. Dauer. Nachdem das Hauptverfahren eröffnet worden ist, wird die Verbindung nicht dadurch wieder aufgehoben, daß der Zusammenhang erlischt, das Urteil gegen einen von mehreren Angeklagten rechtskräftig wird (RGSt. 48 121, BGH MDR 1955 755) oder die Sache, für welche das Gericht höherer Ordnung an sich zuständig ist, völlig (z. B. durch den Tod des Angeklagten) in Wegfall kommt 5 . Doch kann das Gericht die früher verbundenen Verfahren wieder trennen. Der Bundesgerichtshof hatte früher ausgesprochen, daß wegen der Besonderheiten des jugendgerichtlichen Verfahrens die durch Verbindung einer Strafsache gegen einen Jugendlichen mit einer Sache gegen einen Erwachsenen begründete Zuständigkeit des Erwachsenengerichts für den Jugendlichen entfalle, wenn die Strafsache gegen den Erwachsenen vorweg rechtskräftig abgeschlossen wird (BGH LM 1 zu JGG § 103), ebenso wenn der Jugendliche aus einem Verfahren rechtskräftig ausgeschieden ist, das mit dem gegen einen Erwachsenen vor dem Jugendgericht verbunden anhängig gemacht war. Es ist indessen kein Grund ersichtlich, warum ein Gericht, das einmal zuständig war (und damit zur Aburteilung auch des an sich vor eine andere Kammer oder Abteilung gehörigen Angeklagten für kompetent erachtet wurde), seine Kompetenz durch Teilerledigung verlieren müßte. Nachdem der Bundesgerichtshof erkannt hat, daß die Jugendgerichtsbarkeit ein Zweig der Strafgerichtsbarkeit (BGHSt. 18 83), das Jugendgericht eine Spruchabteilung des ordentlichen Gerichts (BGHSt. 22 51) ist, muß die Rechtsprechung als überholt angesehen werden6. Die durch die Verbindung begründete Zuständigkeit endet nur durch Trennung. 8. Staatsanwaltschaft. Für die Verbindung bei der Staatsanwaltschaft gilt der Grundsatz der Fortdauer der Verbindung nicht. Wird daher das Verfahren eingestellt, das die Zuständigkeit der höheren Staatsanwaltschaft begründet hatte, so erlischt die Verbindung. Hatte die Staatsanwaltschaft das Verfahren nach § 145 GVG an sich gezogen, so steht es ihr frei, die Sache zu behalten oder abzugeben. Hatte sie das verbleibende Verfahren jedoch, weil mit der Verschiebung der sachlichen Zuständigkeit zugleich eine solche der örtlichen verbunden war, im Wege der Einigung von einer auswärtigen Staatsanwaltschaft übernommen oder vom Generalbundesanwalt zugewiesen erhalten, so muß sie es, weil kein örtlich zuständiges Gericht vorhanden ist, nach dem sich ihre Zuständigkeit bestimmen könnte (§ 143 Abs. 1 GVG), an die auswärtige Staatsanwaltschaft abgeben, es sei denn, daß inzwischen, etwa durch Zuzug des Beschuldigten in den eigenen Bezirk der Staatsanwaltschaft, ihre Zuständigkeit begründet worden ist. IV. Trennung (Absatz 2). 1. Natur der Trennung. Für die Trennung gelten im allgemeinen die Ausführungen für die Verbindung (III 1) entsprechend, doch ergeben sich einige Besonderheiten aus der Natur der Trennung: Nach § 237 können bei demselben Gericht anhängige Sachen im Falle irgend eines Zusammenhanges jederzeit zum Zwecke gleichzeitiger Verhandlung verbunden und auch jederzeit wieder getrennt werden. Über diese lose Verhandlungsverbindung greift die Sachverbindung der §§ 2 und 4 hinaus; sie macht die verbundenen Sachen zu einem einheitlichen Prozeß, doch umfaßt die Sachverbindung stets die Verhandlungsverbindung. In dem einheitlichen Prozeß kann sich die Notwendigkeit ergeben (etwa wegen vorübergehender Erkrankung eines Angeklagten), die von der Sachverbindung umfaßte Verhandlungsverbindung zu lösen, entweder mit der Absicht, sie später wieder herzustellen oder mit dem Ziele, einen Teil des Prozesses getrennt zum Abschluß zu bringen. Dieses Recht ergibt sich aus § 237, der dem Gericht mit der Befugnis zur Verbindung stillschweigend auch 5

E b S c h m i d t (6 zu 5) nimmt an, daß die Auflösung des Zusammenhangs die Verbindung löse, ist aber dadurch gezwungen, in § 6 die Worte „für die Dauer der Verbindung" in „für die Dauer der Anhängigkeit" umzudeuten. Zwar führt diese Auslegung zu dem gleichen Ergebnis wie die hier vertretene Auffassung, doch wird sie dem Begriff der „Dauer der Verbindung" nicht gerecht. Vertagung, Teilverurteilung usw. mögen den Zusammenhang gelöst erscheinen lassen, heben aber die Verbindung nicht auf. Schon technisch bleiben die Sachen verbunden. Auch können Entscheidungen in bezug auf die gesamte Sache weiterhin notwendig sein (z.B. nach § 111), nachdem der Zusammenhang gelöst worden ist.

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Ebenso D a l l i n g e r — L a c k n e r

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12; teilweise abweichend G r e t h l e i n 4a, beide zu § 103 JGG.

Erster Abschnitt. Sachliche Zuständigkeit (Dünnebier)

§ 2 Anm. IV 2

die gibt, sie wieder aufzuheben. Die Trennung in § 2 Abs. 2 (und in § 4 Abs. 1) ist daher mehr als bloße Verhandlungstrennung; nämlich die Auflösung der nach §§ 2, 4 herbeigeführten Sachverbindung mit der Folge, daß die abgetrennte Sache in die alte Zuständigkeit zurückfallt. Mit der Möglichkeit einer solchen Wiederherstellung des Zustandes vor der Verbindung hat der Gesetzgeber zugleich eine Ausnahme von § 269 begründet. Wollte man das verneinen 7 , müßte man die Trennung als bloße Verhandlungstrennung auffassen und damit § 2 Abs. 2 (ebenso wie § 4 Abs. 1), soweit er sich auf die Trennung nach Eröffnung des Hauptverfahrens bezieht, als inhaltsleer bezeichnen. Da der Gesetzgeber die Trennung gerade auch nach Eröffnung des Hauptverfahrens zugelassen hat, stellt sich die Vorschrift insoweit eindeutig als eine, auch durchaus praktische, Ausnahme von § 269 dar. Die gegen diese systemimmanente Auslegung gerichtete Auffassung, mit dem Übergang auf das niedere Gericht als Folge der Trennung, werde der Satz beeinträchtigt, daß durch keine willkürliche Maßnahmen die Sache auf einen anderen als den gesetzlichen Richter verschoben werden dürfe (OLG Hamburg MDR 1970 523), schlägt nicht durch. Die gesetzlich zugelassene Trennung ist Gesetzesausübung und keine Willkür. Der Übergang einer Sache an ein anderes Gericht ist alltäglich (Beispiele 3 vor § 7). Gesetzlicher Richter ist nicht nur der „von vornherein" genau bestimmte, sondern auch jeder Richter, dem durch die Anwendung des Gesetzes die Sache zufallt. Das Gericht muß sich daher stets klar entscheiden, ob es nur die Verhandlungs- oder auch die Sachverbindung lösen will. Im ersten Falle gilt das bei § 237 Ausgeführte; im letzteren Falle ergeben sich nachstehende Folgerungen: 2. Zweck und Zulässigkeit. Bloße Notwendigkeiten des Verfahrens, so die vorübergehende Erkrankung eines Angeklagten, werden in der Regel die Aufhebung der Sachverbindung nicht rechtfertigen. Namentlich gehört das nach ursprünglichen Bedenken (RGSt. 69 22) zugelassene Trennen und Wiederverbinden zu dem Zweck, den Angeklagten während ihn nicht angehender Teile der Hauptverhandlung von der Anwesenheit zu entbinden (RG JW 1935 2980; RGSt. 69 362, 70 67), nicht hierher; es ist nach § 237 zu behandeln. Auch die für zulässig erachtete (RG GA 36 170; BGH NJW 1964 2397), aber fragwürdige und nutzlose 8 Trennung zu dem Zwecke, einen bisherigen Mitangeklagten als Zeugen zu vernehmen (vgl. auch III 2), wird grundsätzlich nicht zur Aufhebung der Sachverbindung führen, weil in der Regel in Aussicht genommen wird, die getrennten Sachen demnächst wieder zu verbinden. Immerhin ist zu bemerken, daß der Angeklagte keinen Anspruch darauf hat, daß verbundene Sachen verbunden bleiben, damit nicht ein Mitangeklagter Zeuge werde, noch darauf, daß verbundene Sachen getrennt werden, damit er einen Mitangeklagten als Zeugen gewinne (RGSt. 6 279; 52 140, 289; 54 107). In Betracht kann die Trennung etwa kommen, wenn der Angeklagte im Falle eines mittelbaren Zusammenhangs mit anderen Angeklagten an seinem Wohnort angeklagt, nachträglich aber an den Tatort der ihn betreffenden Haupttat verzogen ist, wo auch die Zeugen wohnen, oder wenn bei persönlichem Zusammenhang der Verhandlung der Tat, welche die Zuständigkeit des höheren Gerichts begründet hat, Hindernisse für eine unabsehbare Zeit entgegenstehen, während eine mit ihr verbundene, an sich zur Zuständigkeit eines niederen Gerichts gehörige Sache vor diesem alsbald verhandelt werden kann. Unzulässig ist die Trennung, wenn dadurch ein Teil des geschichtlichen Vorgangs i. S. des § 264 abgetrennt würde. Daher können Einzelfalle einer fortgesetzten Handlung oder eines Kollektivdelikts nicht abgetrennt werden. Für ein ideell konkurrierendes Delikt versteht sich das von selbst (E b S c h m i d t 3 zu § 3). Wegen der Ausscheidung einzelner abtrennbarer Teile einer Tat oder einzelner von mehreren Gesetzesverletzungen s. § 154 a. 7

So OLG Hamburg MDR 1970 253; E b S c h m i d t 11 (anders 4 zu §269). Unklar S c h w K l , 28. Aufl., 5, wo einmal ausgeführt wird, daß durch die Trennung die Wirkung des § 5 aufgehoben werde, andererseits, daß der Trennung aus Zweckmäßigkeitsgründen § 269 entgegenstehe (dagegen mit Recht OLG Hamburg MDR 1970 253). Wie hier M ü l l e r - S a x 5a. 8 Weitergehend BGH GA 1968 305 = JR 1969 148: Es ist unzulässig, das Verfahren gegen einen Mitangeklagten zu dem Zweck abzutrennen, ihn in dem Verfahren gegen die übrigen Mitangeklagten als Zeugen zu vernehmen, wenn er zu dem auch ihm zur Last gelegten Tatgeschehen gehört werden soll. — Hier ist zwar die Vernehmung als Zeuge unzulässig, nicht aber die Trennung, wenn sie etwa zu einer unbefangenen Aussage führen soll.

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§2

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

Anm. IV 3 - 5 ; V 3. Zeitpunkt und Form. Bis zur Eröffnung der Voruntersuchung oder des Hauptverfahrens kann die Staatsanwaltschaft verbunden anhängig gemachte Sachen durch Klagerücknahme wieder trennen. Das Gericht trennt verbunden anhängig gemachte Sachen (§ 2 Abs. 1) dadurch, daß es die eine Sache bei sich, die andere vor dem niederen Gericht eröffnet (§ 209 Abs. 1). Über die Trennung verbunden anhängig gemachter Voruntersuchungssachen entscheidet das Gericht. Hat das Gericht das Hauptverfahren in bezug auf verbunden anhängig gemachte Sachen eröffnet, so kann es sie jederzeit, schon in dem Verfahren zur Vorbereitung der Hauptverhandlung, aber auch nachdem das Hauptverfahren eröffnet worden ist, nach Absatz 2 wieder trennen. § 270 findet keine Anwendung. 4. Gerichtsbeschluß, Beschwerde. Trennt man scharf zwischen der Verhandlungstrennung und der Sachtrennung, so ist bei letzterer stillschweigende Trennung nicht möglich. Denn die Sachtrennung bewirkt den Übergang der abgetrennten Sache in der Lage, in welcher sie sich zur Zeit der Entscheidung befindet, auf dasjenige Gericht, welches für sie an sich zuständig ist. Dazu ist ein Beschluß erforderlich, wenn er auch, wie etwa bei der Eröffnung vor einem niederenGericht, nicht ausdrücklich die Trennung auszusprechen braucht. Namentlich liegt keine stillschweigende Sachtrennung sondern nur eine Verhandlungstrennung vor bei Einstellungen nach § 205 wegen vorläufiger Abwesenheit eines von mehreren Angeklagten oder bei Vertagung gegen einen von mehreren Angeklagten zum Zwecke weiterer Beweiserhebung oder bei Einstellung mit Wiederaufnahmemöglichkeit (§ 154 Abs. 2 in Vbdg. mit Absatz 1, § 154 a Abs. 1, § 154 b Abs. 5 in Vbdg. mit Absatz 1 und 2). Als Entscheidungsmöglichkeiten kommen in Betracht: Bei der Teileröffnung vor einem niederen Gericht hat die Trennung die Form des Eröffnungsbeschlusses, den der Angeklagte nicht, die Staatsanwaltschaft mit der sofortigen Beschwerde anfechten kann (§210 Abs. 2). Trennt das Gericht von verbunden anhängig gemachten Voruntersuchungssachen die eine ab, so lehnt es insoweit die Voruntersuchung ab und eröffnet damit der Staatsanwaltschaft die sofortige Beschwerde (§ 183). Soweit das Gericht nach der Eröffnung des Hauptverfahrens entscheidet, sind seine Entscheidungen nicht der Beschwerde unterworfen (§ 305), doch bleibt das Recht zur Beschwerde gewahrt gegenüber Beschlüssen, die nur hemmend auf das Verfahren einwirken (4 Abs. 3 zu § 305). Das ist denkbar bei Trennungsbeschlüssen, wenn dadurch unzweckmäßigerweise die Verhandlung verzögert wird. Im Beschwerdeverfahren setzt das Beschwerdegericht sein Ermessen an die Stelle desjenigen des Vorderrichters. Es hat daher den angefochtenen Beschluß voll und damit auch die Ermessensentscheidung nachzuprüfen'. 5. Urteil. Ausnahmsweise kann die Trennung auch durch Urteil vorgenommen werden. Das ist der Fall, wenn verbundene Sachen in der Revisionsinstanz teilweise rechtskräftig werden und die nicht rechtskräftige Sache für sich allein zur Zuständigkeit eines Gerichts gehört, das demjenigen nachgeordnet ist, welches das Urteil über die verbundene erlassen hatte. In diesem Fall kann das Revisionsgericht die Sache wegen der noch in Frage kommenden strafbaren Handlung an das Gericht niederer Ordnung verweisen (§ 354 Abs. 3) und damit die Trennung herbeiführen. V. Revision. Mit der Revision kann nur gerügt werden, daß die gesetzlichen Voraussetzungen für eine Verbindung oder für eine Trennung nicht vorgelegen hätten 10 ; daß ein unzuständiges Gericht (etwa das niedere anstelle des höheren) die Verfahren verbunden habe oder daß der Beschluß nicht in der vorgeschriebenen Weise zustandegekommen sei11. Dagegen kann — anders als im Beschwerdeverfahren (IV 4) — nicht beanstandet werden, daß der Tatrichter sein Ermessen, ob er verbinden oder trennen oder die Sachen getrennt oder verbunden lassen wolle, falsch ausgeübt habe (BGH NJW 1953 836). Wohl aber 9

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BayObLGSt. 1953 87; M ü l l e r - S a x 7Abs. 2 zu § 4; a.A. - Ermessen nicht überprüfbar - O L G Hamm HESt. 2 102; E b S c h m i d t 16 zu § 4. Beispiel: Eine erstinstanzliche Einzelrichtersache wird mit einer vor der kleinen Strafkammer — keinem Gericht erster Instanz (II 2) — schwebenden Berufungssache verbunden (RGSt. 48 297). Beispiel: Die Strafkammer trennt in einer Verhandlungspause in Beschlußbesetzung ab.

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Erster Abschnitt. Sachliche Zuständigkeit (Dünnebier)

§ 3 Anm. 1—3

kann der Mißbrauch des Ermessens (III 2 Abs. 2) gerügt werden (BGHSt. 18 239). Im übrigen ist der Angeklagte auf die Rüge angewiesen, daß im Zusammenhang mit Verbindung oder Trennung ein anderer Verfahrensfehler begangen, namentlich § 231 oder § 261 verletzt sei (RGSt. 67 417; BGH NJW 1953 836). Ist es durch unsachliche Trennung unmöglich gemacht worden, eine Gesamtstrafe zu bilden, so muß das später erkennende Gericht das bei der Strafzumessung berücksichtigen (OLG Stuttgart NJW 1960 2383). Durch eine zufolge Trennung herbeigeführte Abwesenheit eines Mitangeklagten allein ist ein Angeklagter in der Regel ebensowenig beschwert (RGSt. 38 272) wie dadurch, daß zufolge einer Verbindung ein Zeuge Angeklagter wird (III 2, IV 2).

§3 Ein Zusammenhang ist vorhanden, wenn eine Person mehrerer strafbarer Handlungen beschuldigt wird, oder wenn bei einer strafbaren Handlung mehrere Personen als Täter, Teilnehmer, Begünstiger oder Hehler beschuldigt werden. 1. Zusammenhang. Der Zusammenhang muß sowohl im Falle des § 2 als auch des § 4 vorliegen. Der Begriff ist auch für § 13 maßgebend. Für die §§ 2 und 4 erfahrt er dadurch eine Ergänzung, daß beide (RGSt. 10 10) Vorschriften sich nur mit solchen zusammenhängenden Sachen befassen, die in erster Instanz (II 1 zu § 2) einzeln zur Zuständigkeit verschiedener Gerichte gehören würden ( § 2 Abs. 1; BGHSt. 4 153). § 3 zählt die Fälle des Zusammenhangs, die eine Verbindung nach den §§ 2 bis 4 begründen, erschöpfend auf. Andere Fälle eines tatsächlichen Zusammenhangs (§ 237) rechtfertigen die Verbindung nicht. Hat z. B. in der Untersuchung gegen A der Zeuge B einen Meineid geleistet, so besteht kein Zusammenhang i. S. des § 3; er liegt jedoch vor, wenn A den B zum Meineid angestiftet hat. Handelt es sich um mehr als zwei Strafsachen, so hängt die Zulässigkeit der Verbindung nicht davon ab, daß sie alle mit der Strafsache, für die das Gericht höherer Ordnung zuständig ist, unmittelbar zusammenhängen. Ein mittelbarer, durch eine andere Sache vermittelter Zusammenhang genügt. Hat die Staatsanwaltschaft gegen A wegen besonders schweren Raubes (§ 251 StGB) und gegen B wegen Begünstigung dazu (§ 257 Abs. 1 StGB) Anklage beim Schwurgericht erhoben, so kann sie dort auch eine Klage gegen B wegen Sachbeschädigung (§ 303 StGB) anhängig machen. 2. Für eine Mehrheit von Straftaten kommen folgende beide Möglichkeiten in Betracht: Persönlicher oder subjektiver Zusammenhang liegt vor, wenn einem und demselben Beschuldigten vorgeworfen wird, durch mehrere selbständige Handlungen mehrere Verbrechen oder Vergehen oder dasselbe Verbrechen oder Vergehen mehrmals begangen zu haben (§ 74 StGB). Der Fall ist nicht gegeben und die §§ 2 bis 4 sind nicht entsprechend anwendbar, wenn zwei verschiedenartige Verfahren, ein subjektives Strafverfahren (§ 200) und ein objektives Sicherungsverfahren (§ 429), wegen derselben Tat gegen dieselbe Person laufen. In diesem Falle ist die Verbindung ausgeschlossen und nach § 12 zu verfahren (BGHSt. 22 186). Sachlicher oder objektiver Zusammenhang wird durch die Beziehung zu einer und derselben Handlung hergestellt, an der mehrere Personen beschuldigt werden, als Täter, Teilnehmer, Begünstiger oder Hehler mitgewirkt zu haben. Die mehreren Täter können sachlich-rechtlich Mittäter, Nebentäter (RGSt. 25 17, 34 258, 43 296) oder notwendige Beteiligte sein, oder zu demselben rechtswidrigen Erfolg durch ihre Fahrlässigkeit, mag diese auch bei jedem anders gestaltet sein (vgl. RGSt. 64 379), beigetragen haben. Begünstiger und Hehler bedeuten hier dasselbe wie in den §§ 257 bis 259 StGB, namentlich umfaßt die Begünstigung sowohl die persönliche (BGHSt. 18 238) als auch die sachliche1. 3. Handlung. Was man in § 3 unter Handlung zu verstehen hat, ist umstritten. Das Reichsgericht hatte — allerdings anläßlich einer Entscheidung zu § 357 — als Teilnehmer 1

Beispiel: Verbreiten eines und desselben Korrespondenzartikels durch mehrere Redakteure (RG G A 55 109), dagegen nicht Druck und Nachdruck eines beleidigenden Artikels (RGSt. 4 2 133).

215

§3

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

Anm. 3 i. S. des § 3 alle diejenigen angesehen, die in strafbarer Weise bei demselben geschichtlichen Vorgang, innerhalb dessen die Tat liegt, in derselben Richtung mitgewirkt haben (RGSt. 71 252). Es hatte damit wohl auf den prozeßrechtlichen Begriff der Tat (§ 264 Abs. 1) abgestellt2. K l e i n k n e c h t kommt zu dem gleichen Ergebnis aufgrund folgender Erwägungen: Bei persönlichem Zusammenhang umfasse die Untersuchung (§ 12) schon nach dem Grundsatze des Vorranges die Tat i. S. des § 264 Abs. 1. Deshalb müsse die strafbare Handlung im ersten Falle des § 3 den gesamten historischen Vorgang, die Tat i. S. des § 264 Abs. 1, ergreifen. Denn wenn man den Handlungsbegriff auf die Tat im sachlich-rechtlichen Sinne beschränke, könne das Gericht nach § 4 einen Teil des historischen Vorgangs abtrennen. Das sei ihm — und das ist zutreffend — nach § 264 Abs. 1 verwehrt. Seine Auslegung des ersten Falles des § 3 überträgt K l e i n k n e c h t auf den zweiten, den sachlichen Zusammenhang, mit der Begründung, daß der Begriff der strafbaren Handlung nicht in beiden Alternativen verschieden ausgelegt werden könne. Der Bundesgerichtshof befaßt sich nur mit der zweiten Alternative, d.h. mit dem Fall der Tätermehrheit. Er hält es für bedenklich, den Tatbegriff des § 264 Abs. 1 StPO „mit seinen unvermeidlichen Unklarheiten" auf § 3 zu übertragen und fordert für die Zuständigkeit (§§ 2, 4) und den Gerichtsstand (§ 13) eine Rechtslage, die so klar und eindeutig ist, wie die praktischen Belange der Strafrechtspflege es irgend zulassen. Deshalb versteht er, soweit § 3 den Fall betrifft, daß mehrere Beteiligte einer strafbaren Handlung beschuldigt werden, diesen Begriff i.S. des sachlichen Strafrechts (BGHSt. 11 133)3. Dem Bundesgerichtshof ist zuzustimmen. Freilich beruhen die §§ 2 und 4 auf der Vorstellung, daß dem Beschuldigten durch die Übertragung auf das höhere Gericht kein Nachteil sondern eher ein Vorteil entsteht, und § 13 auf der, daß alle Gerichte der gleichen Instanz dem Angeklagten die gleichen Garantien bieten. Von diesem Gedanken aus ist eine enge Auslegung des Begriffs der strafbaren Handlung nicht erforderlich. Sie ist aber durch Art. 102 Abs. 1 Satz 2 GG geboten. Diese Bestimmung verlangt, daß der gesetzliche Richter soweit als irgend möglich bei der Anklage eindeutig bestimmbar ist. Unterstützend kommt hinzu, daß der Wortgebrauch der Strafprozeßordnung auf den sachlich-rechtlichen Begriff hinweist ( F r ä n k e l LM zu § 3). Entschließt man sich danach, die Worte „strafbare Handlungen" im sachlich-rechtlichen Sinne zu verstehen, so muß man im Auge behalten, daß im Falle des persönlichen Zusammenhangs der Begriff des Vorrangs den Prozeßgegenstand, die Strafsache der §§ 2 und 4, in dem Sinne des § 264 Abs. 1 bestimmt, ohne daß für eine Verbindung oder Trennung Raum wäre ( K l e i n k n e c h t 357). Der gewonnene Begriff der strafbaren Handlung wird daher durch den Begriff der Prävention für den Fall des subjektiven Zusammenhangs wieder modifiziert. Das aber ist beim Zusammentreffen mehrerer Prinzipien oft der Fall. Wegen dieser Modifikation umfaßt in bezug auf den einzelnen Angeklagten das Verfahren den geschichtlichen Vorgang nach dem Grundsatze der Prävention und schließt damit in bezug auf diesen Vorgang die Verbindung begrifflich aus. Sind gegen einen und denselben Täter Teile eines einheitlichen historischen Vorgangs i. S. des § 264 bei verschiedenen Gerichten anhängig gemacht, so ist eine Verbindung — sowohl nach § 4 Abs. 1 als auch nach § 13 Abs. 2 — unzulässig, weil es sich nicht um mehrere Strafsachen handelt, die spätere Klage vielmehr eine anhängige Sache erneut anhängig gemacht hat. Zu dem einheitlichen Vorgang, der nur in bezug auf den persönlichen Zusammenhang von Bedeutung sein kann, gehören die Idealkonkurrenz, die fortgesetzte Handlung und — soweit man ein solches anerkennen will — das Kollektivdelikt ( E b S c h m i d t 3; RGSt. 31 287), u.U. aber auch mehrere selbständige Straftaten. Das Ergebnis kommt dem praktischen Bedürfnis entgegen, bei persönlichem Zusammenhang die Beurteilungsgrundlage so umfassend als möglich zu gestalten und der verfassungsrechtlichen Forderung, den Gerichtsstand eines Täters wegen des Zusammenhangs seiner Tat mit der eines anderen nur dann zu verändern, wenn die Möglichkeit dazu dem Gesetz eindeutig zu entnehmen ist. 2

3

Zustimmend K l e i n k n e c h t M D R 1958 357; K l 3 - der Begriff Handlung ist dem prozessualen Begriff der 7 a / ( § 264) gleichzustellen —; M ü l l e r — S a x 3b. Ebenso E b S c h m i d t 5; F u h r m a n n — D a l c k e 1.

216

Erster Abschnitt. Sachliche Zuständigkeit (Dünnebier)

§ 4 Anm. 1,2

§4 (1) Eine Verbindung zusammenhängender oder eine Trennung verbundener Strafsachen kann auch nach Eröffnung der Voruntersuchung oder des Hauptverfahrens auf Antrag der Staatsanwaltschaft oder des Angeschuldigten oder von Amts wegen durch gerichtlichen Beschluß angeordnet werden. (2) Zuständig für den Beschluß ist das Gericht, zu dessen Bezirk die übrigen Gerichte gehören; fehlt ein solches Gericht, so entscheidet das gemeinschaftliche obere Gericht. Entstehungsgeschichte: In der ursprünglichen Fassung gab § 4 Abs. 1 die für den Erlaß des gerichtlichen Beschlusses maßgebende Verfahrenslage mit den Worten „nach Eröffnung der Untersuchung" an. Die dadurch entstandenen Zweifel beseitigt die durch Art. 3 Nr. 1 VereinhG herbeigeführte Fassung. 1. Nach Eröffnung. Nach der Eröffnung der Voruntersuchung oder des Hauptverfahrens kann die Staatsanwaltschaft Verbindung nur durch gerichtlichen Beschluß herbeiführen (§ 4 Abs. 1), sei es, daß sie den Antrag in bezug auf Sachen, die bei Gerichten verschiedener Zuständigkeit anhängig sind, bei dem höheren Gericht stellt, sei es, daß sie — solange dafür noch Raum ist — bei dem höheren Gericht, bei dem bereits eine Sache anhängig ist, Nachtragsanklage wegen einer zur Zuständigkeit eines niederen Gerichts gehörenden Sache erhebt und dabei die Verbindung beantragt. Das Oberlandesgericht Celle hält das für unzulässig (MDR 1954 375), weil § 4 die Anhängigkeit beider Sachen voraussetze. Es ist indessen unnötige Förmelei, zu verlangen, daß die Staatsanwaltschaft erst bei dem niederen Gericht anklagt und dann beim höheren Gericht Verbindung beantragt; sie kann es auch unmittelbar angehen. Das Oberlandesgericht München (GA 37 223) erachtet es darüber hinaus für statthaft, mit der Anklage beim höheren Gericht die Verbindung mit einer bei einem niederen Gericht schon eröffneten Sache zu beantragen. Doch dürfte § 4 Abs. 1 voraussetzen, daß eine Sache bei dem Gericht höherer Ordnung eröffnet worden ist. Der Eröffnung des Hauptverfahrens steht die Eröffnung des Sicherungsverfahrens (§ 429 b Abs. 1) gleich. In den besonderen Verfahrensarten, bei denen das Hauptverfahren nicht ausdrücklich eröffnet wird, sind der Eröffnung diejenigen gerichtlichen Akte gleichzustellen, die mit der Feststellung hinreichenden Tatverdachts oder danach die staatsanwaltschaftliche Verfügung über die Klage oder den Antrag ausschalten. Das beschleunigte Verfahren (§212) verträgt seiner Natur nach keine Verbindung nach der Anklage. 2. Höhere Instanzen. In der Berufungs- und Revisionsinstanz können Berufungen und Revisionen von Sachen, die bei Gerichten verschiedener Ordnung anhängig gemacht worden sind, verbunden werden, z. B. die Berufung gegen ein amtsrichterliches Urteil mit der gegen das Urteil eines Schöffengerichts bei der großen Strafkammer ( F e i s e n b e r g e r 5), die Revision gegen ein Berufungsurteil der Strafkammer mit der gegen ein erstinstanzliches Urteil der großen Strafkammer bei dem Bundesgerichtshof (RG D R 1941 776). Ebenso kann mit einem von einer Strafkammer im ersten Rechtszug eröffneten Verfahren ein solches verbunden werden, das in erster Instanz vor das Amtsgericht gehört, im Zeitpunkt der Verbindung aber vor der Berufungsstrafkammer schwebt. Das hatte der Bundesgerichtshof zunächst — selbst für den Fall, daß § 4 Abs. 1 mit § 13 Abs. 2 zusammentrifft - unter Berufung auf RGSt. 48 119 anerkannt (BGHSt. 4 152; abl. E b . S c h m i d t JZ 1953 639), später aber — ebenfalls bei Zusammentreffen von § 4 Abs. 1 mit § 13 Abs. 2 — abgelehnt, weil sonst in den „durch die Gerichtsorganisation des Landes (Art. 30, 92 GG)" . . „festgelegten Instanzenzug" eingegriffen würde; einen solchen „Eingriff in die funktionelle Zuständigkeit" erachtet das Gericht für unzulässig (BGHSt. 19 179; 22 251). Inzwischen hat es für den Fall des § 15 selbst eine Ausnahme zugestanden (BGHSt. 22 250), und der Gesetzgeber hat die Verschiebung der örtlichen Zuständigkeit des Berufungsgerichts (3 vor § 7) durch die Neufassung des § 354 Abs. 2 zur Alltagsroutine gemacht (wegen weiterer Fälle 3 vor § 7). Auch wenn der Amtsrichter die Zuständigkeit in einer Haftsache nach § 126 Abs. 1 Satz 3 einem anderen Amtsrichter übertragen hat, kann der Haftbefehl des abgebenden Richters von einem bezirksfremden Landgericht aufgehoben werden (BGHSt. 14 181,185; D ü n n e b i e r MDR 1968 185). 217

§ 4 Anm. 3

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

Die Eindeutigkeit der örtlichen (und sachlichen) Zuständigkeit des funktionell als Berufungsgericht zuständigen Landgerichts (2 vor § 1 und 7 vor § 7), die der Bundesgerichtshof — in erster Linie, wie der Hinweis auf Art 30, 92 G G erweist, auf die örtliche Zuständigkeit bezogen — als ,/unktionelle Zuständigkeit" bezeichnet (s. dazu 3 a vor § 1), ist daher ohnehin nur eine grundsätzliche. Der Bundesgerichtshof erhebt sie zu einem nahezu unantastbaren Dogma, ohne daß sachlich damit etwas gewonnen wäre, ja zu Lasten sachlich erstrebenswerter Ergebnisse Der Sinn der §§ 2 bis 4 ist es, die Verschiebung der sachlichen Zuständigkeit zu regeln. Aber auch wenn damit eine der örtlichen verbunden ist, richtet sich das Verfahren nach §§ 2 bis 4 (I 1 zu § 13). Der Wortlaut des § 4 Abs. 1 zwingt nicht zu dem Schluß, § 4 beziehe sich wie § 2 Abs. 1 nur auf Gerichte erster Instanz. Zwar handelt § 4 ebenso wie § 2 von zusammenhängenden Strafsachen, „die einzeln zur Zuständigkeit von Gerichten verschiedener Ordnung gehören würden", doch wird diese Ergänzung im Wege der Auslegung aus § 2 Abs. 1 übernommen. Dabei ist zu beachten, daß § 2 Abs. 1 das Verfahren der Staatsanwaltschaft, nämlich das „Anhängigmachen" beim höheren, an sich sachlich, und ggf. auch örtlich, unzuständigen Gericht behandelt. § 4 Abs. 1 dagegen befaßt sich mit dem gerichtlichen Verfahren nach Eröffnung des Hauptverfahrens oder der Voruntersuchung und gibt in seinem Text keine Begrenzung für den Zeitpunkt der Verbindung. Wegen dieser fehlenden Begrenzung sind die Worte „die einzeln zur Zuständigkeit verschiedener Gerichte gehören", nach dem Aufbau des Abschnitts, der die (sachliche und örtliche) Zuständigkeit der höheren Gerichte (2 vor § 1; 7 vor § 7) ignoriert, nur so zu lesen: die eine verschiedene erstinstanzliche Zuständigkeit haben 2 . Im Wiederaufnahmeverfahren ist wegen der ausschließlichen Zuständigkeit des Gerichts, dessen Urteil mit dem Wiederaufnahmeantrag angefochten wird (§ 367), jede Verbindung unzulässig. 3. Gerichtsbeschluß (Absatz 2). Nach Eröffnung der Voruntersuchung oder des Hauptverfahrens ist die Verbindung einem Gerichtsbeschluß vorbehalten. Der Vorsitzende allein ist nicht zur Verbindung befugt; er kann sie, wenn er nicht vor der Hauptverhandlung einen Beschluß herbeiführt, für diese aber in der Weise vorbereiten, daß er die für sie erforderlichen Maßnahmen (z. B. Ladung zur gleichen Terminstunde) trifft. Beanstandet das Gericht die Maßnahme nicht und wird in ihrem Verfolg verhandelt, so tritt damit stillschweigend die Verbindung ein (RGSt. 52 140, 70 68; R G GA 72 346). Doch sollten stillschweigende Verbindungen in Interesse der Klarheit (RGSt. 70 70) und wegen § 33 vermieden werden. Eines Verbindungsbeschlusses bedarf es jedoch nicht, wenn das Gericht oder der Untersuchungsrichter verbunden anhängig gemachte Sachen (§ 2 Abs. 1) antragsgemäß eröffnet. Das Gericht kann auch bei der Eröffnung mit der zu eröffnenden Sache eine schon eröffnete verbinden (RGSt. 46 130). Im übrigen ist der Verbindungsbeschluß in dem Verfahren zur Vorbereitung der Hauptverhandlung und auch während dieser in jedem Verfahrensabschnitt (RGSt. 64 179) bis zum Urteil zulässig (RG GA 36 168; BGH NJW 1953 836), 1

So wären die Umwege, die BGHSt. 20 292 durch das „Labyrinth von Gesamtstrafen" ( K o h l h a a s LM 29 zu § 79 StGB) unternimmt, unnötig gewesen, wenn der Bundesgerichtshof die beim Oberlandesgericht gleichzeitig anhängige Revision mit der bei ihm zu verhandelnden verbunden hätte. 2 Vereinigt sich die Berufungssache mit der erstinstanzlichen Sache bei demselben Landgericht, dann stellt sich das Problem nicht so dringend, weil solchenfalls § 237 die Verbindung zum Zwecke gleichzeitiger Verhandlung gestattet (RGSt. 20 161, 48 119, 57 271). Indessen läßt eine derartige Verbindung die Selbständigkeit der einzelnen Sachen unberührt. Das ist für das Beweisverfahren anerkannt (RGSt. 57 271), für die Anfechtungsmöglichkeit dagegen bestritten. Sowohl nach der Rechtsprechung des Reichsgerichts (RGSt. 48 121, DR 1941 776) als auch des Bundesgerichtshofs (MDR 1955 755; 4 StR. 346/55 vom 13. 10. 1955, Gründe nicht veröffentlicht, Leits. NJW 1955 1890; zust. M ü l l e r — S a x 6 zu § 237) soll § 5 entsprechend anzuwenden sein. Dem widerstreitet der Wortlaut des § 237, der die Verbindung nur zum Zwecke gleichzeitiger Verhandlung zuläßt (folgerichtig allein E b S c h m i d t 13 zu § 237 und so wohl auch BGHSt. 19 182). Demzufolge muß, wenn die Verhandlungsverbindung nach § 237 nicht ausreicht, namentlich wenn wegen einer zu bildenden Gesamtstrafe ein einheitliches Rechtsmittel erforderlich ist, die Verbindung nach § 4 gewählt werden. Der alten Rechtsprechung des Reichsgerichts, die in sich widersprüchlich und in der Begründung mit den mitgeteilten Sachverhalten zuweilen unvereinbar ist, sind keine durchschlagenden Argumente zu entnehmen.

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Erster Abschnitt. Sachliche Zuständigkeit (Dünnebier)

§ 4 Anm. 4—7

wenn auch in letzterem Falle wegen der naheliegenden Möglichkeit, § 261 zu verletzen, nicht empfehlenswert. Die Bestimmung des Gesetzes, welches Gericht zuständig ist, ist nicht sachgemäß. Sie läßt unberücksichtigt, daß bei Verbindung von zwei Sachen die Bezirke der beiden Gerichte zusammenfallen können, was in der Regel bei dem Amtsgericht und einer dort gebildeten Strafkammer (§ 78 Abs. 1 GVG) der Fall sein wird. Das Gesetz will besagen: Die Beschlußfassung steht dem beteiligten Gericht höherer Ordnung zu, wenn das beteiligte Gericht niederer Ordnung seinem Bezirk angehört. Danach kann das höhere Gericht alle innerhalb seines Bezirks anhängigen Sachen, die mit einer bei ihm anhängigen im Sinne des § 3 zusammenhängen, an sich ziehen. Für die Besetzung gelten die allgemeinen Vorschriften, namentlich für Beschlüsse außerhalb der Hauptverhandlung § 76 Abs. 1, § 82 Abs. 2, § 122 Abs. 1, § 139 Abs. 2 GVG. Der gerichtliche Beschluß ist nach § 35 bekanntzugeben. Soweit er einen Antrag ablehnt, ist er zu begründen (§ 34). Da es indessen vom richterlichen Ermessen abhängt, ob eine Verbindung stattfindet (RGSt. 52 138), liegt in dem Beschluß begrifflich die Begründung, daß die Verbindung für angemessen erachtet werde (RGSt. 57 44). Praktisch läuft das darauf hinaus, daß eine Begründung unterbleibt (RG GA 36 169). Da der Beschluß nach Eröffnung des Hauptverfahrens vom erkennenden Gericht erlassen wird, ist er nach § 305 der Beschwerde entzogen. 4. Gemeinschaftliches oberes Gericht. Der Beschluß des gemeinschaftlichen oberen Gerichts ist erforderlich, wenn ein beteiligtes Gericht niederer Ordnung dem Bezirk des beteiligten Gerichts höherer Ordnung nicht angehört. Ob zwischen den mehreren Gerichten Meinungsverschiedenheit über die Zweckmäßigkeit der Verbindung besteht, ist gleichgültig. Eine Vereinbarung der beteiligten Gerichte, wie sie § 13 bei verschiedener örtlicher Zuständigkeit vorsieht, macht die Entscheidung des gemeinschaftlichen oberen Gerichts nicht entbehrlich. Ein Grund für diese Verschiedenheit ist nicht ersichtlich. Sollte er in der Auffassung zu suchen sein, daß ein höheres Gericht mit einem niederen nichts vereinbaren könne, müßte diese als überholt angesehen werden. Zuständig ist das Oberlandesgericht, zu dessen Bezirk alle beteiligten Gerichte gehören, sonst der Bundesgerichtshof (8 vor § 7). 5. Folgen. Durch die Verbindung endet die Rechtshängigkeit bei dem Gericht niederer Ordnung ( M ü l l e r — Sax 5a). War eine Sache bei einem Gericht niederer Ordnung anhängig, und ist sie dann nochmals zusammen mit anderen Sachen bei einem Gericht höherer Ordnung anhängig gemacht worden, so entfallt für das höhere Gericht, wenn es einen Verbindungsbeschluß erläßt, durch diesen das Verfahrenshindernis anderweiter Rechtshängigkeit ( B G H N J W 1958 31). Für die Dauer der Verbindung verliert die einzelne Strafsache ihre Selbständigkeit; es liegt nur noch ein einheitliches Strafverfahren vor. Deshalb ist z. B. der durch einen einzelnen Straffall begründete Ausschluß eines Richters für die sämtlichen verbundenen Strafsachen wirksam (BGHSt. 14 222). Wegen weiterer Folgen, namentlich für die Rechtsmittel, s. § 5. 6. Für die Trennung, die § 4 im Gegensatz zu § 2 Abs. 2 nur nebenbei erwähnt, gilt das IV zu § 2 Ausgeführte entsprechend. Die in § 2 Abs. 2 behandelte Trennung ist auch nach dem in § 4 Abs. 1 genannten Zeitpunkt (Eröffnung der Voruntersuchung oder des Hauptverfahrens) zulässig; daher ergeben sich nur insoweit Abweichungen, als Trennung durch die Staatsanwaltschaft im Ermittlungsverfahren und durch das Gericht im Eröffnungsverfahren ausscheidet. 7. Beschwerde. Soweit Beschlüsse über Verbindung nach Eröffnung der Voruntersuchung ergehen, gilt das III 6 zu § 2 Ausgeführte, soweit sie die Trennung betreffen, unterliegen sie der Beschwerde (§ 304 Abs. 1). Im übrigen sind die Entscheidungen, weil § 4 sich auf die Zeit nach Eröffnung des Hauptverfahrens bezieht, solche des erkennenden Gerichts, die nach § 305 von der Beschwerde ausgenommen sind. Wegen einer Ausnahme (hemmende Beschlüsse) s. IV 4 Abs. 3 zu § 2. 219

§5

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

Anm. 1—4

§5 Für die Dauer der Verbindung ist der Straffall, der zur Zuständigkeit des Gerichts höherer Ordnung gehört, fiir das Verfahren maßgebend. 1. Verfahren. Zufolge der Verbindung bestimmt sich das Verfahren nach dem StrafTall, der zur Zuständigkeit des höheren Gerichts gehört, in doppelter Weise: Einmal nimmt die verbundene Sache an Vorrechten teil, die der höheren zukommen. Ist z. B. auf den Antrag des Angeschuldigten in einer Schwurgerichtssache die Eröffnung der Voruntersuchung zu beschließen (§ 178 Abs. 1 Satz 3), so ergreift sie zugleich eine mit jener verbundene Einzelrichtersache. Ist bei persönlicher Verbindung (§ 3, 1. Alternative) in einem Fall nach § 140 Abs. 2 ein Verteidiger bestellt worden, gilt er zufolge der Verbindung als für das gesamte Verfahren bestellt, weil sich das Interesse an der Verteidigung in bezug auf die verschiedenen, zusammengefaßten Delikte schon im Hinblick auf die Bildung einer Gesamtstrafe (§ 74 StGB) nicht trennen läßt (RGRspr. 2 767). Bei sachlicher Verbindung (§ 3, 2. Alternative) dagegen ist auf die Bedürfnisse eines jeden Angeklagten abzustellen, doch spielt der Fall nur bei Verbindung zum Schöffengericht eine Rolle (vgl. § 140 Abs. 1 Nr. 1). Zum anderen sind die verbundenen Sachen einheitlich nach dem Verfahrensrecht zu behandeln, das für das höhere erstinstanzliche Gericht gilt. Wird eine Berufungssache mit einer erstinstanzlichen Sache verbunden (2 zu § 4), so ist das gesamte Verfahren ein erstinstanzliches. § 325 findet - anders als bei der Verhandlungsverbindung nach § 237 (RGSt. 20 161, 57 271) keine Anwendung. Wegen der Auswirkung des Zeugnisverweigerungsrechts bei objektiver Verbindung s. u. 3 b zu § 52. 2. Das Rechtsmittel richtet sich allein nach der Zuständigkeit des Gerichts, bei dem die Sachen verbunden sind, auch wenn eine zweitinstanzliche mit einer erstinstanzlichen verbunden worden ist (RGSt. 59 364), gleichgültig, ob persönliche (BGH M D R 1955 755) oder sachliche Verbindung (BGH LM Nr. 3 zu § 135 G V G ) vorliegt. Da mit der teilweisen Erledigung einer Sache die Verbindung nicht aufgehoben wird (III 7 zu § 2), spielt es auch keine Rolle, wenn die erstinstanzliche Sache inzwischen durch Einstellung erledigt ist und die Revision nur die ursprüngliche Berufungssache angreift (BGH M D R 1955 755). Die Einheitlichkeit der Sache gilt auch für die Zurückverweisung (§ 354 Abs. 2), die an das Gericht der höheren Zuständigkeit geht, doch kann das Revisionsgericht, wenn die Sache, die die höhere Zuständigkeit begründet hatte, inzwischen erledigt ist, an das Gericht niederer Ordnung zurückverweisen, zu dessen Zuständigkeit die noch in Betracht kommende Sache gehört (§ 354 Abs. 3; IV 5 zu § 2). 3. Notwendige Voruntersuchung. Will die Staatsanwaltschaft mit einer Sache, in der Voruntersuchung notwendig ist (§ 178 Abs. 1 Satz 1), eine andere Sache beim erkennenden Gericht (§ 198 Abs. 2 Satz 1) verbunden anhängig machen (§ 2 Abs. 1), so muß sie dies schon beim Untersuchungsrichter (§ 179) tun (RGSt. 4 366). Denn der Zweck der Voruntersuchung, umfassend Beweise zu erheben, damit vor größeren Gerichtskörpern Vertagungen vermieden werden, verlangt deren Anwendung auch auf den an sich vor ein niederes Gericht gehörenden Fall, der ja durchaus eine umfängliche Beweisaufnahme erfordern kann. Wenn die Voruntersuchung unterbleiben kann (§ 178 Abs. 1 Satz 2 und 3, Absatz 2), können auch Sachen, die nicht in der Voruntersuchung waren, mit solchen verbunden werden, bei denen dies der Fall war. Allerdings kann die Nachtragsanklage, da sie bis zur Eröffnung des Hauptverfahrens ein Verbunden-anhängigmachen i. S. von § 2 Abs. 1 ist (III 4 zu § 2), bis zu diesem Zeitpunkt nicht als Mittel dienen, eine gewöhnliche Sache mit einer Voruntersuchungssache zu verbinden. Wohl aber ist in den zuletzt genannten Fällen die Nachtragsanklage zulässig, nachdem in der Voruntersuchungssache das Hauptverfahren eröffnet worden ist. Daß die Staatsanwaltschaft dazu erst bei dem niederen Gericht anklagt und dann beim höheren Verbindung beantragt, ist nicht erforderlich (1 zu § 4). 4. Im übrigen bleiben die Sachen selbständig, z. B. hinsichtlich der Verjährung (RGSt. 8 312) und des Strafantrages (M ü 11 e r - S a x 2).

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Erster Abschnitt. Sachliche Zuständigkeit (Dünnebier)

§ 6 Anm. 1,2

§6 Das Gericht hat seine sachliche Zuständigkeit in jeder Lage des Verfahrens von Amts wegen zu prüfen. 1. Prüfung der Zuständigkeit. Den Gegensatz zu dem für die sachliche Zuständigkeit gültigen § 6 bildet der zu den Vorschriften über die örtliche Zuständigkeit des Gerichts erster Instanz, des Gerichtsstands, gehörende § 18, nach welchem das Gericht, nachdem es das Hauptverfahren eröffnet hat, seine Unzuständigkeit nur auf Einwand des Angeklagten aussprechen darf, ein Einwand, der nach § 16 nur bis zum Beginn der Vernehmung zur Sache — wenn Voruntersuchung stattfindet, bis zu deren Schluß — geltend gemacht werden darf. Zufolge dieser Regelung kann der Einwand verloren gehen und erlöschen das Recht und die Pflicht des Richters, den Gerichtsstand von Amts wegen zu prüfen, im Hauptverfahren frühzeitig. Auf die — gewichtigere — Prozeßvoraussetzung der sachlichen Zuständigkeit hat weder Versäumnis noch Verzicht des Angeklagten einen Einfluß (vgl. RGSt. 18 55). Das Gericht hat vielmehr seine sachliche Zuständigkeit in jeder Lage des Verfahrens von Amts wegen dahin zu prüfen, daß es nicht seine Strafgewalt überschreite und in den Strafbann eines höheren Gerichts eingreife (BGHSt. 18 83). Es kann sich jedoch, wenn das Verfahren bei ihm anhängig geworden ist, nicht deshalb für unzuständig erklären, weil die Sache vor ein Gericht niederer Ordnung gehöre (§ 269); das gilt aber nicht für das Eröffnungsverfahren (§ 209 Abs. 1 und 2). Erklärt sich das Gericht entgegen § 269 rechtsirrtümlich gleichwohl für unzuständig und wird dieser Beschluß nicht angefochten, dann bleibt das Gericht — aber nicht auch ein anderes gleicher Zuständigkeit — unzuständig (BGHSt. 18 5). Die sachliche Zuständigkeit ist eine Strafveifahrensvoraussetzung. Prozeßvoraussetzungen beachtet das Gericht von Amts wegen (RGSt. 68 19). Daher prüft das Rechtsmittelgericht nicht nur seine eigene sachliche Zuständigkeit, sondern auch — mit der sich aus § 269 ergebenden Einschränkung — die sachliche Zuständigkeit des Gerichts des ersten Rechtszugs ohne Revisionsrüge von Amts wegen (RGSt. 66 256; 67 58; BGHSt. 10 74; BGHSt. 18 81; 22 2). Die Prüfung setzt die Anfechtung des Urteils voraus. Bleibt das Urteil des sachlich unzuständigen Gerichts, das seine Strafgewalt überschritten hatte, unangefochten, so erwächst es in Rechtskraft; Nichtigkeit (Unwirksamkeit) liegt nicht vor (RGSt. 71 378; Einl. Kap. 14 Abs. 2). Stellt sich das Prozeßhindemis der Unzuständigkeit heraus, so wäre das Verfahren, wenn nicht Sondervorschriften bestünden, sowohl außerhalb der Hauptverhandlung (§ 206a) als auch in dieser (§ 260 Abs. 3) einzustellen. Da nur ein Sachurteil die Strafklage verbraucht, wäre neue Klage möglich und wegen des Legalitätsprinzips geboten. Diesen umständlichen Weg vermeidet das Gesetz durch die in den Nrn. 2 bis 6 dargestellten Verweisungsmöglichkeiten (BGHSt. 21 247). 2. Bei Eröffnung des Hauptverfahrens gilt § 269 nicht. Das Gericht prüft daher, nachdem es das in § 201 geregelte Verfahren (Mitteilung der Anklageschrift, Aufforderung zur Erklärung) durchgeführt hat (BGHSt. 6 114), nicht nur ob ein höheres, sondern auch ob ein niederes Gericht zuständig ist. Ist das letzte der Fall, kann der Amtsrichter als Vorsitzender des Schöffengerichts das Verfahren vor dem Einzelrichter — der im Verhältnis zum Schöffengericht ein Gericht niederer Ordnung ist (RGSt. 62 270; BGHSt. 18 83) - und jedes höhere Gericht (Oberlandesgericht, Landgericht) das Verfahren vor jedem ihm nachgeordneten Gericht eröffnen (§ 209 Abs. 2). Diese Befugnis hat auch der Amtsrichter als Vorsitzender eines gemeinsamen Schöffengerichts (§58 Abs. 2 GVG), weil die mehreren Amtsgerichte, für die das gemeinsame Gericht errichtet worden ist, zu seinem Bezirk i.S. des § 209 Abs. 2 gehören. Ebenso kann die nach § 74 a GVG gebildete Kammer das Verfahren vor den Amtsgerichten ihres Bezirks — nicht jedoch vor anderen Strafkammern — eröffnen ( K l 8 zu § 209). Hält das Gericht die Zuständigkeit eines Gerichts höherer Ordnung für begründet, so legt es diesem die Akten über die Staatsanwaltschaft zur Entscheidung vor (§ 209 Abs. 3). Das gilt auch, wenn der Einzelrichter das Schöffengericht für zuständig hält, gleichviel ob es ein gemeinsames Schöffengericht (§58 Abs. 2 GVG) oder das Schöffengericht am

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§6

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

Anm. 3 , 4 Amtsgericht des Einzelrichters ist. Ist der Amtsrichter im letzten Falle selbst zugleich Vorsitzender des Schöffengerichts, kann er das Verfahren selbst vor dem Schöffengericht eröffnen. Nach altem Recht mußte ein Amtsrichter, an dessen Amtsgericht sich wegen der Bildung eines gemeinsamen Schöffengerichts kein Schöffengericht befand, die Eröffnung des Hauptverfahrens ablehnen, wenn seine Zuständigkeit nicht gegeben war, und die Staatsanwaltschaft die Klage nicht zurücknahm (BayObLGSt. 25 234 = GA 70 308). Diese Umständlichkeit ist durch die neue Fassung des § 209 Abs. 3 beseitigt. 3. In der Hauptverhandlung. Das Gericht hat die Sache durch Beschluß an das zuständige höhere Gericht zu verweisen (§ 270 Abs. 1). Die Hauptverhandlung braucht nicht weiter geführt zu werden, als es zur Beurteilung der Unzuständigkeit erforderlich ist; u. U. kann der Verweisungsbeschluß alsbald ergehen, nachdem die Anklage verlesen worden ist (RGSt. 64 180). Der Beschluß bindet das empfangende Gericht (BGHSt. 19 294), selbst wenn das abgebende Gericht seine Zuständigkeit zu Unrecht verneint hatte (RGSt. 44 395). Er hat den Inhalt eines Anklagesatzes (§ 270 Abs. 2) und die Wirkung eines Eröffnungsbeschlusses (§ 270 Abs. 3). Bei der Bekanntmachung (§ 35) haben der Amtsrichter und der Vorsitzende des Schöffengerichts dem Angeklagten, falls nicht Voruntersuchung stattgefunden hat, Frist zu setzen für einen Antrag auf ergänzende Beweiserhebungen (§ 270 Abs. 4). Die Akten gehen vom überweisenden an das empfangende Gericht durch die Staatsanwaltschaft. § 209 Abs. 3 Satz 1 und § 348 Abs. 3 heben das besonders hervor, doch gilt das auch im Falle des § 270. 4. Berufungsinstanz. Hat der Amtsrichter im Falle des § 25 Nr. 2 Buchst, c GVG eine höhere Strafe als ein Jahr Gefängnis ausgeworfen, so hat er, wenn er sich im Rahmen des § 24 Abs. 2 GVG (bis zu drei Jahren Freiheitsstrafe) gehalten hat, seine Zuständigkeit gewahrt (5 b zu § 25 GVG). Ist das Amtsgericht (Amtsrichter oder Schöffengericht) über diesen Rahmen hinausgegangen, dann hat es damit seine Zuständigkeit überschritten und die des Landgerichts in Anspruch genommen. Um diesem Mangel abzuhelfen, entscheidet das als Berufungsgericht angerufene Landgericht als erste Instanz erneut in der Form, daß es das erste Urteil aufhebt und neu erkennt, auch wenn es zu dem gleichen Urteil kommt wie der Erstrichter. Zuständig ist, da nur sie erstinstanzliche Zuständigkeit hat, die große Strafkammer (§ 76 Abs. 2, 2. Fall). Ist die große Strafkammer Berufungskammer (§ 76 Abs. 2, 2. Alternative), so entscheidet sie selbst erstinstanzlich (RGSt. 74 140; RG JW 1935 2055; RGSt. 75 305; BGH MDR 1957 370), auch wenn sie nach der Geschäfts Verteilung für die Sache als erstinstanzliches Gericht nicht zuständig ist; eine Abgabe an die nach der Geschäftsverteilung zuständige Kammer entfallt (RGSt. 75 305). Die Rechtsprechung beruht auf einer Übernahme des früheren § 369 Abs. 3, wonach das Berufungsgericht, wenn es in erster Instanz zuständig ist, nicht zu verweisen, sondern selbst zu erkennen hatte. Die Bestimmung war bei Abschaffung der Strafkammer als Berufungsgericht gestrichen und bei Wiedereinführung, wohl versehentlich oder als selbstverständlich (RG JW 1935 2056), nicht erneut aufgenommen worden (zustimmend BGH M D R 1957 370; ähnlich — gewohnheitsrechtliche Übernahme des § 369 Abs. 3 a. F. — G ö s s e l GA 1968 366). Die große Strafkammer kann auch dann als erstinstanzliches Gericht verhandeln und entscheiden, wenn die Staatsanwaltschaft mit dem Ziele der Straferhöhung, Berufung gegen das Urteil eines Schöffengerichts eingelegt hat, das seine Strafgewalt zwar innegehalten, aber etwa ausgeschöpft hatte, so daß damit gerechnet werden muß, die Strafgewalt des Schöffengerichts werde überschritten (BGHSt. 21 229). Dieses Verfahren wird nicht etwa dadurch unzulässig, daß die Strafkammer dann doch im Strafbann des Schöffengerichts erkennt (§ 269; BGHSt. 21 231). — Die mit Berufung gegen das Urteil eines Amtsrichters angegangene kleine Strafkammer muß in diesen Fällen die Sache an die große Strafkammer verweisen (§ 328 Abs. 3). Kleine und große Strafkammer haben verschiedene sachliche Zuständigkeit (3 vor § 1), so daß die bloße Abgabe an die große Strafkammer nicht ausreicht (5c zu § 328; im Ergebnis ebenso G ö s s e l GA 1968 365; die bisher hier vertretene Ansicht wird aufgegeben). Die beiden Möglichkeiten scheiden jedoch aus, wenn das Schöffengericht zwar seine Zuständigkeit im Hinblick auf die Straferwartung (§ 24 Abs. 1 Nr. 3 GVG) zu Unrecht

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Erster Abschnitt. Sachliche Zuständigkeit (Dünnebier)

§ 6 Anm. 5

angenommen, seinen Strafbann aber nicht überschritten hatte und Rechtsmittel nur zugunsten des Angeklagten eingelegt ist. Hier wird zufolge § 331 die Straferwartung durch das erste Urteil begrenzt, so daß eine höhere Straferwartung im Zeitpunkt der Prüfung des Rechtsmittelgerichts nicht mehr besteht ( G ö s s e l GA 1968 369). Die kleine Strafkammer entscheidet über die Berufung selbst. Jedoch ist die Verweisung ans Schöffengericht geboten, wenn der Einzelrichter wegen eines mit mehr als sechs Monaten Freiheitsstrafe bedrohten Vergehens entschieden hat, obwohl der Staatsanwalt nicht beim Einzelrichter Anklage erhoben hatte. Denn hier kommt es nicht auf die Straferwartung, sondern auf einen Antrag an, der nicht mehr nachgeholt werden kann. Ist der Angeklagte jedoch freigesprochen und das Urteil allein zu seinen Gunsten lediglich wegen der Auslagenerstattung angefochten, dann kann die kleine Strafkammer in entsprechender Anwendung des § 354 Abs. 3 selbst entscheiden (BayObLG MDR 1962 841). Gehört die Sache vor ein höheres Gericht (Schwurgericht, Oberlandesgericht), so hebt das Berufungsgericht das erste Urteil auf und verweist die Sache durch Urteil (RGSt. 65 397), das den Erfordernissen des § 270 Abs. 2 entsprechen muß (vgl. RGSt. 61 326; 69 157), an das zuständige Gericht (§ 328 Abs. 3). 5. Revisionsinstanz. Hat das Amtsgericht seine Zuständigkeit überschritten und hat das Landgericht das nicht bemerkt, so hebt das Revisionsgericht das landgerichtliche Urteil auf und holt die vom Landgericht unterlassene Entscheidung (§ 328 Abs. 3) nach (RGSt. 61 326; OLG Saarbrücken JB1. S a a r 1964 15). War das Landgericht in erster Instanz zuständig, dann ist das ergangene Berufungsurteil in der Regel in Wirklichkeit ein erstinstanzliches Urteil, sofern die Vorschriften über die Beweisaufnahme erster Instanz gewahrt worden sind (BGHSt. 23 284); auf den Willen des Gerichts, die Form der Eröffnung (Verlesung des Urteils erster Instanz statt der Anklage) und auf die Urteilsformel (Verwerfung der Berufung) kommt es nicht an; sie sind im Gegensatz zur Form der Beweisaufnahme, für die Uberzeugungsbildung (§261) und den Urteilsinhalt bedeutungslos (a. A. — entscheidend ist allein, ob das Gericht nach Protokoll und Urteil eine Berufungsverhandlung durchgeführt hat — BGH NJW 1970 156 ohne nähere Begründung). Ist das Landgericht aber in der Beweisaufnahme als Berufungsgericht verfahren (§ 323 Abs. 2, § 325), dann hat das Oberlandesgericht das Berufungsurteil aufzuheben und die Sache an die große Strafkammer zur erstinstanzlichen Entscheidung zu verweisen. Hat erst die Berufungsstrafkammer, etwa auf Berufung der Staatsanwaltschaft oder durch die Bildung einer Gesamtstrafe, die Strafgewalt des Amtsgerichts überschritten, dann entsteht die gleiche Rechtslage. Handelt es sich auch in bezug auf die Beweisaufnahme um ein Berufungsurteil, verweist das Oberlandesgericht die Sache an die große Strafkammer. Hat die Kammer dagegen erstinstanzlich entschieden (BGH MDR 1957 370) oder liegt ein als erstinstanzlich anzuerkennendes Urteil vor (weitergehend — unerheblich, ob das Urteil den Anforderungen eines erstinstanzlichen Urteils genügt — OLG Celle MDR 1963 522), dann hebt, wenn die kleine Strafkammer entschieden hat, das Oberlandesgericht das angefochtene Urteil auf und verweist die Sache an die große Strafkammer. Denn diese ist im Verhältnis zur kleinen ein höheres Gericht (3 vor § 1). Das ist als Verfahrenshindernis der Unzuständigkeit von Amts wegen zu beachten. Hat die große Strafkammer entschieden, geht die Revision an den Bundesgerichtshof (RGSt. 75 304; BGHSt. 23 285). Ist das Oberlandesgericht im Wege der Sprungrevision (§ 335) angegangen worden, dann hebt es das amtsgerichtliche Urteil auf und verweist dabei die Sache durch Urteil an das zuständige Gericht (§ 355). Hat die Straßcammer anstelle des Schwurgerichts oder des Oberlandesgerichts entschieden, dann hebt der Bundesgerichtshof das Urteil auf und verweist die Sache durch Urteil (RGSt. 61 326), das den Erfordernissen des § 270 Abs. 2 entsprechen muß (RGSt. 69 157), an das zuständige Gericht (355). Bleibt der tatsächliche und der rechtliche Inhalt derselbe wie im Anklagesatz, u. U. in Verbindung mit einem Anderungsbeschluß nach § 207 Abs. 2, dann ist es nicht erforderlich, die Taten, die in ihnen zu findenden strafbaren Handlungen und die anzuwendenden Strafgesetze im Verweisungsbeschluß noch einmal anzugeben (BGHSt. 7 28; BayObLGSt. 1959 210; D a l l i n g e r MDR 1966 894). Ist das Rechtsmittel nur wegen einer Nebenstraße oder Nebenfolge beschränkt eingelegt, etwa zur Frage der Einziehung oder wegen der Uberbürdung der notwendigen Auslagen 223

§ 6 Anm. 6 , 7

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

auf die Staatskasse, dann kann das Rechtsmittelgericht die Sache in entsprechender Anwendung des § 354 Abs. 3 statt an das zuständige Gericht an dasjenige unzuständige Gericht zurückverweisen, das — unzulässigerweise — entschieden hatte (BayObLGSt. 1962 88). Denn der Gedanke der Zuständigkeitsvorschriften, für bedeutsamere Sachen eine höhere Zuständigkeit zur Verfügung zu stellen, erheischt keine Berücksichtigung, wenn bei Rechtskraft des Schuld- und Strafausspruchs nur noch über Nebenstrafen oder Nebenfolgen Bestimmung zu treffen ist (BayObLGSt. 1962 88; vgl. RGSt. 70 342). Daß in diesem Stadium das beschränkte Wahlrecht der Staatsanwaltschaft (§ 24 Abs. 1 Nr. 2, § 25 Nr. 2 Buchst, c GVG) nicht mehr verwirklicht werden kann, muß im Interesse der Verfahrensvereinfachung hingenommen werden. Für die Zuständigkeit der Revisionsgerichte untereinander ist § 348 maßgebend. 6. Rechtsmittel. Lehnt ein Gericht, statt nach § 209 Abs. 3 zu verfahren, die Eröffnung des Hauptverfahrens ab, so steht der Staatsanwaltschaft gegen diesen Beschluß die sofortige Beschwerde zu (§210 Abs. 2). Gegen die Aktenvorlage nach § 2 0 9 Abs. 3 findet, weil dadurch die Entscheidung ohnehin dem höheren Gericht übertragen wird, keine Beschwerde statt. Den Verweisungsbeschluß (3) kann der Angeklagte nicht anfechten, die Staatsanwaltschaft nur dann, wenn das Gericht die Sache abweichend vom Antrage der Staatsanwaltschaft an das niedere von zwei zuständigen höheren Gerichten (Schöffengericht statt Strafkammer) verweist (§ 270 Abs. 3 Satz 2, § 210 Abs. 2) und — im Gesetz, weil selbstverständlich, nicht erwähnt — wenn es die Sache an ein Gericht niederer oder gleicher Ordnung verweist. Lehnt das Gericht einen Antrag ab, die Sache an ein anderes Gericht zu verweisen, so ist dieser Beschluß nach § 305 unanfechtbar (OLG Braunschweig GA 1959 91). Gegen Verweisungsurteile des Berufungsgerichts (4) ist die Revision gegeben. Der Verweisungsbeschluß des Oberlandesgerichts (5) unterliegt keiner Anfechtung (§ 348 Abs. 2). 7. Fehlerhafte und fehlende Verweisungsbeschlüsse. Hat nicht das Gericht in der Hauptverhandlung, sondern der Vorsitzende oder die Kammer in Beschlußbesetzung entschieden, dann fehlt es an einem ordnungsgemäßen Verweisungsbeschluß und wird das angegangene Gericht nicht mit der Sache befaßt (BGHSt. 6 113). Dagegen bindet der Verweisungsbeschluß das höhere Gericht, wenn das niedere das Verfahren in der Form ordnungsgemäß, in der Sache aber zu Unrecht verwiesen hat (RG Rspr. 7 642, RGSt. 44 395). Sachliche und formelle Mängel eines Verweisungsbeschlusses können mit der Revision gerügt werden, doch hat die Rüge nur Erfolg, wenn das Urteil auf einem festgestellten Mangel beruht, d. h. wenn die Fehlerhaftigkeit des Verweisungsbeschlusses den Ausfall der Entscheidung beeinflußt haben kann (RGSt. 52 306). Das wird meist zu verneinen sein (RGSt. 62 271). Hat das unzuständige Gericht keinen Verweisungsbeschluß erlassen, sondern selbst entschieden, dann ist die Strafklage mit Rechtskraft des Urteils verbraucht, selbst wenn dem Gericht die Umstände, die seine Unzuständigkeit begründet hatten, nicht bekannt gewesen sind (BGH NJW 1953 393). Wird das Urteil angefochten, so führt das regelmäßig zur Verweisung (4 und 5). Ob diese im Einzelfalle unterbleiben kann, ist nach dessen Umständen verschieden zu beantworten: In dem wegen Rechtsähnlichkeit in die Betrachtung einzubeziehenden Fall RGSt. 72 379 hatte das Schwurgericht ein Verbrechen abgeurteilt, das zur Zuständigkeit der Sondergerichte gehörte. Nachdem das Schwurgericht erkannt, aber bevor das Reichsgericht entschieden hatte, hatte die Staatsanwaltschaft beim Sondergericht die Sache an die Staatsanwaltschaft beim ordentlichen Gericht abgegeben. Erachtet man es mit dem Reichsgericht für zulässig, daß die Sache noch abgegeben werden konnte, nachdem ein Urteil ergangen war, so war eine Einstellung des Verfahrens — eine Verweisung schied aus, weil die Sondergerichte außerhalb der ordentlichen Gerichtsbarkeit standen — schon deshalb unmöglich, weil ja alsbald wieder bei dem — nunmehr zufolge der Abgabe zuständig gewordenen — Schwurgericht hätte angeklagt werden müssen, eine Korrektur durch Anklage beim Sondergericht also gar nicht möglich gewesen wäre. Im Falle BGHSt. 1 347 war es dagegen möglich, die Sache an das zuständige Gericht zu bringen. Dort war der Angeklagte wegen besonders schweren Raubes (§ 251 StGB) statt beim Schwurgericht (§ 80 GVG) bei der Strafkammer angeklagt, von dieser aber nur

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Erster Abschnitt. Sachliche Zuständigkeit (Dünnebier)

§ 6 Anm. 8,9

wegen schweren Raubs (§ 250 StGB) verurteilt worden. Der Bundesgerichtshof ist der Ansicht, es komme nur darauf an, ob die Strafkammer beim Urteil zuständig gewesen sei; denn in diesem Falle könne die Sache nur an dasselbe Gericht als das zuständige verwiesen werden. — Das Urteil mag praktischen Bedürfnissen gerecht werden, ist aber nicht zu billigen1. Weder aus § 338 Nr. 4 noch aus § 354 ergibt sich, daß die Zuständigkeitsfrage nach dem Zeitpunkt des Urteils beantwortet'werden dürfe. Vielmehr folgt aus § 79 GVG, daß das Schwurgericht nicht nur für die Entscheidung, sondern auch für die Verhandlung zuständig ist. Diese Zuständigkeit, die nicht nur im Interesse des Angeklagten begründet ist, hatte die Strafkammer verletzt; sie war gar nicht zuständig, die Entscheidung zu treffen, daß (nur) ein Delikt vorliege, das zu ihrer Zuständigkeit gehöre. Mit Recht hat daher der Bundesgerichtshof später entschieden, daß es auf den Verdacht, auf den abzuurteilenden Vorwurf, ankomme, nicht aber auf die Urteilsfeststellungen (GA 1962 149). Dagegen käme bei folgender Fallgestaltung keine Verweisung in Betracht: A und B werden gemeinschaftlich angeklagt (§ 2 Abs. 1), A wegen schweren, B wegen besonders schweren Raubes. Versehentlich wird die Anklage vor der Strafkammer erhoben und das Verfahren dort eröffnet. Vor der Hauptverhandlung flieht B; die Kammer verurteilt A, ohne vorher die verbundenen Sachen nach § 2 Abs. 2 getrennt zu haben. Zwar hätte die Hauptverhandlung gegen A, da die Verbindung nicht aufgehoben war, vor dem Schwurgericht durchgeführt werden müssen (§ 5), aber doch nur wegen der Verbindung; ohne sie war die Strafkammer zuständig, und durch das fehlerhafte Verfahren ist nur § 5 verletzt, aber nicht in die Strafgewalt eines höheren Gerichts eingegriffen. 8. Außerhalb der Hauptverhandlung kann keine Verweisung nach § 270 beschlossen werden; geschieht es gleichwohl, bindet der Beschluß das höhere Gericht nicht (BGHSt. 6 109)2. Ergibt sich, daß das eröffnende Gericht die Zuständigkeit irrtümlich angenommen hatte, oder sind nach der Eröffnung Umstände eingetreten, die die Zuständigkeit eines höheren Gerichts begründen, dann ist es wenig prozeßökonomisch, eine Hauptverhandlung zu beginnen, nur um in ihr alsbald die Sachen an ein höheres Gericht zu verweisen. Deshalb ist gefordert worden, die Verweisung auch zwischen Eröffnung und Hauptverhandlung zuzulassen3, auf jeden Fall dann, wenn die Zuständigkeit des höheren Gerichts abstrakt feststeht4. Dieser Forderung ist der Bundesgerichtshof entgegengetreten. Er hat jede, die Bindung des oberen Gerichts herbeiführende, Verweisung außerhalb der Hauptverhandlung für unzulässig erklärt, dafür aber dem unteren Gericht die das obere Gericht nicht bindende Abgabe zugestanden, die ihre Wirksamkeit erst mit der Übernahme durch das Gericht höherer Ordnung erhalte (BGHSt. 18 2905). Die Abgabe ist von der Verweisung streng zu scheiden. Das Wort trifft auch nicht die Sache; bedeutsam ist nur die Übernahme; die „Abgabe" ist nur eine Anfrage, ob das höhere Gericht das Verfahren übernehmen wolle; sie entspricht der Aktenvorlage nach § 209 Abs. 3. Freilich steht hinter der Anfrage die Möglichkeit, wenn die Übernahme abgelehnt wird, die Hauptverhandlung zu beginnen und in ihr die Sache nach § 270 an das höhere Gericht zu verweisen und damit dessen Ablehnung unwirksam zu machen. Wegen der Einzelheiten s. 2 a zu § 270. 9. Die Frage, ob die Gerichtsbarkeit der ordentlichen Gerichte begründet ist, muß in allen Instanzen von Amts wegen geprüft werden (RGSt. 43 225). Eine Sache, die nicht vor die ordentliche Gerichtsbarkeit gehört, kann nicht auf dem Wege der Verbindung nach § 2 dorthin gebracht werden (RGSt. 39 132). Wenn sich die Unzuständigkeit der ordentlichen Gerichte herausstellt, findet § 270 keine Anwendung, vielmehr ist das Verfahren 1

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D a l i i n g e r M D R 1952 118; E b S c h m i d t 11, 12 zu § 270; F r a n k e l LM 3 zu § 33 JGG zu der inzwischen überholten Entscheidung BGHSt. 10 64. Ebenso F e i s e n b e r g e r 3; S c h w a r z , 22. Aufl. 1 A ; K o h l r a u s c h 2 zu § 270; E r b s II zu § 270. E b S c h m i d t 8; 4 zu § 270; M ü l l e r - S a x 2b; 2 zu § 270. P e t e r s , § 19 IV 9 Abs. 2 ; J Z 1955 54. zust. E b S c h m i d t NJW 1963 1477; im wesentlichen ablehnend P e t e r s JZ 1963 686.

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Vor § 7 Anm. 1—3

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

einzustellen (RGSt. 43 228, 59 36). Ebenso ist zu verfahren, wenn — etwa nach dem Überleitungsvertrag — keine deutsche Gerichtsbarkeit gegeben ist (OLG Karlsruhe JZ 1967 419). Mit der sachlichen Zuständigkeit haben diese Fälle freilich nichts zu tun. ZWEITER ABSCHNITT Gerichtsstand Vorbemerkungen 1. Entstehungsgeschichte. Der zweite (in den Entwürfen erste) Abschnitt ist mehrfach geändert worden. Die Änderungen sind bei den einzelnen Bestimmungen vermerkt. Die wichtigsten sind: Die Beseitigung des „fliegenden Gerichtsstandes der Presse" durch Gesetz vom 13.6. 1902 (§ 7 Abs. 2); die Einführung eines allgemeinen Gerichtsstandes des Ergreifungsortes (§ 9) und die Regelung der Zuständigkeit bei Taten, die auf einem deutschen Luftfahrzeug außerhalb des räumlichen Geltungsbereichs der Strafprozeßordnung begangen sind (§ 10 Abs. 2), durch das VereinhG.; sowie die Ausdehnung der Gerichtsstandsbestimmung durch den Bundesgerichtshof zufolge des 3. StRÄndG (§ 13 a). 2. Örtliche Zuständigkeit. Abweichend vom Sprachgebrauch früherer Strafverfahrensordnungen bezieht sich der Ausdruck „Gerichtsstand" in der Strafprozeßordnung ausschließlich auf die örtliche Zuständigkeit der Gerichte erster Instanz. Der zweite Abschnitt regelt, welche gleichartigen Gerichte verschiedener Bezirke für die Entscheidung einer Strafsache in der ersten Instanz zuständig sind. Weitere Vorschriften über die örtliche Zuständigkeit enthalten § 388 Abs. 1 (Widerklage im Privatklageverfahren) und §441 Abs. 1 (objektives Einziehungsverfahren). Die örtliche Zuständigkeit zu einzelnen Untersuchungshandlungen — wobei zuweilen zugleich die sachliche und die funktionelle mit bestimmt werden (2 vor § 1) — ist Gegenstand von § 98 Abs. 2 Satz 3, § 100 Abs. 3, §§ 125, 126, § 128 Abs. 1, § 162 Abs. 1, § 165; § 157 GVG. Vorschriften über die Erörterung und Feststellung der Zuständigkeit finden sich in §§ 180 bis 182, § 201 Abs. 2, § 338 Nr. 4, § 355. Eine Verschiebung der örtlichen Zuständigkeit regelt § 354 Abs. 2, 2. Alternative. Örtliche Zuständigkeiten werden weiter festgelegt durch Art. 1 §§ 2 und 3 des Gesetzes über die Zuständigkeit der Gerichte bei Änderung der Gerichtseinteilung vom 6. 12. 1933 (BGBl. III 300-4) für die erste Instanz und durch § 5 für die Rechtsmittelinstanzen, sowie durch §§ 17 bis 19 des Zuständigkeitsergänzungsgesetzes vom 7. 8. 1952 (BGBl. III 310-1). 3. Örtliche Zuständigkeit der Rechtsmittelgerichte. Von der erstinstanzlichen Zuständigkeit hängt die örtliche Zuständigkeit der Rechtsmittelgerichte derart ab, daß für die Entscheidung über ein Rechtsmittel jeweils dasjenige sachlich zuständige Rechtsmittelgericht (3 vor § 1) örtlich zuständig ist, zu dessen Bezirk das Gericht gehört, dessen Entscheidung angefochten ist. Geht die Sache im ersten Rechtszuge von einem Gericht auf ein anderes über, dann wechselt damit ohne weiteres auch das Rechtsmittelgericht, soweit es nicht den beteiligten unteren Gerichten gemeinsam ist. Es ist stets nur ein Rechtsmittelgericht ausschließlich örtlich zuständig, und die Zuständigkeit ist von dem Gerichtsstand des Angeklagten in der Weise unabhängig, daß das Rechtsmittelgericht auch dann örtlich zuständig ist, wenn das untere Gericht seine örtliche Zuständigkeit zu Unrecht angenommen hatte. Von dieser ausschließlichen Zuständigkeit läßt das Gesetz fünf Ausnahmen zu: Wenn ein Land dem Oberlandesgericht eines anderen Landes nach § 120 Abs. 5 Satz 2 GVG die Aufgaben in Staatsschutzsachen nach § 120 Abs. 1 bis 4 GVG übertragen hat, entscheidet das Oberlandesgericht des anderen Landes auch über Beschwerden gegen Verfügungen und Entscheidungen der nach § 74a GVG zuständigen Strafkammer des Landes, das die Aufgaben übertragen hat. Hebt das Oberlandesgericht das Urteil eines Berufungsgerichts auf und verweist es dabei nach § 354 Abs. 2, 2. Alternative, die Sache an ein anderes Landgericht — was täglich geschieht —, dann entscheidet in der „anderweitigen Verhandlung" (§ 358 Abs. 1) über die Berufung ein Landgericht, zu dessen Bezirk das Gericht, dessen Urteil mit der Berufung 226

Zweiter Abschnitt. Gerichtsstand (Dünnebier)

Vor § 7

Anm. 4 1

angefochten war, nicht gehört . Da das Gericht, an das die Sache verwiesen werden kann, zwar zu demselben Land, aber nicht zu demselben Oberlandesgerichtsbezirk gehören muß, könnte nach dem Wortlaut des Gesetzes das Oberlandesgericht Köln die Sache auch ans Landgericht Düsseldorf verweisen, so daß bei einer neuen Revision auch das Revisionsgericht wechseln würde; indessen ist — wie im Falle des § 15 (6 Abs. 2 zu § 15) — aus dem Gerichtsaufbau die Folgerung herzuleiten, daß das Gericht, an das verwiesen wird, zum Bezirk des verweisenden Gerichts gehören muß. Der Befehl des § 354 Abs. 2, die Sache im Lande zu lassen, schränkt dann nur die Befugnis des Bundesgerichtshofs ein, gibt dem Oberlandesgericht aber nicht das Recht, Sachen in fremde Oberlandesgerichtsbezirke zu verweisen. Die Beschränkung, daß die Sache nur auf ein Gericht übertragen werden könne, das zu demselben Lande gehört wie das Gericht, dessen Urteil aufgehoben ist, findet nicht statt, wenn bei Verhinderung des zuständigen Berufungsgerichts die Untersuchung nach § 15 einem gleichstehenden Gericht übertragen wird und die Übertragung dem Bundesgerichtshof zukommt (6 Abs. 3 zu § 15). Die größere Freiheit, die damit dem Bundesgerichtshof erwächst, trägt der Notwendigkeit Rechnung, Verhinderungen von Gerichten abzuhelfen. Das Oberlandesgericht dagegen kann auch im Falle des § 15 die Zuständigkeit nicht auf das Gericht eines ihm fremden Bezirks übertragen (4, 6 zu § 15). Der Beschränkung des § 354 Abs. 2 ist auch das Bundesverfassungsgericht nicht unterworfen, wenn es eine Sache nach § 95 Abs. 2 BVerfGG zurückverweist (BVerfGE 12 132, 114 = NJW 1961 822: Verweisung vom LG Göttingen ans LG Düsseldorf als Berufungsgericht über ein Urteil des Amtsgerichts Einbeck). Durch Übertragung nach § 12 Abs. 2 kann schließlich auch ein Wechsel in der örtlichen Zuständigkeit des Berufungsgerichts und des Oberlandesgerichts als Revisionsgericht herbeigeführt werden (III 4 zu § 12). 4. Weitere Gerichtsstände. Über die Gerichtsstände des zweiten Abschnitts hinaus sind folgende Gerichtsstände gegeben: In Jugendsachen ist — selbständig, nicht nur hilfsweise (BGHSt. 13 210) — neben dem Richter, der nach dem zweiten Abschnitt zuständig ist, örtlich zuständig der Richter, dem die vormundschaftlichen Erziehungsaufgaben für den Beschuldigten obliegen; der Richter, in dessen Bezirk sich der auf freiem Fuß (11 zu § 35) befindliche Angeschuldigte zur Zeit der Erhebung der Anklage aufhält; und — solange der Verurteilte eine Jugendstrafe noch nicht vollständig verbüßt hat — der Richter, dem die Aufgaben des Vollstreckungsleiters obliegen (§ 42 Abs. 1 JGG). Für die in § 74a GVG aufgeführten Staatsschutzsachen ist die Strafkammer des Landgerichts, in dessen Bezirk das Oberlandesgericht seinen Sitz hat, ausschließlich örtlich zuständig (BGHSt. 13 378) 2 . Das gilt auch in Jugendsachen (§ 102 Satz 1 JGG). In Strafverfahren wegen Steuervergehen (§ 421 AO) ist, soweit das Amtsgericht sachlich zuständig ist, örtlich zuständig das Amtsgericht am Sitz des Landgerichts, falls die Landesregierung keine abweichende Bestimmung erlassen hat (§ 426 Abs. 1 und 2 AO) 3 . Der Gerichtsstand wird nicht dadurch berührt, daß das Verfahren nicht nur Steuervergehen zum Gegenstand hat (§ 426 Abs. 4). Eine gleiche Regelung wie § 426 AO trifft für das Außenwirtschaftsrecht § 43 Abs. 1 AWG, für bestimmte Tatbestände des Wirtschaftsrechts § 13 Abs. 1 WiStG. Nach § 3 Abs. 3 des Gesetzes über das gerichtliche Verfahren in Binnenschiffahrtsund Rheinschiffahrtssachen vom 27.9.1952 (BGBl. III 3 1 0 - 5 ) ist für die Verhandlung und Entscheidung von Strafsachen, die Binnenschiffahrtssachen sind, das Gericht des Tatorts ausschließlich zuständig. Liegt der Tatort auf einem Gewässer zwischen zwei deutschen Ufern, die zum Bezirk verschiedener Gerichte gehören, so sind die Gerichte 1

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3

Beisp.: Urteil des Amtsgerichts Bonn, Berufungsurteil des Landgerichts Bonn, aufhebendes Urteil des Oberlandesgerichts Köln, neues Berufungsurteil (über das Bonner Urteil) des Landgerichts Köln. M ü l l e r — S a x 1 a (2) zu § 7 4 a G V G ; K l 2 B zu § 7 4 a G V G ; a. A. - sachliche höhere Zuständigkeit im Verhältnis zu anderen Strafkammern — S c h w a r z NJW 1956 1305. Die Landesregierung ist auch zu einer Zuständigkeitskonzentration über die Grenzen eines Landgerichtsbezirks hinaus ermächtigt (OLG Zweibrücken M D R 1970 1033). In Bayern sind durch V O vom 21. 11. 1967 (GVB1. 477) sieben Amtsgerichte für zuständig erklärt worden.

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Vor § 7 Anm. 5

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

beider Ufer zuständig. Fehlt es nach diesen Vorschriften an einem Gerichtsstand, dann gelten die allgemeinen Vorschriften, soweit die Landesregierung keine andere Regelung getroffen hat. — Nach § 58 GVG kann die Landesjustizverwaltung für den Bezirk mehrerer Amtsgerichte einem von ihnen die Entscheidung in Strafsachen ganz oder zum Teil zuweisen. Am Orte dieses Amtsgerichts ist die Zuständigkeit für den ganzen auf diese Weise vergrößerten Bezirk mehrerer Amtsgerichte begründet. Ist in den Fällen dieses Absatzes der Täter ein Jugendlicher oder Heranwachsender, so ist der Jugendrichter an dem in diesem Absatz genannten Amtsgericht zuständig (BGHSt. 10 326)4. Ist für eine nach Art. 2 des Gesetzes zu dem Europäischen Übereinkommen vom 11. 1. 1965 zur Verhütung von Rundfunksendungen, die von Gesuchstellern außerhalb der staatlichen Hoheitsgebiete gesendet werden5, mit Strafe bedrohte Handlung kein Gerichtsstand nach §§ 7 bis 10, 13, 98 Abs. 2 Satz 3, 128 Abs. 1 oder 162 Abs. 1 StPO oder § 157 GVG begründet, so ist Hamburg Gerichtsstand; zuständiges Amtsgericht ist das Amtsgericht Hamburg. 5. Konkurrenz der Gerichtsstände. Der Gerichtsstand des Tatorts (§ 7 Abs. 1) wird für Pressedelikte, die im Offizialverfahren verfolgt werden, dahin eingeschränkt, daß als ausschließlicher Tatort derjenige fingiert wird, an dem die Druckschrift erschienen ist; damit werden die weiteren Tatorte ausgeschaltet, die an sich dort gegeben sind, wo die Druckschrift verbreitet wird (§ 7 Abs. 2). § 7 Abs. 1 wird ergänzt durch die fingierten Tatorte des Heimathafens und des nächsten Hafens in § 10. Der Gerichtsstand des Wohnsitzes (§ 8 Abs. 1) wird ergänzt durch den fingierten des Wohnsitzes von Exterritorialen und von Beamten, die im Ausland angestellt sind (§ 11). Zu diesen beiden Gerichtsständen treten derjenige der Ergreifung (§ 9) und derjenige des Auftrags für den Fall, daß ein Gerichtsstand fehlt (§ 13 a). Schließlich ist für zusammenhängende Strafsachen ein Gerichtsstand bei jedem Gericht begründet, das für eine der Strafsachen zuständig ist (§ 13 Abs. 1). Dem Gerichtsstand des Wohnsitzes (§ 8 Abs. 1) subsidiär ist der des gewöhnlichen, und diesem der des letzten Aufenthalts (§ 8 Abs. 2). Dem Gerichtsstand des an sich zuständigen aber verhinderten Gerichts subsidiär ist der Gerichtsstand kraft Übertragung, wenn das zuständige Gericht verhindert ist (§ 15). Dem Gerichtsstand des Tatorts in Binnenschiffahrtssachen subsidiär ist jeder der gewöhnlichen Gerichtsstände. Sämtliche Gerichtsstände — wenn der Fall eintritt, für den sie bestimmt sind, auch die subsidiären — stehen dem Kläger zur freien Wahl. Wenn auch der Staatsanwalt dabei in der Regel aus Zweckmäßigkeitsgründen handeln wird, so kann doch eine Wahl, etwa des Privatklägers, der andere Erwägungen zugrundeliegen, nicht geprüft und beanstandet werden. Jeder Gerichtsstand ist ein gesetzlicher, jedes Gericht gesetzlicher Richter i. S. des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG, § 16 Satz 2 GVG. Wenn nicht das Verfahren unpraktisch werden soll, müssen notwendigerweise mehrere Gerichtsstände vorgesehen werden. Aus dieser Notwendigkeit und auf der Voraussetzung, daß die Rechtsprechung sämtlicher Gerichte gleichwertig ist, überläßt das Gesetz es dem Kläger, im Einzelfall unter mehreren gesetzlichen Richtern einen auszuwählen. Danach liegt es im Ermessen des Klägers, ob er am Gerichtsstand des Tatorts oder des untersuchenden Finanzamts, des Heimathafens oder des nächsten Hafens, den Gehilfen an seinem Wohnort oder mit dem Täter am Tatort, den Festgenommenen am Tatort oder am Ergreifungsort, den Exterritorialen an seinem letzten Wohnort oder am Tatort im Geltungsbereich der Strafprozeßordnung anklagt. Dabei ist es gleichgültig, ob an anderer Stelle schon ein Ermittlungsverfahren eingeleitet ist. Die Staatsanwaltschaften verständigen sich nach dem Gesichtspunkte der Zweckmäßigkeit. Allerdings ist für den Gerichtsstand des Tatorts (§ 7 Abs. 1) praktisch ein Vorzug durch die Natur der Sache schon deswegen begründet, weil bei dem ersten Einschreiten häufig die Person des Täters und damit die Umstände unbekannt sind, die einen anderen Gerichtsstand auszuwählen gestatten. Zudem werden sich die Beweise meist am sichersten und schnellsten am Tatort erheben lassen. Daher wird es sich in der Regel empfehlen, die Sache am Gerichts stände der begangenen Tat anhängig zu machen, denjenigen des Wohnorts nur zu wählen, wenn das aus besonderen Gründen angezeigt erscheint, namentlich wenn viele Zeugen am Wohnort des Angeklagten wohnen. 4 5

Abi. G r e t h l e i n NJW 1957,370, zust. K o p a c e k NJW 1961 2147 vom 26. 9. 1969 (BGBl. II 1939).

228

Zweiter Abschnitt. Gerichtsstand (Dünnebier)

Vor § 7 A n m . 6—8

Die Konkurrenz der Gerichtsstände entfallt, wenn eine ausschließliche örtliche Zuständigkeit verordnet ist. Eine solche liegt z. B. vor bei Zuständigkeitskonzentrationen in bezug auf durch die Konzentration ausgeschlossene Gerichte (z. B. § 58 Abs. 1, § 74a GVG), in Binnenschiffahrtssachen und in bayerischen Forstrügesachen (4 Abs. 4). 6. Dauer des Gerichtsstandes. Der gesetzlich begründete Gerichtsstand wird nicht dadurch berührt, daß sich die Verhältnisse ändern, die ihn begründet haben. So ändert sich der Gerichtsstand nicht, wenn der Angeschuldigte seinen Wohnsitz verlegt, nachdem die Klage erhoben worden ist (4 zu § 8). Ebenso bleibt, wenn der in § 13 bezeichnete Zusammenhang wegfallt, der nach dieser Vorschrift begründete Gerichtsstand bestehen (II 5 zu § 13). Auch wird das nach § 13 a bestimmte Gericht nicht dadurch unzuständig, daß nachträglich ein Gerichtsstand ermittelt wird (5 zu § 13 a). Wenn der Ort, auf dessen Zugehörigkeit zum Gerichtsbezirk der Gerichtsstand beruhte, nach Anhängigkeit aus dem Gerichtsbezirk ausscheidet, bleibt das Gericht, bei dem die Sache anhängig ist, weiterhin zuständig. Eine Veränderung der Zuständigkeit ist in § § 2 , 3 ZustG nur für den Fall vorgesehen, daß ein Gerichtsbezirk gänzlich aufgehoben wird 6 . Entsteht wegen solcher Veränderungen unter mehreren Gerichten Streit über den Gerichtsstand, so entscheidet das gemeinschaftliche obere Gericht (§§ 14, 19); für den Fall, daß mehrere Gerichte das Verfahren eröffnet haben, gilt § 12. Ergänzungen des Gerichtsstandes für Sachen, die bei Gerichten in weggefallenen Gebieten anhängig waren, bringt das Zuständigkeitsergänzungsgesetz vom 7. 8. 1952 (BGB1.III 310—1), für Sachen, die bei anderen Gerichten anhängig waren, und für die keine Zuständigkeit in der Bundesrepublik und in Berlin-West gegeben ist, durch Art. IX des BEG — Schlußgesetzes vom 14. 9. 1965 (BGBl. I 1315), beschränkt aufZwecke der Entschädigung (§ 44 Abs. 2 des Bundesentschädigungsgesetzes vom 29.6. 1958 - BGBl. III 251-1). In beiden Vorschriften wird die Strafkammer des Landgerichts oder das Schwurgericht für zuständig erklärt. Daher kann mit der Veränderung der örtlichen zugleich die der sachlichen Zuständigkeit verbunden sein. 7. Der Begriff des Gerichtsbezirks ist, je nachdem ob ein Gericht höherer oder niederer Ordnung mit der Sache befaßt ist, verschieden. Der Bezirk des Landgerichts fallt regelmäßig mit dem des Schwurgerichts und der Strafkammer zusammen. Doch können mehrere Landgerichtsbezirke zu einem Schwurgericht vereinigt sein (§ 92 Abs. 1 GVG), und kann ein Landgerichtsbezirk mehrere Strafkammern umfassen (§ 78 Abs. 1 GVG). Der Bezirk des Untersuchungsrichters ist mit dem des Landgerichts rechtlich identisch. Der Bezirk des Amtsgerichts fallt mit dem des Schöffengerichts zusammen, soweit nicht die Landesjustizverwaltung nach § 58 Abs. 1 GVG eine andere Anordnung getroffen hat. 8. Entscheidung des oberen Gerichts. Bei der Regelung der örtlichen Zuständigkeit haben vielfach die oberen Gerichte mitzuwirken (vgl. § 12 Abs. 2, § 13 Abs. 2 und 3, § 13a, §§ 14,15,19). Obere Gerichte im Sinne dieses Abschnitts sind der Bundesgerichtshof, die Oberlandesgerichte und die Landgerichte 7 . Danach treffen die oben aufgeführten Entscheidungen: das Landgericht (§ 76 Abs. 1 GVG), wenn es sich um Amtsrichter oder Schöffengerichte desselben Landgerichtsbezirks handelt; das Oberlandesgericht (§ 122 Abs. 1 GVG), wenn es sich um Gerichte desselben Oberlandesgerichtsbezirks handelt und beteiligte Amts6

Art. I § 1 Satz 1 des Gesetzes über die Zuständigkeit der Gerichte bei Änderung der Gerichtseinteilung vom 6. 12. 1933 (BGBl. III 300 — 4). Durch jenes Gesetz ist die Entscheidung des Oberlandesgerichts München ( A l s b . E 1 53) überholt. Dort war angenommen worden, daß für die Wiederaufnahme die Zuständigkeit wechsle, wenn ein Ort aus einem Gerichtsbezirk ausscheide und einem anderen zugelegt werde. Für den Fall des § 211 hatte das Bayerische Oberste Landesgericht ebenfalls bei bloßer Änderung des Gerichtsbezirks einen Wechsel des Gerichtsstandes angenommen (BayObLGSt. 26 124 = JW 1926 2451). Auch diese Entscheidung ist durch § 1 ZustG, der a l l e Nachtragsentscheidungen umfaßt, überholt. Unberührt davon ist die bei § 211 zu behandelnde Frage, ob die Staatsanwaltschaft das Verfahren auch bei dem Gericht wieder aufnehmen darf, das durch die Zulegung ebenfalls zuständig geworden ist.

7

Das Bayerische Oberste Landesgericht ist kein oberes Gericht i. S. der vorgenannten Bestimmungen (BGHSt. 11 80; BayObLGSt. 1957 165= NJW 1957 1566).

229

Vor § 7 Anm. 9,10

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

richter oder Schöffengerichte verschiedenen Landgerichtsbezirken angehören; der Bundesgerichtshof, wenn es sich um Gerichte verschiedener Oberlandesgerichtsbezirke handelt. Wenn nicht, wie in § 13, anders vorgeschrieben, erläßt das obere Gericht seine Entscheidungen auf Antrag oder von Amts wegen, also auch auf Anregung eines der beteiligten Gerichte. Die Entscheidungen ergehen als Beschlüsse. Nach § 33 Abs. 2 ist die Staatsanwaltschaft des beteiligten Gerichts anzuhören. Ein Fall des § 33 Abs. 3 liegt nicht vor. Daher steht es im Ermessen des Gerichts, ob es auch andere Prozeßbeteiligte hören will. Gegen die Entscheidung des oberen Gerichts findet kein Rechtsmittel statt (Begrdg., H a h n Mat. 1 81). Für die Entscheidungen des Bundesgerichtshofs und des Oberlandesgerichts ergibt sich das aus § 304 Abs. 4, für die des Landgerichts aus § 304 Abs. 1, weil sie weder im ersten Rechtszuge noch im Berufungsverfahren erlassene Entscheidungen sind (BayObLG JW 1924 1778)*. Doch ist das obere Gericht befugt, seinen Beschluß aufzuheben oder zu ändern (OLG Celle NdsRpfl. 1957 39). Die Veranlassung hierzu kann auch ein gegen den Beschluß gerichteter Widerspruch eines Prozeßbeteiligten geben. Ein solcher Rücknahme- oder Änderungsbeschluß ist gleichfalls unanfechtbar (OLG Schleswig SchlHA 1958 235). Hat das zunächst obere Gericht sich für die Übertragung als unzuständig erklärt, dann entscheidet das diesem vorgesetzte Gericht (RGSt. 45 70). 9. Fürs Vorverfahren finden sich Bestimmungen über das erste und zweite Buch verstreut. Die Hauptvorschrift ist § 162 Abs. 1, wonach für richterliche Untersuchungshandlungen während des Ermittlungsverfahrens der Amtsrichter des Bezirks zuständig ist, in dessen Bezirk die Handlung vorzunehmen ist. Für das Haftverfahren ist eine ins einzelne gehende Regelung in den §§ 125, 126, 126a enthalten, die sich sowohl auf die örtliche als auch (§ 125 Abs. 2 Satz 1, § 126 Abs. 2 Satz 1 und 2) auf die sachliche Zuständigkeit bezieht. Das ist auch der Fall in § 81 Abs. 1 Satz 2. Weitere Vorschriften sprechen nur von dem Richter (§ 81a Abs. 2, § 81c Abs. 3, § 98 Abs. 1, § 100 Abs. 1, § 101a Abs. 2 Satz 1, § 105 Abs. 1, § l i l a Abs. 1, § 132 Abs. 2; vgl. auch §§ 12, 13 FernMAnlG), enthalten also den Vorbehalt der richterlichen Entscheidung, ohne zurZuständigkeitsbestimmung etwas beizutragen, die dann in der Regel in § 162 Abs. 1 gesucht wird. Wo die Handlung vorzunehmen ist, kann aber zuweilen (schriftliches Gehör eines auswärtigen Sachverständigen) zweifelhaft sein; auch kann der Weg über den nach § 162 Abs. 1 zuständigen Richter die Ermittlungen erschweren. Da zudem die Vollstreckung überall stattfinden kann (§ 160 GVG), liegt kein zwingender Grund dafür vor, Anordnung für richterliche Untersuchungshandlungen, die im Ermittlungsverfahren notwendig werden, dem Richter zuzuweisen, in dessen Bezirk die Handlung vorzunehmen ist, etwa eine zu beschlagnahmende Sache sich befindet. Auch muß von § 162 Abs. 1 ohnehin dann eine Ausnahme gemacht werden, wenn eine Untersuchungshandlung durch Ersuchen ins Ausland vorzunehmen ist. Dann muß notwendigerweise der Amtsrichter entscheiden, in dessen Bezirk ein Gerichtsstand begründet ist. Bei einer Reform müßte daher — und das hätte schon bei der Änderung der §§ 125, 126 durch Art. 1 Nr. 1 StPÄG geschehen müssen — für alle beschwerenden, im Ermittlungsverfahren zu treffenden Anordnungen eine zentrale Zuständigkeitsvorschrift geschaffen werden, die die genannten Zuständigkeitsregeln ersetzt. Sie könnte §§ 125, 126 nachgebildet werden und ihren Platz wohl nach § 21 erhalten. Ihr könnte für Zeugenvernehmungen ein besonderer Absatz angefügt werden, doch bestünden auch keine Bedenken, eine Sondervorschrift über die Zuständigkeit bei Zeugenvernehmungen in den sechsten Abschnitt einzufügen. 10. Über die örtliche Zuständigkeit der Staatsanwaltschaft s. § 143 GVG.

§7 (1)Der Gerichtsstand ist bei dem Gericht begründet, in dessen Bezirk die strafbare Handlung begangen ist. (2) Wird der Tatbestand der strafbaren Handlung durch den Inhalt einer im Geltungsbereich dieses Bundesgesetzes erschienenen Druckschrift begründet, so ist als das nach 8

A.A. — Anfechtung mit einfacher Beschwerde statthaft — F e i s e n b e r g e r 7.

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Zweiter Abschnitt. Gerichtsstand (Dünnebier)

§ 7 Anm. 1 1 , 2

Absatz 1 zuständige Gericht nur das Gericht anzusehen, in dessen Bezirk die Druckschrift erschienen ist. Jedoch ist in den Fällen der Beleidigung, sofern die Verfolgung im Wege der Privatklage stattfindet, auch das Gericht, in dessen Bezirk die Druckschrift verbreitet worden ist, zuständig, wenn in diesem Bezirk die beleidigte Person ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt hat. Entstehungsgeschichte: Absatz 2 ist eingefügt durch Gesetz vom 13.6.1902 (RGBl. 227). In Absatz 2 Satz 1 ist das Wort „Inland" ersetzt worden durch „Geltungsbereich dieses Bundesgesetzes" durch Art. 4 Nr. 1 des 3. StRÄndG. Schrifttum: v. H i p p e l , Zeit und Ort der Tat, ZStW 37 1; K i t z i n g e r , Ort und Zeit der Handlung im Strafrecht, VDA 1 135. I. Gerichtsstand des Tatorts (Absatz 1). 1. Ob eine Tat begangen ist, wird erst durch das rechtskräftige Urteil festgestellt. Das Gesetz kann daher nur auf den hypothetischen Tatort abstellen, „an dem die Tat unter der (richtigen oder falschen) Voraussetzung, daß sie begangen sei, begangen ist" ( B e l i n g § 17 II 1). Wo in diesem Sinne eine Tat begangen ist, bestimmt das sachliche Strafrecht, namentlich § 3 Abs. 3 StGB: „Eine Tat ist an jedem Ort begangen, an dem der Täter gehandelt hat oder im Falle des Unterlassens hätte handeln sollen, oder an dem der Erfolg eingetreten ist oder eintreten sollte". Liegt der Tatort nicht im räumlichen Geltungsbereich der Strafprozeßordnung, findet § 7 keine Anwendung. Der Gerichtsstand bestimmt sich dann nach §§ 8 bis 13. 2. Zufolge der Vorschrift ergibt sich mehrfach eine Mehrheit von Begehungsorten: a) Der Täter kann den Tatbestand nacheinander an verschiedenen Orten verwirklicht haben (RGSt. 19 148), namentlich Vorbereitungshandlungen (RGSt. 57 145) oder die Teilhandlungen einer fortgesetzten Tat an verschiedenen Orten begangen haben. b) Die Handlung kann sich über mehrere Bezirke erstreckt haben, wie z. B. bei verbotener Einfuhr oder bei Schmuggel, der erst beendet ist, wenn das geschmuggelte Gut zur Ruhe gekommen ist (RGSt. 74 163). c) Dieselbe Handlung, z. B. eine Schlägerei an einer Bezirksgrenze, kann sich auf dem Boden bald des einen bald des anderen Bezirks abspielen. d) Die vom Täter in Bewegung gesetzten, als Werkzeug benutzten — menschlichen, tierischen oder mechanischen — Kräfte können an einem anderen Ort als der Täter selbst wirksam geworden sein (RGSt. 23 157, 39 263,67 138). e) Der Erfolg kann an einem von der Tätigkeit verschiedenen Ort eingetreten sein: das im Bezirk A angefahrene Verkehrsopfer stirbt im Krankenhaus des Bezirkes B. f) Der Täter eines Unterlassungsdelikts kann sich, während seine Rechtspflicht zum Handeln bestand, an verschiedenen Orten aufgehalten haben (RGSt. 74 59). g) Im Falle der Mittäterschaft ist die Tat an jedem Ort begangen, an dem auch nur einer der Mittäter gehandelt hat (RGSt. 11 23, 13 339, 57 145). Bei der Teilnahme sind Anstiftung und Beihilfe, da sie den Erfolg der Haupttat bewirken, sowohl am Orte der Tätigkeit des Teilnehmers als auch am Orte der Haupttat begangen (RGSt. 43 85, 74 59, 77 112). Aus diesen Grundsätzen ergibt sich, daß eine Handlung im Inlande begangen ist, wenn ihr Tatbestand auch nur teilweise im Inlande verwirklicht worden ist (RGSt. 48 141), gleichgültig ob die Handlung im Inlande begonnen und im Auslande vollendet worden ist (RGSt. 10 422, 49 425) oder umgekehrt (RGSt. 11 23), sowie daß die ausländische Teilnahme an einer inländischen Tat (RGSt. 19 147, 25 426) und die inländische Teilnahme an einer ausländischen Tat (RGSt. 14 128) im Inlande begangen sind. Dabei bleibt es gleichgültig, daß die Handlung im Auslande straflos ist (RGSt. 20 146,48 145). Begünstigung und Hehlerei sind selbständige Delikte und daher nicht (auch) am Orte der Vortat begangen (RGSt. 43 84), doch ist, wenn der Vortäter angeklagt wird, nach § 13 in Vbdg. mit § 3 für den Begünstiger und Hehler ein Gerichtsstand auch bei dem Gericht begründet, das für die Strafsache des Vortäters örtlich zuständig ist.

231

§7

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

Anin. II 1 - 3 II. Gerichtsstand der Presse (Absatz 2). 1. Inhalt. Absatz 2 Satz 1 schränkt, den sog. „fliegenden Gerichtsstand der Presse" (RGSt. 23 155) beseitigend (BGHSt. 11 59), die Geltung von § 7 Abs. 1 für Erzeugnisse der Presse so ein, daß der Gerichtsstand des Begehungsorts nicht bei jedem Gericht, in dessen Bezirk das Druckwerk verbreitet worden ist, sondern grundsätzlich nur beim Gericht des Erscheinungsorts begründet ist (RGSt. 36 271). Absatz 2 gilt nur für Druckwerke, die im Geltungsbereich der Strafprozeßordnung erscheinen. Für ausländische Druckschriften und für solche aus der DDR und aus Ostberlin bewendet es bei der Grundregel des Absatzes 1; d. h. der Gerichtsstand ist alsdann an jedem Ort gegeben, wo die Druckschrift verbreitet worden ist. Das ist namentlich beim objektiven Einziehungsverfahren staatsgefährdender Schriften und unsittlicher Druckwerke aus dem Auslande von Bedeutung; allerdings wird, soweit schon die Einfuhr verboten ist (§ 86 Abs. 1, § 184 Abs. 1 Nr. 1 a StGB), dem Gerichtsstand des Einfuhrorts ein tatsächlicher Vorzug zukommen. Sind die Voraussetzungen des Absatzes 2 Satz 1 erfüllt, dann nimmt nur das Gericht, in dessen Bezirk das Druckwerk erschienen ist, den Platz des nach Absatz 1 zuständigen Gerichts ein. Eine Ausnahme von diesem Grundsatz greift nach Absatz 2 Satz 2 zugunsten des Privatklägers Platz (6). Auch kann bei Gefahr im Verzuge jedes Gericht die Beschlagnahme einer Druckschrift anordnen (§21, für die Staatsanwaltschaft vgl. § 143 Abs. 2 GVG). Für das vorbereitende Verfahren gilt § 7 Abs. 2 nicht; die Zuständigkeit richtet sich nach den allgemeinen Vorschriften, namentlich nach Absatz 1, wonach regelmäßig eine Vielzahl zuständiger Amtsrichter gegeben sein wird (I 2). Die Ausnahmebestimmung des Absatzes 2 betrifft nur den in Absatz 1 geregelten Gerichtsstand des Begehungsorts. Die sonstigen Gerichtsstände bleiben unberührt. Namentlich ist der Gerichtsstand des Wohnsitzes oder Aufenthaltsorts nach § 8 auch bei Druckwerken allgemein anwendbar, durch deren Inhalt der Tatbestand einer strafbaren Handlung begründet wird. Um zu gewährleisten, daß Pressesachen einheitlich bearbeitet werden, hat der Staatsanwalt, der ein Verfahren wegen eines Druckwerkes einleitet, das nicht in seinem Bezirk erschienen ist, das dem Staatsanwalt des Erscheinungsorts mitzuteilen (Nr. 284 Abs. 1 Satz 2 RiStBV). Absatz 2 gilt sowohl für Handlungen, die nach dem Strafgesetzbuch oder strafrechtlichen Nebengesetzen mit Strafe bedroht sind, als auch für solche, deren Strafbarkeit in einer Sondervorschrift für die Presse ihre Grundlage hat; Voraussetzung ist nur, daß der Tatbestand durch den Inhalt der Druckschrift erfüllt werden kann. 2. Rundfunk. Das Landgericht Arnsberg (zust. M ü l l e r - S a x 5d) will § 7 Abs. 2 Satz 1 auf Ton- und Fernseh-Rundfunkanstalten entsprechend anwenden (Ausstrahlungsort) mit der Begründung: Wie der Presse sei es auch Funk und Fernsehen eigentümlich, daß Darstellungen und Gedankenäußerungen mittels eines Massenverbreitungsmittels ungezielt an eine unkontrollierbar große Anzahl von Menschen an den verschiedensten Orten übermittelt werden. Bei den im Wesen gleichartigen Tatbeständen sei es ein Gebot der Rechtsgleichheit, daß der fliegende Gerichtsstand auch bei Funk und Fernsehen weichen müsse (NJW 1964 1972). Ob der Erwägung zuzustimmen ist, kann dahinstehen. Denn sie berechtigt nicht, die Folgerung des Landgerichts zu ziehen. Daß bei ähnlicher, aber nicht völlig gleicher Tatsachengrundlage (das Presseerzeugnis liegt für jedermann fest, der Inhalt der Sendung muß bewiesen werden) für den Gerichtsstand bei der Presse und beim Rundfunk jeweils eine verschiedene Rechtslage besteht, ist dem Gesetzgeber seit mehreren Jahrzehnten bekannt. Wenn er gleichwohl bei vielen Gelegenheiten das Gesetz nicht geändert hat, muß die darin liegende Entscheidung, für den Funk (zunächst oder für bestimmte Zeit) den allgemeinen Gerichtsstand sehr vieler Tatorte (die Tat ist an jedem Empfangsort begangen) zu belassen, von der Rechtsanwendung respektiert werden. 3. Druckschrift. § 7 Abs. 2 gebraucht dieses Wort im Sinne von § 2 PreßG. Die Bestimmung ist überholt durch die neuen Begriffsbestimmungen der Landespressegesetze über Druckwerke ( L ö f f l e r 2 § 7). Beisp.: § 7 PG BaWü: Druckwerke sind alle mittels der Buchdruckerpresse oder eines sonstigen zur Massenherstellung geeigneten Vermitt232

Zweiter Abschnitt. Gerichtsstand (Dünnebier)

§ 7 Anm. II 4—6

lungsverfahrens hergestellten und zur Verbreitung (Bayern: in der Öffentlichkeit; BGHSt. 13 257: an einen größeren, nicht zu kontrollierenden Personenkreis) bestimmten Schriften, besprochenen Tonträger, bildlichen Darstellungen mit und ohne Schrift und Musikalien mit (Hessen: oder ohne) Text oder Erläuterungen. Es ist gleichgültig, auf welchem Stoff die Vervielfältigung vorgenommen (OLG München DJZ 1925 351) oder mit welchem Mittel — etwa Öldruck oder Lichtbild — sie hervorgerufen wird (RGRspr. 3 445, RGSt. 4 362). Auch Gedenk- und Erinnerungsmünzen, die nicht Wertträger sind, sondern der Verbreitung der auf ihnen angebrachten Aufschriften oder Darstellungen dienen, fallen, wenn die sonstigen Voraussetzungen vorliegen, unter jenen Begriff (PrOVG JW 1928 2110): Dagegen sind mit der Hand oder der Schreibmaschine hergestellte Abschriften oder Durchschläge keine Druckschriften (RGSt. 47 244; OLG Marienwerder LZ 1918 462), wohl aber Massenvervielfaltigungen auf Kopiermaschinen, auch im Handbetrieb ( L ö f f l e r 2 30 zu § 7). 4. Erscheinungsort. Ein Druckwerk erscheint dort, wo es mit dem Willen des Verfügungsberechtigten die Stätte der ihre Verbreitung vorbereitenden Handlungen zum Zweck der Verbreitung verläßt, d. h. wo es ausgegeben wird (RGSt. 64 292). Das ist in der Regel die Geschäftsniederlassung des Verlegers; doch kann je nach den besonderen Umständen des einzelnen Falls auch ein anderer Ort Ausgabeort sein; daraus können sich mehrere Erscheinungsorte ergeben 1 . Absatz 2 kann, weil er das Anwendungsgebiet des Absatzes 1 einschränkt, die Auswahl nur unter Gerichtsständen treffen, in deren Bezirken die strafbare Handlung begangen worden ist; er setzt also voraus, daß die Handlung am Erscheinungsort kraft eines dort geltenden Gesetzes bestraft werden kann. Schon die Fassung, „so ist als das nach Absatz 1 zuständige Gericht nur das Gericht anzusehen, in dessen Bezirk die Druckschrift erschienen ist" ergibt, daß das Gericht des Erscheinungsorts nur zuständig sein soll, wenn auch dort eine strafbare Handlung begangen worden ist (RGSt. 36 258, 271; 37 20). Absatz 2 findet keine Anwendung, wenn erst eine auf die Druckschrift bezogene nachfolgende Tätigkeit die Strafbarkeit begründet (RG GA 56 322). 5. Inhalt einer Druckschrift. Die den Absatz 2 einleitenden Worte haben denselben Sinn wie die Eingangsworte von § 41 StGB und der landesrechtlichen Regelungen. Beisp.: § 20 Abs. 2 P G BaWü: „Ist durch ein Druckwerk der Tatbestand einer mit Strafe bedrohten Handlung verwirklicht w o r d e n , . . . " . Der Inhalt einer Druckschrift ist strafbar, wenn sie eine Gedankenäußerung enthält und diese gegen ein strafrechtlich geschütztes Verbot oder Gebot verstößt (RGSt. 30 198, 36 146, 271, 40 358, 66 146). Da die Herstellung des Werks nur straflose Vorbereitung ist (RGSt. 35 376), muß zur Drucklegung noch ein weiteres Merkmal, nämlich die Kundgebung in Gestalt einer Ankündigung, Anpreisung oder Verbreitung, hinzukommen (RGSt. 5 356, 32 70, 40 358). Wird die Strafbarkeit erst durch eine Handlung begründet, die der Kundgebung nachfolgt, so ist Absatz 2 nicht anzuwenden (RG G A 56 322). Ebenso finden die allgemeinen Vorschriften Anwendung, wenn die bereits erschienene Druckschrift als Mittel benutzt wird, eine neue selbständige Straftat zu begehen. Verletzungen des Urheberrechts fallen nicht unter Absatz 2 (KG DJZ 1903 550). Absatz 2 gilt nur für die sog. Presseinhaltsdelikte. Ein Pressinhaltsdelikt liegt vor, wenn eine Straftat begangen wird durch die auf eine unbestimmte Vielzahl von Lesern einwirkende Verbreitung einer Druckschrift, deren geistig wirksamer Inhalt die in dem Tatbestand erforderliche Erklärung enthält, und außerhalb ihrer diejenigen Umstände gegeben sind, von denen die Strafbarkeit der Erklärung nach dem Tatbestand sonst noch abhängt (RGSt. 66 147; OLG Oldenburg NJW 1960 305; OLG Hamburg NJW 1965 2168). Für Presseordnungsdelikte ( L ö f f l e r 2 § 21) gelten die allgemeinen Vorschriften. 6. Privatklagedelikte. Absatz 2 Satz 2 dehnt den in Satz 1 eingeschränkten Geltungsbereich des Gerichtsstandes des Begehungsorts zugunsten des Privatklägers wieder aus. Wird eine durch den Inhalt einer Druckschrift begangene Beleidigung nach §§ 185 bis 187a und 189 StGB nach § 374 Nr. 2 StPO im Wege der Privatklage verfolgt, so ist auch das Gericht, in dessen Bezirk die Druckschrift verbreitet worden ist, zuständig, wenn in diesem Bezirk der Beleidigte seinen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthaltsort (§ 8) zur Zeit der 1

Zu den hieraus entspringenden Fragen s. L ö f f l e r 2 19 bis 22 zu § 8.

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§ 7 Anm. II 7 § 8 Anm. 1

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

Erhebung der Klage hat. Daher ist nicht erforderlich, daß er seinen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt dort bereits zur Zeit der Verbreitung gehabt hat. Verbreitung ist diejenige Handlung, mit der die Druckschrift einen größeren Personenkreis (BGHSt. 19 74) gegenständlich — daher ist Vorlesen kein Verbreiten (BGHSt. 18 63) — zugänglich gemacht wird (RGSt. 7 114, 36 331). Nicht erforderlich ist, daß dieser Personenkreis eine unbestimmte Mehrheit darstellt (RGSt. 36 331; BGHSt. 13 258). Auch reicht die Zusendung an einen einzelnen Empfänger aus, wenn sie in der Absicht vorgenommen wird, daß dieser sie einem größeren Personenkreis zugänglich machen werde (RGSt. 16 245). Die Schrift muß im gewöhnlichen Geschäftsbetrieb verbreitet werden2. Daher genügt es nicht, wenn der Beleidigte selbst oder ein Dritter sie an den Ort gebracht oder geschickt hat, wo der Beleidigte seinen Wohnsitz oder seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat; vielmehr ist erforderlich, daß sie im gewöhnlichen Geschäftsgang dorthin gelangt ist. Für periodische Drucksachen ist das im Reichstag anerkannt worden3. Das gleiche muß nach dem Sinn der Vorschrift auch bei nicht periodischen Druckschriften gelten. Danach muß zum Begriff des Verbreitens bei allen Druckschriften gefordert werden, daß sie im gewöhnlichen Geschäftsbetrieb in den Besitz einer Person gekommen sind, die sich am Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt des Beleidigten aufhält. Sonst liegt kein Pressedelikt sondern Beleidigung durch eine Druckschrift vor. 7. Offizialverfahren. Übernimmt die Staatsanwaltschaft durch ausdrückliche Erklärung oder durch Einlegen eines Rechtsmittels die Verfolgung (§ 377 Abs. 2), so ist das Verfahren in der Lage, in der es sich befindet, nach den Vorschriften des ordentlichen Verfahrens fortzusetzen (RGSt. 41 280, 46 119, 57 349; BGHSt. 11 61). Demzufolge bleibt der vom Privatkläger gewählte Gerichtsstand des § 7 Abs. 2 Satz 2 bestehen und tritt derjenige des § 7 Abs. 2 Satz 1, wenn beide auseinanderfallen, zurück (BGHSt. 11 61). Diese jetzt unangefochtene Ansicht 4 widerspricht zwar sowohl der Begründung des Gesetzes vom 13.6. 19025 als auch den Erklärungen im Reichstag6 und der früheren Rechtsprechung (RGSt. 10 237, 29 422). Danach sollte nach der Übernahme das Verfahren am Gerichtsstande des Absatzes 2 Satz 2 einzustellen und die Staatsanwaltschaft verpflichtet sein, am Gerichtsstande des Erscheinungsorts neu anzuklagen. Die neuere Ansicht folgt jedoch sowohl aus dem Wortlaute des § 377 Abs. 2 Satz 1 als auch zwingend aus der Erwägung, daß die Übernahmeerklärung der Staatsanwaltschaft nicht die Macht haben kann, das bis zur Übernahme abgelaufene gerichtliche Verfahren, ja ggf. ein erstinstanzliches — wenn auch noch nicht rechtskräftiges — Urteil, zu vernichten (RGSt. 46 128).

§8 (1) Der Gerichtsstand ist auch bei dem Gericht begründet, in dessen Bezirk der Angeschuldigte zur Zeit der Erhebung der Klage seinen Wohnsitz hat. (2) Hat der Angeschuldigte keinen Wohnsitz im Geltungsbereich dieses Bundesgesetzes, so wird der Gerichtsstand auch durch den gewöhnlichen Aufenthaltsort und, wenn ein solcher nicht bekannt ist, durch den letzten Wohnsitz bestimmt. Entstehungsgeschichte: Durch Art. 3 Nr. 3 VereinhG ist in Absatz 2 die Wendung „Deutsches Reich" in „Geltungsbereich dieses Bundesgesetzes" geändert worden. 1. Wohnsitz. Der Begriff des Wohnsitzes ist in den §§ 7 bis 11 BGB bestimmt und für den Strafrichter maßgebend ( v . H i p p e l 217). Der Berufssoldat — nicht der nur aufgrund der Wehrpflicht Wehrdienst Leistende — hat seinen Wohnsitz am Standort und, wenn er im Inlande keinen Standort hat, am letzten inländischen Standort (§ 9 BGB). Der Absicht, für 2

E b S c h m i d t 14; M ü l l e r - S a x 5f. 10. Leg. Per., 2. Session 1900/03, S. 5268 " E b S c h m i d t 15; M ü l l e r - S a x 5f.; Kl 3 F. 5 RTDrucks., 2. Session 1900/02 Nr. 560. 6 Sten. Ber., 10. Leg. Per., 2. Session 1900/03, S. 5144,5268. 3

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Zweiter Abschnitt. Gerichtsstand (Dünnebier)

§8 Anm. 2—4

immer an dem gewählten Wohnort zu bleiben, bedarf es nicht ( K G D J Z 1915 1036). Hat jemand mehrere Wohnsitze (§ 7 Abs. 2 BGB), so ist auch der Gerichtsstand des Wohnsitzes an mehreren Orten gleichzeitig begründet. — Da der Wohnsitz zwar regelmäßig (§ 7 Abs. 1 BGB), aber nicht stets mit dem tatsächlichen Lebensmittelpunkt übereinstimmt, wird zuweilen ein „fester" Wohnsitz ( § 1 1 3 Abs. 2 Nr. 2, § 127 a Abs. 1, § 132 Abs. 1) oder ein (tatsächliches) Wohnen (§ 116a Abs. 3) verlangt. 2. Gewöhnlicher Aufenthalt. Absatz 2 greift nur ein, wenn der Beschuldigte im Geltungsbereich der Strafprozeßordnung, d. h. in der Bundesrepublik und in Berlin-West, keinen Wohnsitz hat, nicht aber, wenn er bei nur formalem Wohnsitz den Mittelpunkt seiner Lebensbeziehungen, seinen gewöhnlichen Aufenthalt, an einem zweiten Ort begründet hat, wenn er sich z.B. dauernd in einem Landhaus aufhält. Der Ausdruck „gewöhnlicher Aufenthaltsort" (richtig: gewöhnlicher Aufenthalt; vgl. § 7 Abs. 2 Satz 2) ist dem Gesetz über den Unterstützungswohnsitz 1 (vgl. dessen § 10) entnommen (Begrdg. H a h n 1 78), an dessen Stelle die VO über die Fürsorgepflicht 2 (vgl. deren § 7 Abs. 2) und später das Bundessozialhilfegesetz 3 getreten ist (vgl. dessen § 98 Abs. 1, § 103 Abs. 1). Nach der zu den beiden zuerst genannten Gesetzen ergangenen Rechtsprechung des Bundesamts für das Heimatwesen ist gewöhnlicher Aufenthalt der bis auf weiteres und nicht nur vorübergehend oder besuchsweise, wenn auch für einen bestimmten Zeitraum (Dienstvertrag auf bestimmte Zeit), als gewollter Mittelpunkt des Lebens, der persönlichen Existenz, gewählte Aufenthalt. Er wird durch freiwillige, nur vorübergehende oder besuchsweise, selbst längere, Abwesenheit nicht unterbrochen, wenn bei der Entfernung die Absicht besteht, ihn beizubehalten. Der Wille, einen gewöhnlichen Aufenthalt zu begründen, reicht nicht aus, wenn die Umstände es nicht zulassen, den Willen zu verwirklichen. Da man nur e i n e n Mittelpunkt seiner Lebensbeziehungen haben kann, ist ein gewöhnlicher Aufenthalt an zwei Orten — im Gegensatz zum Wohnsitz — unmöglich. Die Begründung eines neuen setzt voraus, daß der alte weggefallen ist oder gleichzeitig wegfällt 4 . Da Wille und Umstände zusammentreffen müssen, kann ein Zwangsaufenthalt keinen gewöhnlichen Aufenthalt begründen ( E b S c h m i d t 6), wohl aber ein durch die Umstände erzwungener (Altersheim, Siechenanstalt, Flüchtlingslager), wenn der auf diese Weise Untergebrachte, seinen Willen den Umständen anpassend, den Unterbringungsort zum Mittelpunkt seiner Existenz macht. Der Soldat, der nur aufgrund der Wehrpflicht Wehrdienst leistet (vgl. § 9 Abs. 2 BGB), wird in der Regel — wie seinen Wohnsitz — seinen gewöhnlichen Aufenthalt am Familienwohnort behalten. Löst er sich jedoch anläßlich der Einberufung von der Familie, dann begründet er seinen gewöhnlichen Aufenthalt grundsätzlich am Standort seines Truppenteils. 3. Der Gerichtsstand des letzten Wohnsitzes hängt von der doppelten Voraussetzung ab, daß der Beschuldigte keinen Wohnsitz im Geltungsbereich der Strafprozeßordnung hat und daß sein gewöhnlicher Aufenthalt unbekannt ist. 4. Maßgebender Zeitpunkt, nach dem die drei Gerichtsstände ermittelt werden, ist allein derjenige, in dem die Klage erhoben wird, d.h. bei Gericht eingeht (OLG Dresden A l s b . E 1 50). Unerheblich ist es, welchen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt der Beschuldigte zur Zeit der Tat, der Anzeige oder der Vorermittlungen gehabt hat oder welchen er nach Erhebung der Klage erwirbt (Begr. H a h n 1 78). Erhebung der Klage sind der Antrag auf Voruntersuchung (§ 179), die schriftliche Anklage (§ 199 Abs. 2, § 200), die mündliche Anklage im beschleunigten Verfahren (§ 212a Abs. 2 Satz 2), die Privatklage (§ 381), der Antrag auf Erlaß eines Strafbefehls (§ 408 Abs. 1) und — die Klage ersetzend — der polizeiliche Antrag auf Erlaß einer amtsrichterlichen Strafverfügung (§413 Abs. 1) sowie der Antrag des Finanzamts (Hauptzollamts) auf Erlaß eines Strafbefehls (§ 435 AO). Die Vorschrift ist entsprechend anzuwenden auf den Antrag im Sicherungsverfahren ' v o m 6. 6. 1870 (BGBl. 360). vom 13. 2. 1924 (RGBl. I 100). vom 30. 6. 1961 (BGBl. III 2170 - 1). 4 B a a t h — K n e i p — L a n g l o t z , Fürsorgepflicht, 13. Aufl., III 2 a zu § 7 Abs. 2. 2 3

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§ 9 Anm. 1,2

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

(§ 429a), den Antrag im objektiven Einziehungsverfahren (§ 440 Abs. 1) und den Antrag im objektiven Geldbußenverfahren gegen juristische Personen (§ 444 Abs. 3). — Für die mündliche Nachtragsanklage (§ 266 Abs. 2) ist § 8 ohne Bedeutung, weil stets ein Fall des § 13 vorliegt.

§9 Der Gerichtsstand ist auch bei dem Gericht begründet, in dessen Bezirk der Beschuldigte ergriffen worden ist. Entstehungsgeschichte: Die ursprüngliche Fassung stellte den Gerichtsstand des Ergreifungsortes als bloßen Hilfsgerichtsstand auf für den Fall, daß die strafbare Handlung im Auslande begangen und kein Gerichtsstand nach § 8 begründet war. Außerdem sah § 9 Abs. 1 Satz 2 die Gerichtsstandsbestimmung durch das Reichsgericht vor, wenn keine Ergreifung stattgefunden hatte, und Absatz 2, wenn bei inländischer Tat kein Gerichtsstand nach §§ 7, 8 gegeben war. Durch die VO. vom 6. 5. 1940 (RGBl. I 754) wurde mit § 8a der Gerichtsstand auch bei dem Gericht begründet, in dessen Bezirk der Beschuldigte zur Zeit der Erhebung der Anklage auf behördliche Anordnung verwahrt wird. § 8 a ist durch Art. 3 Nr. 4 VereinhG aufgehoben worden. Gleichzeitig wurden durch Nr. 5 in § 9 die Wendungen „außerhalb" und „im Geltungsbereich dieses Bundesgesetzes" an die Stelle von „Ausland" und „Inland" gesetzt. Die gegenwärtige Fassung von § 9 beruht auf Art. 4 Nr. 2 des 3. StRAndG. Die Änderung soll dem praktischen Bedürfnis Rechnung tragen, einen allgemeinen, nicht subsidiären Gerichtsstand des Ergreifungsortes zu schaffen (Begr., BTDrucks. 13713, 46). Die Gerichtsstandsbestimmung durch das oberste Gericht findet sich jetzt in § 13 a. 1. Ergreifung. Der Gerichtsstand der Ergreifung ist ein selbständiger, neben den anderen Gerichtsständen gegebener Gerichtsstand; der früher subsidiäre Charakter ist beseitigt. Ergreifung ist die Handlung, durch die der Beschuldigte von einem hierzu berufenen Beamten (§ 127 Abs. 2, § 163 Abs. 1, § 152 GVG) oder im FaUe des § 127 Abs. 1 von Jedermann" zum Zwecke der Strafverfolgung festgenommen wird (RGSt. 58 154, 60 265), gleichgültig, ob der Festnahme eine gerichtliche oder staatsanwaltschaftliche Anordnung zugrunde liegt oder nicht und gleichviel, ob der Beschuldigte gesucht wird oder sich freiwillig stellt. Die Maßregeln, die der Ergreifung nachfolgen, die Inhaftnahme und die Einlieferung in die Haftanstalt, sind für die Begründung des Gerichtsstandes des § 9 bedeutungslos; § 9 begründet keinen Gerichtsstand des Verwahrungsortes. Wird also ein im Bezirk A ergriffener Täter im Bezirk B in Untersuchungshaft genommen (etwa weil nur dort eine Krankenbehandlung möglich ist), so ist für B, wenn nicht aus anderen Gründen auch dort ein Gerichtsstand begründet ist, kein Gerichtsstand gegeben. Ist durch Anordnung der Landesregierung oder der Landesjustizverwaltung für den Bezirk mehrerer Amtsgerichte einem von ihnen die Entscheidung in Haftsachen zugewiesen worden (§58 Abs. 1 GVG), so ist dieses das Gericht des Ergreifungsorts, selbst wenn der Täter im Bezirk eines anderen von den mehreren Amtsgerichten ergriffen worden ist ( C o r v e s M D R 1956 335). Die Einrichtung des Gerichtsstandes des Ergreifungsortes verfolgt das Ziel, „kostspielige und sachlich unnötige Transporte" zu vermeiden (Begrdg. S. 46). Daraus folgt, daß nur eine sachlich gerechtfertigte Ergreifung den Gerichtsstand des § 9 begründet. Demzufolge muß die Ergreifung zum Erlaß eines Haftbefehls (§ 125, § 128 Abs. 2) oder zur alsbaldigen Überführung in Strafhaft nach rechtskräftiger Aburteilung im beschleunigten Verfahren (§ 212 a Abs. 3) oder zufolge eines rechtskräftigen Strafbefehls geführt haben. Fehlt es hieran, erläßt insbesondere der Richter keinen Haftbefehl, so wird durch die sachlich ungerechtfertigte Ergreifung der Gerichtsstand des § 9 nicht begründet. 2. Änderungen. Der durch die Ergreifung begründete Gerichtsstand wird durch spätere, die Verwahrung betreffenden Entscheidungen oder Umstände nicht geändert. Namentlich bleibt die Aufhebung des Haftbefehls selbst dann ohne Einfluß, wenn der Tatverdacht, sofern er nur ursprünglich bestanden hat, später entfallen ist. Die Verhaftung wird damit nicht nachträglich zu einer ungerechtfertigten. Denn der für die Verhaftung erforderliche drin236

Zweiter Abschnitt. Gerichtsstand (Dünnebier)

§ 9 Anm. 3 , 4

gende Tatverdacht kann sehr wohl bei dieser vorliegen, auch wenn er später entfällt. Ebenso hebt die Aussetzung des Vollzugs (§ 116) oder die Flucht den Gerichtsstand des § 9 nicht wieder auf. Folgerichtig wird auch durch die Wiederergreifung der einmal begründete erste Ergreifungsgerichtsstand nicht berührt. Am Ort der Wiederergreifung wird ein neuer Ergreifungsgerichtsstand begründet, der mit den Gerichtsständen der ersten Ergreifung, des Tatorts und des Wohnorts zur Auswahl des Staatsanwalts steht. 3. Beziehung der Ergreifung zur strafbaren Handlung. Zur Begründung des Gerichtsstands des Ergreifungsorts ist es gleichgültig, wo die strafbare Handlung begangen worden ist, ob im Ergreifungsbezirk oder anderwärts, ob im Geltungsbereich der Strafprozeßordnung oder im Auslande, in der DDR oder in Ost-Berlin. Es ist auch nicht erforderlich, daß der Ergreifung nur diejenige Tat zugrunde gelegen hat, die dann schließlich zur Anklage gelangt (RGRspr. 4 7)'. Die Ergreifung wirkt auch fort, wenn sie zur Strafhaft geführt hat. Demzufolge wird der Gerichtsstand des Ergreifungsorts auch dadurch begründet, daß sich der Angeschuldigte bis zur Erhebung der öffentlichen Klage zufolge Ergreifung wegen einer anderen Tat ununterbrochen in Untersuchungs- und nachfolgender Strafhaft befunden hat (OLG München MDR 1956 566). Ist die Ergreifung indessen beendet, so ist wegen einer neuen Tat nur die Verbindung nach § 13 zulässig. Ist sie nicht möglich, etwa weil das Verfahren wegen der der Ergreifung zugrundeliegenden Tat eingestellt oder die für diese Tat ausgesprochene Strafe verbüßt ist, so ist ein Gerichtsstand nach § 9 nicht etwa allein deshalb begründet, weil der Beschuldigte irgendwann einmal im Bezirk des angegangenen Gerichts ergriffen worden ist. 4. Anwendung. § 9 soll Kosten für unnötige — nicht für nötige — Transporte sparen helfen, nicht aber den Beschuldigten benachteiligen. Von dem Gerichtsstand ist daher nur dann Gebrauch zu machen, wenn der Beschuldigte geständig ist oder alsbald durch Zeugen überführt werden kann, die am Ergreifungsort vernommen werden können, ohne dorthin weite Reisen machen zu müssen. Wird das Verfahren nicht alsbald von der Staatsanwaltschaft des Ergreifungsorts übernommen, ist der Beschuldigte in den Bezirk der Staatsanwaltschaft zu überführen, die ihn zur Verhaftung ausgeschrieben hatte. Denn sonst entstehen Kosten durch die Verteidigerbestellung bei der mündlichen Verhandlung zur Haftprüfung (§117 Abs. 1, 4; § 118 Abs. 1 bis 3). Auch sollte der favor defensionis es ausschließen, dem Angeklagten ein Verfahren nach § 233 nahezulegen, wenn die Staatsanwaltschaft des Ergreifungsorts die Übernahme der Sache abgelehnt hat. Diese sollte aus dem gleichen Grunde die Sache nicht übernehmen, wenn Zeugen in der Hauptverhandlung wohl vor dem Gericht des Ausschreibungsorts, wegen weiter Entfernung aber nicht vor dem des Ergreifungsorts vernommen werden können. Denn in diesem Falle käme der Verhaftete um sein Recht, die Zeugen in seiner Gegenwart aussagen zu hören und Rede und Antwort von ihnen zu verlangen (§ 224 Abs. 2; D a l i i n g e r JZ 1953 441). Handelt es sich indessen um eine liquide Sache, dann sollte die Staatsanwaltschaft des Ergreifungsorts sie auch übernehmen. Die zur Verfolgung ausschreibende Staatsanwaltschaft kann einer Ablehnung der Übernahme dadurch begegnen, daß sie das Verfahren alsbald nach der Ergreifung anklagereif abgibt. Dazu hat sie vor der Ausschreibung auf vollständige Ermittlung bedacht zu sein. Das versteht sich eigentlich von selbst, doch bleibt zu bedauern, daß Zeugen gelegentlich erst nach der Festnahme des Beschuldigten vernommen werden, obwohl das vorher möglich gewesen wäre.

§ 10 (1) Ist die strafbare Handlung auf einem deutschen Schiff außerhalb des Geltungsbereichs dieses Bundesgesetzes begangen, so ist das Gericht zuständig, in dessen Bezirk der 1

Beispiel: A ist wegen eines Diebstahls ergriffen. Bevor er freigelassen wird, gelangt ein Raub zur Kenntnis der Staatsanwaltschaft. Diese kann ihn auch wegen des Raubes anklagen. Will sie wegen des Diebstahls, sei es aus sachlichen Gründen, sei es nach § 154 Abs. 1, einstellen, muß sie allerdings, damit die Ergreifung fortwirkt, wegen des Raubes Haftbefehl erwirken.

237

§ 10

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

Anm. 1 Heimathafen oder der Hafen im Geltungsbereich dieses Gesetzes liegt, den das Schiff nach der Tat zuerst erreicht. (2) Absatz 1 gilt entsprechend für deutsche Luftfahrzeuge. Entstehungsgeschichte: Nach der Reichstagsvorlage sollte mit § 10 (damals § 3) ein Gerichtsstand errichtet werden für strafbare Handlungen, die „auf einem deutschen Schiffe in offener See begangen" wurden. Weil es dort an einem Gerichtsstand fehlt, sollte einer „mittels einer gesetzlichen Fiktion geschaffen" werden (Mot. 1 zu §§ 1 bis 3; Abs. 1; H a h n , 1 78). Da aber „bei der Verschiedenheit in der Behandlungsweise von Delikten an Bord der Handelsschiffe nach den Rechten der seefahrenden Nationen" nicht ausgeschlossen werden konnte, daß „ein im fremden Hafen auf einem deutschen Handelsschiffe begangenes Delikt gänzlich ungestraft bleiben" könne, wurde in der 2. Lesung der Kommission die Wendung „auf einem deutschen Schiffe im Ausland oder in offener See" gewählt ( H a h n Mat. 2 1194 f). Durch Art. 3 Nr. 6 VereinhG wurde bei den Worten „Ausland" und „deutscher" Hafen jeweils auf den „Geltungsbereich dieses Gesetzes" abgestellt. Durch Art. 2 Nr. 1 EGOWiG wurden die Worte „in offener See" gestrichen. Der zweite Absatz ist durch Art. 4 Nr. 3 des 3. StRÄndG angefügt worden. Schrifttum: M a n k i e w i c z , Die Verfolgung der in einem Luftfahrzeug begangenen Straftat, GA 1961 193. 1. Inhalt. Die Vorschrift hat ihren Charakter, namentlich zufolge der Streichung der Worte „in offener See" (s. Entstehungsgeschichte), zum Teil geändert. Ursprünglich sollte sie einen Gerichtsstand für Delikte bereitstellen, die auf offener See begangen wurden. Mit dem späteren Zusatz „im Ausland" sollte der Gerichtsstand auch für Taten bereitgehalten werden, die auf deutschen Handelsschiffen in ausländischen Seehäfen begangen wurden. Dagegen war nicht beabsichtigt, Binnenschiffe anders zu stellen als Eisenbahnen (Abg. R e i c h e n s p e r g e r , H a h n Mat. 2 1194). § 10 brachte also einen fingierten Gerichtsstand des Tatorts auf Seeschiffen. Zwar wurde erkannt, daß die Fassung Anwendung auch auf Binnenschiffe nicht ausschließe (Abg. T h i l o , H a h n Mat. 2 1195); die mit der Bestimmung verfolgte Absicht kam aber noch im Entwurf 1930 (Art. 70 Nr. 4 EGStGB; Mat. zur StRRef. 7 12) deutlich in der Fassung zum Ausdruck: „Ist die Tat auf einem deutschen Seeschiff . . begangen". Die Entstehungsgeschichte; die Erwägung, daß man nur für Seeschiffe einen fingierten Tatort brauche; daß der Gesetzgeber bemüht war, die Gerichtsstände eingeschränkt zu halten; und die Interpretation des Wortes Ausland als „ausländischer Seehafen" zufolge der Verbindung mit Wort und Vorstellung der offenen See, zwangen zu der Folgerung, daß die Vorschrift sich allein auf Taten bezog, die auf deutschen Seeschiffen entweder in offener See oder in ausländischen Seehäfen begangen wurden (Voraufl. 2). Nachdem die Worte „in offener See" gestrichen worden sind, entfallt die hierauf bezogene Auslegung ebenso wie die Beziehung zur Entstehungsgeschichte. § 10 gibt nunmehr einen Gerichtsstand für alle auf deutschen (2) Schiffen und Luftfahrzeugen außerhalb der Bundesrepublik und Berlin-West begangenen Straftaten und stellt damit in Übereinstimmung mit dem 1940 bei Einführung des Personalprinzips geschaffenen § 5 StGB in bezug auf die Binnenschiff- und Luftfahrt ein Privileg auf, das den sonstigen grenzüberschreitenden Verkehrsmitteln (Eisenbahn, Omnibus) mit Recht nicht gewährt wird. Freilich ist die praktische Auswirkung für Straftaten, die im fremden Lande begangen werden, nur beschränkt. Denn mit der Vorschrift soll nicht in die ausländische Gerichtsbarkeit eingegriffen werden. Sie beantwortet nicht die Frage, ob eine deutsche Gerichtsbarkeit (§ 5 StGB; dazu R u d o l f NJW 1954 219) — sei es ausschließlich, sei es konkurrierend mit einer ausländischen oder einer der DDR, oder einer solchen subsidiär — bestehe, sondern stellt nur für den Fall, d a ß eine Gerichtsbarkeit der Bundesrepublik „ohne Kollision mit der Jurisdiktion des fremden Landes" gegeben ist, einen Gerichtsstand im räumlichen Geltungsbereich der Bundesrepublik zur Verfügung ( H a h n Mat. 2 1195). 238

Zweiter Abschnitt. Gerichtsstand (Dünnebier)

§ 10 Anm. 2 - 5

2. Deutsche Schiffe. Der Ausdruck „deutsch" schließt entgegen dem sonstigen Wortgebrauch die D D R nicht ein1, weil es an der gesetzgeberischen Zuständigkeit mangelt, für Schiffe der D D R im Geltungsbereich der Bundesrepublik (wenn dort der „nächste" Hafen liegt) einen Gerichtsstand zu begründen. § 10 erfährt vielmehr seine Ergänzung durch das Flaggenrecht. Danach sind deutsche Schiffe: a) Seeschiffe, die nach § 1 des Flaggenrechtsgesetzes 2 die Bundesflagge führen müssen oder sie nach § 2 führen dürfen. Befindet sich das Schiff in Seenot, gilt § 10 auch für das Wrack, die Rettungsboote oder Flöße 3 . b) Binnenschiffe, die nach § 14 Abs. 1 des Flaggenrechtsgesetzes die Bundesflagge führen dürfen. c) Schiffe der Seestreitkräfte der Bundeswehr 4 . 3. Der Geltungsbereich der Strafprozeßordnung fallt mit dem räumlichen Hoheitsbereich der Bundesrepublik Deutschland und Berlin-West zusammen. Dieser Bereich umfaßt innerhalb der Grenzen das Landgebiet, die daran anschließenden Eigengewässer (die Häfen und die die Küste bespülenden Meeresteile) und das Küstenmeer, einen Meeresstreifen, der in drei Seemeilen Breite den Eigengewässern vorgelagert ist ( M e t t g e n b e r g DJ 1940 641). Mit dem Küstenmeer endet der deutsche Hoheitsbereich und beginnt die offene See, die außerhalb des Geltungsbereichs der Strafprozeßordnung liegt. Wegen des Bodensees s. D r e h e r StGB 3 A a vor § 3. 4. Heimathafen ist derjenige deutsche Hafen, von dem aus die Seeschiffahrt mit dem Schiff betrieben wird (§ 480 Abs. 1 HGB; § 4 Abs. 1 der Schiffsregisterverordnung 3 ; § 3 Abs. 1 Nr. 7 der 1. DVO zum Flaggenrechtsgesetz 6 . Bei Binnenschiffen kann es an einem Heimathafen fehlen; es kommt dann auf den Heimatort an (§ 4 Abs. 1 der Schiffsregisterverordnung), notfalls auf den Ort der Registereintragung (§ 4 Abs. 3; K l 2). Ist der nach der Tat im Geltungsbereich der Strafprozeßordnung zuerst erreichte Hafen ein anderer als der Heimathafen, so ist der Gerichtsstand in den Bezirken beider Häfen begründet. 5. Deutsche Luftfahrzeuge (§ 1 des Luftverkehrsgesetzes 7 : Flugzeuge, Hubschrauber, Luftschiffe, Segelflugzeuge, Frei- und Fesselballone, Drachen, Flugmodelle und sonstige für die Benutzung des Luftraums bestimmte Geräte) sind solche, die die Bundesflagge nach §§ 7 bis 11 der Anlage 1 der VO über Luftverkehr 8 führen (§ 2 Abs. 5 LuftVG). Den Begriff des Heimatflughafens kennen das Luftverkehrsgesetz und die VO über Luftverkehr 9 nicht. In entsprechender Anwendung von Absatz 1 und von § 480 Abs. 1 HGB ist als Heimathafen derjenige Flughafen anzusehen, bei dem das Luftfahrzeug zum Zwecke seines Betriebs dauernd stationiert ist. Der nächste Flughafen ist derjenige, auf dem das Flugzeug zuerst landet. Bei Notlandungen auf freiem Feld wird der Gerichtsstand erst durch die nachfolgende Landung auf einem Flugplatz begründet. Steigt das Flugzeug nach Notlandung auf freiem Feld nicht wieder auf, so muß dasjenige Gericht als zuständig angesehen werden, in dessen Bezirk das Luftfahrzeug niedergegangen ist. — Die Vorschläge von Art. 70 Nr. 4 EGStGB 1930 sind bedeutend klarer und sollten bei einer Reform übernommen werden. 1

2 3 4

5 6 7 8 9

A. A. M ü l l e r — S a x 4. Wie hier jetzt auch E b S c h m i d t Nachtr. 2 4. Für Einbeziehung der Binnenschiffe E b S c h m i d t Nachtr. 2 5: M ü l l e r — S a x 2a; K l 2. vom 8. 2. 1951 (BGBl. III 9514 - 1). S c h ö n k e - S c h r ö d e r 2 zu § 5 StGB. Vgl. Anordnung des Bundespräsidenten über die Dienstflagge der Seestreitkräfte der Bundeswehr vom 25. 5. 1956 (BGBl. III - 1130 - 5). vom 26. 5. 1951 (BGBl. III 315 - 18). vom 23. 2. 1951 (BGBl. III 9514 - 4 - 1). vom 10. 1. 1959 (BGBl. III 96 - 1). in der Fassung des Art. 2 der VO vom 5. 11. 1954 (BGBl. I 302). vom 21. 8. 1936 (RGBl. I 659).

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§ 11

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

Anm. 1—4

§ 11 (1) Deutsche, die das Recht der Exterritorialität genießen, sowie die im Ausland angestellten Beamten des Bundes oder eines deutschen Landes behalten hinsichtlich des Gerichtsstandes den Wohnsitz, den sie im Inland hatten. Wenn sie einen solchen Wohnsitz nicht hatten, so gilt der Sitz der Bundesregierung als ihr Wohnsitz. (2) Auf Wahlkonsuln sind diese Vorschriften nicht anzuwenden. Entstehungsgeschichte: In der ursprünglichen Fassung war von Beamten des Reichs oder eines Bundesstaates die Rede und wurde in erster Linie auf den Wohnsitz im Heimatstaat, dann auf dessen Hauptstadt abgestellt. Durch Art. 35 EGBGB wurde als weiterer Hilfsgerichtsstand Berlin bezeichnet. Die gegenwärtige Fassung beruht auf Art. 3 Nr. 7 VereinhG. 1. Exterritoriale Deutsche gibt es im Inlande nicht (Kl 1), so daß sich die Bestimmung nur auf im Auslande wohnende Personen bezieht. Der Kreis der Exterritorialen ist dem Völkerrecht zu entnehmen, das Art. 25 G G als Bestandteil des Bundesrechts anerkennt. Danach kommen als Deutsche, die das Recht der Exterritorialität genießen, insbesondere die Missionschefs (Botschafter, Gesandte, außerordentliche Gesandte und Geschäftsträger), ihr Personal und ihre Familien in Betracht, nicht die Konsuln Der Gerichtsstand des § 11 findet Anwendung, auch wenn der Exterritoriale oder Beamte die Tat im Inlande oder in einem anderen ausländischen Staat begangen hat als dem, in welchem er wohnt. 2. Beamte. Da § 11 für Auslandstaten deutscher Repräsentanten im Ausland, die im räumlichen Geltungsbereich der Strafprozeßordnung keinen Wohnsitz haben, einen Gerichtsstand schaffen will, ist der Begriff Beamter weit auszulegen, so daß auf jeden Fall auch höhere Angestellte darunter fallen. Deshalb kann § 11 den staatsrechtlichen Beamtenbegriff (so E b S c h m i d t 2) nicht im Auge haben. In Ermangelung eines Amtsträgerbegriffs, den die Vorschrift meint ( W i e c z o r e k ZPO § 15 A II Abs. 3), wird man daher auf den strafrechtlichen Beamtenbegriff zurückgreifen müssen. Die Familienmitglieder der Beamten fallen nicht unter die Vorschrift ( M ü l l e r - Sax 3). Beamte sind auch die Konsuln2, von diesen die Wahlkonsuln Ehrenbeamte 3 i. S. des § 5 Abs. 3 des Bundesbeamtengesetzes 4 . Da die Wahlkonsuln meist Ausländer sind und nur eine lose Verbindung zur Bundesrepublik haben, benötigen sie keinen Gerichtsstand im räumlichen Geltungsbereich der Strafprozeßordnung. Daher mußten sie in Absatz 2 ausdrücklich ausgenommen werden. 3. Die Worte „Wohnsitz im Inland" umfassen nach dem Sprachgebrauch auch einen solchen in der D D R und in Ostberlin. Das ist unschädlich, weil der Personenkreis des § 11, wenn er vor der Begründung eines ausländischen Wohnsitzes einen inländischen hatte, diesen nach Lage der Sache im Geltungsbereich der Strafprozeßordnung gehabt hat. 4. Sitz der Bundesregierung ist Bonn. Nach dem Beschluß des Parlamentarischen Rats vom 10.5.1949 haben die leitenden Bundesorgane vorläufig ihren Sitz in der Stadt Bonn genommen (Sten. Ber. S. 264, 266).

§ 12 (1) Unter mehreren nach den Vorschriften der §§ 7 bis 11 zuständigen Gerichten gebührt dem der Vorzug, das die Untersuchung zuerst eröffnet hat. (2) Jedoch kann die Untersuchung und Entscheidung einem anderen der zuständigen Gerichte durch das gemeinschaftliche obere Gericht übertragen werden. ' D a h m , Völkerrecht 1 3 1 5 , 3 2 5 , 3 4 1 , 3 6 9 . § 2 des Konsulargesetzes vom 8. 11. 1867 (BGBl. III 27 - 1). 3 § 1 der VO über die Rechtsverhältnisse der Wahlkonsuln vom 8. 7. 1937 (BGBl. III 27 - 3). 4 in derFassg. vom 1. 10. 1961 (BGBl. I 1802). 2

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Zweiter Abschnitt. Gerichtsstand (Dünnebier)

§ 12 Anm. 1 1 , 2

I. Vorrang (Absatz 1). 1. Inhalt. § 12 steht an falscher Stelle; er ist so zu behandeln, als ob er auf § 13 a folgte. Denn durch ihn soll die Konkurrenz zwischen allen Gerichtsständen — und zu diesen gehört auch der des § 13a — geregelt werden. Diese Regelung wird grundsätzlich — wegen Ausnahmen s. 4 — nach dem einfachsten, augenfälligsten und am wenigsten bestreitbaren Grundsatz der Prävention oder Priorität vorgenommen, der auch im gemeinen Recht und in den meisten früheren Landesgesetzen herrschend war. Im Hinblick auf den Zeitpunkt ist diese Regelung auch allein möglich; denn es kann nur e i n e erste Anhängigkeit geben, aber mehrere nachfolgende. Die Ausnahmen beruhen denn auch auf anderen Prinzipien als dem der zeitlichen Reihenfolge, u.a. auf dem der höheren Zuständigkeit, obwohl die Prävention grundsätzlich auch dann entscheidend ist, wenn dieselbe Sache bei zwei Gerichten verschiedener Ordnung mit gleicher (RGSt. 29 179) oder verschiedener (RGSt. 55 187) örtlicher Zuständigkeit anhängig geworden ist. Die Lösung des Konflikts durch den Grundsatz der Prävention kann unzweckmäßig sein. Es kann geboten sein, dem Gericht, das in der gleichen Sache später die Untersuchung eröffnet hat, die Untersuchung und Entscheidung zu überlassen, oder, wenn nur ein Gericht mit der Sache befaßt ist, die Sache auf ein anderes, an sich zuständiges Gericht zu übertragen (Absatz 2). 2. Mehrere Gerichte sind zuständig, wenn für jedes Gericht ein Gerichtsstand nach einer der Vorschriften der §§ 7 bis 11 gegeben ist, auch soweit er zufolge eines Zusammenhangs nach § 13 begründet ist, gleichviel ob der Grund der Zuständigkeit bei den verschiedenen Gerichten derselbe ist (mehrfacher Tatort, mehrfacher Wohnsitz), oder ob verschiedenartige Gerichtsstände (Wohnsitz und Tatort) miteinander konkurrieren. § 13 a ist in Absatz 1 nicht aufgeführt, die Vorschrift ist jedoch so zu lesen, als ob das der Fall sei. Aus der Entstehungsgeschichte des § 13a — sein Inhalt stand früher teilweise in § 9 — und aus der Erwägung, daß § 13a ebenso ein selbständiger Gerichtsstand ist, wie es die in den §§ 7 bis 11, 13 bestimmten Gerichtsstände sind (5 zu § 13 a), folgt, daß § 12, namentlich sein Absatz 2, auch dann anwendbar ist, wenn das Gericht nach § 13 a bestimmt worden war (BGHSt. 10 259). Die Zuständigkeit muß eine erstinstanzliche sein, wie sich aus den Worten „das die Untersuchung eröffnet hat" ergibt. Die erstinstanzliche Zuständigkeit kann bei den mehreren örtlich zuständigen Gerichten zugleich eine verschiedene sachliche Zuständigkeit sein. Zwar wird, wenn mehrere Gerichte verschiedener sachlicher Zuständigkeit das Hauptverfahren eröffnet haben, in der Regel das niedere unzuständig oder das höhere wegen umfassenderer Zuständigkeit (4) allein zuständig sein, aber doch nicht immer. Eine mehrfache sowohl örtliche als auch sachliche Zuständigkeit kann sich namentlich ergeben, wenn die Zuständigkeit von der Auslegung des unbestimmten Rechtsbegriffs der „besonderen Bedeutung des Falles" (§ 24 Abs. 1 Nr. 2 GVG) abhängt. Beispiel: Eine in A begangene Tat ist dort von Amts wegen untersucht und beim Landgericht A angeklagt worden. Auf Anzeige hat sich auch die Staatsanwaltschaft des Wohnorts mit der Sache befaßt und sie beim Schöffengericht B angeklagt. Beide Gerichte haben das Hauptverfahren eröffnet, das Schöffengericht kurz vor der Strafkammer. Es müssen mehrere Zeugen vernommen werden, die in A wohnen. Die Strafgewalt des Amtsgerichts reicht aus, doch ist die besondere Bedeutung der Sache nicht zu verneinen. Das Landgericht hat schon Termin anberaumt und die Zeugenladungen veranlaßt, als es von der Anhängigkeit beim Schöffengericht erfährt. Hier wird man nicht sagen können, daß das Schöffengericht unzuständig sei und sein Verfahren einstellen müsse; vielmehr schlägt § 12 ein. Nach Lage des Falles wird aber das obere Gericht die Sache dem Landgericht A übertragen, und es ist kein Grund ersichtlich, der dagegen sprechen könnte. Zwar hat das Reichsgericht gelegentlich und in einem Nebensatz ausgesprochen, § 12 habe nur Gerichte gleicher Ordnung im Auge (RGSt. 45 168; zustimmend Kl 1), doch hat es sowohl vorher (RGSt. 29 179) als auch später (RGSt. 55 187) den Grundsatz der Prävention auch dann angewendet, wenn die verschiedenen Gerichte verschiedene sachliche Zuständigkeit hatten. Die Verzahnung der Zuständigkeiten zufolge der dem Staatsanwalt auferlegten beschränkten Wahl (§ 24 Abs. 1 Nr. 2, § 25 Abs. 1 Nr. 2 Buchst, c GVG) hat der Bestimmung des § 12 Bedeutung auch für den Fall verschafft, 241

§ 12

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

Anm. I 3 daß neben mehrfacher örtlicher auch verschiedene sachliche Zuständigkeit vorliegt ( E b S c h m i d t 1 179, Anm. 308). Obwohl § 12 nur von zuständigen Gerichten spricht, tritt die Präventionswirkung auch dann ein, wenn die Unzuständigkeit des zuerst befaßten Gerichts behauptet wird. Dieses muß solange als zuständig anerkannt werden, als nicht es selbst oder das übergeordnete Gericht die Unzuständigkeit ausgesprochen hat. 3. Eröffnung der Untersuchung. Die Prävention wird durch die Eröffnung der Untersuchung begründet. Darunter fallen die Eröffnung der Voruntersuchung (§ 184), des Hauptverfahrens (§ 203) und des Sicherungsverfahrens (§ 429 b Abs. 1). Hauptverfahren und Voruntersuchung stehen einander gleich. Haben in der gleichen Sache das Landgericht A auf Antrag der Staatsanwaltschaft die Voruntersuchung (§ 178 Abs. 2) und danach das Landgericht B das Hauptverfahren eröffnet (§ 203), so hat die Voruntersuchung den Vorzug. In den besonderen Verfahrensarten, bei denen das Hauptverfahren nicht ausdrücklich eröffnet wird, sind der Eröffnung des Hauptverfahrens diejenigen gerichtlichen Akte gleichzustellen, die mit oder nach der Feststellung hinreichenden Tatverdachts die staatsanwaltschaftliche Verfügung über die Klage oder den Antrag ausschalten. Wollte man, wie es die herrschende Meinung beim Strafbefehl tut, einen früheren Zeitpunkt wählen, so würde bei einer Übertragung nach § 12 Abs. 2 die Staatsanwaltschaft zu einem Zeitpunkt ausgeschaltet werden, in dem ihr die Verfügung über die öffentliche Klage noch zusteht. Eine solche Auslegung widerspräche dem Geiste der Strafprozeßordnung (vgl. RGSt. 45 176; BGH St. 10 392). Danach stehen der Eröffnung des Hauptverfahrens gleich bei der Nachtragsanklage (§ 266 Abs. 2 Satz 1 in Vbdg. mit Absatz 1, erstem Halbsatz) der Einziehungsbeschluß (§ 266 Abs. 1), im Verfahren nach § 408 Abs. 2 (Hauptverhandlung nach beantragtem aber nicht erlassenen Strafbefehl) der Beginn der Hauptverhandlung. Denn bis dahin kann die Staatsanwaltschaft die Klage (in entsprechender Anwendung des § 411) fallen lassen. Im Beschlußeinziehungsverfahren (§§ 440, 441 Abs. 2) steht erst der Beschluß selbst der Eröffnung der Untersuchung gleich, beim Strafbefehl (§ 407) und der Strafverfügung (§413 Abs. 2) erst das rechtskräftige Mandat, im Falle des Einspruchs der Beginn der Hauptverhandlung (§ 411 Abs. 1; BGHSt. 13 186). Das beschleunigte Verfahren (§ 212) vereinigt als Eröffnungsverfahren die Eröffnung, das Hauptverfahren und das Urteil. Der Zeitpunkt, wann das Gericht festgestellt hat, daß hinreichender Tatverdacht vorliege, kommt im Verfahren nicht zum Ausdruck; er wird regelmäßig nach dem Beginn der Vernehmung des Angeklagten zur Sache liegen, kann aber nicht festgestellt und demzufolge nicht abstrakt festgelegt werden. Deshalb kann die Klage zurückgenommen werden, bis ein Urteil ergangen ist1. Dasselbe gilt für das vereinfachte Jugendverfahren (§ 76 Abs. 1 JGG). Daher begründet in beiden Fällen erst das Urteil die Prävention (vgl. auch die zu III 2 angegebene Rechtsprechung) 2 . 1

2

S c h w a r z , 22. Aufl., 2 zu § 2 1 2 a ; a. A. — Rücknahme bis zum Beginn der Vernehmung des Angeklagten zur Sache - O L G Oldenburg NJW 1961 1127; E b S c h m i d t 16; M ü l l e r - S a x 6 , K l 3,alle zu § 212a. M ü l l e r - S a x (4e) wollen die Rechtshängigkeit mit dem Beginn der Vernehmung des Angeklagten zur Sache eintreten lassen, halten aber § 12 für unanwendbar, weil sich die Sache zur sofortigen Aburteilung nicht eigne, wenn sich herausstelle, daß besser ein anderes zuständiges Gericht mit der Sache befaßt würde. Der Fall, den sie dabei im Auge haben, ist der des Absatzes 2, wogegen an der angeführten Stelle allein die Frage zu beantworten ist, wann im beschleunigten Verfahren die Prävention eintritt und damit das Hindernis, die gleiche Sache bei einem anderen Gericht anhängig zu machen. Sie entnehmen auch zu Unrecht der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs den Satz, die Staatsanwaltschaft könne bis zur Rechtskraft des Urteils die Klage zurücknehmen. D a s ist deshalb unrichtig, weil die nach § 156 entscheidende Eröffnungswirkung in dem Eröffnungsverfahren der § § 212 f. auf jeden Fall mit dem ersten Urteil eintritt. Denn in diesem wird der hinreichende Tatverdacht (§ 203) mit Sicherheit festgestellt. D a ß diese Sicherheit für einen früheren Zeitpunkt zwar bestehen kann, aber nicht feststellbar ist, ist schon ausgeführt. Daher kann, solange das beschleunigte Verfahren ein Eröffnungsverfahren ist, mit Rücksicht auf § 156 kein anderes als das hier dargestellte Ergebnis gewonnen werden. Schwierigkeiten in der Praxis sind daraus nicht

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Zweiter Abschnitt. Gerichtsstand (Dünnebier)

§ 12 Anm. 1 4 , 5

Gegenstand der Untersuchung ist die Tat i. S. des § 264 Abs. 1, d. h. der geschichtliche Vorgang, innerhalb dessen der Angeklagte einen Straftatbestand verwirklicht hat (BGHSt. 10 397; Einzelheiten s. 2, 3 zu § 264). Handlungen der Staatsanwaltschaft im Ermittlungsverfahren, wie die Klageerhebung (RGSt. 45 175) — die zur Anhängigkeit, aber nicht zur Rechtshängigkeit der Sache führt —, und gerichtliche Handlungen im vorbereitenden Verfahren, namentlich ein Haftbefehl (§ 125), begründen die Prävention nicht (BGHSt. 3 139). 4. Umfassende Zuständigkeit. Der Grundsatz der Prävention gilt nicht ausnahmslos. Das Gericht muß die angeklagte (§ 155 Abs. 1) Tat aburteilen, wie sie sich nach dem Ergebnis der Hauptverhandlung darstellt (§ 264 Abs. 1), unabhängig vom Eröffnungsbeschluß (§ 264 Abs. 2) und von der Anklage (§ 155 Abs. 2). Fehlt dem Gericht, das das Verfahren eröffnet hat, dazu die Zuständigkeit, muß es sein Verfahren einstellen. Hier von einer Priorität zu einem Unzuständigkeitsbeschluß zu sprechen und das Gericht, das zuerst eröffnet hat, zu einem Verfahren nach § 270 zu zwingen (RGSt. 29 179), ist gekünstelt. M ü l l e r S a x (6 A a 1) wollen auf die Verweisung verzichten, weil bei dem Gericht der höheren Zuständigkeit bereits ein Verfahren anhängig ist. In Wirklichkeit muß man als Ausnahme von der Regel des Absatzes 1 aus dem System der Strafprozeßordnung den Satz herleiten, daß der Grundsatz der Prävention immer dann zurücktritt, wenn nur das Gericht, das die Untersuchung später eröffnet hat, die Tat (§ 264) vollständig aburteilen kann. Demzufolge gebührt dem zweiten Gericht der Vorrang, wenn dem Angeklagten im ersten Verfahren nur der unselbständige Teil eines Kollektivverbrechens (sofern man ein solches anerkennen will), im zweiten dieses selbst (RGSt. 41 108; 66 22), im ersten Einzelhandlungen einer fortgesetzten Tat, im zweiten die diese Einzelhandlungen umfassende fortgesetzte Tat im ganzen (RGSt. 67 56; BGH NJW 1953 273) vorgeworfen wird. Sind ideell konkurrierende Taten (§ 73 StGB) getrennt bei verschiedenen Gerichten angeklagt worden und ist für eines der Delikte n u r die Zuständigkeit eines höheren Gerichts gegeben, so hat dieses den Vorrang, selbst wenn es die Untersuchung später eröffnet hat (RGSt. 70 337); denn nur bei ihm kann die Tat erschöpfend abgeurteilt werden. Der Einstellung des zweiten Verfahrens bei dem höheren Gericht und der Verweisung (§ 270) des ersten Verfahrens vom niederen an das höhere Gericht - wie es RGSt. 29 179 forderte - bedarf es nicht (RGSt. 70 337). Dagegen darf, wenn dem Angeklagten in zwei Verfahren, die bei Gerichten gleicher Ordnung schweben, fortgesetzte Taten zur Last gelegt werden, die sich teilweise decken, dem zweiten Verfahren nicht etwa deshalb der Vorrang eingeräumt werden, weil es Einzelhandlungen von größerer Anzahl oder von erheblicherem Gewicht zum Gegenstand hat (BGH NJW 1953 273). Vielmehr gilt hier Absatz 1, doch kann ggf. nach Absatz 2 verfahren werden. 5. Wirkung. Das Gericht des Vorrangs ist ausschließlich zuständig (BGHSt. 3 138); ein anderes Gericht kann den Vorrang nicht dadurch hinfällig machen, daß es seinerseits die Untersuchung eröffnet. Demzufolge steht die Niederschlagung, die durch ein Straffreiheitsgesetz des Landes verfügt worden ist, dem das ausschließlich zuständige Gericht angehört, der Strafverfolgung in einem anderen Bundesland entgegen. Dagegen äußert die Niederschlagung keine Wirkung, wenn in dem amnestierenden Lande zwar an sich ein Gerichtsstand besteht, das Gericht eines anderen Landes aber kraft Vorranges ausschließlich zuständig geworden ist (BGHSt. 3 134). Das nicht bevorrechtigte Gericht hat sein Verfahren einzustellen. Die Einstellung ist jedoch nicht endgültig. Sie wirkt nur so lange, bis die Rechtshängigkeit bei dem bevorzugten Gericht wegfallt, ohne daß dabei das eingestellte Verfahren erledigt worden ist (RGSt. 52 264) 3 . Daher ergeht die Einstellungsentscheidung aufgrund der gegenwärtigen Verfahrens-

3

zu erwarten. Sie könnten eher eintreten, wenn man die Präventionswirkung mit der Vernehmung des Angeklagten zur Sache eintreten läßt. Denn diese Wirkung könnte bis zur Verkündung des Urteils wieder beseitigt werden (§ 2 1 2 b Abs. 2 Satz 1). Beispiel: D a s Amtsgericht A hat das Hauptverfahren wegen eines Diebstahls eröffnet, dieses aber mit der Begründung eingestellt, der Diebstahl sei Teil eines fortgesetzten Diebstahls, wegen dessen das Amtsgericht B später das Hauptverfahren eröffnet hat. D a s Amtsgericht B stellt fest, daß keine fortgesetzte Handlung vorliegt und verurteilt den Angeklagten wegen mehrerer einzelner Diebstähle, nicht aber wegen des Diebstahls, der Gegenstand des Verfahrens beim Amtsgericht A war.

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§12 Anm. II 1 - 3

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

läge und unter dem Vorbehalt, daß sich nicht das andere Verfahren erledigt (RGSt. 67 57). In der Urteilsformel wird das nicht besonders zum Ausdruck gebracht (RGSt. 52 264). Der Vorrang erlischt, wenn das bevorzugte Gericht durch einen nicht mehr anfechtbaren Beschluß die Eröffnung des Hauptverfahrens abgelehnt (§ 204) oder das Verfahren eingestellt (§ 153 Abs. 3, § 206 a) hat. Die vorläufige Einstellung (§ 154 Abs. 2, § 205) hat diese Wirkung nicht (OLG Düsseldorf G A 74 150). Der Vorrang erlischt ferner, wenn das nicht bevorzugte Gericht in der gleichen Sache rechtskräftig entschieden hat (BGHSt. 9 190). II. Verfahren. 1. Vor Eröffnung der Untersuchung. Stellt sich, bevor die Voruntersuchung, das Hauptoder das Sicherungsverfahren eröffnet worden ist, heraus, daß das Verfahren schon bei einem anderen Gericht eröffnet ist, so hat das Gericht im Falle der Prävention (I 1) die Eröffnung abzulehnen, falls sein Verfahren aber zufolge umfassender Zuständigkeit den Vorrang hat (II 4), beim zuerst befaßten Gericht darauf hinzuwirken, daß dieses sein Verfahren einstelle. Entsprechendes gilt für den Fall des Einziehungsbeschlusses (I 3 Abs. 3). Im beschleunigten Verfahren ist die anderweite Anhängigkeit stets Ablehnungsgrund (§ 212 b Abs. 1), selbst wenn, was praktisch kaum vorkommen wird, etwa der Fall der umfassenden Zuständigkeit (I 4) vorliegen sollte; das beschleunigte Verfahren verträgt keine Komplikationen. Bei Strafverfügungen kann, bei Strafbefehlen wird nach der Art der in diesen Verfahren anhängig gemachten Sachen regelmäßig nicht die umfassende Zuständigkeit vorliegen, so daß es zur Ablehnung der Anträge kommt. Liegt ausnahmsweise bei Strafbefehlen die umfassendere Zuständigkeit vor, dann hat der Amtsrichter, nachdem er den Strafbefehl erlassen hat, auf die Einstellung des Verfahrens beim zuerst befaßten Gericht hinzuwirken, jedoch erst dann, wenn der Strafbefehl rechtskräftig geworden oder Einspruch eingelegt und mit der Hauptverhandlung begonnen worden ist (I 3 Abs. 3). D a auf diese Weise Komplikationen eintreten können, sollte der Amtsrichter stets die Hauptverhandlung anberaumen (§ 408 Abs. 2) und alsbald nach ihrem Beginn das andere Gericht von der Rechtshängigkeit bei ihm benachrichtigen und auf die Einstellung der beim anderen Gericht anhängigen Sache hinwirken. 2. Nach Eröffnung der Untersuchung. Stellt sich nach Eröffnung der Untersuchung heraus, daß mehrere Gerichte wegen derselben Sache die Untersuchung eröffnet haben, so hat das nicht bevorzugte Gericht sein Verfahren einzustellen und die Untersuchung dem Gericht zu überlassen, dessen Vorrang, sei es durch Prävention, sei es zufolge umfassender Zuständigkeit, begründet ist. Dessen Zuständigkeit ist, wenn nicht nach Absatz 2 eine andere Regelung getroffen wird, die ausschließliche und diejenige des ersteren erloschen (RGSt. 29 179, 55 187). Hierbei bedarf es, wenn unter den beteiligten Gerichten über den Vorrang Einverständnis besteht, keiner Mitwirkung des gemeinschaftlichen oberen Gerichts; fehlt das Einverständnis, greift § 14 ein. 3. In der Rechtsmittelinstanz. Auch das Rechtsmittelgericht hat die Einstellung zu beschließen, wenn es über das Rechtsmittel in einem Verfahren zu entscheiden hat, das denselben Gegenstand wie ein anderweit rechtshängiges vorrangiges Verfahren hat (RGSt. 67 57). Schwebt dagegen das vorrangige Verfahren vor dem Revisionsgericht, und betrifft das anderweit anhängige Verfahren eine Straftat, die zu der beim Revisionsgericht anhängigen in Tateinheit steht, dann hat das Revisionsgericht das ideell konkurrierende Delikt mit zu berücksichtigen (§ 155). Kann es das wegen fehlender Feststellungen nicht tun, dann muß es grundsätzlich das in der vorrangigen Sache ergangene Urteil aufheben und die Sache zurückverweisen, weil ein zusätzliches ideell konkurrierendes Delikt — das mit oder ohne Verbindung mit der anderweit anhängigen Sache zu berücksichtigen ist — die Strafzumessung beeinflussen kann. Hat jedoch nur der Angeklagte Revision eingelegt und kann somit die Strafe nicht verschlechtert werden (§ 358 Abs. 2), dann ist der Angeklagte nicht beschwert, wenn eine an sich zulässige Änderung des Schuldspruchs unterbleibt. Das Revisionsgericht kann alsdann in der vorrangigen Sache entscheiden mit der Folge, daß das 244

Zweiter Abschnitt. Gerichtsstand (Dünnebier)

§ 12 Anm. II 4; III 1 - 3

anderwärts anhängige Verfahren einzustellen ist und damit das ideell konkurrierende Delikt unbeachtet bleibt (BGHSt. 10 362). Das Revisionsgericht kann aber auch ausdrücklich nach § 154 a Abs. 1 und 2 verfahren. 4. Ermittlungsverfahren. Für das staatsanwaltschaftliche Verfahren gilt § 12 nicht. Örtlich zuständig ist jede Staatsanwaltschaft, die die Sache bei dem Gericht anhängig machen kann, für das sie bestellt ist (§ 143 Abs. 1 GVG). Fällt diese Zuständigkeit bis zum Anhängigmachen fort (etwa weil der Beschuldigte seinen Wohnsitz wechselt), so muß die Staatsanwaltschaft die Sache abgeben, entweder an diejenige, die nunmehr zuständig geworden ist, oder an eine, die schon bisher zufolge mehrfachen Gerichtsstandes zuständig war. Unter mehreren zuständigen Gerichten hat die Staatsanwaltschaft die Wahl. Sie übt diese nach Gesichtspunkten der Zweckmäßigkeit unter Beachtung der Interessen des Beschuldigten aus. Der Umstand, daß eine Staatsanwaltschaft früher als die andere mit der Sache befaßt ist, ist nicht entscheidend, doch wird die Staatsanwaltschaft, die sich zuerst mit der Sache befaßt hat, diese nur abgeben können, wenn besondere Gründe dafür sprechen. Im Falle des — positiven wie des negativen — Zuständigkeitsstreites entscheidet der den streitenden Staatsanwaltschaften gemeinsam vorgesetzte Beamte der Staatsanwaltschaft, wenn die Staatsanwälte mehreren Oberlandesgerichtsbezirken angehören, der Generalbundesanwalt (§ 143 Abs. 3 GVG). Die Landesjustizverwaltungen sind zur Entscheidung nicht berufen (a. A. E b S c h m i d t IIb), können aber im Wege der Dienstaufsicht auf die Ersten Beamten der Staatsanwaltschaft einwirken, so daß der Generalbundesanwalt nur angerufen werden wird, wenn zwischen Staatsanwaltschaften mehrerer Länder keine Einigung zu erzielen ist. Doch sollte es auch in diesem Falle möglich sein und stets versucht werden, daß die Generalstaatsanwälte eine Einigung herbeiführen. III. Übertragung (Absatz 2). 1. Zweck. Absatz 2 läßt die Übertragung von dem Gericht, dem der Vorzug gebührt, auf ein anderes, an sich örtlich zuständiges Gericht zu, um das Verfahren zu erleichtem. Das obere Gericht wird von seiner Befugnis Gebrauch machen, wenn erhebliche Gründe der Zweckmäßigkeit, z. B. die Rücksicht auf den Wohnort der zu vernehmenden Zeugen oder auf Krankheit oder Reiseunfahigkeit eines Beteiligten, unter Wahrung der Interessen des Angeklagten die Übertragung gebieten. Den Übertragungsbeschluß erläßt das gemeinschaftliche obere Gericht. Vgl. dazu 8 vor § 7. 2. Voraussetzung der Übertragung ist, daß wenigstens ein Gericht das Hauptverfahren oder die Voruntersuchung eröffnet hat. Denn Absatz 2 ist keine selbständige Bestimmung, sondern eine Ausnahme von Absatz 1 mit dem Inhalte, daß einem anderen Gericht als dem, das die Untersuchung zuerst eröffnet hat, das Verfahren übertragen werden kann. Auch kann die Staatsanwaltschaft die öffentliche Klage zurücknehmen, bis die Voruntersuchung oder das Hauptverfahren eröffnet worden ist, und sie dann voreinem anderen zuständigen Gericht neu erheben. Deshalb widerspräche eine gerichtliche Übertragung vor der Eröffnung dem Geiste der Strafprozeßordnung (RGSt. 45 174; BGHSt. 10 392). In den besonderen Verfahrensarten, bei denen das Hauptverfahren nicht ausdrücklich eröffnet wird, gilt das I 3 Ausgeführte. Da im beschleunigten Verfahren (§212) und im vereinfachten Jugendverfahren (§ 76 Abs. 1 JGG) die Verfügung der Staatsanwaltschaft erst durch das erste Urteil ausgeschaltet wird, ist dort eine Übertragung nach § 12 Abs. 2 ausgeschlossen BGHSt. 15 314; 12 184). Dasselbe gilt für das Verfahren mit Straßefehlen und Strafverfügungen solange, bis mit einer Hauptverhandlung (§ 408 Abs. 2, § 411 Abs. 1, § 413 Abs. 4) begonnen worden ist. Von einem Antrag der Prozeßbeteiligten ist die Übertragung nicht abhängig; sie kann auch von Amts wegen beschlossen werden, also auch auf Anregung eines der beteiligten Gerichte. 3. Empfänger der Übertragung ist ein Gericht, das zu den nach §§ 7 bis 11, 13a zuständigen Gerichten gehört. Absatz 2 knüpft an Absatz 1 an, der von mehreren Gerichten handelt, die in dem Zeitpunkt zuständig sind, in dem ein Gericht das Verfahren eröffnet

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§ 12 Anm. III 4, 5

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hat. Daraus folgt, daß auch das Gericht, dem das Verfahren übertragen werden soll, schon zuständig gewesen sein muß, als das zuerst mit der Sache befaßte Gericht sein Verfahren eröffnet hatte (RGSt. 45 175; BGHSt. 13 210, 217; 16 392). Dieser Gerichtsstand ist im allgemeinen unveränderlich, doch ergibt sich eine Ausnahme für § 13 Abs. 1. Zwar ist zuständiges Gericht i. S. des § 12 Abs. 2 auch das Gericht, für das bei zusammenhängenden Strafsachen ein Gerichtsstand nach § 13 Abs. 1 begründet ist. Dieser Gerichtsstand erlischt aber, wenn der Zusammenhang vor der Eröffnung des Verfahrens wieder entfallt (I 1 Abs. 3 zu § 13). Da nun das Gericht, dem die Untersuchung und Entscheidung übertragen werden soll, auch im Zeitpunkt der Übertragung noch zuständig sein muß, ist die Übertragung auf ein Gericht, dessen Zuständigkeit, als das Verfahren bei einem anderen Gericht eröffnet worden ist, nach § 13 hätte begründet werden können, dann unzulässig, wenn im Zeitpunkt der Übertragung kein Sachzusammenhang mehr besteht (BGHSt. 16 391). 4. Zulässigkeit. Das Verfahren kann in jeder Lage des ersten Rechtszugs, auch in der Voruntersuchung, übertragen werden, solange noch kein Urteil ergangen ist (RG JW 1902 574). Die Übertragung auch nach dem Urteil erster Instanz zuzulassen, wird für unzulässig erachtet (RGSt. 13 365; und für § 42 Abs. 3 J G G BGHSt. 10 177), weil damit der Instanzenzug durchbrochen und in die ausschließliche Zuständigkeit des Rechtsmittelgerichts (3 Abs. 1 vor § 7) eingegriffen würde. Indessen ist eine Verschiebung in der Zuständigkeit der Berufungsgerichte der Strafprozeßordnung nicht fremd (3 Abs. 3 bis 6 vor § 7), im Falle des § 15 u. U. unumgänglich und zufolge § 354 Abs. 2 (Zurückverweisung an ein anderes Berufungsgericht durch das Oberlandesgericht als Revisionsgericht) sogar alltäglich. Aus den 2 zu § 4 angestellten Erwägungen ist daher auch für diesen Fall die Verschiebung der Zuständigkeit des Rechtsmittelgerichts zu rechtfertigen. Im Hinblick auf die Vielfalt solcher Fälle (3 vor § 7) ist die Übertragung auch dann noch als statthaft anzusehen, wenn eine Strafsache, nachdem das Urteil in der Berufungs- (§ 328 Abs. 2) oder Revisionsinstanz (§ 354 Abs. 2) aufgehoben, in die Vorinstanz zurückverwiesen worden ist (a. A. BGHSt. 18 261). Die Behauptung von M ü l l e r - S a x (5c), nach Zurückverweisung ständen nicht mehr mehrere örtlich (zu ergänzen: an sich) zuständige Gerichte zur Verfügung, entbehrt der Begründung. 5. Wirkung. Mit der Übertragung entfallt die Rechtshängigkeit bei dem an sich bevorzugten Gericht (vgl. BGH NJW 1958 31) und erlischt für die Dauer der Übertragung seine Zuständigkeit (RGSt. 45 70). Die Rückübertragung der Sache auf das vorübergehend unzuständig gewordene Gericht ist nicht ausgeschlossen; sie macht dieses wieder zuständig. Ebenso ist es zulässig, die Sache auf ein drittes zuständiges Gericht weiter zu übertragen. Dem beauftragten Gericht wird sein Gerichtsstand durch obergerichtliche Entscheidung in der Weise bestätigt, daß es ihn von Amts wegen nicht mehr nachprüfen darf. Insoweit ist die Entscheidung des oberen Gerichts für das niedere bindend. Die Verpflichtung, seine sachliche Zuständigkeit in jeder Lage des Verfahrens von Amts wegen zu prüfen (§ 6), bleibt unberührt. Infolge der Übertragung geht die Sache von dem einen Gericht auf das andere in der Lage über, in der es sich befindet. Die bisherigen Untersuchungshandlungen sind nicht zu wiederholen; ergangene Entscheidungen bleiben wirksam. Dagegen muß eine etwa begonnene Hauptverhandlung erneuert werden, weil zufolge der Übertragung die Besetzung des Gerichts wechselt (§ 226).

§ 13 (1) Für zusammenhängende Strafsachen, die einzeln nach den Vorschriften der § § 7 bis 11 zur Zuständigkeit verschiedener Gerichte gehören würden, ist ein Gerichtsstand bei jedem Gericht begründet, das für eine der Strafsachen zuständig ist. (2) Sind mehrere zusammenhängende Strafsachen bei verschiedenen Gerichten anhängig gemacht worden, so können sie sämtlich oder zum Teil durch eine den Anträgen der Staatsanwaltschaft entsprechende Vereinbarung dieser Gerichte bei einem unter ihnen verbunden werden. Kommt eine solche Vereinbarung nicht zustande, so entscheidet, wenn die Staats-

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Zweiter Abschnitt. Gerichtsstand (Dünnebier)

§ 13 Anm. I 1,2

anwaltschaft oder ein Angeschuldigter hierauf anträgt, das gemeinschaftliche obere Gericht darüber, ob und bei welchem Gericht die Verbindung einzutreten hat. (3) In gleicher Weise kann die Verbindung wieder aufgehoben werden. I. Gerichtsstand des Zusammenhangs (Absatz 1). 1. Inhalt. Der Zweckmäßigkeit und Notwendigkeit, zusammenhängende Sachen gemeinschaftlich zu verhandeln und zu entscheiden, tragen bei verschiedener sachlicher Zuständigkeit die §§ 2 bis 4 dadurch Rechnung, daß dem Kläger erlaubt wird, sie beim Gericht der höheren Zuständigkeit anzuklagen, und den Gerichten, sie dorthin durch Verbindung zusammenzubringen. Bei der örtlichen Zuständigkeit, die wegen der Vielzahl der Gerichtsstände ohnehin weniger eindeutig ist als die sachliche, bietet das Gesetz eine einfachere Lösung: für zusammenhängende Sachen ist ein Gerichtsstand bei jedem Gericht begründet, das für eine der Sachen zuständig ist. Daß § 13 sich, obwohl das Wort „Zuständigkeit" verwendet wird, nur auf örtlich verschiedene zuständige Gerichte gleicher Ordnung (RGSt. 45 167), also auf den Gerichtsstand, bezieht, ergibt sich aus der Erwähnung der §§ 7 bis 11. Wird durch die Verbindung zusammenhängender Sachen sowohl die örtliche Zuständigkeit als auch die sachliche geändert, finden nach allgemeiner Auffassung die § § 2 bis 4 Anwendung (RGSt. 45 167), doch wird die Voraussetzung für die Verbindung und für die Klage zum Gericht der höheren Zuständigkeit, soweit dadurch auch der Gerichtsstand berührt wird, durch § 13 Abs. 1 geschaffen. Wegen des Begriffs Zusammenhang gilt § 3 D e r Begriff ist also sowohl bei Tat- als auch bei Tätermehrheit (OLG Nürnberg MDR 1965 678) anzuwenden (2 zu § 3). Im ersten Fall gewinnt die Vorschrift allerdings nur Bedeutung, wenn mehrere Taten, die an verschiedenen Tatorten begangen worden sind, bei dem Gericht eines der Tatorte angeklagt werden sollen. Im letzten Fall ist es für den Zusammenhang gleichgültig, ob die mehreren Sachen gegen Täter oder ob sie gegen Teilnehmer laufen. Für jeden, der an einer der mehreren zusammenhängenden Strafsachen beteiligt ist, ist der Gerichtsstand bei jedem der mehreren an sich örtlich unzuständigen Gerichte begründet, bei dem für einen der Beteiligten ein Gerichtsstand gegeben ist (BGHSt. 11 108). Der Gerichtsstand des § 13 ist ein gesetzlich begründeter, ursprünglicher Gerichtsstand (BGHSt. 16 393); das ergibt ein Vergleich zwischen § 2 („verbunden anhängig machen") und § 13 („ist begründet"). Zufolge des Zusammenhangs ist ein Gericht für eine Sache zuständig, die an sich zur Zuständigkeit eines anderen Gerichts gehört. Danach besteht für zusammenhängende Strafsachen stets eine Mehrzahl von Gerichtsständen (§ 12). Der Gerichtsstand des § 13 Abs. 1 steht gleichberechtigt neben den anderen Gerichtsständen der § § 7 bis 11, 13 a, hat aber die Eigenart, daß er wieder untergehen kann, solange er noch nicht durch Anklage (OLG München NJW 1969 149) oder durch gerichtliche Verbindung befestigt ist (BGHSt. 16 393; II 1). 2. Verschiedene Gerichte. Nach seinem Wortlaut findet § 13 nur Anwendung auf Strafsachen, für die verschiedene Gerichtsstände nach den §§ 7 bis 11 gegeben sind, doch ergibt die Entstehungsgeschichte des § 13 a, der den Inhalt des früheren § 9 in sich aufgenommen hat, daß sowohl in § 12 als auch in § 13 neben den §§ 7 bis 11 auch § 13 a als Vorschrift einzusetzen ist, nach dem eine (örtliche) Zuständigkeit begründet ist. Demzufolge sind von § 1 3 alle Gerichtsstände erfaßt, und der Relativsatz könnte einfacher lauten: „die einzeln zur örtlichen Zuständigkeit verschiedener Gerichte gehören würden". § 13 gilt auch, wenn örtliche Sonderzuständigkeiten (4 vor § 7) gegeben sind, doch wird der Zweck, der dazu geführt hat, Gerichte mit solchen Zuständigkeiten zu versehen, es ausschließen, Sachen, die dorthin gehören, an ein Gericht zu bringen, bei dem die erforderlichen Spezialkenntnisse nicht vorausgesetzt werden können ( M ü l l e r — S a x 1 Abs. 2). Auch für den umgekehrten Fall wird Zurückhaltung geboten sein, um die zentralen Gerichte nicht ihrer eigentlichen Aufgabe zu entziehen, doch ist bei ihnen anzuklagen oder eine andere Sache mit eina bei ihnen anhängigen zu verbinden, wenn dies erforderlich ist, um die Täterpersönlichkeit richtig zu beurteilen, oder wenn sonst ein einheitlicher Tatkomplex zerrissen würde. 1

§ 3 war im Entwurf ein Teil des § 13, damals § 7; H a h n Mat. 1 5.

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§13 Anm. I 3; II 1

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

Strafsachen gegen Erwachsene sollen mit solchen gegen Jugendliche und Heranwachsende nur verbunden anhängig gemacht oder nach der Klage verbunden werden, wenn das aus wichtigen Gründen, namentlich um die Wahrheit zu erforschen, geboten ist (§ 103 Abs. 1,§ 112 Satz 1 JGG). 3. Auswahl des Gerichtsstands. Die Zuständigkeit der Staatsanwaltschaft wird durch diejenige des Gerichts bestimmt, für das sie bestellt ist (§ 143 Abs. 1 GVG). Ist danach der Gerichtsstand des Zusammenhangs gegeben, kann die Staatsanwaltschaft schon während der Ermittlungen die verschiedenen Sachen zusammenfassen. Fällt diese Zuständigkeit weg, weil kein Zusammenhang mehr besteht, muß die Staatsanwaltschaft die Sache an die nach §§ 7 bis 11, 13a zuständige abgeben. Sie kann ein Gericht mit einer Sache, für die bei diesem kein Gerichtsstand begründet ist, nicht deshalb befassen, weil es zuständig wäre, wenn ein Sachzusammenhang, der vor der Klage bestanden hatte, nicht weggefallen wäre. Ist der Täter gestorben, bevor gegen ihn die Klage erhoben worden ist, dann kann gegen den Teilnehmer die Klage nicht bei dem Gericht erhoben werden, das zuständig gewesen wäre, den Täter abzuurteilen, bei dem aber kein Gerichtsstand für den Teilnehmer besteht (OLG München NJW 1969 148). Die Staatsanwaltschaft (ebenso der Privatkläger und bei der Strafverfügung die Polizei) hat unter den mehreren Gerichtsständen die Wahl (5 Abs. 3 vor § 7). Sie übt diese nach Gesichtspunkten der Zweckmäßigkeit aus; dabei wird sie die Interessen des Beschuldigten beachten. Sie macht die Sachen entweder verbunden anhängig (RGSt. 31 173; OLG Köln JMB1NRW 1961 220) oder bewirkt die Verbindung dadurch, daß sie, bevor in einer bereits anhängigen Sache das Hauptverfahren oder die Voruntersuchung eröffnet ist, zu dieser nachträglich zusammenhängende Sachen anklagt (BGHSt. 20 221) oder Antrag auf Ausdehnung der Voruntersuchung (§ 191 Abs. 2) stellt. Sie kann das auch später noch tun, solange noch kein Urteil ergangen ist. Während der Voruntersuchung wird das regelmäßig geboten sein. Im ablaufenden Hauptverfahren aber sollte Nachtragsanklage in der Regel nur erhoben werden, wenn alsbald weiter verhandelt werden kann. Das Gericht, bei dem mehrere zusammenhängende Strafsachen verbunden anhängig gemacht worden sind, ist gesetzlicher Richter i. S. des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 G G und des § 16 Satz 2 GVG. Daher darf es die Motive, die für die Wahl des Klägers maßgebend gewesen sind, nicht erforschen. Es ist nicht berechtigt, die Eröffnung des Hauptverfahrens wegen der Sache, die ohne den Zusammenhang vor ein anderes Gericht gehören würde, mit der Begründung abzulehnen, daß es zweckmäßiger oder dem Interesse des Angeschuldigten dienlicher sei, sie dort anhängig zu machen. Die Rechtslage ist hier anders als im Fall des § 2, wo das Gericht die vom Kläger verbunden anhängig gemachten Sachen wieder trennen kann; dort wird für die verbundene Sache eine höhere Zuständigkeit begründet, hier wird von mehreren gesetzlich begründeten Gerichtsständen einer ausgewählt. Ebenso darf im umgekehrten Falle, wenn die Staatsanwaltschaft zusammenhängende Strafsachen nicht verbindet, sondern getrennt bei den zuständigen Gerichten anklagt, keines der mehreren Gerichte die Eröffnung des Hauptverfahrens deshalb ablehnen, weil Gründe der Zweckmäßigkeit nahelegen, die Sachen zu verbinden. II. Verbindung (Absatz 2). 1. Voraussetzungen. Sind zusammenhängende Sachen nicht schon verbunden anhängig gemacht worden, dann können sie nachträglich von den Gerichten verbunden werden. Voraussetzung ist, daß mehrere zusammenhängende (I 1) Strafsachen bei mehreren verschiedenen Gerichten anhängig gemacht worden sind und daß der Sachzusammenhang im Augenblick der Verbindung noch besteht. Daher ist die Verbindung nicht zulässig, wenn ein Sachzusammenhang zwar früher bestanden hat, inzwischen aber weggefallen ist (BGHSt. 16 393; OLG München NJW 1969 149). Unter Anhängigmachen sind zu verstehen die Erhebung der öffentlichen Klage (§ 170 Abs. 1) durch Antrag auf Voruntersuchung (§ 179) oder Einreichung einer Anklageschrift (§ 200), die Privatklage (§ 381), die mündliche Anklage im beschleunigten Verfahren (§ 212a Abs. 2 Satz 2), die Nachtragsanklage (§ 266 Abs. 2), der Antrag, einen Strafbefehl (§ 408 Abs. 1), der polizeiliche Antrag, eine Strafverfügung (§413 Abs. 1) zu erlassen, der Antrag im Sicherungsverfahren (§ 429a), der 248

Zweiter Abschnitt. Gerichtsstand (Dünnebier)

§ 13 Anm. II 2 , 3

Antrag im objektiven Einziehungsverfahren (§ 440) und im objektiven Verfahren bei Festsetzung von Geldbußen gegen juristische Personen und Personenvereinigungen (§ 444 Abs. 3). Weitere Voraussetzung ist, daß sich die Verfahren in gleicher Verfahrenslage befinden, also etwa alle in der ersten Instanz — sei es auch, daß ein Teil von ihnen inzwischen in der Revisionsinstanz war, aber wieder zurückverwiesen worden ist (RGSt. 14 396) —, im Berufungsverfahren oder in der Voruntersuchung schweben. Die Voruntersuchung ist noch nicht beendet, wenn der Untersuchungsrichter die Akten nach § 197 Abs. 1 der Staatsanwaltschaft übersendet (so Kl 1 zu § 197), sondern erst, wenn die Staatsanwaltschaft erklärt hat, keine Anträge zu stellen, oder wenn ihr Antrag, die Voruntersuchung zu ergänzen (§ 197 Abs. 2), abgelehnt worden ist (§ 183). Das Oberlandesgericht Nürnberg läßt die Verbindung auch dann zu, wenn die Voruntersuchung in der einen Sache schwebt und in der anderen schon abgeschlossen ist, solange nur die Staatsanwaltschaft noch keinen Antrag nach § 198 Abs. 2 gestellt hat (MDR 1965 678). Dem ist zuzustimmen. Zweck der Verbindung ist die gemeinschaftliche Verhandlung. Wenn es mit dem Legalitätsprinzip zu vereinbaren ist, in der abgeschlossenen Voruntersuchungssache mit der Anklage zu warten (eine hier nicht zu behandelnde Tatfrage), ist es gleichgültig, ob die Verbindung erst dann beantragt wird, wenn auch die noch laufende Voruntersuchung abgeschlossen ist oder ob die Verfahren schon vorher verbunden werden. Der Fall der Verbindung einer erstinstanzlichen Strafkammersache mit einer zweitinstanzlichen Schöffengerichtssache führt stets zugleich zu einem Eingriff in die sachliche Zuständigkeit und ist daher nach § 4 zu behandeln. Bei § 13 spielt das Problem der Verbindung bei ungleicher Instanz (2 zu § 4) keine Rolle. 2. Bei dem Verfahren des Absatzes 2 Satz 1 müssen mehrere Staatsanwaltschaften und Gerichte zusammenwirken. Kommt es nicht zu übereinstimmenden Anträgen der Staatsanwälte, können die Gerichte keine Verbindung vereinbaren, weil die dafür notwendige Voraussetzung, der übereinstimmende Antrag der Staatsanwaltschaften, fehlt (RG GA 62 488; BGHSt. 9 223; K G GA 74 210). Stimmen die Anträge der beteiligten Staatsanwaltschaften überein, dann vereinbaren die Gerichte Abgabe und Übernahme durch übereinstimmende Beschlüsse, meist nachdem sie sich vorher durch einen Schriftwechsel der Übereinstimmung versichert haben. In der Voruntersuchung ist für die Vereinbarung nicht der Untersuchungsrichter, sondern die Strafkammer zuständig (§ 73 Abs. 1 GVG; R G JR 1925 1067); § 126 Abs. 4 kann nicht entsprechend angewendet werden. Durch die Verbindung kommt die Sache an ein (auch) zuständiges Gericht, sie wird aber zugleich einem (ebenfalls) zuständigen Gericht entzogen. Während der Kläger seine Wahl frei treffen kann, sind die Gerichte bei der Verbindung, weil sie damit in die Anhängigkeit einer Sache eingreifen, in ihren Erwägungen enger gebunden. Die Verbindung muß einen Zweck haben, sie muß sachgemäß sein (OLG Nürnberg MDR 1965 678). In erster Linie wird der Zweck verfolgt werden, die Sachen einheitlich zu verhandeln, dadurch die Täter und ihre Motive besser zu beurteilen, Zeugen nur einmal zu vernehmen und ähnl. Indessen sind die Gerichte, weil durch die Verbindung kein neuer Gerichtsstand begründet wird, sondern ein gesetzlicher Gerichtsstand gegen einen anderen ebenfalls gesetzlichen Gerichtsstand ausgewechselt wird, in ihren Erwägungen freier als im Falle des § 4. Lehnt z. B. ein Angeklagter (zwar unzulässigerweise, aber subjektiv nicht völlig unbegründet) ein ganzes Gericht ab, dann kann seinen Gefühlen dadurch Rechnung getragen werden, daß die Sache mit einer verbunden wird, die gegen ihn bei einem anderen Gericht schwebt. 3. Gemeinschaftliches oberes Gericht. Sowohl bei den Staatsanwaltschaften als auch bei den Gerichten können sich Meinungsverschiedenheiten darüber ergeben, ob es geboten ist, zusammenhängende Sachen zu verbinden. Die Entschließung der Staatsanwälte kann durch die der ihnen vorgesetzten Beamten der Staatsanwaltschaft ersetzt werden. Der Generalbundesanwalt ist kein vorgesetzter Beamter der Landesstaatsanwälte und daher, da § 143 Abs. 3 GVG nicht einschlägt, nicht zur Entscheidung berufen (a. A. K e r n JZ 1956 725; wie hier K e r n - R o x i n § 8 B I 2). Die Landesjustizverwaltungen dürfen nicht entscheiden, können aber im Wege der Dienstaufsicht auf die Ersten Beamten der Staatsanwaltschaft einwirken. 249

§ 13

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

Anm. II 4 Kommt trotz übereinstimmender Anträge der Staatsanwaltschaften keine Vereinbarung der Gerichte zustande, so entscheidet auf Antrag einer der Staatsanwaltschaften (ebenso des Privat- und Nebenklägers) oder des Beschuldigten — nicht auf Antrag eines der beteiligten Gerichte oder von Amts wegen — das gemeinschaftliche obere Gericht. Dagegen ist dessen Entscheidung unzulässig, wenn die Staatsanwaltschaften nicht übereinstimmen; die Entscheidung des oberen Gerichts kann nur die mangelnde Einigung der Gerichte ersetzen, nicht aber das Fehlen übereinstimmender Anträge der Staatsanwaltschaften (BGHSt. 21 247)2. Das folgt aus dem Wortlaut des § 13 Abs. 2, dessen Satz 2 zufolge der Worte „eine solche Vereinbarung" auf Satz 1 aufbaut und daher zu lesen ist: „Kommt eine den Anträgen der Staatsanwaltschaften entsprechende Vereinbarung nicht zustande". Die gegenteilige Auslegung 3 verstößt nicht nur gegen den Wortlaut des § 13, sondern auch gegen das System der Strafprozeßordnung. Nach diesem wählt unter mehreren Gerichtsständen der Kläger. Daher ist sein Antrag Entscheidungsvoraussetzung, wenn der zunächst gewählte Gerichtsstand nach Anhängigkeit geändert werden soll. Anders ist es bei der sachlichen Zuständigkeit. Über diese kann der Kläger — von den engen Wahlmöglichkeiten der § § 2 4 Abs. 1 Nr. 2, 74 Abs. 1 Satz 2 GVG abgesehen — allein nicht verfügen. Daher kann das Gericht nach § 2 Abs. 2 einen von der Staatsanwaltschaft herbeigeführten Zusammenhang lösen und nach § 4 jederzeit von Amts wegen verbinden und trennen. Wegen des Begriffs gemeinschaftliches oberes Gericht s. 8 vor § 7. 4. Weiteres Verfahren und Rechtsmittel. Wegen Begründung und Bekanntmachung der Entscheidung s. 3 zu § 4. — Lehnen es die Gerichte entgegen den Anträgen der Staatsanwaltschaften ab, die Sachen zu verbinden, entscheidet nach Absatz 2 Satz 2 auf Antrag der Staatsanwaltschaft oder des Angeschuldigten das gemeinschaftliche obere Gericht. Diese Entscheidungsbefugnis ist ausschließlich; damit ist die Beschwerde ausgeschlossen. Gegen die Entscheidung des gemeinschaftlichen oberen Gerichts ist keine Beschwerde statthaft (8 Abs. 3 vor § 7). Etwas kompliziert ist, festzustellen, welche Rechtsmittel gegen die Verbindung gegeben sind. Wird die Verbindung beschlossen, nachdem in der übernommenen Sache zwar die öffentliche Klage durch Einreichen einer Anklageschrift (§ 170 Abs. 1, § 199 Abs. 2) erhoben, aber das Hauptverfahren noch nicht eröffnet (§§ 203, 207 Abs. 1) worden ist, dann ist, wenn die Anklageschrift dem Angeschuldigten noch nicht mitgeteilt war, nach § 201 zu verfahren. Wegen des Rechtsmittels gilt § 201 Abs. 2 Satz 3 in Vbdg. mit § 182 Abs. 1. Hatte das abgebende Gericht die Anklage schon zugestellt, konnte der Angeschuldigte zwar Anträge stellen und Einwendungen gegen die Eröffnung des Hauptverfahrens vorbringen, doch fehlte ihm die Gelegenheit, die örtliche Unzuständigkeit des Gerichts zu rügen, das die Sache erst nach Zustellung der Anklage übernommen hat. Diese Gelegenheit muß er nach Art. 103 Abs. 1 GG erhalten. Dazu hat ihn der Vorsitzende des übernehmenden Gerichts aufzufordern, Einwendungen gegen die Eröffnung des Hauptverfahrens in bezug auf den Gerichtsstand für die übernommene Sache vorzubringen. Dann ist weiter nach § 201 Abs. 2 zu verfahren. Wegen des Rechtsmittels gilt § 201 Abs. 2 Satz 3 in Vbdg. mit § 182 Abs. 1. Bei der Voruntersuchung kann der Angeschuldigte, bis sie geschlossen ist, jederzeit den Einwand der Unzuständigkeit geltend machen (§16 Satz 1) und, wenn dieser verworfen wird, sofortige Beschwerde einlegen (§ 182 Abs. 1). Wird die Verbindung beschlossen, nachdem das Hauptverfahren eröffnet worden ist, kann der Beschuldigte außerhalb der Hauptverhandlung und in ihr den Einwand der fehlenden örtlichen Zuständigkeit erheben, während der Hauptverhandlung jedoch nur bis zum Beginn der Vernehmung zur Sache (II 4 zu § 16) in dem übernommenen Verfahren ( § 1 6 Satz 2). Gegen eine Entscheidung, die den Einwand verwirft, ist ihm die Beschwerde versagt (§ 305), doch kann er mit der Revision rügen, daß bei dem Gericht, das entschieden hat, kein Gerichtsstand gegeben war. 2 3

Ebenso RG GA 62 489; HRR 1925 1474; KG GA 74 211; F e i s e n b e r g e r 7; E b S c h m i d t 9; Kl 6; K e r n JZ 1956 724. BGHSt. 9 222; B u s c h LM 1 zu § 13; M ü l l e r - S a x 6.

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Zweiter Abschnitt. Gerichtsstand (Dünnebier)

§ 13 Anm. II 5 , 6

Auf den angegebenen Wegen kann der Angeschuldigte nur rügen, daß der Begriff des Zusammenhangs (§ 3) verkannt und deshalb bei dem Gericht, das das Verfahren übernommen hat, kein Gerichtsstand begründet sei (§§ 16, 182 Abs. 1). Dagegen ist den nach diesen Vorschriften (allein) über den Gerichtsstand entscheidenden Gerichten zu prüfen versagt, ob die Verbindung auch zweckmäßig sei. Daher ist es nicht recht sinnvoll, wenn die herrschende Meinung dem Angeschuldigten die (einfache) Beschwerde zugesteht gegen die Beschlüsse des abgebenden und des übernehmenden Gerichts, soweit diese nicht als erkennende Gerichte entschieden haben 4 . Die damit dem Beschwerdegericht zugesprochene Befugnis, die Zweckmäßigkeit der Verbindung zu prüfen, wird der Absicht des Gesetzgebers kaum gerecht: Daß der Angeklagte dort angeklagt wird, wo einer von mehreren Gerichtsständen begründet ist, bleibt überall seinem Widerspruch entzogen. § 13 Abs. 2 Satz 2 räumt ihm ausnahmsweise das Recht ein, die Verbindung durch einen Antrag ans obere Gericht anzustreben. Daß er die Verbindung selbst anfechten könne, ist mit dieser Regelung und mit der Beschränkung auf den Einwand der Unzuständigkeit in §§ 16, 182 Abs. 1, § 201 Abs. 2 Satz 3 kaum zu vereinbaren. Gleichwohl muß in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung (OLG Nürnberg MDR 1965 678) an der auch hier vertretenen Ansicht festgehalten werden. Denn sie entspricht dem Wortlaut des § 304 Abs. 1. Nach dem letzten Halbsatz dieser Bestimmung ist die Beschwerde nur dann unstatthaft, wenn das Gesetz (an sich beschwerdefähige) Entscheidungen einer Anfechtung entzieht. Da es an einem solchen ausdrücklichen Ausspruch des Gesetzgebers fehlt, können systematische Erwägungen nicht dazu führen, dem Angeschuldigten die Beschwerde zu versagen. 5. Wirkung und Dauer. Mit der Verbindung endet die Rechtshängigkeit bei dem abgebenden Gericht. Hat eines der zuständigen Gerichte in zusammenhängenden Sachen das Hauptverfahren eröffnet, nachdem die Sachen bei ihm verbunden anhängig gemacht oder durch Vereinbarung bei ihm verbunden worden sind, so erlangt es hiermit nach § 12 einen Vorzug auch hinsichtlich der nicht zu seiner ursprünglichen Zuständigkeit gehörigen Sache. Sind zusammenhängende Strafsachen nach § 13 durch Klage oder gerichtlichen Beschluß — nicht aber allein durch staatsanwaltschaftliche Ermittlungen — verbunden worden, hört der durch die Verbindung geschaffene Gerichtsstand nicht von selbst auf, wenn der Grund der Verbindung wieder wegfällt (RGSt. 49 10). Können die verbundenen Sachen wegen unerwarteter Hindernisse nicht gleichzeitig verhandelt und entschieden werden oder wird die Strafsache, die den Zusammenhang bewirkt hat, vorläufig oder endgültig erledigt, so bleibt gleichwohl für die andere Sache der einmal begründete Gerichtsstand bestehen. Er endet erst, wenn die Sachen nach § 13 Abs. 3 getrennt oder die Untersuchung und Entscheidung nach § 12 Abs. 2, §§ 14, 15, 354 Abs. 2 einem anderen Gericht übertragen werden (BGHSt. 16 393) 5 . 6. Aufhebung der Verbindung (Absatz 3). Absatz 3 bezieht sich nicht nur auf Absatz 2, sondern auch auf Absatz 1, gilt also nicht nur, wenn zusammenhängende Strafsachen ursprünglich bei verschiedenen Gerichten anhängig gemacht waren, dann aber durch Gerichtsbeschluß verbunden worden sind, sondern auch, wenn Sachen getrennt werden sollen, die durch Klage verbunden anhängig gemacht worden sind (RGSt. 31 174; OLG Schleswig SchlHA 1958 115). Wegen der Gründe für die Trennung s. IV 2 zu § 2. Für die Form der Trennung gilt entsprechend, was für die Verbindung ausgeführt ist. Danach können verbundene Sachen dadurch getrennt werden, daß das Gericht, das trennen will, die Trennung mit dem Gericht vereinbart, dem es die abzutrennende Sache übergeben will. Bei diesem Gericht muß nach den §§ 7 bis 11, 13 a ein Gerichtsstand begründet sein oder ein weiterer Gerichtsstand nach § 13 bestehen. Die Vereinbarung kann nur auf übereinstimmenden Antrag der beiden beteiligten Staatsanwaltschaften getroffen werden. Kommt " E b S c h m i d t 10; M ü l l e r - S a x 5; Kl 7. 5 Ebenso RGSt. 25 406; 49 10; BGH bei D a l i i n g e r MDR 1957 653; OLG Schleswig SchlHA 1958 115; OLG München NJW 1969 148; zu BGHSt. 16 391 s. weiter III 3 zu § 12; I 1 Abs. 3 zu § 13.

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§ 13a

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

Anm. 1—3 trotz der übereinstimmenden Anträge keine Vereinbarung zustande, entscheidet auf Antrag eines der Staatsanwälte oder des Angeklagten — nicht eines der Gerichte oder von Amts wegen — das gemeinschaftliche obere Gericht. In beiden Fällen ist es gleichgültig, wie die Verbindung zustandegekommen war. Auch wenn das obere Gericht die Sachen verbunden hatte, können sie durch Vereinbarung der unteren Gerichte wieder getrennt werden 6 , falls der Trennung veränderte Umstände zugrundeliegen. Den Trennungsantrag braucht nicht derselbe Prozeßbeteiligte zu stellen, der die Verbindung beantragt hatte 7 . Mit der Trennung geht die abgetrennte Sache in der Lage, in der sie sich zur Zeit der Trennung befindet, auf das Gericht über, das mit dem Gericht, bei dem die Sache verbunden anhängig war, die Trennung vereinbart hatte. Wegen der Rechtsmittel gilt das zu 4 Gesagte.

§ 13a Fehlt es im Geltungsbereich dieses Bundesgesetzes an einem zuständigen Gericht oder ist dieses nicht ermittelt, so bestimmt der Bundesgerichtshof das zuständige Gericht. Entstehungsgeschichte: Eingefügt durch Art. 4 Nr. 4 des 3. StRÄndG. In § 9 a. F. war die Gerichtsstandsbestimmung vorgesehen bei Auslandstaten, wenn keine Ergreifung stattgefunden hatte und bei Inlandstaten, wenn ein Gerichtsstand des Tat- oder Wohnortes nicht ermittelt werden konnte. 1. Fehlen eines Gerichtsstandes. An einem Gerichtsstand fehlt es, wenn die Tat außerhalb des räumlichen Geltungsbereichs der Strafprozeßordnung und nicht auf einem deutschen Seeschiff oder Luftfahrzeug von einer nicht unter § 11 fallenden Person begangen ist, die im Geltungsbereich der Strafprozeßordnung keinen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt hat, dort auch nicht ergriffen worden ist und deren Tat auch nicht mit einer zusammenhängt (§ 13 Abs. 1), für die ein Gerichtsstand nach den § § 7 bis 11 begründet ist. Der Fall wird sehr selten vorkommen. 2. Nicht ermittelter Gerichtsstand. Die zweite Möglichkeit ist nicht schon gegeben, wenn über die den Gerichtsstand begründenden Orte Ungewißheit besteht, sondern erst dann, wenn ein solcher Gerichtsstand nicht ermittelt ist. Ebenso wie für die Eröffnung des Verfahrens der Verdacht ausreicht, daß eine strafbare Handlung begangen sei, so genügt zur Begründung des Gerichtsstands die aus den Tatumständen hergeleitete Annahme, daß die Tat an dem fraglichen Orte begangen sei usw. Daher ist der Ort, wo die Leiche eines Getöteten gefunden wird, als Tatort zu behandeln, solange kein anderer ermittelt oder festgestellt worden ist, daß der Fundort nicht der Tatort ist. Ist das der Fall (z.B. bei einer vom fließenden Strom angeschwemmten Leiche, die schon längere Zeit im Wasser gelegen hat), so ist die Zulässigkeit der Gerichtsstandsbestimmung nicht davon abhängig, ob vielleicht im weiteren Laufe der Ermittlungen ein in den § § 7 bis 10 vorgesehener Gerichtsstand ermittelt werden könnte. Maßgebend ist allein, daß keiner ermittelt worden ist (BGHSt. 10 257). 3. Bestimmung des Gerichtsstandes. Die Behörden (Polizei, Staatsanwaltschaft), in deren Bezirk sich Spuren einer strafbaren Handlung finden, sind in erster Linie zum Einschreiten verpflichtet. Ergibt sich dabei, daß der Gerichtsstand unbekannt ist, oder erfahrt eine Staatsanwaltschaft sonst von einer strafbaren Handlung, für die kein Gerichtsstand bekannt ist, so regt sie beim Generalbundesanwalt an, daß er vom Bundesgerichtshof einen Gerichtsstand als zuständig bestimmen lasse. Der Bundesgerichtshof kann auch, ebenso wie 6 7

A. A. E b S c h m i d t II 13; wie hier jetzt auch M ü l l e r - S a x 8. H a h n Mat. 2 1197, 1504; J o h n 1 1.

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Zweiter Abschnitt. Gerichtsstand (Dünnebier)

§ 13 a Anm. 4—6

der Generalbundesanwalt, von Amts wegen tätig werden, der letztere etwa aufgrund von Anregungen Privater (z. B. eines zur Privatklage Berechtigten) oder der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen in Ludwigsburg. Die Bestimmung findet regelmäßig zu Beginn des Ermittlungsverfahrens statt, damit eine Staatsanwaltschaft (§ 143 Abs. 1 GVG) verpflichtet wird, sich der Ermittlungen anzunehmen (BGHSt. 10 257). Sie kann später vorgenommen werden, wenn zunächst eine unzuständige Staatsanwaltschaft (§ 143 Abs. 2 GVG) die Ermittlungen aufgenommen hatte. Nach Anhängigkeit kann der Fall des § 13 a nur eintreten, wenn ein unzuständiges Gericht versehentlich mit der Sache befaßt worden ist, und sich herausstellt, daß ein zuständiges nicht ermittelt ist; ein höchst seltener Fall. Im Wiederaufnahmeverfahren (§§ 359ff.) und für Vollstreckungsentscheidungen (§ 458) hat die Vorschrift keine Bedeutung. Denkbar wäre das nur bei einer Änderung der Gerichtseinteilung, doch sind die dabei entstehenden Zuständigkeiten durch das Gesetz über die Zuständigkeit der Gerichte bei Änderung der Gerichtseinteilung vom 6 . 1 2 . 1 9 3 3 (BGBl. III—300—5) bestimmt. Entscheidungen, die sich auf Zuständigkeitsbestimmungen im Wiederaufnahmeverfahren beziehen, sind durch das Zuständigkeitsergänzungsgesetz vom 7. 8. 1952 (BGBl. III—310—1) und die neuere Rechtsprechung dazu (6) überholt. Die Aufgabe des Bundesgerichtshofs ist darauf beschränkt, durch Schaffen eines Gerichtsstands das Tätigwerden von Staatsanwaltschaft und Gericht zu ermöglichen. Demzufolge prüft er lediglich, ob ein der deutschen Gerichtsorganisation angehöriges Gericht überhaupt allgemein für Sachen der in Frage kommenden Art sachlich zuständig sein kann. Dagegen prüft er nicht, ob der Einleitung und Durchführung des Verfahrens ein Verfahrenshindernis entgegensteht, und ob der hinreichende Verdacht einer Straftat vorliegt oder, wenn gegen einen Zurechnungsunfähigen die Unterbringung in einer Heil- oder Pflegeanstalt in Betracht kommt (§ 42 b Abs. 1 StGB), Anhaltspunkte (§ 429 a) für eine rechtswidrige Tat gegeben sind (BGHSt. 18 20; zust. J e s c h e c k JZ 1963 565). Dem Verfahren der für zuständig erklärten Staatsanwaltschaften und Gerichte kann nicht vorgegriffen werden. Beschwerde ist nicht gegeben (§ 304 Abs. 1). 4. Zuständiges Gericht. § 13 a bezieht sich auf den Gerichtsstand, nicht auf die Zuständigkeit. Nach § 17 Abs. 1 ZustErgG wird die Strafkammer für zuständig erklärt. Eine Ausdehnung dieser Regelung ist nicht zulässig. Die Gerichtsstandsbestimmung muß daher im vorbereitenden Verfahren der Auslegungskompetenz des Staatsanwalts (§ 24 Abs. 1 Nr. 2 GVG) und der Eröffnungskompetenz des Gerichts (§ 209) dadurch Rechnung tragen, daß, wenn nicht das Landgericht (Schwurgericht) zweifelsfrei zuständig ist, die Zuständigkeit „für den Ort X " bestimmt wird. 5. Dauer der Bestimmung. Mit der Bestimmung durch den Bundesgerichtshof tritt der Gerichtsstand der Bestimmung selbständig neben die sonstigen und entfallt nicht dadurch, daß später ein auf den § § 7 bis 11 beruhender Gerichtsstand ermittelt wird (BGHSt. 10 257). Wohl aber kann das nunmehr gemeinschaftliche obere Gericht die Untersuchung und Entscheidung der Sache dem Gericht des ermittelten Gerichtsstands übertragen. Daß § 13 a nicht in § 12 Abs. 1 aufgenommen worden ist, sagt nichts dagegen (BGHSt. 10 259; I 2 zu § 12). Der Gerichtsstand des § 13 a hat auch nicht etwa deshalb gegenüber den anderen Gerichtsständen einen Vorrang, weil er durch einen Beschluß des Bundesgerichtshofs begründet worden ist ( S c h e r m e r MDR 1964 896). Daher bedarf es in dem Verfahren nach § 13 Abs. 2 Satz 1 keiner Zustimmung des Bundesgerichtshofs. 6. Wegfall eines reichsdeutschen Gerichtsstands. § 13 a hat nicht die Aufgabe, auf dem Weg der Zuständigkeitsbestimmung eine fehlende Gerichtsbarkeit der Bundesrepublik zu begründen. Für die Gerichte, an deren Sitz keine deutsche Gerichtsbarkeit mehr ausgeübt wird (§ 1 ZustErgG), und für Wehrmachtsgerichte (§ 18 Abs. 1 ZustErgG) ist die Materie abschließend in §§ 17 bis 19 ZustErgG (BGBl. III 3 1 0 - 1 ) geregelt. Soweit in Vorschriften zur Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts, die nach § 18 Abs. 2 Satz 2 ZustErgG von diesem unberührt bleiben, kein Gericht im räumlichen Geltungsbereich der Strafprozeßordnung ermächtigt ist, Strafurteile zu ändern oder zu beseitigen, trifft Art. IX des BEG-Schlußgesetzes vom 14.9. 1965 (BGBl. I 1315, 1338) Vorsorge (BGHSt. 22 253

§ 14 Anm. 1—3

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

364); eine Zuständigkeitsbestimmung nach § 13 a ist nicht zulässig (BGHSt. 11 382). Ebenso bietet die Vorschrift keine Handhabe, in die Gerichtsbarkeit der D D R (BGHSt. 15 72) oder der früheren Besatzungsmächte (BGHSt. 12 326) einzugreifen.

§ 14 Besteht zwischen mehreren Gerichten Streit über die Zuständigkeit, so bestimmt das gemeinschaftliche obere Gericht das Gericht, das sich der Untersuchung und Entscheidung zu unterziehen hat. 1. Voraussetzungen. Durch die Vorschrift wird das gemeinschaftliche obere Gericht mit der Entscheidung eines Zuständigkeitsstreites betraut. Bei dem Streit kann es sich, wie ein Vergleich der §§ 14 und 19 ergibt, sowohl um den positiven als auch um den negativen Zuständigkeitsstreit handeln, um den letzten allerdings nur, solange die angefochtenen Entscheidungen noch nicht rechtskräftig sind. Einen Streit, der nicht zwischen Gerichten sondern innerhalb eines und desselben Gerichts zwischen verschiedenen Abteilungen entstanden ist, entscheidet das Präsidium, im Notfall der Präsident (§ 22 c GVG). Ein positiver Zuständigkeitsstreit besteht, wenn mehrere Gerichte mit derselben Sache befaßt worden sind und keines — weil sich alle für zuständig halten, und keines den Vorzug des anderen anerkennt — sein Verfahren einstellen will, ein negativer, wenn sämtliche mit derselben Sache befaßten Gerichte sich für unzuständig erklärt haben. Beim negativen Zuständigkeitsstreit ist nur dann nach § 14 zu verfahren, wenn noch zwischen Gerichten Streit besteht, d.h. wenn wenigstens zwei Entscheidungen noch anfechtbar sind; sonst gilt § 19. Wann der Zuständigkeitsstreit entsteht, ist gleichgültig. Zwar wird er in der Regel im erstinstanzlichen Verfahren zum Austrag kommen, weil für die Rechtsmittelinstanzen eindeutige, ausschließliche Zuständigkeiten gegeben sind. Doch findet § 14 auch Anwendung, wenn der Streit erst in einer höheren Instanz aufkommt, was wohl nur bei einer Änderung der Gerichtsbezirke denkbar ist. Voraussetzung ist, daß in der Untersuchung noch eine Entscheidung zu treffen ist. Danach ist das Verfahren des § 14 bis zur Rechtskraft der Endentscheidung zulässig. Die Notwendigkeit, einen Zuständigkeitsstreit durch die bindende Anordnung des gemeinschaftlichen oberen Gerichts zu beseitigen, erfordert es aber, § 14 auf Zuständigkeitsstreitigkeiten nach Rechtskraft, namentlich im Vollstreckungsverfahren (§ 458; BayObLG NJW 1955 601), entsprechend anzuwenden. 2. Beschwerde. § 14 schließt nicht aus, daß die Erledigung des Zuständigkeitsstreits im Wege der Beschwerde gegen die Entscheidungen der streitenden Gerichte versucht wird, hat diesen Versuch aber — da die Beschwerde in der Hand der Prozeßbeteiligten liegt — nicht zur Voraussetzung. Bei positivem Streit wird die Beschwerde in der Regel nicht gegeben sein: Den eröffnenden Beschluß kann der Angeklagte nicht anfechten und die Staatsanwaltschaft nicht deshalb, weil ihr nachträglich das Verfahrenshindernis der anderweiten Rechtshängigkeit bekannt geworden sei (§210 Abs. 1 und 2). Wird nach Eröffnung des Hauptverfahrens beantragt, das Verfahren nach § 206a StPO einzustellen, so ist der Beschluß, mit dem dieser Antrag abgelehnt wird, nach § 305 Satz 1 unanfechtbar. Dagegen ist im Falle des negativen Streits gegen den Einstellungsbeschluß die sofortige Beschwerde gegeben (§ 206a Abs. 2), doch wird sie sich nur empfehlen, wenn mit einiger Sicherheit erwartet werden kann, daß durch die Beschwerdeentscheidung der Streit erledigt wird. Auch hat die Frage nur dann Bedeutung, wenn das gemeinschaftliche obere Gericht nicht zugleich das für die streitenden Gerichte gemeinschaftliche Beschwerdegericht ist. 3. Entscheidung. Führt die Beschwerde nicht zum Ziel oder wird sie nicht versucht, so entscheidet das gemeinschaftliche obere Gericht (zu diesem Begriff s. 8 vor § 7) auf Antrag der Staatsanwaltschaft oder eines anderen Prozeßbeteiligten, auf Vorlage eines der beteiligten Gerichte oder von Amts wegen. Die Gerichtsvorlage ist in die Form einer Entscheidung zu fassen. In dieser hat das Gericht seine Unzuständigkeit auszusprechen und dabei den Angeklagten und die Tat nach § 200 Abs. 1 Satz 1 zu bezeichnen. Ein Formmangel steht der Entscheidung des oberen Gerichts jedoch nicht entgegen (BGHSt. 11 58, 254

Zweiter Abschnitt. Gerichtsstand (Dünnebier)

§ 15 Anm. 1 , 2

117). Dieses kann nur eines der streitenden Gerichte, nicht ein am Streit unbeteiligtes bestimmen. Hält es alle beteiligten Gerichte für unzuständig, weil in Wirklichkeit das zuständige nicht ermittelt ist, so entscheidet es von Amts wegen nach § 13a. Hält es alle für unzuständig, aber ein anderes für zuständig, so lehnt es die Gerichtsstandsbestimmung ab. Bleibt auf diese Weise oder weil etwa das obere Gericht nicht angerufen wird, der Streit unentschieden, so endet er mit dem zuerst rechtskräftig werdenden Urteil. Der Beschluß des oberen Gerichts ist unanfechtbar (8 Abs. 3 vor § 7).

§

15

Ist das an sich zuständige Gericht in einem einzelnen Falle an der Ausübung des Richteramtes rechtlich oder tatsächlich verhindert oder ist von der Verhandlung vor diesem Gericht eine Gefahrdung der öffentlichen Sicherheit zu besorgen, so hat das zunächst obere Gericht die Untersuchung und Entscheidung dem gleichstehenden Gericht eines anderen Bezirks zu übertragen. 1. Gerichtsstand des Auftrags. Die Vorschrift behandelt den durch Auftrag (Übertragung) des oberen Gerichts begründeten Gerichtsstand: durch den Auftrag wird jedes Gericht, auch ein an sich unzuständiges, zur Untersuchung und Entscheidung in der ihm übertragenen Sache zuständig. Ist der Auftrag erteilt, dann steht der Gerichtsstand des § 15 selbständig neben den anderen Gerichtsständen, doch begründet die Übertragung, wenn sie nach Rechtshängigkeit ausgesprochen wird, zugleich den Vorzug vor anderen an sich auch zuständigen Gerichten, es sei denn, daß eines von ihnen, was dem oberen Gericht unbekannt geblieben ist, schon das Verfahren eröffnet hat. In diesem Fall regelt sich der Vorzug nach § 12. Voraussetzung des Auftrags ist, daß ein an sich zuständiges Gericht die Gerichtsbarkeit nicht ausüben kann. An sich zuständig ist das Gericht, wenn es nach einem der in den § § 7 bis 11, 13 bezeichneten Gerichtsstände oder zufolge Übertragung nach § 12 Abs. 2 zur Untersuchung und Entscheidung berufen ist. Der Auftrag kann also nur erteilt werden, wenn zur Zeit der Verhinderung im Geltungsbereich der Strafprozeßordnung ein Gerichtsstand besteht. Fehlt es in diesem Bereich an einem zuständigen Gericht, dann ist nicht § 15, sondern § 13 a anzuwenden, doch gilt § 15 auch dann, wenn ein Gericht nach § 13 a als zuständiges Gericht bestimmt worden war, danach aber ein Verhinderungsgrund eingetreten ist. Die Vorschrift unterscheidet sich grundlegend von § 12 Abs. 2 und von § 14: In diesen beiden Fällen kann das obere Gericht nur ein zuständiges Gericht bezeichnen; im ersten Falle wählt es unter Beseitigung des Vorzuges aus mehreren an sich zuständigen Gerichten eines nach Gesichtspunkten der Zweckmäßigkeit aus, im zweiten Falle bezeichnet es das (richtigerweise allein oder ausschließlich) zuständige Gericht. § 15 hat Ähnlichkeit mit § 13 a: in beiden Fällen muß einem Notstand abgeholfen werden, im letzten Fall, weil kein Gerichtsstand vorhanden oder festzustellen ist, im Falle des § 15, weil das Gericht des bekannten Gerichtsstandes nicht tätig werden kann. 2. Verhinderung. Das Gericht kann aus rechtlichen oder aus tatsächlichen Gründen verhindert sein. Rechtliche Verhinderung liegt vor, wenn so viele Richter — einschließlich ihrer Vertreter — ausgeschlossen (§ 22) oder abgelehnt (§ 24) und die Ablehnungen für begründet erklärt worden sind (§ 28 Abs. 1), daß das Gericht nicht mehr ordnungsgemäß besetzt werden kann (RGSt. 10 381). Die Gefahr allein, daß das gesamte Gericht voreingenommen s e i g e n ü g t nicht. Tatsächliche Verhinderung ist gegeben, wenn durch Erkrankung von Richtern usw. das Gericht beschlußunfähig (II 7 zu § 27) geworden, oder wenn Stillstand der Rechtspflege (BGHSt. 1 214) durch Aufruhr, Besatzung, kriegerische oder kriegsähnliche Ereignisse u.ä. eingetreten ist 2 . Tatsächliche (nicht rechtliche) Verhinderung des 1 2

Vgl. fürs alte preußische Recht GA 11 862. — Bei einer Reform sollte allerdings eine Übertragung auch für den Fall erwogen werden, daß das Gericht nicht unbefangen erscheinen könnte. O e t k e r GA 49 114; Ermel DJZ 1914 1380; Beling ZStW 36 649. 255

§ 15 Anm. 3 , 4

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

Gerichts kann auch dadurch gegeben sein, daß der Angeklagte nicht vor das an sich zuständige Gericht gestellt werden kann. Zwar kann das Gericht die Hauptverhandlung außerhalb seines Bezirks durchführen (BGHSt. 22 250). Deshalb wird es nicht verhindert sein, wenn der Angeklagte sich verhandlungsfähig aber transportunfähig an einem nicht allzuweit entfernten Ort der Bundesrepublik aufhält. Eine Verpflichtung des Gerichts in jedem Falle, in dem der Angeklagte nicht vor das zuständige Gericht kommen kann, außerhalb seines Bezirks zu verhandeln, besteht aber nicht 3 . Die Worte in einem einzelnen Falle (verhindert) sind unglücklich gewählt. Die Entwürfe wollten sie streichen 4 ; die Motive zur Zivilprozeßordnung erwähnen den Fall des Stillstands der Rechtspflege ( H a h n ZPO 1 159). Daraus kann gefolgert werden, daß auch allgemeine Verhinderung als Verhinderung „in einem einzelnen Fall" anzusehen ist. Die Fassung schließt nur aus, daß das obere Gericht im Wege einer Bekanntmachung die gesamte Gerichtsbarkeit oder Gruppen von ihr auf ein anderes Gericht überträgt; es muß immer ein Beschluß in jedem Einzelfall ergehen. 3. Gefährdung der öffentlichen Sicherheit. Nicht nur wenn das zuständige Gericht verhindert ist, hat das obere Gericht ein anderes zu beauftragen, sondern auch dann, wenn von der Verhandlung vor dem zuständigen Gericht eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit zu besorgen ist. Die Entwürfe enthielten den Begriff der „Störung der öffentlichen Ordnung". Die Abweichung von diesem Vorschlag präzisiert den jetzt verwendeten Begriff der Gefährdung der öffentlichen Sicherheit: die Übertragung ist dadurch von einer engeren Voraussetzung abhängig gemacht, daß anstelle von „Ordnung" von „Sicherheit" gesprochen wird, sie ist auf der anderen Seite dadurch erleichtert, daß das Wort „Störung" durch „Gefährdung" ersetzt worden ist. Daraus folgt: es muß ein erheblicher Angriff zu erwarten sein, aber keine konkrete Störung; es genügt die naheliegende Wahrscheinlichkeit, daß es zu einer solchen kommen könne. Dabei ist namentlich an Protestdemoristrationen einer aufgebrachten Bevölkerung zu denken, die wegen ihres Umfanges der Kontrolle der Polizei zu entgleiten drohen und damit die öffentliche Sicherheit zu gefährden geeignet sind. Die öffentliche Sicherheit kann aber auch durch eine Bedrohung der Gerichtspersonen, des Angeklagten oder des Verteidigers gefährdet sein, nämlich dann, wenn sie so erheblich sind, daß der Ablauf der Verhandlung ernstlich in Frage gestellt und dadurch die Funktion der Rechtspflege in einer bedeutsamen Sache oder aber auch in einer Mehrzahl minder bedeutsamen Verfahren außer Wirkung gesetzt zu werden droht. 4. Das zunächst obere Gericht, das den Auftrag erteilt, ist gegenüber dem Amtsrichter und dem Schöffengericht das Landgericht, für dieses das Oberlandesgericht und für dieses der Bundesgerichtshof 5 . Steht unter einem oberen Gericht nur ein einziges unteres — wenn etwa für einen Landgerichtsbezirk nur ein gemeinsames Amtsgericht (§58 GVG) errichtet worden ist —, so tritt das nächste obere Gericht ein, doch ist zu beachten, daß die bei einem Amtsgericht gebildete Strafkammer (§78 GVG) eine eigene örtliche Zuständigkeit besitzt (RGSt. 17 230; 50 160; BGH bei D a l l i n g e r MDR 1958 566). Untersteht das Gericht, dem die Sache übertragen werden soll, nicht dem Gericht, das für das verhinderte das zunächst obere ist, so muß dasjenige obere Gericht entscheiden, das sowohl dem verhinderten als auch dem zu beauftragenden Gericht übergeordnet ist, das gemeinschaftliche obere Gericht (BGHSt. 16 84). Hat das zunächst obere Gericht sich zu Unrecht zu einer Übertragung für unzuständig erklärt, so kann das ihm übergeordnete Gericht die Übertragung vornehmen (RGSt. 45 70). 3

4

5

Daher ist die Übertragung auf Berliner Gerichte ausgesprochen worden, wenn der Angeklagte sich in Berlin-West aufhielt und nicht vor das zuständige Gericht transportiert werden konnte (BGHSt. 16 87; 22 255). Doch liegt keine Verhinderung vor, wenn der Angeklagte sich weigert, nach Berlin zu kommen, die Hauptverhandlung dort aber ohne seine Anwesenheit durchgeführt werden kann (NJW 1967 1 0 4 6 = BGHSt. 21 215, wo der letzte Absatz fehlt). Begrdg. zum E 1908, Mat. zur StRRef. 11 195; zum E 1909, Mat. zurStRRef. 12 63; zum E 1919, Mat. zur StRRef. 14 34. D a s Bayerische Oberste Landesgericht ist in Strafsachen den Oberlandesgerichten nicht übergeordnet (BayObLGSt. 1957 167) und daher kein zunächst oberes Gericht, wenn die streitenden Gerichte mehreren bayerischen Oberlandesgerichtsbezirken zugehören.

256

Zweiter Abschnitt. Gerichtsstand (Dünnebier)

§ 15 Anm. 5 , 6

5. Übertragung. Liegen die Voraussetzungen des § 15 vor, dann muß das obere Gericht die Übertragung vornehmen (RGSt. 45 69). Die Übertragung ist in jeder Lage des Verfahrens und in allen Instanzen zulässig (BGHSt. 22 250). Dabei spielt es keine Rolle, wenn zufolge der Übertragung ein anderes Rechtsmittelgericht als das an sich allein zuständige zur Entscheidung über ein Rechtsmittel berufen wird. Die Notwendigkeit, daß eine Entscheidung auf jeden Fall möglich gemacht werden muß, zwingt dazu, den auch sonst mehrfach durchbrochenen (3 vor § 7) Grundsatz aufzugeben, daß nur ein Rechtsmittelgericht ausschließlich zuständig ist. Die Übertragung kann sich auf die ganze Sache erstrecken, aber auch auf einzelne Prozeßhandlungen, etwa auf die Entscheidung über ein Ablehnungsgesuch. Sie kann auch schon während des Ermittlungsverfahrens angeordnet werden, doch darf dabei nur auf die Verhinderung des Gerichts abgestellt werden, nicht auf die der Staatsanwaltschaft. Daher ist während des Ermittlungsverfahrens die Gerichtsstandsbestimmung, die zugleich die Zuständigkeit der Staatsanwaltschaft begründet (§ 143 Abs. 1 GVG), für einzelne Untersuchungshandlungen (§ 162) stets zulässig, für die gesamte Untersuchung und Entscheidung dagegen nur dann, wenn zur Zeit der Übertragung feststeht, daß das Gericht auch bei Eröffnung der Voruntersuchung oder des Hauptverfahrens noch verhindert sein wird. Das zunächst obere Gericht ist auch dann zuständig, wenn das verhinderte Gericht seine Zuständigkeit dadurch erhalten hat, daß ihm die nach § 12 Abs. 2 von einem höheren Gericht als dem zunächst oberen die Untersuchung und Entscheidung übertragen worden war (RGSt. 45 68). Die Übertragung wird von dem verhinderten Gericht, auch von dessen Verwaltung, von der Staatsanwaltschaft oder vom Verteidiger angeregt, ja es ist nicht ausgeschlossen, daß am Verfahren unbeteiligte Personen oder Behörden die Anregung geben. Das Gericht entscheidet von Amts wegen. Der ergangene Beschluß ist unanfechtbar (8 Abs. 3 vor § 7). 6. Auswahl. Das obere Gericht darf die Untersuchung und Entscheidung nur auf ein Gericht übertragen, das dem verhinderten gleichsteht, also auf eines gleicher Ordnung; die Übertragung darf die sachliche Zuständigkeit nicht berühren. Nur scheinbar ergibt sich eine weitere Begrenzung in der Auswahl daraus, daß das ausgewählte Gericht einem anderen Bezirk angehören muß. In Wirklichkeit sind die Worte „einem anderen Bezirk", da sie sich auf den Bezirk des verhinderten Gerichts beziehen, überflüssig ( M ü l l e r - S a x 6), ja, weil sie auf den Bezirk des übertragenden Gerichts bezogen werden könnten, sogar irreführend. Denn wie bei jeder Übertragung muß — und darin liegt die zweite Beschränkung der Wahlmöglichkeit — das Gericht, das die Sache erhält, dem Bezirk des übertragenden Gerichts angehören. Das Reichsgericht hat das als „selbstverständlich" angesehen (RGSt. 45 69); der Bundesgerichtshof läßt es „ohne weiteres" aus der durch das Gerichtsverfassungsgesetz und der Strafprozeßordnung festgelegten Abgrenzung der Zuständigkeitsbereiche folgen (BGHSt. 16 85). Dem ist zuzustimmen, wenn man auch wohl richtiger von einer jenen Gesetzen zu e n t n e h m e n d e n Abgrenzung sprechen sollte. Was danach das Gesetz sagen will, gibt E 1919 besser wieder mit den Worten: „.. so überträgt das obere Gericht die Zuständigkeit auf ein anderes Gericht gleicher Ordnung, das zu seinem Bezirk gehört" 6 . Bei der Übertragung findet, wenn der Bundesgerichtshof entscheidet, die Beschränkung des § 354 Abs. 2 Satz 2, daß die Sache nur einem zu demselben Land gehörenden anderen Gericht gleicher Ordnung übertragen werden dürfe, nicht statt (BGHSt. 22 252) 7 . Abgesehen von den beiden dargestellten Beschränkungen ist das obere Gericht frei. Es kann die Sache ebenso auf ein anderes an sich zuständiges als auch auf ein unzuständiges Gericht übertragen. Die Übertragung auf ein unzuständiges Gericht setzt nicht voraus, 6

§ 13; Mat. zur StRRef. 14 5, Begrdg. S. 34; vgl. auch Begrdg. zu § 13 E 1909, Mat. zur StRRef. 12 63. 7 Ist also sowohl das Landgericht Bremen als auch die beim Amtsgericht Bremerhaven gebildete Strafkammer verhindert und steht daher dem Oberlandesgericht Bremen kein anderes zu seinem Bezirk gehörendes Landgericht zur Verfügung, so kann der Bundesgerichtshof die Sache dem Landgericht Hamburg übertragen, aber auch jedem anderen Landgericht, wenn das aus Gründen der Zweckmäßigkeit geboten wäre.

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§ 15 Anm. 7 § 16 Anm. I 1

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

daß das verhinderte Gericht das einzige an sich zuständige ist oder daß, wenn mehrere zuständige Gerichte vorhanden sind, bei ihnen allen die Voraussetzungen des § 15 vorliegen. Vielmehr kann das obere Gericht die Sache auch dann auf ein an sich unzuständiges Gericht übertragen, wenn außer dem verhinderten Gericht noch andere zuständige Gerichte vorhanden sind, die Verweisung an eines von ihnen aber unzweckmäßig wäre (RGSt. 45 69; BGHSt. 21 212). 7. Beauftragtes Gericht. Das beauftragte Gericht muß zwar neben der sachlichen Zuständigkeit (§ 6) auch, wenn der Einwand zulässigerweise erhoben worden ist (§ 16), seine örtliche Zuständigkeit prüfen. Dieser Prüfung muß es aber den Umstand zugrunde legen, daß durch die Übertragung seine örtliche Zuständigkeit und der Vorzug vor anderen an sich auch zuständigen Gerichten begründet worden sind (1 Abs. 1). Aus diesem Grunde kann der Einwand der örtlichen Unzuständigkeit nur Erfolg haben, wenn schon ein anderes Gericht die Untersuchung eröffnet hatte und dadurch ausschließlich zuständig geworden war. Dagegen kann nicht anerkannt werden, daß das Gericht prüfen dürfe (so RGSt. 10 382), ob das obere Gericht zu seinem Beschluß zuständig gewesen sei und innerhalb der durch § 15 gesetzten Grenzen gehandelt habe (BVerfGE 12 124). Der Vorzug des nach § 15 bestimmten Gerichts vor anderen auch zuständigen Gerichten tritt nicht ein, wenn der Gerichtsstand im Ermittlungsverfahren bestimmt wird. Dann bleibt die Möglichkeit der Staatsanwaltschaft uneingeschränkt erhalten, unter mehreren Gerichtsständen, darunter den nach § 15 begründeten, einen auszuwählen (BGHSt. 21 215). Die Zuständigkeit bleibt auch dann bestehen, wenn der Grund der Übertragung wegfallt. Sie endet, wenn die Übertragung zurückgenommen wird.

§ 16 Der Angeschuldigte muß den Einwand der Unzuständigkeit bis zum Schluß der Voruntersuchung geltend machen. Hat keine Voruntersuchung stattgefunden, so kann er den Einwand noch in der Hauptverhandlung bis zum Beginn der Vernehmung zur Sache geltend machen. Entstehungsgeschichte: Der zweite Teil des zweiten Satzes lautete früher: „so kann er den Einwand noch in der Hauptverhandlung geltend machen, solange mit der Verlesung des Beschlusses über die Eröffnung des Hauptverfahrens nicht begonnen ist". Die Änderung beruhtauf Art. 7 Nr. 1 StPÄG. I. Vorbemerkungen. 1. Inhalt. Die §§ 16 bis 18 enthalten Bestimmungen über die Erörterung und Feststellung des Gerichtsstandes, ohne jedoch den Gegenstand zu erschöpfen. Sie beziehen sich nicht auf die sachliche, sondern allein auf die örtliche Zuständigkeit 1 . Weitere Vorschriften hierüber finden sich in § 180 Abs. 1, § 181, § 201 Abs. 1 Satz 1, letzter Halbs., § 206a Abs. 1, § 328 Abs. 3, § 338 Nr. 4, § 348 Abs. 1, § 355 und § 441 Abs. 1 Satz 3. Den §§ 16 und 18 liegt die Absicht zugrunde, die Erörterung der örtlichen Zuständigkeit tunlichst einzuschränken, um den ungehinderten Fortgang des Verfahrens zu sichern (RGSt. 4 232, 26 341, 40 356, 65 268). Der Grundsatz des § 6 (Prüfung der sachlichen Zuständigkeit jederzeit von Amts wegen) ist hier nicht wiederholt. Die sachliche Zuständigkeit ist — abgesehen von der sehr beschränkt auslegbaren Zuständigkeitsregelung des § 24 Abs. 1 Nr. 2, § 25 Nr. 2 GVG — eindeutig; örtlich zuständige Gerichte gibt es dagegen in der Regel mehrere. Daher besteht bei der örtlichen Zuständigkeit eine weitgehende Wahlmöglichkeit der Kläger, der Staatsanwaltschaft und des Privatklägers. Aus diesem natürlichen Mangel an der Eindeutigkeit der örtlichen Zuständigkeit und der Gleichwertigkeit der Rechtsprechung sämtlicher Gerichte gleicher Ordnung 2 erklärt sich eine gewisse Unempfindlichkeit 1 2

Vgl. Antrag Hauck, H a h n Mat. 1 561; OLG Breslau GA 71 64. H a h n Mat. 1 80; 2 1199.

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Zweiter Abschnitt. Gerichtsstand (Dünnebier)

§ 16 Anm. I 2 , 3

des Gesetzgebers gegen ihre Verletzung, die zur Beschränkung der Nachprüfung (§ 18) und dazu geführt hat, das Recht des Angeschuldigten auf die Verurteilung durch den an sich zuständigen Richter seinem Verzicht zu unterwerfen. Auch für sog. ausschließliche Gerichtsstände (5 Abs. 4 vor § 7) hat der Gesetzgeber keine Ausnahme verordnet. 2. Verhältnis der §§ 16 bis 18 untereinander. Das System der §§ 16 bis 18, schon im Reichstag als klärungsbedürftig empfunden ( H a h n Mat. 2 1198), ist kompliziert, lückenhaft und in wesentlichen Punkten sowohl in der gesetzgeberischen Regelung als auch in der Auslegung aus zwei Gründen überholt: einmal weil die Voruntersuchung ihre Bedeutung gegenüber der Zeit, als das Gesetz erlassen worden ist, fast ganz verloren hat, und zum anderen, weil durch Art. 103 Abs. 1 GG, § 33 Abs. 3 das rechtliche Gehör — anders als zu jener Zeit — jeden Prozeßbeteiligten in die Vorbereitung aller Entscheidungen einbezieht, so daß deswegen die Frage, welche Entscheidungen er gegen sich gelten lassen muß, großzügiger beantwortet werden kann. Das Komplizierte des Systems liegt darin, daß die Zeitpunkte, bis zu denen der Beschuldigte den Einwand anbringen muß (§ 16), und bis zu dem das Gericht die Zuständigkeit prüfen kann, verschieden liegen, und daß Recht und Pflicht des Gerichts, zu entscheiden, nach einem bestimmten Zeitpunkt von einem Einwand des Angeklagten abhängen (§ 18). Lückenhaft ist die Regelung, weil sie einer Vorentscheidung nur im Falle der Voruntersuchung Bedeutung gibt (§ 17), aber offen läßt, ob der Beschuldigte bis zu dem kritischen Zeitpunkt (§ 16) seinen Einwand wiederholen kann, und — wenn man das verneint — ob er daran durch jede Entscheidung gehindert wird, also auch durch eine, die von Amts wegen oder auf den Antrag eines Mitbeschuldigten ergangen ist, oder nur durch eine solche, die seinen Einwand verworfen hat. Bejaht man, wie das hier geschehen wird (III 3), den Verlust des Einwands durch Vorentscheidungen, dann gibt auf jeden Fall § 16 Satz 2 die Rechtslage nicht korrekt wieder. Immerhin läßt sich folgende Beziehung feststellen: Das Gericht muß seine Zuständigkeit spätestens wenn es das Hauptverfahren eröffnet, von Amts wegen prüfen, kann das aber schon vorher, namentlich in der Voruntersuchung, tun und kann dazu durch einen Antrag der Staatsanwaltschaft oder durch einen Einwand des Angeschuldigten gezwungen werden. Das Gericht kann immer entscheiden, solange ein Einwand noch unerledigt ist, ohne Einwand aber nur, bis es das Hauptverfahren eröffnet hat und auch dann nicht mehr, wenn es schon vorher die Zuständigkeit festgestellt hat. Der Beschuldigte muß seinen Einwand in der Voruntersuchung anbringen, wenn keine stattfindet, bis zum Beginn seiner Vernehmung zur Sache, doch schließt, wie darzulegen sein wird, eine gerichtliche Feststellung der Zuständigkeit einen Antrag auch schon vor Ablauf der Frist aus. 3. Bei einer Reform kann die unnötige Kompliziertheit abgebaut werden, wenn man bei der untergeordneten Rolle, die die Voruntersuchung jetzt spielt, § 16 Abs. 1 und § 17 streicht. Dabei sollte auch beachtet werden, daß der Angeschuldigte in der Voruntersuchung nicht immer einen Verteidiger hat 3 , und daß es daher wenig angemessen erscheint, in diesem Vorverfahren an eine Säumnis einen Rechtsverlust zu knüpfen. Nachdem das rechtliche Gehör voll gesichert ist, sollte auch klargestellt werden, daß das Gericht über die Zuständigkeit nur einmal entscheidet, Einwand des Beschuldigten und Entscheidungsbefugnis des Gerichts also verloren gehen, wenn das Gericht seine Zuständigkeit — allerdings: ausdrücklich — festgestellt hat, gleichviel zu welchem Zeitpunkt und auf wessen Antrag. Noch einfacher und ohne große Konsequenzen wäre es, für den Angeklagten und für das Gericht gleichmäßig auf den Beginn der Vernehmung des Angeklagten zur Sache abzustellen. Damit würde auch der Zustand beseitigt, daß die Schöffen keine Zuständigkeitsentscheidung herbeiführen können 4 .

3 4

Vgl. Antrag W o l f f s o n , H a h n Mat. 1 561. Vorschlag: Das Gericht prüft den Gerichtsstand bis zum Beginn der Vernehmung des Angeklagten zur Sache. Danach darf es seine Unzuständigkeit nur auf einen Antrag aussprechen, den der Angeklagte bis zu diesem Zeitpunkt gestellt hat. Hat das Gericht seine Zuständigkeit einmal ausdrücklich festgestellt, findet keine weitere Prüfung statt.

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§ 16

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

Anm. II 1 - 4 II. Einwand der Unzuständigkeit. 1. Einwandberechtigte. § 16 gibt den Einwand in der Voruntersuchung dem Angeschuldigten, in der Hauptverhandlung dem Angeklagten (vgl. § 18). Dem Angeklagten stehen gleich der Beschuldigte im Sicherungsverfahren (§ 429a, 6 429b Abs. 1), der Einziehungsbeteiligte (§ 431 Abs. 1, § 433 Abs. 1, § 440 Abs. 1 und 3), der Antragsteller im Nachverfahren (§ 439 Abs. 1, §441) sowie der Beteiligte im Verfahren bei Festsetzung von Geldbußen gegen juristische Personen und Personenvereinigungen (§ 444 Abs. 1, Abs. 2 Satz 2 in Vbdg. mit § 433 Abs. 1). Dem Kläger — der Staatsanwaltschaft (§ 152 Abs. 1) und dem Privatkläger (§ 374) —, der den Gerichtsstand gewählt hat, steht zwar der Einwand, etwa um einen Irrtum bei der Wahl zu berichtigen, nicht zu, doch kann er beantragen, das Verfahren wegen Unzuständigkeit einzustellen, solange das Gericht von Amts wegen entscheiden darf (§§ 18, 17). Der Umstand, daß er mit der Klage die Zuständigkeit behauptet hatte, steht einem solchen Antrag nicht entgegen. 2. Einwand. Das Wort (Einwand, Einwendung) ist im Zivilprozeß zu Hause und dem Strafprozeß terminologisch und der Sache nach fremd. Es kehrt nur in § 181 Abs. 1 wieder und dient dort zur Bezeichnung eines Rechtsbehelfs, des (beschränkten) Antrags des Angeschuldigten auf Entscheidung des Gerichts über die Verfügung, mit der der Untersuchungsrichter (§ 184) die Voruntersuchung eröffnet hat. In § 16, der mit § 18 zusammengelesen werden muß, hat das Wort die Bedeutung eines Antrags, der nach Eröffnung des Hauptverfahrens (§ 18) notwendige Voraussetzung der Entscheidung des Gerichts ist, daß es örtlich unzuständig sei; von Amts wegen darf das Gericht dann nicht mehr entscheiden. Gleiche notwendige Anträge sind das Gesuch auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (§§ 44, 45) und das Ablehnungsgesuch wegen Besorgnis der Befangenheit (§§ 24, 26) 5 sowie der Antrag der Staatsanwaltschaft, eine Revision als offensichtlich unbegründet zu verwerfen (§ 349 Abs. 2). Der Antrag ist von der Eröffnung an (§ 18) Entscheidungsvoraussetzung, wird aber in § 16 selbst noch zeitlichen Beschränkungen unterworfen. Durch das Zusammenwirken beider Bestimmungen soll die Erörterung der örtlichen Zuständigkeit möglichst früh abgeschlossen werden. 3. Voruntersuchung. Wenn Voruntersuchung geführt wird, wird die Entscheidung aus dem Hauptverfahren ganz herausgehalten: Der Angeschuldigte muß die Unzuständigkeit bis zum Schluß der Voruntersuchung geltend machen. Wird daraufhin die Zuständigkeit festgestellt, ist die Frage für immer erledigt (§ 17; s. III 1). Stellt der Angeschuldigte während der Voruntersuchung keinen Antrag, kann er später keinen mehr anbringen und darf das Gericht von Amts wegen nur bis zur Eröffnung des Hauptverfahrens seine Unzuständigkeit aussprechen (§ 18). Die Voruntersuchung ist geschlossen, wenn feststeht, daß keine Untersuchungshandlungen mehr stattfinden. Das ist noch nicht der Fall, wenn der Untersuchungsrichter die Akten nach § 197 Abs. 1 der Staatsanwaltschaft übersendet 6 , sondern erst, wenn die Staatsanwaltschaft erklärt hat, keine Anträge zu stellen, oder wenn ihr Antrag, die Voruntersuchung zu ergänzen (§ 197 Abs. 2), abgelehnt worden ist (§ 183). Wird dem Antrag auf Ergänzung der Voruntersuchung stattgegeben, so verlängert sich damit sowohl diese als auch die Dauer der Befugnis, die Unzuständigkeit geltend zu machen. 4. Hauptverhandlung. Wenn keine Voruntersuchung stattgefunden hat, muß der Antrag, die Unzuständigkeit festzustellen, in der Hauptverhandlung bis zum Beginn der Vernehmung zur Sache gestellt werden, also nicht mehr n a c h dem Beginn. Die Vernehmung beginnt (§ 243 Abs. 4 Satz 2), nachdem der Angeklagte sich nach dem Hinweis, daß es ihm 5

6

Über die Befangenheit darf das Gericht nie von Amts wegen entscheiden, doch kann neben dem Ablehnungsgesuch (§ 26 Abs. 1) auch die richterliche Anzeige (§ 30) die gerichtliche Entscheidung auslösen. So Kl 1; M ü l l e r - S a x 1, je zu § 197; J o h n (1 4) stellt auf die Bekanntgabe des Abschlusses der Voruntersuchung an den Angeschuldigten ab.

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Zweiter Abschnitt. Gerichtsstand (Dünnebier)

§ 16 Anm. II 5 , 6

freistehe, sich zu der Anklage zu äußern oder nicht zur Sache auszusagen, zur Äußerung bereit erklärt hat. Im Anschluß an diese Erklärung muß er spätestens die Unzuständigkeit „einwenden". Nach dem genannten Zeitpunkt ist der Einwand selbst dann nicht mehr statthaft, wenn die Tatumstände, aus denen die Unzuständigkeit folgt, erst im Laufe der Hauptverhandlung hervortreten oder wenn die Tat rechtlich abweichend vom Eröffnungsbeschluß beurteilt wird (RG GA 59 138; RGSt. 65 268) 7 . „Der Staat, der seine Gerichte in allen Bezirken gleichmäßig einrichtet und überall die gleiche Gewähr für die Rechtsprechung bietet, wird regelmäßig kein Interesse dabei haben, ob die Entscheidung in einer Strafsache gerade durch das vom Gesetz bezeichnete örtlich zuständige Gericht oder durch ein anderes Gericht gleicher Ordnung erfolgt" (Mot. H a h n 1 80). Hatte der Angeschuldigte den Einwand rechtzeitig vor der Hauptverhandlung erhoben, so braucht er ihn in dieser nicht zu wiederholen (RGSt. 70 240, R G JW 1933 444). Ein vor der Hauptverhandlung angebrachter schriftlicher Einwand oder ein solcher bei der Vernehmung nach § 233 Abs. 2 Satz 1 ist auch dann wirksam, wenn der Antrag oder das ihn enthaltende Protokoll erst nach dem kritischen Zeitpunkt (5) verlesen wird (RGSt. 19 429,40 357). Finden in der Sache mehrere Hauptverhandlungen statt, kommt es allein darauf an, ob der Einwand in der ersten geltend gemacht worden ist; er lebt nicht etwa für eine weitere Hauptverhandlung wieder auf, wenn die erste nicht zum Urteil geführt hat, sondern ausgesetzt (§ 228) worden war (RGSt. 70 241). Dasselbe gilt, wenn ein Urteil aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen (§ 328 Abs. 2, § 354 Abs. 2) wird (RGSt. 43 358), auch wenn dadurch die Sache an ein anderes Gericht oder an eine andere Kammer (§ 354 Abs. 2, Abs. 3) gelangt. Denn dieses Gericht ist nunmehr zuständig. Dagegen läßt die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Hauptverhandlung (§ 235), da sie das Verfahren in den Stand vor Versäumung zurückversetzt (5 zu § 46), den Einwand wieder erstehen. 5. Hauptverhandlung bei abwesendem Angeklagten. Findet die Hauptverhandlung statt, ohne daß der Angeklagte anwesend ist, dann kann der Einwand bis zu dem Ereignis geltend gemacht werden, das dem Beginn der Vernehmung zur Sache entspricht. Läßt sich der Angeklagte im Privatklageverfahren durch einen Rechtsanwalt (§ 387 Abs. 1) oder im Verfahren nach § 232 Abs. 1 oder im Verfahren auf Strafbefehl oder Strafverfügung durch einen Verteidiger (§ 234; § 4 1 1 Abs. 2, § 4 1 3 Abs. 4) vertreten, dann erhalten diese Gelegenheit, für den Angeklagten Ausführungen zu machen, so daß sich keine Besonderheiten ergeben. Im Verfahren nach § 233 Abs. 1 tritt die Verlesung über die richterliche Vernehmung (§ 233 Abs. 3 Satz 2) an die Stelle der Vernehmung. Das gleiche gilt im Verfahren nach § 232 Abs. 1, falls eine richterliche Vernehmung stattgefunden hat; sonst ist der Einwand im Anschluß an die Verlesung des Anklagesatzes (§ 243 Abs. 3) anzubringen. Dieser Zeitpunkt ist auch maßgebend im Verfahren nach §§ 277 ff. Findet im Sicherungsverfahren die Hauptverhandlung ohne den Beschuldigten statt (§ 429 c Abs. 1), so tritt die Verlesung über die richterliche Vernehmung (§ 429c Abs. 4 Satz 2) an die Stelle der Vernehmung. 6. Über die Form des Einwands und seinen Adressaten fehlt eine Bestimmung. Man wird daher Formfreiheit annehmen müssen, § 26 Abs. 1 entsprechend anwenden dürfen, darüber hinaus aber auch Erklärungen bei staatsanwaltschaftlichen Vernehmungen, namentlich beim Schlußgehör (§ 169 b) als ausreichend ansehen müssen. Danach kann der Antrag gestellt werden: beim Untersuchungsrichter; bei dem zufolge der Anklage mit der Sache befaßten Gericht, bei diesem, auch während der Hauptverhandlung, mündlich, schriftlich und zu Protokoll des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle; beim Staatsanwalt, wenn dieser dem Beschuldigten das Gericht bezeichnet hat, wo er Anklage erheben will. Wird das Gesuch während8 der Hauptverhandlung zu Protokoll des Urkundsbeamten gegeben, etwa weil der Angeklagte vor dem von ihm für unzuständig erachteten Gericht nicht auftreten will, dann trägt der Angeklagte für die Behandlung des Gesuchs im 7

8

A.A. — ergibt sich die Unzuständigkeit erst im Laufe der Hauptverhandlung, kann sie unverzüglich noch geltend gemacht werden — v. H i p p e l § 4 0 V 1, Anm. 6. Wegen der v o r der Hauptverhandlung angebrachten Anträge s. 4 Abs. 2.

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§16 Anm. III 1 - 3

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

Geschäftsgang alle Gefahr allein; sein Einwand ist verwirkt, wenn er dem erkennenden Gericht zu dem kritischen Zeitpunkt (4) nicht vorliegt, selbst wenn das bei ordnungsgemäßer Behandlung möglich gewesen wäre. Das gilt auch, wenn ein nicht auf freiem Fuß befindlicher Angeklagter, der in einem auswärtigen Bezirk verwahrt wird, dort seine Erklärung zu Protokoll der Geschäftsstelle des Amtsgerichts gibt, wozu er wegen der Formfreiheit des Einwands befugt ist. § 299 Abs. 2 findet keine entsprechende Anwendung. III. Verlust und Verbrauch des Einwands. 1. Verlust. § 16 schrieb in der ursprünglichen Fassung vor, daß der Beschuldigte den Einwand der Unzuständigkeit „bei Verlust desselben" bis zu dem kritischen Zeitpunkt geltend machen müsse. In der Bekanntmachung der Strafprozeßordnung vom 22. 3. 1924 (RGBl. I 299, 326) wurden diese Worte als selbstverständlich gestrichen; eine sachliche Änderung konnte die — lediglich den Text bereinigende — Bekanntmachung nicht herbeiführen (RG LZ 1925 1163). Der Beschuldigte verliert also den ihm eingeräumten Einwand, wenn er versäumt, ihn rechtzeitig anzubringen. Säumnis liegt vor, wenn der Angeschuldigte den Einwand der Unzuständigkeit nicht in der Frist des § 16, d. h. bis zum Schluß der Voruntersuchung (II 3) oder, wenn keine stattgefunden hat, in der Hauptverhandlung bis zum Beginn der Vernehmung zur Sache (II 4, 5) vorgebracht hat. Dagegen ist keine Säumnis gegeben, wenn der Angeschuldigte vor der Beschlußfassung über die Eröffnung der Voruntersuchung nach § 180 Abs. 2 gehört worden ist, es aoer unterlassen hat, den Einwand der Unzuständigkeit zu erheben. § 16 ist gegenüber § 180 lex specialis; er geht daher auch dem § 181 Abs. 2 vor®. Dasselbe gilt im Falle des § 201 Abs. 2 Satz 3 10 . Hat keine Voruntersuchung stattgefunden und hat der Angeschuldigte, nach § 201 Abs. 1 bei Zustellung der Anklage aufgefordert, seine Einwendungen gegen die Eröffnung des Hauptverfahrens vorzubringen, es unterlassen, den Einwand der Unzuständigkeit zu erheben, so verliert er dadurch nicht die Befugnis, den Einwand in der Hauptverhandlung bis zum Beginn der Vernehmung zur Sache geltend zu machen. Während der Voruntersuchung wird die Frist nicht eröffnet, solange dem Angeschuldigten nicht die Eröffnung der Voruntersuchung bekanntgemacht (§ 192 Abs. 1 Satz 2) worden ist (RGSt. 25 15). Hat die Bekanntmachung nicht der mit der Sache befaßte Untersuchungsrichter selbst, sondern ein ersuchter Richter bewirkt, so läuft die Frist ferner nicht, solange dem Angeschuldigten nicht eröffnet worden ist, vor welchem Gericht die Voruntersuchung geführt wird. Durch das Unterlassen des Einwands ist dieser dem Verzicht unterworfen. Ausdrücklicher Verzicht ist nicht vorgesehen; die Möglichkeit stillschweigenden Verzichts kann noch weniger angenommen werden. 2. Verbrauch. Der Einwand ist verbraucht, wenn der Angeklagte ihn erfolglos geltend gemacht hat und gegen die ergangene Entscheidung die sofortige Beschwerde gegeben war. Ob er von ihr Gebrauch gemacht hat, ist gleichgültig (RGSt. 26 342; R G LZ 1916 335). Alsdann ist es auch gleichgültig, welcher Prozeßbeteiligte von einer sofortigen Beschwerde Gebrauch gemacht hat. Demzufolge tritt der Verbrauch auch ein, wenn das Gericht auf den Einwand des Angeklagten, in der Annahme, daß in seinem Bezirk kein Gerichtsstand begründet sei, die Eröffnung des Hauptverfahrens ablehnt, das Beschwerdegericht aber auf sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft die Zuständigkeit des Gerichts des ersten Rechtszuges bejaht und damit den Einwand des Angeklagten für unbegründet erklärt hat. 3. Folgen. Der Verlust des Einwands durch Säumnis oder Verbrauch tritt grundsätzlich nur in Beziehung auf ein bestimmtes, nämlich das mit der Sache befaßte Gericht ein (vgl. II 4). Reicht die Staatsanwaltschaft, nachdem das angegangene Gericht sich für unzuständig erklärt hatte, die Anklageschrift bei einem anderen Gericht ein oder geht die Sache durch eine Entscheidung des gemeinschaftlichen oberen Gerichts nach § 12 Abs. 2 auf ein 9 10

E b S c h m i d t 32; K l 1 B ; a . A. F e i s e n b e r g e r 2 a . M ü l l e r - S a x 2b, 3a Abs. 2.

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Zweiter Abschnitt. Gerichtsstand (Dünnebier)

§ 17 Anm. 1

anderes Gericht über, so ist es dem Angeklagten unbenommen, die örtliche Zuständigkeit des andern Gerichts zu bestreiten. Auch ist ein Angeklagter nicht deshalb gehindert, einen ihm noch zustehenden Einwand der Unzuständigkeit zu erheben, weil ein Mitangeklagter ihn durch Säumnis verloren hat. Anders ist es beim Verbrauch: Ist der Einwand auch nur eines von mehreren Angeklagten rechtskräftig zurückgewiesen worden oder hat das Gericht auf Antrag der Staatsanwaltschaft oder von Amts wegen in einem förmlichen Verfahren (§§ 33, 34, 35, 35a) seine Zuständigkeit ausdrücklich festgestellt, dann ist das Recht zum Einwand für alle Beteiligten verbraucht, weil das Gericht nicht in bezug auf einen von mehreren Angeschuldigten sondern über seine örtliche Zuständigkeit für das ganze Verfahren rechtskräftig entschieden hat. Ein solches Verfahren ist auch das nach § 1 8 0 Abs. 2, wenn der Angeschuldigte ausdrücklich darauf hingewiesen worden ist, daß das Gericht die Ablehnung des staatsanwaltschaftlichen Antrags wegen Unzuständigkeit beabsichtige. Zwar braucht der Angeschuldigte nicht von sich aus, nach § 180 Abs. 2 gehört, die Unzuständigkeit in diesem Zeitpunkt zu rügen (1), wird aber die Zuständigkeitsfrage mit ihm erörtert, muß er jetzt seine Argumente vorbringen. Wie sich aus § 17 ergibt, ist Sinn der §§ 16 bis 18 eine möglichst frühzeitige Entscheidung. Ist der Angeklagte an dieser beteiligt worden (§ 33 Abs. 3), dann wäre es sinnlos, die Entscheidung zu wiederholen. Aus diesem Grunde kann auch F e i s e n b e r g e r (7) nicht mehr zugestimmt werden, der meint, das Recht eines jeden Mitbeschuldigten sei unabhängig von Entscheidungen, durch die ein von einem anderen erhobener Einwand verworfen ist. Die Ansicht war beim alten Text des § 33 verständlich; die neue Fassung schreibt das Gehör aller Beteiligten, also auch aller Mitangeklagten, vor, bevor über den Einwand eines Angeklagten entschieden wird. D a das Gericht nur über das ganze Verfahren entscheiden kann (RGSt. 23 156), muß jeder nach § 33 Abs. 3 Gehörte seine Ansichten vorbringen; die einheitliche Entscheidung wirkt auch gegen ihn und läßt weitergehende Rechte erlöschen, weil sie nur eine sinnlose Wiederholung der Entscheidung bewirken könnten. Eine alte Frage ist, ob eine (in der Voruntersuchung) ergehende Entscheidung über die Zuständigkeit, wenn sie nicht auf eigenen Antrag des Beschuldigten (und ohne daß dieser nach § 33 Abs. 3 beteiligt worden ist) erlassen ist, diesen dann binden soll, wenn ihm die Entscheidung zugestellt worden ist, und er keine Beschwerde erhoben hat. Die Reichstagskommission hat sie bejaht H a h n (Mat. 2 1200), J o h n (1 5c) verneint. Das Gesetz sieht mit der Möglichkeit der Beschwerde gegen zugestellte Beschlüsse das rechtliche Gehör vollkommen gewährleistet, so daß es nur bei fehlender Beschwerde Ersatzmöglichkeiten zur Verfügung stellt (§§ 33a, 311a). Die Frage ist daher bejahend zu beantworten. Der Prozeßbeteiligte wird durch die Zustellung auch am Zwischenstreit beteiligt. Durch den Inhalt des Beschlusses und die Rechtsmittelbelehrung erhält er, wenn auch später als regulär, rechtliches Gehör.

§

17

Durch eine Entscheidung, welche die Zuständigkeit für die Voruntersuchung feststellt, wird die Zuständigkeit auch für das Hauptverfahren festgestellt. 1. Entscheidung. Unter einer die Zuständigkeit feststellenden Entscheidung ist nur eine Entscheidung zu verstehen, die unter Erörterung der Unzuständigkeit die Zuständigkeit ausdrücklich feststellt. Hierher gehören die Entscheidung, die den vom Angeschuldigten erhobenen Einwand der Unzuständigkeit ( § 1 8 1 Abs. 1, § 180 Abs. 1) oder einen auf Erklärung der Unzuständigkeit gerichteten Antrag der Staatsanwaltschaft verwirft und die Entscheidung des Beschwerdegerichts, die eine mit der Beschwerde (§ 182 Abs. 1) angefochtene Unzuständigkeitserklärung aufhebt. Dagegen stellt die die Voruntersuchung eröffnende Verfügung des Untersuchungsrichters (§§ 184, 181 Abs. 1) niemals (RGRspr. 7 521), die Entscheidung, mit der das zuständige Gericht dem auf Eröffnung der Voruntersuchung gerichteten Antrag der Staatsanwaltschaft oder des Angeschuldigten (§ 182 Abs. 2) stattgibt, dann keine Entscheidung im Sinne des § 17 dar, wenn sie die Zuständigkeit nur stillschweigend anerkennt und nicht etwa Zweifelsgründe widerlegt, die von einem Beteiligten vorgetragen oder ohne eine solche Anregung in Erwägung gezogen worden sind (RGRspr. 263

§ 1 7 Anm. 2 § 18 A r n n . 1 1 , 2

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

7 521; BGH bei D a l i i n g e r MDR 1957 653; OLG München NJW 1969 148). Dies gilt selbst dann, wenn der Untersuchungsrichter die Entscheidung der Strafkammer gerade deshalb eingeholt, weil er das Gericht für örtlich unzuständig erachtet hat, sofern die Beteiligten nicht an dem Zwischenstreit durch Gehör beteiligt worden sind 1 . Denn ohne eine solche Beteiligung, die in der Praxis zu Unrecht meist unterbleibt, ist die Meinungsverschiedenheit zwischen dem Untersuchungsrichter und der Strafkammer eine innere Angelegenheit des Gerichts; die Strafkammer kann sich darauf beschränken, die Voruntersuchung zu eröffnen, ohne dabei die Frage der Zuständigkeit zu erörtern. 2. Feststellung der Zuständigkeit. Die Vorschrift bezieht sich nicht nur auf § 16, sondern auch auf § 18 und äußert ihre Wirkung auch in der Voruntersuchung selbst ( „ a u c h für das Hauptverfahren"). Das bedeutet, daß das Gericht während der Voruntersuchung und des Hauptverfahrens die Zuständigkeit nicht ein zweites Mal prüfen darf, wenn es in der Voruntersuchung einmal auf Einwand, Antrag, Anregung oder Bedenken eines Prozeßbeteiligten oder auch von Amts wegen unter Gehör aller Beteiligten (§ 33), wozu die Bekanntgabe der den Zweifel auslösenden Tatsachen gehört, die Prüfung durchgeführt und seine Zuständigkeit ausdrücklich festgestellt hat (III 3 zu § 16). Die bisherige Meinung 2 , das Recht des Angeschuldigten bleibe trotz der Entscheidung erhalten, wenn diese nicht auf seinen Einwand, sondern auf den Antrag eines anderen Prozeßbeteiligten 3 oder von Amts wegen 4 ergangen sei, wird für den Fall, daß § 33 strikt beachtet worden ist, aufgegeben.

§ 18 Nach Eröffnung des Hauptverfahrens darf das Gericht seine Unzuständigkeit nur auf Einwand des Angeklagten aussprechen. I. Prüfung der örtlichen Zuständigkeit. 1. Die örtliche Zuständigkeit der Staatsanwaltschaft wird durch die örtliche Zuständigkeit des Gerichts bestimmt, für das sie bestellt ist (§ 143 Abs. 1 GVG). Abgesehen von den Nothandlungen eines unzuständigen Staatsanwalts (§ 143 Abs. 2 GVG) kann daher nur derjenige Staatsanwalt handeln, der die Sache bei einem zuständigen Gericht anhängig machen kann. Entfällt diese Zuständigkeit, etwa durch Wegzug des Beschuldigten, dann hat er die Sache an die nunmehr zuständige Staatsanwaltschaft abzugeben. Eine Fortdauer der staatsanwaltschaftlichen Zuständigkeit gibt es nicht. Dieser Grundsatz wird allerdings in der Praxis zur Ausnahme. So kann sich, wie selbstverständlich ist, die an den Tatort (§§ 7, 10) oder an einen fingierten Wohnsitz (§ 11) geknüpfte Zuständigkeit nachträglich nicht ändern. Aber auch die nach § 13 a begründete Zuständigkeit ist, wenn der Bundesgerichtshof das zuständige Gericht schon im Ermittlungsverfahren bestimmt hat, auch dann unveränderlich, wenn bis zur Klageerhebung ein zuständiges Gericht ermittelt wird. Im Falle des § 15 gilt das gleiche, wenn die Sache dem anderen Gericht nicht nur in bezug auf eine einzelne Untersuchungshandlung sondern für die gesamte Untersuchung und Entscheidung übertragen worden ist; das ist nach dem Wortlaut des § 15 der Regelfall. Die Entscheidung des Generalbundesanwalts (§ 143 Abs. 3 GVG) begründet keine Zuständigkeit; er wählt nur unter bestehenden eine aus. Fällt die ausgewählte nachträglich weg, so entfallt damit die Zuständigkeit der mit der Sache befaßten Staatsanwaltschaft. Auf einen etwaigen Mangel der örtlichen Zuständigkeit hat die Staatsanwaltschaft von Amts wegen zu achten. Der Beschuldigte kann dazu Anträge stellen und sich der Dienstaufsichtsbeschwerde bedienen, um sie durchzusetzen. 2. Das Gericht hat seine Zuständigkeit von Amts wegen zu prüfen (RGRspr. 7 520). Zwar ist das im Gesetz, im Gegensatz zu § 6, nicht ausdrücklich gesagt. Es ergibt sich aber 1 2 3 4

Vgl. zu der bisherigen Ansicht die distanzierende Anmerkung E b S c h m i d t s 34 zu §§ 16 bis 18. 21. Aufl., II 2 a ff. zu §§ 16 bis 18. Vgl. F e i s e n b e r g e r 7 zu § 16. 19. Aufl., 2 zu § 16; M ü l l e r - S a x , K l je 3 zu § 17; E b S c h m i d t 36 zu §§ 16 bis 18.

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Zweiter Abschnitt. Gerichtsstand (Dünnebier)

§ 18 Anm. I 3 , 4 ; II 1

aus dem System der Strafprozeßordnung und dem Gerichtsverfassungsgesetz, das durch die Regelung der Zuständigkeit deren Einhaltung fordert und dazu die gerichtliche Nachprüfung verlangt. Die Prüfung findet statt im Ermittlungsverfahren (II 3 Abs. 1), während der Voruntersuchung, im Zwischenverfahren (§§ 198 bis 206a) und bei der Eröffnung des Hauptverfahrens (§ 199 Abs. 1, §§ 207 bis 210) jederzeit, nach dieser Eröffnung jedoch nur auf Einwand des Angeklagten (§ 18), und nur, wenn dieser den Einwand innerhalb der in § 16 bezeichneten Grenzen angebracht hat. Nach diesem Zeitpunkt wird ein an sich unzuständiges Gericht zufolge der §§ 16 bis 18 zuständig. 3. Wenn Voruntersuchung (§ 178) stattfindet, prüft das Gericht auf Antrag oder von Amts wegen seine Zuständigkeit bis zum Schluß der Voruntersuchung. Verneint der Untersuchungsrichter (§ 184) die Zuständigkeit, so führt er die Entscheidung des Gerichts (§ 180 Abs. 1 Satz 2; in Schöffengerichtssachen der Strafkammer; § 73 Abs. 1 GVG) herbei. Dieses entscheidet auch über den vom Angeschuldigten gegen die die Voruntersuchung eröffnende Verfügung des Untersuchungsrichters (§§184, 181 Abs. 1) vorgebrachten Einwand der örtlichen Unzuständigkeit (§ 180 Abs. 1, § 181 Abs. 1). Stellt das Gericht bei dieser Prüfung die Zuständigkeit fest, so wird damit jede weitere Prüfung von Amts wegen ausgeschlossen. 4. Hat keine Voruntersuchung stattgefunden oder ist in dieser keine ausdrücklich die Zuständigkeit bejahende Entscheidung ergangen, so prüft das Gericht seine Zuständigkeit auf Antrag oder von Amts wegen bis zur Eröffnung des Hauptverfahrens (§§ 199, 204) und bei dieser. Die Prüfung von Amts wegen findet auch dann statt, wenn der Angeklagte kein Rügerecht mehr hat, etwa weil eine Voruntersuchung stattgefunden und er in dieser den Einwand der Unzuständigkeit nicht erhoben hat (RGRspr. 7 521). Nach Eröffnung der Voruntersuchung ist die Prüfung nur noch auf Einwand des Angeklagten zulässig (§ 18), wenn er diesen rechtzeitig (§ 16) erhoben hat. Der Eröffnung des Hauptverfahrens steht die Eröffnung des Sicherungsverfahrens (§ 429 Abs. 1) gleich. In den besonderen Verfahrensarten, bei denen das Verfahren nicht ausdrücklich eröffnet wird, sind der Eröffnung diejenigen gerichtlichen Akte gleichzustellen, die mit oder nach der Feststellung hinreichenden Tatverdachts den Beginn der gerichtlichen Untersuchung über die dem Verdacht zugrunde liegende Tat bezeichnen. Demzufolge stehen der Eröffnung des Hauptverfahrens gleich bei der Nachtragsanklage (§ 266 Abs. 2 Satz 1 in Vbdg. mit Absatz 1) der Einziehungsbeschluß (§ 266 Abs. 1), im Verfahren nach § 408 Abs. 2 (Hauptverhandlung nach beantragtem aber nicht erlassenem Strafbefehl) und im objektiven Urteilseinziehungsverfahren (§ 431 Abs. 1) die Anberaumung der Hauptverhandlung (RGSt. 19 428), im Beschlußeinziehungsverfahren (§ 440) die Zulassung des Antrags aus § 440 (§ 440 Abs. 3 in Vbdg. mit § 431 Abs. 1). Dasselbe gilt im selbständigen Verfahren bei Festsetzung von Geldbußen gegen juristische Personen und Personenvereinigungen (§ 444 Abs. 3 Satz 1). Beim Strafbefehl (§ 407) und der Strafverfügung (§413 Abs. 2) ist das beim Mandatserlaß der Fall. Das beschleunigte Verfahren (§212) vereinigt als Eröffnungsverfahren Verdachtsprüfung und Urteil. Die „Eröffnung des Hauptverfahrens" findet gedanklich statt, wenn der Richter nach Vernehmung eines Teils der Belastungszeugen oder des Angeklagten vom hinreichenden Tatverdacht überzeugt ist und die Hauptverhandlung fortsetzt, um zu prüfen, ob sich der Tatverdacht zur Schuldfeststellung verstärkt. Da dieser Zeitpunkt nicht festgelegt werden kann, kann erst das Urteil selbst der Eröffnung des Hauptverfahrens gleichgestellt werdend Das dürfte auch der Absicht des Gesetzgebers am nächsten kommen, der das beschleunigte Verfahren als Eröffnungsverfahren ausgestaltet hat II. Gerichtliche Entscheidung. 1. Verfahren. Die Anträge der Prozeßbeteiligten laufen immer darauf hinaus, das Verfahren, meist durch Einstellung, bei dem Gericht zu beenden, wo es anhängig ist. Ob das geboten ist, ist auch Inhalt einer von Amts wegen angestellten Prüfung. Ist das Verfahren (die ' A . A . — Beginn der Vernehmung zur Sache begründet eröffnetes Verfahren — E b S c h m i d t 22 zu § § 16 bis 18.

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§ 18

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

Anm. II 2 , 3 Voruntersuchung oder Hauptverfahren) noch nicht eröffnet, wird der Antrag dahin gehen, das nicht zu tun; wird die Eröffnung angegriffen, dahin, den Eröffnungsbeschluß aufzuheben und die Eröffnung abzulehnen (§ 181 Abs. 1, § 210 Abs. 2). Der Einwand i. S. des § 16 wird in diesen Fällen allerdings nur erhoben, wenn ausdrücklich aus dem Grunde der Unzuständigkeit Einwand i. S. von § 181 Abs. 1, § 201 Abs. 2 Satz 1 erhoben wird. Zu den Anträgen Prozeßbeteiligter und zu der Absicht des Gerichts, von Amts wegen seine Zuständigkeit zu prüfen, sind die Staatsanwaltschaft (§ 33 Abs. 2) und alle anderen Prozeßbeteiligten (§ 33 Abs. 3) zu hören, selbst wenn die Tatsachen, über deren Tragweite für die Zuständigkeit gestritten wird, allen Beteiligten schon bekannt sind (II 3 Abs. II a. E. zu § 33). So wie einmal in jeder Instanz, muß auch zu einem Zwischenstreit jeder Beteiligte ausdrücklich Gelegenheit erhalten, sich zu äußern. Die Zuständigkeit des Gerichts wird für den ganzen Rechtsstreit, also für alle Beteiligten, entschieden. Das ist notwendig, aber nur tragbar, wenn sie alle „hinsichtlich der Kompetenzfrage in lite" waren ( H a h n Mat. 2 1199). 2. Bejahung der Zuständigkeit Bejaht das Gericht bei der von Amts wegen anzustellenden Prüfung die Zuständigkeit, so wird es das in der Entscheidung (z. B. Eröffnung des Hauptverfahrens) im allgemeinen nicht zum Ausdruck bringen; doch wird es sich empfehlen, dies bei ernstlichen Zweifeln zu tun, um damit den Beteiligten die Ansicht des Gerichts kundzumachen. Bejaht das Gericht auf Antrag seine Zuständigkeit, so verwirft es den Einwand des Angeschuldigten aus § 181 Abs. 1, § 180 Abs. 1 oder des Angeschuldigten aus § 201 Abs. 1 oder einen Antrag eines Prozeßbeteiligten auf Einstellung des Verfahrens. Die Entscheidung ergeht durch Beschluß (§ 182 Abs. 1, § 201 Abs. 2 Satz 1; RGSt. 26 340, R G J W 1933 444). Dieser kann, wenn er mit dem Eröffnungsgeschluß zugleich ergeht, mit diesem verbunden werden, darf aber nicht als bloße stillschweigende Entscheidung in ihm enthalten sein. Auch in der Hauptverhandlung entscheidet das Gericht durch Beschluß. Mag er auch unanfechtbar sein (§ 305), so ist im Interesse der Klarheit und zum Zwecke der weiteren Verteidigung ein zu verkündender Beschluß erforderlich. In der Regel wird allerdings kein Revisionsgrund gegeben sein, wenn das Gericht einen zu Beginn der Hauptverhandlung erhobenen Einwand erst in den Urteilsgründen bescheidet. 3. Verneinung der Zuständigkeit. Im Ermittlungsverfahren lehnt der nach § 162 Abs. 1 angegangene Amtsrichter den Antrag der Staatsanwaltschaft durch Beschluß ab, wenn er sich für unzuständig hält 2 . Verneint das Gericht bei der Prüfung der Klage seine Zuständigkeit, so hat es die Eröffnung der Voruntersuchung oder der Hauptverhandlung abzulehnen 3 . Für die Voruntersuchung ist das in § 180 Abs. 1 ausdrücklich bestimmt, gilt aber auch für das Hauptverfahren. D a ß in diesem Falle eine Unzuständigkeitserklärung, die Ablehnung der Entscheidung über den Antrag (RGSt. 32 51), ergehen müßte, in jenem eine Ablehnung der Eröffnung 4 , findet in der Strafprozeßordnung keine Begründung. Nach Eröffnung des Hauptverfahrens aber vor der Hauptverhandlung stellt das Gericht das Verfahren nach § 206a Abs. 1 ein. In der Hauptverhandlung stellt das Gericht das Verfahren durch Urteil nach § 260 Abs. 3 ein (BGHSt. 18 3). Die Beschlußeinstellung ist wegen des klaren Wortlautes des § 206a ausgeschlossen. Ebenso ist Verweisung nach § 270 unzulässig (OLG H a m m N J W 1961 232; JMB1NRW 1969 66; VRS 38 346; O L G Braunschweig G A 1962 284). Dies schließt nicht nur der Wortlaut von § 270 Abs. 1 („sachliche Zuständigkeit") aus, sondern auch der Geist der Strafprozeßordnung: Bei der sachlichen Unzuständigkeit ist das höhere zuständige Gericht nach dem Gerichtsverfassungsgesetz bestimmt, bei der örtlichen stehen in der Regel mehrere zur Wahl. Die Wahl überläßt das Gesetz aber in erster Linie dem Kläger, bei Streit mehrerer Gerichte dem oberen Gericht (§ 14). Dieses System verbietet es, daß ein Gericht, das sich für unzuständig hält, mit bindender Wirkung den Gerichtsstand festlegt. 2 3 4

E b S c h m i d t 6; Müller-Sax 3 a , j e z u § 162. Müller-Sax 4b. So E b S c h m i d t 13 und 17 zu §§ 16 bis 18.

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Zweiter Abschnitt. Gerichtsstand (Dünnebier)

§ 18 Anm. II 4 , 5 ; III 1

In der Rechtsmittelinstanz entscheidet das obere Gericht bei Unzuständigkeit durch Verweisungsurteil (§ 328 Abs. 3, § 355), doch werden solche Entscheidungen nur ganz ausnahmsweise vorkommen (Einwand war rechtzeitig erhoben worden, aber übergangen). 4. Rechtsmittel. Verwirft das Gericht bei Eröffnung der Voruntersuchung oder des Hauptverfahrens den vom Angeschuldigten erhobenen Einwand der Unzuständigkeit, sei es indem es sich für zuständig erklärt, sei es weil der Angeschuldigte die Frist des § 16 versäumt hat oder weil der Einwand verbraucht ist, so steht dem Angeschuldigten die sofortige Beschwerde zu (§ 182 Abs. 2, § 201 Abs. 2 Satz 2 in Vbdg. mit § 182 Abs. 2). Diese ist auch gegeben, wenn das Gericht den Einwand durch Eröffnung stillschweigend verwirft. Ein sonst vor Eröffnung des Hauptverfahrens, also auch während der Voruntersuchung, ergehender Beschluß ist mit der einfachen Beschwerde anfechtbar (OLG Rostock A l s b . E 1 51). Nach der Eröffnung des Hauptverfahrens ergehende Entscheidungen sind der Beschwerde entzogen (§ 305 Satz 1; RG JW 1933 444). Die Ablehnung der Eröffnung der Voruntersuchung kann vom Angeschuldigten und von der Staatsanwaltschaft mit sofortiger Beschwerde angefochten werden (§ 183), die Ablehnung der Eröffnung der Hauptverhandlung wegen Unzuständigkeit von der Staatsanwaltschaft mit der sofortigen Beschwerde (§ 210 Abs. 2), die ihr auch bei Beschlüssen nach § 206 a zusteht. Nach Eröffnung des Hauptverfahrens gilt § 305 Satz 1. Auch der Angeklagte kann die Ablehnung der Eröffnung des Hauptverfahrens wegen Unzuständigkeit mit einfacher Beschwerde anfechten, wenn er beschwert ist ( M ü l l e r — S a x 2b zu § 210). Da er ein durch Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MenschRKonv. geschütztes Interesse an Verhandlung innerhalb angemessener Frist hat, ist er durch Beschlüsse beschwert, die das Verfahren aufhalten; das ist bei ungerechtfertigter Unzuständigkeitserklärung der Fall. 5. Revision. Der Angeklagte kann den mangelnden Gerichtsstand mit der Revision rügen, wenn er den Einwand rechtzeitig (§ 16) erhoben hat. Er kann die Revision dabei sowohl auf das Urteil stützen, das den Einwand der örtlichen Unzuständigkeit verwirft, als auch auf nach Eröffnung des Hauptverfahrens ergangene, nach § 305 unanfechtbare Beschlüsse (RG JW 1933 444), als auch endlich auf der Eröffnung voraufgegangene Beschlüsse, die lediglich mit der einfachen Beschwerde anfechtbar sind (§ 336). Dagegen kann das Urteil auf Beschlüssen, die mit sofortiger Beschwerde angegriffen werden können, nicht beruhen (RGSt. 26 342; 34 215) 5 . Im Umfange der dem Angeklagten zugestandenen Anfechtungsmöglichkeiten kann zu seinen Gunsten auch die Staatsanwaltschaft das Urteil mit der Revision anfechten. Dagegen kann sie wegen der dem Gericht in § 18 auferlegten Beschränkung die örtliche Unzuständigkeit nicht zu seinen Ungunsten rügen ( M ü l l e r — S a x 6). Hat das Gericht sich in der Hauptverhandlung zwar für unzuständig erklärt, das Verfahren aber nicht eingestellt (2 Abs. 3) und nach der Unzuständigkeitserklärung trotz dieser wieder verhandelt und entschieden, so fehlen dem Verfahren Anklage und Eröffnungsbeschluß (III 2). Das ist bei einer gegen das Urteil eingelegten Revision als Prozeßhindernis von Amts wegen zu prüfen (Einl., Kap. 10 B 1 Abs. 6). Das Revisionsgericht hat das Verfahren durch Urteil einzustellen (BGHSt. 18 3). III. Wirkung. 1. Zuständigkeitserklärung. Hat sich das Gericht ausdrücklich für zuständig erklärt oder hat das Beschwerdegericht der Beschwerde gegen eine Unzuständigkeitserklärung stattgegeben, so ist damit die Zuständigkeitsfrage für das befaßte Gericht endgültig entschieden. Es darf seine Zuständigkeit nicht von Amts wegen sondern nur dann neu prüfen, wenn der Angeschuldigte, bei mehreren einer von ihnen (RGSt. 23 155), einen noch zulässigen Einwand der Unzuständigkeit erhebt, wobei der Antrag aber unzulässig ist, wenn der Angeschuldigte am Prüfungsverfahren beteiligt war (III 3 zu § 16; 2 zu § 17). Auch wenn neue Tatsachen bekannt werden, ist das Gericht nicht berechtigt, von Amts wegen seinen Beschluß zu ändern oder in Abweichung von der Entscheidung eines höheren 5

Vgl. RGSt. 7 176; 20 48; 4 4 348; B G H NJW 1952 234; 1962 261; III 2 zu § 16.

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§ 18 Anm. III 2,3; IV

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

Gerichts zu entscheiden6. Das System des Zweiten Abschnitts läßt erkennen, daß der Gesetzgeber frühzeitig im Prozeß endgültige Verhältnisse schaffen will, wobei er es wegen der Gleichwertigkeit aller Gerichte gleicher Stufe hinnimmt, ein örtlich unzuständiges Gericht mit der Sache zu befassen7. Die Übertragung der Sache auf ein anderes Gericht (§12 Abs. 2, § 13 Abs. 2, § 15) bleibt zulässig (BGHSt. 22 234). Ebenso muß, wenn sich ergibt, daß mehrere Gerichte mit der Sache befaßt sind, das nachrangige Gericht sein Verfahren einstellen und die Untersuchung und Entscheidung demjenigen Gericht überlassen, dessen Vorrang nach § 12 Abs. 1 begründet ist (II 2 zu § 12). 2. Unzuständigkeitserklärung. Das Gericht wird, auch wenn es sich rechtsirrtümlich für unzuständig erklärt hat, dieser Beschluß aber nicht angefochten worden ist, unzuständig (BGHSt. 18 1). Das bisher durchgeführte Verfahren wird als ungeschehen behandelt. Der Eröffnungsbeschluß wird (stillschweigend) wieder aufgehoben; er verliert seine rechtliche Wirksamkeit endgültig (BGHSt. 18 3). Dasselbe gilt für die Verfügung (§ 192 Abs. 1 Satz 2) über die Eröffnung der Voruntersuchung (§ 184). Demzufolge muß das Gericht, bei dem die Klage neu erhoben wird, von neuem über die Eröffnung der Voruntersuchung oder des Hauptverfahrens beschließen. Wegen der Erhaltung einzelner Untersuchungshandlungen s. § 20. Die Klage ist bei dem unzuständigen Gericht nicht mehr erhoben, die Wirkung des § 156 entfallen. Der Staatsanwaltschaft steht es frei, ob sie neue Klage erhebt und wo (vgl. OLG Köln JMB1NRW 1962 115); nur vor dem Gericht, das sich für unzuständig erklärt hat, darf sie das nicht tun. Sie ist durch das Legalitätsprinzip gebunden, aber nicht durch § 156, weil ja die Eröffnung ihre Wirkung verloren hat8. Durch die Unzuständigkeitserklärung oder durch die Ablehnung einer Eröffnung wegen Unzuständigkeit wird die Strafklage nicht verbraucht (RGSt. 32 51). Wird die örtliche Unzuständigkeitserklärung in der Rechtsmittelinstanz festgestellt, dann bleibt das Verfahren bis zum Eröffnungsbeschluß bestehen, es wird nur die Hauptverhandlung vor dem zuständigen Gericht erneuert (§ 328 Abs. 3, § 355). Das Rechtmittelgericht kann aber die örtliche Unzuständigkeit nur aussprechen, wenn der Angeklagte den Einwand der örtlichen Unzuständigkeit in der ersten Instanz rechtzeitig erhoben hatte (BGHSt. 11 131). 3. Verweisung. Verweist ein örtlich unzuständiges Gericht in rechtsirriger Anwendung des § 270 (II 3 Abs. 3) die Sache an ein anderes Gericht, so wird dieses nicht zuständig. Der (falsche) Abgabebeschluß kann nicht in Rechtskraft erwachsen. Das empfangende Gericht kann die Sache zurückgeben. Es ist aber nicht gehindert, das Verfahren, um es abzuschließen, einzustellen, weil es bei ihm eröffnet worden ist und der unzulässige Verweisungsbeschluß den fehlenden Eröffnungsbeschluß nicht ersetzen kann (OLG Hamm NJW 1961 233). Die Einstellung stellt aber nur fest, daß das Verfahren nicht anhängig geworden ist; es ist keine Einstellung nach § 206 a, weil nur ein anhängig gewordenes Verfahren eingestellt werden kann (OLG Hamm VRS 38 346). War jedoch die Staatsanwaltschaft mit der Auswahl des neuen Gerichts durch das abgebende und mit der Abgabe an jenes Gericht einverstanden, und hat das zuständige Gericht das Hauptverfahren bei sich erneut eröffnet, dann ist dieses Gericht zuständig geworden (OLG Braunschweig GA 1962 284). Denn die genannten Akte stehen der Einstellung durch das unzuständige Gericht und der Anklage bei dem zuständigen gleich. IV. Örtliche Unzuständigkeit des Rechtsmittelgerichts. Gelangt durch einen Irrtum die Sache an ein falsches Berufungs- oder Revisionsgericht, nachdem sie in der ersten Instanz beim örtlich zuständigen Gericht anhängig war, sind die §§ 16 und 18 entsprechend anwendbar. An die Stelle der Eröffnung des Hauptverfahrens (§ 18)* tritt das erstmalige Zusammentreten des Gerichts, d. i. der Sitzungsbeginn, an die Stelle der Vernehmung zur Sache treten im Revisionsverfahren die Ausführungen des Angeklagten (§351 Abs. 2). 6

E b S c h m i d t II 35 zu §§ 16 bis 18; a. A. K l 2; J o h n 1 3 zu § 17. Mot., H a h n 1 80, wiedergegeben II 4 zu § 16. 8 A . A. — Zwang zur Erhebung der Klage, weil eröffnet gewesen ist — E b S c h m i d t 19 zu §§ 16 bis 18. 7

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Zweiter Abschnitt. Gerichtsstand (Dünnebier)

§ 19 Anm. 1—4

Ist die örtliche Unzuständigkeit durch Zurückverweisung eingetreten, so sind zwei Fälle zu unterscheiden: Hat der Bundesgerichtshof eine Sache an ein Gericht gleicher Ordnung verwiesen (§ 354 Abs. 2), das nicht zu demselben Lande gehört, wie das Gericht, dessen Urteil aufgehoben wird, so ist in entsprechender Anwendung von § 15 eine Nachprüfung der örtlichen Zuständigkeit ausgeschlossen. Ist einem Oberlandesgericht ein solches Versehen unterlaufen, kann § 15, da das Oberlandesgericht des einen Landes für die Gerichte des anderen Landes kein oberes Gericht ist, keine entsprechende Anwendung finden. Der Einwand muß alsdann als zulässig angesehen werden.

§ 19 Haben mehrere Gerichte, von denen eines das zuständige ist, durch Entscheidungen, die nicht mehr anfechtbar sind, ihre Unzuständigkeit ausgesprochen, so bezeichnet das gemeinschaftliche obere Gericht das zuständige Gericht 1. Mehrere Gerichte. Die Vorschrift bestimmt die Entscheidungszuständigkeit des gemeinschaftlichen oberen Gerichts für den Fall, daß ein negativer Kompetenzkonflikt bei unanfechtbaren Entscheidungen vorliegt. § 14 dagegen behandelt sowohl den negativen als auch den positiven Kompetenzkonflikt und setzt voraus, daß beim negativen Kompetenzkonflikt wenigstens zwei Entscheidungen noch anfechtbar sind (1 zu § 14). Der Wortlaut des § 19 ist ungenau. Es kommt nicht darauf an, daß die beteiligten Gerichte (selbst) ihre Unzuständigkeit ausgesprochen haben, sondern daß ihre Unzuständigkeit rechtskräftig festgestellt ist. Die Bestimmung ist also auch anzuwenden, wenn die Unzuständigkeit entgegen der Auffassung des beteiligten Gerichts von einem Beschwerdegericht ausgesprochen worden ist. 2. Zuständiges Gericht. § 19 findet nur Anwendung, wenn eines der beteiligten Gerichte nach den §§ 7 bis 11, 13 örtlich zuständig ist. Ist in Wirklichkeit ein anderes zuständig, liegt der Fall des § 19 nicht vor. Das obere Gericht hat dann den Antrag als unzulässig zu verwerfen. Es darf die Sache nicht an das von ihm für zuständig erachtete Gericht verweisen, vielmehr ist es Sache der Staatsanwaltschaft (des Privatklägers), Anklage zum zuständigen Gericht zu erheben oder beim Bundesgerichtshof einen Antrag nach § 13a zu stellen. Die Staatsanwaltschaft kann aber, wenn ihr die Zuständigkeit aller beteiligten Gerichte zweifelhaft und das gemeinschaftliche obere Gericht der Bundesgerichtshof ist, mit dem Antrag aus § 19 einen aus § 13 a verbinden. 3. Nicht mehr anfechtbare Entscheidungen können sowohl vorliegen, weil die Beteiligten (Staatsanwaltschaft, Angeklagter) von statthaften befristeten Rechtsmitteln (§ 183, § 206 a Abs. 2) keinen Gebrauch gemacht haben, als auch, wenn nach Gebrauch des Rechtsmittels kein weiteres mehr gegeben ist ( § 3 1 0 Abs. 2). Solange die Entscheidung auch nur eines der beteiligten Gerichte noch anfechtbar ist, ist das Verfahren nach § 19 unzulässig. Aus § 19 folgt, daß die Rechtskraft von Beschlüssen, durch die die Unzuständigkeit ausgesprochen wird, stets beschränkt ist und wieder beseitigt werden kann. 4. Verfahren. Da im Falle des § 19, anders als bei § 14, kein Streit zwischen mehreren Gerichten besteht, kann das gemeinschaftliche obere Gericht (8 Abs. 1 vor § 7) nicht durch die Vorlage eines der beteiligten Gerichte (3 zu § 14) mit der Sache befaßt werden, sondern nur durch den Antrag eines der Prozeßbeteiligten, nach der Natur der Sache regelmäßig der Staatsanwaltschaft oder des Privatklägers. Das obere Gericht hat den Prozeßgegner des Antragstellers zu hören. Es entscheidet durch unanfechtbaren Beschluß (8 Abs. 3 vor §7).

Das obere Gericht bezeichnet das zuständige Gericht. Es ist nicht vorgeschrieben und auch nicht erforderlich, die von der Bezeichnung berührte Unzuständigkeitserklärung ausdrücklich aufzuheben. Diese tritt durch den Beschluß von Rechts wegen außer Kraft, gleichviel, welches Gericht sie erlassen hat und in welcher Lage des Verfahrens. Das gemeinschaftliche obere Gericht ist nicht gehindert, auch eine Unzuständigkeitserklärung unwirksam zu machen, die es selbst als Beschwerdegericht erlassen hatte.

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§ 2 0 Anm. 1—3 § 2 1 Anm. 1

Strafprozeßordnung. Erstes Buch §20

Die einzelnen Untersuchungshandlungen eines unzuständigen Gerichts sind nicht schon dieser Unzuständigkeit wegen ungültig. 1. Einzelne Untersuchungshandlungen. Der Begriff (vgl. § 162) bildet den Gegensatz zu dem Verfahren als Ganzes. Als einzelne Untersuchungshandlungen kommen namentlich in Betracht: die Anordnung einer Beschlagnahme (§ 100 Abs. 1), der Überwachung des Fernmeldeverkehrs (§ 100 a), der Durchsuchung (§ 105 Abs. 1) oder der Untersuchungshaft (§ 114 Abs. 1), die Vernehmung (§ 58) und Vereidigung (§ 59) von Zeugen und Sachverständigen (§ 72), die Untersuchung des Geisteszustandes (§ 81) sowie die körperliche Untersuchung (§ 80) des Beschuldigten oder anderer Personen (§ 81c). Die Anordnung einer Beschlagnahme wird also nicht dadurch hinfällig, daß das Gericht, das dieses Zwangsmittel angeordnet hat, sich nachher für örtlich unzuständig erklärt. Für den Haftbefehl gilt dasselbe; doch ist es angebracht, in einer Haftsache im Zusammenhang mit einer Unzuständigkeitserklärung ausdrücklich zu entscheiden, ob der Haftbefehl aufgehoben oder bis zur Entscheidung des zuständigen Gerichts aufrechterhalten wird. Dieses muß, sobald es mit der Sache befaßt wird, über die Fortdauer der Untersuchungshaft neu entscheiden. 2. Unzuständiges Gericht. § 20 regelt die Fälle, in denen ein örtlich unzuständiges Gericht eine Untersuchungshandlung vorgenommen hat, weil es sich irrtümlich für zuständig gehalten hat. Die Gültigkeit der Handlungen, die ein für die Untersuchung unzuständiges Gericht in Ausübung der dem zuständigen Gericht zu leistenden Rechtshilfe (§§ 156, 157 GVG) oder bei Gefahr im Verzuge nach § 21 ausgeführt hat, versteht sich, da das Gericht dafür zuständig ist, von selbst. 3. Wirkung der Gültigkeit. Einer Wiederholung der vom unzuständigen Gericht vorgenommenen Untersuchungshandlung bedarf es weder im Vorverfahren nach §§ 162, 165, 166 noch in der Voruntersuchung; nur muß der zuständige Untersuchungsrichter die in § 1 9 2 vorgeschriebene Vernehmung des Angeschuldigten, wenn sie ein unzuständiger Richter ausgeführt hatte, nochmals selbst vornehmen. Auch für das Verfahren zur Vorbereitung der Hauptverhandlung nach den §§ 223 bis 225 kann, wenn ein unzuständiger Richter in diesem Verfahren eine Untersuchungshandlung bewirkt hat, nicht gefordert werden, daß ein zuständiger Richter die Handlung wiederhole. Soweit die §§ 251 bis 255 die Verlesung von Niederschriften über richterliche Untersuchungshandlungen zulassen, können auch Niederschriften über Untersuchungshandlungen verlesen werden, die ein unzuständiger Richter ausgeführt hat. Dagegen zwingt, wenn das Gericht sich in der Hauptverhandlung für unzuständig erklärt hat, das Gebot der Mündlichkeit und Unmittelbarkeit dazu, die Vernehmung des Angeklagten und die Beweisaufnahme, die vor dem unzuständigen Gericht stattgefunden haben, vor dem zuständigen Gericht zu wiederholen.

§21 Ein unzuständiges Gericht hat sich den innerhalb seines Bezirks vorzunehmenden Untersuchungshandlungen zu unterziehen, bei denen Gefahr im Verzug ist. Entstehungsgeschichte: Der Text, in dem das letzte Wort „ist" an die Stelle von „obwaltet" getreten ist, beruht auf Art. 9 VereinhG in Vbdg. mit Anlage 3 zu diesem Gesetz. 1. Unzuständig. Während § 20 Untersuchungshandlungen eines Gerichts im Auge hat, das sich bei der Vornahme der Handlungen irrtümlich für zuständig hält, beauftragt § 21 ein Gericht, dem seine örtliche Unzuständigkeit bekannt ist, mit gewissen Untersuchungshandlungen. Das Gesetz macht das Gericht für die Vornahme dieser einzelnen Handlungen zuständig, begründet aber keinen allgemeinen Gerichtsstand. Die Eingangsworte müßten richtig heißen: „ein an sich unzuständiges Gericht".

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Dritter Abschnitt. Ausschließung und Ablehnung (Dünnebier)

§ 2 1 Anm. 2—4 Anm. 1

Vor § 22

2. Als Gericht i. S. des § 21 kommt jedes Gericht in Betracht mit Ausnahme des Bundesgerichtshofs, doch betrifft die Vorschrift in erster Linie Amtsgerichte; die Land- und Oberlandesgerichte werden nur ausnahmsweise in die Lage kommen, auf Grund des § 21 einzuschreiten, z. B. wenn eine Strafkammer sich für örtlich unzuständig erklärt und es zugleich für notwendig erachtet, den Angeschuldigten in Haft zu nehmen. Immer kann aber nur ein örtlich unzuständiges Gericht entscheiden, das sachlich auf der gleichen Ebene steht wie das örtlich zuständige Gericht. Einen Eingriff in die sachliche Zuständigkeit eines anderen Gerichts gestattet § 21 nicht. 3. Untersuchungshandlungen. Da für den Fall, daß die öffentliche Klage noch nicht erhoben ist, die besondere Bestimmung des § 165 besteht, ist § 21 hauptsächlich auf den Fall einer bereits anhängigen Untersuchung zu beziehen. Es kommen stets nur einzelne Untersuchungshandlungen in Betracht. Das Notgericht leistet sie für das zuständige Gericht, aber nicht im Wege der Rechtshilfe sondern als eigene Aufgabe. Die Staatsanwaltschaft ist befugt und nach ihrer Amtspflicht ggf. verpflichtet, Anträge auf Vornahme schleuniger Untersuchungshandlungen zu stellen, doch ist die Verpflichtung des Gerichts, nach § 21 zu verfahren, nicht von einem Antrage des Staatsanwalts abhängig. 4. Gefahr im Verzuge bedeutet nach den neueren Fassungen (§ 81 a Abs. 2, § 81c Abs. 3) die Gefährdung des Untersuchungserfolgs durch Verzögerung, die einträte, wenn die Sache vor der Untersuchungshandlung an das zuständige Gericht abgegeben werden müßte. Der Begriff ist, wie auch an anderne Stellen der Strafprozeßordnung, rein prozessual; daß von dem Beschuldigten sonstige Gefahren, etwa für die öffentliche Sicherheit, drohen, ist ohne Bedeutung. Danach liegt Gefahr im Verzuge vor, wenn ohne das Handeln des unzuständigen Gerichts die Prozeßhandlung nicht oder nur unter wesentlicher Erschwerung oder nur so spät vorgenommen werden könnte, daß sie nicht rechtzeitig vollzogen werden könnte.

DRITTER ABSCHNITT Ausschließung und Ablehnung der Gerichtspersonen Vorbemerkungen 1. Entstehungsgeschichte. Nach dem ursprünglichen, später durch die Emminger VO von 1924 gestrichenen § 2 3 Abs. 3 durfte der Berichterstatter des Eröffnungsverfahrens nicht am Hauptverfahren vor der Strafkammer teilnehmen. Ein Richter konnte ursprünglich nur bis zur Verlesung des Eröffnungsbeschlusses und in den Rechtmittelinstanzen bis zum Beginn der Berichterstattung abgelehnt werden. Durch Art. 3 Nr. 9 VereinhG wurde dieser Zeitpunkt bis zum Beginn des Teils der Hauptverhandlung verschoben, der an die Vernehmung des Angeklagten zur Sache anschließt. Das Strafprozeßänderungsgesetz hat den Kreis der Richter, die durch eine Vortätigkeit befangen erscheinen könnten, erweitert: Im Wiederaufnahmeverfahren darf kein Richter mitwirken, der bei der Entscheidung beteiligt gewesen ist, die durch die Wiederaufnahme angefochten wird (§ 23 Abs. 2)'. Der Zeitpunkt für die Ablehnung ist wieder dem Anfang der Hauptverhandlung nähergerückt worden (Beginn der Vernehmung des Angeklagten zur Sache), hat aber praktisch seine Bedeutung verloren. Denn die Ablehnung ist, wenn dem Ablehnenden die Ablehnungsumstände erst später bekannt geworden sind, nunmehr bis zum letzten Wort zulässig (§ 25). Für unzulässige Ablehnungen stellt das Gesetz ein vereinfachtes Verfahren bereit (§ 26a) 2 , aber auch das regelmäßige Verfahren wird für den Fall vereinfacht, daß Amtsrichter abgelehnt werden (§ 27 Abs. 3 Satz 3). Durch diese Änderung des 1 2

Vgl. E 1930 (EG zum ADStGB; Mat. zur StrRRef. 7 51). Vgl. Reformkommission (Prot. 1 15; 2 200, 403), E 1908, 1909 (Mat. zur StRRef. 13 20), E 1919 (Reichsratsvorlage; Mat. zur StrafRRef. 14 18), E 1939 § 127 Abs. 1 Nr. 3.

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Vor § 22 Anm. 2 , 3

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

§ 28 wird die Anfechtung von Beschlüssen, die eine Ablehnung für unzulässig erklärt haben, in derselben Weise für statthaft erklärt wie bei Gesuchen, die als unbegründet verworfen sind. 2. Ausschließung und Ablehnung. Der Abschnitt handelt von der Ausschließung und von der Ablehnung von Berufsrichtern, Geschworenen, Schöffen und Urkundsbeamten, nicht von Staatsanwälten (4). Zwischen Ausschließung und Ablehnung ist in bezug auf das Verfahren zu unterscheiden, was das Gesetz allerdings nur unzulänglich tut. Sachlich stehen sich die Ausschließung (§§ 22, 23) und die Besorgnis der Befangenheit (§ 24 Abs. 2), sowohl in ihren Voraussetzungen als auch in ihren Wirkungen, gegenüber. Die Ausschließungsgründe sind fest und eng umrissen, Besorgnis der Befangenheit kann aus sehr verschiedenen Anlässen entstehen. Der gleiche Umstand kann sie bei dem einen hervorrufen, bei dem anderen nicht, auch kann seine Wirkung zu verschiedenen Zeiten verschieden ausfallen. Wenn auch Ausschließung wie Befangenheit letztlich zum Ausfall des Richters führen, so sind doch ihre Folgen nicht völlig gleich. Der Ausschließungsgrund wirkt ohne weiteres und ohne Ausnahme kraft Gesetzes in der Weise, daß der Ausgeschlossene sein Amt nicht ausüben darf, gleichviel ob ihm der Ausschließungsgrund bekannt oder verborgen ist; ob der Verdacht einer Befangenheit besteht oder ausscheidet; und ob ein Verfahrensbeteiligter der Amtsausübung widersprochen oder ihr zugestimmt hat. Denn die §§ 22, 23 sollen nicht nur verhindern, daß persönliche Empfindungen des Richters die Entscheidung beeinflussen (BGHSt. 3 69), sondern darüber hinaus, daß auch nur der Anschein eines Verdachts der Parteilichkeit entstehe (BGHSt. 14 221). „Gewisse Hinderungsgründe sind von der Art, daß schon die Rücksicht auf das Ansehen der Justiz die Ausschließung des Richters erheischt" (Mot. H a h n 1 82). Der Ausschließung tritt, sie ergänzend, das Institut der Ablehnung wegen Besorgnis der Befangenheit zur Seite. Während es beim Ausschluß allein objektiv auf das Bestehen des Ausschließungsgrundes ankommt ohne Rücksicht, welche Wirkung er auf den Richter und auf den Ablehungsberechtigten hervorruft, ist bei der Ablehnung entscheidend, daß der Ablehnende Grund zu der Annahme hat, der Richter werde, unter dem Einfluß des Ablehnungsgrundes stehend, sein Amt nicht in voller Unparteilichkeit ausüben (RGSt. 33 309). Die Ablehnung wirkt daher immer nur in die Zukunft und macht nicht, wie die während der richterlichen Handlung oder nach ihr festgestellte Ausschließung, jene rückwirkend fehlerhaft. 3. Gerichtspersonen. Der Abschnitt hat im wesentlichen die Gerichtspersonen des erkennenden Gerichts im Auge, wenn die Vorschriften auch das Gericht in sonstigen Funktionen, z. B. im Vorverfahren und auch bei Entscheidungen nach §§ 23 ff. EGGVG (KG NJW 1961 2363), betreffen. Er regelt eingehend die Richterablehnung und erklärt die dafür geltenden Vorschriften summarisch für Schöffen, Geschworene und Urkundspersonen anwendbar (§31). Außerhalb des Abschnitts behandeln — meist durch Verweisung auf ihn — die Ablehnung von Sachverständigen § 74, von Dolmetschern § 191 GVG, von Rechtspflegern § 10 des Rechtspflegergesetzes vom 5. 11. 1969 (BGBl. I 2065) und die Ausschließung von Gerichtsvollziehern § 155 GVG. Soweit die Richter in Rede stehen, befaßt sich der Abschnitt nur mit solchen, die in Ausübung ihres Richteramtes handeln. Übt der Richter Maßnahmen der Justizverwaltung (BGHSt. 3 68) oder der Strafvollstreckung aus — zu denen Entscheidungen nach § 458 nicht gehören —, dann kann er ebensowenig wie ein Staatsanwalt abgelehnt werden (BayObLGSt. 1954 66; OLG Hamm M D R 1957 760). Ist er als Richter ausgeschlossen, bleibt er zu den genannten Maßnahmen befugt. Er kann jedoch eine Entscheidung seiner Vorgesetzten darüber herbeiführen, ob er in der Amtsausübung zu ersetzen ist, und er muß das tun, wenn er Besorgnis der Befangenheit für begründet erachtet. Unter Richtern (§§ 22 bis 26a, § 30) und richterlichen Mitgliedern (§ 27 Abs. 2) sind zu verstehen die Richter auf Lebenszeit (§ 10 DRiG), die Richter auf Probe (Gerichtsassessoren; § 12 Abs. 1 DRiG) und Richter kraft Auftrags (§ 14 Abs. 1 DRiG), die die ordentliche (§ 5 DRiG) oder die außerordentliche (§ 7 DRiG) Befähigung zum Richteramt haben, in Rechtshilfesachen auch die Referendare (§ 10 Abs. 1 GVG). 272

Dritter Abschnitt. Ausschließung und Ablehnung (Dünnebier)

Vor § 22 Anm. 4

4. Staatsanwalt. Der dritte Abschnitt ist auf die Staatsanwälte nicht anwendbar (BVerfGE 25 345 = NJW 1969 1106; RG LZ 1918 454; OLG Hamm NJW 1969 808). Auch den §§ 141 bis 151 GVG können keine Rechtssätze über Ausschließung oder Ablehnung von Beamten der Staatsanwaltschaft entnommen werden (RGSt. 4 266). In den Motiven ( H a h n 1 93) wird hierzu bemerkt: „Es erschien überflüssig, besondere Vorschriften hinsichtlich der Beamten der Staatsanwaltschaft zu geben. Zwar ist diese keineswegs bloß Partei; sie hat vielmehr auch eine Reihe von Amtsverrichtungen wahrzunehmen, die zweifellos keine Parteihandlungen darstellen. Allein die Organisation der Staatsanwaltschaft gestattet es, daß in Fällen, in denen die Ersetzung eines staatsanwaltschaftlichen Beamten durch einen anderen geboten oder wünschenswert erscheint, diese auf Antrag des Beschuldigten oder jenes Beamten selbst oder auch von Amts wegen durch die vorgesetzte Behörde bewirkt werden kann, ohne daß es eines formlichen Verfahrens bedarf'. Demzufolge kann der Beschuldigte bei dem Vorgesetzten eines Beamten der Staatsanwaltschaft beantragen, daß dieser durch einen anderen ersetzt werde (§ 145 Abs. 1 GVG). Der Vorgesetzte muß das auf Antrag oder von Amts wegen immer tun, wenn ein Grund vorliegt, der beim Richter zur Ausschließung führt, oder wenn der Beschuldigte Befangenheit besorgen könnte. In einem solchen Falle hat der Staatsanwalt auch selbst auf seine Ersetzung hinzuwirken, und sich, bis der Vorgesetzte entschieden hat, aller Amtshandlungen zu enthalten, wenn nicht Gefahr im Verzuge ist (vgl. § 7 Nds. AGGVG; K l 1B). Dagegen kann der Beschuldigte kein Ablehnungsgesuch bei Gericht anbringen oder, da er keinen Rechtsanspruch auf Ersetzung hat (Kl 1B), eine Verfügung des vorgesetzten Beamten der Staatsanwaltschaft nach §§ 23ff. EGGVG anfechten (OLG Hamm NJW 1969 808; a. A. B u c k e r t NJW 1970 848). Bisher wurde hier die Auffassung vertreten, die Amtshandlungen eines Staatsanwalts seien, wenn er sich in einem Verhältnis der zuvor beschriebenen Art befinde, nicht fehlerhaft, und es könne daraus kein Grund hergeleitet werden, eine gerichtliche Entscheidung anzufechten. Diese Meinung kann nicht aufrechterhalten werden. Es besteht Übereinstimmung, daß dem Staatsanwalt grundsätzlich (Ausnahmen: BGH St. 21 89; abl. H a n a c k JR 1967 230) versagt ist, in der Hauptverhandlung als Staatsanwalt aufzutreten, nachdem er in dieser als Zeuge vernommen worden ist, sowie daß die Revision begründet ist, wenn er das gleichwohl tut u n d das Urteil auf dieser Gesetzesverletzung i. S. des § 337 Abs. 1 beruht (RGSt. 29 236; BGHSt. 14 265; 2 zu § 226). Das Urteil kann auf dem Mangel nur beruhen, wenn die Möglichkeit besteht, daß der Staatsanwalt das Gericht beeinflußt haben könnte ( D r u c k e r JW 1933 523). Dafür wieder ist Voraussetzung, daß ein solcher Einfluß denkbar ist. Das ist in der Tat der Fall. Denn es ist Aufgabe der Staatsanwaltschaft — wie auch des Angeklagten und des Verteidigers —, ihren Einfluß auf das Gericht auszuüben, damit dieses auf Grund der verschiedenen Einflüsse um so sorgfaltiger die Tatsachen würdigen und das Recht anwenden kann. Demzufolge ist es als ein — zur Aufhebung des Urteils führender — Mangel angesehen worden, wenn der Staatsanwalt in der Hauptverhandlung es unterlassen hat, einen Schlußantrag zu stellen (OLG Düsseldorf NJW 1963 1167; vgl. auch OLG Köln GA 1964 156). Der Schlußantrag aber ist wiederum nur von Wert und der legale Einfluß von Mängeln frei und im Sinne des Gesetzes, wenn der Staatsanwalt unbefangen ist. Ist der Staatsanwalt der Vater des Angeklagten, wird er, wenn er korrupt ist, die Tat beschönigen; meist wird ihn die Furcht, nicht objektiv zu sein, zu unangebrachter Härte verführen; die Sache unbefangen zu würdigen, wird er nicht in der Lage sein. Freilich wird dieser Fall nicht vorkommen, aber Fälle gleicher Befangenheit sind denkbar. Amtiert der Staatsanwalt gleichwohl, kann das Urteil ebensowenig Bestand haben wie in dem Falle, wo der als Zeuge vernommene Staatsanwalt nicht als Anklagevertreter ausgeschieden ist ( B r u n s , GebGabe für G r ü t z n e r , 1970, S. 46). Aus diesem Grunde muß man dem Gericht einen Einfluß auf die Staatsanwaltschaft einräumen. Zwar ist es Sache des Staatsanwalts, dafür Sorge zu tragen, daß er ersetzt wird. Aber der Vorsitzende kann bei dem vorgesetzten Beamten der Staatsanwaltschaft auf die Ersetzung hinwirken. Denn es kann dem Gericht nicht zugemutet werden, ohne Abhilfe zu versuchen, eine Hauptverhandlung durchzuführen, die auf Rüge des Angeklagten wiederholt werden müßte. Eine Befugnis, den Staatsanwalt zu entfernen, hat der Vorsitzende allerdings nicht. Sie wäre auch zwecklos, weil ihm die Möglichkeit fehlt, einen neuen Staatsanwalt einzusetzen. Ein — vermeidbarer — Streit ist mit den Mitteln der Dienstaufsicht auszutragen. Dazu muß das Gericht ggf. die 273

Vor § 22

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

Anm. 5 Sache vertagen (OLG Düsseldorf NJW 1963 1167). Gelingt es nicht, den Staatsanwalt zu ersetzen, ist die Hauptverhandlung allerdings fortzusetzen mit dem Risiko, daß sie nach erfolgreicher Revision wiederholt werden muß. Wenn auch Takt und Objektivität der Staatsanwälte Beschwerden, daß sie befangen seien, weitgehend verhindert haben, so sollte man sich hüten, aus dem geringen Umfang der neueren Rechtsprechung zu unserer Frage den Schluß zu ziehen, daß fast nie ein Anlaß bestanden hätte, einen Staatsanwalt auszuschließen oder abzulehnen. Denn die Verteidigung kann es auch unterlassen haben, Revisionsrügen anzubringen, die nach dem gegenwärtigen Stande der Rechtsprechung erfolglos erschienen. Für eine Reform ist jedenfalls zu fordern, den Gegenstand gesetzlich zu regeln3. 5. Reform. Der Katalog der Ausschließungsgründe des § 22 ist umfassend, doch sollte der Ausschluß eines mit dem Beschuldigten oder mit dem Verletzten verlobten Richters eingefügt werden 4 . § 23 erklärte in zwei Fällen den Richter für ausgeschlossen, der in der Sache schon tätig gewesen war. Hieran haben sich immer Reformwünsche geknüpft, den Richter der Ursprungssache nach Wiederaufnahme und nach Zurückverweisung aus der höheren Instanz sowie den Eröffnungsrichter auszuschließen. Der ersten Forderung hat das Strafprozeßänderungsgesetz mit Recht stattgegeben. Denn wenn auch die Kenntnis, die der frühere Richter vom Verfahren hat, für das wiederaufgenommene von Vorteil sein kann, so kann sie ihn doch ebenso belasten, den neuen Beweisen und ihrem Zusammenhang mit den alten unbefangen gegenüberzutreten; wenigsten kann — und darauf stellt das Recht der Ausschließung und Ablehnung ab — der Beschuldigte besorgen, daß das so sei. Das ist bei der Zurückverweisung nicht immer der Fall, kann es aber oft sein (III 4 zu § 23). Indessen hat der Gesetzgeber wohl nicht wegen dieser Verschiedenheiten die ersten Richter nicht ausgeschlossen, sondern sich mit der Anordnung ans Revisionsgericht begnügt, die Sache an eine andere Abteilung, an eine andere Kammer oder an ein anderes Gericht (§ 354 Abs. 2) zurückzuverweisen. Denn ursprünglich sollte ein Zwang bestehen, die Sache stets an ein anderes Gericht zurückzuverweisen, und nur wenn das nicht möglich ist, an eine andere Abteilung oder Kammer 5 . Als die Verweisung an die andere Kammer zum Regelfall gemacht wurde 6 , ist wohl übersehen worden, dafür einen Ausschließungsgrund zu schaffen. Denn die Absicht des Bundestags war, die Richter auszuschließen, weil Befangenheit besorgt werden könne 7 . Der gleiche Grund hat Veranlassung gegeben, im Wiederaufnahmeverfahren die Richter des Ursprungsverfahrens auszuschließen, und nicht etwa kraft Gesetzes die Zuständigkeit einer anderen Abteilung oder Kammer oder eines anderen Senats zu begründen. Die Unstimmigkeit wird bei einer Reform zu bereinigen sein. Nach den Beschlüssen des Bundestags in zweiter Lesung war vorgesehen, den Richter des Eröffnungsverfahrens in bestimmten Fällen auszuschließen 8 . Die Frage ist der großen Prozeßreform vorbehalten worden' und wird dort zu lösen sein. Dabei darf man nicht verkennen, daß die Eröffnung des Hauptverfahrens wichtiger als alle anderen Vorentscheidungen im Verfahren ist und daher am ehesten beim Angeklagten Besorgnis der Befangenheit erregen kann. Schließt man daher den Eröffnungsrichter aus, bringt der Gesetzgeber nur zum Ausdruck, daß er dem Gefühl des Angeklagten Rechnung trage, nicht aber, daß er dessen Besorgnis teile oder gar gegen die Richter ein Mißtrauen hege 10 . Die praktischen Schwierigkeiten, die namentlich für kleine Gerichte befürchtet werden, sind zu überwinden, wenn man lediglich die Mitglieder von Kammern und Senaten aus3

Nach § 132 E 1939 sollte der Staatsanwalt ausgeschlossen sein, wenn er vom Richteramte ausgegeschlossen wäre oder in der Sache als Richter, Verteidiger, Beistand oder Anwalt des Verletzten oder des Einziehungsbeteiligten tätig gewesen war. 4 Vgl. E 1930 (Mat. zur StrRRef. 7 51). 5 BTDrucks. IV 2378, 69. 6 BTVerh. IV 132, 6506 B, 6472 A. 7 AaO. 6470 A: die Sache soll an andere Richter gehen; 6471 C: der Angeklagte soll nicht vor denselben Richtern stehen. 8 BTDrucks. IV 2378, § 23 Abs. 1, S. 42. ' B T V e r h . IV 132, S. 6475 B. 10 Vgl. die Ausführungen der Abgeordneten J a h n und G ü d e , BTVerh. IV 69, S. 3126 D, S. 3132 C.

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Dritter Abschnitt. Ausschließung und Ablehnung (Dünnebier)

§22

schließt, die eröffnet haben. Mängel des amtsrichterlichen Verfahrens dagegen können grundsätzlich mit der — begründungsfreien — Berufung angefochten werden; dem Angeklagten, der den Amtsrichter durch die Eröffnung als befangen ansieht, ist anzusinnen, sich vor der Berufungskammer Recht zu holen. Der Ausschluß wenigstens des Berichterstatters der Eröffnungskammer war 45 Jahre lang geltendes Recht und ist durch eine Ausnahmeverordnung der Reichsregierung beseitigt worden. § 27 Abs. 3 Satz 1 bedarf der Ergänzung in bezug auf Ermittlungs- und Untersuchungsrichter der Oberlandesgerichte (II 5 zu § 27). Auch wird zu prüfen sein, ob nicht die Mitwirkung eines ausgeschlossenen Richters am Urteil wie in § 579 Abs. 1 Nr. 2 ZPO zum Wiederaufnahmegrund erhoben werden sollte (v. H i p p e l § 25 IV 3 Anm. 7). Das erscheint wenigstens für den Fall unabweislich, daß der Ausschließungsgrund erst nach Rechtskraft des Urteils bekannt geworden ist. Bei einer Reform sollte der Abschnitt auch anders aufgebaut werden. Es ist unglücklich, das Verfahren bei Ausschließung und das bei Ablehnung übereinstimmend zu behandeln, obwohl Voraussetzungen und Folgen bei beiden verschieden sind. Ablehnung und Ausschließung des Staatsanwalts sind nach Voraussetzung, Verfahren und Anfechtungsmöglichkeit gesetzlich zu regeln. §22 Ein Richter ist von der Ausübung des Richteramtes kraft Gesetzes ausgeschlossen: 1. wenn er selbst durch die strafbare Handlung verletzt ist; 2. wenn er Ehegatte oder Vormund des Beschuldigten oder des Verletzten ist oder gewesen ist; 3. wenn er mit dem Beschuldigten oder mit dem Verletzten in gerader Linie verwandt, verschwägert oder durch Annahme an Kindes Statt verbunden, in der Seitenlinie bis zum dritten Grade verwandt oder bis zum zweiten Grade verschwägert ist, auch wenn die Ehe, durch welche die Schwägerschaft begründet ist, nicht mehr besteht; 4. wenn er in der Sache als Beamter der Staatsanwaltschaft, als Polizeibeamter, als Anwalt des Verletzten oder als Verteidiger tätig gewesen ist; 5. wenn er in der Sache als Zeuge oder Sachverständiger vernommen ist. Entstehungsgeschichte: Durch Art. IV des Gesetzes über die Zulassung der Frauen zu den Ämtern und Berufen der Rechtspflege vom 11. 7. 1922 (RGBl. I 573) wurde in Nr. 2 das Wort „Ehegatte" an die Stelle des Wortes „Ehemann" gesetzt. Schrifttum: C u n o , Die Ausschließung des Richters in den Fällen des § 23 StPO, Diss. Freiburg 1934; M ü l l e r , Unter welchen Voraussetzungen ist jemand als Richter wegen früherer Befassung mit der Sache ausgeschlossen? NJW 1961, 102; S c h o r n , Die Ausschließung eines Richters im Strafprozeß in Rechtsprechung und Schrifttum, GA 1963 257. Übersicht I. Ausschließung wegen Beziehung zum Verletzten (Nr. 1 bis 3) 1. 2. 3. 4.

Strafbare Handlung Verletzte Begriff Einzelfalle a) Vermögensdelikte b) Beleidigung 5. Verwandter des Beschuldigten (Nr. 2 und 3) 6. Richter als Beschuldigter

II. Ausschließung wegen nichtrichterlicher Vortätigkeit (Nr. 4 und 5)

1. 2. 3. 4. 5. 6.

Begriff „Sache" Begriff der Tätigkeit Beamte der Staatsanwaltschaft Polizeibeamter Anwalt und Verteidiger Zeuge und Sachverständiger

III. Wirkung und Folgen 1. Wirkungen 2. Verfahren 3. Folgen 4. Revision 5. Eröffnungsbeschluß

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§ 22 Anm. 11—3

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

I. Ausschließung wegen Beziehung zum Verletzten (Nr. 1 bis 3). 1. Strafbare Handlung. Ausgeschlossen ist der Richter, der durch die strafbare Handlung selbst verletzt ist. Denn niemand darf Richter in eigener Sache sein ( S c h o r n 2 5 9 ) . Mit Recht geht die Bestimmung aber über eine enge Anwendung des Grundsatzes hinaus. Sie schließt vielmehr auch den Richter aus, der zu dem Verletzten in einem engen Verhältnis steht. Die strafbare Handlung, von der Nummer 1 spricht, die aber auch in den Nummern 2 und 3 zum Text zu ergänzen ist, ist diejenige, die Gegenstand des Strafverfahrens ist, in dem der Richter mitwirkt. Der Begriff ist im weitesten Sinne zu verstehen, so daß der Richter auch im Sicherungsverfahren (§ 429a; R G H R R 1942 747), im selbständigen Einziehungsverfahren (§ 440) und im Verfahren bei Festsetzung von Geldbußen gegen juristische Personen und Personenvereinigungen ausgeschlossen ist. Die Verletzung braucht nicht durch die Tat bewirkt zu sein, wegen der der Angeklagte verurteilt wird; es genügt eine Tat, die durch die Verurteilung mit abgeurteilt wird, wie bei der sog. mitbestraften Nachtat oder in den Fällen der Verdrängung durch Spezialität, Konsumtion oder Subsidiarität. Wird der Richter durch eine strafbare Handlung verletzt, die nicht Gegenstand des Verfahrens ist, so findet § 22 keine Anwendung. Der Richter wird also nicht dadurch ausgeschlossen, daß der Angeklagte ihn während der Verhandlung bestiehlt oder beleidigt. Allerdings kann der Fall des § 24 oder des § 30 vorliegen, aber nicht regelmäßig, wie sich schon aus § 178 GVG ergibt. 2. Verletzte. Der Kreis der Verletzten ist in den Nummern 1 bis 3 abschließend bezeichnet: Der Richter selbst (Nr. 1), sein Ehegatte, also auch der Ehemann einer Richterin — nicht der oder die Verlobte - und sein Mündel (§§ 1773, 1896 BGB; Nr. 2). Die vorläufige Vormundschaft (§ 1906 BGB) und die Gegenvormundschaft (§ 1792 BGB; RGSt. 11 223) begründen die Eigenschaft als Vormund; die Pflegschaft (§§ 1909, 1910) steht ihnen nicht gleich. Ob das Verhältnis als Ehegatte oder Vormund noch besteht und aus welchem Grunde es weggefallen ist, ist gleichgültig. Der Richter ist weiter ausgeschlossen, wenn er zu dem Verletzten in einem der in Nr. 3 bezeichneten Verhältnisse steht. Wegen der dort aufgeführten Verwandtschaften und Schwägerschaften finden nach Art. 33 EGBGB die Vorschriften des bürgerlichen Rechts Anwendung, d.s. § 1589 BGB für die Verwandtschaft 1 , § 1510 BGB für die Schwägerschaft und §§ 1757, 1762, 1763 BGB für die Annahme an Kindes Statt. Die Ausdrücke „bis zum zweiten und dritten Grad" schließen diese Grade ein. Die Ehe, durch welche die Schwägerschaft vermittelt worden ist, braucht nicht mehr zu bestehen. Aus welchem Grunde sie weggefallen ist, ist bedeutungslos (vgl. BGHSt. 9 38). Wegen der Einzelheiten s. 2c zu § 52. Die Verwandtschaft oder Schwägerschaft des Richters mit einem anderen mitwirkenden Richter, mit dem Beamten der Staatsanwaltschaft, dem Urkundsbeamten, dem Verteidiger des Beschuldigten oder dem Anwalt des Privatklägers oder Verletzten oder mit einem Zeugen oder Sachverständigen fallt nicht unter § 22, doch kann ggf. Befangenheit des Richters zu besorgen sein. 3. Der Begriff Verletzter findet sich in der Strafprozeßordnung an vielen Stellen (z. B. § 61 Nr. 2, § 111 Abs. 1, § 172 Abs. 1, § 374 Abs. 1, § 403, § 406d Abs. 1). doch sind ihm nicht überall dieselben Grenzen gezogen (BGHSt. 4 203, 5 87); er ist vielmehr nach dem Zweck der einzelnen Vorschrift bald enger, bald weiter auszulegen. Für § 22 muß wegen der Anfechtbarkeit der Handlungen eines ausgeschlossenen Richters (vgl. RGSt. 23 362) ein fest umgrenzbarer Begriff gefordert werden. Dieser Forderung kann eine mittelbare Verletzung 2 nicht genügen, weil die Grenzen des Mittelbaren verfließen (BGHSt. 1 299). Verletzt i.S. des § 22 ist daher, wer durch die abzuurteilende Tat unmittelbar betroffen ist, d.h. bei Straftaten gegen das Vermögen durch die strafbare Handlung einen unmittelbaren Nachteil an seinem Vermögen erleidet3. Auch die mittelbare Verletzung kann, und das wird 1

Nach Streichung von § 1589 Abs. 2 BGB auch bei nichtehelichen Kindern (Art. 1 Nr. 3 des Gesetzes über die rechtliche Stellung der nichtehelichen Kinder vom 19. 8. 1969 — BGBl. I 1243 —). 2 S o E b S c h m i d t 6 ; P e t e r s § 20 II l ; S c h o r n 2 6 1 . 3 RGSt. 24 342; 25 170; 37 145; 67 219; 6 9 127.

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§ 22 Anm. 1 4 , 5

oft naheliegen, die Befangenheit des Richters begründen. Dann sind die Wege der §§24 und 30 zu wählen. Der Ausschluß kraft Gesetzes ist dagegen zu Recht an die klar ersichtliche unmittelbare Verletzung gebunden. Die Verletzung wird nicht dadurch beseitigt, daß das auf die Hauptverhandlung ergehende Urteil die verletzende Straftat nicht feststellt; es kommt vielmehr allein darauf an, daß dem Angeklagten durch die Anklage eine Straftat zur Last gelegt wird, aus der, wenn sie als begangen festgestellt wird, sich die Verletzung ergäbe (RGRspr. 8 582). 4. Einzelfalle. a) Vermögensdelikte. Beim Diebstahl ist sowohl der Gewahrsamsinhaber als auch der Eigentümer verletzt ( E b S c h m i d t 7). Konkursdelikte verletzen jeden Konkursgläubiger, der wegen Unzulänglichkeit der Masse nicht voll befriedigt wird (RGSt. II 233, 33 309); nachträgliche Befriedigung beseitigt die Eigenschaft als Verletzter nicht (RGSt. 21 291). Eine strafbare Handlung zum Nachteil der Konkursmasse verletzt den Konkursverwalter nicht (RG HRR 1938 636). Beim Betrug ist verletzt, wer an seinem Vermögen beschädigt, dagegen nicht, wer getäuscht aber ein anderer als der Geschädigte ist (RGSt. 74 170). Wird eine Stadtgemeinde, eine Kirchengemeinde oder eine andere Körperschaft des öffentlichen Rechts geschädigt, so trifft der Schaden unmittelbar weder die Mitglieder noch die verfassungsmäßigen Vertreter (RGSt. 67 220). Verwirklicht sich der schädliche Erfolg am Vermögen einer Gesellschaft, so kommt es für die Frage, ob die Gesellschafter unmittelbar geschädigt sind, auf die Gesellschaftsform an: Bei der Gesellschaft des bürgerlichen Rechts steht das Eigentum am Gesellschaftsvermögen der Gesamtheit der Gesellschafter zu (§ 718 Abs. 1 BGB). Daher nimmt jeder Gesellschafter unmittelbar an dem Schaden teil, der das Geschäftsvermögen trifft. Dasselbe trifft auf die offene Handelsgesellschaft zu, da sie, wenn ihr auch § 124 HGB in gewissen Grenzen eine rechtliche Selbständigkeit einräumt, doch keine juristische Person, die rechtliche Stellung ihrer Gesellschafter vielmehr so geordnet ist, daß diese in ihrer jeweiligen Vereinigung Eigentümer des Gesellschaftsvermögens sind (RGSt. 46 77). Anders verhält es sich mit dem eingetragenen Verein ( § 2 1 BGB), der eingetragenen Genossenschaft (§ 1 GenG; RGSt. 23 362), der Aktiengesellschaft (§ 1 AktG); der Kommanditgesellschaft auf Aktien (§ 278 AktG, RGSt. 37 415, 69 128) und mit der GmbH (§ 13 GmbHG). In diesen Fällen liegt eine von ihren Gesellschaftern verschiedene Rechtspersönlichkeit vor. Dieser gehört das Vermögen; wird es verringert, bewirkt das für die Beteiligten nur einen mittelbaren Schaden (RGSt. 37 415; 69 128; anders bei § 61 Nr. 2: BGHSt. 4 202), der sich wegen des Umfangs des Vermögens, der inneren Ausgleichsmöglichkeiten, der Limitierung der Dividenden und anderer Faktoren auf das Vermögen des Gesellschafters oder Mitglieds nicht auszuwirken braucht, jedenfalls in der Regel als Einzelschaden nicht meßbar und nicht mit Sicherheit feststellbar ist. Demzufolge nimmt auch der Prokurist einer GmbH an dem Schaden, der ihr widerfahrt, selbst dann nicht unmittelbar teil, wenn er Anteil am Gewinn hat (BGHSt. 1 300). b) Beleidigung. Der in einem voraufgegangenen Verfahren durch eine Beleidigung verletzte Richter ist grundsätzlich von der Aburteilung der Beleidigung ausgeschlossen. Ob er oder sein Vorgesetzter Strafantrag gestellt hat, ist gleichgültig (BGH MDR 1954 628). Dagegen ist der vorgesetzte Richter niemals ausgeschlossen, mag er als amtlicher Vorgesetzter (§ 196 StGB) eines Richters oder Beamten einen Strafantrag gestellt (RGRspr. 4 209; RGSt. 30 125) oder mag der Richter oder Beamte das selbst getan haben (RGRspr. 5 333), doch kann in dem ersten Falle die Besorgnis der Befangenheit begründet sein (RGSt. 30 124). Durch die Beleidigung des gesamten Richterstandes (vgl. RGSt. 24 342) oder sämtlicher Richter eines Landes (RGSt. 25 179) werden nicht sämtliche Richter sondern nur diejenigen verletzt, die persönlich getroffen werden sollen und gegen die damit die beleidigende Kundgebung unmittelbar gerichtet ist (RG JW 1912 942). 5. Verwandter des Beschuldigten (Nr. 2 und 3). Der Richter ist ferner ausgeschlossen, wenn er Ehegatte oder Vormund des Beschuldigten oder wenn er mit ihm in der in Nr. 3 bezeichneten Weise verwandt oder verschwägert ist. Wegen der Einzelheiten gilt das o. 2 Ausgeführte. 277

§22 Anm. I 6; II 1

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6. Richter als Beschuldigter. Die Nummern 2 und 3 schließen den Richter sowohl aus, wenn er zu dem Beschuldigten als auch, wenn er zu dem Verletzten in einem besonderen Verhältnis steht. In Nr. 1 dagegen ist nur auf seine Verletzung durch die strafbare Handlung abgestellt. Den Parallelfall hierzu, daß der Richter selbst Beschuldigter ist, erwähnt das Gesetz nicht. Denn es ist selbstverständlich, daß niemand Richter über sich selbst sein kann. Daher ist der Richter nicht nur ausgeschlossen, wenn er Angeklagter ist, sondern auch wenn er zufolge einer Anzeige als Beschuldigter geführt wird 4 . Der Richter ist aber nicht nur ausgeschlossen, wenn er als Beschuldigter geführt wird, sondern auch, wenn er, ohne beschuldigt worden zu sein, Täter ist, gleichviel ob er das weiß oder nicht. Unter den Begriff des Täters fallt der Richter, der (der wirkliche) Alleintäter ist, oder sich an der Tat als Mittäter (§ 47 StGB), Nebentäter, Anstifter (§ 48 StGB) oder Gehilfe (§ 49 StGB) beteiligt oder sich einer Begünstigung (§§ 257, 258 StGB) des Täters der abzuurteilenden Handlung, sei es einer persönlichen — auch im Falle des § 257 Abs. 2 StGB —, sei es einer sachlichen, oder einer Hehlerei (§ 259 StGB) in bezug auf den Gegenstand der abzuurteilenden Tat schuldig gemacht hat. Besteht nur ein Verdacht, dann findet nicht § 22, sondern § 24 und für den verdächtigen Richter selbst § 30 Anwendung. II Ausschließung wegen nichtrichterlicher Vortätigkeit (Nr. 4 und 5) 1. Begriff „Sache". Der Richter ist ferner ausgeschlossen, wenn er in der Sache vernommen oder in bestimmter Weise nichtrichterlich tätig gewesen ist. In § 23 dagegen sind die Fälle richterlicher Vortätigkeit geregelt. Dort kehrt der Begriff „Sache" in Absatz 3 (ausgeschlossener Untersuchungsrichter) wieder; in den Absätzen 1 und 2 ist er entbehrlich, weil das Verbot, an gewissen Entscheidungen mitzuwirken, den Umfang der Ausschließung eindeutig bezeichnet. Die Rechtsprechung legt den Begriff „Sache" in § 23 Abs. 3 und in § 22 Abs. 4 verschieden aus. Zur letzten Bestimmung wird dabei vor allem (wenn auch nicht immer: RGSt. 7 237) auf die Vortätigkeit als Staatsanwalt abgestellt. Der Untersuchungsrichter soll als erkennender Richter nur ausgeschlossen sein, wenn er die Voruntersuchung wegen derselben Straftat i. S. des § 264 u n d gegen dieselbe Person geführt hat (RGSt. 54 316; 62 314; 68 377; BGHSt. 9 194; BGH GA 1968 280). Beim Staatsanwalt soll es dagegen ohne Rücksicht auf die verfolgte Person allein auf die Tat i. S. des § 264 ankommen (RGSt. 28 53; 57 275; BGH GA 1968 280), ja es soll Sachgleicheit noch umfassender als die nach § 264 zu bestimmende Tatgleichheit verstanden werden (BGHSt. 9 195). Demgegenüber faßt Eb. S c h m i d t (14) den Sachbegriff in beiden Fällen i. S. des § 264 auf „ohne Rücksicht auf die in den verschiedenen Verfahrensstadien ins Auge gefaßten Personen". V. B e l i n g (JW 1929 1039) dagegen will den für den Untersuchungsrichter gewonnenen eingeengten Begriff (Personenidentität) auch auf den Staatsanwalt, den Polizeibeamten und den Verteidiger anwenden. Zwar hat der gleiche Begriff an verschiedenen Stellen des Gesetzes oft verschiedene Bedeutung. Wenn er aber in zwei eng zusammenhängenden, einander unmittelbar folgenden und sich ergänzenden Vorschriften gebraucht wird, liegt die Annahme nahe, daß er wenigstens insoweit den gleichen Inhalt hat, als er einen jetzt erkennenden Richter betrifft, der vor dem Hauptverfahren eine ermittelnde Tätigkeit, sei es als Staatsanwalt, sei es als Untersuchungsrichter, ausgeübt hat. In der Tat schlagen die für die Differenzierung durchgeführten Argumente nicht durch. Die Auffassung, § 22 Nr. 4 verfolge ein weiteres Ziel als § 23 Abs. 3, weil er das Strafverfahren nicht nur gegen Voreingenommenheit schützen, sondern schon den Verdacht der Parteilichkeit vermeiden wolle (RGSt. 28 54; 59 267; R G GA 40 447; BGH NJW 1952 1149; BGHSt. 9 195), ist unrichtig. Dieser Zweck liegt allen Ausschließungsvorschriften zugrunde. So erklären die Motive ( H a h n 1 82) zu der Unterscheidung zwischen Ausschließungs- und Ablehnungsgründen: „Gewisse Hinderungsgründe sind von der Art, daß schon die Rücksicht auf das Ansehen der Justiz die Ausschließung des Richters 4

Beispiel: Ein Richter des Strafsenats des Oberlandesgerichts ist wegen Rechtsbeugung angezeigt; das Verfahren wird eingestellt (§ 171), die Beschwerde gegen die Einstellung zurückgewiesen. Im Anklageerzwingungsverfahren (§ 172 Abs. 2) ist der Richter ausgeschlossen.

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§ 22 Anm. II 2

erheischt". Damit ist der Gegensatz zu § 24 gekennzeichnet; auf § 23 treffen die Motive in gleicher Weise zu wie auf § 22. § 23 schließt den Richter in vielen Fällen aus, in denen keine Befangenheit besteht, wohl aber von manchen Angeklagten besorgt werden könnte. Auch die Erwägung, § 23 Abs. 3 sei, anders als § 22 Nr. 4, eine Ausnahme von dem Grundsatz, daß eine richterliche Tätigkeit in der Sache, die der Mitwirkung als erkennender Richter vorausgehe, keine Befangenheit begründe (BGHSt. 9 194; BGH GA 1968 280), ist nicht stichhaltig. In beiden Fällen ist zunächst die innere Freiheit des erkennenden Richters zu beurteilen; dabei kann die Frage, ob er aus einer Vortätigkeit befangen ist, nicht verschieden beantwortet werden, je nachdem, ob er als Richter, als Beamter oder als Anwalt mit der Sache befaßt war. Denn es kommt nicht darauf an, welche Eindrücke er früher empfangen hat, sondern allein darauf, wie er sich jetzt von ihnen freihalten kann. Zweifelhaft kann nur die weitere Frage sein, ob der Beteiligte eher annehmen kann, der Richter, der in der Sache Staatsanwalt oder Verteidiger gewesen sei, erscheine ihm befangener als einer, der in der Sache die Voruntersuchung geführt hat. Läßt man bloße unbegründete Gefühle beiseite, die ja auch die Ablehnung wegen Befangenheit nicht rechtfertigen (2 zu § 24), ist eine solche Befürchtung nicht anzuerkennen. Aus zwei Gründen schlägt auch die Begründung nicht durch, der Staatsanwalt ermittle gegen alle Personen, die als Tatbeteiligte in Betracht kommen (RGSt. 57 276; 68 377; BGH GA 1968 280), der Untersuchungsrichter aber gehe nur gegen die Personen vor, die der Antrag auf Eröffnung der Voruntersuchung erfasse (RGSt. 62 316). Denn einmal wird der Untersuchungsrichter, wenn der Verdacht gegen einen weiteren Beschuldigten auftaucht, anregen, die Voruntersuchung auch auf ihn auszudehnen, wozu er in dringenden Fällen von Amts wegen tätig werden muß (§ 191; RGSt. 68 377). Zum anderen ist nicht einzusehen, warum der erkennende Richter in der Verhandlung gegen B soll befangen erscheinen können, wenn er gegen A als Staatsanwalt ermittelt hat, ohne zu wissen, daß B beteiligt war (RGSt. 57 275), während keine solche Befangenheit soll auftreten können, wenn er in der gleichen Lage das gleiche als Untersuchungsrichter getan hat (RGSt. 62 314). Danach ist der Begriff „Sache" in § 22 Nr. 3 in bezug auf den als Staatsanwalt tätig gewesenen Richter genauso aufzufassen wie in § 23 Abs. 3, nämlich als das Strafverfahren wegen derselben Tat i. S. des § 264 gegen dieselbe Person (IV 5 zu § 23). Für den Polizeibeamten muß dasselbe gelten. Die bisher hier vertretene Ansicht wird aufgegeben. Zur Sache gehört das ganze Verfahren von den Vorermittlungen an über Voruntersuchung und Hauptverhandlung (RGSt. 17 174) bis zum Wiederaufnahmeverfahren (RGSt. 30 71)5. Wegen der Bedeutung des Begriffs „Sache", wenn die Vortätigkeit als Anwalt und Verteidiger entfaltet worden ist, s. 5, wenn der Richter als Zeuge vernommen worden ist, s. 6. 2. Begriff der Tätigkeit. Der Richter ist nach Nr. 4 ausgeschlossen, wenn er in der Sache in einer bestimmten Eigenschaft tätig geworden ist. Nach § 23 Abs. 2 ist der Untersuchungsrichter in Sachen ausgeschlossen, in denen er die Voruntersuchung „geführt" hat. Auch diesen Begriffen gibt die Rechtsprechung — zu Unrecht — verschiedenen Inhalt. Bei § 22 Nr. 4 soll jede - auch nur formelle - Tätigkeit (RGSt. 28 53; 55 113; BGH NJW 1952 1149; R G GA 40 447) zum Ausschluß führen, bei § 23 Abs. 2 soll das nur bei wesentlichen Untersuchungshandlungen der Fall sein (RGSt. 61 415). Die Begründung, Nr. 4 bezwecke, alle Personen vom Richteramt auszuschließen, bei denen auch nur die Möglichkeit einer Voreingenommenheit bestehe, gibt (1) in Wirklichkeit keinen Unterschied zu § 23 Abs. 2 ab. Vielmehr ist der Begriff der Tätigkeit und des Führens der Voruntersuchung inhaltlich gleich aufzufassen. Denn in dem Hauptfall, der Vortätigkeit des Staatsanwalts, besteht zu der des Untersuchungsrichters kein Unterschied in der Sachbehandlung. Der Begriff umfaßt jede Art amtliches Handeln in der Sache, das geeignet ist, den Sachverhalt 5

Im Falle BGHSt. 9 193 war kein Ausschließungsfall gegeben. Eine Umdeutung der Worte „in der Sache" in die Wendung „in der Ursprungssache" verläßt unnötigerweise den Wortlaut des Gesetzes. Abhilfe mußte mit § 30 gefunden werden: Der Richter hätte, da seine Ablehnung begründet war, nach § 30 Anzeige machen, das Gericht hätte ihn wegen Besorgnis der Befangenheit ausschließen müssen.

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zu erforschen oder den Gang des Verfahrens zu beeinflussen (RGSt. 59 268; 70 162). Danach ist er zwar weit zu fassen, so daß das Unterschreiben einer vorentworfenen Verfügung mit Recht als ausreichend angesehen worden ist (BGH NJW 1952 1149). Die Rücknahme des Steckbriefs macht aber nur befangen, wenn sie auf eigener Beurteilung des Sachverhalts beruht. Ist sie nur die Konsequenz einer von einem anderen Staatsanwalt beschlossenen Einstellung, ist sie eine unausweisliche technische Entscheidung und ohne Einwirkung auf die Sache. Das gleiche gilt für die Anordnung, gerichtliche Ladungen und Erkenntnisse zuzustellen (RGSt. 28 54), die bloße Ausführung des Gesetzes ist. Sie kann daher den Richter nicht als befangen erscheinen lassen. 3. Beamte der Staatsanwaltschaft (§ 146 GVG) sind die Bundesanwälte, Staatsanwälte, Amtsanwälte (§ 142 Abs. 1 GVG) sowie die mit der Wahrnehmung staatsanwaltschaftlicher Aufgaben beauftragten Assessoren (RGSt. 7 236) und die mit der Wahrnehmung amtsanwaltlicher Aufgaben beauftragten Referendare (OLG Düsseldorf JMB1NRW 1965 103) und Inspektoren. Führen sie Geschäfte der allgemeinen Justizverwaltung, wie die Bearbeitung von Dienstaufsichtsbeschwerden, so wird dadurch die Fähigkeit für eine spätere Richtertätigkeit in einer Strafsache, auf die die Aufsichtsbeschwerde Bezug hatte, nicht gehindert (v. Beling JW 1925 2779). Ebenso macht die Strafvollstreckung nicht — etwa für ein Wiederaufnahmeverfahren — unfähig. Denn sie nimmt keinen Einfluß auf die Sachentscheidung. Nur wenn der Amtsrichter, der als Vollstreckungsbehörde entschieden hat, in der gleichen Sache als Vollstreckungsgericht (§ 458) zu entscheiden hat, ist er in der Regel verpflichtet, Anzeige nach § 30 wegen Besorgnis der Befangenheit zu machen (4 zu § 24). Der Ausschließungsgrund trifft auf einen Richter zu, der in seiner Eigenschaft als Beamter der Staatsanwaltschaft in der Sache (1) tätig geworden ist, um den Sachverhalt zu erforschen oder den Gang des Verfahrens zu beeinflussen (s. o. 2). Demzufolge ist als Richter ausgeschlossen, wer als Beamter der Staatsanwaltschaft eine Verfügung entworfen (RGSt. 7 236) und die von einem nicht zeichnungsberechtigten Sachbearbeiter entworfene Verfügung in Vertretung des Abteilungsleiters unterzeichnet hat (BGH NJW 1952 1149; s. auch 2 a. E.). Wer Akten abgibt, nachdem er seine Unzuständigkeit festgestellt hat, ist nicht tätig geworden, wenn sich die Unzuständigkeit aus der Buchstabenzuteilung ergibt. Konnte der Sachbearbeiter seine Unzuständigkeit aber nur erkennen, nachdem er geprüft hatte, ob der Verdacht eines bestimmten Delikts bestehe, dann war er dadurch in der Sache tätig (RGSt. 55 113). Dagegen ist nicht ausgeschlossen der leitende Beamte, der mit der Sache selbst nicht befaßt gewesen ist (RGSt. 70 163); ein vorgesetzter Staatsanwalt, der lediglich den Sitzungsdienst eingeteilt hat (v. Beling JW 1925 2779); ein Staatsanwalt, der ohne Anordnungen in der Sache zu treffen, lediglich verfügt hat, daß die Akten dem Dezernenten nach der Rückkehr aus dem Urlaub vorzulegen seien, auch wenn er die prozessualen Fragen des Falls mit einem Referendar zu dessen Ausbildung bespricht (RGSt. 59 267). Leitende Beamte sind aber ausgeschlossen, wenn sie auf die Sache selbst Einfluß genommen haben, indem sie z. B. die Beweisergebnisse oder Rechtsfragen mit dem Dezernenten oder Abteilungsleiter, wenn auch nur mündlich, erörtert und dadurch, auch ohne Weisungen zu erteilen, auf dessen Entschließung eingewirkt haben, wenn auch nur in der Weise, daß sie seine Ansicht bekräftigt haben. 4. Polizeibeamter. Hilfsbeamte der Staatsanwaltschaft (§ 152 GVG) und Polizeibeamte, die in einer Strafsache aus eigener Entschließung tätig geworden sind (§ 163 Abs. 1), sind in derselben Sache als Richter ausgeschlossen (RGSt. 17 422), nicht jedoch Polizeibeamte, die ohne eigene Ermittlungen eine bloße Anzeige nach § 159 Abs. 1 erstattet haben (RG GA 49 118). Polizeibeamte, die nicht zur Sicherheitspolizei gehören, sind nur ausgeschlossen, wenn sie in der Sache eine Tätigkeit in der Strafrechtspflege ausgeübt, namentlich eine mit Strafe bedrohte Handlung oder Unterlassung erforscht haben (RGSt. 17 424; RG JW 1892 199); sonst begründet die Tätigkeit innerhalb eines anderen Zweiges der Polizei, etwa der Wohlfahrts- (RGSt. 17 419) oder der Gesundheitspolizei (RGSt. 35 320), nicht die Ausschließung. Beschließt ein Bürgermeister nach eigener Prüfung, von weiteren Ermittlungen bis zur Entschließung der Staatsanwaltschaft abzusehen, so ist er damit in der Sache 280

Dritter Abschnitt. Ausschließung und Ablehnung (Dünnebier) § 22 Antn. II 5 , 6 ; III 1 tätig geworden (RGSt. 55 251). Dagegen genügen Transport oder Bewachung eines Gefangenen nicht. Die Begriffe „Sache" und „Tätigkeit" können bei Polizeibeamten nicht anders als bei Staatsanwälten aufgefaßt werden. 5. Anwalt und Verteidiger. Unter Anwalt des Verletzten ist nur der Rechtsanwalt zu verstehen (RG GA 47 377). Dabei ist es gleichgültig, ob er den Verletzten nur beraten, eine Anzeige für ihn aufgesetzt oder erstattet, ihn im Beschwerde- oder Anklageerzwingungsverfahren (§ 172) vertreten oder im Privatklageverfahren (§ 378) oder als Nebenkläger (§ 397) vertreten oder Beistand geleistet hat. Verteidiger sind die Wahlverteidiger (§ 138 Abs. 1), auch die „anderen Personen" des § 138 Abs. 2, und die Pflichtverteidiger (§ 142 Abs. 1) einschließlich der zum Verteidiger bestellten Gerichtsreferendare (§§ 139, 142 Abs. 2). Der Begriff der Sache gilt auch hier in dem eingeschränkten Umfang: Er betrifft dasselbe Verfahren gegen dieselbe Person (RG LZ 1918 452; v. B e l i n g JW 1929 1039). Denn der Anwalt verteidigt die Person (vgl. RG GA 47 377). Art und Maß der Tätigkeit sind unerheblich. Auch wer den Antrag, die Verteidigung zu übernehmen, ablehnt, kann damit als Verteidiger tätig sein, nämlich dann, wenn er die Sache zur Kenntnis genommen oder die Handakten des bisherigen Verteidigers eingesehen hat (RG GA 40 447), nicht jedoch, wenn er überhaupt keine Verteidigungen übernimmt und nur aus Höflichkeit eine kurze Unterhaltung geführt hat, ohne sich geistig mit der Sache zu befassen. 6. Zeuge und Sachverständiger. Nach Nr. 5 ist der Richter nur ausgeschlossen, wenn er in der Sache gerichtlich, polizeilich oder von der Staatsanwaltschaft, einem Finanz- oder Hauptzollamt oder einer Zollfahndungsstelle als Zeuge oder Sachverständiger mündlich vernommen worden ist, gleichviel ob er Bekundungen gemacht oder die Erklärung abgegeben hat, von der Sache nichts zu wissen. Der mündlichen Vernehmung steht die von einem Richter (nicht Beamten) angeordnete Abgabe eines schriftlichen Sachverständigengutachtens im Vorverfahren gleich (§ 82). Abgesehen von diesem Fall genügen schriftliche Erklärungen, etwa des Richters der Ursprungssache, zu einer daraus entstandenen neuen Meineidssache über den Inhalt der Aussage in der ersten Sache, mögen sie auch im Einzelfall die Ablehnung wegen Besorgnis der Befangenheit begründen, nicht zur Ausschließung; denn Vernehmung ist nur persönliches Anhören, in der Regel zu Protokoll (RGSt. 12 180; 58 286; R G JW 1913 1001). Erst recht wird der Richter nicht dadurch ausgeschlossen, daß er als Zeuge benannt wird (RGSt. 42 2; RG GA 59 126; B G H S t 11 206). Das bewirkt auch die Ladung nicht, doch verhindert sie den Richter, wenn er zur Hauptverhandlung als Zeuge und nicht als Richter erscheint (RGSt. 42 3), an ihr als Richter teilzunehmen (BGHSt. 7 46). Sagt der Richter aus, z. B. dadurch, daß er privates Wissen kundgibt, sei es in der Verhandlung, sei es unzulässigerweise nur in der Beratung, dann verläßt er die Stellung des Richters, nimmt damit die eines Zeugen ein und ist dadurch als Richter ausgeschlossen (RGSt. 26 273). Ein bloßer Vorhalt, z. B. ob eine Örtlichkeit nicht dieser oder jener Beschaffenheit sei, ist allerdings ebensowenig Zeugenaussage wie der Umstand, daß der Richter allgemeinkundige Tatsachen, etwa Straßenverhältnisse, in der Hauptverhandlung zum Gegenstand der Verhandlung macht. Ist ein Richter vernommen worden, so darf er das Richteramt selbst dann nicht ausüben, wenn sich seine Aussage als bedeutungslos erweist (RGSt. 12 181). Die Vernehmung schließt ihn auch für ein Wiederaufnahmeverfahren aus (RGRspr. 6 161; RGSt. 30 70), nicht aber für Teile des Verfahrens, in denen zufolge Abtrennung die frühere Aussage keine Rolle mehr spielt (RGSt. 17 173). Der Dolmetscher gehört nicht zu den Sachverständigen i. S. der Nr. 5. III. Wirkungen und Folgen. 1. Wirkungen. Liegt ein Ausschließungsgrund vor, so ist der Richter „ohne jede Anregung von Seiten der Parteien und unabhängig von einem etwaigen Verzicht derselben eo ipso, also kraft des Gesetzes" (RGSt. 2 211) ausgeschlossen, das Richteramt auszuüben. Nur in Zweifelsfallen muß ausdrücklich entschieden werden (2). Der Ausschluß besteht 281

§22 Anm. III 2 , 3

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von der Entstehung des Ausschlußgrundes an. Dieser Zeitpunkt wird regelmäßig vor Beginn der richterlichen Handlung liegen, kann aber ausnahmsweise, namentlich im Falle der Nummer 5, auch erst während des Verfahrens eintreten. Ob der Richter den Ausschließungsgrund kennt, ist — anders als bei der Ablehnung wegen Besorgnis der Befangenheit — gleichgültig (RGSt. 33 309). Er ist nicht nur von Entscheidungen, sondern von jeder richterlichen Tätigkeit im Verfahren schlechthin ausgeschlossen. Der Ausschluß bezieht sich auf den gesamten Verfahrensgegenstand. Sind mehrere Sachen miteinander verbunden, so wirkt die Ausschließung, die zufolge der Beziehung zu der einen Sache begründet ist, für alle Sachen. Diese umfassende Ausschließung wird auch nicht dadurch beseitigt, daß das Verfahren wegen der Tat, auf der die Ausschließung beruht, sich — etwa durch Einstellung nach § 153 (BGHSt. 14 219) oder durch Teilrechtskraft — erledigt, im übrigen aber fortgesetzt wird. Auch für unaufschiebbare Handlungen und bei Gefahr im Verzuge gilt keine Ausnahme (RGSt. 30 71); lediglich das jedermann zustehende Festnahmerecht nach § 127 Abs. 1 bleibt unberührt. Der Ausschluß erstreckt sich jedoch nur auf richterliche Handlungen; für Maßnahmen der Justizverwaltung — wie die Auslosung von Schöffen (BGHSt. 3 68) und die Strafvollstreckung (BayObLGSt. 1954 67), zu der jedoch nicht die Entscheidungen nach § 458 gehören (OLG Hamm MDR 1957 760) — gibt es keinen Ausschluß. 2. Verfahren. Sobald der Richter von einem Ausschließungsgrund Kenntnis erhält, hat er sich jeder Ausübung des Richteramts zu enthalten. Auch darf er nicht außerhalb von Diensthandlungen auf die Sache einwirken, etwa die Terminbestimmung durch seine Autorität beeinflussen (BVerfGE 4 4 1 2 = NJW 1956 545). Er ist verhindert i. S. von § 22 b Abs. 1 Satz 2, § 63 Abs. 1 Satz 1, § 66 Abs. 1, §§ 67, 117, 131, § 192 Abs. 2 GVG. Einer Entscheidung des Gerichts bedarf es nicht, wenn der Ausschließungsgrund offensichtlich ist, wie regelmäßig in den Fällen des § 22 Nr. 4 und 5 und meist im Falle der Verwandtschaft mit dem Beschuldigten (§ 22 Nr. 3). Dann scheidet der verhinderte Richter — der Einzelrichter, der Untersuchungsrichter oder das Mitglied eines Kollegiums — aus und wird durch seinen nach der Geschäftsverteilung berufenen Vertreter ersetzt. Das ergibt sich aus der Ausschließung kraft Gesetzes sowie zusätzlich aus § 30, der die Entscheidung über Ausschließungsgründe nur für den Fall vorschreibt, daß Zweifel darüber bestehen, ob sie vorliegen. Hat ein Richter solche Zweifel, dann muß er die Entscheidung des Gerichts nach § 30 herbeiführen; entstehen bei Gericht Zweifel, so hat es von Amts wegen zu entscheiden (§ 30). Die Entscheidung kann jeder Prozeßbeteiligte jederzeit während des ganzen Verfahrens anregen. Anspruch auf Entscheidung und Bescheidung hat er jedoch nur, wenn er das Verfahren nach § 24 Abs. 1, § 26 Abs. 1 und 2 betreibt, für das die zeitliche Grenze des § 25 nicht gilt (1 zu § 25). 3. Folgen. Wirkt ein ausgeschlossener Richter im Strafverfahren mit, sei es weil er den Ausschließungsgrund nicht kennt, sei es weil er etwa glaubt, dringende Amtshandlungen vornehmen zu dürfen, so sind alle vor, von oder mit ihm nach der Entstehung des Ausschliessungsgrundes bewirkten Amtshandlungen fehlerhaft 6 . Ladungen sind zwar zu befolgen, doch ist die Ladungsfrist nicht gewahrt Das Untersuchungsgefängnis hat den Haftbefehl zu beachten, doch ist er im Haftprüfungsverfahren oder auf Beschwerde aufzuheben 7 und durch den Haftbefehl eines nicht ausgeschlossenen Richters, auch des Beschwerdegerichts (§ 309 Abs. 2) zu ersetzen. Das gleiche gilt für sonstige Beschlüsse — namentlich im Falle des § 23 Abs. 2 —, doch wird hier oft geboten sein, die Sache zur Beschlußfassung in die ordentlich besetzte Instanz zurückzuverweisen, damit dem Beteiligten keine Instanz verlorengeht. Von der Zurückverweisung wird jedoch abzusehen sein, wenn der Inhalt der Entscheidung ohne Beurteilung der Sache selbst feststeht, z. B., wenn das falsch besetzte Gericht nur die Frage zu entscheiden hatte, daß ein vom Verurteilten persönlich in einem Schriftsatz angebrachtes Wiederaufnahmegesuch unzulässig ist. Soweit Prozeßhandlungen auf das Urteil Einfluß haben können, ist dem Zweck des Gesetzes ein Beweisverbot der Art zu entnehmen, daß die wegen des Ausschlusses vom Richteramt fehlerhaften Akte nicht verwertet 6

7

H e n k e l (§ 28 II Fußn. 6) unterscheidet zwischen Nichtigkeit im allgemeinen und Anfechtbarkeit bei Urteilen. E b S c h m i d t 11 vor § 22.

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Dritter Abschnitt. Ausschließung und Ablehnung (Dünnebier)

§ 22 Anm. III 4 , 5

werden dürfen 8 . So ist an der Gültigkeit des vor einem ausgeschlossenen Richter geleisteten Eides kein Zweifel, er ist auch, wenn mit ihm vorsätzlich eine unwahre Aussage bekräftigt wird, ein Meineid (BGHSt. 10 142); im Prozeß darf er indessen ebensowenig verwertet werden wie ein von einem ausgeschlossenen Richter aufgenommenes Protokoll (RGSt. 30 72). Urteile unterliegen auf Anfechtung, im Revisionsverfahren bei ordnungsmäßiger Rüge, der Aufhebung (§ 338 Nr. 2), erwachsen aber sonst in Rechtskraft (RGSt. 72 181; OLG Bamberg HESt. 3 1). Entsteht ein Ausschließungsgrund während der Hauptverhandlung, so muß sie wiederholt werden; denn § 226 (ununterbrochene Gegenwart der zur Urteilsfindung berufenen Richter) kann nicht gewahrt werden, wenn ein Richter ersetzt wird, War jedoch ein Ergänzungsrichter zugezogen, und tritt er alsbald ein, nachdem der Ausschließungsgrund entstanden ist, wird die Hauptverhandlung fortgesetzt. Wird ein von Anfang an bestehender Ausschließungsgrund erst während der Hauptverhandlung bekannt, kann auch die Teilnahme und der Eintritt eines Ergänzungsrichters die Hauptverhandlung nicht immer retten: Der Ergänzungsrichter war zwar schon vor seinem Eintritt Richter, aber von Beratungen und Abstimmungen ausgeschlossen (BGHSt. 18 332). Die bisherigen Entscheidungen des Gerichts sind daher ohne ihn ergangen; wegen der Teilnahme des ausgeschlossenen Richters sind sie fehlerhaft und nach § 336 mit der Revision anfechtbar, wenn das Urteil auf ihnen beruht. Um den Mangel zu beheben, müssen Entscheidungen, die sich auf das Urteil auswirken können, mit dem eingetretenen Ergänzungsrichter neu beschlossen, ggf. geändert werden. Die bloße Nachprüfung der früheren Entscheidung bei der Urteilsfällung 9 macht die fehlerhaften Entscheidungen nicht fehlerfrei; sie kann allerdings zu der Feststellung fuhren, daß das Urteil nicht auf der mangelhaften Entscheidung beruht. Wird eine frühere Entscheidung unter Mitwirkung des Ergänzungsrichters nicht bestätigt, und kann sie nicht mehr rückgängig gemacht werden, dann muß die Hauptverhandlung wiederholt werden 10 . Denn § 192 GVG hat nicht die Macht, fehlerhaften Entscheidungen Gültigkeit zu verleihen; er bietet ein für die meisten Fälle (Krankheit, Befangenheit) praktikables Verfahren, verhält sich aber nicht über die Frage, wie Entscheidungen zu behandeln sind, die wegen Mitwirkung eines ausgeschlossenen Richters fehlerhaft sind. Hierzu hätte im dritten Abschnitt eine dem § 20 entsprechende Regelung getroffen werden müssen. Das war nach der Natur der Sache nicht möglich. 4. Revision. Hat das Gericht die Mängel nicht durch Wiederholung beseitigt, so können sie, wenn es zu einem Urteil gekommen ist, mit der Revision gerügt werden. Soweit der Mangel dem Beweismaterial anhaftet, wird das Urteil stets auf ihm beruhen (§ 337 Abs. 1). Hat der ausgeschlossene Richter an der Hauptverhandlung mitgewirkt, beruht das Urteil stets auf der Gesetzesverletzung. Hat an einem aus zwei gegen verschiedene Personen gerichteten, durch Verbindung entstandenen Verfahren ein Richter mitgewirkt, der vor der Verbindung gegen einen der Angeklagten die Voruntersuchung geführt hatte, dann war das zwar unzulässig, weil durch die Verbindung der in einer Sache ausgeschlossene Richter notwendig im ganzen verbundenen Verfahren nicht mitwirken durfte (RGSt. 57 248; R G G A 60 421). Beschwert ist aber nur derjenige, gegen den der Richter die Voruntersuchung geführt hat (C u n o 39); nur hinsichtlich dieses Angeklagten ist das Urteil aufzuheben (RGSt. 54 317) 11 . Die Rechtsmittel stehen allen Prozeßbeteiligten zu. Auch § 22 Nr. 4 ist nicht nur zugunsten des Angeklagten gegeben. Seine Verletzung kann auch die Staatsanwaltschaft geltend machen, auch um das Urteil zum Nachteil des Angeklagten anzugreifen (RGSt. 59 267). 5. Eröffnungsbeschluß. Fehlt ein Eröffnungsbeschluß (§ 203), so mangelt es an einer Prozeßvoraussetzung. Das hat zur Folge, daß das Verfahren einzustellen ist (BGHSt. 10 8

M ü l l e r - S a x 2 d Abs. 2. So RGSt. 67 278; E b S c h m i d t 20 bis 22; M ü l l e r - S a x 5, beide zu § 192 GVG. 10 A. A. RGSt. 67 277, doch ist die Entscheidung im Ergebnis richtig, weil sie von einem Ablehnungsfall handelt, und die für zulässig erklärte Ablehnung keine Rückwirkung zeitigt (III 6 zu § 27). RGSt. 35 372 handelt von einem Ausschließungsfall, doch ist nicht zu erkennen, daß das Gericht vor dem Eintritt der Ergänzungsgeschworenen Entscheidungen getroffen hatte. 11 A . A . R G JW 1913 1002; E b S c h m i d t 16. 9

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§23

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

279), sei es vom erkennenden Gericht, sobald es den Mangel bemerkt, sei es vom Rechtsmittelgericht (Einl. Kap. 10 A 4, B 1). Das ist auch dann der Fall, wenn der Beschluß, der die Prozeßvoraussetzung schafft, nicht angefochten werden kann, wie das beim Eröffnungsbeschluß der Fall ist (§ 210). Denn auch sonstige Verfahrensvoraussetzungen (z. B. Strafantrag, öffentliche Klage) sind der Anfechtung durch den Beschuldigten entzogen, aber gleichwohl von Amts wegen zu prüfen. Dem Fehlen des EröfFnungsbeschlusses steht es nach der Rechtsprechung gleich, wenn er an schwerwiegenden Mängeln leidet12, die im Laufe des Verfahrens nicht mehr behoben werden können. Dem ist für den Fall zuzustimmen, daß es sich um Mängel handelt, die „der Eröffnungsbeschluß gleichsam an der Stirn trägt" (BGHSt. 10 281), und die dem Beschluß die einzige das Verfahren ggf. überdauernde Wirkung nehmen, den Gegenstand der Urteilsfindung erkennen zu lassen (§ 264 Abs. 1 in Vbdg. mit § 207 Abs. 1 und 2). Als ein dem Fehlen gleichstehender Mangel ist es angesehen worden, wenn ein ausgeschlossener Richter mitgewirkt hat (RGSt. 55 113 BGH bei H e r l a n MDR 1954 656; E b S c h m i d t 10 vor § 22). Diese Gleichstellung geht zu weit. Wie vielen anderen Prozeßhandlungen (Beschlüssen im Vorverfahren, Vernehmungen) ist es auch dem EröfTnungsbeschluß nicht anzusehen, ob ein ausgeschlossener Richter mitgewirkt hat. Daher zeichnet eine solche Mitwirkung den Eröffnungsbeschluß nicht zu einem solchen, der wie ein als fehlerhaft erkannter zu behandeln ist. Er ist zwar mangelhaft; der Mangel ist aber in der Hauptverhandlung nur auf Hinweis und im Rechtsmittelverfahren nur auf Rüge zu berücksichtigen u .

§23 (1) Ein Richter, der bei einer durch ein Rechtsmittel angefochtenen Entscheidung mitgewirkt hat, ist von der Mitwirkung bei der Entscheidung in einem höheren Rechtszuge kraft Gesetzes ausgeschlossen. (2) Ein Richter, der bei einer durch einen Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens angefochtenen Entscheidung mitgewirkt hat, ist von der Mitwirkung bei Entscheidungen im Wiederaufnahmeverfahren kraft Gesetzes ausgeschlossen. Ist die angefochtene Entscheidung in einem höheren Rechtszug ergangen, so ist auch der Richter ausgeschlossen, der an der ihr zugrunde liegenden Entscheidung in einem unteren Rechtszug mitgewirkt h a t (3) Der Untersuchungsrichter darf in den Sachen, in denen er die Voruntersuchung geführt hat, nicht Mitglied des erkennenden Gerichts sein, auch nicht bei einer außerhalb der Hauptverhandlung ergehenden Entscheidung der Strafkammer mitwirken. Entstehungsgeschichte: Absatz 3 war früher Absatz 2. In einem ursprünglichen dritten Absatz war vorgeschrieben, daß der Richter, der bei Eröffnung des Hauptverfahrens Bericht über den Antrag der Staatsanwaltschaft erstattet hatte, am Hauptverfahren vor der Strafkammer nicht teilnehmen dürfe. Diese , Ausschließung des Berichterstatters" wurde durch § 21 Abs. 1 der Emminger VO vom 24.1.1924 (RGBl. I 15) beseitigt. Durch Art. 5 Nr. 1 StPÄG ist der jetzige Absatz 2 eingefügt und der bisherige Absatz 2 zu Absatz 3 geworden. Schrifttum: D a h s , Ablehnung von Tatrichtern nach Zurückverweisung durch das Revisionsgericht, NJW 1966 1691; Müller, Unter welchen Voraussetzungen ist jemand als Richter wegen früherer Befassung mit der Sache ausgeschlossen? NJW 1961 102; R a a c k e , Zurückverweisung in Strafsachen und Nachtragsentscheidung, NJW 1966 1697; Zeitz, Ausschließung des Richters nach erfolgreicher Revision, DRiZ. 1965 393. 12 13 14

RGSt. 68 107; BGHSt. 10 140; 10 279. mit der freilich abzulehnenden Begründung, es habe ein Richter zu wenig entschieden. Vgl. BGHSt. 10 280; 22 170 — beide freilich zu sogenannten Besetzungsrügen, bei denen die Ausschließungsfrage keine Rolle spielte - ; K e r n JZ 1968 94 gegen RGSt. 10 56; 55 113. Nach RGSt. 10 59 soll der Angeklagte auf die Rüge verzichten können — was der Ansicht des Verfassers, aber kaum der herrschenden Lehre (vgl. W e r n e r S c h m i d 373) entspricht —, nach anderer Meinung soll das Urteil auf Mängeln des Eröffnungsbeschlusses nicht beruhen können ( M ü l l e r - S a x 4).

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Dritter Abschnitt. Ausschließung und Ablehnung (Dünnebier)

§ 23 Anm. I; II 1

Übersicht I. Inhalt II. Ausschluß von der (Absatz 1) 1. Entscheidung im 2. Rechtsmittel 3. Entscheidung im 4. Entscheidung im

3. Entscheidung nach Zurückverweisung 4. Ablehnungsgrund Rechtsmittelentscheidung unteren Rechtszug höheren Rechtszug niederen Rechtszug

III. Ausschluß im Wiederaufnahmeverfahren (Absatz 2) 1. Mitwirkung bei der ersten Entscheidung 2. Mitwirkung im Wiederaufnahmeverfahren

IV. Ausschluß des Untersuchungsrichters (Absatz 3) 1. Inhalt 2. Untersuchungsrichter 3. Führung der Voruntersuchung 4. Eröffnung und Schließung der Voruntersuchung 5. Begriff „Sache" 6. Ausschluß

I. Inhalt. § 23 enthält drei scharf begrenzte beschränkte Ausschließungsgründe. Sie schließen sich an die Fälle des § 22 Nr. 4 ab, bei denen der Richter als früherer Beamter oder Anwalt ausgeschlossen ist, betreffen aber hier ausschließlich richterliche Vortätigkeit: Ein Richter darf nicht über ein Rechtsmittel gegen seine eigene Entscheidung entscheiden (Absatz 1); im wiederaufgenommenen Verfahren darf kein Richter mitwirken, der an der ursprünglichen Entscheidung beteiligt war (Absatz 2); ein Untersuchungsrichter darf nicht Mitglied des erkennenden Gerichts sein, das auf die Voruntersuchung in der Sache entscheidet (Absatz 3). Aus dieser Begrenzung ist zu entnehmen, daß die verschiedenen Aufgaben des Richteramts im übrigen grundsätzlich miteinander vereinbar sind (RGSt. 62 302), und daß die drei Fälle der Unvereinbarkeit Ausnahmen von dem allgemeinen Grundsatz der Vereinbarkeit aller richterlichen Aufgaben miteinander darstellen. Als Ausnahmevorschrift ist § 23 eng und nicht über seinen Wortlaut hinaus auszulegen (RGSt. 2 91; 9 287; 60 325; BGHSt. 9 234). Denn die Ausschließungsgründe schlagen auch ein, wenn der Ablehnungsberechtigte keine Befangenheit besorgt, ja vielleicht dem ausgeschlossenen Richter sogar besonders vertraut. Daher darf ihm der in erster Linie gesetzliche Richter nur bei scharf begrenzten, weiter Auslegung nicht zugänglichen Tatbeständen genommen werden. Doch werden manche Fälle der Vortätigkeit Besorgnis der Befangenheit begründen (III 4 zu § 23 und 3 a zu § 24) und dem Richter zu einem Verfahren nach § 30 Veranlassung bieten. Die — streng begrenzten — Ausschließungsgründe sind, wie A r z t (17) treffend ausführt, von verwandten Ablehnungsgründen umlagert. Das ist sowohl bei § 24 als auch bei § 30 zu beachten. Was zu § 22 über die Wirkungen und Folgen der Ausschließung gesagt ist (III zu § 22), gilt auch für § 23, weil diese Vorschrift den Katalog des § 22 ergänzt. Daher sind nur zu Absatz 3 einige ergänzende Bemerkungen gemacht (IV 6). II. Ausschluß von der Rechtsmittelentscheidung (Absatz 1). 1. Entscheidung im unteren Rechtszug. Der Ausschließungsgrund des Absatzes 1 liegt vor, wenn der Richter bei einer durch Rechtsmittel angefochtenen Entscheidung mitgewirkt hat. Der Begriff Entscheidung ist hier unabhängig von dem Inhalt, den er an anderen Orten hat, allein nach Sinn und Zweck der Vorschrift selbst auszulegen. Danach ist Entscheidung jede mit einem Rechtsmittel anfechtbare Willensäußerung des Gerichts. Die Entscheidung wird wegen § 305 Satz 1 in der Regel ein Urteil sein, doch sind auch Beschlüsse denkbar. Da nur die Mitwirkung an der Entscheidung, bei Kollegialgerichten an der Abstimmung, bedeutsam ist, schließt die Mitwirkung bloß an der Verhandlung — etwa als vor dem Urteil durch Ablehnung ausgeschiedener Richter oder als Ergänzungsrichter (§ 192 Abs. 2 GVG) — den Richter nicht aus, im letzten Falle selbst dann nicht, wenn er (unzulässigerweise) an der Beratung teilgenommen hat (RGSt. 65 41). Ebensowenig bewirkt die Vorbereitung der angefochtenen Entscheidung, etwa die Anordnung einer kommissarischen Vernehmung (RG JW 1925 794) oder eine Beweisaufnahme, den Ausschluß, gleichviel ob sie vor dem erkennenden Gericht stattgefunden hat oder ob der Richter 285

§23 Anm. II 2 - 4

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

sie zufolge Auftrags oder Ersuchens vorgenommen hat (RG JW 1901 289). War der Richter durch vorbereitende Entscheidungen für eine spätere Entscheidung schon weitgehend festgelegt, dann kann das die Besorgnis der Befangenheit begründen. 2. Rechtsmittel. Der Ausschluß hängt davon ab, daß eine Entscheidung durch ein Rechtsmittel angefochten worden ist. Rechtsmittel sind nur Beschwerde (§ 304), Berufung (§312) und Revision (§§ 333 bis 335). Keine Rechtsmittel sind der Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (§ 44), der Antrag auf Haftprüfung (§117 Abs. 1) und der Antrag auf mündliche Verhandlung im Haftprüfungsverfahren (§118 Abs. 1; vgl. RGSt. 61 416), der Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens (§ 366; K G JW 1932 2919) und der Einspruch gegen den richterlichen Strafbefehl (§§ 410, 411 Abs. 1) oder die richterliche Strafverfügung (§ 413 Abs. 4 in Vbdg. mit §§ 410, 411 Abs. 1). Der Fall der Entscheidung im Wiederaufnahmeverfahren ist jetzt in Absatz 2 in ähnlicher Weise wie für das Rechtsmittelverfahren geregelt. 3. Entscheidung im höheren Rechtszug. Der Richter ist nur von der Mitwirkung bei der Entscheidung ausgeschlossen, die im höheren Rechtszug über die von ihm in einem niederen Rechtszug erlassene oder miterlassene Entscheidung ergeht. Die Entscheidungen in den beiden Instanzen müssen einander entsprechen: Ergeht in erster Instanz ein Haftbefehl, dann kann ein Richter, der ihn erlassen hat, nach der Versetzung in die höhere Instanz, an der Entscheidung über die Haftbeschwerde nicht mitwirken, wohl aber am Erlaß des Berufungsurteils, wenn er vor dem Urteil erster Instanz aus dem erstinstanzlichen Gericht ausgeschieden ist. Aus dem gleichen Grunde darf der Richter, der das Urteil in erster Instanz miterlassen hat, im Berufungesverfahren über das Ablehnungsgesuch gegen einen Berufungsrichter mitentscheiden (RG DRiZ 1927 326). Ebenso ist ein Richter, der in der Beschwerdeinstanz mitgewirkt hat, nicht in der Berufungsinstanz (RG JW 1933 444) und der Richter, der bei Erteilung sicheren Geleits (§ 295 Abs. 1) durch die Strafkammer beteiligt war, nicht vom Richteramt in der Hauptverhandlung ausgeschlossen (RGSt. 59 102). Ist eine weitere Beschwerde (§ 310) oder nach der Berufung noch Revision eingelegt, so wird zwar die Entscheidung des Beschwerde- oder des Berufungsgerichts überprüft, doch enthält die Entscheidung in der Regel zugleich die Rechtfertigung oder Mißbilligung der ersten Entscheidung. Der erste Richter ist daher auch in der dritten Instanz ausgeschlossen (KG JW 1928 1949; O L G Königsberg GA 73 65). Aus dem gleichen Grunde darf ein Richter, der an einem auf Revision aufgehobenen Urteil mitgewirkt hat, an der Entscheidung nicht mitwirken, die nach erneuter Revision im Revisionsrechtszug zu treffen ist (OLG Schleswig SchlHA 1958 318). Kein Verfahren im höheren Rechtszug ist das Haftprüfungsverfahren (§ 117 Abs. 1). Deshalb können — und das ist die Regel — die Richter, die den Haftbefehl erlassen haben, auch im Haftprüfungsverfahren mitentscheiden (RGSt. 61 416). Dagegen ist das Verfahren nach §§ 121, 122 ein Verfahren im höheren Rechtszug, wo geprüft wird, ob — außer bei der Staatsanwaltschaft — auch beim erkennenden Gericht Umstände, die dem Urteil entgegenstehen, unabwendbar gewesen sind (9 zu § 121). 4. Entscheidung im niederen Rechtszug. Der Gesetzgeber hat bei seiner Anordnung den Normalfall im Auge gehabt, bei dem sowohl die Sache von der unteren in die höhere Instanz geht als auch ein Richter vom niederen an ein höheres Gericht berufen wird. Es können aber auch Richter von höheren Gerichten bei niederen Gerichten Vorstandsposten erhalten und damit nach der Geschäftsverteilung berufen sein, an der Verhandlung einer Sache mitzuwirken, die durch das Urteil eines höheren Gerichts unter Mitwirkung des in die untere Instanz versetzten Richters an diese zurückverwiesen worden ist. Der Richter sitzt in diesem Fall zwar nicht über sein eigenes Urteil zu Gericht, was Absatz 1 ausschließen will. An die neue Entscheidung geht er aber auch nicht allein auf Grund des Ergebnisses der neuen Hauptverhandlung (§261) heran, sondern, wenigstens in der Regel, begleitet von den Eindrücken der Rechtsmittelverhandlung. Seine Lage kann daher der des Untersuchungsrichters (Absatz 3) sehr nahekommen. Sie braucht das nicht, etwa wenn das erste Urteil lediglich wegen eines Verfahrensmangels aufgehoben worden ist. Im Regelfall indessen wird die besondere Art der richterlichen Vortätigkeit die Besorgnis der Befangenheit erregen. Weil aber der Kreis der Ausschließungsgründe geschlossen ist, ist § 22 nicht entsprechend anzu286

Dritter Abschnitt. Ausschließung und Ablehnung (Dünnebier)

§ 23 Anm. III 1

wenden (zweifelnd, aber eher wie hier OLG Hamm JMB1NRW 1966 55); es findet vielmehr Ablehnung nach § 24 Abs. 1, 2. Halbsatz, § 25 statt. In der Regel wird der Richter Anzeige nach § 30 zu machen haben. III. Ausschluß im Wiederaufnahmeverfahren (Absatz 2). 1. Mitwirkung bei der ersten Entscheidung. Die Ausschließung trifft den Richter, der bei einer Entscheidung mitgewirkt hat, die später durch einen Antrag auf Wiederaufnahme angefochten wird. Indem der Gesetzgeber das Wort „Entscheidungen" gewählt hat, trägt er der Erkenntnis Rechnung, daß nicht nur gegen Urteile (§§ 359, 362) Wiederaufnahme begehrt werden kann, sondern auch gegen Strafbefehle (§ 373a) und Strafverfügungen(2 c vor § 359; 2 zu § 373 a) sowie gegen urteilsersetzende Beschlüsse nach § 322 Abs. 1 Satz 1, § 349 Abs. 1, '2 und 4, im letzten Fall allerdings nur, wenn das Revisionsgericht nach § 354 Abs. 1 in der Sache selbst entschieden hat 1 . Gegen Einstellungsbeschlüsse (§ 153 Abs. 2, § 153 a Abs. 2, § 154 Abs. 2, § 154 b Abs. 4, § 383 Abs. 2 ist keine Wiederaufnahme zulässig 2 , ebenso nicht gegen Beschlüsse, durch die eine Gesamtstrafe gebildet wird (§ 363) 3 . Hat der Richter nicht an der (abschließenden) Entscheidung mitgewirkt, dann wird er nicht dadurch ausgeschlossen, daß er an vorbereitenden Entscheidungen oder allein an der Verhandlung (Beispiele II 1) beteiligt gewesen ist. Im Einzelfall kann darin ein Ablehnungsgrund gefunden werden. Wird ein Wiederaufnahmeantrag gegen ein Berufungsurteil gestellt, sind auch die Richter ausgeschlossen, die das amtsgerichtliche Urteil erlassen haben (Absatz 2 Satz 2). Das ist aber nicht der Fall, wenn ein nach § 322 Abs. 1 ergangener Beschluß im Wiederaufnahmeverfahren angegriffen wird, was nur dann möglich ist, wenn der Antrag auf einen Wiederaufnahmegrund gestützt wird, der in dem Beschlußverfahren selbst liegt. Das ist nur bei § 359 Nr. 3, § 362 Nr. 3 und allenfalls noch in entsprechender Anwendung von § 359 Nr. 1 (Beisp.: gefälschter Eingangsstempel) denkbar. In diesem Fall liegt der angefochtenen Entscheidung nicht die Entscheidung des unteren Rechtszuges, sondern der Vorgang der „Einlegung der Berufung" (§ 322 Abs. 1 Satz 1) zugrunde. Richtet sich der Wiederaufnahmeantrag gegen das Urteil eines Revisionsgerichts, und hat dieses über den Wiederaufnahmeantrag selbst zu entscheiden, was nur in den seltenen Fällen der § § 3 5 9 Nr. 3 und 362 Nr. 3 möglich ist (§ 367 Abs. 1), dann sind auch die Richter der Tatgerichte (erstes Gericht und, falls nicht §§ 313, 334 einschlagen, Berufungsgericht) ausgeschlossen, die Richter des Berufungsgerichts jedoch nicht, wenn sie zufolge Teilrechtskraft nur über einen Teil des Urteils entschieden haben, gegen den sich der Wiederaufnahmeantrag nicht richtet, z. B. über den allein angefochtenen Strafausspruch. Dasselbe gilt, wenn die urteilsersetzenden Beschlüsse des § 349 Abs. 2 und 4 angegriffen werden, wobei im letzten Fall in der Regel das letzte Tatgericht entscheiden wird (§ 367). Für den Beschluß nach § 349 Abs. 1 sind die gleichen Erwägungen wie für den nach § 322 Abs. 1 Satz 1 anzustellen. War das Urteil, das mit dem Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens angegriffen wird, mit der Revision angefochten worden, dann sind die Richter, die über die Revision entschieden hatten, im Wiederaufnahmeverfahren nicht ausgeschlossen (OLG Bremen NJW 1966 168); oft wird aber anzuerkennen sein, daß der Angeklagte Befangenheit befürchten könne (II 4). Nicht ausgeschlossen sind auch die Richter des Berufungsgerichts, wenn dieses nicht das mit dem Wiederaufnahmeantrag angefochtene Urteil erlassen, sondern nach § 328 Abs. 2 und 3 entschieden hat; hier wird auch in der Regel kein Grund gegeben sein, den Richter als befangen abzulehnen. Ebenfalls nicht ausgeschlossen sind Richter, die an einem Urteil mitgewirkt haben, das vom Revisionsgericht aufgehoben ist, in einem Wiederaufnahmeverfahren, mit dem das nach Aufhebung (ohne die ersten Richter) ergangene Urteil angegriffen wird (OLG Hamm NJW 1966 2073). Wenn das zweite Urteil die 1

Ebenso zu § 349 Abs. 4 OLG Braunschweig NJW 1950 36; zu § 349 Abs. 1 und 2 E b S c h m i d t , Nachtr. 9 zu § 367; zu § 349 Abs. 2 M ü l l e r - S a x 3 zu § 367; zu § 349 Abs. 2 und 4 S c h m i t t JZ 1961 17 Anm. 17. 2 OLG Bremen NJW 1959 353; OLG Hamburg JZ 1951 185; OLG Hamm NJW 1952 568; a. A. OLG Neustadt NJW 1961 2363. 3 A. A. BayObLGSt. 1955 47.

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§23 Anm. III 2 , 3

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wesentlichen und die Entscheidung tragenden Gesichtspunkte, die zu der früheren Verurteilung geführt hatten, stellenweise wörtlich, sinngemäß in vollem Umfang übernommen hat, wird aber Ablehnung wegen Besorgnis der Befangenheit begründet sein 4 . 2. Mitwirkung im Wiederaufnahmeverfahren. Der Richter ist von Entscheidungen im Wiederaufnahmeverfahren ausgeschlossen. Im Gegensatz zu Absatz 1 ist von Entscheidungen und nicht von der Entscheidung die Rede. Der Ausschluß erstreckt sich also nicht nur auf die Entscheidung in der neuen Hauptverhandlung (§ 373), sondern nach Wortlaut und Sinn des Gesetzes auch auf die Beschlüsse, ob der Antrag zulässig (§ 367; OLG Saarbrücken NJW 1965 167) und vornehmlich, ob er begründet ist (§ 370), die für das Schicksal der Wiederaufnahme oft am bedeutendsten sind. Nach dem Zweck der Vorschrift wäre es wohl unbedenklich, wenn der Richter des ersten Urteils im Wiederaufnahmeverfahren an einem Beschluß über Richterablehnung oder über die Anordnung der Untersuchungshaft mitwirkte. Es wäre aber schon bedenklich, wenn er mitentschiede, ob eine Beweisaufnahme erforderlich ist (§ 369 Abs. 1). Da dem Gesetz keine Abgrenzungsrichtlinie zu entnehmen ist, wird man es wörtlich auszulegen haben und im Wortlaut die gesetzgeberische Entscheidung finden müssen, daß von jeder Mitwirkung im Wiederaufnahmeverfahren ausgeschlossen ist, wer am ersten Urteil — und wenn das angegriffene Urteil in einer höheren Instanz ergangen ist, auch an dem ihm zugrunde liegenden Urteil der Vorinstanzen — mitgewirkt hat. Danach ist der Richter des ersten Urteils — und ihm etwa voraufgegangener Urteile — bei schlechthin allen Entscheidungen im Wiederaufnahmeverfahren ausgeschlossen, und zwar nicht nur bei den erstinstanzlichen Entscheidungen, sondern auch bei denen im Beschwerdeverfahren (OLG Bremen NJW 1966 168). 3. Entscheidung nach Zurückverweisung. Keine Wiederaufnahme ist die Verhandlung und Entscheidung nach Zurückverweisung (§ 328 Abs. 2 und 3, § 354 Abs. 2). Daher kann nach dem Gesetzeswortlaut ein Richter, der an der aufgehobenen Entscheidung mitgewirkt hat, bei der Entscheidung in der neuen Hauptverhandlung im Falle des § 328 Abs. 2 vor dem Gericht des ersten Rechtszuges oder in den Fällen des § 354 Abs. 2 vor der anderen Abteilung oder Kammer dieses Gerichts, wenn er ihr inzwischen nach der Geschäftsverteilung angehört, oder vor dem anderen Gericht teilnehmen, wenn er dorthin versetzt worden ist (OLG Celle NJW 1966 168) und ebenso vor dem Schwurgericht (vgl. BGHSt. 20 252), wenn er ihm auch in der neuen Sitzung wieder angehört. Im Falle der Zurückverweisung ist es gleichgültig, wo die neue Verhandlung stattfindet: vor einer anderen Abteilung oder Kammer des Gerichts, dessen Urteil aufgehoben worden ist (§ 354 Abs. 2, erste Alternative), vor einem zu demselben Land gehörenden anderen Gericht gleicher Ordnung (§ 354 Abs. 2, zweite Alternative), vor einem Gericht niederer Ordnung (§ 354 Abs. 3), vor dem zuständigen Gericht, wenn zuerst ein unzuständiges entschieden hatte (§ 328 Abs. 3, § 355), und in diesem Falle auch vor einem höheren erstinstanzlichen Gericht (RGSt. 31 225; Beisp.: Eine vor dem Schöffengericht verhandelte Sache ist aufgehoben und ans Schwurgericht verwiesen worden). In keinem Falle ist der Richter, der bei einer vom Revisionsgericht aufgehobenen Entscheidung mitgewirkt hat, nach Zurückweisung der Sache von der Mitwirkung bei der neuen tatrichterlichen Entscheidung kraft Gesetzes ausgeschlossen (BGHSt. 20 253; BGH NJW 1966 1718; BGHSt. 21 144; BGH NJW 1967 2217). § 354 Abs. 2 kann nicht als ein versteckter Ausschließungsgrund angesehen werden (D a h s NJW 1966 1693). Z e i t z faßt § 354 Abs. 2 unter Bezugnahme auf die Entstehungsgeschichte als Ausschließungsgrund für die Richter auf, die an dem vom Revisionsgericht aufgehobenen Urteil mitgewirkt haben; die Bestimmung müsse verstanden werden, als laute sie: „ . . . i s t die Sache an eine anders besetzte Abteilung oder K a m m e r . . . zurückzuverweisen" (DRiZ 1965 393). Die Auslegung ist nach der Entstehungsgeschichte nicht zwingend ( D a h s NJW 1966 1693; BGHSt. 21 144); zudem sind die §§ 22 und 23 abschließend. Z e i t z übersieht auch, daß der Gesetzgeber für § 328 Abs. 2 keine dem § 354 Abs. 2 entsprechende Regelung getroffen hat. Er hat sein Ziel im großen durch die Anordnung des § 354 Abs. 2 verfolgt; verbleiben Befangenheitsfalle, ist mit den für Einzelfalle geschaffenen Mitteln der § § 2 4 und 30 zu verfahren. Daß das Verfahren nach § 30 unzulässig wäre, weil nur die Auswirkung 4

In dem Falle des Oberlandesgerichts Hamm hätte der Richter nach § 3 0 verfahren müssen.

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Dritter Abschnitt. Ausschließung und Ablehnung (Dünnebier)

§ 23

Anm. III 4; IV 1 eines Gesetzes umgangen werden solle (S. 394), ist unzutreffend. Das Gesetz stellt nicht die Fiktion auf, daß ein Richter, der am aufgehobenen Urteil mitgewirkt hat und inzwischen an das Gericht gelangt ist, das nun in der Sache zu entscheiden hat, dem Angeklagten als unbefangen zu erscheinen habe. 4. Ablehnungsgrund. Gegen die Mitwirkung desselben Richters in der neuen Verhandlung bestehen im Falle des § 328 Abs. 2 keine Bedenken. Das ist auch nicht immer der Fall, wenn eine Sache aus der Revisionsinstanz zurückverwiesen wird. Lag der Zurückverweisung ein Rechtsirrtum, ein nicht auf die Beweiswürdigung bezüglicher Prozeßverstoß oder gar eine Gesetzesänderung nach dem Urteil zugrunde, besteht kaum Veranlassung, Befangenheit des Richters zu besorgen, der an dem ersten Urteil mitgewirkt hatte. Das kann aber der Fall sein, wenn der Vorderrichter Denkgesetze nicht beachtet, Beweise nicht erhoben oder andere Fehler gemacht hat, die sich auf die Tatsachenfeststellung und die Beweiswürdigung auswirken, oder wenn er im Strafmaß mit mangelhafter Begründung grob von dem für gleiche Fälle Üblichen abgewichen ist. Dann entspricht seine Mitwirkung nicht der Absicht des Gesetzgebers. Nach dieser sollte die Sache zufolge der Verweisung an die Kammer „grundsätzlich an andere Richter gehen" (Abg. Dr. K a n k a , BTProt. IV 6470 A); der Angeklagte sollte nicht „vor denselben Richtern stehen" (Bundesminister Dr. B u c h e r , BTProt. IV 6471C). Daher wird eine Ablehnung wegen Besorgnis der Befangenheit begründet und wird, wenn keine Ablehnung angebracht wird, nach § 30 zu verfahren sein, wenn dem Gericht, das über eine zurückverwiesene Sache verhandelt, ein Richter angehört, der an der Entscheidung in der ersten Verhandlung mitgewirkt hatte, falls das aufhebende Urteil Beanstandungen erhebt, die sich auf die Tatsachenfeststellung, die Beweiswürdigung oder die Behandlung der Straf- oder Maßregelfrage im ersten Urteil beziehen. Die Rechtsprechung erkennt zwar an, daß das Gesetz erstrebe, die Sache solle vor andere Richter kommen (BGH N J W 1966 1718; BGHSt. 21 144; O L G H a m m N J W 1966 362), zieht aber daraus nicht den Schluß, daß der Richter allein wegen seiner Mitwirkung bei der früheren Entscheidung in bezug auf die Mitwirkung bei der neuen Entscheidung ausgeschlossen sei (BGHSt. 21 142; B G H N J W 1967 2217; BGHSt. 21 342; B G H G A 1968 372). Im Grundsatz kann dieser abstrakten Formulierung kaum widersprochen werden ( K e r n - R o x i n § 9 II 2), doch ist eine differenziertere Betrachtung (und Darstellung der Sachverhalte) zu verlangen. Dann wird sich herausstellen, daß die Fälle, in denen der Angeklagte zu Recht Befangenheit besorgen kann (LG Münster N J W 1966 1723), wohl zahlreicher sind als die, wo eine solche Besorgnis unbegründet ist. Daher wird nach § 30 zu verfahren sein, wenn dem Gericht, das über eine zurückverwiesene Sache verhandelt, ein Richter angehört, der an der Entscheidung in der ersten Verhandlung mitgewirkt hatte, falls das aufhebende Urteil die Tatsachenfeststellung, die Beweiswürdigung oder die Behandlung der Straf- oder Maßregelfrage im ersten Verfahren beanstandet. Die Ansicht, daß ein Fall der Verhinderung (§ 63 Abs. 1 Satz 1 GVG) vorliege, und der Richter schlicht durch seinen Vertreter ersetzt werden könne 5 , findet in keiner gesetzlichen Bestimmung eine Stütze 6 . Der Richter ist nicht verhindert, sondern kann — und auch nicht in allen Fällen — vom Standpunkte des Angeklagten aus als befangen erscheinen. Ob das der Fall ist, darf nur in den ordentlichen Verfahren der §§ 2 7 , 3 0 entschieden werden. IV. Ausschluß des UntersucKiingsrichters (Absatz 3). 1. Inhalt. Die Fassung von Absatz 3 beruht, soweit sie die von der Strafkammer außerhalb der Hauptverhandlung zu erlassenden Beschlüsse betrifft, auf einem Redaktionsversehen, das leider auch durch das Strafprozeßänderungsgesetz nicht beseitigt worden ist. Die Worte „geführt hat" scheinen den Untersuchungsrichter erst nach Abschluß der Voruntersuchung von der Mitwirkung an Beschlüssen auszuschließen, die die Strafkammer außerhalb der Hauptverhandlung erläßt. Das kann, da die Strafkammer die Beschwerdeinstanz über den Untersuchungsrichter ist (§ 73 Abs. 1, 2. Halbsatz GVG), auch für die Fälle nicht der Sinn der Bestimmung sein, in denen nicht eine Entscheidung des Unter5 6

M ü l l e r - S a x 6d Abs. 4 zu § 354. Ebenso D a h s NJW 1966 1967; H a n a c k NJW 1967 580.

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§23 Anm. IV 2

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

suchungsrichters (Absatz 1), sondern die Voruntersuchung selbst Gegenstand der Entscheidung der Strafkammer ist (z.B. beim Beschluß über den Antrag auf Ergänzung der Voruntersuchung; § 183). Auch nach den Motiven ( H a h n 1 90) sollte der Untersuchungsrichter schon während der Voruntersuchung von allen Strafkammerbeschlüssen ausgeschlossen sein, weil er sonst „leicht einen überwiegenden Einfluß auf die Entscheidung ausübt". Danach ist Absatz 3 dahin zu verstehen, daß der Untersuchungsrichter an der Hauptverhandlung, an Beschlüssen der Strafkammer während der Voruntersuchung, an Beschlüssen der Strafkammer nach der Voruntersuchung bis zur Eröffnung des Hauptverfahrens und weiter solange nicht teilnehmen darf, als die Strafkammer erkennendes Gericht ist. Entscheidungen der Strafkammern sind auch prozeßleitende und sonstige Verfügungen des Vorsitzenden, wie die Terminsbestimmung und Ladungen (BGH LM 1 zu § 23). 2. Untersuchungsrichter. Der Untersuchungsrichter ist ausgeschlossen, weil er die Untersuchung durch erschöpfende Ermittlungen nach selbständigen Entschließungen und nach einem von ihm entworfenen und durchdachten Plan zu führen hat und daher wegen seiner Mitwirkung bei gerichtlichen Entscheidungen Besorgnis der Befangenheit besteht (RGSt. 4 344, 60 324, 68 376; BGHSt. 9 234). Von diesem Gedanken aus und weil die Vorschrift eine Ausnahme von dem Grundsatz enthält, daß alle richterlichen Handlungen miteinander vereinbar sind, ist der Begriff streng auf die im Gesetz genannten Fälle zu beschränken. Danach sind Untersuchungsrichter: der Untersuchungsrichter des § 61 Abs. 1 GVG, der Amtsrichter, dem die Führung der Voruntersuchung übertragen worden ist (§ 185); der Untersuchungsrichter bei dem Oberlandesgericht (§ 186 Abs. 1), sowie deren Vertreter (RGSt. 4 344, 18 270), gleichviel ob sie auf Antrag (§ 179) oder in dringenden Fällen von Amts wegen (§191) tätig werden (RGSt. 68 375). Absatz 3 ist unanwendbar auf die Mitglieder des Gerichts, das für die nach § 73 Abs. 1, § 120 Abs. 1 Satz 2, § 134 Abs. 3 Satz 1 GVG zu erlassenden Entscheidungen zuständig ist. Dahin gehören u.a. die Ablehnung des Antrags auf Eröffnung der Voruntersuchung (§ 180 Abs. 1), die Übertragung der Voruntersuchung auf einen Amtsrichter (§ 185 Satz 1), die Gewährung sicheren Geleits (§ 295 Abs. 1; RGSt. 59 102). In diesen und ähnlichen Fällen sind — was eigentlich selbstverständlich ist — die mitwirkenden Richter Mitglieder der Strafkammer und nicht Untersuchungsrichter. Die Vorschrift ist ferner unanwendbar auf den Amtsrichter, der auf Antrag der Staatsanwaltschaft (§ 162 Abs. l;BayObLGSt. 1954 158 = NJW 1955 395) oder bei Gefahr im Verzuge (§ 165) oder des Beweisverlusts (§ 166 Abs. 1) aus eigenem Entschluß oder auf Ersuchen eines anderen Amtsrichters (§ 166 Abs. 2) oder des Untersuchungsrichters (§ 185 Satz 2; RGRspr. 7 304; RGSt. 68 377) Ermittlungen durchgeführt hat. Sie ist endlich unanwendbar auf den Richter, der nach § 202 Abs. 1 einzelne Beweiserhebungen angeordnet oder durchgeführt (BGHSt. 9 233), auf Antrag oder Ersuchen des erkennenden Gerichts Untersuchungshandlungen nach § 223 Abs. 1 und 2 betrieben (RGRspr. 2 360; RGSt. 30 400) oder im Wiederaufnahmeverfahren (§ 369 Abs. 1) Beweise erhoben hat (BGH NJW 1954 891), sowie auf einen Richter, der den Angeklagten nach Eröffnung des Hauptverfahrens, wenn auch unzulässigerweise, vernimmt (RGSt. 60 324). Bei allen Vernehmungen kommt es nicht auf den Umfang an (BGHSt. 9 235). Daher ist es unschädlich, wenn die Untersuchungshandlungen eines ersuchten Richters die gesamte Beweisaufnahme erschöpfen (RGRspr. 7 302) 7 . Ist Befangenheit zu besorgen, muß nach §§ 24, 30 verfahren werden. Wird der Richter als Zeuge vernommen, scheidet er deshalb als Richter aus. Bei den ausreichenden Aushilfsmöglichkeiten des Gesetzes besteht kein Anlaß, die Grenzen zu verwischen, die § 23 zieht. Ein Richter, der im ehrengerichtlichen Verfahren gegen einen Rechtsanwalt die Voruntersuchung geführt hat, ist im Strafverfahren auch dann nicht vom Richteramt ausgeschlossen, wenn beiden Verfahren derselbe geschichtliche Vorgang zugrunde liegt (RG JW 1936 2143). Der standesrechtliche Vorwurf ist von dem strafrechtlichen verschieden. Doch ' S c h o r n will den Amtsrichter, der nach § 165 tätig wird, schlechthin und den beauftragten und ersuchten Richter dann ausschließen, wenn er dem Protokoll Bemerkungen über eigene Beobachtungen beigefügt hat (S. 273, 274). Aber weder die Selbständigkeit der Tätigkeit des Amtsrichters noch ein Protokollzusatz kann einen Richter zum Untersuchungsrichter machen. Der Begriff ist eindeutig und im Gesetz festgelegt.

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Dritter Abschnitt. Ausschließung und Ablehnung (Dünnebier)

§ 23 Anm. IV 3 , 4

wird die Anzeigepflicht nach § 30 besonders sorgfaltig zu prüfen und in der Regel anzuerkennen sein, daß der Angeklagte Befangenheit besorgen dürfe. 3. Führung der Voruntersuchung. Aus der Erwägung, daß der Untersuchungsrichter wegen seiner umfassenden, planmäßig durchgeführten Ermittlung ausgeschlossen ist, ergeben sich folgende Grenzen des Begriffs: Der Untersuchungsrichter muß mindestens eine (RGSt. 28 358) Amtshandlung vorgenommen haben, um den Tatbestand festzustellen oder Beweise zu sammeln, namentlich also den Angeschuldigten, einen Mitangeschuldigten, einen Zeugen oder Sachverständigen vernommen oder Augenschein eingenommen haben (RGSt. 9 287, 18 269, 21 286, 54 317). Es genügt, wenn er Beweise ermittelt, sie zu erheben veranlaßt und die Ergebnisse geprüft hat (RG GA 39 63). Zu der Tätigkeit als Untersuchungsrichter gehören auch die Untersuchungshandlungen nach § 191 Abs. 1 (RGSt. 68 376; R G JW 1933 1663) und Untersuchungen, die er nach Schluß der Voruntersuchung, aber vor Eröffnung des Hauptverfahrens angestellt hat (RGSt. 4 344). Sind mehrere Untersuchungsrichter nacheinander in der Sache tätig gewesen, so sind sie sämtlich ausgeschlossen. Zuweilen nimmt ein Untersuchungsrichter — sei es, weil er nur stellvertretend tätig wird, sei es, weil er die Sache dann abgibt — nur die eine oder andere Handlung vor. Das hat Veranlassung zu einer nicht immer befriedigenden Kasuistik über den Begriff des „Führens" der Voruntersuchung gegeben: So ist es als unschädlich angesehen worden, wenn der Richter angeordnet hatte, daß die Untersuchungshaft fortzudauern habe (RGSt. 9 285, 61 415); wenn er einen Vernehmungstermin bestimmt, die Vorführung des Angeschuldigten (RG JW 1923 19), seine Ladung (RGRspr. 3 155) oder die von Zeugen (RGRspr. 3 155) oder von Sachverständigen (RGRspr. 2 51) angeordnet hatte; wenn er Strafregisterauszüge und Auskünfte über die persönlichen Verhältnisse des Angeschuldigten beigezogen hatte (RG H R R 1932 688); wenn er einen Antrag des Verurteilten, ihm Schreibmaterial auszuhändigen oder einen Verteidiger beizuordnen, entgegengenommen hatte (RGSt. 2 314); wenn er dem Verteidiger mitgeteilt hatte, daß die Voruntersuchung wieder eröffnet sei, Akteneinsicht nicht gewährt, einen Brief nicht befördert (RG Recht 1912 3160), Akten der Strafkammer oder dem Staatsanwalt vorgelegt, den Verkehr eines verhafteten Gefangenen überwacht und Verfügungen nach § 119 Abs. 6 Satz 1 getroffen hatte ( C u n o 29). Die Rechtsprechung bedarf nach der II 2 zu § 22 angestellten Untersuchung der Überprüfung. Zwar kann sicher die Entgegennahme von Anträgen nicht zum Ausschluß führen, weil das keine richterliche Tätigkeit ist. Die Ladung des Angeklagten, von Zeugen und Sachverständigen setzt aber wohl voraus, daß der Untersuchungsrichter sich einen Plan gemacht hat, nach dem er — gegen den Angeschuldigten — vorgeht. Sie schließt daher den Richter aus, auch wenn er sonst keine weiteren Maßnahmen getroffen hat. Haftkontrollen und Verfügungen nach § 119 Abs. 6 Satz 1 dagegen sind nicht Ausfluß eines Ermittlungsplanes; die Anordnung, daß die Untersuchungshaft fortzudauern habe, braucht es nicht, kann es aber sein 8 . 4. Eröffnung und Schließung der Voruntersuchung. Der Ausschlußgrund ist nicht gegeben, wenn der Untersuchungsrichter die Voruntersuchung lediglich eröffnet (§ 184) hat, ein Fall, dem besonders dann Bedeutung zukommt, wenn die Voruntersuchung, nachdem der Untersuchungsrichter sie eröffnet hat, einem Amtsrichter übertragen wird (§ 185 Satz 1). Allerdings sollte das nicht daraus hergeleitet werden, daß das Gesetz das Führen der Voruntersuchung deren Eröffnung gegenüberstellt (§ 184), woraus folge, daß das Eröffnen nicht zum Führen der Voruntersuchung, das allein ausschließt, gehöre 9 . Das würde auf das Wort und nicht auf Sinn und Inhalt des Gesetzes abstellen. Die herrschende Meinung (BGHSt. 9 234) 10 ist vielmehr deshalb begründet, weil bei der Eröffnung der Voruntersuchung nur die Zuständigkeit geprüft wird, die Tatfrage aber unberührt bleibt (§ 180 Satz 1). 8

A. A. - Anordnung der Haftfortdauer schließt nicht aus - BGHSt. 9 234; - Erlaß eines Haftbefehls während der Voruntersuchung tut es stets — P e t e r s § 20 II 3 c. ' R G S t . 9 285; R G G A 70 1 3 8 ; R G J W 1923 19; 1928 1145; RGSt. 61 415. 10 Ebenso E b S c h m i d t 7; M ü l l e r - S a x 4b; K l 4 B; a. A. P e t e r s § 20 II 3c.

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§23 Anm. IV 5 , 6

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

Zum Führen der Voruntersuchung gehört es, daß sie geschlossen wird, und daß vorher die Akten der Staatsanwaltschaft übersandt werden (§ 197 Abs. 1). Beide Akte setzen voraus, daß der Untersuchungsrichter den Zweck der Voruntersuchung für erreicht erachtet. Selbst wenn er als Nachfolger eines ausgeschiedenen Untersuchungsrichters in eine ^Voruntersuchung eingetreten ist, deren Ermittlungen abgeschlossen sind, kann er jene Uberzeugung nur erlangen, wenn er planmäßig die Beweise und die Lückenlosigkeit der Ermittlungen seines Vorgängers prüft. Auch die Aktenübersendung ist daher niemals 11 eine „rein formale Verfügung", sondern wie der Schluß der Voruntersuchung selbst ein besonders wichtiger Teil von ihr (C u n o 43) n . Das Reichsgericht hat zwar den Schluß der Voruntersuchung dem Führen der Untersuchung gegenübergestellt und Absatz 3 nur auf die letztere Tätigkeit bezogen (RGSt. 21 285; LZ 1921 314)13. Diese Unterscheidung ist indessen formal; sie läßt außer Betracht, daß die vom Gesetz (§ 197 Abs. 1, erster Halbsatz) vorgeschriebene, notwendig umfassende, Beweiswürdigung und Prüfung, ob die Ermittlungen vollständig sind, leichter den Verdacht der Befangenheit erwecken können als einzelne Untersuchungshandlungen 14 . 5. Wegen des Begriffs „Sache" s. II 1 zu § 22. Danach ist Sache das Strafverfahren wegen derselben Tat i. S. des § 264 gegen dieselbe Person 15 . Demzufolge ist der Untersuchungsrichter in dem Verfahren gegen Anstifter, Gehilfen, Begünstiger und Hehler nicht ausgeschlossen, wenn er die Voruntersuchung nur gegen den Täter geführt hat (RGSt. 54 317). Ebenso kann er an der Hauptverhandlung gegen den Mittäter B mitwirken, wenn er die Voruntersuchung gegen A geführt hat, dieser außer Verfolgung gesetzt worden ist, und gegen B keine Voruntersuchung stattgefunden hat (RGSt. 62 314). Wird dagegen die Voruntersuchung gegen mehrere Personen geführt, dann ist der Untersuchungsrichter in der Hauptverhandlung gegen alle ausgeschlossen (RGSt. 54 317), auch wenn er unmittelbar nur gegen solche Angeschuldigte ermittelt hat, die später außer Verfolgung gesetzt worden sind (RG GA 58 455). Auch hat, weil nach Verbindung mehrerer Strafsachen nur noch eine besteht, die Verbindung des Verfahrens, in dem der Richter die Voruntersuchung geführt hatte, mit anderen gegen denselben Täter gerichteten, in denen der Untersuchungsrichter nicht tätig war, zur Folge, daß der Richter, der in der einen Sache die Voruntersuchung geführt hatte, nunmehr für die neue Sache ausgeschlossen ist (RGSt. 57 248). Dieselbe Sache liegt auch vor, wenn der Untersuchungsrichter eine Voruntersuchung geführt hat, in der Hauptverhandlung Freispruch ergangen ist, und der Freigesprochene aufgrund der von einem anderen Untersuchungsrichter geführten neuen Voruntersuchung (irrtümlich) erneut angeklagt worden ist. Denn seinem Inhalte nach ist das neue Verfahren dasselbe wie das frühere, und die erste Voruntersuchung daher eine in der zweiten Sache (RG JW 1913 1002). 6. Ausschluß. Liegen die Ausschließungsvoraussetzungen vor, ist der Untersuchungsrichter von jeder Mitwirkung im erkennenden Gericht (6, 7 zu § 28) in allen Rechtszügen, also auch in der Revisionsinstanz (OLG Schleswig SchlHA 1958 318), selbst dann ausgeschlossen, wenn keine Sachentscheidung getroffen werden kann, sondern das Verfahren einzustellen ist (RG GA 60 421). Von Strafkammerentscheidungen ist er ausgeschlossen von dem Augenblick an, wo er nach Eröffnung der Voruntersuchung die erste dem Untersuchungsplan entsprechende Handlung vorgenommen hat. Für die während der Voruntersuchung und nach ihr verbotenen Mitwirkung bei der Strafkammer enthält das Gesetz — 11

wie E b S c h m i d t ( 7 ) annimmt. Für den Schluß der Voruntersuchung ebenso F e i s e n b e r g e r 7 Abs. 2; E b S c h m i d t 7; P e t e r s § 2 0 II 2c. 13 Zust. M ü l l e r - S a x 4 b ; Kl 4 B; Erbs II 2. 14 Die RGSt. 21 285 angeführten Entscheidungen RGSt. 9 287 und RGSt. 18 271 enthalten keine Gedanken, die auf das Wesen des Abschlusses der Voruntersuchung eingehen. 15 Ebenso v. B e l i n g JW 1929 1037; C u n o 34; Kl 4 C; a. A. - Sache ist das Strafverfahren über eine Tat i. S. des § 264 ohne Rücksicht auf die in den verschiedenen Verfahrensabschnitten ins Auge gefaßten Personen — E b S c h m i d t 14; M ü l l e r - S a x 4 e . 12

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Dritter Abschnitt. Ausschließung und Ablehnung (Dünnebier)

§ 24 Anm. 1,2

über den Gesetzeszweck hinausgehend — keine Einschränkung. Der Untersuchungsrichter ist daher z.B. ausgeschlossen bei der Entscheidung über das einen anderen Richter betreffende Ablehnungsgesuch (§ 27 Abs. 1; K G GA 59 169), über das dem abwesenden Beschuldigten zu erteilende sichere Geleit 16 und bei der nachträglichen Bildung einer Gesamtstrafe, wenn das Gericht entscheidet, das die Hauptverhandlung unter Ausschluß des früheren Untersuchungsrichters geführt hat. Jedoch kann der Richter, der in einer vorher rechtskräftig abgeurteilten Sache die Voruntersuchung geführt hatte, an der Verhandlung einer anderen Sache teilnehmen, bei der die in der früheren Sache erkannte Strafe in eine neugebildete Gesamtstrafe einbezogen wird (RG Recht 1922 149).

§24 (1) Ein Richter kann sowohl in den Fällen, in denen er von der Ausübung des Richteramtes kraft Gesetzes ausgeschlossen ist, als auch wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt werden. (2) Wegen Besorgnis der Befangenheit findet die Ablehnung statt, wenn ein Grund vorliegt, der geeignet ist, Mißtrauen gegen die Unparteilichkeit eines Richters zu rechtfertigen. (3) Das Ablehnungsrecht steht der Staatsanwaltschaft, dem Privatkläger und dem Beschuldigten zu. Den zur Ablehnung Berechtigten sind auf Verlangen die zur Mitwirkung bei der Entscheidung berufenen Gerichtspersonen namhaft zu machen. Schrifttum: A r z t , Der befangene Strafrichter (1969); O h a i n , Die Ablehnung eines Richters wegen Besorgnis der Befangenheit aus politischen Gründen, Diss. Freiburg 1932; S c h o r n , Die Ablehnung eines Richters im Strafprozeß in Rechtsprechung und Schrifttum, GA 1963 161; S e i b e r t , Befangenheit und Ablehnung, JZ 1960 85; T e p l i t z k y , Probleme der Richterablehnung wegen Befangenheit, NJW 1962 2044; Die Richterablehnung wegen Befangenheit, JuS 1969 318; Auswirkung der neueren Verfassungsrechtsprechung auf Streitfragen der Richterablehnung wegen Befangenheit, MDR 1970 106; W a s s e r m a n n , Richterablehnung wegen Befangenheit, NJW 1963 429. 1. Ausgeschlossener Richter. Ein Richter kann sowohl wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt werden, als auch, wenn er kraft Gesetzes ausgeschlossen ist. Im letzten Falle bedarf es der Ablehnung an sich nicht. Wenn sie ausdrücklich auch hierfür zugelassen ist, „so liegt die Bedeutung dieser Bestimmung darin, daß auch über die Behauptung eines Beteiligten, es liege ein Fall der Ausschließung vor, in dem in diesem Abschnitt geordneten Verfahren verhandelt und entschieden werden soll" (Mot. H a h n 1 90). Wählt der Ablehnungsberechtigte — statt sich auf die Anregung zu beschränken, die Frage der Ausschließung von Amts wegen zu prüfen (III 2 zu § 22) — diesen Weg, um einen Ausschließungsgrund geltend zu machen, dann finden nicht nur die auf das Verfahren bezüglichen Bestimmungen des § 27 und des § 26 Abs. 1 Anwendung. Vielmehr muß der Ablehnende, wenn er die Vorteüe des Verfahrens erlangen will, auch die Last der Glaubhaftmachung (§ 26 Abs. 2) auf sich nehmen (a. A. S c h o r n 279), wobei freilich gewisse Erleichterungen gelten (5 Abs. 2 zu § 26). Mit der Ablehnung im förmlichen Verfahren tritt auch die Folge des § 29 ein (2 und 5 zu § 29). 2. Befangenheit ist, wie sich aus dem Sinn und den Vorläufern der Vorschrift ( H a h n 1 82 ff) ergibt, die Befangenheit des Richters, nicht etwa 1 die des Angeklagten ( T h i l o 2). Die Befangenheit ist ein innerer Zustand des Richters, der seine vollkommen gerechte, von jeder falschen Rücksicht freie Einstellung zur Sache beeinträchtigen kann. Dieser Zustand kann in der Regel nicht bewiesen werden. Die Ablehnung ist daher schon dann begründet, wenn der Ablehnende einen vernünftigen Grund zu der Annahme hat, daß der Richter befangen sei (RGSt. 55 57, 60 44, 61 69; R G JW 1912 943; R G GA 71 132). Dabei kommt es nicht darauf an, wie ein der Sache fernstehender Mensch die Sachlage beurteilt; aus16

§ 295 Abs. l ; C u n o 3 3 ; E b S c h m i d t 8 . ' So wohl nur mißverständlich, von A r z t (3) freilich als schönes Wortspiel aufgefaßt, RGSt. 61 71.

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§24 Anm. 3

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

schlaggebend ist vielmehr, ob die Umstände dem Beschuldigten von seinem Standpunkt aus begründeten Anlaß geben, an der Unparteilichkeit des Richters zu zweifeln (RGSt. 61 69; BGHSt. 1 36; 23 285). Freilich kann, nicht nur aus Gründen der Prozeßökonomie, sondern um Willkür und Mißbrauch zu verhindern, nicht auf einen objektiven Maßstab verzichtet werden, was sich schon aus dem Wort rechtfertigen ergibt. Die Rechtsprechung findet ihn mit Recht in der „verständigen Würdigung". Die verständige Würdigung ist die, die ein vernünftig denkender Mensch (BayObLG Recht 1915 581), ein unbefangener Dritter (BGH JR 1957 68), anstellen würde, wenn er der Angeklagte in der konkreten Situation wäre (abl. A r z t 23 mit Modifikationen 29). Von diesem Standpunkt aus müssen die Ablehnungsgründe auch dem Gericht gerechtfertigt erscheinen (RG GA 71 132). Bei seiner Entscheidung hat das Gericht nicht nur das Vorbringen des Ablehnenden, sondern alle Umstände (RGSt. 58 287, 61 69) zu berücksichtigen (RGSt. 60 44; R G DRiZ 1927 423), namentlich auch die dienstliche Äußerung des Richters (§ 26 Abs. 3). Soweit zu der Prüfung, ob Befangenheit anzunehmen ist, Rechtsprechung verglichen wird, muß jede Verallgemeinerung einer, oft nur scheinbar, einschlägigen Entscheidung vermieden werden, weil bei ähnlichen Sachverhalten oft feinste Abweichungen zu verschiedenen Ergebnissen führen. Zuweilen beruhen im Leitsatz allgemein gehaltene Erkenntnisse in Wirklichkeit nur auf besonderen Umständen. Ist die Besorgnis der Befangenheit aus politischen Verhältnissen hergeleitet worden, darf auch die Zeit, in der die einschlägige Entscheidung gefällt worden ist, und die, in der die neue zu treffen ist, nicht außer Betracht bleiben: Wer in ruhigen Zeiten tolerant und objektiv ist, kann, wenn schwere Auseinandersetzungen toben, seine Unbefangenheit verlieren; der Beschuldigte, der in ungestörten Verhältnissen politisches Andersdenken als selbstverständlich hinnimmt, kann daraus in Krisenzeiten bei besonderen Verhältnissen die Besorgnis der Befangenheit herleiten. 3. Vortätigkeit. a) Befangenheit verneint. Da das Gesetz mehrfach Zwischenentscheidungen des Richters verlangt, die eine Vorprüfung der Schuldfrage zum Inhalte haben, ist Vortätigkeit des Richters, wenn sie der Gesetzgeber nicht zum Ausschließungsgrund erhoben hat (§ 23), im allgemeinen kein Ablehnungsgrund, sofern zu ihr nicht besondere Umstände hinzukommen und die Besorgnis der Befangenheit begründen (BGHSt. 21 343). So kann ein Richter nicht allein wegen eines sachlichen Verhaltens in einem früheren Verfahren — mag es auch mit dem neuen in Zusammenhang stehen (OLG Düsseldorf JMB1NRW 1959 247) und den gleichen Sachverhalt betreffen - abgelehnt werden (RGSt. 59 410; BGHSt. 21 341, 342), selbst wenn dabei ein Prozeßverstoß unterlaufen ist (RGSt. 65 41: Teilnahme eines Ergänzungsrichters an Zwischenberatungen). Hat sich der Richter in einem Vorprozeß, etwa einem vorangegangenen Zivilverfahren, eine endgültige Überzeugung gebildet, so wird die Befangenheit oft zu bejahen sein, aber nicht allgemein (BGHSt. 21 341) 2 . Auf jeden Fall vermag die dienstliche Beteiligung eines Richters an Prozeßvorgängen, die der in Rede stehenden Diensthandlung voraufgegangen sind, auch dann nicht die Besorgnis der Befangenheit zu begründen, wenn sie wie der Erlaß eines Haftbefehls, die Ablehnung der Haftentlassung nach Aufhebung des Urteils im Strafausspruch ( M a r t i n DRiZ 1962 156), die Anordnung der Durchsuchung oder Beschlagnahme, die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis, die Unterbringung in einer Heil- oder Pflegeanstalt oder wie die Eröffnung des Hauptverfahrens mit der zu treffenden Entscheidung enge Berührung haben (BGHSt. 15 46). Ein verständiger Angeklagter wird von der Erwägung ausgehen, daß ein Richter sich von Befangenheit frei hält und sich nicht durch jene dienstlichen Erlebnisse in seiner Entscheidung beeinflussen läßt (BGHSt.9 234) 3 . Auch dem Angeklagten nachteilige Entscheidungen (RGRspr. 4 529; RGSt. 59 410; R G DRiZ 1929 204; R G GA 71 132), selbst geringfügige Prozeßverletzungen (RG DRiZ 1927 422: Ortsbesichtigung nur durch die richterlichen Mitlgieder des Schwurgerichts und den Staatsanwalt) und rechtsirrige Beurteilung (BGH GA 1961 115; die Einlassung des Angeklagten rechtlich unrichtig beurteilende Eröffnung des Hauptverfahrens) begründen allein noch nicht die Ablehnung. Dasselbe gilt, 2 3

A. A. — Mitwirkung im Vorprozeß macht regelmäßig befangen — T e p 1 i t z k y NJW 1962 2044. RGSt. 58 287,59 409, 60 4 7 , 6 1 68,62 299,65 43.

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Dritter Abschnitt. Ausschließung und Ablehnung (Dünnebier)

§ 24 Anm. 3

wenn der Richter gelegentlich sein vorläufiges Urteil über die Prozeßaussichten nach dem jeweiligen Stande des Verfahrens bekanntgibt (BGH GA 1962 282; OLG Hamm GA 1958 58: Rat, den Einspruch gegen Strafbefehl wegen geringer Erfolgsaussicht zurückzunehmen; OLG Köln JMB1NRW 1956 284: Untersuchungsrichter gibt zu erkennen, daß er den Angeschuldigten für schuldig hält), selbst wenn er dabei eine Änderung seiner Rechtsansieht kundtut (BGH NJW 1962 749). Es begründet auch keinen Unterschied, wenn er das außerhalb des Gerichtssaals gegenüber einem Dritten tut, mag auch eine solche „Stilwidrigkeit" unerwünscht sein (BGHSt. 21 86: Geschworener in einem Ladengeschäft mit der unerbetenen Meinung behelligt, der Angeklagte könne nicht verurteilt werden, antwortet: „Das glauben Sie"). Auch die Tatsache, daß ein Laienrichter Presseveröffentlichungen gelesen hat, in denen das Ergebnis der Beweisaufnahme „vorweggenommen" worden ist, kann für sich allein kein Mißtrauen gegen seine Unbefangenheit rechtfertigen (BGHSt. 22 294). Noch weniger kann die Tatsache, daß der Richter als unbeteiligter Zuhörer Zeuge eines Meineides geworden ist, ihn befangen machen, diesen abzuurteilen (RGSt. 58 287). Da das Gesetz aus der Eröffnung des Hauptverfahrens keine Vermutung der Befangenheit herleitet, ist grundsätzlich die Ablehnung auch dann nicht begründet, wenn das Gericht im Falle des § 208 das Hauptverfahren entgegen dem Antrage der Staatsanwaltschaft eröffnet hat (BGHSt. 15 40). Alsdann kann auch die Mitwirkung an dem Beschluß, daß die öffentliche Klage zu erheben sei (§ 175 Satz 1), in der Regel keinen Grund zur Ablehnung geben. Das gilt jedenfalls dann, wenn das Gericht von der Staatsanwaltschaft nur in Rechtsfragen abgewichen ist, oder wenn das oberlandesgerichtliche Verfahren neues Beweismaterial zutage gefördert hat. Hat jedoch das Oberlandesgericht die tatsächlichen Ergebnisse zu Ungunsten des Angeklagten abweichend von der Ansicht der Staatsanwaltschaft gewürdigt, wird in der Regel Besorgnis der Befangenheit anzunehmen sein. Das gewinnt sowohl Bedeutung, wenn ein Richter des Oberlandesgerichts in der Tatsacheninstanz, etwa als Vorsitzender des Schwurgerichts, zur Entscheidung berufen ist (RGSt. 19 341), als auch wenn Richter, welche die Erhebung der Klage angeordnet hatten, dann über eine Revision gegen das auf die Anklage ergangene Urteil zu entscheiden haben. Weicht das Gericht bei der Beurteilung der Beweise zum Nachteil des Angeklagten stark von der Ansicht der Staatsanwaltschaft ab, dann kann Befangenheit auch bei der oben behandelten Eröffnung nach § 208 zu besorgen sein. Ist das der Fall, wird es in beiden Fällen Pflicht der Richter sein, nach § 30 zu verfahren. b) Befangenheit bejaht. Dagegen ist Besorgnis der Befangenheit begründet, wenn das Gericht ohne prozessuale Veranlassung über die Schuldfrage berät und der Vorsitzende, um die Zurücknahme der Berufung zu erreichen, dem Angeklagten bekanntgibt, daß das Gericht einstimmig von seiner Schuld überzeugt sei4. Ebenso ist Befangenheit zu bejahen, wenn das Gericht ohne prozessuale Notwendigkeit bei unsicherer Beweisgrundlage in sicherer Form seine Überzeugung von der Schuld zum Ausdruck bringt (BGH GA 1962 282). Besorgnis der Befangenheit liegt ferner vor, wenn der Richter vor dem Termin allein aufgrund der Akten dem Angeklagten eröffnet, für das Gericht stehe fest, daß er der Typus des Gewohnheitsverbrechers sei (BGH MDR 1961 432) oder die dem Angeklagten zur Last gelegten Vorgänge der Presse als feststehende Tatsachen mitteilt (BGHSt. 4 264); wenn ein Schöffe bei dem Hinweis des Richters, für einen bestimmten Vorwurf komme es darauf an, ob der Angeklagte mit verkehrswidrigem Verhalten von Kindern habe rechnen müssen, einwirft: „Eigentlich müßte er" (OLG Hamm JMB1NRW 1968 68); wenn der Richter im Prozeß auf einen Zeugen einwirkt, von seinem Zeugnisverweigerungsrecht keinen Gebrauch zu machen (BGHSt. 1 37), oder den Angeklagten durch ungewöhnlich scharfe Worte zu einer Schilderung des Tathergangs drängt (BGH NJW 1959 55), das Verhalten bei der Tat mit starken Worten und abwegigen Vergleichen („Fahrweise wie auf einem Rummelplatz") kennzeichnet, oder wenn er vor dem Prozeß auf umlaufende Gerüchte in der Öffentlichkeit („Zigarrengeschäft") erklärt, als Richter werde er wissen, wie er derartige unsaubere Geschäfte zu bestrafen habe (RGSt. 61 67). Hat der Richter in einem Vorprozeß einen Zeugen wegen Unglaubwürdigkeit nicht vereidigt, das Berufungsgericht aber die Vereidigung angeordnet, so ist er in einem nachfolgenden Meineidsprozeß befangen (RGSt. 59 410). 4

v. B e l i n g J W 1926 1209; a. A. RGSt. 60 45.

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§24 Anm. 4, 5

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

Ebenso ist er, wenn er als Richter des Vorprozesses den Angeklagten wegen Prozeßbetruges oder einen Zeugen wegen Meineids angezeigt hat, in dem durch die Anzeige ausgelösten Strafverfahren stets als befangen anzusehen. 4. Vollstreckungsrichter. Der Amtsrichter als Vollstreckungsgericht (§ 462 Abs. 1) ist nicht deshalb vom Richteramt ausgeschlossen, weil er vorher in der gleichen Sache als Vollstreckungsbehörde (§ 451 Abs. 3; § 5 Abs. 1 StVollstrO) tätig gewesen ist 5 . Das ist für viele Fälle wenig befriedigend, und es wäre oft wünschenswert, § 22 Nr. 4 entsprechend anzuwenden 6 . Dem steht jedoch der geschlossene Katalog des § 22 entgegen; er verträgt keine ausdehnende Auslegung. Denn wegen der Folgen der Ausschließung muß die Gesetzeslage klar zu erkennen sein. Der Amtsrichter kann auch nicht als befangen erscheinen, wenn er zwar als Vollstreckungsbehörde zuständig ist, die Vollstreckung aber der Rechtspfleger durchgeführt hat; oder wenn der Richter zwar selbst die Vollstreckung angeordnet hat, die gerichtliche Entscheidung aber wegen eines Punktes nachgesucht wird, den er bei seiner Anordnung nicht geprüft hat. Hat der Amtsrichter aber als Vollstreckungsbehörde eine Verfügung getroffen, gegen welche die Entscheidung des Vollstreckungsgerichts nachgesucht wird (§ 458 Abs. 2), so steht seine Beteiligung dem in § 22 Nr. 4 genannten Verhältnis eines Staatsanwalts so nahe, daß er vom Standpunkte des Angeklagten, Staatsanwalts oder Privatklägers aus als befangen anzusehen ist und, falls er nicht abgelehnt wird, eine Anzeige nach § 30 zu machen hat 7 . Wenn auch die Ansicht, es finde § 22 Nr. 4 Anwendung 8 , oder die Ausschließung ergäbe sich aus allgemeinen Grundsätzen des Verwaltungsrechts 9 , die Grenzen der Auslegung verläßt und in die Befugnisse des Gesetzgebers eingreift, so wäre allerdings sehr erwünscht, das Gesetz zu ändern. Solange § 451 Abs. 3 besteht, müßte § 22 Nr. 4 für anwendbar erklärt werden. Richtiger aber wäre es, § 451 Abs. 3 bei einer Reform zu streichen. Bei dem heutigen Stande der Verkehrsmittel kann die Staatsanwaltschaft auch Amtsgerichtssachen vollstrecken. Die Einrichtung des Amtsrichters als „Notstaatsanwalt" in Vollstreckungssachen ist überholt. 5. Persönliche Verhältnisse. Die Ausschließungsregelung in § 22 Nr. 1 bis 3 erweist, daß persönliche Verhältnisse des Richters als geeignet angesehen werden, die Entscheidungsfreiheit des Richters zu beeinträchtigen oder wenigstens den Anschein erwecken können, dies könnte der Fall sein. Indessen ist, soweit nicht die im Gesetz aufgeführten engen persönlichen Verhältnisse vorliegen, ebenso wie bei der Vortätigkeit so auch bei den persönlichen Verhältnissen grundsätzlich von der Fähigkeit des Richters auszugehen, sich von Befangenheit frei zu halten, und von der Einsicht der Prozeßbeteiligten, daß der Richter das tun werde. Aus diesem Grunde sind Gesuche unbegründet, bei denen die Ablehnung zwar auf einen besonderen Richter bezogen und mit Gründen belegt ist, die zutreffen, die aber in der Gerichtsverfassung ihre Grundlage haben: So ist es unzulässig, wenn in einer Notzuchtssache ein Richter, nur weil er verheiratet ist, bei Unzucht mit Kindern ein Richter, nur weil er Kinder hat, abgelehnt wird. Hier richtet sich der Befangenheitsvorwurf nicht gegen den abgelehnten Richter, sondern gegen alle Richter mit gleichem Familienstand und damit gegen die Gerichtsverfassung überhaupt, die auf die Familienverhältnisse des Richters grundsätzlich (Ausnahme § 37 JGG) keine Rücksicht nimmt. Kein Ablehnungsgrund ist die Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft (RG JW 1930 2560, 1932 658), die andere Ziele als der Ablehnende oder gleiche Ziele mit anderen Mitteln oder auf anderen Wegen verfolgt, oder die Mitwirkung am Gesetzgebungsverfahren (BVerfGE 1 67). Dagegen ist die Ablehnung begründet, wenn der Richter dem Privatkläger, s

LG Lübeck SchlHA 1958 235; LG Köln MDR 1960 245; zweifelnd JMB1NRW 1963 195; a. A. L o r e n z NJW 1963 702; DRiZ 1964 94; S c h o r n 268. M ü l l e r - S a x 3 Nr. 4 zu § 22; 4 zu § 458; P o h l m a n n VII zu § 5 StVollstrO; LG Lüneburg MDR 1959 1030; LG Hamburg MDR 1961 251; 1963 237. 7 LG Bremen MDR 1956 185; a. A. LG Hof MDR 1958 941; LG Köln MDR 1960 245; zweifelnd JMB1NRW 1963 195. 8 S c h o r n 268; LG Mönchengladbach NJW 1964 2366. ' LG Kiel SchlHA 1964 72. 6

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Dritter Abschnitt. Ausschließung und Ablehnung (Dünnebier)

§ 24 Anm. 6—8

etwa in Urheberrechtssachen, ein Gutachten erstattet hatte ( S c h o r n 162). Sehr enges freundnachbarliches Verhältnis (BGH NJW 1957 387) kann ebenso Besorgnis der Befangenheit begründen wie Feindschaft (OLG Augsburg JW 1923 839). Das gleiche kann der Fall sein bei schwerwiegenden Differenzen zwischen Richter un(J Verteidiger (KG JW 1931 1104; OLG Oldenburg HESt. 3 2; OLG Hamm NJW 1951 731)10. Ein Kollegenverhältnis zu dem Beschuldigten oder einem nahen Angehörigen des Beschuldigten rechtfertigt noch kein Mißtrauen in die Unparteilichkeit (OLG Zweibrücken NJW 1968 1440), kann es aber begründen, wenn das Dienstverhältnis besonders eng ist und auf das persönliche Verhältnis ausstrahlt (OLG Stuttgart M D R 1961 1035). Stets als befangen anzusehen ist der mit der beschuldigten oder verletzten Person verlobte Richter. 6. Politische Bindung. Grundsätzlich rechtfertigt die Zugehörigkeit zu einer Partei, die andere Ziele als der Ablehnende oder gleiche Ziele mit anderen Mitteln oder auf anderen Wegen verfolgt (RG DRiZ 1931 531), nicht die Ablehnung. Das gilt grundsätzlich auch bei Straftaten mit politischem Hintergrund (RGRspr. 4 854; O h a i n 18), ist aber dort nicht völlig unerheblich und kann von Bedeutung werden, wenn weitere Umstände hinzutreten (RGSt. 55 57: In einem Strafverfahren, in dem die Durchsetzung der neuen gegen die alte Ordnung eine Rolle spielt, ist ein Richter befangen, der den Eid auf die neue Verfassung verweigert hat; R G DRiZ 1931 781, DJZ 1932 170; HRR 1933 448: besondere politische Betätigung für eine Partei, die zu der des Angeklagten im scharfen Gegensatz steht). Als solche Umstände genügen jedoch nicht politische Äußerungen eines Richters außerhalb des Verfahrens, die mit diesem in keinem Zusammenhang stehen und sich allein aus der Teilnahme am politischen Leben erklären (BGH NJW 1962 749). Doch ist wieder eine Ausnahme zu machen: Den Richter, der öffentlich die demokratische Grundordnung abgelehnt hat, kann die Staatsanwaltschaft in Staatsschutzverfahren stets (und mit Erfolg) ablehnen ( O h a i n 34). In einem Verfahren wegen Fortführung einer verbotenen Partei ist ein Schöffe befangen, der der aufgelösten Partei als Mitglied angehört hatte (RG HRR 1930 1420). 7. Anzeigen. Auf die Umstände des einzelnen Falls kommt es, wie schon allgemein, namentlich dann an, wenn Richter mit Anzeigen oder auf ähnliche Weise angegriffen werden. Die gegen jeden Richter bestehende Möglichkeit von Maßnahmen nach A r t 98 und 132 G G läßt regelmäßig keine Befangenheit besorgen (OLG Düsseldorf NJW 1950 395). Das gleiche gilt bei Auseinandersetzungen zwischen Vorsitzendem und Verteidiger (RG H R R 1933 555). Besorgnis der Befangenheit kann aber gerechtfertigt sein, wenn der Verteidiger den Richter wegen falscher Anschuldigung angezeigt hat (OLG Oldenburg HESt. 1 2); sie wird es sein, wenn umgekehrt gegen den Angeklagten zufolge eines Strafantrages des Richters ein Strafverfahren anhängig ist, oder wenn der Richter gegen den Verteidiger ein Strafverfahren herbeigeführt, der Verteidiger sein Mandat niedergelegt und der Angeklagte damit zufolge der Anzeige seinen Verteidiger verloren hat. Zeigt der Angeklagte den Richter — etwa wegen Rechtsbeugung — an, beschwert er sich über ihn, beantragt er gegen ihn ein Disziplinarverfahren, so wird das, da Richter täglich wegen ihrer Tätigkeit angegriffen werden, in der Regel keine Besorgnis der Befangenheit begründen (BGH NJW 1952 1425; NJW 1962 749; K G JR 1962 113), doch kann das der Fall sein, wenn der Richter durch auch unbegründete — Einwirkungen des Angeklagten zu wirklich unbefangener Beurteilung unfähig wird ( A r z t 54). Der Satz, ein Angeklagter könne aus seinem eigenen Verhalten keinen Ablehnungsgrund herleiten (RGSt. 55 57; BGH NJW 1952 1425), ist nicht zu verallgemeinern, weil immer geprüft werden muß, wie es zu dem Verhalten gekommen ist. Ist das Verhalten verständig, dann ist die darauf gegründete Ablehnung nicht deshalb unzulässig, weil der Angeklagte sich eines ihm nicht genehmen Richters entledigen will. Ist sein Verhalten unverständig, dann begründet es nicht die Besorgnis der Befangenheit. Es kommt hier zwar grundsätzlich, aber nicht allein, auf die subjektive Reaktion des Betroffenen an (2). 8. Ablehnungsberechtigte (Absatz 3 Satz 1). Nach den Motiven ( H a h n 1 90) soll das Ablehnungsrecht allen Prozeßbeteiligten, also dem Beschuldigten, der Staatsanwaltschaft und dem als Kläger (Privatkläger, Nebenkläger) auftretenden Verletzten zustehen. Für den 10

Ebenso T e p l i t z k y NJW 1962 2046; A r z t 57; stark einschränkend M ü l l e r - S a x 2c.

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§ 24 Anm. 9,10

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

Nebenkläger kommt das im Gesetzestext nicht zum Ausdruck; es ergibt sich aber aus § 397 ( F e i s e n b e r g e r 10). Der Beschuldigte im Sicherungsverfahren (§ 429a) hat nach § 4 2 9 b Abs. 1, der Einziehungsbeteiligte (§ 431 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3) nach § 433 Abs. 1, § 440 Abs. 3, der Antragsteller im Nachverfahren (§ 439 Abs. 1) nach § 441, der Beteiligte im Verfahren bei Festsetzung von Geldbußen gegen juristische Personen und Personenvereinigungen (§ 444 Abs. 1 Satz 1) nach § 444 Abs. 2 Satz 2 in Vbdg. mit § 433 Abs. 1 die Befugnisse des Angeklagten und damit das Ablehnungsrecht. Dagegen steht dem Verteidiger (§ 138) und dem Rechtsanwalt als Beistand eines Privatklägers (§ 387) kein eigenes Ablehnungsrecht zu, doch ist, wenn sie ablehnen, anzunehmen, daß sie das für den Angeklagten oder Privatkläger tun (OLG Hamm NJW 1951 731). Das Ablehnungsrecht steht allen Ablehnungsberechtigten gleichmäßig zu; auf eine Beschwer kommt es nicht an; der Staatsanwalt kann immer zugunsten des Angeklagten ablehnen ( A r z t 37). Umgekehrt kann, wenn ein Richter mit dem Beschuldigten verwandt ist, der Beschuldigte und nicht etwa nur der Staatsanwalt die Ablehnung anbringen. Tun es beide nicht, hat der Richter nach § 30 zu verfahren. Kein Ablehnungsrecht haben Zeugen, Sachverständige und bei der Verhandlung nicht beteiligte Personen im Ordnungsstrafverfahren (§§ 177, 178, 180, 181 GVG; §§ 70, 77). Das kann oft als ungerecht empfunden werden, ist aber der Natur der Sache nach nicht anders zu regeln, da nicht wohl jedesmal ein anderer Richter zugezogen werden kann, vor dem dann eine Beweisaufnahme über den Verstoß stattfinden müßte. Kein Ablehnungsrecht haben auch der Verletzte im Adhäsionsverfahren (§ 403) und im Prozeß, solange er sich nicht als Nebenkläger angeschlossen hat (§ 395 Abs. 2 Nr. 2). Das ergibt sich aus § 24 Abs. 3 und ist hinzunehmen, weil die ablehnungsberechtigte Staatsanwaltschaft die Interessen des Verletzten wahrnimmt. Im Anklageerzwingungsverfahren (§ 172 Abs. 2) dagegen ist der Verletzte auf sich allein gestellt. Es widerspräche jeder Gerechtigkeit, ihn (etwa in dem Falle I 6 zu § 22, Fußn. 4) darauf zu verweisen, daß das Gericht schon nach § 30 verfahren werde. Vielmehr ist ihm über den Wortlaut in sinngemäßer Anwendung der Vorschrift ein eigenes Ablehnungsrecht einzuräumen ( J o h n 1 4 zu § 24; T e p l i t z k y M D R 1970 108; JuS 1969 323). 9. Namhaftmachung (Absatz 3 Satz 2). Zur Sicherung des Ablehnungsrechts gibt das Gesetz den Ablehnungsberechtigten den Anspruch auf Auskunft über die Besetzung des Gerichts. Dem Sinn der Bestimmung entsprechend ist dem Verlangen auch stattzugeben, wenn die Richter zur Mitwirkung nicht bei einer Entscheidung, sondern bei einer anderen richterlichen Tätigkeit (Voruntersuchung) berufen sind. § 24 Abs. 3 Satz 2 greift schon auf § 31 vor und regelt die Bekanntgabe sämtlicher Gerichtspersonen, also der Richter (§§ 22 bis 25), der Schöffen, Geschworenen und Urkundsbeamten (§ 31 Abs. 1). Den Namen des Staatsanwalts gibt das Gericht nicht mit bekannt, doch kann ihn der Beschuldigte beim Leiter der Staatsanwaltschaft erfragen, der ihn, ohne eine Begründung zu verlangen, bekanntzugeben hat, damit der Berechtigte bei ihm die Ersetzung durch einen anderen Staatsanwalt (4 vor § 22) erwirken kann. Von Amts wegen ist keine Mitteilung zu machen („auf Verlangen"); ist aber Mitteilung gemacht, so ist jeder Wechsel von Amts wegen bekanntzugeben (RGSt. 66 10; R G JW 1930 925). Abgesehen von der Namhaftmachung ist das Gericht nicht verpflichtet, dem Angeklagten tatsächliche Unterlagen zur Begründung seines Gesuchs zu liefern (RG JW 1933 964). 10. Anfechtung. Lehnt das Gericht die Bekanntgabe der Gerichtspersonen ab (etwa weil der Antragsteller nicht ablehnungsberechtigt ist), so steht ihm, sofern die Entscheidung nicht die eines — auch erstinstanzlich entscheidenden — Strafsenats ist (§ 304 Abs. 4), die Beschwerde zu (§ 304 Abs. 1 und 2). Sie ist ausgeschlossen, wenn die Entscheidung vom erkennenden Gericht (6 und 7 zu § 28) erlassen wird, es sei denn, der Antragsteller (etwa der bestrafte Zeuge, der unrichtigerweise ein Ablehnungsrecht in Anspruch nimmt) sei Dritter i. S. von § 305 Satz 2, § 304 Abs. 2. Nur wenn die Prozeßbeteiligten kein Beschwerderecht haben (RGSt. 29 62), können sie die Verletzung von § 24 Abs. 3 Satz 2, die in der Praxis nur durch das Unterlassen begangen werden wird, einen Wechsel in der ursprünglichen Liste von Amts wegen bekanntzugeben, mit der Berufung und namentlich mit der 298

Dritter Abschnitt. Ausschließung und Ablehnung (Dünnebier)

§ 25 Anm. 1

Revision rügen. Da die Revision nicht darzulegen braucht, daß das Urteil auf der Gesetzesverletzung beruht ( S a r s t e d t , Revision, S. 304), und da dieser Ursachenzusammenhang angenommen wird, solange die Möglichkeit, daß er besteht, nicht widerlegt wird, ist es in der Regel nicht auszuschließen, daß das Urteil auf der Gesetzesverletzung beruht, wenn der Angeklagte behauptet, den Richter abgelehnt zu haben, dazu aber keine Ablehnungsgründe vorträgt (RGSt. 66 10). Dagegen beruht das Urteil dann nicht auf der Verletzung, wenn der Angeklagte die Ablehnungsgründe angibt und diese nicht durchschlagen (RG JW 1930 925).

§25 (1) Die Ablehnung eines Richters wegen Besorgnis der Befangenheit ist bis zum Beginn der Vernehmung des Angeklagten zur Sache, in der Hauptverhandlung über die Revision bis zum Beginn seiner Ausführungen zur Revision, zulässig. Alle Ablehnungsgründe sind gleichzeitig vorzubringen. (2) Nach diesem Zeitpunkt darf ein Richter nur abgelehnt werden, wenn 1. die Umstände, auf welche die Ablehnung gestützt wird, erst später eingetreten oder dem zur Ablehnung Berechtigten erst später bekannt geworden sind und 2. die Ablehnung unverzüglich geltend gemacht wird. Nach dem letzten Wort des Angeklagten ist die Ablehnung nicht mehr zulässig. Entstehungsgeschichte: Ursprünglich konnte ein Richter wegen Besorgnis der Befangenheit in der Hauptverhandlung des ersten Rechtszugs nur bis zur Verlesung des Eröffnungsbeschlusses und in der Hauptverhandlung über Berufung und Revision nur bis zum Beginn der Berichterstattung abgelehnt werden. Art. 2 Abs. 2 der VO über die Beseitigung des Eröffnungsbeschlusses im Strafverfahren vom 13. 8. 1942 (RGBl. I 512) verschob den kritischen Zeitpunkt auf den Beginn der Vernehmung des Angeklagten zur Sache. Art. 3 Nr. 9 VereinhG dehnte die Ablehnungsbefugnis bis zum Beginn des Teils der Hauptverhandlung aus, der der Vernehmung des Angeklagten zur Sache nachfolgt. Die gegenwärtige Fassung beruht auf Art. 5 Nr. 2 StPÄG. 1. Inhalt. Die Vorschrift legt den Zeitpunkt fest, in dem das Ablehnungsrecht erlischt, d. h. die Ablehnung unzulässig wird. Das geschieht einmal absolut (Absatz 2 Satz 2) und dann für den Regelfall unbedingt (Absatz 1 Satz 1), aber zugleich für weitere Fälle in der Weise relativ, daß wichtige Ausnahmen zugelassen werden (Absatz 2 Satz 1). Die Bestimmung bezieht sich in allen ihren Teilen nur auf die Ablehnung in der Hauptverhandlung. Die „Vernehmung des Angeklagten zur Sache" ist die in § 243 Abs. 4 Satz 2, § 324 Abs. 2 angeordnete. Das ergibt sich aus dem Worte Angeklagter in Absatz 1 Satz 1, erstem Halbsatz; aus dem Zusammenhang (Absatz 1 Satz 1, zweiter Halbsatz: Hauptverhandlung über die Revision; Absatz 2 Satz 2: nach dem letzten Wort); und endlich aus der Entstehungsgeschichte: alle vorhergehenden Fassungen enthielten das Wort „Hauptverhandlung". Auch Absatz 1 Satz 2 gilt nur für die Ablehnung in der Hauptverhandlung. Denn für den Fall der Ablehnung außerhalb der Hauptverhandlung unterläßt das Gesetz jede zeitliche Begrenzung und jede sonstige Einschränkung. Hätte das Konzentrationsgebot des Absatzes 1 Satz 2 auch für Ablehnungen außerhalb der Hauptverhandlung gelten sollen, was an sich sinnvoll wäre, dann hätte die Vorschrift aus dem Zusammenhang derjenigen Bestimmungen gelöst werden müssen, die allein für die Hauptverhandlung anwendbar sind. Da das nicht geschehen ist, kann ein Richter, der außerhalb der Hauptverhandlung tätig wird, jederzeit in bezug auf künftige richterliche Handlungen und Entscheidungen abgelehnt werden, so wie es bisher der Fall war (OLG Königsberg DStR 1935 123). Deshalb kann außerhalb der Hauptverhandlung ein Ablehnungsgesuch auch dann für begründet erklärt werden, wenn der Ablehnungsgrund nicht unverzüglich nach Bekanntwerden (Absatz 2 Satz 1 Nr. 1) geltend gemacht worden ist. Das Ablehnungsrecht erlischt, wenn die Entscheidung ergangen (3 zu § 33) ist. Ein trotzdem, vielleicht in Unkenntnis, daß die Entscheidung schon ergangen ist, angebrachtes Gesuch ist als unzulässig zu verwerfen. Die ergangene Entscheidung kann dann nicht mit der Begründung angefochten werden, der Richter sei befangen gewesen.

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§25 Anm. 2—4

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

Wie nicht anders möglich, ist § 25 auf die Ablehnung wegen Besorgnis der Befangenheit beschränkt. Daher ist die Ablehnung eines Richters, der von der Ausübung des Richteramts kraft Gesetzes ausgeschlossen ist (§ 24 Abs. 1, erste Alternative), auch in der Hauptverhandlung jederzeit möglich und die Amtspriifung (§ 30) jederzeit nötig. Das Recht, einen ausgeschlossenen Richter abzulehnen und die Pflicht zur Amtsprüfung enden erst mit der Hauptverhandlung (OLG Schleswig SchlHA 1953 246). Daß ein ausgeschlossener Richter mitgewirkt hat, kann auch ohne vorgängige Ablehnung mit der Revision (§ 338 Nr. 2) und bei außerhalb einer Hauptverhandlung ergangenen Beschlüssen mit der Beschwerde gerügt werden. 2. Beginn der Ablehnung. Abgelehnt werden kann ein Richter, der einem Gericht angehört, das in der Sache tätig werden (§ 22, § 23 Abs. 3) oder entscheiden (§ 23 Abs. 1 und 2) muß. Die Ablehnung ist zulässig, sobald feststeht, welche Richter zur Mitwirkung (9 Abs. 1 zu § 24) berufen sind, d. h. die richterlichen Handlungen vorzunehmen haben, von denen der Ablehnungsberechtigte sie fernhalten möchte (RGSt. 21 251). Der Ablehnungsberechtigte kann verlangen, daß ihm die Richter namhaft gemacht werden (§ 24 Abs. 2 Satz 2), doch sind weder das Verlangen noch die Namhaftmachung Voraussetzung der Ablehnung. Müssen, weil nicht nach § 26a entschieden werden kann, zur Ergänzung (III 1 zu § 27) Richter eintreten, so können sie abgelehnt werden, sobald der Eintrittsfall feststeht. Die zufolge dieser Ablehnung eintretenden Richter kann der Berechtigte erst ablehnen, wenn feststeht, daß die vorher abgelehnten Richter nicht nach § 26 selbst entscheiden können. 3. Unbedingtes Ablehnungsrecht (Absatz 1 Satz 1). Das unbedingte Ablehnungsrecht erlischt, nachdem das Gericht mit der Vernehmung des Angeklagten zur Sache begonnen hat. Auf der anderen Seite kann der Ablehnungsberechtigte (§ 24 Abs. 3) mit der Ablehnung bis zu diesem Zeitpunkt warten, gleichviel wann er von dem Ablehnungsgrund Kenntnis erhalten hat (BVerfGE 2 297 = NJW 1953 1097; BGHSt. 4 270), sofern er nur dadurch nicht das Konzentrationsgebot (Absatz 1 Satz 2) verletzt. Tritt der genannte Zeitpunkt mehrfach ein, etwa weil eine Hauptverhandlung länger als zehn Tage unterbrochen war (§ 229) oder weil eine Sache aus der Berufungs- (§ 328 Abs. 2) oder aus der Revisionsinstanz (§ 354 Abs. 2) zurückverwiesen ist, dann kann der Angeklagte den Richter beim zweiten Male ablehnen, auch wenn er ihn bei der ersten Verhandlung hingenommen hatte (RGSt. 19 335; OLG Schleswig SchlHA 1953 247). Der Zeitpunkt gilt auch bei Vernehmung des Beschuldigten im Sicherungsverfahren, des Einziehungsbeteiligten und des Vertreters der juristischen Person oder Personenvereinigung bei Festsetzung von Geldbußen (8 zu § 24). 4. Der Beginn der Vernehmung des Angeklagten zur Sache ist für die Hauptverhandlung in der ersten Instanz in § 243 Abs. 4 (II 4 zu § 16), für die in der Berufungsinstanz in § 324 Abs. 2 festgelegt. Er ist ein genau bestimmter und — von den Fällen der Wiederholung der Hauptverhandlung abgesehen — einmaliger Vorgang. Durch Teilung der Vernehmung in sog. Punktensachen oder durch Wiederaufnahme einer zunächst beendeten Vernehmung in derselben, nicht unterbrochenen Hauptverhandlung wird kein neuer Vernehmungsbeginn gesetzt1. In der Revisionsinstanz erlischt das unbedingte Ablehnungsrecht mit dem Beginn der Ausführungen des Angeklagten oder, was die Regel ist, seines Verteidigers zur Sache (§ 351 Abs. 2 Satz 1). In den Verfahren nach § 329 Abs. 1 und nach § 412 Abs. 1 ist das Gesuch, weil nicht zur Sache verhandelt wird, alsbald nach Prüfung der Formalien anzubringen. Sind mehrere Personen angeklagt, dann tritt der Zeitpunkt des Satzes 1 für jeden Angeklagten für sich ein. Die Staatsanwaltschaft, der Privat- und Nebenkläger haben grundsätzlich bis zur Vernehmung des ersten Angeklagten abzulehnen; der Nebenkläger kann nicht etwa bis zu dem Zeitpunkt warten, in dem er selbst gehört wird (BGHSt. 5 154). Leiten die Vorgenannten den Ablehnungsgrund jedoch aus dem Verhältnis zu einem von 1

Die bisherige großzügige Rechtsprechung, die zudem an den Beginn des auf die Vernehmung folgenden Abschnitts der Hauptverhandlung anschloß (BGHSt. 13 358. 18 46), suchte eine Abhilfe gegenüber der unbefriedigenden Regelung des früheren Rechts; sie ist durch das bedingte Ablehnungsrecht des Absatzes 2 überflüssig geworden und überholt.

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Dritter Abschnitt. Ausschließung und Ablehnung (Dünnebier)

§ 25 Anm. 5—7

mehreren Angeklagten her (der Richter ist ein Freund des zuletzt vernommenen Angeklagten), dann können Staatsanwalt, Privat- und Nebenkläger, da sie nicht früher als der ablehnungsberechtigte Angeklagte abzulehnen brauchen, bis zum Beginn der Vernehmung dieses Angeklagten ablehnen. In der Revisionsinstanz braucht der Staatsanwalt, wenn er Beschwerdeführer ist, einen Richter nicht bei Beginn seiner Ausführungen abzulehnen, sondern erst vor Beginn der Ausführungen des Angeklagten. Auf der anderen Seite darf er, wenn der Angeklagte Beschwerdeführer ist, mit der Ablehnung nicht bis zum Beginn seiner, des Staatsanwalts, Ausführungen warten. 5. Verfahren bei abwesenden Angeklagten. Nicht immer ist der Angeklagte anwesend (3 zu § 26); daher findet auch nicht in jedem Verfahren eine Vernehmung des Angeklagten zur Sache statt. Alsdann erlischt die Ablehnungsbefugnis mit dem Ereignis, das dem Beginn der Vernehmung zur Sache entspricht. Läßt sich im Privatklageverfahren der Angeklagte durch einen Rechtsanwalt (§ 387 Abs. 1) oder im Verfahren nach § 232 Abs. 1 durch einen Verteidiger (§ 234) vertreten, dann erhalten diese Gelegenheit, für den Angeklagten Ausführungen zur Sache zu machen, so daß sich keine Besonderheiten ergeben. Im Verfahren nach § 233 Abs. 1 tritt die Verlesung über die richterliche Vernehmung (§ 233 Abs. 3 Satz 2) an die Stelle der Vernehmung. Das gleiche gilt im Verfahren nach § 232 Abs. 1, falls eine richterliche Vernehmung stattgefunden hat; sonst ist ein Ablehnungsgesuch im Anschluß an die Verlesung des Anklagesatzes (§ 243 Abs. 3) anzubringen. Dieser Zeitpunkt ist auch maßgebend im Verfahren nach §§ 277 ff. Findet im Sicherungsverfahren die Hauptverhandlung ohne den Beschuldigten statt (§ 429c Abs. 1), so tritt die Verlesung über die richterliche Vernehmung (§ 429c Abs. 4 Satz 2) an die Stelle der Vernehmung. Wegen der Revisionshauptverhandlung s. 4 Abs. 1 a. E. 6. Konzentrationsgebot (Absatz 1 Satz 2). Satz 2 enthält eine Einschränkung des in Satz 1 gewährten Rechts, mit der Ablehnung bis zum Beginn der Vernehmung des Angeklagten zur Sache zu warten. Wer unbeschadet dieses Rechts einen Ablehnungsgrund früher geltend macht, muß dann auch alle ihm zu diesem Zeitpunkt bekannten Ablehnungsgründe zur gleichen Zeit vorbringen. N a c h dem in Satz 1 genannten Zeitpunkt kommt dem Gebot keine Bedeutung mehr zu. Denn wenn die Ablehnung unverzüglich nach Bekanntwerden eines Ablehnungsgrundes geltend gemacht werden muß (Absatz 2 Nr. 2), versteht es sich von selbst, daß alle zur gleichen Zeit bekanntgewordenen Gründe gleichzeitig angebracht werden müssen. Zur Anwendung gelangt Satz 2 nur bis zu dem Zeitpunkt von Satz 1. Das Gewicht dieses Gebots ist indessen dadurch gemindert, daß es keiner Behauptung bedarf, die Ablehnung hätte nicht zugleich mit einer früheren verbunden werden können, und keiner Glaubhaftmachung der Umstände, die das ausgeschlossen hatten. Denn die Voraussetzungen des rechtzeitigen Vorbringens sind nur in den Fällen des § 25 Abs. 2 glaubhaft zu mach.en (§ 26 Abs. 2 Satz 1), nicht im Falle des § 25 Abs. 1 Satz 2. Daß die Ablehnung verspätet ist (§ 26 a Abs. 1 Nr. 1), wird daher nur dann erkennbar sein, wenn dies aus der Begründung der Ablehnung hervorgeht; wenn der Ablehnende, wozu er nicht verpflichtet ist, selbst erklärt, daß er in der Lage gewesen wäre, die Ablehnung zusammen mit einer früheren geltend zu machen; und endlich im Falle der unveränderten Wiederholung einer Ablehnung (II 2 zu § 26 a). 7. Bedingtes Ablehnungsrecht (Absatz 2 Satz 1). a) Bekanntwerden. Mit dem Zeitpunkt des Absatzes 1 Satz 1 (2) wird die Ablehnung wegen Besorgnis der Befangenheit unzulässig für alle Ablehnungsgründe, die dem Ablehnungsberechtigten bis dahin bekannt waren. Für das Erlöschen der Ablehnungsbefugnis ist es gleichgültig, ob der Berechtigte in dem genannten Zeitpunkt anwesend (BayObLGSt. 1961 37) oder vertreten ist. Nach dem früheren Recht trat die Unzulässigkeit schlechthin ein, auch wenn der Ablehnungsgrund erst nach dem kritischen Zeitpunkt entstand oder dem Berechtigten bekannt wurde (BGHSt. 1 301). Nunmehr darf ein Richter auch noch nach dem Beginn der Vernehmung zur Sache abgelehnt werden, wenn die Umstände, auf die die Ablehnung gestützt wird, dem zur Ablehnung Berechtigten erst später bekannt werden.

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§25 Anm. 8

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

Wann sie eingetreten sind, ist gleichgültig. Zwar erwähnt das Gesetz den Fall, daß die Umstände erst später, also nach dem Beginn der Vernehmung zur Sache, eingetreten sind. Diesem Fall kommt aber keine Bedeutung zu. Denn von dem weiter im Gesetz vorgesehenen Fall, daß die Umstände dem Berechtigten erst später bekannt geworden sind, werden auch solche erfaßt, die vor dem Zeitpunkt des Absatzes 1 Satz 1 entstanden sind. Für das Bekanntwerden der Ablehnungstatsachen kommt es darauf an, wann der Berechtigte selbst sie erfahrt. Wenn sein Anwalt früher von ihnen Kenntnis erhält als er selbst, schadet das dem Berechtigten nicht; und es kommt ihm nicht zugute, wenn das später der Fall ist. b) Geltendmachung. Das bedingte Ablehnungsrecht hängt außer von dem soeben beschriebenen Zeitpunkt der Kenntnis des Ablehnungsgrundes auch davon ab, daß der Berechtigte die Ablehnung unverzüglich geltend macht. Unverzüglich bedeutet, auf Handlungen des Gerichts bezogen, ein Handeln ohne eine nicht durch die Sachlage begründete Verzögerung (vgl. z. B. 4 zu §§ 115, 115 a). Bei den Prozeßbeteiligten kann man auf ein subjektives Moment nicht verzichten, so daß unverzüglich als „ohne schuldhafte Verzögerung" auszulegen ist (vgl. BGHSt. 21 339). Demzufolge ist die Ablehnung noch unverzüglich, wenn der Angeklagte sich vorher mit seinem Verteidiger bespricht oder wenn der Verteidiger den Richter nicht in der Vernehmung eines Zeugen unterbricht, sondern abwartet, bis der Angeklagte nach der Zeugenvernehmung Gelegenheit zur Erklärung erhält (§ 257). D a die Hauptverhandlung ein mündliches Verfahren ist (Einl., Kap. I I B 5 a), wird man den Beteiligten, obwohl die Ablehnung zu Protokoll der Geschäftsstelle erklärt werden kann (§ 26 Abs. 1,2. Halbsatz), in der Regel zugestehen müssen, daß sie Ablehnungsgesuche in der Hauptverhandlung vorbringen. Daher ist die Ablehnung regelmäßig auch dann noch unverzüglich, wenn der Beteiligte während einer Unterbrechung der Hauptverhandlung nicht zur Geschäftsstelle geht, sondern wartet, bis die Hauptverhandlung wieder begonnen hat. Bei einer größeren Unterbrechung (zehn Tage) und einer Häufung von Anträgen, die das Verfahren schwierig machen, kann aber die Unverzüglichkeit verneint werden, wenn das Ablehnungsgesuch erst bei Wiederbeginn der Hauptverhandlung angebracht wird (BGHSt. 21 344). Solche Fälle werden selten vorliegen; besonders gelagerte Einzelfalle dürfen nicht verallgemeinert werden. Der Beschuldigte muß die Ablehnung unverzüglich geltend machen (Absatz 2 Nr. 2), nachdem ihm der Ablehnungsgrund bekannt geworden ist (Absatz 2 Nr. 1). Daraus folgt, daß der Berechtigte besorgt sein muß, Mittel zur Glaubhaftmachung (§ 26 Abs. 2) zu beschaffen (BGHSt. 21 353). D a es für die Ablehnung auf Einzelheiten ankommt, von Ablehnungsberechtigten auch Sorgfalt verlangt werden muß ; wird ihm der Ablehnungsgrund in der zur Grundlage eines Ablehnungsgesuches geeigneten Weise freilich in der Regel erst dann bekannt sein, wenn er schriftliche Äußerungen von Zeugen in der Hand hält, sofern er sich nur alsbald um sie bekümmert hat. Seine Pflicht, das zu tun, gewinnt besondere Bedeutung, wenn er ein abgelehntes Gesuch mit neuem Beweismaterial wiederholen (II 2 zu § 26 a) will. Er darf dann nicht warten, bis ihm neues Material zufallt, sondern muß sich alsbald darum bemühen (BGHSt. 21 353). Jedoch wird die (neue) Ablehnung unverzüglich sein, wenn unverhofft neues Material aus einer Richtung auftaucht, wo der Berechtigte zu suchen vernünftigerweise keinen Anlaß hatte. 8. Absolutes Erlöschen des Ablehnungsrechts (Absatz 2 Satz 2). D a s unbedingte Ablehnungsrecht erlischt nach Beginn der Vernehmung des Angeklagten zur Sache (4); die bedingte Ablehnung (7) ist — für alle Berechtigten — noch während des letzten Wortes des Angeklagten (§ 258 Abs. 2) möglich; danach ist sie unzulässig. Wird dann gleichwohl noch ein Gesuch angebracht, ist es, weil verspätet, als unzulässig zu verwerfen (§ 26 a Abs. 1 Nr. 1). Aus diesem Grunde können namentlich solche Bemerkungen nicht zum Gegenstand der Ablehnung gemacht werden, die der Vorsitzende zu dem letzten Wort (§ 258 Abs. 2) oder zu den eigenen Äußerungen des Angeklagten (§ 258 Abs. 3) etwa abgibt („Ich bin unschuldig" — „Das werden Sie gleich sehen"). Das letzte Wort des Angeklagten ist in der Hauptverhandlung der ersten Instanz die Duplik auf die Replik des Staatsanwalts. Verzichtet dieser auf sein Recht zu erwidern, dann sind die Ausführungen des Angeklagten (§ 258 Abs. 1) sein letztes W o r t Entsprechend ist es in der Berufungs- und Revisionsverhandlung (§§ 326, 351 Abs. 2). Hatte der Ange-

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Dritter Abschnitt. Ausschließung und Ablehnung (Dünnebier)

§ 26 Anm. 1, 2

klagte das Rechtsmittel eingelegt und demnach zuerst gesprochen, so kann er nach den Ausführungen des Staatsanwalts das letzte Wort nehmen. Wird die Hauptverhandlung nach dem letzten Wort wieder aufgenommen, dann erhalten die Beteiligten erneut das Wort. Oft spricht das letzte Wort nicht der Angeklagte, sondern sein Verteidiger. Alsdann ist der Angeklagte zu befragen, ob er selbst noch etwas zu seiner Verteidigung auszuführen habe (§ 258 Abs. 3). Ausführungen, die er dann macht, sind nicht das letzte Wort. Daher geben Umstände, die sich dabei ereignen, keine Grundlage zur Ablehnung. Bei der Großzügigkeit, mit der das Ablehnungsrecht geregelt ist, ist es nicht recht verständlich, warum Vorfalle nach dem letzten Wort sowie bei den eigenen Ausführungen des Angeklagten und nach ihnen nicht mehr zur Ablehnung führen dürfen. Freilich muß einmal Schluß sein. Aber nachdem sich der Gesetzgeber zu einem praktisch unbeschränkten Ablehnungsrecht bekannt hat, wäre es besser gewesen, die letzten Möglichkeiten, bei denen ein Gerichtsmitglied durch seine Äußerungen die Besorgnis erregen kann, es sei befangen, nicht von der Ablehnung auszuschließen. Noch weiter geht H a n a c k (JR 1967 230), der selbst in der Rechtsmittelinstanz noch neue Beweismittel für eine Befangenheit der Richter der vorangegangenen Verhandlung zugelassen sehen möchte.

§26 (1) Das Ablehnungsgesuch ist bei dem Gericht, dem der Richter angehört, anzubringen; es kann vor der Geschäftsstelle zu Protokoll erklärt werden. (2) Der Ablehnungsgrund und in den Fällen des § 25 Abs. 2 die Voraussetzungen des rechtzeitigen Vorbringens sind glaubhaft zu machen. Der Eid ist als Mittel der Glaubhaftmachung ausgeschlossen. Zur Glaubhaftmachung kann auf das Zeugnis des abgelehnten Richters Bezug genommen werden. (3) Der abgelehnte Richter hat sich über den Ablehnungsgrund dienstlich zu äußern. 1. Anwendungsbereich. § 26 gilt nach seinem Wortlaut (Gericht, dem der Richter angehört im Gegensatz zu § 27: Gericht, dem der Abgelehnte angehört) zunächst für die sog. „richterlichen Mitglieder" (§ 27 Abs. 2 Satz 1), doch ist er nach § 3 1 Abs. 1 für Schöffen (§§ 31 bis 33 GVG) und Geschworene (§ 84 GVG) sowie für Urkundsbeamte (§ 153 Satz 1 GVG) voll anwendbar. 2. Gericht, dem der Richter angehört, ist nach dem Sinn der Vorschrift, die Fristwahrung zu gewährleisten und das Gesuch dorthin zu bringen, wo die Sache anhängig ist, und meist auch die Entscheidung zu treffen sein wird, der Gerichtskörper (Senat, Kammer, Einzelrichter), der mit der Sache befaßt ist, in der es zur Ablehnung kommt. Davon gibt es nur eine Ausnahme: Wird ein Mitglied des Schwurgerichts außerhalb der Tagung abgelehnt — was in der Regel nur für den Vorsitzenden in Betracht kommen wird, der nach § 83 Abs. 4 GVG auch außerhalb der Tagung, sofern nur ihre Zeit bestimmt worden ist, tätig werden kann —, ist das Gesuch bei der Strafkammer anzubringen (vgl. § 82 Abs. 2, 2. Alternative GVG), weil das Schwurgericht außerhalb der Tagung nicht existiert. Danach gilt folgende Regelung: Ist Vorsitzender des Schwurgerichts ein Mitglied des Oberlandesgerichts (§ 83 Abs. 1 GVG), muß ein Ablehnungsgesuch gegen ihn während der Tagung beim Schwurgericht, außerhalb der Tagung bei der Strafkammer angebracht werden, nicht beim Oberlandesgericht (RGSt. 19 337). Gehört ein Richter zugleich dem Amts- und dem Landgericht an (§ 22 Abs. 2, § 59 Abs. 2 GVG), ist das Gericht zuständig, bei dem die Strafsache schwebt, in der die Ablehnung angebracht wird. Wird der Richter eines auswärtigen Strafsenats (§116 Abs. 2 GVG) oder einer auswärtigen Strafkammer (§ 78 GVG) abgelehnt, ist das Gesuch dort anzubringen, auch wenn ein anderer Senat oder eine andere Kammer zur Entscheidung zuständig ist (II 1 zu § 27). Soll ein ersuchter Richter abgelehnt werden, ist das Gesuch bei ihm, nicht beim ersuchenden Gericht anzubringen. Die Regelung der Zuständigkeit für die Annahme des Gesuchs dient der Sicherung des § 25. Daher müssen das Gesuch, die Begründung und die Glaubhaftmachung innerhalb der Frist des § 25 bei dem Gericht angebracht werden, dem der Abgelehnte angehört, auch dann, wenn nicht dieses,

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§ 26 Anm. 3 , 4

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

sondern ein höheres Gericht (§ 27 Abs. 2 bis 4) zu entscheiden hat. Das gilt auch für Nachträge mit neuen tatsächlichen Behauptungen (RGSt. 5 135), weil sie entweder Teil des Gesuchs oder ein neues Gesuch sind. Schriftsätze, die lediglich Erläuterungen oder Rechtsausführungen enthalten, können jedoch dem höheren Gericht unmittelbar zugeleitet werden und sind von diesem zu beachten. 3. Form. Das Gesuch kann bei dem o. 2 genannten Gericht in jeder Form (RGSt. 13 304) angebracht werden, also innerhalb der Hauptverhandlung mündlich oder schriftlich ( M ü l l e r - S a x 1; a. A. — nur mündlich — F e i s e n b e r g e r 2 ) , außerhalb der Hauptverhandlung schriftlich, und stets zu Protokoll des Urkundsbeamten. Der Grundsatz der Mündlichkeit der Haupt Verhandlung steht der schriftlichen Ablehnung nicht entgegen. Er soll sicherstellen, daß der Angeklagte an der Verhandlung zur Schuld- und Straffrage beteiligt ist. Die Abgabe von Anträgen, die eine Verhandlung unmöglich machen sollen, erfordert die Anwesenheit des Angeklagten nicht. Der Erklärung zu Protokoll des Urkundsbeamten kommt während der Hauptverhandlung dann Bedeutung zu, wenn ein ablehnungsberechtigter Angeklagter wegen des Ablehnungsgrundes nicht vor Gericht erscheint. Nimmt der Angeklagte, wie das regelmäßig der Fall ist, an der Hauptverhandlung teil, dann sollte er den schriftlichen Antrag oder die Übergabe einer Protokollanlage dem mündlichen Antrag vorziehen. Denn nach § 273 Abs. 1 sind zwar die Anträge zu protokollieren; auf die Protokollierung ihrer Begründung besteht aber kein Anspruch (RGSt. 32 241). Die Begründung kann aber namentlich im Hinblick auf eine spätere Anfechtung von Bedeutung sein. Wird das Gesuch während einer Hauptverhandlung zu Protokoll der Geschäftsstelle gegeben, so kommt es für den Zeitpunkt der Ablehnung (§ 25) darauf an, wann das Gesuch dem Gericht vorgelegt wird. Der Ablehnungsberechtigte trägt für die Behandlung des Gesuchs im Geschäftsbetrieb alle Gefahr allein; sein Ablehnungsrecht erlischt, wenn das Gesuch in dem maßgebenden Zeitpunkt dem verhandelnden Gerichtskörper nicht vorliegt, selbst wenn es bei ordnungsgemäßer Behandlung rechtzeitig hätte vorliegen können. Das gilt auch, wenn ein nicht auf freiem Fuß befindlicher Angeklagter, der in einem auswärtigen Bezirk verwahrt wird, dort seine Erklärung zu Protokoll der Geschäftsstelle des Amtsgerichts gibt, wozu er wegen der Formfreiheit der Erklärung befugt ist. § 299 Abs. 2 findet keine entsprechende Anwendung. 4. Begründung. Zwar schreibt § 26 anders als § 45 Abs. 1 nicht vor, daß der Ablehnende im Ablehnungsgesuch die Ablehnungsgründe angeben muß. Gleichwohl ist neben der Glaubhaftmachung auch die Begründung Voraussetzung der Zulässigkeit des Ablehnungsgesuchs. Das ergibt sich — in Übereinstimmung mit der früheren Rechtsprechung (KG DJZ 1929 184; BayObLGSt. 1952 188) - aus § 26 a Abs. 1 Nr. 2. Dort ist bestimmt, daß das Ablehnungsgesuch als unzulässig zu verwerfen ist, wenn es keinen Ablehnungsgrund enthält. Ist der Ablehnungsgrund den Akten des laufenden Prozesses, namentlich dem Hauptverhandlungsprotokoll, zu entnehmen, oder beruht er auf dem Verhalten eines Richters in der Verhandlung, dann genügt es, die Tatsache kurz anzugeben; wegen der Einzelheiten kann auf das Gerichtskundige Bezug genommen werden. Denn was das Gericht weiß, braucht ihm nicht erst zur Kenntnis gebracht zu werden. Sonst aber darf für die Tatsachenangaben nicht auf Akten oder Schriftstücke verwiesen werden. Die Begründungspflicht besteht auch, wenn Ausschließungsgründe geltend gemacht werden, doch wird hier die Möglichkeit, auf Gerichtskundiges Bezug zu nehmen, öfter gegeben sein. Auch wenn das Gericht ein nicht begründetes Gesuch als unzulässig verwirft, kann es gleichwohl verpflichtet sein, den behaupteten Ausschließungsgrund von Amts wegen zu prüfen, doch wird hierzu seltener als bei fehlender Glaubhaftmachung (5 zu Abs. 1) Veranlassung bestehen, weil ohne Tatsachenbehauptung in der Regel der Ansatzpunkt für eine Prüfung fehlen wird. Zur Begründung müssen die Namen der abgelehnten Richter (RGSt. 13 305) und die Ablehnungsgründe angegeben werden. Ablehnungsgrund ist (§ 24 Abs. 2) derjenige, der geeignet ist, vom Standpunkte des — vernünftigen — Angeklagten aus (2 zu § 24) Mißtrauen gegen die Unparteilichkeit des Richters zu rechtfertigen ( A r z t 26). Daß der Ablehnende Besorgnis der Befangenheit hege, braucht er nicht besonders vorzutragen ( F e i s e n b e r g e r 1). Kann er nicht feststellen, auf welche von mehreren Richtern ein Ablehnungs-

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Dritter Abschnitt. Ausschließung und Ablehnung (Dünnebier)

§ 26 Anm. 5 - 7

grund zutrifft, dann genügt es, wenn er so deutliche Angaben macht, daß das beschließende Gericht eindeutig erkennen kann, welche Richter abgelehnt werden sollen (BVerfGE 2 2 9 7 = NJW 1953 1097). Wird die Ablehnung in einer Hauptverhandlung erst nach dem Beginn der Vernehmung des Angeklagten zur Sache, in der Revisionshauptverhandlung erst nach Beginn der Ausführungen des Angeklagten zur Revision angebracht, dann gehört zur Begründung die Angabe, wann die Umstände, auf die die Ablehnung gestützt wird, eingetreten und wann sie dem Ablehnungsberechtigten bekannt geworden sind (§ 25 Abs. 2 Nr. 1). Wird die Ablehnung nicht alsbald nach Bekanntwerden angebracht, so ist ferner darzulegen, welche Umstände einem früheren Vorbringen entgegengestanden haben (§ 25 Abs. 2 Nr. 2). 5. Glaubhaftmachung. Alles was zur Begründung des Gesuchs gehört, hat der Gesuchsteller glaubhaft zu machen. Absatz 2 Satz 1 erwähnt ausdrücklich, daß in den Fällen des § 25 Abs. 2 die Voraussetzungen des rechtzeitigen Vorbringens glaubhaft zu machen sind. Zu diesen Voraussetzungen gehört auch, wann die Umstände, auf welche die Ablehnung gestützt wird, dem zur Ablehnung Berechtigten bekanntgeworden sind; denn nur danach kann beurteilt werden, ob dieser sie unverzüglich geltend gemacht hat. Nach dem Zusammenhang des § 26 muß der Antragsteller seine Angaben dann glaubhaft machen, wenn er das Gesuch anbringt. Denn sonst kann über das Gesuch nicht sachlich entschieden werden. Demzufolge gehört die Glaubhaftmachung zu den Zulässigkeitsvoraussetzungen (§ 26 a Abs. 1 Nr. 2). Daher muß der Ablehnende auch Ausschließungsgründe glaubhaft machen. Gerichtsbekannte Tatsachen bedürfen keiner Glaubhaftmachung (OLG Neustadt GA 1956 94). Zu ihnen gehören Tatsachen, die das Gericht jederzeit aus den Akten feststellen kann, oder die sich, in Ablehnungsfallen, vor den Augen und Ohren des Gerichts ereignet haben. Im letzten Falle braucht auch die Rechtzeitigkeit nicht glaubhaft gemacht zu werden, wenn sie für das Gericht nach der Sachlage auf der Hand liegt (BGH MDR 1965 1004). Demzufolge brauchen z. B. die Tatsachen, die eine Ausschließung nach § 22 Nr. 4 und 5 und nach § 23 begründen, regelmäßig nicht glaubhaft gemacht zu werden. Dagegen kann die Glaubhaftmachung in den Fällen des § 22 Nr. 1 bis 3 erforderlich sein, wenn die Verletzung nicht aktenkundig ist. Hat das Gericht ein Gesuch wegen mangelnder Glaubhaftmachung verworfen, so kann gleichwohl die Verpflichtung bestehen, einen nicht glaubhaft gemachten Ausschließungsgrund von Amts wegen zu prüfen (§ 30). 6. Form der Glaubhaftmachung. Die Glaubhaftmachung soll den Richter in den Stand versetzen, auch ohne förmliche Beweiserhebung die behaupteten Tatsachen für wahr zu halten (BGHSt. 21 347), doch genügt eine nach Lage der Sache vernünftigerweise zur Entscheidung in hinreichendem Maße dargetane Wahrscheinlichkeit (S. 350), wobei freilich der Grundsatz in dubio pro reo nicht gilt (S. 352); denn was zweifelhaft bleibt, ist nicht wahrscheinlich gemacht. Deshalb muß der Antragsteller das Gericht mit den verwendeten Beweismitteln in die Lage versetzen, über das Gesuch zu entscheiden, ohne weitere, den Fortgang des Verfahrens verzögernde Ermittlungen anzustellen. Abgesehen von der Bezugnahme auf das Zeugnis des abgelehnten Richters (§ 26 Abs. 3) reicht deshalb die Benennung von Zeugen in der Regel (Ausnahmen 5 Abs. 2 zu § 45) nicht aus; der Antragsteller muß eine eidesstattliche, mindestens schriftliche Erklärung des Zeugen beibringen (BGHSt. 21 347). Im übrigen gilt das 5 zu § 45 Bemerkte mit folgenden Ergänzungen: Eid und eidesstattliche Versicherung sind nach Absatz 2 Satz 2 nicht nur für den Beschuldigten, sondern für alle Ablehnungsberechtigten, also etwa auch den Privatkläger ( E b S c h m i d t 6) ausgeschlossen (6 zu § 45), doch bleibt die eidesstattliche Versicherung von Zeugen zulässig. Der Berechtigte kann auf das Zeugnis des abgelehnten Richters Bezug nehmen (Absatz 2 Satz 3; Bay. ObLGSt. 1957 11). Unter Zeugnis ist die in Absatz 3 bezeichnete dienstliche Äußerung zu verstehen ( H a h n Mat. 2 1527), nicht eine durch Vernehmung des Richters gewonnene Aussage. Das Gericht kann, wenn die Behauptung des Ablehnungsberechtigten durch die Äußerung des Abgelehnten bestätigt wird, aufgrund der Äußerung entscheiden, doch steht es ihm frei, weitere Beweise zu erheben. 7. Dienstliche Äußerung. Absatz 2 Satz 3 ist eine Verfahrensvorschrift, die nur für das ordentliche Verfahren des § 27 sinnvoll ist. Wird das Gesuch als unzulässig nach § 26 a verworfen, entfallt die dienstliche Äußerung. Wird dagegen nach § 27 verfahren, ist der abgelehnte Richter dienstlich verpflichtet, sich zu äußern. Da die Äußerung ggf. dem Rechts-

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§ 26a

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

mittelgericht als Entscheidungsgrundlage dienen muß, muß sie notwendigerweise schriftlich sein. Sie wird zu den Sachakten genommen ( P e n t z JVB1. 1963 186). Da über den Zwischenstreit des § 27 außerhalb der Hauptverhandlung entschieden wird (II 1 zu § 27), ist § 33 Abs. 2 und 3 anzuwenden. Demzufolge ist die Äußerung außer dem Staatsanwalt auch den anderen Beteiligten (§ 24 Abs. 3 Satz 1) zur Kenntnis zu bringen, bevor sie zu deren Nachteil verwertet wird (BVerfGE 24 62 = NJW 1968 1621; BGH St. 21 87, 21 345, 23 203). Da Beschlüsse, die eine Ablehnung für begründet erklären, nicht anfechtbar sind (§ 28 Abs. 1), liegt in der Anerkennung eines Ablehnungsgrundes kein Nachteil. Daraus folgt, daß nach § 33 Abs. 3 der Ablehnende, der Privat- und der Nebenkläger zu der Äußerung des abgelehnten Richters nur dann zu hören sind, wenn das Gericht nicht schon entschlossen ist, dem Gesuche stattzugeben. Daß der Ablehnende benachteiligt wird, wenn das Gericht seinem Antrage nicht stattgibt, bedarf keiner Ausführung. Aber auch der Privat- und der Nebenkläger können benachteiligt sein, weil sie damit rechnen müssen, daß das Urteil aufgehoben wird, wenn dem Ablehnungsgesuch zu Unrecht nicht stattgegeben worden ist ( P e n t z JVB1. 1963 186). Wird die Bekanntgabe unterlassen, so kann der Berechtigte die Ablehnung unverzüglich (§ 25 Abs. 2 Nr. 2) wiederholen, wenn er aus dem das Gesuch verwerfenden Beschluß die ihm vorenthaltene Äußerung des Richters kennen lernt, u n d wenn dieser Äußerung Umstände zu entnehmen sind, auf welche er die Ablehnung noch nicht gestützt hatte (wohl weitergehend BGHSt. 21 87). Besteht diese Möglichkeit nicht, so kann er die Revision auf das unterlassene rechtliche Gehör stützen (II 4 zu §§ 33, 33a). Daß er verpflichtet wäre, ein Verfahren nach § 33 a selbst dann anzuregen, wenn er gegen den die Ablehnung verwerfenden Beschluß ein Rechtsmittel hat (so H a n a c k JR 1967 230), ist mit dem Wortlaute des § 33a nicht zu vereinbaren.

§ 26 a (1) Das Gericht verwirft die Ablehnung eines Richters als unzulässig, wenn 1. die Ablehnung verspätet ist, 2. ein Grund zur Ablehnung oder ein Mittel zur Glaubhaftmachung nicht angegeben wird oder 3. durch die Ablehnung offensichtlich das Verfahren nur verschleppt oder nur verfahrensfremde Zwecke verfolgt werden sollen. (2) Das Gericht entscheidet über die Verwerfung nach Absatz 1, ohne daß der abgelehnte Richter ausscheidet. Im Falle des Absatzes 1 Nr. 3 bedarf es eines einstimmigen Beschlusses und der Angabe der Umstände, welche den Verwerfungsgrund ergeben. Wird der Untersuchungsrichter, der Ermittlungsrichter, ein beauftragter oder ein ersuchter Richter oder der Amtsrichter im vorbereitenden Verfahren oder als Einzelrichter abgelehnt, so entscheidet er selbst darüber, ob die Ablehnung als unzulässig zu verwerfen ist. Entstehungsgeschichte: Eingefügt durch Art. 5 Nr. 4 StPÄG.

Übersicht I. Bedeutung 1. Inhalt 2. Verhältnis zu § 27 II. Unzulässigkeitsfälle 1. Verspätung 2. Wiederholung 3. Fehlende Begründung 4. Fehlende Glaubhaftmachung 5. Verschleppung

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6. Verfahrensfremde Zwecke 7. Ablehnung des Gerichts als Ganzes 8. Verfrühte Gesuche III. Verfahren 1. Zuständiges Gericht 2. Der entscheidende Gerichtskörper 3. Zusammenfassung 4. Entscheidung

Dritter Abschnitt. Ausschließung und Ablehnung (Dünnebier)

§ 26 a Anm. 1 1 , 2

I. Bedeutung. 1. Inhalt. § 27 ordnet die regelmäßige Behandlung des Ablehnungsgesuchs, § 26 a stellt für die Ablehnung unzulässiger Gesuche ein vereinfachtes Verfahren zur Verfügung. Im regelmäßigen Verfahren darf nur entschieden werden, nachdem der abgelehnte Richter ausgeschieden ist, und wenn über die Ablehnung während einer Hauptverhandlung zu entscheiden ist, in deren Unterbrechung und in Beschlußbesetzung (II 2 zu § 27). Demzufolge kann der Einzelrichter nicht selbst beschließen, vielmehr entscheidet über die Ablehnung des Untersuchungsrichters das Landgericht (§ 27 Abs. 3 Satz 1), über die eines Amtsrichters ein anderer Amtsrichter (§ 27 Abs. 3 Satz 2). Dagegen ist die Ablehnung unzulässiger Gesuche dem Gericht, dem der Abgelehnte angehört, unter dessen Mitwirkung (III 1 und 2), oder dem abgelehnten Richter selbst (III 3 Abs. 2) zugewiesen. Damit werden Grundsätze, die für die Behandlung unzulässiger Rechtsmittel gelten, freilich in erweitertem Umfang, auf das Ablehnungsgesuch übertragen: Nach § 319 Abs. 1 kann das Gericht des ersten Rechtszuges die verspätete Berufung, nach § 346 Abs. 1 das Gericht, dessen Urteil mit der Revision angefochten wird, eine Revision, die verspätet eingelegt oder begründet worden ist, als unzulässig verwerfen. Der Vergleich mit diesen Bestimmungen zeigt, daß § 26 a nicht in allen Teilen zu billigen ist: Nummer 1 (verspätete Ablehnung) sowie Nummer 2, soweit dort die vereinfachte Ablehnung von Gesuchen zugelassen wird, in denen kein Ablehnungsgrund angegeben ist, enthalten eine verständliche und unangreifbare Verfahrensregelung, die dem Verfahren bei der Verwerfung unzulässiger Rechtsmittel entspricht. Nicht unbedenklich ist aber schon Nr. 2, soweit auf die fehlende Glaubhaftmachung abgestellt ist. Denn ob etwas glaubhaft gemacht ist, kann bei den weiten Möglichkeiten der Glaubhaftmachung (5, 6 zu § 45) durchaus zweifelhaft sein. Größten Bedenken aber begegnet die Vorschrift der Nummer 3 über die Verwerfung von Ablehnungen, durch die verfahrensfremde Zwecke verfolgt werden. Bei dem weitgefaßten Tatbestand, der mehrere unbestimmte Rechtsbegriffe enthält, ist die Entscheidung unter Mitwirkung des abgelehnten Richters oder beim Einzelrichter gar allein durch ihn selbst der Gefahr ausgesetzt, daß die Forderung, die Interessen des Beschuldigten gegenüber den öffentlichen Interessen vorsichtig abzuwägen, dem Wunsche, dem Verfahren ungestört Fortgang zu geben, wenn auch nur unbewußt, untergeordnet wird. Zwar kann bei Entscheidungen, die außerhalb der Hauptverhandlung ergehen, die Beschwerde alsbald Abhilfe schaffen (§ 28 Abs. 1). Aber nur die wenigsten Fälle sind der Beschwerde zugänglich; denn die Hauptrolle spielt die Ablehnung in der Hauptverhandlung. Da bei dieser die Entscheidung erst mit dem Urteil angefochten werden kann (§ 28 Abs. 2), ist bei rechtsirrtümlicher Anwendung des § 26 a die Gefahr gegeben, daß die Verhandlung wiederholt werden muß (§ 338 Nr. 3). Bei der Konzentration der Ablehnungsgründe (§ 25 Abs. 2) wäre die anfechtbare Regelung zu entbehren gewesen bei einer Reform sollte Nr. 3 gestrichen werden. Der Katalog des § 26a Abs. 1 ist — abgesehen von den zu II 7 und 8 behandelten Fällen — abschließend. Der gelegentlich behandelte Fall der bloßen Unmutsäußerung (OLG Hamm JMB1NRW 1963 49) ist zu Recht nicht aufgenommen worden. 2. Verhältnis zu § 27. Das Regelverfahren des § 27 findet nach dessen erstem Halbsatz immer dann Anwendung, wenn das Ablehnungsgesuch nicht als unzulässig verworfen wird. Entgegen der Ansicht des Bundesgerichtshofs (BGHSt. 21 337) bezieht sich der Wortlaut des § 27 Abs. 1 nicht nur auf den Fall der Zurückweisung des Gesuchs als unbegründet und kommt es nicht darauf an, ob die erkennende Kammer das Gesuch als zulässig angesehen hat. Vielmehr ist für die Zulässigkeit der Anwendung des § 27 allein der Umstand maßgebend, daß nicht der Weg des § 26 a gewählt worden ist. Dagegen kann das Verfahren nach § 27 nicht etwa mit der Begründung als unzulässig abgelehnt werden, das Gesuch könne in dem vereinfachten Verfahren des § 26 a verworfen werden. Denn § 27 Abs. 1 wird nicht mit den Worten eingeleitet: „Ist die Ablehnung nicht als unzulässig zu verwerfen . . . " , sondern mit der Wendung: „wird die Ablehnung nicht als unzulässig verworfen". Daraus folgt, daß nach § 27 sowohl, was allerdings der Regelfall sein wird, über zulässige als auch über unzulässige Gesuche entschieden werden kann (BGHSt. 21 337)'. Das hat auch seinen 1

Vgl. Begrdg.. zu § 21 E 1909, Mat. zur StRRef. 12 70.

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§ 26 a

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Anm. II 1 - 3 guten Grund. Denn nur in den Fällen der Nummer 1 und der ersten Alternative der Nummer 2 ist lediglich eine Formalentscheidung zu treffen. In den anderen Fällen, namentlich denen der Nummer 3, ist eine Wertung erforderlich, die vorzunehmen sich der abgelehnte Richter befangen fühlen könnte; zumindest könnte er als befangen erscheinen. Ist das der Fall oder besteht der geringste Zweifel, ob nicht das beigebrachte Mittel doch als Glaubhaftmachung angesehen werden könnte; ob der Ablehnende nicht neben der Absicht der Verschleppung auch von anderen Absichten geleitet sein könnte; ob er wirklich lediglich verfahrensfremde Zwecke verfolgt oder ob er nicht vielmehr ernstlich verfolgte Verfahrenszwecke über diese Absicht hinaus auch noch verfahrensfremden Zwecken dienstbar macht, dann ist stets das Regelverfahren des § 27 einzuschlagen. II. Unzulässigkeitsfalle. 1. Verspätung. Es entspricht der bisherigen Rechtsprechung (RGSt. 54 328), daß das verspätete Gesuch ohne Ausscheiden des Abgelehnten verworfen werden kann. Dieser Fall gewinnt besondere Bedeutung durch die Vorschrift, daß nach dem Zeitpunkt des § 25 Abs. 1 Satz 1 eine Ablehnung nur noch geltend gemacht werden darf, wenn die Umstände, auf die sie gestützt wird, erst später eintreten oder dem Berechtigten bekannt werden, und wenn die Ablehnung unverzüglich nach diesem Ereignis geltend gemacht wird (§ 25 Abs. 2). Wird der Ablehnungsgrund nach dem kritischen Zeitpunkt angebracht, ohne daß die Voraussetzungen des § 25 Abs. 2 behauptet werden, dann bedarf es zur Entscheidung nur der Feststellung, daß das Gesuch verspätet angebracht ist. Werden die Voraussetzungen des § 25 Abs. 2 dargetan, dann ist sowohl der Zeitpunkt des Bekanntwerdens der Umstände als auch derjenige der Geltendmachung der Ablehnung zu überprüfen. Daß es auf das Entstehen der Ablehnungsumstände nicht ankommt, ist 7 a zu § 25 dargelegt. Wegen der bei der Prüfung zu beachtenden Umstände s. 7a und b zu § 25. Verspätet und im vereinfachten Verfahren des § 26 a zu verwerfen ist auch die nach dem letzten Wort angebrachte Ablehnung (7 zu § 25). 2. Wiederholung. Zwar besteht keine Verpflichtung, Ablehnungsgründe außerhalb einer Hauptverhandlung alsbald und während einer Hauptverhandlung vor dem Zeitpunkte des § 25 Abs. 1 Satz 1 anzubringen. Da aber nach § 25 Abs. 1 Satz 2 alle Ablehnungsgründe gleichzeitig vorzubringen sind, ist ein Gesuch auch vor dem Zeitpunkt des § 25 Abs. 1 Satz 1 verspätet, wenn der Ablehnende schon ein Gesuch angebracht und dabei unterlassen hat, weitere ihm bekannte Ablehnungsgründe geltend zu machen. Die Glaubhaftmachung erstreckt sich aber nur auf die Voraussetzungen des § 25 Abs. 2 und nicht auf die des § 25 Abs. 1 Satz 2. Daher wird vor dem Zeitpunkt des § 25 Abs. 1 Satz 1 nicht allzu häufig festzustellen sein, daß bei einer weiteren Ablehnung das Konzentrationsgebot des § 25 Abs. 1 Satz 2 verletzt ist (6 zu § 25). Die Verletzung des § 25 Abs. 1 Satz 2 und damit die Verspätung i.S. des § 26 a Abs. 1 Nr. 1 liegt jedoch auf der Hand, wenn der Ablehnende ein bereits beschiedenes Gesuch unverändert wiederholt. Denn zweimal das Gleiche kann er gleichzeitig vorbringen. In Übereinstimmung mit der bisherigen Rechtsprechung (RGSt. 11 225; RG GA 44 385) ist daher das wiederholte Gesuch als unzulässig zu verwerfen 2 . Da schlichte Wiederholungen selten vorkommen, ist stets sorgfaltig zu prüfen, ob in dem Gesuch nicht doch eine neue Behauptung enthalten oder für eine alte Behauptung ein neues Mittel der Glaubhaftmachung rechtzeitig (7b Abs. 2 zu § 25) beigebracht worden ist. Alsdann ist das neue Gesuch nicht unzulässig (4 Abs. 2) und nicht nach § 26 a zu behandeln. 3. Fehlende Begründung. Die Fassung der Nr. 2, daß die Ablehnung zu verwerfen sei, wenn ein Grund zur Ablehnung oder ein Mittel zur Glaubhaftmachung nicht angegeben werde, kann zu Zweifeln Anlaß geben. Liest man „ein" als Zahlwort, dann geht der Wortlaut über das Gewollte hinaus. Denn der Gesetzgeber hat nicht Gesuche für unzulässig erklären wollen, in denen von mehreren Gründen einer nicht angegeben oder — und hier wird der Wortlaut von ausschlaggebender Bedeutung — einer nicht glaubhaft gemacht worden ist. 2

Vgl. auch Begrdg. zu § 26a, BTDrucks. IV 178, S. 35; O L G Hamm NJW 1966 2074, das allerdings zu Unrecht einen Fall des Absatzes 1 Nr. 2 annimmt.

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Dritter Abschnitt. Ausschließung und Ablehnung (Dünnebier)

§ 26 a Anm. II 4 , 5

Vielmehr ist, wenn von mehreren Gründen nur einer glaubhaft gemacht worden ist, nach § 27 zu verfahren. Mit der mißverständlichen Wortfassung ist gemeint, das Gesuch sei als unzulässig zu verwerfen, wenn (überhaupt) kein Grund zur Ablehnung oder kein Mittel zur Glaubhaftmachung angegeben wird, wie dies der bisherigen Rechtsprechung (KG DJZ 1929 184) entspricht. Die Fassung erklärt sich aus der Scheu der Gesetzessprache vor dem Worte „kein". Die Vorschrift ist, da § 26 a nur klar liegende Formalentscheidungen ermöglichen will, eng auszulegen. Sie ist nur anzuwenden, wenn sich der Ablehnende auf die bloße Erklärung der Ablehnung beschränkt und von jeder Begründung absieht oder zur Begründung nur solche Erwägungen vorbringt, die völlig ungeeignet sind, ein Ablehnungsgesuch zu rechtfertigen (OLG Köln JMB1NRW 1967 91). Danach bereitet die Auslegung keine Schwierigkeiten, wenn der Ablehnende es bewußt gänzlich unterläßt, einen Ablehnungsgrund anzugeben („Ich lehne den Vorsitzenden ab. Gründe anzugeben, ist ja doch zwecklos"). Aber auch Wertungen ohne Tatsachenbehauptung („weil er ungerecht, mir nicht wohlgesonnen ist") sind keine Begründung. Dagegen berechtigen schwerverständliche oder unvollständige Ablehnungsgründe (Behauptung, der Richter sei ausgeschlossen, „weil ich mit ihm verschwägert bin", ohne Angabe der die Schwägerschaft vermittelnden Personen) nicht zur vereinfachten Verwerfung. Auch ist zu beachten, daß auf Gerichtsbekanntes nur hingewiesen zu werden braucht. Die Vorschrift bezieht sich nur auf das Fehlen von Ablehnungsgründen. Wird der abgelehnte Richter nicht mit dem Namen genannt, sondern nur durch Angabe einer bestimmten Vortätigkeit bezeichnet („die Richter, die in einem — angegebenen — früheren Verfahren mitgewirkt haben"; weiteres Beispiel BVerfGE 2 297 = NJW 1953 1097), so rechtfertigt das keine Entscheidung nach § 26 a. 4. Fehlende Glaubhaftmachung. Das Mittel zur Glaubhaftmachung bezieht sich nicht nur auf den Ablehnungsgrund, sondern auch auf die Voraussetzungen des rechtzeitigen Vorbringens (§ 25 Abs. 2, § 26 Abs. 2 Satz 1). Das Gesuch ist also in der vereinfachten Form des § 26 a zu verwerfen, wenn nach dem in § 25 genannten Zeitpunkt ein Ablehnungsgrund angegeben und glaubhaft gemacht, aber keine Glaubhaftmachung zu den Umständen des Absatzes 2 gegeben wird. Werden in dem genannten Fall die in § 25 Abs. 2 Nr. 1 genannten Umstände glaubhaft gemacht, aber nicht die Unverzüglichkeit der Nummer 2, dann kann nach § 26 a verfahren werden, wenn nicht die Unverzüglichkeit für das Gericht zutage liegt. Ist das jedoch der Fall (der Angeklagte lehnt den Vorsitzenden unmittelbar nach einem Vorhalt ab), dann findet § 26a keine Anwendung. Denn Gerichtskundiges braucht nicht glaubhaft gemacht zu werden. Was zur Glaubhaftmachung gehört, ist 5 zu § 26 ausgeführt. Da das vereinfachte Ablehnungsverfahren nur zulässig ist, wenn jegliche Glaubhaftmachung fehlt, ist bei den weiten Möglichkeiten der Glaubhaftmachung Zurückhaltung in der Beurteilung geboten, daß ein angegebenes Mittel keines der Glaubhaftmachung sei3. Kann das Mittel unter irgend einem Gesichtspunkt noch als Mittel der Glaubhaftmachung angesehen werden, ist das vereinfachte Ablehnungsverfahren unstatthaft. 5. Verschleppung. Gelegentlich bringt ein Angeklagter, um den Prozeß zu verschleppen, ein Ablehnungsgesuch nach dem anderen vor, obwohl er weiß, daß er mit den Anträgen keinen Erfolg haben kann, entweder weil die behaupteten, ins Zeugnis des abgelehnten Richters gestellten Tatsachen nicht vorliegen, oder weil sie zwar gegeben aber für jeden verständigen Menschen keine Ablehnungsgründe sind. Die Praxis erachtete es für zulässig, solche Gesuche, denen nur der falsche Anschein einer Ablehnung gegeben sei, unter Mitwirkung der abgelehnten Richter (RGSt. 30 273) abzulehnen (RGSt. 56 49; R G JW 1901 397; R G GA 65 439; BayObLGSt. 18 35). Die Rechtsprechung verlangte jedoch, um die Nachprüfung durch das Rechtsmittelgericht zu gewährleisten, sowohl in tatsächlicher als auch in rechtlicher Hinsicht eine eingehende Begründung (RGSt. 30 273; RG G A 46 201). 3

Beispiel: der Ablehnende verweist wegen einer Äußerung, die der Richter außerhalb der Hauptverhandlung abgegeben haben soll, auf das Zeugnis eines Beamten, weil er sich gescheut hat, ihn um eine eidesstattliche Versicherung zu bitten.

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§ 26a

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Anm. II 6 Diese sollte auf die Frage, ob die Ablehnung unbegründet sei, nicht eingehen dürfen, weil es unzulässig sei, aus der Unbegründetheit die Verschleppungsabsicht zu folgern (RG G A 65 540; R G LZ 1918 284). Dieser Weg des — ohnehin schwer vorstellbaren — Abstrahierens ist nicht mehr gangbar. Die vereinfachte Verwerfung ist nur zulässig, wenn mit dem Mittel der Ablehnung offensichtlich lediglich der Zweck der Verschleppung verfolgt werden soll; sie ist aber „nicht anwendbar, wenn mit der Ablehnung neben den angegebenen gleichzeitig auch andere Zwecke erstrebt werden" (Begrdg. zu § 26a, BTDrucks. IV 178, S. 35). Demzufolge darf die Verschleppungsabsicht nicht allein aus der Häufung der Gesuche gefolgert werden; sie setzt vielmehr voraus, daß der Ablehnende Anträge stellt, obwohl er weiß, daß er nur das Entscheidungsverfahren (auf das es ihm ankommt), nicht aber das Ausscheiden des Richters (auf das es ihm nicht ankommt) erreichen kann. Dieser Absicht steht es regelmäßig entgegen, wenn ein Gesuch vorgebracht wird, das begründet sein kann oder gar begründet ist. Macht der Angeklagte in Verschleppungsabsicht — aber nicht offensichtlich nur in dieser — einen Ablehnungsgrund und die Voraussetzungen des rechtzeitigen Vorbringens (§ 26 Abs. 2 Satz 1), etwa das spätere Bekanntwerden (§ 25 Abs. 2 Nr. 1), geltend, dann darf nicht nach § 26 a verfahren werden. Der Fall, daß durch die Ablehnung offensichtlich, also ohne jeden Zweifel zutage liegend, das Verfahren nur verschleppt, also nicht neben der Verschleppung auch prozeßordnungsgemäß verfahren wird, kann alsdann nur vorliegen, wenn der Ablehnende erklärt oder zweifelsfrei zu erkennen gegeben hat, daß ihm das Ausscheiden des Richters selbst dann gleichgültig sei, wenn sein Ablehnungsgrund durchschlage, mit anderen Worten, wo die Nichternstlichkeit der Ablehnung und die ausschließliche Absicht der Verschleppung keinem Zweifel unterliegen können (BGH bei D a l l i n g e r M D R 1955 271). D a solche Fälle in der Praxis kaum vorkommen, wird der ersten Alternative der Nummer 3 keine Bedeutung zukommen. Das wäre auch dann der Fall, wenn die angestellten Überlegungen nicht durchschlügen. Denn zufolge der Konzentrationsmaxime (§ 25 Abs. 1 Satz 2) und der Verpflichtung, Ablehnungsgründe, die erst nach dem Zeitpunkt des § 25 Abs. 1 Satz 1 eintreten oder bekanntwerden, unverzüglich vorzubringen und das rechtzeitige Vorbringen glaubhaft zu machen, sind Verschleppungsanträge, die nicht nach den Nummern 1 und 2 im vereinfachten Verfahren abgelehnt werden könnten, wenigstens in der Hauptverhandlung, wo ihre Behandlung bisher allein Schwierigkeiten verursacht hat, kaum denkbar. 6. Verfahrensfremde Zwecke. Die zweite Alternative, daß durch die Ablehnung nur verfahrensfremde Zwecke verfolgt werden sollen, ist wie die erste zu behandeln; denn die Verschleppung ist nur ein Unterfall der verfahrensfremden Zwecke. Für den Fall der verfahrensfremden Zwecke gibt es keine feste oder ständige Rechtsprechung und keinen Vorgang in der Entwurfsgeschichte 4 . Die Begründung nennt unter verfahrensfremden Zwecken Demonstrationszwecke (35). Dabei ist wohl daran gedacht, daß der Angeklagte in der Hauptverhandlung, um seine Gesinnung darzutun, diejenige des Richters, sei es die vermutete, sei es eine allgemein oder nur dem Ablehnenden bekannte, durch ein (unbegründetes) Ablehnungsgesuch herabsetzt. Auch könnte der Fall hierunter zu zählen sein, daß der Angeklagte seine prozessuale Macht mißbraucht und den Richter durch den Schein einer Ablehnung verunglimpft ( K G J R 1966 230). Die Alternative ist gleichwohl entbehrlich, weil in den meisten Fällen die Nummern 1 und 2 durchschlagen. Liegen sie ausnahmsweise nicht vor, wird der Umstand, daß n u r verfahrensfremde Zwecke verfolgt werden, kaum nachweisbar sein. Für gewöhnliche Prozesse wird die Vorschrift keine Bedeutung erlangen. Wird sie in außergewöhnlichen Prozessen, wo der Angeklagte auch mit unfairen Mitteln kämpft — statt des Wegs nach § 26 Abs. 1 Nr. 1 und 2 oder des § 27 — angewendet, so wird sie Anlaß zu vermeidbaren Angriffen sein. Die Bedenklichkeit der Vorschrift (I 1) wird nur wenig dadurch gemildert, daß Kollegialgerichte die Ablehnung nur einstimmig verwerfen dürfen (Absatz 2 Satz 2). 4

Der Entwurf 1939 hatte die vereinfachte Verwerfung offenbar mutwilliger Gesuche vorgeschlagen (§ 127). Die Kommission für die Reform des Strafprozesses hatte sie ausdrücklich abgelehnt (Prot. 2 202) mit der Begründung, daß der Begriff zu dehnbar sei und auch mit ihm doch nicht alle denkbaren Mißbräuche verhindert werden könnten.

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Dritter Abschnitt. Ausschließung und Ablehnung (Dünnebier) § 26 a Anm. II 7, 8; III 1 7. Ablehnung des Gerichts als Ganzes. Ein Gericht als Ganzes, das heißt als Behörde, kann nicht in einem Verhältnis stehen, das die Ausschließung nach §§ 22, 23 begründet. Eine Vorschrift über die Ablehnung eines Gerichts wurde nach den Motiven ( H a h n 1 90) für überflüssig erachtet, weil sich aus dem Inhalt des Abschnitts von selbst ergebe, daß sich die Ablehnung immer nur gegen einzelne Richter wenden könne. In Übereinstimmung mit dieser Begründung hat die Rechtsprechung von jeher daran festgehalten, daß ein Ablehnungsgesuch vom abgelehnten Gericht in seiner regelmäßigen Zusammensetzung als unzulässig zurückgewiesen werden muß, wenn es gegen ein Gericht als Ganzes oder gegen alle Richter oder alle Kammern oder Senate eines Gerichts oder gegen eine Kammer oder einen Senat als Spruchkörper (und nicht gegen die ihn darstellenden Richter) vorgebracht wird (RGSt. 27 175; 56 49; R G JW 1895 590, 1904 64, 1935 2894; LZ 1923 31). Die (unzulässige) Ablehnung eines Gerichts als Ganzes ist in § 26 a nicht geregelt. Die Begründung bemerkt dazu, § 26 a gelte nur für die Ablehnung eines einzelnen Richters, nicht für die Ablehnung des Gerichts (oder eines seiner Spruchkörper) als solchen. Derartige Gesuche seien, führt die Begründung weiter aus, wie durch die höchstrichterliche Rechtsprechung geklärt, vom Gericht in seiner gewöhnlichen Besetzung zu verwerfen (Begrdg. 35). Mit § 26 a soll dem Gericht die Möglichkeit eröffnet werden, unzulässige Gesuche in seiner gewöhnlichen Besetzung zu verwerfen (III 2). Damit soll durch Gesetz bestimmt werden, was die Rechtsprechung und zwar auch für die Ablehnung eines ganzen Gerichts, zugelassen hatte. Es wäre daher zweckmäßig gewesen, die Ablehnung des Gerichtskörpers in den Katalog des § 26 a Abs. 1 aufzunehmen. Auf jeden Fall stellt die Begründung klar, daß die bisherige Rechtsprechung gebilligt und ihre Fortführung als selbstverständlich angesehen wird. Da der Fall zu den klaren Fällen unzulässiger Ablehnung gehört, ist die Verwerfung auch weiterhin, wie in § 26 a geregelt, ohne Ausscheiden des abgelehnten Richters in der gewöhlichen Besetzung des Gerichts auszusprechen. Bei einer Reform sollte der Fall in den Katalog aufgenommen werden. Keine Ablehnung des Gerichts als Ganzes ist es, wenn der Gesuchsteller alle einzelnen Richter, wenn auch unter Verweis auf die Sitzungsniederschrift, namhaft macht und angibt, warum er sie als befangen ansieht (RG JW 1924 1252; BGHSt. 23 202), gleichviel ob er für alle verschiedene Ablehnungsgründe angibt oder den gleichen Grund. Das Gesuch ist auch zulässig, wenn der Ablehnende zwar das Gericht ablehnt, aus dem Ablehnungsgrund aber erkennbar wird, daß unter der Sammelbezeichnung des Gerichts dessen Berufungsrichter abgelehnt werden sollen (BGH bei H e r l a n MDR 1955 651). 8. Verfrühte Gesuche (2 zu § 25) betreffen (noch) keinen Richter, der (schon) zur Mitwirkung berufen ist. Sie sind daher im gewöhnlichen Verfahren, also nach § 26 a, abzulehnen. Darunter gehört es, wenn die Ablehnung sich auf Fälle erstreckt, die zur Zeit nicht gegeben sind, sondern nur möglicherweise einmal eintreten werden (RGSt. 66 391), oder wenn ein Richter abgelehnt wird, der demnächst vielleicht einmal entscheiden könnte (OLG Colmar A l s b . 1 65).

III. Verfahren. 1. Zuständiges Gericht. § 27 Abs. 1 a.F. lautete: Über das Ablehnungsgesuch entscheidet das Gericht, dem der Abgelehnte angehört. Der Satz ist in § 27 Abs. 1 der geltenden Fassung wiederholt für den Fall, daß die Ablehnung nicht als unzulässig verworfen wird, allerdings mit dem klarstellenden Zusatz „ohne dessen Mitwirkung". Da § 26 a gegenüber § 27 die Vereinfachung enthalten soll, daß das Gericht unter Mitwirkung des abgelehnten Richters befinden soll5, ist in § 26 a unter Gericht das Gericht gemeint, dem der Abgelehnte angehört. Wie in § 27 Abs. 1 ist daher von Rechts wegen und ohne eine Möglichkeit der Änderung durch die Geschäftsverteilung das Gericht in der Gestalt zuständig, in der es vermöge sachlicher und örtlicher Zuständigkeit und der Geschäftsverteilung berufen ist, in der Strafsache tätig zu sein, bei der es zur Ablehnung kommt (II 1 zu § 27). 5

Begrdg. zu § 26a, BTDrucks. IV 178, S. 35.

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§ 26a

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Anm. III 2 2. Der entscheidende Gerichtskörper. Im regelmäßigen Ablehnungsverfahren des § 27 Abs. 1 entscheidet das Gericht, nachdem es die Hauptverhandlung unterbrochen hat und nachdem der abgelehnte Richter ausgeschieden und ersetzt worden ist, in Beschlußbesetzung (II 1 zu § 27). Die Gründe dafür sind, daß die Laienrichter nicht über die Ablehnung von Berufsrichtern entscheiden sollen, und der Umstand, daß nach Ausscheiden des abgelehnten Richters die Hauptverhandlung nicht fortgesetzt werden kann. Denn sie muß in ununterbrochener Gegenwart der zur Urteilsfindung berufenen Personen durchgeführt werden (§ 226); diese Gegenwart ist aber durch das Ausscheiden des abgelehnten Richters unterbrochen worden (RGSt. 13 304). Beide Gründe liegen bei der vereinfachten Ablehnung nach § 26 a nicht vor: Es wird nicht in der Sache über die Ablehnung eines Richters entschieden, sondern nur darüber, ob ein Gesuch zulässig oder unzulässig ist. Für ein Ausscheiden der Laienrichter ist daher kein Anlaß gegeben. Da auch der abgelehnte Richter nicht ausscheidet (Absatz 2 Satz 1), besteht kein Grund, die Hauptverhandlung zu unterbrechen; denn die ununterbrochene Gegenwart der zur Urteilsfindung berufenen Gerichtspersonen wird nicht gestört. Aus diesen Erwägungen hatte die Rechtsprechung schon bisher zugelassen, daß das Gericht in seiner regelmäßigen Zusammensetzung entscheide, wenn die Ablehnung sich unzulässigerweise gegen das Gericht als Ganzes richtete (RGSt. 56 50; BGH bei H e r l a n M D R 1955 651). Diesen Fall stellt die Begründung (BTDrucks. IV 178, S. 35) den anderen Verwerfungsfallen gegenüber mit der Bemerkung, daß § 26 a für ihn nicht gelte, weil Gesuche, mit denen ein Gericht als Ganzes abgelehnt werde, vom Gericht in seiner gewöhnlichen Besetzung zu verwerfen seien. Hieraus könnte der Schluß gezogen werden, daß im Falle des § 26 a eine außergewöhnliche Besetzung stattfinden müsse. Sie könnte nur darin liegen, daß das Gericht, wenn auch unter Mitwirkung der abgelehnten Richter, in Beschlußbesetzung zu entscheiden hätte. Derartige Gedanken haben aber im Gesetz keinen Ausdruck gefunden. Indem § 26a Abs. 2 den Inhalt von § 27 Abs. 2 ausdrücklich nicht übernimmt und die Einzelrichter ermächtigt, wider sie gerichtete Gesuche selbst abzulehnen, kann der Vorschrift, weil jeder Grund fehlt, die Hauptverhandlung zu unterbrechen, nur der Schluß entnommen werden, daß über unzulässige Gesuche während der Hauptverhandlung zu entscheiden ist, ohne daß sie unterbrochen wird, und in der gewöhnlichen Besetzung des Gerichts, also — wenn sie zum Gericht gehören — unter Beteiligung der Schöffen und Geschworenen und in erstinstanzlichen Hauptverfahren des Oberlandesgerichts in der Besetzung mit fünf Mitgliedern (§ 122 Abs. 2 G V G ) . Dieses Ergebnis dürfte mit der Rechtsprechung übereinstimmen, die vor Einfügung des § 26 a zu der Verwerfung unzulässiger Gesuche ergangen ist. Zwar hat sie sich, ohne zu der Besetzungsfrage sonst Stellung zu nehmen, oft nur auf die Wendung beschränkt, es könne entschieden werden, ohne daß die abgelehnten Richter ausscheiden (BGH bei D a l i i n g e r M D R 1956 527). Indessen lassen verschiedene Urteile doch erkennen, daß die Entscheidung ohne Unterbrechung der Hauptverhandlung von dem voll besetzten Gericht getroffen werden sollte. RGSt. 11 225 führt aus, daß über unzulässige Wiederholungen in der Hauptverhandlung ,4m geordneten Verfahren" zu entscheiden sei. G A 44 385 gibt im gleichen Falle die Entscheidungsbefugnis dem „erkennenden Gericht". RGSt. 49 11 läßt die Unterbrechung der Hauptverhandlung zwar zu, verlangt das aber nicht zwingend. Der Bundesgerichtshof hat für die Ablehnung eines unzulässigen Gesuchs (in einem anderen Falle als dem der Ablehnung eines Gerichts als solchem) die Strafkammer in ihrer regelmäßigen Besetzung „wie bei der Entscheidung über die Unzulässigkeit eines Beweisantrags" als zuständig angesehen (BGH bei H e r l a n M D R 1955 651). Auch das Oberlandesgericht Hamm scheint es billigen zu wollen, wenn über die Ablehnung eines (als spontane Unmutsäußerung) als unzulässig angesehenen Gesuchs in der Besetzung mit Schöffen entschieden wird (JMB1. N R W 1963 45). Endlich sieht der Entwurf 1909 bei der mit § 26 a Abs. 2 übereinstimmenden Vorschrift des § 20 Abs. 3 vor, daß die Ablehnung dem Amtsgericht, d. h. dem Amtsrichter und den Schöffen, zusteht, wenn der Amtsrichter im Laufe einer Hauptverhandlung des Schöffengerichts abgelehnt wird 6 .

6

Begrdg. zu § 20, Mat. zur StRRef. 12 69; KommBer. zu § 21, S. 3165, Mat. zur StRRef. 13.

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§ 26 a Anm. III 3 , 4

3. Zusammenfassung. Aus dem in den beiden vorhergehenden Anmerkungen Ausgeführten folgt: Es entscheidet das mit der Sache befaßte Gericht. Außerhalb der Hauptverhandlung ergeht die Entscheidung in Beschlußbesetzung unter Beteiligung des abgelehnten Richters. Während der Hauptverhandlung beschließt das vollbesetzte Gericht. Es scheiden keine Mitglieder aus, weder der abgelehnte Richter, noch Schöffen und Geschworene, noch bei den erstinstanzlich entscheidenden Strafsenaten der Oberlandesgerichte die die Zahl von drei übersteigenden Richter. Die Hauptverhandlung wird nicht für ein Zwischenverfahren unterbrochen. Das Verfahren unterscheidet sich nicht von dem bei anderen Entscheidungen, die in der Hauptverhandlung ergehen, mit der Ausnahme, daß im Falle des Absatzes 1 Nr. 3 der Verwerfungsbeschluß einstimmig gefaßt werden muß (Absatz 2 Satz 2). Demzufolge entscheidet auch in dem seltenen Fall, daß die auswärtige Strafkammer (§ 78 GVG) Zuständigkeit nur für die Hauptverhandlung hat (II 1 zu § 27), diese und nicht die Strafkammer des Landgerichts. Ist das Gericht ein einzelner Richter, wie der Untersuchungsrichter (§ 61 GVG, § 186 Abs. 1, 2 und 4), der Ermittlungsrichter (§ 168 a), der ersuchte Richter (§ 157 GVG), der Amtsrichter im vorbereitenden Verfahren (§ 162 Abs. 1, § 165, § 128 Abs. 1), oder der als Einzelrichter entscheidende Amtsrichter (§ 25 GVG, § 39 JGG), dann entscheidet er selbst (Absatz 2 Satz 3). Insoweit folgt der Satz 3 aus Satz 1; er soll ohne eigenen Inhalt die Rechtslage nur verdeutlichen und den Unterschied zu § 27 Abs. 3 klar machen. Bei dem beauftragten Richter (§ 66 b Abs. 1, § 173 Abs. 3, § 223 Abs. 2, § 233 Abs. 2, § 289, § 369 Abs. 1, § 429 c Abs. 2) könnte, wenn nur die Regelung des Satzes 1 zur Verfügung stünde, zweifelhaft sein, ob er selbst zu entscheiden hat oder das Gericht, dem er angehört. Für diesen Fall wird in Satz 3 die ausdrückliche gesetzliche Anordnung getroffen, daß er allein entscheidet. Das ist sinnvoll, weil § 26 a vermeiden will, daß Amtshandlungen unterbrochen werden. 4. Die Entscheidung ergeht als Beschluß (§ 28), während einer Hauptverhandlung — der Regelfall des § 26 a — nach Gehör der Beteiligten ( § 3 3 Abs. 1; wegen des Kreises der Beteiligten s. 8 zu § 24). Außerhalb der Hauptverhandlung hat sich vor dem Beschluß die Staatsanwaltschaft zu erklären (§ 33 Abs. 2). Sonst Beteiligte (§ 33 Abs. 3) sind nur zu hören, wenn einem anderen Beteiligten als dem Ablehnenden ein Nachteil daraus erwachsen kann, daß ein Ablehnungsgesuch als unzulässig verworfen wird. Das ist nur der Fall, wenn ein erkennender Richter außerhalb der Hauptverhandlung abgelehnt und auch außerhalb der Hauptverhandlung über die Ablehnung entschieden wird. Dann könnte im Rechtsmittelverfahren das Urteil aufgehoben werden, weil das Gesuch in Wahrheit nicht unzulässig war. Die Unzulässigkeit ist allein aus dem Inhalt und der Anbringung (Begründung, Glaubhaftmachung, Zeitpunkt) des Gesuchs herzuleiten. Grundsätzlich ist eine Beweisaufnahme ausgeschlossen und besteht keine Veranlassung, den Ablehnenden nach § 33 Abs. 3 zu hören, doch sind für Nummer 3 Ausnahmen denkbar. Der Beschluß ist zu begründen (§ 34). Für Nummer 3 ist das in Absatz 2 Satz 2 ausdrücklich hervorgehoben. Die Vorschrift, daß die Umstände angegeben werden müssen, die den Verwerfungsgrund ergeben, ist selbstverständlich, weil es ohnehin unzureichend wäre, den Gesetzeswortlaut formelhaft wiederzugeben (3 zu § 34). Zur Bekanntmachung ist der Beschluß zuzustellen (§ 35 Abs. 2 Satz 1), wenn er in der Hauptverhandlung ergeht, zu verkünden. In diesem Falle ist die Entscheidung zu protokollieren und § 274 anzuwenden. Der Ablehnende erhält, wenn er es verlangt, eine Abschrift, aber regelmäßig erst nach Schluß der Hauptverhandlung (III 7 zu § 27). Da der abgelehnte Richter an der Entscheidung mitwirkt, nimmt er auch an der Verkündung teil. Namentlich verkündet also der Vorsitzende die Entscheidung auch dann, wenn sich die Ablehnung gegen ihn gerichtet hatte. §27 (1) Wird die Ablehnung nicht als unzulässig verworfen, so entscheidet über das Ablehnungsgesuch das Gericht, dem der Abgelehnte angehört, ohne dessen Mitwirkung. (2) Wird ein richterliches Mitglied der erkennenden Strafkammer abgelehnt, so entscheidet die Strafkammer in der für Entscheidungen außerhalb der Hauptverhandlung vorge-

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§27 Anm. I

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

schriebenen Besetzung. Wird ein richterliches Mitglied des Schwurgerichts abgelehnt, so entscheiden während der Tagung die richterlichen Mitglieder des Schwurgerichts; außerhalb der Tagung entscheidet die Strafkammer. (3) Wird der Untersuchungsrichter abgelehnt, so entscheidet das Landgericht. Wird ein Amtsrichter abgelehnt, so entscheidet ein anderer Richter des Amtsgerichts. Einer Entscheidung bedarf es nicht, wenn der Abgelehnte das Ablehnungsgesuch für begründet hält. (4) Wird das zur Entscheidung berufene Gericht durch Ausscheiden des abgelehnten Mitglieds beschlußunfähig, so entscheidet das zunächst obere Gericht. Entstehungsgeschichte: § 27 hatte ursprünglich nur den Inhalt der jetzigen Absätze 1, 3 und 4 mit der Maßgabe, daß in den Fällen von Absatz 3 Satz 1 und 2 das Landgericht zu entscheiden hatte. Absatz 2 ist eingefügt worden durch § 21 Abs. 2 der VO über Gerichtsverfassung und Strafrechtspflege vom 4. 1. 1924 (RGBl. I 15) in Vbdg. mit der Bekanntmachung vom 22. 3. 1924 (RGBl. I 299, 322). Durch die Dritte VereinfachungsVO vom 29. 5. 1943 (RGBl. I 342) wurde die Entscheidungsbefugnis der Stelle übertragen, der die Dienstaufsicht über den Richter zusteht. Art. 3 Nr. 10 VereinhG hatte die frühere Fassung wieder hergestellt. Durch Art. 5 Nr. 5 StPÄG sind in Absatz 1, zur deutlichen Abgrenzung von § 26a Abs. 2 Satz 1, die Worte eingefügt worden „ohne dessen Mitwirkung". In Absatz 3 Satz 2 ist zur Entscheidung über Ablehnungen eines Amtsrichters anstelle des Landgerichts ein anderer Amtsrichter befugt worden. Schrifttum: P e n t z , Formelle Fragen der Richterablehnung unter besonderer Berücksichtigung der geschäftsmäßigen Behandlung, JVB1. 1963 185. Ubersicht I. Inhalt II. Entscheidendes Gericht 1. Zuständiges Gericht 2. Der entscheidende Gerichtskörper 3. Oberlandesgericht und Bundesgerichtshof (Absatz 1) 4. Strafkammer und Schwurgericht (Absatz 2) 5. Untersuchungsrichter (Absatz 3 Satz 1) 6. Amtsrichter (Absatz 3 Satz 2) 7. Beschlußunfähigkeit (Absatz 4)

8. Obere Gerichte III. Verfahren 1. Gericht 2. Entbehrliche Entscheidung (Absatz 3 Satz 3) 3. Entscheidung 4. Reihenfolge der Entscheidungen 5. Ablehnende Entscheidungen 6. Stattgebende Entscheidungen 7. Bekanntmachung

I. Inhalt. Von den Entscheidungen über ein Ablehnungsgesuch scheidet § 26 a die einfacheren Fälle (der — allerdings nicht rein durchgeführten — Idee nach bloße Formalentscheidungen) zur Erledigung in einem vereinfachten Verfahren aus. Wenn nicht nach § 26a verfahren wird, gleichviel ob dessen Anwendung unzulässig, zweifelhaft oder nur übersehen war, ist nach § 27 zu entscheiden. Der nach § 27 zur Beschlußfassung berufene Gerichtskörper darf, wie schon ausgeführt (I 2 zu § 26 a), die Entscheidung nicht mit der Begründung ablehnen, daß im vereinfachten Wege des § 26 a entschieden werden könne. Denn sonst könnte wegen der Verschiedenheit der Besetzung ein negativer Kompetenzkonflikt entstehen, für den keine Lösung vorgesehen ist. In den Fällen des § 26 a erläßt das vollbesetzte Gericht unter Mitwirkung des abgelehnten Richters ohne Unterbrechung der Hauptverhandlung seinen Beschluß (III 3, 4 zu § 26a); dagegen wird im Falle des § 27 ohne Mitwirkung des abgelehnten Richters in Unterbrechung der Hauptverhandlung in einem besonderen Zwischenverfahren in Beschlußbesetzung entschieden, in der Hauptverhandlung vor einem anderen als einem Einzelrichter nach Ausscheiden der Schöffen und Geschworenen und bei den im ersten Rechtszug entscheidenden Strafsenaten des Oberlandesgerichts (§ 120 Abs. 1 und 2 GVG) nach Ausscheiden der die Dreizahl übersteigenden Richter.

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Dritter Abschnitt. Ausschließung und Ablehnung (Dünnebier)

§ 27 Anm. II 1, 2

Der Begriff Gericht ist derselbe wie in § 26 Abs. 1 (2 zu § 26) und in § 26a Abs. 1, Abs. 2 Satz 1 (I 1 zu § 26a), doch enthalten die Absätze 2 bis 4 Ausnahmen. Obwohl Absatz 1 im Gegensatz zu § 26 Abs. 1 und § 26a Abs. 1, Abs. 2 Satz 1 statt von dem „Richter" von dem „Abgelehnten" spricht, bezieht sich § 27, namentlich dessen Absätze 2 und 3, wie sich aus § 31 ergibt, nur auf die sog. „richterlichen Mitglieder" (§ 27 Abs. 2). Wegen des Begriffs s. 3 Abs. 3 vor § 22). II. Entscheidendes Gericht. 1. Zuständiges Gericht. Unter dem Gericht, dem der Abgelehnte angehört, ist das Gericht nicht in dem staatsrechtlichen Begriff (§ 12) zu verstehen, so daß es der Geschäftsverteilung offenbliebe, die Zuständigkeit eines von mehreren Spruchkörpern desselben Gerichts zu bestimmen. Vielmehr ist, wie sich aus den Worten „ohne deren Mitwirkung" ergibt, von Rechts wegen und ohne daß eine abweichende Geschäftsverteilung möglich bliebe, das Gericht in der Gestalt zuständig, in der es nach der sachlichen Zuständigkeit, dem Gerichtsstand und nach der auf die Strafsache bezogenen Geschäftsverteilung berufen ist, in der Strafsache tätig zu sein, in der es zur Ablehnung kommt (im Ergebnis ebenso OLG Zweibrücken NJW 1968 1439). Hiervon gibt es drei Ausnahmen: Einmal beim Schwurgericht außerhalb der Tagung (§ 27 Abs. 2 Satz 2), weil es dann nicht vorhanden ist, und weiter bei auswärtigen Strafsenaten und Strafkammern, denen keine volle Zuständigkeit verliehen ist. Nach § 116 Abs. 2 GVG können außerhalb des Sitzes des Oberlandesgerichts für den Bezirk eines oder mehrerer Landgerichte Strafsenate gebildet und ihnen für diesen Bezirk die gesamte Tätigkeit des Strafsenats des Oberlandesgerichts oder ein Teil dieser Tätigkeit zugewiesen werden. Nach § 78 Abs. 1 GVG kann bei einem Amtsgericht für den Bezirk eines oder mehrerer Amtsgerichte eine Strafkammer gebildet und ihr für diesen Bezirk die gesamte Tätigkeit der Strafkammer des Landgerichts oder ein Teil dieser Tätigkeit zugewiesen werden. Ist dem Spruchkörper nur die Tätigkeit als erkennendes Gericht in der Hauptverhandlung zugewiesen1, so ist für alle Entscheidungen, die außerhalb der Hauptverhandlung ergehen, also auch für solche über die Richterablehnung, der Strafsenat des Oberlandesgerichts oder die Strafkammer des Landgerichts zuständig, die nach der Geschäftsverteilung berufen ist, die nicht übertragenen Sachen zu erledigen (RGSt. 41 119). Es handelt sich um seltene Fälle. In der Regel wird die Strafkammer beim Amtsgericht die volle Zuständigkei haben, auf jeden Fall aber als erkennendes Gericht, also von der Eröffnung bis zur Endentscheidung auch außerhalb der Hauptverhandlung, zuständig sein. 2. Der entscheidende Gerichtskörper. Aus § 29 ergibt sich, daß die Ablehnung, auch wenn sie unbegründet ist, den Richter zu richterlichen Handlungen grundsätzlich unfähig macht. Aus § 26 a Abs. 2 folgt, daß der Grundsatz eine Ausnahme erieidet, wenn ein Ablehnungsgesuch verworfen wird, weil es aus den dort genannten Gründen (und ebenso, weil es als verfrüht oder das Gericht als Ganzes abgelehnt wird; II 7, 8 zu § 26a) unzulässig ist. Demzufolge bestimmt Absatz 1, daß der abgelehnte Richter bei der Entscheidung über das wider ihn gerichtete Gesuch nicht mitwirken darf, wenn es nicht nach § 26 a als unzulässig verworfen wird. Der abgelehnte Richter hat also alsbald auszuscheiden, nachdem ein Ablehnungsgesuch angebracht worden ist (RGSt. 13 305), das nicht erkennbar unzulässig ist. Für die Hauptverhandlung folgt daraus, daß der Zwischenstreit über die Ablehnung nicht in ihr erledigt werden kann. Denn die Hauptverhandlung kann nach § 226 nur in ununterbrochener Gegenwart der zur Urteilsfindung berufenen Richter stattfinden. Demzufolge muß für den Zwischenstreit notwendigerweise die Hauptverhandlung unterbrochen und über die Ablehnung in einer Beschlußsitzung entschieden werden (RGSt 13 304). Auch wenn sofort im Gerichtssaal über das Ablehnungsgesuch verhandelt wird, ist das kein Teil der Hauptverhandlung (RGSt. 21 251). Da der Zwischenstreit keine Hauptverhandlung ist, wirken Schöffen und Geschworene an der Entscheidung nicht mit und muß die Zahl der richterlichen Mitglieder ggf. geringer — bei der kleinen Strafkammer höher — sein als 1

Wie in dem RGSt. 44 118 entschiedenen Fall.

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§27 Anm. II 3—5

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

in der Hauptverhandlung (§ 122 Abs. 2 Satz 1, § 139 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1, § 76 Abs. 1 GVG; RGSt. 49 11). Daß ohne Laienrichter zu entscheiden ist, wird in Absatz 2 für die Strafkammer und das Schwurgericht — in Schöffengerichtssachen entscheidet, wenn ein richterliches Mitglied (I Abs. 3) abgelehnt wird, ein anderer Richter des Amtsgerichts (6) — bei Ablehnung richterlicher Mitglieder ausdrücklich bestimmt. Die Bestimmung ist überflüssig. Denn ihr Inhalt ergibt sich auch ohne eine ausdrückliche Vorschrift aus der oben dargelegten Erkenntnis, daß für den Zwischenstreit die Hauptverhandlung zu unterbrechen ist. Auf der anderen Seite ist die Vorschrift unvollkommen, weil sie keine Regelung für die erstinstanzlich entscheidenden Strafsenate enthält. Für diese folgt aus der Notwendigkeit, außerhalb der Hauptverhandlung in Beschlußbesetzung zu entscheiden: Wird lediglich ein Richter eines erstinstanzlichen Senats des Oberlandesgerichts (§ 122 Abs. 2 Satz 1 GVG) abgelehnt, so hat ein weiterer Richter auszuscheiden (§ 122 Abs. 1 GVG); eine Überbesetzung (vier statt drei Mitglieder) ist unzulässig (RGSt. 49 11). Soweit sich die dafür erforderliche Besetzung nicht aus der Geschäftsverteilung ergibt, entscheidet der Vorsitzende über die Besetzung, doch wird es sich empfehlen, das dienstjüngste Mitglied ausscheiden zu lassen. 3. Oberlandesgericht und Bundesgerichtshof (Absatz 1). Werden Richter der Strafsenate der Oberlandesgerichte und des Bundesgerichtshofs (Absatz 1) abgelehnt, dann entscheidet der Strafsenat, dem der abgelehnte Richter angehört. Wird ein Richter eines auswärtigen Strafsenats (§116 Abs. 2 GVG) abgelehnt, entscheidet dieser, wenn er die volle Zuständigkeit hat. Während des Hauptverfahrens entscheidet er auch dann, wenn er die Zuständigkeit des erkennenden Gerichts hat. Ist ihm nur die Tätigkeit in der Hauptverhandlung zugewiesen — ein kaum denkbarer Fall —, entscheidet über Ablehnungen, die während der Hauptverhandlung angebracht werden, der nach der Geschäftsverteilung zuständige Strafsenat des Oberlandesgerichts (II 1), da die Entscheidung außerhalb der Hauptverhandlung ergeht (1). Aus diesem Grunde beschließt das Oberlandesgericht stets in der Besetzung von drei Mitgliedern mit Einschluß des Vorsitzenden (§ 122 Abs. 1 GVG). Der Bundesgerichtshof entscheidet mit fünf Mitgliedern einschließlich des Vorsitzenden (§ 139 Abs. 1 GVG), in Beschwerdesachen regelmäßig mit drei Mitgliedern, aber wiederum mit fünf bei verfahrensbeendenden Beschlüssen (§139 Abs. 2 GVG). 4. Strafkammer und Schwurgericht (Absatz 2). Werden richterliche Mitglieder der erkennenden großen (§ 74 Abs. 1, § 74 a Abs. 1 GVG) oder kleinen (§ 74 Abs. 2 GVG) Strafkammer abgelehnt, dann entscheidet die Strafkammer in der Besetzung von drei Mitgliedern mit Einschluß des Vorsitzenden (§ 76 Abs. 1 GVG), auch wenn das Mitglied Amtsrichter (§ 78 Abs. 2 Satz 1 GVG) ist. Sie entscheidet auch außerhalb der Tagung des Schwurgerichts, wenn ein Berufsrichter dieses Gerichts abgelehnt wird (§ 82 Abs. 2, 2. Halbsatz GVG; vgl. OLG Celle MDR 1966 949), mag er auch bei einem anderen Gericht als dem Landgericht angestellt sein (§ 83 Abs. 1 und 2 GVG; RGSt. 19 336). Während der Tagung entscheiden die richterlichen Mitglieder (§ 81 GVG) des Schwurgerichts. Wird ein richterliches Mitglied einer bei einem Amtsgericht gebildeten Strafkammer (§ 78 GVG) abgelehnt, so entscheiden deren Berufsrichter (§ 76 Abs. 1 GVG), wenn die Kammer die volle Zuständigkeit hat. Während des Hauptverfahrens entscheidet sie auch dann, wenn sie die Zuständigkeit des erkennenden Gerichts hat. Ist ihr nur die Tätigkeit in der Hauptverhandlung zugewiesen — ein Fall, der vermieden werden sollte —, entscheidet über Ablehnungen, die während der Hauptverhandlung angebracht werden, die nach der Geschäftsverteilung zuständige Strafkammer des Landgerichts (II 1), da die Entscheidung außerhalb der Hauptverhandlung ergeht. Diese Kammer entscheidet auch in Schwurgerichtssachen, wenn die Entscheidung der Strafkammer vorgesehen ist. Sonst entscheidet von Rechts wegen die Kammer, der der abgelehnte Richter angehört. 5. Untersuchungsrichter (Absatz 3 Satz 1). Wird der Untersuchungsrichter (§61 Abs. 1 GVG) abgelehnt, dann entscheidet das Landgericht, d. h. die Strafkammer in der Besetzung von drei Mitgliedern mit Einschluß des Vorsitzenden (§ 76 Abs. 1 GVG). Absatz 3 Satz 1 trifft seinem Wortlaut nach auch die nicht bei den Langerichten (§61 Abs. 1 GVG), sondern bei dem Oberlandesgericht (§ 186) bestellten Untersuchungsrichter. Sofern man den Beschluß über die Ablehnung eines Untersuchungsrichters als eine die Voruntersuchung 316

Dritter Abschnitt. Ausschließung und Ablehnung (Dünnebier)

§ 27 Anm. II 6 - 8

betreffende Entscheidung ansehen wollte, könnte man versucht sein, die Zuständigkeit der Strafsenate aus § 120 Abs. 3 in Verbindung mit § 73 Abs. 1, 1. Halbsatz GVG herzuleiten. Dieser Weg ist indessen nicht gangbar, weil § 27 Abs. 3 Satz 1 gegenüber § 73 Abs. 1,1. Halbsatz GVG eine Sonderregelung enthält. Auf der anderen Seite kann es nicht die Absicht des Gesetzgebers gewesen sein, die Strafkammer für Ablehnungsentscheidungen bei Untersuchungsrichtern des Oberlandesgerichts für zuständig zu erklären. Es muß daher ein Redaktionsmangel angenommen werden, den die Entwürfe abstellen wollten 2 . Die Auslegung ist von jeher dahin gegarigen, daß die oberen Gerichte für die Entscheidung über die Ablehnung der bei ihnen bestellten Untersuchungsrichter zuständig sind (l.Aufl. 5). Das entspricht auch dem Sinn des § 120 Abs. 3 GVG und der Praxis. Demzufolge entscheidet bei Ablehnung eines Untersuchungsrichters des Oberlandesgerichts der Strafsenat des Oberlandesgerichts. Nicht Untersuchungsrichter sind die Ermittlungsrichter des Bundesgerichtshofs und des Oberlandesgerichts (§ 168a Abs. 1). Es gilt Absatz 1 (a. A. E b S c h m i d t 4). 6. Amtsrichter (Absatz 3 Satz 2). Wird ein Amtsrichter abgelehnt, gleichviel ob er als Vorsitzender des Schöffengerichts (§ 29 Abs. 1 GVG), als zweiter Amtsrichter beim erweiterten Schöffengericht (§ 29 Abs. 2 GVG), als Einzelrichter (§ 25 GVG) oder als ersuchter Richter (§157 GVG) tätig wird, so entscheidet ein anderer Richter des Amtsgerichts. Ist der abgelehnte Amtsrichter ersuchter Richter, so steht die Entscheidung einem anderen Richter desjenigen Amtsgerichts zu, dem der ersuchte Richter angehört, nicht dem ersuchenden Gericht. Wird der Amtsrichter als Mitglied einer auswärtigen Strafkammer (§ 78 Abs. 2 GVG) abgelehnt, dann gilt nicht Absatz 3, sondern Absatz 2. Welcher andere Richter zur Entscheidung zuständig ist, bestimmt sich nach der Geschäftsverteilung (§ 22 b GVG). 7. Beschlußunfähigkeit (Absatz 4). Wird das zur Entscheidung zuständige Gericht durch Ausscheiden des abgelehnten Richters beschlußunfähig, dann entscheidet das zunächst obere Gericht. Beschlußunfähig ist das Gericht, wenn nicht so viele nach der Geschäftsverteilung zur Vertretung berufene Richter zur Verfügung stehen, als erforderlich sind, den abgelehnten Richter zu ersetzen. Das Gericht ist nicht beschlußunfähig, wenn die erforderliche Richterzahl nur, etwa zufolge anderer Sitzungen, an einem bestimmten Tage fehlt (OLG Kassel GA 37 449). Scheidet der Vorsitzende der Kammer aus, so wird diese dadurch so lange noch nicht beschlußunfähig, als er, in Ausnahme von § 66 Abs. 1 GVG, durch das Mitglied einer anderen Kammer ersetzt werden kann (BGH NJW 1959 1141). Der Grundsatz, daß die Gerichte nur in der im Gerichtsverfassungsgesetz bestimmten Richterzahl entscheiden dürfen (Mot. H a h n 1 91), läßt auch bei der Erledigung von Ablehnungsgesuchen keine Ausnahme zu. Für die Ersetzung kommt es jedoch nicht nur auf die Vertreter (§ 63 Abs. 1, § 66 Abs. 1, §§ 117, 131 GVG) an. Ein Gericht ist vielmehr so lange nicht beschlußunfähig, als die Beschlußfähigkeit auf dem Wege des § 67 GVG hergestellt werden kann. Dagegen braucht das Verfahren nach § 70 GVG nicht eingeschlagen zu werden (RGSt. 40 438). Werden Richter einer auswärtigen Straßcammer (§ 78 GVG) abgelehnt, so kommt es für die Beschlußunfähigkeit auf die Besetzung der auswärtigen Strafkammer an (OLG Kassel GA 37 450; M ü l l e r NJW 1963 616), nicht auf die der Strafkammer des Landgerichts. Davon zu unterscheiden ist die Frage, ob es zur Zuständigkeit der auswärtigen Strafkammer gehört, über die Richterablehnung zu entscheiden (II 1). 8. Obere Gerichte i. S. des Absatzes 4 sind im Falle des Absatzes 3 Satz 2 das Landgericht (LG Hannover NdsRpfl. 1966 275) 3 , im übrigen das Oberlandesgericht und der Bundesgerichtshof. § 45 Abs. 1 ZPO bestimmt für den gleichen Fall als zuständig das im Rechtszug höhere Gericht. Ebenso lautete § 21 E I . Aber schon in der Reichstags vorläge wurde die Wendung durch die Worte „das zunächst obere Gericht" ersetzt. Die Änderung ist verständlich, weil wegen des Rechtsmittelzuges vom Landgericht zum Bundesgerichtshof eine von der Zivilprozeßordnung abweichende Formulierung zumindest aus Gründen 2 3

§ 21 Abs. 2 E 1909; § 21 Abs. 1 E 1919. A. A. — Absatz 4 gilt nur, wenn Kollegialgerichte entscheiden — M ü l l e r - S a x 2 f .

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§27 Anm. III 1

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

der Klarheit ratsam war. Bei dem Rechtsmittelsystem der Strafprozeßordnung ist die Wortänderung eine Entscheidung in der Sache ( J o h n Anm. zu § 27). Das leugnet das Bayerische Oberste Landesgericht mit einem Hinweis auf die Motive (BayObLGSt. 18 34). Die Bezugnahme auf die Motive ist indessen verfehlt, weil diese trotz Änderung der Vorlage noch in Anknüpfung an E I von dem „Gericht der höheren Instanz" ( H a h n 1 91) sprechen. Nach der Ansicht des Bayerischen Obersten Landesgerichts 4 wäre das zunächst obere Gericht das im Instanzenzug vorgesetzte. Da der Bundesgerichtshof dem Oberlandesgericht im Instanzenzug in der Mehrzahl aller Sachen nicht vorgesetzt ist, wäre er nach dieser Auffassung nur in Staatsschutzsachen für das Oberlandesgericht das zunächst obere Gericht, stets aber für die Strafkammer, wenn diese in erster Instanz entscheidet. Folgerichtig wäre alsdann das Oberlandesgericht für das Landgericht nur dann das zunächst obere Gericht, wenn es diesem im Instanzenzug vorgesetzt ist, so wenn das Landgericht als Berufungsgericht (§ 121 Abs. 1 Nr. 1 Buchst, b und c GVG) entscheidet oder eine mit Beschwerde anfechtbare Entscheidung (§ 304 Abs. 1, § 310 Abs. 1) erläßt. Danach wäre für den Instanzenzug die Prüfung notwendig, ob die Ablehnung in bezug auf eine künftige Entscheidung ergeht, die mit dem Urteil, oder auf eine solche, die mit der Beschwerde anfechtbar ist. Da es aber auch innerhalb der Hauptverhandlung trotz § 305 Entscheidungen gibt, die mit Beschwerde anfechtbar sind (3 b, c zu § 305), und da die Ablehnung nicht in bezug auf einzelne Entscheidungen, sondern für das ganze Verfahren ausgesprochen wird, verursacht die Auslegung des Bayerischen Obersten Landesgerichts Schwierigkeiten. Gerade solche Schwierigkeiten und die Notwendigkeiten, sowohl das zunächst obere Gericht klar festzulegen, als auch ein dem beschlußunfähig gewordenen möglichst nahes Gericht zu bestimmen, dürften dafür maßgebend gewesen sein, daß § 27 Abs. 4 abweichend von § 45 Abs. 1 ZPO formuliert worden ist. Der Wortlaut des § 27 Abs. 4 muß daher für maßgeblich erachtet werden. Danach ist das zunächst obere Gericht dasjenige Gericht, das unabhängig vom Instanzenzug in der Hierarchie der deutschen Gerichte an der nächsten Stelle über dem beschlußunfähig gewordenen steht. Damit erweist sich, daß das obere Gericht in den Fällen des „zunächst oberen" Gerichts (§ 27 Abs. 4, § 15) das gleiche ist wie in den Fällen des „gemeinschaftlichen oberen" Gerichts, soweit nicht im letzteren Falle wegen der Notwendigkeit, das für mehrere Bezirke oder Länder obere Gericht zu sein, eine Verschiebung nach oben eintritt 5 . Es entscheidet also das Landgericht, wenn das Amtsgericht, das Oberlandesgericht, wenn das Landgericht, und der Bundesgerichtshof, wenn das Oberlandesgericht beschlußunfähig geworden ist. Das Bayerische Oberste Landesgericht ist kein oberes Gericht i. S. des § 27 Abs. 4. Sollte der schwer denkbare Fall eintreten, daß durch ein zulässiges Ablehnungsgesuch der Bundesgerichtshof beschlußunfähig wird, so wird man es für zulässig erachten müssen, daß die abgelehnten Richter mitwirken ( P u c h e l t 3 Abs. 6; R a s c h DJZ 1915 97). III. Verfahren. 1. Gericht. Soweit nicht in Absatz 3 Satz 1 und 2 eine Sonderregelung vorgesehen ist, entscheidet das Gericht, dem der abgelehnte Richter angehört, nachdem dieser ausgeschieden ist. Er darf auch nicht über das gegen einen gleichfalls abgelehnten anderen Richter gerichtete Gesuch mit entscheiden, solange nicht der ihn betreffende Teil des Gesuchs durch Zurückweisung erledigt ist ( F e i s e n b e r g e r 9c). Wird durch das Ausscheiden die für die Entscheidung vorgeschriebene Richterzahl unterschritten, so ist das Gericht durch die regelmäßigen (§ 63 Abs. 1 Satz 1, § 83 Abs. 2, §§ 117, 131 GVG) oder zeitweiligen (§§ 67, 117, 131 GVG) Vertreter (RGSt. 40 437) zu ergänzen. Sind der Vorsitzende und sämtliche zuständigen Mitglieder einer Strafkammer abgelehnt, so hat als Ausnahme von § 66 Abs. 1 GVG der Dienstälteste der von einer anderen Kammer gestellten regelmäßigen Vertreter den Vorsitz zu übernehmen (BGH NJW 1959 1141). Zeitweilige Vertreter bestimmt der Präsident formlos (RGSt. 65 301), nachdem er geprüft hat, ob ein Richter verhindert ist (BGHSt. 7 208). Dazu muß er sich überzeugen, daß ein Ablehnungsgesuch vorliegt, doch darf er, weil er sonst mit der Entscheidung des Gerichts in Widerspruch geraten könnte, nicht prüfen, ob es zulässig ist. 4 5

Zust. K l e i n k n e c h t - M ü l l e r 2 f ; wie hier M ü l l e r - S a x 2 f . Vgl. wegen der Identität der oberen Gerichte in § 27 Abs. 4 und in § 15 F e i s e n b e r g e r 14.

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Dritter Abschnitt. Ausschließung und Ablehnung (Dünnebier)

§ 27 Anm. III 2 - 4

Für Untersuchungsrichter und Amtsrichter gilt das II 5 und 6 Ausgeführte. Wird ein beauftragter Richter (§ 66 b Abs. 1, § 173 Abs. 3, § 223 Abs. 1, § 233 Abs. 2, § 289, § 369 Abs. 1, § 429c Abs. 2) abgelehnt, dann entscheidet das Gericht, dem er angehört, nachdem er ausgeschieden und ein Ersatzmann eingetreten ist. Dasselbe gilt, wenn Richter, die in der Hauptverhandlung tätig werden sollen, vor der Hauptverhandlung abgelehnt werden, falls vor dieser entschieden wird (RGSt. 21 251,22 136). 2. Entbehrliche Entscheidung (Absatz 3 Satz 3). Von einer Entscheidung kann abgesehen werden, wenn ein abgelehnter Untersuchungsrichter oder Amtsrichter (II 5 und 6) — gleichviel ob er außerhalb eines Hauptverfahrens oder in der Hauptverhandlung abgelehnt wird — das Ablehnungsgesuch für begründet hält, indem er in der nach § 26 Abs. 3 abzugebenden Äußerung die Ablehnungstatsachen als zutreffend anerkennt und — ebenso wie der Antragsteller, wenn auch vielleich zufolge anderer Erwägungen — den Schluß zieht, daß er ausgeschlossen sei oder daß der Ablehnungsberechtigte besorgen könne, er sei befangen. Unsichere, fernliegende Möglichkeiten oder fragwürdige Schlüsse dürfen seine Erwägungen nicht leiten. Im Zweifel muß er die stets zulässige (RGSt. 5 438; R G GA 38 425; R G LZ 8 1571) Entscheidung der Strafkammer oder des anderen Amtsrichters herbeiführen. Die Staatsanwaltschaft kann hierauf antragen, doch zwingt das den abgelehnten Richter nicht zum Verfahren nach Absatz 3 Satz 1 oder 2, sondern nur zu neuer Prüfung. Nach dieser kann er bei dem Verfahren nach Satz 3 beharren. Die Entscheidung der Strafkammer oder des anderen Amtsrichters ist jedoch nicht entbehrlich, wenn einem Amts- oder einem Untersuchungsrichter ein von ihm für begründet erachteter Ablehnungsgrund, der Besorgnis der Befangenheit rechtfertigt, auf andere Weise als durch Ablehnung bekannt wird. In diesem Falle ist nach § 30 zu verfahren (5 zu § 30). Wird ihm auf diese Weise ein Ausschließungsgrund bekannt, der zweifelsfrei gegeben ist, bedarf es keiner Entscheidung; bestehen Zweifel, findet § 30 Anwendung (III 2 zu § 22). 3. Entscheidung. Das Gericht entscheidet durch Beschluß (§ 28). Der Beschluß, durch den die Ablehnung als unzulässig verworfen oder als unbegründet zurückgewiesen wird (§ 28 Abs. 2 Satz 1), ist, weil er durch ein Rechtsmittel angefochten werden kann (§ 28 Abs. 2), zu begründen; der stattgebende Beschluß kann ohne Begründung bleiben (§ 34). Das Gericht entscheidet — abweichend vom Verfahren des § 26 a (III 3 zu § 26 a) — immer — sowohl außerhalb der Hauptverhandlung als auch während des Hauptverfahrens — in Beschlußbesetzung. Denn wenn der Richter während der Hauptverhandlung abgelehnt wird, ist diese, wie oben II 2 ausgeführt, zum Zwischenstreit über die Ablehnung zu unterbrechen; der abgelehnte Richter — und wenn notwendig ein weiterer Richter (II 2 Abs. 3) — scheiden aus. Weil auf diese Weise während der (unterbrochenen) Hauptverhandlung „außerhalb einer Hauptverhandlung" entschieden wird, richtet sich das Gehör nach § 33 Abs. 2 und 3. Die Staatsanwaltschaft erklärt sich. Die anderen Beteiligten (Beschuldigter, Privatkläger, Nebenkläger) sind, sofern sie nicht selbst abgelehnt haben, zu hören, wenn ihnen die Ablehnungstatsachen nicht durch den Ablehnungsvorgang — etwa in der Hauptverhandlung — bekannt geworden sind. Der abgelehnte Richter gibt die dienstliche Äußerung nach § 26 Abs. 3 schriftlich ab; als Zeuge wird er nicht vernommen. Vom Ablehnenden benannte Zeugen werden vernommen (RGSt. 61 70); ihre Vereidigung ist zulässig, aber nicht notwendig ( F e i s e n b e r g e r 7). Die Staatsanwaltschaft nimmt zu der Äußerung des Richters und zu etwaigen Beweisergebnissen Stellung. Soweit erforderlich, sind der Ablehnende und die sonstigen Beteiligten zu ihnen zu hören (7 zu § 26). Das kann alsbald formlos in der Weise geschehen, daß sie zu der Beschlußsitzung vorübergehend zugezogen werden, die dazu — als eine nichtöffentliche Sitzung — in den Verhandlungssaal verlegt werden mag. Eine mündliche Verhandlung findet jedoch nicht statt. 4. Reihenfolge der Entscheidungen. Über die Ablehnung mehrerer Richter ist grundsätzlich in der Reihenfolge der Ablehnungen zu entscheiden, werden sie gleichzeitig abgelehnt, in der Reihenfolge, in der sie aufgeführt sind. Werden alle Richter der Kammer (II 7 Abs. 4 zu § 26a) abgelehnt, ist in der Reihenfolge zu entscheiden, die in der Geschäftsverteilung aufgeführt ist. Werden jedoch Richter, die zur Mitwirkung (9 Abs. 1 zu § 24) berufen sind, und gleichzeitig Richter abgelehnt, die, falls nicht nach § 26a entschieden werden sollte,

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§ 27 Anm. III 5 , 6

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

zur Ergänzung (1) eintreten, dann ist, wenn nicht nach § 26 a, sondern nach § 27 entschieden wird (I 2 zu § 26 a), über das Ablehnungsgesuch gegen die eintretenden Richter vorab zu entscheiden und zwar in der Reihenfolge der Ablehnungen. Dadurch wird erreicht, daß, wenn ein Ablehnungsgesuch für unbegründet erklärt wird, der zu Unrecht abgelehnte Richter alsbald (5 Abs. 2; 7 Abs. 4) wieder mitwirken kann (BGHSt. 21 337). Diese Reihenfolge hat auch das obere Gericht (II 8) zu beachten. Eine Auswahl" der Ablehnungen, „die unbegründet sind oder die schwächste Begründung haben" (OLG Zweibrücken NJW 1968 1439), ist unzulässig; ihr Ergebnis könnte den Grundsatz des gesetzlichen Richters verletzen. Das obere Gericht hat mit weiteren Entscheidungen innezuhalten, sobald das untere Gericht wieder beschlußfähig geworden ist ( F e i s e n b e r g e r 12). Nur auf diese Weise kann angestrebt werden, daß „das Gericht, dem der Abgelehnte angehört" (§ 27 Abs. 1), nach Möglichkeit selbst entscheidet. 5. Ablehnende Entscheidungen. Über unzulässige Gesuche wird in der Mehrzahl der Fälle nach § 26 a entschieden worden sein, doch kommen auch im Verfahren nach § 27 unzulässige Gesuche zur Entscheidung (I 2 zu § 26 a, I zu § 27). Diese Gesuche werden als unzulässig verworfen; unbegründete Gesuche werden als unbegründet zurückgewiesen (§ 28 Abs. 2 Satz 1). Unbegründet ist das Gesuch, wenn der behauptete Ablehnungsgrund nicht vorliegt, auch wenn ein (anderer) Ausschließungsgrund gegeben ist. Uber diesen ist gleichzeitig von Amts wegen zu entscheiden. Wird die ablehnende Entscheidung rechtskräftig oder eine gegen sie eingelegte sofortige Beschwerde (§ 28 Abs. 1) verworfen oder ist der Beschluß, weil ein erkennender Richter (6 und 7 zu § 28) abgelehnt war, nur mit dem Urteil anfechtbar, so tritt der Zustand ein, der vor der Ablehnung bestanden hat, im letzteren Falle allerdings mit der Möglichkeit, daß das Rechtsmittelgericht im späteren Rechtsmittelverfahren die Entscheidung nicht billigt. Der Richter tritt — wenn er nicht aus anderem Grunde ausscheiden muß — wieder ins entscheidende Gericht zurück, der Ersatzmann scheidet aus. Der — zu Unrecht — abgelehnte Richter muß alsbald wieder an der Untersuchung und Entscheidung (BGHSt. 21 338) sowie an der Verkündung des die Ablehnung zurückweisenden oder verwerfenden Beschlusses (7 Abs. 4) mitwirken. Ist sachlich entschieden worden, dann ist der Ablehnungsgrund verbraucht und ein weiteres Gesuch mit dem gleichen Inhalt unzulässig (RGSt. 11 224; R G GA 44 385; OLG Hamm NJW 1966 2073; II 2 zu § 26 a). Doch liegt keine Wiederholung vor, wenn dieselbe gegen denselben Richter gerichtete Behauptung mit anderen Tatsachen belegt oder mit neuen Mitteln rechtzeitig glaubhaft gemacht wird, oder wenn neue Gründe vorgebracht werden (RGSt. 24 14; BGHSt. 21 353), oder wenn die Hauptverhandlung neu begonnen hat, etwa weil das Gericht durch Ausscheiden eines anderen Richters nicht mehr weiter verhandeln konnte; weil eine Hauptverhandlung länger als zehn Tage unterbrochen war (§ 229); oder nach Zurückverweisung der Sache aus der Berufungs- (§ 328 Abs. 2) oder Revisionsinstanz (§ 354 Abs. 2). 6. Stattgebende Entscheidungen erklären die Ablehnung für begründet (§ 28 Abs. 1). Durch die Entscheidung wird der abgelehnte Richter von dem Zeitpunkt an, in dem sie erlassen worden ist 6 , einem ausgeschlossenen Richter gleichgestellt. Uber die Wirkung der Ausschließung s. III zu § 22. Ein Urteil, an dem ein Richter mitgewirkt hat, nachdem ein wider ihn gerichtetes Ablehnungsgesuch für begründet erklärt worden ist, beruht stets auf einer Verletzung des Gesetzes (§ 338 Nr. 3). Dagegen findet Rückwirkung auf richterliche Akte, die vor der stattgebenden Entscheidung stattgefunden haben — anders als bei der Ausschließung —, selbst dann nicht statt, wenn der erst nach jenen Akten geltend gemachte Ablehnungsgrund schon bei ihnen bestanden hat. Demzufolge kann der Richter sich nicht weigern, die Niederschrift über den Teil der Sitzung zu beurkunden, den er vor einer erfolgreichen Ablehnung geleitet hat. Daraus folgt, daß er auch eine Protokollberichtigung nicht verweigern darf, wenn sich die Berichtigung auf ein Ereignis bezieht, das stattgefunden hat, bevor er mit Erfolg abgelehnt worden war (OLG Hamm MDR 1964 344). Die Wir6

§ 338 Nr. 3: „nachdem er wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt war u n d das Ablehnungsgesuch ... für begründet erklärt war".

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Dritter Abschnitt. Ausschließung und Ablehnung (Dünnebier)

§ 27 Anm. III 7

kung der einer Ablehnung stattgebenden Entscheidung tritt stets nur für das Verfahren ein, in dem die Ablehnung für begründet erklärt worden ist. Auf andere Verfahren gegen den gleichen Angeklagten, in denen der Richter nicht erfolgreich abgelehnt worden ist, äußert die Ablehnung keine Wirkung, kann den Richter aber veranlassen, nach § 30 zu verfahren. 7. Bekanntmachung. Die Entscheidung ergeht in Abwesenheit der davon betroffenen Personen. Sie wird wirksam, wenn sie an Personen außerhalb des Gerichts bekanntgemacht wird (I 3 zu § 33). Außerhalb des Gerichts befindet sich auch der abgelehnte Richter. Mit der Bekanntgabe an ihn tritt daher, wenn sie vor der Bekanntgabe an den Ablehnenden liegt, die Wirksamkeit der Entscheidung ein (BGHSt. 15 386). Wegen der Formlosigkeit genügt es, die Entscheidung dem Richter mündlich zu eröffnen oder ihm die Urschrift vorzulegen (RGSt. 58 288; R G GA 59 351). Betrifft ein ablehnender Beschluß keinen erkennenden Richter (6 und 7 zu § 28), dann ist er dem Gesuchsteller stets zuzustellen ( § 3 5 Abs. 2 Satz 1). So wird in der Regel auch verfahren, wenn ein erkennender Richter vor der Hauptverhandlung abgelehnt und auch vor der Hauptverhandlung über die Ablehnung entschieden wird, doch wird ein vor der Hauptverhandlung ergehender Beschluß, der die Ablehnung eines erkennenden Richters für begründet erklärt, ohne sonstige Bekanntgabe auch dadurch wirksam erlassen, daß er ausgeführt wird (RGSt. 66 121), indem der Vertreter eintritt. Ergeht der Beschluß in der Ablehnungssache wider einen erkennenden Richter im Zwischenverfahren einer unterbrochenen Hauptverhandlung, so wird er in der Regel durch Verkündigung bekanntgemacht, nachdem die Hauptverhandlung wieder eröffnet worden ist. Hiergegen bestehen keine Bedenken (RGSt. 21 253, 58 287). Denn durch die Bekanntmachung der Entscheidung wird im Hinblick auf § 28 Abs. 2 keine Frist in Lauf gesetzt. Es genügt daher formlose Mitteilung ( § 3 5 Abs. 2). Anstelle des formlosen Verfahrens kann aber das förmlichere der Verkündung gewählt werden. Wird so verfahren, ist die Entscheidung zu protokollieren; § 274 gilt. Der Ablehnende erhält, wenn er es verlangt, eine Abschrift ( § 3 5 Abs. 1). Dazu braucht die Hauptverhandlung nicht unterbrochen zu werden; die Abschrift kann nach Schluß der Hauptverhandlung erteilt werden. Denn der Ablehnende hat, weil er den Beschluß erst mit dem Urteil anfechten kann (§ 28 Abs. 2), kein Interesse, schon früher eine Abschrift zu erhalten. Da mit der Zurückweisung oder Verwerfung eines Ablehnungsgesuchs die vorläufige Unfähigkeit des Richters (§ 29) wieder entfällt (5 Abs. 3), kann er, nachdem ihm die Entscheidung bekanntgegeben worden ist, bei der Verkündung des die Ablehnung zurückweisenden oder verwerfenden Beschlusses mitwirken (RGSt. 58 288; BGHSt. 15 386). Namentlich kann also der Vorsitzende die Entscheidung auch dann verkünden, wenn sich die Ablehnung gegen ihn gerichtet hatte.

§28 (1) Der Beschluß, durch den die Ablehnung für begründet erklärt wird, ist nicht anfechtbar. (2) Gegen den Beschluß, durch den die Ablehnung als unzulässig verworfen oder als unbegründet zurückgewiesen wird, ist sofortige Beschwerde zulässig. Betrifft die Entscheidung einen erkennenden Richter, so kann sie nur zusammen mit dem Urteil angefochten werden. Entstehungsgeschichte: Ursprünglich hatte § 28 den Inhalt, den er jetzt hat, mit der Ausnahme, daß nicht geregelt war, wie verfahren werden mußte, wenn das Gericht die Ablehnung als unzulässig verworfen hatte. Die Dritte VO zur Vereinfachung der Strafrechtspflege vom 29. 5. 1943 (RGBl. I 342) schloß jede Anfechtung der Entscheidung über die Ablehnung aus. Art. 3 Nr. 10 VereinhG hat unter sprachlicher Verbesserung den ursprünglichen Inhalt wieder hergestellt. Durch Art. 5 Nr. 6 StPÄG wurde die Verwerfung einer unzulässigen Ablehnung der einer unbegründeten gleichgestellt und die Fassung redaktionell verbessert.

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§28 Anm. 1—3

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

1. Stattgebende Beschlüsse. Entscheidungen, mit denen dem Ablehnungsgesuch entsprochen wird, sind unanfechtbar. Denn für ein Rechtsmittel besteht kein praktisches Bedürfnis (Mot. H a h n 1 90). Ein solches könnte nur der Gegner des Ablehnenden beanspruchen mit der Begründung durch die rechtsirrige Annahme eines Ablehnungsgrundes sei sein Anspruch auf den gesetzlichen Richter verletzt. Mit Recht dehnt das Gesetz den Grundsatz vom gesetzlichen Richter nicht so weit aus. Nach dem Gedanken des Gesetzes sind alle Richter der gleichen Instanz gleich befähigt (RGRspr. 10 355). Gesetzlicher Richter ist daher auch derjenige Richter, der ordnungsmäßig für einen Abgelehnten eintritt, wenn ein Gericht die Ablehnung für begründet erklärt hat (§ 28 Abs. 1; vgl. BGH GA 1962 338), oder die, falls eine Entscheidung von Rechts wegen unterbleiben kann, ein Amts- oder Untersuchungsrichter für begründet gehalten hat (§ 27 Abs. 3 Satz 2). Das Gericht ist auch dann ordnungsmäßig besetzt, wenn es der Ablehnung zu Unrecht stattgegeben hat. 2. Gesuche ablehnende Beschlüsse sind, soweit Rechtsmittel überhaupt statthaft sind (3 und 5), stets anfechtbar; wenn sie einen erkennenden Richter betreffen, „mit dem Urteil", sonst mit der sofortigen Beschwerde. Das Gesetz sprach das früher nur für den Beschluß aus, der die Ablehnung für unbegründet erklärt. In Übereinstimmung mit der bisherigen Rechtsprechung (BGHSt. 5 154) stellt die neue Fassung klar, daß dasselbe für Beschlüsse gilt, die die Ablehnung für unzulässig erklären. Dieser Fall liegt jedoch nicht vor, wenn das Gericht überhaupt nicht entscheidet, sondern sich für unzuständig erklärt. Da eine Möglichkeit bestehen muß, die Entscheidung des zuständigen Gerichts herbeizuführen, ist auf solche Beschlüsse Absatz 2 Satz 2, der die Anfechtung während des Hauptverfahrens ausschließt, nicht anwendbar. Nach einer gelegentlichen Bemerkung des Reichsgerichts soll die allgemeine Beschwerde (§ 304 Abs. 1) statthaft sein (RGSt. 19 334), doch wird man wegen der gebotenen Beschleunigung Absatz 2 Satz 1 entsprechend anzuwenden haben. Danach ist die Beschwerde eine sofortige; sie findet aber nicht nur außerhalb des Hauptverfahrens, sondern, entgegen Absatz 2 Satz 2 auch gegen Beschlüsse des erkennenden Gerichts statt. Das Beschwerdegericht darf nicht in der Sache selbst entscheiden; es hat sich auf die Frage der Zuständigkeit zu beschränken und muß die Sachentscheidung dem zuständigen Gericht überlassen (RGSt. 19 338). Dem im vorangegangenen Absatz behandelten Fall ist es nicht gleichzustellen, wenn der Amtsrichter selbst ein Gesuch als unbegründet verwirft, obwohl — anders als bei unzulässigen Gesuchen (§ 26a Abs. 2 Satz 3) — ein anderer Amtsrichter zuständig gewesen wäre. Denn hier liegt eine in der Sache ergangene Entscheidung vor, wenn sie auch, da von einem unzuständigen Richter erlassen, anfechtbar ist. Es bewendet daher bei dem Verfahren des Absatzes 2, d. h. der Beschluß kann nur mit dem Urteil angefochten werden, wenn der unzuständige Amtsrichter ein erkennender Richter war (OLG Saarbrücken NJW 1965 169) *.

3. Die sofortige Beschwerde ist in allen Ablehnungsfällen statthaft, die nicht unter Absatz 1 oder unter Absatz 2 Satz 2 fallen, sofern der Beschluß überhaupt nach § 304 Abs. 1 und 2 der Beschwerde unterliegt. Gegen Beschlüsse der Oberlandesgerichte findet auch in den Fällen des Absatzes 2 Satz 1 nach § 304 Abs. 4 keine Beschwerde statt. Absatz 2 Satz 1 sagt also nur, daß die nach § 304 Abs. 1 und 2 statthafte Beschwerde eine sofortige und damit an die Wochenfrist des § 311 Abs. 2 gebunden ist 2 . Beschwerdeberechtigt ist nur, wer die Ablehnung angebracht hat, nicht auch ein sonst Ablehnungsberechtigter, der von seinem Ablehnungsrecht keinen Gebrauch gemacht hat. Der Richter ist nicht beschwerdeberechtigt, auch wenn er sich in Übereinstimmung mit dem Ablehnenden, aber im Gegensatz zur Ansicht des Gerichts für ausgeschlossen oder befangen hält. Auch der Amts- oder Untersuchungsrichter, der ein Ablehnungsgesuch für begründet hält (§ 27 Abs. 3 Satz 2), ist nicht beschwerdeberechtigt, wenn das Gericht — etwa auf Antrag der Staatsanwaltschaft (III 2 zu § 27) — ungeachtet seiner Erklärung und in Widerspruch zu ihr entschieden hat. 1

2

A. A. — gegen den Beschluß des unzuständigen Amtsrichters ist sofortige Beschwerde auch dann statthaft, wenn er erkennender Richter war — LG Krefeld NJW 1964 2438. Prot, der RTKomm. zum G V G , H a h n 1 862.

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Dritter Abschnitt. Ausschließung und Ablehnung (Dünnebier)

§ 28 Anm. 4—6

4. Beschwerdeentscheidung. Das Beschwerdegericht hat den angefochtenen Beschluß voll nachzuprüfen und dabei, soweit eine Wertung in Betracht kommt, seine Wertung an die Stelle derjenigen des ersten Richters zu setzen. Auch wenn dieser den Ablehnungsantrag als unzulässig verworfen hatte, ist es berechtigt, alsbald in der Sache zu entscheiden (§ 309 Abs. 2). Die Erwägung, daß der erste Richter dem Gesuch, wenn er es für zulässig erachtet hätte, hätte entsprechen können, und daß diese Entscheidung unanfechtbar gewesen wäre (§ 28 Abs. 1), rechtfertigt es nicht, die Entscheidungsbefugnis des Beschwerdegerichts auf die Zulässigkeitsfrage zu beschränken. Das Reichsgericht hat eine solche Beschränkung zwar für den Fall angenommen, daß der erste Richter seine Zuständigkeit verneint hatte (RGSt. 19 338). Dieser Gedanke darf aber nicht 3 verallgemeinert werden; er kann nur dort angewendet werden, wo der erste Richter in der Annahme fehlender Zuständigkeit überhaupt nicht zur Ablehnungsfrage entschieden hatte. In allen anderen Fällen hat das Beschwerdegericht die Befugnis, ein irrtümlich als unzulässig verworfenes Ablehnungsgesuch auf seine Begründetheit nachzuprüfen (BGHSt. 18 203 mit Anm. P h i l i p p NJW 1963 1883). Das Beschwerdegericht ist aber berechtigt, die Sache an den ersten Richter zurückzuverweisen, wenn dieser, weil er den Antrag für unzulässig erachtet hatte, notwendige Feststellungen unterlassen hat. Denn bei dieser Sachlage würde dem Beschwerdeführer durch die Sachentscheidung des Beschwerdegerichts eine Instanz genommen und damit namentlich die Möglichkeit vorenthalten, den Gründen des ersten Richters entgegenzutreten. Grundsätzlich wird die Sache auch dann in die Vorinstanz zurückzuverweisen sein, wenn dort ein (z. B. nach § 23 Abs. 2) ausgeschlossener Richter mitgewirkt hat (OLG Saarbrücken NJW 1966 167; OLG Bremen NJW 1966 605). Zwar hat hier ein Richter sachlich über die Ablehnung entschieden, aber doch einer, von dem das Gesetz verlangt, daß er sich der Entscheidung enthält, und der deshalb dem Beschwerdeführer als befangen erscheinen kann. In klaren Fällen, namentlich wenn ein von dem unzuständigen Richter verworfener Antrag wegen eines Formfehlers notwendigerweise verworfen werden muß, wird aber das Beschwerdegericht sachlich über die Beschwerde entscheiden (KG JR 1967 266). 5. Verbrauch. Ist über den Verwerfungsbeschluß durch sofortige Beschwerde entschieden, dann kann wegen des gleichen Beschlusses — trotz § 336 — nicht mehr Revision mit der Rüge der Verletzung des § 338 Nr. 3 erhoben werden (RGSt. 7 175; BGH NJW 1952 234). Aber selbst wenn der Ablehnungsberechtigte keine Beschwerdeentscheidung herbeigeführt hat, ist die Rüge nach § 338 Nr. 3 in Vbdg. mit § 336 ausgeschlossen, sofern nur die Möglichkeit der sofortigen Beschwerde bestanden hatte (BGH NJW 1962 261; vgl. RGSt. 20 46; 44 384), der Fall also nicht nach Absatz 2 Satz 2 zu behandeln war. Endlich eröffnet auch die Unmöglichkeit der Beschwerde nicht die Anfechtung nach Absatz 2, wenn die Ablehnung eines Richters, der nicht erkennender Richter ist, von einem Strafsenat, auch einem erstinstanzlich entscheidenden, für unbegründet erklärt worden ist. In allen diesen Fällen macht die Rechtskraft des Beschlusses die Anfechtung mit dem gegen das Urteil gerichteten Rechtsmittel unzulässig. Die Rüge aus § 338 Nr. 2 ist dagegen niemals ausgeschlossen. 6. Erkennende Richter. Die Beschwerde ist ausgeschlossen, wenn die Entscheidung über das Ablehnungsgesuch einen erkennenden Richter betrifft. Das ist erforderlich, weil große Verhandlungen mit vielen Zeugen und Sachverständigen nicht beliebig unterbrochen werden können, einer Beschwerde aber, „wenn sie Bedeutung haben sollte, aufschiebende Wirkung beigelegt werden müßte" (Mot. H a h n 1 92) 4 . Erkennende Richter sind die Richter, die berufen sind, in der Hauptverhandlung mitzuwirken (BayObLGSt. 24 109), auch wenn ihre Mitwirkung sich nicht auf die Urteilsfindung beschränkt, sondern, wie beim Vorsitzenden, zugleich andere Maßnahmen und Entschei3 4

So RGSt. 49 12; BGH D a l l i n g e r M D R 1955 271; S c h a p e r NJW 1963 1883. B r a c k , der diese Abweichung vom Zivilprozeß rügt (SchlHA 1965 11), legt den Besonderheiten des Strafprozesses nicht genügend Gewicht bei. Zudem ist seine Arbeit vor dem Strafprozeßänderungsgesetz abgefaßt, das mit § 25 Abs. 2 die (bedingte) Ablehnung bis zum letzten Wort zuläßt. Würde man die Beschwerde bis zu diesem Zeitpunkt gewähren, müßten sich die Mißhelligkeiten, die schon einer Beschwerde zu Beginn der Hauptverhandlung entgegengestanden haben, unerträglich vermehren.

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§28 Anm. 7

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

düngen umfaßt. Die Eigenschaft als erkennender Richter beginnt mit der Eröffnung des Hauptverfahrens (RGSt. 7 175; BGH NJW 1952 234). Diese ist selbst schon ein Akt des erkennenden Gerichts, wenn sie von dem künftig entscheidenden Gericht beschlossen wird. Eröffnet das höhere Gericht vor dem niederen (§ 209 Abs. 1), so wird dieses mit der Eröffnung erkennendes Gericht und werden seine Mitglieder erkennende Richter. Die Eigenschaft als erkennender Richter endet mit der Urteilsfällung (OLG Schleswig SchlHA 1953 246). Demzufolge ist der Richter, der bei der Verwerfung eines Rechtsmittels nach § 319 Abs. 1, § 346 Abs. 1 mitwirkt, kein erkennender Richter (OLG Celle NJW 1960 210). Nach dem bisherigen Wortlaut des § 28 Abs. 2 kam es für den Ausschluß der sofortigen Beschwerde darauf an, daß der Richter erkennender Richter in dem Zeitpunkt war, in dem das Gesuch angebracht worden war. Der Zweck des Gesetzes, die Hauptverhandlung nicht durch das Beschwerdeverfahren zu gefährden, führte indessen schon beim alten Text zu der Auslegung, daß nicht der Zeitpunkt maßgebend ist, in dem das Gesuch angebracht sondern der, in dem darüber entschieden wird. Die neue Fassung stellt das durch die Voraussetzung klar, daß die Entscheidung einen erkennenden Richter betrifft. Danach findet Absatz 2 Satz 2 Anwendung, wenn das Gesuch vor der Eröffnung des Hauptverfahrens angebracht worden ist, das Gericht aber erst nach diesem Zeitpunkt darüber entschieden hat 5 . Ist dagegen die Entscheidung schon vor der Eröffnung des Hauptverfahrens ergangen 6 , so betrifft sie keinen erkennenden Richter. Demzufolge wird die sofortige Beschwerde gegen sie nicht dadurch ausgeschlossen, daß zwischen der Entscheidung und der Beschwerde das Hauptverfahren eröffnet worden ist (OLG München E 3 433). Dagegen kommt es auf den Beginn der Hauptverhandlung nicht an. Absatz 2 Satz 2 findet auf einen nach der Eröffnung des Hauptverfahrens ergangenen Beschluß sowohl dann Anwendung, wenn er in der Hauptverhandlung als auch wenn er vor dieser ergangen ist (RGSt. 7 175, 22 135). Daß der abgelehnte erkennende Richter inzwischen als erkennender Richter aus der Sache ausgeschieden ist, macht Absatz 2 nicht unanwendbar (BayObLGSt. 10 328). 7. In den besonderen Verfahrensarten. Findet das Verfahren ganz oder in der Instanz ohne Eröffnungsbeschluß statt, so beginnt die Eigenschaft als erkennender Richter mit jeder gerichtlichen Verfügung, die bestimmt oder erkennen läßt, daß die Hauptverhandlung stattfinden soll und vor welchem Gericht. Ein nicht richterlicher Akt, wie der Einspruch gegen einen Strafbefehl oder gegen eine Strafverfügung oder der Eingang der Akten beim Berufungsgericht, genügt ebensowenig wie im regelmäßigen Verfahren die Anklage. Danach wird das Gericht erkennendes Gericht: im beschleunigten Verfahren mit der Anordnung des Vorsitzenden, daß die Hauptverhandlung sofort durchgeführt werde oder mit der Anberaumung eines Termins dazu (§ 212 a Abs. 1; OLG Hamburg NJW 1964 2123); im Berufungsverfahren mit der Anberaumung des Termins zur Hauptverhandlung oder mit einer ihr vorangehenden Anordnung, den Angeklagten durch einen beauftragten oder ersuchten Richter (§ 323 Abs. 1, § 223 Abs. 1 und 2) zu vernehmen oder mit sonstigen, die Entscheidung vorbereitenden Maßnahmen (z. B. nach § 225 oder Anordnungen zur Aufklärung von Prozeßverstößen in der ersten Instanz); im Revisionsverfahren mit der Bestimmung eines Berichterstatters, der Terminsbestimmung oder ihr voraufgehenden, die Entscheidung vorbereitenden Maßnahmen (etwa zur Aufklärung von Prozeßverstößen in den Vorinstanzen), spätestens mit der Beschlußentscheidung nach § 349 Abs. 2 und 4; im Wiederaufnahmeverfahren mit allen richterlichen Handlungen, die getroffen werden, nachdem das Gericht die Wiederaufnahme des Verfahrens und die Erneuerung der Hauptverhandlung angeordnet hat (§ 370 Abs. 2) und in den Verfahren des § 371; im Verfahren nach § 408 Abs. 2 mit der Anberaumung der Hauptverhandlung; im Verfahren nach Einspruch gegen einen Strafbefehl (§411) oder gegen eine Strafverfügung (§413 Abs. 4) und im objektiven Einziehungsverfahren (§ 440) mit der Terminsbestimmung (OLG Dresden Alsb. 1 68)7. 5 6 7

A. A. — maßgeblich ist der Zeitpunkt der Ablehnung — M ü l l e r - S a x 2 a Abs. 1. Wie im Falle BGH NJW 1952 234. A. A. - bei Strafbefehl nach Einspruch - BayObLGSt. 24 108; OLG Köln M D R 1957 437; OLG Oldenburg NdsRpfl. 1955 59.

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Dritter Abschnitt. Ausschließung und Ablehnung (Dünnebier)

§ 28 Anm. 8 - 1 0

8. Anfechtung mit dem Urteil. Nach dem Wortlaut des § 28 Abs. 2 Satz 2 kann die Entscheidung über die Ablehnung eines erkennenden Richters nur mit dem Urteil angefochten werden. Die Fassung entspricht nicht ganz dem Sinn der Vorschrift. Sie will nicht besagen, daß neben dem Rechtsmittel gegen das Urteil (Berufung oder Revision) eine besondere, bis zur Rechtsmitteleinlegung aufgeschobene Beschwerde gegen den Beschluß zulässig sein soll, sondern daß, falls der Abgelehnte am Verfahren oder an der Urteilsfällung teilgenommen hat (RGSt. 60 112), aus der rechtsirrigen Verwerfung oder Zurückweisung des Ablehnungsgesuchs eine Rüge zur Urteilsanfechtung entnommen werden kann, sofern das Urteil überhaupt anfechtbar ist (KG G A 57 233). D a indessen Satz 2 für die gleiche Sache aus Gründen der Zweckmäßigkeit nur den Instanzenzug anders regelt als Satz 1 (RGSt. 30 277), kann Satz 2 mit der Ausnahme der zeitlichen Verschiebung nicht mehr und nicht weniger geben als Satz 1. Daraus folgt einmal, daß Beschlüsse der Oberlandesgerichte, auch wenn diese erstinstanzlich entscheiden, weil gegen sie keine sofortige Beschwerde zulässig ist, auch nicht mit dem Urteil angefochten werden können. Danach ist, wenn in einer beim Landgericht anhängigen Sache nach § 27 Abs. 4 das Oberlandesgericht entschieden hat, auch keine Anfechtung nach Satz 2 zulässig 8. Z u m anderen ergibt sich aus jener Voraussetzung, daß das Beschwerderecht nicht „qualitativ beschränkt" (RGSt. 30 277) sein soll, mithin über die mit der Revision angebrachte Rüge nach Beschwerdegrundsätzen (4) zu entscheiden ist (RGSt. 22 136; BGHSt. 1 36; B G H J R 1957 68; BGHSt. 18 203; 21 340; 23 266). Die Beschwerde gegen einen Beschluß, der einem gegen einen erkennenden Richter angebrachten Ablehnungsgesuch nicht stattgegeben hat, ist indessen trotz Absatz 2 Satz 2 statthaft, wenn das erste Gericht die Entscheidung wegen Unzuständigkeit abgelehnt hat (2). 9. Form. Die Anfechtung wird bewirkt durch Erhebung der Rüge aus § 338 Nr. 3 oder 2 bei der Begründung der Revision (§ 344) und in der dafür vorgeschriebenen F o r m (RGSt. 74 297; BGHSt. 21 340). Die Berufungsbegründung ist zwar ins Belieben des Beschwerdeführers gestellt (§317), doch muß er sich ihrer bedienen, wenn er den Ablehnungsbeschluß anfechten will. Daher kann der Beschluß, durch den die Ablehnung eines im ersten Rechtszuge erkennenden Richters als unzulässig verworfen oder unbegründet zurückgewiesen worden ist, nur bis zum Ende der Frist zur Rechtfertigung der Berufung (§ 317) angefochten werden (BayObLGSt. 1956 2 4 9 = N J W 1957 599)'. Die Anfechtung kann nur auf die Tatsachen gestützt werden, die dem Ablehnungsbeschluß zugrunde gelegen haben (RGRspr. 4 528). Deshalb dürfen auch neue Beweismittel zur Glaubhaftmachung eines abgelehnten Ablehnungsgrundes beim Rechtsmittelgericht nicht mehr nachgebracht werden (BGHSt. 21 88). Daneben kann der Beschwerdeführer sich mit neu vorgebrachten Tatsachen der Rüge aus § 338 Nr. 2 (nicht Nr. 3) bedienen, auch wenn er vorher kein Ablehnungsgesuch angebracht hatte ( E b S c h m i d t 13). Die „Anfechtung mit dem Urteil" ist die Berufung ( § 3 1 2 ) oder die Revision (§§ 333, 334) gegen das Urteil, das in dem Rechtszuge ergangen ist, in dem das gegen einen erkennenden Richter angebrachte Ablehnungsgesuch für unbegründet oder unzulässig erklärt worden ist. Demzufolge kann das Urteil eines Berufungsgerichts nicht mit der Begründung angefochten werden, daß schon das Amtsgericht die Ablehnung zu Unrecht verworfen habe (RGSt. 60 112). 10. Entscheidung des Rechtsmittelgerichts. Das Rechtsmittelgericht entscheidet über die Anfechtung im Urteil, jedoch nach den für die Beschwerde maßgebenden Grundsätzen (8). Daher hat das Revisionsgericht die Ablehnungsbeschlüsse auch in tatsächlicher Beziehung frei nachzuprüfen (BGHSt. 18 203) 1 0 . Soweit aus dem Auftreten eines Richters in der Hauptverhandlung Schlüsse von den anderen anwesenden Richtern auf die Besorgnis der Befangenheit zu ziehen sind, ist der Nachprüfung des dabei obwaltenden Ermessens jedoch dadurch eine gewisse Grenze gesetzt, daß dem Revisionsgericht die eigene Beobachtung fehlt (BayObLGSt. 1949/51 391). W a r das Gesuch als unzulässig zurückgewiesen, »A.A. RGSt. 33 315; 37 113; F e i s e n b e r g e r 13 zu § 27; M ü l l e r - S a x 2b. ' A. A. S c h w a r z 22. Aufl. 2 zu § 28. 10 RGSt. 7 341,22 135,65 40, 74 297; BGHSt. 1 36,2 11; BGH JR 1957 68. 325

§29 Anm. 1, 2

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

hält es das Rechtsmittelgericht aber für zulässig, so begründet der Umstand, daß das Gericht in fehlerhafter Besetzung entschieden hat, noch nicht den absoluten Revisionsgrund des § 338 Nr. 3. Vielmehr prüft das Revisionsgericht nunmehr grundsätzlich selbst, ob die Ablehnung begründet ist (BGHSt. 18 203; 21 338; 23 267). Dazu hat es ggf. die Äußerung des abgelehnten Richters herbeizuführen und sie dem Ablehnenden, wenn sie dessen Darstellung nicht bestätigt, zur Kenntnis zu bringen. Das Revisionsgericht braucht aber nicht so zu verfahren, sondern kann die Sache wegen Verletzung von § 27 durch Nichtanwendung (§ 337) aufheben und zurückverweisen (BGHSt. 23 203). Das Gericht darf — soweit es nicht über die selbständige Revisionsrüge aus § 338 Nr. 2 entscheidet — nur diejenigen Ablehnungsgründe in Betracht ziehen, die vorgebracht waren, als das Gesuch verworfen worden ist (RGRspr. 4 527; R G LZ 1921 66; RGSt. 74 297). Das Berufungsgericht kann die Sache wegen des Mangels in die erste Instanz zurückverweisen (§ 328 Abs. 2). Das wird sich in der Regel empfehlen; es wird notwendig sein, wenn der Vorsitzende zu Unrecht nicht ausgeschlossen worden war. Hat das Berufungsgericht nicht in Betracht gezogen, daß es die Sache zurückverweisen könne, dann darf das Revisionsgericht diese Ermessensentscheidung des Berufungsgerichts nicht selbst treffen. Es hat daher die Sache nicht an den Erstrichter, sondern an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (BayObLGSt. 1957 11); dieses kann dann die Zurückverweisung an den Erstrichter nachholen.

§29 Ein abgelehnter Richter hat vor Erledigung des Ablehnungsgesuchs nur solche Handlungen vorzunehmen, die keinen Aufschub gestatten. 1. Inhalt. Die Motive ( H a h n 1 92) sagen über den Zweck der Vorschrift: Ein Ablehnungsgesuch dürfte für sich allein nicht die Wirkung haben, daß der Abgelehnte sogleich von jeder Mitwirkung in der Sache ausgeschlossen werde. Denn sonst wäre der Beschuldigte imstande, dringliche Untersuchungshandlungen durch ein unbegründetes Ablehnungsgesuch zu verhindern. Das Gewollte kommt im Text eindeutig zum Ausdruck. Danach enthält die Vorschrift den Grundsatz, daß die Ablehnung amtsunfahig macht, und die Ausnahme, daß der abgelehnte Richter befugt bleibt, unaufschiebbare Handlungen vorzunehmen. Der Regelung ist denknotwendigerweise die Folgerung zu entnehmen, daß die unaufschiebbare Handlung wirksam ist, auch wenn die Ablehnung für begründet erklärt wird. Dagegen berührt § 29 nicht die Fehlerhaftigkeit der Handlungen eines kraft Gesetzes ausgeschlossenen Richters (III 3 zu § 22). Demzufolge hat das Gericht, wenn es feststellt, der abgelehnte Richter sei ausgeschlossen gewesen, stets anzuordnen, daß die dringliche Handlung zu wiederholen sei. Das kann es auch dann tun, wenn die Handlung wirksam ist. Das empfiehlt sich, wenn Zweifel vorliegen, ob die Handlung eines erkennenden Richters unaufschiebbar war, weil die Frage im Falle der Anfechtung vom Berufungs- oder Revisionsgericht endgültig erst entschieden wird, nachdem die Hauptverhandlung bereits durchgeführt worden ist (§28 Abs. 2 Satz 2). Der Grundsatz, daß allein durch die Ablehnung für alle Handlungen, die keinen Aufschub gestatten, Amtsunfähigkeit herbeigeführt wird, gilt auch dann, wenn das Ablehnungsgesuch unzulässig ist (BayObLGSt. 1954 56). Darin kommt eine sehr weitgehende Vorsicht des Gesetzgebers zum Ausdruck. Sie wird in ihren Auswirkungen dadurch gemildert, daß unzulässige Gesuche in einem vereinfachten Verfahren — während der Hauptverhandlung ohne deren Unterbrechung — erledigt werden können (III 3 zu § 26 a), und daß der abgelehnte Richter bei der Entscheidung mitwirkt (§ 26 a Abs. 2 Satz 1). Diese Mitwirkung ist als ausdrückliche Ausnahme von § 29 aufzufassen. Hierbei wird die Frage, wann ein Ablehnungsgesuch erledigt ist (3), von besonderer Bedeutung. 2. Abgelehnter Richter ist nach dem Wortlaut des § 24 Abs. 1 der Richter, gegen den ein Ablehnungsgesuch angebracht ist, sei es weil der Ablehnende behauptet, der Richter sei von der Ausübung des Richteramts kraft Gesetzes ausgeschlossen, sei es weil er Befangenheit besorgt. Danach findet § 29 auf den Richter, dessen Ausschließung behauptet wird, 326

Dritter Abschnitt. Ausschließung und Ablehnung (Dünnebier)

§ 29 Anm. 3

insoweit Anwendung, daß er — auch wenn er in Wirklichkeit nicht ausgeschlossen ist — keine Handlung vornehmen darf, die Aufschub gestattet. Soweit die Vorschrift dagegen zuläßt, daß der abgelehnte Richter trotz der Ablehnung nicht aufschiebbare Handlungen vornimmt, ist sie wegen der Wirkung, die die Ausschließung von Rechts wegen hat, auf den ausgeschlossenen Richter nicht anwendbar. Daher darf der Richter, wenn er durch die Ablehnung erfahren hat, daß er nach § 22 von der Ausübung des Richteramts kraft Gesetzes ausgeschlossen ist, keine — auch keine dringliche — Handlung vornehmen. In bezug auf den ausgeschlossenen Richter (§§ 22, 23) hat § 29 daher nur Bedeutung, wenn der Ausschließungsgrund zwar behauptet ist, aber offensichtlich nicht vorliegt. Daß § 29 auch anzuwenden wäre, wenn der behauptete Ausschließungsgrund nicht alsbald feststellbar sei ( E b S c h m i d t 2), kann nicht anerkannt werden. Zwar ist eine vorgenommene Handlung, die unaufschiebbar war, wirksam, wenn das Gericht später feststellt, daß kein Ausschließungsgrund gegeben ist (5). Wird dieser aber festgestellt, dann ist auch die im guten Glauben vorgenommene unaufschiebbare Handlung eines ausgeschlossenen Richters fehlerhaft; denn für die Ausschließung kommt es nicht darauf an, daß der Richter den Ausschliessungsgrund kennt. Dem ausgeschlossenen Richter steht der Amts- und Untersuchungsrichter gleich, der ein Ablehnungsgesuch für begründet hält (§ 27 Abs. 3). Auch dieser Richter ist nicht zu dringenden Amtshandlungen befugt. Er darf auch seine Feststellung, daß das Gesuch begründet sei, wenn ihm bekannt ist, daß er sie treffen muß, nicht aufschieben, um vorher eine dringliche Handlung vorzunehmen. Endlich steht dem ausgeschlossenen Richter der gleich, in bezug auf den eine Ablehnung für begründet erklärt worden ist (§ 28 Abs. 1). 3. Erledigung des Ablehnungsgesuchs. Wann ein Ablehnungsgesuch i.S. des § 2 9 „erledigt" ist, ist streitig. Die Lösung hängt davon ab, ob man „Erledigung" — einen sonst in Zusammenhang mit der Bearbeitung von Anträgen nicht verwendeten Ausdruck — als „Entscheidung" liest, worunter die erste zu verstehen wäre, oder ob man dem Ausdruck entnimmt, daß die Entscheidung das Gesuch „erledigt" haben müsse, worunter wohl nur die rechtskräftige Entscheidung verstanden werden kann. Abzulehnen ist die Erwägung, daß § 30 (wie auch § 48 ZPO) das Wort „Erledigung" als „Entscheidung" i. S. des § 27 Abs. 1 (§ 45 Abs. 1 ZPO) verwendet \ Das wäre ein bloß verbales Argument; nachdem in § 47 ZPO das ungeklärte Wort „Erledigung" verwendet worden war, kann es dem Verfasser bei dem alsbald folgenden § 48 wieder in die Feder geflossen sein. Ohne eine amtliche Erläuterung des Wortes, die aber fehlt, kann man so weitreichende Folgerungen nicht ziehen. Die sich aufdrängende Erklärung „Erledigung" müsse mehr als Entscheidung sein, wird dadurch in Frage gestellt, daß Ablehnungsentscheidungen des erkennenden Gerichts mit der Entscheidung, sei es nach § 26a (BGHSt. 5 155), sei es nach § 27 (BGHSt. 4 209), i. S. des § 29 erledigt sind (RG GA 59 351; RGSt. 58 288). In diesen Fällen ist der Beschluß, der das Ablehnungsgesuch verwirft, nur mit dem Urteil anfechtbar (§ 28 Abs. 2 Satz 2). Demzufolge muß das Gesetz einen anfechtbaren Zustand — obwohl er unerwünscht und daher nach Möglichkeit zu vermeiden ist — in Kauf nehmen, damit das laufende Verfahren zunächst, ungestört durch eine Beschwerde, zu Ende gebracht werden kann. Die herrschende Ansicht übernimmt diese Auslegung auch für den Fall, daß der das Ablehnungsgesuch verwerfende Beschluß durch sofortige Beschwerde anfechtbar ist (§ 28 Abs. 2 Satz 1; 3 zu § 28) mit dem Hinweis auf § 307 Abs. 1 2 . Ihr ist indessen nicht zuzustimmen (vgl. R G JW 1902 249). Das Wort „Erledigung" kann nicht ohne zwingenden Grund — wie er für den Fall des § 28 Abs. 2 Satz 2 dargelegt ist — beiseite geschoben werden. Die dafür gebotene Auslegung muß als Ausnahme angesehen werden, die nicht auf den Fall des § 28 Abs. 2 Satz 1 übertragen werden kann, bei dem keine Notwendigkeit für eine Ausnahmeregelung besteht. Denn es läuft keine Hauptverhandlung und die Beschwerdefrist, deren Ablauf endgültige (5 zu § 28) Klärung als „Erledigung" bringt, ist nur kurz (§311 Abs. 2 Satz 1). Daher ist die Verfahrensverzögerung dem Zustand der Ungewißheit vorzuziehen. 1 2

Mot. zur Z P O H a h n 1 165. RGZ 66 46; K G JR 1968 28; F e i s e n b e r g e r 2; M ü l l e r - S a x 3; K l 2; S c h o r n 178; zweifelnd, aber eher die für die Maßgeblichkeit der ersten Entscheidung, M a r t i n LM 1 zu § 29; unentschieden BGHSt. 4 210; 5 154.

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§ 29 Anm. 4 , 5

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

Wer die erste Entscheidung auch bei gegebener sofortiger Beschwerde als Erledigung ansieht, muß auch die Folgen dieser Ansicht im Auge behalten: Hat das Gericht inzwischen in der Sache entschieden, muß es entweder die Beschwerde gegen die Verwerfung des Ablehnungsgesuchs als überholt ansehen oder sie zulassen mit der Folge, daß nicht nur die Ablehnungsentscheidung, sondern auch die Entscheidung in der Sache selbst in Frage gestellt wird. Die erste Lösung (RGZ 66 46) macht § 28 Abs. 2 Satz 1 weitgehend inhaltslos, was kaum Sinn des Gesetzes sein kann, die zweite bringt keinen ins Gewicht fallenden Zeitgewinn und bietet daher keinen Grund, eine zweifelhafte Auslegung einer sinnvollen vorzuziehen (im Ergebnis ebenso T e p l i t z k y MDR 1970 106). 4. Keinen Aufschub duldende Handlungen sind solche, die wegen ihrer Dringlichkeit nicht bis zum Eintritt des Ersatzrichters anstehen können, wie die Verhaftung des Beschuldigten 3, die Sicherung von Beweisen oder das — nur in der Sitzung zulässige (BayObLGSt. 8 57) und daher unaufschiebbare — Verhängen einer Ordnungsstrafe wegen Ungebühr nach § 178 GVG (OLG Hamburg GA 70 54). Bloße Zweckmäßigkeit macht die Sache nicht unaufschiebbar; ein selbst von weither gereister Zeuge kann die Reise erneut machen. Bei den heutigen Verkehrsmöglichkeiten und Nachrichtenverbindungen wird der Fall der unaufschiebbaren Handlung nicht oft eintreten. Nimmt der Richter eine vor, wird er den Grund, aus dem die Handlung unaufschiebbar ist, aktenkundig machen. 5. Folgen. Wenn das Gericht feststellt, daß ein Ausschließungsgrund vorgelegen hat, ist die vom Richter vorgenommene Handlung stets fehlerhaft (III 3 zu § 22), gleichgültig ob sie aufschiebbar oder unaufschiebbar war, und gleichviel welche Vorstellung der Richter über die Aufschiebbarkeit hatte. Die aufschiebbare Handlung ist gleichviel welche Vorstellung der Richter von der Aufschiebbarkeit hatte, nach dem Sinne der Vorschrift (1) stets fehlerhaft, auch wenn ein wegen Besorgnis der Befangenheit angebrachtes Ablehnungsgesuch für unbegründet erklärt oder festgestellt wird, daß kein Ausschließungsgrund vorgelegen hat. Denn die durch die Ablehnung bewirkte Amtsunfahigkeit kann nicht rückwirkend beseitigt werden ( M a r t i n LM 1 zu § 29). Die unaufschiebbare Handlung des wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnten Richters ist auch dann wirksam, wenn ein Ablehnungsgesuch wegen Besorgnis der Befangenheit für begründet erklärt wird (1). Sie ist femer wirksam, wenn festgestellt wird, daß kein Ausschließungsgrund vorgelegen hat. Sie ist dagegen unwirksam, wenn ein solcher festgestellt wird (2). Der Mangel kann mit der Revision gerügt werden. Das Revisionsgericht prüft nach, ob die Handlung aufschiebbar war ( E b S c h m i d t 3 Abs. 2), doch ist dem Richter, der die Prozeßhandlung vornimmt, ein gewisser Spielraum bei der Auslegung des unbestimmten Rechtsbegriffs der Unaufschiebbarkeit zuzugestehen. Hat der durch Ablehnung amtsunfahige Richter an einem Eröffhungsbeschluß mitgewirkt, dann ist dieser zwar mangelhaft. Da die durch eine Ablehnung herbeigeführte Amtsunfähigkeit aber nur ein vorläufiger Zustand ist, wirkt der Mangel nicht so stark, daß der mangelhafte Eröffnungsbeschluß einem fehlenden (III 5 zu § 22) gleichzustellen wäre. Diese Folge tritt erst ein, wenn ein Ausschließungsgrund festgestellt oder ein Ablehnungsgesuch für begründet erklärt wird. Demzufolge ist der Eröffnungsbeschluß, an dem ein abgelehnter Richter mitgewirkt hat, nicht etwa im Revisionsverfahren von Amts wegen zu prüfen, sondern nur auf Rüge. Auf dem Mangel kann das Urteil nicht beruhen, wenn das Ablehnungsgesuch nachträglich rechtskräftig zurückgewiesen wird 4. §30 Das für die Erledigung eines Ablehnungsgesuchs zuständige Gericht hat auch dann zu entscheiden, wenn ein solches Gesuch nicht angebracht ist, ein Richter aber von einem Verhältnis Anzeige macht, das seine Ablehnung rechtfertigen könnte, oder wenn aus anderer Veranlassung Zweifel darüber entstehen, ob ein Richter kraft Gesetzes ausgeschlossen ist. 3

4

A. A. — Verhaftung ist wegen des Rechts der Staatsanwaltschaft, vorläufig festzunehmen, nicht unaufschiebbar — P e t e r s § 20 III 2 Abs. 8. M a r t i n LM 1 zu § 29; etwas abweichend — keine Beschwer des Angeklagten — BGHSt. 4 209.

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Dritter Abschnitt. Ausschließung und Ablehnung (Dünnebier)

§ 30 Anm. 1—4

Entstehungsgeschichte: Die Dritte VO zur Vereinfachung der Strafrechtspflege vom 29. 5. 1943 (RGBl. I 342) hatte § 30 mit § 27 vereinigt. Art. 3 Nr. 11 VereinhG hat die ursprüngliche Fassung wieder hergestellt. 1. Inhalt. Die Vorschrift begründet die Pflicht, über die Frage der Ausschließung eines Richters nicht nur zu befinden, wenn ein Ablehnungsberechtigter sie behauptet, sondern vom Amts wegen immer dann zu prüfen und zu entscheiden, wenn sich ein Anhalt dafür zeigt, daß ein Ausschließungsgrund auf einen zur Mitwirkung berufenen Richter zutreffen könne. Sie gibt ferner jedem Richter die Möglichkeit, zu seiner Entlastung Zweifel darüber vom Gericht prüfen zu lassen, ob ein Beteiligter ihn als befangen ansehen könnte. Die Prüfung zu veranlassen, ist er verpflichtet; einmal im Interesse der Beteiligten, da ja sehr wohl Ablehnungsgründe zwar dem Richter, nicht aber dem Berechtigten bekannt sein können, zum anderen im Interesse des Ansehens der Rechtspflege, weil Ablehnungsgründe von solcher Stärke vorliegen können, daß das Amtieren des Richters selbst dann unerwünscht ist, wenn der Berechtigte ihn nicht ablehnt, sei es aus Scheu oder Gleichgültigkeit, sei es in der Hoffnung auf einen Skandal, den er durch nachträgliche Bekanntmachung erregen könnte. Das Verfahren des § 30 findet jederzeit, unabhängig von den zeitlichen Schranken des § 25, statt (RGSt. 67 276; BGH GA 1962 338). Es ergänzt § 24, hat aber einen Teil seiner Bedeutung verloren, nachdem § 25 neu gefaßt und damit das Ablehnungsrecht, wenn auch unter bestimmten Voraussetzungen, bis zum letzten Wort ausgedehnt worden ist. 2. Zuständiges Gericht. Die Entscheidung steht dem Gericht zu, das nach § 27 zur Entscheidung über die Ablehnung zuständig ist Demzufolge findet auch § 27 Abs. 4 (Entscheidung durch das zunächst obere Gericht) Anwendung, wenn der Fall des § 30 bei so vielen Richtern vorliegt, daß die für die Entscheidung erforderliche Richterzahl nicht mehr gegeben ist. 3. Anzeige von einem Ablehnungsgrund. Das Gesetz erkennt kein Selbstablehnungsrecht des Richters an 1 , verpflichtet aber jeden zur Mitwirkung im Strafverfahren berufenen Richter, Ablehnungsgründe dem Gericht anzuzeigen (OLG Schleswig SchlHA 1953 69). Ablehnungsgründe liegen nach § 24 Abs. 1 sowohl vor, wenn der Richter kraft Gesetzes ausgeschlossen ist (§§ 22, 23), als auch wenn Besorgnis der Befangenheit besteht (§ 24 Abs. 2). Die Anzeige ist Berufspflicht des Richters. Er hat sie ungeachtet des Standes des Verfahrens jederzeit, auch nach dem in § 25 genannten Zeitpunkt, zu erstatten, wenn ihm der Ablehnungsgrund bekannt wird. Dabei kommt es nicht darauf an, ob er sich befangen fühlt, sondern ob ein Ablehnungsberechtigter Befangenheit besorgen könnte. Kann ein Ablehnungsgesuch noch angebracht werden, so darf er es nicht abwarten. Er hat die Anzeige auch dann zu machen, wenn die Tatsachen, die seine Ablehnung rechtfertigen könnten, offenkundig und mithin auch den Ablehnungsberechtigten bekannt sind 2 . Die Anzeige können nur Richter erstatten, die zur Mitwirkung (9 Abs. 1 zu § 24) berufen sind. Auch die Richter, die zur Ergänzung (III 1 zu § 27) eintreten, können Anzeige erstatten, aber erst, wenn der Eintrittsfall wirklich eingetreten ist. Da der Richter, der Anzeige nach § 30 macht, mit dieser ausscheidet (8 Abs. 1), können u.U. viele Richter ausscheiden,, aber immer nur nacheinander und erst nachdem der vorhergehende Anzeige gemacht hat. 4. Zweifel über einen Ausschließungsgrund. Kommt es bei dem Ablehnungsgrund wegen Besorgnis der Befangenheit entweder auf die befristete (§ 25) Ablehnung (§ 26) oder auf die jederzeit mögliche, und nach der Amtspflicht gebotene, Anzeige des Richters an, so hat das Gericht Ausschließungsgründe bei jedem Stande des Verfahrens von Amts wegen zu beachten, gleichgültig ob sie ein Ablehnungsberechtigter zum Gegenstand eines rechtzeitigen (§ 25) Ablehnungsantrags macht (§ 24 Abs. 1), ob er nach dem Termin des § 25 auf sie hinweist, ob der Richter, den sie angehen, sie anzeigt (§ 30, 1. Alternative) oder ob sie 1 2

§ 27 Abs. 3 Satz 3 enthält ein beschränktes Selbstentscheidungsrecht. Ebenso E b S c h m i d t 2; a. A. OLG München GA 37 223; OLG Colmar A l s b . 1 62.

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§30 Anm. 5—7

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

auf sonstige Weise, etwa durch Hinweise eines anderen Gerichtsmitglieds, Anträge der Staatsanwaltschaft oder Erörterungen in der Presse, bekannt werden. Der Zeitpunkt spielt hierbei keine Rolle. 5. Entscheidungsfälle. Keiner Entscheidung bedarf es, wenn von außen, etwa vom Angeklagten, nach Ablauf des in § 25 genannten Zeitpunkts, Tatsachen vorgetragen werden, indessen zweifelsfrei ersichtlich ist, daß sie keinen Ablehnungsgrund ergeben. Es bedarf ferner keiner Entscheidung, wenn zweifelsfrei ein Ausschließungsgrund (§§ 22, 23) vorliegt (III 1 zu § 22). Bestehen hierüber Zweifel oder zeigt der Richter Umstände an, die seine Befangenheit besorgen lassen könnten, so hat das Gericht zu entscheiden. In den beiden genannten Fällen kann weder der Richter von selbst ausscheiden, noch kann ihn der Vorsitzende durch eine andere Verteilung innerhalb der Kammer (§ 69 GVG) oder des Senats (§§ 117, 131 in Vbdg. mit § 69 GVG) ersetzen 3 . Denn mit der Zuteilung ist er der gesetzliche Richter geworden. Diese Eigenschaft kann er, wenn er nicht zweifelsfrei kraft Gesetzes ausgeschlossen ist, nur durch gerichtliche Entscheidung verlieren. In den beiden vorgenannten Fällen liegt aber schon nach dem Wortlaut des Gesetzes Zweifelhaftigkeit vor („könnte"; „Zweifel"). Auch der Amtsrichter und der Untersuchungsrichter können nicht ohne Entscheidung des anderen Amtsrichters oder des Landgerichts (§ 27 Abs. 3 Satz 1) ausscheiden, wenn sie sich auf einen nicht von einem Ablehnungsberechtigten geltend gemachten, sondern ihnen von Amts wegen bekannt gewordenen Ablehnungsgrund berufen, der die Besorgnis der Befangenheit begründet (OLG Hamm MDR 1964 77); § 27 Abs. 3 Satz 3 (Ausscheiden ohne Entscheidung) gilt nur, wenn der Richter wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt wird. Dagegen haben der Amts- und Untersuchungsrichter einen ihnen bekannt gewordenen Ausschließungsgrund auch ohne Entscheidung nach § 30 zu beachten, wenn die Ausschließung zweifelsfrei gegeben ist. Scheidet ein Richter wegen Besorgnis der Befangenheit ohne Entscheidung aus, wird das Urteil in der Regel dann nicht auf dem Verfahrensmangel beruhen, wenn er auch bei ordnungsmäßigem Verfahren ausgeschieden wäre (BGH NJW 1952 987). 6. Das Entscheidungsverfahren ist das des § 27 (III 1, 3 bis 5 zu § 27) mit den Änderungen, die sich daraus ergeben, daß das Verfahren eine innere Angelegenheit des Gerichts (BGHSt. 3 69) ist. Daher werden die Prozeßbeteiligten nicht gehört (BGH GA 1962 338). Eine Wirkung nach außen zeigt das Verfahren nur, wenn das Gericht anerkannt hat, daß ein Ausschließungs- oder ein Ablehnungsgrund vorliegt. Alsdann ist die Entscheidung den Verfahrensbeteiligten bekanntzumachen, damit sie wissen, warum nicht der nach der Geschäftsverteilung zunächst berufene Richter mitwirkt, der ihnen vielleicht nach § 24 Abs. 3 Satz 2 bekanntgemacht worden ist. Der Richter scheidet aus. Tritt der Fall, was die Regel sein wird, während der Hauptverhandlung ein, so gilt das III 3 Abs. 2, 3 zu § 22 Ausgeführte. 7. Anfechtung. Hat das Gericht entschieden, daß Befangenheit zu besorgen ist oder daß ein Ausschließungsgrund vorliegt, so ist in entsprechender Anwendung von § 28 Abs. 1 die Anfechtung unzulässig (1 zu § 28; RGSt. 30 124, 67 277; BGH GA 1962 338). Hat das Gericht festgestellt, daß keine Befangenheit zu besorgen sei oder daß kein Ausschließungsgrund vorliege, dann hat der beteiligte Richter, wenn das Gericht entgegen seiner Ansicht entschieden hat, kein Beschwerderecht, muß sich vielmehr der Entscheidung fügen 4 . Auch die Prozeßbeteiligten können den Beschluß, wenn er vor der Eröffnung des Hauptverfahrens ergeht, selbst dann nicht mit der sofortigen Beschwerde anfechten, wenn das Gericht feststellt, daß kein Ausschließungsgrund vorliege. Denn sie sind an dem gerichtsinternen Verfahren nicht beteiligt. Ergeht die gerichtliche Entscheidung nach dem Eröffnungsbeschluß, so findet aus dem gleichen Grunde § 28 Abs. 2 Satz 2 keine Anwendung (RGSt. 67 277; BGHSt. 3 69), doch wird das Recht eines jeden Prozeßbeteiligten, die Rüge aus § 338 Nr. 2 mit einem statthaften Rechtsmittel zu erheben, nicht berührt, 3 4

A. A. K l 2; wie hier M ü l l e r - S a x 2 a. OLG Köln A l s b . E 1 73; OLG Breslau GA 51 68; OLG Schleswig SchlHA 1953 69; OLG Celle NdsRpfl. 1966 118; a. A. - Richter hat Beschwerderecht - T e p l i t z k y JuS 1969 325.

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Dritter Abschnitt. Ausschließung und Ablehnung (Dünnebier)

§ 30 Anm. 8

wenn die gerichtliche Entscheidung zu Unrecht verneint hat, daß der Richter, auf den sich das Verfahren aus § 30 bezogen hatte, von der Ausübung des Richteramts kraft Gesetzes ausgeschlossen war. Unanfechtbar ist es, wenn der Richter von einem Verhältnis, das seine Ablehnung rechtfertigen könnte, keine Anzeige macht (BGH bei D a l i i n g e r M D R 1965 24). Denn es handelt sich dabei um keine gerichtliche Entscheidung, sondern um eine Dienstpflicht des Richters, die er dem Gericht gegenüber zu erfüllen hat. Daß er das tut, kann selbst dann nicht durch Beschwerde oder Urteilsanfechtung erzwungen werden, wenn das Unterlassen einen Ermessensmißbrauch darstellt 5 . Der Ausschluß eines jeden Rechtsmittels — mit dem Vorbehalt der Rüge aus § 338 Nr. 2 — ist nach dem System des dritten Abschnitts unabweislich. Nachdem § 25 Abs. 2 die Möglichkeit geschaffen hat, den Richter bis zum letzten Wort abzulehnen, sind die Bedenken beseitigt, die bisher gegen die Endgültigkeit der Entscheidung vorzubringen waren: Wenn der Berechtigte keinen Ablehnungsgrund gesehen hat, besteht wenig Veranlassung, ihn an der Prüfung des Gerichts teilnehmen zu lassen. Daß im Verfahren nach § 30 ernstliche Bedenken gegen die Unbefangenheit des Richters erhoben werden können, die nur dem Richter, nicht aber dem Ablehnungsberechtigten bekannt sind, und daß das der Kontrolle einer übergeordneten Instanz entzogene Gericht im Einzelfall eine andere Entscheidung als das Rechtsmittelgericht treffen mag, ist nicht auszuräumen. Es rechtfertigt aber nicht mehr das Verlangen, die Entscheidungen nach § 30 anfechtbar zu machen, nachdem der Ablehnungsberechtigte seine Rechte nunmehr bis zum letzten Wort geltend machen kann. Hat das Gericht im Verfahren des § 30 einen Richter wegen Besorgnis der Befangenheit ausgeschieden, obwohl der Richter keine Anzeige nach § 30 gemacht hatte (und auch nicht nach § 24 abgelehnt worden war), dann ist die Entscheidung, weil die Anzeige Entscheidungsvoraussetzung ist, gesetzwidrig. Ist die Entscheidung nicht die eines erkennenden Gerichts, steht — wenn sie nicht von einem Strafsenat, auch von einem, der erstinstanzlich entschieden hat, erlassen worden ist (§ 304 Abs. 4) — das allgemeine Rechtsmittel der Beschwerde zur Verfügung (§ 304 Abs. 1). Hat sie ein erkennendes Gericht (6 und 7 zu § 28) erlassen, ist die Beschwerde nach § 305 ausgeschlossen, dafür die Revision wegen Verletzung des § 16 Satz 2 GVG nach §§ 336, 337 zulässig und begründet (OLG Köln JMB1NRW 1965 214). Das Oberlandesgericht Köln will darüber hinaus die Anfechtung mit der Rüge der Verletzung des § 16 Satz 2 GVG immer zulassen, wenn der Vorsitzende eines Schöffengerichts oder einer kleinen Strafkammer erst nach Beginn der Urteilsberatung einen Schöffen für kraft Gesetzes ausgeschlossen oder befangen erklärt. Die Entscheidung 6 ist insoweit abzulehnen. Es können sehr wohl erst bei der Urteilsberatung Ausschließungsgründe hervortreten 7 . Alsdann ist der Ausschluß ungeachtet des Zeitpunkts zwingend. Auch eines Ablehnungsgrundes kann sich der Schöffe erst während der Beratung, nachdem er sich beim Vorsitzenden Rat eingeholt hat, bewußt werden. Wenn er dann Anzeige nach § 30 macht und Befangenheit zu besorgen ist, muß der Vorsitzende beschließen, daß er auszuscheiden hat. In beiden Fällen widerspricht es dem System des § 28 Abs. 1, § 30, die Revision für zulässig zu erklären 8 . Wenn das Verfahren des § 3 0 mißbraucht wird 9 , wird eine Rüge, § 1 6 Satz 2 GVG sei verletzt, durchgreifen, doch ist die Frage nicht hier, sondern bei jener Bestimmung zu behandeln. 8. Wirkung. Tritt einer der Fälle des § 30 ein, scheidet der Richter bis zur gerichtlichen Entscheidung aus. Entscheidet das Gericht, daß das angezeigte Verhältnis keine Ablehnung rechtfertige oder daß der Richter nicht ausgeschlossen sei, so tritt er alsbald wieder ein. 5 6

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A. A. M ü l l e r - S a x 1; OLG Neustadt NJW 1963 2087. die nach dem Sachverhalt nicht veranlaßt war, weil schon das Fehlen des Antrags die Revision begründete. Beispiel: Ein Schöffe schöpft in der Hauptverhandlung Verdacht, daß seine Frau Opfer des angeklagten Sammlungsbetrügers sein könnte, wagt den Vorsitzenden nicht zu unterbrechen und stellt die Verletzung erst durch ein Telefongespräch in der Beratungspause fest. D a s Oberlandesgericht Köln zieht aus einem Einzelfall unzulässigerweise allgemeine Folgen. Beispiel: Ein Richter erstattet Anzeige nach § 30 und wird ausgeschieden, obwohl er und das Gericht keine Befangenheit besorgen.

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§31

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

Anm. 1 Wird die Anzeige für begründet erklärt oder die Ausschließung festgestellt, gelten die gleichen Grundsätze wie bei Entscheidungen, durch die einem Ablehnungsgesuch stattgegeben worden ist (RGSt. 30 124; BGHSt. 3 69; III 6 zu § 27; 1 zu § 28): Der Richter, auf dessen Anzeige festgestellt worden ist, daß ein Ablehnungsberechtigter (§ 24 Abs. 3) Befangenheit besorgen könnte, steht einem kraft Gesetzes nach § 22 ausgeschlossenen Richter gleich. Der Umstand, daß diese Wirkung auf eine Anzeige des Richters zurückzuführen ist, berechtigt diesen nicht, nachdem die Umstände, die zu seiner Anzeige geführt haben, weggefallen sind, wieder richterliche Handlungen in dem Verfahren vorzunehmen, aus dem er ausgeschieden ist (OLG Schleswig SchlHA 1963 79). Da das Verfahren ein Internum des Gerichts ist, äußert es nach außen gar keine Wirkung, wenn es negativ ausgegangen ist. Das Gericht hat erneut zu entscheiden, wenn ein Ablehnungsberechtigter sich das vergebliche Vorbringen des Richters zu eigen macht und ihn damit ablehnt.

§31 (1) Die Vorschriften dieses Abschnitts gelten für Schöffen und Geschworene sowie für Urkundsbeamte der Geschäftsstelle und andere als Protokollführer zugezogene Personen entsprechend. (2) Die Entscheidung trifft der Vorsitzende. Bei der großen Strafkammer und beim Schwurgericht entscheiden die richterlichen Mitglieder. Ist der Protokollführer einem Richter beigegeben, so entscheidet dieser über die Ablehnung oder Ausschließung. Entstehungsgeschichte: § 3 1 wurde wiederholt, insbesondere durch die VO vom 4. 1. 1924 (RGBl. I 15), das Gesetz vom 9.7. 1927 (RGBl. I 175) und die VO vom 3. 11. 1927 (RGBl. I 334) mit Rücksicht auf die Besetzung der Strafkammer mit Schöffen und auf den Fortfall der Bezeichnungen „Gerichtsschreiberei" und „Gerichtsschreiber" geändert. Die Beseitigung der Schöffen durch die §§ 13 und 14 der VereinfachungsVO vom 1.9. 1939 hatte zur Folge, daß Absatz 1, soweit er sich auf Schöffen bezog, und Absatz 2 im ganzen Umfang unanwendbar wurden. Art. 1 Nr. 3 VO vom 29. 5. 1943 übertrug die Entscheidung über die Ablehnung von Urkundsbeamten dem Vorsitzenden. Art. 3 Nr. 13 VereinhG hat im wesentlichen den ursprünglichen Inhalt wiederhergestellt mit der Maßgabe, daß die Entscheidungsbefugnis für Schöffen und Urkundsbeamte übereinstimmend geregelt ist (Begrdg. BTDrucks. I 530 Anl. 1 a, S. 35). Auch ist der Inhalt des früheren § 32 in § 31 aufgegangen. 1. Schöffen und Geschworene. Die entsprechende Anwendung ist vorgeschrieben, weil die Schöffen und Geschworenen bei den gerichtlichen Entscheidungen wie die Richter mitwirken (§§ 192 bis 197 GVG). Sie bedeutet zweierlei: Einmal ist in den §§ 22 und 23 überall, wo Richter steht, auch Schöffe und Geschworener zu lesen. Zum anderen ergibt das Wort „mitwirken" in § 23, daß ein Schöffe oder Geschworener ausgeschlossen ist, wenn er im vorangegangenen Verfahren als solcher, aber auch wenn er — freilich ein seltener Fall — als (später aus dem Dienst ausgeschiedener) Richter mitgewirkt hatte. Sieht man von dem letzten Fall ab, dem ohnehin mehr theoretische Bedeutung zukommt, dann scheidet für eine entsprechende Anwendung § 23 Abs. 3 aus, weil er sich auf den Untersuchungsrichter bezieht, dieses Amt aber niemals von Schöffen und Geschworenen wahrgenommen werden kann. Weiterhin sind von der entsprechenden Anwendung ausgeschlossen § 27 Abs. 2 bis 4, weil er „richterliche Mitglieder" betrifft, und § 29, weil unaufschiebbare Handlungen von Schöffen und Geschworenen nicht denkbar sind. § 27 Abs. 1 ist durch § 31 Abs. 2 ersetzt, der auch § 30 in bezug auf die Schöffen und Geschworenen modifiziert. Die übrigen Vorschriften des dritten Abschnitts sind voll anwendbar. — Die Ausschließungsgründe der §§ 22, 23 werden ergänzt durch die Fälle der Unfähigkeit; sie sind in § 32 GVG für die Schöffen und in § 84 GVG für die Geschworenen aufgestellt. Die Unfähigkeitsgründe sind in jeder Beziehung den Ausschließungsgründen gleichzustellen.

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Dritter Abschnitt. Ausschließung und Ablehnung (Dünnebier)

§ 31 Anm. 2 , 3

Im Sinne des § 22 Nr. 4 ist als Polizeibeamter nur tätig gewesen, wer den Sachverhalt als Organ der Sicherheitspolizei erforscht hat (RGSt. 17 419). Dazu gehört auch die Einwirkung als Vorgesetzter (RGSt. 55 252), nicht aber die bloße Weiterleitung einer Anzeige an die Staatsanwaltschaft (RG GA 49 118). 2. Urkundsbeamte. Die gleichartige Behandlung der Urkundsbeamten beruht hauptsächlich auf der Erwägung, daß ihre Protokolle Beweiskraft g e n i e ß e n D a b e i ist in erster Linie an die Hauptverhandlungsprotokolle (§ 274) zu denken. Der Wortlaut der Ablehnungsvorschriften geht über das Ziel jener Erwägung weit hinaus, doch muß aus dem hauptsächlichen Zweck der Bestimmung und aus der Wortfassung „als Protokollführer z u g e z o g e n e Personen" geschlossen werden, daß § 31 nur auf Personen Anwendung findet, die richterliche Handlungen beurkunden; nimmt der Urkundsbeamte sonst Erklärungen zu Protokoll der Geschäftsstelle entgegen (z.B. § 345 Abs. 2), so findet der dritte Abschnitt keine Anwendung 2 . Demzufolge ist der Urkundsbeamte, der als Sitzungsvertreter der Staatsanwaltschaft in der Hauptverhandlung tätig war, rechtlich nicht gehindert, die Revisionsbegründung in der gleichen Sache zu Protokoll zu nehmen (OLG Schleswig SchlHA 1959 107). Von der entsprechenden Anwendung ist § 27 Abs. 2 bis 4 aus den zu 1 angegebenen Gründen ausgeschlossen; § 27 Abs. 1 ist durch § 31 Abs. 2 ersetzt, der auch hier § 30 in bezug auf die Urkundspersonen ändert. § 29 findet, anders als bei den Schöffen, Anwendung. Dagegen ist im Gegensatz zu der für diese geltenden Rechtslage bei den Urkundspersonen auch § 23 nicht anzuwenden; vielmehr darf in jedem Stande des Verfahrens derselbe Schriftführer tätig sein, weil er auf die Entscheidung keinen Einfluß hat und daher nicht durch eine vorgängige Entscheidung befangen sein kann. Demzufolge kann in der erstinstanzlichen Hauptverhandlung der Urkundsbeamte des Untersuchungsrichters, in der Berufungsverhandlung dieser oder der Urkundsbeamte der ersten Instanz mitwirken (RGRspr. 3 789); entsprechendes gilt für das Revisionsverfahren. Aus diesen Erwägungen folgt jedoch, daß als Urkundsbeamter nicht tätig sein darf, wer vorher als (später aus dem Dienst ausgeschiedener) Richter i.S. des § 23 an einer Entscheidung mitgewirkt oder die Voruntersuchung geführt hat. Auch § 25 ist entsprechend anzuwenden. § 25 Abs. 1 findet jedoch nur Anwendung, wenn der Urkundsbeamte seine Tätigkeit zu Beginn der Sitzung aufnimmt. Tut er das erst später, paßt § 25 Abs. 1 nicht. Denn durch diese Vorschrift soll vermieden werden, daß eine Hauptverhandlung unterbrochen und wiederholt werden muß. Sie setzt voraus, daß das Gericht während der ganzen Verhandlung gleich besetzt ist (§ 226), und daß diese Besetzung vor der Sitzung oder zu ihrem Beginn den Ablehnungsberechtigten bekanntgegeben werden kann (§ 24 Abs. 3 Satz 2). Da indessen Urkundsbeamte jederzeit wechseln können (OLG Braunschweig NdsRpfl. 1947 89), sind diese Voraussetzungen bei ihnen nicht gegeben. Gleichwohl bietet die Ablehnung eines Urkundsbeamten auch dann keine Besonderheiten, wenn er nach dem Zeitpunkt des § 25 Abs. 1 in die Hauptverhandlung eintritt. Denn § 25 Abs. 2 deckt diesen Fall. Es können nämlich, bevor der Urkundsbeamte eingetreten ist, Umstände, auf die die Ablehnung gestützt wird, nicht eingetreten sein. Mag der Umstand auch eine Äußerung des Urkundsbeamten vor der Sitzung betreffen, so wird er erst dadurch zu einem Ablehnungsgrund, daß der Beamte als Urkundsbeamter zu der zu verhandelnden Sache in amtliche Beziehung kommt. Ein vor der Sitzung liegender Umstand tritt daher i.S. des § 25 Abs. 2 erst dann ein, wenn der Urkundsbeamte in seine Stellung in der zu verhandelnden Sache einrückt. Unverzüglich nach diesem Zeitpunkt ist der Beamte abzulehnen. 3. Entscheidung. Für den Zeitpunkt der Ablehnung gilt § 25, für das Gesuch § 26. Unzulässige Gesuche werden in der Hauptverhandlung nach § 26 a entschieden. Die Entscheidung über Gesuche, die nicht nach § 26 a behandelt werden, obliegt beim Schöffengericht und bei der kleinen Strafkammer dem Vorsitzenden. Ist ein Urkundsbeamter einem Amtsrichter, Untersuchungsrichter oder beauftragten Richter beigegeben, so entscheidet dieser. Bei Kollegialgerichten entscheiden die „richterlichen Mitglieder" (3 Abs. 3 vor § 22). Das Gesetz ordnet das zwar nur für die Strafkammer und das Schwurgericht an. Da es 1 2

Mot. H a h n 1 92. M ü l l e r - S a x 2b; a. A. - ohne Begründung - RG JW 1893 419.

333

§ 31 Antn. 4 , 5

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

aber damit zu erkennen gibt, daß die Entscheidung außerhalb der Hauptverhandlung in Beschlußbesetzung ergeht, muß das gleiche auch — in bezug auf den Urkundsbeamten — für das Oberlandesgericht und den Bundesgerichtshof entsprechend gelten ( E b S c h m i d t 11). Aus diesem Grunde müssen bei den erstinstanzlich entscheidenden Oberlandesgerichten bei der Entscheidung über die Ablehnung eines Urkundsbeamten zwei Mitglieder ausscheiden (II 2 Abs. 3 zu § 27). Wegen des Ersatzes eines ausgeschiedenen Schöffen oder Geschworenen vgl. §§49, 84 GVG. Eine ausgeschiedene Urkundsperson wird im Verwaltungswege ersetzt. Da ein Urkundsbeamter jederzeit während der Verhandlung wechseln kann, muß nur dann nach § 31 Abs. 2 verfahren werden, wenn ein unbegründetes Ablehnungsgesuch zurückgewiesen werden soll. 4. Wegen der Anfechtung s. § 28. Daß diese Vorschrift unmittelbar gilt, ergibt sich für Schöffen und Geschworene aus § 338 Nr. 3. Er ist nur sinnvoll, wenn durch § 28 Abs. 2 Satz 2 die sofortige Beschwerde bei Entscheidungen ausgeschlossen ist, die sich auf erkennende Schöffen und Geschworene beziehen. Wird die Ablehnung eines Urkundsbeamten für unbegründet erklärt, gilt § 28 ebenfalls. Die Ansicht, daß diese Vorschrift weder unmittelbar noch entsprechend anwendbar sei (LG Stuttgart NJW 1964 677), entbehrt — wenn sie auch für Ablehnungen während der Hauptverhandlung im Ergebnis richtig ist — der Begründung. Sie entspricht auch nicht der Systematik der Strafprozeßordnung. Nach dieser wird der — seltene — Ausschluß eines Rechtsmittels stets besonders verordnet (z.B. § 28 Abs. 1, § 46 Abs. 2, § 153 Abs. 3, 2. Halbsatz, § 210 Abs. 1, § 212b Abs. 2 Satz 2, § 282 Satz 2, § 305 Satz 1). Da es an einer solchen Anordnung fehlt, gilt § 28 auch für Ablehnungsgesuche, die sich auf Urkundsbeamte beziehen. Für § 28 Abs. 2 Satz 1 (sofortige Beschwerde) ergeben sich dabei keine Besonderheiten. § 28 Abs. 2 Satz 2 dagegen gilt seinem Wortlaute nach („erkennenden Richter") bei der Ablehnung von Urkundsbeamten nicht unmittelbar. Da durch ihn die Unterbrechung der Hauptverhandlung vermieden werden soll, gilt die Vorschrift nach diesem Zweck aber über ihren Wortlaut hinaus entsprechend in der Weise, daß sie auch auf den Beschluß Anwendung findet, durch den die Ablehnung des Urkundsbeamten eines erkennenden Gerichts als unzulässig verworfen oder als unbegründet zurückgewiesen wird. Daher ist die sofortige Beschwerde ausgeschlossen, aber die Anfechtung mit Berufung oder Revision in der Weise statthaft, daß Verletzung der §§ 336, 337 gerügt wird. Freilich ist die Revision nur begründet, wenn das Urteil auf dem gerügten Mangel beruht (§ 336). Das kann kaum je der Fall sein, weil das Urteil auf der Hauptverhandlung beruht, nicht aber auf der Tätigkeit des Urkundsbeamten oder auf dem Sitzungsprotokoll (RGSt. 68 273). 5. Wirkung. Für Schöffen und Geschworene gilt das hinsichtlich der Richter Ausgeführte (III 5 zu § 27). Ist ein Urkundsbeamter ausgeschlossen oder mit Erfolg abgelehnt, dann darf er das Protokoll nicht führen. Tut er es gleichwohl, etwa weil er den Ausschließungsgrund nicht kennt, so entbehrt sein Protokoll der Beweiskraft. Die Verlesung nach § 251 ist unzulässig, die Wirkung des § 274 tritt nicht ein (RGSt. 13 77); das Revisionsgericht hat behauptete Verfahrensverstöße im Freibeweis zu würdigen. Keinesfalls sind Behauptungen des Revisionsführers dadurch bewiesen, daß ihr Gegenteil wegen der Untauglichkeit des Protokolls aus diesem nicht nachgewiesen werden kann. Auf diese Weise kann der Angeklagte durch das Fehlen der Beweiskraft des Protokolls erheblich benachteiligt sein. Gleichwohl gibt ihm das Gesetz keine durchgreifende Möglichkeit, seine Revision auf die Mitwirkung eines ausgeschlossenen Urkundsbeamten zu stützen (4). Ein Ausgleich ist darin zu finden, daß die Revisionsgerichte an den Beweis eines Verfahrensverstoßes keine sehr hohen Anforderungen stellen werden, wenn ein beweistaugliches Protokoll fehlt.

§32 § 32 hatte die entsprechende Anwendung der für Schöffen geltenden Vorschriften über Ausschließung und Ablehnung auf Geschworene vorgeschrieben. Art. 3 Nr. 12 VereinhG hat den Inhalt von § 32 in § 31 Abs. 1 übernommen, Art. 3 Nr. 13 den § 32 gestrichen.

334

Vierter Abschnitt. Gerichtliche Entscheidungen (Dünnebier)

Vor § 33 Anm. 1—3

VIERTER ABSCHNITT Gerichtliche Entscheidungen und ihre Bekanntmachung Vorbemerkungen 1. Entstehungsgeschichte. Der Abschnitt ist mehrfach von Vereinfachungsvorschriften während des Krieges betroffen worden, hat aber nur wenig bleibende Änderungen erfahren, die bei den §§ 35, 36, 37 und 39 erwähnt werden. § 35 a (Rechtsmittelbelehrung) ist durch das 3. StRÄndG eingefügt worden, um aus Gründen der Rechtsstaatlichkeit die Strafprozeßordnung an die Vorschriften für das Verwaltungsstreitverfahren anzupassen. Durch das Strafprozeßänderungsgesetz sind die Bestimmungen zur Sicherung des rechtlichen Gehörs um § 33 Abs. 3 und 4 und 33 a erweitert worden. Dem gleichen Gesetz entstammt § 37 Abs. 2 (Doppelzustellungen). § 43 Abs. 2 ist durch das sog. Sonnabendfrist-Gesetz geändert worden. 2. Inhalt. Die Überschrift des Abschnitts entspricht dem Inhalt nur unvollständig. Über die Begründung gerichtlicher Entscheidungen enthält die Strafprozeßordnung weitere Bestimmungen (3 Abs. 3 zu § 34); die Beratung und Abstimmung bei gerichtlichen Entscheidungen sind in den §§ 192 bis 198 GVG geregelt. Auf der anderen Seite bezieht sich § 36 nicht nur auf die Bekanntmachung, sondern auch auf die Vollstreckung von Entscheidungen und regeln die § § 3 7 bis 41 nicht nur die Bekanntmachung von Entscheidungen, sondern die Zustellung überhaupt. 3. Sprachgebrauch. Das Wort Entscheidungen wird nicht einheitlich verwendet. Den umfassendsten Gehalt hat es notwendigerweise in § 35, der von der Bekanntmachung handelt. Da die Entscheidung erst mit der Bekanntmachung existent wird, müssen hier auch die prozeßleitenden Verfügungen erfaßt werden (1 zu § 35). Diese und bloß gerichtsinterne Entscheidungen sind dagegen in §§ 33, 33a nicht gemeint (I 2 zu § 33; 2 Abs. 2 zu § 33a), doch ist der Begriff sonst sehr weit auf alle Urteile, Beschlüsse, Anordnungen, Befehle aller Gerichte innerhalb und außerhalb der Hauptverhandlung zu beziehen (I 2 Abs. 2 zu § 33). In § 34 wird ein besonderer Ausschnitt („durch ein Rechtsmittel anfechtbar") erfaßt. Mit dem Ausdruck Urteil werden nur folgende Entscheidungen bezeichnet: Die die Hauptverhandlung erster Instanz abschließende, die Anklage erledigende Entscheidung (§ 260); die Entscheidungen der Rechtmittelgerichte über die Berufung (§ 322 Abs. 1 Satz 2, § 328, § 329) und die Revision (§ 349 Abs. 5, § 353), soweit sie nicht in Beschlußform ergehen (§ 322 Abs. 1 Satz 1, § 349 Abs. 1, 2 und 4); die Entscheidung, die nach Wiederaufnahme des Verfahrens (§ 370 Abs. 2) das frühere Urteil oder den früheren Strafbefehl (§ 373a) aufrechterhält oder aufhebt (§ 373), soweit sie nicht als Beschluß ergeht (§ 371 Abs. 1 und 2; BGHSt. 8 383). Für die Unterscheidung des Urteils vom Beschluß ist nicht die Bezeichnung maßgebend; vielmehr ist unter Berücksichtigung des Inhalts der Entscheidung (RGSt. 65 398; BGHSt. 18 385) auf die Besetzung des erkennenden Gerichts, das vorgeschriebene Verfahren (Entscheidung aufgrund einer Hauptverhandlung oder ohne sie; BayObLGSt. 1959 85) und den Rechtmittelzug abzustellen (BGHSt. 8 385). Strafbefehl und Strafverfügung sind ohne Hauptverhandlung ergehende Entscheidungen des Amtsrichters (§ 407 Abs. 1, § 413 Abs. 2), die angefochten werden können, ohne daß eine Begründung gegeben zu werden brauchte, und die, wenn sie rechtskräftig werden, die, wenn auch abgeschwächte (RGSt. 56 253; BGHSt. 18 142; BVerfGE 3 2 4 8 = NJW 1954 69), Wirkung eines Urteils erlangen (§§ 410, 373 a). Die übrigen gerichtlichen Entscheidungen werden Beschlüsse oder Verfügungen genannt; ausnahmsweise wird auch die Form der „Entscheidung" nicht bezeichnet (§ 118 a Abs. 4; § 122 Abs. 2, § 124 Abs. 3). Eine durchgängige Unterscheidung bewahrt die Strafprozeßordnung nicht. Jedoch ergehen Entscheidungen eines Kollegialgerichts niemals in der Form von Verfügungen. Die Schöffengerichte, Strafkammern und Strafsenate erlassen, soweit sie nicht in Urteilsform entscheiden, stets nur Beschlüsse. Dagegen wird für Entscheidungen des Einzelrichters, nämlich des Amtsrichters, des Untersuchungsrichters, des beauftragten oder ersuchten Richters und des Vorsitzenden eines Kollegialgerichts (vgl. § 304 Abs. 1) sowohl die Bezeichnung Verfügung (vgl. § 181 Abs. 1, § 2 1 9 Abs. 1 Satz 2) als auch Beschluß (vgl. § 111 a Abs. 1) gebraucht. Der Unterschied hat keine praktische Bedeutung, 335

V o r § 3 3 Anm. 4 §33

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

weil § 304, der die Beschwerde zuläßt und begrenzt, von Beschlüssen und Verfügungen, und § 305, der sie ausschließt, von Entscheidungen spricht. Zweckmäßigerweise bezeichnet der erkennende Amtsrichter diejenigen Entscheidungen als Beschlüsse, die das Gericht erlassen müßte, wenn die Sache vor einem Kollegialgericht verhandelt werden würde ( E b S c h m i d t 12 vor § 33). Bei Anordnungen, die eine Beschränkung der Freiheit des von ihr Betroffenen herbeiführen, gebraucht die Strafprozeßordnung den Ausdruck Befehl, so beim Haftbefehl (§ 114 Abs. 1), beim Unterbringungsbefehl (§ 126 a Abs. 1 Satz 1) und beim Vorführungsbefehl (§ 134 Abs. 2). Die besondere Ausdrucksweise hat keine sachliche Bedeutung. Die Befehle fallen ebenso unter den Begriff Verfügungen wie die den Befehlen nahestehenden Anordnungen (vgl. § 81a, § 81c Abs. 3, § 98 Abs. 1, § 100a, § 100b Abs. 1 bis 3, § 101a Abs. 2 Satz 1, § 105 Abs. 1, § 119 Abs. 6). Staatsanwaltschaftliche Entscheidungen unterstehen grundsätzlich nicht den Bestimmungen des vierten Abschnitts. Ihre Benennung ist noch uneinheitlicher (§ 151: Klage, § 154 d: Nachricht, § 161: Ersuchen, Auftrag; § 171 Satz 1, § 100 Abs. 2: Verfügung; § 171 Satz 2: Bescheid). 4. Reform. Die Zustellungsvorschriften befriedigen in doppelter Hinsicht nicht. Einmal ist die Übertragung der Zustellung auf die Staatsanwaltschaft nicht sinnvoll, nachdem überall gerichtliche Geschäftsstellen eingerichtet und ausreichend mit geschultem Personal besetzt sind oder zum Ausgleich solches der Staatsanwaltschaft zum Gericht versetzt werden kann. Das Hin- und Herwandern der Akten ist oft auch mit Zeitverlust verbunden. Zum anderen ist die Verweisung auf die Zivilprozeßordnung nicht sachgemäß. Deren Vorschriften gelten nach § 37 entsprechend. Die Zustellungen sind solche von Amts wegen. Für diese schreibt § 208 ZPO vor, daß auf die von Amts wegen zu bewirkenden Zustellungen die Vorschriften über die Zustellung auf Betreiben der Parteien entsprechend gelten. Diese zweifache entsprechende Anwendbarkeit und der Umstand, daß der größere Teil der Zustellungsvorschriften der Zivilprozeßordnung nicht (I 2 zu § 37) oder nur beschränkt (I 3 zu § 37) anwendbar ist, machen den Anwendungsbereich der zivilprozessualen Vorschriften unübersichtlich. In § 35 ist Absatz 3 als gesetzliche Regelung entbehrlich, dafür aber eine Anordnung über die Übersetzung für solche Zustellungsempfanger erwünscht, die der deutschen Sprache nicht mächtig sind. §33 (1) Eine Entscheidung des Gerichts, die im Laufe einer Hauptverhandlung ergeht, wird nach Anhörung der Beteiligten erlassen. (2) Eine Entscheidung des Gerichts, die außerhalb einer Hauptverhandlung ergeht, wird nach schriftlicher oder mündlicher Erklärung der Staatsanwaltschaft erlassen. (3) Bei einer in Absatz 2 bezeichneten Entscheidung ist ein anderer Beteiligter zu hören, bevor zu seinem Nachteil Tatsachen oder Beweisergebnisse, zu denen er noch nicht gehört worden ist, verwertet werden. (4) Bei Anordnung der Untersuchungshaft, der Beschlagnahme oder anderer Maßnahmen ist Absatz 3 nicht anzuwenden, wenn die vorherige Anhörung den Zweck der Anordnung gefährden würde. Vorschriften, welche die Anhörung der Beteiligten besonders regeln, werden durch Absatz 3 nicht berührt. Entstehungsgeschichte: § 33 bestand früher nur aus einem Absatz, der den Inhalt der jetzigen ersten beiden Absätze hatte. Die jetzigen Absätze 3 und 4 sind angefügt durch Art. 8 Nr. 1 StPÄG, durch den auch die Teilung der alten Vorschrift in die beiden ersten Absätze herbeigeführt worden ist. Schrifttum: A r n d t , Das rechtliche Gehör, NJW 1959 6; Die Verfassungsbeschwerde wegen Verletzung des rechtlichen Gehörs, NJW 1959 1297; D a h s jr., Das rechtliche Gehör im Strafprozeß, 1965; H a m a n n , Rechtliches Gehör, AnwBl. 1958 141; J a g u s c h , Über das rechtliche Gehör im Strafverfahren, NJW 1959 265; L e s s e r , Anspruch auf recht336

Vierter Abschnitt. Gerichtliche Entscheidungen (Dünnebier)

§ 33 Anm. I 1, 2

liches Gehör, DRiZ 1960 420; R ö h l , Das rechtliche Gehör, NJW 1953 1531; NJW 1958 1268; v o n W i n t e r f e l d , Das Verfassungsprinzip des rechtlichen Gehörs, NJW 1961 849; W o e s n e r , Rechtliches Gehör und Sitzungspolizei, NJW 1959 866). Übersicht I. Inhalt und Begriffe 1. Zweck der Vorschrift 2. Entscheidungen 3. Ergehen 4. Beurkundung II. Im Laufe einer Hauptverhandlung ergehende Entscheidungen (§ 33 Abs. 1) 1. Begriff 2. Anhören der Beteiligten 3. Weitere Vorschriften 4. Revision

III. Außerhalb der Hauptverhandlung ergehende Entscheidungen 1. Inhalt 2. Erklärung der Staatsanwaltschaft ( § 3 3 Abs. 2) 3. Weitere Vorschriften 4. Gehör von Beteiligten (§ 33 Abs. 3) 5. Beispiele 6. Weitere Vorschriften ( § 3 3 Abs. 4 Satz 2) IV. Mit dem Prozeßzweck nicht zu vereinbarendes Gehör 1. Wegfall des Gehörs (§ 33 Abs. 4 Satz 1) 2. Beschwerde

1. Inhalt und Begriffe. 1 ; Zweck der Vorschrift. Mit §§ 33, 33a und den anderen Bestimmungen des Art. 8 StPAG soll das rechtliche Gehör vor Gericht gesichert werden. Die Begründung bemerkt dazu: „§ 33 StPO in der geltenden Fassung bleibt hinter dem verfassungsrechtlichen Gebot (Art. 103 Abs. 1 GG), wonach vor Gericht jedermann Anspruch auf rechtliches Gehör hat, zurück. Zwar gilt Art. 103 Abs. 1 unmittelbar für alle Arten des gerichtlichen Verfahrens; aber die Strafprozeßordnung ist unvollständig, solange der Verfahrensgrundsatz des rechtlichen Gehörs nicht in ihr ausgeformt wird. Diesen Mangel will der Entwurf durch eine Generalklausel beseitigen (§33 Abs. 3). Der Anspruch auf rechtliches Gehör ist ein dem Einzelnen zustehendes Recht auf Gelegenheit zur Äußerung. Es bedeutet nicht dasselbe wie das Recht auf Beteiligung am Verfahren. Denn der Anspruch auf rechtliches Gehör kann auch verletzt werden, obgleich der Träger dieses Anspruchs in das Verfahren eingeschaltet worden ist. Das wäre der Fall, wenn das Gericht bei seiner Entscheidung neue Tatsachen oder Beweisergebnisse verwerten würde, zu denen sich der Beteiligte bei seiner Einschaltung in das Verfahren noch nicht äußern konnte" (Begrdg., BTDrucks. III 2037, S. 18). Das Gesetz will damit die Grundsätze berücksichtigen, die das Bundesverfassungsgericht in seiner Rechtsprechung zu Art. 103 Abs. 1 G G entwickelt hat; sie sind dargestellt in der Einleitung, Kap. 11 B 7. Die §§ 33, 33 a sind nur ein Teil der Bestimmungen, die das rechtliche Gehör sicherstellen sollen. Für Rechtsmittelentscheidungen wird das Gehör des Gegners des Beschwerdeführers herbeigeführt nach § 308 Abs. 1 (Beschwerde), § 320 (Berufung) und § 347 (Revision). In vielen Vorschriften wird über das Minimum des § 33 hinausgegangen (II 3, III 3 und 6). Ausnahmen von § 33 Abs. 3 enthalten § 407 Abs. 4 Satz 3 und § 413 Abs. 4 Satz 2. Nach diesen Vorschriften bedarf es der vorherigen Anhörung des Beschuldigten durch das Gericht nicht; der Beschuldigte kann sich durch Einspruch (§ 411, § 413 Abs. 4) rechtliches Gehör verschaffen (BVerfGE 3 253 = NJW 1954 68). 2. Entscheidungen. Schon bei den Verhandlungen in der Reichstagskommision bestand kein Einverständnis, was alles unter dem Begriff Entscheidungen zu verstehen sei. Es wurden die Auffassungen vertreten: Entscheidungen seien nur die der Kollegialgerichte und des Amtsrichters als erkennenden Gerichts (Abg. S t r u c k m a n n ) ; es seien nur Beschlüsse gemeint, mit denen einem Antrag stattgegeben oder ein Antrag verworfen werde (Abg. R e i c h e n s p e r g e r ) ; Entscheidung sei jede Entscheidung und Anordnung, die das Gericht durch Beschluß erläßt mit Ausnahme der Entscheidungen des Untersuchungsrichters und der des Amtsrichters im Vorverfahren (Regierungsvertreter, sämtlich Mat. H a h n 2 1209). Keine der Auffassungen hat den Gesetzestext für sich. Dieser machte es gerade notwendig, 337

§33

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

Anm. I 3 für die Entscheidungen des Amtsrichters und des Untersuchungsrichters Ausnahmen vorzuschlagen, die aber nicht angenommen worden sind. Auch der schließlich gewählte Ausweg, das Gehör des Beschuldigten außerhalb der Hauptverhandlung nicht allgemein, sondern von Fall zu Fall zu regeln, macht deutlich, daß die Entscheidungen, zu denen nun allerdings nur die Staatsanwaltschaft zu hören war, alle Arten von Beschlüssen und Verfügungen sein sollten (Abg. P u t t k a m m e r und S c h w a r z e , Mat. H a h n 1 572), wie S c h w a r z e meinte, sogar die prozeßleitenden Verfügungen. Dabei bestand allerdings Einigkeit, daß der Untersuchungsrichter unmöglich vor jeder Verfügung den Staatsanwalt hören könne. Dem Amtsrichter wollte man erlassen, den Amtsanwalt zu hören, weil dafür keine qualifizierten Beamten zur Verfügung ständen; ein Einwand, der heute ohnehin erledigt ist. Obwohl der Wortlaut keinem der Wünsche entspricht und kaum eine der Interpretationen standhalten läßt, hat die Entstehungsgeschichte auf die Literatur eingewirkt, so daß im allgemeinen prozeßleitende Verfügungen sowie Anordnungen des Untersuchungsrichters und des Amtsrichters im Vorverfahren nicht unter den Begriff Entscheidungen gezählt werden1. Die Einschränkungen sind aber nur zum Teil zu halten: Der Wortlaut gebietet weite Auslegung. Nach dem Sinn der Vorschrift muß der Beteiligte oder sein prozessualer Gegner immer gehört werden, wenn über einen Antrag entschieden wird, oder wenn eine Entscheidung in die Rechte eines Beteiligten eingreifen kann. Dabei ist es gleichgültig, ob eine solche Entscheidung die eines erkennenden Gerichts ist, oder ob sie vom Amtsrichter im Vorverfahren oder vom Untersuchungsrichter erlassen wird, wie sich aus Absatz 4 ergibt. Nur die prozeßleitenden Verfügungen und alle Entscheidungen, die lediglich den Gang des Verfahrens betreffen, wird man mit Sicherheit von dem in § 33 gemeinten Begriff ausnehmen können, weil sie keine Eingriffe in Rechte und Rechtsstellungen bewirken, sondern allenfalls vorbereiten. Ebenso werden gerichtsinterne Entscheidungen (z. B. solche nach § 30) von § 33 nicht erfaßt ( B G H G A 1962 338), doch kann auch hier das Gehör der Beteiligten zweckmäßig sein, z. B. wenn das Gericht von Amts wegen über die Frage zu entscheiden hat, ob ein Richter kraft Gesetzes ausgeschlossen ist. Von diesen Ausnahmen abgesehen sind Entscheidungen die Urteile, Beschlüsse, Anordnungen und Befehle der erkennenden und beschließenden Gerichte, gleichviel ob sie in der Hauptverhandlung oder außerhalb dieser ergehen, ob sie von einem Kollegialgericht oder von einem Amtsrichter erlassen werden, ob im Hauptverfahren, in der Voruntersuchung oder im Vorverfahren. Die notwendige Einschränkung ist nicht durch eine Auslegung des Wortes Entscheidung zu suchen. Vielmehr trifft sie das Gesetz in Absatz 3 dahin, daß es das Gehör nur unter bestimmten Voraussetzungen verlangt, allerdings nicht bei der Staatsanwaltschaft, sondern nur bei den anderen Beteiligten. 3. Ergehen. Eine Entscheidung ist ergangen, wenn sie für das Gericht, das sie beschlossen hat, außer in den gesetzlich vorgesehenen Fällen (§ 33a, § 306 Abs. 2, § 311 Abs. 3, § 311 a Abs. 1), unabänderlich ist. Unabänderlich ist sie, wenn sie außerhalb des Gerichts Wirksamkeit entfalten kann, d. h. sobald sie bekanntgegeben ist. Solange die Entscheidung noch geändert werden kann, ist sie nur ein Entwurf. Für einen Schwebezustand von der Beschlußfassung bis zur Bekanntmachung2 läßt die Notwendigkeit klarer Rechtslagen im Prozeß keinen Raum ( O L G Hamburg NJW 1963 874). Auch die Einheitlichkeit des Begriffs verlangt, auf die Unabänderlichkeit abzustellen; denn nur diese ist für Rechtskraft und Vollstreckung brauchbar ( O L G Hamm JZ 1951 756; O L G Celle N J W 1951 415). Endlich ist unbestritten, daß bei Entscheidungen, die in der Hauptverhandlung ergehen, nicht auf die — der Beschlußfassung entsprechende — Entscheidung im Beratungszimmer (§ 263), sondern nur auf die Verkündung abgestellt werden kann. Bei Entscheidungen, die außerhalb der Hauptverhandlung erlassen werden, entspricht diesem Akt der Kundgabe nach außen die Zustellung oder Mitteilung (§ 35 Abs. 1 und 2). Danach ergeht eine in der Hauptverhandlung getroffene Entscheidung, sobald sie verkündet ist, gleichgültig ob der von ihr Betroffene bei der Verkündung anwesend oder abwesend ist. Sie kann allein durch Verkündung wirksam werden ( O L G Hamm N J W 1962 1734). Die Verkündung ist abgeschlossen, wenn die Urteilsformel und die Urteilsgründe vollständig 1 2

Vorauflagen; E b S c h m i d t 1; F e i s e n b e r g e r 2; M ü l l e r - S a x 2a. M ü l l e r - S a x 5c; N i e s e JZ 1951 758.

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Vierter Abschnitt. Gerichtliche Entscheidungen (Dünnebier)

§ 33 Anm. 1 4

bekanntgegeben sind, oder wenn nach Verlesen der Urteilsformel der Verkündungsakt — etwa wegen Erkrankung des Vorsitzenden — beendet werden mußte, und daher die Gründe teilweise oder ganz nicht eröffnet werden konnten. Bis zu diesem Abschluß steht es dem Gericht frei, von der beschlossenen Entscheidung wieder abzugehen und sie durch eine andere zu ersetzen (BGH NJW 1953 155), selbst wenn die ursprüngliche Entscheidung niedergeschrieben und die Niederschrift unterzeichnet ist; vor der Verkündung hat die Niederschrift nur die Bedeutung eines Entwurfs. Nach der Verkündung kann die Entscheidung nie geändert werden; nur offensichtliche Schreibfehler dürfen berichtigt werden. Auch im Verlauf anderer richterlicher Untersuchungshandlungen kann eine Entscheidung mündlich erlassen werden, jedoch nur, wenn der von ihr Betroffene bei der Verkündung anwesend ist. Als Beispiele sind die Entscheidungen am Schluß der mündlichen Verhandlung bei der Haftprüfung (§ 118a Abs. 4), die Maßnahmen, die der Untersuchungsrichter, der Amtsrichter im Vorverfahren oder der beauftragte oder ersuchte Richter nach § 70 bei gesetzwidriger Verweigerung des Zeugnisses oder der Eidesleistung ergreift, sowie die auf § 180 GVG beruhenden Maßregeln zur Aufrechterhaltung der Ordnung zu erwähnen. In Fällen dieser Art ergeht die Entscheidung wie in der Hauptverhandlung durch die Verkündung; auf den Zeitpunkt, in dem sie schriftlich abgefaßt wird, kommt es nicht an. Sonstige Entscheidungen, die außerhalb der Hauptverhandlung ergehen, sind erlassen, wenn sie, schriftlich abgefaßt und unterschrieben, im regelmäßigen Geschäftsgang an die Staatsanwaltschaft oder auf besondere Anordnungen des Vorsitzenden (§ 36 Abs. 2) an eine Person außerhalb des Gerichts bekanntgegeben werden (OLG Bremen NJW 1956 435; OLG Frankfurt MDR 1962 744; OLG Hamburg NJW 1963 874) 3 , nicht schon dann, wenn sie zur Bekanntgabe an eine solche Person bestimmt werden 4 . Bis zur Bekanntgabe kann das Gericht, wie bis zur Verkündung, seine Entscheidung ändern, wenn auch nach den Umständen des Falles, z. B. beim Auftrag an die Post, praktisch die Möglichkeit, auf die Entscheidung einzuwirken, schon früher enden kann. 4. Beurkundung. Über die Beurkundung gerichtlicher Entscheidungen enthält die Strafprozeßordnung Bestimmungen nur für Urteile (§§ 271, 273 Abs. 1, § 275 Abs. 1), jedoch nicht für andere gerichtliche Entscheidungen. Entscheidungen, die der Untersuchungsrichter, der Amtsrichter im Vorverfahren, der beauftragte oder ersuchte Richter im Verlauf einer Untersuchungshandlung erläßt, werden durch die Verhandlungsniederschrift beurkundet. In den beratenden Sitzungen der Gerichte bedarf es keiner Niederschrift über den Hergang und das Ergebnis der Beratung; die in ihnen gefaßten Beschlüsse werden beurkundet, indem ein mitwirkender Richter, ein Referendar (§ 193 GVG) oder eine nach Abschluß der Beratung zugezogene Hilfskraft (nicht notwendigerweise ein Urkundsbeamter der Geschäftsstelle) sie niederschreibt. Daß alle mitwirkenden Richter unterschreiben, ist zwar zweckmäßig, aber, weil das Gesetz die für die Urteile gegebene Vorschrift des § 275 Abs. 2 nicht auf Beschlüsse erstreckt, nicht unerläßlich 5 . Unterschreiben nur 6 der Vorsitzende und der Berichterstatter oder unterschreibt der Vorsitzende allein, dann ist es zweckmäßig, die Mitwirkung der übrigen Richter dadurch zu beurkunden, daß im Rubrum im Anschluß an die Gerichtsbezeichnung die Namen der Richter in derselben Weise wie bei Urteilen aufgeführt werden. Die Form ist geboten, wenn ein Richter auf Probe, ein Richter kraft Auftrags oder ein abgeordneter Richter an der Entscheidung mitwirkt; denn dann muß die Entscheidung dieses Richterverhältnis erkennen lassen (§ 29 Satz 2 DRiG). Allerdings kann die Dienstbezeichnung auch der Unterschrift beigefügt werden, doch ist das nicht üblich. Läßt sich die Eigenschaft als Richter auf Probe oder kraft Auftrags oder als abgeordneter Richter nicht aus der Dienstbezeichnung erkennen, dann muß sie besonders angegeben werden 7 . 3

Ebenso F u h r m a n n - D a l c k e 1; vgl. auch BayVerfGH MDR 1963 376. So RGSt. 56 359, 66 122; E b S c h m i d t 12; M ü l l e r - S a x 5c; vgl. OLG Köln NJW 1954 1738; OLG Hamm GA 1959 287. 5 RGSt. 1 210, 402, 43 218; RGRspr. 1 362, 697; RG JW 1901 247; GA 63 437; LZ 1916 1384; OLG Köln NJW 1954 1738; OLG Hamm NJW 1957 802. 6 wie dies z.B. nach § 14 Abs. 2 der Geschäftsordnung des Bundesgerichtshofs vom 3.3. 1952 (BAnz. Nr. 83 - DRiZ 1963 152) zulässig ist. 7 S c h m i d t - R ä n t s c h , DRiG 7 zu § 29. 4

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§33 Anm. II 1 - 3

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

II. Im Laufe einer Hauptverhandlung ergehende Entscheidungen (§ 33 Abs. 1). 1. Begriff. Die gerichtlichen Entscheidungen ergehen teils auf Grund einer mündlichen Verhandlung, die vor dem entscheidenden Gericht stattfindet, teils auf Grund des Inhalts der Akten. Die mündliche Verhandlung wird Hauptverhandlung genannt, wenn sie während des Hauptverfahrens stattfindet; sonst wird der erste Ausdruck statt des letzten gebraucht (§§ 118, 118 a, 309 Abs. 1, § 462 Abs. 1), zuweilen allerdings auch, obwohl eine mündliche Verhandlung in Rede steht, absichtlich vermieden (§ 124 Abs. 2 Satz 3). Die Begriffe „Hauptverhandlung" und „Urteil" stehen zueinander in Wechselbeziehung: Einerseits kann ein Urteil regelmäßig nur in einer Hauptverhandlung erlassen werden; diese Regel erleidet eine Ausnahme nur durch § 3 7 1 (RGSt. 47' 166). Andererseits findet die Hauptverhandlung zwar zum Zweck der Urteilsfällung statt, doch kann das erkennende Gericht im Laufe der Hauptverhandlung auch andere Entscheidungen erlassen, z. B. daß der Beschuldigte zur Beobachtung seines Geisteszustandes nach § 81 in eine Heil- oder Pflegeanstalt gebracht oder daß ein als Beweismittel dienlicher Gegenstand nach § 94 in Verwahrung genommen oder der Angeklagte auf Grund des § 112 verhaftet werde. Auch die Beschlüsse, durch die das Gericht die Öffentlichkeit gemäß § 173 Abs. 2 GVG für die Verkündung der Urteilsgründe ausschließt, gehören zu den hier in Betracht kommenden Entscheidungen (RGSt. 69 176,401). 2. Anhören der Beteiligten. Daß alle Beteiligten sich äußern — oder wenigstens die Möglichkeit haben, das zu tun —, bevor eine gerichtliche Entscheidung ergeht, ist das wünschenswerte Ideal. Es läßt sich verwirklichen für die Hauptverhandlung, weil in ihr regelmäßig alle Beteiligten anwesend sind. Aus dieser Grundlage für das Gesetz ergibt sich auch die Ausnahme: In der Hauptverhandlung müssen nur die Beteiligten gehört werden, die anwesend sind (OLG Celle JR 1957 72). Beteiligter i. S. von Absatz 1 ist der Angeklagte, der Staatsanwalt, der Privatkläger, der Nebenkläger, aber auch jeder andere, der von der Entscheidung betroffen wird (§ 304 Abs. 2), ohne Prozeßbeteiligter zu sein, z. B. eine „bei der Verhandlung nicht beteiligte Person", gegen die eine Ordnungsstrafe festgesetzt wird (§ 178 GVG). Beteiligte, die nicht Prozeßbeteiligte sind, sind nur zu den sie betreffenden Entscheidungen zu hören, die Prozeßbeteiligten dagegen zu allen. Dazu braucht der Beteiligte nicht ausdrücklich zur Äußerung aufgefordert zu werden. Es genügt vielmehr, daß ihm Gelegenheit zur Äußerung auf irgendeine Weise gegeben wird, falls ihm nur dadurch sein Recht, sich erklären zu können, erkennbar zum Bewußtsein gebracht wird (RGSt. 10 94, 47 343, 69 401; F e i s e n b e r g e r 5; enger RGSt. 37 438; BGHSt. 2 114). Nicht ausreichend ist dagegen die bloße Möglichkeit (so BGHSt. 1 349), die „tatsächliche Gelegenheit" (BGH JZ 1955 385), Stellung zu nehmen ( E b S c h m i d t 4; D a h s 61). Der Staatsanwalt ist als berufsmäßiger Sitzungsvertreter mit dem Gang des Prozesses vertraut und zu besonderer Aufmerksamkeit verpflichtet. Bei ihm ist daher § 33 Genüge getan, wenn er erkennen kann, daß eine Prozeßhandlung bevorsteht, und wenn er Gelegenheit nehmen kann, sich zu äußern (BGHSt. 17 341; OLG Köln JMB1NRW 1960 107). Verteidiger und Beschuldigter sind nicht zwei voneinander unabhängige Beteiligte. Regelmäßig ist der Beschuldigte gehört, wenn sein Verteidiger gehört ist. Wenn das Gehör ausschließlich eine Tatsache betrifft, die der Verteidiger nicht kennen kann, genügt es, in der Hauptverhandlung den Beschuldigten zu hören; der Verteidiger kann nach § 257 a Erklärungen abgeben. Sonst und stets außerhalb der Hauptverhandlung muß der Verteidiger gehört werden, sei es allein, sei es neben dem Beschuldigten. Diesen allein anzuhören genügt nicht (OLG Karlsruhe NJW 1968 1438). 3. Weitere Vorschriften. Im Abschnitt über die Hauptverhandlung sind einige weitere Vorschriften enthalten, mit denen vorgeschrieben wird, die Beteiligten zu hören: Nach § 248 Satz 2 sind die Staatsanwaltschaft und der Angeklagte zu hören, bevor die prozeßleitende Verfügung ergeht, daß Zeugen und Sachverständige entlassen werden. Nach § 257 soll der Angeklagte nach jedem Akt der Beweisaufnahme befragt werden, ob er etwas zu erklären habe. § 257 a schreibt vor, dem Staatsanwalt und dem Verteidiger Gelegenheit einzuräumen, Erklärungen abzugeben. Die drei Vorschriften erweitern § 33. Dagegen enthält

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Vierter Abschnitt. Gerichtliche Entscheidungen (Dünnebier) § 33 Anm. II 4; III 1,2 § 258 Abs. 1 (ebenso wie § 326 Satz 1 und § 351 Abs. 2 Satz 1) nur eine Regelung, wann und wie das letzte Wort zu gewähren ist. Die Vorschriften, nach denen dem Angeklagten das letzte Wort gebührt (§ 258 Abs. 2, § 326 Satz 2 und § 351 Abs. 2 Satz 2), und die Bestimmung, daß der verteidigte Angeklagte auch selbst sprechen darf und zu befragen ist, ob er das will (§ 258 Abs. 3), erweitern § 33, allerdings mehr im Technischen als im Prinzip. Alle diese Bestimmungen sind neben § 33 sinnvoll und zweckmäßig. § 265 Abs. 1 und 2 verlangt über § 33 hinaus, daß der Angeklagte auf die Veränderung des rechtlichen Gesichtspunktes hingewiesen werde. Es handelt sich um eine der Verallgemeinerung nicht zugängliche Sondervorschrift (BayVerfGH NJW 1959 285; zust. R ö h l ) . Weder nach § 33 noch nach Art. 103 Abs. 1 G G haben die Verfahrensbeteiligten einen Anspruch, daß das Gericht seiner Entscheidung bloß solche rechtlichen Erwägungen zugrunde legt, auf die das Gericht sie hingewiesen hat, wenn die rechtliche Beurteilung im Rahmen dessen liegt, was nach Lehre und Rechtsprechung zu erwarten ist. Das Gericht ist nicht verpflichtet, ein Rechtsgespräch mit den Prozeßbeteiligten zu führen (BGHSt. 22 339 mit weit. Nachw.; BayVerfGH JZ 1963 64, abl. A d . A r n d t ) . Dagegen muß es die Beteiligten auf eine Rechtsansicht hinweisen, die sie nicht voraussehen können (vgl. D a h s 35), sei es, daß das Gericht von seiner eigenen Rechtsprechung abweicht, sei es, daß es eine den Parteien bekanntgegebene Rechtsauffassung verläßt, sei es endlich, daß es dem Gesetz eine völlig neue Auslegung gibt 8 . 4. Revision. Der Angeklagte kann die Revision auf unterlassenes Gehör stützen (RGSt. 69 404). Da kein Fall des § 338 Nr. 8 vorliegt — denn es fehlt, wenn der Beteiligte schlicht nicht gehört worden ist, an einem Beschluß, daß das rechtliche Gehör versagt werde —, kommt es darauf an, daß das Urteil auf einer Verletzung des Gesetzes beruht. Das kann auf doppelte Weise der Fall sein: Einmal könnte das Gericht auf Grund der Äußerung des Angeklagten die Entscheidung nicht oder anders erlassen haben. Zum andern könnte der Angeklagte, wenn er sich vor der Entscheidung hätte äußern können, zufolge einer anschließenden Erörterung mit dem Gericht den Sinn der Entscheidung anders erkannt und alsdann weitere Entscheidungen beantragt haben. Immerhin wird von Bedeutung sein, ob der Angeklagte die ohne sein Gehör beschlossene Maßnahme beanstandet hat. Hat er sie gebilligt, wird es einleuchtender Ausführungen bedürfen, um das Gericht zu überzeugen, daß das Urteil auf dem Unterlassen des Gehörs beruht. III. Außerhalb der Hauptverhandlung ergehende Entscheidungen. 1. Inhalt. Das Ideal, vor einer gerichtlichen Entscheidung alle Beteiligten zu hören, läßt sich außerhalb der Hauptverhandlung regelmäßig nur verwirklichen, wenn man eine Verzögerung des Verfahrens in Kauf nimmt. Sowohl im Interesse der Wahrheitsfindung als auch im besonderen Interesse des Beschuldigten ist aber so rasch als möglich die Endentscheidung anzustreben. Daher schränkt § 33 das Gehör aller Beteiligten mit Ausnahme der Staatsanwaltschaft (2) ein; doch wird es in Sondervorschriften wieder erweitert (6). 2. Erklärung der Staatsanwaltschaft (§ 33 Abs. 2). Die Beschränkung der Idealforderung, vor allen Entscheidungen alle Beteiligten zu hören, trifft die Staatsanwaltschaft nicht. Absatz 2 verlangt vielmehr, daß sie ausnahmslos zu hören ist. Denn sie ist dazu berufen, das öffentliche Interesse wahrzunehmen und darauf hinzuwirken, daß das Gesetz beachtet wird (Nr. 123 Satz 1 RiStBV). Eine solche öffentlich-rechtliche Verpflichtung haben der Privat- und der Nebenkläger nicht. Trotz § 385 Abs. 1 (und § 397) ist daher Absatz 2 wörtlich zu verstehen: Er bezieht sich nur auf die Staatsanwaltschaft (§ 142 GVG). Privatund Nebenkläger sind „andere Beteiligte" i. S. von Absatz 3. 8

Demzufolge braucht das Gericht im Anklageerzwingungsverfahren den Anzeigeerstatter nicht darauf hinweisen (wenn es das auch besser doch tun sollte), daß er und die Staatsanwaltschaft die Verjährung übersehen haben, wohl aber müßte der Angeklagte z. B. belehrt werden, wenn ein Gericht ihn — was niemand zu erwarten hat (BGHSt. 17 144: durch den Tatbestand des § 142 StGB nicht erfaßt) — etwa deshalb wegen Verkehrsunfallflucht verurteilen wollte, weil er zwar nicht, wie die Anklage angenommen hatte, sich von der Unfallstelle entfernt, wohl aber nach dem Unfall Alkohol getrunken hatte, um seinen Blutalkoholgehalt zu verschleiern.

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§ 33 Anm. III 3 , 4

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

Bei der staatsanwaltschaftlichen Äußerung bildet die schriftliche Erklärung die Regel; nach ihr wird in der weit überwiegenden Zahl aller Fälle ohne weiteres Formerfordernis verfahren. Eine mündliche Erklärung ist in § 118 a Abs. 3 Satz 1 für das Haftprüfungsverfahren, in § 124 Abs. 2 Satz 3 vor der Entscheidung über die Beschwerde gegen die Entscheidung, die den Verfall einer noch nicht frei gewordenen Sicherheit zum Gegenstand hat, und in § 138 Abs. 2 GVG für die Beratung über die vom Großen Senat für Strafsachen oder von den Vereinigten Großen Senaten zu erlassenden Entscheidungen in dem Sinn vorgeschrieben, daß der Vertreter der Staatsanwaltschaft nicht verpflichtet ist, mündlich vorzutragen, aber einen Anspruch darauf hat, mit seinem mündlichen Vortrag gehört zu werden. Außer in den vorgenannten Fällen besteht kein Anspruch der Staatsanwaltschaft auf mündliches Gehör außerhalb der Hauptverhandlung. Da sie nie verpflichtet ist, sich außerhalb der Hauptverhandlung mündlich zu äußern, kommt diese Form sonst nur in Betracht, wenn Gericht und Staatsanwaltschaft sie übereinstimmend für zweckmäßig halten, etwa zur Erledigung einer größeren Anzahl von Amnestieentscheidungen nach Erlaß eines Straffreiheitsgesetzes. Wird ein Vertreter der Staatsanwaltschaft zu einer beratenden Sitzung des Gerichts zugezogen, so darf er zwar dem Vortrag des Berichterstatters beiwohnen, muß aber, wenn er seine Ansicht mündlich dargelegt hat, die Sitzung verlassen, bevor das Gericht berät und abstimmt (Mot. H a h n 1 95). 3. Weitere Vorschriften enthalten § 118 a Abs. 3 Satz 1, § 124 Abs. 2 Satz 2, wonach die Staatsanwaltschaft Gelegenheit zu mündlicher Äußerung erhält. Die Vorschriften sind sinnvoll, weil sie eine besondere Art der Erörterung mit dem Gericht sicherstellen. Schwerer einzuordnen sind dagegen § 453 Abs. 1 Satz 2 (Gehör der Staatsanwaltschaft vor Nachtragsentscheidungen über die Strafaussetzung), § 454 Abs. 1 Satz 2 (Gehör der Staatsanwaltschaft vor bedingter Entlassung) und § 462 Abs. 2 (Gehör der Staatsanwaltschaft vor Entscheidungen, die bei der Strafvollstreckung und der nachträglichen Gesamtstrafenbildung notwendig werden). Die Aufnahme dieser Bestimmungen erklärt sich aus der Entstehungsgeschichte: In der ersten Lesung der Kommision waren aus § 33 (27) die Vorschriften entfernt worden, die sich auf Entscheidungen außerhalb der Hauptverhandlung bezogen; es blieb nur das Gehör während der Hauptverhandlung geregelt ( H a h n Mat. 1 573). Demzufolge erschien es notwendig, in § 462 (415) das Gehör besonders anzuordnen ( H a h n Mat. 1 1143). Als in § 33 dann das Gehör der Staatsanwaltschaft auch außerhalb der Hauptverhandlung bestimmt wurde, ist wohl übersehen worden, in § 462 Abs. 2 die Anordnung, die Staatsanwaltschaft zu hören, wieder zu streichen. Die §§ 453 und 454 sind als spätere Einfügungen dem Vorbild des § 462 nachgebildet worden. Bei einer Reform werden diese Unebenheiten zu glätten sein. Alle drei Bestimmungen sind wegen des über Absatz 3 hinausgehenden Gehörs des Beschuldigten bedeutsam, lassen aber keinen Rückschluß zu, § 33 Abs. 2 einschränkend auszulegen; er gilt vielmehr für sämtliche Entscheidungen, die nach der Strafprozeßordnung ergehen. Nur für das Beschwerdeverfahren wird er durch § 309 durchbrochen. Die Einschränkung, die § 33 Abs. 2 dadurch erfährt, entspricht weder der Rolle der Staatsanwaltschaft im Verfahren, noch der Bedeutung, die das Gehör aller Beteiligten nicht nur für diese, sondern auch für das Gericht selbst hat. Die Beschwerdegerichte wenden daher § 33 Abs. 2 regelmäßig an, d. h. sie betrachten alle Beschwerdesachen als geeignet, erst nach Gehör der Staatsanwaltschaft entschieden zu werden. 4. Gehör von Beteiligten (§ 33 Abs. 3). Absatz 3 enthält die bedeutsamste Abweichung vom bisherigen Gesetzestext. Im Gegensatz zum Verfahren in der Hauptverhandlung (Absatz 1) sind zwar — abgesehen von der Staatsanwaltschaft (Absatz 2) — auch weiterhin nicht alle Beteiligten vor allen gerichtlichen Entscheidungen zu hören, wohl aber diejenigen, zu deren Nachteil die Entscheidung ergehen könnte. Auch sie haben, soweit nicht Einzelvorschriften weitergehende Anordnungen treffen, nur einen beschränkten Anspruch: Sie brauchen nur gehört zu werden, wenn bei der bevorstehenden Entscheidung Tatsachen oder Beweisergebnisse zu ihrem Nachteil verwertet werden könnten, zu denen sie noch nicht gehört worden sind. Ergeht die Entscheidung außerhalb einer Hauptverhandlung, aber in einer mündlichen Verhandlung (Beisp.: § 118 a, § 124 Abs. 2 Satz 3), gilt wegen der Art und Weise des Gehörs

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§ 33

Vierter Abschnitt. Gerichtliche Entscheidungen (Dünnebier)

Anm. III 5 das II 2 Ausgeführte entsprechend. Im schriftlichen Verfahren sind dem Beteiligten die Tatsachen oder Beweisergebnisse mitzuteilen. Sie werden in einem Schreiben aufgeführt oder es werden Abschriften übersandt. Der Beteiligte kann auch von einem Richter oder Beamten (etwa in der Strafanstalt) zu Protokoll gehört werden. Dem Verteidiger können die Akten übersandt werden. Es ist nicht erforderlich, daß das Gehör von einem Richter veranlaßt wird. Auch der Staatsanwalt kann es vornehmen, bevor er dem Gericht seine Stellungnahme abgibt. Nur muß dem Beteiligten erkennbar sein, daß er vor einer richterlichen Entscheidung gehört wird. Werden ihm Tatsachen und Beweisergebnisse mitgeteilt, ist ihm gleichzeitig Gelegenheit zu geben, zu ihnen Stellung zu nehmen. Zweckmäßigerweise wird dabei eine Frist genannt, nach deren Ablauf entschieden — oder wenn das Gehör von der Staatsanwaltschaft ausgeht, die Sache dem Gericht zur Entscheidung übergeben — werden wird, auch wenn keine Stellungnahme eingegangen sein sollte. Der Beteiligte wird sich in der Regel (wenn überhaupt) schriftlich äußern. Er hat keinen Anspruch, seine Erklärungen vor dem Urkundsbeamten der Geschäftsstelle abzugeben, doch sollte sie dieser von ungewandten Beteiligten entgegennehmen. Wegen des rechtlichen Gehörs im Verfahren mit Strafbefehlen und Strafverfugungen s. § 407. 5. Beispiele. Der bisherigen Rechtsprechung sind zu Bestimmungen, die nicht zur Sicherung des rechtlichen Gehörs geändert worden sind, folgende Beispiele entnommen: Vor der Entscheidung nach § 42f Abs. 2 und 3 StGB in Vbdg. mit § 463a Abs. 3, § 462 Abs. 1 und 2 StPO ist der Verurteilte zu Beweisergebnissen, namentlich zu einer Äußerung der Anstalt zu hören. Die darin enthaltenen Werturteile werden sich dabei von den Tatsachenmitteilungen in der Regel nicht trennen lassen (BVerfGE 17 143 = N J W 1964 293; O L G H a m m JMB1NRW 1962 199)®. Dasselbe gilt bei Entscheidungen nach § 25 Abs. 2 StGB in Vbdg. mit § 453 Abs. 1 StPO (BVerfGE 7 340) und nach § 26 Abs. 1 und 2 StGB in Vbdg. mit § 454 Abs. 1 StPO (OLG H a m m M D R 1960 424). Das Gehör ist nicht nur erforderlich, wenn das Gericht die Äußerung als entscheidungserheblich ansieht (OLG Hamburg N J W 1964 2315); das Recht aus Art. 103 Abs. 1 G G gewährleistet vielmehr die Möglichkeit, sich zu den Tatsachen in der Form zu äußern, wie sie dem Gericht zur Beurteilung vorliegen. Daher ist es geboten, dem Verurteilten die Stellungnahme der Vollzugsanstalt bekanntzugeben (BVerfGE 19 201). — Will das Gericht nach Voruntersuchung entgegen dem Antrag der Staatsanwaltschaft das Hauptverfahren eröffnen, so muß es den Angeschuldigten vor Erlaß des Eröffnungsbeschlusses (§ 208 Abs. 2 Satz 1) über die in der Voruntersuchung erhobenen Beweise unterrichten (BGHSt. 15 40). — Beabsichtigt das Gericht, eine Beschwerde aus formellen Gründen zu verwerfen, so hat es dem Beschwerdeführer jedenfalls dann Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben, wenn ein angenommener Verfahrensmangel vielleicht nicht vorliegt oder behoben werden kann (OLG Köln JMB1NRW 1962 282). Bevor über eine zeitweilige Entfernung des Angeklagten oder über den Ausschluß der Öffentlichkeit befunden wird, sind die Beteiligten anzuhören (BGH N J W 1968 167). — Eine Privatklage darf nicht zurückgewiesen werden (BVerfGE 8 184 = N J W 1958 1723), ein Privatklageverfahren darf nicht eingestellt (§ 383 Abs. 2) werden (BVerfGE 8 208), bevor dem Privatkläger erhobene Beweise bekanntgegeben worden sind. Ebenso darf ein Strafverfahren nicht nach § 153 Abs. 3 eingestellt werden, ehe über den Antrag des im Anklageerzwingungsverfahren erfolgreichen Anzeigeerstatters, ihn als Nebenkläger zuzulassen (§ 395 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 2), entschieden worden ist (BVerfGE 14 323). — Dagegen soll bei der Entscheidung über die Zulässigkeit eines Wiederaufnahmeantrags zuungunsten des Verurteilten (§ 367) kein rechtliches Gehör erforderlich sein (BVerfGE 15 307 = N J W 1963 758, eine Entscheidung, die sowohl in der Sache als auch in der Begründung nicht unbedenklich ist). — Rechtliches Gehör ist auch im Ordnungsstrafverfahren (§ 178 GVG) erforderlich (OLG Bremen N J W 1959 61; O L G Neustadt M D R 1962 153), dagegen nicht bei Maßnahmen nach § 175 Abs. 1, § 176 G V G ( W o e s n e r 866). — Das rechtliche Gehör ist nicht gewährt, wenn der zu ihm Berechtigte eine Frist erbeten, aber keine oder keine ausreichende Frist erhalten hatte (BVerfGE 4 193 = NJW 1955 1145; BVerfGE 8 9 0 = N J W 1958 1436) oder wenn das Gericht zwar eine Frist gewährt, ihren Ablauf aber nicht abgewartet hatte (BVerfGE 12 113). 9

Ebenso H.-W. S c h m i d t MDR 1961 195; NJW 1965 1318; a. A. S c h ü t z NJW 1961 583. 343

§ 33 Anm. III 6; IV 1

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

Dagegen ist keine Verletzung des Art. 103 Abs. 1 angenommen worden bei Verwerfung der Berufung nach § 329 Abs. 1: der Angeklagte kann sich mit dem Rechtsmittel der Revision oder mit dem Rechtsbehelf der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (§ 329 Abs. 2) rechtliches Gehör verschaffen (BayObLGSt. 1966 58 = MDR 1966 941; OLG Hamm NJW 1965 410; OLG Frankfurt NJW 1968 218). Die Gehörsvorschrift ist nicht verletzt, wenn der Beteiligte sich ihm das nicht ausdrücklich eingeräumte rechtliche Gehör selbst verschafft hatte (BVerfGE 7 329). Eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör kann nicht geltend machen, wer die prozessualen Möglichkeiten, sich Gehör zu verschaffen, nicht wahrnimmt (BVerfGE 5 10 = NJW 1956 985; BVerfGE 15 267), oder gar eine Anhörung vereitelt (OLG Köln NJW 1963 875). Endlich ist das Gehör des Beschwerdegegners nicht erforderlich, wenn ohne weiteres zu seinen Gunsten entschieden werden soll (KG NJW 1954 1411). 6. Weitere Vorschriften ( § 3 3 Abs. 4 Satz 2). Über das Gehör dei Beteiligten finden sich in vielen Bestimmungen weitere Vorschriften: § 81 Abs. 1 Satz 1 (Gehör des Verteidigers vor der Beobachtung in einer Heil- oder Pflegeanstalt); § 101a Abs. 3 (Gehör des Beschuldigten, des Eigentümers und anderer, denen Rechte an der Sache zustehen, vor der Notveräußerung); § 118 a Abs. 3 Satz 1 (Gehör der anwesenden Beteiligten im mündlichen Haftprüfungsverfahren); § 122 Abs. 2 Satz 1 (Gehör des Beschuldigten und des Verteidigers im Prüfungsverfahren des Oberlandesgerichts); § 124 Abs. 2 (Gehör des Beschuldigten und des Bürgen vor der Entscheidung, daß eine Sicherheit verfallen ist); § 153 Abs. 3 (Gehör des Angeschuldigten vor der Einstellung von Bagatellsachen); § 175 Satz 1 (Gehör des Beschuldigten vor Anordnung der Klage im Klageerzwingungsverfahren); § 192 (Vernehmung in der Voruntersuchung); § 201 Abs. 1 (Gehör des Beschuldigten vor der Eröffnung des Hauptverfahrens); § 208 Abs. 1 (Gehör des Beschuldigten, wenn das Gericht gegen den Antrag der Staatsanwaltschaft das Hauptverfahren eröffnen will); § 216 Abs. 2 (Befragung des nicht auf freiem Fuß befindlichen Angeklagten bei der Ladung zur Hauptverhandlung, welche Anträge er zu seiner Verteidigung zu stellen habe); § 308 Abs. 1 Satz 1 (Gehör des Gegners des Beschwerdeführers, bevor die angefochtene Entscheidung zu seinem Nachteil geändert wird); §413 Abs. 1 Satz 1 (Anhörung des Beschuldigten im Strafverfügungsverfahren); § 453 Abs. 1 Satz 2 (Gehör des Angeklagten vor Nachtragsentscheidungen über die Strafaussetzung); § 462 Abs. 2 (Gehör des Verurteilten vor Entscheidungen, die bei der Strafvollstreckung und der nachträglichen Gesamtstrafenbildung notwendig werden); § 472 Abs. 2 (Gehör des Antragstellers, ehe im Klageerzwingungsverfahren eine Kostenentscheidung zu seinem Nachteil ergeht). Alle diese Bestimmungen erweitern § 33 Abs. 3; sie werden durch ihn nicht berührt. Das Gehör hat — in den Fällen der §§ 308 und 472 unter der dort angegebenen Voraussetzung — stets stattzufinden, gleichviel ob Tatsachen und Beweisergebnisse in Rede stehen oder Rechtsfragen, und gleichviel ob, wenn Tatsachen und Beweisergebnisse verwertet werden sollen, diese Verwertung zum Nachteil des Beschuldigten in Aussicht genommen ist oder zu seinem Vorteil. IV. Mit dem Prozeßzweck nicht zu vereinbarendes Gehör. 1. Wegfall des Gehörs (§ 33 Abs. 4 Satz 1). Das in Absatz 3 vorgeschriebene Gehör entfallt, wenn die vorherige Anhörung den Zweck der Anordnung gefährden würde. Der Zweck der Anordnung wäre gefährdet, wenn der von ihr Betroffene sie, wüßte er vorher von ihr, vereiteln könnte. Das kommt in Betracht bei Anordnung der Untersuchungshaft (§ 114) durch Flucht, bei der Beschlagnahme (§ 98 Abs. 1), der Anordnung der Hausdurchsuchung (§ 105 Abs. 1) oder der Postbeschlagnahme (§ 100 Abs. 1) durch Vernichten oder Verstecken, bei der Anordnung, den Fernmeldeverkehr zu überwachen und aufzunehmen (§§ 100 a, 100 b) durch Unterlassen dieses Verkehrs. Stets kann vom Gehör nur abgesehen werden, wenn der Zweck der Anordnung durch das Gehör tatsächlich gefährdet würde. Ist das nicht zu erwarten, muß der Beteiligte gehört werden, bevor zu seinem Nachteil Tatsachen oder Beweisergebnisse verwertet werden, zu denen er noch nicht gehört worden ist (OLG Hamm JMB1NRW 1960 118; BayVerfGH JR 1963 477). Die Vorschrift ersetzt bei gewissen Gruppen von Maßnahmen das vorherige Gehör durch das nachträgliche. 344

Vierter Abschnitt. Gerichtliche Entscheidungen (Dünnebier) § 3 3 Anm. IV 2 § 3 3 3 Anm. 1 Das erscheint dem Gesetzgeber gerechtfertigt, weil es sich in keinem Fall um endgültige Entscheidungen handelt; weil die Anordnungen in der Regel rasch ergehen müssen; und weil ihnen nach ihrem Inhalt leicht entgegengetreten werden kann. Nach diesem Sinn der Vorschrift ist keine zu weitgehende Abwägung im Einzelfall zu verlangen, ob die Persönlichkeit des Betroffenen und die Umstände des Einzelfalls eine Gefährdung nahe legen; sie wird vielmehr nach der Lebenserfahrung in der Regel anzunehmen sein, wenn nicht die Umstände des Einzelfalls die allgemeine Vermutung widerlegen. Ist eine Entscheidung nach § 33 Abs. 4 Satz 1 ohne vorherige Anhörung des Beteiligten ergangen, so ist diesem nachträglich nach § 33a Gehör zu gewähren, sobald die Gefährdung der Anordnung entfallen ist; spätestens ist das nach Vollzug der Anordnung der Fall, ggf. aber schon früher. Beisp.: Eine Durchsuchungsanordnung (§ 103 Abs. 1) mußte ohne Anhörung des Betroffenen erlassen werden. Hier kann es die Achtung vor der Unverletzlichkeit der Wohnung eines Unbeteiligten gebieten, ihm vor der Durchsuchung Gelegenheit zur Äußerung zu bieten, wenn sichergestellt werden kann, daß er den Zustand der Wohnung nicht verändern kann. Über das Recht auf nachträgliches Gehör ist der Beteiligte zu belehren (BVerfGE 9 107= NJW 1959 430). 2. Beschwerde. Daß der Beteiligte nicht gehört worden ist, kann er mit der Beschwerde gegen die ohne sein Gehör ergangene Entscheidung, sofern sie nicht von einem — auch einem im ersten Rechtszug zuständigen — Strafsenat erlassen ist (§ 304 Abs. 4), beanstanden, gleichviel ob das Gehör versehentlich oder nach Absatz 4 Satz 1 absichtlich unterblieben ist. Dabei kann er alles vorbringen, was er geäußert hätte, wenn er gehört worden wäre. Sind ihm Tatsachen oder Beweismittel, die zu seinem Nachteil verwertet worden sind, noch unbekannt, und kennt das Gericht, dessen Entscheidung angefochten wird, diesen Umstand, dann hat es ihm die Tatsachen bekanntzugeben. Denn das Gericht hat einer begründeten Beschwerde abzuhelfen (§ 306 Abs. 2; § 311 Abs. 3), dazu gehört, daß einem Mangel abgeholfen wird, auch wenn das schließlich nicht zu einer Änderung der angefochtenen Entscheidung führt. Unterläßt das Gericht, dessen Entscheidung angefochten wird, das nachträgliche Gehör, dann hat es das Beschwerdegericht zu gewähren, für das Absatz 3 ebenfalls gilt. Das Beschwerdegericht hat dann in der Regel in der Sache selbst zu entscheiden. Lag kein Fall des Absatzes 4 Satz 1 vor, und sind auf die Äußerung der Beteiligten umfängliche Ermittlungen zu veranlassen, zu denen er dann wieder zu hören ist, dann kann das Beschwerdegericht ausnahmsweise auch die angefochtene Entscheidung aufheben und dem ersten Richter das Weitere überlassen, wenn die angegriffene Entscheidung ohne Beeinträchtigung des Verfahrens zunächst wegfallen kann.

§ 33 a Hat das Gericht in einem Beschluß zum Nachteil eines Beteiligten Tatsachen oder Beweisergebnisse verwertet, zu denen er noch nicht gehört worden ist, und steht ihm gegen den Beschluß keine Beschwerde und kein anderer Rechtsbehelf zu, so hat es, sofern der Nachteil noch besteht, von Amts wegen oder auf Antrag die Anhörung nachzuholen und auf einen Antrag zu entscheiden. Das Gericht kann seine Entscheidung auch ohne Antrag ändern. Entstehungsgeschichte: Eingefügt durch Art. 8 Nr. 2 StPÄG. 1. Inhalt; Verhältnis zu § 311a. Vor Erlaß des Strafprozeßänderungsgesetzes bestand Streit, ob die Verletzung rechtlichen Gehörs im Beschwerdeverfahren (§ 308 Abs. 1) entgegen dem Wortlaute des § 310 Abs. 2 die weitere Beschwerde eröffne (Vorauflage 6 zu § 308; 2 zu § 310). Diese Streitfrage ist durch § 311 a in der Art geregelt, daß dem Beschwerdegegner nachträglich rechtliches Gehör zu gewähren (und ggf. die Entscheidung zu ändern) ist, wenn das Beschwerdegericht ihm die Beschwerde nicht zur Gegenerklärung mitgeteilt (§ 308 Abs. 1), gleichwohl aber der Beschwerde stattgegeben hatte. § 311 a gilt also, anders als § 33a, der die Verwertung von Tatsachen und Beweisergebnissen behandelt, auch dann, wenn mit der Beschwerde nur Rechtsirrtümer gerügt worden waren. Auf der anderen Seite 345

§ 33 a Anm. 2—4

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bringt er keine Abhilfe, wenn das Gericht, nachdem es zufolge der Beschwerde Ermittlungen angestellt hatte (§ 308 Abs. 2), den Beschuldigten zu den dabei gewonnenen Tatsachen oder Beweisergebnissen vor der Entscheidung nicht gehört hat; insoweit greift § 33 a auch für das Beschwerdeverfahren Platz. Ferner war durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts klargestellt worden, daß das rechtliche Gehör — auch im Beschwerdeverfahren — unterbleiben könne, wenn es mit dem Prozeßzweck unvereinbar sei; daß der Betroffene dann aber nachträglich gehört (und ggf. die Entscheidung geändert) werden müsse (BVerfGE 9 89 = NJW 1959 427). Dieser Fall findet seine Regelung jetzt in § 33 a, der darüber hinaus aber auch alle Fälle umfaßt, in denen dem Beschuldigten vor einer Entscheidung irrtümlich oder versehentlich die Gelegenheit versagt worden ist, zu ihm unbekannten Tatsachen oder Beweisergebnissen Stellung zu nehmen. Praktisch umfaßt § 33 a die Hauptfalle des § 311 a unmittelbar. Dieser hat selbständige Bedeutung nur für den Fall, daß der Gegner des Beschwerdeführers nicht zu Rechtsausführungen der Beschwerdeschrift Stellung nehmen konnte. 2. Beschluß. Die Vorschrift gilt, wie § 311 a, nur für Beschlüsse, nicht für Urteile. Bei diesen kann der Fall des § 33 a nicht eintreten, weil der Angeklagte in der Hauptverhandlung regelmäßig anwesend ist (§ 226, § 230 Abs. 1), im Falle seiner Abwesenheit aber Rechtsbehelfe (§ 282 c; § 235 Satz 1; § 329 Abs. 2) und in jedem Fall das Rechtsmittel der Revision hat. Bei Urteilen der Revisionsgerichte kann die Verwertung unbekannter Tatsachen oder Beweisergebnisse nicht vorkommen (§ 337). § 33 a spricht von Beschlüssen, § 304, auf den er sich bezieht, von Beschlüssen und Verfügungen, § 33, den er ergänzt, von Entscheidungen (Abs. 1 bis 3) und Anordnungen (Abs. 4). Da § 33 a gerade auch wegen der Fälle des § 33 Abs. 4 eingefügt worden ist, umfaßt der Ausdruck „Beschlüsse" auf jeden Fall auch die Anordnungen des § 33 Abs. 4, ist aber wegen seiner Beziehung zu § 33 in dem Sinne auszulegen, der dort dem Begriff „Entscheidung" zukommt (I 2 Abs. 2 zu § 33). Wegen der Beschlüsse des erkennenden Gerichts s. 5 Abs. 3. 3. Beteiligter. Wegen des Begriffs s. II 2 zu § 33. Nach dem Zweck des § 33 ist Beteiligter i. S. des § 33 Abs. 1 (Gehör in der Hauptverhandlung) auch der Staatsanwalt. Das folgt aus § 33 Abs. 2, wonach der Staatsanwalt auch außerhalb der Hauptverhandlung — im Gegensatz zu den anderen Beteiligten — stets zu hören ist. Ist das außerhalb der Hauptverhandlung notwendig, so ist es in ihr erst recht geboten. Da aber in § 33 Abs. 1 der Staatsanwalt nicht besonders aufgeführt ist, muß er in dem Begriff „Beteiligter" enthalten sein. Für § 33 a dagegen muß man den Staatsanwalt von dem Begriff des Beteiligten ausnehmen. Zwar könnte man vielleicht davon sprechen, daß Beweisergebnisse auch „zu seinem Nachteil" verwertet werden, obwohl ein solcher Sprachgebrauch in bezug auf den Staatsanwalt ungewöhnlich und kaum zutreffend wäre. Mit Sicherheit wird er aber durch die Motivation der Vorschrift ausgeschlossen: Mit ihr sollte dem Grundrecht des Art. 103 Abs. 1 G G Genüge getan werden. Das aber steht nur dem Staatsbürger gegenüber dem Staat, nicht der Staatsanwaltschaft gegenüber dem Gericht zur Verfügung. Zudem schließt der Gerichtsgebrauch zu § 309 Abs. 1 (III 3 Abs. 2 zu § 33) es aus, daß die Staatsanwaltschaft mit Entscheidungen überrascht wird, deren Beweisgrundlage sie nicht kennt. 4. Verwertung von Tatsachen. Das Verfahren des § 33 a findet statt, wenn zum Nachteil eines Beteiligten Tatsachen oder Beweisergebnisse verwertet werden, zu denen er noch nicht gehört worden ist. Daraus ergeben sich zwei Einschränkungen: Der Beteiligte braucht nicht gehört zu werden, wenn zwar nachteilige Tatsachen oder Beweisergebnisse bekannt geworden sind, das Gericht sie aber nicht „verwertet", d. h., etwa aus Rechtsgründen, aus ihnen keine nachteiligen Folgen hergeleitet, sondern die Entscheidung allein auf Tatsachen und Beweisergebnisse gestützt hat, zu denen der Beteiligte gehört worden ist. Ferner kann das Unterlassen rechtlicher Erörterungen (II 3 Abs. 2 zu § 33) nicht zu Anträgen nach § 33 a Anlaß geben. 346

Vierter Abschnitt. Gerichtliche Entscheidungen (Dünnebier)

§ 33 a Anm. 5 , 6

Aus welchem Grunde § 33 verletzt worden ist, spielt keine Rolle. Immer ist, von Amts wegen, nachträglich Gehör zu gewähren, wenn es nach § 33 Abs. 4 unterblieben war. Darüber hinaus gilt § 33a aber auch dann, wenn das Gericht aus Irrtum — es hielt die Beweisergebnisse nicht für entscheidungserheblich; es glaubte, der Beteiligte sei schon gehört worden — oder aus bloßem Versehen das Gehör unterlassen hat. Der Fall willkürlicher, absichtlicher Gehörsverweigerung fallt, was selbstverständlich ist, auch unter die Vorschrift, dürfte aber in der Praxis keine Rolle spielen. 5. Abhilfe durch Rechtsmittel. § 3 3 a ist eine ergänzende, subsidiäre Vorschrift. Sie greift daher nur ein, wenn der Beteiligte das (nachträgliche) rechtliche Gehör nicht durch Rechtsbehelfe oder Rechtsmittel erzwingen kann. Das ist immer der Fall bei erstinstanzlichen Entscheidungen der Strafsenate mit Ausnahme besonders eingreifender Beschlüsse und Verfügungen der Oberlandesgerichte im ersten Rechtzug (§ 304 Abs. 4) und bei allen Beschwerdeentscheidungen, sofern nicht die in § 310 Abs. 1 genannten Ausnahmen (Haftsachen) vorliegen (§310 Abs. 2). Darüber hinaus gibt es Beschlüsse, die der Anfechtung schlechthin entzogen oder nur aus bestimmten Gründen zugänglich sind (§ 181 Abs. 1, § 182 Abs. 2, § 201 Abs. 2 Satz 3, § 210 Abs. 1, § 270 Abs. 3 Satz 2, § 304 Abs. 3, § 305 a Abs. 1 Satz 2, § 348 Abs. 2, § 453 Abs. 3 Satz 2; sowie nur für den Nebenkläger bedeutsam: § 46 Abs. 2, § 153 Abs. 3,2. Halbsatz, § 202 Abs. 3) oder die nur „zusammen mit dem Urteil angefochten werden" können. So ist der Ausschluß der Beschwerde in § 28 Abs. 2 Satz 2 ausdrücklich begründet, doch ist das der Grund allgemein für die Versagung der Beschwerde gegen Entscheidungen der erkennenden Gerichte (§ 305 Satz 1, § 336) mit den bedeutsamen Ausnahmen des § 305 Satz 2, nach dem Beschwerde statthaft ist gegen Entscheidungen der erkennenden Gerichte über Verhaftungen, einstweilige Unterbringungen, Beschlagnahmen, die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis, Straffestsetzungen sowie gegen alle Entscheidungen, durch die dritte Personen betroffen werden. Für die Fälle des § 305 Satz 2 gelten keine Besonderheiten: Der Beteiligte hat Abhilfe mit der Beschwerde zu suchen; wird im Beschwerdeverfahren § 33 verletzt, gilt § 33 a. Weiter gewährt § 311 a Abhilfe bei Verletzungen des § 308, die nicht in der Vorenthaltung neuer Tatsachen und Beweisergebnisse bestehen. Daß die übrigen oben aufgeführten Fälle der nicht oder nur beschränkt anfechtbaren Entscheidungen von § 33 a erfaßt sind, ist nach dessen Wortlaut zweifelsfrei (OLG Hamburg NJW 1965 2417; K o h l h a a s NJW 1968 26). Zweifel konnten nur bestehen in bezug auf die Entscheidungen der erkennenden Gerichte (§ 305 Satz 1) und die einen erkennenden Richter betreffende Ablehnungsentscheidung (§ 28 Abs. 2 Satz 2). Indessen wird man anerkennen müssen, daß sie zu den in § 33 a genannten Beschlüssen gehören ( M ü l l e r - S a x 2 c Abs. 2 zu § 33 a). Dafür spricht einmal der Wortlaut; denn die Urteilsanfechtung ist weder eine Beschwerde noch ein Rechtsbehelf. Zum anderen spricht gegen eine Ausnahme die Erwägung, daß in § 33 a das gleiche Gericht entscheidet, das den Fehler gemacht hat, so daß der Grund für den Ausschluß der Beschwerde gegen Entscheidungen der erkennenden Gerichte, das Verfahren nicht durch Zwischenentscheidungen höherer, oft entfernter, Gerichte zu stören, für das Verfahren nach § 33 a nicht zutrifft. Die verbleibende Störung durch neue Beratung (und ggf. Entscheidung) während der Hauptverhandlung tritt zurück hinter den Gesichtspunkten des fairen Verfahrens (Einl. Kap. 5, 2 Abs. 6), der freien Verteidigung und der umfassenden Sachaufklärung, denen der Grundsatz des rechtlichen Gehörs dient. Mit Recht wird auch darauf hingewiesen (Kl 4), daß selbst bei anfechtbaren Beschlüssen die Beteiligten vom Gericht immer die Prüfung einer fehlerhaft herbeigeführten Entscheidung verlangen können. 6. Nachteil. Das Verfahren nach § 33 a findet nur statt, sofern der Nachteil noch besteht. Der Nachteil ist nicht der Verlust des rechtlichen Gehörs, sondern die Folge dieses Verlusts, die nachteilige Entscheidung (§33 Abs. 3), für die Tatsachen und Beweisergebnisse kausal gewesen sind, zu denen der Beteiligte nicht gehört worden ist. Darauf, ob die Entscheidung richtig oder falsch ist, und ob sie bei Gehör des Beschuldigten anders ergangen wäre, kommt es nicht an, vielmehr ist allein ausschlaggebend, ob in die Rechtsposition des Betroffenen eingegriffen, mit anderen Worten, ob er beschwert ist (Kl 5). Ist die Beschwer, etwa durch Aufhebung eines Haftbefehls oder eines Beschlagnahmebeschlusses entfallen, so ist 347

§ 33 a Anm. 7 , 8

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das Verfahren unzulässig, auch wenn der Nachteil zunächst bestanden hatte (arg.: „ n o c h besteht"). Ziel ist nicht, wie bei der Verfassungsbeschwerde, die Feststellung der Verfassungswidrigkeit eines — selbst gegenstandslos gewordenen — Beschlusses (BVerfGE 9 93), sondern die Beseitigung des prozessualen Nachteils. Daraus muß aber auch gefolgert werden, daß das Verfahren nicht mehr zulässig ist, wenn der Nachteil nicht mehr beseitigt werden kann („Überholung"; s. § 304), z. B. eine Beschlagnahme durchgeführt, Untersuchungshaft in Strafhaft übergegangen ist, die Hauptverhandlung ohne Mitteilung der Anklageschrift eröffnet und durchgeführt worden ist. Dann kann der Beteiligte das prozessuale Unrecht nur mit den zulässigen Rechtsmitteln, namentlich der Revision (§ 338 Nr. 8) rügen oder die Grundrechtswidrigkeit im Wege der Verfassungsbeschwerde feststellen lassen. Ein abstraktes Feststellungsverfahren nach dem Muster des § 28 Abs. 1 Satz 4 EGGVG stellt das Gesetz nicht zur Verfügung. Die Gegenvorstellung kann auch — mit der im übernächsten Satz zu behandelnden Ausnahme — nicht Wiedereinsetzung in den vorigen Stand verschaffen mit der Folge (I 5 zu § 46), daß der Fortgang des Verfahrens und die Rechtskraft eines Urteils beseitigt werden. § 33a bietet damit nur eine beschränkte Reparaturbefugnis, solange die Reparatur verfahrensmäßig noch möglich ist. Dagegen steht die Rechtskraft von Beschlüssen dem Verfahren nicht entgegen; dieses ist vielmehr gegeben, um sie, soweit noch möglich, zu beseitigen. Davon gilt auch für Beschlüsse nach § 322 Abs. 1 und § 349 Abs. 1 und 2, mit deren Erlaß das angefochtene Urteil rechtskräftig wird, keine Ausnahme 1 . Abhilfe gegen die dadurch möglichen Unzuträglichkeiten könnte und sollte der Gesetzgeber bei einer Reform dadurch schaffen, daß er einen Antrag nach §33 a an eine Frist bindet, die mit dem Tage beginnt, an dem der Beteiligte von der Verletzung des § 33 Abs. 3, etwa durch Zustellung des ihm nachteiligen Beschlusses, Kenntnis erlangt. 7. Verfahren. In den Fällen des § 33 Abs. 4 und wenn das Gericht bemerkt, daß es das rechtliche Gehör versehentlich unterlassen hatte, holt es die Anhörung von Amts wegen nach und entscheidet aufgrund der Einlassung neu. Dabei kann es die alte Entscheidung auch ohne Antrag des Beteiligten von Amts wegen ändern oder aufheben. Die (neue) Entscheidung kann aber auch dahin gehen, daß das Gericht trotz der Erklärung des Beteiligten — oder auch, weil er eine solche unterlassen habe — keinen Anlaß finde, die (alte) Entscheidung zu ändern. Im übrigen ist das Gericht auf einen Antrag des Beteiligten angewiesen, der solange zulässig ist, als es noch mit der Sache befaßt ist und den Nachteil beseitigen kann. Der Antrag muß die Voraussetzungen des § 33a darlegen; sonst kann er als unzulässig verworfen werden. So lautet die Entscheidung auch dann, wenn kein Nachteil mehr besteht oder trotz bestehenden Nachteils keine Abhilfe mehr geschaffen werden kann. Der Antrag auf nachträgliches Gehör wird in der Regel mit einem Antrag verbunden sein, die Entscheidung zu ändern, doch kann das Gericht das auch ohne Antrag tun. Die Entscheidung ist zu begründen (§ 34) und bekanntzumachen (§ 35). Rechtsmittelbelehrung ist nicht vorgeschrieben, da die beschränkt zulässige Beschwerde (8) kein befristetes Rechtsmittel ist ( § 3 5 a). 8. Beschwerde. Die neue Entscheidung, die nach nachgeholter Anhörung und neuer Prüfung des Beweismaterials ergeht („Uberprüfungsentscheidung"), ist nicht mit der Beschwerde anfechtbar, gleichviel ob sie die alte Entscheidung aufhebt, ändert oder dadurch bestätigt, daß sie zum Ausdruck bringt, es bestehe kein Anlaß, die alte Entscheidung zu ändern. Das ergibt sich daraus, daß § 33 a nur von Beschlüssen handelt, die nicht mit Beschwerde oder einem anderen Rechtsbehelf anfechtbar sind. Dann können es die auf Gegenvorstellung ergehenden Entscheidungen auch nicht sein (KG NJW 1966 992). Dagegen kann der Mangel bei der Anfechtung des Urteils mit den zulässigen Rechtsmitteln, namentlich mit der Revision (§ 338 Nr. 8) gerügt werden. Die Beschwerde ist aber statthaft, wenn das Gericht die Nachholung ablehnt, sei es, weil es den Antrag für unzulässig (Gehör gewährt; keine Abhilfe mehr möglich), sei es, 1

Vgl. Prot, des RAussch. IV 41 17 und Anl. 4. — Der Bundesgerichtshof hält im Verfahren nach § 349 Abs. 2 eine Verletzung des Gehörs für ausgeschlossen, wenn nur die Sachrüge erhoben worden ist, hat aber unentschieden gelassen, ob § 33 a einschlägt, soweit bezüglich des Vortrags zu Verfahrensrügen der Grundsatz des rechtlichen Gehörs verletzt wäre (BGHSt. 23 103).

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Vierter Abschnitt. Gerichtliche Entscheidungen (Dünnebier)

§ 34 Anm. 1,2

weil es ihn für unbegründet hält (Beweisergebnis war in der Entscheidung nicht verwertet). Denn hier handelt es sich nicht um die sachliche Auswertung des Beweisergebnisses, sondern um die prozeßrechtliche Frage, ob eine solche Auswertung stattfinden muß oder unterlassen werden darf 2 . Ein Mangel ist es, daß die Beschwerde an keine Frist gebunden ist. Solange der Gesetzgeber die Beschwerde aber nicht als eine sofortige ausdrücklich bezeichnet — was er bei einer Reform freilich tun sollte —, bleibt sie eine einfache 3 .

§34 Die durch ein Rechtsmittel anfechtbaren Entscheidungen sowie die, durch welche ein Antrag abgelehnt wird, sind mit Gründen zu versehen. 1. Anfechtbare Entscheidungen. § 34 verlangt in seiner ersten Alternative die Angabe von Gründen für Entscheidungen, die durch ein Rechtsmittel anfechtbar sind, also mit der Beschwerde (§ 304), der Berufung (§ 312) und der Revision (§ 333). Nach dem Zweck der Vorschrift ist sie jedoch teils weiter, teils enger aufzufassen, als ihr Wortlaut angibt. Die Begründung von Entscheidungen dient dazu, die Ansicht des Gerichts zu beurkunden, damit die Prozeßbeteiligten ihr Verhalten darauf abstellen und das Rechtsmittelgericht die Entscheidung prüfen kann (RGSt. 75 13). Bei anfechtbaren Urteilen ist das besonders vorgeschrieben (§ 267; § 338 Nr. 7), doch erheischt unabhängig von diesen Zwecken die Bedeutung von Urteilen auch im Hinblick auf das Wiederaufnahme- und Gnadenverfahren stets eine Begründung. Demzufolge sind auch Urteile der Revisionsgerichte zu begründen. Stets zu begründen sind Entscheidungen, die außerhalb der Hauptverhandlung ergehen, und den Angeklagten nicht — wie die Verteidigerbestellung — lediglich b e g ü n s t i g e n N i c h t zu begründen sind die unanfechtbaren Entscheidungen (5 zu § 33 a), soweit nicht, was oft der Fall sein wird, die zweite Alternative einschlägt. Von der Begründungsfreiheit der unanfechtbaren Beschlüsse ausgenommen und mit Gründen zu versehen sind die Beschlüsse des erkennenden Gerichts, die zwar nicht der Beschwerde, aber der Beurteilung des Gerichts der höheren Instanz unterliegen (§ 305 Satz 1, § 336). Das gilt allgemein, wenn es auch nur vereinzelt noch besonders angeordnet wird (§ 64), zuweilen nur durch das Verlangen nach einem Beschluß (§ 244 Abs. 6). Andererseits versteht § 34 unter den anfechtbaren Entscheidungen nur Sachentscheidungen, nicht aber Verfügungen, die lediglich den Gang des Verfahrens bestimmen, obwohl auch diese nach § 304 Abs. 1 mit der Beschwerde angefochten werden können. Denn es läuft dem Zweck der Begründung zuwider, bei jeder Verfügung dieser Art, zum Beispiel bei derjenigen, mit der die Ladung eines Zeugen angeordnet wird, die Angabe von Gründen zu erfordern ( G r a f z u D o h n a 84). 2. Ablehnende Entscheidungen. Die Vorschrift bezieht sich in ihrer zweiten Alternative nach ihrem Wortlaut nur auf Entscheidungen, die einen Antrag voraussetzen, nicht auf solche, die von Amts wegen zu treffen sind (BGHSt. 15 253). Sie bereitet keine Schwierigkeiten für schriftliche Entscheidungen, bei denen ausführliche Begründungen ohnehin der Gerichtspraxis entsprechen. Sie erfordert vor allem sorgfaltige Beachtung bei den mündlichen Entscheidungen in der Hauptverhandlung. Insbesondere müssen Beschlüsse, die einen Beweisantrag, eine beantragte Vereidigung oder die Aussetzung einer Hauptverhandlung (OLG Celle NJW 1961 1319) ablehnen, begründet werden. Ob Ablehnung auch vorliegt, wenn das Gericht dem Antrag eines Beteiligten gegen den Widerspruch eines anderen Beteiligten entspricht, ist streitig (bejahend RGRspr. 4 324; verneinend RGRspr. 3 295; R G GA 59 454; BGHSt. 15 253). Der verneinenden Ansicht ist zuzustimmen, wenn der Widerspruch nur eine unmotivierte Gegenvorstellung gegen eine von Amts wegen zu treffende Entscheidung ist, die nach § 238 Abs. 1 die Zuständigkeit vom Vorsitzenden aufs Gericht über2

3 1

Vgl. den ähnlichen Fall § 46 Abs. 3; K G NJW 1966 992; M ü l l e r - S a x 5; a. A. - die besondere Eigenart des Verfahrens schließt einen weiteren Rechtszug von vornherein aus — OLG Celle NJW 1968 1391; zust. K l 7. Vgl. BayObLGSt. 1955 1 5 4 = NJW 1956 32. Beispiel: Einweisung in eine Heil- oder Pflegeanstalt nach § 81 (OLG Oldenburg NJW 1961 981).

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§ 34 Anm. 3—5

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

trägt (RG GA 40 158). Wird der Widerspruch jedoch mit der Berufung auf eine Gegennorm begründet, so ist er wie ein Antrag zu behandeln. Denn es kann nicht von dem Geschick des Widersprechenden abhängen, ob er seinen Widerspruch in die Form eines Antrags zu kleiden versteht 2 . 3. Inhalt. § 34 gilt nicht nur für die schriftliche Abfassung der Entscheidungen, sondern auch für deren Bekanntmachung, die sich, soweit das Gesetz nichts anderes vorschreibt, auch auf die Gründe erstrecken muß. Die Gründe müssen den Prozeßbeteiligten in die Lage versetzen, sein weiteres Verhalten auf die Meinung und die Absicht des Gerichts einzustellen, und das Rechtsmittelgericht, nachzuprüfen, ob das Gericht von zutreffenden Erwägungen ausgegangen ist (RGRspr. 4 324; RGSt. 67 98, 75 13; OLG Hamm NJW 1951 166). Namentlich muß die Entscheidung eindeutig erkennen lassen, ob und inwieweit sie auf rechtlichen oder auf tatsächlichen Gründen beruht. Dazu reicht es grundsätzlich nicht aus, daß nur der Gesetzeswortlaut wiedergegeben wird (BayObLGSt. 1952 258 = NJW 1953 233; OLG Schleswig SchlHA 1955 228). Die Begründung, daß ein Antrag unerheblich sei, ist ungenügend (RG JW 1932 2040), der Hinweis auf das künftige Urteil unzulässig (RG JW 1929 259). Innere Vorgänge, wie die Absicht der Verschleppung (§ 244 Abs. 3 Satz 2), sind besonders sorgfältig zu begründen (RGSt. 74 154). Die Begründung muß die wahren Gründe angeben; es ist unzulässig, im Beschluß nicht dargelegte Gründe im Urteil nachzuschieben (BGH NJW 1951 368). Hängt die Entscheidung lediglich vom Ermessen ab, so mag aus der Ablehnung des Antrags die Begründung entnommen werden, daß das Gericht es nicht für angemessen erachtet habe, dem Antrag stattzugeben (RGSt. 57 44, 77 332). Eine solche Begründung genügt aber nicht, wenn sie nicht erkennen läßt, ob der Fall einer Ermessensentscheidung vorliegt (OLG Celle NJW 1961 1319); welchen Fall, für den das Gesetz eine Ermessensentscheidung zuläßt, das Gericht angenommen hat (BGHSt. 1 177); ob das Gericht überhaupt erkannt hat, daß es ein Ermessen auszuüben habe; und ob es ein ihm eingeräumtes Ermessen nicht mißbraucht hat. Sorgfaltige Begründung macht dem Gericht den Gang seiner Überlegungen klar und ist daher am sichersten geeignet, gefühlsmäßige Entscheidungen zu vermeiden. Sondervorschriften über den Inhalt der Begründung enthält die Strafprozeßordnung bei gewissen Ablehnungsentscheidungen (§ 26 a Abs. 2 Satz 2), für das Urteil (§ 267), den Haftbefehl (§ 114 Abs. 2 und 3), für die Beschlüsse, mit denen das Hauptverfahren eröffnet (§ 207 Abs. 1 und 2) oder die Eröffnung abgelehnt wird (§ 204 Abs. 1) und für die Verweisungsbeschlüsse (§ 270 Abs. 2). 4. Beurkundung. Werden die Gründe der Entscheidung eines Kollegialgerichts nicht in der Sitzung niedergeschrieben, sondern erst später durch einen mitwirkenden Richter abgefaßt, so hat zwar der Vorsitzende die Niederschrift auf ihren Inhalt und ihre Form zu prüfen, doch darf er sie nicht einseitig inhaltlich ändern. Er hat beim Abfassen der Entscheidungsgründe nur dasselbe Stimmrecht wie beim Beschluß über den mit der Entscheidung zu fällenden Spruch; er darf weder einen von der Kammer oder dem Senat gebilligten, ihm selbst aber nicht genehmen Entscheidungsgrund beseitigen noch einen Grund, den die Mehrheit nicht gutgeheißen hat, nach seinem Gutdünken hinzufügen (RGSt. 24 118, 28 56, 44 121; S a c h s e GA 70 161). 5. Das Fehlen von Entscheidungsgründen ist bei Urteüen absoluter Revisionsgrund (§ 338 Nr. 7). Ebenso werden schriftliche, außerhalb einer Hauptverhandlung ergehende Beschlüsse in der Regel 3 aufzuheben sein, wenn ihnen die Begründung fehlt. Dann ist es auch regelmäßig unangemessen, daß das Beschwerdegericht in der Sache entscheidet (§ 309 Abs. 2). Es hat vielmehr die unbegründete Entscheidung aufzuheben und die Sache an den judex a quo zur ordnungsmäßigen Behandlung zurückzuverweisen, weil sonst dem Beschwerdeführer eine Instanz genommen würde (OLG Bremen NJW 1951 84; BayObLGSt. 2 3

Ebenso E b S c h m i d t 5a; kritisch F r a n k e l LM 2 zu § 34. Weitergehend — Mangel der Begründung zwingt stets zur Aufhebung — OLG Köln JMB1NRW 1960 44.

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Vierter Abschnitt. Gerichtliche Entscheidungen (Dünnebier)

§ 35 Anm. 1—3

1953 167 = NJW 1954 123). Immerhin sind Ausnahmen hiervon denkbar, z. B. wenn ein privatschriftliches Wiederaufnahmegesuch ohne Begründung verworfen worden ist; hier wäre eine Zurückverweisung sinnlos; es genügt, wenn der Beschwerdeführer durch die Beschwerdeentscheidung über den Formmangel aufgeklärt wird. Fehlt einem vom erkennenden Gericht erlassenen Beschluß die Begründung, so ist das zwar bei ablehnenden Beschlüssen „unter allen Umständen unzulässig und mit Revision anfechtbar" (RGSt. 69 98), doch führt der Mangel nicht zur Aufhebung des auf seiner Grundlage ergangenen Urteils, wenn ersichtlich ist, daß der Beschwerdeführer über die Gründe nicht hat im Zweifel sein können (RG GA 64 373).

§35 (1) Entscheidungen, die in Anwesenheit der davon betroffenen Person ergehen, werden ihr durch Verkündung bekanntgemacht. Auf Verlangen ist ihr eine Abschrift zu erteilen. (2) Andere Entscheidungen werden durch Zustellung bekanntgemacht. Wird durch die Bekanntmachung der Entscheidung keine Frist in Lauf gesetzt, so genügt formlose Mitteilung; dies gilt nicht für die Mitteilung von Urteilen. (3) Dem nicht auf freiem Fuß Befindlichen ist das zugestellte Schriftstück auf Verlangen vorzulesen. Entstehungsgeschichte: Satz 2 des Absatzes 2 ist eingefügt durch Art. IV Nr. 1 der VO zur Vereinfachung der Zustellungen vom 17. 6. 1953 (BGBl. I 394). 1. Entscheidungen. Zu dem Begriff s. I 2 zu § 33, doch fallen hier auch die prozeßleitenden Verfügungen unter den Begriff (RGRspr. 1 543; RGSt. 1 346). Demzufolge gehören hierher u. a. auch Beschlüsse, durch die ein Beweisantrag (RGSt. 1 36) oder ein Vertagungsantrag (RGSt. 23 137) abgelehnt wird, sowie Beschlüsse über die Entbindung des Angeklagten vom Erscheinen in der Hauptverhandlung (RGSt. 15 203) und über die Anordnung und die Fortdauer der Untersuchungshaft ( D ö r r BayZ 2 115). 2. Wer Betroffener ist, muß in jedem einzelnen Fall nach den Grundsätzen der Strafprozeßordnung und der Bedeutung der einzelnen Vorschrift beantwortet werden. Die Bemerkung des Kammergerichts (GA 59 476), der Begriff des Betroffenen sei enger als der des Prozeßbeteiligten (II 2 zu § 33), ist im Grundsatz richtig. So ist z. B. von einem Beschluß, der die Ablehnung für unbegründet erklärt (§ 28 Abs. 2), nur betroffen, wer die Ablehnung angebracht hatte (3 Abs. 2 zu § 28). In der ausgesprochenen Allgemeinheit trifft jene Ansicht aber nicht zu. Denn grundsätzlich ist von einer Entscheidung jeder Prozeßbeteiligte betroffen, den ihre Auswirkung berühren kann, gleichgültig ob er von ihr beschwert oder begünstigt ist (OLG Braunschweig JZ 1953 641), also z. B. auch der Nebenkläger (OLG Hamburg HRR 1932 1529). Da die Möglichkeit einer Auswirkung in der Regel bei jedem Prozeßbeteiligten besteht, wird dieser Begriff meistens mit dem des Beteiligten zusammentreffen. Für gewisse Fälle gibt das Gesetz besondere, in der Regel den Kreis der Beteiligten einengende, Vorschriften, so in § 114 a über die Bekanntmachung des Haftbefehls bei der Vollziehung oder unmittelbar danach, in § 201 Abs. 1 über die Zustellung der Anklageschrift, in § 316 Abs. 2, § 343 Abs. 2, § 400 über die Zustellung von Urteilen. Ferner bestimmt § 54 Abs. 2 JGG, daß die Urteilsgründe dem Angeklagten nicht mitgeteilt werden, soweit davon Nachteile für die Erziehung zu besorgen sind, und § 67 Abs. 2 JGG, daß eine Mitteilung, die an den Beschuldigten vorgeschrieben ist, an den Erziehungsberechtigten und an den gesetzlichen Vertreter gerichtet werden soll. 3. Durch Verkündung (Absatz 1) werden den Beteiligten oder sonst Betroffenen Entscheidungen bekanntgemacht, die in ihrer Anwesenheit ergehen. Wegen der Verkündung früher erlassener Entscheidungen in einem späteren Termin s. 9. Die Verkündung greift Platz nicht nur bei Entscheidungen, die in einer Hauptverhandlung ergehen, sondern auch bei denjenigen, die ein Untersuchungsrichter, ein Amtsrichter im Vorverfahren oder ein beauftragter oder ersuchter Richter bei einer Vernehmung oder einem Augenschein erläßt. Für die Verkündung des Urteils ist § 268 Abs. 2 maßgebend. Eine Bekanntgabe des Zeit-

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§35 Anm. 4 , 5

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

punkts der Urteilsverkündung ist nur geboten, wenn die Verkündung ausgesetzt wird, nicht aber dann, wenn die Beratung sich an die Verhandlung anschließt (RG JW 1933 434). Für Beschlüsse gilt § 268 nicht; sie brauchen nicht verlesen zu werden; es genügt, wenn dem Betroffenen der wesentliche Inhalt mitgeteilt wird (RGSt. 44 54). Die Verkündung ist eine richterliche Handlung. Sie obliegt regelmäßig dem Vorsitzenden als Verhandlungsleiter (§ 238 Abs. 1), ausnahmsweise einem anderen Richter des erkennenden Gerichts (3 zu § 268). Ein nichtrichterlicher Beamter (Protokollführer) darf sie nicht vornehmen. Einem Referendar darf die Verkündung nicht übertragen werden (OLG Oldenburg NJW 1952 1310). Der Richter muß die Entscheidung selbst dann verkünden, wenn der, den sie angeht, der deutschen Sprache nicht mächtig ist; die verkündete Entscheidung ist alsbald danach durch den Dolmetscher in die fremde Sprache zu übertragen. Die Verkündung ist im Protokoll zu beurkunden. Ist die Entscheidung in einer Hauptverhandlung ergangen, dann kann der Beweis, daß sie verkündet worden ist, nach § 274 nur durch die Niederschrift über die Hauptverhandlung erbracht werden. Ist die Entscheidung in einer dem Gesetz nicht genügenden, also rechtlich unwirksamen Weise verkündet oder fehlt es am Beweis der Verkündung, so kann der Mangel bei Beschlüssen durch Zustellung geheilt werden. Bei Urteilen ist er unheilbar. Die Hauptverhandlung ist nicht zu Ende geführt. Sie muß, soweit das noch möglich ist (§ 229), durch Verkündung zu Ende gebracht, sonst wiederholt werden. 4. Abschrift. Das Recht auf eine Abschrift besteht kraft Gesetzes aus dem staatlichen Interesse an der klaren Unterrichtung des Betroffenen. Dieser braucht sein Interesse an der Abschrift und den Zweck, den er etwa mit ihr verfolgt, nicht darzulegen. Er kann durchaus das private Interesse haben, einen Vertrauten (etwa auch später vor einer Heirat) über die Tat aufzuklären oder Unterlagen für eigene Aufzeichnungen zu erlangen. Ein Zusammenhang mit strafrechtlichen Zwecken darf daher nicht gefordert werden (a. A. K G JR 1960 352). Mehr als e i n e Abschrift kann der Betroffene nicht verlangen, doch werden vernünftige Wünsche auf mehrere Abschriften nicht abzulehnen sein. Abschriften sonstiger Aktenteile (OLG Rostock A l s b . E 1 107), namentlich des ganzen Hauptverhandlungsprotokolls (OLG Breslau G A 51 69; BayObLGSt. 1953 29 = JR 1953 464) können aufgrund des § 35 nicht begehrt werden. Das Recht auf eine Abschrift muß u. U. höheren Interessen gegenüber zurückstehen, insbesondere, wenn sich das Schriftstück mit Vorgängen und Nachrichten befaßt, die im Staatsinteresse geheimzuhalten sind (BayObLGSt. 1932 178 = JW 1933 527). Grundsätzlich ist wenigstens dem Verteidiger die Abschrift mit Geheimverpflichtung auszuhändigen (BGHSt. 18 369). Ist das in besonderen Fällen ausnahmsweise nicht möglich, ist namentlich bei Urteilen dem Angeklagten zu seiner Verwendung wenigstens eine gekürzte Abschrift auszuhändigen. Ist auch das nicht angängig, so ist, wie auch für weggelassene Teile, großzügig — unter Beachtung der Geheimhaltungsvorschriften (Nr. 226 Abs. 4 RiStBV) — Akteneinsicht zu gewähren, um die Rechtsbeeinträchtigung so weit wie möglich auszugleichen. 5. Zeitpunkt. Die Abschrift muß, damit der Angeklagte in seinen prozessualen Rechten nicht beeinträchtigt wird, sobald als möglich erteilt werden. Zwar kann der Angeklagte nicht verlangen, daß die Sitzung unterbrochen wird, damit ihm Abschrift etwa der Anordnung erteilt werde, das Gericht wolle von einem präsenten Beweismittel (§ 245) Gebrauch machen. Jedoch kann der Ansicht (RGSt. 44 54) nicht beigepflichtet werden, daß während der Hauptverhandlung keine Abschrift eines in ihr verkündeten Beschlusses verlangt werden könne, wenn dadurch der Fortgang der Verhandlung gehemmt würde. Einer solchen Auslegung steht der Zweck der Abschrift entgegen, dem Beteiligten eine klare, unverrückbare Unterlage für seine weiteren Prozeßhandlungen in die Hand zu geben 1 . Der Ablehnung von Beweisanträgen kann der Angeklagte ohne schriftliche Unterlage schwer entgegentreten; die Beschwerde gegen eine Ordnungsstrafe ( § 1 8 1 Abs. 1) ist in der Regel ohne Kenntnis 1

E b S c h m i d t 11; Benedix GS 39 1.

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Vierter Abschnitt. Gerichtliche Entscheidungen (Dünnebier)

§ 35 Antn. 6—8

des Protokoll- und Beschlußwortlauts nicht sachgemäß zu begründen. Demzufolge sind alle bedeutsameren Beschlüsse alsbald abzusetzen und Später dem Protokoll als Anlage beizufügen 2 . Bedenken gegen dieses Verfahren bestehen nicht (RGSt. 2 38; 25 250). Auf diese Weise wird der Anspruch der Beteiligten, alsbald eine Entscheidungsabschrift zu erhalten, wirksam gewährleistet. Die Abschrift kann nicht nur unmittelbar nach der Verkündung, sondern auch zu jedem späteren Zeitpunkt verlangt werden (KG JR 1960 352), solange die Akten noch im Gewahrsam der Justiz sind. 6. Entscheidende Stelle. Über den Antrag, eine Abschrift zu erteilen, entscheidet das Gericht, das die Entscheidung, von der die Abschrift begehrt wird, erlassen hat (BayOb. LGSt. 5 237). Wird der Antrag nach Rechtskraft gestellt, steht dem Gericht die Entscheidungbefugnis nur zu, wenn er im Zusammenhang mit dem Verfahren steht (Nr. 196 RiStBV). Ist das nicht der Fall, trifft die Entscheidung die Justizverwaltungsbehörde, welche die Akten verwahrt (BayObLGSt. 32 177 = JW 1933 527; K G JR 1960 352; Nr. 195 Abs. 1 Satz 1 RiStBV), also die Staatsanwaltschaft oder der Amtsrichter als Vollstreckungsbehörde, letzterer in Zweifelsfallen nach Gehör der Staatsanwaltschaft (Nr. 195 Abs. 1 Satz 2 RiStBV). Die Abschrift erteilt die Geschäftsstelle der Behörde, die über den Antrag bejahend entschieden hat. Sind die Akten nach Ablauf der Aufbewahrungsfrist nicht vernichtet, sondern ans Staatsarchiv abgeliefert worden, dann entscheidet dieses nach seinen Vorschriften. 7. Kosten. Für die Abschriften werden keine Kosten, wohl aber Schreibgebühren als Auslagen erhoben ( § 9 1 Abs. 1 Nr. 1 GKG). Auslagenvorschuß wird nicht erfordert (§ 114 Abs. 3 Satz 2 GKG). Die erste Ausfertigung oder Abschrift jeder Entscheidung, die einem Beschuldigten erteilt wird, ist auslagenfrei (§ 91 Abs. 2 Satz 1 GKG). Damit erledigt sich, da nach § 35 Abs. 1 nur e i n e Abschrift verlangt werden kann, auch die Frage, ob einem freigesprochenen Angeklagten eine kostenfreie Urteilsabschrift zusteht. Nr. 138 Abs. 2 RiStBV schreibt — unter Hinweis auf § 91 Abs. 2 G K G — ausdrücklich vor, daß von einem rechtskräftigen Urteil, das auf Freisprechung oder Einstellung lautet sowie von einem Beschluß über Strafaussetzung zur Bewährung (§ 268 a) dem Angeklagten ohne Antrag eine Abschrift zu übersenden ist. Das Gericht ist aber auch sonst befugt, die Zusendung von Abschriften ohne Antrag anzuordnen, wenn es erforderlich ist, den Zweck der Strafe zu erreichen. Das kann namentlich bei verurteilenden Erkenntnissen der Fall sein, wenn sie ernste Warnungen für einen Rückfall enthalten, namentlich die Ankündigung der Sicherungsverwahrung oder sonstiger freiheitsentziehender Maßregeln. 8. Zustellungen (Absatz 2) finden statt bei Entscheidungen, die in Abwesenheit der von ihnen Betroffenen ergehen, wenn durch ihre Bekanntmachung eine Frist in Lauf gesetzt wird, sowie stets bei in Abwesenheit verkündeten Urteilen. Sonst genügt formlose Mitteilung. Auch wo sie ausreicht, kann jedoch Zustellung geboten sein. Hängt bei Entscheidungen, die auf Antrag ergangen sind, das weitere Verhalten des Betroffenen davon ab, ob dem Antrag stattgegeben ist, so wird Zustellung zu wählen sein, wenn das Gericht aus dem weiteren Verhalten Folgerungen ziehen, etwa eine Berufung verwerfen will (vgl. RGSt. 59 279). Zu dem Verfahren bei Zustellungen s. § 37. Für das staatsanwaltschaftliche Verfahren gilt § 35 nicht, doch ist auf die Bekanntmachung von Einstellungsbescheiden, gegen die Rechtsbeschwerde (§ 172 Abs. 1 Satz 1) gegeben ist, und gegen ablehnende Bescheide des Generalstaatsanwalts, gegen die Antrag auf gerichtliche Entscheidung statthaft ist (§ 172 Abs. 2 Satz 1), § 35 Abs. 2 sinngemäß anzuwenden (Nr. 81 Abs. 2, Nr. 89 Abs. 5 Satz 2 RiStBV). Wird die Form der Zustellung gewählt, -was bei anfechtbaren Bescheiden allein zweckmäßig und geboten ist, dann beginnt der Fristlauf, wie auch sonst, mit der Zustellung oder Ersatzzustellung, gleichviel wann der Empfanger den Bescheid in seine Hand bekommt (OLG Hamm JMB1NRW 1963 109). 2

D ü n n e b i e r , Vhdlgen des 41. DJT II G 16.

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§35 Anm. 9 - 1 1

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9. Formlose Mitteilung kommt vornehmlich für die Bekanntgabe unanfechtbarer Entscheidungen und für die Benachrichtigung von Terminen, z. B. im Falle des § 224, in Betracht. Die Zustellung ist vorzuziehen, wenn die Entscheidung von besonderer Bedeutung ist oder der Nachweis der Mitteilung als Grundlage für gerichtliche Maßnahmen dienen kann. Demzufolge soll allen Beteiligten, auf jeden Fall aber dem Angeklagten, die Ladung zur Hauptverhandlung zugestellt werden (Nr. 112 Abs. 1 RiStBV). Dasselbe gilt von dem Beschluß, durch den der Angeklagte von der Verpflichtung entbunden wird, zur Hauptverhandlung zu erscheinen ( E b S c h m i d t 13). Die formlose Mitteilung besteht darin, daß eine Ausfertigung oder Abschrift der Entscheidung übersandt, in geeigneten Fällen auch ihr Inhalt, schriftlich mitgeteilt wird. Mündliche Eröffnung und Beurkundung durch den Urkundsbeamten sind zulässig, aber in der Regel wenig zweckmäßig. Eine früher erlassene Entscheidung kann in einer späteren Verhandlung verkündet werden 3 , wenn weder ihre Verkündung noch ihre Zustellung notwendig war. Alsdann ersetzt die Verkündung die formlose Mitteilung (BGHSt. 15 385), die in jeder Form, also auch derjenigen der Verkündung, zulässig ist 4 . Für einen Einzelfall (Bekanntmachung der Verfügung über die Eröffnung der Voruntersuchung) ist dieses Verfahren in § 192 Abs. 1 Satz 2 vorgeschrieben. 10. Das Vorlesen (Absatz 3) ist ein von der Zustellung verschiedener Vorgang; es folgt dieser nach und kann sie nicht ersetzen. Die formrichtige Zustellung bleibt auch dann wirksam, wenn das Vorlesen unterlassen wird, obwohl seine Voraussetzungen erfüllt sind. Jedoch kann das Unterlassen der Vorlesung u. U. den Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand begründen. Das Vorlesen obliegt dem Zustellungsbeamten, einem Anstaltsbeamten oder dem Urkundsbeamten der Geschäftsstelle des Amtsgerichts, in dessen Bezirk die Anstalt liegt. Entstehen Zweifel, hat das Gericht, dessen Entscheidung zugestellt wird, darüber zu bestimmen, kann mit der Vorlesung aber, wenn ihm das Landesrecht nicht andere Beamte dazu zur Verfügung stellt, nur einen Gerichtsbeamten beauftragen. Nach dem Wortlaut von Absatz 3 ist das Vorlesen nur für die Fälle förmlicher Zustellung vorgeschrieben. Da aber Absatz 2 Satz 2, der die formlose Mitteilung betrifft, erst später eingesetzt worden ist, liegt es nahe, ein Redaktionsversehen dahin anzunehmen, daß in Absatz 3 die Ausdehnung auf die formlosen Mitteilungen versehentlich unterblieben ist. Wenn der Gesetzgeber eine Fürsorge für Analphabeten oder sehschwache Menschen für angebracht hält, besteht sie bei allen gerichtlichen Entscheidungen, jedenfalls wenn der Verwahrte selbst der Zustellungsempfänger ist. Wird er nur von einer Zustellung an den Verteidiger unterrichtet (§ 145a Abs. 4 Satz 1), besteht die Verpflichtung nach § 35 Abs. 3 nicht. In Wirklichkeit ist die Vorschrift überholt; in der Praxis wird die Vorlesung nicht verlangt. Dieses Verlangen ist aber neben der Verwahrung Voraussetzung für die Notwendigkeit der Vorlesung. Eine Belehrung ist nicht vorgeschrieben und bei der überholten Vorschrift nicht zweckmäßig. Die Anstaltsleitung wird von Amts wegen und nicht nur auf Antrag dafür Sorge zu tragen haben, daß in den wenigen Fällen, wo die Notwendigkeit dazu besteht, einem kranken, blinden oder sonst behinderten Empfanger eingehende Schriftstücke verlesen werden. Darüber hinaus wird sie — auch über Art. 6 Abs. 3 Buchst, a und e MenschRKonv. — die Übersetzung zu veranlassen haben, wenn der nicht auf freiem Fuß Befindliche der deutschen Sprache nicht mächtig ist. Dafür hat — selbst ohne besondere Vorschrift — auch das Gericht zu sorgen, wenn ihm der Umstand bekannt ist. Hat der Eingeschlossene dauernden Beistand der Vertretung seines Landes, wird die Übersetzung dagegen, wenn nicht ein Fristverlust droht, unterbleiben können. 11. Nicht auf freiem Fuß. Dieses Verhältnis, von dem außer § 35 noch § 216 Abs. 2, § 299 Abs. 1 und § 350 Abs. 2 Satz 2 sowie § 42 Abs. 1 J G G sprechen, ist, soweit mit den Vorschriften ein Fürsorgezweck verfolgt wird (§§ 35, 216, 299), bei jeder Freiheitsentziehung im weitesten Sinne gegeben (BGHSt. 4 309; 13 212). Eine solche Freiheitsentziehung liegt nach dem allgemeinen Sprachgebrauch vor, wenn dem Zustellungsempfänger die Frei1 4

Feisenberger 3; Müller-Sax 2b Abs. 3; Kl 3 B. Beispiel: 2 zu § 114a.

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Vierter Abschnitt. Gerichtliche Entscheidungen (Dünnebier)

§ 35 a Anm. 1

heit durch behördlichen Akt der öffentlichen Gewalt wider seinen Willen oder wider den Willen des Inhabers der elterlichen Gewalt entzogen ist. Beruht die Freiheitsentziehung auf dem Willen des Vormundes eines Volljährigen oder Minderjährigen, so treten zufolge der Notwendigkeit der vormundschaftlichen Genehmigung (§ 1800 Abs. 2, § 1897 BGB) die öffentlich-rechtlichen Elemente der Vormundschaft so in den Vordergrund, daß auch eine solche Unterbringung als Freiheitsentziehung anzusehen ist (vgl. für den Zustand vor dem Familienrechtsänderungsgesetz BVerfGE 10 324 = NJW 1960 813; OLG Hamm NJW 1960 2239). Demzufolge geht der Begriff „nicht auf freiem Fuße" über die Begriffe des Gefangenen und auf behördliche Anordnung Verwahrten (§§ 120 bis 122 b StGB) hinaus und deckt sich mit dem Begriff des von einer Freiheitsentziehung Betroffenen i. S. des Art. 104 GG.

§ 35 a Bei der Bekanntmachung einer Entscheidung, die durch ein befristetes Rechtsmittel angefochten werden kann, ist der Betroffene über die Möglichkeiten der Anfechtung und die dafür vorgeschriebenen Fristen und Formen zu belehren. Entstehungsgeschichte: Eingefügt durch Art. 4 Nr. 5 des 3. StRÄndG zugleich mit der Streichung von § 268 Abs. 4 (Rechtsmittelbelehrung bei Urteilen) durch Art. 4 Nr. 31. Schrifttum: W a r d a , Um die Rechtsmittelbelehrung im Strafprozeß, MDR 1957 717. 1. Bekanntmachung ist die Verkündung nach § 35 Abs. 1 Satz 1 (s. o. 3 zu § 35) und die Zustellung nach § 35 Abs. 2 Satz 1 (8 zu § 35). Der Begriff Entscheidung knüpft an § 33 (II 1 zu § 33), § 34 (1, 2 zu § 34) und § 35 (1 zu § 35) an, wird aber dadurch eingeschränkt, daß die Vorschrift sich nur auf solche Entscheidungen bezieht, die durch ein befristetes Rechtsmittel (§ 34 betrifft auch unbefristete) angefochten werden können. Derartige Entscheidungen sind erstinstanzliche Urteile des Amtsrichters und der Schöffengerichte (§§312, 313, 334), der Strafkammer und des Schwurgerichts (§ 333) und der Oberlandesgerichte (§ 120 Abs. 1 GVG) sowie Berufungsurteile der Strafkammern (§ 74 Abs. 2 GVG, § 333). Freisprechende Urteile sind mit sofortiger Beschwerde anfechtbar, wenn die dem Angeschuldigten erwachsenen Kosten und notwendigen Auslagen nicht der Staatskasse (§ 467 Abs. 1) auferlegt worden sind (§ 464 Abs. 3). Dabei kann nur falsche Anwendung des § 467 Abs. 2 und 3 gerügt, nicht aber, wenn das Gericht den Angeklagten als nicht überführt angesehen hat, Freispruch wegen dargetaner Unschuld (BGHSt. 7 153) und bei Freispruch wegen Schuldunfähigkeit ein solcher wegen fehlender Tatbestandserfüllung (BGHSt. 16 374) begehrt werden. Auch der Freispruch wegen Zurechnungsunfahigkeit ( § 5 1 Abs. 1 StGB) kann nicht angefochten werden (BGHSt. 5 268; 16 378; BVerfGE 28 159). Alle diese Beschränkungen verletzen keine Grundrechte (BVerfGE 6 12= NJW 1956 1833). Mit befristetem Rechtsmittel anfechtbar sind ferner von den Gerichten im ersten Rechtszug oder im Berufungsverfahren erlassene Beschlüsse und Verfügungen des Vorsitzenden, des Untersuchungsrichters, des Amtsrichters und eines beauftragten oder ersuchten Richters, des Amtsrichters und eines beauftragten oder ersuchten Richters (§ 304 Abs. 1), gegen die das Gesetz ausdrücklich die sofortige Beschwerde (§311) zuläßt (vgl. § 28 Abs. 2 Satz 1, § 46 Abs. 3, § 81 Abs. 3, § 124 Abs. 2 Satz 2, § 182 Abs. 1, § 183, § 201 Abs. 2 Satz 4 in Vbdg. mit § 182 Abs. 1 und § 183, § 206 a Abs. 2, § 210 Abs. 2, § 270 Abs. 3 Satz 2 in Vbdg. mit § 210 Abs. 2, § 322 Abs. 2, § 372, § 379 a Abs. 3 Satz 2, § 383 Abs. 2 Satz 3, § 431 Abs. 5 Satz 2, § 453 Abs. 3 Satz 3, § 454 Abs. 2 Satz 1, § 462 Abs. 4, § 463a Abs. 3 in Vbdg. mit § 462 Abs. 4, § 464 Abs. 3 Satz 1, § 467a Abs. 4, § 469 Abs. 3; § 181 Abs. 1 GVG; zur letzteren Bestimmung zust. OLG Hamm NJW 1963 1791). Schließlich zählt zu ihnen der binnen einer Notfrist von zwei Wochen mit der Erinnerung anfechtbare (§464 a Satz 2, § 104 Abs. 3 Satz 2 ZPO) Kostenfestsetzungsbeschluß des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle (OLG Saarbrücken JB1. Saar 1960 136) und die daraufhin ergehende Gerichtsentscheidung (§ 104 Abs. 3 Satz 5 ZPO). 355

§ 35 a Anm. 2 , 3

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

Keine Rechtsmittel sind der Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (§ 44), der Antrag auf Entscheidung des Rechtsmittelgerichts bei Verwerfung einer verspäteten Berufung (§319 Abs. 2 Satz 1) oder Revision (§ 346 Abs. 2 Satz 1) sowie der Einspruch gegen einen Strafbefehl (§ 409 Abs. 1) und gegen eine Strafverfügung (§413 Abs. 4 in Vbdg. mit § 409 Abs. 1). Doch ist in den Hauptfallen § 35a entsprechend anzuwenden (vgl. § 235 Satz 2, § 319 Abs. 2 Satz 3, § 346 Abs. 2 Satz 3, § 409 Abs. 1 Satz 1, § 413 Abs. 4 in Vbdg. mit § 409 Abs. 1 Satz 1). In Haftsachen ist eine besondere Rechtsbehelfsbelehrung vorgeschrieben (§115 Abs. 4). 2. Betroffener ist, wer gegen eine Entscheidung, die ihm bekannt zu machen ist, ein Rechtsmittel einlegen kann. Jedoch ergibt sich eine Einschränkung aus § 44: Das Unterbleiben der Belehrung ist als unabwendbarer Zufall anzusehen. Dieser begründet die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, wenn der Betroffene durch ihn verhindert ist, die Frist einzuhalten. Eine solche Kausalität ist undenkbar bei der Staatsanwaltschaft, dem Bundespräsidenten (§ 90 StGB) und den in § 90 b StGB genannten Verfassungsorganen oder deren Mitglieder (§ 395 Abs. 3). Bei ihnen ist daher eine Belehrung nicht nur unnötig, sondern sogar unangebracht. Dagegen ist es gleichgültig, ob der Betroffene durch einen Anwalt vertreten ist; er soll sich selbst ein Bild von seinen Möglichkeiten machen können. Auch die Tatsache, daß er im Einzelfalle als gesetzeskundig bekannt ist, befreit nicht von der Belehrungspflicht, kann aber der Wiedereinsetzung entgegenstehen. Danach sind — unter Beachtung der genannten Ausnahmen — Betroffene: Der Privatkläger (§ 390 Abs. 1 Satz 1), der Nebenkläger (§ 401 Abs. 1 Satz 1), der Beschuldigte, Angeschuldigte und Angeklagte, der Einziehungsbeteiligte (§431 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3; §433 Abs. 1, § 439 Abs. 1, § 440 Abs. 3), die juristische Person oder Personenvereinigung bei Festsetzung von Geldbußen (§ 444 Abs. 1), wer für den Angeklagten Sicherheit geleistet hat und nach § 124 Abs. 2 Satz 1 gehört ist, Zeugen, Sachverständige und bei der Verhandlung nicht beteiligte Personen, gegen die eine Ordnungsstrafe verhängt worden ist (§ 178 GVG). 3. Gesetzlicher Vertreter und Erziehungsberechtigter. Da die Rechtsmittelbelehrung nur im Zusammenhang mit einer Bekanntmachung zu ergehen hat, entfällt sie gegenüber dem gesetzlichen Vertreter (§ 298), solange ihm die Entscheidung nicht bekannt zu machen ist. Dieser Fall tritt erst ein, wenn er sich durch Einlegen von Rechtsmitteln am Verfahren beteiligt hat. Alsdann wird er Betroffener i.S. des § 35 a. Für die Erziehungsberechtigten und den gesetzlichen Vertreter von Jugendlichen und Heranwachsenden (§ 67 Abs. 2; § 109 Abs. 1 JGG) gilt nichts Abweichendes. Er erhält zwar entsprechende Mitteilungen wie der Jugendliche oder Heranwachsende, wird aber Verfahrensbeteiligter erst, wenn er von seinen besonderen Rechten (§ 67 Abs. 1 und 3 JGG) Gebrauch macht. Ist er bei der Urteilsverkündung anwesend, so ist er über das Rechtsmittel des Jugendlichen und über sein eigenes Rechtsmittel zu belehren. Ist der Jugendliche abwesend, dann ist ihm, dem gesetzlichen Vertreter und dem Erziehungsberechtigten das Urteil mit Rechtsmittelbelehrung zuzustellen. Dabei ist der Erziehungsberechtigte darauf hinzuweisen, daß er nur innerhalb der für den Angeklagten laufenden Frist von ihm Gebrauch machen kann (§ 67 Abs. 3 J G G in Vbdg. mit § 298 Abs. 1). Ist nur der Jugendliche anwesend, so wird dieser belehrt, und es ist Sache des Erziehungsberechtigten, sich um die Rechtsmittelmöglichkeiten zu kümmern. Das wird er tun, wenn er zwar Interesse an der Verhandlung hatte, aber verhindert war, ihr beizuwohnen. Ist er aus Interesselosigkeit ausgeblieben, besteht kein Anlaß, ihn zu belehren (BGHSt. 18 25; OLG Stuttgart NJW 1960 2 3 5 3 ) T e i l t allerdings das Gericht dem Erziehungsberechtigten das in Gegenwart des Jugendlichen verkündete Urteil mit, wozu nach § 67 Abs. 2 J G G keine Verpflichtung besteht (BayObLG DRiZ 1928 196), dann wird der Erziehungsberechtigte durch die Mitteilung Betroffener und ist über das dem Jugendlichen und über das ihm selbst zustehende Rechtsmittel zu belehren. Die Belehrung hat jedoch zu unterbleiben, wenn sie deshalb sinnlos ' E b e n s o P o t r y k u s N J W 1954 1836; D a l l i n g e r - L a c k n e r 11, G r e t h l e i n 3a, beide zu § 6 7 J G G ; a. A. — gesetzlicher Vertreter und Erziehungsberechtigte sind stets Betroffene — E b S c h m i d t 8; BayObLGSt. 1954 51 = NJW 1954 1378.

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Vierter Abschnitt. Gerichtliche Entscheidungen (Dünnebier)

§ 35 a Anm. 4

ist, weil die Rechtsmittelfrist bei Mitteilung des Urteils schon verstrichen ist. Erachtet das Gericht es in einer zweifelhaften Sache für erwünscht, daß der in der Hauptverhandlung abwesend gebliebene Erziehungsberechtigte auf jeden Fall von dem Urteil Kenntnis erhalte und die Einlegung eines Rechtsmittels erwäge, so wird es ihm das Urteil rechtzeitig vor Ablauf der Rechtsmittelfrist zustellen oder wenigstens den Tenor mitteilen und ihn dabei über das Rechtsmittel belehren. Es ist selbstverständlich, daß eine etwa dem Erziehungsberechtigten oder gesetzlichen Vertreter zu erteilende Rechtsmittelbelehrung entfallt, wenn der Jugendliche oder Heranwachsende volljährig geworden ist (vgl. BGH NJW 1956 1607). 4. Belehrung. Die Belehrung gibt die Art des Rechtsmittels — sofortige Beschwerde, Berufung, Revision —, bei Wahlmöglichkeit (§ 335) diese und die zur Wahl stehenden Rechtsmittel an. Auf die Möglichkeit, das Urteil zunächst nur anzufechten und nach Zustellung des Urteils innerhalb der Revisionsbegründungsfrist endgültig zu wählen (BGHSt. 2 63) braucht, da nicht gesetzlich geregelt, nicht hingewiesen zu werden, doch ist eine Belehrung darüber — selbstverständlich — zulässig. Ist die Revision statthaft, so ist auch über die Notwendigkeit der Begründung (§ 344) zu belehren. Anzugeben sind die gesetzliche Frist und der Tag ihres Beginns oder Endes (entweder: binnen der Frist einer Woche, die am Tage nach der Zustellung beginnt, oder: binnen der Frist von einer Woche, die mit dem Tage endet, der durch seine Benennung dem Tage der Zustellung entspricht) und der Hinweis, daß das Rechtsmittel innerhalb der Frist bei Gericht eingegangen sein muß (BGHSt. 8 106; Anl. zu Nr. 140 RiStBV). In bezug auf die Form ist auf die Möglichkeiten hinzuweisen, die Rechtsmittel schriftlich oder zu Protokoll der Geschäftsstelle (§ 306 Abs. 1, § 314 Abs. 1, § 341 Abs. 1) einzulegen. Bei der Revision ist über die Form der Begründung allein durch einen Rechtsanwalt oder zu Protokoll der Geschäftsstelle (§ 345 Abs. 2) zu belehren. Zur Form gehört die Angabe des Gerichts, bei dem das Rechtsmittel einzulegen ist (§ 306 Abs. 1 Satz 1, § 314 Abs. 1, § 341 Abs. 1) oder bei dem es wahlweise auch eingelegt werden kann (§311 Abs. 2 Satz 2). Das Gericht ist nach Ort, Straße und Hausnummer zu bezeichnen. Befindet sich ein Beschuldigter, dem zugestellt werden soll, kraft behördlicher Anordnung nicht auf freiem Fuß, so ist er über die Möglichkeit zu belehren, seine Erklärungen zu Protokoll der Geschäftsstelle des Amtsgerichts abzugeben, in dessen Bezirk die Anstalt liegt, in der er verwahrt wird, und daß die Frist gewahrt ist, wenn das Protokoll innerhalb der Frist aufgenommen wird (§ 299). Der Betroffene ist, wie der Zusammenhang der Vorschrift ergibt, über die Möglichkeiten, Formen und Fristen der Anfechtung durch ein Rechtsmittel zu belehren. Daher braucht sich bei Urteilen, die bei Ausbleiben des Angeklagten (§ 232 Abs. 1, § 329 Abs. 1, § 412 Abs. 1, §413 Abs. 4 in Vbdg. mit §412 Abs. 1 oder des Privatklägers (§391 Abs. 3) ergehen, die Rechtsmittelbelehrung nicht auf die Möglichkeit der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu erstrecken. Da indessen in den genannten Fällen der richtige Gebrauch der Rechtsmittel von der Kenntnis der Wiedereinsetzungsmöglichkeit abhängt, ist es wünschenswert, den Angeklagten auf diese hinzuweisen. Die Richtlinien für das Straf- und Bußgeldverfahren empfehlen das in Nr. 140 Abs. 3 Satz 2. Die Belehrung ergeht zwar auch in dem öffentlichen Interesse an einem fairen Prozeß, in dem die Beteiligten dem rechtsgelehrten Staatsanwalt nicht unterlegen sein sollen. Sie liegt aber hauptsächlich im privaten Interesse der Beteiligten und unterliegt daher ihrem Verzicht (OLG Hamm NJW 1956 1330). Indessen sollte das Gericht auf einen solchen nicht hinwirken. Es entspricht auch nicht der Würde des Gerichts, der Rechtsmittelbelehrung Formeln anzufügen, die zu einer Überlegung vor Gebrauch des Rechtsmittels ermahnen 2 . Daß die Rechtsmittelbelehrung in manchen Fällen zu unbegründeten Rechtsmitteln anreizt, hat der Gesetzgeber gewußt, als er die Vorschrift einfügte. Er hat den Nachteil um der von ihm verfolgten Ziele willen in Kauf genommen. Dieser gesetzgeberischen Entscheidung wird durch eine klare Belehrung ohne Vorbehalte und Ermahnungen Genüge geleistet. 2

Die Beschwerde ist, „wenn Sie eine solche einlegen wollen" — oder gar „wenn Sie sich davon Erfolg versprechen" — innerhalb der Frist von . . . einzulegen.

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§35 & Anm. 5 , 6

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

5. Form. Die Belehrung ist Sache des Gerichts, das die bekanntzumachende Entscheidung erlassen hat (OLG Schleswig SchlHA 1955 227; O L G H a m m N J W 1954 812), nicht der Staatsanwaltschaft. § 35a sagt nichts über die Art und Weise der Belehrung; daher steht sie dem Richter frei. D a sie jedoch mit der Bekanntmachung (§ 35) verbunden ist ( „ b e i der Bekanntmachung"), wird sie dieser in der Form regelmäßig, wenn auch nicht notwendigerweise, folgen. Daher wird bei Entscheidungen, die in Anwesenheit des Betroffenen ergehen, in der Regel mündlich belehrt werden, sonst schriftlich. Ist mündliche Bekanntmachung vorgeschrieben, muß die Belehrung auch dann erteilt werden, wenn sich der Betroffene (Angeklagte, Privatkläger) zwar nach der Urteilsverkündung, aber vor der Rechtsmittelbelehrung entfernt hat. Sie äußert alsdann voll ihre Wirkung. Das bedeutet: Der Betroffene kann nicht mit der Behauptung, ihm sei keine Rechtsmittelbelehrung erteilt worden, Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (§ 44 Satz 2) verlangen (im Ergebnis ebenso K G N J W 1955 565). Wird der Betroffene mündlich belehrt, kann der Vorsitzende wegen der Einzelheiten auf ein Merkblatt verweisen, das jenem ausgehändigt wird (Nr. 140 Abs. 1 Satz 2 RiStBV); doch macht das Merkblatt die Belehrung nicht überflüssig. Ist der zu Belehrende ohne Anwalt, sollte die mündliche Belehrung stets durch ein Merkblatt ergänzt werden. Denn der Beteiligte ist durch Verhandlung und Urteilsspruch oft aufgeregt und dadurch behindert, das gesprochene Wort zu verstehen und aufzunehmen. Die Belehrung wird im Hauptverhandlungsprotokoll vermerkt (Nr. 140 Abs. 1 Satz 3 RiStBV). Wird zusätzlich ein Merkblatt ausgehändigt, sollte das — da es mehrere Merkblätter gibt, mit der Bezeichnung (Umdrucknummer) des Merkblatts — ebenfalls im Protokoll angegeben werden. Die schriftliche Belehrung wird am zweckmäßigsten in den Text der Entscheidung eingefügt, entweder hinter den Tenor oder mit der besonderen Überschrift „Rechtsmittelbelehrung" im Anschluß an die Gründe. Es ist zulässig, Merkblätter zu verwenden. Geschieht das, muß das Merkblatt mit seiner Bezeichnung (Umdrucknummer) als Gegenstand der Zustellung dergestalt in der Zustellungsurkunde aufgeführt werden, daß der Nachweis über den Inhalt der Belehrung geführt werden kann. Ergibt sich aus einer Erklärung des Betroffenen, daß er die Belehrung falsch verstanden hat, dann kann die allgemeine Fürsorgepflicht des Gerichts es gebieten, diese, namentlich eine mündlich erteilte, schriftlich zu wiederholen (OLG Neustadt G A 1956 92; O L G Hamm JMB1NRW 1963 147). Der Richter braucht sich aber nicht zum Vormund eines Erwachsenen aufzuwerfen; er hat auch nicht die Pflicht, einer erkennbaren Sorglosigkeit abzuhelfen. In der Regel wird daher ein Hinweis auf den Irrtum und auf bestehende Unterrichtungsmöglichkeiten angemessen sein. Die Belehrung gehört — was trotz der unsachgemäßen Folgen nicht bezweifelt werden kann - zu den wesentlichen Förmlichkeiten der Hauptverhandlung 3 . Daraus folgt: Die beurkundete Belehrung gilt als bewiesen. Fehlt die Beurkundung, ist damit der Beweis geführt, daß die Belehrung — auch wenn sie tatsächlich erteilt worden ist — unterblieben ist. Freilich muß der Beschwerdeführer das Unterbleiben der Belehrung behaupten (§ 344 Abs. 2 Satz 2), wobei der Anwalt der Wahrheitspflicht unterliegt. Gilt die Belehrung als erwiesen, so muß man daraus aber auch die weitere Folge ziehen, daß mit der Protokollierung der Beweis der Vollständigkeit und Richtigkeit der Belehrung erbracht ist. Denn die Beurkundung, der Vorsitzende habe den Angeklagten über das Rechtsmittel belehrt, kann nicht wohl einen anderen Sinn haben als den, daß er das so getan habe, wie das Gesetz es vorschreibt. 6. Belehrungsmängel. Die unterbliebene Belehrung ist, anders als in § 172 Abs. 1 Satz 3, auf den Fristablauf und auf die Wirksamkeit der Entscheidung ohne Einfluß (BayObLGSt. 1957 157; 1967 68 = G A 1968 55; O L G Frankfurt N J W 1953 1725; O L G H a m m NJW 1963 1791; O L G Saarbrücken N J W 1964 1634). Die Folgen einer Fristversäumnis können nicht dadurch beseitigt werden, daß die Entscheidung demselben Zustellungsempfanger nochmals bekannt gemacht und dabei die Rechtsmittelbelehrung nachgeholt wird; die Gegenansicht (OLG Neustadt G A 1955 185) wird durch § 44 Satz 2 widerlegt ( O L G Saarbrücken N J W 1964 1633). Der Umstand, daß die Rechtsmittelbelehrung unterblieben ist, 3

§ 2 7 3 ; E b S c h m i d t 10; M ü l l e r - S a x 6.

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Vierter Abschnitt. Gerichtliche Entscheidungen (Dünnebier)

§ 36

begründet aber unwiderlegbar einen unabwendbaren Zufall (§ 44 Satz 2) und gibt damit dem Betroffenen das Recht, Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu beantragen, wenn ihn das Fehlen der Belehrung gehindert hat, die Frist einzuhalten. Wiedereinsetzung kann also nicht beanspruchen, wer ungeachtet der fehlenden Belehrung die Frist gekannt, aber aus anderen Gründen versäumt hat (zust. BayObLGSt. 1967 6 9 = GA 1968 55), doch wird darüber nur bei besonderen Anhaltspunkten Beweis erhoben werden. Die Frist ist auch dann versäumt, wenn das Rechtsmittel zwar fristgemäß aber formfehlerhaft eingelegt ist; der Betroffene hat dann die Frist mit dem vorgeschriebenen Rechtsmittel versäumt. Es begründet daher die Wiedereinsetzung auch, wenn keine Belehrung über die Form des Rechtsmittels erteilt und dieses aus diesem Grunde in unzulässiger Form eingelegt worden ist (OLG Hamm NJW 1956 1572). Die unvollständige Belehrung steht der unterbliebenen gleich, wenn die Unvollständigkeit das Fehlen der Belehrung über einen für das Rechtsmittel wesentlichen Punkt herbeiführt, wenn also nur über die Frist und nicht über die Form und umgekehrt belehrt; wenn nicht angegeben ist, bei welchem Gericht das Rechtsmittel anzubringen ist (OLG Hamburg GA 1962 218); wenn der Hinweis fehlt, daß das Rechtsmittel innerhalb der Frist bei Gericht eingegangen sein muß (OLG Hamburg GA 1963 348); oder wenn bei Wahlmöglichkeit nur über die Berufung, nicht aber über die Revision belehrt worden ist (LG München NJW 1956 1368). Bezieht sich dagegen die Unvollständigkeit nicht auf einen wesentlichen Punkt, dann ist im Einzelfall zu prüfen, ob die Unvollständigkeit ein unabwendbarer Zufall war. So gehören zwar zur Rechtsmittelbelehrung die Angaben von Ort, Straße und Hausnummer des zuständigen Gerichts. Das Gesetz will aber die Menschen nicht unmündig machen; wer eine Fristversäumnis wegen fehlender Anschriftsangabe behauptet, wird daher glaubhaft zu machen haben, daß er keine Möglichkeit gehabt hat, die Anschrift von dem Augenblick an, wo er das Rechtsmittel hat einlegen wollen, bis zum Fristablauf zu ermitteln. Die falsche Belehrung ist nach den gleichen Grundsätzen zu behandeln wie die unvollständige. Eine falsche Belehrung liegt auch vor, wenn neben einer mündlichen Belehrung ein Merkblatt ausgegeben wird, das die richtig erteilte mündliche Belehrung falsch wiedergibt. Denn der Belehrte kann davon ausgehen, daß er die mündliche Belehrung in der Erregung falsch aufgefaßt habe und sich nach der schriftlichen richten müsse (OLG Saarbrücken NJW 1965 1031). Ist eine Belehrung in wesentlichen Punkten falsch, liegt insoweit keine Belehrung und damit der Fall der unterbliebenen Belehrung vor (OLG Hamm Rpfleger 1961 80). Wenn aber z.B. bei der Belehrung über die Berufung fälschlich eine Begründung verlangt worden ist, wird der Betroffene glaubhaft zu machen haben, daß es gerade zufolge dieses Umstandes für ihn unabwendbar war, die Frist zu versäumen 4 . Ebenso ist es, wenn etwa nach einem Umzug des Gerichts ein Formular mit der alten Anschrift verwendet wird, dem Betroffenen aber der Umzug bekannt und das Erkennen und die Aufklärung des Versehens möglich war. § 35 a ist kein Freibrief für Trägheit und Gleichgültigkeit.

§36 (1) Entscheidungen, die einer Zustellung oder Vollstreckung bedürfen, sind der Staatsanwaltschaft zu übergeben, die das Erforderliche zu veranlassen hat. Für Entscheidungen, die lediglich den inneren Dienst der Gerichte oder die Ordnung in den Sitzungen betreffen, gilt diese Vorschrift nicht. (2) Der Untersuchungsrichter und der Vorsitzende des Gerichts können Zustellungen sowie die Vollstreckung von Beschlüssen und Verfügungen auch unmittelbar veranlassen. Entstehungsgeschichte: Durch Art. 9 § 1 Abs. 1 der VO zur weiteren Vereinfachung der Strafrechtspflege vom 13. 8. 1942 (RGBl. I 508) ist in Absatz 2 das Wort „Amtsrichter" durch „Vorsitzer des Gerichts" ersetzt worden, um damit eine Gerichtspraxis (RGRspr. 4 323, RGSt. 6 179) zu legalisieren. Art. 3 Nr. 14 VereinhG hat das Wort „Vorsitzer" durch „Vorsitzender" ersetzt. 4

A. A. — falsche Belehrung steht einer unvollständigen stets gleich — Müller-Sax7 Abs. 2. 359

§36 Anm. 1—3

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

Schrifttum: W e s s e l s , Zur Vollstreckung von Ordnungsstrafen und Erzwingungshaftbeschlüssen in Strafsachen, Festschrift für Hellmuth Mayer, S. 587. 1. Zustellung. Entscheidungen, die einer Zustellung bedürfen, sind die in § 35 Abs. 2 genannten Entscheidungen, also wegen der Möglichkeit der formlosen Mitteilung nur diejenigen, durch deren Bekanntgabe eine Frist in Lauf gesetzt wird, und die in Abwesenheit verkündeten Urteile (8 zu § 35), es sei denn, daß das Gericht im Einzelfall auch bei nicht anfechtbaren Entscheidungen die Zustellung für erforderlich erachtet. Der Begriff Zustellung ist mehrdeutig, der Wortgebrauch leider uneinheitlich. a) In erster Linie erfaßt der Begriff jedoch die „Bewirkung" der Zustellung (§ 40 Abs. 1; § 167 Abs. 2 ZPO), auch Vollzug genannt (§ 212 b Satz 1 ZPO), d. h. den Zustellungsakt selbst, dessen Hauptfall die Übergabe einer Ausfertigung oder einer beglaubigten Abschrift des zuzustellenden Schriftstücks ist (§ 170 Abs. 1 ZPO). Dem Zustellungsakt gehen in der Regel zwei weitere Akte voraus: b) die Anordnung (RGSt. 47 115) der Zustellung. Sie entspricht dem Zustellungsauftrag der Partei (§ 167 ZPO) und wird vom Reichsgericht auch als Auftrag (RGRspr. 9 42) und Anweisung (RGZ 90 297) bezeichnet, die auch stillschweigend erteilt werden könne. Die Strafprozeßordnung gebraucht das Wort „veranlassen" ( § 3 6 Abs. 2). c) die Ausführung der Anordnung (nicht der Zustellung) durch die Geschäftsstelle (RGSt. 47 115). Die Ausführung besteht darin, daß die Geschäftsstelle den Zustellungsbeamten oder die Post beauftragt, den Zustellungsakt vorzunehmen (§211 Satz 1 ZPO), und damit „für die Bewirkung der Zustellung" Sorge trägt (§ 209 ZPO). Anordnung und Ausführung können in einer Hand liegen, z.B. dann, wenn der Richter oder Staatsanwalt eine ausländische Behörde ersucht, die Zustellung vorzunehmen (§ 199 ZPO). Ausführung der Anordnung und Bewirkung der Zustellung können zusammenfallen, z.B. wenn das zu übergebende Schriftstück an der Amtsstelle dem ausgehändigt wird, an den die Zustellung zu bewirken ist (§ 212 b ZPO). 2. Übertragung. Die Ausführung der Anordnung ist nur dann rechtswirksam, wenn sie sich im Rahmen der Anordnung, des Auftrags (1 b), hält (RGRspr. 9 42; RGSt. 47 115; OLG Köln NJW 1962 1929). Die Auffassung, daß die Geschäftsstelle die Zustellung ohne Weisung zu veranlassen habe ( B a u m b a c h - L a u t e r b a c h 1 zu § 269 ZPO), kann für den Strafprozeß nicht übernommen werden. Im Zivilprozeß steht der Zustellungsempfanger durch § 176 ZPO fest. Fürs Strafrecht gilt diese Vorschrift nicht (1 zu § 145 a); meist stehen mehrere Zustellungsempfanger zur Auswahl (vgl. § 37 Abs. 2; § 145a Abs. 4). Alsdann verbietet die (nur) entsprechende Anwendung ( § 3 7 Abs. 1) der Vorschriften der Zivilprozeßordnung die Übernahme einer Regelung, deren Voraussetzungen im Strafprozeß nicht vorliegen. Daher darf die Geschäftsstelle Zustellungen nicht anordnen, sondern nur Anordnungen des Staatsanwalts ausführen. Die Auffassung, bei der Staatsanwaltschaft könne die Anordnung der Zustellung der Geschäftsstelle übertragen werden ( M ü l l e r - S a x 2), ist abzulehnen, weil die Strafprozeßordnung, wenn sie von Staatsanwaltschaft spricht, immer den Staatsanwalt und Amtsanwalt meint (§ 142 GVG), die Übertragung daher einer — nicht vorhandenen — gesetzlichen Grundlage bedürfte. Dagegen können die Länder bestimmen, ob die Anordnungen des Staatsanwalts Beamte des gehobenen oder — wie es regelmäßig der Fall ist — des mittleren Dienstes auszuführen haben. 3. Einer Vollstreckung bedürfen i.S. des § 36 nur Entscheidungen, die erforderlichenfalls (OLG Karlsruhe Rpfleger 1968 288: „letzten Endes") unter Anwendung von physischem Zwang gegen Personen oder Sachen (RGSt. 41 88) durchzusetzen sind. Denn der Ausdruck Vollstreckung ist nicht in dem weiteren Sinne von Ausführung sondern in dem gewöhnlichen Wortsinne von zwangsweiser Durchführung zu verstehen (OLG Celle GA 59 366). Unter die zu vollstreckenden Entscheidungen fallen die Anordnung einer Beobachtung in einer Heil- oder Pflegeanstalt nach § 81 (OLG Düsseldorf GA 58 257), sonstige Anordnungen nach §§ 8 1 a und 81c, Haft- und vorläufige Unterbringungsbefehle (§ 114 Abs. 1. § 126 a Abs. l), Beschlagnahme- und Durchsuchungsbeschlüsse (§ 98 Abs. 1, § 99 Abs. 1, § 105 Abs. 1), sowie Ordnungs„straf'beschlüsse nach § 51 Abs. 1, § 70 Abs. 1, 360

Vierter Abschnitt. Gerichtliche Entscheidungen (Dünnebier)

§ 36 Anm. 4, 5

§ 95 Abs. 2 in Vbdg. mit § 70 Abs. 1. Dagegen darf die Erzwingungshaft zur Zeugenaussage (§ 70 Abs. 2) und zu der Herausgabe von Beweismitteln (§ 95 Abs. 2 in Vbdg. mit § 70 Abs. 2) nur der Richter selbst vollstrecken, weil jederzeit ein Vollstreckungshindernis eintreten kann (Aussage des Zeugen, Geständnis oder Tod des Beschuldigten, Amnestie, Bekanntwerden von Rechtfertigungs- oder Entschuldigungsgründen, die beim Beschuldigten liegen), das allein der Richter berücksichtigen kann ( W e s s e l s 600ff.). Auch die Anordnung einzelner Beweiserhebungen hat das Gericht (OLG Kassel GA 40 357) oder sein Vorsitzender (OLG Celle GA 37 73) durchzuführen, sofern nicht Maßnahmen in Betracht kommen, für die es den Gerichten an einer besonderen gesetzlichen Grundlage fehlt, während sie für die Staatsanwaltschaft gegeben ist (OLG Celle GA 59 366). Das ist bei der Durchführung polizeilicher Ermittlungen der Fall. Bei diesen ist das Gericht auf die allgemeine Rechtshilfe angewiesen, die Staatsanwaltschaft hat dagegen ein Anordnungs- (§ 152 Abs. 1 GVG) und Auftragsrecht (§ 161 Satz 2). Da das letztere auch dem Untersuchungsrichter zusteht (§ 189), kann dieser seine Anordnungen über polizeiliche Ermittlungen nicht der Staatsanwaltschaft zur Erledigung übergeben. 4. Übergabe an die Staatsanwaltschaft. Die Übergabe wird dadurch bewirkt, daß das Gericht die Akten mit der in ihr enthaltenen unterschriebenen Entscheidung übersendet. Das Gericht hat keinen Einfluß auf den Vorgang der Zustellung oder Vollstreckung. Es ist z.B. nicht befugt, wenn mehrere Zustellungsempfanger zur Wahl stehen, einen zu bezeichnen. Will es auf den Zustellungs- oder Vollstreckungsvorgang Einfluß nehmen, muß der Vorsitzende nach Absatz 2 verfahren. Die Staatsanwaltschaft, der die Entscheidung übergeben worden ist, verfahrt mit ihr, wenn es der Zustellung bedarf, ebenso wie in den Fällen, in denen sie eine Zustellung aus eigener Entschließung, etwa aufgrund des § 2 1 4 Abs. 1 Satz 1 oder des § 320 Satz 2 verfügt; s. § 37. Die Vollstreckung führt sie nach dem Inhalt der Entscheidung, ggf. mit Hilfe der Polizei (Verhaftung) durch, bei Vollstreckung von Ordnungs- oder Erzwingungshaftstrafen (§§ 51, 70, 95) nach § 87 Abs. 1 StVollstrO, bei der Vollstreckung derartiger Geldstrafen nach §§ 4 ff. der Anordnung über die Einforderung und Beitreibung von Vermögensstrafen und Verfahrenskosten vom 15.2.1956 ( P o h l m a n n 607). Dabei obliegt ihr ggf. die Bewilligung von Ratenzahlungen (OLG Hamm GA 1960 318). Die Zuständigkeit richtet sich allein nach § 36, nicht nach § 3 der oben genannten Anordnung ( P o h l m a n n II z u § 3 der AO). Zuständig ist die Staatsanwaltschaft bei dem Gericht, das die Entscheidung erlassen hat, doch kann die höhere Staatsanwaltschaft einer ihr unterstellten die Zustellung übertragen. Davon wird zweckmäßig Gebrauch gemacht, wenn die Akten, etwa nach Revisionsentscheidung des Oberlandesgerichts, ohnehin vom Generalstaatsanwalt an die Staatsanwaltschaft beim Landgericht zurückgehen und dort weitere Verfügungen getroffen werden müssen. Dagegen scheidet eine Übertragung aus, wenn die nachgeordnete Staatsanwaltschaft am Verfahren nicht beteiligt ist, z. B. bei Strafsachen, die in erster Instanz von dem Oberlandesgericht entschieden werden (§ 120 Abs. 1 GVG). Soweit der von einer Vollstreckung Betroffene durch diese selbst, nicht durch die ihr zugrunde liegende Anordnung, in seinen Rechten verletzt ist, kann er Antrag auf gerichtliche Entscheidung nach §§ 23 ff EGGVG stellen. 5. Unanwendbarkeit der Vorschrift (Absatz 1 Satz 2). Innerdienstliche Entscheidungen sind vornehmlich solche, für die eine Bekanntgabe nach außen mit Rücksicht auf ihren Gegenstand nicht in Betracht kommt, wie das beispielsweise beim Beschluß eines Senats des Bundesgerichtshofs, nach § 137 GVG die Entscheidung des Großen Senats über eine Rechtsfrage herbeizuführen, zutrifft, ferner solche, die im Sinne des § 13 d e r V O zur einheitlichen Regelung der Gerichtsverfassung vom 20. 3. 1935 (BGBl. III 300 - 5) dem Geschäftskreis der Justizverwaltung angehören. Von der Ordnung in den Sitzungen handeln die §§ 176 bis 183 GVG; § 179 GVG schreibt vor, daß der Vorsitzende die Vollstreckung der zur Aufrechterhaltung der Ordnung in der Sitzung verhängten Ordnungsstrafen unmittelbar zu veranlassen hat. Die Staatsanwaltschaft ist zur Vollstreckung nicht befugt (RGSt. 15 230), wohl aber verpflichtet, auf eine versehentlich unterbliebene Vollstreckung hinzuwirken. Der Richter ist nicht berechtigt, die Vollstreckung zu unterlassen, kann aber einen Gnadenerweis anregen. 361

§ 3 6 Anm. 6 §37

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

Zur Zustellung in Privatklagesachen ist die Staatsanwaltschaft nicht verpflichtet (OLG Jena A l s b . E 1 95). Aus § 377 Abs. 1 und 2 ergibt sich, daß die Staatsanwaltschaft im Privatklageverfahren keine Pflichten, sondern nur das Recht zur Übernahme hat. Demzufolge legt § 385 Abs. 1 dem Privatkläger die Befugnisse der Staatsanwaltschaft bei, soweit das mit seiner nichtbehördlichen Eigenschaft vereinbar ist. Für die Hauptfalle, die behördliche Machtvollkommenheit erfordern, treffen § 385 Abs. 2 (Ladungen) und § 390 Abs. 3 Satz 2 (Zustellung von Rechtsmitteln) Vorsorge, doch ist dem System die allgemeine Verpflichtung des Gerichts zu entnehmen, Zustellungen und Vollstreckungen in Privatklagesachen selbst zu bewirken. Die Revisionsbegründung der Staatsanwaltschaft hat das Gericht zuzustellen (OLG Düsseldorf GA 58 258), jedoch ist die Zustellung der eigenen Revisionsbegründung durch die Staatsanwaltschaft wirksam (OLG Breslau A l s b . E 1 87). Wegen der Zustellung von gerichtlichen Entscheidungen an die Staatsanwaltschaft s. § 41. 6. Richterliche Veranlassung (Absatz 2). Ursprünglich stand die Befugnis, Zustellungen und Vollstreckungen unmittelbar zu veranlassen, neben dem Untersuchungsrichter dem Amtsrichter zu. Nach der Entstehungsgeschichte kann kein Zweifel sein, daß die Übertragung auf den Vorsitzenden des Gerichts (s. Entstehungsgeschichte) die Vorschrift hat erweitern und nicht einschränken wollen, und daß daher die Befugnis des Absatzes 2 dem Amtsrichter weiterhin zusteht, auch wenn er nicht als Vorsitzender eines erkennenden Gerichts handelt ( G r a u DJust. 1942 615). Danach sind neben dem Vorsitzenden des Gerichts und dem Untersuchungsrichter auch der Amtsrichter im Vorverfahren und der beauftragte oder ersuchte Richter (§ 223 Abs. 1) in den Grenzen des § 36 Abs. 2 befugt, das Erforderliche unmittelbar zu veranlassen. Tun sie das nicht, so ist die Staatsanwaltschaft verpflichtet, die Zustellung oder Vollstreckung ebenso auszuführen, wie ihr dies sonst nach § 36 Abs. 1 Satz 1 aufgegeben ist. Doch ist von der Möglichkeit unmittelbarer Veranlassung regelmäßig und jedenfalls dann Gebrauch zu machen, wenn die Bewirkung der Zustellung oder der Vollstreckung durch den Richter den Geschäftsgang infolge der örtlichen Verhältnisse erleichtert. Die Vollstreckung der Ordnungsstrafen nach § 51 Abs. 1, § 70 Abs. 1, § 95 Abs. 2 in Vbdg. mit § 70 Abs. 1 (3) wird grundsätzlich der Gerichtsvorsitzende selbst veranlassen. Wenn er das nicht tut, obliegt sie der Staatsanwaltschaft ( P o h l m a n n II l b zu § 87). Die Entscheidung, daß in bestimmten Sachen nach Absatz 2 verfahren werde, kann auch ein für allemal getroffen und nach Vereinbarung der Richter durch den Gerichtspräsidenten der Staatsanwaltschaft erklärt werden. Die Befugnis des Richters, die Zustellung anzuordnen, könnte auf den Rechtspfleger übertragen werden; eine solche Übertragung hat aber nicht stattgefunden. Die Übertragung richterlicher Geschäfte auf die Geschäftsstelle ist unzulässig; wo sie etwa stattgefunden hat, ist das ohne rechtliche Wirksamkeit. Ohne richterliche Anordnung ausgeführte Zustellungen sind unwirksam (vgl. 2 zu der staatsanwaltschaftlichen Zustellung). Wegen der Übertragung der Ausführung der Anordnung auf Beamte des mittleren Dienstes gilt das 2 am Ende Ausgeführte. §37 (1) Für das Verfahren bei Zustellungen gelten die Vorschriften der Zivilprozeßordnung entsprechend. Als Notfristen im Sinne des § 187 Satz 2 der Zivilprozeßordnung gelten die gesetzlichen Fristen. (2) Wird die für einen Beteiligten bestimmte Zustellung an mehrere Empfangsberechtigte bewirkt, so richtet sich die Berechnung einer Frist nach der zuletzt bewirkten Zustellung. Entstehungsgeschichte: Obwohl § 37 zunächst nicht geändert wurde, ist doch das strafrechtliche Zustellungsverfahren durch vorübergehende Kriegsvereinfachungsmaßnahmen und durch Änderungen der Zivilprozeßordnung beeinflußt worden. Die bedeutsamste Änderung ist die über die Heilung von Zustellungsmängeln (§ 187 ZPO) durch die ZustVO 362

Vierter Abschnitt. Gerichtliche Entscheidungen (Dünnebier)

§ 37 Anm. I 1,2

vom 9. 10. 1940 (RGBl. I 1340), beibehalten durch Art. 2 Nr. 20 VereinhG. Satz 2 ist angefügt durch Art. 4 Nr. 6 des 3. StRÄndG, weil auch bei den gesetzlichen Fristen der Strafprozeßordnung ebenso wie bei den Notfristen der Zivilprozeßordnung der Nachweis der formgerechten Zustellung unerläßlich erschien (Begr. BTDrucks. I 3713, S. 46). Absatz 2 ist eingefügt durch Art. 10 Nr. 1 StPÄG. Das wurde notwendig, weil durch Art. 3 Nr. 4 (§ 145 a) die Zustellung an den Verteidiger neu geregelt worden ist und dadurch die Gefahr gewachsen ist, daß Mehrfachzustellungen vorgenommen werden. Ihren Auswirkungen soll durch Absatz 2 begegnet werden. Schrifttum: A r n o l d , Zustellungen, Ladungen, Vorführungen in der Bundeswehr, NJW 1957 1220; D ü n n e b i e r , Fristberechnung bei mehrfacher Zustellung (§ 37 Abs. 2 StPO), JZ 1969 94. I. Zustellungsverfahren. 1. Allgemein. § 37 verweist auf die Vorschriften der Zivilprozeßordnung. Kein Teil von ihr ist das Haager Abkommen über den Zivilprozeß Art. 1 dieses Abkommens ist daher für die Zustellung in Strafsachen nicht maßgebend (RGSt. 67 225). Da § 37 nur die entsprechende Anwendung der Vorschriften der Zivilprozeßordnung vorschreibt, muß für jede einzelne von ihnen geprüft werden, ob sie sich nach ihrem Inhalt für die Anwendung im Strafverfahren eignet. Soweit das zutrifft, müssen die Vorschriften auch bei der Zustellung an die Staatsanwaltschaft nach § 41 beachtet werden (RGSt. 72 318). In der Zivilprozeßordnung handeln von der Zustellung die §§ 166 bis 213. § 261 b ZPO ist keine Zustellungsvorschrift und für das Strafverfahren auch nicht entsprechend anzuwenden (BayObLGSt. 1953 6 2 = NJW 1953 1316). 2. Nicht anwendbare Vorschriften. a) §§ 166, 168, 169. Eine Zustellung auf Betreiben der Parteien wäre allenfalls im Privatklageverfahren denkbar, findet aber dort nicht statt (§§ 382, 384 Abs. 1). Für das Verfahren bei unmittelbarer Ladung von Zeugen und Sachverständigen (§ 195 Abs. 1, § 220 Abs. 1, § 386 Abs. 2, § 397) entspricht § 38 dem § 166 Abs. 1 ZPO und sind § 166 Abs. 2, §§ 168, 169 ZPO unanwendbar. b) § 171. Der dem bürgerlichen Recht eigentümliche Begriff der Prozeßfähigkeit hat keine Bedeutung für den Beschuldigten. Im Verfahren bei Zustellungen wird weder zwischen dem volljährigen und minderjährigen (RG G A 41 401; JW 1893 582) noch zwischen dem geistig gesunden Beschuldigten und dem geisteskranken Antragsgegner unterschieden. Bedeutsam ist nur die Unterscheidung zwischen verhandlungsfahigen und verhandlungsunfahigen Beschuldigten. Auf Privatkläger und Nebenkläger ist der Begriff der Prozeßfähigkeit zwar anwendbar. Soweit jedoch ihre gesetzliche Vertretung stattfindet, (§ 374 Abs. 3, § 395 Abs. 1 Satz 1), steht der Vertreter an Stelle des Vertretenen und ist daher selbst Zustellungsempfänger. c) §§ 173 bis 175, § 192, § 213. Die Art des Strafprozesses verlangt, daß wider den Willen des Beteiligten nicht einem anderen als ihm selbst zugestellt wird; ein Bevollmächtigter kann ihm nicht aufgezwungen werden, soweit nicht ausdrücklich, wie in § 116a Abs. 3, § 127a Abs. 2, § 132 Abs. 1 Nr. 2 und in § 145a Abs. 1, eine besondere Regelung getroffen worden ist. Der Ausschluß der §§173 bis 175 macht es indessen nicht unmöglich, einen Zustellungsbevollmächtigten zu bestellen (6). d) §§ 176 bis 178. Die Vorschriften sind unanwendbar, weil es im Strafprozeß keine Prozeßbevollmächtigten gibt. Vergleichbare Sonderregelungen enthalten § 145a, § 378 Satz 2, § 397 Abs. 1, § 434 Abs. 1 Satz 2. 1

vom 17. 7. 1905 (RGBl. 1909,409).

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§ 37 Anm. 1 3 , 4

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e) § 189 (Zustellung für mehrere Beteiligte) findet keine Anwendung, weil für alle denkbaren Anwendungsfälle Sondervorschriften bestehen: § 146 Abs. 2, §218 Abs. 2, § 3 7 8 Satz 3, § 397, § 434 Abs. 1 Satz 2. 0 § 195 a ist wegen der bloßen Fiktion einer Zustellung für das Strafverfahren unanwendbar. Da keine Benachrichtigung stattfindet, ist er auch mit § 182 ZPO nicht zu vergleichen. g) §§ 196 bis 198. Die Zustellung unter Vermittlung der Geschäftsstelle (§ 196 ZPO) und von Anwalt zu Anwalt (§ 198) kommt im Strafverfahren nicht vor. Bei der unmittelbaren Ladung (§ 38) ist der Gerichtsvollzieher zu beauftragen, so daß deshalb § 197 ZPO ausscheidet. h ) § 2 1 0 a (Zustellung einer Rechtsmittelschrijt) Zivilprozesses abgestellt, nur für den Zivilprozeß.

gilt, weil auf den Parteibetrieb des

3. Beschränkt anwendbare Vorschriften. a) §§ 167, 170 Abs. 2 haben Bedeutung nur bei der unmittelbaren Ladung (§ 38), doch sind in § 167 Abs. 1 die Worte „die Geschäftsstelle zur Beauftragung eines Gerichtsvollziehers mit der Zustellung" unanwendbar. b) § 190 findet wegen der Sonderregelung in den §§ 212 ff. ZPO im allgemeinen keine Anwendung, hat aber für die unmittelbare Ladung (§ 38) Bedeutung. c) §§ 203 bis 207. Da § 40 eine Sondervorschrift für die öffentliche Zustellung an den Beschuldigten enthält, die für den Einziehungsbeteiligten entsprechend gilt, (433 Abs. 1), beschränkt sich die entsprechende Anwendbarkeit der die öffentliche Zustellung betreffenden Vorschriften der Zivilprozeßordnung im Strafverfahren auf die Zustellung an Beteiligte, die für den Beschuldigten Sicherheit geleistet haben (§ 124 Abs. 2 und 3), an Privatkläger und Nebenkläger. Die Zustellung ist von dem Gericht zu bewilligen, bei dem die Sache anhängig ist. Hat ein Nebenkläger Revision eingelegt, so ist bis zur Einsendung der Akten an das Revisionsgericht für den Beschluß über den Antrag der Staatsanwaltschaft, die öffentliche Zustellung an den Nebenkläger zu bewilligen, dasjenige Gericht zuständig, dessen Urteil der Nebenkläger angefochten hat (BayObLG DRiZ 1932 144). 4. Anwendbare Vorschriften. a) Allgemein. Die §§ 166 bis 213 ZPO gelten nicht unmittelbar, sondern über § 37 entsprechend, d. h. mit etwaigen durch die Notwendigkeiten des Strafverfahrens bedingten Einschränkungen oder Modifikationen. Die §§166 bis 207 (Zustellungen auf Betreiben der Parteien) wiederum gelten über § 208 ZPO nur insoweit entsprechend, als sich nicht aus dem Charakter der Zustellung, als einer von Amts wegen, Abweichungen ergeben. Danach sind im einzelnen anwendbar: b) § 170 Abs. 1 in Verbindung mit § 208 ZPO enthält die allgemeine Zustellungsregel. Die Vorschrift sagt nicht, wem die Ausfertigung oder Abschrift zu übergeben ist, doch ergibt § 181 Abs. 1 ZPO, daß „die Person, der zugestellt werden soll" gemeint ist. Ausnahmen von der Regel enthalten die §§ 181 bis 184 ZPO in bezug auf den Zustellungsempfänger und § 186 ZPO in bezug auf den Akt der Aushändigung. Die Strafprozeßordnung spricht nur in § 275 Abs. 4 von der Ausfertigung, in § 4 5 1 Abs. 1 dagegen von der beglaubigten Abschrift. Beide stehen einander gleich (RGSt. 9 274). Die Gültigkeit einer Zustellung wird nicht dadurch beeinträchtigt, daß an Stelle einer Ausfertigung eine beglaubigte Abschrift oder statt einer beglaubigten Abschrift eine Ausfertigung oder die Urschrift zugestellt wird. Dagegen genügt eine einfache Abschrift nicht (OLG Köln GA 1955 126). c) § 180. Die Vorschrift hat eine doppelte Bedeutung. Sie besagt einmal, daß die Zustellung nicht nur am Wohnsitz des Empfängers, sondern in jeder Ortschaft ausgeführt werden kann, wo er sich aufhält. Der andere Sinn ist aus der Streichung des früheren Absatzes 2 zu entnehmen. Danach konnte, wer Wohnung oder Geschäftslokal am Ort hatte, die 364

Vierter Abschnitt. Gerichtliche Entscheidungen (Dünnebier)

§ 37 Anm. I 5

Annahme der Zustellung außerhalb dieser Stätten verweigern. Die Streichung legt dem Worte Ort die Bedeutung von Stelle bei und macht klar, daß Zustellungen auf der Straße, auf dem Felde, bei einem Obdachlosen auf dem Arbeitsamt usw., zulässig sind. Ausnahmen hiervon enthalten die §§ 181 und 183 ZPO, die den Ort der Ersatzzustellung genau begrenzen. d) § 188. Bei einer von der Staatsanwaltschaft veranlaßten Zustellung (§ 36 Abs. 1 Satz 1) kann die Erlaubnis zur Zustellung an den ausgenommenen Zeiten neben dem Richter auch der Staatsanwalt erteilen. e) § 191 gewinnt für § 195 Abs. 2, § 211 Abs. 1, § 212 ZPO Bedeutung. f) §§ 193 bis 195. Die Vorschriften finden im Strafverfahren Anwendung mit den Änderungen und Einschränkungen, die sich aus den §§ 209 bis 212 ZPO für die Zustellung von Amts wegen ergeben. g) §§ 199 bis 200, 202. Das in § 202 vorgesehene Ersuchensschreiben hat die Behörde zu erlassen, die nach § 36 die Zustellung veranlaßt. Das Zeugnis nach § 202 Abs. 2 ZPO vertritt die Zustellungsurkunde des Gerichtsvollziehers. Es kann nicht durch ein Empfangsbekenntnis des Empfangers ersetzt werden, selbst wenn diesem ein Konsulatssiegel beigesetzt ist (RMilGE 16 203). Art. 5 Abs. 1 des Haager Abkommens gilt mangels Verweisung in § 37 nicht. h) §§ 208 bis 210, 211 bis 212 b. Diese Vorschriften behandeln die Zustellung von Amts wegen. Ihnen kommt, da im Strafverfahren, von geringfügigen Ausnahmen abgesehen (§ 38), alle Zustellungen von Amts wegen bewirkt werden, besondere Bedeutung zu. Wird nach § 3 6 Abs. 1 verfahren, dann hat die Geschäftsstelle der Staatsanwaltschaft, wird nach § 36 Abs. 2 verfahren, die Geschäftsstelle des Gerichts für die Zustellung Sorge zu tragen (§ 209 ZPO) und die Abschriften zu beglaubigen (§ 210). Doch ist es unschädlich, wenn die Ausfertigung eines Gerichtsbeschlusses anstelle des gerichtlichen der staatsanwaltschaftliche Urkundsbeamte beglaubigt hat (OLG Bamberg HESt. 3 3) und umgekehrt. Nur Urteilsausfertigungen kann allein der Urkundsbeamte der Geschäftsstelle des Gerichts unterschreiben (§ 275 Abs. 4). Die Zustellung nach § 212 a hängt vom Willen des Empfängers ab, das Schriftstück als zugestellt anzunehmen. Grundsätzlich ist anzunehmen, daß Behörden und Anwälte diesen Willen alsbald nach Eingang haben und durch Datierung und Unterschrift beurkunden. 5. Ersatzzustellung (§§ 181 bis 186). a) Grundsätzliche Anwendung. Die §§181 bis 186 ZPO gehören noch zu den in der vorigen Anmerkung behandelten Bestimmungen, die grundsätzlich entsprechend anzuwenden sind. Im einzelnen ist zu bemerken: b) § 181. Wohnung i. S. des § 181 ZPO ist ohne Rücksicht auf den Wohnsitz diejenige Räumlichkeit, die der Zustellungsempfanger zum Wohnen und nicht nur zum Aufenthalt benutzt (BayObLGSt. 1961 7 9 = JR 1961 271). § 181 ZPO findet nur Anwendung, wenn der Empfänger die Wohnung zur Zeit der Zustellung tatsächlich innehat. Ist er verzogen, kann nicht an den Hauswirt der alten Wohnung (OLG Neustadt GA 1955 348) oder an einen in der Wohnung verbliebenen Familienangehörigen (OLG Hamm JMB1NRW 1959 161; OLG Bremen MDR 1960 244) zugestellt werden. Es kommt auf die tatsächliche Wohnung an, nicht auf den Wohnsitz oder die Wohnungsanmeldung. Demzufolge sind Wohnwagen, Schiffe, Sommer- und Wochenendhäuser Wohnungen und kann ein Mensch mehrere Wohnungen haben und trotz Anmeldung und Belassen von Hausrat in einer Wohnung nicht wohnen, wenn er diese für längere Zeit verlassen hat, ohne die Absicht (BayObLGSt. 1961 7 9 = JR 1961 271) oder bei bestehender Absicht die Möglichkeit zu haben, jederzeit dorthin zurückzukehren. Daher ist eine Ersatzzustellung in der Wohnung eines Gefangenen (BGH NJW 1951 931; OLG Oldenburg MDR 1968 941) oder eines an einem anderen Ort dienenden Angehörigen der Bundeswehr (BayObLGSt. 1967 165 = NJW 1968 513) nicht wirk365

§ 37

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Anm. I 5 sam. Doch wird die Beziehung zur Wohnung nicht durch vorübergehende Entfernung (Besuchs-, Urlaubs-, Geschäftsreisen) und selbst nicht durch eine vorläufige Festnahme (OLG Hamm NJW 1962 264) aufgehoben, wenn nicht die Gewißheit einer andauernden Haft die Möglichkeit der Rückkehr für längere Zeit ausschließt. Auch wer sich außerhalb seiner Wohnung vor strafrechtlicher Verfolgung verbirgt, hebt dadurch allein nicht ohne weiteres die Beziehungen zu seiner Wohnung auf (RG H R R 1932 2327). Hauswirt i. S. des § 181 Abs. 2 ZPO ist auch dessen Vertreter gegenüber den Mietern (Verwalter, Hauswart, Hausvertrauensmann bei Genossenschaften). Den Ehefrauen der Genannten kann — auch mit ihrer Einwilligung — nicht zugestellt werden (RGRspr. 2 255), es sei denn, daß sie, was die Regel sein wird, diese in ihrer Funktion vertreten. Vermieter ist auch, wer einer Hausangestellten aufgrund des Dienstverhältnisses Wohnung gewährt (RGSt. 64 243). c) § 182. Eine Ersatzzustellung durch Niederlegung bei der Postanstalt (§ 182 ZPO) ist nicht deshalb unwirksam, weil der verreiste Zustellungsempfanger vor der Abreise die Post beauftragt hatte, während seiner Abwesenheit eingehende Postsendungen an den Absender zurückgehen zu lassen (BayObLGSt. 6 213). Die Wirksamkeit der Zustellung hängt aber davon ab, daß eine schriftliche Mitteilung über die Niederlegung in der bei gewöhnlichen Briefen üblichen Weise abgegeben wird. Da die Niederlegung die unsicherste Zustellungsart ist, genügt es nicht, wenn die Mitteilung über die Niederlegung in ein Postfach des Zustellungsempfängers eingelegt wird (BayObLGSt. 1962 2 2 2 = JR 1963 67). d) § 183. Die Wirksamkeit der Ersatzzustellung an die in § 183 ZPO bezeichneten Gehilfen im Geschäftsraum hängt davon ab, daß der Zustellungsempfänger in diesem Raum noch regelmäßig tätig ist (RG HRR 1937 2163), und daß sie innerhalb — nicht außerhalb — des Geschäftsraums vorgenommen wird (RG HRR 1926 1755). Die Hauswirtin des Geschäftslokals eines Rechtsanwalts ist selbst dann nicht seine Gehilfin, wenn sie Postvollmacht hat (OLG Braunschweig HESt. 3 5). e) §§ 184, 185. § 184 (.Ersatzzustellung an Behörden usw.) und § 185 ZPO (Verbot der Ersatz Zustellung an den Gegner des Zustellungsempfängers) erlangen vor allem bei der Zustellung an Privatkläger, Nebenkläger und Einziehungsbeteiligte Bedeutung. Doch gilt das zuletzt genannte Verbot auch für die Ersatzzustellung an eine Person, die durch die dem Angeklagten vorgeworfene Straftat unmittelbar verletzt ist (OLG Hamburg NJW 1964 678). f) Zustellung durch Übergabe. Die Vorschriften über die Ersatzzustellung gelten uneingeschränkt auch dann, wenn der Angeklagte bei der Verkündung des Urteils nicht anwesend gewesen ist (§ 231 Abs. 2, § 233 Abs. 1, § 247 Abs. 2, § 329 Abs. 1, § 387 Abs. 1, § 411 Abs. 1, § 412 Abs. 1, § 413 Abs. 4 in Verbindung mit § 411 Abs. 1, § 412 Abs. 1; BGHSt. 13 184; OLG Celle NJW 1960 931). Nur wenn Zustellung durch Übergabe vorgeschrieben ist (§ 232 Abs. 4), ist die Zustellung durch Niederlegung (§ 182 ZPO) ausgeschlossen, jede sonstige Ersatzzustellung aber zulässig (BGHSt. 11 152). Bei der Zustellung von Strafbefehlen und Strafverfügungen ist jede Ersatzzustellung, auch die nach § 182, zulässig (BVerfGE 25 165= NJW 19691104;26 318; BGHSt. 13 182)2. g) Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Die Gültigkeit einer Ersatzzustellung wäre im Strafprozeß ohne eine ergänzende Vorschrift eine untragbare Ungerechtigkeit. Die Ergänzung findet sich in § 44 Satz 2. Danach ist es als unabwendbarer Zufall anzusehen, wenn der Zustellungsempfanger von einer Zustellung ohne sein Verschulden keine Kenntnis erhalten hat. Tritt sohin auch bei fehlgegangener Zustellung gegebenenfalls zunächst eine nachteilige Folge ein, so behält diese jedoch keinen Bestand, wenn den Empfanger kein Verschulden trifft. Zufolge dieser Korrektur sind die Vorschriften über die Ersatzzustellung, 2

Der Streit über die Ersatzzustellung, der namentlich wegen der Zustellung von Strafbefehlen durch Niederlegung geführt worden ist, sollte durch die im Text genannten Entscheidungen als erledigt angesehen werden. Es bleibt bedenklich, daß jemand durch Strafbefehl zu einer zur Bewährung ausgesetzten Freiheitsstrafe verurteilt worden sein kann, ohne jemals davon etwas erfahren zu haben. D o c h müssen die gewiß seltenen Fälle dieser Art hingenommen werden. Wird vollstreckt, kann der Verurteilte Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragen.

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§ 37 Anm. I 6

die im Interesse eines glatten Geschäftsgangs nur schwer zu entbehren wären, durchaus tragbar. 6. Zustellungsbevollmächtigter. a) Grundsatz. Wenn auch, anders als im Zivilprozeß (§ 174 Abs. 1 ZPO), außer in den Fällen des § 116 a Abs. 3, § 127 a Abs. 2, § 132 Abs. 1 Nr. 2, keine Pflicht besteht, einen Zustellungsbevollmächtigten zu bestellen, so kann sich doch der Zustellungsempfänger der in jenen Vorschriften anerkannten Einrichtung auch in anderen Fällen als in den dort geregelten bedienen (RGSt. 43 321). Seitdem der Pflichtverteidiger, der mit Vollmacht versehene Wahlverteidiger (§ 145 a Abs. 1) und der Vertreter des Einziehungsbeteiligten (§ 434 Satz 2) als ermächtigt gelten, Zustellungen, außer Ladungen (§ 145 a Abs. 2), entgegenzunehmen, hat die Zustellungsvollmacht geringere Bedeutung. Sie kommt aber noch bei der Ladung zur Hauptverhandlung (RGSt. 43 321) oder wenn anderen Personen als Verteidigern Zustellungsvollmacht erteilt werden soll, in Betracht. Die Zustellungsvollmacht bleibt dem Gericht gegenüber so lange wirksam, bis diesem die Rücknahme zur Kenntnis gebracht worden ist, sei es durch eine Erklärung des Beschuldigten oder des Bevollmächtigten, sei es durch eine die Rücknahme darlegende konkludente Handlung (BayObLGSt. 6 11). Wegen der Zustellung an den Verteidiger und an den Vertreter des Einziehungsbeteiligten s. § 145 a, wegen der an den Vertreter des Privatklägers s. § 378; wegen der Zustellung bei mehreren Zustellungsempfängern s. II. b) Keine Ausnahmen. Eine feststehende Rechtsprechung schließt die Zustellung an einen Zustellungsbevollmächtigten aus, wenn der Nachweis der Zustellung dazu dient, „die persönliche Gestellung des Angeklagten zu ersetzen" (RGSt. 44 48), wenn sie „zum Zwecke der Bekanntmachung stattfindet" (RGSt. 19 390) oder „wenn sonst das rechtliche Gehör gefährdet" wäre (RGSt. 63 14). Danach soll die Zustellung an den Zustellungsbevollmächtigten unzulässig sein ( J a n e t z k e NJW 1956 620) bei der Anklageschrift (§ 201 Abs. I) 3 ; dem Beschluß, durch den der Angeklagte von der Verpflichtung entbunden wird, in der Hauptverhandlung zu erscheinen (§ 233 Abs. 1; RGSt. 44 48); der Ladung zur Verhandlung über die Berufung des Angeklagten (§ 323 Abs. 1 Satz 2; RGSt. 63 11); in Abwesenheit verkündeten Urteilen mit Ausnahme derjenigen der Revisionsgerichte (RGSt. 19 390; 34 331; 43 221; BGHSt. 15 265; BayObLGSt. 3 173) und bei Strafbefehlen und Strafverfügungen4. Ausnahmen werden anerkannt für die Zustellung an den in der Hauptverhandlung anwesenden Zustellungsbevollmächtigten eines bei der Urteilsverkündung nicht anwesenden Einziehungsbeteiligten (RGSt. 34 331; 53 327) und an den nach § 116a Abs. 3 bestellten Zustellungsbevollmächtigten eines bei der Urteilsverkündung abwesenden Angeklagten (RGSt. 77 212; a. A. S a r s t e d t 46). Auf der anderen Seite soll mit dem Ausschluß der Zustellung an einen Zustellungsbevollmächtigten „selbstverständlich . . . nicht gesagt sein, daß auch eine unter Umständen erforderliche Ersatzzustellung(§§ 181 ff. ZPO) ausgeschlossen wäre" (RGSt. 44 48), wozu — ausgenommen den Fall der Ubergabe (§ 232 Abs. 4) — auch die Zustellung durch Niederlegung bei der Post (§ 182 ZPO) gehört (BGHSt. 11 156). Soweit die Zustellung an den Verteidiger (§ 145a Abs. 1) und an den Vertreter des Einziehungsbeteiligten (§ 434 Abs. 1) vorzunehmen ist, ist die Rechtsprechung durch die Neufassung der genannten Bestimmungen überholt mit der einzigen Ausnahme des § 232 Abs. 4. Ferner ist Zustellung an die ausdrücklich zum Empfang von Zustellungen bestimmten Bevollmächtigten zulässig in den Fällen des § 116 a Abs. 2, § 127 a Abs. 2, § 132 Abs. 1 Nr. 2 sowie an den Vertreter des Privatklägers und des Nebenklägers. Aus der Regelung des § 145a Abs. 1 ist zu folgern, daß die Zustellung an Zustellungsbevollmächtigte auch zulässig ist, wenn sie keine Verteidiger sind. Denn wenn einer Person zugestellt werden kann, die kraft Gesetzes (nur) als ermächtigt gilt, Zustellungen entgegenzunehmen, muß sie erst recht an eine Person zulässig sein, die der Berechtigte dazu kraft seines Willens ermächtigt h a t . Er hat ihn ja gerade ausgewählt, um durch die Zustellung an einen Vertrauensmann alle Zufälligkeiten auszuschließen, wie sie namentlich der Ersatzzustellung anhaften. Wird dem 3 4

EbSchmidt 15; Müller-Sax 4 zu § 201. KleinknM 6 zu § 409; a. A. - wie hier - Müller Sax 5 zu § 409. 367

§ 37 Anm. I 7 , 8

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

Zustellungsbevollmächtigten der Aufenthalt des Vollmachtgebers unbekannt, so kann er die Vollmacht durch Anzeige an das Gericht niederlegen. 7. Zustellung in geschlossenen Unterkünften. a) Allgemein. Weder die Strafprozeßordnung noch die Zivilprozeßordnung enthält besondere Regeln über die Zustellung an Personen, die sich in geschlossenen Unterkünften befinden. Für die Zustellung gelten daher die allgemeinen Regeln, d.h. das Schriftstück ist grundsätzlich der Person, der zugestellt werden soll ( § 1 8 1 Abs. 1 ZPO), durch tatsächliche Übergabe (§ 170 Abs. 1 ZPO) selbst zuzustellen (OLG Colmar G A 51 207), sei es in der Unterkunft, die hier die Wohnung ( § 1 8 1 Abs. 1 Z P O ) ersetzt, sei es in deren Gelände (§ 180 ZPO). Nur wenn das nicht ausführbar ist, kann ersatzweise an den „Hauswirt oder Vermieter 4 ' zugestellt werden. Dabei ist nach Art der Unterkunft zu ermitteln, wer als Hauswirt oder Vermieter anzusehen ist. D a z u ist auf die tatsächliche Hausverwaltung abzustellen. In jedem Fall ist zu beachten, daß der längere Aufenthalt in einer geschlossenen Unterkunft die tatsächliche — wenn auch nicht rechtliche— Aufgabe der Privatwohnung herbeiführt, so daß in dieser in der Regel keine Ersatzzustellung bewirkt werden kann. Demzufolge kann an einen Straf- oder Untersuchungsgefangenen (BGH N J W 1951 931), an einen kasernierten Bundeswehrangehörigen, an den Insassen einer Lungenheilstätte 5 nicht in der beibehaltenen Privatwohnung im Wege der Ersatzzustellung zugestellt werden. b) In Strafanstalten ist der Gefängnisvorsteher oder sein Vertreter als Hauswirt anzusehen (RG DRpfl. 1939 122), doch kann nach den Umständen auch der Leiter der Geschäftsstelle, ja bei mangelnder Besetzung selbst der Torwachtmeister als Vertreter des Hauswirts in Betracht kommen. c) Die Zustellung in der Bundeswehr ist durch Erlaß des Bundesministers für Verteidigung vom 7. 6. 1957 (BAnz. Nr. 113 vom 15. 6. 1957, S. 2) geregelt. Nach diesem ist die Ersatzzustellung an den Hauptfeldwebel zu bewirken, weil dieser nach seinen dienstlichen Aufgaben dem Hauswirt oder Vermieter gleichzustellen ist. Dem ist zuzustimmen, doch wird der anwesende Kompanieführer eine an ihn bewirkte Zustellung nicht ablehnen dürfen. d) In Krankenhäusern, Heilstätten, Sanatorien und sonstigen Anstalten ist der Leiter Zustellungsempfanger, wird aber in der Regel durch Personal seines Büros oder eine Oberschwester vertreten sein. e) Kommissarische Gerichtswachtmeister. Wenn auch im allgemeinen erwartet werden kann, daß der Begriff „Hauswirt" großzügig in einer der einzelnen Unterkunft angepaßten Weise ausgelegt wird, so kann doch die Übertragung jenes Begriffs auf die Unterkunftsverwaltung zu Schwierigkeiten führen, weil er dorthin eigentlich nicht paßt. Es ist deshalb empfehlenswert, wenn die Landesjustizverwaltungen (§ 153 GVG) Beamte oder Angestellte staatlicher und städtischer Einrichtungen, die zur Aufnahme von Menschen dienen (Gefängnisse, Kranken-, Heil- oder Pflegeanstalten, Heime für Heranwachsende usw.), zu kommissarischen Gerichtswachtmeistern bestellen und ihnen die Ausführung der Zustellung übertragen. Alsdann kann die Zustellung nach §§ 211, 212 Z P O einfach und formgerecht durchgeführt werden. Dagegen ist die Zustellung an den Insassen einer Vollzugsanstalt, die von einem nicht zum Gerichtswachtmeister bestellten Gefangnisbeamten ausgeführt wird, unwirksam (BayObLGSt. 1965 7 = M D R 1965 597). 8. Zustellungen im Ausland sind nach Nr. 151 RiVASt. durch Ersuchen um Rechtshilfe an den ausländischen Staat im sog. kleinen Rechtshilfeverkehr zu bewirken. Ist der Zustellungsempfanger ein deutscher Staatsangehöriger, so kann in der Regel die deutsche Auslandsvertretung um Zustellung ersucht werden (Nr. 174 RiVASt.). Die Zuständigkeit, Ersuchen an ausländische Staaten im kleinen Rechtshilfeverkehr zu stellen, ist den Landesregierungen übertragen; diese haben das Recht der Weiterübertragung 6 . Ist die Tat, 5 6

B l ä s e , Die Förmlichkeit der Revision in Strafsachen, Nr. 193. Nr. 2 Buchst, c, Nr. 3 der Zuständigkeitsvereinbarung (BAnz. Nr. 78 vom 23. 4. 1952). Wegen der Übertragungen, meistens auf die Landgerichtspräsidenten und die Oberstaatsanwälte, vgl. G r ü t z n e r , Internationaler Rechtshilfeverkehr in Strafsachen I A 3.

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Vierter Abschnitt. Gerichtliche Entscheidungen (Dünnebier)

§ 37

Anm. I 9 wegen der die Zustellung begehrt wird, eine politische, eine mit einer politischen zusammenhängende Tat oder eine sog. fiskalische Straftat, dann ist im allgemeinen der Bund zuständig. 9. ZusteUungsmängel. a) Heilung (§ 187). Bei der Beurteilung von Zustellungsmängeln sollte man sich stets vor Augen halten (BGHSt. 10 62): „Keine Verfahrensvorschrift besteht . . . um ihrer selbst willen; jede dient einem bestimmten über sie hinausgreifenden Zweck. Die Zustellungsvorschriften sollen gewährleisten, daß die Urkunde dem Empfänger wirklich zugeht und daß der Beweis dafür sicher geführt werden kann." Wenn dieser Beweis erbracht ist, wird jeder Zustellungsmangel wie auch das Fehlen eines Zustellungsnachweises geheilt, wie § 187 Satz 1 ZPO bestimmt, der in die Gruppe der im Strafverfahren anwendbaren Bestimmungen gehört. Indessen gewinnt diese Vorschrift im Strafverfahren regelmäßig nur bei Ladungen Bedeutung. Denn § 187 Satz 1 ZPO gilt nicht, soweit durch die Zustellung der Lauf einer Notfrist in Gang gesetzt werden soll (§ 187 Satz 2 ZPO), und als Notfristen im Sinne des § 187 Satz 2 ZPO gelten die gesetzlichen Fristen (§ 37 Satz 2). Da nur die Entscheidungen zugestellt werden, durch die eine Frist in Lauf gesetzt wird (§35 Abs. 2), und gerichtliche Fristen (z.B. § 201 Abs. 1 Satz 1) keine bedeutsame Rolle spielen, ist der unmittelbare Anwendungsbereich von § 187 Satz 1 ZPO im Strafverfahren von geringerer Bedeutung. Zu Unrecht will das Oberlandesgericht Hamm (JMB1NRW 1959 161) die Mängelheilung ausschließen, wenn ein Strafbefehl zugestellt worden ist; dasselbe müßte für Strafverfügungen und — wie die Berufung auf RGSt. 63 12 zeigt — für Ladungen zur Berufungsverhandlung (§ 329 Abs. 1) und des Privatklägers (§ 391 Abs. 2) gelten. Indessen ist das Argument, daß die im Termin drohende Gefahr eine unmittelbare Ladung erheische, nicht durchschlagend. Hat § 187 Satz 1 ZPO im Strafverfahren auch unmittelbar wenig Bedeutung, so sollte sein Inhalt doch die Beurteilung von Zustellungsmängeln leiten. Im übrigen hat sich das Gewohnheitsrecht selbst gegenüber den Formvorschriften von § 187 Satz 2 ZPO, § 37 Satz 2 durchgesetzt: Zustellungen an Rheinschiffer sind kraft Gewohnheitsrecht auch dann wirksam, wenn sie in Abweichung von den gesetzlichen Vorschriften durch die Wasserschutzpolizei gegen Empfangsbekenntnis des Zustellungsempfängers vorgenommen werden (OLG Köln MDR 1954 11977). Das gleiche Gewohnheitsrecht ist für die Unterweser, die norddeutschen Küstenkanäle und die Seehäfen (OLG Bremen Rpfleger 1965 48) anerkannt. Nach Feststellung des Schiffahrtsobergerichts Hamm gilt es auf allen Wasserstraßen und in allen Häfen (NJW 1965 1613). Danach dürfte es für die Seeschiffahrt innerhalb des deutschen Hoheitsgebiets und für die gesamte Binnenschiffahrt gelten. b) Unwirksamkeit. Zustellungsmängel wiegen schwerer als Beurkundungsmängel; sie machen grundsätzlich die Zustellung unwirksam. Das ist z.B. der Fall, wenn Ersatzzustellung an einem Ort vorgenommen wird, wo der Zustellungsempfänger nicht wohnt (BayObLGSt. 1967 165); wenn eine unbeglaubigte Abschrift zugestellt wird; wenn niedergelegt wird, obwohl übergeben werden kann; wenn die Form der Ersatzzustellung gewählt wird, obwohl zu eigenen Händen des Empfangers zugestellt werden kann. Dagegen ist es nur ein unbedeutender Mangel, wenn statt an ein junges Hausmädchen an den erwachsenen Hauswirt oder wenn an die Ehefrau auf dem Trockenplatz statt in der Wohnung zugestellt wird. Fehlt es im Falle des § 36 Abs. 2 an einer „Veranlassung" des zuständigen (6 zu § 36) Richters, dann ist die Zustellung, weil der Zustellungswille des Richters nicht durch den des Urkundsbeamten ersetzt werden kann, unwirksam (2 zu § 36). Daraus folgt, daß eine Zustellung an den Angeklagten für die Fristberechnung außer Betracht bleibt, wenn der Richter die Zustellung nur an den Zustellungsbevollmächtigten verfügt, der Urkundsbeamte aber gleichwohl auch an den Angeklagten zugestellt hat (OLG Köln NJW 1962 1929). Da die Zustellung nicht nur Ubergabe, sondern die nach der gesetzlichen Regelung beurkundete Übergabe ist, ist die Zustellung auf jeden Fall dann unwirksam, wenn die 7

Die Entscheidung behandelt die Zustellung eines in Abwesenheit des Angeklagten ergangenen Urteils an diesen.

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§ 37 Anm. II 1,2

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

Übergabe überhaupt nicht (OLG Dresden GA 71 59) oder von einem zur Zustellung nicht ermächtigten Beamten (BayObLGSt. 1965 7 = MDR 1965 597) beurkundet wird; wenn wesentliche Teile der Urkunde, wie Datum oder Unterschrift, fehlen; oder wenn der Zustellungsbeamte in der Zustellungsurkunde eine andere Zustellungsart beurkundet, als er wirklich vorgenommen hat (BayObLGSt. 1962 257). Das gleiche ist der Fall, wenn der Vermerk über die Benachrichtigung in der Urkunde über eine Zustellung nach §§ 182, 191 Nr. 4 ZPO fehlt (OLG Bremen NJW 1955 643). Denn dann kann die zustellende Behörde nicht erkennen, ob das zuzustellende Schriftstück wenigstens durch die Benachrichtigung in den Bereich des Zustellungsempfangers gekommen ist. Die für eine verloren gegangene Zustellungsurkunde ausgestellte „Ersatzurkunde" beweist die Zustellung nicht (OLG Bremen MDR 1959 862). Dagegen wird die Wirksamkeit der Zustellung nicht dadurch beeinträchtigt, daß die Geschäftsstelle die Sendung entgegen § 211 ZPO mit einer unrichtigen Geschäftsnummer versieht (RGSt. 37 157); daß entgegen § 212 Abs. 1 ZPO der Tag der Zustellung auf der Sendung nicht vermerkt (RG JW 1909 277) oder daß der Grund für die gewählte Art der Ersatzzustellung in der Zustellungsurkunde nicht angegeben wird (RGZ 109 267). II. Mehrfache Zustellung. 1. Inhalt. Nach § 145a Abs. 1, der mit § 378 Satz 2 zu vergleichen ist, gelten der gewählte Verteidiger, dessen Vollmacht sich bei den Akten befindet, sowie der bestellte Verteidiger und nach § 434 Satz 2 der bevollmächtigte Vertreter des Einziehungsbeteiligten als ermächtigt, Zustellungen für den Beschuldigten in Empfang zu nehmen. Darüber hinaus kann sich der Zustellungsempfänger der durch § 116 a Abs. 3, § 127 a Abs. 2, § 132 Abs. 1 Nr. 2 anerkannten Einrichtung eines Zustellungsbevollmächtigten auch in anderen Fällen als den dort geregelten bedienen (I 6). Die Zustellung ist aber weder an den Verteidiger, der. als Zustellungsbevollmächtigter gilt, noch an den ermächtigten Zustellungsbevollmächtigten vorgeschrieben. § 176 ZPO, der bestimmt, daß dem bestellten Prozeßbevollmächtigten zugestellt werden muß, ist von den in Absatz 1 für anwendbar erklärten Vorschriften ausgeschlossen, weil der Zustellungsbevollmächtigte, der Verteidiger und der Vertreter des Einziehungsbeteiligten keine Prozeßbevollmächtigten sind (1 zu § 145a). Aus diesem Grunde können mehrfache Zustellungen vorkommen. Zwar sollten sie nach Möglichkeit vermieden werden (Nr. 153 Abs. 1 RiStBV), doch kann die Fürsorgepflicht sie in streng geprüften Ausnahmefällen gebieten ( D ü n n e b i e r 96). Für solche setzt die Vorschrift nicht etwa jedem Zustellungsempfänger eine eigene Frist (vgl. M a m r o t h JW 1919 998); sie geht vielmehr davon aus, daß eine einheitliche Frist gilt. Diese ist 8 nicht nach der ersten, sondern nach der letzten Zustellung zu berechnen. Das bedeutet, daß die durch die erste Zustellung in Lauf gesetzte Frist so lange läuft, bis auch die durch die letzte Zustellung eröffnete Frist abgelaufen ist. 2. Rechtskraft. Kommen auch in der Regel nicht viele, sondern nur zwei Zustellungsempfänger in Betracht, so ist doch nicht zu erzwingen, daß die Zustellung an sie gleichzeitig oder unmittelbar nacheinander angeordnet wird, wie das K o h l h a a s (NJW 1967 24) als Voraussetzung für die Anwendbarkeit der Vorschrift fordert. Da auf diese Weise das Ende des Zustellungsvorgangs ungewiß sein kann, begrenzt die herrschende Ansicht die Wirksamkeit der zuletzt bewirkten Zustellung. Sie räumt ihr Wirkung nur ein, wenn sie vor Ablauf der Frist angeordnet (KG JR 1967 110; 1968 391) oder gar bewirkt worden ist (BGHSt. 22 221; BayObLGSt. 1967 101 = NJW 1967 2124). Für solche Beschränkungen, die in vielen Fällen zur Verleugnung des Gesetzes führen, ist weder der Entstehungsgeschichte noch dem Gesetzeswortlaut etwas zu entnehmen. Sie würden dazu führen, daß in manchen Fällen der zweite Zustellungsempfanger sein Rechtsmittel nicht fristgemäß einlegen könnte 9 . Es ist auszuschließen, daß der Gesetzgeber für solche Fälle im Hinblick 8 9

im Gegensatz zum alten Recht; zuletzt O L G Köln NJW 1962 1929. Beispiel: Zur Eröffnung einer Wochenfrist wird an den Bevollmächtigten im Inland, an den Beschuldigten im Ausland zugestellt. — Die zugleich mit der Zustellung an den Bevollmächtigten auch an den Beschuldigten bewirkte Zustellung geht fehl, eine neue Zustellung kann erst bewirkt werden, nachdem die durch die erste Frist eröffnete Zustellung abgelaufen ist.

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Vierter Abschnitt. Gerichtliche Entscheidungen (Dünnebier) § 3 7 Anm. II 3 , 4 § 3 8 Anm. 1,2 auf die inzwischen eingetretene Rechtskraft im Gesetzestext nicht ersichtlich gemachte Ausnahmen von seiner Anordnung hätte zulassen wollen. Absatz 2 ist daher auf „alle denkbaren Fälle" ( M ü l l e r - S a x 4c) anzuwenden, auch wenn dadurch die Rechtskraft durchbrochen wird. 3. Empfangsberechtigte. Wirksam sind nur Zustellungen, die an Empfangsberechtigte bewirkt werden. Empfangsberechtigt sind der Betroffene (2 zu § 35 a), der Zustellungsbevollmächtigte (I 6 a), der Pflichtverteidiger sowie derjenige Wahlverteidiger, dessen Verteidigervollmacht — nicht notwendig zugleich Zustellungsvollmacht — sich bei den Akten befindet (2 zu § 145a). Zustellungen an Wahlverteidiger ohne Vollmacht zählen bei der Fristberechnung nicht mit. Wird nur e i n e Zustellung bewirkt, so ist sie die letzte und für die Fristberechnung auch dann maßgebend, wenn die in § 145a Abs. 4 vorgesehene Unterrichtung (entweder des Beschuldigten oder des Verteidigers) unterblieben ist (OLG Hamburg NJW 1965 1614). Absatz 2 betrifft nur Zustellungen an mehrere Empfangsberechtigte. Wird an denselben Empfangsberechtigten mehrfach zugestellt, so ist für die Fristberechnung die erste (wirksame) Zustellung maßgeblich (OLG Hamburg NJW 1965 1614)10. 4. Zustellung ist nur die gebotene, zumindest zulässige Zustellung. Die Zustellungsbehörde (§ 36) kann nicht dadurch gleichsam Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewähren, daß sie, nachdem eine Frist versäumt worden ist, demselben Empfangsberechtigten ein zweites Mal zustellt. Sie ist aber nicht gehindert, wenn sie einem von mehreren Empfangsberechtigten zugestellt und dieser die Frist versäumt hat, nunmehr einem anderen Empfangsberechtigten zuzustellen, dem sie vorher noch nicht zugestellt hatte. Sie sollte das allerdings nur tun, wenn die Doppelzustellung aus einem wichtigen Grunde geboten ist. Unwirksame Zustellungen eröffnen — was selbstverständlich ist — keine Frist. Unwirksam sind auch Zustellungen, die ohne Anordnung des dazu Berechtigten bewirkt worden sind (RGRspr. 9 42; RGSt. 47 115; OLG Köln NJW 1962 1929).

§38 Die bei dem Strafverfahren beteiligten Personen, denen die Befugnis beigelegt ist, Zeugen und Sachverständige unmittelbar zu laden, haben mit der Zustellung der Ladung den Gerichtsvollzieher zu beauftragen. 1. Unter der unmittelbaren Ladung wird im Strafverfahren die Ladung eines Zeugen oder Sachverständigen verstanden, die von dem Zustellungsbeamten nicht im Auftrag der Staatsanwaltschaft oder des Gerichts, sondern unmittelbar im Auftrag des Beschuldigten, des Privatklägers oder des Nebenklägers bewirkt wird. Die Befugnis, Zeugen und Sachverständige unmittelbar zu laden, ist geregelt in § 195 Abs. 1 (Ladung von Sachverständigen), § 220 Abs. 1 (Ladung von Zeugen), § 323 Abs. 1 (Berufungsverhandlung), § 298 Abs. 2 in Verbindung mit § 323 Abs. 1 (Berufung des gesetzlichen Vertreters), § 386 Abs. 2 (Privatklage), § 397 Abs. 1 (Nebenkläger), § 429 b Abs. 1 (Sicherungsverfahren), §433 Abs. 1 (Einziehungsverfahren); § 440 Abs. 3 (selbständiges Einziehungsverfahren); § 444 Abs. 2 Satz 2 (Verfahren bei Festsetzung von Geldbußen gegen juristische Personen und Personenvereinigungen). 2. Auftrag an den Gerichtsvollzieher. Wer unmittelbar zu laden berechtigt ist, muß den Gerichtsvollzieher beauftragen; er kann weder die Vermittlung der Geschäftsstelle in Anspruch nehmen noch die Post unmittelbar angehen (§ 196 ZPO). Dagegen kann der Gerichtsvollzieher seinerseits die Zustellung nach §§193 bis 195 ZPO durch die Post 10

A. A. für den Fall, daß die Entscheidung einmal ohne, ein zweites Mal mit Rechtsmittelbelehrung zugestellt worden ist, O L G Neustadt GA 1955 187; dagegen mit Recht O L G Saarbrücken NJW 1964 1633.

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§ 3 8 Anm. 3 § § 3 9 , 4 0 Anm. 1

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

bewirken; der Auftraggeber kann den Gerichtsvollzieher hierzu anweisen, um sich vor unnötigen Kosten zu schützen. Die Beteiligten können eine durch die Post auszuführende Zustellung jedem in der Bundesrepublik Deutschland angestellten Gerichtsvollzieher übertragen (§ 160 GVG). Nur wenn die Zustellung ohne Mitwirkung der Post stattfinden soll, muß ein Gerichtsvollzieher beauftragt werden, zu dessen Amtsbezirk der Bestimmungsort gehört. 3. Verfahren. Die Ladung wird ausgeführt durch Zustellung einer vom Auftraggeber unterschriebenen Ladungsschrift. Der unmittelbar geladene Zeuge oder Sachverständige ist zum Erscheinen nur verpflichtet, wenn ihm bei der Ladung die gesetzliche Entschädigung für Reisekosten und Versäumnis bar dargeboten oder deren Hinterlegung bei der Geschäftsstelle (Gerichtskasse) nachgewiesen wird (§ 220 Abs. 2). Der Gerichtsvollzieher hat daher auf Verlangen des Auftraggebers dem Geladenen bei der Zustellung entweder die Entschädigung gegen Quittung zu übergeben oder die Hinterlegungsbescheinigung mit zuzustellen (§ 51 Abs. 2 der Geschäftsanweisung für Gerichtsvollzieher). Der Gerichtsvollzieher führt jedoch die Zustellung auch dann aus, wenn ihm der Auftraggeber die Entschädigung weder zur Auszahlung übergeben noch sie hinterlegt hat. In diesem Fall darf die Ladung aber keinen Hinweis auf die gesetzlichen Folgen des Ausbleibens enthalten. Das ist in der Zustellungsurkunde ersichtlich zu machen (§ 51 Abs. 3 aaO).

§39 Die Vorschrift, in der die Landesjustizverwaltungen ermächtigt wurden, in gewissen Fällen einfachere Formen für den Nachweis der Zustellung zuzulassen, ist durch Art. 4 Nr. 7 des 3. StRÄndG als überholt (vgl. Begr., BTDrucks. I 3713, S. 46) aufgehoben worden.

§40 (1) Kann eine Zustellung an einen Beschuldigten, dem eine Ladung zur Hauptverhandlung noch nicht zugestellt war, nicht in der vorgeschriebenen Weise im Inland bewirkt werden, und erscheint die Befolgung der für Zustellungen im Ausland bestehenden Vorschriften unausführbar oder voraussichtlich erfolglos, so gilt die Zustellung als erfolgt, wenn der Inhalt des zuzustellenden Schriftstücks durch ein deutsches oder ausländisches Blatt bekanntgemacht worden ist und seit dem Erscheinen dieses Blattes zwei Wochen verflossen sind oder wenn das zuzustellende Schriftstück zwei Wochen an der Gerichtstafel des Gerichts des ersten Rechtszuges angeheftet gewesen ist. Die Auswahl des Blattes steht dem die Zustellung veranlassenden Beamten zu. (2) War die Ladung zur Hauptverhandlung dem Angeklagten schon vorher zugestellt, so gilt eine weitere Zustellung an ihn, wenn sie nicht in der vorgeschriebenen Weise im Inland bewirkt werden kann, als erfolgt, sobald das zuzustellende Schriftstück zwei Wochen an der Gerichtstafel des Gerichts des ersten Rechtszuges angeheftet gewesen ist. Von Urteilen und Beschlüssen wird nur der entscheidende Teil angeheftet. Entstehungsgeschichte: Durch § 22 der VO vom 4. 1. 1924 (RGBl. I 18) in Vbdg. mit der Bekanntmachung vom 22. 3. 1924 (RGBl. I 325) ist die Möglichkeit eingefügt worden, auch im Falle des § 40 Abs. 1 durch Anheften an die Gerichtstafel zuzustellen. Das VereinhG hat die Worte „Deutsches Reich" durch „Inland" und „Instanz" durch „Rechtszug" ersetzt (Art. 9 in Vbdg. mit Anl. 3 § 40). 1. Personenkreis. Die Vorschrift findet nur auf Zustellungen an den Beschuldigten Anwendung. Für Zustellungen an andere Beteiligte gelten die §§ 203 bis 207 ZPO (I 3 c zu § 37). Gegenüber dem Beschuldigten aber kann und muß gegebenenfalls nach § 40 verfahren werden, gleichviel, ob ihm eine Ladung, eine Entscheidung oder eine andere Mitteilung zuzustellen ist. Doch gewinnt § 40 bei Ladungen zur Hauptverhandlung nur Bedeu372

Vierter Abschnitt. Gerichtliche Entscheidungen (Dünnebier)

§ 40 Anm. 2, 3

tung, wenn der Beschuldigte auf die Ladung auch erscheint. Soll gegen einen Abwesenden verhandelt werden, was nur in dem sehr beschränkten Umfang des § 277 Abs. 2 möglich ist, dann gelten die Sondervorschriften der §§ 279, 280. Aus der Verwendung der Worte Beschuldigter (Absatz 1) und Angeklagter (Absatz 2) folgt nicht, daß die öffentliche Zustellung auf das Verfahren bis zur Rechtskraft beschränkt sein solle; auch der rechtskräftig Verurteilte wird Angeklagter genannt (§§ 362, 453, 453a, 465). Daher ist die öffentliche Zustellung auch bei einem Beschluß zulässig, durch den die bedingte Entlassung des Verurteilten widerrufen wird (OLG Karlsruhe NJW 1964 1086; Justiz 1966 187; OLG Hamburg GA 1960 152; OLG Düsseldorf JMB1NRW 1966 46). 2. Inland. Die Vorschrift linda nur Anwendung, wenn eine Zustellung an den Beschuldigten im Inland nicht bewirkt werden kann und im Ausland unausführbar ist. Inland sind nach dem Sprachgebrauch der Strafprozeßordnung, die bei einer Beschränkung auf die Bundesrepublik die Worte ,4m Geltungsbereich dieses Gesetzes" verwendet, die Gebiete der Bundesrepublik Deutschland, der DDR und beider Teile Berlins. 3. Voraussetzungen für die Anwendung. Die Anwendung der Vorschrift setzt in den Fällen beider Absätze voraus, daß die Zustellung nicht in der vorgeschriebenen Weise im Inland bewirkt werden kann, d. h. daß das zuzustellende Schriftstück nicht in die Hände des Empfängers gelangen werde (OLG Rostock GA 42 146). Diese Voraussetzung ist erfüllt, wenn der Aufenthalt des Beschuldigten unbekannt ist, sowie unter anderem auch dann, wenn er seinen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthaltsort aus dem Inland ins Ausland verlegt und im Inland einen Geschäftsbetrieb und einen Geschäftsraum für den Betrieb beibehalten hat, aber in diesem Raum selbst nicht mehr als Geschäftsinhaber regelmäßig tätig ist (RG HRR 1927 2163; K G DStR 1942 125), es sei denn, daß eine Zustellung im Inland an einen Zustellungsbevollmächtigten bewirkt werden kann (RGSt. 66 79). Die Zustellung kann auch dann nicht im Inland bewirkt werden, wenn eine inländische Stelle (etwa eine den Beschuldigten verwahrende Stelle in der DDR) die ordnungsgemäße Zustellung verhindert (Eb. S c h m i d t 4b). Doch wird die öffentliche Zustellung dann oft bedenklich und in der Regel nicht zweckmäßig sein. Hält sich der Beschuldigte im Auslande auf und ist sein dortiger Aufenthalt bekannt, so ist im Falle des Absatzes 1 weitere Voraussetzung, daß die Befolgung der für Zustellungen im Ausland bestehenden Vorschriften unausführbar erscheint oder keinen Erfolg verspricht; im Falle des Absatzes 2 dagegen bedarf es dieser Feststellung nicht. Die Voraussetzungen für die beiden Fälle sind verschieden gestaltet, weil von dem Beschuldigten, dem die Ladung zur Hauptverhandlung in der vorgeschriebenen Weise im Inland zugestellt worden ist (Absatz 2), verlangt werden muß, daß er sich um den Fortgang des Verfahrens bekümmere und die gesetzlich vorgeschriebene Zustellung im Inland für die weiteren Mitteilungen ermögliche. War der Angeklagte zur Hauptverhandlung des ersten Rechtszuges nach den für Zustellungen im Inland bestehenden Vorschriften geladen worden, so kann demzufolge auch dann nach Absatz 2 verfahren werden, wenn der Angeklagte seinen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthaltsort aus dem Inland in das Ausland erst verlegt, nachdem er das im ersten Rechtszug ergangene Urteil mit der Berufung angefochten hat (RG JW 1927 2040) oder wenn nach Einlegen der Berufung (RGSt. 65 417; 66 79; K G NJW 1969 475) oder Revision, sei es, daß der Angeklagte (BayObLGSt. 1952 126), sei es, daß die Staatsanwaltschaft (BayObLGSt. 1962 85 = JR 1962 309) das Rechtsmittel eingelegt hat, sein Aufenthalt unbekannt geworden ist. In dem zuerst genannten Falle ist das Gericht nicht verpflichtet, dem Angeklagten, der einen neuen Wohnsitz im Ausland begründet hat, nach seinem bekannten ausländischen Aufenthaltsort Nachricht von einer an ihn ergangenen öffentlichen Zustellung zugeben (OLG Köln HRR 1931 1616). Andererseits verliert eine nach § 40 erlassene öffentliche Ladung ihre Wirksamkeit, wenn der Aufenthaltsort des Angeklagten dem Gericht bekannt wird, bevor es in die Verhandlung, zu der er öffentlich geladen ist, eintritt. Uberhaupt ist es Pflicht des Gerichts, in jeder Lage des Verfahrens mit allen zu Gebote stehenden Mitteln dem Aufenthalt des Beschuldigten nachzuforschen, damit die für die Zustellung im Inland gegebenen Vorschriften angewandt werden können und die stets mit Gefahren verbundene öffentliche Zustellung sich erübrigt (OLG Hamm GA 1960 152). Daher ist ein Rückbrief mit dem Vermerk „Empfänger unbekannt verzogen" keine ausreichende Grundlage, die öffentliche Zustellung anzuordnen (OLG Köln NJW 1956 642). 373

§ 4 0 Anm. 4, 5 § 4 1 Anm. 1

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

4. Art der öffentlichen Zustellung. Die öffentliche Zustellung muß nach § 37 in Vbdg. mit § 204 Abs. 1 ZPO durch das mit der Sache befaßte Gericht — nicht seinen Vorsitzenden — angeordnet werden (OLG Hamm JMB1NRW 1958 262), soweit nicht das Gesetz selbst die Anordnung trifft, wie in den §§ 279, 280 (3 a zu § 279). Zuständig ist das Gericht, bei dem die Sache anhängig ist, in Revisionssachen dasjenige Gericht, dessen Urteil angefochten wird, bis zur Abgabe der Akten ans Revisionsgericht (BayObLG DRiZ 1932 111). In beiden Fällen des § 40 genügt es zur Bewirkung der öffentlichen Zustellung, daß das zuzustellende Schriftstück zwei Wochen lang an der Gerichtstafel des Gerichts des ersten Rechtszuges angeheftet gewesen ist. Das zuzustellende Schriftstück besteht in einer Ausfertigung oder einer beglaubigten Abschrift (I 4b Abs. 2 zu § 37). Das Schriftstück muß in den beiden Fällen immer, auch wenn der Angeklagte vor ein Gericht des höheren Rechtszuges geladen werden soll, an der Gerichtstafel des Gerichts des ersten Rechtszuges angeheftet werden; das Anheften an der Gerichtstafel des höheren Rechtszuges oder eines niederen Gerichts (Amtsgericht, wenn die Verhandlung in erster Instanz vor dem Landgericht stattgefunden hat; OLG Hamm GA 1960 152) hat keine Wirkung. Erster Rechtszug ist die erste Instanz in der konkreten Sache, bei Strafkammeranklagen also das Landgericht (OLG Hamm GA 1960 152). Es ist Sache der Geschäftsstelle, das Schriftstück anzuheften, wieder abzunehmen, wenn es lange genug angeheftet war, und dann auf ihm zu bescheinigen, daß es zwei Wochen lang an der Gerichtstafel angeheftet gewesen ist. § 206 Abs. 3 ZPO, nach dem es auf die Gültigkeit der Zustellung keinen Einfluß hat, wenn das anzuheftende Schriftstück vom Ort der Anheftung zu früh entfernt wird, ist nicht anwendbar. Vielmehr gilt die Zustellung in beiden Fällen als in dem Zeitpunkt bewirkt, mit dem die zweiwöchige Frist abgelaufen ist, so daß, wenn von der Zustellung der Lauf einer Frist abhängt, diese nach §§ 4 2 , 4 3 mit dem Tag beginnt, der auf jenen Zeitpunkt folgt. Bundeseinheitliche Vorschriften über das Verfahren beim Anheften an die Gerichtstafel in Strafsachen sind nicht erlassen. Die entsprechende Anwendung von Nr. 44 Abs. 1 PrZusatzBest. zur AktO bietet sich an. Im Fall des Absatzes 1 kann der Richter, der die Zustellung nach § 36 StPO veranlaßt, die Bekanntmachung des Inhalts der zuzustellenden Schrift durch ein deutsches oder ausländisches Blatt statt der Anheftung an der Gerichtstafel oder neben ihr als Art der öffentlichen Zustellung bestimmen. Im Sinne des Absatzes 2 Satz 2 stehen Verfügungen den Beschlüssen gleich. Die Entscheidungsgründe brauchen in die zuzustellende Schrift in keinem Fall aufgenommen zu werden, also auch dann nicht, wenn öffentlich zugestellt wird, nachdem ein Rechtsmittel eingelegt worden war (OLG Königsberg HRR 1930 1423). Im Verfahren gegen Abwesende gilt die Sondervorschrift des § 282 a Abs. 1 Satz 2. 5. Beschwerde, (etwa durch den Verteidiger) gegen die Anordnung der öffentlichen Zustellung ist nach dem klaren Wortlaut des § 304 Abs. 1 statthaft. Es ist ein Mangel des Gesetzes, daß nicht die sofortige Beschwerde vorgeschrieben ist. Die Beschwerde ist ausgeschlossen, wenn das erkennende Gericht (6, 7 zu § 28) die Zustellung angeordnet hat (§ 305 Satz 1).

§41 Zustellungen an die Staatsanwaltschaft erfolgen durch Vorlegung der Urschrift des zuzustellenden Schriftstücks. Wenn mit der Zustellung der Lauf einer Frist beginnt, so ist der Tag der Vorlegung von der Staatsanwaltschaft auf der Urschrift zu vermerken. 1. Zustellung an die Staatsanwaltschaft. Ein Schriftstück kann der Staatsanwaltschaft nur auf zwei Wegen zugestellt werden, nämlich entweder förmlich nach § 37 unter Einhaltung der Vorschriften der Zivilprozeßordnung über Zustellungen oder — das ist die Regel — in der vereinfachten Form des § 41, d. h. durch Vorlegung der Urschrift des zuzustellenden Schriftstücks. Dagegen erfüllt das formlose Zusenden oder Vorlegen einer Ausfertigung oder beglaubigten Abschrift die Erfordernisse der Zustellung nicht (RGSt. 61 352; OLG Köln JMB1NRW 1967 118). Bei der Zustellung kommt es nicht auf den Willen und das Handeln des Beamten an, dem zugestellt werden soll, sondern allein auf den Willen und die 374

Fünfter Abschnitt. Fristen und Wiedereinsetzung (Dünnebier) § 4 1 Anm. 2 V o r § 4 2 Anm. I 1,2 Vorstellung des zustellenden Beamten, sofern nur der Zustellungswille der zustellenden Behörde einen erkennbaren Ausdruck gefunden hat (RGSt. 57 55; OLG Koblenz HESt. 3 7). Ob aufgrund des erkennbaren Zustellungswillens in dem Beamten, dem das Schriftstück zugestellt wird, eine bestimmte Vorstellung über den Zweck der Zustellung erwachsen ist, ist ohne Bedeutung (OLG Hessen HESt. 2 125). Wird der Staatsanwalt, dem zugestellt werden soll, in seinem Geschäftsraum nicht angetroffen, so kann zufolge § 184 ZPO einem Beamten der Geschäftsstelle zugestellt werden. Der Behördenleiter ist allgemein als verhindert anzusehen (RGSt. 72 317). Es entspricht gewohnheitsrechtlicher Übung, daß ein Zustellungsversuch bei ihm nicht unternommen wird. Die Zustellung ist vielmehr bewirkt, wenn die Urschrift mit Zustellungswillen der zustellenden Behörde bei der Geschäftsstelle der Staatsanwaltschaft eingeht (Nr. 158 Satz 4 RiStBV). Gebräuchlich und allein zweckmäßig ist es, wenn das Schriftstück mit den Akten vorgelegt wird, weil die Staatsanwaltschaft alsbald weitere Vorkehrungen zu treffen haben wird, zu denen sie in der Regel die Akten benötigt. 2. Vermerk auf der Urschrift. Die dahingehende Anordnung in Satz 2 ist eine Verwaltungsvorschrift, die nicht ins Gesetz gehört. Der Lauf einer Frist beginnt im Falle des § 41 an dem Tag, an dem die zum Zwecke der Zustellung vorgelegte Schrift bei der Staatsanwaltschaft eingeht, ohne Rücksicht darauf, wann der Leiter der Behörde, sein Stellvertreter oder der sachbearbeitende Staatsanwalt Kenntnis davon erhält, daß die Schrift zur Zustellung vorgelegt worden ist; eine entgegenstehende Anordnung des Behördenleiters (RGSt. 72 317) oder des Geschäftsstellenleitefs (OLG Hamm GA 1957 183) ist unerheblich. Für den Fristbeginn kommt es allein darauf an, wann die zuzustellende Schrift der Staatsanwaltschaft tatsächlich vorgelegt worden ist. § 41 Satz 2 verpflichtet die Staatsanwaltschaft zwar, den Vorlagetag auf der Urschrift zu vermerken; doch kann die Staatsanwaltschaft nicht dadurch Einfluß auf den Beginn der Frist ausüben, daß sie dieser Pflicht nicht ordnungsmäßig nachkommt. Der Lauf der Frist beginnt mit dem Tag der tatsächlichen Vorlage sowohl dann, wenn die Staatsanwaltschaft es versäumt oder sich weigert, diesen auf der ihr vorgelegten Schrift zu vermerken, als auch dann, wenn sie einen früheren oder späteren Tag dafür auf der Schrift angibt (RGSt. 57 55; 61 352; OLG Marienwerder GA 51 70; K G GA 67 461; OLG Hessen HESt. 2 125). Bei einer Reform sollte Satz 2 gestrichen werden.

F Ü N F T E R ABSCHNITT Fristen und Wiedereinsetzung in den vorigen Stand Vorbemerkungen I. Fristen. 1. Allgemein. In der Strafprozeßordnung kommen teils Fristen vor, mit denen das Gesetz die Wirksamkeit gewisser Handlungen davon abhängig macht, daß die Verfahrensbeteiligten diese vor dem Ablauf einer, von einem bestimmten Ereignis an laufenden Frist vornehmen (Handlungs-, namentlich Erklärungsfristen), teils solche, die der Richter oder Staatsanwalt in der Weise innezuhalten hat, daß er entweder eine Handlung nicht vor Fristablauf vornehmen darf oder sie innerhalb einer bestimmten Frist vornehmen soll oder muß (Zwischenfristen). Zu den letzteren gehören die Ladungsfristen ( § 2 1 2 a Abs. 3 Satz 3, § 2 1 7 Abs. 1), die Frist bei der öffentlichen Zustellung (§ 40) und die Fristen, innerhalb deren eine bestimmte richterliche Handlung vorgenommen werden soll (§ 98 Abs. 3, § 115 Abs. 2, § 115 a Abs. 2 Satz 1, § 128 Abs. 1, § 129, § 275 Abs. 1) oder vorgenommen sein muß, wenn nicht eine vorhergehende vorläufige Anordnung außer Kraft treten soll (§ 100 Abs. 2). 2. Handlungsfristen. Die von den Beteiligten wahrzunehmenden Fristen, meist Erklärungsfristen, sind teils gesetzliche, d. h. solche, deren Dauer das Gesetz allgemein bestimmt und die von einem bestimmten Verfahrensvorgang, etwa von der Verkündung oder Zustel375

Vor § 4 2 Anm. I 3; II 1,2

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

lung einer Entscheidung an zu laufen beginnen, teil richterliche, d. h. solche, deren Beginn und Dauer der Richter im einzelnen Fall durch Verfügung festsetzt. Die Dauer der gesetzlichen Fristen beträgt regelmäßig eine Woche (§45 Abs. 1, § 235 Satz 1, § 3 1 1 Abs. 2 Satz 1, § 314 Abs. 1, § 317, § 319 Abs. 2, § 341 Abs. 1, § 346 Abs. 2, § 409 Abs. 1, § 413 Abs. 4 in Vbdg. mit § 409 Abs. 1), ist aber ausnahmsweise auch länger (§ 172 Abs. 1: zwei Wochen; § 172 Abs. 2 Satz 1, § 345 Abs. 1: ein Monat). Richterliche Fristen sind z. B. vorgesehen in § 123 Abs. 3, § 201 Abs. 1 Satz 1, § 368 Abs. 2, § 379a Abs. 1, § 382. Der Lauf einer solchen Frist beginnt, wenn nicht im einzelnen Fall etwas anderes bestimmt wird, mit der Bekanntmachung der die Frist setzenden Verfügung (§ 35); die Frist kann aber auch so bestimmt werden, daß sie mit einem in der Verfügung festgelegten Tag endigt. Gesetzliche Fristen können nicht verlängert werden. Eine gleichwohl gewährte Verlängerung ist wirkungslos, wird aber in der Regel die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand begründen. Dagegen ist bei richterlichen Fristen im Recht des Richters, ihre Dauer zu bestimmen, auch die Befugnis enthalten, die ursprünglich gesetzte Frist auf Antrag oder von Amts wegen zu verlängern, jedoch nur, wenn sie noch nicht abgelaufen ist. 3. Prozeßabschnitte. Außerhalb der gesetzlichen Fristen im Sinne dieses Abschnitts stehen die auf einen Prozeßabschnitt abgestellten Handlungsfristen (§§ 16, 25, 303, 388 Abs. 1, § 391 Abs. 1 Satz 2). Sie sind Ausschlußfristen dergestalt, daß die in Rede stehende Prozeßhandlung schlechthin unzulässig und Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ausgeschlossen ist, wenn die Handlung erst nach Eintritt der im Gesetz genannten Verfahrenslage vorgenommen wird. II. Wahrung der Erklärungsfristen. 1. Mündliche Erklärungen. Wird eine Erklärung mündlich zur Niederschrift bei Gericht abgegeben, so ist die Frist gewahrt, wenn die Erklärung innerhalb der Frist von einem Urkundsbeamten des zuständigen Gerichts niedergeschrieben wird. Die Zeit des Eingangs bei Gericht wird durch die Zeitangabe in der Niederschrift festgestellt. Ist die Erklärung eine solche, die auch privatschriftlich abgegeben werden kann, so genügt die Aufnahme des Protokolls auch durch eine unzuständige Stelle, doch kommt es dann wie bei schriftlichen Erklärungen auf den Eingang bei der zuständigen Stelle an. Der Nachweis, daß das Datum unrichtig sei, ist zulässig. Wird die Erklärung jedoch im Laufe einer Hauptverhandlung gegeben, etwa ein Rechtsmittel auf das Strafmaß beschränkt, so nimmt die Erklärung, auch hinsichtlich des im Protokoll angegebenen Datums, an der erhöhten Beweiskraft des Hauptverhandlungsprotokolls (§ 274) teil (RGSt. 66 419). Wird die Erklärung indessen nach Abschluß der Hauptverhandlung abgegeben, aber — was nicht verlangt werden kann — noch ins Hauptverhandlungsprotokoll aufgenommen, dann findet § 274 keine Anwendung; die Behauptung, das Datum sei falsch beurkundet, ist in freier Beweiswürdigung zu beurteilen (RGSt. 40 134). 2. Telefonische Erklärungen. Fernmündliche (telefonische) Erklärungen sind auch dann nicht dem Schriftverkehr zuzurechnen, wenn die empfangende Behörde über sie eine Urkunde errichtet. Zwar kann der Erklärende einen anderen mündlich und auch fernmündlich ermächtigen, in seinem Namen eine Urkunde aufzusetzen. Indessen ist die behördliche Niederschrift über ein Ferngespräch eine Urkunde, die die Behörde kraft eigener Zuständigkeit und nicht kraft Ermächtigung errichtet. Telefonische Erklärungen sind daher, weil es an einer Sonderregelung fehlt, nur in Betracht zu ziehen, wenn die Erklärung nicht schriftlich sein muß, sondern entweder formfrei ist oder bei Formzwang zur Niederschrift der Geschäftsstelle erklärt werden kann (Hauptfalle: § 306 Abs. 1 in Vbdg. mit § 311 Abs. 2, §314 Abs. 1, § 341 Abs. 1). Die ältere Rechtsprechung sah fernmündliche Rechtsmittel überwiegend als wirkungslos a n I h r kann indessen nicht voll beigetreten werden. Sie beruft sich auf die Unsicherheit der Identitätsfeststellung und die Möglichkeiten von Irrtümern im fernmündlichen Verkehr ' R G S t . 38 282; OLG Hamm NJW 1952 277: OLG Frankfurt NJW E b S c h m i d t 6 zu § 314; S e i b e r t DRiZ 1952 8.

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1953

1118; ebenso

Fünfter Abschnitt. Fristen und Wiedereinsetzung (Dünnebier)

Vor § 42 Anm. II 3

sowie auf § 188 Abs. 2, nach welchem die Protokollaufnahme eine Verhandlung voraussetze, die nur bei persönlichem Erscheinen möglich sei. Das letztere ist eine unbegründete Behauptung, die zuerst genannten Argumente müßten auch — und noch mehr — die fernmündliche Telegrammaufgabe ausschließen, die die Rechtsprechung jedoch seit langem zugelassen hat. Mit Rücksicht auf den tatsächlichen Ablauf der Arbeit in den Geschäftsstellen, auf die dadurch und durch sonstige Störungen möglichen Irrtümer und den Mangel einer gesetzlichen Regelung wird man dem Urkundsbeamten freilich das Recht zugestehen müssen, die fernmündliche Protokollaufnahme abzulehnen. Findet er sich aber bereit, sie aufzunehmen, steht das fernmündlich zustande gekommene Protokoll in seiner Wirksamkeit einem anderen nicht nach (OLG Schleswig N J W 1963 1455; O L G Düsseldorf N J W 1969 1361; O L G Celle N J W 1970 107) 2 . Der Urkundsbeamte sollte ein Protokoll fernmündlich nur aufnehmen, wenn er den Sprechenden an der Sprache identifizieren und gut verstehen kann und wenn die übermittelte Erklärung nur kurz ist. 3. Schriftliche Erklärungen. a) Grundsatz. Bei schriftlichen Erklärungen ist die Frist auf jeden Fall gewahrt, wenn sie innerhalb der Frist in die Hände eines Beamten gelangen, der nach den Dienstvorschriften oder dem Dienstgebrauch befugt ist, sie für die zuständige Behörde zu empfangen und mit dem Eingangsvermerk zu versehen (RGRspr. 2 613; RGSt. 22 124). Ob der Beamte und wann das Gericht von den Erklärungen Kenntnis nimmt, ist bedeutungslos (RGSt. 44 351). Nimmt ein solcher Beamter (oder ein mit derartigen Geschäften beauftragter Angestellter) ein Schriftstück entgegen, dann ist es gleichgültig, ob er das innerhalb oder außerhalb der Geschäftsstunden und innerhalb oder außerhalb des Gerichtsgebäudes tut (RGSt. 31 6). Die Zeit des Eingangs wird durch den Eingangsvermerk beurkundet; der Nachweis der Unrichtigkeit ist zulässig. Die tatsächliche Gestaltung des Dienstbetriebes kennt jedoch in der Regel den Empfang bei dem Eingangsbeamten des Gerichts nicht mehr, vor allem, wenn mehrere Behörden in einem und demselben Gebäude untergebracht sind. Eingangsstellen und Briefkästen dienen nicht mehr allein zur Bequemlichkeit des Publikums; sie sichern vor allem einen ungestörten Geschäftsbetrieb. Die Behörden betrachten daher — wenn auch nicht regelmäßig, so doch in mehreren Fällen (c) — Schriftstücke schon dann als eingegangen, wenn sie an den dafür vorgesehenen Stellen niedergelegt worden sind. In diesen Fällen bewirkt der Eingangsstempel nicht den Empfang, sondern bescheinigt ihn nachträglich 3 . Sinnfällig wird das besonders bei einem vor Mitternacht in einen Nachtbriefkasten eingeworfenen Schriftstück, das erst am anderen Tage den Eingangsstempel des voraufgegangenen Einwurftages erhält. Danach kommen folgende vor dem Schreibtisch des Empfangsbeamten liegende Möglichkeiten in Betracht: b) Post. Wird die Schrift durch eingeschriebenen Brief übersandt und dieser in der Weise zugestellt, daß dem zuständigen Beamten der Einlieferungsschein ausgehändigt, ihm aber überlassen wird, den Brief bei der Post abzuholen, dann erhält die empfangende Behörde mit der Aushändigung des Scheins die Verfügungsgewalt über den Brief und ist dieser damit in diesem Zeitpunkt bei ihr eingegangen (RGSt. 44 351). c) Briefkästen. Für das Bereithalten von Briefkästen ist, obwohl die Entwicklung dahin drängt, zur Zeit noch nicht allenthalben (Ausnahme: Nachtbriefkasten) anerkannt, daß es die Erklärung enthält, die Behörde nehme das eingeworfene Schriftstück mit dem Einwurf entgegen (so BVerwGE 18 5 1 = N J W 1964 1239). Vielmehr wird noch auf die Leerung abgestellt oder, wenn diese unterbleibt, auf den Zeitpunkt, wo die Leerung üblicherweise stattfindet (BayObLGSt. 1968 87 = NJW 1969 201; BayObLGSt. 1968 105 = N J W 1969 202). Sind Briefkästen auch in der Nacht benutzbar (Nachtbrieflcästen), wofür die 2

3

Ebenso M a s c h k e DRiZ 1930 14; S c h ö n k e JZ 1953 180; D a h s NJW 1952 276; R ö t e l m a n n Rpfleger 1953 251; M ü l l e r - S a x 2 c zu § 3 1 4 ; K l E i n l . 5 G. A. A. die ältere Rechtsprechung RGRspr. 2 613, 6 85; RGSt. 10 74, 22 124, 31 5; K G JW 1916 1550; O L G Dresden G A 64 564.

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Vor § 4 2 Anm. II 4 , 5

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

Verwaltung Sorge zu tragen hat, so müssen sie mit Einrichtungen versehen sein, welche die Trennung der vor und nach Mitternacht eingegangenen Post gewährleisten. Denn wer Nachtbriefkästen zur Verfügung stellt, erklärt damit seine Bereitschaft, Briefe mit dem Einwurf entgegenzunehmen (BGHZ 2 32; BayObLGSt. 1968 105 = NJW 1969 202). Daraus folgt: Ist der Brief vor Mitternacht eingeworfen worden, ist er — wenn das auch oft schwer zu beweisen .ist — auch dann am Tage des Einwurfs eingegangen, wenn die Trennvorrichtung versagt hat (BayObLGSt. 1968 106 = NJW 1969 202). Bei Briefkästen, die mehreren Behörden gemeinsam sind, nimmt mit der Entnahme, bei Nachtbriefkästen mit dem Einwurf, die zuständige Stelle an, falls auch sie sich im Hause befindet, gleichgültig, welche Aufschrift das Schriftstück trägt (Staatsanwaltschaft anstelle von Gericht, Landgericht anstelle von Oberlandesgericht), wenn nur aus seinem Inhalt für einen mit den Prozeßvorschriften Vertrauten der richtige Empfanger ermittelt werden kann 4 . d) Briefannahmestelle. Das Personal der Briefannahmestelle ist stets empfangsberechtigt, ist die Annahmestelle für mehrere Behörden errichtet, für jede von ihnen, auch wenn nach Verteilung der Post auf die beteiligten Behörden dort ein zweiter Annahmevermerk angebracht wird. Es kommt nur auf den der Annahmestelle an. Im übrigen gilt hier das gleiche wie beim Briefkasten: Die Annahmestelle nimmt unabhängig von der Anschrift für die zuständige Behörde an (OLG Bremen NJW 1950 395; K G JR 1955 152; S a r s t e d t JR 1954 391; M ü l l e r - S a x 4 a Abs. 2) 5 . 4. Telegramme. Erklärungen können auch durch Telegramm abgegeben werden (RGSt. 9 39, 38 283, 57 280, 62 53, 63 246). Dabei wird das am Ankunftsort angefertigte Telegramm als die vom Aussteller unter Benutzung der Einrichtungen und des Personals der Post errichtete und — von der Post mit Ermächtigung des Ausstellers — unterschriebene Urkunde angesehen (RGSt. 8 97). Demzufolge ist es nicht erforderlich, daß die Ermächtigung zur Herstellung dieser Urkunde schriftlich gegeben wird; es genügt, wenn das Telegramm fernmündlich aufgegeben wird (BGHSt. 8 174). Entgegen einer verbreiteten Ansicht (Nachweise BGHSt. 14 235) genügt auch für den Eingang die fernmündliche Durchgabe des Telegramminhalts an einen zur Entgegennahme zuständigen und bereiten Beamten der empfangenden Behörde 6 . Zwar kann dabei nicht allein auf das Übliche abgestellt, auch kann nicht die fernmündliche Ermächtigung zur Errichtung der Urkunde mit der fernmündlichen Mitteilung ihres Inhalts verglichen werden. Wenn aber ein Brief unbekannten Inhalts als eingegangen behandelt wird, falls nur der Empfanger die Verfügungsgewalt über ihn erlangt hat (RGSt. 44 351), so muß erst recht die Telegrammurkunde als eingegangen angesehen werden, wenn die empfangende Behörde den Inhalt kennt und durch die fernmündliche Annahme die Zustimmung zur Zustellung der Urkunde in der für Briefe vorgeschriebenen Form erteilt. Sie nimmt die Urkunde damit auf dem Postamt in Empfang 7 . Wird das Telegramm nicht fernmündlich, sondern fernschriftlich mitgeteilt, dann ist es in dem Zeitpunkt schriftlich eingelegt, in dem der Text des Telegramms der Fernschreibstelle des Gerichts vorliegt (OLG Hamm NJW 1961 2225). Die Fernschreibstelle dient insoweit als Briefannahmestelle (3 d) 8 . 5. Fristversäumnis. Die Wirkung der Fristversäumung ist verschieden und in jedem Fall besonders zu prüfen: Die Versäumung einer Rechtsmittelfrist macht ein statthaftes Rechtsmittel unzulässig. Dabei spielt es auch keine Rolle, daß die Säumnis durch ein Verschulden der empfangenden Behörde (falsche Rechtsmittelbelehrung, säumige Behandlung 4

A. A. B G H (Z) NJW 1951 71. A. A. OLG Saarbrücken JBlSaar 1964 116. Der Bundesgerichtshof hat entsprechend zunächst nur für den ihm vorgelegten Fall entschieden, daß der Annahmebeamte sich innerhalb der Frist zur Weiterleitung an die zuständige Stelle entschlossen hatte; JR 1953 430. 6 E b S c h m i d t 10 zu § 314; M ü l l e r - S a x 3 b zu § 314. 7 Der Bundesgerichtshof sieht die Frist dagegen nur dann als gewahrt an, wenn eine zur Entgegennahme der Erklärung befugte Person eine den Wortlaut wiedergebende amtliche Notiz über die fernmündliche Durchsage fertigt (BGHSt. 14 233; ebenso OLG Neustadt ZfZ 1963 20). 8 D a s Bayerische Oberste Landesgericht stellt das Fernschreiben dem Telegramm jedenfalls dann gleich, wenn die Fernschreibstelle einer Behörde verwendet wird (BayObLGSt. 1967 61 = N J W 1967 1816).

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Fünfter Abschnitt. Fristen und Wiedereinsetzung (Dünnebier) V o r § 4 2 Anm. III; IV § 4 2 Anm. 1,2 eines bei einer falschen Stelle eingegangenen Schreibens, das bei richtiger Behandlung noch fristgemäß an die zuständige Stelle gelangt wäre) eingetreten ist. Solche Umstände begründen indessen in der Regel die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Dagegen ist die Frist des § 201 Abs. 1 Satz 1 keine Ausschlußfrist. Auch einem nach Fristablauf angebrachten Antrag nach § 178 Abs. 1 Satz 3 ist zu entsprechen, wenn bei Eingang des Antrags das Hauptverfahren noch nicht eröffnet ist. Die Versäumung der Berufungsbegründungsfrist ist ohne jede Bedeutung für die Berufung, begrenzt aber das Recht, Beschlüsse anzufechten, durch die eine Richterablehnung zurückgewiesen worden ist (BayObLGSt. 1956 248 = NJW 1957 599). III. Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Der fünfte Abschnitt betrifft nur die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung einer Frist. Die Wiedereinsetzung gegen die Versäumung einer Hauptverhandlung ist geregelt in §§ 235, 315, 329 Abs. 2, §§ 342, 391 Abs. 4, § 412 Abs. 2. Die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gehört nicht zu den Rechtsmitteln der Strafprozeßordnung, die §§ 296 bis 298 können nicht ohne weiteres sinngemäß auf sie angewendet werden; auch eine dem § 365 entsprechende Vorschrift ist für die Wiedereinsetzung nicht gegeben (RGSt. 22 31; R G JW 1891 377). Die Wiedereinsetzung ist vielmehr der außerordentliche Rechtsbehelf, den das Gesetz mit der Macht ausstattet, das Verfahren in einen Abschnitt vor der Versäumung der Frist zurückzuversetzen und dabei Entscheidungen, die inzwischen auf Grund der Säumnis ergangen sind, und deren Rechtskraft zu beseitigen (RGSt. 53 289, 54 287). Der mit der Behauptung einer unabwendbaren Versäumnis eintretende Zustand der Ungewißheit muß rasch beseitigt werden. Dazu stellt das Gesetz ein summarisches Verfahren zur Verfügung, das auch den Säumigen zu raschem und umfassendem Handeln zwingt. IV. Reform. Die Verwendung der modernen Fernmeldemittel zum Einlegen von Rechtsmitteln ist durch die Rechtsprechung gefördert worden, aber zunächst noch etwas zögernd. Das hängt damit zusammen, daß die Auslegung das Wort „schriftlich" nur schwer überspringen kann. Der Gesetzgeber sollte das formelle Haften an diesem Wort beseitigen und alle Formen der Fernmeldemittel ausdrücklich zur Verfügung stellen. Die § § 4 4 ff., die keine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand von Amts wegen und keine auf Antrag des Staatsanwalts zugunsten des Beschuldigten zulassen, auch wenn z. B. klar zutage liegt, daß eine Gefangenenbeschwerde in der Anstalt verzögert worden ist, sind überholt. Der Gesetzgeber sollte § 26 Abs. 2 und 3 EGGVG bei nächster Gelegenheit in die Strafprozeßordnung übertragen. §42 Bei der Berechnung einer Frist, die nach Tagen bestimmt ist, wird der Tag nicht mitgerechnet, auf den der Zeitpunkt oder das Ereignis fällt, nach dem der Anfang der Frist sich richten soll. 1. Nach Tagen bestimmte Fristen. Die Vorschrift bezieht sich auf sämtliche Fristen (wegen des Begriffs s. I 1 vor § 42), gesetzliche wie richterliche, Handlungsfristen für die Beteiligten wie amtliche Fristen für den Richter. Sie besagt, daß eine nach Tagen bestimmte Frist mit Beginn (0 Uhr) des Tages zu laufen anfängt, der dem Tage folgt, an dem das den Fristbeginn auslösende Ereignis (Verkündung, Zustellung) stattgefunden hat. Beginnt eine Frist von drei Tagen am 1., so endet sie am 4., 24 Uhr. Die richterlichen Fristen unterliegen der Bestimmung durch den Richter; diese Bestimmung schließt die gesetzliche Regelung dann aus, wenn der Richter nicht nur eine Frist (etwa von drei Tagen) setzt, sondern zugleich den Anfang oder das Ende regelt. Verfügt daher der Richter, daß eine Frist von drei Tagen am 1. beginne, so endet sie am 3., 24 Uhr ( E b S c h m i d t 3). 2. Fristende. § 43 Abs. 2 bestimmt, daß Wochen- oder Monatsfristen, deren Ablauf auf einen Sonntag, einen allgemeinen Feiertag oder einen Sonnabend fallt, mit Ablauf des nächstfolgenden Werktages enden. Der Regelung liegt die Erwägung zugrunde, daß der von 379

§ 4 3 Anm. 3 § 44 Anm. 1,2

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

der Fristbestimmung Betroffene an Sonnabenden sowie an Sonn- und Feiertagen keine Beratungsmöglichkeit und wegen der geschlossenen Behörden keine Protokollmöglichkeiten vorfindet. Dieser Gedanke gilt allgemein; § 43 Abs. 2 findet daher trotz seiner Stellung im Gesetz grundsätzlich auch auf die Fristen des § 4 2 Anwendung (RGSt. 62 141). Das gilt ausnahmslos für Handlungsfristen der Beteiligten, seien sie gesetzliche, seien sie richterliche, soweit nicht die richterliche Frist nach dem Datum bestimmt und als solches — was zu vermeiden ist — ein Sonntag, ein allgemeiner Feiertag oder ein Sonnabend angegeben ist. Für Fristen (Zwischenfristen), die dem Richter gesetzt sind, findet der Grundsatz jedoch keine Anwendung, wenn nach deren Sinn und Zweck die Frist eine äußerste ist. Das ist der Fall bei den Vernehmungsfristen in Haftsachen (§115 Abs. 2, § 115 a Abs. 1 und 2, § 128 Abs. 1, § 129, § 135; Art. 104 Abs. 2 G G ; E b S c h m i d t 5), bei den Bestätigungsfristen für die Beschlagnahme (§ 100 Abs. 2) und die Überwachung und Aufnahme des Fernmeldeverkehrs (§ 100 b Abs. 1 Satz 3), bei der Dauer der Unterbrechung einer Hauptverhandlung (§ 229; RGSt. 57 266) und der Frist zur Urteilsverkündung (§ 268 Abs. 2 Satz 1). 3. Stundenfristen. Die in § 212 a Abs. 3 Satz 3 verfügte Frist von 24 Stunden ist keine Tagesfrist. Nach dem Sinn der Vorschrift soll vielmehr der Zustellungstag bei der Berechnung mitzählen. Es braucht also zwischen der Zustellung der Ladung und dem Verhandlungsbeginn ein Zeitraum von nur 24 Stunden liegen.

§43 (1) Eine Frist, die nach Wochen oder Monaten bestimmt ist, endet mit Ablauf des Tages der letzten Woche oder des letzten Monats, der durch seine Benennung oder Zahl dem Tag entspricht, an dem die Frist begonnen hat; fehlt dieser Tag in dem letzten Monat, so endet die Frist mit dem Ablauf des letzten Tages dieses Monats. (2) Fällt das Ende einer Frist auf einen Sonntag, einen allgemeinen Feiertag oder einen Sonnabend, so endet die Frist mit Ablauf des nächsten Werktages. Entstehungsgeschichte: Durch Art. 1 Nr. 3 des Sonnabend-Frist-Gesetzes sind in den bisherigen Text des Absatzes 2 die Worte „oder einem Sonnabend" eingefügt worden. 1. Wegen des Begriffs der Frist s. I 1 und 2 vor § 42. Die Vorschrift findet auch auf richterliche Fristen Anwendung, soweit sie als Wochen- oder Monatsfristen gesetzt sind. 2. Fristberechnung. § 43 Abs. 1 drückt durch das Festlegen des Endes einer Frist dasselbe aus, was § 42 durch die Regelung des Fristbeginns erreicht: Der Anfangstag wird nicht mitgezählt. Beginnt eine Siebentagesfrist am 1., einem Dienstag, so endet sie nach § 42 am 8., 24 Uhr, der wiederum ein Dienstag ist, genau so wie eine am Dienstag, einem 1., beginnende Wochenfrist nach § 43 Abs. 1 am folgenden Dienstag, im Beispielsfall dem 8., 24 Uhr, endet. Selbstverständlich gilt § 43 Abs. 1 auch für Fristen von nur einer Woche oder nur einem Monat. Die Berechnung nach der entsprechenden Benennung bedarf kaum der Erläuterung, doch ist zu bemerken, daß § 43 Abs. 2 auf den Fristbeginn nicht, entsprechend anwendbar ist. Eine am Gründonnerstag beginnende Wochenfrist endet, obwohl ein Feiertag, ein Sonnabend, ein Sonntag und ein weiterer Feiertag folgen, am Donnerstag nach Ostern. — Eine am 31. August beginnende Monatsfrist endet nach dem letzten Halbsatz des § 43 Abs. 1 am 30. September, eine am 31. Januar beginnende Frist am 28. Februar, in Schaltjahren am 29. Februar. Stoßen zwei Fristen derart aneinander, daß die zweite ohne ein neues Ereignis sich unmittelbar an die erste anschließt (§ 345 Abs. 1 Satz 1), also alsbald nach Mitternacht beginnt, dann besteht kein Anlaß, den ersten Tag, der ja voll zur Verfügung steht, nicht mitzurechnen. Daraus folgt, daß die zweite Frist mit dem Tage endet, der durch seine Benennung oder Zahl dem Endtage der ersten Frist entspricht (BayObLGSt. NJW 1968 904; S a r s t e d t 80). Der § 187 Abs. 2, § 188 Abs. 2, 2. Alternative BGB zugrunde liegende Gedanke ergänzt die etwas summarische Regelung des § 43.

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Fünfter Abschnitt. Fristen und Wiedereinsetzung (Dünnebier) § 4 3 Anm. 3—5 §44 Gerichtsferien sind für Strafsachen ohne Bedeutung (§ 200 Abs. 1 in Vbdg. mit Absatz 2 Nr. 1 GVG) und daher auf die Fristberechnung ohne Einfluß. Stillstand der Rechtspflege unterbricht den Fristablauf mangels einer dem § 245 ZPO entsprechenden Vorschrift nicht, begründet jedoch einen unabwendbaren Zufall im Sinne des § 44 (RGSt. 53 300). 3. Wochenenden und Feiertage schieben das Fristende hinaus bis zum Ablauf des nächsten Werktages. Für die Berechnung von Fristen muß Sicherheit und dazu Eindeutigkeit bestehen. Absatz 2 ist daher weder auf staatlich geschützte Feiertage, die aber keine allgemeinen Feiertage sind (Mariä Empfängnis in Bayern), anzuwenden (BayObLGSt. 1957 131), noch auf Tage vor Feiertagen, an denen der Betrieb in Behörden und Anwaltskanzleien ruht, wie etwa an dem 24. Dezember, der auf einen Montag fällt. Warum das Ende der Frist auf einen.der in Absatz 2 genannten Tage fallt, ist gleichgültig. Die Bestimmung findet daher auch dann Anwendung, wenn der nächste Werktag, an dem die Frist erst zufolge der Regel des Absatzes 2 endet, ein Sonnabend ist, etwa der nach Karfreitag. Alsdann ist § 43 Abs. 2 zweimal anzuwenden, so daß die Frist, da Ostermontag ein Feiertag ist, am Dienstag endet. 4. Allgemeine Feiertage. Die allgemeinen Feiertage sind gesetzlich abschließend festgelegt1. Danach sind in allen Ländern anerkannt: Neujahr, Karfreitag, Ostermontag, 1. Mai, Christi Himmelfahrt, Pfingstmontag, 17. Juni, erster und zweiter Weihnachtstag. Der Bußund Bettag ist in allen Ländern allgemeiner Feiertag, in Bayern indessen nur in überwiegend evangelischen Gemeinden. Nur in einigen Ländern oder Landesteilen sind weiter anerkannte Feiertage: Dreikönigstag, Fronleichnam, Mariä Himmelfahrt, Allerheiligen. Der 8. August ist nur im Stadtkreis Augsburg Feiertag. 5. Besondere Fristen. Der Beginn der Strafantragsfrist ist in § 61 Satz 2 StGB besonders geregelt. Danach beginnt die Frist mit dem Tage, seit welchem der zum Antrag Berechtigte von der Handlung und der Person des Täters Kenntnis hat. Dieser Tag ist in die Frist einzurechnen (RGSt. 71 359). Für das Ende der Frist gilt jedoch der dem § 43 Abs. 2 zugrunde liegende allgemeine (vgl. § 193 BGB) Rechtsgedanke (KG GA 72 350; OLG Düsseldorf NJW 1953 37; OLG Frankfurt NJW 1953 1235; OLG Stuttgart NJW 1961 790) 2 . Im Falle des § 172 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 Satz 1 (wegen der Zustellung vgl. OLG Hamm JMB1NRW 1963 109) beginnen die Fristen trotz des Wortlautes mit der Bekanntmachung. Die Frist für den Antrag auf gerichtliche Entscheidung gegen einen am 5. Dezember zugestellten Beschwerdebescheid des Generalstaatsanwalts endet also am 5. Januar, wenn dieser nicht ein Sonnabend, ein Sonntag oder ein Feiertag ist. Die Verjährungsfrist unterfallt nicht § 43, namentlich nicht dessen Absatz 2 ( M ü l l e r S a x 2 Abs. 2 zu § 43). §44 Gegen die Versäumung einer Frist kann die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beansprucht werden, wenn der Antragsteller durch Naturereignisse oder andere unabwendbare Zufälle an der Einhaltung der Frist verhindert worden ist. Als unabwendbarer Zufall ist es anzusehen, wenn der Antragsteller von einer Zustellung ohne sein Verschulden keine Kenntnis erlangt hat oder wenn die Belehrung nach den §§ 35 a, 319 Abs. 2 Satz 3 oder nach § 346 Abs. 2 Satz 3 unterblieben ist. 1

2

Bund: Ges. über den Tag der deutschen Einheit (17. Juni) vom 4. 8. 1953 (BGBl. III - 1136 - 1); Baden-Württemberg: Ges. vom 25. 7. 1962 (GBl. 173); Bayern: Ges. vom 15. 12. 1949 (BayBS I 380); Berlin: Ges. vom 28. 10. 1954 (GVB1. 615); Bremen: Ges. vom 12. 11. 1954 (SaBremR 113 - c - 1); Hamburg: Ges. vom 16. 10. 1953 (GVB1. I 289); Hessen: Ges. vom 17.9. 1952 (GVB1. II 17 - 6); Niedersachsen: Ges. vom 5. 2. 1952 i. d. F. vom 30. 5. 1956 (NiedersGVBl. Sb 1 76); Nordrhein-Westfalen: Ges. vom 16. 10. 1951 (GS NRW 136), neu gefaßt durch das Ges. vom 9.5. 1961 (GV NW 209); Rheinland-Pfalz: Ges. vom 25.6. 1948 (BS R h - P f 113 - 10); Saarland: Ges. vom 21. 11. 1960 (ABl. 935); Schleswig-Holstein: Ges. vom 12. 12. 1953 (GS Sehl — H 113 S. 1). LG Zweibrücken MDR 1966 774; LG Frankfurt NJW 1969 1312; E b S c h m i d t 3; M ü l l e r - S a x 2 Abs. 1; LK VI 2 Abs. 1 zu § 61 StGB; S c h ö n k e - S c h r ö d e r 41 zu § 61 StGB; S c h ä f e r -

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§ 44 Anm. 1 1 , 2

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

Entstehungsgeschichte: Der letzte Halbsatz ist angefügt durch Art. 4 Nr. 8 des 3. StRÄndG als Folge der Einfügung von § 35 a (Begrdg. BTDrucks. I 3713, S. 46). Schrifttum: B ö h m , Die Wiedereinsetzung von Strafurteilen und die Anfechtung der Urteile mit Rechtsmitteln, JR 1925 664; D e u b n e r , Die Wiedereinsetzung im Strafverfahren, JuS 1968 125; K a l t h o e n e r , Probleme aus den strafprozessualen Recht der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (1957); P e n t z , Wiedereinsetzung im Rahmen von § 346 StPO, NJW 1962 1236; H-W. S c h m i d t , Verschulden des Vertreters des PrivatNebenklägers und des Antragstellers nach § 172 Abs. 2, 3 StPO als unabwendbarer Zufall? MDR 1963 638; S t r a u s s , Die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, GS 1936 41; W a r d a , Um die Rechtsmittelbelehrung im Strafprozeß, MDR 1957 71. Übersicht I. Wiedereinsetzungsanspruch 1. Versäumung 2. Fristen 3. Strafantrag und Beschwerde im Klageerzwingungsverfahren 4. Nachholen von Revisionsrügen 5. Anspruchsberechtigte II. Unabwendbarer Zufall 1. Begriff 2. Persönliche Verhältnisse

3. 4. 5. 6. 7. 8.

Post und Beförderung Behörden Haftanstalten Verteidiger Anwalt als Vertreter Staatsanwaltschaft

III. Vermuteter Zufall (Satz 2) 1. Allgemein 2. Fehlgegangene Zustellung 3. Unterbliebene Rechtsmittelbelehrung

I. Wiedereinsetzungsanspruch. 1. Wegen der Versäumung einer Frist s. I vor § 42. 2. Fristen im Sinne des § 44 sind, wie sich aus den §§45 und 46 ergibt, prozessuale, notwendigerweise bei Gericht wahrzunehmende Fristen (OLG Bremen GA 1956 185), gleichgültig ob sie gesetzliche oder richterliche, und im letzteren Fall ursprüngliche oder verlängerte sind. Unter diesen Begriff fallen nicht die Fristen zur Veröffentlichung eines Urteils (BayObLGSt. 10 145) und zum Widerruf eines Vergleichs in einer Privatklagesache (OLG Oldenburg H R R 1932 299). Die Wiedereinsetzung gegen die Versäumung einer Hauptverhandlung ist abschließend geregelt (III Abs. 1 vor § 42). Demzufolge bietet § 44 keine Möglichkeit, die Wiedereinsetzung bei der Versäumung einer Hauptverhandlung im Falle des § 231 Abs. 2 (OLG Breslau A l s b . E 1 106) oder derjenigen vor dem Revisionsgericht (OLG Dresden A l s b . E 1 105; OLG Köln NJW 1957 74) zu gewähren. Frist ist auch die in § 45 vorgeschriebene Frist jür das Gesuch um Wiedereinsetzung ( H a h n , Mat. 2 1719; B e l i n g , § 4 5 III 1 Abs. 2; OLG Hamm NJW 1958 1104). Die Voraussetzungen für die Wiedereinsetzung sind auch dann gegeben, wenn aufgrund des unabwendbaren Zufalls die vorgeschriebene Form (auch des § 344 Abs. 2; RGSt. 67 198) für die Abgabe einer Erklärung versäumt ist (OLG Hamm NJW 1956 1571; JMB1. NRW 1963 147; OLG Koblenz NJW 1962 977; OLG Hamburg NJW 1965 312). Denn dann hat der Betroffene zufolge des unabwendbaren Zufalls, etwa einer unterbliebenen oder falschen Belehrung durch den Urkundsbeamten (RGSt. 67 199), die Frist insofern versäumt, als er bis zu ihrem Ablauf keine den Formerfordernissen entsprechende Erklärung abgegeben hat ( S a r s t e d t JR 1955 29; K a l t h o e n e r 41). Dieser Fall liegt indessen nicht vor, wenn der Angeklagte Berufung gegen ein Urteil eingelegt hat, das nur mit der D a l c k e 5 zu § 61 StGB; L a c k n e r - M a a s s e n 6 zu § 61 StGB; a. A. - § 43 Abs. 2 gilt nicht LG Köln MDR 1960 241; L G Göttingen NdsRpfl. 1966 150; LG Kiel N J W 1969 1311; LG Landau JZ 1970 555; K l 1; F u h r m a n n - D a l c k e 1; D r e h e r 2 B zu § 61 StGB; B r ü c k n e r NJW 1954 1717; R e i s s Rpfleger 1967 377.

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Fünfter Abschnitt. Fristen und Wiedereinsetzung (Dünnebier)

§ 44 Anm. I 3 , 4

Revision angefochten werden kann, und das Landgericht die Berufung entgegen § 300 nicht als Revision behandelt, sondern die Berufung verworfen hat (OLG Celle NdsRpfl. 1962 142). 3. Strafantrag und Beschwerde im Klageerzwingungsverfahren. Die Fristen des § 6 1 StGB (Strafantragsfrist) und des § 172 Abs. 1 (Beschwerde an den Generalstaatsanwalt) sind zwar prozessuale, aber nicht notwendigerweise bei Gericht wahrzunehmen. Der Strafantrag kann wohl bei Gericht angebracht werden, aber ebenso bei der Staatsanwaltschaft und der Polizei (§ 158 Abs. 2), für die Beschwerde des § 172 Abs. 1 ist das Gericht unzuständig. Bei beiden Fristen ist daher die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach § 44 unzulässig (OLG Bremen GA 1956 185 - Strafantragsfrist - ; K G G A 42 429, O L G Hamburg Entsch. HOLG 1928 190; O L G Hamm JMB1NRW 1964 92 - Frist des § 1 7 2 Abs. 1 —)*. Das Ergebnis ist unbefriedigend, doch kann nur der Gesetzgeber helfen. Einer entsprechenden Anwendung des § 44 steht § 46 Abs. 1 entgegen, wonach das Gericht zu entscheiden hat, das zur Entscheidung in der Sache selbst berufen gewesen wäre. Denn in beiden Fällen ist kein zur Sachentscheidung zuständiges Gericht vorhanden. Das unbefriedigende Ergebnis wird dadurch gemildert, daß beim Strafantrag die Auslegung des Wortes „unterläßt" ( § 6 1 Satz 1 StGB) die Berücksichtigung unverschuldeter Fristversäumnis gestattet (RGSt. 71 39; O L G Bremen GA 1956 185), und daß für die Rechtsbeschwerdefrist des § 172 Abs. 1 die verwaltungsrechtlichen Vorschriften über die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (z. B. § 70 Abs. 2 in Vbdg. mit § 60 VerwGO) entsprechend anwendbar sind. Dabei muß in Kauf genommen werden, daß die ablehnende Entscheidung des Generalstaatsanwalts unanfechtbar ist, weil der ihm vorgesetzte Minister zur Entscheidung im Rechtsbeschwerdeverfahren keine Zuständigkeit hat, Wiedereinsetzung aber ein Teil dieses Verfahrens ist (im Ergebnis ebenso K a l t h o e n e r 27). 4. Nachholen von Revisionsriigen. Nach der Rechtsprechung des Reichsgerichts (RGSt. 24 250; R G Recht 1926 1743; J W 1928 2718, 1935 1636) und des Bundesgerichtshofs (BGHSt. 1 4 4 ; BGH NJW 1951 5 7 2 ^ kann der Angeklagte zum Nachholen einzelner Verfahrensrügen dann nicht in den vorigen Stand wieder eingesetzt werden, wenn sowohl er wie sein Verteidiger in der tatrichterlichen Hauptverhandlung anwesend gewesen ist 3 . Ein Nachschieben liegt allerdings nicht vor, wenn eine Revisionsrechtfertigungsschrift zufolge eines unabwendbaren Zufalls verspätet, eine danach abgegebene Ergänzung aber rechtzeitig eingegangen ist (BGHSt. 14 330). Die Rechtsprechung zur Frage des Nachholens von Revisionsrügen, die die Möglichkeit von Ausnahmen für Einzelfälle zugesteht4, ist ungerecht und in der Begründung nicht frei von Widerspruch. Wenn man darauf abstellt, daß § 44 nicht von der Versäumung einer Rechtshandlung, sondern einer Frist spricht, muß man die Möglichkeit der Wiedereinsetzung schlechthin verneinen und nicht nur für Regelfalle unter bestimmten Voraussetzungen, die zudem nicht auf den Begriff der Frist, sondern in Wirklichkeit auf denjenigen des unabwendbaren Zufalls zu beziehen sind. Eine Wiedereinsetzung völlig abzulehnen, ist aber — man braucht nur an den Fall des Ausscheidens eines Anwalts zwischen Hauptverhandlung und Revisionsbegründung zu denken — unbillig und daher nur hinzunehmen, wenn der Gesetzeswortlaut, wie in den Fällen zu 3, dazu zwingt. Das ist nicht der Fall. Ebenso wie bei der Versäumung der Form (2 Abs. 3) ist die Auslegung zulässig, daß der Angeklagte zufolge des unabwendbaren Zufalls die Frist insofern versäumt hat, als er bis zu ihrem Ablauf keine alle Angriffsmittel umfassende Begründung abgegeben hat. Es ist auch ungereimt, dem Angeklagten, der zufolge eines unabwendbaren Zufalls nicht fristgemäß alle 1

2 3 4

Ebenso F e i s e n b e r g e r 3; M ü l l e r - S a x l b ; 2 d Abs. 3 zu § 172; a. A. — § 44 ist auch für die Strafantragsfrist und die Frist des § 172 anwendbar - OLG Oldenburg NJW 1967 1815; E b S c h m i d t 3 ; K 1 5 B zu § 172; K a l t h o e n e r 21. Ebenso K G GA 6 9 310; OLG Saarbrücken JB1. Saar 1961 49; OLG Oldenburg NJW 1968 64. Zust. E b S c h m i d t Nachtr. 8 zu § 345; M ü l l e r - S a x 1 d; Kl 3. BGH bei D a l i i n g e r MDR 1965 25; OLG Köln NJW 1952 558; BayObLGSt. 1959 275 = NJW 1960 208; OLG Hamm Rpfleger 1960 213; O L G Stuttgart GA 1959 384; O L G Frankfurt NJW 1963 1792; OLG Braunschweig NJW 1963 2038; O L G Celle GA 1968 153.

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§ 44 Anm. I 5; II 1

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

Rügen erheben kann, die Wiedereinsetzung zu gewähren, wenn er mutig genug ist, die Begründung ganz zu unterlassen ( S a r s t e d t 60), ihm aber hinsichtlich einzelner Rügen, auf die allein das hindernde Ereignis eingewirkt hat, die Wiedereinsetzung zu versagen. Es muß vielmehr schlechthin für zulässig erachtet werden, zum Nachholen einzelner Verfahrensrügen die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren (OLG Frankfurt HESt. 2 76; OLG Bremen MDR 1968 602; K o h l h a a s NJW 1955 742; K a l t h o e n e r 56; P e n t z 1237; abl., aber mit Befürwortung einer gewissen Lockerung für Härtefalle, S a r s t e d t 87). Namentlich kommt eine Wiedereinsetzung nach Berichtigung des Hauptverhandlungsprotokolls in Betracht, wenn das Protokoll zwar geändert wird, die Änderung aber nicht dem Antrage des Angeklagten entspricht. Der notwendige Nachweis des unabwendbaren Zufalls (II 6 Abs. 2) wirkt Mißbräuchen entgegen, doch machen die nicht zu leugnenden Schwierigkeiten bei einer Reform eine gesetzgeberische Entscheidung erwünscht ( S a r s t e d t JR 1960 147). Der Bundesgerichtshof hält die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Frist zur (weiteren) Begründung der Revision auf jeden Fall dann für unzulässig, wenn das Verfahren durch eine vom Revisionsgericht erlassene Sachentscheidung zum Abschluß gekommen sei, weil die Rechtssicherheit keinen im Gesetz nicht ausdrücklich vorgesehenen Eingriff in die Rechtskraft gestatte (BGHSt. 17 95; BGH bei D a l l i n g e r MDR 1966 728; BGHSt. 23 103). Indessen schlägt dieser Grund nicht durch, weil gerade um der Beseitigung der Rechtskraft willen das Institut der Wiedereinsetzung geschaffen worden ist (RGSt. 53 288 5 ). 5. Anspruchsberechtigte. Anspruch auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand hat jeder am Verfahren Beteiligte: Der Beschuldigte, auch im Privatklageverfahren (KG DRiZ 1929 Rspr. Nr. 288), der gesetzliche Vertreter für Fristen aus eigenem Recht (§ 298; OLG Düsseldorf HRR 1941 749; BayObLGSt. 1954 51 = NJW 1954 1378), der Einziehungsbeteiligte (§ 433 Abs. 1, § 4 4 0 Abs. 3), wenn er vor der Fristversäumnis am Verfahren beteiligt war, der Vertreter im Verfahren bei Festsetzung von Geldbußen gegen juristische Personen und Personenvereinigungen (§ 444 Abs. 2 Satz 2), die Staatsanwaltschaft, der Privatkläger (§ 385 Abs. 1), der Nebenkläger (§ 397; RGSt. 76 179), wenn sein Anschluß vor der Fristversäumnis zugelassen war (RGSt. 71 173), der Bürge (§ 123 Abs. 3, § 124 Abs. 2), Zeugen und Sachverständige und bei der Verhandlung nicht beteiligte Personen (§ 178 Abs. 1, § 181 Abs. 1 GVG). II. Unabwendbarer Zufall. 1. Begriff. Wiedereinsetzung kann beansprucht werden, wenn der Antragsteller (I 5) durch besondere Umstände verhindert worden ist, die Frist einzuhalten. Verhindern bedeutet soviel wie Unmöglichmachen. Was dem einen noch möglich ist, ist dem anderen schon unmöglich. Daraus folgt, daß die Auswirkung eines unabwendbaren Zufalls stets nach den subjektiven Verhältnissen und Eigenschaften des Säumigen beurteilt werden muß. Daher ist die Rechtsprechung, die stets an einen besonderen Fall anknüpft, nur mit Vorsicht auf anscheinend, in Wirklichkeit aber vielleicht nur scheinbar ähnliche Fälle zu übertragen. Gesetzliche Verhinderungsgründe sind Naturereignisse oder andere unabwendbare Zufälle. Das Gesetz läßt den Begriff des unabwendbaren Zufalls etwas im Ungewissen, weist aber auf strenge Anforderungen dadurch hin, daß es die Naturereignisse als eine Art der unabwendbaren Zufalle („oder andere") hervorhebt. Unter Naturereignis ist ein Vorgang zu verstehen, den die Natur ohne menschliches Zutun auslöst und der von Menschen nicht abgewendet, wohl aber in seinen Folgen gemildert oder beseitigt werden kann (Schnee5

Ebenso RGSt. 67 199; M a r t i n LM 4 zu § 44; S c h a p e r NJW 1962 1358 - der indessen der Auffassung des Bundesgerichtshofs für den Fall zustimmt, daß die vom Revisionsgericht erlassene Sachentscheidung ein Sachurteil ist —; M ü l l e r - S a x la; 4 c 2 zu § 349. In Zivilsachen lehnte das Reichsgericht die Wiedereinsetzung zum Nachholen von Revisionsrügen ab (RGZ 121 6; ebenso BAG NJW 1962 2030). Dieser Auffassung widersprechen S t e i n - J o n a s - G r u n s k y , 19. Aufl., V 1 zu § 554 und R o s e n b e r g , 9. Aufl., § 141 III 4 sowie JZ 1953 310. W i e c z o r e c k stimmt ihr zu, will aber § 295 Abs. 1 ZPO anwenden (D IIIc 2 zu § 554).

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F ü n f t e r Abschnitt. Fristen und Wiedereinsetzung (Dünnebier)

§ 44 A n r a . II 2

verwehung, H o c h w a s s e r , Einfrieren der Weichen der Eisenbahn). Ihnen n a h e k o m m e n Ereignisse, die auf menschlicher Tätigkeit beruhen oder mitberuhen ( R G Z 71 3 2 3 ; R G S t . 70 188), aber wegen ihrer Gewalt nicht alsbald abgewendet oder normalisiert werden (Revolution, Bürgerkrieg, kriegerische oder kriegsähnliche Ereignisse) oder zufolge der Technisierung oder wegen Einrichtungen der modernen Gesellschaft n u r von bestimmten K r ä f t e n abgewendet oder beseitigt werden können, z. B. Stromausfall, Lahmlegung des Schienenverkehrs; Generalstreik ( R G S t . 53 300). Endlich schließen sich Ereignisse an, die n u r für einen einzelnen ein Hindernis bilden, das nach seinen persönlichen Verhältnissen als unabw e n d b a r e r Zufall erscheint, mag auch ein anderer in gleicher Lage z u m fristgemäßen H a n deln in der Lage sein. N u r auf die Auswirkung auf den Einzelnen, der die Frist wahrzunehmen hat, ist abzustellen. D e m z u f o l g e müssen unter Beachtung der Eigenschaften u n d Verhältnisse des Säumigen ( R G J W 1920 899) und der allgemeinen U m s t ä n d e ( R G Z 166 208) die A n f o r d e r u n g e n und die Sorgfalt ermittelt werden, die d e m Handelnden gerechterweise z u z u m u t e n sind ( R G Z 138 3 5 0 ; R G J W 1928 1855). D a n a c h liegt ein u n a b w e n d b a r e r Zufall vor, wenn derjenige, d e m die Verfahrenshandlung w a h r z u n e h m e n obgelegen hatte, bei A n w e n d u n g der gerade ihm n a c h Lage des Falls gerechterweise z u z u m u t e n d e n Sorgfalt den Eintritt oder die Folge des Ereignisses nicht abwenden konnte ( R G S t . 35 1 1 0 , 4 0 1 2 0 , 7 0 187) 6 . 2. Persönliche Verhältnisse. Unbeholfenheit eines Angeklagten, der den Sitzungssaal nicht findet, k a n n u.U. (Ladung zu den Anwaltsakten g e n o m m e n : B a y O b L G S t . 9 171; Auffinden des Saales im umgebauten G e b ä u d e erschwert: zu Unrecht verneint von O L G R o s t o c k A l s b . E 1 127) u n a b w e n d b a r e r Zufall sein, bloße U n a u f m e r k s a m k e i t nicht ( O L G M ü n c h e n A l s b . E 1 127). Bei den Irrtümern k o m m t es ganz auf den Einzelfall an, so beim Verlesen eines D a t u m s , bei der Unkenntnis von d e m U m z u g einer Behörde, Mißverständnissen der Ä u ß e r u n g eines Dritten ( B a y O b L G S t . 5 60) oder bei Irrtümern über den Dienstbetrieb einer Behörde ( R G S t . 10 74). Einzelne Entscheidungen zu verallgemeinern, ist hier besonders zu vermeiden. Plötzliche E r k r a n k u n g ist u n a b w e n d b a r e r Zufall ( R G Recht 1914 3021). K r a n k h a f t e und normwidrige D a u e r z u s t ä n d e , Z.B.Schwerhörigkeit, sind, da d e m Beteiligten b e k a n n t , in ihren Folgen regelmäßig a b w e n d b a r . Geldmangel ist regelmäßig kein u n a b w e n d b a r e r Zufall ( O L G M ü n c h e n A l s b . E 1 125), da im allgemeinen Erklärungen bei der nächstgelegenen Behörde, zumindest d e m nächstgelegenen Gericht abgegeben und a n die zuständige Stelle weitergegeben werden können oder aber, wenn Ortsanwesenheit notwendig ist, Reisekostenvorschuß beantragt werden kann. D o c h k a n n , wenn solche Möglichkeiten nicht bestehen oder nicht erkannt werden, auch Geldmangel ein u n a b w e n d b a r e r Zufall sein ( O L G Königsberg J W 1927 1659; O L G Karlsruhe J W 1925 1035). D a b e i m u ß m a n im A u g e behalten, d a ß die nahezu allenthalben im behördlichen Verkehr vorgeschriebenen Belehrungen über Rechtsmittel und Rechtsbehelfe den Bürger eigener Initiative, sich über Abhilfen zu unterrichten, weitgehend entwöhnt haben. H a t der gesetzliche Vertreter (§ 298 Abs. 1) oder der Erziehungsberechtigte (§ 67 Abs. 3 J G G ) von den U m s t ä n d e n keine Kenntnis erhalten, die den Beginn einer Rechtsmittelfrist begründen, so wird die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand allein weder durch seine Unkenntnis noch d u r c h die T a t s a c h e gerechtfertigt, d a ß ihm das Gericht die Entscheidung nicht b e k a n n t g e m a c h t hatte ( B a y O b L G D R i Z 1928 196; O L G Düsseldorf H R R 1941 749; B G H S t . 18 2 5 ; a.A. — Wiedereinsetzung begründet, wenn d e m in der H a u p t verhandlung abwesenden gesetzlichen Vertreter d a s Urteil mit Rechtsmittelbelehrung nicht innerhalb der Rechtsmittelfrist mitgeteilt wird - B a y O b L G S t . 1954 51 = N J W 1954 1378). Die Wiedereinsetzung kann aber zu gewähren sein, wenn der gesetzliche Vertreter oder Erziehungsberechtigte, etwa wegen Abwesenheit, gar keine Möglichkeit hatte, von d e m Ereignis Kenntnis z u nehmen, das den Fristbeginn begründet hatte ( O L G Düsseldorf H R R 1941 7 4 9 ; s. auch III 3). 6

Ebenso RGZ 96 324, 138 240, 159 110, 162 86, 164 57. - Die Entwürfe lassen den Begriff des unabwendbaren Zufalls fallen. Nach ihnen soll die Wiedereinsetzung zulässig sein, wenn der Beteiligte ohne sein Verschulden verhindert gewesen ist, die Frist einzuhalten. In dieser Richtung hat sich die Praxis weitgehend entwickelt, wenn auch ein Unterschied zwischen „entschuldigt" und „unabwendbarem Zufall" namentlich bei § 329 gelegentlich immer noch betont wird.

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§44

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

Anm. II 3—5 3. Post und Beförderung. Der Beteiligte kann eine ihm eingeräumte Frist bis zur äußersten Grenze ausnutzen ( O L G Hamm J M B 1 N R W 1957 178; unrichtig O L G Hamburg A l s b . E 1 133). Bei Übermittlung durch die Post genügt es daher bei mittleren Entfernungen, wenn der Brief am Vortage, bei größeren zwei Tage vor Fristablauf aufgegeben wird. Unregelmäßigkeiten des Postverkehrs sind ein unabwendbarer Zufall ( O L G Dresden A l s b . E 1 129), doch muß der Absender kleinere Verzögerungen einrechnen ( O L G München A l s b . E 1 133). Gibt er die Erklärung persönlich ab, so ist eine Zugverspätung ( O L G Colmar A l s b . E 1 129) oder ein sonstiges Verkehrshindernis ein unabwendbarer Zufall, doch muß auch hier der Beteiligte kleinere Verkehrsstörungen als stets voraussehbar auf sich nehmen, auf die Minute genau darf er die Beforderungszeit nicht abpassen ( K G D J Z 1918 193). D a s Versehen eines verläßlichen Boten ist unabwendbarer Zufall (BayOb. L G S t . 1 145), doch muß die Verläßlichkeit erprobt sein. 4. Behörden. Zwar liegt es jedem am Verfahren Beteiligten ob, seine Rechtsangelegenheiten mit Sorgfalt selbst zu verfolgen; er darf sich nicht darauf verlassen, daß eine Behörde für ihn handeln werde. Ist er aber zu einer Amtsstelle in Beziehung getreten, dann darf er sich von dem Vertrauen leiten lassen, daß diese ihre Tätigkeit nach den bestehenden Vorschriften und sachgemäß ausübe ( R G S t . 6 8 3 0 0 ; R G Z 116 14, 129 174). Demnach ist amtliches Verschulden einer Behörde oder eines Amtsträgers, durch das eine Frist versäumt wird, für den Beteiligten grundsätzlich ein unabwendbarer Zufall, wenn kein eigenes Verschulden die Fristversäumnis mitverursacht hat ( R G S t . 70 188). D a jeder Prozeßbeteiligte die Fristen bis zur äußersten Grenze ausnutzen kann, stellt das Fehlen einer Möglichkeit, ein Schriftstück (nicht einen eingeschriebenen Brief; O L G Karlsruhe A l s b . E l 134) noch nach Dienstschluß mit fristwahrender Wirkung einzureichen, einen unabwendbaren Zufall dar ( O L G Hamm J M B 1 N R W 1957 178). D a s gleiche gilt, wenn eine Behörde ihre Briefe auf der Post abholen läßt und diese dadurch erst nach Fristablauf bei ihr eingehen ( R G S t . 2 2 7 1 ; K G G A 3 9 184). Wer seine Briefe bei der falschen Stelle einreicht, hat dafür zwar selbst einzustehen ( K G A l s b . E 1 122), doch kann er damit rechnen, daß ein unzuständiges, funktionell noch nicht oder nicht mehr zuständiges Gericht ( O L G Hamm N J W 1958 1836) oder die Staatsanwaltschaft ( R G L Z 1919 58; Recht 1925 1545) sie rechtzeitig an die zuständige Behörde weiterleitet. Tut sie das nicht, begründet das einen unabwendbaren Zufall. Ein solcher liegt auch vor, wenn der noch anwesende Urkundsbeamte sich kurz nach Dienstschluß weigert, eine Erklärung entgegenzunehmen ( O L G Colmar A l s b . E l 116); wenn ein unzuständiger Urkundsbeamter eine Erklärung entgegennimmt ( R G J W 1911 2 4 7 ; B a y O b L G S t . 16 99); wenn der Urkundsbeamte die Aufnahme der Erklärung eines Bevollmächtigten ablehnt, weil es an der schriftlichen Vollmacht, die indessen nachgereicht werden durfte, fehle ( O L G Bremen Rpfleger 1955 108) oder weil er ein Rechtsmittel für unzulässig hält ( R G J W 1925 2 7 7 9 ) ; wenn er einen Antrag unsachgemäß aufnimmt ( R G S t . 6 8 2 9 9 ; O L G Braunschweig G A 7 0 152); wenn er — oder das Gericht durch Aushändigen eines unzutreffenden Formblattes ( O L G Neustadt V R S 15 2 8 1 ) - falsch belehrt (a.A. zu Unrecht O L G Hamburg A l s b . E l 124) oder eine gebotene Belehrung unterläßt ( B a y O b L G S t . 9 174). Dabei kann nach den Umständen, namentlich bei einem ungewandten, nicht durch einen Anwalt vertretenen Angeklagten, eine wiederholte Belehrung notwendig sein, wenn ersichtlich ist, daß er die erste, zumal wenn sie mündlich war, mißverstanden hat; in der Regel wird das nicht der Fall sein (weitergehend O L G Hamm J M B 1 N R W 1963 147). Ein unabwendbarer Zufall ist es auch, wenn das Gericht über die Revision des Privatklägers entscheidet, ohne vorher sein Armenrechtsgesuch beschieden zu haben ( B a y O b L G S t . 10 135). 5. Haftanstalten. Auch Strafgefangene und Untersuchungshäftlinge können die ihnen eingeräumten Fristen bis zum äußersten ausnutzen. Sie sind nicht verpflichtet, eine etwa stattfindende Postkontrolle und die Eigenarten des inneren Betriebs der Anstalt einzurechnen ( O L G Bremen N J W 1956 233). Daher reicht es, wenn der normale Postlauf nicht länger dauert, in der Regel aus, wenn sie ihre Erklärungen einen Tag vor Fristablauf in der Anstalt abgeben. Läuft der Brief zufolge der Anstaltsverhältnisse verspätet ein, liegt ein unabwendbarer Zufall vor. Das ist auch der Fall, wenn ein Gefangener trotz seinem Wunsch nicht ( B a y O b L G S t . 1 3 1 ) oder verspätet ( R G R s p r . 1 179) vorgeführt, die Annahme einer Erklä-

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§ 44 Anm. II 6

rung abgelehnt ( R G JW 1925 2779) oder trotz Zusage nicht aufgenommen wird, obwohl sich der Gefangene um die Aufnahme bemüht hatte (OLG H a m m M D R 1963 522); wenn ein Anstaltsbeamter einen Brief falsch frei macht, so daß ihn das Gericht nicht annimmt (OLG Hamburg A l s b . E 1 130); oder wenn er falsche Auskünfte erteilt, es sei denn, daß der Gefangene von ihm wegen seiner niedrigen Dienststellung keine sachgemäße Auskunft erwarten kann (OLG München A l s b . E 1 125). 6. Verteidiger. Nach § 232 Abs. 2 Z P O und § 22 Abs. 2 Satz 2 F G G wird eine Versäumnis, die auf dem Verschulden eines Vertreters beruht, nicht als unabwendbarer Zufall angesehen. Obwohl der Verteidiger nicht der Vertreter des Beschuldigten ist, hatten die Strafsenate des Reichsgerichts auch für das Gebiet der Strafprozeßordnung den Grundsatz aufgestellt, daß das Verschulden des Verteidigers für den Beschuldigten keinen unabwendbaren Zufall darstelle (RGRspr. 1 689; RGSt. 10 74; RGRspr. 8 508). Indessen hatte das Reichsgericht einen unabwendbaren Zufall darin erblickt, daß der Vorsitzende dem Beschuldigten einen Verteidiger bestellt hatte, der die gesetzlichen Bestimmungen nicht handhaben konnte (RGSt. 40 121), und damit ausgesprochen, daß das Verschulden eines Pflichtverteidigers für den Beschuldigten ein unabwendbarer Zufall sein könne. Später hat es diese Rechtsprechung erweitert und im Verschulden des Verteidigers schlechthin, auch des Wahlverteidigers, einen für den Beschuldigten unabwendbaren Zufall anerkannt, sofern nicht der Beschuldigte selbst durch eigenes Verschulden eine Ursache für die Versäumnis gesetzt hat (RGSt. 70 191; BGHSt. 14 308 ^ Für Anwaltspersonal gilt dasselbe (RGSt. 35 109; B G H St. 14 332; O L G Schleswig G A 1956 301). Der Rechtsprechung, die hätte geeignet sein können, die Fristen im Strafprozeß „in erheblichem Umfange wirkungslos werden" zu lassen ( K G HESt. 1 163), ist zuzustimmen. Sie hat in der Praxis zu keinen Schwierigkeiten geführt. Allerdings dürfen die aufgestellten Grenzen nicht unbeachtet bleiben: Wer einen ihm als liederlich bekannten Anwalt beauftragt, kann sich damit nicht Freiheit von den Fristen der Strafprozeßordnung erkaufen. Wer von seinem Anwalt aufgeklärt wird, dieser könne wegen seines Urlaubs eine Revision nicht begründen, handelt selbst schuldhaft, wenn er dies im Vertrauen auf eine spätere Wiedereinsetzung zuläßt (BGHSt. 14 306). Wer seinem nicht mit Vollmacht versehenen Wahlverteidiger (§ 145 a Abs. 1) den Tag der Zustellung nicht mitteilt, hat eine dadurch herbeigeführte Fristversäumnis selbst verschuldet. Dabei ist es gleichgültig, ob der Verteidiger die nach § 145 Abs. 4 Satz 2 vorgeschriebene Unterrichtung über die an den Angeklagten bewirkte Zustellung erhalten hat oder ob diese unterblieben ist. Denn auch wenn der Beschuldigte davon ausgehen darf, daß nach dem Gesetz verfahren wird, so weiß er doch, daß er allein die Zustellung erhält und daß dem Verteidiger zwar die Tatsache der Zustellung mitgeteilt wird, der Zeitpunkt der Zustellung aber nicht genau bekannt sein kann (vgl. zum alten Recht BayObLGSt. 1952 244 und BayObLGSt. 1962 2 3 7 = JR 1963 70). Daraus folgt, daß ein unabwendbarer Zufall vorliegt, wenn der Verteidiger eine ihm erteilte Vollmacht nicht zu den Akten gibt, und der Beschuldigte diesen Umstand nicht kennt. Nur durchschnittliche Rechtskenntnisse des Verteidigers sind, wenn nicht ein extremer Fall (Beispiel: RGSt. 40 119) vorliegt, kein unabwendbarer Zufall. In dem genannten Fall hatte der Verteidiger die Revision beim Reichsgericht eingereicht; sie ging verspätet beim Landgericht ein. Es ist zweifelhaft, ob das Reichsgericht auch dann einen unabwendbaren Zufall bejaht hätte, wenn der Verteidiger die Revision richtig angebracht, aber nur mit Angriffen auf die Beweiswürdigung begründet hätte. Ebenso ist es kein unabwendbarer Zufall, wenn ein Verteidiger einen Verfahrensverstoß nicht „entdeckt". Der Angeklagte kann nicht nach Jahr und Tag eine zunächst als ergebnislos unterlassene Revision anbringen oder bei angebrachter und vielleicht verworfener Revision Revisionsrügen nachschieben mit der Behauptung, es sei ein unabwendbarer Zufall, daß sein erster Verteidiger den Mangel (etwa in der Besetzung des Gerichts) nicht erkannt habe (vgl. P e n t z 1237). Alsdann werden in der Regel nur Fehler im Bürobetrieb oder solche, die auch der Anwalt nicht abwenden konnte (OLG Frankfurt HESt. 2 76: Der Verteidiger hatte keinen Zugang zu den Akten), einen unabwendbaren Zufall begründen. 7

Ebenso KG GA 76 166; JW 1933 1784; 1934 1681; HESt. 1 162; OLG Oldenburg NdsRpfl. 1953 170. 387

§44 Anm. II 7

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

Dagegen ist es ein unabwendbarer Zufall, wenn nicht nur dem bevollmächtigten oder bestellten Verteidiger (§ 145 a Abs. 1) sondern auch dem Beschuldigten, und diesem früher als dem Verteidiger zugestellt wird, und der Verteidiger von der Zustellung an den Beschuldigten nicht unterrichtet wird ( O L G Hamm N J W 1965 2216). Denn durch die Regelung des § 145a in Vbdg. mit Nr. 153 Abs. 1 RiStBV soll dem bevollmächtigten oder bestellten Verteidiger die Fristkontrolle übertragen werden. Der Beschuldigte kann sich — anders als im Falle des nicht bevollmächtigten Wahlverteidigers — darauf verlassen, daß der Verteidiger Kenntnis von wenigstens einer Zustellung erhält, nach der er sich, da die spätere maßgeblich ist ( § 3 7 Abs. 2), ohne weitere Rückfragen richten kann. Ebenso kann sich der Angeklagte darauf verlassen, daß der Verteidiger es tut, wenn er erklärt, er werde ein beschleunigt einzulegendes Rechtsmittel sofort einlegen; der Angeklagte braucht weder telegrafische Erledigung zu verlangen (OLG Nürnberg M D R 1964 614) noch die Einlegung nachzuprüfen. 7. Anwalt als Vertreter. Als das Reichsgericht das Verschulden des Wahlverteidigers als unabwendbaren Zufall anerkannte, hat es ausgeführt: „Nur eine dem § 232 Abs. 2 Z P O entsprechende, den Wahlverteidiger betreffende Sondervorschrift der Strafprozeßordnung könnte eine andere Auffassung rechtfertigen. Es besteht aber keine solche Vorschrift" (RGSt. 70 191). Eine solche Vorschrift gibt es auch nicht für die Fälle der Vertretung durch einen Rechtsanwalt im Strafprozeß. Die Bestimmungen der Zivilprozeßordnung und des Gesetzes über die Freiwillige Gerichtsbarkeit sind auch nicht ein selbstverständlicher Rechtsgedanke, der gleichsam natürlicherweise auch im Strafprozeß Anwendung erheischte ( S c h e f f l e r N J W 1964 997, 998; a.A. O L G Hamburg N J W 1968 854). Als Ausnahme von dem Grundsatz, daß ein außerhalb eines Individuums liegendes Ereignis, wenn es dieses nicht selbst herbeigeführt hat, für dieses ein Zufall ist, bedarf ihre Anwendung gesetzlicher Anordnung. Die Vorschrift bringt auch nicht den Regelfall zum Ausdruck: Denn wer einen Vertreter wählt, versetzt damit nicht die von diesem ausnahmsweise und vom Regelfall her unerwartet begangenen Mängel in seinen Verantwortungsbereich. Der Gedanke, der jetzt in § 232 Abs. 2 Z P O zum Ausdruck kommt, war selbst für den Zivilprozeß früher nicht herrschend (Mot. zur ZPO, H a h n 1 245); er enthält eine gesetzgeberische Entscheidung. Diese mag für den Zivilprozeß — obwohl im „Gerechtigkeitswert fragwürdig" ( B r u n s JZ 1968 456) — tragbar sein, weil sein Gegenstand in erster Linie Geldforderungen sind; diese kann der Anwalt, der eine Frist versäumt hat, ausgleichen. Im Strafprozeß führt die Fristversäumnis zum Verlust von Rechtsstellungen, für die es — wenn man bei der Grundsatzfrage die isolierte Anfechtung einer Kostenentscheidung außer Betracht läßt — keinen Ausgleich durch Schadensersatz gibt. D a ß andere Verfahrensordnungen die Regelungen der Zivilprozeßordnung übernommen haben (H.-W. S c h m i d t M D R 1963 639; O L G Hamburg NJW 1968 854), zwingt nicht zu einem gleichen Schritt im Strafprozeß; eher sollte zu prüfen sein, ob das zivilrechtliche Denken bei der Entscheidung des Gesetzgebers in § 22 Abs. 2 F G G nicht der Korrektur bedarf. Nach dieser Rechtslage ist das Verschulden des Vertreters des Privatklägers (§ 379 Abs. 1) für den Privatkläger ein unabwendbarer Zufall, sofern er nicht selbst durch eigenes Verschulden eine Ursache für die Versäumnis gesetzt hat 8 . Dasselbe gilt für den Nebenkläger und den Antragsteller im Klageerzwingungsverfahren9. Die abgelehnte Ansicht (eingehend "OLG Düsseldorf NJW 1964 1533; E b S c h m i d t 15; Nachtr. 8; S c h w a r z , 22. Aufl. 3D; S c h ö n k e JZ 1952 431; R u t k o w s k y NJW 1953 38; 1962 1530; 1964 1533; K o h l h a a s NJW 1967 191, der auf einen unveröffentlichten Beschluß des Bundesgerichtshofs verweist; einschränkend — nur für notwendigerweise von einem Rechtsanwalt wahrzunehmende Akte — OLG Hamm NJW 1951 854; a. A. OLG Hamburg HESt. 2 75; NJW 1947/48 534; NJW 1953 38; BayObLGSt. 1949/51 5 5 6 = JZ 1952 429; BayObLGSt. 1970 9; OLG Düsseldorf JMB1NRW 1951 209; OLG Köln JR 1952 484; OLG Braunschweig NJW 1954 1619; OLG Schleswig SchlHA 1954 209; OLG Nürnberg MDR 1964 232; OLG München NJW 1965 120; KG NJW 1965 1032; S a r s t e d t 88; L ö w e n h e i m NJW 1947/48 516; M ü l l e r - S a x 3 c Abs, 2 und 3; Kl 7. » KG HESt. 1 163; OLG Koblenz NJW 1962 977; a. A. OLG Hamburg JR 1955 32; OLG Hamm JMB1NRW 1955 226; NJW 1961 475; OLG Braunschweig NJW 1954 1619; OLG Celle MDR 1959 60; OLG Düsseldorf MDR 1960 603; OLG München NJW 1962 1530; OLG Köln JMB1NRW 1962 260; KG NJW 1965 1032; OLG München NJW 1965 120; OLG Frankfurt GA 1965 185; D a l l i n g e r JZ 1953 440; P o p p e NJW 1953 1501; Kl 9 zu § 172.

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Fünfter Abschnitt. Fristen und Wiedereinsetzung (Dünnebier) § 44 Anm. II 8; III 1,2 S c h m i d t MDR 1963 638 mit Nachw.) geht von der These aus, daß sich der Vertretene stets das Verschulden des Verteidigers und Vertreters zurechnen lassen müsse und erläßt jene Zurechnung wegen der schweren Folgen nur gleichsam aus Gnade, wenn der Beschuldigte Strafe zu erwarten hat. Da es an einer gesetzlichen, dem § 232 Abs. 2 ZPO entsprechenden Bestimmung in der Strafprozeßordnung fehlt, kehrt sie damit unzulässigerweise die Gesetzeslage um und maßt sich eine Entscheidung an, die nur dem Gesetzgeber zusteht. Deshalb ist auch die Ansicht, das Verschulden des Verteidigers sei dem Angeklagten zuzurechnen, der nur eine Änderung der Kostenentscheidung begehrt 10 , abzulehnen, wenn sie auch noch am ehesten hinzunehmen wäre. 8. Für die Staatsanwaltschaft ist die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht ausgeschlossen, aber wesentlich eingeschränkt. Denn die Behörde handelt durch ihre Amtsträger. Deren Handlungen sind somit solche der Behörde, und eigene Handlungen einer Behörde sind für diese kein unabwendbarer Zufall (RG JW 1891 116; 1925 996; RGSt. 67 265; K G GA 41 155; BGHSt. 2 135). Indessen muß es sich dabei um Beamte oder Angestellte handeln, die — wenn auch als Vertreter oder Beauftragte von Vorgesetzten oder auf deren Anordnung — mit einer gewissen Selbständigkeit innerhalb ihres Wirkungsbereiches auf die Sache einwirkend für die Behörde handeln, gleichviel ob entscheidend oder vorbereitend. Danach ist es kein unabwendbarer Zufall, wenn der Beamte der Eingangsstelle Abgänge liegen läßt; es ist aber einer, wenn der Wachtmeister Akten verlegt oder wenn die Scheuerfrau Akten vom Schreibtisch in den Kleiderschrank legt, um leichter sauber machen zu können (vgl. K G HRR 1927 199 mit abl. Note von F e i s e n b e r g e r ) . III. Vermuteter Zufall (Satz 2). 1. Allgemein. In den beiden Fällen des Satzes 2 wird für die unverschuldete Nichtkenntnis von der Zustellung und für die fehlende Rechtsmittelbelehrung (wegen der falschen und der unvollständigen 6 zu § 35 a) die unwiderlegbare Vermutung eines unabwendbaren Zufalls aufgestellt. Auf den Begriff der Verhinderung ist die Vermutung ohne Einfluß, doch gewinnt er, da bei der ersten Möglichkeit die Kausalität der Nichtkenntnis für die Verhinderung auf der Hand liegt, wesentlich nur für die Fälle der zweiten Möglichkeit Bedeutung. 2. Fehlgegangene Zustellung. Die erste Möglichkeit von Satz 2 gleicht die Ungerechtigkeiten aus, die in Ersatzzustellungen liegen können. Sie sichert das rechtliche Gehör. Die Vorschrift ist auf den Fall der Ersatzzustellung abgestellt (KG VRS 3 383), gilt aber nach ihrem Sinn und Wortlaut auch für den Fall der öffentlichen Zustellung (BayObLGSt. 9 230; OLG Königsberg JW 1928 839). Sie findet auch Anwendung, wenn zufolge einer unter Verletzung von Formvorschriften vorgenommenen und daher unwirksamen Zustellung keine Frist versäumt, der Beschuldigte aber irrtümlich als säumig behandelt worden ist (OLG München H R R 1938 427; OLG Bremen MDR 1960 244; OLG Oldenburg MDR 1968 941), doch konkurriert hier das ordentliche Rechtsmittel, sofern eines zur Verfügung steht, mit dem Wiedereinsetzungsantrag. Die Vermutung des unabwendbaren Zufalls wird dadurch abgeschwächt, daß die Nichtkenntnis nicht verschuldet sein darf. Doch gelten für die Annahme eines Verschuldens, um das rechtliche Gehör zu erhalten, strenge Maßstäbe. Das gilt namentlich dann, wenn — wie beim Einspruch gegen eine Strafverfügung — das rechtliche Gehör nicht nur für einzelne Entscheidungen, sondern dafür maßgeblich ist, ob in diesem Verfahren überhaupt Gehör gewährt wird (BVerfGE 25 1 6 6 = NJW 1969 1104; BVerfGE 26 3 1 8 = NJW 1969 1531). Da niemand einer Zustellung nachlaufen muß, besteht keine Pflicht zum Handeln: Wer eine Zustellung zu erwarten hat, handelt nicht schuldhaft, wenn er es unterläßt, die an der Gerichtstafel angehefteten Schriftstücke zu überwachen (BayObLGSt. 11 263); Vorsorge zu treffen, daß ihm Schriftstücke nachgesandt werden ( L ö w e n s t e i n JW 1921 417; a.A. M ü l l e r - S a x 3 a Abs. 3; OLG Karlsruhe JW 1921 417; OLG Hamm NJW 1970 1429); sich nach der Rückkehr von einer Reise bei Hausgenossen nach einer Ersatzzustellung zu erkundigen (a. A. OLG Colmar A l s b . E 1 151); oder gar eine Revision vor 10

OLG Celle NJW 1959 1932; OLG Hamm NJW 1961 1319; OLG Oldenburg NdsRpfl. 1968 196.

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§ 4 4 Anm. III 3

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§45 Zustellung des Urteils zu begründen, weil er sich unter stetem Wechsel des Aufenthalts Arbeit suchen will (a. A. OLG Kiel GA 42 150). Erst recht besteht keine Pflicht, keine Reise anzutreten oder gar, als Seemann nicht anzuheuern (OLG Hamburg A l s b . E 1 150). Ein Verschulden liegt aber vor, wenn ein von der Reise Zurückkehrender die eingelaufene Post, unter der sich eine an die Vermieterin bewirkte Zustellung befindet, aus Gleichgültigkeit nicht durchsieht. Bei Zustellungen an einen Zustellungsbevollmächtigten (§ 116 a Abs. 3, § 127 a Abs. 3, § 132 Abs. 1 Nr. 2), an den gewählten Verteidiger, dessen Vollmacht sich bei den Akten befindet, und an den Pflichtverteidiger (§ 145 a Abs. 1), an den schriftlich bevollmächtigten Rechtsanwalt eines Privatklägers (§ 378 Satz 2) oder Nebenklägers (§ 397) und an jeden sonst ausdrücklich zur Entgegennahme von Zustellungen Ermächtigten ist der Zustellungsbevollmächtigte oder der Rechtsanwalt Zustellungsempfänger. Daher kann in diesen Fällen der Beschuldigte, der Privat- oder der Nebenkläger ein Gesuch um Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht darauf stützen, daß er selbst von der Zustellung keine Kenntnis erlangt habe (RGSt. 66 350). 3. Unterbliebene Rechtsmittelbelehrung. Die zweite Möglichkeit von Satz 2 ist eine Ergänzung zu § 35a, der die Rechtsmittelbelehrung bei der Bekanngabe von Entscheidungen vorschreibt, die mit einem befristeten Rechtsmittel angefochten werden können. Die Vorschrift betrifft daher nur die Fälle, in denen eine Entscheidung zwar vorschriftsmäßig bekanntgemacht worden, dabei aber eine vorgeschriebene Rechtsmittelbelehrung unterblieben ist. Ist dagegen, wie in § 67 Abs. 2 JGG, eine Bekanntmachung nicht zwingend vorgeschrieben (3 zu § 35a), dann kann (entgegen BayObLGSt. 1954 51 = NJW 1954 1378) nicht aus § 35a gleichwohl die Notwendigkeit einer Rechtsmittelbelehrung hergeleitet und bei ihrem Unterbleiben § 44 Satz 2 angewendet werden (BGHSt. 18 25; s. auch II 2 Abs. 2). Fehlt die Belehrung, so wird dadurch im Gegensatz zum Verwaltungsverfahren (§ 58 VwGO) und zum Anklageerzwingungsverfahren (§ 172 Abs. 1 Satz 3, Abs. 2 Satz 2) die Rechtsmittelfrist nicht gehemmt (6 zu § 35 a). Mit dieser Regelung läßt der Gesetzgeber erkennen, daß er — mit Recht — von einer allgemeinen Kenntnis der Fristen des Strafprozesses ausgeht, und daher die Nachprüfung der Verhinderung zufolge des als unabwendbar vermuteten Zufalls offen lassen will. Danach ist die Behauptung, ein Zustellungsempfänger sei ohne Kenntnis von der Rechtsmittelfrist gewesen, zufolge der Vermutung nicht widerlegbar. Dagegen ist ein ohne diese Behauptung angebrachtes Gesuch nicht ausreichend begründet (zust. BayObLGSt. 1967 69 = GA 1968 55; OLG Oldenburg NdsRpfl. 1968 196). Denn es läßt die Möglichkeit offen, daß der Antragsteller die Rechtsmittelfrist gekannt hat. Wer die Frist gekannt hat, war aber nicht durch die bloß vermutete Unkenntnis von ihr „an der Einhaltung der Frist verhindert" u . Die Grundsätze für die unterbliebene Rechtsmittelbelehrung gelten auch dann, wenn dieser eine unvollständige oder falsche Belehrung gleichsteht (6 zu § 35 a; OLG Hamm Rpfleger 1961 80; OLG Saarbrücken NJW 1965 1031). §45 (1) Das Gesuch um Wiedereinsetzung in den vorigen Stand muß binnen einer Woche nach Beseitigung des Hindernisses bei dem Gericht, bei dem die Frist wahrzunehmen gewesen wäre, unter Angabe und Glaubhaftmachung der Versäumungsgründe angebracht werden. Zur Wahrung der Frist genügt es, wenn das Gesuch rechtzeitig bei dem Gericht angebracht wird, das über das Gesuch entscheidet. (2) Mit dem Gesuch ist zugleich die versäumte Handlung selbst nachzuholen. Entstehungsgeschichte: Satz 2 des Absatzes 1 ist angefügt worden durch Art. 2 Nr. 2 EGOWiG. 11

Der Gedanke kommt in der Fassung schlecht zum Ausdruck. Der Gesetzgeber sollte bei einer Reform im Anschluß an die erste Möglichkeit auf die Kenntnis von der Frist abstellen (. . wenn der Antragsteller von einer Rechtsmittelfrist ohne sein Verschulden keine Kenntnis hat. Die fehlende Kenntnis ist unverschuldet, wenn die Belehrung . . unterblieben ist).

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§ 45 Anm. 1—3

1. Das Gesuch ist in der Anbringungsform frei. Die bloße Behauptung, der Antragsteller habe ohne sein Verschulden eine bestimmte Frist versäumt, ist ein — wenn auch unzulässiges — Wiedereinsetzungsgesuch und als solches zu behandeln (RG HRR 1935 1359). Das Gesuch ist aber nur dann zulässig, wenn die Frist von einer Woche (2 zu § 43) gewahrt ist; die Versäumungsgründe angegeben und glaubhaft gemacht worden sind; die versäumte Handlung nachgeholt worden ist; und, falls sie einem Formzwang unterliegt (z. B. § 345 Abs. 2, § 390 Abs. 2), dieser erfüllt ist. Wenn das Gesuch anders bezeichnet wird, als im Gesetzestext angegeben, ist das nach dem sinngemäß anzuwendenden § 300 unschädlich. In dem Antrag des Angeklagten auf Entscheidung des Rechtsmittelgerichts (§319 Abs. 2 Satz 1, § 346 Abs. 2 Satz 1) liegt regelmäßig zugleich ein Gesuch um Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Darüber ist zuerst zu entscheiden, weil die Bewilligung der Wiedereinsetzung den Antrag auf Entscheidung des Rechtsmittelgerichts gegenstandslos macht, und auf der anderen Seite die Feststellung, daß die Frist nicht versäumt sei, die Entscheidung des Rechtsmittelgerichts vorschreibt (RGSt. 53 288; BGH St. 11 154). Des Verfahrens nach § 44 bedarf es nicht, wenn das Gericht eine Entscheidung in der irrigen Annahme getroffen hat, daß eine Frist versäumt sei. Das Gericht kann und muß in einem solchen Fall seine Entscheidung von Amts wegen aufheben oder ändern, sobald sich herausstellt, daß die irrigerweise angenommene Versäumnis in Wirklichkeit nicht vorliegt (RGSt. 59 419; R G JW 1927 395). Ein - selbst unzulässiges - Wiederaufnahmegesuch kann hierzu Veranlassung bieten. 2. Beseitigung des Hindernisses. Unter dem Hindernis ist der Umstand zu verstehen, der die Versäumung verursacht hat. Hat jemand das zur Wahrung der Frist Erforderliche getan, diese aber, ohne daß er das weiß, doch versäumt, dann bildet diese Unkenntnis das Hindernis. Es ist beseitigt, wenn der Betroffene die Kenntnis der Versäumung erlangt. Geht ein rechtzeitig aufgegebener Brief verloren, ist das Hindernis beseitigt, wenn dem Absender der Verlust bekannt wird. Hat jemand von einer Zustellung keine Kenntnis, ist das Hindernis beseitigt, wenn der Adressat von der Zustellung Kenntnis erlangt und dazu die Gelegenheit erhält, von dem Gegenstand der Zustellung Kenntnis zu nehmen. Ist jemand über eine Rechtsmittelfrist nicht belehrt worden und hat er von ihr keine Kenntnis gehabt, ist das Hindernis beseitigt, wenn die Belehrung nachgeholt wird oder der Beteiligte sonst, etwa durch Verwerfung eines Rechtsmittels, Kenntnis von der Frist erlangt. Für die Beseitigung des Hindernisses kommt es auf die persönliche Kenntnis des von ihm Betroffenen an. Es schadet ihm nicht, wenn sein Anwalt früher (BayObLGSt. 1956 251 = NJW 1957 192; OLG Hamm NJW 1965 2216), und es kommt ihm nicht zugute, wenn sein Anwalt später (BayObLGSt. 1955 188 = NJW 1956 154; OLG Schleswig SchlHA 1959 301) von dem Umstand Kenntnis erhalten hat als er selbst. Besteht zwischen Behörden Meinungsverschiedenheit über den hindernden Umstand und sind diese mit der Aufklärung befaßt, dann ist das Hindernis erst behoben, wenn dem Betroffenen die ermittelten Umstände bekanntgegeben worden sind und damit endgültige Klarheit verschafft worden ist (OLG Hamburg A l s b . E 1 156). 3. Zuständiges Gericht. Zuständig, das Gesuch entgegenzunehmen, ist das Gericht, bei dem die versäumte Handlung vorgenommen werden mußte (judex a quo). Ist die Frist zur Begründung einer Revision versäumt, so ist das Gesuch bei dem letzten Tatrichter anzubringen und von diesem über die Staatsanwaltschaft dem Revisionsrichter zur Entscheidung vorzulegen. Zuständig ist auch das Gericht, bei dem die versäumte Handlung vorgenommen werden durfte. Danach kann der Beschuldigte, der sich nicht auf freiem Fuß befindet (11 zu § 35), das Gesuch nach § 229 auch bei dem Amtsgericht anbringen, in dessen Bezirk er verwahrt wird (KG DRiZ 1929 1151). Ist die Frist für eine sofortige Beschwerde versäumt, dann ist nach § 311 Abs. 2 sowohl das Gericht, das die angefochtene Entscheidung erlassen hat, als auch das Beschwerdegericht zuständig, das Gesuch entgegenzunehmen. Die Regelung ist zweckmäßig, weil das Gesuch auf diese Weise dorthin kommt, wo sich in der Regel die Akten befinden werden. Es war aber unzweckmäßig, daß die Frist nicht gewahrt wurde, wenn das Gesuch versehentlich bei dem Gericht eingereicht wurde, das darüber nach § 46 Abs. 1 zu entscheiden hat (judex ad quem). Nach dem neu eingefügten Satz 2 genügt das nunmehr, um die Frist zu wahren.

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§ 45 Anm. 4, 5

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

4. Angabe der Versäumungsgründe. Der Antrag muß unter Behauptung von Tatsachen so vollständig begründet werden (BayObLGSt. 1949/51 350), daß ihm der zufallige Umstand, seine Unabwendbarkeit, die Verhinderung des Gesuchstellers und die Kausalität des Umstands für die Verhinderung entnommen werden können. Versäumungsgründe nachzuschieben, ist unzulässig. Das schließt indessen nicht aus, daß der Antragsteller sein fristgerecht angebrachtes Vorbringen nach Ablauf der Frist bis zur gerichtlichen Entscheidung erläutert, vervollständigt und ergänzt (vgl. B G H Z N J W 1951 964), solange damit der fristgerecht vorgebrachte, anspruchsbegründende Tatsachenvortrag nicht verändert wird Umstände, die den Akten zu entnehmen (Zustellung durch Niederlegung oder an Dritte, Unterlassen der Rechtsmittelbelehrung nach § 35a, unrichtiger Akteninhalt) oder gerichtskundig sind (Überschwemmung, Schneeverwehung, Stillstand der Rechtspflege), unterliegen nicht der Darlegungspflicht (BayObLGSt. 1952 62; O L G H a m m N J W 1955 1850; O L G Saarbrücken Rpfleger 1960 344). Z u der vom Gesuchsteller zu erbringenden Aufklärung gehört auch die Darlegung, wann das Hindernis beseitigt worden ist und wodurch (OLG Saarbrücken N J W 1969 1865; J o h n 3; P u c h e l t 5). Die entgegengesetzte Ansicht 2 beruft sich zu Unrecht auf den Wortlaut des § 45 und auf einen Vergleich mit § 236 Abs. 1 Z P O und § 22 Abs. 2 G F G . Denn es kann nicht der Sinn eines summarischen Verfahrens sein, über dessen erste Voraussetzung, die Fristwahrung, Rückfragen zu halten und Beweise zu erheben. Zwar entscheidet das richterliche Ermessen ( E b S c h m i d t 6), doch setzt auch dieses Aufklärung voraus. 5. Die Glaubhaftmachung soll den Richter in die Lage versetzen, ohne den Fortgang des Verfahrens verzögernde weitere Ermittlungen über das Gesuch zu entscheiden (BGHSt. 21 347), d . h . auch ohne förmliche Beweiserhebung die behaupteten Tatsachen für wahr zu halten. Dafür wird indessen nicht die volle richterliche Überzeugung von der Richtigkeit der behaupteten Tatsachen gefordert. Es genügt, daß dem Richter durch die beigebrachten Beweismittel in einem nach Lage der Sache vernünftigerweise zur Entscheidung hinreichende Maße die Wahrscheinlichkeit ihrer Richtigkeit dargetan wird (RGSt. 28 10; BayOb. LGSt. 1955 224 = N J W 1956 640; BGHSt. 21 350). Diesem Zweck dienen präsente schriftliche Beweismittel, die der Richter unmittelbar, in der Regel, ohne andere Personen zu befragen, durch Einsichtnahme würdigen kann; die bloße Bezeichnung eines Beweismittels, wie etwa die Benennung eines Zeugen, reicht in der Regel zur Glaubhaftmachung nicht aus (BGHSt. 21 347). Der Grundsatz, daß im Zweifel zugunsten des Angeklagten zu entscheiden sei, gilt für die Glaubhaftmachung durch Beteiligte auch dann nicht, wenn die Glaubhaftmachung dem Angeklagten dienen soll (BGHSt. 21 352). Als Mittel der Glaubhaftmachung kommen etwa in Betracht ärztliche Zeugnisse, gewöhnliche schriftliche Erklärungen oder eidesstattliche Versicherungen von Zeugen (RGSt. 28 11, 57 54, 58 148, 62 121, 70 268), etwa des Zustellungsempfängers, des Arbeitgebers oder eines Tankwarts, amtliche Bescheinigungen, in seltenen Fällen schriftliche Sachverständigengutachten und endlich eidesstattliche Versicherungen des Gesuchstellers selbst, soweit er nicht im gleichen Verfahren Beschuldigter ist (6). Soweit keine Darlegungspflicht besteht (4 Abs. 2), bedarf es auch nicht der Glaubhaftmachung, namentlich also nicht für gerichtsbekannte Tatsachen (OLG Neustadt G A 1956 94; O L G Saarbrücken Rpfleger 1960 344). Wenn der Verteidiger das Gesuch anbringt, ist der Vortrag durch ihn allein keine Glaubhaftmachung. Bestätigt er aber im Gesuch die Wiedereinsetzungsgründe als eigene Wahrnehmung, so wird das in der Regel als Glaubhaftmachung genügen (OLG Neustadt M D R 1956 312), wenn auch eine „anwaltliche Versicherung" angebrachter ist ( O L G Köln N J W 1964 1038). Ausnahmsweise kann auch die bloße Benennung eines Zeugen genügen: einmal, wenn er Bediensteter einer Behörde (Gericht, Staatsanwaltschaft, Haftanstalt) ist, die mit dem Gesuch befaßt ist (etwas weitergehend BayObLGSt. 1955 223 = N J W 1956 640), zum anderen, wenn der Gesuch1

Beispiel: Der Antragsteller trägt vor, er sei, im Begriff, einen Schriftsatz zur Post zu bringen, so erkrankt, daß er sein Vorhaben nicht habe ausführen können. Er gibt nach Fristablauf die Art der Erkrankung an und trägt vor, daß er allein im Hause gewesen sei und keinen Telefonanschluß unterhalte. 2 BayObLGSt. 1952 16; M ü l l e r - S a x 2; E b S c h m i d t Nachtr. 2 5.

392

Fünfter Abschnitt. Fristen und Wiedereinsetzung (Dünnebier)

§ 45 Anm. 6 , 7

steller glaubhaft vorbringt, der Zeuge habe eine schriftliche Bestätigung verweigert (BayOb. LGSt. 1955 210 = JZ 1956 341), und endlich, wenn es unangemessen oder voraussichtlich zwecklos ist, daß der Gesuchsteller den Zeugen um eine Erklärung angeht, und dieser Umstand entweder auf der Hand liegt oder glaubhaft gemacht worden ist. Ist es dem Beschuldigten unmöglich, Beweismittel beizubringen, dann kann, namentlich bei nicht von ihm zu vertretendem Beweisverlust, seine eigene schlichte (nicht eidesstattliche) Versicherung genügen (BVerfGE 26 3 2 0 = NJW 1969 1531; OLG Hamm JMB1NRW 1954 134; OLG Bremen Rpfleger 1962 386; OLG Hamm NJW 1970 1429). Auch kann eine eidesstattliche Versicherung als schlichte Versicherung geweitet werden, nicht aber (so OLG Hamm MDR 1965 843) als Beteuerung mit besonderer, bestärkter Bedeutung. In einem solchen Fall ist die Prüfung der Zulässigkeit schwer von derjenigen der Begründetheit zu scheiden. Der Richter wird die vorgebrachte Behauptung nach den Umständen zu würdigen und dabei u. U. den Beschuldigten persönlich zu vernehmen haben. Freilich wird nicht jedes Vorbringen 3 glaubhaft sein. Im übrigen kann der Beschuldigte, wenn er erst verspätet ein Beweismittel erlangen konnte, Wiedereinsetzung gegen Versäumung der Wiedereinsetzungsfrist begehren (OLG Hamm NJW 1958 1104). 6. Eidesstattliche Versicherung des Beschuldigten. § 26 Abs. 2 Satz 2 und § 74 Abs. 3, 2. Halbsatz schließen den Eid, und damit auch die ihn ersetzende eidesstattliche Versicherung (RGSt. 57 54), des Ablehnungsberechtigten ausdrücklich aus. Die abweichende Fassung des § 45 Abs. 1 kann nicht schlechthin unbeachtet bleiben. Grundsätzlich ist daher der Antragsteller befugt, sich zur Glaubhaftmachung der eidesstattlichen Versicherung zu bedienen. Eine Ausnahme gilt jedoch, wenn der Antragsteller der Beschuldigte im Strafverfahren ist. Denn der Eid und die eidesstattliche Versicherung des Beschuldigten sind im Strafverfahren nach deutscher Auffassung, die im System der Strafprozeßordnung ihren Ausdruck findet, mit der Stellung des Beschuldigten nicht vereinbar. Wenn mit den genannten Mitteln der Glaubhaftmachung im Wiedereinsetzungsverfahren auch nicht die Schuld abgeschworen werden soll, so dienen doch auch sie der Verteidigung. Insoweit gehen die allgemeinen Erwägungen dem Fassungsunterschied bei der Auslegung vor (vgl. RGSt. 57 53). Der Beschuldigte kann also seinen eigenen Wiedereinsetzungsantrag nicht mit einer eigenen eidesstattlichen Versicherung glaubhaft machen (RGSt. 70 268; BayObLGSt. 1953 207 = NJW 1954 204; K G VRS 6 283; OLG Braunschweig GA 1966 55; M i t t e l b a c h JR 1955 274) 4 . Dagegen kann er als Zeuge eines anderen Antragstellers eine solche Versicherung abgeben. 7. Frist zur Glaubhaftmachung. Nach dem Wortlaut des § 45 Abs. 1 muß das Gesuch fristgemäß unter Glaubhaftmachung angebracht werden. Daraus folgt, daß der Gesuchsteller seine Angaben mit dem Gesuch, spätestens bis zum Fristablauf, glaubhaft zu machen hat. Dem liegt der Gedanke zugrunde, daß der durch die Behauptung einer unabwendbaren Versäumung eingetretene Zustand der Ungewißheit über die Rechtsbeständigkeit der zufolge der Säumnis erlassenen Entscheidungen bald beseitigt werden muß. Der Gesuchsteller hat daher grundsätzlich keinen Anspruch darauf, nach Ablauf der Frist mit Beglaubigungsmaterial zugelassen zu werden. Auf der anderen Seite ist dem Gesetz nicht zu entnehmen, daß das Gericht nach Ablauf der Frist eingegangenes Material nicht berücksichtigen dürfte. Die Befugnis zu eigener Beweisaufnahme (OLG München A l s b . E 1 157) erweist das Gegenteil. Da ferner unter Umständen die anwaltliche Bekundung in dem Wiedereinsetzungsgesuch (OLG Neustadt MDR 1956 312) und sogar die schlichte Erklärung des Beschuldigten, dem keine anderen Beweismittel zur Verfügung stehen, die richterliche Feststellung der Wahrscheinlichkeit der behaupteten Tatsache begründen, also zur Glaubhaftmachung dienen können, ist daraus zu folgern: 3

4

Beispiel: Der in den oberen Teil des Nachtbriefkastens eingeworfene Brief sei ohne Zeugen 23 Uhr eingeworfen worden; die Klappe müsse eine Stunde zu früh gefallen sein. Wie hier E b S c h m i d t Nachtr. 2 11; M i t t e l b a c h JR 1955 274; a. A. - auch Beschuldigter kann zur Glaubhaftmachung eines Versäumungsgrundes eine Versicherung an Eides Statt abgeben — O L G Hamburg JR 1955 274; OLG Hamm M D R 1965 843; G e r l a n d 192; C l e m e n s DStR 1939 197.

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§ 4 5 Anm. 8 §46

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

Die Glaubhaftmachung gehört zu den Zulässigkeitsvoraussetzungen. Das Gesuch ist unzulässig, wenn es keine Glaubhaftmachung enthält (KG VRS 6 384). Nach den Umständen des Falles kann jedoch in vereinzelten Fällen die eigene Erklärung des GeSuchstellers als eine die Zulässigkeit begründende Glaubhaftmachung angesehen werden, wovon die Frage, ob sie ausreicht, zu unterscheiden ist. Der Gesuchsteller kann seine Glaubhaftmachung jederzeit verbessern und dazu weiteres Material nachreichen („untermauern" OLG Nürnberg MDR 1963 699), namentlich in der Beschwerdeinstanz, wenn er aus einer ablehnenden Entscheidung die Mängel seiner Unterlagen erkannt hat. Das Gericht hat zur Frage der Begründetheit alles Beglaubigungsmaterial zu berücksichtigen, das ihm bis zu seiner Entscheidung vorgelegt wird, soweit es sich auf in dem Antrag angegebene Versäumungsgründe bezieht. Für die Frage der Zulässigkeit darf es aber nur auf die bis zum Ablauf der Wochenfrist angebrachte Glaubhaftmachung abstellen (KG VRS 6 683, wo zugleich klargestellt wird, daß K G JW 1930 580 im gleichen Sinne zu verstehen ist; Kl 2; OLG Oldenburg NJW 1966 1134; OLG Braunschweig NJW 1967 1433; OLG Saarbrücken NJW 1969 1865). Die Ansicht, daß nicht nur für eine fristgemäß vorgenommene Glaubhaftmachung neues Material nachgereicht, sondern eine unterlassene Glaubhaftmachung selbst nachgeholt werden könne 5 , führt zu dem unannehmbaren Ergebnis, daß ein Gesuch, das unzulässig war, als es eingelegt wurde, nachträglich bis zur Entscheidung zulässig werden könnte. Sie rechtfertigt sich auch nicht mit der Erwägung, es führe zu Unbilligkeiten, wenn es dem Antragsteller nicht gelinge, binnen der kurzen Frist des § 45 die Beweismittel für seine unverschuldete Säumnis zu beschaffen (OLG Nürnberg aaO.). Denn wenn das — erfahrungsgemäß sehr selten — einmal der Fall sein sollte, kann der Antragsteller zugleich Wiedereinsetzung gegen Versäumung der Frist des § 45 beantragen. Für den Fall, daß der Antragsteller selbst den Wiedereinsetzungsgrund erst während des Beschwerdeverfahrens erfahrt (der Anwalt hatte das Gesuch mangelhaft begründet), will das Oberlandesgericht Braunschweig (MDR 1967 321) das Nachschieben der Glaubhaftmachung zulassen, um ein Wiedereinsetzungsgesuch zu vermeiden. Es befürchtet, daß der Betroffene, wenn er den Abschluß des Beschwerdeverfahrens abwarte, die Frist des § 45 versäumen könne, wenn er das Gesuch aber alsbald anbringe, gewärtigen müsse, wegen fehlenden Rechtsschutzinteresses abgewiesen zu werden. Es kann nicht anerkannt werden, daß für ein zulässiges Gesuch kein Rechtsschutzinteresse bestehe, solange noch über ein unzulässiges zu entscheiden ist. Das Verfahren des Oberlandesgerichts vermengt die Aufgaben verschiedener Instanzen und Verfahren. Das rasche und erfreuliche Ergebnis darf über die Bedenklichkeit des Verfahrens nicht hinwegtäuschen. 8. Nachholen der versäumten Handlung. Ist die versäumte Handlung noch nicht vorgenommen, so muß sie gleichzeitig mit dem Gesuch, zumindest innerhalb der Wochenfrist, nachgeholt werden (RGSt. 58 156). Unterliegt sie besonderen Formerfordernissen (z. B. § 344 Abs. 2, § 345 Abs. 2), so ist sie nur nachgeholt, wenn sie diesen Erfordernissen genügt (RGSt. 50 253; 53 289). War die Handlung schon, wenn auch verspätet — falls formgebunden in rechter Form — vorgenommen, so braucht sie nicht wiederholt zu werden. Es genügt die Bezugaufnahme auf sie (OLG Celle NdsRpfl. 1951 226), was unter Umständen auch stillschweigend möglich ist (OLG Bremen DRechtsZ 1950 94).

§46 (1) Über das Gesuch entscheidet das Gericht, das bei rechtzeitiger Handlung zur Entscheidung in der Sache selbst berufen gewesen wäre. (2) Die dem Gesuch stattgebende Entscheidung unterliegt keiner Anfechtung. (3) Gegen die das Gesuch verwerfende Entscheidung ist sofortige Beschwerde zulässig.

5

M ü l l e r - S a x 2b Abs. 2; F u h r m a n n D a l c k e 4, beide unter Bezugnahme auf KG JW 1930 580; OLG Nürnberg MDR 1963 699.

Fünfter Abschnitt. Fristen und Wiedereinsetzung (Dünnebier)

§ 46 Anm. I 1—3

I. Erledigung des Gesuchs. 1. Gesuch. Voraussetzung der gerichtlichen Entscheidung ist ein Gesuch (Antrag) i. S. des § 45. Das Gericht kann die Wiedereinsetzung nicht von Amts wegen gewähren (RGSt. 53 301, 76 179). Zwar wird in vereinzelten Fällen (Mängel im behördlichen Verkehr, namentlich verspätete Beförderung aus der Strafanstalt) die Unabwendbarkeit des Ereignisses, das die Fristversäumung veranlaßt hat, auf der Hand liegen und durch die Akten von selbst glaubhaft gemacht sein. Auch wird die Prozeßhandlung, weil schon vorgenommen, nicht nachgeholt zu werden brauchen. Alsdann könnte in solchen Fällen eine Wiedereinsetzung von Amts wegen Umständlichkeiten vermeiden und das Verfahren nur fordern. Indessen schließt der Wortlaut des Gesetzes es aus, von einem Antrag abzusehen. Die Regelung des § 26 Abs. 3 Satz 4 EGGVG ist nicht ohne eine, allerdings sehr erwünschte, Gesetzesänderung auf die § § 4 4 bis 46 zu übertragen. Der angegebenen Rechtsprechung, der die herrschende Ansicht zustimmt 1 , ist daher beizupflichten. Ihr kann, so zweckmäßig sich die gegenteilige Auffassung auswirken könnte, auch nicht widersprochen werden, soweit sie auch einen Antrag des Staatsanwalts zugunsten des Beschuldigten ausschließt (RGSt. 22 31 2 ). Eine entsprechende Anwendung von § 296 Abs. 2 kann nicht in Betracht gezogen werden. Denn wenn der Staatsanwalt zugunsten des Angeklagten ein Rechtsmittel gebraucht, so handhabt er dabei ein eigenes prozessuales Recht, während die Wiedereinsetzung dem Versäumenden persönlich zusteht ( J o h n 2 Abs. 2 zu § 44). Demzufolge kann auch der gesetzliche Vertreter (§ 298) nicht für den Vertretenen Wiedereinsetzung beanspruchen (a. A. BayObLG A l s b . E 1 110). 2. Zuständiges Gericht. Das Verfahren ist dasselbe wie bei Rechtsmitteln. Das Gesuch ist nach § 45 Abs. 1 in erster Linie dort anzubringen, wo die Frist wahrzunehmen gewesen wäre; es kann aber auch bei dem zur Entscheidung berufenen Gericht gestellt werden (3 zu § 45). Die Entscheidung über das Gesuch steht demjenigen Gericht zu, welches bei rechtzeitig vorgenommener Handlung zu der durch sie veranlaßten Entscheidung berufen wäre, also bei Versäumung von Rechtsmittelfristen dem zur Entscheidung über das Rechtsmittel selbst berufenen judex ad quem (RGRspr. 8 704; RGSt. 40 272). Das Gesetz will damit Weiterungen vermeiden, die in bezug auf die Rechtsmittel eintreten müßten, wenn über die Wiedereinsetzung bei versäumten Rechtsmitteln der judex a quo zu entscheiden hätte (Mot. H a h n 1 98). Hat der Angeklagte ein Urteil, das statt mit der Berufung mit der Revision angefochten werden kann (§ 335 Abs. 1), ohne Bezeichnung des Rechtsmittels zulässigerweise (BGHSt. 2 63) lediglich angefochten, dabei aber die Rechtsmittelfrist versäumt, dann entscheidet das für das regelmäßige Rechtsmittel der Berufung zuständige Landgericht, nicht das Revisionsgericht (BayObLGSt. 1962 156= NJW 1962 1927). 3. Rechtsmittelinstanz. Aus der Befugnis, im Zivilprozeß bei der Prüfung der Prozeßvoraussetzungen auch die Zulässigkeit der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung von Fristen der Vorinstanz zu prüfen (II 1), ist die Folgerung gezogen worden, daß das Rechtsmittelgericht auch über übergangene Wiedereinsetzungsgesuche zu entscheiden und dabei auch vom Vorderrichter nicht festgestellte Tatsachen zu berücksichtigen habe (BGHZ 7 2 8 0 = NJW 1953 504). Das Bayerische Oberste Landesgericht übernimmt — ohne allerdings die Frage der Tatsachenfeststellung zu entscheiden — diese Rechtsprechung für das Strafverfahren (BayObLGSt. 1960 114 = NJW 1960 1730). Seine Begründung, jene Befugnis erwachse aus der Pflicht, die Prozeßvoraussetzungen nachzuprüfen, verkennt jedoch, daß sich im Strafverfahren, anders als im Zivilprozeß, die Prüfung des Rechtsmittelgerichts lediglich darauf erstreckt, ob durch die Wiedereinsetzung eine Prozeßlage geschaffen worden war, die eine Entscheidung des Vorderrichters zulässig gemacht hatte (II 1). Das Oberlandesgericht Celle ist der dargestellten Rechtsprechung beigetreten (NdsRpfl. 1963 237). Es begründet die Befugnis des Revisionsgerichts, über den Wiedereinsetzungsantrag zu ent1 2

E b S c h m i d t 7 ; M ü l l e r - S a x 2 ; K 1 5 z u § 4 4 ; K l e i n k n e c h t NJW 1961 86. Ebenso OLG Bremen GA 1957 87; E b S c h m i d t 5; M ü l l e r - S a x 2, je zu § 44; a. A. O L G München A l s b . E 1 110; K a l t h o e n e r 99.

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§ 46 Anm. 1 4 , 5

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

scheiden, mit der „sog. Devolutivwirkung". Indessen ist es lediglich eine der Begründung bedürftige Behauptung, daß der Effekt des Rechtsmittels, die Zuständigkeit zur Sachentscheidung vom ersten Richter auf das Rechtsmittelgericht zu übertragen, zugleich die Wirksamkeit habe, diesem auch die Zuständigkeit für Vorentscheidungen zu geben, die der erste Richter unterlassen hatte. Das Behauptete geht aus keiner Bestimmung der Strafprozeßordnung hervor, ergibt sich nicht aus dem Wesen der Devolutivwirkung und widerspricht dem Wortlaute des § 46 Abs. 1 sowie dem System der Strafprozeßordnung; diese hat die Devolutivwirkung in jedem Einzelfall ausgesprochen oder klar kenntlich gemacht. Danach kann keine Zuständigkeit des Rechtsmittelgerichts anerkannt werden, auf Wiedereinsetzungsanträge zu entscheiden, die der Vorderrichter übergangen hatte (zust. BGHSt. 22 52). Es kann sich vielmehr lediglich fragen, ob Gründe der Prozeßökonomie es gebieten oder zulassen, daß das Rechtsmittelgericht selbst entscheidet, statt die Sache an den Vorderrichter zurückzuverweisen, wenn dieser etwa über einen Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen Versäumung der Frist zum Einspruch gegen einen Strafbefehl nicht entschieden hat. Auch das ist unzulässig (BGHSt. 22 58). Eine solche Entscheidung wäre systemwidrig; und ein Fehler sollte nicht durch einen zweiten geheilt werden. Auch sachlich wäre es falsch, wenn das Rechtsmittelgericht einen vom Vorderrichter übergangenen Wiedereinsetzungsantrag verwerfen würde. Denn bei diesem, nicht aber bei jenem können Wiedereinsetzungsgründe gerichtskundig sein, so daß sie von der Darlegungspflicht und von der Glaubhaftmachung ausgenommen sind (4 Abs. 2 und 5 Abs. 2 zu § 45). Die Wiedereinsetzung zu gewähren, wenn das Gesuch offensichtlich begründet ist (OLG Düsseldorf JMB1NRW 1960 71), mag oft im Ergebnis annehmbar sein; es bleibt aber systematisch bedenklich, gewährleistet nicht die Richtigkeit der Entscheidung und bietet den Anreiz, was in einem Falle eine erleichternde Großzügigkeit sein mag, dort zu wiederholen, wo es dem Berechtigten nachteilig sein kann. Aus den gleichen Erwägungen sind die Entscheidungen abzulehnen (eingehend M a y e r JZ 1964 386), die dem Revisionsgericht die Befugnis zugestehen wollen, über ein Wiedereinsetzungsgesuch zu entscheiden, das hilfsweise anläßlich einer Revision gegen eine Sachentscheidung angebracht wird, zu der der Tatrichter gelangt war, weil er den Einspruch gegen einen Strafbefehl irrigerweise für rechtzeitig gehalten hatte (BayObLGSt. 1963 54 = JZ 1964 385), oder über eines, das gegen die Versäumung einer Einspruchsfrist erst im Revisionsverfahren gestellt wird (OLG Celle NdsRpfl, 1964 185). 4. Entscheidung. Das Gericht entscheidet im allgemeinen aufgrund des vom Gesuchsteller beigebrachten Materials, kann aber, wenn es dieses zur Glaubhaftmachung nicht als ausreichend ansieht, sowohl dem Gesuchsteller Gelegenheit geben, es zu ergänzen, als auch selbst Beweise erheben (OLG München A l s b . E 1 157). Das wird insbesondere dann geboten sein, wenn der hindernde Umstand allein durch die Angabe des Gesuchstellers bekundet werden kann und das Gericht persönlicher Vernehmung bedarf, um die Glaubwürdigkeit beurteilen zu können. Die gerichtliche Entscheidung ergeht in Beschlußbesetzung durch schriftlichen Beschluß nach Anhören der Staatsanwaltschaft (§ 33) und eines sonstigen Prozeßbeteiligten, etwa des Privatklägers (BVerfGE 14 8 = NJW 1962 580). Das Gericht kann auch (z. B. bei versäumter Revisionsbegründungsfrist) in der Hauptverhandlung durch verkündeten Beschluß entscheiden, wenn nicht durch die Wiedereinsetzung eine neue Erklärungsfrist eröffnet wird. Stillschweigende Wiedereinsetzung, in der Weise, daß das Gericht, nachdem es die Fristversäumung und das Wiedereinsetzungsgesuch festgestellt hat, dem Verfahren ohne ausdrückliche Entscheidung Fortgang gibt, ist nicht ausgeschlossen (OLG Hamm NJW 1958 880; OLG Hamburg VRS 14 57), aber besser zu vermeiden. 5. Wirkung. Das bloße Gesuch um Wiedereinsetzung hat auf die Rechtskraft einer zufolge der Fristversäumung ergangenen Entscheidung keinen Einfluß (§47 Abs. 1; RGSt. 54 287). Dagegen versetzt die gewährte Wiedereinsetzung in den vorigen Stand das Verfahren in den Abschnitt vor der Versäumung der Frist in der Weise zurück, daß sie die Rechtslage herstellt, die vor der Versäumung bei rechtzeitiger Handlung bestanden hätte. Sie bringt eine Entscheidung, die zufolge der Versäumung ergangen war, von Rechts wegen in Wegfall und beseitigt ihre etwa eingetretene Rechtskraft (RGSt. 53 289, 54 287). Eine 396

Fünfter Abschnitt. Fristen und Wiedereinsetzung (Dünnebier)

§ 46 Anm. I 6; H 1

in der Vollstreckung begriffene Strafe wird unterbrochen, sofern nicht mit der Wiedereinsetzung zugleich die endgültige Entscheidung über ein Rechtsmittel ergeht und damit eine Unterbrechung entbehrlich wird (OLG H a m m N J W 1956 274). Im übrigen bleibt die Rechtslage unberührt ( L i c h t i M D R 1954 500). Wird dem Angeklagten gegen die Versäumung der Revisionsfrist Wiedereinsetzung gewährt, so ist das Urteil nicht erneut nach § 345 Abs. 1 zuzustellen, wenn es schon vor der Wiedereinsetzung ordnungsmäßig zugestellt war; die Revisionsbegründungsfrist läuft nunmehr von der Zustellung des die Wiedereinsetzung gewährenden Beschlusses an (RGSt. 76 280). Ist das Urteil aber wegen Abwesenheit durch Zustellung bekanntgemacht worden (§ 341 Abs. 2), so wird der Lauf der Begründungsfrist durch eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen Versäumung der Einlegungsfrist nicht berührt (BayObLGSt. 1953 26). Der Angeklagte muß daher auch für die Versäumung der zweiten Frist Wiedereinsetzungsgründe glaubhaft machen ( O L G Koblenz N J W 1952 1229). Eine verbüßte Strafe bleibt Strafhaft; sie kann sich nicht rückwirkend in Untersuchungshaft verwandeln (BGHSt. 18 36; O L G H a m m N J W 1956 275). Die durch die Wiedereinsetzung beseitigte Entscheidung braucht nicht förmlich aufgehoben zu werden (RGSt. 53 288; 61 181), doch empfiehlt es sich, die von Rechts wegen eintretende Folge im Tenor der Entscheidung auszusprechen ( M ü l l e r - S a x lb); zumindest sollte das in den Gründen geschehen. 6. Beschwerde. Wie im Falle des § 28 Abs. 1 ist die Entscheidung, die dem Gesuch stattgibt, unanfechtbar (Absatz 2), die es verwirft, mit sofortiger Beschwerde des Antragstellers oder der Staatsanwaltschaft anfechtbar, soweit sie nicht vom Oberlandesgericht, auch soweit es im ersten Rechtszug entscheidet, oder vom Bundesgerichtshof erlassen ist (§ 304 Abs. 4). Das Gericht kann die gewährende Entscheidung nicht wieder aufheben (RGSt. 40 271; BVerfGE 14 8 = N J W 1962 580), wohl aber die verwerfende, wenn diese auf einer unrichtigen tatsächlichen Grundlage beruht (RGSt. 59 419; BayObLGSt. 1952 61).

II. Fehlerhafte Wiedereinsetzungsentscheidungen. 1. Grundsatz. Im Zivilprozeß ist die Entscheidung, mit der Wiedereinsetzung gewährt wird, zwar für die Instanz bindend 3 , doch prüft das Revisionsgericht mit der Zulässigkeit des Rechtsmittels auch die der Wiedereinsetzung gegen die Versäumung der Fristen zum Einlegen und Begründen der Berufung 4 . Das Bayerische Oberste Landesgericht übernimmt aus dieser Rechtsprechung den Satz, daß die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand auch im Strafverfahren von Amts wegen zu prüfen ist (BayObLGSt. 1960 114 = N J W 1960 1730). Dem ist zuzustimmen, doch darf daraus nicht wie im Zivilprozeß (§ 238 Abs. 2 ZPO) die Folgerung gezogen werden, daß das Rechtsmittelgericht die Wiedereinsetzungsentscheidung der Vorinstanz nachprüfen und ggf. ändern dürfte; die Prüfung erstreckt sich im Rahmen der Feststellung der Prozeßvoraussetzungen nur darauf, ob durch eine Wiedereinsetzung eine Prozeßlage geschaffen worden ist, in der der Vorderrichter zu entscheiden befugt war (OLG H a m m N J W 1964 265). Denn § 46 Abs. 2 entzieht die dem Gesuch stattgebende Entscheidung der Anfechtung und verleiht ihr damit Rechtskraft. Die Behandlung fehlerhafter Wiedereinsetzungsentscheidungen ergibt sich daher allein aus den allgemeinen Regeln der Rechtskraft. Nach diesen haben fehlerhafte Entscheidungen grundsätzlich Bestand, wenn sie in Rechtskraft erwachsen sind, es sei denn, daß die gewollte Wirkung vom Standpunkt des Rechts aus nicht denkbar ist oder mit Hauptgrundsätzen der Rechtsordnung in Widerspruch steht, oder daß die Entscheidung, ihr Bestand oder ihre Folge so unerträglich sind, daß sie sich mit einer geordneten Prozeßführung nicht vereinbaren lassen 5 .

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BGH (Z) NJW 1954 880. RGZ 100 269; 167 215; BGHZ 6 369 = NJW 1952 1137; BGHZ 12 165; BGHZ 21 142= NJW 1956 1518. 5 RGSt. 40 273; 72 78; OLG Bremen GA 1956 186; JZ 1958 546; OLG Hamm NJW 1958 880; Einl. Kap. 14 Abs. 2. 4

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§ 4 6 Anm. II 2, 3 § 47 Anm. 1

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

2. Gewährende Beschlüsse. Demzufolge ist die vom judex a quo gewährte Wiedereinsetzung rechtswirksam und für den judex ad quem bindend (RGSt. 40 271; R G JW 1937 175; K G GA 76 237; VRS 35 288), ebenso die von einem sonst unzuständigen Gericht (Oberlandesgericht statt Reichsgericht) bewilligte Wiedereinsetzung (RG JW 1927 396). Auch die ohne Antrag von Amts wegen eingeräumte Wiedereinsetzung ist wirksam und für das weitere Verfahren zu beachten (OLG Hamm NJW 1958 880, a. A. RGSt. 76 179). Hat ein unzuständiges Gericht die Wiedereinsetzung bewilligt, aber den gewährenden Beschluß wieder aufgehoben, so geht der letzte Beschluß ins Leere, weil die Wirkung der Rückversetzung eingetreten ist; er ist unbeachtlich (KG GA 76 237). Als völlig prozeßordnungswidrig und daher unwirksam ist es anzusehen, wenn das Gericht gegen die Versäumung der in einem Privatklagevergleich vereinbarten Widerrufsfrist Wiedereinsetzung gewährt (OLG Oldenburg JW 1931 2389). Dagegen ist die Wiedereinsetzung gegen die Versäumung der Strafantragsfrist zwar unrichtig, aber vertretbar und daher bindend (OLG Bremen GA 1956 185; a. A. — unwirksam — M ü l l e r - S a x 2b). 3. Ablehnende Beschlüsse. Für ablehnende Beschlüsse kann entgegen der Ansicht des Reichsgerichts (RGSt. 75 172; ebenso O L G Neustadt GA 1960 121) nichts anderes als für gewährende gelten ( E b S c h m i d t 7). Daher erwächst auch der Beschluß, mit dem das Amtsgericht ein Gesuch um Wiedereinsetzung gegen Versäumung einer Rechtsmittelfrist verwirft, wenn er unangefochten bleibt, in Rechtskraft (OLG Düsseldorf G A 1968 247). Das Amtsgericht kann ihn, wenn er auf unrichtiger tatsächlicher Grundlage beruht, wieder aufheben (I 6), nicht aber aus der rechtlichen Erwägung seiner erkannten Unzuständigkeit. Tut es das gleichwohl, hat die Aufhebung keine verfahrensrechtliche Bedeutung (KG JR 1956 111). Der Gesuchsteller ist, um den Beschluß des unzuständigen Gerichts zu beseitigen, auf den Weg der sofortigen Beschwerde angewiesen. Ist das Beschwerdegericht (§ 73 Abs. 1, 2. Halbsatz, § 121 Abs. 1 Nr. 2 GVG) nicht das nach § 46 Abs. 1 zur Entscheidung über das Wiedereinsetzungsgesuch berufene Gericht, so ergeht die Beschwerdeentscheidung dahin, daß die angefochtene Entscheidung aufgehoben und die Sache dem zuständigen Gericht zur Entscheidung vorgelegt wird. Das Bayerische Oberste Landesgericht will diesen Weg vermeiden und anstelle des Landgerichts das Revisionsgericht selbst über die sofortige Beschwerde entscheiden lassen, wenn mit dieser zugleich dessen Entscheidung nach § 346 Abs. 2 begehrt wird (BayOb. LGSt. 1961 157 = NJW 1961 1982). Eine Benachteiligung des Angeklagten kann dadurch in der Tat nicht eintreten, doch ist der prozeßökonomische Gewinn zu gering, als daß er ein Abweichen vom Gesetz rechtfertigen könnte. Das angestrebte Ziel könnte durch die Auslegung erreicht werden, daß bei Beschwerden, mit denen eine Verletzung von § 46 Abs. 1 gerügt wird, das Gericht zur Entscheidung über die sofortige Beschwerde zuständig ist, das bei rechtzeitiger Handlung zur Entscheidung in der Sache selbst berufen gewesen wäre (vgl. die Regelung in § 305 a Abs. 2). Dieser an sich sinnvollen Auslegung steht indessen entgegen, daß der Beschwerdeführer, wenn er sie nicht kennt und sich an das Gesetz hält (§ 306 Abs. 1), die Beschwerde bei dem alsdann unzuständigen Landgericht einlegen könnte. Sie ist daher unzulässig. Der Weg des Bayerischen Obersten Landesgerichts aber, im Einzelfall, wenn dem Beschwerdeführer kein Nachteil entstehen kann, einen prozeßkürzenden Weg zu suchen, ist unsystematisch und daher abzulehnen.

§47 (1) Durch das Gesuch um Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wird die Vollstreckung einer gerichtlichen Entscheidung nicht gehemmt. (2) Das Gericht kann jedoch einen Aufschub der Vollstreckung anordnen. 1. Zweck. § 47 Abs. 1 versagt dem Gesuch um Wiedereinsetzung in den vorigen Stand die aufschiebende Wirkung, um den Mißbrauch auszuschließen, dem die Rechtseinrichtung der Wiedereinsetzung sonst preisgegeben wäre (Mot. H a h n 1 98). Doch hemmt oder unterbricht der Beschluß, der dem Gesuch um Wiedereinsetzung stattgibt, die Vollstreckung einer gerichtlichen Entscheidung, wenn und soweit er das Verfahren in den Zeitpunkt vor 398

Fünfter Abschnitt. Fristen und Wiedereinsetzung (Dünnebier)

§ 47 Anm. 2—4

dem Eintritt der Rechtskraft der in Betracht kommenden Entscheidung zurückversetzt (I 5 zu § 46). Demzufolge ist in der Zeit vom Anbringen des Gesuchs bis zum Beschluß des Gerichts ein Zustand der Unsicherheit gegeben. Um ihr zu begegnen, kann das Gericht den Aufschub der Vollstreckung anordnen (Absatz 2). Wegen der dabei zu treffenden Abwägung ist die Entscheidung in das pflichtgemäße Ermessen des Gerichts gestellt. Das Gericht darf dem Antrag nur stattgeben, wenn das Wiedereinsetzungsgesuch zulässig, also fristgerecht angebracht, mit Glaubhaftmachung versehen ist und, soweit erforderlich, die versäumte Handlung, wenn notwendig formgerecht, nachgeholt ist. Ist das der Fall, wird das Gericht dem Antrag stattgeben, wenn das Wiedereinsetzungsgesuch erfolgreich erscheint. Da in der Regel über das Wiedereinsetzungsgesuch alsbald entschieden werden kann, kommt § 47 Abs. 2, im Gegensatz zu § 360 Abs. 2, keine große Bedeutung zu. 2. Aufschub. Die Strafprozeßordnung versteht in Übereinstimmung mit § 34 Abs. 2 GnO unter Aussetzung der Vollstreckung (Strafausstand) den Strafaufschub (Strafausstand vor dem Vollzug; § 456) und die Strafunterbrechung (Strafausstand während des Vollzugs). So verwenden § 360 Abs. 2 und § 458 Abs. 3 die Worte „Aufschub oder Unterbrechung" und § 307 Abs. 2 den Oberbegriff „aussetzen". Dem Zweck des § 47 entsprechend kann die Wendung „Aufschub der Vollstreckung" in § 47 Abs. 2 nur untechnisch im Sinne von Aussetzung verstanden werden, so daß sowohl Strafaufschub als auch Strafunterbrechung zulässig i s t ( E b S c h m i d t 1; M ü l l e r - S a x 1), wenn auch Unterbrechung nur selten notwendig sein wird. 3. Zuständig ist das Gericht, das über das Wiederaufnahmegesuch zu entscheiden hat (§ 46 Abs. 1). Da namentlich bei drohender Verhaftung eilige Maßnahmen des ortsnächsten Gerichts geboten sein können, muß man auch demjenigen Gericht die Befugnis zum Strafausstand zugestehen, bei dem das Wiedereinsetzungsgesuch anzubringen ist (vgl. § 307 Abs. 2; E b S c h m i d t 2; M ü l l e r - S a x 1). F e i s e n b e r g e r (2) und K l e i n k n e c h t (Kl 1) erachten das Gericht des § 4 5 aber nur zu einstweiligem Aufschub befugt. Doch liegt hierin kein Unterschied. Denn Anordnungen nach § 47 Abs. 2 sind ihrer Natur nach einstweilige. Sie sind, wenn sich die ihnen zugrundeliegenden Tatsachen oder Beweise ändern, zugunsten und zuungunsten des Betroffenen aufzuheben oder umzugestalten. Demzufolge kann auch das Gericht des § 46 eine vom Gericht des § 45 getroffene Entscheidung aufheben und selbst eine neue treffen. In der Praxis ist die Frage ohne besondere Bedeutung, weil in Wiedereinsetzungssachen die Sachentscheidung meist ohne Beweisaufnahme rasch erzielt werden kann. Das Gericht (nicht der Vorsitzende) entscheidet auf Antrag oder von Amts wegen. Gegen die Entscheidung steht, wenn ein Antrag verworfen wird, dem Antragsteller und stets der Staatsanwaltschaft die Beschwerde zu (§ 304 Abs. 1), soweit nicht ein Strafsenat, auch ein erstinstanzlich entscheidender, den Beschluß erlassen hat. Dabei ist § 307 zu beachten. 4. Die Vollstreckungsbehörden haben ein an das Gericht gerichtetes Gesuch mit ihrer Stellungnahme dorthin abzugeben. Liegt ein Gesuch vor, das nicht an das Gericht gerichtet ist, so sind die Vollstreckungsbehörden im Rahmen des § 456 befugt, (auf Antrag des Verurteilten) die Vollstreckung aufzuschieben, nicht aber sie zu unterbrechen. Von Amts wegen dürfen sie jedoch nicht nach § 456 tätig werden. Sie haben auch keine Möglichkeit, wegen eines Wiedereinsetzungsgesuches die Vollstreckung „nicht einzuleiten" (so M ü l l e r - S a x 2). Sie müssen vielmehr beim Gericht eine Anordnung nach § 47 Abs. 2 beantragen oder eine ausdrückliche Gnadenentscheidung nach § 35 GnO erlassen oder, wenn sie dazu keine Zuständigkeit haben, bei der Gnadenbehörde anregen.

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Vor § 48 Anm. 1—3

Strafprozeßordnung. Erstes Buch SECHSTER ABSCHNITT Zeugen Vorbemerkungen Übersicht

1. Begriff des Zeugen 2. Zeugnispflicht 3. Formvorschriften 4. Zeugnisfähigkeit a) Allgemeines b) Beschuldigte bzw. Angeklagte als Zeugen c) Richter, Schöffen und Geschworene, Urkundsbeamte und Protokollführer d) Staatsanwälte

e) Verteidiger f) Privatkläger g) Nebenkläger h) gesetzliche Vertreter, Erziehungsberechtigte und Beistände im Sinne des J G G . i) Verletzte im Entschädigungsverfahren k) Beteiligte im Verfahren 1) Sachverständige, Dolmetscher

1. Zeuge ist, wer in einem Strafverfahren, an dem er nicht selbst in einer der in Vorbemerkung 4 erwähnten, seine Zeugnisfahigkeit ausschließenden Weise beteiligt ist, über eine von ihm selbst gemachte sinnliche Wahrnehmung Auskunft geben soll (RGSt. 52 289). Über den Begriff der sinnlichen Wahrnehmung vgl. Vorbemerkung 1 a vor § 52. Diese Vorbemerkungen beziehen sich nur auf die generelle Zeugnisfahigkeit der einzelnen Auskunftsperson. Der Inhalt der Einzelaussage und ihr Umfang, vor allem aber die Einzelbefreiungen von der Zeugnispflicht sind in den Vorbemerkungen zu §§ 52 bis 55 behandelt. Die Abgrenzung zwischen Zeugen und Sachverständigen ist vor allem dort schwer zu ziehen, wo jemand, der Beobachtungen aus eigener Wahrnehmung gemacht hat, diese nur auf Grund eines besonderen Fachwissens machen konnte. Diese sogenannten „sachverständigen Zeugen" sind Zeugen. Das entscheidende Unterscheidungsmerkmal ist, ob die Auskunftsperson beliebig durch eine andere Auskunftsperson ersetzt werden kann. Das pflegt bei Sachverständigen in ihrer Eigenschaft als Gehilfen des Gerichts, die dessen freier Auswahl unterliegen, stets der Fall zu sein, sofern nicht fachliche Grenzen des Wissens dieser freien Austauschbarkeit Schranken auferlegen, was vor allem auf dem Gebiet der modernen Physik und Technik sowie der spezialisierten Medizin der Fall sein kann. Beim Zeugen ist ein solcher Austausch nicht möglich. Im Hinblick darauf, daß der Zeugenbegriff der umfassendere ist, wird von einer näheren Umschreibung der Unterschiede zum Sachverständigen an dieser Stelle abgesehen. Vgl. hierzu die Vorbemerkung 1 zum 7. Abschnitt, ferner je die Vorbemerkungen vor §§ 52 bis 55. Eine Person, die nicht Wahrnehmungen bekunden, sondern nur ihr Außeres zur Betrachtung darbieten soll, ist nicht Zeuge, sondern Augenscheinsobjekt ( A l s b e r g - N ü s e 191). Jedoch ist durch § 81 c die Duldung des Augenscheins so sehr an die Zeugnispflicht und die Zeugnisverweigerungsrechte geknüpft, daß das Augenscheinsobjekt mittelbar doch hart der Zeugenrolle angenähert ist. (vgl. die Anm. zu § 81c) 2. Zeugnispflicht. Jeder, der nach Auffassung eines Gerichts als Zeuge in Betracht kommt, ist verpflichtet, ihr nachzukommen, auch wenn er selbst keine Wahrnehmungen gemacht hat, das Gericht aber auf der Vernehmung besteht. Vor Polizei und Staatsanwaltschaft besteht eine Pflicht zur Aussage nie (vgl. § 161 Anm. 3 b und § 163 Anm. lb). Der Zeugnispflicht vor Gericht unterliegen alle im Bereich der Gerichtsbarkeit des Geltungsbereiches dieses Gesetzes befindlichen und nicht von ihr ausgenommenen Personen. Die Zeugnispflicht umfaßt die Pflicht zum Erscheinen (§ 51), zur Aussage (§§ 52 bis 55) und zur Eidesleistung (§§ 59 bis 63), sofern keine der dort jeweils vermerkten Ausnahmen vorliegen. 3. Die Formvorschriften des sechsten Abschnitts, besonders die über den Beeidigungszwang und die Art der Vernehmung gelten nur für den Beweis zur Schuld- und Straffrage. Soweit zum Nachweis verfahrensrechtlich wesentlicher Tatsachen ein Zeugenbeweis nötig ist, gilt reiner Freibeweis (BGHSt. 16 165).

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Sechster Abschnitt. Zeugen (Kohlhaas)

Vor § 48 Anm. 4

4. Zeugnisfähigkeit. a) Allgemeines. Der Grundsatz, daß niemand unfähig ist, Zeuge zu sein (RGSt. 52 159), daß also Greise und Kinder gleichermaßen Zeugen sein können und Gebrechen körperlicher oder geistiger Art keine Rolle spielen (RGSt. 33 393, 54 107, 57 186, 58 396) hat ebenso wie der Grundsatz, daß verwandte oder verdächtige Personen als Zeugen nicht ungeeignet sind, nur eine allgemeine Bedeutung insoweit, als der Tatrichter gezwungen ist, in jedem Einzelfalle die gestellten Beweisanträge mit einer dem § 244 Abs. 3 StPO entsprechenden Begründung zu bescheiden. Daraus ergibt sich umgekehrt, daß physische Gebrechen (Taubheit und Taubstummheit), psychische Störung (Altersabbau) und Verwicklung in den Fall u. ä. sehr wohl die Einzelablehnung als „ungeeignet" rechtfertigen können. (Ubersicht bei A l s b e r g - N ü s e 208ff; vgl. im einzelnen die Anm. zu § 244 Abs. 3.) Auch die Frage, ob der Aussage eines vernommenen Zeugen Glauben zu schenken ist, sowie die, ob er beeidigt werden darf, ist eine Frage der Beweiswürdigung, die der funktionellen Eignung der Auskunftsperson, Zeuge zu sein, nicht entgegensteht. Eine solche funktionelle Nichteignung als Zeuge, ohne Rücksicht auf Auskunftsfahigkeit und Glaubwürdigkeit kann sich aber aus der prozessualen Stellung der Auskunftsperson ergeben (vgl. b Abs. 2). b) Beschuldigte bzw. Angeklagte als Zeugen. Niemand kann in demselben Verfahren gleichzeitig Beschuldigter und Zeuge sein (RGSt. 27 312; BGHSt. 10 8; NJW 1957 231 E b S c h m i d t Vorbem. 3 vor §48). Daß es im angloamerikanischen Recht anders ist ( E b S c h m i d t aaO. unter Hinweis auf KA Newmann „das englische und amerikanische Beweisrecht") ändert hieran nichts. Ebenso K l Vorbem. 2. Ein Mitbeschuldigter kann deshalb in demselben Verfahrensabschnitt (Voruntersuchung, Ermittlungsverfahren, Hauptverfahren) gegenüber einem anderen Mitbeschuldigten nicht als Zeuge vernommen werden (RGSt. 6 280; 27 312; RG GA 45 219). Dies gilt auch, wenn die Untersuchung mehrere selbständige Straffalle betrifft und der-eine Mitbeschuldigte nur über einen Sachverhalt Auskunft geben soll, bei dem er selbst keiner Beteiligung schuldig oder auch nur verdächtig ist oder war (RGSt. 6 279; R G GA 39, 315; BGHSt. 3 149, 10 8; NJW 1957 23; E b S c h m i d t 4, A l s b e r g - N ü s e 196 unter Zitaten überholter Gegenstimmen.) Eine solche Zeugenvermehmung läßt sich nur dadurch ermöglichen, daß verbundene oder gemeinsam angeklagte Straflalle getrennt werden. Dies ist selbst dann zulässig, wenn die Trennung nur dem Zweck dient, die Vernehmung als Zeuge zu ermöglichen (RGSt. 69360; BGH JR 1959, 67). Allerdings bestehen gegen die Umwandlungen eines Status des Angeklagten in den des Zeugen Bedenken rechtlicher Art (Kl Vorbem. 3a, G e r l a c h NJW 1964 2398). Daher ist eine Abtrennung mit Zeugeneinvernahme eines Mitangeklagten dann keinesfalls zulässig, wenn er auch zu dem ihm zur Last gelegten Tatgeschehen gehört werden soll (BGH GA 1968, 305). Zur Trennung ist in der Regel ein Beschluß erforderlich, jedoch reicht auch eine schlüssige Maßnahme des Vorsitzenden aus, soweit sie eindeutig erkennbar ist (RGSt. 52 138). Es muß sich jedoch bei dem Ausschluß als Zeuge stets um denselben Verfahrensabschnitt handeln (BGHSt. 3 384). Der Mitbeschuldigte kann also im Hauptverfahren als Zeuge gehört werden, wenn gegen ihn erst ein Ermittlungsverfahren oder eine Voruntersuchung schwebt (RGSt. 27 313), ebenso, wenn das Verfahren gegen ihn noch nicht eingeleitet ist, noch nicht oder nicht mehr (etwa wegen Jugend) eingeleitet werden kann und schließlich, wenn er bereits verurteilt oder freigesprochen oder außer Verfolgung gesetzt ist. Die Verurteilung muß rechtskräftig sein; bei Freispruch und Außerverfolgungsetzung ist dies nicht erforderlich (RGSt. 27 312). Der Mitangeklagte kann in der Berufungsverhandlung zeugnisfähig werden, wenn das gegen ihn eingelegte Rechtsmittel zurückgenommen wird, wie auch in der Rechtsmittelinstanz jeweils abgetrennt werden kann. Für die Beweiswürdigung macht es übrigens keinen Unterschied, ob jemand als Mitbeschuldigter, ob er als Zeuge, ob beeidigt oder unbeeidigt vernommen worden ist. Alle diese Aussagen sind vom Richter nach ihrem inneren Wert zu beurteilen. Bedeutsam werden die Probleme vielmehr vor allem hinsichtlich der Möglichkeiten der Zeugnisverweigerung und der Geständnisverwertung (§§251 ff.).

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Vor § 48 Anm. 4

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

Starker Teilnahmeverdacht macht einen Zeugen nicht zum Beschuldigten, sondern wirkt sich nur auf die Verweigerungsrechte nach § 55 und das Beeidigungsverbot nach § 60 Ziff. 3 aus. Über Auskunftspersonen und informatorische Vernehmungen vgl. § 59 Anm. 2. c) Richter. Daß Richter nicht sein kann, wer als Zeuge oder Sachverständiger irgendwann vernommen worden ist, ergibt sich schon aus § 22 Ziff. 5. Er ist alsdann durch den nach der Geschäftsverteilung zuständigen Vertreter zu ersetzen. Entsprechend kann aber auch nicht Richter sein, wer Zeuge des Tatgeschehens gewesen ist, das in der Verhandlung aufgeklärt werden soll (BGHSt. 3 18; 7, 45) und zwar auch, wenn er nicht als Zeuge geladen oder erschienen ist (Frankfurt NJW 1952 638, Hamburg NJW 1952 1271). Jedoch schließt die Zeugenbenennung als solche den Richter noch nicht als solchen aus, da sonst die Bestimmungen über die Ablehnung des Richters leicht durch eine solche Benennung umgangen werden könnten. Es kommt also gerade darauf an, ob der Richter wirklich Zeuge gewesen ist oder nicht. Erklärt er, er sei nicht Zeuge gewesen oder er wisse über den Vorgang und das Beweisthema nichts, so darf er an der Beratung über einen Ablehnungsantrag selbst mitwirken. Seine dienstliche Erklärung hierüber ist keine Vernehmung (RGSt. 42 1; R G G A 59 126; BGHSt. 7 330, JZ 1956 31 mit zust. Anm. Kl, BGHSt. 11 206). Umgekehrt gilt der Richter, der nicht Zeuge des Tatgeschehens war, als nicht erschienen im Sinne des § 245, selbst wenn er förmlich geladen worden ist (RGSt. 42 3), wohl aber ist er vom Richteramt ausgeschlossen, sobald er auf die Ladung hin als solcher im Sitzungssaal erschienen ist. (BGHSt. 7 46). Nur an der Entscheidung in der anhängigen Sache und der höheren Instanz ist der Richter verhindert. Eine Zeugenvernehmung in einem späteren Prozeßabschnitt ist zulässig (BGHSt. 2,99). Hiervon zu unterscheiden ist das Wissen eines Richters über Fragen, die als Gegenstand eines Sachverständigenbeweises in Betracht kommen können. Da der Sachverständige nicht Zeuge, sondern ein austauschbarer Gehilfe des Gerichts ist, kann der Richter sehr wohl private Sachkunde allgemeiner Art zur Urteilsfindung verwerten ( A l s b e r g - N ü s e 249; BGHSt. 12 20). Jedoch erfordert der Grundsatz rechtlichen Gehörs, daß der Verteidigung und dem Angeklagten ein Hinweis auf etwaige Sachkunde der Gerichtsmitglieder gegeben wird, um ihnen Gelegenheit zu geben, Beweisanträge nach § 244 Abs. 4 stellen zu können. Schöffen und Geschworene unterliegen denselben Regeln wie die Berufsrichter. Dasselbe gilt für den Urkundsbeamten (§ 22 Ziff. 5 und § 31 Abs. 1). All die hier erwähnten Personen können auch nach ihrer Vernehmung nicht mehr in ihre alte Stellung zurückkehren. d) Staatsanwälte. Ob der Staatsanwalt nach seiner Vernehmung als Zeuge seine Position wieder einnehmen darf, ist im Gegensatz zum Richter und Urkundsbeamten nicht gesetzlich geregelt, wogegen es selbstverständlich ist, daß während seiner Vernehmung ein anderer Staatsanwalt seinen Platz einnehmen muß, da sonst momentan keine Vertretung der Staatsanwaltschaft anwesend wäre. Es ist aber auch mit der Stellung des Staatsanwalts grundsätzlich unvereinbar, daß er nach seiner Zeugenvernehmung wieder seinen alten Platz einnimmt und möglicherweise seine eigene Aussage würdigt (RGSt. 29 236, GA 67 436, 71 92; BGHSt. 14 265 MDR 1957 16; D a l i i n g e r BayObLG 1953 27, E b S c h m i d t 7, P e t e r s 267, H e n k e l 252, Kl 4b). Es kann jedoch technische Fragen über die eigene Tätigkeit des Staatsanwalts geben, deren Beantwortung ihn nicht als Zeugen ausschließt. Jedoch setzt dies voraus, daß er von seinem Platz aus eine Erklärung abgibt, wie sich der Vorgang abgespielt habe (BGH NJW 1966 2231). Dann steht es dem Verteidiger frei, einen formalen Beweisantrag auf Zeugenvernehmung zu stellen und dem Gericht liest es ob, über diesen Beweisantrag zu entscheiden und seine Ablehnung zu begründen. Ist aber der Staatsanwalt einmal als Zeuge aufgetreten, so scheidet er für jede weitere Tätigkeit als Anklagevertreter aus. Mißbräuche sind schon deshalb nicht zu befürchten, da es dem Gericht obliegt, zu entscheiden, ob eine Zeugenschaft in Betracht kommt. Erwägungen, nachträglich zu prüfen, ob die Aussage vor dem Richtertisch nur technische Dinge betroffen habe (also nicht Zeugenaussage gewesen sei) oder den Staatsanwalt erst nach seinem Plädoyer als Zeuge zu vernehmen, verwirren das Bild, da ja jede Vernehmung eine neue Beweisaufnahme darstellt. Im Gegensatz zum Richter allerdings bietet das Weiterwirken des

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Staatsanwalts nach seiner Zeugenrolle keinen absoluten Revisionsgrund; vielmehr ist zu prüfen, ob das Urteil auf dem Verstoß beruhen kann, also das Plädoyer sich gerade mit jenem Zeugnispunkt befaßt und so auf die Richter eingewirkt hat (BGHSt. 14 265; M ü l l e r S a x ) Vorbem. 4 a A l s b e r g - N ü s e 2. Aufl. 198 gegen 1. Aufl. 147 und H e n k e l 252. e) Verteidiger. Im Hinblick darauf, daß ein absoluter Revisionsgrund, ebenso wie beim Staatsanwalt (vgl. d) am Ende) nicht gegeben ist, erscheint es richtig, Verteidiger und Staatsanwalt gleichzustellen. Entgegen den vermittelnden Vorschlägen (BGH NJW 1953 1600, hier 20. Aufl. Vorbem. 10 K l Vorbem. 4 c H e n k e l 252, die je nachdem unterscheiden, ob der Inhalt der Aussage der Verteidigerstellung nicht widerspreche, oder ob der Verteidiger als Entlastungs- oder Belastungszeuge vernommen wurde (vgl. unten), ist daher generell daran festzuhalten, daß die Würdigung der eigenen Zeugenaussage im Plädoyer, das Nichtmitwirkenkönnen an gewissen Prozeßvorgängen, die Unterstellung unter die Botmäßigkeit des Gerichts und der Eideszwang oder gar Nichtvereidigung nach § 60 Ziff. 3 StPO nicht mit der Rechtsstellung des Verteidigers vereinbar sind ( R G J W 1937,2423 Nr. 105, P e t e r s 268, E b S c h m i d t Vorbem. 9 vor § 48). Dies gilt um so mehr beim Pflichtverteidiger, für den während der Zeugenvernehmung ein anderer Pflichtverteidiger zu bestellen ist (RGSt. 54 175, K l Vorbem. 4 c , M ü l l e r - S a x Vorbem. 4d). Wird der soeben vertretene generelle Ausschluß des Verteidigers (allerdings nur mit relativem Revisionsgrund) nicht geteilt, so ist folgendermaßen zu unterscheiden: Uber die Frage der Entlassung des Zeugen und seine weitere Tätigkeit als Verteidiger hat das Gericht nach freiem Ermessen zu entscheiden (RGSt. 24 104, R G GA 38 112). Dort wo ein Gegensatz zwischen den Pflichten des Verteidigers und denen des Zeugen besteht, geht die Zeugenpflicht vor, da der Zeuge in der Regel unersetzbar ist, der Verteidiger dagegen nicht (RGSt. 55 219; BGH NJW 1953 1600; vgl. auch E r b s IV, K e r n 82; P e t e r s 268). Daher kann das Gericht die Entlassung des Zeugen verweigern, gleichgültig ob er später nochmals als Zeuge zu hören ist, ob er den Angeklagten belastet — (so RGSt. 24 296; B G H N J W 1953 1601) oder entlastet hat - (so jetzt auch M ü l l e r - S a x aaO. a.A. RGSt. 54 175). Auf jeden Fall ist ein Wiederauftreten bei Verdacht der Teilnahme an der Tat des Angeklagten, vor allem bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 55 und nach Fernbleiben bei wichtigen Teilen anderer Zeugenaussagen zu verbieten ( E b S c h m i d t Vorbem. 9; K l Vorbem. 4c). Keine Bedenken gegen die Mitwirkung bestehen dann, wenn der Verteidiger lediglich im Vorverfahren als Auskunftsperson tätig war (RGSt. 24 104; E b S c h m i d t Vorbem. 9). Hält das Gericht ein Weiterwirken des Verteidigers für zulässig, so gebietet es die Fürsorgepflicht, den Verteidiger alsbald zu hören, um ihn nicht zu lange in den Abstand verweisen zu müssen ( M ü l l e r - S a x Vorbem. 4d). Hat er jedoch wesentliche Teile der Hauptverhandlung versäumt, so ist er im Interesse des Angeklagten nicht mehr zuzulassen. Im Falle der Interessenkollision kann der Verteidiger, wenn er nicht freiwillig sein Mandat niederlegt, vom Gericht ausgeschlossen werden (BVerfG NJW 1963 1771; BGH N J W 1967 404). Bei einem Verstoß liegt ebenfalls nur ein relativer Revisionsgrund vor, wie bei der Aussage des Staatsanwalts (vgl. oben d). f) Privatkläger. Der Privatkläger tritt an Stelle des Staatsanwalts auf; als solcher kann er so wenig wie der Staatsanwalt Zeuge oder Sachverständiger sein (BayObLG. 1953 27; B e l i n g 295; E r b s IV; G r a f D o h n a 228; K e r n 288; M ü l l e r - S a x Vorbem. 4 d ; E b S c h m i d t Vorbem. 6; a . A . L o r e n z J R 1959 106). Jedoch darf er Erklärungen zur Sache abgeben. In seltenen Fällen, in denen der Staatsanwalt ausnahmsweise Erklärungen technischer Art abgeben kann (oben bei d), kann dies auch der Privatkläger. Auch liegt nur ein relativer Revisionsgrund vor (vgl. oben bei d am Ende). g) Nebenkläger. Im Gegensatz zum Privatkläger ist der Nebenkläger nicht Ankläger, sondern nur neben dem Staatsanwalt tätig, und zwar zur Wahrnehmung seiner eigenen Rechte. Durchgreifende Bedenken bestehen deshalb gegen seine Zeugeneigenschaft nicht, da er nur Nebenbeteiligter im eigenen Interesse ist (RGSt. 25 177; 186; BGH M D R 1952,523 (Dallinger), BayObLGSt. 1953 27, M ü l l e r - S a x Vorbem. 4 A, K l Vorbem. 4, a . A . E b S c h m i d t Vorbem. vor § 48, H e n k e l 207, K e r n 282.) Im Hinblick auf den Widerstreitzwischen Anwesenheitsrecht und § 58 Abs. 1 ist baldige Vernehmung nach Eintritt in die Beweis-

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§48 Anm. 1

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

aufnähme angezeigt, aber nicht zwingend geboten. Den Nebenkläger etwa als Zeugen auszuschließen oder ihn in Abstand zu verweisen, würde seine Rechte empfindlich schmälern, um so mehr als der Nebenklage schon sehr enge Grenzen gezogen sind. Der Nebenkläger ist auch im Regelfall als Zeuge zu vereidigen, falls nicht die Fälle des § 61 Ziff. 2 gegeben sind. Auch hier gilt, ob beeidigt oder nicht, der Grundsatz der freien Beweiswürdigung. h) Gesetzliche Vertreter, Erziehungsberechtigte, Beistände im Sinne des Jugendgerichtsgesetzes §§ 67, 49, 167 JGG. können Zeugen sein, auch wenn sie ebenso wie der Nebenkläger ein Recht auf Anwesenheit im Hauptverhandlungstermin haben (RGSt. 59 353; BGHSt. 4 205). Dieses Recht auf Anwesenheit kann insoweit entfallen, als die Wahrheitsfindung durch die Anwesenheit dieser Zeugen beeinträchtigt werden könnte (RGSt. 59 347; BGHSt. 4 205; NJW 1956 521; M ü l l e r - S a x Vorbem. 4f; K l Vorbem. 5c). Da für sie §§ 58 Abs. 1 und 243 Abs. 4 gelten, ist ihre möglichst baldige Vernehmung nach Eintritt in die Beweisaufnahme wegen ihres Rechts auf Anwesenheit in der Hauptverhandlung notwendig. i) Verletzte im Entschädigungsverfahren. Ihr Recht auf Anwesenheit ist nach § 403 ff. nur beschränkt. Zeugen können sie sein. k) Beteiligte am Verfahren bei Einziehung und Vermögensbeschlagnahme. § 431 gibt ihnen das Recht, alle Befugnisse auszuüben, die einem Angeklagten zustehen. Deshalb scheiden sie als Zeugen aus (BGHSt. 9 251). Kommanditisten sind dagegen Zeugen und nicht Beschuldigte, wenn gegen die Gesellschaft ein Bußgeldverfahren durchgeführt wird, auch wenn gegen sie selbst als Prokuristen und in anderer verantwortlicher Stellung Tätige ein selbständiges Bußgeldverfahren eingeleitet worden ist. (OLG Frankfurt GA 69 124). 1) Sachverständige/Dolmetscher. Sie können Zeugen sein (RGSt. 45 304; E r b s § 4 8 IV; Kl Ubers. A. 2). Ihr Recht auf Anwesenheit im Termin steht im Ermessen des Gerichts (§§ 58, 243 Abs. 4). n) Behörden können zwar Zeugnisse abgeben, die verlesen werden. Zeuge ist aber nur der Beamte, der das Zeugnis in der Hauptverhandlung erörtert.

§48 Die Ladung der Zeugen geschieht unter Hinweis auf die gesetzlichen Folgen des Ausbleibens. 1. Form der Ladung im allgemeinen. a) Sie erfolgt durch das Gericht oder die Staatsanwaltschaft, in Privatklagesachen durch die Geschäftsstelle des Gerichts. Eine Ausnahme ist die unmittelbare Ladung durch den Gerichtsvollzieher (§ 38). Dies ist insofern von Bedeutung, als alle sonst formlos geladenen Zeugen (vgl. b), die erscheinen, als präsente Beweismittel nach § 245 anzusehen sind, wogegen sie bei Fehlen der Formalien nach § 38 nicht als präsent gelten. Hierdurch wird nicht verhindert, daß sie vernommen werden dürfen; sie müssen es aber nicht (vgl. im einzelnen §§ 36, 38, 214, 219,221,386 Abs. 2). Im übrigen enthält die Strafprozeßordnung keine Formvorschriften über die Ladung außer dem Hinweis auf die gesetzlichen Folgen des Ausbleibens (§§ 48, 51; RGSt. 40 140). Dabei reicht die Formel „Unter Hinweis auf die gesetzlichen Folgen des Ausbleibens" nicht aus. Der Zeuge muß so klar auf die in § 51 genannten Folgen hingewiesen werden, daß er keine Zweifel an ihrem Gehalt und Auswirkungen haben kann. b)Die Ladung selbst ist, abgesehen von § 38, formlos, sofern sie nur deutlich erkennen läßt, daß das Gericht beabsichtigt, den Geladenen als Zeugen zu hören. Sie kann schriftlich oder mündlich, auch fernschriftlich und fernmündlich erfolgen (vgl. RGSt. 40 140).

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Sechster Abschnitt. Zeugen (Kohlhaas)

§48 Anm. 2—4

In der Regel wird die Ladung schriftlich bewirkt, wobei einfacher Brief genügt. Mündliche Ladung durch Gerichtswachtmeister usw. ist namentlich im Vorverfahren nicht ausgeschlossen. Auch mit Hilfe der staatlichen oder gemeindlichen Polizei pp. kann die Ladung in Einzelfallen erfolgen. Ein Zwang, ein bestimmtes Verkehrsmittel (z. B. einen Funkstreifenwagen der Polizei zu benutzen, besteht nicht ( M ü l l e r - S a x 2 vgl. feiner BayJMBl. 1956 31). Bei Verlegung eines Termins, insbesondere in der Hauptverhandlung, kann die Ladung auch in der Weise geschehen, daß der Richter dem anwesenden Zeugen die Zeit des neuen Termins bekannt macht, ihn zum Erscheinen auffordert und ihn auf die gesetzlichen Folgen des Ausbleibens hinweist (RGSt. 35 231). Daß das geschehen ist, muß sodann im Protokoll vermerkt werden. Vgl. auch § 51 Anm. 1. c) Auf die Androhung der Folgen des § 51 kann verzichtet werden, wenn dazu kein Anlaß besteht, jedoch sind Maßnahmen gemäß § 51 dann nicht zulässig. 2. Ladung in besonderen Fällen. a) Ladung aus einem anderen deutschen Gerichtsbezirk. Ladung der Zeugen in einen anderen deutschen Gerichtsbezirk ohne Mitwirkung der Behörden dieses anderen Bezirkes ist statthaft (GVG). Das gilt grundsätzlich auch für Ladungen, die nach der D D R zugestellt werden sollten ( E b S c h m i d t 5), ist aber praktisch nicht mehr durchführbar, da die D D R sich als eigenen Staat, also als Ausland betrachtet. Es gilt daher Ziff. 2 b. b) Ladung aus dem Ausland. Vgl. Richtlinien über den Verkehr mit dem Ausland in strafrechtlichen Angelegenheiten (RiVASt. vom 15. 1. 1959). c) Ladung von Exterritorialen. Vgl. RiStBV Ziff. 185 ff. d) Ladung von Soldaten, aa) Sie erfolgt, wie sich aus dem Erlaß des BMVtdg. v. 7. 6. 1956 (BAnz. v. 15. 6. 1957 S. 2) ergibt, nach denselben Bestimmungen wie bei Zivilisten. Ersatzzustellung an den Hauptwachtmeister ist möglich und statthaft (vgl. M ü l l e r S a x 29 sowie A r n o l d NJW 1957 1220). bb) Die Ladung von Angehörigen der verbündeten Streikräfte, die in der Bundesrepublik stationiert sind, erfolgt nach dem Truppenvertrag zu (Art. 57 des Zusatzabkommens zum Truppenstatut vom 3. 8. 1959; BGBl. II 1218). e) Über Ladung nach Seemannsart vgl. A G Bremerhaven MDR 67 686. Sie erfolgt durch Auflage, sich bei der nächsten Liegezeit des Schiffes auf der Geschäftsstelle des Amtsgerichts zu melden. Zustellung kann durch die Wasserschutzpolizei erfolgen. 3. Vorführung. Die StPO erwähnt keine Befugnis des Gerichts, einen Zeugen ohne vorherige Ladung vorführen zu lassen. Falls es aber notwendig ist, einen noch nicht geladenen Zeugen sogleich zu vernehmen, ist es statthaft, den Zeugen in der Ladung anzuweisen, bei Vermeidung der sofortigen zwangsweisen Vorführung dem mit der Zustellung der Ladung beauftragten Beamten unverzüglich zum Gericht zu folgen. Aus § 5 1 muß aber gefolgert werden, daß das Gericht in der Anweisung an den Beamten auf das künftige Verhalten des Geladenen abstellen muß. Entschuldigt der Zeuge sein Ausbleiben hinreichend, so darf die Vorführung nicht durchgeführt werden. Die Vorführung darf aber vorsorglich für den Fall angeordnet werden, daß der Geladene sein Ausbleiben dem ladenden Beamten nicht oder nicht genügend entschuldigen werde (RiStBV Nr. 50). Die Vorführung darf jedoch auch hier nur angeordnet werden, wenn sofortige Vernehmung notwendig erscheint und daher eine spätere Bestrafung nach § 51 zwecklos wäre. 4. Bestimmung der Richtlinien. Durch die RiStV Nr. 50 ist die schriftliche Ladung als gewöhnliche Form der Ladung vorgeschrieben, und zwar grundsätzlich durch einfachen Brief, nicht durch Postkarte. Nur bei besonderen Umständen (z. B. mutmaßliche Widersetzlichkeit) kann die förmliche Zustellung angebracht sein. Sie ist auch für die Hauptverhandlung vorgesehen (RiStBV Nr. 98). Als Form ist der ausdrückliche Hinweis auf die Vernehmung als Zeuge sowie die Angabe des Namens des Beschuldigten und des Gegen-

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§ 4 8 Anm. 5 § 4 9 Anm. 1 - 4

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

standes der Beschuldigung, soweit nicht der Zweck der Untersuchung entgegensteht, vorgeschrieben. In geeigneten Fällen soll der Zeuge in dieser Ladung aufgefordert werden, Schriftstücke oder sonstige Beweismittel bei der Vernehmung vorzulegen, falls anzunehmen ist, daß er diese im Besitz hat, und daß sie für die Untersuchung von Bedeutung sein können (RiStBV Nr. 50 Abs. 2). Die Ladung von Zeugen und Sachverständigen im Vorverfahren, in der Voruntersuchung oder im Rechtshilfeverfahren sowie in Einzelrichter- und Schöffengerichtssachen bei Ladung zur Hauptverhandlung o h n e Zustellungsurkunde ist statthaft. Ob sie zweckmäßig ist, muß die Erfahrung lehren. 5. Ladung vor Staatsanwaltschaft oder Polizei. Nur bei Ladung vor das Gericht, nicht aber vor die Staatsanwaltschaft oder Polizei, treten die Folgen des § 51 ein. Erscheint ein Zeuge trotz Ladung vor die Staatsanwaltschaft oder Polizei nicht, ist Erzwingung nur durch den Richter (Antrag auf Vernehmung des Zeugen gem. § 162) möglich.

§49 Der Bundespräsident ist in seiner Wohnung zu vernehmen. Zur Hauptverhandlung wird er nicht geladen. Das Protokoll über seine gerichtliche Vernehmung ist in der Hauptverhandlung zu verlesen. 1. Sondervorschriften nur für den Bundespräsidenten. Das Vorrecht des § 49 steht nur dem Bundespräsidenten, nicht seinem Vertreter, dem Präsidenten des Bundesrates (Art. 57 BGG) zu. ( M ü l l e r - S a x 3; K l 1; a. A. E b S c h m i d t 7 - der das Privileg nicht der Person, sondern dem Amte gibt.) Bei dem Vertreter greift nur § 50 Platz. § 49 bezieht sich heute nicht mehr auf die Ministerpräsidenten der Bundesländer. Soweit diese Mitglieder der Landesregierung sind, gilt § 50 (so auch E b S c h m i d t Anm. 1). 2. Inhalt und Umfang der Sondervorschriften. Der Stellung des Bundespräsidenten entspricht es nicht, daß er als Zeuge vor Gericht erscheinen muß. Infolgedessen ist bestimmt, daß er in seiner Wohnung vernommen werden muß. Ein besonderes Recht des Präsidenten, das Zeugnis zu verweigern, ergibt sich aus § 54 Abs. 3. Für die Vereidigung gilt nichts besonderes. Da der Bundespräsident nicht verpflichtet ist, in der Hauptverhandlung zu erscheinen, können §§ 223, 224, 251 Abs. 2 und 3 keine Anwendung finden. Die Verlesung des Protokolls über die eidliche Vernehmung des Bundespräsidenten ist auch dann zulässig, wenn die Vernehmung bereits im Ermittlungsverfahren bewirkt worden ist. Die Vorschrift begründet nur ein Recht, auf welches der Präsident auch verzichten kann ( F u h r m a n n - D a l c k e 1, M ü l l e r - S a x 1, K l 2). Die Vernehmung kann daher auf Antrag des Bundespräsidenten auch in den Amtsräumen oder vor Gericht erfolgen, was allerdings aus grundsätzlichen Erwägungen mit der Würde des Amtes kaum vereinbar sein wird. Als Wohnung ist nicht nur die Wohnung als ständiger Wohnsitz, sondern auch diejenige an einem vorübergehenden Aufenthaltsort anzusehen.' Wenn der Präsident nach seiner Vernehmung sein Amt nicht mehr innehat, ist künftig Ladung zur Hauptverhandlung und Vernehmung in ihr erforderlich ( E b S c h m i d t 6; K l 1).

3. Anwesenheit der Prozeßbeteiligten im Vernehmungstermin. Ein Anspruch der Prozeßbeteiligten auf Anwesenheit im Vernehmungstermin und Benachrichtigung hiervon besteht im Falle des § 49 nicht, ( F u h r m a n n - D a l c k e Anm. 1; M ü l l e r - S a x 2; E b S c h m i d t 4). Daher finden, gleichviel ob das Gericht als ganzes oder durch einen ersuchten oder beauftragten Richter tätig wird, die §§ 223, 224 keine Anwendung. 4. Folgen eines Verstoßes. Bei Verstoß gegen die Vorschrift scheidet § 51 aus, da eine Ladung durch § 49 ausgeschlossen ist. § 70 Abs. 1 und 2 sind dagegen anwendbar. Das ergibt sich aus Art. 60 Abs. 4 G G in Verb, mit Art. 46 Abs. 2 und dem dadurch geregelten Immunitätsschutz der Abgeordneten ( E b S c h m i d t 5, vgl. B o c k e l m a n n : Die Unverfolg-

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Sechster Abschnitt. Zeugen (Kohlhaas)

§ 50 Anm. 1,2

barkeit der Abgeordneten nach deutschem Immunitätsrecht). Danach können die im § 70 vorgesehenen Anordnungen stets ohne Genehmigung getroffen, auch Ordnungsstrafen in Geld vollstreckt werden, nicht jedoch die Haft (vgl. auch F u h r m a n n - D a l c k e 2; K l 2; a. A. E r b s I).

§50 (1) Die Mitglieder des Bundestages, des Bundesrates, eines Landtages oder einer zweiten Kammer sind während ihres Aufenthaltes am Sitz der Versammlung dort zu vernehmen. (2) Die Mitglieder der Bundesregierung oder einer Landesregierung sind an ihrem Amtssitz oder, wenn sie sich außerhalb ihres Amtssitzes aufhalten, an ihrem Aufenthaltsort zu vernehmen. (3) Zu einer Abweichung von den vorstehenden Vorschriften bedarf es: für die Mitglieder eines in Abs. 1 genannten Organs der Genehmigung dieses Organs, fiir die Mitglieder der Bundesregierung der Genehmigung der Bundesregierung, fiir die Mitglieder einer Landesregierung der Genehmigung der Landesregierung. (4) Die Mitglieder der in Abs. 1 genannten Organe der Gesetzgebung und die Mitglieder der Bundesregierung oder einer Landesregierung werden, wenn sie außerhalb der Hauptverhandlung vernommen worden sind, zu dieser nicht geladen. Das Protokoll über ihre richterliche Vernehmung ist in der Hauptverhandlung zu verlesen. 1. Sondervorschrift nur für den Vernehmungsort. Für die Mitglieder der Parlamente des Bundes und der Länder sowie für die Mitglieder der Regierung gilt an sich das Regelrecht (Kl Anm. 1). § 50 schafft nur eine Sonderregelung für den Vernehmungsort: a) Die Mitglieder der Parlamente sind, wenn und so lange sie sich am Sitz der Versammlung aufhalten, an diesem Orte zu vernehmen. Voraussetzung ist, daß die Vernehmung in die Sitzungsperiode einschließlich der Parlamentsferien fällt, und daß der Zeuge sich am Sitz der gesetzgebenden Versammlung aufhält. Darauf, daß das Parlament an diesem Tage „tagt", kommt es nicht an ( F u h r m a n n - D a l c k e 3; E b S c h m i d t 3; Kl 1). Zwischen den Wahlperioden fallen die in Art. 49 BGG genannten Personen unter das Privileg des § 5 0 (Kl. 2). b) Mitglieder der Bundes- oder einer Landesregierung sind an ihrem Amtssitz oder, falls sie nicht dort sind, an ihrem Aufenthaltsort zu vernehmen. Dabei ist es gleichgültig, ob der Aufenthalt dort dienstlich oder privat ist ( M ü l l e r - S a x la). Ist am Aufenthaltsort kein Gericht, so hat die Vernehmung am Aufenthaltsort zu erfolgen und nicht etwa bei dem Gericht, das für den Aufenthaltsort zuständig ist ( M ü l l e r - S a x ) . c) Die Vernehmung erfolgt nicht in der Wohnung oder den Parlamentsgebäuden, sondern vor Gericht am Sitze der Versammlung, es sei denn, es befinde sich kein Gericht am Aufenthaltsort. Die Vernehmung hat aber durch den beauftragten oder ersuchten Richter nach § 223, 224 dann zu erfolgen, wenn der Sitz der Versammlung bzw. der Amtssitz oder der Aufenthaltsort nicht gleichzeitig Sitz des vernehmenden Gerichts ist. Stets besteht hier — im Gegensatz zu § 49 — für die Prozeßbeteiligten im S. § 224 das Recht auf Anwesenheit ( M ü l l e r - S a x 1; E b S c h m i d t 1). Ist der Gerichtsort mit dem in Abs. 1 und 2 vorgesehenen Vernehmungsort identisch, so hat die Vernehmung in der Hauptverhandlung zu erfolgen. Die Zeugen sind dorthin zu laden. 2. a) Parlamentsmitglieder. Mitglieder des Bundestages: Vgl. Art. 38ff. GG. Mitglieder des Bundesrates: Vgl. Art. 51 GG. Über die Mitglieder der Landtage vgl. die in Betracht kommenden Länderverfassungen (zusammengestellt bei F ü ß l e i n , Deutsche Verfassung). Die Bürgerschaft in Hamburg und Bremen sowie das Abgeordnetenhaus in Berlin entsprechen dem Landtag. Verfassungsgemäß ist nur in Bayern eine 2. Kammer mit allerdings nur beratenden Funktionen (der Senat) eingeführt. Für diese Senatsmitglieder gilt § 50, denn offensichtlich ist der Hinweis auf die Mitglieder der 2. Kammer durch die staatsrechtlichen Verhältnisse Bayerns bedingt gewesen ( M ü l l e r - S a x 1 b).

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§ 5 0 Anm. 3—5 § 5 1 Anm. 1

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

b) Mitglieder einer Bundesregierung oder einer Landesregierung. Bundesregierung: Mitglieder sind nur der Bundeskanzler und die Bundesminister (Art. 62 GG.; Staatssekretäre gehören nicht zum Bundeskabinett). Landesregierung: Uber die Mitglieder der Landesregierung vgl. die in Frage kommenden Landesverfassungen, zusammengestellt z. B. bei F ü ß l e i n , Deutsche Verfassung. Die Senate in Berlin, Hamburg und Bremen sind Landesregierungen; die Bürgermeister und Senatoren demnach Regierungsmitglieder. Auch die Staatssekretäre in Bayern gehören dazu (Art. 43 Abs. 2 Bayr. Verf.). 3. Geltungsbereich. § 50 gilt für alle Verfahrensabschnitte. Also auch Ermittlung von Vergehen und Voruntersuchung. 4. Ausnahmen nur bei Sondergenehmigung. Wurde eine in Abs. 1 und 2 erfaßte Personen am Versammlungssitz bzw. Amtssitz oder Aufenthaltsort vernommen, und zwar außerhalb der Hauptverhandlung, so ist eine Ladung zur Hauptverhandlung unzulässig. Dann ist das Protokoll über eine richterliche Vernehmung in Abweichung von dem Grundsatz der Unmittelbarkeit nach § 250 zu verlesen. Findet indessen die Hauptverhandlung am Versammlungsort, Amtssitz oder Aufenthaltsort statt, so sind die Zeugen dorthin zu laden. Sie haben dort zu erscheinen. Außerhalb des Versammlungsortes i. S. des Abs. 1 und des Amtssitzes oder Aufenthaltsortes ist nach Abs. 3 eine Vernehmung nur dann statthaft, wenn eine Genehmigung der dort aufgeführten Stellen vorliegt. Erklärt der Abgeordnete oder das Regierungsmitglied, daß er mit einer Abweichung von Abs. 1 bzw. 2 einverstanden sei, ist gleichwohl die Genehmigung einzuholen; denn bei den Vorschriften handelt es sich um kein persönliches Privileg der dort genannten Personen, sondern um ein Privileg des Parlaments und der Regierungen, denen der Zeuge angehört, auf das er deshalb als solcher keinen Verzicht leisten kann ( E r b s 2; F u h r m a n n - D a l c k e 2; M ü l l e r - S a x 2; E b S c h m i d t 3 ) . 5. Einholung der Sondergenehmigung. Die nach Abs. 3 notwendige Sondergenehmigung kann von Amts wegen oder auf Antrag (z. B. der Staatsanwaltschaft oder der Prozeßbeteiligten) erteilt werden (vgl. RGSt. 26 253). Ohne sie ist eine förmliche Ladung an einen anderen Ort unzulässig. Sonst würde auf solche Weise die Bestimmung umgangen werden können ( E b S c h m i d t 4; E r b s 2).

§51 (1)Ein ordnungsmäßig geladener Zeuge, der nicht erscheint, ist in die durch das Ausbleiben verursachten Kosten sowie zu einer Ordnungsstrafe in Geld und für den Fall, daß diese nicht beigetrieben werden kann, zur Strafe der Haft bis zu sechs Wochen zu verurteilen. Auch ist die zwangsweise Vorführung des Zeugen zulässig. Im Falle wiederholten Ausbleibens kann auf die Strafe noch einmal erkannt werden. (2) Die Verurteilung zu Strafe und Kosten unterbleibt, wenn das Ausbleiben des Zeugen gerfügend entschuldigt ist. Wird der Zeuge nachträglich genügend entschuldigt, so werden die getroffenen Anordnungen wieder aufgehoben. (3) Die Befugnis zu diesen Maßregeln stehen auch dem Untersuchungsrichter, dem Amtsrichter im Vorverfahren sowie dem beauftragten und ersuchten Richter zu. 1. Voraussetzung: Ordnungsmäßige Ladung. Die Pflicht des Zeugen, vor dem Gericht, nicht aber vor der Staatsanwaltschaft oder Polizei (§161 Anm. 3 b und § 163 Anm. lb) zu erscheinen, wird nur durch eine ordnungsmäßige Ladung (§§ 38, 48, 220 II) begründet. Die Ladung muß Ort und Zeit des Termins und den Hinweis auf die gesetzlichen Folgen des Ausbleibens (§48 Abs. 1) enthalten; ( F u h r m a n n - D a l c k e 1; M ü l l e r - S a x 2; E b S c h m i d t 16; K l 1). Über Form der Ladung und Bestimmungen der RiStBV vgl. § 48 Anm. 1 und 4. Eine unter Nichtbeachtung des § 48 ergangene Ladung verpflichtet den Zeugen nicht zum Erscheinen und rechtfertigt die Maßnahmen nach § 51 nicht. Auch bei Vertagung muß der Zeuge für den neuen Termin erneut auf die sich aus § 51 ergebenden Folgen hingewiesen werden, um bei Ausbleiben Ordnungsstrafe zu ermöglichen (OLG Hamm NJW 1957 1330). Der Nachweis muß sich aus dem Sitzungsprotokoll ergeben.

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§ 51 Anm. 2, 3

2. Pflicht zum Erscheinen. Die Pflicht zum Erscheinen umfaßt, sich an dem in der Ladung bestimmten O r t e zu der in der Ladung bestimmten Z e i t einzufinden. Der Ort braucht nicht der Gerichtsort zu sein. Er kann auch außerhalb der Gerichtsstelle liegen, etwa, wo eine Augenscheinseinnahme erfolgen soll oder eine große Anzahl von Zeugen wohnt, die aus Zweckmäßigkeitsgründen nicht am Gerichtsort vernommen werden sollen. Sehr große Entfernung befreit den Zeugen nicht von der Pflicht zum Erscheinen. Er kann nur nach § 223 bei. Gericht um seine kommissarische Vernehmung bitten. Er muß aber auch nach einem derartigen Antrag in jedem Falle erscheinen, es sei denn, daß er abbestellt wird. Auch die Berechtigung oder die vermeintliche B e r e c h t i g u n g , d a s Z e u g n i s zu v e r w e i g e r n , befreit den Zeugen nicht von der Pflicht zum Erscheinen, zumal die Frage, ob ein gesetzliches Zeugnisverweigerungsrecht besteht, bisweilen der mündlichen Erörterung bedarf ( M ü l l e r - S a x 4; E b S c h m i d t 8). Wenn ein geladener Zeuge vor dem Termin die V e r w e i g e r u n g d e s Z e u g n i s s e s schriftlich anzeigt, hat der Richter darüber zu befinden, ob der Zeuge vom Erscheinen zu entbinden ist. Im Falle des § 54 wird sich das regelmäßig empfehlen. Ob und inwieweit das Bestehen eines Weigerungsgrundes dem Richter Veranlassung gibt, das Ausbleiben des Zeugen als entschuldigt zu erachten, hängt von den Einzelumstanden ab. K l will in Anm. 1 die Vorschriften über den Verbotsirrtum (§ 6 OWiG) angewandt sehen. Das ist unbedenklich. Es kann Fälle geben, in denen der Zeuge auf Grund einer falschen rechtlichen Würdigung ferne bleibt, allerdings ist hier an die richterliche Prüfungspflicht ein strenger Maßstab abzulegen, weil sonst eine große Hemmung der Rechtspflege zu befürchten wäre, falls jeder Zeuge einer Ladung seine eigene Rechtsmeinung entgegensetzen darf. N i c h t e r s c h i e n e n ist der Zeuge dann, wenn er zu der in der Ladung bezeichneten Terminstunde am Terminsort nicht anwesend ist. Gegen verspätet erscheinende Zeugen kann deshalb § 51 angewandt werden (KG GA 69 230). Wenn ein ordnungsgemäß geladener Zeuge schon vor dem Termin eindeutig erklärt, nicht erscheinen zu wollen, so kann es erforderlich sein, den Termin aufzuheben, um den Termin nicht vertagen zu müssen. Obwohl die Maßnahmen des § 51 einen begangenen und festgestellten Ungehorsam voraussetzen, ist ein Zeuge, der mitteilt, nicht erscheinen zu wollen, einem nicht erschienenen gleichzusetzen. Es kommt also auf die Entschuldigung an. Es ist sonach zulässig, gegen ihn eine Ordnungsstrafe zu verhängen und ihn zum nächsten Termin vorführen zu lassen, wenn die Terminsverlegung von ihm verschuldet wurde (Stuttgart NJW 1956 840, [abl. R e i f aaO. 1083], E r b s III, F u h r m a n n - D a l c k e 2). Der Zeuge hat in einem solchen Zustand zu erscheinen, daß eine Verständigung mit ihm nicht schlechterdings unmöglich ist. Setzt er sich schuldhaft, z. B. durch Trunkenheit außerhalb eines solchen, so kann § 51 angewandt werden (Königsberg JW 1930 2598). § 51 ist auch auf den unmittelbar geladenen Zeugen anwendbar. Die Pflicht zum Erscheinen schließt die Pflicht ein, von der in der Ladung vorgeschriebenen Zeit bis zur ausdrücklichen oder stillschweigenden Entlassung durch den Richter am Ladungsort zu verbleiben. Dies gilt auch dann, wenn der Zeuge vernommen worden ist, da mit einer nochmaligen Befragung oder Gegenüberstellung jederzeit gerechnet werden kann. Daher kann der Richter den Zeugen, der sich eigenmächtig entfernen will, zwangsweise festhalten lassen, wenn die weitere Anwesenheit erforderlich erscheint, oder gegen den bereits entfernten Zeugen die Maßnahmen gem. § 51 anzuwenden. 3. Folgen des Nichterscheinens. Zwingend vorgeschrieben ist, falls nicht Abs. 2 Platz greift, die Verurteilung in die Kosten und in eine Ordnungsstrafe, falls der nicht hinreichend entschuldigte Zeuge ausbleibt. Jedoch können die Grundsätze des § 153 und des OWiG § 48 hier Anwendung finden (Neustadt JR 1958 310 für § 7 Abs. 3 a. F.), falls die Verspätung unbedeutend war. Die Kostenlast und Strafe gelten an sich auch tür den strafunmündigen Zeugen, da es sich hier nur um eine Ordnungsstrafe, nicht aber um eine Kriminalstrafe handelt M ü l l e r - S a x 5a; E b S c h m i d t 9; Kl 2), jedoch wird hier meist die Verantwortung bei dem Sorgeberechtigten liegen, der daher besonders unter Androhung der Folgen benachrichtigt werden muß. Ferner kann die Vorführung angeordnet werden. Beide Maßregeln sind nebeneinander statthaft. Ob gegen mitgeladene und erschienene Eltern wegen Nichtgestellung des geladenen Kindes Ordnungsstrafe zulässig sei, ist bestritten. (Dagegen OLG Hamm OLGSt. § 51 Seite 1, Skupin MDR 1965 865, Kl 2.) Man kann

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§ 51 Anm. 4—6

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

diese ablehnende Meinung kaum bekämpfen. Sie vergrößert aber die ohnehin katastrophale Dunkelziffer bei Delikten an Kindern (vgl. § 52 Anm. 1). Bleibt bei wiederholter Ladung der Zeuge abermals aus, so k a n n der Richter noch einmal eine Strafe verhängen, er muß es aber nicht; er kann es auch bei der nunmehr anzuordnenden Vorführung bewenden lassen. Mehr als zweimal darf nach dem Schlußsatz des Abs. 1 die Strafe nicht verhängt werden. Das ist aber nur dahin zu verstehen, daß für d e n s e l b e n V e r n e h m u n g s f a l l eine öftere Bestrafung ausgeschlossen sein soll. Es ist daher z. B. statthaft, gegen den in. der Hauptverhandlung ausgebliebenen Zeugen die Strafe auch dann zu verhängen, wenn er in der Voruntersuchung bereits zweimal mit Strafe aus § 5 1 belegt wurde ( M ü l l e r - S a x 5a; E b S c h m i d t 9). Der Grundsatz des § 7 0 Abs.4 findet hier keine Anwendung. In der Befugnis zur Anordnung der zwangsweisen Vorführung liegt auch die Befugnis, den vorgeführten Zeugen an dem Ort, an dem die Vernehmung vorgenommen werden soll, während einer kurzen Zeit f e s t h a l t e n zu lassen, wenn der sofortigen Vernehmung ein Hindernis entgegensteht (vgl. E n z i a n NJW 1957 451; M ü l l e r - S a x 5b; K l 1 a). Die Verurteilung in die Kosten soll spätestens mit der Entscheidungsreife der Hauptsache erfolgen, auch wenn mit einer Entschuldigung noch zu rechnen ist. Bleibt die Entschuldigung aus und ist dennoch die Maßnahme nach § 51 nicht spätestens zusammen mit der Entscheidung in der Hauptsache getroffen worden, so ist ihre Verhängung nicht mehr möglich (BGHSt. 10 126, vgl. Anm. 6). Daß in jedem Ungehorsamsfall den Zeugen die Kosten treffen, versteht sich an sich schon nach zivilrechtlichen Grundsätzen von selbst. Unter diesen Kosten sind vorzugsweise solche zu verstehen, die durch die Verlegung des Termins, die nochmalige Ladung der Zeugen usw. entstehen. Darunter können weiter Reisekosten, fallig gewordene Verteidigergebühren sowie die Entschädigung der Zeugen, Sachverständigen und Schöffen fallen, ferner auch die Kosten, die durch die Vollstreckung der festgesetzten Strafe entstehen. Unter Kosten fallen nicht nur die notwendigen, sondern sämtliche Auslagen, soweit sie nicht den kostengesetzlichen Rahmen überschreiten (Hamm NJW 1954 286). Voraussetzung für eine Kostenbelastung ist aber, daß diese nach dem Ausbleiben entstanden sind, etwa durch Neuansetzung von Terminen (OLG Braunschweig OLGSt. § 51 S. 3). 4. Die Höhe der Geldstrafe ist nicht mehr in der StPO festgesetzt. Nach der VO v. 4. 2. 1924, Art. II Abs. 2 (RGBl. I S. 45) beträgt sie mindestens DM 1 , - und höchstens DM 1000,—. Innerhalb dieser Grenzen ist sie nach richterlichem Ermessen für jeden einzelnen Fall besonders zu bestimmen. Hierbei sind namentlich die Vermögensverhältnisse des Zeugen besonders zu berücksichtigen. Die im Falle wiederholten Ausbleibens „noch einmal" zu verhängende Strafe braucht nicht stets in derselben Höhe wie die zuerst verhängte festgesetzt zu werden. Das ist der Fassung des Schlußsatzes des Abs. 1 nicht zu folgern. 5. Die Ersatzfreiheitsstrafe beträgt Freiheitsstrafe bis zu 6 Wochen. Sie kann auch noch nachträglich von dem Gericht, das die Ordnungsstrafe festgesetzt hat, gem. § 459 verhängt werden (Hamm GA 1958 118). 6. Erlaß und Vollzug der Maßnahmen. Die Maßnahmen erfolgen von Amts wegen; nicht auf Antrag. Ein Unterbleiben begründet die Revision nicht (RGSt. 57 29). Einer vorherigen Anhörung des ausgebliebenen Zeugen bedarf es nicht, da das Gesetz die nachträgliche Entschuldigung gestattet. Dadurch ist aber nicht ausgeschlossen, daß das Gericht die Entscheidung aufschiebt, bis dem Zeugen Gelegenheit zur Entschuldigung gegeben worden ist (BayObLGSt. 1 314; M ü l l e r - S a x 6). Der Beschluß ist im Regelfall zu erlassen, sobald die Entscheidung in der Hauptsache bevorsteht (BGHSt. 10 126) jedoch ist eine spätere Nachholung bis zur Entscheidung zulässig (LG Itzehoe SchlHA 66 154, K l 4 a. A. Müll e r - S a x 8). Der Beschluß ist gebührenfrei ( M ü l l e r - S a x 6). Über die Anhörung der StA vgl. § 33. Die Maßregeln werden durch Beschluß (in der Hauptverhandlung mit Laienbeisitzern) und nicht durch Urteil verhängt; dasselbe gilt von der Wiederaufhebung ( M ü l l e r - S a x Anm. 6); vgl. auch Anm. 4. Die Entscheidung ist nach § 34 zu begründen.

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§51 Anm. 7 - 9

7. Rechtsmittel. Gegen die Beschlüsse findet, sofern sie nicht vom Oberlandesgericht in letzter Instanz oder vom Bundesgerichtshof erlassen sind, einfache Beschwerde statt, die keine aufschiebende Wirkung hat (§§ 304 Abs. 2, 3; 307). Zu beachten ist, daß seit 26. 9. 1969 (BGBl. I 1357) in Staatsschutzsachen die Oberlandesgerichte nicht mehr letzte Instanz sind; also ist in diesen Ausnahmefällen die Beschwerde möglich. Die nichtaufschiebende Wirkung gilt vor allem hinsichtlich der Auferlegung der Auslagen des Angeklagten oder Nebenklägers bzw. Privatklägers, gegen deren Nichtüberbürdung sich die letzteren beschweren können (Bay. Verf. G H 18 138). Eine Revision kann nicht auf die Verletzung des § 51 gestützt werden, es sei denn, es sei durch die Nichterschöpfung des unentschuldigt ferngebliebenen Beweismittels § 244 StPO verletzt worden. Die Vollstreckung der Beschlüsse erfolgt durch die Staatsanwaltschaft (K1 9); zuständig ist aber auch der Vorsitzende (§ 36 Abs. 2). Der Zeuge trägt die Kosten der Vollstreckung; wird er aber auf Beschwerde von Kosten und Strafe freigestellt, so hat die Staatskasse die Kosten des Ordnungsstrafverfahrens auch dann zu tragen, wenn der Zeuge in einer Privatklagesache geladen war. Das Ordnungsstrafverfahren ist ein besonderes Verfahren, das neben dem Privatklageverfahren herläuft. 8. Verjährung. Obwohl das Gesetz schweigt, müssen Ordnungsstrafen schon deshalb der Verjährung unterliegen, weil sie dem Unrechtsgehalt nach leichter wiegen, als kriminelle Straftaten. Da der Ordnungsstrafenbeschluß mit der einfachen Beschwerde anfechtbar ist, die unbefristet ist, beginnt die Verfolgungsverjährung mit dem Fernbleiben des Zeugen, die Vollstreckungsverjährung mit dem Erlaß des Beschlusses. Auf eine Rechtskraft abzustellen, wie es K G JR 1957 429 tut, ist unmöglich, weil es bei der unbefristeten Beschwerde eine solche ja gerade nicht gibt. Die Verjährung tritt nach 3 Jahren ein (§ 67 Abs. 2 StGB) weil die Höhe der Ordnungsstrafe bis zu DM 1000,— maßgebend ist. Die Ubertretungsfristen oder die Fristen für Ordnungswidrigkeit greifen nicht Platz (KG wie oben). 9. Genügende Entschuldigung. Genügende Entschuldigung schließt die Verurteilung aus. Bei nachträglicher Entschuldigung (vgl. u. a. 1 zu 9b) ist der Beschluß aufzuheben (BGHSt. 10 126). Darüber, ob das Ausbleiben genügend entschuldigt sei, entscheidet das Ermessen des Gerichts. Das gilt auch für die Frage, ob die tatsächlichen Angaben des Zeugen für glaubhaft zu erachten sind. Gerichtskundige Hindernisse des Erscheinens sind von Amts wegen zu berücksichtigen, so z. B. der Umstand, daß dem Zeugen die Ladung zu spät zugestellt worden ist. a) Private Verrichtungen haben hinter der öffentlich-rechtlichen Zeugnispflicht zurückzutreten, es sei denn, daß sie der Allgemeinheit dienten. Dringende Arbeit beim Arbeitgeber ist noch keine genügende Entschuldigung (BayObLG A l s b e r g Entsch. 1 Nr. 331), ebensowenig ein Verschulden anderer Personen (OLG Hamm NJW 1956 1153 M ü l l e r S a x 7). Eine genügende Entschuldigung kann aber darin gefunden werden, daß die Frist zwischen Ladung und Termin sehr knapp war. Der Zeuge ist auch grundsätzlich nicht verpflichtet, dafür zu sorgen, daß ihm Ladungen während seiner Abwesenheit in seine Wohnung nachgesandt werden ( E r b s ; F u h r m a n n - D a l c k e Anm. 7). Wenn allerdings dem betreffenden Zeugen vom Gericht erklärt worden ist, er werde in Kürze vernommen werden, so kann darin, daß er trotzdem keine Vorsorge getroffen hat, sich die Ladung nachschicken zu lassen, ein Verschulden erblickt werden ( E b S c h m i d t 15). Das gilt auch dann, wenn nach dem Urteil der Angeklagte die Kosten nur insoweit zu tragen hat, als sie nicht durch Säumnis des Zeugen entstanden sind (Hamm NJW 1956 1935). Ein Rechtsanwalt, der infolge Verschuldens des Personals keine Kenntnis von der Zeugenladung erhält, kann nur dann als entschuldigt angesehen werden, wenn er nachweist, daß er durch Umstände, die er nicht zu vertreten hatte, nicht in den Besitz der Ladung kam. Ohne weiteres kann das aber bei einem Rechtsanwalt, der den Geschäftsbetrieb der Anwaltskanzlei zu organisieren und zu überwachen hat, nicht angenommen werden (OLG Hamm NJW 1956 1935). In einer unvorgesehenen Reifenpanne des von dem Zeugen benutzten und für betriebssicher gehaltenen Kfz. kann eine genügende Entschuldigung liegen (OLG Celle RdK 1950 94). Genügende Entschuldigung ist ebenfalls anzunehmen, wenn ein Zeuge mit. Rücksicht auf einen hohen jüdischen Festtag um Terminsverlegung gebeten hatte, das Gesuch abgelehnt war und der Zeuge trotzdem nicht erschien. Vgl. hierzu die Rechtsprechung zu § 44 über Naturereignisse oder andere unabwendbare Zufalle. 411

§51 Anm. 10, 11

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

b) § 51 II verlangt „genügende Entschuldigung". Es besteht kein Unterschied zwischen rechtzeitiger und verzögerter Entschuldigung (Hamm JMB1. NRW 1950 54; Anm. 4). Auch letztere befreit, selbst wenn durch frühere Mitteilung des genügenden Entschuldigungsgrundes Kosten erspart worden wären. An eine Frist ist die nachträgliche Entschuldigung nicht gebunden. Sie kann deshalb auch nach rechtskräftiger Erledigung der Hauptsache vorgebracht werden (BayObLG. St. 7 331). Selbst die bereits durchgeführte Beitreibung der Geldstrafe würde einer Wiederaufhebung der getroffenen Anordnung nicht entgegenstehen. Hat ein Zeuge rechtzeitig eine an sich ausreichende Entschuldigung eingereicht, wird ihm aber vom Gericht kein entsprechender Bescheid erteilt, so kann er u. U. sein Fernbleiben als genügend entschuldigt ansehen (Hamm JMB1. N R W 1950 12). Auch verspätetes Vorbringen einer genügenden Entschuldigung bringt Strafe und Kostenlast in Wegfall (LG Hamburg JR 1962 351). Begründet der Zeuge seine Säumnis in einer „Beschwerde", so entscheidet darüber das Gericht, das die Bestrafung verhängt hat (Hamm GA 1958 92, BayObLG NJW 1952 1225). Erst gegen dessen Entscheidung gibt es die einfache Beschwerde (OLG Frankfurt NJW 1964 2124). Nach Aufhebung der Ordnungsstrafe kann die Strafe wegen desselben Tatbestandes nicht erneut verhängt werden. 10. Entbehrlichkeit der Vernehmung. Ist die Vernehmung des ausgebliebenen Zeugen entbehrlich geworden, so kann dies dem Mangel einer genügenden Entschuldigung des Ungehorsams nicht abhelfen, also nicht die Wiederaufhebung der Strafe begründen, selbst wenn der gleichzeitig ergangene Vorführungsbefehl wieder aufgehoben wird. 11. Sonderfälle. a) Abgeordnete. Durch Art. 46 Abs. II G G und die entsprechenden Bestimmungen der Länderverfassungen wird die Verurteilung eines Abgeordneten in die Kosten des Ausbleibens und in eine Ordnungsstrafe in Geld nicht verboten. In G G wird nur eine mit Strafe bedrohte Handlung erwähnt, also nur eine Kriminalstrafe, nicht aber eine Ordnungs- oder Zwangsstrafe. Das gilt aber nicht für eine Vorführung oder eine Ersatzfreiheitsstrafe; denn der Vollzug der Ersatzfreiheitsstrafe oder die zwangsweise Vorführung behindern zumindest die Verbindung mit der Wählerschaft, schädigen das Ansehen des Abgeordneten und damit den Abgeordnetenberuf überhaupt (vgl. M ü l l e r - S a x 9; Kl 6). Insoweit muß deshalb die Genehmigung eingeholt werden. Wenn einzelne Landesverfassungen die Immunität des Abgeordneten nur insoweit schützen, als die Genehmigung des Parlaments nur dann erforderlich ist, wenn die Ausübung des Abgeordnetenberufs beeinträchtigt wird, so ist nach den vorstehenden Grundsätzen zu verfahren. b) Exterritoriale. Maßnahmen aus § 51 sind gegen Exterritoriale unzulässig. Die Genehmigung des Exterritorialen ist erforderlich, um eine Ladung an eine der deutschen Gerichtsbarkeit unterworfene Person in der W o h n u n g des Exterritorialen zuzustellen. Liegt sie nicht v o r , so ist die Ladung nicht ordnungsgemäß i. S. des § 51. Dann darf ein solcher Zeuge nicht zur zwangsweisen Vorführung oder zur Vollstreckung der Ersatzfreiheitsstrafe abgeholt werden ( M ü l l e r - S a x Anm. 10). Vorbemerkungen zu §§ 52 — 55 Übersicht I. Zeugnispflicht 1. Inhalt a) Aussage über Tatsachen b) Gegenüberstellung 2. Dauer 3. Umfang

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II. Befreiung von der Zeugnispflicht 1. Weigerungsrecht 2. Umfang 3. Einzelfälle 4. Verzichtbarkeit

Sechster Abschnitt. Zeugen (Kohlhaas)

V o r §§ 52—55 Anm. I 1

I. Zeugnispflicht. Jede zeugnisfähige Person, auch der sich im Gebiet des Bundes aufhaltende Ausländer, ist zeugnispflichtig (Vorbem. 2 vor § 48), falls nicht ein gesetzlicher Befreiungsgrund vorliegt. Über Exterritoriale vgl. § 51 Anm. I I b . Über die Zeugnispflicht der Konsuln sind in einzelnen Staatsverträgen besondere Bestimmungen enthalten. Es ist hier nur von der Zeugnispflicht bei gerichtlichen Vernehmungen die Rede (RGSt. 40 346). Die außergerichtliche Abhörung von Zeugen, insbesondere durch die Polizei, ist in §§ 161 Anm. 3 b und 163 Anm. l b behandelt. Voraussetzung der Zeugnispflicht ist an sich das Bestehen eines Verdachts einer strafbaren Handlung. Dieser Verdacht kann von der Staatsanwaltschaft im Wege eines Antrags nach § 162 oder auf Voruntersuchung oder durch Anklageerhebung; von der Polizei durch Vorführung nach vorläufiger Festnahme oder Anzeige nach § 165 dem Gericht so vermittelt werden, daß dieses die Beweise erheben muß, auch wo es dem Verdacht nur geringe oder gar keine Bedeutung beimißt. Daß der Verhängung einer Strafe im Einzelfall ein Unrechtsoder Schuldausschließungsgrund u. a. entgegenstehen würde, ist für die Zeugnispflicht bedeutungslos. Es ist auch nicht Voraussetzung der Zeugnispflicht, daß die Strafverfolgung bereits gegen eine bestimmte Person gerichtet ist. In zahlreichen Fällen besteht die Hauptaufgabe des Strafverfahrens gerade darin, die noch unbekannte Person des Täters zu ermitteln. Die Zeugnispflicht greift im Ermittlungsverfahren ebenso Platz wie in der gerichtlichen Untersuchung. 1. Inhalt. a) Aussage über Tatsachen. Die Pflicht des Zeugen geht dahin, über von ihm wahrgenommene Tatsachen aus der Vergangenheit (bei Tatfolgen auch aus der Gegenwart) Auskunft zu geben, gleichgültig ob diese Wahrnehmung auf Hören oder Sehen oder auf Aufnahme mittels anderer Sinnesorgane beruht. Der Regelfall ist die Mitteilung objektiver Beobachtungen; es ist aber nicht ausgeschlossen, auch subjektive Wertungen des Geschehens vom Zeugen schildern zu lassen. Daher ist es unerheblich, ob die Wahrnehmung unmittelbar erfolgt ist oder ob der Zeuge seine Kenntnisse erst auf nachträglicher urteilender Tätigkeit über den Vorgang erlangt hat. Ein gewisses Maß urteilender Tätigkeit ist praktisch bei jeder Zeugenaussage notwendig. Jedoch darf dieses Zeugenurteil im allgemeinen nur dann berücksichtigt werden, wenn es sich um einfache leicht verständliche Dinge handelt, die jedem geistig normalen Menschen ohne weiteres als Naheliegendes oder Selbstverständliches aufdrängen. So etwa über Begriffe wie „Liebesverhältnis", oder „ehewidrige Beziehungen" ( M ü l l e r - S a x Anm. 3). Daher ist die urteilende Tätigkeit stets der sinnlichen Wahrnehmung nachgeordnet (RGSt. 27 96, 33 371, 57 412) und unterliegt der Prüfung durch das Gericht weit über die freie Beweiswürdigung hinaus. Es gibt aber auch Fälle, wo der Zeuge über eine Befähigung verfügt, wie sie zur Wahrnehmung eines an sich nur Sachkundigen verständlichen Vorgangs erforderlich ist. Tatsachen, bei denen Fachkenntnisse erwünscht, aber nicht unbedingt notwendig sind, können auch durch Zeugen bewiesen werden (für Trunkenheit RGSt. 37 371, OLG Oldenburg NdsRpfl. 50 163). Keinesfalls ist es zulässig, einen solchen Zeugenbeweis nach Grundsätzen der Ablehnung von Sachverständigengutachten abzulehnen, weil es sich um eine Sachverständigenaussage handle ( A l s b e r g - N ü s e S. 229 a.A. RGSt. 57 412. Näheres vgl. § 244 Anm. 11). Ebenso können der Charakter, Ruf, die politische Parteistellung und die Glaubwürdigkeit, auch die Lügenhaftigkeit oder Verdorbenheit eines Kindes Gegenstand des Zeugenbeweises sein (RGSt. 26 71; 37 371; 39 363; falls es sich dabei um den Beweis bestimmter Tatsachen, aus denen auf diese Charaktereigenschaft zu schließen ist, und nicht bloß um Werturteile handelt (vgl. R G JW 1932 2797, 2798; 1936 1381 H R R 1939 1210). Im übrigen vgl. Vorbem. 4 a vor § 48.

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V o r §§ 52—55 Anm. I 2, 3; II 1

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

b) Gegenüberstellung. In der Zeugnispflicht ist die Pflicht inbegriffen, sich anderen Personen (Zeugen, Sachverständigen, Beschuldigten) gegenüberstellen zu lassen. Auch ist jeder Zeuge verpflichtet, an einer gerichtlichen Augenscheinseinnahme teilzunehmen und hierbei erforderlichenfalls dem Richter diejenigen Örtlichkeiten, Gegenstände usw. zu bezeichnen, von denen in dem Zeugnis die Rede ist. Dagegen umfaßt die Zeugnispflicht nicht die Pflicht zu irgendwelcher außergerichtlichen Tätigkeit, z. B. zur Einziehung von Erkundigungen. Ebenso besteht keine Verpflichtung des Zeugen, sich außerhalb des § 81c einer sachverständigen Prüfung seiner körperlichen oder geistigen Fähigkeiten oder gar seines Geisteszustandes zu unterwerfen (RG HRR 1928 2330). Er muß sich also auch nicht photographieren lassen, sofern dies nicht zur körperlichen Untersuchung gehört (Umkehrschluß zu § 81b; wie hier G e r l a n d 202 a.A. noch 20. Auflage mit K ö h l e r G A 6 0 214). Über Belehrungspflicht nach § 52 bei freiwilliger, nicht unter § 81c fallender Untersuchung vgl. BGHSt. 13 398. Wohl aber ist es statthaft und im Interesse des § 244 sogar erforderlich, einen psychologischen Sachverständigen in geeigneten Fällen zuzuziehen, um die möglichen Fehlerquellen der Zeugenaussage klarzulegen, ohne dabei allerdings der richterlichen Beurteilung vorzugreifen. Im besonderen ist das bei der Beurteilung der Aussagen jugendlicher Zeugen oder von Kindern angezeigt ( B o h n e in SJZ 1949, 9 M ü l l e r - S a x Anm. 4 zu § 69, K o h l h a a s NJW 1951 903). Näheres vgl. bei § 81c. In § 69 ist durch Hinweis auf § 136a vorgeschrieben, daß wie bei der Vernehmung des Beschuldigten die Freiheit der Willensentschließung und der Willensbetätigung durch Mißhandlung, durch Ermüdung, durch körperlichen Eingriff, durch Verabreichung von Mitteln, durch Quälerei, durch Täuschung oder durch Hypnose nicht beeinträchtigt werden darf. Zwang darf nur angewandt werden, soweit das Strafverfahrensrecht dies zuläßt. Die Drohung mit einer nach den Vorschriften unzulässigen Maßnahme und das Versprechen eines gesetzlich nicht vorgesehenen Vorteils sind verboten. Auch Maßnahmen, die das Erinnerungsvermögen oder die Einsichtsfähigkeit beeinträchtigen, sind nicht gestattet. Daß der Zeuge in diese Maßnahmen einwilligt, ist bedeutungslos. Aussagen, die unter Verletzung dieser Verbotsbestimmungen zustande gekommen sind, dürfen auch dann nicht verwertet werden, wenn der Beschuldigte und der Zeuge der Verwertung zustimmen. Verletzung der Bestimmung begründet die Revision. Im einzelnen vgl. hierzu § § 6 9 und 136a. 2. Dauer. Jeder Zeuge ist verpflichtet, sein Zeugnis in derselben Sache so oft abzulegen, als es von ihm gefordert wird. 3. Umfang. Die Bestimmungen über die Zeugnispflicht sind nur auf diejenigen Strafsachen anwendbar, die vor die ordentlichen Gerichte gehören. Ob in einem Verwaltungsstrafverfahren, in einem Dienststrafverfahren, Dienstordnungsverfahren oder von parlamentarischen Untersuchungsausschüssen eine Zeugnispflicht Platz greift und ob und in welcher Weise ihre Erfüllung erzwungen werden kann, ist eine Frage, die nach dem das Verfahren regelnden Bundes- oder Landesgesetz zu entnehmen ist. Die Anwendbarkeit der StPO hängt allerdings nicht nur davon ab, ob in diesen Gesetzen eine Bezugnahme auf die StPO ausdrücklich erfolgt. Wenn eine eidliche Vernehmung von Zeugen schon ohne solche Bezugnahme vorgesehen, aber auf besondere Fälle beschränkt ist (Bundesdisziplinarordnung vom 28. 11. 1952, BGBl. I 761, § 17 Abs. 4) so versteht es sich schon aus Gründen der Rechtsstaatlichkeit von selbst, daß die Zeugnisverweigerungsrechte und Vereidigungsverbote der StPO mindestens analog Anwendung finden müssen und daß über jene Sonderfalle hinaus nicht beeidigt werden darf, so vor allem nicht im Ordnungswidrigkeitenrecht (OWiG §§ 46, 48). Über Mindestformalien des Verfahrens vor Untersuchungsausschüssen vgl. BGH NW 1960 1960. II. Befreiung von der Zeugnispflicht. 1. Weigerungsrecht, a) Die Befreiung von der Zeugnispflicht besteht regelmäßig nur in der Berechtigung des Zeugen, die Ablegung des Zeugnisses zu verweigern (RGSt. 19 364). Erklärt ein Zeuge, dieses Recht nicht ausüben zu wollen, so verletzt sein Verhalten die Rechte der Prozeßbeteiligten nicht (RGSt. 48 269).

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Sechster Abschnitt. Zeugen (Kohlhaas)

V o r §§ 52—55 Anm. II 2 - 4

Ein Zeuge, der von einem nach §§ 52, 53 bestehenden Recht zur Zeugnisverweigerung keinen Gebrauch macht, darf gleichwohl die Aussage über einzelne Tatsachen ablehnen (RGSt. 48 271). Dieser Zeuge ist nicht verpflichtet, den Grund anzugeben, aus dem er sein Zeugnis ganz oder teilweise verweigert. Fragen, die ein Prozeßbeteiligter dieser Richtung stellt, sind als ungeeignet zurückzuweisen (RG JW 1930 926). Zur Frage, ob ein auf die Erforschung dieser Gründe gerichteter Beweisantrag zulässig oder erheblich ist, vgl. R G JW 1930 926. Zur Frage der Geheimhaltung des Zustandekommens eines Richterspruchs, vgl. K o h l h a a s NJW 1953 402, A l s b e r g - N ü s e 94. b) Der A n t r a g eines Prozeßbeteiligten, eine der im §§ 52, 53 bezeichneten Personen als Zeugen zu vernehmen, kann von dem Gericht nicht lediglich deshalb a b g e l e h n t werden, weil der Zeuge zur Ablegung des Zeugnisses nicht verpflichtet sei. Es ist vielmehr abzuwarten, ob der Zeuge von seiner Berechtigung Gebrauch macht (BGHSt. 15 201). Daher genügt die erklärte Weigerung des Zeugen nicht zur Ablehnung eines später gestellten Antrags, wenn behauptet wird, es werde nun ausgesagt werden (a.A. für dieselbe Instanz RGSt. 38 356; 41 32). Dies ergibt sich daraus, daß die Erklärung des Zeugen, daß er die Ablegung seines Zeugnisses verweigere, w i d e r r u f e n werden kann (RGSt. 63 302) und daß im Falle seines solchen Widerrufs die Vernehmung des Zeugen auch dann statthaft ist, wenn der Zeuge bei der Abhörung anderer Zeugen zugegen gewesen ist. 2. Umfang. Zwischen den Fällen des § 52 und der §§ 53—55 besteht der Unterschied, daß in dem ersten die Zeugnispflicht in ihrem ganzen Umfang wegfallt, während sie in den Fällen 53—55 nur eine Einschränkung dahin erfährt, daß der Zeuge über gewisse Gegenstände keine Auskunft zu geben braucht. 3. Einzelfälle. Die Fälle, in denen eine Berechtigung zur Verweigerung des Zeugnisses Platz greift, sind in den §§ 52—55 erschöpfend aufgeführt. Ein Zeuge darf die Auskunft über Mitteilungen eines anderen nicht deshalb verweigern, weil dieser andere, wenn er selbst hinsichtlich der mitgeteilten Tatsache zum Zeugnis aufgefordert wurde, dessen Ablegung würde verweigern dürfen (vgl. § 252). Ebensowenig kann eine Verweigerung des Zeugnisses damit begründet werden, daß dem Zeugen die Mitteilung der in Frage stehenden Tatsache nur im Vertrauen oder nur gegen das Versprechen der Verschwiegenheit gemacht worden ist. Der gesetzliche Schutz des Brief- und Telegraphengeheimnisses gibt kein diesem Schutz entsprechendes Zeugnisverweigerungsrecht (§ 12 Fernmeldegesetz). Ein Zeuge darf ferner zwar generell die Aussage über die Abgabe seiner Stimme bei einer Wahl oder Abstimmung mit dem Hinweis auf das Wahlgeheimnis verweigern. Der Strafanspruch des Staates, strafbare Handlungen zu verfolgen, die das Wahlgeheimnis betreffen, steht rechtsstaatlich gesehen nur dort höher als das Privatinteresse des einzelnen Wählers an der Geheimhaltung seiner Abstimmung, wo es um die Aufdeckung von Wahlverstößen geht. Dann können Wähler als Zeugen über die Ausübung des Wahlrechts vernommen werden (RGSt. 63 382, 388). Sie dürfen dann nicht die Aussage verweigern. (a.A. B ö c k e n f ö r d e NJW 1967 239, P e t e r s Gutachten zum 46. Dtsch. Juristentag S 111). Durch Art. 47 G G wird bestimmt, daß Abgeordnete berechtigt sind, über Personen, die ihnen in ihrer Eigenschaft als Abgeordnete oder denen sie in dieser Eigenschaft Tatsachen anvertraut haben sowie über diese Tatsachen selbst das Zeugnis verweigern. Soweit dieses Zeugnisverweigerungsrecht reicht, ist auch die Beschlagnahme von Schriftstücken unzulässig. Art. 47 gilt auch für die Mitglieder des Präsidiums und des ständigen Ausschusses sowie für deren erste Stellvertreter (Art. 49 GG). Gleiche Bestimmungen sind in den Verfassungen der Bundesländer enthalten (vgl. F ü s s l e i n , Deutsche Verfassungen 1951). 4. Verzichtbarkeit. Der Verzicht auf das Zeugnisverweigerungsrecht schließt den späteren Widerruf des Verzichts nicht aus. Danach kann der Zeuge jederzeit, bei jeder neuen wie auch im Verlaufe einer und derselben Vernehmung seine Entschließung ändern und die fernere Ablegung des Zeugnisses verweigern (RGSt. 63 302). Darüber, ob und unter welchen Voraussetzungen die früheren Aussagen eines Zeugen, der erst in der Hauptverhandlung sein Zeugnis verweigert, während er früher, insbesondere in der Voruntersuchung, ausgesagt hatte, auf andere Weise als durch Verlesung des Protokolls über die frühere Vernehmung,

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§52 Anm. 1

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

eben durch Zeugenvernehmung zur Kenntnis des erkennenden Gerichts gebracht werden darf, vgl. die Anm. zu § 252, insbesondere BGH 2 99,11 338. Über die Berechtigung, die Beeidigung des abgelegten Zeugnisses zu verweigern, vgl. §§ 60 ff. Über die Pflicht zum Erscheinen vor dem Gericht vgl. § 51 Anm. 2. Über die der Zeugnispflicht entsprechenden Pflicht zur Herausgabe von Beweismitteln vgl. §§ 9 5 - 9 7 . • §52 (1) Zur Verweigerung des Zeugnisses sind berechtigt: 1. der Verlobte des Beschuldigten; 2. der Ehegatte des Beschuldigten, auch wenn die Ehe nicht mehr besteht; 3. wer mit dem Beschuldigten in gerader Linie verwandt, verschwägert oder durch Annahme an Kindes Statt verbunden oder in der Seitenlinie bis zum dritten Grade verwandt oder bis zum zweiten Grade verschwägert ist, auch wenn die Ehe, durch welche die Schwägerschaft begründet ist, nicht mehr besteht. (2) Die bezeichneten Personen sind vor jeder Vernehmung über ihr Recht zur Verweigerung des Zeugnisses zu belehren. Sie können den Verzicht auf dieses Recht auch während der Vernehmung widerrufen. Keine späteren Änderungen. Übersicht 1. Allgemeines 2. Weigerungsberechtigte a) Verlobte b) Ehegatten c) Verwandte und Verschwägerte 3. Voraussetzungen a) Beziehung zum Beschuldigten b) Beziehung zu einem von mehreren Beschuldigten 4. Belehrung

a) Erfordernis b) Person des Belehrenden, Art und Zeit der Belehrung c) Verständnis des zu Belehrenden d) Wiederholung der Belehrung 5. Zeugnisverweigerung nach Belehrung und ihre Folgen 6. Unterbleiben der Belehrung und ihre Folgen 7. Falsche Belehrung und ihre Folgen

1. Allgemeines. Das Zeugnisverweigerungsrecht der §§ 52—55 stellt eine Ausnahme von der Aussagepflicht dar. Die Bestimmungen geben also nur eine Befugnis und keine Verpflichtung zur Zeugnisverweigerung. Diese Befugnis besteht nicht nur vor Gericht, sondern auch bei Vernehmung durch die StA und die Polizei (RGSt. 70 6; R G JW 1936 3008; E r b s II; M ü l l e r - S a x lf.). Das Verweigerungsrecht gilt nur für Zeugen. Nur der Zeuge allein hat zu entscheiden, ob er von der Befugnis Gebrauch machen will, die Aussage zu verweigern. Das Zeugnisverweigerungsrecht aus § 52 haben nur die Zeugen, die Beziehungen der dort näher bezeichneten Art zu dem Beschuldigten haben. Das zwischen zwei Mitangeklagten bestehende Verwandtschafts- bzw. Schwägerschaftsverhältnis gibt dagegen kein „Zeugnisverweigerungsrecht". Insoweit greift deshalb nicht § 252, sondern notfalls § 254 Platz (BGHSt. 3 150; F u h r m a n n - D a l c k e Anm. 5; M ü l l e r - S a x l e ; K l Anm. 1 Bc, A l s b e r g - N ü s e 202). Da der Zeuge von dieser Befugnis der Zeugnisverweigerung nicht notwendig Gebrauch machen muß, muß dem Antrag auf Ladung eines solchen Zeugen mindestens dann stattgegeben werden, wenn der Zeuge nicht schon in derselben Instanz von seinem Weigerungsrecht Gebrauch gemacht hat (RGSt. 38 257, vgl. aber für uneingeschränktes Stattgeben im allgemeinen Vorbem. II 1 b vor § 52). Da jeder Angeklagte aber das Recht hat, zu schweigen, ist diese Frage sehr theoretisch. Sie kommt allenfalls dort zum Tragen, wo der in Vorbem. 4 b vor § 48 genannte Fall einer zulässigen Abtrennung gegeben ist. 416

Sechster Abschnitt. Zeugen (Kohlhaas)

§ 52 Anm. 2

2. Weigerungsberechtigte. Das Zeugnis können verweigern: a) Verlobte. Erforderlich ist ein gegenseitiges ernstlich gemeintes Eheversprechen, das nicht gegen das Gesetz oder die gute Sitte verstoßen darf (RGSt. 10 117; 38 243; 53 215; JW 1928 3047; OGHSt. 2 173; BGHSt. 3 215; E r b s IV; Anm. 5; E b S c h m i d t Anm. 12; K l Anm. 3 A). Ein bloßes Liebesverhältnis gibt kein Weigerungsrecht (RGSt. 35 49). Die zivilrechtliche Gültigkeit des Verlöbnisvertrages ist nicht erforderlich, es ist auf die besonderen Bedürfnisse der Strafrechtspflege abzustellen (RGSt. 35 49; 38 243, E b S c h m i d t 12). Deshalb ist das Eheversprechen eines Minderjähirgen wirksam (RGSt. 38 242). Maßgebend ist nicht, ob ein absolutes Ehehindernis im Gegensatz zu einem nur relativen Eheverbot der Möglichkeit eines Verlöbnisses unbedingt hindernd im Wege steht, sondern ob das Eheversprechen gegen das Gesetz oder die gute Sitte verstößt. Das ist normalerweise bei Bestehen einer anderen Ehe der Fall (RGSt. 53 215) es sei denn, daß bei noch bestehender Ehe ein schwerwiegender Scheidungsgrund bereits geltend gemacht worden ist (BGH VRS 69 20, M ü l l e r S a x 5 Nr. 1, K l 3 E b S c h m i d t 12). Ein Sittenverstoß liegt ferner vor, wenn das Eheversprechen nur von einem der Beteüigten ernstlich gemeint ist (RGSt. 35 52; BGHSt. 3 215) oder, wenn der Angeklagte noch mit einem Anderen rechtswirksam verlobt ist, ohne zu beabsichtigen, das andere Verlöbnis aufzugeben (RGSt. 71 152; 75 290; BGH NJW 1952 1422). Das Eheversprechen zwischen einer wegen Ehebruchs geschiedenen Person und ihrem Mitbeschuldigten kann dagegen als Verlöbnis angesehen werden, da hier Befreiung vom Ehehindernis möglich ist und häufig erteilt wird (Rgst. 40 421; R G GA 56 318; D a l c k e F u h r m a n n 4; E b S c h m i d t 12;K13). Entscheidend ist die freie richterliche Überzeugung darüber, ob das behauptete Verlöbnis wirklich als bestehend anzusehen ist. Nicht maßgebend ist dabei die Ansicht des Zeugen. Das Gericht darf aber notfalls von der dahingehenden Angabe des Zeugen als richtig ausgehen (OGHSt. 2 173). Eine ausdrückliche Feststellung des Bestehens des Verlöbnisses braucht im Urteil nicht getroffen zu werden; auf ihr Fehlen kann deshalb die Revision nicht gestützt werden (OGH NJW 1950 271). Maßgebend ist das bestehende Verlöbnis zur Zeit der Vernehmung und nicht zur Zeit der Tat (RG Recht 1930 475; OGHSt. 2 173). Mit der Auflösung des Verlöbnisses hört die Befreiung auf (RGSt. 31 142; 71 152; BGH MDR 1954 336; E r b s IV; F u h r m a n n - D a l c k e Anm. 4; M ü l l e r - S a x Anm. 5 Nr. 1; E b S c h m i d t 12; K l Anm. 3 A). b) Ehegatten. Das Weigerungsrecht besteht auch dann, wenn die Ehe nicht mehr besteht. Entscheidend ist auch hier, ob eine formell gültige Ehe besteht oder bestanden hat (RGSt. 47 287; 57 427). Nichtigkeits- und Aufhebunsgründe sind dann ohne Bedeutung (RGSt. 18 42; 41 114; BGHSt. 7 384; 9 37; E b S c h m i d t 13; F u h r m a n n - D a l c k e 6; M ü l l e r S a x 5 Nr. 2). Es soll gerade vermieden werden, daß der Zeuge, der in der ehemaligen Bindung, ob gut oder böse, befangen ist, zu einer Aussage gezwungen wird. Zu entscheiden von der bedeutungslosen Nichtigkeit ist der Fall, wo die Ehe nicht formgerecht geschlossen ist, also in Wirklichkeit eine Nichtehe vorliegt. Nur in diesem Falle besteht kein Zeugnisverweigerungsrecht. Es bleibt aber zu prüfen, ob ein Verlöbnis vorliegt (RG JR 1930 Nr. 1896). Das Zeugnisverweigerungsrecht reicht auch über den Tod des Ehegatten im Verfahren gegen andere Mitangeklagte hinaus ( M ü l l e r - S a x 5 Nr. 2). Über das Zeugnisverweigerungsrecht des Ehegatten des Privatklägers bei Widerklage im Privatklageverfahren vgl. Anm. 3 a und b. c) Verwandte und Verschwägerte. Entscheidend ist, ob die Voraussetzungen des BGB §§ 1589, 1590 vorliegen (RGSt. 4 1 1 1 3 ; 60 242; BGHSt. 7 245, 383; NJW 1956 679). Infolge der Neufassung des § 1589 BGB (Gesetz vom 19. 9. 1969, BGBl I 1243) ist nach Streichung des Abs. 2 wonach uneheliche Kinder mit dem Erzeuger und dessen Verwandten nicht als verschwägert angesehen wurden, seit dem 1. Juli 1970 das Zeugnisverweigerungsrecht des unehelichen Kindes jenem Personenkreis gegenüber Gesetz geworden. Der Personenkreis ist derselbe wie bislang beim ehelichen Kind. Damit sind die in der Vorauflage

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§52 Anm. 3

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

erwähnten Streitfragen gegenstandslos geworden. Im übrigen kommt es nicht darauf an, ob die das Verhältnis begründende formgültige Ehe (wie oben Anm. 2 b) geschieden, für nichtig erklärt oder sonst mit Mängeln behaftet oder durch Tod aufgelöst worden ist (BGHSt. 7 384, 9 37). Schwägerschaft ist nur das Verhältnis zwischen einem Ehegatten und dem Blutsverwandten des anderen, nicht aber dasjenige zwischen einem Ehegatten und dem Ehegatten des Blutsverwandten des anderen Ehegatten (Ehemänner zweier Schwestern RGSt. 15 78). Schwägerschaft wird auch durch Doppelehe begründet (RGSt. 41 113). Das an Kindes Statt angenommene Kind ist dem Ehegatten des Annehmenden nicht verschwägert (RGSt. 70 75) wie auch nicht der Ehegatte des Angenommenen mit dem Annehmenden. Die Schwägerschaft ist ausschließlich auf die beiden Vertragspartner beschränkt. Ist die Aufnahme aufgehoben oder für nichtig erklärt, besteht kein Zeugnisverweigerungsrecht mehr (BGH NJW 1969 1633). Der Annahme an Kindes Statt das Verhältnis von Pflegekindern und Pflegeeltern nicht gleich (RGSt. 30 75; GA 54 305; F u h r m a n n - D a l c k e 8; M ü l l e r - S a x 5 Nr. 3; E b S c h m i d t 14). 3. Voraussetzungen. a) Beziehung zum Beschuldigten. Nur die in § 52 näher bezeichneten Beziehungen zum Beschuldigten geben das Zeugnisverweigerungsrecht, nicht gleichartige Beziehungen zu anderen Beteiligten, etwa dem Privatkläger oder Nebenkläger. Ist der Privatkläger infolge einer Widerklage zugleich Angeklagter, so besteht das Zeugnisverweigerungsrecht auch für seine Angehörigen ( F u h r m a n n - D a l c k e Anm. 6; E b S c h m i d t 11; K l Anm. 2). Das Verfahren muß gegen den Verwandten oder Verschwägerten als Beschuldigten gerichtet sein. Beschuldigter ist noch nicht jemand, der zwar der Beteiligung an der Tat dringend verdächtigt ist, aber noch nicht verfolgt wird (GR GA 68 351) oder gegen den eine Anzeige erfolglos eingebracht war (RGSt. 16 154) oder der nach geführter Voruntersuchung außer Verfolgung gesetzt ist (RG GA 36 464; F u h r m a n n - D a l c k e 5; M ü l l e r S a x l b ; E b S c h m i d t lb). Die Erhebung der öffentlichen Klage ist nicht erforderlich. Das vorbereitete Verfahren gegen eine bestimmte Person genügt (RGSt. 27 314), falls nicht ausnahmsweise nach den Umständen kein Verdacht vorliegt. Maßgebend ist der Zeitpunkt der Vernehmung. Ein Zeuge, der bei seiner Vernehmung im Vorverfahren nicht Angehöriger war, kann in der Hauptverhandlung Angehöriger sein (RGSt. 48 359), allerdings meist nie umgekehrt (oben Anm. 2). b) Beziehung zu einem von mehreren Beschuldigten. Das Zeugnisverweigerungsrecht besteht auch dann, wenn das Verfahren gegen mehrere Beschuldigte gerichtet ist und der Zeuge nur zu einem von ihnen in einem Verhältnis der im § 52 bezeichneten Art steht, wenn der Sachverhalt gleichzeitig auch die anderen Beschuldigten betrifft (BGHSt. 7 194). Die Wirkung und Tragweite einer Aussage sind in derartig gelagerten Fällen nicht immer im voraus mit Sicherheit zu übersehen (Nr. 77). Dabei ist es unerheblich, ob der Mitbeschuldigte, dessen Angehöriger der Zeuge ist, bereits verstorben oder rechtskräftig verurteilt freigesprochen ist und ob die gegenwärtige Verhandlung nur noch andere Mitbeschuldigte betrifft. Immer muß aber mindest einmal gegen die mehreren Beschuldigten ein zusammenhängendes einheitliches Strafverfahren bestanden haben ( F u h r m a n n - D a l c k e Anm. 5). Ein Verstoß gegen die Vorschrift kann von jedem Mitbeschuldigten geltend gemacht werden. In einem Strafverfahren wegen Straftat und Anstiftung hierzu, kann der Zeuge, der zum Tatverdächtigen geschützte Beziehungen hat, das Zeugnis dann auch mit Beziehung auf den Anstifter verweigern (RG JW 1928 2247; F u h r m a n n - D a l c k e Anm. 5; M ü l l e r - S a x Anm. 15). Werden gegen Teilnehmer an derselben Straftat mehrere selbständige Verfahren geführt, haben Verwandtschaftsverhältnisse der im § 52 bezeichneten Art nur Bedeutung, soweit sie in dem Verfahren bestehen, in dem die Vernehmung vorzunehmen ist (RGSt. 27 270; 32 72; 33 350; E r b s Anm. IV; F u h r m a n n - D a l c k e Anm. 5; E b S c h m i d t Anm. 8). 418

Sechster Abschnitt. Zeugen (Kohlhaas)

§52 Anm. 4

c) Mehrere Straffälle. Wenn eine gegen mehrere Beschuldigte gerichtete Untersuchung mehrere sachlich voneinander unabhängige Straffälle umfaßt und das Zeugnis nur über einen Straffall abzunehmen ist, bei dem der Angehörige usw. des Zeugen nicht Beschuldigter ist, besteht keine Befreiung von der Zeugnispflicht, da sie durch eine Trennung der verbundenen Sachen ohne weiteres beseitigt werden könnte (RGSt. 16 154; GA 38 343; 45 286; BGHSt. 3 25; E b S c h m i d t Anm. 9). Sachlich voneinander unabhängig sind zwei Straffalle aber immer nur dann, wenn jede Beziehung der den einen Fall betreffenden Aussage auf den anderen Fall und jede Verwertung bei der Entscheidung über diesen ausgeschlossen ist (BGHSt. 7 194). Hehlerei und Begünstigung sind im Verhältnis zu der Haupttat nicht selbständig. Wird in einer derartigen Untersuchung das Zeugnis auch für denjenigen Straffall notwendig, bei dem der Angehörige des Zeugen beschuldigt wird, so ist die Zeugnisverweigerung zulässig (RGSt. 16 154). Bei Widerklage im Privatklageverfahren kann die Frage des Zeugnisverweigerungsrechts für Klage und Widerklage nicht getrennt behandelt werden (BayObLG JW 1927 1926; E b S c h m i d t 11). Die Verwandtschaft mit dem Privatkläger oder Nebenkläger begründet aber, solange keine Widerklage erhoben ist, keine Berechtigung zur Verweigerung des Zeugnisses. 4. Belehrung. a) Erfordernis. Die Belehrung ist auch dann erforderlich, wenn es sich um eine uneidliche Vernehmung handelt (RGSt. 2 228). Soll jemand eine nicht unter § 81 c fallende Begutachtung dulden, was er an sich nicht muß (Vorbem. 1 b vor § 52), so ist er gem. § 52 über sein Verweigerungsrecht zu belehren (BGHSt. 13 398). Diese Belehrung ist auch nach erfolgter Untersuchung, die ohne richterliche Belehrung stattgefunden hatte, nachzuholen oder bei erfolgter Belehrung zu wiederholen. Vgl. für Verbleiben im Sitzungssaal nach Aussageverweigerung Anm. 5 b. Formell war sie nur für richterliche Vernehmungen, nicht jedoch für polizeiliche oder staatsanwaltschaftliche vorgeschrieben. Das hat sich durch § 163 a geändert, ohne daß die Rechtsprechung die logische Konsequenz gezogen hätte, nun nicht nur den Richter, sondern auch die Beamten, die ordnungsmäßig belehrt haben, als Verhörpersonen nach § 252 StPO anzusehen, wie es K o h l h a a s NJW 1965 1255 gefordert hat. Im Gegenteil haben die Gegner der Vernehmung der Verhörspersonen aus dieser Änderung geschlossen, es müsse auch der Richter als Verhörsperson eliminiert werden, so für viele P e t e r s Gutachten zum Dtsch. Jur. Tag 1964 S. Für die alte Rechtsprechung, wonach nur der Richter, wenigstens aber noch er nach ordnungsmäßiger Belehrung und Aussage als Verhörsperson vernommen werden dürfte (BGHSt. 2 104) nach wie vor BGHSt. 21218. Siehe auch Anm. 5 a. Die Belehrung braucht sich nicht auf die Möglichkeit zu erstrecken, die getroffene Entscheidung zu widerrufen (RG JW 1936 3548; M ü l l e r - S a x 3 a). Soweit die StPO bei anderen Verfahren für anwendbar (vgl. Vorbem. I 3 vor § 52 — 55) erklärt ist, gilt auch die Belehrungspflicht des § 52, z. B. für § 44 OWiG im Bußgeldverfahren und für die Abgabenordnung, soweit nicht nur Tätigkeit der StA in Betracht kommt (vgl. dazu im einzelnen M ü 11 e r - S a x 3 b, c). b) Person des Belehrenden, Art und Zeit der Belehrung. Der Richter, bei Kollegialgerichten der Vorsitzende, muß belehren. Dritten darf die Belehrung nicht überlassen bleiben (BGHSt. 9 195). Das schließt nicht aus, daß dem Zeugen der Hinweis gegeben werde, er möge sich vor seiner Entscheidung von einem Dritten belehren lassen; ( M ü l l e r - S a x 3c). Hinsichtlich der Belehrungspflicht der Staatsanwälte und der Polizeibeamten vgl. nunmehr die Anm. zu § 163 a. Wie er die Belehrung vornimmt, ist dem Richter überlassen. Sie muß aber eindringlich sein ( S e i b e r t NJW 1956 1082, BGH NJW 1960 585). Die Prozeßbeteiligten haben kein Recht, darauf einzuwirken; der Richter darf ihnen aber Vorhaltungen an den Zeugen zur Belehrung über Gegenstand und Bedeutung der Aussage gestatten. Der Zeuge darf jedoch nicht lediglich gefragt werden, ob er aussagen wolle (RG JW 1924 1609; F u h r m a n n D a l c k e Anm. 10; E b S c h m i d t Anm. 17;). Der Richter hat sich auf die Belehrung zu beschränken. Er darf nicht auf die Entschließung des Zeugen einwirken (BGHSt. 1 34; M ü l l e r - S a x 3d).

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§52 Anm. 4

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Die Belehrung hat mündlich durch den Richter vor der Vernehmung zu erfolgen. Dies muß durch das Protokoll bekundet werden. Jedoch ist die Tatsache, daß eine Belehrung stattgefunden hat, bei Schweigen des Protokolls auf Grund anderer Erkenntnisquellen im Freibeweis festgestellt worden (§§ 168, 188, 273, 274). Bei Erkennen eines Zeugnisverweigerungsrechts nach Beginn einer Vernehmung, ist alsbald zu belehren. Wird dann verweigert, ist das bisher Gesagte unverwertbar. Vgl. für den umgekehrten Fall Anm. 5 a. Ein Hinweis auf das Zeugnisverweigerungsrecht in der Ladung ist nicht vorgeschrieben, im Gegenteil, nach dem zu § 51 Anm. 2 Ausgeführten geradezu schädlich, da es die eindringliche Belehrung ersetzt. c) Verständnis des zu Belehrenden. Die Rechtsprechung zu dieser Frage hat sich grundlegend geändert. Hat der Richter die Überzeugung davon, daß der Zeuge, für dessen Fähigkeiten es keine starre Altersgrenze gibt, die notwendige Verstandesreife hat, um den Konflikt, in den er gestellt ist, verstandesmäßig zu erfassen, bedarf es einer Belehrung des gesetzlichen Vertreters nicht. Allerdings ist ein solches Ermessen auf Rechtsfehler nachprüfbar, vor allem im Hinblick darauf, ob nicht die Fähigkeit, einen Sachverhalt richtig zu erfassen und zu schildern mit der Fähigkeit, eine prozessuale Konfliktslage zu verstehen und entsprechend zu handeln, vermengt worden ist ( K o h l h a a s EJF D II Nr. 12). Bei einem 15jährigen Zeugen allerdings braucht der Tatrichter nicht zu prüfen, ob der Zeuge die geistige Reife zum Verständnis seines Rechtes hat oder nicht (BGH VRS 69 23). Daß der Zeuge den Konflikt selbst empfindet, ist allerdings nicht erforderlich, sofern er ihn nur verstandesmäßig erfassen kann. Ist letzteres nicht der Fall, so muß der Richter den gesetzlichen Vertreter und seit der Gleichberechtigung auch beide gesetzlichen Vertreter bei ehelichen Kindern ohne gesonderte Sorgerechtsregelung ( K o h l h a a s NJW 1960 1 ff.) belehren (BGHSt. 14 159). Der Entschluß des gesetzlichen Vertreters wirkt allerdings anders als bei § 81c nur negativ. Verweigert er die Zustimmung, so darf der Zeuge, welcher, obwohl er verstandesgemäß der Situation nicht gewachsen ist, aussagen will, nicht vernommen werden (BGH NJW 1967 360). Stimmt er aber der Aussage zu, so kann der Zeuge sich dennoch im Gegensatz zum passiven Verhalten bei § 81c durch eigene Weigerung der Aussagepflicht entziehen (BGH NJW 1960 1396; vgl. ferner BGHSt. 12 235, 14 159; E b S c h m i d t JZ 1959 369). Anders noch Vorauflage unter Hinweis auf RGSt. 12 403 und K l 4 A, ferner BGH 5 StR 394/54 vom 30. 11. 1954, wo allerdings ebenfalls die Meinung vertreten wurde, daß die Vernehmung eines Kindes, welches die Belehrung nicht verstehe, unzulässig sei, der gesetzliche Vertreter aber keinesfalls eine Vertretung ausüben dürfe. Der Zeuge braucht bei seiner Entscheidung nur die Tragweite des Aussageverweigerungsrechts zu kennen. Wie seine Aussage rechtlich gewertet werden könne, ist unerheblich, so etwa wenn er meint, zu entlasten, aber in Wahrheit belastet (KG OLGSt. § 52 S. 1). Trotz Zustimmung des gesetzlichen Vertreters zur Aussage eines Kindes, das die Bedeutung des Zeugnisverweigerungsrechts nicht begreift, muß das Kind dennoch darüber belehrt werden, daß es nicht aussagen müsse (BGHSt. 14 159, NJW 1967 2273). Zu recht ablehnend O s t e r m e y e r NJW 68 411 unter Hinweis auf schutzlose Kinder (Furcht vor Eltern, die nicht nach § 247 StPO abgetreten sind und anderes). d) Wiederholung der Belehrung. Die Belehrung muß vor jeder Vernehmung erneut erfolgen, und zwar auch dann, wenn der Zeuge bei einer früheren Vernehmung auf sein Recht ausdrücklich verzichtet hatte (RGSt. 2 192). Dies gilt vor allem bei verschiedenen Verfahrensabschnitten (RGSt. 12 403), aber auch bei Unterbrechungen, die über die Dauer des § 229 hinausgehen (BGH 3 StR 172/56 v. 12. 7. 1956). Nur bei einer bloß kurzen Unterbrechung vor Beendigung der Vernehmung und Entlassung des Zeugen kann von erneuter Belehrung abgesehen werden (BGH JR 1954 229, F u h r m a n n - D a l c k e Anm. 10; M ü l l e r - S a x 3 d ; K l 9). Nach Vernehmung des Zeugen in der Hauptverhandlung erster Instanz mit erfolgter Belehrung darf die Niederschrift in der Hauptverhandlung des zweiten Rechtszuges verlesen werden, falls der Zeuge nunmehr von seinem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch macht ( E r b s Anm. V).

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Sechster Abschnitt. Zeugen (Kohlhaas)

§ 52 Anm. 5

Wird die BGH N J W Richter den (BGH 1 StR

Zeugnisverweigerung widerrufen, was zulässig ist (RGSt. 2 54, 38 2 5 6 , 4 0 346; 1961 1485; E b S c h m i d t Vorbem. 9 vor § 52; H e n k e l 258), so muß der Gründen hierfür nachforschen und eine eingehende Belehrung vornehmen 131/54 v. 5. 5. 1954).

5. Zeugnisverweigerung nach Belehrung und ihre Folgen. a) Erklärt der Zeuge, daß er das Zeugnis verweigere, so darf die Niederschrift über etwaige frühere Aussagen in diesem Verfahren, selbst für frühere richterliche Aussagen, nicht verlesen werden, und zwar auch dann nicht, wenn Staatsanwalt, Verteidiger und Angeklagter einverstanden sind (BGHSt. 10 77, vgl. auch RGSt. 20 187 F u h r m a n n - D a l c k e 10; M ü l l e r - S a x 4 a ; E b S c h m i d t 20). Dagegen kann das in der Hauptverhandlung selbst nach erfolgter Belehrung Gesagte bei nachträglichem Widerruf verwertet werden (BGHSt. 2 99 ff. 107). Gibt der Zeuge bei Verweigerung seiner Aussage vor dem Vernehmungsrichter Gründe an, die über den bloßen Hinweis auf die Gründe, die zur Zeugnisverweigerung fuhren, hinausgehen, so dürfen diese in der Vernehmungsniederschrift nicht niedergelegt werden; auf keinen Fall darf sie der Richter für seine Entscheidung verwerten (BGHSt. 6 279, F u h r m a n n - D a l c k e l ; M ü l l e r - S a x 4 a ) . Auch ist ein Vorhalt solcher ohne Belehrung gemachter Aussagen gegenüber anderen Zeugen oder im Falle der Abtrennung-Mitangeklagten unzulässig und unverwertbar, selbst als sogenannte Gedächtnisstütze (BGHSt. 7 194). Über die Folgen, die aus der Zeugnisverweigerung zu ziehen sind, enthält Abschn. 6 keine Bestimmungen. Im § 252 ist aber festgelegt, daß die Aussage eines vor der Hauptverhandlung vernommenen Zeugen, der erst in der Hauptverhandlung von seinem Recht, das Zeugnis zu verweigern, Gebrauch gemacht hat, nicht verlesen werden darf (BGHSt. 10 77). Hat der Zeuge außerhalb des Verfahrens gegenüber nicht mit der Ermittlung befaßten Dritten, sogar bei amtlicher Einvernahme in anderer Sache, Aussagen abgegeben, so dürfen diese als Zeugen vernommen werden (BGHSt. 1 373; M ü l l e r - S a x 4d). Auch ist es zulässig, den Vernehmungsrichter über die Aussagen als Zeugen dann zu vernehmen, wenn der Zeuge unter Hinweis auf sein Zeugnisverweigerungsrecht nach § 52 vernommen ist. Ihm darf dann auch die Niederschrift vorgehalten bzw. vorgelesen werden (vgl. BGHSt. 2 99, 11 338). Jedoch darf nur die Aussage des Richters die Beweisgrundlage bilden. In solchen Fällen kann aber die Unglaubwürdigkeit des Zeugen behauptet und darf ein entsprechender Beweisantrag nicht mit der Begründung abgelehnt werden, der Zeuge habe die Aussage verweigert (BGHSt. 14 21). Über die Duldungspflicht einer körperlichen Untersuchung und Belehrung darüber vgl. Anm. 4 a. Die Vernehmung dritter Personen, die bei der richterlichen Vernehmung anwesend waren, ist unzulässig (BGHSt. 13 394). Trotz der Neuschaffung des § 163 a, der eine Belehrungspflicht auch bei Staatsanwaltschaft und Polizei vorsieht, sollen diese Beamten — widersinnigerweise — als Verhörspersonen, entgegen Vorauflage Nachtrag Seite 104, ausgeschaltet bleiben (BGHSt. 21 218), vgl. auch oben Anm. 4 a. § 252 steht nunmehr dem entgegen, daß ein Polizeibeamter über die polizeiliche Aussage des Angeklagten auch dann gehört wird, wenn dem Angeklagten die Aussage eines Zeugen vorgehalten wurde, der nicht entsprechend § 52 Abs. 2 belehrt worden war (so bisher B G H N J W 1955 1289 abl. L ü r k e n ) . Ferner steht § 252 der Verwertung eines Sachverständigengutachtens dann entgegen, wenn ein Angehöriger des Angeklagten gem. § 81 c untersucht und dabei nicht auf sein Recht zur Verweigerung der Untersuchung hingewiesen wurde und später die Aussage verweigert (BGHSt. 5 132). Ein Sachverständiger, der den Angehörigen nach richterlicher Belehrung über sein Zeugnisverweigerungsrecht begutachtet hat, darf in seinem Gutachten auch die Antworten auf die außerhalb der Verhandlung an den Zeugen gerichteten Fragen verwerten, selbst wenn dieser nachträglich das Zeugnis verweigert (BGHSt. 11 97). Ohne eine solche vorangegangene richterliche Belehrung sind Mitteilungen an den Gutachter, die über den bloßen Befund hinausgehen, nicht verwertbar (BGHSt. 12 5). Über die Verwertung von Untersuchungen nicht verständnisreifer Personen vgl. BGHSt. 12 234 und Anm. zu § 81c. Das Verbot, die Zeugnisverweigerung zu umgehen, hindert jedoch nicht die Heranziehung aller Indizien, die sich auch aus der Person des Zeugnisverweigerungsberechtigten

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§ 52 Anm. 6, 7

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und seinem früheren Verhalten ergeben könnten, sofern dieses Verhalten außerhalb des jetzt gerade anhängigen Verfahrens und außerhalb amtlicher Wahrnehmungen liegt ( K o h l h a a s JR 1955 43). b) Nach der ständigen Rechtsprechung befreit § 52 den Zeugen nur von der Verpflichtung, aussagen zu müssen und von einer Konfliktssache zwischen Wahrheit und Belastung eines Angehörigen. Hieraus wurde lange geschlossen, die Tatsache der Zeugnisverweigerung unterliege der freien Beweiswürdigung durch das Gericht, so daß aus ihr n a c h t r ä g l i c h e S c h l ü s s e g e g e n d e n A n g e k l a g t e n gezogen werden können (RGSt. 55 21, BGHSt. 2 351). Da solches, abgesehen von den bei a erwähnten äußeren Indizien, nur dadurch möglich wird, wenn der Richter die Motive des Zeugen für sein Verhalten erforscht (so F u h r m a n n - D a l c k e 2; M ü l l e r - S a x 4e), was aber wiederum mit den Grundsätzen von BGHSt. 6 279 unvereinbar ist ( K o h l h a a s in LM § 52 StPO Nr. 6), bestehen gegen jede Würdigung einer Zeugnisverweigerung ohne zur bloßen Weigerung hinzutretende Indizien große Bedenken ( K o h l h a a s JR 1955 43, P r o s k a u e r NJW 1953 49, E b S c h m i d t 14; K l 12). Zweifelnd früher auch BGH 5 StR 494/57 vom 29. 10. 1957, wo allerdings das Ziehen von Schlüssen aus der Nichtbeantwortung einer Einzelfrage als zulässig erklärt wurde. Nunmehr hat der BGH ohne Anrufung des Großen Senats, weil der früher entscheidende Senat nicht mehr bestehe, das Ziehen von Schlüssen aus einer Zeugnisverweigerung Angehöriger als unzulässig erklärt (BGHSt. 22 113). Dies Verbot des Ziehens von Schlüssen gilt auch dann, wenn der Zeuge später dem Ang. gegenüber günstig aussagt und nun geprüft werden soll, ob diese Aussage mit der früheren Verweigerung einer möglicherweise ungünstigen Aussage vereinbar ist (BayObLG NJW 1969 200). Ein Zeuge, der die Aussage verweigert hat, kann dennoch im Sitzungssaal belassen werden, um zu erproben, ob ein anderer Zeuge in seiner Gegenwart auf Vorhalt früherer Aussage festhalten werde. Er muß aber dann auch über sein Recht belehrt werden, auch diese passive Rolle abzulehnen (BGH NJW 1960 2156). 6. Unterbleiben der Belehrung und ihre Folgen (vgl. zunächst § 252 u. Anm.). a) Ist die Belehrung (auch des gesetzlichen Vertreters in den Fällen von Anm. 4 c) unterblieben, so begründet dieser Verstoß, sofern das Urteil auf ihm beruht, die Revision, und zwar auch bei Unkenntnis des Gerichts von den Weigerungsgründen (RGSt. 32 137, BGHSt. 1 39, 12 243; E b S c h m i d t 21, 22). Dies gilt erst recht bei irriger Belehrung darüber, ein Zeugnisverweigerungsrecht bestehe nicht. Dagegen ist ein Irrtum über den Verwandtschaftsgrad denn unschädlich, wenn die Belehrung beide Verweigerungsgründe deckt ( M ü l l e r - S a x 3h). b) Auf der Unterlassung der Belehrung kann das Urteil allerdings dann nicht beruhen, wenn der Zeuge oder gesetzliche Vertreter im Falle zu 4 c sein Recht zur Verweigerung des Zeugnisses gekannt hat oder wenn er nachträglich erklärt, daß er auch im Falle der Belehrung von seiner Berechtigung keinen Gebrauch gemacht haben würde (RGSt. 25 263; F u h r m a n n - D a l c k e 10, M ü l l e r - S a x 6, K l 4 R). c) Erklärt der Zeuge oder gesetzliche Vertreter bei nachträglicher Belehrung aber, er wolle nunmehr von dem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch machen, so darf seine Aussage nicht berücksichtigt werden. Der Mangel wird dadurch behoben, daß im Urteil ausdrücklich festgestellt wird, die Aussage sei unberücksichtigt geblieben (RGSt. 29 351; E b S c h m i d t Anm. 21). Eine neue Vernehmung nach erneuter Belehrung ist zulässig (RGSt. 25 263). d) Wenn der Zeuge später Angehöriger des Beschuldigten wird, gilt dasselbe (RGSt. 32 75). 7. Falsche Belehrung und ihre Folgen. a) Hat das Gericht einen zur Hauptverhandlung vorgeladenen und erschienenen Zeugen irrtümlich für zeugnisverweigerungsberechtigt gehalten und entsprechend belehrt und hat

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Sechster Abschnitt. Zeugen (Kohlhaas)

§53

dieser Zeuge dann das Zeugnis verweigert und ist er deshalb nicht vernommen worden, so begründet diese irrige Belehrung die Revision (RGSt. 32 157, O H G NJW 1950 271, EbS c h m i d t 22). b) Ist der Zeuge irrtümlich dahin belehrt worden, er sei nicht zeugnisverweigerungsberechtigt, so kann diese falsche Belehrung die Revision begründen; es sei denn, daß dem Zeugen die Entschlußfreiheit bewahrt worden ist (RGSt. 57 63, 64; JW 1931 1956; EbS c h m i d t 22). Ein ausdrücklicher Verzicht des Zeugen auf das Zeugnisverweigerungsrecht ist nicht erforderlich. Eine Verpflichtung auf den Hinweis auf das Recht auf Widerruf besteht nicht, obwohl der Zeuge seine Erklärung widerrufen kann. Auch wenn die Zeugen vom Zeugnisverweigerungsrecht keinen Gebrauch gemacht haben, können sie später nach § 63 die Beeidigung verweigern. §53 (1) Zur Verweigerung des Zeugnisses sind ferner berechtigt: 1. Geistliche über das, was ihnen in ihrer Eigenschaft als Seelsorger anvertraut worden oder bekannt geworden ist; 2. Verteidiger des Beschuldigten über das, was ihnen in dieser Eigenschaft anvertraut worden oder bekannt geworden ist; 3. Rechtsanwälte, Patentanwälte, Notare, Wirtschaftsprüfer, vereidigte Buchprüfer (vereidigte Bücherrevisoren), Steuerberater und Steuerbevollmächtigte, Ärzte, Zahnärzte, Apotheker und Hebammen über das, was ihnen in dieser Eigenschaft anvertraut worden oder bekannt geworden ist; 4. Mitglieder des Bundestages, eines Landtags oder einer zweiten Kammer über Personen, die ihnen in ihrer Eigenschaft als Mitglieder dieser Organe oder denen sie in dieser Eigenschaft Tatsachen anvertraut haben sowie über diese Tatsachen selbst; 5. Redakteure, Verleger, Herausgeber, Drucker und andere, die bei der Herstellung oder Veröffentlichung einer periodischen Druckschrift mitgewirkt haben, über die Person des Verfassers, Einsenders oder Gewährsmanns einer Veröffentlichung strafbaren Inhalts, wenn ein Redakteur der Druckschrift wegen dieser Veröffentlichung bestraft ist oder seiner Bestrafung keine Hindernisse entgegenstehen; 6. Intendanten, Sendeleiter und andere, die bei der Vorbereitung oder Durchfuhrung von Rundfunksendungen mitgewirkt haben, über die Person des Verfassers, Einsenders oder Gewährsmanns einer Rundfunksendung strafbaren Inhalts, wenn ein für die Sendung Verantwortlicher wegen dieser Sendung bestraft ist oder seiner Bestrafung keine Hindernisse entgegenstehen; über die Person des Verfassers, Einsenders oder-Gewährsmanns, die selbst im Rundfunk spricht, darf das Zeugnis nicht verweigert werden. (2) Die in Absatz 1 Nummern 2 und 3 Genannten dürfen das Zeugnis nicht verweigern, wenn sie von der Verpflichtung zur Verschwiegenheit entbunden sind. Ubersicht I. Allgemeines II. Geistliche (§ 53 Ziff. 1) III. Personen, die von der Schweigepflicht wirksam entbunden werden können 1. Verteidiger (§ 53 Ziff. 2 und 3) 2. Rechtsanwälte und andere Rechtsberufe 3. Heilpersonen a) anvertraut sein b) Entbindung c) Rechtfertigungsgründe

IV. Personen, die nicht verpflichtend entbunden werden können 1. Abgeordnete 2. Redaktionsgeheimnis a) Literatur b) Allgemeines c) Personenkreis der Berechtigten d) periodische Druckschriften e) Begrenzung des Verweigerungsrechts 0 Umfang des Verweigerungsrechts g) Voraussetzungen des Verweigerungsrechts h) Berechtigte aus dem Rundfunkgeheimnis

Literatur: K o h l h a a s GA 1958 65. 423

§ 53 Anm. I, II

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

I. Allgemeines. Die in § 53 eingeräumte Befugnis, das Zeugnis zu verweigern, beruht auf dem Berufs-, dem Redaktions- und Rundfunkgeheimnis. Nur die in § 53 aufgeführten Personen haben dieses Recht der Zeugnisverweigerung; § 53a erstreckt es aber auch auf bestimmte Gehilfen der Geheimnisträger. Infolge der Neufassung des § 300 StGB ist der Personenkreis, der sich durch Verletzung der ihm beruflich zugegangenen Privatgeheimnisse schuldig machen kann, erheblich erweitert. Hierauf beruht auch die Ausdehnung der §§ 53, 53 a. Erweitert wurde der Umfang der Redaktionsgeheimnisse der Presse. Neu eingeführt wurde das Zeugnisverweigerungsrecht für den Rundfunk. Auch das Zeugnisverweigerungsrecht für Abgeordnete wurde, soweit insbesondere Mitglieder der Landtage in Betracht kommen, vereinheitlicht. Eine Belehrungspflicht über das Aussageverweigerungsrecht gem. § 53 besteht für das Gericht nicht (RGSt. 54 39; 66 273 BGH M D R 1958 14). K l bejaht eine Belehrungspflicht bei offenbarer Unkenntnis des Zeugen über seine Rechte, was aber bei diesen hier genannten Berufen schlechterdings nicht annehmbar ist. Diese angebliche Belehrungspflicht würde weitgehend zu einer Beeinflussung führen. Beim Arzt (OLG Zweibrücken NJW 1968 2301) und beim Geistlichen (BGH GA 1969 92) besteht eine Belehrungspflicht keinesfalls. Das muß erst recht für Rechtsanwälte etc. gelten. Sagt der Zeuge aus, so ist das Gericht nicht verpflichtet, die berufliche Schweigepflicht zu beachten (RGSt. 71 23, BGH St. 9 59, 15 200, 18 146). Nur dann, wenn auf den Zeugen in unzulässiger Weise eingewirkt worden ist, ist die Revision möglich (RGSt. 57 63, 71 21, BGHSt. 18 146). Das Gericht darf ihn auch an der Entschließung, ob er trotz der Nichtentbindung von der Schweigepflicht dennoch aus höherwertigen Gründen aussagen will, nicht durch eine Entlassung hindern, ohne ihm zur Äußerung Gelegenheit zu geben (BGHSt. 1 3 6 6 , 1 5 201). Abgesehen von den Fällen des Abs. 2 (also der in Abs. 1 Ziff. 2 und 3 Aufgeführten) hat der Zeugnisverweigerungsberechtigte allein die Befugnis, darüber zu entscheiden, ob er von seiner Befugnis Gebrauch machen will. Darauf, daß der Zeugnisverweigerungsberechtigte von seiner Befugnis Gebrauch macht, hat der Angeklagte keinen Anspruch ( R G 71 21; BGHSt. 9 60, Flor J R 1953 368). Über §§ 53, 53a hinaus ist die Zeugnispflicht nicht eingeschränkt. Ein allgemeines Zeugnisverweigerungsrecht besteht nicht. Die Befreiung von der Zeugnispflicht bleibt aber auch bestehen, wenn die berufliche Beziehung aufhört oder die berechtigte Person aus dem Berufe ausscheidet (RGSt. 71 21, L G Düsseldorf NJW 1958 1152; E r b s Anm. II; Anm. 2; K l 1A; K o h l h a a s aaO.). II. Geistliche (§ 53 Ziff. 1). Die Vorschrift hat nur die Geistlichen der staatlich anerkannten, also der öffentlich-rechtlichen Religionsgemeinschaft im Auge. Andernfalls würde es an einem entscheidenden Merkmal für die Bestimmung des Begriffs Geistlicher fehlen. Das Zeugnisverweigerungsrecht des Geistlichen beruht nämlich nicht etwa auf dem Vertrauensverhältnis, das dem Geistlichen von der Person, die er seelsorgerisch betreut, eingeräumt ist, sondern auf der öffentlich-rechtlichen Stellung des Geistlichen. Nach Art. 137 Weimarer Verf., der durch Art. 140 G G ausdrücklich zum Bestand des G G erklärt worden ist, wird zwischen öffentlich-rechtlichen rechtsfähigen und nichtrechtsfähigen Religionsgemeinschaften unterschieden. Nur die Religionsdiener der öffentlich-rechtlichen Religionsgemeinschaften sind Geistliche i. S. des § 53 Ziff. 1. Diese Auslegung entspricht dem Sprachgebrauch ( M ü l l e r S a x 6 Nr. 1; E b S c h m i d t 9; F u h r m a n n - D a l c k e 3; BGH Urt. v. 5 . 5 . 1953, 1 StR 194/53 für Zeugen Jehovas, a. A. nur E r b s Anm. II, der „Geistliche" aller Konfessionen und Sekten ohne jede Begründung einbezieht). Für die hier vertretene Auffassung spricht auch die Erwägung, daß den Geistlichen ein Zeugnisverweigerungsrecht schlechthin, dem von § 53 Ziff. 2 u. 3 erfaßten Personenkreis dagegen nur dann ein solches Verweigerungsrecht eingeräumt ist, wenn der Berechtigte von der Verpflichtung zur Verschwiegenheit nicht entbunden wird. Hierfür kann nur die den Geistlichen eingeräumte öffentliche Stellung maßgebend gewesen sein, das führenden Mitgliedern irgendwelcher Sekten, die sich der Betreuung dieser Anhänger widmen, nicht schlechthin zuzubilligen ist. Bezgl. der katholischen Geistlichen wird verwiesen auf Art. 9 des Reichskonkordates vom 20. 7. 1933 (RGBl. II, 679), wegen der evangelischen Geistlichen vgl. L G Fulda S J Z 1950 S. 826.

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Sechster Abschnitt. Zeugen (Kohlhaas)

§53 Anm. III 1

Eine Erweiterung des Kreises wäre nur dann möglich, wenn ein Entbindungsrecht nach Nr. 2 und 3 eingeräumt würde, oder, was oft sehr zum Nachteil Mordverdächtiger unterlassen wurde, obwohl der Geistliche den Mörder kannte, den Geistlichen wie den Ärzten die freie Entscheidung überlassen würde, ob sie aus höherwertigen Gründen ihr Schweigerecht vor Gericht, das immer wieder mit der strafrechtlichen Schweigepflicht verwechselt wird, brechen wollen. Nur das, was den Geistlichen in ihrer Eigenschaft als Seelsorger anvertraut oder bekannt geworden ist, wird geschützt. Hierunter fallen nicht nur die Mitteilungen, die dem Geistlichen in Ausübung der Seelsorge gemacht worden sind, sondern darüber hinaus auch all das, was der Geistliche in Ausübung der Seelsorge wahrgenommen hat. Darunter fallt beispielsweise die ihm durch die Beichte zugegangene Kenntnis nicht nur des Beichtinhalts, sondern auch schon allein des Beichtgangs ( E r b s II; E b S c h m i d t 11; K o h l h a a s aaO; D a l l i n g e r JZ 1953 436). Ferner Mitteilungen bei Hausbesuchen des Geistlichen in der Ausübung seelsorgerischer Betreuung oder bei Sühneversuchen in Ehesachen (vgl. M o d e , Archiv kath. Kirchenrecht 82 466; 83 41; S t e i n - J o n a s § 383 ZPO Anm. III). Was dem Geistlichen sonst in amtlicher Eigenschaft, als Vertreter seiner Kirchengemeinde bei Vermögenserwerb für die Kirche, aus karitativer, fürsorgerischer oder erzieherischer Tätigkeit oder beim Gang zur Ausübung der Seelsorge bekannt geworden ist, fallt nicht darunter. Die Unterscheidung kann im einzelnen zweifelhaft sein. Der Geistliche hat sie nach seinem Gewissen zu treffen. Im Regelfalle ist seiner Entscheidung zu folgen (vgl. D a l l i n g e r JZ 1953 436). Auch ist, wenn seelsorgerische Tätigkeit mit anderen vom Geistlichen wahrzunehmenden Aufgaben zusammentrifft, eine Trennung nicht möglich und deshalb ein Zeugnisverweigerungsrecht zu bejahen. Das Zeugnisverweigerungsrecht des Geistlichen hat mit der kirchenrechtlich begründeten Verschwiegenheitspflicht — mit dem Beichtgeheimnis als Kern — nichts zu tun. Insbesondere ist das Zeugnisverweigerungsrecht des StPO nicht etwa an die Voraussetzung geknüpft, daß im Einzelfall auch kirchenrechtlich eine Verschwiegenheitspflicht besteht. Das Zeugnisverweigerungsrecht geht über diese Verschwiegenheit hinaus. Die örtliche Zuständigkeit des Geistlichen ist nicht entscheidend (vgl. E b S c h m i d t Anm. 11). Der Geistliche hat beim Vorliegen der Voraussetzung des § 53 Ziff. 1 nur das Recht, eine Aussage zu verweigern, er darf aber nicht wahrheitswidrig sagen, er wisse nichts. Der G e i s t l i c h e hat allein zu entscheiden, ob er von dem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch macht. Umgekehrt gibt es keine Verpflichtung zur Aussage, auch wenn der Anvertrauende den Geistlichen von der Schweigepflicht entbunden hat oder der Anvertrauende verstorben ist ( E b S c h m i d t Anm. 12). III. Personen, die von der Schweigepflicht wirksam entbunden werden können. 1. Verteidiger. § 53 Ziff. 2 gilt sowohl für den berufs- als auch nichtberufsmäßigen Verteidiger, einschließlich der nach § 138 Abs. 2 StPO zugelassenen Personen. Gemeint ist nicht nur der Verteidiger des derzeitigen Beschuldigten, sondern jeder Verteidiger überhaupt, gleichwohl wann und in welcher Sache er als Zeuge benannt wird. Das Wort „des Beschuldigten" ist irreführend — es besagt nur, daß irgendwann ein Beschuldigter vorhanden gewesen sein muß, der in dieser Eigenschaft seinem Verteidiger etwas anvertraut hat, das jetzt Gegenstand einer Zeugenaussage desselben sein muß. Weiter geht das Zeugnisverweigerungsrecht des Verteidigers, sofern er nicht Rechtsanwalt ist, nicht. Ob die Verteidigung tatsächlich geführt worden ist, ist unerheblich ( E b S c h m i d t 13; Kl 5). Es kommt nur darauf an, ob der Verteidiger aus Anlaß der Wahl oder der Bestellung zum Verteidiger die Mitteilung empfangen hat. Handelt es sich um Mitteilungen, die schon vor der Wahl oder der Bestellung gemacht waren, so greift § 53 Ziff. 2 nicht Platz; da sonst der Beschuldigte einen Belastungszeugen dadurch ausschalten könnte, daß er ihn zu seinem Verteidiger wählt (K1 aaO.). Über die Verteidigereigenschaft, wenn der Verteidiger gleichzeitig Zeuge ist, vgl. Vorbem. 4 c vor § 48. Was der Verteidiger nur gelegentlich der Berufsausübung, aber nicht in seiner Eigenschaft als Verteidiger irgend eines Beschuldigten erfährt, fallt nicht unter das Schweigerecht. 425

§ 53 Anm. III 2, 3

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

2. Rechtsanwälte, Patentanwälte, Notare, Wirtschaftsprüfer, vereidigte Bücherrevisoren, Steuerberater und Steuerbevollmächtigte: Die Berufsbezeichnungen Rechtsanwälte, Notare und Patentanwälte bedürfen keiner Erläuterung. Maßgebend ist die Zulassung oder Bestellung. W i r t s c h a f t s p r ü f e r prüfen berufsmäßig das Rechnungswesen wirtschaftlicher Unternehmungen und zwar als Sachverständige für kaufmännische Buchführung. Die Bestellung erfolgt gemäß der Wirtschaftsprüferordnung vom 24. Juli 1961 (BGBl. I 1049); zuletzt geändert am 24. Mai 1968 (BGBl. I 525). S t e u e r b e r a t e r betreiben Hilfeleistung in Steuersachen. Die Zulassung erfolgt gemäß dem Steuerberatungsgesetz vom 16. August 1961 (BGBl. I 1301); zuletzt geändert am 26. August 1969 (BGBl. I 1411). Unter dies Gesetz fallen nun auch die Steuerbevollmächtigten, deren Definition sich aus diesem Gesetz ergibt. Dagegen fallen die sogenannten Steuerhelfer nicht unter § 53. Die Befreiung von der Zeugnispflicht für Rechtsanwälte und ihnen Gleichgestellte erstreckt sich auf alles, was ihnen bei Ausübung des Berufes, nicht nur von ihrem Mandanten, anvertraut oder bekannt geworden ist, gleichgültig ob es sich um eine Strafsache, Zivilsache oder eine andere Angelegenheit handelt. Ein Rechtsanwalt, der bei einer notariellen Beurkundung zwecks Interpretation und Formulierung zugezogen wird, ist in einem nachfolgenden Betrugsverfahren zwischen den Vertragsparteien zeugnisverweigerungsberechtigt (OLG Hamm AnwBl. 69 67). Dem Rechtsanwalt ist der Anwaltsassessor gleichgestellt, desgleichen der amtlich bestellte Vertreter, auch wenn er noch Referendar ist. 3. Ärzte sind die nach §§ 2ff. der Bundesärzteordnung vom 2. 10. 1961 (BGBl. I 1857) zuletzt geändert am 28. 8. 1969 (BGBl. I 1509) bestellten Ärzte, also auch die Spezialärzte. Gleich stehen ihnen die nach § 10 zur vorübergehenden Ausübung des ärztlichen Berufs ermächtigten Personen über alles, was sie in dieser Zeit wahrgenommen haben. Was Zahnärzte, Apotheker und Hebammen sind, bestimmt sich nach den jeweiligen Zulassungsgesetzen (Gesetz über die Ausübung der Zahnheilkunde vom 31. 3. 1952 (BGBl. I 221) zuletzt geändert am 25.6. 1969 (BGBl. I 666), dem Bundesapothekengesetz vom 20. 8. 1960 (BGBl. I 697), zuletzt geändert am 25. 6. 1969 (BGBl. I 665) und dem Gesetz zur Regelung des Hebammenwesens vom 21. 12. 1938 [RGBl. I 1893] zuletzt geändert am 25. 6. 1969 (BGBl. I 666), weitere Zitate K o h l h a a s bei K u h n s : Heilberuferecht I 495). Kein Zeugnisverweigerungsrecht haben Tierärzte, Heilpraktiker, Naturheilkundige und Krankenpfleger (Vgl. § 13 Abs. 3 Reichstierärzteordnung v. 3.4. 1936 RGBl. I 347, Heilpraktikergesetz v. 17.2.1939 [BGBl. I 251] § 1 9 , Krankenpflegergesetz v. 15.7.57 [BGBl. I 716]; vgl. F u h r m a n n - D a l c k e Anm. 16; Kl Anm. 2 C ; K o h l h a a s aaO.). Ein sehr aktuelles Problem wirft die Nichteinbeziehung der Psychologen auf. Soweit sie als Gehilfen der Ärzte tätig sind, fallen sie unter § 53 a, jedoch bedienen sich die Gerichte und viele andere Stellen mehr und mehr der Begutachtung durch freie Psychologen, die teils mit staatlicher Prüfung, teils ohne eine solche sich des ungeschätzten Titels bedienen. Sie werden in der Exploration mit nicht minder gewichtigen Geheimnissen vertraut gemacht und zwar oft — im Gegensatz zum Heilpraktiker — in einer weitgehend anempfohlenen und von den Gerichten geforderten Vertrauensstellung. Daß sie sich nach § 300 StGB nicht strafbar machen, ist noch hinzunehmen. Sie aber wehrlos dem Zeugniszwang auszusetzen, ist falsch und wird von den Gerichten im Wege der zulässigen Analogie zu beachten sein, sofern es gelingt die Prozeßbeteiligten zu einem Verzicht auf die Aussage zu bringen. Wird entbunden, dann besteht das Problem der Aussage ohnehin nicht ( K o h l h a a s NJW 1969 1566). Das Zeugnisverweigerungsrecht des Arztes erstreckt sich nicht auf Fälle, in denen ein Zeuge ihm als einem vom Gericht mit der Untersuchung beauftragten Sachverständigen einen Vorfall geschildert hat (RGSt. 61 384; 66 271, 275; OGHSt. 3 61; F u h r m a n n D a l c k e 16; H i e n d l NJW 1958 2100; M ü l l e r - S a x Anm. 6 Nr. 3; E r b s II; K o h l h a a s DRiZ 1959 246). Verweigert aber diese dritte Person berechtigt ihr Zeugnis gem. § 52, so scheidet der Sachverständige insoweit als Auskunftsperson aus (BGHSt. 11 97). Auch soweit es sich um eine ärztliche Kenntnisnahme handelt, die ohne jeden Zusammenhang mit dem zu erstattenden Gutachten steht, kann ausnahmsweise ein ärztliches Vertrauensverhältnis entstanden sein ( E b S c h m i d t aaO., M ü l l e r - S a x Anm. 6 Nr. 3c) im Anschluß an RGSt. 61 184; LG KÖLN NJW 1959 1958, K o h l h a a s aaO.).

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Sechster Abschnitt. Zeugen (Kohlhaas)

§53 Anm. III 3

Das Zeugnisverweigerungsrecht entfallt auch beim Arzt insoweit nicht, als er nach anderen gesetzlichen Vorschriften wie z. B. nach dem Gesetz zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten anzeigepflichtig ist (so: Nr. 3b). Das hat mit den prozessualem Schweigerecht nichts zu tun. Diese Pflichten heben nur die Schweigepflicht nach § 300 StGB auf. Der Arzt, der sonst gesetzwidrig schweigt, kann nicht über die StPO zur Aussage gezwungen werden; er muß wegen Verletzung des jeweiligen Gesetzes angeklagt und verurteilt werden. a) Begriff des Anvertrautseins bzw. Bekanntseins bei den unter Ziff. a) bis c) Genannten. Das Zeugnisverweigerungsrecht der §§53 Ziff. 1—3 beschränkt sich auf das, was den betreffenden Berufsvertretern in ihrer Eigenschaft als Verteidiger usw. anvertraut oder bekannt geworden ist. Schon vor der Neufassung hatte die Rechtsprechung den Begriff des Anvertrautseins ausdehnend ausgelegt und darunter nicht nur wörtliche oder schriftliche Mitteilungen verstanden, sondern auch das Gelegenheitgeben zu Beobachtungen und Wahrnehmungen, wenn auf Seiten des Anvertrauenden Geheimhaltung verlangt oder stillschweigend erwartet wird. Dabei kommt es nicht darauf an, wer dem Zeugen die Mitteilung gemacht hat. Sie braucht also nicht nur durch den Beschuldigten erfolgt zu sein. Sie erstreckt sich daher auch auf Mitteilungen, die Angehörige des Besch, ja sogar Gegner z. B. bei Vergleichshandlungen gemacht haben (zu beachten ist aber hier die Befreiungsmöglichkeit durch den Verteidigten oder Patienten vgl. unten cc). Die Verschwiegenheitspflicht braucht nicht ausdrücklich ausbedungen gewesen zu sein, auch ist es nicht erforderlich, daß etwa die Geheimhaltung durch die Natur der mitgeteilten Tatsache oder durch gesetzliche Vorschriften geboten wäre, das kann insbesondere bei Ärzten von Bedeutung sein (RGSt. 13 60; R G GA 57 207; 59 164; RGSt. 66 274; RGZ 54 351; Anm. 1). Auch der Name des Patienten kann unter die ärztliche Schweigepflicht fallen (LG Köln NJW 1959 1958). Nicht unter das Schweigerecht fallt dagegen alles, was die Vertrauensperson nur gelegentlich der Ausübung des Berufes erfahren hat. Hierzu gehört das, was der Arzt etwa beim Besuch des Patienten auf dem Wege wahrnimmt. Wohl aber kann die Geheimhaltung schon dort beginnen, wo der Arzt ein Ferngespräch in der Wohnung mit anhört oder auf dem Tisch des Ehepartners etwas liegen sieht. ( K o h l h a a s aaO. S. 69). b) Entbindung von der Schweigepflicht. Die Vernehmung der in § 53 Ziff. 2 und 3 genannten Personen ist nicht von der Entbindung von der Schweigepflicht abhängig. Diese Personen haben im Rahmen des § 53 nur ein Schweigerecht, das sie nicht geltend zu machen brauchen. Brechen sie ihre Schweigepflicht gegenüber der schutzwürdigen Person, so ist das ihre Sache. Daher darf der Schweigeberechtigte auch nicht ohne Befragen, ob er trotz der Nichtentbindung aussagen wolle, entlassen werden (BGHSt. 15 201). § 53 hat nur den Sinn, daß sein Schweigerecht dann entfallt, er also zur Aussage verpflichtet ist, wenn er bindend von seiner Schweigepflicht befreit ist, vgl. cc). Bei den Geheimnissen Jugendlicher können nur die gesetzlichen Vertreter wirksam entbinden (über die Wirkungen der Gleichberechtigung vgl. K o h l h a a s NJW 1960 lff.). Ist jedoch der Jugendliche über 18 Jahre alt, so hat er selbst das Recht zur Entbindung von der Schweigepflicht, da er ein eigenes Strafantragsrecht für den Fall des Bruchs der Schweigepflicht nach § 300 StGB hat (§ 65 StGB). Ob eine Entbindung vorliegt oder nicht, ist keine Gewissens- sondern eine Rechtsfrage (BDH NJW 1960 550). Ist der Patient oder Klient tot, so ist eine Entbindung an sich nicht mehr möglich, kann aber in einem hinterlassenen Brief gesehen werden (BDH NJW 1960 550). c) Rechtfertigungsgründe bei Verstoß gegen § 300 StGB bzgl. der unter b) und c) Genannten. Liegt, bei dem Personenkreis von § 53 Abs. 1 Ziff. 2—3 ein Recht vor, das Zeugnis zu verweigern, und sagt er trotz Nichtentbindung aus, so wird das Problem, ob ein Verstoß gegen § 300 StGB vorliege, davon nicht berührt ( D a l i i n g e r Anm. 4). § 300 StGB begründet keine uneingeschränkte Schweigepflicht. Der Schweigepflichtige hat das Interesse, das der Geheimnisträger an der Geheimhaltung hat, gegen das Interesse der Öffentlichkeit an der Offenbarung abzuwägen. Gelangt der Schweigepflichtige nach 427

§53 Anm. IV 1

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

pflichtgemäßer Prüfung dazu, daß die Pflicht zur Offenbarung der Geheimhaltungspflicht vorzugehen habe, so handelt er rechtsmäßig, wenn er das Geheimnis offenbart. Es handelt sich dann um einen Rechtfertigungsgrund und nicht um einen persönlichen Strafausschließungsgrund, wie man das nach dem Wortlaut des § 13 Reichsärzteordnung annehmen konnte (RGSt. 71 21). Jedoch trägt der Geheimnisträger selbst die Verantwortung dafür, ob er sich gegebenenfalls strafrechtlicher bzw. dienststrafrechtlicher Verantwortung aussetzt (BGHSt. 1 366, BGHSt. 9 60; vgl. E b S c h m i d t 26). Der Geheimhaltungspflichtige hat seine Entschließung in eigener Verantwortung zu treffen; dabei muß seine volle Entschließungsfreiheit gewährleistet sein, daher darf der Richter insoweit keinen Druck ausüben. Das Gericht darf also den als Zeugen geladenen Arzt nicht deshalb unvernommen entlassen, weil er nicht von der Schweigepflicht entbunden ist, ehe er nicht Gelegenheit hatte, sich selbst zu entschließen, ob er nicht dennoch aussagen will (BGHSt. 15 200). Eine Falschbelehrung schadet solange nicht, als die Freiheit der Entschließung des Zeugen nicht berührt wird (RGSt. 71 21). Hat der Klient den Geheimnisträger von seiner Schweigepflicht entbunden, so ist dieser zur Aussage selbst dann verpflichtet, wenn er selbst meint, er werde durch die Offenbarung dem Gesundheitszustand oder den geschäftlichen Belangen des Klienten schaden. Nur der Geheimnisträger ist verfügungsbefugt. Dasselbe gilt für die Dinge, die ein Dritter als Nichtpatient oder Nichtklient dem Arzt oder Rechtsanwalt mitgeteilt hat, Diese Dinge sind nicht in das Vertrauensverhältnis Arzt bzw. Rechtsanwalt: Klient einbezogen. Insoweit stehen diese Auskunftspersonen jeder anderen Auskunftsperson gleich. Befreit also der Patient oder Klient, so werden auch diese Drittauskünfte frei, wie es jedermann ergehen kann, sofern das, was er vermittelt hat, durch einen Zeugen vom Hörensagen weitergegeben wird (wie hier K o h l h a a s in Medizin und Recht S. 40 und JR 1958 328ff. a.A. hinsichtlich der dem Patienten schädlichen Preisgaben sowie wegen der von Dritten vermittelten Angaben G ö p p i n g e r NJW 1958 241 und K a u f m a n n NJW 1958 271 S. 26). Eine Ausnahme gilt nur, wenn diese Personen selbst in ein persönliches Vertrauensverhältnis zur Auskunftsperson getreten waren. Der Umstand, daß ein Dritter den Arzt bezahlt, berechtigt ihn noch nicht zur Entbindung oder Nichtentbindung von der Schweigepflicht. Eine Ausnahme kann nur dort bestehen, wo ein Sachverständiger im Rahmen eines Gutachterauftrags Einblick in Akten eines ihn beauftragenden Versicherungsunternehmens genommen hat und als Zeuge in Betracht kommt ( K o h l h a a s , DMed. Wschr. 1961 1105). Über die Problematik der Einsicht in Krankenpapiere vgl. §97, u.a. auch K o h l h a a s JR 1958 328ff. Der Konkursverwalter einer GmbH kann einen Wirtschaftsprüfer dieser GmbH nicht bindend befreien (LG Düsseldorf NJW 1958 112). IV. Personen, die nicht verpflichtend entbunden werden können. 1. Abgeordnete. Mitglieder des Bundestages, eines Landtages oder einer zweiten Kammer. § 53 Nr. 4 regelt das Zeugnisverweigerungsrecht der Abgeordneten im Anschluß an Art. 47 GG. Die Bestimmungen der Ziff. 4 hat im Hinblick auf die Bundestagsmitglieder wegen der grundgesetzlichen Regelung rein deklaratorische Bedeutung. Den Bundestagsmitgliedern sind im Rahmen der Immunität gem. § 152a auch die Mitglieder eines Landtags und einer zweiten Kammer (vgl. § 50 Anm. 2 a) gleichgestellt worden. Damit ist das Zeugnisverweigerungsrecht auch dieses Personenkreises konstitutiv geschaffen ( H e i t z e r NJW 1952 89). Mitglieder einer durch das Bundesverfassungsgericht als verfassungswidrig erklärten Partei stehen mindestens von der Zeit an, ab welcher rückwirkend der Beginn verfassungswidrigen Treibens festgestellt wurde, nicht mehr unter § 53 Ziff. 4 ( E b S c h m i d t Anhang § 53 Anm. 10). Damit ist aber, etwa wenn eine Partei sich erst später fehlentwickelt hat, das Zeugnisverweigerungsrecht eines nicht mehr gewählten Abgeordneten aus legalen Zeiten über das ihm damals Anvertraute nicht weggefallen. Das Zeugnisverweigerungsrecht bezieht sich nicht nur auf Tatsachen, sondern auch auf die Namen von Gewährsmännern und Empfanger von Geheimnissen. Von wem der Abgeordnete sein Wissen hat (selbst von einer der genannten Personen verfassungsfeindlicher Kreise) ist gleichgültig M ü l l e r - S a x 6, 2 D). Wie sich aus Umkehrschluß zu Abs. 2 ergibt, kann der Abge ordnete nicht durch Befreiung von der Schweigepflicht zur Aussage gezwungen werden. Er

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Sechster Abschnitt. Zeugen (Kohlhaas)

§53 Anm. IV 2

entscheidet frei. Auch § 54 ist insoweit nicht anzuwenden. Das Recht besteht weiter, auch wenn das Mandat erloschen ist, es sei denn wegen der genannten verfassungsfeindlichen Betätigung der Partei insgesamt, nicht etwa des einzelnen Abgeordneten. 2. Redaktionsgeheimnis. a) Literatur: B e c k e r JR 1953 377; K o h l h a a s NJW 1958 41 ff.; L ö f f l e r 1958 1215ff. weitere Literatur im Text. b) Allgemeines. Von der Befugnis, das frühere Reichspressegesetz wirksam abzuändern, haben Gebrauch gemacht: B a d e n - W ü r t t e m b e r g am 14. 1. 1964 (BGBl. S. 11)(§ 23) B a y e r n am 3. 10. 1949 (Bay. B S I 3 1 0 ) ( § 12) B e r l i n am 15. 6. 1965 (GVB1. 744)(§ 18) B r e m e n am 16. 3. 1965 (GVB1. 63)(§ 23) H a m b u r g am 29. 1. 1965 (GVB1. 15) (§ 22) H e s s e n am 20. 11. 1957 (GVB1. 183, geändert am 22. 2. 1966 (GVB1. S. 31) (§ 22) N i e d e r s a c h s e n am 23. 3. 1965 (GVB1. 9) (§ 23) N o r d r h e i n - W e s t f a l e n am 24. 5. 1966 (GVB1. 340) (§ 24) R h e i n l a n d - P f a l z am 14. 6. 1965 (GVB1. 107) (§ 23) S a a r l a n d am 12.5. 1965 (A Bl. 409) (§ 23) S c h l e s w i g - H o l s t e i n am 19. 4. 1964 (GVB1. 71) (§ 23) Es ist an dieser Stelle unmöglich, alle die teils übereinstimmenden, teils erhebliche divergierenden (etwa Baden-Württemberg) Bestimmungen zum Zeugnisverweigerungsrecht der Presse abzudrucken. Der Leser, der sich für die Gültigkeit des § 53 StPO entscheidet, benötigt diese Texte nicht. Der Leser, der sich für die Verfassungswidrigkeit des die Presse betreffenden Teiles des § 53 entscheidet, wird je nach dem Land, in dessen Bereich das Strafverfahren stattfindet, ohne Speziallektüre der einzelnen Gesetze nicht durchkommen. Infolgedessen sei hier auf L ö f f l e r Presserecht 2. Aufl. Band 2 S. 424 ff. verwiesen. Entscheidend ist hier nur die ungenügend gelöste Frage danach, ob das Zeugnisverweigerungsrecht der Presse zum Strafprozeß gehört, also Bundesrecht ist, oder ob es Presserecht ist und sonach der Ländergesetzgebung unterliegt, solange nicht der Bund von seiner Rahmenkompetenz nach Art. 75 G G keinen Gebrauch macht. Die Kompetenz der Länder zu diesem Punkt ist heftig umstritten. Den Vertretern der Meinung, der Bund habe diese Materie in § 53 erschöpfend geregelt ( K o h l h a a s DÖV 1965 70; S a r s t e d t ZV 1965 1170; T h i e l e DVB1. 1963 1909; G r o ß . A r c h . PrR 1965 543, R e h - G r o ß LPG Hessen Vorbem. 3 zu § 1, L e i n v e b e r ArchPrR 1966 6 0 0 f f , stehen gegenüber M a l l m a n n JZ 1964 77, R e b m a n n Bad. Württ, Prg, § 2 3 Rdz, 11. Das BVerf. Gist. der Entscheidung dieser brennenden Frage bislang aus dem Wege gegangen, es hat allerdings einmal (Bd. 7 S. 29) zur Frage der kurzfristigen Verjährung dahin Stellung genommen, daß die Verjährung „Presserecht" sei. Hierauf stützen denn auch die Vertreter der „Länderkompetenz" ihre Meinung, daß das, was für die Verjährung gelte, auch für das Zeugnisverweigerungsrecht gelten müsse. Das ist jedoch kein zwingender Schluß. So hat denn auch das BVerfG (Bd. 20 176) die Auffassung vertreten, daß § 53 mit der Verfassung vereinbar sei. Ist er das aber, dann bricht Bundesrecht nach wie vor Landesrecht. Es wäre in der Tat ein unmöglicher Zustand, wenn etwa je nach Zufall, ob ein Strafprozeß in NeuUlm oder in Ulm stattfindet nun die divergierenden presserechtlichen Verweigerungsrechte zum Tragen kämen, dies um so mehr als es in Fällen eines Sachzusammenhangs mehrerer Beschuldigter durchaus möglich ist, ein Verfahren im einen oder anderen Land zu beginnen. Bei der Verjährung ist die Tat an den Ort des Erscheinens gebunden, bei dem Zeugniszwang ist dies nicht der Fall. Den besten Beweis für die Richtigkeit der hier vertretenen These spricht L ö f f l e r aaO. S. 34 aus, obwohl er genau das Gegenteil will. Er weist darauf hin, daß die Presse, vertreten durch den deutschen Presserat, seit 1953 auf eine Verbesserung des § 53 hingewirkt habe, daß es ihr aber nicht gelungen sei, den Bundesgesetzgeber zu veranlassen, den § 53 (also Strafprozeßrecht!) abzuändern. Erst dann haben die Länder die Initiative ergriffen. Wenn aber schon versucht wurde, den Bund zu alarmieren und unterstellt, der Bund hätte den § 53 den Forderungen der Presse angepaßt, dann liegt doch darin

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§53 Anm. IV 2

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die eigene Auffassung, daß das Zeugnisverweigerungsrecht Strafprozeß- also Bundesrecht sei. Man stelle sich etwa vor, der Bund hätte damals einen den Vorstellungen der Presse konformen § 53 geschaffen und ein Land hätte aus der Reihe getanzt und sich auf „Presserecht" berufen und schärfere Bestimmungen gegen die Journalisten etc. normiert?! Genau das Umgekehrte wäre dann ins Feld geführt worden. Mit diesem Überblick mag es genug sein, um so mehr als im Laufe dieses Kommentars die Auffassungen der einzelnen Bearbeiter möglicherweise nicht einheitlich sein wird. Der Kommentar geht daher im Folgenden davon aus, wie es wäre, wenn, wie hier vertreten, § 53 nach wie vor das Zeugnisverweigerungsrecht der Presse zwingend bundeseinheitlich regelt. c) Personenkreis der Berechtigten. Darunter fallen: aa) der Redakteur. Dieser hat allein oder mit anderen darüber zu bestimmen oder mitzubestimmen, was in die Druckschrift aufgenommen werden soll, sofern er diese Stellung nach dem Willen des Eigentümers bekleidet (RGSt. 21 23). Dabei ist das Zeugnisverweigerungsrecht nicht auf den für die Druckschrift oder den in Betracht kommenden Teil verantwortlichen Redakteur beschränkt ( M ü l l e r - S a x 8 a ; E b S c h m i d t 18). bb) der Verleger. Dieser übernimmt die Vervielfältigung und Verbreitung der Druckschrift im eigenen Namen, und zwar gleichgültig, ob auf eigene Rechnung oder in Kommission ( D a l c k e - F u h r m a n n 23; M ü l l e r - S a x Nr. 9 a; E b S c h m i d t 18). cc) Herausgeber ist die Persönlichkeit, welcher bei der Herstellung des Druckwerks die geistige Oberaufsicht führt. Er bestimmt, obwohl er in der Regel nicht selbst redigiert oder schreibt die grundsätzliche Haltung des Blattes in politischen wirtschaftlichen und wirtschaftlichen Fragen. dd) der Drucker. Er betreibt die Druckerei, in der die Druckschrift hergestellt wird (F u h r m a n n - D a l c k e 25; M ü l l e r - S a x Nr. 5 a ; E b S c h m i d t 18;K1 2E). ee) Diejenigen, die bei der technischen Herstellung der Druckschrift beschäftigt werden, z. B. Setzer, Korrektoren, Redaktionshilfspersonal, Maschinenpersonal, mithin alle Personen, die kraft ihrer dienstlichen Stellung, die sie bei der Herstellung der Druckschrift einnehmen, in die Lage kommen, von der Person des Verfassers, des Einsenders oder Gewährsmanns Kenntnis zu erhalten. Ferner fallt auch das gesamte kaufmännische Personal in den Kreis der geschützten Geheimnisträger. Privilegiert zum Verschweigen der Informationsquellen sind sonach alle, die bei Herstellung und Vervielfältigung der periodischen Druckschrift mitgewirkt haben ( F u h r m a n n - D a l c k e 27). Dazu können unter Umständen auch die Verfasser, Einsender und Gewährsleute gehören, wenn sie beruflich — sei es haupt-, sei es auch nebenberuflich — der Presse das Material, z. B. freie Journalisten, Reporter usw. ( L ö f f l e r N J W 1958 1216); K o h l h a a s N J W 1958 41). d) Begrenzung auf periodische Druckschriften. Das Zeugnisverweigerungsrecht der Presse greift nur bei periodischen Druckschriften Platz. Dies sind Zeitungen und Zeitschriften, die in monatlichen oder kürzeren, wenn auch unregelmäßigen Fristen erscheinen. D a ß die Zeitung oder Zeitschrift nur für eine bestimmte Zeit erscheinen soll (z. B. Wahlzeitung), ändert an dem Charakter als periodische Druckschrift nichts (RGSt. 14 279). Soweit es sich nicht um periodische Druckschriften handelt, greift § 53 Ziff. 5 nicht Platz. e) Begrenzung auf Veröffentlichungen strafbaren Inhalts. Es muß stets eine Veröffentlichung strafbaren Inhalts, also ein Presseinhaltsdelikt vorliegen. Dies setzt voraus, daß eine Straftat begangen wird, durch die auf eine unbestimmte Vielzahl von Lesern mit geistig wirksamen, den Tatbestand eines Strafgesetzes erfüllendem Inhalt eingewirkt wird. Daraus ergibt sich, daß ein Zeugnisverweigerungsrecht nicht vorliegt, wenn bei der Redaktion liegendes Material gefunden wird, das erst eingesandt, angenommen oder zur Veröffentlichung vorbereitet worden ist. Zwar ist noch keine Störung der Öffentlichkeit eingetreten, weil eine Veröffentlichung noch nicht stattgefunden hat. D a aber gerade ein Presseinhalts-

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Sechster Abschnitt. Zeugen (Kohlhaas)

§53 Anm. IV 2

delikt Voraussetzung für das Verweigerungsrecht ist und eine Bestrafung des Redakteurs in solchen Fällen ausscheidet (falls nicht strafbare Vorbereitungshandlungen in Betracht kommen) scheidet § 5 3 Abs. 1 Ziff. 5 aus. (K o h 1 h a a s NJW 1958 41 ff.; E r b s II; F u h r m a n n - D a l c k e 3; K l 2E; L ö f f l e r Bd. II § 23 Rdn. 54 ff.). Über den Begriff des Presseinhaltsdelikts vgl. auch RGSt. 30 198, 36 146,271,40 358, 66 146). Voraussetzung für das Zeugnisverweigerungsrecht sind also Druck und Verbreitung: Da die Herstellung der Druckschrift in der Regel nur straflose Vorbereitungshandlung ist (RGSt. 30 376), muß zur Drucklegung noch die Kundgebung in Gestalt einer Ankündigung, Anpreisung oder Verbreitung hinzukommen (RGSt. 5 356; 32 70; 40 358). Wird die Strafbarkeit erst durch eine der Kundgebung nachfolgende Handlung begründet, scheidet ein Presseinhaltsgesetz aus (RG GA 56 322). Dasselbe gilt, wenn die bereits erschienene Druckschrift als Mittel benutzt wird, um eine neue, selbständige Straftat zu begehen. Ein solches Presseinhaltsdelikt kann auch durch ein sog. Verschwiegenheitsdelikt dann begangen werden, wenn aus dem Inhalt der Veröffentlichung selbst die Umstände für die Strafbarkeit erkennbar sind, z. B. bei Veröffentlichung eines Staatsgeheimnisses (§ 100 StGB) bzw. bei Vertrauensbruch (§ 353 c StGB). ( L ö f f l e r Bd. II § 23 Rdn. 54 M; M ü l l e r S a x Anm. 5 a). Das Zeugnisverweigerungsrecht scheidet dann aus, wenn es sich um solche Delikte handelt, bei denen der Straftatbestand nicht durch die Veröffentlichung als solche,' sondern durch weitere hinzukommende Tatbestandsmerkmale erfüllt wird. Das gleiche gilt, wenn die Veröffentlichung als solche nicht strafbar ist, sondern nur Anhaltspunkte für die Feststellung des Täters einer anderen Handlung gibt, die außerhalb der Veröffentlichung der Druckschrift liegt. f) Umfang des Verweigerungsrechts. Das Zeugnisverweigerungsrecht des § 53 Ziff. 5 gibt nur die Befugnis zur Verweigerung des Zeugnisses über die Person des Verfassers, Einsenders und Gewährsmanns. V e r f a s s e r ist, wer die zur Vervielfältigung bestimmte Urschrift der Veröffentlichung hergestellt hat oder von Dritten nach seinem Entwurf oder Diktat hat herstellen lassen und dem Druck übergeben hat ( F u h r m a n n - D a l c k e 28). Der Verfasser darf auch seinen Gewährsmann verschweigen ( K o h l h a a s GA 1958 71). E i n s e n d e r ist derjenige, der die Urschrift zwar nicht selbst verfaßt, aber dem Druck übergeben und zum Druck bestimmt hat. Völlig unveränderter Abdruck der Urschrift ist nicht erforderlich. Namensnennung des Verfassers oder Einsenders ist auch dann nicht nötig, wenn dessen Urschrift in mehr oder weniger veränderter Form abgedruckt wird ( F u h r m a n n - D a l c k e 29). G e w ä h r s m a n n ist derjenige, der die Veröffentlichung zwar nicht ganz oder teilweise selbst verfaßt, sondern der nur die Anregung zur Veröffentlichung selbst gegeben hat, während die Fassung von der Redaktion besorgt wird ( F u h r m a n n - D a l c k e Anm. 30). Er muß seine Quelle bekanntgeben, da er kein Organ der Presse ist ( K o h l h a a s GA 1958 41). Im Gegensatz zum Abgeordnetenprivileg ist das Zeugnisverweigerungsrecht der Presse insoweit begrenzt, als es sich nur auf die Frage nach der Person des Verfassers, des Einsenders und des Gewährsmanns bezieht ( L ö f f l e r NJW 1958 1216). Fragen, die den Sachverhalt als solchen betreffen, müssen beantwortet werden. Doch ist es unstatthaft, durch Fragen nach dem Sachverhalt den Zeugen zu veranlassen, den Namen des Verfassers, Einsenders oder Gewährsmannes preiszugeben ( L ö f f l e r Bd. II § 23 Rdn. 54ff. K o h ' l h a a s NJW 1958 42). Stets ist Voraussetzung, daß das Material in der periodischen Druckschrift veröffentlicht, und daß mit der Vertreibung der Druckschrift bereits begonnen worden ist. Soll der Urheber eines an sich strafbaren mit Chiffre bezeichneten Artikels dadurch ermittelt werden, daß der Urheber eines anderen, mit derselben Chiffre bezeichneten, an sich nicht strafbaren Artikels ermittelt wird, so besteht das Zeugnisverweigerungsrecht gleichwohl, weil sonst eine Umgehungsmöglichkeit gegeben wäre. Das Zeugnisverweigerungsrecht umfaßt die „ganze" Veröffentlichung, d. h. eine einzelne, in sich geschlossene, innere Einheit der Druckschrift, und zwar ohne Unterschied, in welchem Teil (und zwar auch im Inseratenteil), die strafbare Veröffentlichung zu sehen ist.

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§ 53a

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

Dabei ist es unerheblich, ob die Veröffentlichung sich als Verbrechen, Vergehen oder Übertretung darstellt. Das Zeugnisverweigerungsrecht besteht nicht nur in dem Verfahren, in welchem durch die Veröffentlichung begangene strafbare Handlungen verfolgt werden. Es besteht aber nicht, wenn in einem Strafverfahren die Feststellung der Person des Verfassers, Einsenders oder Gewährsmanns einer Veröffentlichung mit einem nicht strafbaren Inhalt erfragt wird. g) Voraussetzungen für das Zeugnisverweigerungsrecht. Das Zeugnisverweigerungsgesetz besteht nur, a) wenn entweder der Redakteur, der aber nicht der verantwortliche Redakteur zu sein braucht, ausschließlich gerade wegen dieser Veröffentlichung bestraft ist. Es reicht dafür aus, daß er irgendwie, nicht nur als Täter bestraft worden ist ( D a l i i n g e r Anm. 8; K l Anm. 2 E; H ä n t s c h e l S. 158). Eine Bestrafung wegen allgemeiner Fahrlässigkeit reicht jedoch nicht aus. Bei Freisprechung des Redakteurs greift das Zeugnisverweigerungsrecht nicht Platz. Der Einwand, der Freispruch sei zu Unrecht erfolgt, reicht nicht aus. Es kommt allein auf die Bestrafung des Redakteurs, nicht auf die übrigen genannten Personen an. b) oder wenn der Bestrafung keine Hindernisse entgegenstehen. Dazu gehören Hindernisse rechtlicher Art wie Abgeordnetenimmunität, Exterritorialität, Niederschlagung, Amnestie, Verjährung (RG JR 1927 Nr. 1795) oder Hindernisse tatsächlicher Art (Tod, Flucht, insbesondere ins Ausland) E b S c h m i d t Anm. 20, 21; F u h r m a n n - D a l c k e Anm. 32; Celle NJW 1958 72). Jedoch müssen sie in absehbarer Zeit nicht zu beseitigen sein, ( K o h l h a a s NJW 1958 41). Liegen Hindernisse vor, ist kein Zeugnisverweigerungsrecht mehr gegeben ( K o h l h a a s GA 1958 71). h) Berechtigte aus dem Rundfunkgeheimnis. Das durch § 53 Ziff. 6 für den Rundfunk neu geschaffene Redaktionsgeheimnis ist dem Redaktionsgeheimnis der Presse nachgebildet. Intendanten, Sendeleiter u. a., die bei der Vorbereitung oder Durchführung von Rundfunksendungen mitgewirkt haben, haben das Zeugnisverweigerungsrecht über die Person des Verfassers, des Einsenders oder des Gewährsmanns einer Rundfunksendung strafbaren Inhalts. Voraussetzung ist — wie bei dem Zeugnisverweigerungsrecht der Presse —, daß ein für die Sendung Verantwortlicher wegen dieser Sendung bestraft ist oder daß seiner Bestrafung keine Hindernisse rechtlicher oder tatsächlicher Art entgegenstehen. Im Gegensatz zum Zeugnisverweigerungsrecht der Presse darf aber über die Person des Verfassers, Einsenders oder Gewährsmanns das Zeugnis nicht verweigert werden, wenn derjenige, der im Rundfunk selbst spricht, Verfasser, Einsender oder Gewährsmann ist. Dies vor allem dann, worauf D a l l i n g e r JZ 1953 436 mit Recht hinweist, wenn die Sendung inhaltlich vorher nicht festgelegt ist oder wenn der Sprechende von dem festgelegten Text der Sendung abweicht und hierbei ein Straftatbestand erfüllt wird. Maßgeblich für diese abweichende Regelung war die Erwägung, daß es nicht angehen würde, wenn derjenige, der im Rundfunk öffentlich spricht und dadurch anderen etwas mitteilt oder für seine Überzeugung eintreten will, sich nachher auf die Anonymität berufen könnte. Der Intendant ist maßgebend für Gestaltung und Verantwortung des Rundfunkprogrammes; auch für die Verwaltung ( F u h r m a n n - D a l c k e Anm. 33). Der Sendeleiter trägt Sorge für die technische Abwicklung des Programms ( F u h r m a n n D a l c k e Anm. 34).

§ 53a (1) Den in § 53 Abs. 1 Nr. 1 bis 4 Genannten stehen ihre Gehilfen und die Personen gleich, die zur Vorbereitung auf den Beruf an der berufsmäßigen Tätigkeit teilnehmen. Über die Ausübung des Rechtes dieser Hilfspersonen, das Zeugnis zu verweigern, entscheiden die in § 53 Abs. 1 Nr. 1 bis 4 Genannten, es sei denn, daß diese Entscheidung in absehbarer Zeit nicht herbeigeführt werden kann. (2) Die Entbindung von der Verpflichtung zur Verschwiegenheit (§ 53 Abs. 2) gilt auch für die Hilfspersonen. 432

Sechster Abschnitt. Zeugen (Kohlhaas)

§ 53a Anm. 1—3

1. Zum Recht der Zeugnisverweigerung sind nach § 53 a berechtigt die Gehilfen und die Personen, die zur Vorbereitung auf den Beruf an einer der § 53 Abs. 1 bis 4 geschützten berufsmäßigen Tätigkeiten teilnehmen. Hilfspersonen sind insbesondere die Sekretäre der Abgeordneten, die in Ausbildung befindlichen Referendare, unter Umständen Studenten, vor allem im medizinischen Bereich, die Krankenpfleger, Krankenschwestern, medizinischtechnischen Assistenten, selbstverständlich auch die Sprechstundenhilfen der Arzte und Zahnärzte. Ferner fallen Angehörige darunter, die als Sprechstundenhilfe bei ihm mitarbeiten, selbst wenn sie dies nicht beruflich, sondern nur gelegenhtlich tun. Eine berufsmäßige Tätigkeit der Gehilfen selbst wird vom Gesetz nicht verlangt (vgl. F u h r m a n n - D a l c k e Anm. 2; M ü l l e r - S a x Anm. 2; E b S c h m i d t Anm. 2; K l Anm. 1; D a l l i n g e r JZ 1953 136; K o h l h a a s GA 1958 72). Es muß nur ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen der Tätigkeit des Gehilfen und der beruflichen Tätigkeit des Hauptgeheimnisträgers bestehen, die diesem das Zeugnisverweigerungsrecht gibt. So hat der Gehilfe eines Geistlichen nur dann ein Zeugnisverweigerungsrecht, wenn und soweit er dem Geistlichen in Ausübung der Seelsorge Hilfe leistet ( M ü l l e r - S a x Anm. 2; D a l l i n g e r JZ 1953 136). Ein unmittelbarer Zusammenhang kann aber auch bei mithelfendem Hauspersonal gegeben sein (EbS c h m i d t Anm. 3). Hilfspersonen im Sinne des § 53 a sind jedoch nicht die unmittelbar unter § 53 fallenden Personen wie der Sozius des Rechtsanwalts oder der Arzt, der zur Hilfe herangezogen wird. Sie haben ein selbständiges Recht ( F u h r m a n n - D a l c k e 2; M ü l l e r - S a x 3; K l Anm. 1 Bc; K o h l h a a s GA 1958 72). 2. Vom Hauptgeheimnisträger abgeleitetes Recht. Das Schweigerecht der Hilfspersonen ist kein selbständiges, sondern nur ein abgeleitetes Schweigerecht ( D a l l i n g e r JZ 1953 136; K o h l h a a s GA 1958 72; E b S c h m i d t 5). Dem Hauptgeheimnisträger bleibt die Entscheidung über die Ausübung des Zeugnisverweigerungsrechts der Hilfspersonen vorbehalten. Seine Entscheidung ist für den Gehilfen maßgebend. Der Angeklagte hat kein Recht, zu verlangen, daß der Geheimnisträger seinem Gehilfen die Genehmigung zur Aussage verweigert (BGHSt. 9 60). Nur dann, wenn die Entscheidung des Hauptgeheimnisträgers nicht oder nicht in absehbarer Zeit herbeigeführt werden kann, z. B. bei Tod, schwerer Erkrankung oder längerer Abwesenheit, entscheiden den Hilfspersonen selbst ( F u h r m a n n - D a l c k e 5; M ü l l e r - S a x 3; Kl 1 B b). Daß die Hilfsperson auf eigenes Risiko aussagen darf, wenn sie es verantworten will, ergibt sich aus dem zu § 53 Anm. III 3 b ausgeführten. 3. Entbindung von der Pflicht zur Verschwiegenheit. Die Entbindung von der Verpflichtung zur Verschwiegenheit (vgl. § 53 Abs. 2) erstreckt sich auch auf die Hilfspersonen. Es kann danach nicht etwa dem Arzt die Aussagegenehmigung erteilt, der Hilfsperson dagegen verweigert werden. Die Entbindung von der Verpflichtung ist nicht teilbar, da die Hilfsperson kein selbständiges, sondern nur ein abgeleitetes Zeugnisverweigerungsrecht besitzt. Muß danach der Hauptgeheimnisträger aussagen, so besteht die Aussagepflicht auch für den Gehilfen; eine Entscheidungsbefugnis des Hauptgeheimnisträgers besteht nicht mehr ( F u h r m a n n - D a l c k e 6; M ü l l e r - S a x 3; Kl 2). Anders ist es dagegen bei dem Zeugnisverweigerungsrecht der Geistlichen und Abgeordneten, bei denen eine Entbindung von der Schweigepflicht nicht in Frage kommt. Deren Hilfspersonen sind bei Ausübung des Zeugnisverweigerungsrechts sonach nur davon abhängig, wie der Geistliche bzw. Abgeordnete entscheidet. § 53a Abs. 2 berührt aber nur die Frage, daß die Entbindung des Geheimnisträgers auch die Aussagepflicht der Hilfspersonen auslöst, er schließt nicht aus, daß der Geheimnisträger, der aus irgendwelchen Gründen nicht aussagen will, dennoch den Gehilfen bindend zur Zeugnispflicht anweisen kann ( E b S c h m i d t Anm. 6, K o h l h a a s GA 1958, 72 a. A.; K1 Anm. 1 B). Das Gesetz trifft keine Regelung darüber, was ist, wenn der Arzt oder Anwalt selbst Beschuldigter ist und der Gehilfe ein Geheimnis offenbaren soll, durch das eine mitschuldige Person sich strafbar gemacht hat, z. B. Abtreibung bei einer Patientin durch einen Arzt in Gegenwart der Sprechstundenhilfe. Insoweit greift das Zeugnisverweigerungsrecht der Hilfsperson, das von der Genehmigung des Hauptgeheimnisträgers abhängig ist, dann Platz, wenn auch das Geheimnis des Kranken mit berührt wird. Wenn die betreffende Hilfsperson sich selbst durch ihre Teilnahme einer Straftat verdächtig gemacht hat, steht ihr das Aussageverweigerungsrecht nach § 55 zu. 433

§ 54 Anm. 1 , 2

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

Wie die Aussage einer Vertrauensperson, die in § 300 Abs. 1 StGB aufgeführt ist, auch bei Bruch des Berufsgeheimnisses verfahrensrechtlich verwertbar ist, so auch die Aussage des Berufshelfers, den die Vertrauensperson auch gegen § 300 StGB verwertbar zur Aussage ermächtigt hat (BGHSt. 9 59). Verfahrensrechtlich kann daher auch hier nichts anderes gelten, wenn die Hilfsperson Aussagen macht, ohne daß der Hauptgeheimnisträger dies gestattet hat. Das Verhalten dieser Hilfsperson mag dann unter § 300 StGB fallen; an der verfahrensrechtlichen Verwertbarkeit vermag dies so wenig zu ändern, wie ein Verstoß des Hauptgeheimnisträgers selbst (a. A. E b S c h m i d t 12). Daß dies bei der oft recht mäßigen Vorbildung und Ethik des Hilfspersonals bedenklich ist, kann de lege lata nichts an der Rechtslage selbst ändern.

§ 5 4 (1) Für die Vernehmung von Richtern, Beamten und anderen Personen des öffentlichen Dienstes als Zeugen über Umstände, auf die sich ihre Pflicht zur Amtsverschwiegenheit bezieht, und für die Genehmigung zur Aussage gelten die besonderen beamtenrechtlichen Vorschriften. (2) Für die Mitglieder der Bundes- oder einer Landesregierung gelten die für sie maßgebenden besonderen Vorschriften. (3) Der Bundespräsident kann das Zeugnis verweigern, wenn die Ablegung des Zeugnisses dem Wohl des Bundes oder eines deutschen Landes Nachteile bereiten würde. (4) Diese Vorschriften gelten auch, wenn die vorgenannten Personen nicht mehr im öffentlichen Dienst sind, soweit es sich um Tatsachen handelt, die sich während ihrer Dienstzeit ereignet haben oder ihnen während ihrer Dienstzeit zur Kenntnis gelangt sind. 1. Allgemeines. Im Interesse der Wahrung von Staatsgeheimnissen schafft § 54 für Personen des öffentlichen Dienstes ein Beweisverbot; über Umstände, auf die sich die Pflicht zu Amtsverschwiegenheit bezieht, dürfen die Betroffenen als Zeugen nur mit Genehmigung des zuständigen Dienstvorgesetzten vernommen werden. 2. Vernehmung von a) Richtern. Die Richter werden in der neuen Fassung entspr. Art. 97 Abs. 2, 98 G G besonders ausgeführt. Darunter fallen Richter aller Gerichtsbarkeiten und zwar nicht nur Berufs- sondern auch Laienrichter (§ 45 Deutsches Richtergesetz). Diese Ausdehnung ist von geringem praktischem Wert, denn die Laienrichter können mit der Amtsverschwiegenheit meist nur hinsichtlich des Beratungsgeheimnisses kollidieren. Auch haben sie keinen Dienstvorgesetzten. Der Richter dagegen kann vom Beratungsgeheimnis nicht bindend befreit werden, da er insoweit nicht einmal dem Dienstvorgesetzten Rede zu stehen hat. Falls besondere Gründe den Bruch des Beratungsgeheimnisses rechtfertigen, hat dies mit § 54 nichts zu tun. (Ausführlich hier: § 43 des Deutschen Richtergesetzes mit Schrifttumsangabe, ferner K o h l h a a s N J W 1953 401.) Es kann sich also nur um Fälle handeln, wo der Richter bei Vernehmungen aus Akten außerhalb der Beratung Wahrnehmungen gemacht hat. Überall, wo es sich nicht um Fälle des Beratungsgeheimnisses handelt, gelten die selben Grundsätze wie für Beamte (vgl. unten b). b) Beamte. Beamte müssen unter Berufung in das Beamtenverhältnis in einem öffentlichen Dienst- und Treueverhältnis zum Bund, einem Land, einer Gemeinde oder einer öffentlich rechtlichen Körperschaft oder Anstalt stehen. Der Begriff umfaßt nicht nur die unmittelbaren, sondern auch die mittelbaren Bundesbeamten K l 1). Zu den öffentlichen Beamten gehören auch solche Beamte, die weder Bundesbeamte noch Landesbeamte sind, z. B. Gemeindebeamte. In dieser Hinsicht entscheiden die Landesgesetze (LG Aachen NJW 1954 1213 bzgl. Kreisgeschäftsführer einer Kreishandwerkerschaft). Erforderlich ist aber stets die Aushändigung einer Urkunde, aus welcher die Berufung in das Beamtenverhältnis hervorgeht. Die Formalien sind seit der Neufassung jedoch nicht mehr so bedeut-

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Sechster Abschnitt. Zeugen (Kohlhaas)

§ 54 Anm. 3 , 4

sam, da § 54 auch andere Personen des öffentlichen Dienstes umfaßt (c). Notare gelten als öffentliche Beamte ( D B B G § 171 Abs. 5; G G Art. 138), Mitglieder des Bundespersonalausschusses ebenfalls (§§ 95 ff. G G ) . c ) Andere Personen des öffentlichen Dienstes. Die Verschwiegenheitspflicht wird nicht nur bei den Beamten, sondern auch bei den sonstigen Personen des öffentlichen Dienstes durch § 54 geschützt. Diese müssen aber eine Tätigkeit ausüben, die mit der Amtsfunktion der Behörde im weitesten Sinne im Zusammenhang steht. Bloße mechanische oder untergeordnete Tätigkeit schafft das Recht aus § 54 StPO nicht. Die Abgrenzung ist weitgehend nach § 359 StGB zu ziehen. In jedem Falle gehören Mitglieder eines Gemeinderats hierher ( O L G Münster M D R 1953 611) wogegen Abgeordnete unter § 53 Ziff. 4 fallen. Geistliche fallen, soweit es sich um Seelsorgeangelegenheiten handelt, unter § 53, nicht unter § 54. Bei Angelegenheiten, die mit der Seelsorge nicht im Zusammenhang stehen, k a n n jedoch § 54 Platz greifen, wenn öffentliche Funktionen ausgeübt werden ( M ü l l e r - S a x l b ; ablehnend für § 54 überhaupt E b S c h m i d t 4 ) . 3. Umfang der Schweigepflicht. a) Eine unbeschränkte Schweigepflicht für alle Amtsangelegenheiten sollte nicht begründet werden. Die Schweigepflicht besteht nur, wenn die Natur der Angelegenheit die Geheimhaltung erfordert (vgl. §§ 8, 9 D B B G ) . Aus der Pflicht zur Treue ergibt sich die Pflicht, über alle Angelegenheiten Verschwiegenheit zu bewahren, deren Bekanntwerden das Wohl des Bundes oder Landes gefährden könnte. Im Zweifel entscheidet die vorgesetzte Dienstbehörde, ob sich die Pflicht zur Amtsverschwiegenheit auf den Gegenstand der Vernehmung bezieht. Ihr Ausspruch ist für den Strafrichter bindend (RGSt. 7 74; 13 155; 44 292; B G H M D R 1952 275). Sie braucht ihre Auffassung nicht zu begründen ( V G Wiesbaden N J W 1950 799). Die entgegengesetzte Ansicht würde zu einer Vereitelung des Zwecks des § 54 führen; denn der Richter würde die obige Frage selbst regelmäßig nur auf Grund von Erörterungen entscheiden können, die selbst schon zu einer Verletzung des Amtsgeheimnisses fuhren könnten. Die Erteilung oder Versagung der Aussagegenehmigung ist ein Verwaltungsakt, mit unmittelbarer rechtlicher Wirkung nach außen ( O V G Berlin JR 1952 275). Daher ist der Verwaltungsrechtsweg zulässig ( V G W i e s b a d e n wie oben, O V G B e r l i n N J W 1955 1940; v. K ö h l e r N J W 1956 1463; O V G Münster N J W 1960 2116 mit Anm. F i n k e l b u r g N J W 1961 476). Diese Zulässigkeitsprüfung birgt nicht die Gefahr, daß ein Strafrichter ohne Kenntnis der verwaltungsrechtlichen Hintergründe Aufdeckungen anordnet (vgl. K o h l h a a s JR 1957 44). b ) Ohne Genehmigung der Dienststelle ist die Vernehmung der in § 54 genannten Person über einen ihr A m t oder ihre öffentliche Dienststellung berührenden Gegenstand nur dann statthaft, wenn es der Richter nach sorgfältiger Prüfung für zweifellos hält, daß die Pflicht zur Amtsverschwiegenheit sich auf den Gegenstand der Vernehmung nicht erstreckt, wenn auch der zu vernehmende Zeuge keine abweichende Auffassung geltend macht. Ergibt dagegen die Prüfung einen Zweifel, oder wird ein solcher von dem Zeugen erhoben, so darf die Vernehmung auch bei Bereitwilligkeit des Zeugen zur Aussage nicht stattfinden, wenn nicht die vorgesetzte Dienstbehörde die Genehmigung erteilt oder sie für überflüssig erklärt (RGSt. 13 154; 15 85; R G G A 49 133; vgl. auch RiStV Ziff. 51 sowie E b S c h m i d t Anm. 7). Im Notfall ist der Richter, sofern der Zeuge sich nicht auf das Dienstgeheimnis beruft, zur Stellung einer diesbezüglichen Frage verpflichtet. A u f jeden Fall ist eine Umgehung des § 54 dadurch, daß der Beamte usw. nicht über die dienstlichen Angelegenheiten selbst, sondern über Äußerungen befragt wird, die über solche Angelegenheiten in Privatgesprächen gemacht worden sind, unzulässig ( R G Recht 1929 934). 4. Genehmigung. Die Vernehmung ist erst dann zulässig, wenn die dem Beamten vorgesetzte Dienstbehörde die Genehmigung dazu erteilt hat ( M ü l l e r - S a x l b I ; K 1 1 B ) . Die Aussagegenehmigung ist in den Gesetzen der Länder teilweise anders als im Bundesbeamtengesetz geregelt. Die jeweilige Landesregelung ist maßgebend. So ist z. B. in Bayern die Aussage eines Beamten vor Gericht nicht mehr von der Genehmigung abhängig. Doch

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§54 Anm. 4

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

gibt Art. 20 des Bayr. Beamtengesetzes v. 28. 10. 1946 (GVB1. S. 349) der vorgesetzten Dienstbehörde das Recht, die Auskunftspflicht bei dem Gericht zu beschränken. Zu beachten ist die richterliche Kontrolle. a) Einholung der Genehmigung. Wird die Vernehmung eines Zeugen über einen Gegenstand beantragt, auf den sich die Pflicht zur Amtsverschwiegenheit bezieht, und wird die Beweistatsache von dem Richter für erheblich erachtet, und ist nach dem Beamtenrecht eine Aussagegenehmigung erforderlich, so ist die Pflicht des Richters, von Amts wegen die Genehmigung zu einer Vernehmung einzuholen, sofern sie nicht von anderer Seite eingeholt oder beigebracht ist (vgl. Ziff. 51) RiStV. Dagegen hat der Angeklagte selbst dafür zu sogen, daß er für seine Einlassung von der Dienstverschwiegenheit befreit wird. Falls erforderlich, muß eine Unterbrechung oder Aussetzung des Verfahrens erfolgen ( A l s b e r g - N ü s e 497). Einen Rechtsanspruch hierauf hat der Angeklagte nicht (RG GA 49 133, M ü l l e r S a x l b ; Kl Anm. 1). Die Ablehnung einer Frage durch das Gericht mit der Begründung, die Genehmigung liege nicht vor, ist unzulässig (RG GA 48 296). Ist nach den einschlägigen beamtenrechtlichen Bestimmungen die Vernehmung nur zulässig, wenn die vorgesetzte Dienststelle die Genehmigung erteilt hat, so liegt ein von Amts wegen zu beachtendes unbedingtes Beweisverbot vor (M ü 11 e r - S a x 1). Die Genehmigung ist rechtzeitig zu beantragen. Daß die Genehmigung vermutlich nicht erteilt werde, enthebt das Gericht nicht der Verpflichtung bei der Behörde förmlich anzufragen und eventuell Gegenvorstellungen zu erheben. Die Vorgänge, über die der Zeuge vernommen werden soll, sind kurz, aber erschöpfend anzugeben. Der Dienstvorgesetzte muß daraus beurteilen können, ob Versagungsgründe vorliegen. Erkennt der Rihchter, daß möglicherweise ein Staatsgeheimnis in Frage steht, so muß er die vorgesetzte Dienstbehörde darauf hinweisen. Auch die StA kann um die Genehmigung nachsuchen. Dem Beschuldigten oder dem Zeugen ist dies nicht zu überlassen (vgl. RiStV Ziff 51). b) Zuständige Behörde für die Genehmigung. Der gegenwärtige Dienstvorgesetzte erteilt die Genehmigung, bei Beendigung des Dienstverhältnisses der letzte Dienstvorgesetzte (§ 61 BBG). Untersteht der Beamte zwei verschiedenen staatlichen Stellen, so ist der Disziplinarvorgesetzte zuständig. Bei Hilfsbeamten der StA ist deshalb nicht der Leiter der StA sondern der polizeiliche Dienstvorgesetzte, der Disziplinargewalt hat, zur Entscheidung befugt (Hamm JMB1. NRW 1956 36; M ü l l e r - S a x 1 b I). Hat der Zeuge früher einer anderen Behörde angehört, und muß er über einen Punkt aussagen, der sich auf seine damalige Tätigkeit bezieht, so muß der gegenwärtige Dienstvorgesetzte sich der Genehmigung der anderen Behörde vergewissern; falls die andere Behörde nicht mehr besteht, ihrer Rechtsnachfolgerin. Nur wenn das nicht mehr möglich ist, hat der jetzige Dienstvorgesetzte über die Aussagegenehmigung im Rahmen seines pflichtgemäßen Ermessens zu entscheiden ( M ü l l e r - S a x lb). Stehen Fragen des Steuergeheimnisses, welches auch den Interessen der Steuerpflichtigen dient, in Frage, so ist, soweit eine Aussage über einen Steuerpflichtigen in Betracht kommt, auch dessen Zustimmung erforderlich, es sei denn, daß das Verfahren sich auf ein Steuerdelikt des Beschuldigten bezieht. Andernfalls darf die Genehmigung durch den Dienstvorgesetzten nicht erfolgen ( U h l i c h DJZ 1932 1540; M ü l l e r - S a x 1 d). Bei Außenwirtschaftsbehörden (vgl. Außenwirtschaftsgesetz vom 28. 4. 1961, BGBl. I 481) fehlt dies Schutzinteresse. Hier ist Befreiung jederzeit möglich (so für Devisenbehörden S c h m i d t DDevR 1958 41). c) Einschränkung der Genehmigung. Nach § 62 BBG darf die Genehmigung nur versagt werden, wenn die Aussage dem Wohle der Bundesrepublik Nachteile bereitet oder die Erfüllung der öffentlichen Aufgaben wesentlich gefährden oder erheblich erschweren würde (vgl. OVG Münster MDR 1955 61). Die Genehmigung kann aber auch unter Einschränkung auf gewisse Tatsachen usw. erteilt werden, z. B. Nichtangabe des Gewährsmannes. Die Problematik des sogenannten V-Mannes, also einer Person, welche deshalb nicht preisgegeben werden soll, weil damit wichtige Erkenntnisquellen der Strafverfolgungsbehörden preisgegeben werden, gehört strag genommen nicht zu § 54 StPO. Ob die vorgesetzte Behörde den V-Mann preisgeben will oder nicht, ist allein ihre Sache und die Frage, inwieweit der Tatrichter einen Zeugen vom Hörensagen vernehmen will wie weit er die Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme dadurch verletzt sieht und ob ein Beweisverbot in Betracht 436

Sechster Abschnitt. Zeugen (Kohlhaas)

§54 Anm. 5—7

kommt ist eine reine Frage, die sich aus §§ 250 ff. und § 261 StPO ergibt. Grundsätzlich ist daran festzuhalten, daß sich das Gericht mit der Nichtpreisgabe abgefunden hat ( K o h l h a a s JR 1953 321, 1957 43, BGHSt. 17 382). Dagegen hat der Polizeibeamte selbst hinsichtlich dessen, was ihm vertraulich mitgeteilt wurde, außer eben dem Namen kein Verweigerungsrecht. Es bedarf also auch keiner Genehmigung. Ob der V-Mann, wenn er preisgegeben ist, selbst ein Zeugnisverweigerungsrecht hat, ist bestritten. Die Meinung, er habe es ohne Genehmigung der Behörde nur dann, wenn er im öffentlichen Dienst stehe (so M ü l l e r - S a x le) ist zu eng. Richtig M ö s n e r NJW 1961 537, wonach er in jeder Lage sich auf seine auftraggebende Behörde berufen kann, daß diese ihm aber, wenn sie die Genehmigung zur Aussage gibt, diese ungeteilt und nicht etwa nur zur Sache, nicht aber zur Person erteilen darf. Sonst ist die Genehmigung insgesamt nicht erteilt. Der Richter ist an diese Einschränkung gebunden (RGSt. 7 74; 44 291; R G DRZ 1926 229; OLG Celle HESt. 2 79; BGH MDR 1952 659 [ D a l i i n g e r ] ; Kl 1 B b; M ü l l e r S a x 16 IV). Bei Nichtbeachtung hat die Behörde das Recht der Beschwerde (Celle aaO.). Wird die Genehmigung erteilt, so muß der Zeuge aussagen (Anm. 6). Sofem es über der zunächst zuständigen Dienstbehörde überhaupt eine Instanz gibt, ist eine gegen die Entscheidung der ersten gerichtete Beschwerde nicht ausgeschlossen. Sie kann sich sowohl gegen die Annahme, daß der Gegenstand in den Bereich der Amtsverschwiegenheit falle, wie auch gegen die Versagung der Genehmigung richten. Zur Erhebung der Beschwerde ist sowohl der Richter wie auch jeder Prozeßbeteiligte, der ein Interesse an der Vernehmung hat, befugt (vgl. RGRspr. 9 123; RGSt. 44 291; LG Wiesbaden NJW 1950 793). Über den Verwaltungsweg vgl. oben Anm. 3 a. 5. Sondervorschriften für Regierungsorgane. Für die Bundesregierung und ihre Mitglieder gelten § § 6 und 7 des Bundesministergesetzes v. 17.6. 1953 (BGBl. I 407), für die Landesregierung die entsprechenden Landesvorschriften. Der Bundespräsident hat das Zeugnisverweigerungsrecht, wenn dem Wohl des Bundes oder Landes Nachteile bereitet würden (§ 54 Abs. 3). Das gleiche gilt für den Präsidenten des Bundesrates, wenn er nach Art. 57 G G die Befugnisse des Bundespräsidenten wahrnimmt. Wegen des parlamentarischen Untersuchungsausschusses vgl. Art. 44 II GG. Eine Belehrung über das Zeugnisverweigerungsrecht ist nicht vorgeschrieben und auch nicht veranlaßt, weil der Vernehmende selbst an die Beweisschranken gebunden ist ( M ü l l e r - S a x 3a). 6. Zeugnispflicht. Abgesehen von der Bestimmung des § 54 besteht zwischen einem als Zeugen zu vernehmenden Beamten und einem anderen Zeugen kein weiterer Unterschied. Der Beamte ist daher auch dann zur mündlichen Ablehnung des Zeugnisses verpflichtet, wenn der Richter mit Rücksicht auf dessen Gegenstand berechtigt sein würde, sich mit einer amtlichen schriftlichen Auskunft zu begnügen (vgl. § 256). Auch darf ein Beamter ein Zeugnis nicht mit der Begründung verweigern, daß nach seiner Ansicht nicht er persönlich, sondern die Behörde, der er angehört oder untergeordnet ist, die Auskunft zu erteilen habe. Über die Art und die Mittel der Beweiserhebung hat der Richter zu befinden. Etwaige abweichende Vorschriften der früheren Landesgesetze sind durch die StPO außer Kraft gesetzt. Allerdings haben die Gerichte auch das Interesse des Dienstes zu berücksichtigen und deshalb unnötige Vernehmungen von Beamten tunlichst zu vermeiden. Auch in der Pflicht zum Erscheinen steht der Beamte grundsätzlich anderen Personen gleich. Insbesondere ist diese Pflicht im Gegensatz zur Aussage nicht von einer Genehmigung der Dienstbehörde abhängig. Für die Beeidigung gilt nichts Besonderes. Eine Versicherung auf den Diensteid gibt es im Strafverfahren nicht. Verwaltungsvorschriften über die Ladung von Beamten sind statthaft, z. B. daß die vorgesetzte Dienstbehörde von der Ladung oder deren Wiederaufhebung zu benachrichtigen ist. 7. Rechtsmittel. Die in § 54 enthaltene Einschränkung der Zeugnispflicht ist nur im Interesse des Bundes oder der deutschen Länder, nicht aber im Interesse des Beschuldigten geschaffen. Der Beschuldigte kann deshalb keinen Revisionsgrund daraus herleiten, daß die in § 54 angeordneten Vorbedingungen der Vernehmung nicht erfüllt sind (RGSt. 44 437

§ 55 Anm. 1,2

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

291, 48 38; BGH NJW 1952 151, anders jetzt M ü l l e r - S a x 6 unter Berufung auf Beweisverbote E b S c h m i d t 10; vgl. OLG Celle M D R 1939 414). Auch die StA kann aus einem Verstoß gegen § 54 keine Rechte, insbesondere keine Revisionsrüge, herleiten. §55 (1) Jeder Zeuge kann die Auskunft auf solche Fragen verweigern, deren Beantwortung ihm selbst oder einem der im § 52 Abs. 1 bezeichneten Angehörigen die Gefahr strafgerichtlicher Verfolgung zuziehen würde. (2) Der Zeuge ist über sein Recht zur Verweigerung der Auskunft zu belehren. 1. Auskunftsverweigerungsrecht des Zeugen. § 55 schafft ein Auskunftsverweigerungsrecht für den Zeugen, wenn auf der einen Seite die Pflicht des Zeugen steht, die reine Wahrheit auszusagen, auf der anderen Seite aber der Umstand, bei wahrheitsgemäßer Aussage eine strafbare Handlung zu offenbaren, die er selbst oder ein naher Angehöriger begangen hat (vgl. BGHSt. 9 36). Diese Zwangslage soll im Interesse des Zeugen vermieden werden. Darauf beruht sein Recht, die Auskunft zu verweigern (BGHSt. 1 39). Ob darin zugleich auch ein Schutzrecht des Angeklagten liegt, ist umstritten; vgl. Anm. 3. Grundsätzlich darf der Zeuge nur die Aussage auf einzelne Fragen verweigern (OLG S t u t t g a r t NJW 1950 760); jedoch kann unter Umständen auch eine Verweigerung der Aussage insgesamt in Betracht kommen, wenn die Gefahr der Verfolgung in verschiedenen Einzelpunkten besteht oder eine Trennung des Komplexes nicht möglich ist (RGSt. 44 45, BGHSt. 10 105, E b S c h m i d t 1; Kl 1). Keinesfalls aber darf der Zeuge wahrheitswidrig erklären, er wisse von dem Beweisthema nichts (RGSt. 57 152). Eine schon gemachte Aussage kann widerrufen werden (RGSt. 40 5,44 45). Über die Folgen vgl. Anm. 6 a. 2. Nur bei Gefahr strafrechtlicher Verfolgung. a) Die Gefahr der Verhängung einer kriminellen Strafe muß drohen. Die Gefahr einer Strafverfolgung kann aber auch bei Verfahren nach dem J G G bestehen. Ein Zuchtmittel ist zwar an sich kein Straf-, sondern nur ein Erziehungsmittel. Im Sinne des § 55 liegt aber jedenfalls dann schon die Gefahr einer Strafverfolgung vor, wenn es sich um eine Freiheitsentziehung, also z. B. um einen Jugendarrest handelt, obwohl dieser an sich keine Jugendstrafe ist (BGHSt. 9 35). Eine strafrechtliche Verfolgung ist auch dann noch möglich, wenn nach § 45 J G G von der Verfolgung abgesehen wurde (BGHSt. 10 104). Die Gefahr einer Disziplinarverfolgung oder die einer Verwirkung von Grundrechten nach Artikel 18 G G reicht nicht aus ( E b S c h m i d t 3; M ü l l e r - S a x 1 d; a. A. von W e b e r JZ 1953 357); ebenfalls nicht die Gefahr, seine eigene Schande oder die eines Angehörigen zu offenbaren (vgl. dazu jetzt § 68 a), einen erheblichen Vermögensnachteil in Kauf zu nehmen oder im Gegensatz zu § 384 ZPO ein Kunst- oder Gewerbegeheimnis zu offenbaren (vgl. dazu § 172 GVG, R G GA 43 242; E b S c h m i d t 3; Anm. 1 d). Dagegen ist die Gefahr einer Abgeordnetenanklage ein Verweigerungsgrund (BGH NJW 1960 1960). Ferner liegt in einer bloßen Ordnungswidrigkeit im Sinne des OWiG bzw. WiStG die Gefahr einer strafgerichtlichen Verfolgung. Das ist bei den neuerdings erhöhten Bußen wohl nicht mehr ernsthaft bestreitbar ( M ü l l e r - S a x l d ; K l ; v o n W e b e r JZ 1953 297; a. A. E b S c h m i d t 3b). Dem Zeugen ist es aber nicht schlechthin erlassen, über eine von ihm selbst oder einem nahen Angehörigen begangene strafbare Handlung Auskunft zu geben; die Befreiung greift nur Platz, wenn und soweit wegen der strafbaren Handlung für den Zeugen oder den Angehörigen die Gefahr der Strafverfolgung besteht. Es genügt, wenn auch nur mittelbar der Verdacht einer strafbaren Handlung gegeben ist; ob eine solche Gefahr besteht, kann nur auf Grund der besonderen Umstände des einzelnen Falles beurteilt werden (RG G A 93 214; OLG Frankfurt NJW 1951 614; BGHSt. 9 35). Eine solche Gefahr droht nicht, wenn der Zeuge oder Angehörige bereits rechtskräftig verurteilt ist oder wenn es sich um eine Unterschlagung unter Eheleuten im Sinne des § 247 Abs. II StGB, handelt, ferner dann nicht, wenn der Zeuge nur über eine von einem Ver438

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§55 Anm. 3 , 4

storbenen begangene strafbare Handlung Auskunft geben muß, ferner wenn die Handlung von dem Zeugen oder einem Angehörigen vor Vollendung des 14. Lebensjahres begangen worden ist, oder wenn die Strafverfolgung unzweifelhaft bereits durch Verjährung oder auf Grund eines Straffreiheitsgesetzes ausgeschlossen ist ( B G H S t . 4 131; F u h r m a n n D a l c k e 4 ; E b S c h m i d t 5; M ü l l e r - S a x 3; a. A. E r b s III). Über Vereidigung vgl. jedoch § 60 Ziff. 3. Solange die strafrechtliche Natur der Tat nicht genau feststeht, z. B. schwerer oder einfacher Diebstahl, kann das Auskunftsverweigerungsrecht bestehen. Das gleiche gilt, wenn ein gegen den Zeugen oder den Angehörigen eingeleitetes Strafverfahren zu deren Gunsten rechtskräftig abgeschlossen ist, aber die Möglichkeit der Wiederaufnahme des Verfahrens gegeben ist. (Vgl. auch BGH M D R 1953 403 [ D a l l i n g e r ] ) . Auch bei einer Aussage des Zeugen darf die Beantwortung einzelner Fragen auch dann verweigert werden, wenn die Beantwortung einer Frage den Beschuldigten der Gefahr aussetzen würde, wegen einer anderen als der den Gegenstand des Verfahrens bildenden strafbaren Handlung verfolgt zu werden (RGSt. 4 0 46, 60 105; BGHSt. 7 107, A b l . G e e r d s , Festschrift für S t o c k (1960) 171. Die strafbare Handlung braucht nicht unmittelbar bekundet zu werden. Es genügt, wenn durch die Aussage auch nur der Verdacht einer strafbaren Handlung, hier des Angehörigen, hervorgerufen werden könnte. Ist ein Zeuge in einer früheren Hauptverhandlung unzulässigerweise vereidigt worden, und begründet er in einer neuen Hauptverhandlung die Verweigerung der Aussage damit, daß er sich bei wahrheitsgemäßer Aussage der Gefahr der Strafverfolgung wegen eines Eidesdeliktes aussetze, so kann die Aussageverweigerung begründet sein (BGH M D R 1953 402 [ D a l l i n g e r ] ) . b) §§ 52 und 55 können zusammentreffen. Ist der Beschuldigte Angehöriger des Zeugen, so steht diesem in erster Linie das Zeugnisverweigerungsrecht des § 52 zu. Er kann deshalb nach § 52 das Zeugnis generell verweigern. Macht er von dieser Befugnis keinen Gebrauch, so kann er während der Vernehmung seinen Verzicht auf dieses Verweigerungsrecht widerrufen oder nach § 55 die Auskunft verweigern ( M ü l l e r - S a x 1; E b S c h m i d t 6). Ein Beweisantrag kann nicht deswegen abgelehnt werden, das Beweismittel sei ungeeignet, weil der genannte Zeuge nach § 55 die Aussage verweigern könne, um sich nicht der Gefahr einer Strafverfolgung auszusetzen. Es ist allein Sache des Zeugen, sich zu erklären. 3. Kein Schutzrecht für den Angeklagten. Im Gegensatz zu §§ 52, 53, 53a spricht § 55 nicht von einem Zeugnisverweigerungsrecht, sondern von dem Recht zur Verweigerung der Aussage. Nach der Rechtsprechung des R G und B G H liegt in diesem Recht zur Auskunftsverweigerung nicht zugleich auch ein Schutzrecht für den Angeklagten. Das Zeugnisverweigerungsrecht der Verwandten nimmt zugleich Rücksicht auf Familienbande des Angeklagten und berührt daher dessen Belange unmittelbar. § 55 will dagegen nur den Zeugen Konflikte ersparen. Daher besteht kein rechtlich zu schützendes Interesse des Angeklagten an der Entschlußfreiheit des Zeugen (BGHSt. 1 40, 11 213 [gr. StS], NJW 1957 919, O L G CeUe N J W 1957 194, OLG Oldenburg NsRpfl. 1954 176, ferner die unter Anm. 7 zitierten Urteile, G a g e - S a r s t e d t S. 61; a.A. aber BayObLG 1953 116, Frankfurt NJW 1951 614, B u s c h JZ 1953 703, M ü l l e r - S a x , N ü s e J Z 1953 223, E b S c h m i d t Anm. 9 und J Z 1958 596, Anm. l ; G r o ß r a u M D R 1958 468), vgl. oben Anm. 7. 4. Belehrung. Im Gegensatz zu früher ist eine Belehrung ausdrücklich vorgeschrieben. Der Richter ist schon vor Beginn der Vernehmung zur Belehrung berechtigt. Eine Belehrungspflicht entsteht jedoch erst, wenn der Richter Grund zur Annahme hat, der Zeuge könne sich strafbar gemacht haben. Eine bloße theoretische Möglichkeit reicht nicht aus, die Belehrungspflicht zu begründen. Der Zeuge muß wirklich erkennbar beginnen, über Punkte zu sprechen, bei denen nach Auffassung des Richters die Gefahr einer Selbstbelastung bestehen könnte (so auch BGH 1 StR 808/52 v. 28. 11. 1954; Frankfurt N J W 1951 618). Falls die Voraussetzungen hierfür vorliegen (Anm. 1) ist der Zeuge auch dahingehend zu belehren, daß er berechtigt ist, die gesamte Aussage zu verweigern. Die Entscheidung über die Belehrungspflicht trifft der Vorsitzende und erst im Falle der Beanstandung das Gericht (§ 238; M ü l l e r - S a x 2c). Ihr Unterlassen begründet die Revision nicht (oben Anm. 3). Es wirkt aber im Falle einer Falschaussage mildernd.

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§ 5 5 Anm. 5—7 § 5 6 Anm. 1

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

Auf jeden Fall hängt aber die Belehrungspflicht von der nach dem Ermessen des Tatrichters festzustellenden Gefahr einer strafrechtlichen Verfolgung ab (BGHSt. 1 40). Eine solche Ermessensentscheidung ist, wenn nicht ein Ermessensmißbrauch festgestellt wird, für das Revisionsgericht ebenso bindend wie die tatrichterliche Feststellung über die Gefahr einer strafgerichtlichen Verurteilung. Im übrigen würde das Urteil unbeschadet der Rechtsprechung zu Anm. 3 auch dann nicht auf der Unterlassung der Belehrung beruhen, wenn der Zeuge sein Recht zur Verweigerung der Auskunft gekannt oder wenn er nachträglich erklärt, er würde auch im Falle seiner Belehrung von seiner Berechtigung keinen Gebrauch gemacht haben ( M ü l l e r - S a x 5). 5. Eidespflicht. Jeder Zeuge hat seine Aussage, falls er von seinem Zeugnisverweigerungsrecht keinen Gebrauch gemacht hat, zu beeidigen, sofern nicht § 60 Ziff. 3 Platz greift (RGSt. 77 203; BGHSt. 6 382). Anders ist es, wenn die Verweigerung der Auskunft auf die in Betracht kommende Frage der Verweigerung der ganzen Aussage gleichkommt, so daß eine zu beeidigende Aussage überhaupt nicht vorliegt. Daraus, daß der Zeuge von seinem Recht keinen Gebrauch macht, kann der Angeklagte kein Recht, insbesondere keine Revisionsrüge herleiten. (RGSt. 38 320; 69 269, 270). Das Gericht muß die Vorlegung einer Frage an den Zeugen nicht deshalb ablehnen, weil dieser sich durch die Beantwortung der Frage der Gefahr einer strafgerichtlichen Verfolgung aussetzen könnte (RGSt. 9 426). Der Zeuge muß selbst entscheiden, ob er aussagen will. 6. Folgen der Auskunftsverweigerung. a) Macht der Zeuge von seinem Auskunftsverweigerungsrecht Gebrauch, so darf er über die in Betracht kommenden Punkte nicht weiter befragt werden. Seine Aussage darf dann, soweit das Recht des § 5 5 Platz greift, nicht verwertet werden, ebensowenig auch frühere etwaige Aussagen. Dieses Verwertungsverbot besteht auch dann, wenn der Zeuge zu Unrecht nicht belehrt worden war. Doch dürfen danach, wenn man auch entgegen der Rechtsprechung des BGH (Anm. 3) ein Schutzrecht des Angeklagten anerkennt, Verhörspersonen über den Inhalt einer früheren Vernehmung befragt und dem Angeklagten auch Vorhalte aus der nicht verwertbaren Zeugenaussage gemacht werden (vgl. BGH M D R 1951 180; NJW 1957 919; BGHSt. 17 245; OLG Celle NJW 1957 194; a. A. M ü l l e r - S a x Anm. 4 b ; E b S c h m i d t Anm. 9) und alle zu Anm. 3 zitierten Gegenstimmen. 7. Revision. Nach dem zu Anm. 3 und 6 Ausgeführten begründet die Nichtbelehrung eines Zeugen ebensowenig wie die Falschbelehrung die Revision (vgl. neben den dort zitierten Urteilen noch RGSt. 38 320, 48 269, OGHSt. 2 99, BayOLGSt. § 85 S. 5 a. A. die bei 3 zitierten Gegenstimmen). Eine Falschbelehrung über ein nicht bestehendes Aussageverweigerungsrecht kann jedoch eine Verletzung des § 244 Abs. 2 enthalten (Oldenburg NJW 1961 1225, OLG Celle NJW 1962 2315; BGH VRS 69 23 BayObLG NJW 1967 1095; OLGSt. 55 S. 1).

§56 Die Tatsache, auf die der Zeuge die Verweigerung des Zeugnisses in den Fällen der §§ 52, 53 und 55 stützt, ist auf Verlangen glaubhaft zu machen. Es genügt die eidliche Versicherung des Zeugen. 1. Gegenstand der Glaubhaftmachung. Gegenstand der Glaubhaftmachung ist die Tatsache, auf die der Zeuge die Verweigerung des Zeugnisses nach §§ 52, 53, 55, nicht aber nach § 54 stützt. Ob in dieser Tatsache der im Gesetz bestimmte Verweigerungsgrund enthalten ist, hat der Richter zu beurteilen. Im Ermessen des Tatrichters liegt es, ob er der Behauptung des Zeugen glauben will, er werde durch die Beantwortung der Frage sich oder einen Angehörigen der Gefahr strafrechtlicher Verfolgung aussetzen. Nicht verlangt werden kann von dem Zeugen, daß die Tat, wegen der er verfolgt werden könnte, angegeben wird.

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§ 5 6 Anm. 2—4 § 5 7 Anm. 1,2

Eine solche Aussage würde ihn gerade der Gefahr aussetzen, vor der ihn das Gesetz schützen will. Der Richter muß deshalb in diesem Falle von dem Erfordern näherer tatsächlicher Angaben absehen und sich mit dem Schwur des Zeugen begnügen, daß er sich bei wahrheitsgemäßer Auskunft der Gefahr strafrechtlicher Verfolgung aussetzen würde M ü l l e r S a x Anm. 1 b; E b S c h m i d t Anm. 3; K l Anm. 2). 2. Ermessen des Gerichts. Das Verlangen des Gerichts, also das richterliche Ermessen, ist entscheidend. Der Richter darf auch ohne Glaubhaftmachung der Erklärung des Zeugen Glauben schenken, selbst wenn ihr widersprochen wird (RGSt. 54 39; OGHSt. 2 173; F u h r m a n n - D a l c k e Anm. 1; E b S c h m i d t Anm.4). 3. Nachweis des Zeugnisverweigerungsrechts. Der Nachweis des Zeugnisverweigerungsrechts erfolgt im Freibeweis. Mehr als die eidliche Versicherung kann nicht verlangt werden, auch keine eidesstattliche Versicherung ( F u h r m a n n - D a l c k e Anm. 3; M ü l l e r - S a x Anm. l a ; E b S c h m i d t Anm. 1). Doch kann die Glaubhaftmachung durch eine eidesstattliche Versicherung als ausreichend angesehen werden (RGSt. 28 10, 58 147). Die freie Beweiswürdigung bleibt aber bestehen. Ist die Unrichtigkeit des Grundes der Zeugnisverweigerung bereits durch Tatsachen erwiesen, so ist eine Glaubhaftmachung nicht möglich M ü l l e r - S a x Anm. l e ; A l s b e r g - N ü s e 203). Wird die Aussage nur teilweise verweigert und das Zeugnis selbst, soweit es abgelegt wird, von dem Zeugen beeidigt, so kann der Zeugeneid zugleich auf die Erklärung bezogen werden, welche den Weigerungsgrund des Zeugen betrifft ( E b S c h m i d t Anm. 1). Hierüber ist der Zeuge aber zu belehren, und die Tatsache der Belehrung ist in das Protokoll aufzunehmen. Im Falle des § 67 kann die Versicherung durch Berufung auf den geleisteten Eid abgegeben werden. Die in § 56 vorgesehene eidliche Versicherung des Zeugen kann in jedem Abschnitt des Verfahrens gefordert werden. §§ 65, 66 sind auf sie nicht anwendbar ( M ü l l e r - S a x Anm. l a ; E b S c h m i d t Anm. 5). § 60 Ziff. 3 ist hier aber nicht anwendbar, sonst würde eine Glaubhaftmachung, die § 56 ausdrücklich gestattet, praktisch unmöglich sein. Dagegen findet § 60 Ziff. 1 und 2 Anwendung ( M ü l l e r - S a x Anm. l a ; E b S c h m i d t Anm. 6). Die Glaubhaftmachung kann vom Vorsitzenden als Maßnahme der Sachleitung gefordert werden. Beanstandungen führen zu einem Gerichtsbeschluß nach § 238 Abs. 2 ( M ü l l e r S a x Anm. 2). Nur ein solcher kann einer Revision zugrunde gelegt werden. 4. Revision. a) Die Revision kann auf die Anerkennung des Zeugnisverweigerungsrechts, selbst wenn ein ausdrücklicher Gerichtsbeschluß (§ 238 Abs. 2) vorliegt, nur gestützt werden, wenn erkennbar ist, daß die Entscheidung auf Rechtsirrtum beruht (OGHSt. 2 173). b) Schenkt das Gericht der Erklärung des Zeugen ohne weiteres Glauben, so kann die Revision gegen das Urteil nicht auf die Behauptung gestützt werden, daß die Erklärung unwahr sei (M ü 11 e r - S a x Anm. 3, oben Anm. 2).

§57 Vor der Vernehmung sind die Zeugen zur Wahrheit zu ermahnen und darauf hinzuweisen, daß sie ihre Aussage zu beeidigen haben, wenn keine im Gesetz bestimmte oder zugelassene Ausnahme vorliegt. Hierbei sind sie über die Bedeutung des Eides und die strafrechtlichen Folgen einer unrichtigen oder unvollständigen Aussage zu belehren. 1. Allgemeines. Die Belehrung bezieht sich auch auf die Strafbarkeit der vorsätzlichen falschen uneidlichen Aussage (§ 153 StGB). 2. Belehrung. Der Vorsitzende hat den Zeugen zur Wahrheit zu ermahnen und auf die Eidespflicht, die Eidesbedeutung und auf die strafrechtlichen Folgen einer falschen eidlichen oder uneidlichen Zeugenaussage hinzuweisen, und zwar schon v o r der Vernehmung. Eine informatorische Anhörung ohne Belehrung ist unzulässig (RGSt. 66 113, 67 287, BGH 2

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§ 5 7 Anm. 3 , 4 § 5 8 Anm. 1

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

StR 80/53 vom 20. 11. 1953; M ü l l e r - S a x Anm. 1). Insbesondere hat sich der Hinweis auf die grundsätzliche Pflicht zur Vereidigung zu erstrecken, sowie darauf, daß auch die Angaben zur Person unter die Eidespflicht fallen (RGSt. 60 408; M ü l l e r - S a x Anm. 1 a). Die Gestaltung des Hinweises steht im Ermessen des Richters. Der Hinweis hat in wirkungsvoller, verständlicher Form zu erfolgen, besonders auch bei Jugendlichen (vgl. auch RiStV Ziff. 111; H ü l l e DRiZ 1953 80). Ein Gesamthinweis gegenüber allen zu vernehmenden Zeugen ist statthaft und zweckmäßig (RGSt. 54 297; E r b s Anm. I; E b S c h m i d t Anm. 5; R e i m e r s DRiZ 1953 141). Der Hinweis darf auch während der Vernehmung wiederholt und mit eindringlichen Vorhaltungen verbunden werden. Dabei ist die Bezugnahme auf die von anderen Zeugen bereits gemachten Angaben nicht ausgeschlossen (RGSt. 54 298, 56 67). Hierdurch wird der Grundsatz der Unmittelbarkeit der Verhandlung nicht verletzt (BGHSt. 3 199; NJW 1953 192; D a l c k e - F u h r m a n n Anm. 1; K l Anm. 1B; M ü l l e r - S a x Anm. 3). Einer Beeinflussung des Zeugen hat sich der Vorsitzende dabei zu enthalten. 3. Protokollvennerk. Für den Vermerk der Belehrung im Protokoll, der nach RiStV. Nr. 111 Abs. 2 verlangt wird, gilt die Beweisvermutung der §§ 273, 274 nicht (RGSt. 56 67, BGH 1 Str. 356/56 vom 9. 10. 1956. 4. Unterlassen der Belehrung. Es handelt sich um eine reine Ordnungsvorschrift, die nur im Interesse des Zeugen und nicht des Beschuldigten erlassen ist. Ihre Verletzung begründet deshalb die Revision nicht (RGSt. 6 267, 40 158, 56 66; BGH VRG 69 23 D A R 1958 99 [Martin]; ferner E r b s Anm. II; F u h r m a n n - D a l c k e Anm. 2; M ü l l e r - S a x Anm. 2; E b S c h m i d t Anm. 4).

§58 (1) Die Zeugen sind einzeln und in Abwesenheit der später abzuhörenden Zeugen zu vernehmen. (2) Eine Gegenüberstellung mit anderen Zeugen oder mit dem Beschuldigten im Vorverfahren ist zulässig, wenn es fiir das weitere Verfahren geboten erscheint. 1. Einzelvernehmung. Die in Abs. 1 vorgeschriebene Einzelvernehmung (vgl. RGSt. 52 191) ist vorgeschrieben, um die Unparteilichkeit der Zeugen zu gewährleisten M ü l l e r S a x Anm. 1; E b S c h m i d t Anm. 2). Sie gilt gleichmäßig für alle Verfahrensabschnitte, soweit nicht nach Abs. 2 eine Gegenüberstellung mit anderen Zeugen geboten erscheint. Jemanden als Zeugen zu vernehmen, der vorher Zuhörer war, ist statthaft (RGSt. 2 54, 54 298; OGHSt. 2 19). Ein Beweisantrag auf Zeugenvernehmung eines Zuhörers kann deshalb nicht mit dem Hinweis auf § 58 Abs. 1 als unzulässig abgelehnt werden (RGSt. 1 366; OGHSt. 2 19). Die schon vor der Hauptverhandlung benannten Zeugen haben bis zu ihrer Vernehmung den Sitzungssaal zu verlassen; sie unterstehen solange der Ordnungsgewalt des Gerichts und seines Vorsitzenden (BGHSt. 3 386). Ein Zuhörer kann ferner dann aus dem Zuhörerraum entfernt werden, wenn angekündigt wird, ihn als Zeugen zu hören. Dasselbe gilt, wenn gegen den betreffenden Zuhörer bereits ein staatsanwaltschaftliches Ermittlungsverfahren schwebt, da der Grundsatz der Wahrheitserforschung dem der Öffentlichkeit vorgeht (BGHSt. 3 386). Bis zu seiner Entlassung (§ 248) bleibt der vernommene Zeuge im Sitzungssaal, es sei denn, daß z. B. beabsichtigt wird, ihn noch einmal zu hören oder ihn anderen Zeugen gegenüberzustellen. Hier kann der Vorsitzende anordnen, ihn im Zeugenzimmer warten zu lassen, worauf der Angeklagte aber keinen Anspruch hat (RGSt. 48 211 BGH; bei D a l l i n g e r MDR 1955 396). Zu beachten ist ferner § 247. Die Verhandlungsleitung (§ 238) kann auch andere Maßnahmen erfordern, z. B. Reihenfolge der Vernehmungen, Vernehmung von Kindern und Jugendlichen, notfalls in Abwesenheit der Eltern, andererseits Vernehmungen von Kindern in Anwesenheit der Mutter; dies auch, wenn die Mutter selbst Zeugin ist (vgl. dazu RiStV Ziff. 116 sowie H e l l w i g , Psychologie und Vernehmungstaktik bei Tatbestandsermittlungen 1951). Über alle Maßnahmen entscheidet 442

Sechster Abschnitt. Zeugen (Kohlhaas)

§ 58 Anm. 2—4

das Ermessen des Vorsitzenden, notfalls des Gerichts (BGH MDR 1955 396 [Dallinger]). Die Fürsorgepflicht des Gerichts erfordert es aber, in bestimmten Fällen einen Zeugen zuerst zu hören (Vorbem. 4 vor § 48 und hier Anm. 2). 2. Geltungsbereich. a) § 58 gilt auch für den als Zeugen zu vernehmenden Beistand (RGSt. 59 353; BGH NJW 1956 520). Es kann sich die Rechtspflicht ergeben, den Beistand zu Beginn der Beweisaufnahme als Zeugen zu vernehmen (BGHSt. 4 205; M ü l l e r - S a x Anm. 2a; Kl Anm. 1A). b) Dasselbe gilt, wenn der Verteidiger als Zeuge gehört werden muß, es sei denn, daß der Verteidiger wegen seiner Zeugenrolle überhaupt als Verteidiger nicht mehr auftreten kann (vgl. hierzu Vorbemerkung 4e vor § 48). c) Verhörspersonen dürfen erst dann gehört werden, wenn der Zeuge selbst von seinem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch gemacht hat (RGSt. 59 353; BGH NJW 1952 456; M ü l l e r - S a x Anm. 2c). d) Sachverständige können in dem Gerichtssitzungssaal verbleiben, selbst wenn sie nachher als Zeugen vernommen werden müssen (§§ 72, 80 mit Anmerkungen sowie RGSt. 22 434, 52 161; M ü l l e r - S a x Anm. 1 a; E b S c h m i d t Anm. 4; Kl Anm. 1 c). Sachverständige Zeugen unterstehen den Bestimmungen für Zeugen. Daß der Sachverständige selbst wahrgenommene Tatsachen bekunden soll, macht ihn nicht zum Zeugen (vgl. Vorbem. vor § 72). e) Der Nebenkläger hat, auch wenn er als Zeuge gehört werden muß, nach § 397 Anspruch auf ununterbrochene Gegenwart während der Hauptverhandlung (BGH MDR 1952 532 bei D a l l i n g e r ; M ü l l e r - S a x Anm. la). Dies gilt auch, wenn mehrere Nebenkläger als Zeuge gehört werden sollen (BGH 3 StR 170/55 vom 31. 8. 1955). 0 Ein Recht auf Anwesenheit haben ferner der Erziehungsberechtigte bzw. die gesetzlichen Vertreter nach § 67 JGG, es sei denn, daß die Wahrheitsfindung in Mitleidenschaft gezogen wird (RGSt. 59 344; BGH NJW 1956 520). Notfalls sind sie als erste als Zeugen zu hören ( M ü l l e r - S a x Anm. la). Über die Berechtigung der Prozeßbeteiligten, bei der Vernehmung von Zeugen außerhalb der Hauptverhandlung anwesend zu sein vgl. §§ 169, 193, 222, 369 Abs. 3. 3. Gegenüberstellung. Abs. 2 stellt nun ausdrücklich fest, daß die Gegenüberstellung mit anderen Zeugen schon im Vorverfahren möglich ist, wenn es für das weitere Verfahren geboten erscheint. Eine Gegenüberstellung ist meist dann geboten, wenn man sich von ihr eine bessere Findung der Wahrheit verspricht. Sie braucht nicht das einzige oder am meisten naheliegende Wahrheitserforschungsmittel zu sein. Über das bei Gegenüberstellungen zu beachtende Verfahren enthält die StPO keine besonderen Bestimmungen. Sie würden überdies nur die Bedeutung von Ordnungsvorschriften haben. Der Richter hat daher nicht nur die Zeit der Gegenüberstellung zu bestimmen, sondern auch alle sonstigen in Betracht kommenden Maßregeln anzuordnen, also z. B. die Kleidung, die Haar- oder Barttracht zu bestimmen, in denen die beschuldigten oder verdächtigen Personen erscheinen sollen (RGSt. 48 201); ohne dabei an Anträge der StA oder des Beschuldigten gebunden zu sein Kl Anm. 2). Bei der Gegenüberstellung kann der Richter auch unmittelbare Fragen einer der beteiligten Personen an die andere gestatten (RG GA 50 274). An das Geschick des Vorsitzenden werden hohe Anforderungen gestellt (sehr ausführlich hierzu M ü l l e r - S a x Anm. 3; E b S c h m i d t Anm. 4 sowie Hellwig S. 292ff.; Lieb Kriminalistik 1951 19). Die Gegenüberstellung kann in der Hauptverhandlung nach dem Ermessen des Gerichts wiederholt werden. Der Angeklagte selbst hat auf Gegenüberstellung oder deren Wiederholung keinen unmittelbaren Anspruch (RGSt. 48 201, BGH 4 StR 162/55 vom 2. 6. 1955). 4. Revision. § 58 Abs. 1 enthält trotz des anscheinend entgegengesetzten Wortlauts nur eine Ordnungsvorschrift (RGSt. 54 297, BGH NJW 1962 260, OGHSt. 2 20 BayObLG 1951 49; M ü l l e r - S a x 4; E b S c h m i d t 2; Kl Anm. 1 A, D). Die Revision kann nur auf Ermessensmißbrauch oder Verletzung der Fürsorgepflicht (oben Anm. 2 a bis 0 gestützt 443

§ 5 8 Anm. 5 § 59 Anm. 1

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

werden; so wenn das Gericht zu Unrecht die Entfernung eines Zeugen bei Vernehmung eines anderen Zeugen für unzulässig hielt und der Verdacht bestand, daß der andere Zeuge bei Abwesenheit des ersten Zeugen eine andere Aussage gemacht hätte (Verstoß gegen die Wahrheitserforschung; BGH MDR 1955 396, [ D a l i i n g e r ] ) . Dasselbe gilt, wenn durch Zulassung von Film- und Tonbandaufnahmen gegen § 176 Abs. 2 GVG verstoßen wird und zwar unabhängig davon, ob der Zeuge sich „gesteigert" befangen fühlt. So noch Vorauflage. Auch die Versagung der Gegenüberstellung ( § 5 8 Abs. 2) rechtfertigt die Revision nur, wenn gleichzeitig ein Verstoß gegen § 244 Abs. 2 in Frage kommt (RGSt. 40 189, 48 210; BGHSt. 2 305; E b S c h m i d t Anm. 8; M ü l l e r - S a x Anm. 4). 5. Anderer Rechtsbereich. Auswärtige Vernehmungen, z. B. in der D D R können in der Hauptverhandlung von einem Gericht der Bundesrepublik auch dann verlesen werden, wenn die dortigen Vorschriften abweichen (RGSt. 40 189; BGHSt. 2 303).

§59 Die Zeugen sind einzeln und nach ihrer Vernehmung zu vereidigen. Die Vereidigung erfolgt, soweit nichts anderes bestimmt ist, in der Hauptverhandlung. 1. Grundsatz: Pflicht zur Beeidigung. § 59 schreibt die grundsätzliche Beeidigung des Zeugen vor. Das gilt auch, wenn nicht ein Ausnahmefall (§§ 60 ff.) vorliegt, für den als Zeugen vernommenen Nebenkläger (BGH M D R 1952 639). §§ 60 bis 63 enthalten die Ausnahmen von diesem Grundsatz. Eine Sonderregelung trifft ferner das JGG. Dort ist nach § 49 die Beeidigung nur dann statthaft, wenn das Gericht sie wegen der ausschlaggebenden Bedeutung der Aussage oder zur Erreichung einer wahrheitsgemäßen Aussage für geboten hält. Diese Bestimmung gilt aber nur für Verfahren vor dem Jugendrichter, und nur für Verfahren gegen Jugendliche, nicht aber gegen Heranwachsende. Sie gilt auch nur für den Jugendrichter und nicht etwa vor anderen Jugendgerichten (BGH JZ 1955 711; M ü l l e r S a x Anm. lb). Abgesehen von den vorerwähnten Ausnahmen ist deshalb jeder Zeuge zu beeiden (BGH NJW 1951 411). Die Ausnahmegründe sind erschöpfend. Das Interesse des Zeugen am Verfahrensausgang stellt deshalb keinen Grund für die Nichtvereidigung dar, ebensowenig der Umstand, daß er die Strafanzeige erstattet oder Strafantrag gestellt hatte. Schwierigkeiten der Vereidigung (Schwerhörigkeit des Zeugen), Gedächtnisschwäche (RGSt. 20 60), Trunkenheit des Zeugen (RGSt. 34 283, 53 137) schließen die Beeidigungspflicht nicht aus. In dem zuletztgenannten Falle würde die Beeidigung notfalls auszusetzen sein. Die Entmündigung des Zeugen als solche ist ebenfalls kein Grund für die Nichtbeeidigung, auch wenn sie wegen Geisteskrankheit oder wegen Geistesschwäche ausgesprochen worden ist (RGSt. 33 393, 58 396, R G GA 50 398). Dasselbe gilt, wenn der Zeuge wegen geistiger Gebrechen unter Pflegschaft gestellt ist (RG Recht 1930 Nr. 2355) oder ein Nervenleiden hat; jedoch muß nach § 60 Ziff. 1 geprüft werden, ob der Zeuge vom Wesen und der Bedeutung des Eides (mangelnde Verstandesreife oder Verstandesschwäche) auch eine genügende Vorstellung hat und ob etwa aus diesem Grunde von der Beeidigung abzusehen ist. Den gesetzlichen Gründen steht die tatsächliche Unmöglichkeit gleich, z. B. wenn ein Zeuge nach Abgabe seines Zeugnisses vor der Beeidigung stirbt (RGSt. 25 134). Die Beeidigungspflicht hat ihren Grund darin, daß kein gesetzliches Mittel, die Wahrheit ans Licht zu bringen, ungenutzt gelassen werden soll (RGSt. 2 109, 8 407; BGHSt. 8 301; M ü l l e r - S a x Anm. la). Die Beeidigung darf auch nicht dort unterbleiben, wo es für die Entscheidung des Richters nicht weiter darauf ankommt, ob der Zeuge seine Aussage beschwört oder nicht. Daher darf von der Beeidigung auch nicht deshalb abgesehen werden, weil der Aussage Glauben zu schenken sei (RGSt. 66 113), noch darf sie deshalb unterbleiben, weil die Aussage auch unter Eid als wertlos angesehen werde, es sei denn, daß § § 6 0 Ziff. 3 und 61 Ziff. 3 Platz greift. Auch dann, wenn der Zeuge in einem anderen Strafverfahren bereits eine bestimmte Aussage beschworen hat, darf die Beeidigung im neuen Verfahren nicht unterbleiben (RGSt. 68 310, E b S c h m i d t Anm. 6; K l Anm. 1).

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Sechster Abschnitt. Zeugen (Kohlhaas)

§59 Anm. 2

Die StPO macht keinen Unterschied zwischen Vernehmungen zum Zwecke bloßer Informationen und solchen, die zum Zwecke des Beweises stattfinden (RGSt. 66 113, vgl. auch § 57 Anm. 2). Auch Anhörungen von Personen, bei denen man erst feststellen will, ob sie etwas wissen, sind entgegen RGSt. 22 54 und BayObLG NJW 1953 1524 grundsätzlich mit Belehrung und Eideszwang verbunden. Geholfen werden kann bei völliger Bedeutungslosigkeit ohnehin über § 61 Ziff. 3. Derartige informatorische Vernehmungen aber grundsätzlich zu privilegieren, birgt Gefahren der Umgehung der Eidesgrundsätze in sich. Spontane Äußerungen, die ein Zeuge noch vor Eintritt in die Vernehmung zu den Personalund Generalfragen ungefragt getan hat, fallen bei übereinstimmendem Verzicht auf Vernehmung des Zeugen noch nicht unter den Eideszwang (RGSt. 2 262), vgl. aber unten c). Abzustellen ist darauf, ob es sich ausschließlich um verfahrenserhebliche oder um sachlich-erhebliche Tatsachen handelt. Eine nur verfahrenserhebliche Tatsache liegt dann vor, wenn nur die Identität der erschienenen und der geladenen Personen und ihre Eidesfahigkeit festgestellt werden soll. Bis hierin ist die verhörte Person reine Auskunftsperson, denn es handelt sich nicht um Bekundungen, die sich auf den Sachverhalt selbst beziehen, sondern lediglich um vorbereitende Fragen an den Zeugen, die aber noch keine Bekundungen zur Sache selbst enthalten. Fließen jedoch Bekundungen zur Sache selbst mit ein, so unterliegt die Aussage bereits dem Beeidigungszwang (RGSt. 66 113, 67 288; BGH 2 StR 80/53 v. 20. 11. 1953 sowie M ü l l e r - S a x 5 a; Kl 1 A). Gelegentliche Auskünfte, die ein Zeuge ohne Verbindung mit seiner Aussage abgibt, bedürfen indessen der Beeidigung nicht. Deshalb braucht der Zeuge, der danach gefragt wird, ob ihm etwas über den Aufenthalt eines anderen Zeugen bekannt sei, auf diese Aussage nicht beeidigt zu werden. Das gilt auch, wenn bei einer Augenscheinseinnahme durch das erkennende Gericht ortsansässige und ortskundige Zeugen Fragen über die Örtlichkeit beantworten, die mit dem Gegenstand der Vernehmung selbst nicht im Zusammenhang stehen ( M ü l l e r - S a x Anm. 4a). Die eidliche Vernehmung kann auch nicht durch Verzicht ausgeschlossen werden. Sie ist zwingend vom Gesetz aus der Erwägung heraus vorgeschrieben, daß gerade die förmliche Vernehmung unter Eid das wahre Wissen des Zeugen zum Vorschein bringen soll; sie ist daher unabhängig von den Anträgen der Prozeßparteien (RGSt. 37 195, 56 82, 57 263, 66 113; E b S c h m i d t A. 5; Kl A. 1). Sie wird auch nicht dadurch entbehrlich, daß nach der Vernehmung alle Beteiligten auf den Zeugen verzichten. Denn die bereits erfolgte Vernehmung kann nicht mehr ungeschehen gemacht werden. Ein Verzicht in diesem Falle ist nur dem Namen, nicht aber der Sache nach von dem Verzicht auf die Eidesleistung verschieden. 2. Umfang der Beeidigung, Teilbeeidigung. Solche Angaben eines Zeugen, die sich nur auf die Zulässigkeit oder Klarstellung eines etwaigen Zeugnisverweigerungsrechts oder auf ein Beeidigungsverbot beziehen, werden als reine Vorfragen vom Beeidigungszwang nicht erfaßt (RGSt. 2 55). Im übrigen hat der Zeuge aber seine ganzen Angaben, also auch die zur Person und zu den Generalfragen, zu beeidigen (RGSt. 6 267, 60 708, E b S c h m i d t Anm. 8; Kl Anm. 1A). Eine teilweise Beeidigung ist nur dann möglich, wenn die Zeugenaussage sich auf einzelne von mehreren selbständigen strafbaren Handlungen erstreckt. Die Begrenzung der Zeugenaussage nach rein zeitlichen Gesichtspunkten bis zu einem bestimmten Zeitpunkt innerhalb eines in sich geschlossenen Tatkomplexes im Sinne des Tatbegriffs nach § 264 ist daher nicht möglich (RG G A 5 4 8 1 ; B G H M D R 1 9 5 3 2 1 ; [ D a l l i n g e r ] ) . Wenn der Zeuge in einem Fall verletzt ist, zugleich aber auch zu anderen Fällen, bei denen er nicht als Verletzter anzusehen ist, vernommen wird, so können von der Beeidigung die Fälle ausgenommen werden, bei denen er Verletzter ist (§61 Nr. 2; RG HRR 1937 359, BGH NJW 1954 1055, F u h r m a n n - D a l c k e Anm. 5). Nicht möglich ist es auch hier, die Beeidigung auf einzelne Bekundungen zu derselben Tat zu beschränken (BGH MDR 1953 21 [ D a l l i n g e r l NJW 1954 141; M ü l l e r - S a x Anm. 4b). Ist der Zeuge Angehöriger eines Beschuldigten, steht er aber zu anderen Beschuldigten nicht in einem Angehörigkeitsverhältnis, so ist Teilbeeidigung unter der Voraussetzung einer sachlichen 445

§59 Anm. 3—5

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

Teilbarkeit der Aussage insoweit zulässig, als sie sich auf solche Beschuldigte erstreckt, deren Angehöriger er nicht ist (BGH M D R 1 9 5 3 2 1 [ D a l l i n g e r ] , M ü l l e r - S a x Anm. 4 b). 3. Einzelbeeidigungen und Form des Eides. Nach § 59 sind die Zeugen einzeln nach ihrer Vernehmung, wenn nichts anderes bestimmt ist, in der Hauptverhandlung zu beeidigen. Der Nacheid ist zwingend vorgeschrieben; er erfolgt nach wirklichem Abschluß der Vernehmung (BGHSt. 8 310) und umfaßt keine später erfolgten Bekundungen (BayObLG. 1956 245), falls nicht § 67 Platz greift. Die Entscheidung über die Beeidigung gehört nicht mehr zur Vernehmung, bei erneuter Befragung vor der Beeidigung muß daher erneut über die Eidesleistung Beschluß gefaßt werden (BayObLG GA 1958 113; M ü l l e r - S a x Anm. 5 c; K l Anm. 2). In der Regel wird es bei der Vernehmung mehrerer Zeugen in der Hauptverhandlung so gehandhabt, daß erst am Schluß der Beweisaufnahme insgesamt über die Beeidigung entschieden und die Beeidigung dann durchgeführt wird. Dadurch erhöht sich die Gewähr dafür, daß keine Umstände übersehen werden, die für die Entscheidung über die Beeidigung von Bedeutung sind (BGHSt. 1 348; M ü l l e r - S a x Anm. 5c). Wie die Beeidigung zu erfolgen hat, bestimmen §§ 66c, d und e. Der Richter muß jedem einzelnen Zeugen die Eidesformel genau vorsprechen, worauf der Zeuge dann die im Gesetz ausgeführten Worte als Antwort zu gebrauchen hat. Der gesamte Vorgang der Beeidigung hat deshalb für jeden einzelnen Zeugen in Einzelbeeidigung zu erfolgen. Das schließt aber nicht aus, daß der Richter die Formel vor mehreren Zeugen vorspricht, sofern jeder von ihnen sie einzeln nachspricht (BGH M D R 1954 336; H ü l l e DRiZ 1954 118, E r b s Anm. II, M ü l l e r - S a x Anm. 5, E b S c h m i d t Anm. 2; K l Anm. 1). Bei der kommissarischen Vernehmung fällt die Beeidigung zwar nicht in die Hauptverhandlung, sie ist aber eine Art vorweggenommener Hauptverhandlung, deshalb greift hier § 59 Platz. 4. Zuständigkeit und Begründung der Entscheidung. Die Entscheidung trifft zunächst der Vorsitzende, erst bei Beanstandung des Gerichts (vgl. hierzu Vorbem. vor § § 6 0 bis 63). Die Entscheidung über die Vereidigung muß stets, so auch bei Vereidigung eines vom ersuchten Richter vernommenen Zeugen, in der Hauptverhandlung erfolgen (OLG Stuttgart M D R 1955 55). Maßgebend ist der Zeitpunkt der Urteilsfindung. Bei Veränderung der Situation während der Beratung muß notfalls neu eröffnet werden. Ergibt sich, daß ein Zeuge, von dem angenommen wurde, er sei teilnahmeverdächtig und der deshalb unbeeidigt blieb, tatsächlich nicht mehr verdächtig ist, so muß die Beeidigung nachgeholt werden. Auf einer Unterlassung kann das Urteil beruhen, wenn die Verteidigung infolge des Teilnahmeverdachtes annehmen durfte, daß insoweit eine Verurteilung ausscheiden werde und möglicherweise sonst die Verteidigung anders eingerichtet hätte. (BGHSt. 8 55 = N J W 1957 593 [Bender]. Ist der Zeuge zu Unrecht beeidigt worden, so muß das Gericht den Beteiligten eröffnen, daß es die Aussage als unbeeidet werten werde (BGHSt. 4 130). Für den Fall der Beeidigung ist eine Begründung nicht erforderlich, da nur die Ausnahme von der Regel einer Rechtfertigung bedarf (RGSt. 56 248; O L G Stuttgart M D R 1955 55; OGHSt. 2 98; BayObLGSt. 1953 151; S a r s t e d t J R 1954 113). Die Beeidigung muß auch nicht in den Urteilsgründen gerechtfertigt werden. Allerdings darf der Sachverhalt, der im Urteil festgestellt wird, nicht ergeben, daß der Zeuge doch nicht hätte beeidigt werden dürfen (BGH J W 1952 1146; OGHSt. 2 153; BayObLG M D R 1954 122; zust. M i t t e l b a c h ) . Ebenso ist ein Urteil, in welchem eine uneidliche Aussage als eidlich bezeichnet wird, widerspruchsvoll (OLG Hamm N J W 1955 1451). Keiner Begründung bedarf ein Beschluß nach § 238 Abs. 2, durch den entgegen einem Antrag auf Nichtbeeidigung die Beeidigung angeordnet wird (RGSt. 56 378, M ü l l e r - S a x Anm. 3; K l Anm. 1). 5. Protokollvermerk. Die Beeidigung ist im Protokoll zu vermerken, da es sich um eine wesentliche Förmlichkeit nach § 273 handelt. Fehlt der Protokollvermerk, so steht nach § 274 fest, daß keine Beeidigung erfolgt ist. Auf diesem Urteilsmangel kann das Urteil beruhen (OGH N J W 1949 796; L G Freiburg D R Z 1947 382). Ist das Protokoll aber in sich unklar (etwa Bezugnahme auf vorher geleisteten Eid), so ist Feststellung der Beeidigung im Freibeweis möglich.

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Sechster Abschnitt. Zeugen (Kohlhaas)

§ 5 9 Anm. 6 V o r §§ 6 0 - 6 3 Anm. 1

6. Verstoß gegen die Bestimmungen und Revision. a) Ist die Eidesnorm nicht einzeln, sondern allen Zeugen gleichzeitig vorgesprochen, hat aber der Zeuge die Schwurformel nachgesprochen, so kann darauf die Revision nicht gestützt werden, wenn sowohl das Gericht als auch die Zeugen die Aussage als eidlich angesehen und sie auch als solche gewertet haben (RGSt. 64 350, BGH 4 StR 579/53 v. 29.4. 1954,4 StR 866/53 v. 8. 4. 1954; M ü l l e r - S a x Anm. 7f.). b) Voreid statt Nacheid verletzt § 59. Er ist nicht die vorgeschriebene Beeidigung, steht also der Nichtbeeidigung mit ihren Folgen gleich (RGSt. 64 380, BGHSt. 1 271, 314 vgl. auch E r b s Anm. I; M ü l l e r - S a x Anm. 5c, Anm. 7e; E b S c h m i d t Anm. 3). c) Ist eine Entscheidung über die Beeidigung versehentlich, ob verschuldet oder unverschuldet (RGSt. 20 163), unterblieben und dadurch § 59 verletzt, so ist die Frage, ob das Urteil auf der Nichtbeeidigung beruhen kann, nach Lage des Falls zu beantworten und z. B. dann zu bejahen, wenn die Aussage eines wichtigen Zeugen nur teilweise für richtig gehalten worden ist (BGHSt. 1 270, 274 NJW 1955 1765; OLG Köln NJW 1954 1820 OLG Hamburg MDR 1955 311 M ü l l e r - S a x Anm. 7a). d) Ist die Nichtbeeidigung aus einem anderen Grunde als dem angegebenen gedeckt, so ist keine Revision möglich. e) Eine Verletzung des § 59 kann grundsätzlich nur dann gerügt werden, wenn gegen die prozeßleitende Verfügung des Vorsitzenden, zu beeidigen oder nicht zu beeidigen, die Entscheidung des Gerichts angerufen worden ist (RGSt. 71 21, BGHSt. 3 369, BayObLG 1949 79; OLG H a m b u r g NJW 1953 434). Hat dagegen der Vorsitzende keine Verfügung getroffen, so bestand auch kein Grund das Gericht anzurufen (OLG Köln NJW 1954 1820); die Rüge ist also zulässig. Eine Ausnahme gilt nur da, wo die Entlassung eines unbeeidigt gebliebenen Zeugen im allseitigen Verständnis erfolgt ist und der Angeklagte einen geschulten Verteidiger hatte (OLG B r a u n s c h w e i g NsRpfl. 1957 249). Hat ein Prozeßbeteüigter die Verfügung des Vorsitzenden beanstandet und ist dennoch kein Beschluß des Gerichts ergangen, so ist die Revision begründet (OLG Hamburg NJW 1953 434; vgl. noch Vorbem. 3 vor § 60). f) Ist zu Unrecht beeidigt worden, obwohl nach §§ 60 ff. nicht beeidigt werden durfte, so kann auch der Umstand, daß alle Prozeßbeteiligten der Beeidigung zugestimmt oder sie sogar beantragt haben, an der Unzulässigkeit nichts ändern. Die Verletzung des Gesetzes begründet die Aufhebung des Urteils, falls nicht etwa das Gericht vor dessen Fällung die unstatthafte Beeidigung erkennt und demzufolge die Aussage nur als unbeeidigt würdigt (RGSt. 6 155, 56 94; BGH NJW 1952 1146). Das gilt nur, wenn das Gericht den Umstand der gesetzwidrigen Beeidigung den Beteiligten vor Urteilsfällung bekanntgibt. Geschieht das nicht, wird vielmehr die Aussage ohne neue Verhandlung als uneidliche gewertet, so besteht doch die Möglichkeit, daß wegen der Beeidigung der Aussage die Prozeßbeteiligten eine andere Würdigung erwarten. Darauf kann das Urteil beruhen (RGSt. 72 219; BGHSt. 4 132; M ü l l e r - S a x Anm. 7b). g) Hat ein Zeuge im Widerspruch zu § 59 einen Teil seiner Aussage nicht beeidigt und steht nicht fest, welcher Teil im Urteil verwendet worden ist, so ist die Aufhebung des Urteils geboten (BGHSt. 4 140). Vorbemerkungen zu §§ 60 — 63 1. Grundsätzlich sind die Zeugen in der Hauptverhandlung zu vereidigen. Ausnahmen vom Beeidigungszwang enthalten vor allem die §§ 60 — 63. Diese Ausnahmen verdanken ihre Entstehung der Erkenntnis, daß es Fälle gibt, in denen eine unglaubwürdige Aussage auch durch einen Eid nicht glaubwürdig wird. Wo die Aussicht besteht, durch den Eid der Wahrheit näher zu kommen, ist der Eideszwang rücksichtslos anzuwenden. Das Interesse des Staates an der Erforschung der Wahrheit geht — abgesehen von den Fällen des § 62 — dem Interesse an der Schonung der Zeugen vor. Das ergibt sich aus dem Zusammenhang 447

V o r § § 6 0 — 6 3 Anm. 2 §60

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

der Bestimmungen der StPO; wie alle Ausnahmeregelungen sind deshalb diese Ausnahmevorschriften eng auszulegen. Bei bloßen Zweifeln (z. B. an der Eidesfähigkeit) ist deshalb zu beeidigen (RGSt. 47 297; K l § 60 Anm. 1 A). 2. § 61 spricht von „Ermessen" bzw. von „Entscheidung des Gerichts". Danach ist auch die Entscheidung über das Absehen von der Beeidigung zunächst nur eine Prozeßleitungsmaßnahme, die dem Vorsitzenden zusteht. Ein förmlicher Gerichtsbeschluß ist erst dann notwendig, wenn die Entschließung des Vorsitzenden beanstandet wird, insbesondere, wenn ein Antrag auf Vereidigung gestellt wird oder wenn sich Zweifel ergeben, ob die Voraussetzungen über die Abstandnahme von der Vereidigung vorliegen. Alle Beteiligten, insbesondere alle übrigen Gerichtsmitglieder können ja jederzeit in der Hauptverhandlung einen förmlichen Gerichtsbeschluß beantragen und durchsetzen. (RGSt. 44 65, 68 394; BGHSt. 1 216, 7 81; OGHSt. 1 208; OLG Hamm JMB1. N R W 1949 201; OLG Oldenburg NdsRpfl. 1949 128; E r b s § 59 Anm. III; M ü l l e r - S a x § 59 Anm. 2 a u. b, §61 Anm. 2 a ; Kl § 6 1 Anm. 1 A; a. A. Kassel HESt. 3 11; Kiel MDR 1947 271; LG Freiburg DRZ 1947 382; N i e t h a m m e r JZ 1951 662; E b S c h m i d t § 60 Anm. 4). Der Hinweis auf das allzuhäufige Absehen von der Beeidigung nach § 61 Ziff. 3 und der Zweifel, ob wirklich eine einhellige Auffassung des Vorsitzenden mit den übrigen Mitgliedern des Gerichts besteht, zwingt nicht, wie E b S c h m i d t § 60 Anm. 4 meint, zu einer anderen Auffassung. Die Entscheidung des Vorsitzenden ist im Ergebnis nur eine vorläufige. Wird eine solche Entscheidung des Gerichts allerdings nicht herbeigeführt, aber nur eine solche nach § 61, nicht eine nach § 60! (Vereidigungsverbot im Gegensatz zur Ermessensentscheidung), wird also die Entschließung des Vorsitzenden nicht beanstandet (§ 238 Abs. 2), so beruht das Urteil nicht auf der — möglicherweise falschen — Entscheidung des Vorsitzenden, sondern darauf, daß diese Entscheidung nicht beanstandet worden ist. Damit ist insoweit die Revisionsrüge verwirkt (RGSt. 71 21; BGHSt. 1 216, 3 369; BGH 1 StR 745/53 v. 23.4. 1954). Das gilt aber nicht, wenn eine solche sachleitende Verfügung des Vorsitzenden überhaupt nicht ergangen ist, d. h., wenn sie etwa versehentlich oder in Verkennung der gesetzlichen Bestimmungen unterblieben ist (OLG Köln NJW 1954 1820; vgl. auch RGHSt. 1 272 sowie OLG Braunschweig NdsRpfl. 1957 249; vgl. ferner § 59 Anm. 7). Wird die Entschließung des Vorsitzenden, von der Beeidigung abzusehen, beanstandet, sieht aber das Gericht unzulässigerweise davon ab, darüber zu beschließen, so ist mit der Revision das Unterlassen des Beschlusses zu rügen (§ 60 Ziff. 3, 64, 238), denn nur darauf und nicht auf dem Absehen von der Beeidigung kann das Urteil beruhen (OLG Hamburg NJW 1953 434). Ist zu Unrecht vereidigt worden, so reicht die Mitteilung in den Entscheidungsgründen, die Aussage werde nur als uneidlich gewertet, nicht aus, vielmehr muß der Vorsitzende dies den Beteiligten in der Hauptverhandlung bekanntgeben, damit sie notfalls in der Lage sind, weitere Beweisanträge zu stellen (BGHSt. 4 130). Ist ein Gerichtsbeschluß ergangen, so ist der Vorsitzende daran auch dann gebunden, falls neue Umstände eintreten. Er muß dann einen neuen Gerichtsbeschluß herbeiführen (OLG Oldenburg NdsRpfl. 53 176; E b S c h m i d t § 61 Anm. 5; K l § 62 Anm. 1).

§60 Von der Vereidigung ist abzusehen: 1. bei Personen, die zur Zeit der Vernehmung das sechzehnte Lebensjahr noch nicht vollendet haben oder die wegen mangelnder Verstandsreife oder wegen Verstandesschwäche vom Wesen und der Bedeutung des Eides keine genügende Vorstellung haben; 2. bei Personen, die der Tat, welche den Gegenstand der Untersuchung bildet, oder der Beteiligung an ihr oder der Begünstigung oder Hehlerei verdächtig oder deswegen bereits verurteilt sind. 448

Sechster Abschnitt. Zeugen (Kohlhaas)

§60 Anm. 1, 2

Übersicht Die einzelnen Fälle der Nichtvereidigung nach § 60 f) Persönliche Strafausschließungs- oder 1. Personen unter 16 Jahren bzw. ungenügende Strafaufhebungsgründe Vorstellungen vom Wesen des Eides g) Verfahrenshindernisse Begründung h) Einzelfälle 3. Begünstiger 2. Tat- und teilnahmeverdächtige Personen 4. Hehler a) Begriff der Tat 5. Verdächtig oder bereits verurteilt b) Begriff der Beteiligung 6. Begründung zu Anm. 2—5 c) Mitwirkung 7. Protokollierung der Begründung d) Strafbare Beteiligung e) Rechtfertigungsgründe 8. Rechtsmittel

Die einzelnen Fälle der Nichtvereidigung nach § 60. 1. Personen unter 16 Jahren bzw. ungenügende Vorstellungen vom Wesen des Eides. Personen unter 16 Jahren sind nicht eidmündig und dürfen nicht vereidigt werden. Entscheidend ist das Alter des Zeugen zur Zeit seiner Vernehmung, nicht etwa sein Alter zur Zeit der Wahrnehmung, auf die sich sein Zeugnis bezieht. Die Altersberechnung erfolgt nach § 187 Abs. 2 BGB. Der Beginn des 17. Geburtstages genügt (RGSt. 22 29; 35 37, E r b s Anm. II; F u h r m a n n - D a l c k e Anm. 2; M ü l l e r - S a x Anm. 3; E b S c h m i d t Anm. 10; K l Anm. 2a). Die Verlesung der Aussage eines nach § 60 Ziff. 1 uneidlich vernommenen, inzwischen aber eidesmündig gewordenen Zeugen in der Hauptverhandlung ist unzulässig (RG DRZ 1929 Nr. 1122). Die ungenügende Vorstellung des Zeugen vom Wesen und von der Bedeutung des Eides schließt die Beeidigung nur aus, wenn sie auf mangelnder Verstandesreife oder auf Verstandesschwäche beruht (RGSt. 53 137; F u h r m a n n - D a l c k e Anm. 3; E b S c h m i d t Anm. 11; K1 Anm. 2 A). Das Gericht muß zum Ausdruck bringen, welchen dieser beiden Fälle es feststellt (RGSt. 47 297; OLG Frankfurt NJW 1952 1388). Die allgemeine Angabe, der Zeuge habe insoweit keine genügende Vorstellung, reicht nicht aus (RGSt. 53 137); ebensowenig eine mangelhafte Vorstellung von der Eidesbedeutung, die auf Unwissenheit oder auf Aberglauben beruht. Eine individuelle Prüfung ist erforderlich und muß erkennbar sein. Geistesschwäche, die die Vorstellung des Zeugen vom Wesen des Eides nicht beeinflußt, reicht nicht aus (RGSt. 58 396, 60 68); auch nicht Entmündigung als solche (RGSt. 20 60, 33 395; JW 1932 112). Doch muß hier geprüft werden, ob der Zeuge eine genügende Vorstellung von der Bedeutung und dem Wesen des Eides hat (BGH 1 StR 485/56 v. 29. 1. 1957). Ein ursprünglich als Mittäter angeklagter, aber wegen erheblichen Schwachsinns freigesprochener Zeuge darf nicht ohne ausdrückliche Feststellung seiner ungenügenden Vorstellung von Wesen und Bedeutung des Eides unvereidigt bleiben (OLG Hamm G A 69 316). Wegen der Fälle, daß ein Zeuge betrunken ist usw. vgl. auch § 59 Anm. 1. Die Prüfung und Entscheidung über die Eidesfähigkeit ist in erster Linie Sache des Vernehmenden, also auch z. B. des ersuchten Richters, auf dessen Feststellung sich das erkennende Gericht im Falle des § 251 stützen kann (RGSt. 26 97). Zweifel an der Eidesfahigkeit genügen nicht (RGSt. 47 297). Über die Eidesfähigkeit von Personen aus fremden Rechts- und Kulturkreisen vgl. u. a. RGSt. 26 98 und G A 59 145. Das Gericht muß nicht nur zum Ausdruck bringen, ob es mangelnde Verstandsreife oder Verstandesschwäche annimmt (wie oben) sondern zudem, ob die Nichtbeeidigung auf fehlendem Alter oder auf mangelnder Verstandesreife oder Verstandesschwäche beruht. Bei dem Altersmangel genügt die Angabe des Gesetzeswortlauts (BayObLG NJW 1950 316). Das nehmen, aber mit der oben genannten Rechtsprechung nicht vereinbar, auch für die Gesamtbegründung aus § 6 0 Ziff. 1 M ü l l e r - S a x Anm. 3; E b S c h m i d t Anm. 7 und F u h r m a n n - D a l c k e Anm. 3 an. 2. Tat- und teilnahmeverdächtige Personen. Sie dürfen nicht vereidigt werden. Das Gesetz hat den Begriff der Teilnahme durch Begünstigung und Hehlerei erweitert. Die Tat und die Teilnahme müssen sich auf den Gegenstand der die Untersuchung bildenden Tat

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erstrecken. Die Vorschrift ist nicht zugunsten des Zeugen getroffen, um ihn vor einem Meineid zu bewahren, sondern aus der Erwägung heraus, daß durch die Beeidigung eines verdächtigen Zeugen im Sinne des § 60 Ziff. 3 nicht die Glaubwürdigkeit seiner Aussage erhöht werden kann oder soll (RGSt. 60 45). Nach BGH St. 1 360 beruht die Vorschrift „auf der Erwägung, daß ein an der Straftat beteiligter Zeuge nicht diejenige Unbefangenheit gegenüber dem Angeklagten besitzt, wie sie die Voraussetzung eines einwandfreien Zeugnisses bildet" ( M ü l l e r - S a x Anm. 5; zweifelnd K G VRS 56 218). Der maßgebende Zeitpunkt ist die Urteilsfindung (RGSt. 64 377, BGHSt. 10 358). a) Begriff der Tat. Der Begriff der Tat ist nicht materiell rechtlich, sondern rein prozessual zu sehen. Darunter ist der gesamte geschichtliche Vorgang zu sehen, in dem die strafbare Handlung erblickt wird, und zwar so, wie sich dieser Vorgang nach dem Ergebnis der Hauptverhandlung und nicht nur nach dem Eröffnungsbeschluß darstellt (RGSt. 53 267, 54 322; BGHSt. 4 255, 10 365; BGH NJW 1951 324, 1953 1402). Unerheblich ist, ob Tateinheit oder Tatmehrheit vorliegt (vgl. RGSt. 50 163; BGHSt. 4 368). Eine Beeidigung muß aber dann erfolgen, wenn der Zeuge lediglich der Teilnahme an einer früheren selbständigen, verjährten Tat des Beschuldigten verdächtig ist, die augenblicklich nicht zur Aburteilung steht, die aber in dem gegenwärtigen Verfahren als Beweiszeichen für die neue Tat angezogen wird (RG HRR 39 730). Auch der als Alleintäter verdächtige Zeuge darf nicht beeidigt werden. b) Begriff der Beteiligung. Auf die Teilnahmeformen der §§ 47ff. StGB ist der Begriff der Teilnahme im Sinne des § 60 Ziff. 3 nicht beschränkt (RGSt. 64 377, 74 185; BGHSt. 4 368; BGH NJW 1951 324; E r b s Anm. II; F u h r m a n n - D a l c k e Anm. 6; M ü l l e r S a x Anm. 5 a II; E b S c h m i d t Anm. 23; K l Anm. 2 Cb). Als Beteiligter ist jeder anzusehen, der in objektiv vorwerfbarer Weise bei dem zur Aburteilung stehenden Vorfall in derselben Richtung mitgewirkt hat, wie der Angeklagte (RGSt. 64 298, 378; 74 185, 77 204; OGHSt. 2 98; BGHSt. 1 361, 4 368, 6 382; BGH NJW 1957 431 ; zweifelnd E b S c h m i d t Anm. 16), so auch bei Mitwirkung an einer Fortsetzungstat — wenn auch bei anderen Teilakten - (OLG Köln NJW 1954 1820, BGH 5 StR 360/66 v. 23. 9. 1966). Nicht also das selbst unbeteiligte Opfer einer Vorsatztat (BGH 1 StR 131/54 v. 5. 5. 1954) im Gegensatz zum Zeugen, der selbst in vorwerfbarer Weise mitgewirkt hat, mag er auch selbst wegen Fehlens einer Verfahrensvoraussetzung nicht verfolgt werden können (BGH 4 StR 109/54 v. 14. 4. 1954); vgl. unten c - f . Schon ein entfernter Verdacht genügt (RGJW 1937 2706). Hinreichender oder dringender Verdacht ist nicht erforderlich. Gleichartigkeit des von dem Beschuldigten und von dem Zeugen begangenen Delikts ist nicht erforderlich. So ist der Teilnehmer einer früheren strafbaren Handlung auch in dem Meineidsverfahren gegen einen Zeugen beteiligt, auch wenn diese Eidesleistung vom jetzigen Zeugen unbeeinflußt gewesen war (BGHSt. 6 382; BayObLG NJW 1961 615). Besteht ein derartig enger Zusammenhang nicht, kann dennoch § 55 in Betracht kommen (BGHSt. 4 255). Bei einem fortgesetzten Delikt gilt auch derjenige als Teilnehmer, der nur zu einer von mehreren Tatarten Beihilfe geleistet hat. Eine Unterlassung ist nur dann vorwerfbar, wenn eine Rechtspflicht zum Handeln bestand (BGH NJW 1951 324, 1953 1402; M ü l l e r - S a x Anm. 5 a II; E b S c h m i d t Anm. 24). Es ist unzulässig, den bestehenden Verdacht durch die eidliche Aussage des Zeugen als beseitigt anzusehen (BGHSt. 4 370; OLG Hamm M D R 53 55). Der Teilnahmeverdacht kann selbst dann angenommen werden, wenn der Zeuge in einem anderen Verfahren rechtskräftig freigesprochen ist; ein Teilnahmeverdacht kann aber umgekehrt auch dann verneint werden, wenn gegen den Zeugen ein Strafverfahren wegen Beteiligung an der Tat des Angeklagten schwebt (RGSt. 16 209; BGH 3 StR 60/54 v. 6. 5. 1954). c) Mitwirkung bei dem zur Anklage gebrachten Sachverhalt muß das Tun des Zeugen enthalten. Es gnügt nicht, daß der Zeuge Mitwisser ist. Wohl aber, wenn er das Vorhaben einer in § 138 StGB normierten Straftat nicht angezeigt hat (BGH 1 StR 358/66 v. 6. 12. 1966). Desgleichen bei unterlassener Hilfeleistung gem. § 330c StGB in Richtung der nicht verhinderten Tat (BGH 1 StR 397/74 v. 10.11.1964). Es genügt nicht, daß zwischen dem Verhalten des Zeugen und der zur Untersuchung stehenden Straftat ein tatsächlicher Zusam-

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menhang besteht, für welchen die Beweistatsachen zur Feststellung beider von Erheblichkeit sind (RGSt. 29 32; R G JW 1928 2142, 1930 927) oder daß der Täter eine gleichartige Straftat begangen hat, wie der Angeklagte, ohne an der Straftat des Angeklagten mitzuwirken (vgl. RGSt. 59 166). Ferner genügt nicht, daß der Zeuge bei Gelegenheit oder aus Anlaß dieser Straftat seinerseits eine strafbare Handlung begangen hat, die sich sachlich als selbständig darstellt, z. B. Kuppelei (RGSt. 6 286; JW 1937 2386; BGHSt. 9 72; BGH 4 Str. 91/56 v. 26. 4. 1956), es sei denn, daß der Verdacht der Anstiftung oder der Beihilfe besteht (vgl. RGSt. 25 369; R G JW 1916 1347). Wer an einer Straftat teilgenommen hat, ist nicht Teilnehmer an einer anderen Straftat, die darin besteht, daß ein Dritter seine Kenntnis von der Straftat nutzt, um Erpressungen zu verüben (RG JW 1937 2386; BGHSt. 9 72). Wenn das vorsätzliche Delikt gegen den Zeugen selbst gerichtet war, greift § 60 Ziff. 3 nicht Platz (RG in ständ. Rspr. vgl. RGSt. 50 163; BayObLG GA 74 164). Deshalb kann derjenige beeidigt werden, gegen den der Erpressungsversuch begangen ist, selbst wenn sich diese Erpressung auf einen vom Zeugen ausgeführten Diebstahl bezieht (RGSt. 12 193); ebenso der beleidigte. Zeuge, der die Beleidigung auf der Stelle erwidert hat (RGSt. 17 121, 27 267). Ferner der durch Geschlechtsverkehr nach § 5 GeschlKrG Gefährdete, auch wenn er gleichzeitig in Richtung auf den Täter sich desselben Vergehens schuldig macht; der Verletzte in einem Verfahren wegen Körperverletzung, der bei demselben Vorgang seinerseits den Beschuldigten mißhandelt hat (RGSt. 17 121; JW 1922 1031; a. M. RGSt. 7 331), doch kann der Verletzte bei § 175 StGB doch Teilnehmer sein (BGHSt. 1 275). Dasselbe gilt für eine Schlägerei im Sinne des § 227 StGB (RG GA 55 330). Es wird nicht erfordert, daß ein bewußtes und gewolltes Zusammenwirken des Beschuldigten und des Zeugen stattgefunden hat, daher kann auch bei Fahrlässigkeitsvergehen von einer Teilnahme im Sinne des § 60 Ziff. 3 die Rede sein (RGSt. 64 377; R G DStR 1938 328; BGHSt. 10 66; BGH VRS 10 141). Dies gilt jedoch nicht, wenn das fahrlässige Verhalten des Zeugen erst infolge eines in eine andere Richtung gehenden nicht voraussehbaren Verhaltens des Angeklagten zu einer Straftat führt (BGH 1 StR 367/68 v. 11. 10. 1968). Das Erfordernis, daß die Tat des Zeugen sich in derselben Richtung bewegt haben müsse, wie das dem Angeklagten zur Last gelegte oder nachgewiesene Verhalten, hat bei Fahrlässigkeitsdelikten, bei denen eine bestimmte Zielrichtung des Willens nicht in Frage kommt, aber nur die Bedeutung, daß jede der mehr oder weniger mitwirkenden Personen durch ihre Fahrlässigkeit zur Herbeiführung des Erfolges beigetragen haben muß. Dabei ist es unerheblich, ob die Mitwirkung bei jedem einzelnen der Mitwirkenden anders gestaltet war (RGSt. 64 374, 379; BGH VRS 10 142 NJW 1952 1103; BGH 1 StR 29/54 v. 15. 6. 1954; BGHSt. 10 66; M ü l l e r - S a x Anm. 5b). Beide Beteiligten müssen aber zu dem tatbestandsmäßigen Erfolge beigetragen haben können. Eine Ausdehnung auf die Fälle, in denen kein solcher Erfolg in Frage steht, ist deshalb unstatthaft (so auch OLG Dresden DJZ 1929 512; JR 1930 Nr. 82; OLG Braunschweig HRR 1939 Nr. 1206. Der Zeuge braucht auch nicht notwendig Mitschuldiger zu sein. § 60 ist auch dann anwendbar, wenn nach Lage der Sache nur einer von beiden die Tat begangen haben kann (RG in ständ. Rechtspr. vgl. RGSt. 15 163; JW 1930 927; BayObLG 1953 18), evtl. greift hier aber § 61 Ziff. 2 Platz; M ü l l e r - S a x Anm. 5b). d) Strafbare Beteiligung. Die Beteiligung des Zeugen an der Tat muß mit Strafe bedroht, also schuldhaft sein (RGSt. 44 174; BGHSt. 9 73). Bloße dienststrafrechtliche Folgen genügen nicht (BGH 1 StR 87/53 v. 8. 5. 1953). e) Rechtfertigungsgründe. Bei Vorliegen von Rechtfertigungsgründen und Schuldausschließungsgründen entfällt die Strafbarkeit, z.B. Notwehr (RGSt. 31 220), Geisteskrankheit im Sinne des § 51 StGB, Strafunmündigkeit, berechtigter Erfüllung von Amtspflichten, straflose Selbstbegünstigung (RGSt. 57 219, E b S c h m i d t Anm. 17, 18). 0 Persönliche Strafausschließungs- oder Strafaufhebungsgründe lassen dagegen die Beteiligung an sich strafbar, z. B. bei § 46 Rücktritt vom Versuch (RGSt. 56 115), bei § 53 Abs. 3, bei § 247 Abs. 2 StGB (RGSt. 22 99; E b S c h m i d t Anm. 20).

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g) Verfahrenshindernisse. Auch Verfahrenshindernisse als solche schließen die Anwendung des § 60 Ziff. 3 nicht aus. Es muß nicht zu einer Bestrafung des Zeugen kommen (BGHSt. 4 131; M ü l l e r - S a x Anm. 5a, III; E b S c h m i d t Anm. 22). Bei den Verfahrenshindemissen kann es sich handeln um: Fehlen des Strafantrags (RGSt. 64 377), jugendliches Alter, Aufenthalt des Zeugen im Auslande (RGSt. 64 378), Niederschlagung eines Verfahrens im Gnadenwege oder auf Grund eines Straffreiheitsgesetzes (RG JW 1937 3024; RGSt. 55 133; BGHSt. 4 131; 4 StR 635/52 v. 23.4. 1953), Verjährung (RGSt. 22 100; BGH NJW 52 1146; VRS 14 88). h) Einzelfälle zum Begriff der Mitwirkung. Die Beteiligung ist bejaht worden: Beim Angestifteten im Verfahren gegen den Anstifter (RGSt. 70 390). Ebenso beim vergeblich Verleiteten in den Fällen der §§ 49a, 159 (RG H R R 1933 Nr. 1388). Beim Verletzten und Verführten im Verfahren wegen § 175 a a. F. (BGHSt. 1 271) bei Sittlichkeitsdelikten für die nichtbestraften selbst unzüchtig handelnden Beteiligten (BGH 4 StR 109/54 v. 1.7. 1954). Im Falle der Abtreibung im Verfahren gegen den Abtreibenden bei der schwangeren Frau (RGSt. 55 223, 57 167; BGHSt. 4 131). Beim Dieb in dem Verfahren gegen den Hehler (RGSt. 17 119, 42 248; BGHSt. 1 3 6 0 = MDR 51 361 (zustimmend D a l i i n g e r ) desgleichen beim Begünstiger des strafunmündigen Diebes im Verfahren gegen den Hehler (OLG Hamm NJW 1969 2297), ferner beim Hehler, der von einem anderen Hehler erworben hat (RGSt. 42 248). Beim Brandstifter bei Anklage gegen den Versicherungsbetrüger (RGSt. 44 254). Bei Blutschande an der Tochter (RG H R R 1939 599; JW 1936 1980). Beim Begünstigten im Verfahren gegen den Begünstiger, ebenfalls bei Mittätern und Gehilfen (BGHSt. 4 255; BGH M D R 1953 692, OLG Hamm NJW 54 1659). Bei demjenigen, der die an die Gewährung von Vorteilen geknüpfte Aufforderung des Angeklagten, der wegen Verleitung zum Meineid angeklagt ist, angenommen hat (RGSt. 56 149), oder der bereit war, einen Eid, der ihm angesonnen war, zu leisten. Bei dem Zeugen, der einer Nichtanzeige (§ 138 StGB) in einem Mordverfahren verdächtigt ist (RGSt. 53 169, einschränkend RGSt. 57 203; BGH LM Nr. 2 zu § 68a StPO; BGHSt. 6 364). Beim aktiv Bestechenden im Verfahren gegen den Bestochenen nach § 331 StGB (RGSt. 64 296; BGH 2 StR 495/52 v. 11. 8. 1953, 3 StR 608/51 v. 25. 6. 1953). Beim begünstigten Gläubiger im Verfahren wegen Gläubigerbegünstigung nur, wenn er über die bloße notwendige Teünahme hinaus anstiftend oder helfend tätig geworden ist (RGSt. 61 314, BGH 4 StR 356/53 v. 3. 7. 1953). Bei übler Nachrede auch bei denjenigen, von denen der Angeklagte die Behauptung übernommen hat (BayObLG NJW 1958 231; a.A. OLG Hamm NJW 1957 1411). Bei Strafverfahren wegen falscher Aussage auch für Teilnehmer an einer früheren Straftat, über welche die Falschaussage gemacht worden ist (BGHSt. 53 169; BGHSt. 6 382 a.A. RGSt. 77 203). Bei Fahrlässigkeitsvergehen, insbesondere bei Verkehrsübertretungen, in denen der durch § 1 StVO mißbilligte Erfolg der Schädigung eines anderen eingetreten ist. Bei Beteiligung an einem Verkehrsunfall bezüglich aller Kraftfahrer, die eine Bedingung für den Unfall in strafbarer Weise gesetzt haben bzw. durch vorwerfbares Verhalten den Ablauf des Geschehens beeinflußt haben können. Dies gilt selbst für Übertretungen (BGHSt. 10 65) und nach dem zu § 5 5 Anm. 2 a Ausgeführten angesichts der neuerdings hohen Bußdrohungen auch für Ordnungswidrigkeiten aller Art. Anders wenn der Tatrichter feststellt, daß er völlig verkehrsgerecht gefahren ist (BGH DAR 1958 99). 3. Begünstiger. Vorausgesetzt wird eine bereits vor der Vernehmung begangene Begünstigungshandlung des Zeugen. Der Zeuge darf daher nicht deshalb unbeeidigt bleiben, weil der Verdacht vorliegt, daß er, um den Beschuldigten zu begünstigen, bei seiner gegenwärtigen Vernehmung etwas Unwahres aussagen werde oder ausgesagt habe (RGSt. 69 263; BGHSt. 1 360; 3 213; 4 107; MDR 1951 564 [ D a l l i n g e r ] ; F u h r m a n n - D a l c k e Anm. 7; M ü l l e r - S a x Anm. 5; E b S c h m i d t Anm. 13; N i e t h a m m e r JR 1955 13). In einer unwahren Aussage, die der Zeuge zu einem früheren Zeitpunkt abgegeben hat, kann dagegen

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eine Begünstigung im Sinne des § 6 0 Ziff. 3 liegen (vgl. RGSt. 28 211; BGHSt. 1 360; BayObLG N J W 1957 1772). Das Gesetz will die Zwangslage berücksichtigen, in die sich der Zeuge durch die falsche Bekundung gebracht hat, mag die Begünstigung im Ermittlungsverfahren oder in der Voruntersuchung oder sonstwo begangen sein (RGSt. 69 264). Eine Begünstigung liegt aber nicht vor, wenn die Handlung nicht geeignet war, die Lager des Täters zu verbessern (BGHSt. 4 221), z. B. bei rechtsunwirksamer Rücknahme des Strafantrags. Der Versuch der Begünstigung reicht, da nicht mit Strafe bedroht, als Grund für die Nichtbeeidigung nicht aus ( R G J R 1932 Nr. 1902). Selbstbegünstigung eines Zeugen ist nach § 257 straflos. Sie rechtfertigt die Anwendung des § 60 Ziff. 3 nicht (RGSt. 63 233; BGHSt. 9 71). So, wenn der Zeuge ausschließlich in persönlichem Interesse handelt, mag er dabei auch noch eine andere Person mitbegünstigen, ohne daran zu denken (BGH 1 StR 285/54 v. 1.12. 1954). Umgekehrt schließt der Umstand, daß der Zeuge auch noch persönliche Zwecke verfolgt, die Begünstigungsabsicht nicht aus (BGHSt. 4 107). Der Zeuge ist auch nicht Begünstiger, wenn er Mittäter bei der Vortat war und sowohl sich selbst als auch seine Mittäter der Bestrafung entziehen will (RGSt. 57 417, 63 375; BGHSt. 9 71). Straflosigkeit der Begünstigung durch einen Angehörigen schafft dagegen einen persönlichen Strafausschließungsgrund (vgl. RGSt. 28 111; BayObLG N J W 1950 316); deshalb greift insoweit § 60 Ziff. 3 Platz; ( E r b s Anm. II). Der Zeuge muß durch die Begünstigung aber in derselben Richtung an der Tat mitgewirkt haben. Das ist nicht der Fall, wenn er eine Vorstellung von der Vortat hatte, die von der Wirklichkeit in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht völlig abweicht (BGHSt. 4 368; F u h r m a n n - D a l c k e Anm. 7). Die bloße Zusage vor einer Vernehmung, in einer bestimmten Richtung auszusagen, ist noch keine Begünstigung (BGH 4 StR 350/57 v. 1 4 . 1 1 . 1 9 5 7 ; H e i m b e r g e r J W 1939 2731, a. A. BGH 5 StR 184/53 v. 18. 6. 1963. 4. Hehler. Hehler und Teilnehmer sind auf die gleiche Ebene gestellt. Daraus folgt, daß, wenn umgekehrt in der Untersuchung gegen den Hehler der bereits verurteilte Dieb als Zeuge vernommen wird, die Beeidigung unstatthaft ist. Es fehlt jeder innere Grund dafür, zwischen diesem und dem umgekehrten Fall einen Unterschied zu machen (RGSt. 58 373). Dasselbe gilt von der Untersuchung gegen einen zweiten Hehler und gegen den Begünstiger. Der Zeuge, der, ohne Teilnehmer, Hehler oder Begünstiger zu sein, an den den Teilnehmern der Straftat erwachsenden Vorteilen Anteil gehabt hat, darf nicht unbeeidigt bleiben. 5. Verdächtig oder bereits verurteilt. a) Ob der Verdacht der Teilnahme oder Begünstigung besteht, hat der Richter nach seinem pflichtgemäßen Ermessen zu entscheiden. Das Revisionsgericht kann nur nachprüfen, ob diese Entscheidung von Rechtsirrtum beeinflußt ist (BayObLG HESt. 3 13). Dabei ist auf den Zeitpunkt der Urteilsfindung abzustellen (RGSt. 54 377, BGH 1 StR 634/54 v. 4. 10. 1955; BGH M D R 1951 538; M ü l l e r - S a x Anm. 5d). Eine Ausnahme besteht nur dann, wenn der Gegenstand der Untersuchung sich zwischen Vernehmung und Urteilsfindung ändert. Maßgebend ist dann die Verfahrenslage zur Zeit der Vernehmung (BGHSt. 10 365). Der Verdacht kann bejaht werden, auch wenn das Verfahren gegen den Zeugen eingestellt (BGH M D R 1955 754) oder der Zeuge freigesprochen worden ist (RGSt. 56 150; OLGSt. 60 S. 1; BGH 2 StR 327/54 v. 7. 12. 1954). b) Um die Nichtbeeidigung zu rechtfertigen, muß vom Gericht ausdrücklich festgestellt werden, daß der Zeuge der Teilnahme usw. verdächtig sei. Auf das Maß des Verdachtes kommt es nicht an. Auch ein entfernter Verdacht reicht aus (BGHSt. 4 255 N J W 1952 1103). Daß der Zeuge an der Sache „interessiert" sei oder vielleicht oder möglicherweise bei der Tat beteiligt sei vermag aber die Nichtvereidigung nicht zu begründen (RGSt. 59 167; BGH N J W 152 273 a.A. ohne nähere Auseinandersetzung 5 StR 171/57 v. 9. 7. 1957). Es bedarf regelmäßig keiner näheren Angabe über die konkrete Beschaffenheit der Beteiligung des Zeugen (RGSt. 4 324). Auch ist der Ausspruch statthaft, daß der Zeuge der einen oder anderen Beteiligungsform verdächtig sei, vorausgesetzt allerdings, daß eine solche

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§60 Anm. 6

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

Annahme nach keiner der verschiedenen Richtungen hin rechtsirrtümlich ist. Die Nichtbeeidigung darf auch aufrechterhalten werden, wenn der Angeklagte nur wegen fahrlässigen Falscheids verurteilt wird, der Zeuge aber verdächtig ist, sich in Beziehung auf den falschen Eid strafbar gemacht zu haben. Einer Angabe der Verdachtsgründe bedarf es in der Regel nicht. Doch ist ein Mangel solcher Gründe dann erheblich, wenn sich aus der Sachlage eine dringende Vermutung dafür ergibt, daß rechtsirrtümlich der Begriff der Teilnahme verkannt sein kann (RGSt. 28 111; 44 385). Wenn das Gericht im Laufe der Verhandlung zu der Überzeugung kommt, daß kein Verdacht der Teilnahme mehr besteht, so muß die Beeidigung nachgeholt werden ( R G JW 1922 1031). Mit den Urteilsgründen darf der Gerichtsbeschluß über die Nichtbeeidigung nicht im Widerspruch stehen. Der Verdacht der Teilnahme wird nicht dadurch ausgeräumt, daß der Zeuge die Beteiligung unter Eid in Abrede stellt (BGHSt. 4 270; B G H D A R 1958 99). Wer der Teilnahme beschuldigt gewesen, aber außer Verfolgung gesetzt oder freigesprochen ist, kann als Zeuge vernommen werden. Die Beeidigung hängt davon ab, ob er noch als verdächtig i. S. des § 60 Ziff. 3 anzusehen ist (vgl. RGSt. 56 150). Wegen der Frage des Vorliegens eines persönlichen Strafausschließungs- oder Strafaufhebungsgrundes oder Fehlens einer Verfahrensvoraussetzung vgl. Anm. 3 f und g. Der Umstand, daß gegen einen Zeugen wegen der zur Anklage gestellten Tat die Voruntersuchung schwebt, schließt die Beeidigung nicht aus, wenn das Gericht feststellt, daß dessen ungeachtet kein Verdacht gegen den Zeugen vorliegt (RGSt. 16 209). Ist der Zeuge verurteilt, so kommt es auf die Rechtskraft nicht an. Der Verurteilte ist mindestens verdächtig. Die Verurteilung als solche verliert jedoch ihre Wirkung, sobald sie in höherer Instanz oder im Wege der Wiederaufnahme des Verfahrens aufgehoben wird. Begnadigung oder Niederschlagung ändert nichts an der Unzulässigkeit der Beeidigung (RGSt. 50 158, 55 233). Ist ein Zusammenhang zwischen der Tat des bereits verurteilten Zeugen und der Tat des Angeklagten weder aus dem früheren Urteil noch sonst ersichtlich, so muß bei der Nichtbeeidigung klar ausgesprochen werden, daß ein solcher Zusammenhang angenommen wird (BGHSt. 4 255; N J W 1952 1103). 6. Begründung zu Anm. 2—5. Bloßer Hinweis auf § 60 Ziff. 3 reicht im Regelfall nicht aus. Vielmehr muß erkenntlich sein, welcher Art das Verhältnis des Zeugen zur Tat ist. Doch genügt es, zu erklären, es bestehe Verdacht der Teilnahme (RGSt. 24 130; 47 187; BGH N J W 1952 273; M ü l l e r - S a x Anm. 5; 2 C; E b S c h m i d t Anm. 7). Nicht erforderlich ist eine Begründung, wenn der Grund für alle Beteiligten offenkundig ist (BGH 4 StR 145/52 v. 18. 6. 1953). Es bedarf keiner näheren Angabe der Teilnahmeform (BGH D A R 1956 190). Es genügt die Feststellung, daß die Teilnahme insoweit rechtlich möglich ist. D a auf Fahrlässigkeitsdelikte die §§ 47ff. StGB keine Anwendung finden, bedarf es hier einer näheren, die Teilnahmeform erkennbar machenden Begründung (BGH N J W 1952 273; BayObLG N J W 1951 316). Wenn es aber nach den Umständen dem Revisionsgericht ohne besondere Begründung möglich ist, zu prüfen, ob der Rechtsbegriff der Ziff. 3 verletzt worden ist, und wenn es auch dem Angeklagten und Verteidiger erkennbar war, für die der Verdacht der Beteiligung bestand, so genügt ausnahmsweise der Hinweis auf die Gesetzesstelle (BGH 3 StR 81/53 v. 7. 3. 53; BGHSt. 1 360; B G H VRS 11 49). Der Begründungszwang hat auch den Zweck, den Angeklagten und den Verteidiger darüber ins Bild zu setzen, aus welchem Grund der Zeuge unbeeidigt bleiben soll (BGH 5 StR 242/13 v. 8. 10. 1953). Er soll ihnen Gelegenheit geben, den Hinderungsgrund auszuräumen. Deshalb kann das Urteil auf dem Fehlen der Begründung dann nicht beruhen, wenn die Verteidigung selbst die Nichtvereidigung beantragt hat (BGH 3 StR 34/50 v. 16. 1. 1951; 3 StR 81/53 v. 7. 3. 1953). Der Tatrichter hat auf Grund des Ergebnisses der Hauptverhandlung nach freiem Ermessen zu beurteilen, ob die Voraussetzungen des § 60 Ziff. 3 vorliegen. Verneint das Gericht einen derartigen Verdacht und ordnet es durch Beschluß die Vereidigung an, so ist eine Begründung des Beschlusses nicht vorgeschrieben (OGHSt. 2 98). Das Revisionsgericht hat nur zu prüfen, ob Revisionsverstöße unterlaufen sind, z. B. hinsichtlich „Beteiligung und Verdacht" (BGHSt. 4 255, 368, 369). Unerheblich ist, ob die Verteidigung der Vereidigung widersprochen, oder ob sie die Entscheidung in das Ermessen des Gerichts gestellt hat. § 60 Ziff. 3 ist von Amts wegen zu berücksichtigen (RGSt. 56 94; B G H 1 StR 654/54 v. 4. 10. 1955). 454

Sechster Abschnitt. Zeugen (Kohlhaas)

§ 6 0 Anm. 7, 8 §61

7. Protokollierung der Begründung. Die Tatsache der Beeidigung oder Nichtbeeidigung ist nur durch das Protokoll § 274 beweisbar. Der Mangel eines Vermerks nach § 64 wird nicht dadurch gedeckt, daß in den Urteilsgründen die Aussage als eidlich bezeichnet ist. Zweckmäßig wird bei jedem Zeugen das Erforderliche hinsichtlich der Beeidigung vermerkt. Vgl. aber § 59 Anm. 6. 8. Rechtsmittel. a) Ermessensentscheidungen des Tatrichters sind vom Revisionsgericht nur insoweit zu überprüfen, wenn in Frage steht, ob ein Rechtsfehler unterlaufen ist (RGSt. 57 44, 187, 59 168, 77 332; OGHSt. 3 155; BGHSt. 9 72; BGH NJW 52 173; VRS 1958 112; M ü l l e r - S a x Anm. 6 a; E b S c h m i d t Anm. 7; K l Anm. 2 C). Ein Rechtsfehler kann aber auch darin liegen, daß der Tatrichter die Frage des Vereidigungsverbots überhaupt nicht gesehen oder sich ihrer nicht bewußt geworden ist (BGHSt. 4 368; O G H NJW 1949 116; OLG Freiburg DRZ 1947 382; BGH NJW 1952 273; 1103; M ü l l e r - S a x Anm. 6 a ; E b S c h m i d t Anm. 6, 7). Kennt der Richter Umstände nicht, die ihn veranlaßt haben könnten, von einer Vereidigung abzusehen, so darf dies mit der Revision gerügt werden, weil möglicherweise das Ermessen fehlerhaft beeinflußt wurde (BGH NJW 1969 61). b) Verstöße gegen den Begründungszwang sind in der Revision nur dann beachtlich, wenn infolge Rechtsfehler das Urteil auf der falschen Begründung beruhen kann (BGHSt. 4 255; M ü l l e r - S a x Anm. 6b). Stellt sich bei der Urteilsberatung heraus, daß die Voraussetzungen des § 60 nicht mehr vorliegen, so muß die Beeidigung nachgeholt werden. Das Nichtnachholen begründet die Revision, wenn darauf das Urteil beruht (BGHSt. 8 155; M ü l l e r - S a x Anm. 6c). c) Ist umgekehrt zunächst ein Zeuge vereidigt worden, ergibt sich aber, daß er unbeeidigt hätte bleiben müssen, so darf die Aussage dieses Zeugen nur als uneidlich gewürdigt werden. Dabei ist es einerlei, ob das Gericht ausführt, es hätte auch ohne Beeidigung dem Zeugen Glauben geschenkt (RGSt. 6 155, 28 111, 56 94; E r b s Anm. II; E b S c h m i d t Anm. 9; zweifelnd OLG Düsseldorf SJZ 1950 59; ablehnend N i e t h a m m e r ) . Der Vorsitzende muß den Umstand der zu Unrecht erfolgten Beeidigung den Beteiligten bekannt geben, damit sie Gelegenheit haben, weitere Beweisanträge zu stellen. Die Unterlassung dieser Belehrung kann die Revision begründen (BGH 4 StR 635/52 v. 23.4.1953, 5 StR 242/53; v. 8. 10. 1953; BGH NJW 1952 1146, 1954 1656; E r b s Anm. II; F u h r m a n n - D a l c k e Anm. 8; E b S c h m i d t Anm. 9; K l Anm. 1 B). d) War die Beeidigung unzulässig, ist die Aussage aber trotzdem in den Entscheidungsgründen als beeidigt gewertet, so liegt darin eine fehlerhafte Entscheidung des Gerichts und nicht des Vorsitzenden. § 238 Abs. 2 scheidet daher aus (BGH 5 StR 449/57 v. 8. 10. 1957; OLG Braunschweig NJW 1957 517; OLG Köln NJW 1957 1573; M ü l l e r S a x Anm. 6e); nachträgliche Berichtigung als angebliches Fassungsversehen ist unstatthaft (OLG Hamm NJW 1955 1451). e) Die Nichtvereidigung kann aber auch aus anderen, nicht aufgezeichneten Gründen berechtigt sein (RGSt. 53 215), so vor allem bei Verletzung der Fürsorgepflicht, wenn das Gericht den Parteien nicht mitteilt, daß es eine beeidigte Aussage als unbeeidigt würdigen werde, damit sie noch hierzu Stellung nehmen können (BGHSt. 4 132). §61 Von der Vereidigung kann nach dem Ermessen des Gerichts abgesehen werden: 1. bei Personen, die zur Zeit der Vernehmung das sechzehnte, aber noch nicht das achtzehnte Lebensjahr vollendet haben; 2. beim Verletzten sowie bei Personen, die im Sinne des § 52 Abs. 1 Angehörige des Verletzten oder des Beschuldigten sind; 3. wenn das Gericht der Aussage keine wesentliche Bedeutung beimißt und nach seiner Überzeugung auch unter Eid keine wesentliche Aussage zu erwarten ist; 4. bei Personen, die wegen Meineids verurteilt sind. 455

§61 Anm. 1

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

1. Allgemeines. Eine Ermessensentscheidung ist es, nach der in den Fällen des § 61 von der Beeidigung abgesehen werden kann. Neben einer Voreingenommenheit, die zum Beispiel beim Verletzten vorliegen kann oder einer Unglaubwürdigkeit (z. B. im Falle Ziff. 3), kann z. B. das jugendliche Alter, die Bedeutung der Aussage für die Entscheidung usw. berücksichtigt werden ( M ü l l e r - S a x Anm. 1). Deshalb kann auch, wenn nach § 6 1 von der Beeidigung abgesehen wird, die Aussage des Zeugen doch voll glaubwürdig sein (BGHSt. 3 2 3 1 = JZ 51 650; zust. N i e t h a m m e r ; zweifelnd N i e s e JW 1953 222; S a r s t e d t JR 1955 433; OLG Schleswig SchlA. 1956 298 [zu § 61 Ziff. 2]). In folgenden Fällen kann nach § 61 von der Vereidigung abgesehen werden: a) Bei Jugendlichen zwischen 16 und 18 Jahren. Diese Bestimmung gibt dem Gericht die Möglichkeit, auf den Stand der geistigen Entwicklung bzw. der sittlichen Reife eines jugendlichen Zeugen Rücksicht zu nehmen, der nicht schon nach § 60 Ziff. 1 eidesunfähig ist K1 Anm. 2 A). Entscheidend ist dabei nicht die Frage der Glaubwürdigkeit oder Unglaubwürdigkeit des Zeugen (RGSt. 70 20; E r b s Anm. II; F u h r m a n n - D a l c k e Anm. 2; M ü 11 e r - S a x Anm. 3; E b S c h m i d t Anm. 3). Die Annahme der Unglaubwürdigkeit kann zwar auf Mängel der geistigen und sittlichen Entwicklung hinweisen, braucht es aber nicht notwendig zu tun (BGHSt. 3 230). An die geistige und sittliche Reife sind nämlich für die Frage der Wahrheit der Aussage im Normalfall geringere Anforderungen zu stellen als an die Frage der Eidesleistung. Auch eine uneidliche Aussage kann deshalb als glaubwürdig angesehen werden ( M ü l l e r - S a x Anm. 3). Hat der Jugendliche allerdings die genügende Vorstellung vom Wesen und der Bedeutung des Eides und die genügende geistige und sittliche Reife, so muß er beeidigt werden, sofern seiner Beeidigung nicht andere Vorschriften entgegenstehen. Beachtliche Zweifel über die erforderliche Reife können aber schon ausreichen, um von der Vereidigung abzusehen ( E b S c h m i d t Anm. 3). Begründung. Es genügt die Angabe, daß die Beeidigung des Zeugen mit Rücksicht auf sein Alter oder nach § 61 Ziff. 1 unterbleibt. Die Gründe für die Ermessensentscheidung brauchen nicht angeführt zu werden (BGHSt. 1 175, 3 230; M ü l l e r - S a x Anm. 2b). b) Bei Verletzten sowie bei Angehörigen des Verletzten oder des Beschuldigten. aa) Verletzte. Nach der früheren Rechtsprechung des Reichsgerichts, der auch der BGH zunächst beigetreten ist, war nur derjenige als Verletzter anzusehen, iri dessen Recht die strafbare Handlung unmittelbar eingegriffen hatte, nicht aber auch derjenige, den nur die schädlichen Folgen trafen. Die Handlung mußte sich deshalb unmittelbar gegen das Rechtsgut des Verletzten richten und auch die Strafvorschrift mußte unmittelbar dem Schutze des Verletzten dienen (RGSt. 69 107, 127, 70 145, 150, 73 724; R G JW 1937 175; BGHSt. 1 298). Diese Rechtsauffassung wird der Praxis nicht gerecht. Grundlage ist die Voreingenommenheit, die dort bestehen kann, wo in die Rechte des Zeugen eingegriffen wird (BGHSt. 4 202, 5 84). Das kann aber auch bei den bloß mittelbar Geschädigten der Fall sein. Deshalb ist jeder Verletzter, der durch die Vorstraftat in seinen rechtlichen geschützten Interessen beeinträchtigt wird (BGHSt. 5 85 = JZ 1954 357 mit Anmerkung B a u e r , 17 248; E b S c h m i d t Anm. 5; BGH NJW 53 1273; vgl. auch BGHSt. 4 202 zu § 22; O L G Braunschweig NJW 1952 158; a.A. E r b s Anm. II; jetzt auch M ü l l e r - S a x Anm. 4 a entgegen der Vorauflage). Einzelfälle. Verletzter ist der Gesellschafter einer GmbH bei Untreueverfahren gegen Geschäftsführer (BGHSt. 4 202 a. A. RGSt. 69 127; BGHSt. 1 298 allerdings für § 22). Der Bestohlene, und zwar sowohl der Eigentümer als auch der Gewahrsamtsträger (RGSt. 10 210, 19 378); der Konkursgläubiger bei Schädigung der Konkursmasse (RGSt. 1 223, 21 291, 33 309); derjenige, der durch das Eidesdelikt Nachteil gehabt hat (BGHSt. 5 85); der Gesellschafter einer O H G bei Betrug gegenüber der O H G (RGSt. 73 417; BGH 5 StR 300/65 v. 7. 9. 1965); der durch die Tat Gefährdete bei Gefährdungsstraftat (BGHSt. 10 372); der Verkehrsteilnehmer, der im Bereich der Gesundheit oder des Eigentums gefährdet oder belästigt ist, im Verfahren wegen Verkehrsunfalls (OLG Neustadt JZ 1953 301; Oldenburg DAR 1955 308; Hamm VRS 6 212); das Kind im Unterhaltsprozeß, wenn der 456

Sechster Abschnitt. Zeugen (Kohlhaas)

§61 Anm. 1

als Erzeuger in Anspruch genommene einen Meineid schwört (BGH 5 Str. 398/52 v. 30. 10. 1952); der Verführte im Verfahren nach § 175 a Nr. 3 StGB (zugleich aber auch teilnahmeverdächtig im Sinne des § 60 Nr. 3 — [BGHSt. 1 274] —); der Geschlagene, wenn der Angeklagte an Schlägereien auf mehrere Personen teilgenommen hat, aber nur wegen Verletzung eines anderen angeklagt ist (OLG Köln NJW 1958 561); der Beamte, gegen den Widerstand geleistet wurde (BGH 5 StR 249/55 v. 5. 7. 1955); der Gerichtsvollzieher bei Arrestbruch (Schleswig SchlHA 61 199; die früher vertretene Partei des wegen Parteiverrats angeklagten Rechtsanwalts (BGH 1 StR 3/55 v. 8. 11. 1955). Das Verletztsein bezieht sich auch auf die Fragen zur Zurechnungsfähigkeit (BGH 5 StR 507/58 v. 20. 1. 1959). Nichtverletzte sind die Dirne, die vom Zuhälter ausgebeutet wurde in dem Verfahren gegen den Zuhälter wegen Vergehens gegen § 181a StGB (RGSt. 69 107, 109; BGHSt. 9 71; E r b s Anm. III; K l Anm. 2 B); der Verkuppelte in dem Strafverfahren gegen den Kuppler nach § 180 StGB (RGSt. 69 107; BGHSt. 9 71); der Landrat eines Kreises, dessen Sparkasse geschädigt ist (BGH 1 StR 87/53 v. 8. 5. 1953). bb) Angehörige des Beschuldigten oder des Verletzten. Über den Begriff des Angehörigen vgl. § 52 Anm. 2. Die Angehörigen des Beschuldigten haben noch das besondere Privileg, daß sie nicht aussagen müssen und den Eid verweigern können (§§ 52, 63). Uber die Begründung der Nichtbeeidigung vgl. unten ff.). Sind mehrere Beschuldigte vorhanden, so genügt es zur Anwendung des § 61 Ziff. 2, wenn auch nur einer von ihnen Angehöriger des Zeugen ist (RGSt. 3 161). Das gilt auch dann, wenn dieser Beschuldigte bereits rechtskräftig abgeurteilt ist und die Verhandlung, in der der Zeuge vernommen wird, nur einen anderen Mitbeschuldigten betrifft (OLG Hamm NJW 1953 1277). cc) Beeidigung. An sich ist beim Verletzten und seinen Angehörigen die Nichtvereidigung nur möglich, wenn die Versuchung für den Zeugen zu groß sein würde, die Unwahrheit zu sagen und wenn daher auch die beeidete Aussage wertlos sein würde (vgl. RGSt. 68 210, 73 334; BGHSt. 1 175; BGH 3 StR 26/56 v. 26. 3. 1956). Wenn dagegen nicht zu besorgen ist, daß das Verhältnis Verletzter/Beschuldigter den Zeugen von der Wahrheit ablenke, muß an sich die Beeidigung erfolgen (so BGH VRS 11 438; E r b s Anm. II; F u h r m a n n - D a l c k e Anm. 4). Das Gericht kann darüber hinaus aber auch andere triftige Umstände berücksichtigen, die bei verständiger Würdigung der ganzen Sachlage Berücksichtigung verdienen (BGHSt. 1 346; NJW 1952 192). Deshalb kann das Gericht auch einem solchen Zeugen Glauben schenken und die Zeugenaussage dem Schuldspruch zugrunde legen, von dessen Beeidigung nach § 61 Ziff. 2 abgesehen wurde (RGSt. 68 323; BGHSt. 4 202, 5 85; BGH NJW 1951 671; 1952 192; O L G Schleswig SchlHA 1956 298; GA 1956 365). In der Beeidigung des Verletzten liegt selten ein Mißbrauch des Ermessens (BGH MDR 1955 529 bei H e r l a n ) . Ist der Zeuge nur durch einen von mehreren zur Anklage stehenden Fällen verletzt, wird er aber zu mehreren Fällen vernommen, so ist der Zeuge auf jeden Fall insoweit zu beeiden, als er nicht verletzt ist (RG H R R 1937 Nr. 359). Bei teilweise glaubhafter Aussage kann vereidigt werden (Hamburg JR 1955 433 [Sarstedt]). Dies güt folgerichtig auch für die nicht glaubhafte. dd) Teilweise Nichtbeeidigung. Werden verschiedene selbständige Straftaten eines oder mehrerer Angeklagter gemeinsam verhandelt, so ist es zulässig, den Zeugen zu bestimmten Punkten zu beeidigen, zu anderen nicht. Voraussetzung für diese Teilung ist aber, daß die beeidete Aussage sich in keinem Punkt auf die Tat bezieht, an welcher der Angehörige beteiligt war oder verletzt worden ist (RG HRR 1937 Nr. 359, BGH 3 StR 613/53 v. 7. 10. 1954, BayObLG JR 1930 Nr. 578). ee) Begründung. Es genügt der Hinweis, daß von der Vereidigung nach § 61 Nr. 2 abgesehen wird, weil der Zeuge Verletzter oder dessen Angehöriger sei (BGHSt. 1 175, 4 202, 5 851; M ü l l e r - S a x 2b). Wird jedoch der Antrag auf Vereidigung abgelehnt, weil kein stichhaltiger Grund ersichtlich sei, von der Regel des § 61 Ziff. 2 abzuweichen, so entspricht diese Begründung nicht dem Gesetze, da keine Regel besteht, daß Angehörige des Angeklagten nicht zu vereidigen sind. Auf diesem Rechtsverstoß kann das Urteil beruhen. Deshalb kann insoweit die Revision begründet sein (BGH NJW 1957 1683; Hamm 457

§61

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

Anm. 1 N J W 1958 74; JMB1. N R W 1959 160; N i e t h a m m e r J Z 1951 650). Das Gericht bleibt grundsätzlich im Rahmen seines richterlichen Ermessens, wenn es den Verletzten vereidigt, auch wenn es dessen Aussage nur zum Teil für glaubwürdig hält (BGH 3 StR 47/56 v. 15. 1. 1956; O L G Hamburg J R 1955 411; Neustadt D A R 1958 165). c) Bei Personen, deren Aussage das Gericht keine wesentliche Bedeutung beimißt, und bei denen auch unter Eid keine wesentliche Aussage zu erwarten ist. aa) Nicht auf die Glaubwürdigkeit der Aussage kommt es an, sondern nur auf die Bedeutung der Aussage. Die Frage, ob eine Aussage von wesentlicher Bedeutung oder ohne eine solche ist, richtet sich nur nach ihrem Inhalt (BGH N J W 1952 74; 5 StR 670/51 v. 2. 2. 1954; M ü l l e r - S a x Anm. 5; E b S c h m i d t Anm. 10ff.; D a h s N J W 1950 888; E r b s Anm. III; F u h r m a n n - D a l c k e Anm. 6; a. A. R i c h t e r N J W 1952 74; K l Anm. 2 D, die auf die Glaubwürdigkeit des Zeugen abstellen). Beide Voraussetzungen müssen erfüllt sein, nämlich daß die Aussage o h n e w e s e n t l i c h e B e d e u t u n g ist und daß nach der Überzeugung des Gerichts auch unter Eid keine wesentliche Aussage zu erwarten ist. Darin liegt eine ex lege vertretbare, gewisse vorläufige Vorwegnahme der Beweiswürdigung, die aber in der Begründung mit dem späteren Urteil vereinbar sein muß ( O l d e n b u r g N J W 1951 31; D a l l i n g e r M D R 1951 243; D a h s NJW 1950 888). Über den Unterschied zur a u s s c h l a g g e b e n d e n B e d e u t u n g vgl. § 62 Anm. 2 a. bb) Begründung. Beide Voraussetzungen müssen erwähnt werden. Im übrigen ist eine nähere Begründung nicht erforderlich, da es sich um eine Ermessensentscheidung handelt (BGHSt. 1 8 = M D R 1951 [ D a l l i n g e r ] ) . Der Hinweis auf den Text des § 61 Ziff. 3 genügt (BGH LM § 6 1 Nr. 3, 3 StR 548/52 v. 2 5 . 2 . 1954; 4 StR 677/52 v. 2 6 . 2 . 1952; K l Anm. 2 b ; a. A. eine ausdrückliche Angabe beider Gründe fordernd E b S c h m i d t § 60 Anm. 7). Der Vorsitzende entscheidet vorläufig, sofern nicht ein Verfahrensbeteiligter einen Gerichtsbeschluß beantragt (BGHSt. 1 266). cc) Nachholen der Beeidigung. Ergibt sich bei der Urteilsberatung, daß das Gericht — entgegen der nicht beanstandeten Anordnung des Vorsitzenden, den Zeugen nicht nach § 61 Ziff. 3 zu beeiden — der Aussage des Zeugen doch wesentliche Bedeutung beimißt, so muß die Vereidigung nachgeholt werden. Das Urteil würde sonst auf den Verstoß gegen §§ 59, 61 Ziff. 3 beruhen (BGHSt. 7 281). d) Bei Personen, die wegen Meineids verurteilt sind. Ziff. 4 ist an Stelle der gestrichenen Ziff. 2 des § 60 getreten. Bisher war die Vereidigung jedes wegen Meineids Verurteilten auf Grund des aufgehobenen § 161 StGB gesetzlich verboten. Mit dem Wegfall der obligatorischen Eidesunfahigkeit ist nunmehr eine Ermessensentscheidung des Gerichts normiert. Dennoch sind die in der Vorauflage zu § 60 Anm. 2 aufgezählten Grundsätze bedingt verwertbar. Unklar bleibt zunächst, ob eine Verurteilung wegen Meineids vor einem ausländischen Gericht einschließlich der D D R die Anwendung des § 61 Ziff. 4 rechtfertigt. Das ist zu verneinen. Obwohl das Gesetz nichts sagt, ist bei der unterschiedlichen Gestaltung der Rechtsauffassungen analog der sonstigen Grundsätze der StPO stets nur an Verurteilungen durch Gerichte der Bundesrepublik zu denken ( K o h l h a a s NJW 1970 649); anders B e l i n g S. 355, der auch im Ausland wegen Meineids Verurteilte schlechthin unter § 60 Ziff. 2 fallen lassen wollte. Voraussetzung für die Entscheidung nach § 61 Ziff. 4 ist entsprechend den früheren Grundsätzen zu § 60 Ziff. 2 die Rechtskraft des Meineidsurteils (so für früher RGSt. 73 255; BGH M D R 1952 659, M ü l l e r - S a x Anm. 4, E b S c h m i d t Anm. 12). Ebenso unklar bleibt, wie es mit getilgten Strafen ist. Nach früherer Auffassung bewirkte eine Straftügung den Wegfall der Eidesfahigkeit nicht ( F u h r m a n n - D a l c k e Anm. 4 M ü l l e r - S a x Anm. 4; a. A. E b S c h m i d t Anm. 12). Vielmehr war die Eidesfahigkeit nur durch Gnadenerweis wieder herstellbar ( K o h l h a a s DRiZ 1957 177). Diese Kontroversen haben an Schärfe verloren, weil es sich nunmehr um eine Ermessensentscheidung handelt. Sie bleiben aber im Räume und sind entscheidungsbedürftig ( K o h l h a a s N J W 1970 649). Ein bloßer Hinweis auf die frühere Verurteilung reicht aus, um den Richter

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Sechster Abschnitt. Zeugen (Kohlhaas)

§ 62 Anm. 1,2

zu einer Ermessensentscheidung zu zwingen (so früher E b S c h m i d t Anm. 7). Beeidigung ohne Ermessensentscheidung begründet die Revision auch dort, wo das Gericht keine Kenntnis von der Verurteilung hatte (so Vorauflage für § 60 Anm. 2). e) Rechtsmittel. Vgl. Vorbemerkungen vor §§ 60—63. Revision ist nur dann begründet, wenn die Entschließung des Gerichts auf rechtlich unzulässigen Erwägungen, auf einem Ermessensmißbrauch beruht, oder wenn die Entschließung sonst fehlerhaft war oder völlig unterblieben ist. Insbesondere ist die Revision begründet, wenn die Entscheidungsgründe ergeben, daß das Gericht entgegen dem Nichtvereidigungsbeschluß im Falle Ziff. 3 der Aussage wesentliche Bedeutung beigemessen hat (BGHSt. 1 8, 7 281; BGH VRS 6 68), sei es auch nur unterstützend, oder daß es die Meineidsverurteilung nicht gekannt hat. Dasselbe gilt, wenn sich aus dem Inhalt des Urteils ergibt, daß die Aussage tatsächlich von Bedeutung gewesen ist (BGH VRS 5 283). Daß das Beweismittel im Urteil mit aufgeführt ist, besagt für sich allein noch nicht, daß der Tatrichter ihm wesentliche Bedeutung beigemessen hat (BGH 1 StR 62/56 v. 12. 4. 1956). Enthält die Revisionsrüge die Behauptung, die Aussage sei wesentlich, so kann die Revision nur dann begründet sein, wenn dies den Entscheidungsgründen tatsächlich zu entnehmen ist (BGH NJW 1951 325; F u h r m a n n - D a l c k e Anm. 6). Aus dem Schweigen des Protokolls ergibt sich nicht, daß das Gericht den § 61 StPO nicht beachtet hat (BGH 4 StR 16/62 v. 16. 3. 1962).

§62 Im Verfahren wegen einer Übertretung und im Privatklageverfahren werden Zeugen nur vereidigt, wenn es das Gericht wegen der ausschlagenden Bedeutung der Aussage oder zur Herbeiführung einer wahren Aussage für notwendig hält. 1. Allgemeines. Bei Verfahren wegen Übertretungen und bei Privatklageverfahren handelt es sich sehr häufig um reine Bagatellsachen, bei denen die Abnahme des Eides im Mißverhältnis zur Bedeutung der Sache steht. Deshalb wird hier der Grundsatz der generellen Beeidigungspflicht des § 59 eingeschränkt. Das Gesetz geht hier vielmehr — abgesehen von § § 6 0 , 6 1 — von dem Grundsatz der Nichtvereidigung aus, ohne jedoch das Druckmittel, das in der Möglichkeit der Beeidigung liegt, auszuschließen. Die Pflicht zur Wahrheitsforschung bleibt auch hier in vollem Umfange bestehen. Die Vorschrift gilt auch, wenn mit der Übertretungssache oder der Privatklagesache andere Sachen verbunden sind, vorausgesetzt, daß eine Trennung der Aussage möglich ist. In solchen Fällen kann es auch zu einer teilweisen Beeidigung kommen. Durch den Hinweis des Richters allein, es sei auch Verurteilung wegen Vergehens möglich, verliert das nur wegen Verdachts einer Übertretung eingeleitete und durchgeführte Verfahren diesen Charakter nicht, sondern nur dann, wenn später Verurteilung wegen Vergehens erfolgt (Schleswig SchlHA 1953 247). Entsprechend § 62 ist auch vor dem Jugendrichter (nicht aber auch vor den übrigen Jugendgerichten) durch § 49 II J G G die Frage der Vereidigung geregelt, jedoch nur im Verfahren gegen Jugendliche, nicht aber gegen Heranwachsende (BGH NJW 1955 1605). 2. Möglichkeiten der Beeidigung. Die Beeidigung ist nur möglich, wenn das Gericht sie wegen a) der ausschlaggebenden Bedeutung, nicht mehr nur wegen der erheblichen Bedeutung der Aussage wegen oder b) zur Herbeiführung einer wahren Aussage für notwendig hält. Von ausschlaggebender Bedeutung ist die Aussage dann, wenn das Gericht in dem abzuurteilenden Falle nach der bisherigen Beweislage glaubt, sich auf die Aussage allein stützen zu müssen, um zur Schuld oder Strafe eine Entscheidung treffen zu können. Sollen Aussagen nur zusätzlich zu den übrigen, an sich schon ausreichenden Beweismitteln verwendet werden, ist der Zeuge unbeeidigt zu lassen (OLG Köln NJW 1954 570; M ü l l e r S a x Anm. 2a). 459

§ 62 Anm. 3—5

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

Ist die Aussage des Zeugen geeignet, die Aussage eines nach § 62 wegen ausschlaggebender Bedeutung beeidigten Zeugen zu erschüttern, so kann sie ebenfalls von ausschlaggebender Bedeutung sein. Auch hierbei ist eine gewisse vorläufige Vorwegnahme des Beweisergebnisses unvermeidlich (Köln NJW 1954 570; K o h l h a a s NJW 1959 1190; unklar Neustadt NJW 1959 783). Vom Gericht als unwahr erkannte Aussagen sind nicht von ausschlaggebender Bedeutung. Das Gericht darf aber die Vereidigung zur Herbeiführung einer wahren Aussage für erforderlich halten und sie anordnen, wenn es glaubt, hierdurch eine Aussage von wesentlicher Bedeutung zu erhalten. Ausschlaggebend braucht sie in diesem Falle nicht zu sein. Der Zweck des § 62 tritt hinter dem Gebot der Wahrheitsfindung zurück. Daher muß auch dort, wo an sich nicht beeidigt werden sollte, beeidigt werden, wo der Wahrheitsfindung gedient werden soll. In solchem Falle ist aber nur darauf abzustellen, ob die erlangte eidliche Aussage eine wesentliche Bedeutung haben kann. Ist dies nicht zu erwarten, greift § 61 Ziff. 3 Platz (vgl. K o h l h a a s NJW 1959 1190, ähnlich E b S c h m i d t Anm. 3 und 5; K l Anm. 1; S c h l e s w i g SchlHA 1957 313; grundsätzlich jetzt BGHSt. 16 99). Ist eine Beeidigung erfolgt, so muß auch bei einer späteren Neuvernehmung beeidigt oder nach § 67 verfahren werden. Die Aussage ist ein Ganzes und kann nicht bei ihrer Bewertung teils unter § 59, teils unter § 62 fallen (KG NJW 1968 807). Die Entscheidung, ob einer dieser Gründe zur Beeidigung vorliegt, ist an sich Ermessensentscheidung. Doch ist „ausschlaggebende Bedeutung" ein Rechtsbegriflf, dessen Verletzung aus dem Urteilsinhalt festgestellt werden kann und dessen Verletzung zur Revision führt. So wenn aus den Gründen hervorgeht, daß eine unbeeidete Aussage wirklich als ausschlaggebend gewürdigt worden ist (Bremen NJW 1953 1565 [unten Anm. 5c]). Andere Nichtvereidigungsgründe gehen vor, auch der nach § 61 Ziff. 3, da das, was schon nicht wesentlich ist, auch nicht ausschlaggebend sein kann (a. A. Köln JMB1. NRW 1958 179, wie hier insgesamt E b S c h m i d t Anm. 5; K l Anm. 1). 3. Zuständigkeit. Die Entscheidung trifft an sich der Vorsitzende; erst bei Beanstandung nach § 238 Abs. 2 das Gericht. §§ 273, 274 sind zu beachten, vgl. auch Vorbemerkung vor §§ 60 bis 63. Ist aber ein Gerichtsbeschluß ergangen, so ist der Vorsitzende, wenn er nicht eine neue Entschließung herbeiführt, daran gebunden (Oldenburg NsRpfl. 1953 172; D a l c k e F u h r m a n n Anm. 4; E b S c h m i d t Anm. 3; K l Anm. 1). Auch dann bedarf es eines Beschlusses des erkennenden Gerichtes, wenn der kommissarisch vernommene Zeuge nicht vereidigt worden ist und von der Vereidigung nach § 62 abgesehen werden soll (Hamm JMB1. NRW 1954 12; Stuttgart DAR 1955 67). 4. Begründung der Nichtvereidigung. Der bloße Hinweis auf § 62 genügt nicht, da eine eingehende Begründung deshalb notwendig ist, um den Verfahrensbeteiligten Gelegenheit zu geben, auf die tatsächlichen und rechtlichen Gesichtspunkte hinzuweisen, die der Auffassung des Gerichts entgegenstehen und ihnen Gelegenheit zu geben, sachgemäße Anträge zu stellen (BGHSt. 10 109, 14 374; Bremen NJW 1953 1565; Hamm D A R 1956 53; Köln NJW 1954 442; Schleswig GA 1955 316; KGVRS 20 362; Celle NdsRpfl. 61 231; a. A. BayObLGSt. 1952 9 NJW 1956 376; K l Anm. 2; E b S c h m i d t Anm. 2; M ü l l e r S a x Anm. 3). Die Einzelerwägungen für Ermessensentscheidung brauchen nicht aufgeführt zu werden (BGHSt. 10 109, 14 374; S e i b e r t JZ 1952 465). Unter Umständen kann sich schon aus der Sachlage ergeben, aus welchen Gründen der Vereidigung abgesehen wurde. Dann reicht auch der Hinweis auf § 62 aus (KGVRS 20 362). 5. Revision ist möglich, wenn a)die Vereidigung stillschweigend ohne jede Prüfung unterlassen worden ist (OLG Hamm NJW 1954 12); b) die Grenzen nicht eingehalten sind, die dem pflichtgemäßen richterlichen Ermessen gezogen werden (RGSt. 68 310, 77 332; BayObLG JZ 1952 494); vor allem die Begründung (oben Anm. 4) fehlt; c) der Zeuge unbeeidigt blieb, weil seine Aussage nicht von ausschlaggebender Bedeutung sei, sich aber aus den Urteilsgründen ergibt, daß diese uneidliche Aussage als für die Schuld oder StrafFrage ausschlaggebend gewürdigt worden ist (OLG Bremen NJW 1953 1565; S e i b e r t JZ 1952 477; M ü l l e r - S a x Anm. 4).

460

Sechster Abschnitt. Zeugen (Kohlhaas)

§ 63 Anm. 1—6

d) Die (nach Lage des Falles unbegründete) Rüge, der Zeuge sei zu Unrecht nicht vereidigt worden (oben c), schließt die (nach Lage des Falles möglicherweise begründete) Rüge, die Gründe für die Ablehnung seien unzureichend mitgeteilt worden, nicht ein. Die Rüge ist alsdann nicht ordnungsmäßig erhoben (BayObLG St. 1957 247).

§63 Die in § 52 Abs. 1 bezeichneten Angehörigen des Beschuldigten haben das Recht, die Beeidigung des Zeugnisses zu verweigern; darüber sind sie zu belehren. 1. Recht zur Eidesverweigerung. Nur die Angehörigen des Beschuldigten im Sinne des § 52 Abs. 1 haben das Recht, im Falle ihrer Aussage die Beeidigung zu verweigern. Das trifft nicht auf Angehörige des Verletzten zu, von deren Beeidigung aber nach § 61 Ziff. 2 nach dem Ermessen des Gerichts abgesehen werden kann. 2. Belehrung über das Recht zur Eidesverweigerung. Die Belehrung ist ausdrücklich und zwingend vorgeschrieben. Eine Belehrung über das Eidesverweigerungsrecht braucht erst dann zu erfolgen, wenn das Gericht von der Nichtvereidigung nach § 61 Ziff. 2 keinen Gebrauch machen will (RGSt. 46 116; RG GA 37 187; E r b s Anm. I; D a l c k e - F u h r m a n n Anm. 2; M ü l l e r - S a x Anm. 2; E b S c h m i d t Anm. 4; K l Anm. 2). Die Belehrung über die Berechtigung zur Zeugnisverweigerung genügt nicht. Wenn das Gericht beeidigen möchte, muß die Belehrung über die Befugnis hinzukommen, die Beeidigung zu verweigern (RGSt. 9 284, 42 312, 62 143; JW 1928 2142; H R R 1942 Nr. 466; BGHSt. 4 217; E r b s Anm. II; F u h r m a n n - D a l c k e Anm. 2; M ü l l e r - S a x Anm. 2; E b S c h m i d t Anm. 3; K1 Anm. A). Der Mangel der Belehrung wird nicht dadurch behoben, daß sich der Zeuge schon auf Befragen allein zur Beeidigung der Aussage ausdrücklich bereit erklärt (RG GA 56 89; Dresden DRZ 1931 Nr. 703). Eine ausdrückliche Belehrung kann allenfalls dann unterbleiben, wenn der Zeuge unter eigenem Hinweis auf das ihm bekannte Eidesverweigerungsrecht ausdrücklich verzichtet ( M ü l l e r - S a x Anm. 2 vgl. aber unter Anm. 5). 3. Wiederholung der Belehrung. Nochmalige Vernehmung des Zeugen entbindet den Richter weder von der Belehrungspflicht nach § 5 2 noch nach §61, falls der Zeuge vereidigt werden soll (BGH 1 StR 81/54 v. 9. 7. 1954). Auch wenn der Zeuge früher eidlich vernommen wurde, darf ihn der Richter bei der nochmaligen Vernehmung unbeeidigt lassen (RGRspr. 1 358; M ü l l e r - S a x Anm. 2; K l Anm. 3). 4. Widerruf. Macht der Zeuge von seinem Eidesverweigerungsrecht zunächst keinen Gebrauch, so kann er dennoch diese Erklärung im weiteren Verlauf der Hauptverhandlung widerrufen (RGSt. 62 144; BayObLGSt. 1951 73; LG München NJW 1950 316). Das güt umgekehrt auch für den Fall, daß der Zeuge zunächst den Eid verweigert, später sich aber in der Hauptverhandlung bereit erklärt, den Eid zu leisten (RGSt. 62 164; BayObLG. 1949 78; M ü l l e r - S a x Anm. 2; E b S c h m i d t Anm. 5; K l Anm. 2). 5. Protokollhinweis. Die Belehrung kann nur durch §§ 273, 274 aus dem Protokoll nachgewiesen werden. Ebenso der unter Anm. 2 am Ende erwähnte ausdrückliche Verzicht auf Belehrung. 6. Unterlassung der Belehrung und ihre Folgen. Sowohl dem Zeugnisverweigerungsrecht (§ 52), als auch dem Eidesverweigerungsrecht (§ 63) liegen die nahen Beziehungen der Angehörigen zum Angeklagten zugrunde. Durch eine Verletzung wird daher auch der Angeklagte betroffen (BGHSt. 4 217; M ü l l e r - S a x Anm. 2). a) Stellt sich nach der Beeidigung die Sachlage des § 52 heraus, so hat der Richter den Zeugen auf das Zeugnisverweigerungsrecht des § 52 und zusätzlich noch auf das Recht der Eidesverweigerung nach § 63 hinzuweisen (RGSt. 42 322; a. A. RGSt. 49 84; K l Anm. 2B). Macht dann der Zeuge von seinem Recht keinen Gebrauch, so hat ihn der Richter darüber zu unterrichten, ob er den Zeugen unter Verweisung auf den Eid oder uneidlich vernimmt.

461

§64 Anm. 1—4

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

b) Erklärt der Zeuge (bei Nachholung der Belehrung), er sei immer bereit gewesen, seine Aussage zu beeiden, er würde deshalb auch bei vorheriger Belehrung sein Eidesverweigerungsrecht nicht ausgeübt haben, so ist die Unterlassung der Belehrung unbeachtlich (BGH 3 StR 218/56 v. 5. 9. 1956; M ü l l e r - S a x Anm. 3). c) Erklärt der Zeuge bei Nachholen der Belehrung, er mache von seinem Verweigerungsrecht nach §§ 52, 63 Gebrauch, so darf von der Vernehmung kein Gebrauch gemacht werden. d) Erklärt der Zeuge, der unter Eid ausgesagt hat, bei Nachholung der Belehrung, er hätte von seinem Eidesverweigerungsrecht Gebrauch gemacht, so kann die Aussage nur als uneidliche gewertet werden. Der geleistete Eid allerdings ist wirksam und kann dazu führen, daß der Zeuge wegen Eidesdelikts verfolgt werden kann ( M ü l l e r - S a x Anm. 3). e) Ergibt erst die Beratung, daß der Zeuge, der eidlich vernommen ist, nicht belehrt worden ist, so sind alle Beteiligten zu belehren, daß die Aussage als uneidlich gewertet wird. Es ist ihnen noch Gelegenheit zu geben, Beweisanträge zu stellen (BGH 1 StR 684/52 v. 24. 2. 1953). Dasselbe gilt für den kommissarisch vernommenen vereidigten, und nicht nach § 63 belehrten Zeugen für den Fall der Verlesung nach § 251 Abs. 1. Erfolgt diese Belehrung des Angeklagten nicht, so kann die Verletzung die Revision begründen, ebenso wenn es nicht mehr möglich war, die Unterlassung der Belehrung zu heilen (§ 337); selbst dann, wenn entsprechend § 52 Abs. 2 belehrt worden ist (BGHSt. 4 217; M ü l l e r - S a x 3). Handelt es sich um ein Verfahren gegen mehrere Mitangeklagte wegen derselben Tat, so kann jeder Mitangeklagte die Revisionsgründe erheben, daneben auch die StA (BGH 5 Str. 17/52 v. 15. 5. 1953, E b S c h m i d t § 52 Anm. 5, § 63 Anm. 2, vgl. auch § 60 Anm. 6).

§64 Unterbleibt die Vereidigung eines Zeugen, so ist der Grund dafür im Protokoll anzugeben. 1. Allgemeines. Von Amts wegen entscheidet das Gericht über die Beeidigung, und zwar in der Regel der Vorsitzende, nur auf Beanstandung das Gericht (§ 238 Abs. 2). Im einzelnen vgl. die Vorbemerkungen vor §§ 60—63. 2. Begründung der Nichtvereidigung. Die Vereidigung bedarf als Regelfall keiner besonderen Begründung (BGHSt. 1 273, 4 255, 17 186). Die Nichtvereidigung muß jedoch begründet werden. Wegen der Begründung des Beschlusses über die Nichtvereidigung vgl. die Ausführungen zu §§ 60 ff. Der Grund der Nichtvereidigung ist im Protokoll anzugeben. Im Urteil darf eine Begründung, die von der protokollierten Beschlußbegründung abweicht, nicht nachgeschoben werden (BGH 5 StR v. 18. 7. 1961). Die Begründung mit dem bloßen Gesetzeswortlaut genügt, unbeschadet der Einzelausführung bei §§ 60 ff., dann, wenn die Art des Grundes für alle Beteiligten offensichtlich ist (BGH JZ 1952 241). 3. Wesen des Begründungszwanges. Der Begründungszwang ist geschaffen: um dem Revisionsgericht die Möglichkeit zu geben, zu prüfen, ob die Rechtsbegriffe geprüft sind, nach denen von der Beeidigung abgesehen wurde, und um die Prozeßbeteiligten, insbesondere den Angeklagten und seinen Verteidiger, darüber in Kenntnis zu setzen, aus welchem Grunde von der Beeidigung abgesehen wurde, so daß sie sich darauf einstellen und evtl. Beweisanträge stellen können (BGH 3 StR 34/50 v. 16. 1. 1951). 4. Verstoß und Folgen. Der Protokollzwang ist an sich Ordnungsvorschrift (RG JW 1935 47; DR 1940 1528). Der Vermerk muß aber ergeben, daß das Gericht nach pflichtgemäßem Ermessen alle Voraussetzungen der Bestimmungen geprüft hat (vgl. OLG Hamm VRS 7 128). Das Urteil kann darauf beruhen, daß der Grund der Nichtvereidigung vom Gericht in der Hauptverhandlung nicht verkündet worden ist (BGH MDR 1951 275 [ D a l l i n g e r ] ; K G VRS 5 364). Doch ist die Revision nur dann begründet, wenn die getrof-

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Sechster Abschnitt. Zeugen (Kohlhaas)

§ 65 § 66 Anm. 1

fene Entscheidung durch Rechtsirrtum beeinflußt sein kann (BGHSt. 4 255; OLG Koblenz, HESt. 2 80; zweifelnd E b S c h m i d t Anm. 3). Bei Beeidigung nur eines Teils der Aussage muß sich dies aus der Sitzungsniederschrift im einzelnen ergeben.

§65 (1) Im vorbereiteten Verfahren ist die Vereidigung nur zulässig, wenn Gefahr im Verzug ist, oder wenn der Eid als Mittel zu Herbeiführung einer wahren Aussage über einen für das weitere Verfahren erheblichen Punkt erforderlich erscheint. (2) Im vorbereitenden Verfahren wegen einer Übertretung ist die Vereidigung unzulässig.

§66 In der Voruntersuchung ist die Vereidigung nur zulässig, wenn 1. Gefahr im Verzuge ist oder 2. der Eid als Mittel zur Herbeiführung einer wahren Aussage über einen für das weitere Verfahren erheblichen Punkt erforderlich erscheint oder 3. der Zeuge voraussichtlich am Erscheinen in der Hauptverhandlung verhindert sein wird oder 4. dem Zeugen das Erscheinen in der Hauptverhandlung wegen großer Entfernung nicht zugemutet werden kann. 1. Möglichkeiten der Vereidigung in den verschiedenen Verfahrensabschnitten. Die Vereidigung der Zeugen kann erfolgen: a) im vorbereitenden Verfahren (§ 65); dazu gehört auch das Klageerzwingungsverfahren im Sinne der §§ 172ff. (vgl. M ü l l e r - S a x § 65 Anm. 1; Kl § 66 Anm. 1). b) in der Voruntersuchung (§ 66). c) im Zwischenverfahren (§ 202 Abs. 1,3), d) im Hauptverfahren vor der Hauptverhandlung (§ 223), e) in der Hauptverhandlung. In der Regel erfolgt die Vereidigung in der Hauptverhandlung (§ 59 Satz 2). Die Vereidigung ist im vorbereitenden Verfahren und in der Voruntersuchung nach §§ 65, 66 nur zulässig, wenn Gefahr im Verzug ist. Eine solche Gefahr liegt vor, wenn der Verlust des Beweismittels durch die Aufschiebung der Vereidigung herbeigeführt würde oder sonst ein Scheitern der weiteren Ermittlungen zu befürchten sein würde (RGSt. 43 237; E b S c h m i d t §65 Anm. 7) oder der Eid als Mittel zur Herbeiführung einer wahren Aussage für einen für das weitere Verfahren erheblichen Punkt erforderlich erscheint. Dies liegt dann vor, wenn anzunehmen ist, daß der Zeuge ohne Beeidigung nicht die Wahrheit sagen werde (MüllerSax § 65 Anm. 2b; E b S c h m i d t § 65 Anm. 8; Kl § 66 Anm. 1 a. A.). Das Verbot der Beeidigung nach § 65 im Ermittlungsverfahren wegen Übertretung bezieht sich nicht auf die Vernehmung gem. § 223 nach erfolgtem Einspruch gegen Strafbefehl oder Strafverfügung (Düsseldorf JMB1. NRW 1951 182). Darüber hinaus darf in der Voruntersuchung (vgl. §§ 170, 173 ff., 197 Abs. 2) ferner noch vereidigt werden, wenn der Zeuge vermutlich am Erscheinen in der Hauptverhandlung verhindert sein wird (§ 66 Ziff. 3), z. B. infolge langer Auslandsreise, Krankheit, hohen Alters usw., oder dem Zeugen das Erscheinen in der Hauptverhandlung wegen großer Entfernung nicht zugmutet werden kann. Als Grund nennt das Gesetz nur die Erschwerung des Erscheinens in der Hauptverhandlung wegen großer Entfernung, nicht aber die Nichtzumutbarkeit des Erscheinens in der Hauptverhandlung wegen des damit verbundenen Zeitverlustes oder wegen Verkehrs463

§ 6 6 Anm. 2—4

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

§§ 66a, 66b Schwierigkeiten. Sie können jedoch bei der Prüfung der Zumutbarkeit eine Rolle spielen (BGHSt. 1 269; M ü l l e r - S a x § 66 Anm. 2; E b S c h m i d t § 65 Anm. 6; K l § 66 Anm. 1 Ac). Gesetzliche Eidesverbote z. B. § 60 sowie das Eidesverweigerungsrecht § 63 sind dabei zu beachten. In der Hauptverhandlung ist, falls die Zeugen dann doch erscheinen können, nochmalige Vernehmung und nochmalige Eidesleistung erforderlich, anders, falls § 251 Platz greift ( M ü l l e r - S a x § 65 Anm. 3; E b S c h m i d t § 65 Anm. 10). Dabei hat der Tatrichter abzuwägen, ob der Zeuge sich etwa durch eine frühere eidliche Aussage gehemmt fühlen und die Unwahrheit aufrechterhalten könne (BGH 4 StR 448/61 v. 12. 1. 1962). 2. Zuständigkeiten. Die Entscheidung trifft der vernehmende Richter (Amtsrichter und Untersuchungsrichter), oder der ersuchte und auch der beauftragte Richter mit Bindung nach § 66b Abs. 3. Nach § 165 hat der Amtsrichter von Amts wegen bei Gefahr im Verzug erforderliche Untersuchungsverhandlungen vorzunehmen. Sonst ist im vorbereitenden Verfahren zur Beeidigung der Antrag der StA erforderlich (BayOLG NJW 1955 396; M ü l l e r - S a x § 65 Anm. 4; K l § 66 Anm. 1B; a. A. E b S c h m i d t § 65 Anm. 5). 3. Sitzungsniederschrift. Nach § 66a ist der Grund der Vereidigung im Protokoll anzugeben. Da es sich aber bei §§ 65, 66 weitgehend um Ermessensentscheidungen handelt, genügt die Angabe, weswegen die Vereidigung vorgenommen ist, sofern sich das nicht schon so aus den Akten ergibt. Nähere Begründung ist nicht erforderlich (vgl. E b S c h m i d t § 65 Anm. 9). 4. Rechtswirksamkeit einer nach §§ 65,66 unzulässigen Vereidigung. Gegen die Ablehnung eines Antrags der StA auf Vereidigung der Zeugen steht der StA. Beschwerde nach § 304 Abs. 1 zu. Eine Vereidigung, die gegen §§ 65, 66 verstößt, ist rechtlich wirksam. Die Verlesung der Aussage als eidliche ist, wenn die Voraussetzungen des § 251 vorliegen, statthaft (RGSt. 10 156; K l §§ 65,66 Anm. 2).

§ 66 a Wird ein Zeuge außerhalb der Hauptverhandlung vereidigt, so ist der Grund der Vereidigung im Protokoll anzugeben. 1. Vereidigung außerhalb der Hauptverhandlung. § 66 a bezieht sich auf eidliche Vernehmungen außerhalb der Hauptverhandlung. Es handelt sich dabei um Vernehmungen i. S. der §§ 65, 66,173 III, 202,205 Satz 2 (vgl. M ü l l e r - S a x Anm. 1). Ob darunter auch kommissarische Vernehmungen i. S. des § 223 fallen, ist bestritten. Mit M ü l l e r - S a x Anm. 1, § 64 Anm. 1 sowie E b S c h m i d t Anm. 1, § 64 Anm. 1 ist anzunehmen, daß § 64 Platz greift, da es sich um eine Vorwegnahme der HV handelt. 2. Protokollierung. Der Grund der Vereidigung muß nachgeprüft werden können. Deshalb muß das Protokoll angeben, aus welchem der gesetzlichen Gründe die Vereidigung im Vorverfahren vorgenommen worden ist. Eine nähere Darstellung des Grundes ist nicht erforderlich. Ist der Grund der Vereidigung ohne weiteres aus den Umständen ersichtlich — wie bei einer lebensgefahrlichen Körperverletzung —, so wird die ausdrückliche Angabe dieses Grundes nicht für erforderlich gehalten. Jedenfalls beruht in solchen Fällen das Urteil nicht auf einer Verletzung des § 66 a.

§ 66 b (1) Wird ein Zeuge durch einen beauftragten oder ersuchten Richter vernommen, so entscheidet zunächst dieser über die Vereidigung. 464

Sechster Abschnitt. Zeugen (Kohlhaas)

§ 6 6 b Anm. 1—4 § 6 6 c Anm. 1

(2) Die Vereidigung muß, soweit sie zulässig ist, erfolgen, wenn es in dem Auftrag oder in dem Ersuchen des Gerichts verlangt wird. Der vernehmende Richter kann die Vereidigung aussetzen und einer neuen Entschließung des beauftragten oder ersuchenden Gerichts vorbehalten, wenn bei der Vernehmung Tatsachen hervortreten, die zu uneidlicher Vernehmung berechtigen würden. Diese Tatsachen sind in das Protokoll aufzunehmen. (3) Die Vereidigung darf nicht erfolgen, wenn die uneidliche Vernehmung verlangt wird. 1. Geltungsbereich der Vorschrift. Die Bestimmung bezieht sich auf alle Verfahrensabschnitte, das vorbereitende Verfahren, die Voruntersuchung, die Vorbereitung der Hauptverhandlung und die Hauptverhandlung selbst; jedoch nur für das Ersuchen eines Gerichts, nicht aber für Ersuchen der StA. Bei Ersuchen der StA beschließt der ersuchte Richter über die Vereidigung nach seinem pflichtgemäßen Ermessen. 2. Umfang des Ersuchens (Antrag). Das Ersuchen kann lauten auf Vernehmung, auf eidliche Vernehmung und auf uneidliche Vernehmung. Die Entscheidung über die Vereidigung trifft zunächst der vernehmende, beauftragte oder ersuchte Richter. Seine Entscheidung ist jedoch nur vorläufig. Die Bewertung der Aussage als eidlich oder uneidlich steht dem Tatrichter zu (BGH 1 StR 541/61 v. 27. 3. 1962). 3. Entscheidung über die Vereidigung. Das beauftragende oder ersuchende Gericht kann aber von vornherein maßgebend über die Vereidigung entscheiden (Abs. 2). An das Ersuchen um Nichtbeeidigung ist der beauftragte oder ersuchte Richter gebunden (Abs. 3). Ebenso auch an das Ersuchen um Beeidigung, es sei denn, daß ein zwingender Versagungsgrund vorliegt. Hat der vernehmende Richter Zweifel, ob Beeidigung statthaft bzw. zweckmäßig ist, muß er eine neue Entscheidung des beauftragenden oder ersuchenden Gerichts einholen. Diese erfolgt in der Hauptverhandlung nur dann durch Gerichtsbeschluß, wenn sie von den Beteiligten verlangt wird ( E r b s Anm. III; M ü l l e r - S a x Anm. 3, K l Anm. 2 sowie RGSt. 68 378; vgl. im übrigen auch Vorbemerkungen vor §§ 60ff.). Bei Nichtvereidigung kann der beauftragende (ersuchende) Richter nachträglich aber um die Vereidigung bitten. Hat der vernehmende Richter vereidigt, ist aber nach Auffassung des ersuchenden Richters die Vereidigung zu Unrecht erfolgt, so darf die Aussage nur als uneidliche gewertet werden ( E b S c h m i d t Anm. 5; K l Anm. 1). Wesentliche Formerfordernisse: Der den Eid abnehmende Richter muß auf jeden Fall die Leitung der Vernehmung übernehmen, die Aussage noch einmal verlesen lassen, und diesen Teil der Niederschrift unterschreiben. Auf die Eidesabnahme allein darf es sich nicht beschränken (BGH N J W 1958 2075). 4. Vernehmung im Ausland. Bei Vernehmung im Ausland reicht die Wahrung der Formen des ausländischen Rechts aus. Das gleiche gilt bei Vernehmungen in der D D R wegen der Formen des dortigen Rechts (BGH N J W 1952 1146; K l Anm. 4 vgl. umgekehrt § 66 e Anm. 1).

§ 66 c (1)Die Vereidigung erfolgt in der Weise, daß der Richter an den Zeugen die Worte richtet: „Sie schwören bei Gott dem Allmächtigen und Allwissenden, daß Sie nach bestem Wissen die reine Wahrheit gesagt und nichts verschwiegen haben" und der Zeuge hierauf die Worte spricht: „Ich schwöre es, so wahr mir Gott helfe." (2) Der Eid kann auch ohne religiöse Beteuerung geleistet werden. (3) Der Schwörende soll bei der Eidesleistung die rechte Hand erheben. 1. Religiöse oder weltliche Form des Eides. Die religiöse Form ist nicht bindend vorgeschrieben; statthaft ist auch die weltliche Form. Nach Art. 140 G G (vgl. Art. 136 Abs. 4 WeimVerf.) darf niemand zur religiösen Eidesform gezwungen werden. Eine besondere Belehrung für die weltliche Form des Eides ist aber nicht vorgeschrieben. Durch einen Ver-

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§ 6 6 c Anm. 2—4 § 6 6 d Anm. 1

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

stoß gegen die Vorschrift des Art. 140 G G (Art. 136 WeimVerf.) wird die Wirksamkeit des in religiöser Form abgenommenen Eides aber nicht in Frage gestellt ( K G D J Z 1930 975). 2. Zusätze zum Eid. Der Wortlaut des Eides ist vom Gesetzgeber dergestalt bestimmt, daß die gesetzlichen Eidesworte von dem Schwörenden ohne Änderung und Einschränkung gesprochen werden müssen. Konfessionelle Zusätze sind gestattet, sofern sie lediglich zur Verstärkung der in dem Eide enthaltenen Beteuerungen dienen, also nicht etwa auf deren Verneinung hinauslaufen (RGSt. 10 181; M ü l l e r - S a x Anm. 2; E b S c h m i d t Anm. 3). 3. Eidesleistung. Körperliche Ableistung des Zeugeneides ist vorgeschrieben, also das Hersagen, nicht aber das Ablesen, abgesehen vom Stummen (§ 66d). Gruppenweise Beeidigung ist unzulässig ( H ü l l e DRiZ 54 118), es genügt jedoch, wenn jeder Zeuge die vorgeschriebenen Worte nach einer gemeinsamen Vorsprache durch den Richter spricht (BGH 4 StR 301/57 v. 26. 9. 1957). Über Eidesbelehrung: vgl. § 57. Über Einzel Vereidigung: vgl. § 59. Die Erhebung der rechten Hand bildet keinen unbedingt wesentlichen Bestandteil der Eidesleistung. Dies ist durch den Gebrauch des Wortes „soll" angedeutet. Die Vornahme anderer bisher gebräuchlicher, symbolischer Handlungen neben der Erhebung der rechten Hand, z. B. das Niederknien ist nicht unzulässig, jedoch der eigenen Entschließung des Schwörenden überlassen (Kl Anm. 3). Der Richter darf etwas Weiteres als die Erhebung der rechten Hand nicht fordern. In einer Änderung der Eidesformel liegt ein Verfahrensverstoß. Meist aber wird das Urteil nicht darauf beruhen (RGSt. 64 379). 4. Umfang des Eides. Der Eid erstreckt sich auf den richterlich bestimmten Umfang der Zeugnispflicht (Kiel SchlHA 1948 115). Es gibt für die Fälle einer berechtigten teilweisen Zeugnisverweigerung keine dieser entsprechende besondere Eidesnorm. Der Eid bezieht sich aber nicht auf solche Tatsachen, hinsichtlich deren die Befugnis zur Verweigerung des Zeugnisses von dem Zeugen ausdrücklich geltend gemacht und von dem Richter anerkannt worden ist. Der Richter hat in Fällen dieser Art den Zeugen über die Tragweite des Eides zu belehren und darüber einen Vermerk in die Sitzungsniederschrift aufzunehmen. Dagegen ist die Aufnahme eines von dem Zeugen gewünschten Vorbehalts in der Eidesnorm selbst nicht zulässig (auch E b S c h m i d t Anm. 5). Entsprechendes gilt für die Fälle teilweiser Vereidigung. Durch die Worte „nach bestem Gewissen" wird der Eid kein Überzeugungseid ( M ü l l e r - S a x Anm. 3 c ; E b S c h m i d t Anm. 6). Übersetzung auch der Eidesformel durch den Dolmetscher ist bei ausländischen Zeugen, die die deutsche Sprache nicht verstehen, notwendig (vgl. auch M ü l l e r - S a x Anm. 4). Ausländer dürfen den Eid nicht mit der Beteuerungsformel ihrer Religionen absetzen. Sie müssen den Eid nach § 66 c leisten. Es steht ihnen frei, den Eid mit ihren Formeln zu bekräftigen. § 66 e findet keine Anwendung.

§ 66 d (1) Stumme leisten den Eid in der Weise, daß sie die Worte: „Ich schwöre bei Gott dem Allmächtigen und Allwissenden, daß ich nach bestem Wissen die reine Wahrheit bekundet und nichts verschwiegen habe" niederschreiben und unterschreiben. Stumme, die nicht schreiben können, leisten den Eid mit Hilfe eines Dolmetschers durch Zeichen. (2) Die Vorschrift des § 66c Abs. 2 gilt entsprechend. 1. Feststellung der Voraussetzungen. Über Dolmetscher vgl. G V G § 186. Die Zuziehung eines solchen kann auch erforderlich werden, wenn ein tauber Zeuge des Lesens unkundig ist. Es genügt nicht, daß der Zeuge erklärt, er sei stumm (oder könne nicht schreiben). Der Richter ist zur Überprüfung der Angaben des Zeugen berechtigt ( M ü l l e r - S a x Anm. 1; K l Anm. 1). Er muß von der Richtigkeit dieser Angaben überzeugt sein. Diese Überzeugung reicht auch aus, wenn sie auf Täuschung durch den Zeugen zurückzuführen ist.

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Sechster Abschnitt. Zeugen (Kohlhaas)

§ 6 6 d Anm. 2 § 6 6 e Anm. 1,2

Bei einem Stummen, der keine ausreichende Schulbildung genossen hat und demzufolge nicht schreiben kann, wird häufig die Voraussetzung des § 60 Ziff. 1 (ungenügende Vorstellung von dem Wesen des Eides) vorliegen, so daß er dann nicht vereidigt werden darf ( E r b s Anm. II; M ü l l e r - S a x Anm. 1; E b S c h m i d t Anm. 2; K l Anm. 1). 2. Verwertung von Äußerungen der Stummen. Ist eine wirkliche Zeugenvernehmung nicht möglich, etwa weil der Taubstumme nicht lesen und schreiben und auch den Dolmetscher nicht verstehen kann, so können seine Äußerungen, soweit er sie überhaupt überzeugend zu geben vermag, doch als Beweisbehelf gewertet werden (so auch RGSt. 33 402; D a l c k e - F u h r m a n n Anm. 1; M ü l l e r - S a x Anm. 2, a. A. E b S c h m i d t Anm. 4).

§ 66 e Gibt ein Zeuge an, daß er Mitglied einer Religionsgesellschaft sei, der das Gesetz den Gebrauch gewisser Beteuerungsformeln an Stelle des Eides gestattet, so steht eine unter der Beteuerungsformel dieser Religionsgesellschaft abgegebene Erklärung der Eidesleistung gleich. 1. Gesetzliche Vorschriften über die Befreiung von der eigentlichen körperlichen Eidesleistung und ihr Geltungsbereich. An Stelle der wirklichen (körperlichen) Eidesleistung reicht hier eine unter der Beteuerungsformel einer Religionsgesellschaft abgegebene Erklärung der Eidesleistung aus. Gesetz ist nur ein Bundes- oder Landesgesetz, nicht die Satzung der Religionsgesellschaft. Diese begründet allein keine Befreiung von der körperlichen Eidesleistung. Ausländische Gesetze gelten nicht, vgl. S. 66 c Anm. 4. Bundesgesetzliche Vorschriften über die Befreiung von der körperlichen Eidesleistung sind bis jetzt nicht ergangen. Z. Z. kommen nur die Landesgesetze in Betracht. Daher gibt es Religionsgesellschaften, deren Mitglieder zwar in einigen, nicht aber in allen deutschen Ländern von der Eidesleistung befreit sind. Wird ein Zeuge, dem in seinem Heimatstaate die Befreiung zusteht, in einem anderen Lande vernommen, in dem sie nicht besteht, so kann er sich nicht auf das Recht seines Heimatstaates berufen, da jedes Landesgesetz nur in dem Staate gilt, der es erlassen hat. Im ehemaligen Preußen sind außer den Mennoniten (RGSt. 52 63, 57 342) auch die Philipponen (KabO v. 19. 11. 1836) von der Pflicht zur körperlichen Eidesleistung befreit. Wegen Bayern vgl. RGSt. 36 203, wegen Württemberg RGSt. 24 91. Die Zeugen Jehovas gehören nicht dazu (Koblenz NJW 1952 378; K l Anm. 1; E b S c h m i d t § 66e Anm. 1). Die landesgesetzlichen Vorschriften, die eine Befreiung von der körperlichen Eidesleistung betreffen, sind auch insoweit in Geltung geblieben, als sie nicht in einem besonderen Gesetz, sondern in einer der früheren Strafprozeßordnungen enthalten sind; sie sind in diesem Punkte nicht außer Kraft getreten, da § 66 c eine Verweisung auf das Landesrecht i. S. des § 6 EG enthält. 2. Mitglied einer Religionsgemeinschaft. Etwaige landesgesetzliche Vorschriften des Inhalts, daß der Zeuge seine Angehörigkeit zu der Religionsgesellschaft dem Richter in einer bestimmten Form und Art nachzuweisen habe, sind in Kraft geblieben, sofern die Führung dieses Nachweises sich nach dem Gesetz als Bedingung der Befreiung darstellt (vgl. RGSt. 36 203). Der Zeuge muß versichern, der betreffenden Religionsgesellschaft anzugehören, einen Beweis für diese Zugehörigkeit braucht er aber nicht zu erbringen (RGSt. 27 410). Das Gericht ist trotzdem berechtigt, nachzuprüfen, ob der Zeuge Mitglied der betreffenden Religionsgesellschaft ist. Die Eidesleistung in der besonderen Beteuerungsform ist auch wirksam, wenn der Zeuge nur vorgeschützt hat, der Religionsgesellschaft anzugehören. Der Eid hat in diesem Falle die volle Bedeutung eines Eides in verfahrensrechtlicher Beziehung und für die Vorschriften des StGB über Meineid usw. (RGSt. 75 124; M ü l l e r S a x Anm. 1; K l § 66e Anm. 3; E b S c h m i d t § 66e Anm. 2). 467

§ 6 6 e Anm. 3 , 4 § 6 7 Anm. 1

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

3. Art der Beteuerung. Die vorgeschriebene Beteuerungsformel muß gebraucht werden (RGSt. 52 63). Ob daneben noch eine symbolische Handlung, z. B. ein Handschlag, erforderlich ist, entscheidet das Landesgesetz. Der Zeuge muß auf jeden Fall auch die an Stelle des Eides zugelassene Beteuerungsformel aussprechen (RGSt. 52 63, 57 342; E b S c h m i d t § 66e Anm. 3,4). Der Zeitpunkt der Beteuerung liegt dem Eide entsprechend n a c h der Zeugenvernehmung. 4. Sitzungsniederschrift. Der Wortlaut der Beteuerungsformel braucht in der Sitzungsniederschrift nicht angeführt zu werden (RGSt. 57 342; F u h r m a n n - D a l c k e Anm. 2; E b S c h m i d t Anm. 4).

§67 Wird der Zeuge, nachdem er eidlich vernommen worden ist, in demselben Vorverfahren oder in demselben Hauptverfahren nochmals vernommen, so kann der Richter statt der nochmaligen Vereidigung den Zeugen die Richtigkeit seiner Aussage unter Berufung auf den früher geleisteten Eid versichern lassen. 1. Berufung auf früher geleisteten Eid. a) Verfahren gegen denselben Beschuldigten. Es muß sich um dasselbe Verfahren gegen denselben Beschuldigten zur Zeit der Eidesleistung handeln. Dies ist nicht der Fall, wenn in einer Sache mehrere Hauptverhandlungen stattfinden und bei der späteren Verhandlung neue Mitbeschuldigte beteiligt sind, wie z. B. bei Verbindung mit einer anderen Strafsache (RGSt. 49 251; E b S c h m i d t Anm. 2; K l Anm. 1). Jeder Beschuldigte hat Anspruch darauf, daß der Zeuge den Eid in seiner Gegenwart leistet. Dasselbe Strafverfahren ist nicht gegeben, wenn die Verbindung zusammenhängender Strafverfahren nicht mehr besteht; dabei ist gleichgültig, ob die Verbindung niemals bestanden hat oder ob die frühere Verbindung aufgehoben worden ist. Daß das Hauptverfahren zu einem früheren Zeitpunkt dasselbe war, reicht zur Anwendung des § 67 nicht aus (RGSt. 11 352; F u h r m a n n - D a l c k e Anm. 2; E b S c h m i d t Anm. 2; K l Anm. 1). § 67 greift auch nicht Platz, wenn nach erfolgter Vernehmung durch Verbindung mit einer anderen Sache ein anderer Mitbeschuldigter hinzukommt, soweit sich das Verfahren gegen diesen anderen Mitbeschuldigten richtet (RGSt. 49 251). b) Nur bei nochmaliger Vernehmung. Eine nochmalige Vernehmung muß stattfinden. Alle Erklärungen, die ein Zeuge in demselben Termin oder in derselben Hauptverhandlung abgibt, stellen zusammen nur eine Vernehmung dar, gleichviel, ob der Zeuge nur einmal zur Auslassung aufgefordert wird oder, ob nach Vernehmung anderer Zeugen aufs neue Fragen an ihn gerichtet werden oder eine Gegenüberstellung stattfindet, das gilt auch, wenn eine Hauptverhandlung sich auf mehrere Tage erstreckt und die Befragung des Zeugen an verschiedenen Tagen stattfindet, sofern demnächst nur die Fortsetzung der Verhandlung und nicht eine Erneuerung eintritt. Eine nochmalige Vernehmung innerhalb derselben Verhandlung ist aber dann anzunehmen, wenn der Richter die Vernehmung des Zeugen in erkennbarer Weise abgeschlossen hatte, wie dies namentlich durch eine vorbehaltlose Entlassung des Zeugen geschieht. Eine erneute Herbeirufung und Befragung des Zeugen, also auch eine Ergänzung der Vernehmung, ist deshalb eine nochmalige Vernehmung (RGSt. 63 1). Die Vernehmung muß in demselben Vorverfahren oder in demselben Hauptverfahren stattfinden. aa) Dasselbe Vorverfahren. Darunter ist das vorbereitende Verfahren und die Voruntersuchung zu verstehen. Daher ist bei Vernehmung in der Voruntersuchung die Berufung auf den in dem vorbereitenden Verfahren geleisteten Eid möglich. Dagegen ist es unzulässig, sich in dem Hauptverfahren wie auch bei kommissarischer Vernehmung nach § 223

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Sechster Abschnitt. Zeugen (Kohlhaas)

§ 67 Anm. 2 , 3

auf einen in dem Vorbereitungsverfahren oder in der Voruntersuchung geleisteten Eid zu beziehen (RGSt. 64 379, 67 331; M ü l l e r - S a x Anm. l b ; E b S c h m i d t Anm. 3; K l Anm. 1A). bb) Dasselbe Hauptverfahren. Unter demselben Hauptverfahren ist das Verfahren von dem Eröfffnungsbeschluß bis zur Rechtskraft des Urteils zu verstehen (so BGH 1 StR 284/53 v. 11. 12. 1953), auch wenn die Hauptverhandlung länger also 10 Tage unterbrochen gewesen ist (RGSt. 2 234, 4 437; BGH 1 StR 83/53 v. 30. 7. 1953). Anders aber für die Belehrung (vgl. § 52 Anm. 4d). Die Abgabe der in § 67 bezeichneten Versicherung ist deshalb auch dann statthaft, wenn in der Hauptverhandlung ein Zeuge vernommen wird, der nach Eröffnung des Hauptverfahrens zunächst kommissarisch (§ 223) vernommen und hierbei vereidigt worden war (RGSt. 4 437). Dagegen ist es bei einer kommissarischen Vernehmung, da sie der Vernehmung in der Hauptverhandlung selbst gleichsteht, nicht statthaft, den Zeugen auf einen im Vorverfahren geleisteten Eid zu verweisen (RGSt. 12 575; BGH MDR 1953 723). Ein Unterschied zwischen Hauptverhandlung erster und zweiter Instanz besteht nicht. Das Hauptverfahren bleibt auch dann dasselbe, wenn ein mit der Berufung oder mit der Revision angefochtenes Urteil aufgehoben und die Sache in die Vorinstanz zurückverwiesen wird (RGSt. 2 234, 53, 78; F u h r m a n n - D a l c k e Anm. 2; E b S c h m i d t Anm. 4; K l Anm. 1B). Dasselbe gilt, wenn die Strafkammer in einer Berufungssache als Gericht erster Instanz erkennt, nicht aber wenn das Gericht erster Instanz seine sachliche Unzuständigkeit nach § 270 ausspricht, da der Verweisungsbeschluß die Wirkung eines Eröffnungsbeschlusses nach § 270 Abs. 3 hat und ein neues Hauptverfahren beginnt ( E b S c h m i d t Anm. 4). Muß wegen eines formalen Mangels, der im Verlauf der Hauptverhandlung entdeckt wird, die Verhandlung wiederholt werden, so verliert der mit dem Mangel behaftete Verfahrensabschluß nicht jede Bedeutung; war in diesem Teile der Verhandlung ein Zeuge eidlich vernommen, so behält der von ihm geleistete Eid seine Wirksamkeit (K1 Anm. 1B b). Es ist nicht zu beanstanden, daß der Zeuge bei der notwendigen Wiederholung der Vernehmung die Richtigkeit der Aussage unter Berufung auf den bereits geleisteten Eid versichert. Bei der Wiederaufnahme des durch rechtskräftiges Urteil geschlossenen Verfahrens handelt es sich aber um ein neues Verfahren. Deshalb ist hier die Berufung auf den in der früheren Hauptverhandlung geleisteten Eid unstatthaft (RGSt. 18 417; F u h r m a n n D a l c k e Anm. 1; M ü l l e r - S a x Anm. l b ; E b S c h m i d t Anm. 6; KI Anm. 1 Ba). Wird jemand in zweiter Instanz als sachverständiger Zeuge vernommen, in erster Instanz dagegen als Sachverständiger und hat er dort nur den Sachverständigeneid geleistet, so wird seine Zeugenaussage in der zweiten Instanz durch diesen Sachverständigeneid nicht gedeckt (Köln MDR 1955 183; M ü l l e r - S a x Anm. 2; K l Anm. 1 Ba). Die Anwendbarkeit des § 67 ist nicht auf den Fall beschränkt, daß der Zeuge bei seiner Vernehmung den Inhalt der früheren Aussage wiederholt. Die Vorschrift ist auch dann anwendbar, wenn der Zeuge jetzt von der früheren Aussage abweicht, oder wenn der Gegenstand einer neuen Vernehmung ein anderer als der der früheren ist (RG GA 42 136; K l Anm. 1). Es kommt nicht darauf an, ob gleichzeitig mit der Beeidigung auch eine Vernehmung stattgefunden hat. 2. Ermessensentscheidung. Der Richter kann die Versicherung an Stelle der nochmaligen Beeidigung annehmen (BGHSt. 1 140; M ü l l e r - S a x Anm. 4). Er darf aber auch den Zeugen aufs neue beeidigen, wenn er hierzu besondere Veranlassung findet (vgl. dazu von S c h o w i n g e n JZ 1955 257). Eine solche liegt dann vor, wenn der Zeuge außerstande ist, die Bedeutung der Versicherung richtig aufzufassen. Der Zeuge ist, wenn der Richter die Eidesleistung fordert, nicht befugt, sie deshalb zu verweigern, weil die im § 67 bezeichnete Versicherung genügt ( E b S c h m i d t Anm. 9). Darüber, ob der Zeuge die Versicherung nach § 67 abzugeben oder erneut einen Eid zu leisten hat, entscheidet zunächst der Vorsitzende. Eines Gerichtsentschlusses bedarf es nur, wenn das Verfahren des Vorsitzenden nach § 238 Abs. 2 beanstandet wird (Braunschweig NJW 1957 713; M ü l l e r - S a x Anm. 4; E b S c h m i d t Anm. 8; K l Anm. 4). 3. Versicherung auf den früheren Eid. Es genügt nicht, daß der Richter den Zeugen auf den früheren Eid verweist. Der Zeuge muß selbst eine die fragliche Versicherung enthaltende Erklärung abgeben (RGSt. 19 28; BGHSt. 4 140; F u h r m a n n - D a l c k e Anm. 4;

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§ 6 7 Anm. 4—6 § 68 Anm. 1

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

M ü l l e r - S a x Anm. 3 ; E b S c h m i d t Anm. 7; K l Anm. 7). Die Versicherung braucht nicht gerade mit den Worten des § 67 abgegeben zu werden. Die Worte: „unter Riickerinnerung" entsprechen nicht dem § 67 (BGHSt. 4 140). Eine Versicherung mit , j a " reicht aus. Das Erheben der rechten Hand findet bei Abgabe der Versicherung nicht statt. Der Nacheid und die nach der Vernehmung abzugebende Versicherung nach § 67 umfassen grundsätzlich nur das, was der Zeuge vorher ausgesagt hat. Wird der Zeuge nachträglich noch einmal vernommen, so muß er die Richtigkeit seiner nachträglichen Erklärungen in der in § 67 bestimmten Weise versichern; (BayObLGSt. 1956 254; K l Anm. IBb). Die Versicherung steht der Eidesleistung gleich. Sie darf deshalb nicht von einem Zeugen gefordert werden, der seit seiner Beeidigung die Eidesfähigkeit verloren hat. Dasselbe gilt, wenn zwar die Eidesunfahigkeit schon bei der ersten Vernehmung bestanden hat, dem Gericht aber nachträglich erst bekanntgeworden ist. 4. Belehrung über die Versicherung. Über die Bedeutung der abzugebenden Versicherung einschließlich des Zeugnis- und Eidesverweigerungsrechts, das auch bei Rückbezugnahme vorgeschrieben ist (BGH 1 StR 81/54 v. 9. 7. 1954), ist der Zeuge zu belehren. Ihre rechtliche Wirksamkeit ist aber von der Belehrung nicht abhängig. 5. Beweis der früheren Eidesleistung. Daß der Zeuge bei der früheren Vernehmung wirklich den Eid geleistet hat, kann auf jede für den Freibeweis verfahrensrechtlicher Vorgänge zulässige Weise bewiesen werden. Die Vorschriften über den Beweis zur Schuld- und Straffrage gelten dafür nicht. Für die Hauptverhandlung, auf der das Urteil beruht, gilt die formale Beweiskraft des Protokolls (§ 274) auch für diesen Nachweis ( M ü l l e r - S a x Anm. 4). Das Protokoll ist, wie überall, der Auslegung fähig. 6. Irrtümliche Annahme der Voraussetzungen des § 67 und ihre Folgen. a) Hat der Zeuge früher eine eidliche Aussage gemacht und war nur die Berufung auf diese eidliche Aussage nach § 67 (weil in einem anderen Verfahrensabschnitt geleistet) unzulässig, so beruht das Urteil nicht auf der Unterlassung der Beeidigung, wenn der Zeuge sich infolge der Versicherung als unter Eid stehend betrachtet und das Gericht seine Aussage als eidlich gewürdigt hat (RGSt. 64 379; BGH MDR 1953 722; F u h r m a n n D a l c k e Anm. 2; K l Anm. 1A; a. A. E b S c h m i d t Anm. 10). b) Hat der Zeuge früher eine eidliche Aussage nicht abgegeben, hat er dann aber die Richtigkeit seiner Aussage unter Berufung auf den früher geleisteten Eid versichert, so macht, wenn der Zeuge sich dabei geirrt hat, dieser Irrtum die in Wirklichkeit uneidliche Aussage nicht zu einer eidlichen (RGSt. 64 379; D a l c k e - F u h r m a n n Anm. 2). Dasselbe gilt, wenn ein Zeuge nach Leistung des Nacheides bzw. nach Leistung der Versicherung nochmals vernommen, aber versehentlich die Abnahme der Versicherung unterlassen wird. Daß der Zeuge sich als unter Eid stehend geglaubt hat, ist unbeachtlich.

§68 Die Vernehmung beginnt damit, daß der Zeuge über Vornamen und Zunamen, Alter, Stand oder Gewerbe und Wohnort befragt wird. Erforderlichenfalls sind dem Zeugen Fragen über solche Umstände, die seine Glaubwürdigkeit in der vorliegenden Sache betreffen, insbesondere über seine Beziehungen zu dem Beschädigten oder dem Verletzten, vorzulegen. 1. Personal- und Generalfragen. a) Vorlegung der Personalfragen ist vorgeschrieben, die der Generalfragen in das Ermessen des Richters gestellt. Die Altersfragen sind gesetzlich vorgeschrieben und zulässig (a. A. H e r m i n g h a u s e n D R Z 1951 225); sie können auch von wesentlicher Bedeutung sein. Die Befragung über Generalfragen ist Ordnungsvorschrift, auf deren Verletzung die Revision nicht gestützt werden kann (RGSt,45 405, 47 405; vgl. F u h r m a n n - D a l c k e Anm. 3; E b S c h m i d t Anm. 2; M ü l l e r - S a x Anm. lb).

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Sechster Abschnitt. Zeugen (Kohlhaas)

§ 6 8 Anm. 2—4

§ 68a Die Revision kann wegen der Personalfragen auf eine Verletzung nur dann gestützt werden, wenn eine Personenverwechslung vorliegt (RGSt. 40 157, 45 405, 55 22; a. A. E b S c h m i d t Anm. 1). Darauf kann das Urteil aber nur dann beruhen, wenn im Einzelfall festzustellen ist, daß die fehlenden Personalangaben für die Feststellung der Identität einer Meineidsverurteilung oder der Glaubwürdigkeit der Zeugen von Bedeutung gewesen sind; M ü l l e r - S a x Anm. 2; Kl Anm. 1). Das gilt auch, wenn die Fragen zwar gestellt und beantwortet sind, aber keine Beeidigung erfolgt ist. b) Nach Art. 140 G G dürfen Behörden nach der Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft im Normalfalle nicht fragen ( M ü l l e r - S a x Anm. l a ; E b S c h m i d t Anm. 3). In der Regel muß deshalb die Frage nach dem Religionsbekenntnis eines Zeugen unterbleiben (vgl. auch F u h r m a n n - D a l c k e Anm. 1). Doch tritt eine Ausnahme dann ein, wenn ein Zeuge von dem Recht des § 66 e Gebrauch machen will. Das Recht und die Pflicht des Gerichts zur Erforschung der materiellen Wahrheit bleibt weiter bestehen. Wenn die Frage nach einer bestimmten Religionsgemeinschaft für die Würdigung der Aussage des Vernommenen erheblich ist, kann deshalb auch weiter nach der Zugehörigkeit gefragt werden ( M ü l l e r - S a x Anm. 1). Dasselbe gilt für Fragen nach Abstammung und Rasse ( M ü l l e r S a x Anm. 1 a; E b S c h m i d t Anm. 4). Bezüglich der Generalfragen bedürfen die Beziehungen des Zeugen zu dem Beschuldigten mit Rücksicht auf die Bestimmung der §§ 52, 55, 61 und 63 der Erörterung. Doch darf die Befragung unterbleiben, wenn bekannt wurde, oder doch ohne weiteres anzunehmen ist, daß Beziehungen der fraglichen Art nicht bestehen (Kl Anm. l c ; M ü l l e r - S a x Anm. l b ; RGSt. 16 214; 45 406 a. A. E b S c h m i d t Anm. 5). Die Befragung soll nicht auf Umstände gerichtet werden die in dieser Sache keinen Einfluß auf die Glaubwürdigkeit des Zeugen haben können, anders aber, wenn die Umstände den Zeugen als unglaubwürdig erscheinen lassen. Über die Frage nach Tatsachen, die zur Unehre gereichen können, sowie nach Vorstrafen vgl. § 68 a. 2. Fragerecht. Das Fragerecht steht dem Vorsitzenden zu. Der Zeuge kann aber die Entscheidung des Gerichts nach § 238 herbeiführen ( E b S c h m i d t Anm. 6). Die Fragen sind von Amts wegen zu stellen. Anträge der Prozeßbeteiligten sind zu berücksichtigen. In der HV finden §§ 240, 224, 193 auch auf Personal- und Generalfragen Anwendung ( M ü l l e r - S a x § 68a Anm. lc). 3. Auskunftspflicht. Der Zeuge ist nicht berechtigt, die Beantwortung einer Frage deswegen zu verweigern, weil es seiner Ansicht nach auf ihren Gegenstand bei der vorliegenden Sache nicht ankommt. Die Verweigerung einer Antwort ist auch bei der Generalvernehmung nur nach § 5 5 zulässig ( E b S c h m i d t Anm. 7). 4. Beurkundung. Die Vorlegung und Beantwortung der Personalfragen bedarf der Beurkundung durch die Sitzungsniederschrift (RGSt. 3 100, 1 199; E b S c h m i d t Anm. 8; K1 Anm. 2). Ist nichts protokolliert, so muß davon ausgegangen werden, daß solche Fragen nicht gestellt sind.

§ 68 a (1) Fragen nach Tatsachen, die dem Zeugen oder einer Person, die im Sinne des § 52 Abs. 1 sein Angehöriger ist, zur Unehre gereichen können, sollen nur gestellt werden, wenn es unerläßlich ist. (2) Der Zeuge soll nach Vorstrafen nur gefragt werden, wenn ihre Feststellung notwendig ist, um über das Vorliegen der Voraussetzungen des § 60 Nr. 3 oder des § 61 Nr. 4 zu entscheiden oder um seine Glaubwürdigkeit zu beurteilen. Allgemeines. Es ist Sache des Gerichts, insbesondere des Vorsitzenden, Zeugen vor unangemessenen und unangebrachten Angriffen, insbesondere gegen die Ehre zu schützen. Da die Verteidigung des Angeklagten dabei nicht beeinträchtigt werden darf, sind Fragen

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§ 68 a Anm. 1—4

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

immer dann unerläßlich, wenn sie zur Wahrheitserforschung notwendig sind (BGHSt. 13 252). Viel hängt dabei von dem Takt des Vorsitzenden ab ( H ü l l e D R Z 1953 89; M ü l l e r S a x Anm. 1; OLG Celle NRpfl. 1951 18). 1. Frage nach entehrenden Tatsachen. Die Gefahr der Unehre liegt vor, wenn die kundzugebende Tatsache eine Gefahr für die sittliche Bewertung bildet ( E r b s Anm. II; F u h r m a n n - D a l c k e Anm. l ; E b S c h m i d t Anm. 1; K l Anm. 1). Den Zeugen oder seine Angehörigen bloßstellende Fragen dürfen überhaupt nur gestellt werden, wenn sie unerläßlich sind. Dies ist bei Zeugen mittleren Alters bei Fragen nach Jugendverfehlungen nicht der Fall (OLG Saarbrücken VRS 21 48). Sonst aber sind sie dann von dem Zeugen, soweit nicht § 55 in Betracht kommt, wahrheitsgemäß zu beantworten ( M ü l l e r - S a x Anm. 2). Sonstige Fragen, die das Ehrgefühl kränken, fallen zwar nicht unter § 68 a. Sie sind jedoch ebenfalls möglichst zu vermeiden. 2. Frage nach Vorstrafen. Die Vorschrift bezieht sich zwar unmittelbar nur auf die Fragestellung an den Zeugen. Sie läßt aber auch erkennen, in welchen Fällen der Gesetzgeber die Feststellung der Vorstrafen eines Zeugen überhaupt als für die Zwecke des Strafverfahrens gerechtfertigt ansieht. Beantragt ein Beteiligter, die Vorstrafe eines Zeugen festzustellen, nicht aus einem der im § 68 a bezeichneten Gründe, sondern, um den Zeugen in „Unehre" zu setzen, ihn zu verunglimpfen, so hat das Gericht diesen Antrag abzulehnen. Der Tatrichter entscheidet, welchen Zweck der Antrag enthält. Nach Vorstrafen darf überhaupt nur gefragt werden, wenn die Feststellung notwendig ist, um über das Vorliegen der Voraussetzungen des § 60 Ziff. 3 oder des § 61 Ziff. 4 eine Entschließung zu treffen oder zur Beurteilung der Glaubwürdigkeit. § 244 Abs. 2 ist dabei stets zu beachten (BGH LM § 68a Nr. 19). Auch ist mit dem Wegfall des Verlustes der bürgerlichen Ehrenrechte eine Frage nach Vorstrafen erheblich eingeschränkt. Jedoch kann der Umstand, daß ein Zeuge gerade wegen einer strafbaren Handlung derselben Art verurteilt worden ist, wie sie den Gegenstand der Untersuchung bildet, bisweilen die Glaubwürdigkeit des Zeugen in Frage stellen (z. B. bei gewerbsmäßigen Jagdvergehen). Wird die Glaubwürdigkeit des Zeugen bezweifelt, so ist es statthaft, die Vorstrafakten beizuziehen und auch z. B. das betreffende Strafurteil zu verlesen, z. B. wenn der Zeuge angibt, seinerzeit unschuldig verurteilt worden zu sein (BGHSt. 1 337; F u h r m a n n D a l c k e Anm. 3; M ü l l e r - S a x Anm. 3; E b S c h m i d t Anm. 8; K l Anm. 2). Wenn die Verurteilung im Strafregister getilgt ist, darf der Verurteilte jede Auskunft über die Strafe und die Tat verweigern, er darf sich sogar als nicht vorbestraft bezeichnen, soweit nicht eine andere, noch nicht getilgte Verurteilung entgegensteht (vgl. BGH NJW 1955 393 H ä r t u n g ; JR 1952 42; M ü l l e r - S a x Anm. 3; Kl Anm. 2B; K o h l h a a s D R Z 1957 177. Aus besonderen Gründen sollen nach der derzeitigen Rechtsprechung das Gericht und die Staatsanwaltschaft auch anordnen dürfen, daß der Verurteilte auch über bereits getilgte Vorstrafen Auskunft zu geben habe (BGHSt. 6 243, LM § 4 StrTilgGes. E r b s Anm. I; F u h r m a n n - D a l c k e Anm. 3; M ü l l e r - S a x Anm. 3; E b S c h m i d t Anm. 6; Kl Anm. 2B; a. A. K o h l h a a s NJW 1953 851 und DRiZ 1957 183; NJW 1970 649; H ä r t u n g JR 1952 42; F r ä n k e l LM aaO.; C r e i f e l d s NJW 1953 178). Von dieser Ausnahmevorschrift soll, wenn man sie schon zulassen will, was mit dem Sinn der Rehabilitierung Straffälliger völlig unvereinbar erscheint, in den seltensten Fällen Gebrauch gemacht werden. 3. Zuständigkeit des Vorsitzenden. Ob die Frage unerläßlich notwendig ist, hat in erster Linie nach § 238 Abs. 1 der Vorsitzende des Gerichts zu prüfen und zu entscheiden. Das Gericht selbst entscheidet nur, wenn die Anordnung des Vorsitzenden nach § 238 Abs. 2 beanstandet wird (so auch E b S c h m i d t Anm. 9). 4. Rechtsmittel. § 68 a bedeutet, wie sich aus dem Wort „soll" ergibt, eine bloße Ordnungsvorschrift, deren Verletzung die Revision nicht begründet. Nur dann kann ein Verstoß gegen § 244 (Pflicht zur Wahrheitsforschung) in Betracht kommen, wenn Fragen, welche die Glaubwürdigkeit des Zeugen betreffen, zu Unrecht abgelehnt worden sind (vgl. BGH LM § 244 Abs. 2 StPO Nr. 9; H. W e i m a n n JR 1953 20). 472

Sechster Abschnitt. Zeugen (Kohlhaas)

§69 Anm. 1,2

§69 (1) Der Zeuge ist zu veranlassen, das, was ihm von dem Gegenstand seiner Vernehmung bekannt ist, im Zusammenhang anzugeben. Vor seiner Vernehmung ist dem Zeugen der Gegenstand der Untersuchung und die Person des Beschuldigten, sofern ein solcher vorhanden ist, zu bezeichnen. (2) Zur Aufklärung und zur Vervollständigung der Aussage sowie zur Erforschung des Grundes, auf dem das Wissen des Zeugen beruht, sind nötigenfalls weitere Fragen zu stellen. (3) Die Vorschrift des § 136a gilt für die Vernehmung des Zeugen entsprechend. 1. Unterrichtung des Zeugen über den Gegenstand der Untersuchung und die Person des Beschuldigten. Der Zeuge muß wissen, worüber er vernommen werden soll. Er ist deshalb über den Gegenstand der Untersuchung zu unterrichten; er muß den Vorgang kennenlernen, um den es sich handelt, und muß um die Vorwürfe in strafrechtlicher Hinsicht wissen. Wenn sich das vorbereitende Verfahren bereits gegen eine bestimmte Person richtet, muß die Person des Beschuldigten ohne Rücksicht darauf bezeichnet werden, ob dieser bereits als solcher vernommen ist. Bloßer Verdacht macht jedoch die Benennung des Verdächtigen noch nicht erforderlich ( K o h l h a a s NJW 1965 1216). 2. Vernehmung zur Sache selbst. Die Vernehmung zur Sache selbst muß im Rahmen der Bestimmungen des StPO stattfinden. Zu beachten ist der Grundsatz der a) Mündlichkeit. Der Zeuge hat seine Aussage, von § 186 GVG und nunmehr § 163 a Abs. 1 abgesehen, mündlich zu machen. Die Überreichung eines die Aussage enthaltenden Schriftstücks ist (RGSt. 37 330) ebenso wie die Bezugnahme auf eine bereits bei den Akten befindliche schriftliche Erklärung (RGSt. 62 146) oder die Bezugnahme auf eine von einem anderen als dem Vernehmenden vorbereitete Sitzungsniederschrift in allen nicht einfachen Sachen (§ 163 a Abs. 1) unzulässig (RGSt. 65 273). Schriftliche Vernehmungen sind allerdings nach Ziffer 92 RiStV zulässig, insbesondere bei weiter Entfernung, Aufenthalt des Zeugen im Auslande pp. Zur Schuld und Straffrage darf jedoch die schriftliche Vernehmung vom Gericht nicht verwertet werden, wohl aber für Fragen, bei denen Freibeweis zulässig ist (RGSt. 71 10). b) Wahrheitsermittlung. Der Zeuge hat zunächst sein Wissen über den Gegenstand der Vernehmung unbeeinflußt durch Fragen, Vorhalte oder frühere Aussagen im Zusammenhang anzugeben, und zwar aus Gründen der Wahrheitsermittlung, wogegen vielfach verstoßen wird, weil der Vorsitzende unablässig Fragen stellt und unterbricht. Die Teilung zwischen Bericht des Zeugen und Verhör nach Abs. II wird oft verwischt ( M ü l l e r - S a x Anm. 1; K o h l r a u s c h Anm. 1; E b S c h m i d t Anm. 2; K l Anm. 2 A). Zweck der Vorschrift ist, daß die eigene freie Darstellung nicht von vornherein durch Fragen, Vorhalte pp. beeinflußt werden und damit die Unbefangenheit des Zeugen verlorengehen soll. Unzulässig ist es, bei wiederholter Vernehmung den Zeugen vor seiner Äußerung die frühere Aussage aus der Niederschrift vorzulesen, weil dadurch die Unmittelbarkeit der Aussage gefährdet wird und der Zeuge sich durch die frühere Aussage gebunden fühlen kann und hierdurch die Wahrheitsermittlung und eine Beweiswürdigung beeinträchtigt wird (RGSt. 62 149, 74 35; BGHSt. 3 281; M D R 1951 658; NJW 1953 35; Braunschweig NJW 1952 119; Hamm JMB1. NRW 1953 45; Köln D A R 1953 218). Das schließt allerdings nicht aus, daß während des Vortrags des Zeugen Zwischenfragen gestellt werden dürfen (BGH 5 StR 340/52 v. 7. 5. 1953). Nur wenn von dem Zeugen aus in seiner Person liegenden Gründen (Lebensalter, Gedächtnisschwäche und ähnl.) eine zusammenhängende Darstellung seiner Wahrnehmungen nicht zu erlangen ist, also ein dahingehender Versuch des Gerichts gescheitert ist, darf und muß eine Befragung oder ein sachlicher Vorhalt durch den Richter im einzelnen stattfinden (RGSt. 74 35; M ü l l e r - S a x Anm. l h ; E b S c h m i d t Anm. 6). Auf die bloße Nachholung einer Vereidigung findet § 69 keine Anwendung (BGH NJW 1953 231). Erst nach Abgabe der eigenen Sachdarstellung des Zeugen sind anschließend dann nach § 68 Abs. 2 zur Ergänzung der Aussagen weitere Fragen zulässig. 473

§69 Anm. 3

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

Von entscheidender Bedeutung bei der Vernehmung ist die Frage, ob der Zeuge eigene Wahrnehmungen oder das Wissen aus Mitteilungen Dritter bekundet. Auch das Wissen des Zeugen aus Mitteilungen Dritter kann Gegenstand der Vernehmung sein (RGSt. 48 246). Ein Verbot, Zeugen vom Hörensagen zu vernehmen, besteht nicht. Es steht im Ermessen des Gerichts, ob und inwieweit es die mittelbare Beweisführung für ausreichend hält, vorbehaltlich des Rechts der Prozeßbeteiligten, durch Beweisanträge oder eigene Zeugenladungen die streitigen Vorgänge zum Gegenstand einer unmittelbaren Beweisaufnahme zu machen (BGH NJW 1952 153; MDR 1954 400 [ D a l l i n g e r ] ; K l Anm. 2B). Besondere Vorsicht ist aber bei Berichten von Polizeibeamten über vertrauliche Mitteilungen geboten, falls sie die mitteilende Person wegen § 54 StPO nicht angeben können K l Anm. 2B; K o h l h a a s JR 1957 41). Die Vernehmung eines Zeugen über ein von ihm angehörtes, vor einem anderen Gericht abgegebenes Sachverständigengutachten ist nicht zulässig. Ein solches mündliches oder durch Dritte übermitteltes Gutachten ohne vollständige Begründung durch den Sachverständigen kann keine geeignete Grundlage für die Beantwortung der Schuldfrage bilden. Soweit es sich um die Vernehmung über Meinungen, Mutmaßungen und Schlußfolgerungen und Werturteile handelt, braucht der Zeuge keine Auskunft zu geben. Gleichwohl sind dahingehende Fragen nicht unbedingt unzulässig, sofern sie zur Klarstellung der Wahrnehmungen selbst beitragen, auch Anlaß zu weiteren Beweiserhebungen bieten können. Sonach ist die Vernehmung eines Zeugen über die Glaubwürdigkeit, Lügenhaftigkeit, sittliche Verdorbenheit, Trunksucht des Beschuldigten pp. zulässig (RGSt. 37 371, 39 363, 48 266,57 412). Einsichtnahme in Schriftstücke (Notizen, Rechnungen pp.) ist, nicht aber in Form von nicht durch Tatsachen unterbauten Werturteilen (BGH 4 StR 534/52 v. 30.4. 1953), statthaft. Bei Ausbreitung umfangreichen, gedächtnismäßig nicht zu beherrschenden Zahlenmaterials darf der Zeuge in der Hauptverhandlung seine Aufzeichnungen sogar verlesen und, soweit nötig, erläutern. Unter Umständen besteht sogar die Pflicht, dem Zeugen die bei den Akten befindlichen Unterlagen zur Einsicht vorzulegen, wenn sonst eine ordnungsmäßige Zeugenaussage nicht zu erreichen ist (BGHSt. 1 418; M ü l l e r - S a x Anm. Ii). Welcher Grad von Zuverlässigkeit der Aussage beizumessen ist, hat der Richter nach Lage des Einzelfalls zu entscheiden (RGSt. 10 115; 20 105, 35 7, 36 54; BGHSt. 1 5). Es ist auch statthaft, den Zeugen in die Protokolle Einsicht nehmen zu lassen, die er selbst aufgenommen hat (RGSt. 8 722, 9 475; 36 53; BGHSt. 1 5). In diesen Fällen sind auch die Verlesung aus diesen Schriftstücken sowie mündliche Vorhalte daraus zulässig. Die Gewährung der Einsicht in Handzeichnungen und Lichtbüder ist zulässig. Dem steht der Grundsatz des § 250 (Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme) nicht entgegen. § 250 verbietet nur, die mündliche Vernehmung des Zeugen durch Verlesung der über seine frühere Vernehmung aufgenommenen Niederschrift oder durch eine schriftliche zu ersetzen. Unstatthaft sind dagegen Maßregeln, die gegen § 136a verstoßen. § 69 überläßt es im wesentlichen der Erfahrung des Richters, den Gang und die Art der Vernehmung zu bestimmen. Jedoch gilt nach Abs. 3 § 136a entsprechend. Das Verbot dieser Vorschrift, eine inhaltlich oder wegen der erwählten Mittel unzulässige Aussage zu verwerten, gilt demnach auch beim Zeugen, und zwar ohne Rücksicht darauf, ob der Zeuge auf die Einhaltung dieser Vorschrift verzichtet oder nicht. Eine entgegen der Vorschrift des § 136a entgegengenommene Aussage darf nicht verwertet werden (im einzelnen vgl. § 136a und Anmerkungen). 3. Niederschrift über die Vernehmung. Von der Vernehmung des Zeugen nach den vorstehenden Grundsätzen ist die Niederschrift über seine Vernehmung zu unterscheiden. Die Protokollierung der Aussage ist durch §§ 188, 168,273 StPO geregelt. In jedem Falle muß der Niederschrift zu entnehmen sein, daß der Zeuge vor dem Richter eine eigene zusammenhängende Darstellung seines Wissens gegeben hat. Falls diese Vernehmung sich ganz oder teilweise mit früheren Aussagen deckt, ist es nicht unzulässig, den Zeugen in der Niederschrift auf die ihm nochmals vorgelesene Aussage, jedoch nach vorheriger Abgabe seiner eigenen Darstellung, im Zusammenhang Bezug nehmen zu lassen (RGSt. 74 36, BGH NJW 1953 35; M ü l l e r - S a x Anm. 1 f; E b S c h m i d t Anm. 5; K l Anm. 1 Ba). Insoweit liegt nur eine vereinfachte Niederschrift vor. 474

Sechster Abschnitt. Zeugen (Kohlhaas)

§ 6 9 Anm. 4—6 § 7 0 Anm. 1

4. Zulässigkeit von Maßnahmen gegenüber dem Zeugen. Eine Untersuchung des Zeugen auf den Geisteszustand ist, selbst wenn sie vom Angeschuldigten beantragt wird, unzulässig (OLG Hamm J Z 1957 181; F u h r m a n n - D a l c k e Anm. 3). Die körperliche Untersuchung ist nur im Rahmen des § 81 c zulässig. Von beiden unterscheidet sich jedoch die Zuziehung eines psychologischen Sachverständigen, insbesondere bei der Vernehmung von Kindern. Sie ist statthaft, unter Umständen sogar notwendig (vgl. M ü l l e r - S a x Anm. 4 c ; B o h n e SJZ 1949 Sp. 9; L o o s D R Z 1950 322; K o h l h a a s N J W 1951 903; 1953 392). 5. Geltungsbereich der Vorschrift. Grundsatz: § 69 gilt nur für richterliche Vernehmungen, dort aber auch für Vernehmung durch den beauftragten bzw. ersuchten Richter (RGSt. 74 35; BGH N J W 1953 35; K l Anm. 1 B; M ü l l e r - S a x Anm. la). Für polizeiliche und staatsanwaltschaftliche Vernehmungen gilt § 69 nicht zwingend. Hieran hat sich auch durch § 163 a nichts geändert. Doch ist auch bei diesen Vernehmungen § 136a zu beachten ( M ü l l e r - S a x Anm. la). 6. Verletzung der Vorschrift und ihre Folgen. Soweit ein Hinweis des Zeugen auf den Gegenstand der Untersuchung und Person des Beschuldigten in Betracht kommt, ist § 69 Abs. 1 nur Ordnungsvorschrift. Seine Verletzung bietet daher keinen Revisionsgrund (RGSt. 6 267; M ü l l e r - S a x Anm. 7 a ; K l Anm. 2, zweifelnd BGH 5 StR 178/55 v. 19. 7. 1955; a. A. E b S c h m i d t Anm. 7). Im übrigen aber handelt es sich um zwingendes Recht ( RGSt. 74 35 R G BGH N J W 1953 35, 231, Braunschweig NJW 1952 119, Hamm JMB1. NRW 1953 44, Köln D A R 1953 218) auch wenn die Verfahrensbeteiligten gegen die Vernehmungsart keinen Einspruch erhoben haben (BGH 1 StR 317/53 v. 7. 12. 1954). Eine Verlesung der Aussage nach § 251 Abs. 1 Nr. 3 ist alsdann unzulässig (BGH 6 StR 122/55 v. 23. 11. 1955), selbst wenn alle Beteiligten der Verlesung nach § 2 5 1 Abs. 1 Nr. 4 zustimmen (BGH 2 StR 526/57 v. 15. 1. 1958). Ist aber von keiner Seite beanstandet worden, daß der Vorsitzende nicht im Zusammenhang gefragt habe, kann die Rüge dieses angeblichen Verstoßes durch dienstliche Erklärungen widerlegt werden (BGH 1 StR 488/60 v. 2. 5. 1961). Bei Verstoß gegen die Vorschrift ist die Revision insoweit begründet, falls die Wahrheitsermittlung und die ungehinderte Beweiswürdigung beeinträchtigt wird, und wenn auf diesem Verstoß das Urteil beruhen kann. Dasselbe gilt bei Verstoß gegen § 136a in Verbindung mit § 69 ( F u h r m a n n - D a l c k e Anm. 4; M ü l l e r - S a x Anm. 7; L e s s D R Z 1950 322).

§ 7 0 (1) Wird das Zeugnis oder die Eidesleistung ohne gesetzlichen Grund verweigert, so ist der Zeuge in die durch die Weigerung verursachten Kosten sowie zu einer Ordnungsstrafe in Geld und für den Fall, daß diese nicht beigetrieben werden kann, zur Strafe der Haft bis zu sechs Wochen zu verurteilen. (2) Auch kann zur Erzwingung des Zeugnisses die Haft angeordnet werden, jedoch nicht über die Zeit der Beendigung des Verfahrens in dem Rechtszug, auch nicht über die Zeit von sechs Monaten, und bei Übertretungen nicht über die Zeit von sechs Wochen hinaus. (3) Die Befugnis zu diesen Maßregeln steht auch dem Untersuchungsrichter, dem Amtsrichter im Vorverfahren sowie dem beauftragten und ersuchten Richter zu. (4) Sind die Maßregeln erschöpft, so können sie in demselben oder in einem anderen Verfahren, das dieselbe Tat zum Gegenstand hat, nicht wiederholt werden. 1. Allgemeines. Über die Anwendbarkeit der Bestimmungen auf Zeugenvernehmungen in Verwaltungsverfahren oder in Dienststrafverfahren siehe Vorbem. zu §§ 52—55. Dagegen findet die Bestimmung auch im Ermittlungsverfahren Anwendung, jedoch nur für richterliche Vernehmungen, nicht für Vernehmungen vor der StA oder der Polizei. 475

§70 Anm. 2—4

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

2. Der Ungehorsam des Zeugen. a) Die Bestimmung setzt voraus, daß ein vor dem Richter erschienener Zeuge die Erfüllung seiner Zeugnispflicht oder die Eidesleistung ganz oder teilweise ohne Grund, also ohne die Voraussetzungen der §§ 52 bis 55 verweigert. Die Bestimmung trifft auch Jugendliche, selbst eidesunfahige und Heranwachsende, desgleichen gesetzliche Vertreter und Erziehungsberechtigte im Rahmen des zu § 51 Anm. 9 ausgeführten. Es handelt sich nicht um eine Kriminalstrafe, sondern um reines Ordnungsunrecht. Nicht verhängt werden kann die Ordnungsstrafe, wenn es am Verschulden fehlt (vgl. § 51 Anm. 9). Dagegen entschuldigen weder Art. 4 G G noch die Verweigerung auf die Bibel die Eidesverweigerung (OLG Düsseldorf OLGSt. 59 S. 1). Die in § 51 vorgesehenen Maßregeln und die Maßregeln nach § 70 sind voneinander unabhängig (OLG Stuttgart NJW 1956 840). Eine Anrechnung der nach § 51 festgesetzten Strafe auf die nach § 70 zu verhängende Strafe oder Zwangshaft ist nicht möglich, und zwar selbst dann nicht, wenn der Zeuge gerade wegen der vermeintlichen Berechtigung zur Verweigerung des Zeugnisses ausgeblieben war ( E b S c h m i d t Anm. 10). Im Gegensatz zu der Weigerung nach § 52 (vgl. dort Anm. 5 b) kann aus der ungerechtfertigten Weigerung, auszusagen oder zu schwören, ein Schluß für oder gegen den Angeklagten gezogen werden. Hier liegt nicht der familiäre Konflikt vor, sondern ein deutlicher Hinweis auf eine Begünstigung oder Belastungsabsicht (BGH NJW 1966 211). b) Jeder Zeuge ist verpflichtet, das Zeugnis so oft abzulegen, wie der Richter es fordert. Die Maßregeln des § 70 finden deshalb auch gegen denjenigen Zeugen Anwendung, der zwar bei einer früheren Vernehmung seine Zeugnispflicht erfüllt hat, bei einer späteren Verhandlung aber das Zeugnis oder dessen Beeidigung ohne gesetzlichen Grund verweigert. c) Zur Erzwingung einer wahrheitsgemäßen Aussage ist § 70 nicht anwendbar (RGSt. 73 33, BGHSt. 9 363). Eine wahrheitsgemäße Aussage kann nur mittelbar durch Beeidigung unter der Androhung einer Meineidsstrafe erzwungen werden. Werden Maßnahmen aus § 70 dennoch getroffen, so ist zu prüfen, ob die Aussagen des Zeugen gem. § 136a Abs. 3 in Verbindung mit § 69 Abs. 3 überhaupt verwertbar sind ( E b S c h m i d t Anm. 9, M ü l l e r - S a x Anm. 1; F u h r m a n n - D a l c k e Anm. 1; E r b s Anm. III; K l Anm. 1 a). Anders nur, wenn der Zeuge sagt, er wisse nichts und damit sein Wille erkennbar dahin geht, die Aussage als solche zu verweigern (BGH MDR 1957 52). d) § 70 ist im ganzen Umfang anwendbar, wenn der Zeuge die Erfüllung seiner Zeugnispflicht auch nur teilweise unberechtigt, etwa nur für die Beantwortung einzelner Fragen verweigert (RG DJ 1939 1252). Die Verweigerung der Beeidigung steht derjenigen des Zeugnisses gleich. Es beruht lediglich auf einem Fassungsversehen, daß in Abs. 2 nur von dem Zeugnis und nicht auch von der Beeidigung die Rede ist (RGSt. 57 29; M ü l l e r - S a x Anm. 6; E b S c h m i d t Anm. 3; K l Anm. 1; a. A. E r b s Anm. II). Auch derjenige Zeuge, der die Abgabe einer die körperliche Eidesleistung ersetzende Versicherung verweigert, unterliegt der Bestimmung des § 70. 3. Die Maßregeln gegen den ungehorsamen Zeugen. Neben der Bestrafung (Abs. 1) steht die Anwendung des Zwanges (Abs. 2). Die Verhängung der Zwangshaft kann nicht ohne vorgängige oder gleichzeitige Festsetzung der Strafe eintreten. Sonst sind aber beide Maßregeln voneinander unabhängig. Wenn an Stelle der Ordnungsstrafe des Abs. 1 Ersatzhaft zu vollstrecken ist, ist diese nicht auf die Zwangshaft (Abs. 2) in Anrechnung zu bringen. Die Dauer der Freiheitsentziehung besteht äußerstenfalls in 6 Monaten bei Vergehen oder 6 Wochen, bei Übertretungen in 12 Wochen. 4. Die Ordnungsstrafe und die Kostenverurteilung. a) Verwirkung der Strafe. Die Strafe ist verwirkt, wenn der erschienene Zeuge das Zeugnis oder die Beeidigung verweigert, ohne daß ihm ein gesetzlicher Grund für die Weigerung zur Seite steht; ein solcher Grund kann aber darin bestehen, daß der Zeuge nur deshalb die Aussage verweigert, weil die Hauptverhandlung nach Ansicht des Zeugen zu Unrecht durch Rundfunk übertragen wird ( M ü l l e r - S a x Anm. 1). Vgl. auch Gedächtnisschrift für 476

Sechster Abschnitt. Zeugen (Kohlhaas)

§70 Anm. 4

Walter J e l l i n e k , E b S c h m i d t : die Verwendbarkeit von Tonbandaufnahmen im Strafprozeß S. 643. Auch bei unrechtmäßiger Verweigerung einer uneidlichen Aussage kann eine Ordnungsstrafe verhängt werden. Voraussetzung ist aber, daß dem Zeugen nach § 69 Abs. 1 Satz 2 der Gegenstand der Untersuchung und die Person des Beschuldigten, sofern ein solcher vorhanden ist, bezeichnet wird. Bei Geltendmachung eines bestimmten, gesetzlich nicht anerkannten Weigerungsgrundes ist fernere Voraussetzung der Strafverhängung, daß dem Zeugen die Unzulässigkeit des Weigerungsgrundes bekannt gemacht ist und, daß er dennoch bei seiner Weigerung beharrt. Die Verhängung der Strafe tritt auch dann ein, wenn der Zeuge gegen die Verwerfung seines Weigerungsgrundes Beschwerde erheben will. Denn durch solche Beschwerde wird die Festsetzung der Strafe nicht aufgehalten (vgl. §§ 304 Abs. 2, 307). Die Strafe ist erst festzusetzen, wenn der Zeuge erfolglos über seine Zeugnispflicht belehrt worden ist. b) Mußvorschrift. Liegen die Voraussetzungen der Bestrafung vor, so muß sie ausgesprochen werden — im Gegensatz zur Kannvorschrift der Erzwingungshaft nach Abs. 2. Doch kann sich der Richter zunächst auf die Androhung der Strafe beschränken und den Erfolg dieser Androhung abwarten ( A l s b e r g JW 1922 1393). Vor allem ist der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten, wo etwa — unbeschadet der hier zu § 53 Anm. 6 a vertretenen Auffassung, daß es sich um Prozeßrecht und nicht um Presserecht handelt — der Konflikt zwischen der Freiheit der Meinungsäußerung und den Interessen der Strafrechtspflege besteht. Grundvoraussetzung für jede Ordnungsstrafe ist ferner die Gewährung rechtlichen Gehörs (Kl Anm. 5). c)Die Ordnungsstrafe als solche. Die Ordnungsstrafe ist Geldstrafe, und zwar von 1 - bis 1 0 0 0 , - D M (vgl. Art. II der VO über Vermögensstrafen v. 6.2. 1924 [RGBl. I 44]). Bei der Festsetzung der Strafe ist auf die Schwere und die Bedeutung des den Gegenstand der Untersuchung bildenden Delikts, auf den mutmaßlichen Grund des Ungehorsams des Zeugen und dessen Vermögensverhältnisse Rücksicht zu nehmen (BGH NJW 1960 550). Dabei soll nach OLG Hamm Rpfl. 1953 543 die Aussageverweigerung eines in Freiheit befindlichen Zeugen weniger schwer wiegen als die eines in Strafhaft befindlichen. Eine sehr fragwürdige Differenzierung, die nicht abstrakt übernommen werden darf. Die Verurteilung setzt vorherige Gewährung rechtlichen Gehörs (vgl. Art. 103 Abs. 1 BGG) und Verschulden des Zeugen voraus. Dabei sind die Grundsätze des Verbotsirrtums zu beachten (LG Köln NJW 1958 1598). Da die Strafe keine kriminelle Strafe ist, kann sie auch gegen einen jugendlichen Zeugen, und zwar auch gegen einen strafunmündigen Zeugen sowie gegen Heranwachsende verhängt werden ( M ü l l e r - S a x Anm. 4; F u h r m a n n D a l c k e Anm. 4; K l Anm. 1 Db). Keinesfalls aber gegen Personen, die gar keine Zeugen sein können (Vorbem. 4 vor § 48). d) Vollstreckbarkeit. Der die Strafe verhängende Beschluß bleibt bestehen und ist zu vollstrecken, auch wenn der Zeuge demnächst seiner Zeugnispflicht genügt, oder wenn sich die Entbehrlichkeit seines Zeugnisses herausstellt ( M ü l l e r - S a x Anm. 4; E b S c h m i d t Anm. 15). Hierdurch unterscheidet sie sich von der Zwangshaft. Der Richter ist aber befugt, die Straffestsetzung wieder aufzuheben, wenn er sich nachträglich davon überzeugt, daß die Weigerung des Zeugen berechtigt ist. e) Keine mehrmalige Bestrafung! Die Bestrafung des Zeugen darf in derselben Strafsache oder in einer anderen, die dieselbe Tat zum Gegenstand hat, nicht öfter als einmal stattfinden. Eine abermalige Bestrafung ist selbst dann ausgeschlossen, wenn die festgesetzte Strafe den zulässigen Höchstbetrag von 1000,— D M nicht erreicht hat ( E b S c h m i d t Anm. 15; K l Anm. 2 A). Der die Strafe verhängende Beschluß ist, auch wenn er durch Beschwerde angefochten wird (§ 304), sofort vollstreckbar (§ 307). 0 Kostenverurteilung. Ist die Verurteilung des Zeugen nicht erfolgt, so fallen die durch den Ungehorsam des Zeugen verursachten Kosten dem Verurteilten zur Last (§ 465). Zu berücksichtigen bleiben aber die Niederschlagungsvorschrift der §§ 6, 7 G K G u. evtl. Schadensersatzansprüche gegen das Land ( M ü l l e r - S a x Anm. 5). Bei Verurteilung des 477

§70 Anm. 5

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

Zeugen hat der Angeklagte die Kosten nicht zu tragen. Dies ist in der Urteilsformel, zumindest aber in den Urteilsgründen zum Ausdruck zu bringen (OLG Hamm NJW 1956 1935; M ü l l e r - S a x Anm. 4). 5. Die Zwangshaft oder Beugehaft. a) Möglichkeit der Verhängung der Zwangs- oder Beugehaft. Die Verhängung der Zwangs- oder Beugehaft ist neben der Bestrafung nach Abs. 1 auch bei Eidesverweigerung (RGSt. 25 134, 57 29; BGH 3 StR 614/54 v. 23. 6. 1955) und im Vorverfahren statthaft. Auch der die Zwangshaft verhängende Beschluß ist s o f o r t zu vollstrecken. Die Vollstreckung der Ersatzstrafe nach Abs. 1 kann der Anwendung der Zwangshaft meist nicht vorausgehen, weil in dem Zeitpunkt, in dem die Notwendigkeit des Zwanges eintritt, noch nicht immer die Uneinziehbarkeit der Geldstrafe feststeht. Sobald sie aber feststeht, muß die Zwangshaft unterbrochen und zunächst die Strafhaft vollstreckt werden, da durch Ablehnung des Zeugnisses die Zwangshaft erledigt werden würde ( M ü l l e r - S a x Anm. 7; a. A. E b S c h m i d t Anm. 17). b) Kannbestimmung. Die Zwangshaft kann angeordnet werden. Sie steht im Ermessen des Richters (BGH NJW 1966 211). Er kann von der Verhängung dieser Maßregel überhaupt oder einstweilen Abstand nehmen, wenn er des Zeugnisses zur Aufklärung nicht zu bedürfen glaubt oder, wenn er es aus einem anderen Grunde für angemessen hält, den Zeugen von der Zwangshaft zu verschonen. Die Anordnung der Zwangshaft ist nur dann auszusprechen, wenn dies nach den Umständen des Falles unerläßlich erscheint. Dasselbe gilt auch für die Beeidigung. Wenn auch grundsätzlich jeder Zeuge, soweit nicht die Ausnahmebestimmungen Platz greifen, beeidigt werden muß, so nötigt das den Richter doch nicht, gegen den die Beeidigung verweigernden Zeugen die Zwangshaft oder Beugehaft zu verhängen oder deren gesetzlich zulässige Dauer zu erschöpfen ( M ü l l e r - S a x Anm. 6). Es ist im Falle der Eidesverweigerung dem Richter unverwehrt, auch das unbeeidigte Zeugnis zu verwerten (RGSt. 25 134; K o b l e n z NJW 1952 278). c) Dauer der Zwangs- oder Beugehaft. Die Zwangshaft darf höchstens die Dauer von 6 Monaten oder von 6 Wochen erreichen. Es ist dem richterlichen Ermessen überlassen, auf welche Dauer er sie im einzelnen Fall verhängt und ob insbesondere das höchste zulässige Maß zu erschöpfen ist. Die für die Höhe der Strafe in Anmerkung 4 c hervorgehobenen Gesichtspunkte sind zu berücksichtigen. Der Richter braucht sich bei der Anordnung der Zwangshaft über die Dauer noch keineswegs schlüssig zu werden, da ja seine Entschließung hierüber von dem späteren Verlaufe des Verfahrens abhängig ist. Der Richter ist immer befugt, bis zur gesetzlichen Höchstdauer die Haft zu verlängern. Setzt der Richter zunächst nur eine geringe Strafe fest, so versetzt er den Zeugen dadurch in den Irrtum, daß die gegen ihn zulässige Maßregel nach Ablauf des Zeitraums erschöpft ist ( M ü l l e r - S a x Anm. 7 vgl. aber e). d) Notwendigkeiten der Aufhebung der Zwangshaft. Die Aufhebung der Zwangshaft muß notwendig verfügt werden, aa) wenn der Zeuge seiner Zeugnis- bzw. Beeidigungspflicht vollständig genügt hat, bb) wenn die in § 70 Abs. 2 zugelassene höchste Dauer der Zwangshaft erschöpft ist, cc) wenn das Verfahren in dem Rechtszug beendet ist. Mit der Beendigung des Verfahrens in der Hauptverhandlung fallt der Zweck des gegen den Zeugen gerichteten Zwangsverfahrens und folglich auch dessen Berechtigung weg; die Beendigung des Verfahrens in dem Rechtszug muß aber, da das Beschreiten einer ferneren Instanz nicht ohne weiteres vorauszusetzen ist, einstweilen als die Beendigung des Verfahrens überhaupt angesehen werden. Unter Rechtszug fallen nicht die einzelnen Abschnitte des Verfahrens vor dem Gericht des ersten Rechtszuges (Vorbereitungsverfahren, Voruntersuchung, Hauptverfahren). Die erste Instanz reicht vom vorbereitenden bis zum Hauptverfahren. Im Gegensatz zur Ordnungsstrafe kann die Zwangshaft bis zur Erschöpfung ihrer Höchsthöhe mehrfach verhängt werden, also auch z. B. zum Teil im ersten und zum Teil im zweiten Rechtszuge, obwohl sie nur bis zur Beendigung des Verfahrens in dem Rechtszuge statthaft ist. 478

Sechster Abschnitt. Zeugen (Kohlhaas)

§ 70 Anm. 6

dd) wenn sich ergibt, daß das Zeugnis fiir die Entscheidung in der Sache nicht weiter erforderlich ist ( E b S c h m i d t Anm. 19; K l Anm. 25). ee) wenn der die Beeidigung verweigernde Zeuge die Eidesfähigkeit verliert, oder ein sonstiger Grund, der die Beeidigung ausschließt (§§ 60 ff.) eintritt, insbesondere, wenn er selbst Beschuldigter wird. e) Verhängung mehrmaliger Zwangshaft. Es kommt lediglich darauf an, ob die höchste zulässige Dauer der Zwangs- oder Beugehaft bereits erschöpft ist oder nicht. Ist die Höchstdauer erschöpft, so ist eine abermalige Verhängung dieser Maßregel schlechthin unstatthaft. Ist dagegen die Zwangshaft vor Erschöpfung der zulässigen höchsten Zeitdauer, z. B. nach 4 Monaten, aufgehoben worden, so ist die abermalige Verhängung auf den übrigen Teil dieser Zeitdauer — hier also noch auf 2 Monate — statthaft, wenn die Sachlage dem Richter Veranlassung gibt, den Zwang aufs neue anzuwenden. Das gilt auch dann, wenn die Aufhebung der Zwangshaft als Folge der Beendigung der 1. Instanz eingetreten war. Dem Richter zweiter Instanz ist die Befugnis der Verhängung der weiteren Zwangshaft nicht verboten, solange die Höchstdauer nicht erreicht ist. Dasselbe gilt, wenn nach Aufhebung eines Urteils in höherer Instanz die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung in die vorige Instanz zurückverwiesen worden ist (§§ 328, 354) und das nunmehr von neuem verhandelnde Gericht die Erzwingung des Zeugnisses für erforderlich hält. Auch bei Wiederaufnahme eines durch rechtskräftige Entscheidung abgeschlossenen Verfahrens (§§ 211, 359ff.) ist die anderweitige Verhängung der Zwangshaft zulässig. Das erkennende Gericht im Hauptverfahren darf auch die anderweitige Verhängung der in einem früheren Abschnitt (in der Voruntersuchung oder im Vorbereitungsverfahren) aufgehobenen Zwangshaft anordnen. Innerhalb desselben Verfahrensabschnitts ist die anderweitige Verhängung der aufgehobenen Zwangshaft statthaft. In allen Fällen, in denen die Zwangshaft mehrmals verhängt wird, dürfen die verschiedenen Zeiträume zusammengerechnet die Dauer von 6 Monaten oder 6 Wochen nicht übersteigen. f) Aussetzung des Verfahrens bei Verhängung der Zwangshaft? Wenn Zwangshaft verhängt wird, kann das eine Aussetzung des Verfahrens zur Folge haben und in der Hauptverhandlung eine Vertagung rechtfertigen, da sonst der Zeugniszwang im Hauptverfahren meist zwecklos sein würde. Nur nach Lage der einzelnen Sache mit Rücksicht auf die Schwere des Delikts und auf die mutmaßliche Wichtigkeit des verweigerten Zeugnisses oder Eides läßt sich entscheiden, ob die Vertagung angemessen ist oder, ob nicht insbesondere in Haftsachen unter Verzicht auf das verweigerte Zeugnis Urteilsfallung erfolgen soll. Für den Beschuldigten liegt der Fall im Falle der Zeugnisverweigerung grundsätzlich nicht anders, als wenn aus einem anderen Grunde, z. B. bei Unbekanntheit des Aufenthaltsortes eines Zeugen die Benutzung eines gewissen Zeugnisses augenblicklich unmöglich ist. g) Kosten in der Vollstreckung. Über die Kosten in der Vollstreckung vgl. § 8 7 ff. VoUstrO. 6. Die Identität der Tat und des Verfahrens. Unter dem Ausdruck „dieselbe Tat" ist hier, wie in § § 2 6 4 , 2 6 5 „derselbe Straffall" zu verstehen, und zwar ohne Rücksicht auf die Unterscheidung zwischen Täterschaft und Teilnahme und auf die Person des Beschuldigten. Auch in einem neuen, denselben Straffall betreffenden, wenn auch gegen einen anderen Beschuldigten gerichteten Verfahren ist die Verhängung einer Strafe gegen einen bereits mit Strafe belegten Zeugen unstatthaft, wenn sie zusammen mit den anderen das Höchstmaß übersteigen würde ( F u h r m a n n - D a l c k e Anm. 10). Die Anwendung der Strafzwangshaft ist also nur insoweit zulässig, als deren Verhängung auch im Falle der Wiederaufnahme des früheren Verfahrens statthaft sein würde. Andernfalls würde der Beteiligung mehrerer Personen bei demselben Delikt der Umfang der gegen den Zeugen zulässigen Maßnahmen verschieden sein, je nachdem, die mehreren Teilnehmer gleichzeitig in einer Untersuchung oder nacheinander in besonderen getrennten Untersuchungen verfolgt würden. In demselben Verfahren ist eine wiederholte Bestrafung des Zeugen oder eine Erstrekkung der Zwangshaft über die Dauer von 6 Monaten bzw. 6 Wochen auch dann nicht zulässig, wenn das Verfahren mehrere selbständige Taten zum Gegenstand hat und der Zeuge über jede seine Aussage verweigert. Auch wenn verbunden gewesene Sachen später getrennt 479

§ 70 Anm. 7 - 9

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

werden, ist für die Anwendung maßgebend, ob die Maßregeln wegen der von der Trennung in Frage stehenden Straftat bereits angewandt gewesen sind. Die Trennung darf nicht dazu benutzt werden, die Hindernisse nachträglich zu beseitigen. 7. Amtsverfahren. D a s Verfahren gegen den Zeugen auf Grund des § 70 findet von Amts wegen nach Anhörung der StA (§ 33) ohne besonderen Antrag statt ( K l Anm. 1 Bb; M ü l l e r - S a x Anm. 8). 8. Entscheidung sowie Zuständigkeit für die Entscheidung. Die Entscheidung erfolgt durch Beschluß. Dem Zeugen muß vor der Entscheidung rechtliches Gehör gewährt werden (Art. 103 B G G ; F u h r m a n n - D a l c k e Anm. 6). Der Beschluß gegen den Zeugen steht dem mit der Sache befaßten Gericht zu. Die Zuständigkeit geht, wenn das Verfahren nach Abschluß eines Verfahrensabschnittes in einen anderen eintritt, von dem Richter des früheren auf den des späteren Abschnitts über. Im § 70 Abs. 3 sind noch nähere Bestimmungen über die Zuständigkeit getroffen. Hierzu ist folgendes zu sagen: a ) I n der Voruntersuchung ist der Untersuchungsrichter zuständig. Im Fall einer Beschwerde (§ 73 G V G ) hat die Strafkammer zu entscheiden, sonst nur dann, wenn nach Abschluß der Voruntersuchung die StA zunächst noch die Verhängung oder Fortsetzung einer Zwangshaft zur Ergänzung der Voruntersuchung beantragt, und der Untersuchungsrichter dem Antrage nicht stattgeben will (§ 197 Abs. 2). b) Unter Vorverfahren ist nur das vorbereitende Verfahren zu verstehen, denn in der Voruntersuchung handelt der Amtsrichter entweder als Untersuchungsrichter oder als ersuchter Richter (§§ 162, 165, 166, 185). Wenn nicht Gefahr im Verzug vorliegt, ist es zulässig, daß der Amtsrichter bei Ungehorsam eines auf Antrag der StA (§ 162) geladenen Zeugen vor Verhängung der Zwangshaft zuvor die StA hört. Aus dem Wesen des vorbereitenden Verfahrens folgt im übrigen, daß die Zwangshaft aufhören muß, wenn die StA den auf Vernehmung des Zeugen gerichteten Antrag zurücknimmt. c) Der ersuchte Richter ist befugt, gegen den Zeugen sogleich nach § 70 Abs. 1 und2 zu verfahren. Ob er von seiner Befugnis Gebrauch machen will oder die Entscheidung des ersuchenden Gerichts abwarten soll, unterliegt dem Ermessen des ersuchten Richters ( K l Anm. 1 B). Seine Entscheidung ist zunächst nur vorläufig. Der ersuchte Richter hat das ersuchende Gericht über die Sachlage in Kenntnis zu setzen. Über die Berechtigung des Weigerungsgrundes hat der ersuchende Richter zu entscheiden. Er kann auch wegen der zu verhängenden Maßregel ein weiteres Ersuchen stellen. Die Höhe der festzusetzenden Strafe steht im Ermessen des ersuchten Richters der im übrigen an die Entscheidung des ersuchenden Gerichts gebunden ist. Er muß insbesondere die Zwangshaft innerhalb der gesetzlichen Grenze so lange aufrechterhalten, wie es das ersuchende Gericht verlangt (vgl. G V G § 158; E b S c h m i d t Anm. 21). d) Das in c) Ausgeführte findet auch auf den beauftragten Richter Anwendung. Es folgt schon aus der Natur seiner Stellung, daß die Entscheidungen stets nur vorläufige sein können. 9. Anfechtung. a) Beschwerde. Anfechtung der Entscheidung mit Beschwerde ist nach § 304 statthaft, nun auch, falls der Beschluß vom O L G in erster Instanz erlassen worden ist, an den BGH. Auch der Zeuge kann nach § 304 Abs. 2 Beschwerde einlegen. Der Beschluß kann auch von den Prozeßbeteiligten angefochten werden, und zwar sowohl der Beschluß, der die Zwangshaft ablehnt, als auch der Beschluß, der sie aufhebt. Auch gegen die Unterlassung der Entscheidung nach § 70 kann Beschwerde eingelegt werden. Die formlose Beschwerde ist ohne aufschiebende Wirkung (§§ 306, 307). b) Keine weitere Beschwerde. Weitere Beschwerde ist nach § 3 1 0 unzulässig ( E r b s Anm. V; F u h r m a n n - D a l c k e Anm. 6; M ü l l e r - S a x Anm. 9; K l Anm. 1 B).

480

Sechster Abschnitt. Zeugen (Kohlhaas)

§ 7 0 Anm. 10 Anm. 1,2

§ 71 c) Revision.

aa) Unterlassung von Maßnahmen nach § 70 begründet als solche die Revision nicht (RGSt. 57 29, 59 250, 73 33 BGH 5 StR 116/56 v. 5. 6. 1956); denn die Verhängung der Strafe berührt nur das Verhältnis des Gerichts zu dem Zeugen und nicht die Rechte der Beteiligten. Sie berührt deshalb an sich nicht das Urteil als solches (RGSt. 57 29). Auch die Unterlassung der Zwangsmaßnahmen ist, da es sich um eine Kann-Vorschrift handelt, auf das Strafurteil als solches ohne Einfluß (RGSt. 25 135, 36 92, 57 29; Koblenz NJW 1952 278); doch kann ein Verstoß gegen die Aufklärungspflicht gegeben sein, weil das Gericht eine Möglichkeit unterlassen hat, die möglicherweise dazu geführt hätte, eine den Angeklagten beschwerende Aussage abzuwehren, wenn der Zeuge unter Eideszwang gestellt worden wäre (RGSt. 73 34), wie umgekehrt ein Zeuge der grundlos die Aussage verweigerte, den Angeklagten möglicherweise unter Zwang hätte entlasten können. bb) Falsche Maßnahmen gegen einen Zeugen nach § 70, die unzulässigerweise zur Erzwingung einer wahrheitsgemäßen Aussage getroffen sind, können die Revision wegen Verletzung der Aufklärungspflicht (§ 244) dann begründen, wenn die Möglichkeit besteht, daß der Zeuge eine unter diesem Druck dem Angeklagten nachteilige Aussage gemacht haben kann (RGSt. 73 34; vgl. Anm. 2 c). Sonstige Folgen. Ist die Beeidigung unzulässigerweise verweigert worden, so kann trotzdem das Zeugnis, auch wenn es unbeeidigt geblieben ist, bei der Urteilsfindung berücksichtigt werden (vgl. Anm. 5 b). 10. Zulässigkeiten von Maßnahmen aus §§ 70 gegen Bundestags- und Landtagsabgeordnete. Der Schutz des Art. 46 Abs. 2 und 3 G G steht den Bundestagsmitgliedern gegen die Verhängung der Ersatzhaft bzw. der Zwangs- oder Beugungshaft zu. Das gleiche gilt für Landtagsabgeordnete (so auch M ü l l e r - S a x Anm. 10; K l Anm. 1 Da).

§71 Der Zeuge wird nach dem Gesetz über die Entschädigung von Zeugen und Sachverständigen entschädigt. 1. Allgemeines. Die Entschädigung richtet sich heute nach dem Gesetz über die Entschädigung von Zeugen und Sachverständigen vom 1. 10. 1969 (BGBl. I 1757). Darüber, wer als Zeuge anzusehen ist, vgl. Anm. 1 vor Abschn. 6 und Vorbem. zu §§ 52—55. 2. Geltungsbereich. Nur die vom Richter oder die von der StA geladenen Zeugen — das gleiche gilt auch für Sachverständige, Dolmetscher und Übersetzer — haben Anspruch auf Entschädigung gegen die Staatskasse (vgl. §§ 36, 214, 222, 161). Die von dem Beschuldigten, dem Privatkläger oder dem Nebenkläger unmittelbar geladenen oder bestellten Zeugen haben Ansprüche nur nach § 220. Die polizeiliche Vernehmung gibt den Zeugen keine Rechtsansprüche ( M ü l l e r - S a x Anm. 1). Allerdings ist die Polizei nach der AV des RJM v. 7. 8. 1940 (DJ S. 1935) ermächtigt, den Zeugen aus Billigkeitsgründen eine Entschädigung zu zahlen, falls er bedürftig ist. Nur die Zeugen und Sachverständigen haben Ansprüche nach diesem Gesetz, die vom Gericht oder Staatsanwaltschaft zu Beweiszwecken herangezogen sind. Hierzu gehören aber auch Zeugen, die zur Frage über das Vorliegen von Prozeßvoraussetzungen (Antragsformalien) gehört werden. Der Anspruch des Zeugen wird erst durch die vollständige Erfüllung seiner Zeugnispflicht begründet. Der Verzicht auf das Zeugnis des erschienenen Zeugen steht der Zeugnisablegung gleich. Der Anspruch besteht auch dann, wenn der Zeuge auf Anheimgeben des Gerichts oder der StA von dem Angeklagten gestellt wird oder, wenn ein Zeuge etwa aus Gründen des internationalen Rechtes nicht geladen wird, aber erscheint ( M ü l l e r - S a x Anm. 1). Die Verweigerung des Zeugnisses oder der Beeidigung schließt den Anspruch des Zeugen nur dann aus, wenn die Verweigerung unberechtigt ist. Ist sie berechtigt, so hat der Zeuge seine Pflicht schon durch sein Erscheinen erfüllt.

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§ 7 1 Anm. 3—5 V o r § 7 2 Anm. 1

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

3. Umfang der Entschädigungspflicht. Entschädigungsfähig sind Verdienstausfall, Fahrtkosten, Wegegeld und Aufwandsentschädigung des Zeugen (Ges. v. 1. 10. 69), sowie einzeln darzulegende Aufwendungen. Vorschußbewilligung ist nach § 14 möglich. Dem Zeugen kann aber auch statt Reisegeld die Fahrkarte ausgehändigt werden (RiStV Nr. 117). 4. Festsetzung der Entschädigung. Festsetzung der Entschädigung erfolgt durch die Beamten der Geschäftsstelle des Gerichts oder der StA. Durch Gerichtsbeschluß erfolgt die Festsetzung nach § 16 a. a. O. Falls der Wert über 50,— DM liegt, ist gegen die richterliche Entscheidung Beschwerde zulässig ( § 1 6 Abs. II a. a. O.). Das Gericht kann deshalb seine Entscheidung ändern. Der Anspruch auf Zeugengeld ist öffentlich rechtlich und verzichtbar. Die Vorschriften des bürgerlichen Rechts sind nur entsprechend anwendbar (§ 196 Abs. 1 Nr. 17 BGB bleibt unberührt). Verzicht liegt schon in dem Nichtgeltendmachen nach § 15 binnen 3 Monaten. Der Gebührenanspruch ist pfandbar. Zeugen, die auch als Angeklagte gleichzeitig in anderer Sache geladen sind, haben Anspruch auf Zeugengebühr nur dann, wenn ihnen durch die Zeugenladung höhere Kosten erwachsen sind. (Frühere Terminstunde mit Übernachtung vgl. R G JW 1928 840.) 5. Devisenrechtliche Genehmigung. Allgemeine devisenrechtliche Genehmigung zur Zahlung von Entschädigung an Zeugen mit ausländischem Wohnsitz ist durch Runderl. Außenwirtschaft 32/54 - BAnz. Nr. 79/54 - erteilt; vgl. M ü l l e r - S a x Anm. 8. Neue Vorschriften auf Grund des neuen Außenwirtschaftsgesetzes sind, da grundsätzlich Genehmigungsfreiheit besteht, nicht ergangen. SIEBENTER ABSCHNITT Sachverständige und Augenschein Vorbemerkungen 1. Schrifttum (Auswahl): A l s b e r g - N ü s e : Der Beweisantrag im Strafprozeß, 3. Aufl. 1967, 237; A r b a d - Z a d e h : Des Richters eigene Sachkunde und das Gutachterproblem im Strafprozeß (NJW 1970 1214); Adolf A r n d t : Der Fall Rohrbach als Mahnung (NJW 1962 26); B e l i n g 296; B e n n e c k e - B e l i n g 362; B e r g : Fortschritte der gerichtlichen Medizin — Alkoholforschung (GoltdA 1954 97); B i n d o k a t : Die Sachverständigen (JZ 1954 399); B l a u : Zur Zulässigkeit und Zweckmäßigkeit psychologischer Glaubwürdigkeitsgutachten in Jugendschutzsachen (GoltdA 1959 293); B l a u : Der Strafrechtler und der psychologische Sachverständige (ZStW Bd. 78 1966 153); B o c k e l m a n n : Strafrichter und psychologischer Sachverständiger (GoltdA 1955 321); B o h n e : Fachpsychologen als Gerichtsgutachter (SJZ 1949 9); B u s c h : Zum Zeugnis- und Untersuchungsverweigerungsrecht der Angehörigen des Beschuldigten, Festschrift für Eberhard Schmidt 1961 569; C a b a n i s : Verfahrensrechtliche Behinderung psychiatrischer Sachverständigentätigkeit (Münchener Medizinische Wochenschrift 1969 2234); D e i t i g s m a n n : Fehlurteile auf Grund von unrichtigen Schriftgutachten (NJW 1957 1867); D e i t i g s m a n n : Ablehnung polizeilicher Sachverständiger im Strafverfahren (Kriminalistik 1959 190); D ö h r i n g : Die Erforschung des Sachverhalts im Prozeß (Berlin 1964) 256; D ü n h a u p t : Die Überbeanspruchung des Sachverständigen im Strafverfahren (NdsRpfl 1969 131); D ü n n e b i e r : Zweifelsfragen zu § 8 1 c StPO (GoltdA 1953 65); D ü n n e b i e r : Der positive Vaterschaftsnachweis (JZ 1955 487); E h r h a r d t : Chemische und psychische Aussagebeeinflussung (Vortrag) 1954; F a l c k : Der technische Sachverständige im Strafprozeß (JR 1955 285); F a l c k : Über den gerichtlichen Schriftsachverständigen (JR 1956 255); F o r s t h o f f : Der Zeithistoriker als gerichtlicher Sachverständiger (NJW 1965 574); F r e n k e n : Kritische Bemerkungen über Sachverständigengutachten als Urteilsgrundlage (DAR 1956 291); F r e y : Ärztliches Zeugnisverweigerungsrecht (Strafprozeß und Rechtsstaat, Festschrift für Pfenninger, Zürich 1956 41); G e n z e l : Zulässigkeit des Rechtswegs gegen Maßnahmen der Staatsanwaltschaft nach § 81a StPO (NJW 1969 1562); G e r l a n d 219; G r a ß b e r g e r : Psychologie des Strafverfahrens 2. Aufl. 1969 258; G r o ß - S e e l i g : Handbuch der Kriminalistik 8. Aufl. 1942; H a d a m i k : Leidenschaft und Schuld (GoltdA 482

Siebenter Abschnitt. Sachverständige und Augenschein (Sarstedt)

Vor § 72 Anm. 2

1957 101); H a d d e n b r o c k : Der ärztliche Sachverständige 1960; H a d d e n b r o c k : Die juristisch-psychiatrische Kompetenzgrenze bei Beurteilung der Zurechnungsfähigkeit im Lichte der neueren Rechtsprechung (ZStW Bd. 75 1963 460); H ä b e r l e i n : Die Sachverständigen im deutschen Recht (Marburger Diss. 1911); H a n a c k : Zum Problem der persönlichen Gutachterpflicht, insbesondere in Kliniken (NJW 1961 2041); H e g l e r : Die Unterscheidung des Sachverständigen vom Zeugen im Prozeß, ArchZivPrax Bd. 104 1909 151; H e i n i t z : Grenzen der Zulässigkeit eigener Ermittlungstätigkeit des Sachverständigen im Strafprozeß (Festschrift für Karl Engisch 1969 693); H e n k e l : 217; H e p n e r : Richter und Sachverständiger (Kriminologische Schriftenreihe Bd. 21, 1966); H ü b n e r : Art. „Sachverständigentätigkeit" im HdK (1. Aufl.) Bd. II 493); v. H i p p e l 410; H ü l l e : Zum Strafverfahren wegen Sittlichkeitsverbrechen an Kindern (zugleich ein Beitrag zur Rolle des psychologischen Sachverständigen im Strafprozeß) JZ 1955 8; J e s s n i t z e r : Medizin und Tiefenpsychologie in der gerichtlichen Praxis (NJW 1970 1226); K a r p i n s k i : Der Sachverständige im Strafprozeß (NJW 1968 1173); K o g g e : Psychoanalyse? (JR 1950 203); K o h l h a a s : Änderung des Sachverständigenbeweises im Strafprozeß? (NJW 1962 1329); K u h n : Der Experte im demokratischen Rechtsstaat (SchweizJZ 1958 301); L a n g e l ü d d e k e : Gerichtliche Psychiatrie 3. Aufl. 1971 S. 7ff.); L a n g e n b r u c h : Der Schriftsachverständige (JR 1950 212); L a u f s : Zeitgeschichte und Rechtspflege — eine Erwiderung (zu Forsthoff NJW 1965 574) (NJW 1965 1521); L e n t : Zur Abgrenzung des Sachverständigen vom Zeugen im Zivilprozeß (ZZP Bd. 60 1936/37 9); L i f s c h i t z : Wandlungen des Expertenbegriffs (SchweizJZ 1959 49; L ü r k e n : Auswahl und Leitung des Sachverständigen im Strafprozeß (NJW 1968 1161); M a n a s s e : Der Sachverständige, 2. Aufl. 1932; M a r m a n n : Aufklärungspflicht durch Sachverständigengutachten und freie Beweiswürdigung (GoltdA 1953 136); Hellmuth M a y e r : Der Sachverständige im Strafprozeß (Festschrift für Edmund Mezger 1954 455); M e r g e n : Zum Begriff der verminderten Zurechnungsfähigkeit im Sinne des § 5 1 Abs. 2 StGB (GoltdA 1955 193); Edmund M e z g e r : Der psychiatrische Sachverständige im Prozeß (ArchZivPrax Beilageheft zu Bd. 117 1918); M ü g e l : Der Sachverständige im Zivil- und Strafprozeß (1931); Karl P e t e r s 304; P f a n n e : Zur Problematik der Handschriftenexpertise (JR 1965 441); P i t z e r : Zur Verfassungsmäßigkeit von Regierungsgutachten im Landesverratsverfahren (NJW 1962 2235); R a u c h : Auswahl und Leitung des Sachverständigen im Strafprozeß (NJW 1968 1173); R e u s c h : Wer ist psychiatrischer Sachverständiger? (DRiZ 1955 291); R o s s m a n i t h : Die Verfassungsmäßigkeit von körperlichen Eingriffen nach § 8 1 a StPO (Würzburger Diss. 1969); R u d o l p h : Das Zusammenwirken des Richters und des Sachverständigen (Justiz 1969 22 und 49); R u s s : Tatsachenbekundungen des Sachverständigen im Strafprozeß (NJW 1963 385); S a c h s e : Die Beurteilung veränderter Lebensmittel durch Sachverständige (NJW 1955 1666); S a r s t e d t : Auswahl und Leitung des Sachverständigen im Strafprozeß (NJW 1968 177); S a r s t e d t : Der forensische Beweiswert ärztlicher Befunde und naturwissenschaftlicher Untersuchungsmethoden (Beiträge zur gerichtlichen Medizin Bd. XXV 1969 14); S c h m i d h ä u s e r : Zeuge, Sachverständiger und Augenscheinsgehilfe (ZZP 1959 365); Kurt S c h n e i d e r : Die Beurteilung der Zurechnungsfahigkeit (Vortrag) 2. Auf. 1953); S c h w a r z : Zur Sachverständigentätigkeit des Arztes (Strafprozeß und Rechtsstaat, Festschrift für Pfenninger, Zürich 1956 143); S e i b e r t : Die Kapazität (DRiZ 1960 57); S p e c h t : Gedanken zur Bewertung von Schriftidentitätsgutachten (GoltdA 1955 129); S t e i n : Das private Wissen des Richters (1893); S t e i n : Anm. zu R G JW 1923 15 Nr. 2; S u t t i n g e r : Nochmals: Psychoanalyse? (JR 1950 399); T ö n n i s : Die Tätigkeit des medizinischen Sachverständigen bei Straßenverkehrsunfällen vor Gericht (NJW 1966 1843); T r ö n d l e : Der Sachverständigenbeweis (JZ 1969 374); W e i g e l i n : Die Heranziehung von Fachpsychologen als Gerichtsgutachter (JR 1949 84); W ei m a n n : Probleme des medizinischen Sachverständigen im Strafprozeß (JR 1951 198); W i l l m s : Der Sachverständige im Landesverratsprozeß (NJW 1963 190). 2. Die Zusammenfassung zweier so verschiedener Beweismittel wie des Sachverständigen und des Augenscheins in einem Abschnitt mag wunderlich erscheinen. Sie erklärt sich geschichtlich daraus, daß der Sachverständigenbeweis sich vor allem aus dem sogenannten zusammengesetzten Augenschein des gemeinen deutschen Prozesses und des preußischen Inquisitionsprozesses entwickelt hat ( H ä b e r l e i n S. 10 Anm. 2). 483

Vor § 72 Anm. 3

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

3. Die Unterscheidung zwischen Sachverständigen und Zeugen hat viel Kopfzerbrechen und Streit verursacht Das Schrifttum darüber ist kaum mehr zu übersehen. Die führenden Einzelschriften sind die von S t e i n , H e g l e r und M e z g e r (oben 1). Klar und belehrend ist auch die Dissertation von H ä b e r l e i n . Wer sich umfassend zu unterrichten wünscht, sei auch auf die Kommentare und Lehrbücher des Zivilprozeßrechts hingewiesen. Manche Rechtslehrer sind an der Unterscheidung geradezu verzweifelt; B i r k m e y e r , Deutsches Strafprozeß recht (1898) S. 444 bezeichnet die Grenzen als unsicher, S t e n g l e i n , Lehrbuch des Strafprozeßrechts (1878) S. 197 meint, sie könnten überhaupt nicht scharf gezogen werden. Damit kann der Praktiker sich jedoch nicht abfinden. Er bedarf einer genauen Unterscheidung schon deshalb, weil es ein Revisionsgrund ist, wenn eine Auskunftsperson, die als Zeuge vernommen werden mußte, als Sachverständiger behandelt worden ist, und umgekehrt. Eine der Hauptschwierigkeiten liegt in der systematischen Einordnung des „gerufenen Zeugen" („Augenscheinsgehilfen", „Quasisachverständigen", „Quasizeugen", „Beweismittlers", „Befundberichters"). Wir begnügen uns einstweilen mit der Bemerkung, daß einige Sätze aus dem Sachverständigenrecht auf ihn passen, andere Sätze dagegen nicht (Näheres darüber zu § 81 d). Damit scheiden wir ihn aus der systematischen Streitfrage aus, die sodann wie folgt zu beantworten ist: Zeuge ist, wer etwas über besondere Wahrnehmungen sagen soll, die er unabhängig von (im Regelfall: vor) seiner Hereinziehung (als Beweismittel) in den Prozeß über dessen Gegenstand gemacht hat. So können etwa die Vernehmungsbeamten des Vorverfahrens Zeugen in der Hauptverhandlung sein; denn als Beweismittel kommen sie nicht von vornherein, sondern erst infolge einer später hervorgetretenen Notwendigkeit in Betracht. Sachverständiger ist, wer nicht um solcher speziellen Wahrnehmungen willen, sondern nur wegen seiner allgemeinen Sachkunde auf einem bestimmten Wissensgebiet herangezogen wird (vgl. OLG Hamm NJW 1954 1820 = DRsp. IV [450] 64e). Er kann, je nach Lage des Falles, auf dreifache Art tätig sein: Entweder beschränkt er sich auf die Mitteilung von Sätzen aus seinem Wissensgebiet (z. B.: die Entzündungstemperatur des Petroleums ist höher als die Temperatur einer Streichholzflamme; flüssiges Petroleum läßt sich deshalb nicht ohne weiteres mit einem Streichholz anzünden, vielmehr bedarf es dazu noch eines Mediums, das als Docht wirkt). Oder er ordnet die Tatsachen, die das Gericht ihm als Feststellung oder als Annahme vorlegt, unter die Sätze seines Wissensgebietes ein (z. B.: dieser Kraftwagen ließ sich bei der festgestellten Geschwindigkeit, Straßenbeschafienheit, Witterung usw. auf 45 m zum Stehen bringen). Oder er macht kraft seiner Sachkunde selbst Wahrnehmungen, die er dann sachkundig beurteilt (z.B.: dieser Angeklagte weist den und den Befund auf, der auf Schizophrenie schließen läßt. Das ist eine Störung der Geistestätigkeit, die es ihm unmöglich machte, zur Tatzeit das Unerlaubte einer Körperverletzung einzusehen). a) Unrichtig ist es also, den Unterschied darin zu sehen, daß der Sachverständige Schlüsse ziehe, während der Zeuge Tatsachen mitteile. Auch der Sachverständige beschränkt sich bisweilen auf die Mitteilung von Tatsachen (der Blutalkoholgehalt beim Angeklagten betrug l,3g°/oo)- Anderseits beruhen die Angaben des Zeugen bisweilen auf Schlüssen (der Angeklagte war angeheitert, aber nicht betrunken). b) Der Unterschied liegt auch nicht darin, daß der Sachverständige „urteilt", der Zeuge nicht. Sie urteilen immer beide; auch die schlichte Mitteilung einer Tatsache ist ein Urteil (ein reizendes Beispiel bei S t e i n JW 1923 15 Anm. zu RG). Man kann auch nicht sagen, daß der Sachverständige Obersätze, der Zeuge Untersätze liefere. Für den Syllogismus, den die Anwendung eines Strafgesetzes erfordert, tragen beide regelmäßig nur Bestandteile des Untersatzes bei. c) Ferner ist es wenig fruchtbar, den Zeugen als Beweismittel, den Sachverständigen als „Richtergehilfen" zu bezeichnen. Das ist kein eigentlicher Gegensatz. Auch der Zeuge hilft dem Richter; auch der Sachverständige ist ein Beweismittel, soweit er etwas zur richterlichen Uberzeugung beitragen soll. d) Dem Gesetz über die Entschädigung von Zeugen und Sachverständigen (vgl. unten bei § 84) liegt die Vorstellung zugrunde, daß die Aufgabe des Sachverständigen schwieriger sei als die des Zeugen. Das wird oft, muß aber nicht immer der Fall sein. Es gibt 484

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V o r § 72 Anm. 4

Zeugenaussagen, die große Sachkunde, zeitraubende Vorbereitung und erhebliche geistige Anstrengung erfordern; und es gibt sehr einfache Gutachten, die mit geringer Sachkunde, ohne Zeitverlust und ohne Mühe abgegeben werden können. Der Schwierigkeitsgrad und das M a ß der erforderlichen Sachkunde eignen sich also nicht als Unterscheidungsmerkmale. e) Unzutreffend ist die verbreitete Ansicht, es müßten stets Erfahrungssätze sein, die der Sachverständige mitzuteilen oder anzuwenden habe. Denn einerseits kann es um Sätze der Erkenntnis a priori gehen, etwa wenn ein Mathematiker als Sachverständiger gehört wird. Und andererseits brauchen es nicht immer allgemeine Sätze zu sein, um derentwillen man einen Sachverständigen vernimmt. Man kann ihn auch zum Beweise bestimmter historischer Einzeltatsachen hören. So könnte z. B. ein Historiker zum Beweise bestimmter Geschehnisse bei der Widerstandsbewegung als Sachverständiger vernommen werden (ob das Gericht etwa außerdem noch die Quellen dieses Sachverständigen im Wege des Urkunden- oder Zeugenbeweises nachprüfen muß, ist eine Frage der Aufklärungspflicht; ob sie im Einzelfall bejaht oder verneint wird, ändert nichts daran, daß der Historiker Sachverständiger ist). f) Einige der wichtigsten Vorschriften über den Sachverständigenbeweis (insbesondere §§ 73, 74, 76 Abs. 1 S. 2, 77) beruhen darauf, daß der Sachverständige im Gegensatz zum Zeugen als ersetzbar gilt. Das ist indessen kein begrifflicher, sondern nur ein praktischer Unterschied. Es gibt auch (praktisch) ersetzbare Zeugen und nicht ersetzbare Sachverständige. Hat ein Vorfall sich auf einer Bühne vor zwölfhundert oder auf einem Sportplatz vor zwanzigtausend Zuschauern abgespielt, so sind sie alle Zeugen des Vorfalls, obwohl man bei einer Beweisaufnahme darüber ein Dutzend von ihnen ziemlich beliebig durch ein anderes Dutzend ersetzen könnte. Ferner kommt es vor, daß der bestellte Sachverständige (z. B. bei einer Leichenöffnung) Beobachtungen macht, die sich später nicht wiederholen lassen. Vgl. dazu S c h m i d h ä u s e r S. 373 und unten 4 zu § 8 5 . Werden naturwissenschaftliche Erkenntnisse von einem einzelnen Gelehrten vorangetrieben, so kann es vorkommen, daß für eine gewisse Zeit nur dieser eine über die Sachkunde verfügt, die man benutzen will; Beispiele dafür finden sich in der Geschichte der Abstammungslehre. (Vgl. etwa M e y e r h o f f D R Z 1949 457: „Prof. Dr. M. und Prof. Dr. B. benannten Dr. K. als den Urheber der Methode und den einzigen Sachverständigen, der sie damals beherrschte.") Weit häufiger kommt es vor, daß aus rein praktischen Gründen (Überlastung der wenigen Sachverständigen ersten Ranges — z. B. auf dem Gebiet der Psychiatrie) dem Gericht in Wirklichkeit kaum eine Auswahl bleibt. Solche Umstände ändern natürlich nichts an der Sachverständigeneigenschaft des Herangezogenen. Deshalb bleiben auf ihn auch die Vorschriften anwendbar, die von seiner Auswechselbarkeit ausgehen. Keinesfalls darf man hier etwa sagen: cessante ratione legis cessat lex ipsa. Auch ein nicht ersetzbarer Sachverständiger kann also z. B. abgelehnt werden. g) Für Meinungsforschung wird im Gerichtssaal im allgemeinen aus Gründen des sachlichen Rechts kein Raum sein. So geht es nicht an, beliebige (!) Personen (d. h. gerade wegen ihres Mangels an Sachkunde) darüber zu vernehmen, ob eine Äußerung des Beschuldigten, mit der sie zu diesem Zweck erst im Verfahren bekannt gemacht werden, ihr religiöses Empfinden verletzt: B G H GoltdA 1961 240 (,,Missa-profana"-Fall). Solche Personen können weder Zeugen noch Sachverständige sein. Hier geht es um Fragen der Subsumtion, die der Richter selbst entscheiden und deren Entscheidung er allein verantworten muß. Er darf sich nur der Hilfe von Sachverständigen bedienen, d. h. von Personen, die er um ihrer Sachkunde willen — sei diese Sachkunde nun groß oder klein —, aber nicht gerade wegen des Fehlens der Sachkunde heranzieht. 4. Sieht man den Unterschied richtig (oben 3 vor a) darin, ob die Beweisperson ihre (etwaigen) speziellen Wahrnehmungen vor oder nach Heranziehung zum Prozeß gemacht hat, so gewinnt die Frage Bedeutung, ob eine solche „Heranziehung" erst in der Bestellung durch den Richter oder schon in einem Auftrag des Staatsanwalts oder sogar der Polizei liegt. § 73 Abs. 1 mag die Auffassung nahelegen, erst die Zuziehung durch den Richter mache eine Auskunftsperson zum Sachverständigen, so daß alles, was jemand an speziellen

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Tatsachen des gegebenen Verfahrens vor richterlicher Bestellung zum Sachverständigen wahrgenommen hat, nur Gegenstand einer Zeugenaussage, nicht eines Sachverständigengutachtens sein könnte. Die praktische Folge wäre, daß Personen, die ihrer Sachkunde wegen schon von der Polizei oder der Staatsanwaltschaft zugezogen worden sind, über alles, was sie dabei wahrgenommen haben, vom Gericht nur als Zeugen, nicht als Sachverständige vernommen werden könnten. Sie könnten dann auch bei offensichtlicher starker Befangenheit nicht abgelehnt werden. Anderseits würde der Richter außer diesen „Zeugen" dann oft trotzdem noch neue Sachverständige brauchen. Solche Ergebnisse wären allzu unpraktisch. Man wird es deshalb mit der herrschenden Lehre und Rechtsprechung auch dem Staatsanwalt und der Polizei gestatten müssen, Sachverständige zu bestellen, mit der Wirkung, daß sie das auch in der Hauptverhandlung bleiben können. 5. Die Abgrenzung wird noch durch gewisse Übergänge erschwert. Es gibt Personen, die zugleich Zeugen und Sachverständige sind. Freilich macht eine noch so große Sachkunde den Zeugen nicht zum Sachverständigen, und zwar auch dann nicht, wenn die Wahrnehmungen oder die Bekundungen nur durch die Sachkunde möglich geworden sind. In solchen Fällen hat man es vielmehr mit einem sachverständigen Zeugen (§ 85) zu tun, der verfahrensrechtlich nur Zeuge ist. In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, daß sich bei den „prominentesten" unter diesen Beweispersonen bisweilen grobe Irrtümer und wunderliche Empfindlichkeiten eingenistet haben, mit denen sie dem Richter bei der richtigen verfahrensrechtlichen Einordnung Schwierigkeiten machen können. So schreibt L a n g e l ü d d e k e in der 3. (wie schon in der 1.) Auflage seiner Gerichtlichen Psychiatrie (S. 12): „Gelegentlich wird der Arzt als sachverständiger Zeuge geladen. Seine Aussage ist dann aber regelmäßig zugleich ein Gutachten, soll der Richter mit der Aussage etwas anfangen können. Daher sollte er darauf dringen, als Sachverständiger gehört zu werden. Das scheint früher manchmal auf Widerstand gestoßen zu sein. Ich habe es ausnahmslos ohne Schwierigkeiten erreicht." — Dem Richter muß empfohlen werden, gegenüber solchen Gelüsten fest zu bleiben; dem Staatsanwalt, einen Zeugen mit derart unsachlichen Wünschen in der Eigenschaft als Sachverständiger vorsorglich abzulehnen (nicht wegen der Zeugeneigenschaft — was nach § 74 Abs. 1 Satz 2 nicht möglich ist —, sondern wegen des „Dringens"). Der Unterschied zwischen Zeugen und Sachverständigen ist keine Frage des Prestiges oder der Berühmtheit, sondern eine Rechtsfrage. Verfehlt das Gericht sie, indem es einen Zeugen „rücksichtsvollerweise" als Sachverständigen behandelt, so droht auf Revision Aufhebung des Urteils. Gerade den sachverständigen Zeugen als Sachverständigen auszuwählen, empfiehlt sich im allgemeinen gerade dann am allerwenigsten, wenn das Gericht mit seiner Aussage allein nichts „anfangen" zu können glaubt. Gerade dann wird sie regelmäßig der Kontrolle durch einen Sachverständigen bedürfen, der besser unter den Fachleuten ausgewählt wird, die dem Tatgeschehen fernstehen. Dagegen kann es umgekehrt oft unvermeidlich sein, einen Sachverständigen auch als Zeugen zu vernehmen. Zu dieser Lage kommt es dann, wenn der Sachverständige bei der Vorbereitung des Gutachtens (oder auch ganz zufallig nebenbei) Wahrnehmungen gemacht hat, die entweder außerhalb des ihm vom Gericht erteilten Auftrages lagen, oder zu denen es keiner besonderen Sachkunde bedurfte. Dazu gehören etwa Angaben des Beschuldigten über das Tatgeschehen, oder auch Äußerungen Dritter gegenüber dem Sachverständigen, sei es auf seine Frage, sei es spontan; unrichtig BayObLGSt. 1951 3 0 4 = DRsp. IV (450) 35e. 6. Der Dolmetscher (GVG § 185) ist kein Sachverständiger, wohl aber der Übersetzer: BGHSt. 1, 4. Der Dolmetscher (dessen Aufgabe weit schwieriger ist) vermittelt, daß die in der Hauptverhandlung Anwesenden^ einander trotz verschiedener Sprache verstehen; der Übersetzer beschränkt sich auf die Übertragung einzelner Texte aus einer Sprache in eine andere. Die beiden Tätigkeiten schließen sich nicht aus, BGH NJW 1965 643. 7. Ob und wann Sachverständige herangezogen werden müssen, ist in diesem Abschnitt nicht geregelt. Das ist vielmehr allgemein eine Frage der richterlichen Aufklärungspflicht (§ 244 Abs. 2) und im besonderen des Beweisantragsrechts (§ 244 Abs. 4). 8. Das Verhältnis zwischen Richter und Sachverständigem steht unter der Verantwortung des Richters, nicht des Sachverständigen. Hier hat die — sonst zu mancherlei bedenklichen Schlüssen mißbrauchte — Bezeichnung des Sachverständigen als eines Richter-

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gehilfen ihren Sinn. Der Richter muß entscheiden, und eine möglichst umfassende Bildung muß ihn zu der Entscheidung befähigen, ob, wann, wie viele, welche Sachverständigen er hören, was er sie fragen, was er ihnen vorhalten und wie weit er ihnen folgen kann und muß. Das Zusammenwirken bringt leicht die Gefahr unklarer Verantwortungsverhältnisse mit sich. Die Gefahr besteht darin, daß jeder von beiden, Richter und Sachverständiger, glaubt, der andere trage die Verantwortung. Dem Richter wird angesichts der Problematik der rechtlichen Seite — das gilt besonders im Bereich des § 51 StGB — der ihm zukommende Teil der Entscheidung schwer. Der psychiatrische Sachverständige, der die hier verborgene rechtliche Schwierigkeit fast nie zu sehen pflegt, verkennt sie und glaubt gerade deshalb, die rechtliche Seite der Zurechnungsfrage leicht mitentscheiden zu können. Im Gefühl, nicht eigentlich die Verantwortung tragen zu müssen, urteilt es sich rascher. Der Richter wiederum merkt nicht, welche rechtliche Entscheidung der Sachverständige ihm da per nefas abnimmt oder überhaupt nicht abnimmt. Kennzeichnend für diesen bedenklichen Stand der Dinge sind gewisse ständig wiederkehrende Wendungen in Gutachten und Urteilsbegründungen, die die gesetzwidrige Verschiebung der Verantwortung schlaglichtartig erhellen. Der Sachverständige „exkulpiert" den Angeklagten; damit geht er weit über seine Aufgabe hinaus und greift in die richterliche über. Oder der Psychiater findet den Angeklagten „vom medizinischen Standpunkt" verantwortlich. Dabei gibt es für die Frage der Verantwortlichkeit gar keinen „medizinischen Standpunkt"; strafrechtliche Verantwortlichkeit ist ein Begriff des Rechts, nicht der Medizin (es handelt sich dabei ja nicht etwa um ein psychologisches oder psychiatrisches Phänomen, sondern um das „du sollst"). Deshalb läßt sie sich nicht „ vom medizinischen Standpunkt" bejahen oder verneinen. Fordert man den Sachverständigen auf, diesen „medizinischen Standpunkt" genauer zu beschreiben, so stellt man nicht selten fest, daß er nur in der vagen Vorstellung besteht: „wohin kämen wir sonst!" Das aber ist kein medizinischer, sondern ein Rechtsstandpunkt — freilich ein völlig laienhafter. Sehr häufig liest man in psychiatrischen Gutachten, die „Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 oder 2 StGB" lägen vor oder lägen nicht vor. Dabei gehört § 51 StGB zu den juristisch schwierigsten Dingen, die es im sachlichen Strafrecht überhaupt gibt. Daß ein Psychiater, und sei es eine Kapazität, auch nur ganz ungefähr über „die Voraussetzungen des § 51" unterrichtet wäre, ist etwa so wahrscheinlich wie die Annahme, daß ein tüchtiger Landgerichtsdirektor eine Gehirnoperation vornehmen könnte. Man betrachte nur, was herauskommt, wenn einer der anerkannt führenden Psychiater (und außerdem ein Meister des klaren Ausdrucks), Kurt S c h n e i d e r (S. 22), den § 51 StGB zu handhaben oder zu kritisieren sucht: „Potentielle . . . Einsicht... kann . . . . . . festgestellt w e r d e n . . . . Ob die Einsicht aber auftauchte, vollends ob man das verlangen' konnte, entzieht sich jedem fremden Einblick und Urteil.... Noch hoffnungsloser ist die Beurteilung, ob die Fähigkeit bestand, entsprechend einer Einsicht zu handeln." — Die psychiatrische und psychologische Seite daran ist über die Kritik des Juristen erhaben. Aber die juristischen Voraussetzungen, von denen S c h n e i d e r hier ausgeht, müßten in jeder Referendarprüfung übelgenommen werden. § 51 StGB spricht nur von der Fähigkeit zur Einsicht (also von dem, was S c h n e i d e r „potentielle Einsicht" nennt und — gewiß mit Recht — als feststellbar bezeichnet); vom „Auftauchen" der (aktuellen, wirklichen) Einsicht ist nicht die Rede. „Ob man das verlangen' konnte", entzieht sich nicht ,jedem", sondern nur dem medizinischen „Einblick und Urteil"; an einen Arzt gerichtet, ist das eine wirklich sinnlose Frage, aber der Jurist liest die Antwort im Gesetz. Wo die Fähigkeit zur Einsicht vorhanden ist, verlangt das Gesetz, daß sie wirklich auftaucht und als Gegenmotiv wirkt. Danach darf der Richter nicht den Sachverständigen fragen, sondern das muß er ganz allein entscheiden und die Entscheidung allein verantworten. „Ob die Fähigkeit bestand, entsprechend einer Einsicht zu handeln", ist in der Tat eine Vexierfrage; es ist die Frage nach der Freiheit des Willens, die alle Weisen der Jahrtausende bisher nicht haben überzeugend beantworten können. Natürlich verlangt das Gesetz nicht, daß der Sachverständige dem Richter eine solche philosophische Frage löst. Der Angeklagte hat die Tat ja begangen, seine Hemmungen haben also nicht ausgereicht; die Frage ist nicht, ob sie „hätten" ausreichen können, sondern woran es liegt, daß sie nun einmal nicht ausgereicht haben — ob sich ein krankhafter Befund feststellen läßt, an dem es möglicherweise liegt. Nur diesen Befund und seine Erfahrungen über Leute mit solchem Befund (und Erfahrungen nicht darüber, wie Gerichte oder Sachverständige so etwas zu beurteilen, sondern darüber, wie 487

§ 72 Anm. 1

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solche Kranken sich zu verhalten pflegen) soll der Sachverständige dem Richter mitteilen, weiter nichts, vor allem nicht seine laienhaften Ansichten über den § 51 StGB. Alles andere ist die Sorge und die Verantwortung des Richters. Das wird auch unter jeder Neufassung der Bestimmungen über die Zurechnungsfähigkeit so bleiben. Eine andere, in Gutachten und Urteilen ständig wiederkehrende Wendung, die auf Verkennung des Verhältnisses zwischen Richter und Sachverständigen schließen läßt, ist die von der Psychopathie, die nach ärztlichem Gutachten „Krankheitswert" habe. „Es ist weniger eine ärztliche als eine rechtliche, also vom Gericht zu beurteilende Frage, ob eine bloße Psychopathie, die bekanntlich keine Krankheit im medizinischen Sinne ist, ,Krankheitswert' hat, d. h. ausnahmsweise zur Anwendung des § 51 StGB genügt. Das hängt zu einem großen Teile davon ab, welche Anforderungen im Namen der Rechtsordnung an die Selbstbeherrschung des Psychopathen gestellt werden müssen. Der Psychiater ist darin nicht sachkundiger als der Richter" (BGH 5 StR 386/60 vom 18. 10. 1960). E b S c h m i d t (Nachtr. zu II, s zu § 78) meint, der Richter müsse (gerade bei der Auswahl eines psychologischen oder psychiatrischen Sachverständigen) auch sicher sein, daß der Sachverständige mit ihm, dem Richter, auf dem Boden der vom Gesetzgeber dem Strafrecht zugrunde gelegten Verbrechenslehre steht. Ein Sachverständiger, der, aus welchen Gründen immer, Begriffe wie Schuld, Schuldfähigkeit, Vorwerfbarkeit, persönliche Verantwortlichkeit als wissenschaftwidrig verwerfe und alles „Strafen" als Requisit überwundenen Aberglaubens ansehe und nur noch ein „Heilen" neurotischer Zustände für diskutabel erachte, könne einem Strafrichter nicht das diesem nötige Erfahrungswissen vermitteln. Die Tätigkeit eines solchen Sachverständigen könne vom Gericht auch nicht „geleitet" werden. — Diese Ansicht träfe zu, wenn die in der Tat weit eingerissene Praxis dem Verfahrensrecht entspräche, daß der Richter den Psychiater fragt, ob der Angeklagte zurechnungsfähig sei, daß der Psychiater antwortet, der Angeklagte „habe" den § 51 Abs. 1 oder 2, oder auch, er, der Psychiater, müsse ihm den „vom medizinischen Standpunkt" „zubilligen", und daß dann wiederum der Richter sich dessen getröstet. Da aber diese Praxis dem Sachverständigen zuviel, dem Richter zu wenig Verantwortung zuteilt, können wir E b S c h m i d t nicht folgen. Was das Gericht den Sachverständigen rechtens fragen darf, kann ein tüchtiger Psychiater auch dann begutachten, wenn ihm der Sinn des Strafens nicht einleuchtet. Es ist sehr wohl denkbar, daß dadurch eine saubere und gesetzentsprechende Arbeitsteilung zwischen Richter und Sachverständigem eher erleichtert als erschwert wird. Gerade wenn der Sachverständige an den „Sinn des Strafens", an Schuld und Vorwerfbarkeit „glaubt", liegt die Gefahr der Grenzverschiebung näher. Denn gerade das kann beim Gericht den Irrtum heraufbeschwören, der Psychiater habe den „richtigen", den gerade unserem jetzigen Strafrecht zugrunde liegenden Begriff von diesen Worten. Das wäre aber ein sehr seltsamer Zufall; denn gerade dazu gehört ein ganzer Jurist, den wir uns am liebsten in der gründlichen Schule von E b S c h m i d t herangebildet denken. Wer wollte wohl bei Psychiatern Verständnis dafür voraussetzen, daß der strafrechtliche Schuldbegriff seine wichtigste Funktion als einschränkendes Prinzip staatlicher Übelszufügung hat? Als Sachverständiger wäre der Psychiater erst dann unbrauchbar, wenn er den Begriff des „Krankhaften" für abergläubisch hielte.

§72 Auf Sachverständige ist der sechste Abschnitt über Zeugen entsprechend anzuwenden, soweit nicht in den nachfolgenden Paragraphen abweichende Vorschriften getroffen sind. Entstehungsgeschichte: I. Entw. § 71; II. Entw. § 72; III. Entw. § 73. — Jetzige Fassung Rechtsvereinheitlichungsgesetz vom 12. 9. 1950 (BGBl. 455). 1. Die Anwendung der Zeugenvorschriften auf den Sachverständigen ist auch da nicht überall möglich, wo der 7. Abschnitt keine Sondervorschriften enthält. a) § 48 ist anwendbar; auch der Sachverständige ist unter Hinweis auf die gesetzlichen Folgen des Ausbleibens zu laden. Nur sind diese Folgen bei ihm weniger streng (vgl. § 77 mit § 51): Sachverständige können weder mit Haft bestraft noch vorgeführt werden. 488

Siebenter Abschnitt. Sachverständige und Augenschein (Sarstedt)

§ 72 Anm. 1

b) § 49 wird kaum praktisch werden. Vernünftigerweise wird man nicht gerade den Bundespräsidenten als Sachverständigen wählen; vgl. § 76 Abs. 1 S. 2. c) § 50 ist anwendbar; gerade deshalb wird es sich meist empfehlen, keine Mitglieder oberster Staatsorgane als Sachverständige zu wählen; vgl. § 76 Abs. 1 S. 2. d) § 51 Abs. 1 ist durch § 77 ersetzt; Abs. 2 und 3 sind anwendbar. e) §§ 52 bis 56 sind anwendbar; § 76 Abs. 1 Satz 1 verweist (angesichts des § 72 überflüssigerweise) ausdrücklich auf diese Vorschriften. § 76 Abs. 1 Satz 2 stellt die Befreiung von der Sachverständigenpflicht aus noch anderen Gründen in das Ermessen des Gerichts. f) § 57 ist nicht anwendbar. Diese Ermahnungen, Hinweise und Belehrungen sind bei Sachverständigen, die oft vor Gericht stehen, durchaus entbehrlich. Sie würden hier den Eindruck einer leeren Förmlichkeit machen und möglicherweise das Gegenteil der vom Gesetzgeber beabsichtigten Wirkung haben. Im Einzelfall steht es im Ermessen des Vorsitzenden, den Sachverständigen zu ermahnen und zu belehren. g) § 58 ist nicht anwendbar, soweit Abwesenheit vorgeschrieben wird. Der Sachverständige kann der ganzen Verhandlung beiwohnen, wenn das Gericht es anordnet oder gestattet; er kann auch sein Gutachten in Anwesenheit der später zu Vernehmenden erstatten. Gegenüberstellungen sind auch mit dem Sachverständigen in jeder Lage des Verfahrens zulässig. Selbstverständlich können auch Sachverständige nur „einzeln" vernommen werden, nicht in der Art des Priesterquintetts in der Salome. h) § 59 ist, soweit es sich um die Frage handelt, ob zu vereidigen ist, durch § 79 ersetzt. Wenn Sachverständige vereidigt werden, so geschieht das auch bei ihnen „einzeln" und in aller Regel erst in der Hauptverhandlung. i) §§ 60, 61 kommen für Sachverständige nicht in Betracht. A. M. J e s s n i t z e r S. 109 unter Berufung auf RGSt. 27 398. Aber teilnahmeverdächtige Sachverständige, die der Angeklagte lädt, sollte der Staatsanwalt ablehnen. k) § 62 ist anwendbar; a. M. E b S c h m i d t II 8, der meint, die Vorschrift komme wegen § 79 Abs. 1 nicht „zum Zuge". Die Frage ist aber, ob der Sachverständige auch im Privatklage- und Übertretungsverfahren auf Antrag beeidigt werden muß. Das wäre gegen den inneren Grund des § 62. 1) § 63 kommt für Sachverständige praktisch nicht in Betracht. m) § 64 ist nicht anwendbar, weil der Sachverständige auch ohne besonderen Grund unvereidigt gelassen werden kann. Was zu protokollieren ist, ergibt sich hier vielmehr nur aus § 274: Die Entscheidung des Vorsitzenden oder des Gerichts über die Vereidigung oder Nichtvereidigung, und gegebenenfalls die Tatsache der Eidesleistung („Der Sachverständige leistete den Sachverständigeneid", nicht: „Der Sachverständige wurde vorschriftsmäßig vereidigt"; es wirkt lächerlich, wenn das Gericht sich die „Vorschriftsmäßigkeit" seiner eigenen Amtshandlungen bescheinigt). n) §§ 65 bis 66 b sind anwendbar. o) § 66 c ist in der Weise anzuwenden, daß die Eidesformel entsprechend dem § 79 Abs. 2, 2. Halbsatz geändert wird: „daß Sie das Gutachten unparteiisch und nach bestem Wissen und Gewissen erstattet haben". p) § 66 d ist unanwendbar, weil niemand einen Stummen zum Sachverständigen bestellen wird. q) §§ 66e bis 69 sind anwendbar. Ebenso J e s s n i t z e r S. 102 Fußn. 22 gegen E b S c h m i d t § 72 Anm. 4. r) § 70 Abs. 1 und 2 sind durch § 77 Satz 1, § 70 Abs. 4 durch § 77 Satz 2 ersetzt. § 70 Abs. 3 ist anwendbar.

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§ 7 2 Anm. 2 , 3 § 7 3 Anm. 1

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s) Anstelle von § 71 gilt § 84. 2. Andere Vorschriften über Zeugen, insbesondere die §§ 194, 243 Abs. 4, 247, 252 sind auf Sachverständige nicht anwendbar. 3. Der Sachverständige kann unter Umständen zugleich Zeuge sein (oben 5 vor § 72). Dann sind die Vorschriften anzuwenden, die seiner jeweiligen Rolle entsprechen. Vom Gutachten kann er gemäß § 76 Abs. 1 S. 2 entbunden werden, vom Zeugnis nicht. Als Sachverständiger kann er unter Umständen abgelehnt werden (§ 74), als Zeuge nicht. Zum Gutachten kann er nur mit Geldstrafe, zum Zeugnis auch durch Vorführung und mit Haft angehalten werden. Über die Vereidigung in jeder der beiden Eigenschaften ist für sich zu entscheiden. Die Eide können verbunden werden („daß Sie nach bestem Wissen die reine Wahrheit gesagt und daß Sie das Gutachten unparteiisch und nach bestem Wissen und Gewissen erstattet haben"). Über die Anwesenheit eines solchen Zeugen und Sachverständigen entscheidet der Vorsitzende, bei Beanstandung das Gericht nach Ermessen. 4. Weitere Unterschiede zwischen Zeugen und Sachverständigem sind vor allem: a) Den Zeugen bestimmt die Sache, den Sachverständigen wählt das Gericht aus (§ 73). b) Der Sachverständige kann wegen Befangenheit abgelehnt werden, § 74. c) Beweisanträge auf Sachverständigenvernehmung können aus anderen Gründen (§ 244 Abs. 4) abgelehnt werden als Beweisanträge auf Zeugenvernehmung (§ 244 Abs. 3). d) Dem Sachverständigen kann Aufklärung verschafft, Akteneinsicht, die Anwesenheit bei Vernehmungen und das Stellen eigener Fragen an Zeugen und Beschuldigte gestattet werden (§ 80). e) Bestimmten Sachverständigen können Eingriffe in Freiheit und Unversehrtheit des Beschuldigten gestattet werden (§§ 81 ff.). f) Die Entschädigung der Sachverständigen ist günstiger. §73 (1) Die Auswahl der zuzuziehenden Sachverständigen und die Bestimmung ihrer Anzahl erfolgt durch den Richter. (2) Sind für gewisse Arten von Gutachten Sachverständige öffentlich bestellt, so sollen andere Personen nur dann gewählt werden, wenn besondere Umstände es fordern. 1. Ob Sachverständige zugezogen werden müssen, regelt das Gesetz nicht in diesem Abschnitt; das ist vielmehr im Einzelfall eine Frage der Aufklärungspflicht (§ 244 Abs. 2) und des Beweisantragsrechts (§ 244 Abs. 4); vgl. darüber die Erläuterungen zu § 244. Um diese Frage zu entscheiden, bedarf der Richter einer möglichst umfassenden allgemeinen Bildung und der selbstkritischen Erkenntnis ihrer Grenzen. „Durch nichts verscherzt sich der Richter mehr das Vertrauen, zieht er sich mehr den Vorwurf der Weltfremdheit zu, als wenn er in dilettantischer Weise nach Art der Halbgebildeten sich über Dinge ein sachverständiges Urteil anmaßt, die er nicht versteht" ( L o b e DJZ 1913 362). Gefahrlicher als völlige Unkenntnis, deren der Richter sich bewußt ist, sind die Fälle des Halbwissens, dessen Grenzen er nicht sieht. „A little knowledge is a dangerous thing", sagt ein englisches Sprichwort. Der bloße Erwerb des Führerscheins macht den Richter noch nicht zum Kraftfahrzeugsachverständigen; es ist schon viel, wenn er den Richter in die Lage setzt, einem solchen Sachverständigen richtige Fragen zu stellen, entscheidende Vorhalte zu machen und dem Gutachten nicht hilflos ausgeliefert zu sein. Eigene Kinder zu haben, macht ihn nicht zum Jugendpsychologen; mehr wert ist es, wenigstens zu wissen, daß es mehrere Schulen der Psychologie und verschiedene Untersuchungsmethoden auf diesem Gebiet gibt. Schriftvergleichung als Freizeitbeschäftigung des Richters ist gut, wenn sie ihn in die Lage setzt, Gutachten auf diesem Gebiet kritisch zu würdigen (sie haben das

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Siebenter Abschnitt. Sachverständige und Augenschein (Sarstedt)

§ 73 Anm. 2 , 3

oft sehr nötig); schlecht, wenn er daraufhin glaubt, ohne Sachverständigen auszukommen. Bei der Entscheidung darüber, ob ein Sachverständiger zuzuziehen ist, sollte der Richter auch bedenken, daß mit einem Sachverständigen leichter eine Erörterung zustandekommt als ohne ihn. Das ist selbst dann eine Förderung des rechtlichen Gehörs, wenn der Sachverständige aus Eigenem wenig beizutragen weiß. Seine eigenen etwaigen Fachkenntnisse in der Verhandlung zur Diskussion zu stellen, wird der Richter meist verständliche Hemmungen haben. Vgl. hierzu OLG Köln JR 1958 350 mit Anm. S a r s t e d t . Auch wenn der Richter Sachverständige nicht für erforderlich hält, kann er sich ihrer Anhörung in der Hauptverhandlung nicht entziehen, wenn Staatsanwalt, Verteidiger oder Angeklagter sie gemäß §§ 220, 222 lädt und der oder die Sachverständigen daraufhin erscheinen: § 245. 2. Die Auswahl, die dem Richter obliegt, bezieht sich auf zweierlei: a) Zunächst darauf, aus welchem Fachgebiet der Sachverständige herangezogen werden soll. Es gibt Fragen, für die es schon zu einem Zuständigkeitsstreit zwischen mehreren Wissenschaften gekommen ist. Für die Beurteilung der Glaubwürdigkeit von Kinderaussagen etwa halten sowohl die Psychiater als auch die Psychologen sich selbst für zuständig, die anderen für unzuständig. Der Richter wird im allgemeinen dann, wenn Anhaltspunkte für psychische Störungen bei dem Kinde vorzuliegen scheinen, den Psychiater, sonst oft den Psychologen vorziehen. Auch für die Beurteilung der Zurechnungsfähigkeit beginnen die Psychologen sich für zuständig zu halten. Solchen Auffassungen ist entschieden entgegenzutreten; die Frage der Zurechnungsfahigkeit ist in ihrem eigentlichsten Kern eine Rechtsfrage, deren biologische Vorfragen in das Fachgebiet des Psychiaters oder Neurologen, keinesfalls in das des Psychologen, Psychoanalytikers oder Tiefenpsychologen fallen. b) Der Richter bestimmt auch die Person des Sachverständigen. Darüber enthält Abs. 2 eine Richtlinie, die trotz des „soll" unverbindlich ist, weil es im freien Ermessen des Richters steht, ob er entgegenstehende „besondere Umstände" annimmt. Der Richter wird es zweckmäßig von vornherein vermeiden, einen Sachverständigen auszuwählen, gegen den mit einem Ablehnungsgesuch (§ 74) zu rechnen ist. Er ist bei der Auswahl nicht an Anträge gebunden. Auch wenn einem auf Sachverständigenbeweis gerichteten Beweisantrage stattgegeben wird, vielleicht nach § 244 Abs. 4 stattgegeben werden muß, braucht der Richter nicht den darin etwa benannten, kann vielmehr statt seiner einen anderen Sachverständigen bestimmen. Dem entspricht es, daß ein auf Sachverständigenbeweis gerichteter Beweisantrag, anders als beim Zeugenbeweis, auch dann formgültig ist, wenn er keinen bestimmten Sachverständigen benennt. Nr. 60 Abs. II RiStV empfiehlt dem Staatsanwalt, für die wichtigsten Gebiete Verzeichnisse bewährter Sachverständiger zu führen und in Zweifelsfallen die zuständige Berufsorganisation oder Behörde um Vorschläge zu bitten. So wird es auch der Richter halten. Ein praktischer Gesichtspunkt, der vor allem in Haftsachen nicht übersehen werden sollte, ist die Rücksicht darauf, ob der in Aussicht genommene Sachverständige in angemessener Zeit dazu kommen wird, das Gutachten vorzubereiten. Insbesondere pflegen angesehene Psychiater stark belastet zu sein; entsprechendes gilt oft bei Buchführungssachverständigen, wie sie in Konkurs-, Untreue-, Betrugssachen oft benötigt werden. Bisweilen wird es sich empfehlen, den Sachverständigen vor seiner Bestellung zu fragen, ob er Zeit hat. 3. Nicht nur der Richter kann Sachverständige bestimmen. § 73 ist nicht etwa so zu verstehen, als müsse die Polizei oder die Staatsanwaltschaft, wenn sie im vorbereitenden Verfahren einen Sachverständigen in Anspruch nehmen wollen, dessen Auswahl beim Richter beantragen, wenngleich sich das sehr empfehlen würde. Vielmehr hat § 73 unmittelbar nur diejenigen Verfahrensabschnitte vor Augen, in denen der Richter Herr des Verfahrens ist, also abgesehen von der Vornahme einzelner richterlicher Handlungen die Voruntersuchung, das Eröffnungs- und das Hauptverfahren. Die geschichtliche Entwicklung in Deutschland hat es mit sich gebracht, daß die Zeit, in der sich die Kriminalistik zu einer modernen Wissenschaft entwickelte, eine Zeit politischer Schwäche der Justiz und politischer Stärke der Polizei war. Die mit der Aufsicht 491

§ 73 Anm. 4 , 5

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über die Polizei verbundene innenpolitische Macht zog — und zieht noch heute — starke Persönlichkeiten unter den Innenpolitikern mehr an als die Leitung eines Justizministeriums, das auf die in seinem Ressort ergehenden Sachentscheidungen keinen endgültigen Einfluß hat, weil das Entscheidungen unabhängiger Richter sind. Dieses Kräfteverhältnis hat es mit sich gebracht — und bringt es noch mit sich —, daß die zur wissenschaftlichen Entwicklung der Kriminalistik erforderlichen Mittel nicht der Justiz, sondern der Polizei bewilligt worden sind — und noch werden. Das bahnbrechende wissenschaftliche Werk von Hans G r o s s hieß, sehr bezeichnend für diese Entwicklung, in seinen ersten Auflagen „Handbuch für Untersuchungsrichter" und heißt jetzt „Handbuch der Kriminalistik". Die organisatorischen Einrichtungen zur Fortentwicklung und zur praktischen Anwendung dieser Wissenschaft sind aus den gekennzeichneten machtpolitischen Gründen nicht bei der Justiz gebildet worden, zu der sie gehört hätten, sondern bei der Polizei: es sind vor allem die Landeskriminalämter (über ihre Organisation vgl. BGH M D R 1958 785 = JZ 1958 621 = LM Nr. 2 zu § 74 StPO) und das Bundeskriminalamt (in Wiesbaden). Da „Verfassungsrecht vergeht, Verwaltungsrecht besteht", da es leicht ist, der rechtsprechenden Gewalt in einem Grundgesetz eine mächtige Rolle zuzuweisen, aber sehr viel schwieriger, ein behördlich aufgebautes und eingegliedertes Machtinstrument aus einem Ressort in ein anderes zu verpflanzen, wird es dabei auch wohl bleiben. Der erste Zugriff wird immer weniger unter der Verantwortung rechtlich vorgebildeter Menschen stehen, er ist in immer zunehmendem Maße die Aufgabe nur kriminalistisch denkender Beamter. Soweit sie wirklich nur „Hilfsbeamte der Staatsanwaltschaft" sind (§ 152 GVG), möchte darin keine Gefahr für den Rechtsstaat liegen. Die tatsächliche Entwicklung hat aber vielfach Formen angenommen, deren folgerichtiger Abschluß den Staatsanwalt fast eher als einen „Hilfbeamten" (nämlich als eine Art von Justitiar) der Polizei erscheinen lassen könnte. Wir können diese Entwicklung hier nur kennzeichnen und mit großem Ernst vor ihr warnen; indessen ist es unvermeidbar, einige höchst unerwünschte, aber kaum zu umgehende Folgerungen für die Handhabung unserer Vorschrift zu ziehen. Für eine Reihe von kriminalistischen Fachgebieten stehen praktisch überhaupt nur Polizeibeamte als Sachverständige zur Verfügung. Ihre Heranziehung ist oft gar nicht zu entbehren. BGH MDR 1958 785 (s. o.) billigt sie (und erklärt auch die Ablehnung für unbegründet), soweit sie im Landeskriminalpolizeiamt nicht der Ermittlungsabteilung, sondern der Abteilung für Verbrechenskunde angehören, der gerade die Erstattung kriminaltechnischer Gutachten als „allgemeine kriminalwissenschaftliche Aufgabe" zugewiesen ist. Läßt es sich schon nicht umgehen, daß die Gerichte solche polizeilichen Sachverständigen in Anspruch nehmen, so wird man es auch hinnehmen müssen, daß die Kriminalpolizei selbst sich ihrer bedient. 4. Auch einem ersuchten Richter kann die Auswahl eines Sachverständigen aufgegeben werden. Die Bedenken des OLG Hamm JMB1NRW 1953 117 = DRsp. IV (450) 52 a werden nicht geteilt. Aus der Stellung des Sachverständigen als eines „Richtergehilfen" ergibt sich keineswegs, daß die Auswahl nur bei dem Richter liegen könne, „der über den Sachverhalt zu entscheiden hat, zu dessen Klärung der Sachverständige mitwirken soll". Schon begrifflich kann einem nicht nur der helfen, den man sich selbst zu diesem Zweck ausgesucht hat. Praktisch ergeben die Ausführungen oben zu 3, daß dem Richter sein sachverständiger „Gehilfe" nicht selten von der Polizei oder Staatsanwaltschaft ausgesucht wird. Und rechtlich können Staatsanwalt, Verteidiger, Angeklagter, Nebenkläger und andere Prozeßbeteiligte dem erkennenden Gericht einen von ihnen, nicht vom Gericht, ausgewählten Sachverständigen gemäß §§ 220, 222, 245 geradezu aufzwingen. Umso weniger ist es bedenklich, wenn das entscheidende Gericht zu einem ersuchten Richter das Vertrauen hat, er werde unter den örtlichen in Betracht kommenden Sachverständigen einen geeigneten auswählen. Übrigens ist auch das zur Entscheidung berufene Gericht selbst zu dem Zeitpunkt, in dem es den Sachverständigen auswählt, nur ausnahmsweise einmal ebenso besetzt wie zu dem späteren Zeitpunkt, in dem es sich seiner Hilfe bei der Entscheidung dann wirklich bedient. 5. Der Sachverständige muß eidesfähig sein. Das ergibt sich aus § 79 Abs. 1 Satz 2, wonach er auf Antrag zu vereidigen ist. Es dürfen bei ihm also die Voraussetzungen des

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Siebenter Abschnitt. Sachverständige und Augenschein (Sarstedt) § 7 3 Anm. 6—9 §74 § 60 Nr. 1—3 nicht vorliegen. Einen Jugendlichen (§ 61 Nr. 1), den Verletzten oder seine Angehörigen ( § 6 1 Nr. 2) wird das Gericht vernünftigerweise ebenfalls nicht zum Sachverständigen bestellen. 6. Das Gericht bestimmt auch die Anzahl der Sachverständigen. Der gewöhnlichste Fall ist, daß es sich mit einem begnügt. Das ist in der Hauptverhandlung auch dann „zulässig", wenn es sich um einen der beiden Arzte handelt, die gemäß § 87 an der Leichenöffnung teilgenommen haben. Sie brauchen also nicht unbedingt beide vernommen zu werden, R G JW 1929 113 mit Anm. von O e t k e r . Uber die Heranziehung weiterer Sachverständiger vgl. § 83. Die Nichtbestellung eines weiteren Sachverständigen verstößt dann gegen die Aufklärungspflicht, wenn die Heranziehung des ersten beweist, daß das Gericht sich selbst die erforderliche Sachkunde nicht zutraute, und wenn Gutachten oder Entscheidungsgründe ergeben, daß der Sachverständige dem Gericht diese Sachkunde nicht vermittelt hat. Daß das Gericht dem Sachverständigen nicht folgt, zwingt durchaus nicht immer zur Heranziehung eines zweiten. 7. Die Sachkunde des Gutachters zu beurteilen, ist Sache des Gerichts, und zwar in erster Linie des Tatrichters. Freilich kommen besondere Fälle vor, die auch das Revisionsgericht in die Lage bringen, die Sachkunde des vom Tatrichter vernommenen Sachverständigen nachzuprüfen. So behandelt BGHSt. 7, 82 = NJW 1955 599 = LM Nr. 15 zu § 244 Abs. 2 StPO (mit Anm. von J a g u s c h ) einen Fall, in dem der Tatrichter einem mit der Erstattung eines Glaubwürdigkeitsgutachtens beauftragten Lehrer abgenommen hatte, auch Sachverständige könnten die Glaubwürdigkeit siebenjähriger Kinder nicht besser beurteilen als Laien! 8. Auch im übrigen liegt die Würdigung des Gutachtens dem Gericht ob. Es handelt sich dabei um einen gewöhnlichen Anwendungsfall des § 261. Dem Revisionsgericht steht eine Nachprüfung nur insoweit zu, als es sich um eine Verletzung der Denkgesetze oder allgemeiner Erfahrungssätze handelt. Um solche allgemeinen Erfahrungssätze festzustellen, kann auch das Revisionsgericht Sachverständige vernehmen, wie es in BGHSt. 7, 82 geschehen ist: vgl. S t e i n , Das private Wissen des Richters (1893) S. 136/7. In aller Regel wird es das freilich unter Aufhebung des angefochtenen Urteils und Zurückverweisung der Sache dem Tatrichter aufgeben. 9. Öffentlich bestellte Sachverständige (Abs. 2) sind nicht mit den allgemein vereidigten im Sinne des § 79 Abs. 3 zu verwechseln. Zu den öffentlich bestellten gehören insbesondere die Gerichtsärzte. Auch sonst setzt die öffentliche Bestellung einen besonderen, auf diesen Zweck gerichteten Verwaltungsakt voraus. „Besondere Umstände", deretwegen „andere Personen" zu bestellen sind, können z. B. in der Verhinderung des öffentlich bestellten Sachverständigen liegen, oder darin, daß es auf eine noch speziellere Sachkunde ankommt. So pflegen Gerichtsärzte zwar von Psychiatrie oder Gynäkologie mehr zu verstehen als praktische Arzte, gewöhnlich aber nicht Fachärzte auf diesen Gebieten zu sein.

§74 (1) Ein Sachverständiger kann aus denselben Gründen, die zur Ablehnung eines Richters berechtigten, abgelehnt werden. Ein Ablehnungsgrund kann jedoch nicht daraus entnommen werden, daß der Sachverständige als Zeuge vernommen worden ist. (2) Das Ablehnungsrecht steht der Staatsanwaltschaft, dem Privatkläger und dem Beschuldigten zu. Die ernannten Sachverständigen sind den zur Ablehnung Berechtigten namhaft zu machen, wenn nicht besondere Umstände entgegenstehen. (3) Der Ablehnungsgrund ist glaubhaft zu machen; der Eid ist als Mittel der Glaubhaftmachung ausgeschlossen. Entstehungsgeschichte: I. u. II. Entw. § 65; III. Entw. § 66. — Jetzige Fassung Rechtsvereinheitlichungsgesetz vom 12. 9. 1950 (BGBl. 455). 493

§ 74 Anm. 1—3

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

1. Der Grund der Vorschrift liegt nicht darin, daß der Sachverständige als „Richtergehilfe" ähnlich behandelt werden müsse wie ein Richter (zutreffend E b S c h m i d t 1 gegen B e l i n g S. 301). Wie wenig diese Vorstellung der wirklichen Rechtslage entspricht, zeigt sich schon darin, daß dem gesetzlichen Richter kein „gesetzlicher Sachverständiger" gegenübersteht. Der für eine bestimmte Sache zuständige Richter muß grundsätzlich ohne einen Akt der „Auswahl" (§ 73) feststehen, der Sachverständige ist ganz frei bestimmbar. Bezeichnend sind ferner gerade die Ausnahmen, die § 74 für den Sachverständigen von der für den Richter getroffenen Regelung macht. Der innere Grund für die Ablehnbarkeit besteht hier gerade im Gegensatz zu der des Richters darin, daß grundsätzlich ein Sachverständiger so gut ist wie ein anderer, gleich vorgebildeter. Weil man einen Sachverständigen grundsätzlich ersetzen kann, braucht man sich nicht gerade — wie das beim Zeugen unvermeidbar ist — auf den befangenen zu kaprizieren. Seine Ersetzung durch einen unbefangenen dient nicht nur der besseren Rechtsfindung, sondern macht auch den Beteiligten das Streben der Rechtsprechung nach Objektivität deutlich. Es liegt deshalb im Sinne der Vorschrift, sie großzügig zu handhaben und in Grenzfällen dem Ablehnungsgesuch lieber stattzugeben. Selbst wo von einer Besorgnis der Befangenheit nicht eigentlich die Rede sein kann, läßt der Grundgedanke der Vorschrift sich durch Anwendung des § 76 Abs. 1 S. 2 verwirklichen. Anderseits ergibt sich daraus, daß § 74 auf dem Gedanken der Auswechselbarkeit des Sachverständigen beruht, jedoch nicht etwa, daß ein Sachverständiger, der im Einzelfall aus besonderem Grunde nicht durch einen anderen ersetzt werden kann, deshalb nicht wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt werden könnte. So kann eine recht unbequeme Lage eintreten, wenn der Sachverständige, der den Beschuldigten gemäß § 81 in einer Heiloder Pflegeanstalt beobachtet und dabei die Sechswochenfrist ganz oder zum größeren Teil erschöpft hat, alsdann wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt wird. Trotzdem steht das der Ablehnung nicht entgegen. Ebenso kann ein Sachverständiger abgelehnt werden, der als einziger die erforderliche Sachkunde besitzt (vgl. 3 f vor § 72). 2. Das Gesetz kennt, anders als beim Richter, keine Ausschließung des Sachverständigen; ein Ausnahmefall ist der des § 87 Abs. 1 S. 2. Die Gründe, aus denen ein Richter ausgeschlossen ist (§§ 22, 23), kommen beim Sachverständigen nur als Ablehnungsgründe in Betracht, und auch das nur zum Teil. Ohne ausdrücklich erklärte Ablehnung ist es also kein Verfahrensverstoß, wenn der Verletzte oder einer seiner Angehörigen, der Nebenkläger, ein Angehöriger des Beschuldigten als Sachverständiger vernommen wird, oder wenn der Sachverständige in der Sache als Beamter der Staatsanwaltschaft, als Polizeibeamter, als Anwalt des Verletzten oder als Verteidiger tätig gewesen ist (§ 22 Nr. 1—4). Jedoch sind all dies zwingende Ablehnungsgründe. Es ist kein anderer gesetzgeberischer Grund für § 22 Nr. 1—4 erkennbar, als daß in diesen Fällen, wenn nicht die Befangenheit selbst, so doch die Besorgnis der Befangenheit niemals ausgeschlossen werden kann. Das Ablehnungsrecht besteht in diesen Fällen, wie auch sonst, auch für denjenigen Prozeßbeteiligten, der durch die Befangenheit begünstigt erscheinen könnte. Der Beschuldigte kann also auch seinen eigenen Angehörigen oder seinen Verteidiger als Sachverständigen ablehnen. Denn erstens braucht die Befangenheit sich auf das Gutachten nicht in der Richtung auszuwirken, an die man bei dem betreffenden Ausschließungsgrund zuerst denkt; vielmehr ist wohl stets auch zu befürchten, daß der Befangene im Streben nach Unparteilichkeit den Befangenheitsgrund „überkompensiert". Und zweitens ist bei einem Sachverständigen, bei dem ein offensichtlicher Grund zur Befangenheit vorliegt, zu befürchten, daß das Gericht wegen dieses Grundes auch von einem in Wahrheit völlig objektiven Gutachten Abstriche macht, um seinerseits die von ihm vermutete Befangenheit auszugleichen; vgl. BGH 5 StR 90/60 vom 31. 5. 1960. 3. Daß der Sachverständige in der Sache als Zeuge oder Sachverständiger vernommen ist, rechtfertigt für sich allein noch nicht die Ablehnung. Für den Zeugen sagt Abs. 1 S. 2 das ausdrücklich; für den im Vorverfahren vernommenen Sachverständigen legt RGSt. 33, 198 es dar. Dadurch wird aber nicht ausgeschlossen, unter Umständen aus der Aussage oder dem früheren Gutachten oder aus der früheren Aufführung des jetzigen Sachverständigen als Zeuge oder Sachverständiger Gründe für die Besorgnis der Befangenheit zu entnehmen. 494

Siebenter Abschnitt. Sachverständige und Augenschein (Sarstedt)

§ 74 Anm. 4

Die Ausschließungsgründe des § 23 begründen beim Sachverständigen nicht dann Befangenheit, wenn er in einem früheren Rechtszuge oder in der Voruntersuchung als Sachverständiger tätig war. Das erkennende Gericht darf sich also desselben Sachverständigen bedienen wie der Untersuchungsrichter, das Berufungsgericht desselben wie das Gericht erster Instanz. Dagegen ist § 23 in einem anderen Sinne anwendbar. Wer als Richter in der ersten Instanz oder in der Voruntersuchung mitgewirkt hat, kann um dieser Mitwirkung willen später als Sachverständiger gemäß § 23 wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt werden. 4. Der eigentliche Ablehnungsgrund ist beim Sachverständigen immer (auch in den oben zu 2 und 3 behandelten Sonderfallen die Besorgnis der Befangenheit. Dies ist ein Rechtsbegriff, dessen richtige Auffassung das Revisionsgericht (auf entsprechende Verfahrensrüge) beim Sachverständigen ebenso nachzuprüfen hat wie beim Richter. Es ist auch derselbe Begriff; das ergibt sich aus der Verweisung (vgl. die Erläuterungen zu § 24 Abs. 2). Entscheidend ist also auch beim Sachverständigen nicht, ob er wirklich befangen ist, sondern ob vom Standpunkt des Ablehnenden aus vernünftigerweise ein Mißtrauen gegen die Unparteilichkeit des Sachverständigen als gerechtfertigt anzusehen ist. Die Ergebnisse der Rechtsprechung lassen sich nur als Anhalt und nur mit Vorsicht verwerten; es kommt immer auf alle Umstände des Einzelfalles an. a) Mehrere geltend gemachte Ablehnungsgründe müssen in ihrer Gesamtheit gewürdigt werden; es ist ein revisibler Rechtsfehler, sie nur jeden für sich als nicht ausreichend zu behandeln, BGHSt. 8 2 2 7 = NJW 1956 271 = JZ 1956 183 = LM Nr. 1 zu § 74 StPO. b) Die bloße Tatsache, daß schon die Staatsanwaltschaft diesen Sachverständigen im Vorverfahren herangezogen hatte, ist für sich allein noch kein vernünftiger Grund, an seiner Unparteilichkeit zu zweifeln; nicht einmal dann, wenn er dabei zu einer dem Ablehnenden ungünstigen Beurteilung gelangt ist: RGSt. 33 198. Indessen kommt es vor, daß Sachverständige bei dieser Gelegenheit einen so auffallenden ,Jagdeifer" zeigen, daß eine Ablehnung entsprechend dem Grundgedanken des § 22 Nr. 4 sehr wohl gerechtfertigt sein kann. Entsprechendes gilt für Sachverständige der Polizei. Die Heranziehung durch die Polizei allein begründet die Besorgnis der Voreingenommenheit noch nicht. Sie kann auch hier nur aus dem Verhalten des Sachverständigen abgeleitet werden. c) Bei sachverständigen Polizeibeamten ist zu unterscheiden. Hat der Beamte als Angehöriger der Kriminalpolizei (z. B. als Mitglied der Mordkommission) an der Strafverfolgung des Beschuldigten teilgenommen, so ist er gemäß § 22 Nr. 4 ohne weiteres als befangen anzusehen. Das gilt auch von Beamten des Bundes- (oder eines Landeskriminalamts, die im Ermittlungsdienst als Hilfsbeamte der Staatsanwaltschaft eingesetzt sind, BGH 18 214. Hat der Beamte dagegen sein Gutachten als Mitglied einer Dienststelle erstattet, die von den Strafverfolgungsbehörden organisatorisch getrennt ist (Abteilung für Verbrechenskunde im Landeskriminalpolizeiamt), so läßt sich die Befangenheit nicht schon deshalb ohne weiteres bejahen: BGH MDR 1958 785 = JZ 1958 621 = LM Nr. 2 zu § 74 StPO. Damit, daß auf solche Polizeibeamten § 22 Nr. 4 nicht unmittelbar angewendet werden kann, ist freilich noch nicht gesagt, ob nicht im Einzelfall oder nicht auch regelmäßig für einen vernünftigen Beschuldigten Mißtrauen gegen die Unparteilichkeit gerechtfertigt erscheinen kann. Diese Frage wird in der angeführten Entscheidung nicht erörtert, anscheinend weil die Revisionsrüge dazu keine Gelegenheit geboten hatte. Es ist aber zu bedenken, daß auch diese polizeilichen Dienststellen nicht, wie etwa ein Universitätsinstitut, einer leidenschaftslosen Fortentwicklung der Wissenschaft dienen sollen, sondern daß auch sie ihre Daseinsberechtigung letzten Endes von der Brauchbarkeit ihrer Methoden zur Verbrechensbekämpfung herleiten. Soweit also ihre Gutachten für den Laien nicht nachprüfbar sind, sondern auf Vertrauensgrundlage hingenommen werden müßten, kann sehr wohl einmal die Ablehnung begründet sein. Der organisatorische Einsatz unbefangener Sachverständiger gehört eben so wenig zu den eigentlichen Aufgaben der Polizei, daß schon einmal Mißtrauen gerechtfertigt sein kann; vgl. auch 3 zu § 73; BGH 5 StR 109/55 vom 12. 7. 1955.

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§ 74 Anm. 5

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d) Die Tatsache allein, daß die Tätigkeit des Sachverständigen zur Aufdeckung der Straftat geführt hat, rechtfertigt die Ablehnung ebenfalls nicht, BayObLG 1951 391. Wenn übrigens der Sachverständige dabei nicht im Auftrag einer Strafveifolgungsbehörde (Staatsanwaltschaft oder Polizei) gehandelt hat, ist er nicht als Sachverständiger, sondern als (sachverständiger) Zeuge zu vernehmen und kann dann überhaupt nicht abgelehnt werden. Wann Angehörige der Verfassungsschutzämter als Sachverständige abgelehnt werden können, hängt davon ab, ob sie schon vor ihrer Heranziehung, im allgemeinen also vor Prozeßbeginn, mit den konkreten Vorgängen befaßt gewesen sind, die den Gegenstand des Verfahrens bilden. Daß die Verfassungsschutzämter weder polizeiliche Rechte noch polizeiliche Pflichten haben, sollte, im Gegensatz zu BGH NJW 1964 1681, nicht als entscheidend angesehen werden. Ein Beamter, auf dessen Initiative das Verfahren in Gang gekommen ist, wird in aller Regel auf einen vernünftigten Beschuldigten den Eindruck der Befangenheit machen. Gerade einen solchen Beamten als Sachverständigen zu bestellen, sollte man vermeiden. Vgl. auch J a g u s c h LM Anm. bei Nr. 4/5 zu § 74 StPO. e) Mit der Behauptung mangelnder Sachkunde kann das Ablehnungsgesuch nicht begründet werden. Aus mangelnder Sachkunde kann auch nicht auf Befangenheit geschlossen werden. Hält ein Prozeßbeteiligter die Sachkunde des Sachverständigen für nicht ausreichend, so ist deshalb nicht ein Ablehnungsgesuch, sondern ein Beweisantrag oder die Gestellung eines anderen Sachverständigen der vom Verfahrensrecht gegebene Weg der Abhilfe. f) Aus dem Begriff der Befangenheit ergibt sich, daß ihre Besorgnis immer nur gegen bestimmte Personen geltend gemacht werden kann, also bei Gutachten von Behörden oder Sachverständigenkammern nicht gegen diese Gremien selbst, sondern nur gegen einzelne Mitglieder. g) Eine erschöpfende Aufzählung der denkbaren Einzelfälle von Befangenheit ist nicht möglich. Verwandtschaft, Freundschaft oder Feindschaft zwischen dem Sachverständigen und einem der Prozeßbeteiligten oder Verletzten, kollegiale oder Konkurrenzverhältnisse können die Besorgnis der Befangenheit begründen. Erstattet der Sachverständige eine Strafanzeige gegen den Beschuldigten, so wird das regelmäßig die Ablehnung rechtfertigen, BGH 1 StR 463/54 vom 31. 5. 1955. Dasselbe wird gelten, wenn ein ärztlicher Sachverständiger gegen den Willen des Untersuchten körperliche Eingriffe (Lumbalpunktion) vornimmt, ohne dazu vom Gericht ermächtigt zu sein; oder wenn das Gutachten sich in seiner Ausdrucksweise auffallend von dem gelassenen Ton sachlicher Beurteilung entfernt. Zurückhaltung ist geboten, wenn die Besorgnis der Befangenheit aus dem eigenen Verhalten des Ablehnenden gegenüber dem schon bestellten Sachverständigen hergeleitet werden soll. Es geht nicht an, daß ein Prozeßbeteiligter, insbesondere der Beschuldigte selbst, gegenüber dem Sachverständigen ausfallend wird, um daraus oder aus der Reaktion des Sachverständigen einen Ablehnungsgrund zu gewinnen. Wer unverschämtem Auftreten mit Entschiedenheit und Schärfe entgegentritt, kann nicht deshalb als befangen gelten. Die Erstattung eines bezahlten Privatgutachtens kann die Ablehnung begründen (BGHSt. 20 245; dazu W i l l ms LM Anm. bei Nr. 7 zu § 74 StPO); ebenso wenn der Sachverständige in der betreffenden Sache früher für eine Versicherungsgesellschaft beruflich tätig war, RGSt. 72 250 = JW 1938 2201. Auch ein Angestellter der geschädigten Firma wird als befangen angesehen werden müssen, R G 58 262. Ein Sachverständiger, der sich öffentlich über den Beschuldigten lustig macht, ist befangen, BGH 2 StR 10/60 vom 25.5. 1960; ebenso ein Sachverständiger, der Briefe des Beschuldigten unterdrückt, BGH NJW 1961 2069. 5. Es versteht sich von selbst, daß jedes Gericht in jeder Lage des Verfahrens von Amts wegen darauf zu achten hat, ob der in seinem Auftrag tätig werdende Sachverständige hinreichend unbefangen ist und auch wirkt. Einen Sachverständigen, bei dem das zweifelhaft sein kann, wird das Gericht von vornherein gar nicht auswählen; ist es doch geschehen, so wird es ihn gemäß § 76 Abs. 1 S. 2 von der Gutachtertätigkeit entbinden. Dazu kann auch ein förmlich unzulässiges (z. B. von einem dazu nicht Berechtigten gestelltes) oder sachlich unzulänglich begründetes Ablehnungsgesuch den Anlaß geben. Hat das Gericht aber nur in

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Siebenter Abschnitt. Sachverständige und Augenschein (Sarstedt)

§ 74 Anm. 6 , 7

dieser Hinsicht etwas versäumt, so kann daraus allein kein Prozeßbeteiligter etwas herleiten. Insbesondere kann die Revision nicht (wie es oft geschieht) auf die einfache Behauptung gestützt werden, der Sachverständige sei aus bestimmten, nunmehr näher dargelegten Gründen tatsächlich befangen gewesen, oder dies sei doch wenigstens zu besorgen gewesen. Vielmehr setzt eine solche Rüge schlechterdings ein schon vor dem Tatrichter gestelltes Ablehnungsgesuch voraus. 6. Zur Ablehnung sind nur die Prozeßbeteiligten, aber auch alle Prozeßbeteiligten befugt: Staatsanwaltschaft, Beschuldigter, Privatkläger, Nebenkläger (Hamm D A R 1957 1 3 1 = DRSp. IV [449J 20 b), Einziehungsbeteiligte, gesetzliche Vertreter. § 24 Abs. 3 will, indem er nur Staatsanwaltschaft, Privatkläger und Beschuldigten erwähnt, die übrigen nicht ausschließen. So sorgfaltig ist die StPO nicht redigiert. Das sieht man an der Erwähnung des Privatklägers (die nach § 385 Abs. 1 kaum nötig gewesen wäre) und an der Nichterwähnung des Nebenklägers (dessen Ablehnungsrecht sich aus § 397 ergibt). D a entsprechende Gesetzesanwendung im Strafverfahrensrecht nicht verboten ist, erscheint hier die sinngemäße Ausdehnung auf alle Prozeßbeteiligten angebracht. Solange der Verletzte in keiner Weise (oder nur als Zeuge) am Verfahren beteiligt ist, kann er kein Ablehnungsgesuch stellen. Führt er jedoch ein Klageerzwingungsverfahren gemäß § 172 durch, so steht ihm von dem Zeitpunkt an, in dem er einen zulässigen (form- und fristgerechten) Antrag auf gerichtliche Entscheidung stellt, also auch schon in diesem Antrag, das Ablehnungsrecht zu. RGSt. 52 291 versagte es ihm freilich unter Hinweis auf den Wortlaut des § 24. Indessen hat durch die Neufassung der §§ 172, 395 der Antragsteller eine stärkere Stellung erhalten. Hat sein Antrag Erfolg, so gewinnt er die Befugnis zum Anschluß als Nebenkläger und damit schon gemäß § 24 in Verbindung mit § 397 das Ablehnungsrecht. Es entspräche nicht den Absichten, die der Gesetzgeber mit der Änderung des § 172 verfolgt hat, wenn die Entscheidung des Oberlandesgerichts auf das Gutachten eines Sachverständigen gestützt werden könnte, der gegenüber dem Verletzten befangen ist oder wirkt. Im Anhangsverfahren ( § § 4 0 3 ff.) wird man dem Verletzten dagegen kein Ablehnungsrecht zugestehen haben. Denn einerseits können hier gegen ihn ohnehin keine endgültigen Entscheidungen ergehen; andererseits würde gerade die Ablehnung eines Sachverständigen wohl so gut wie immer das Verfahren verzögern und damit, gerade wenn sie zulässig wäre, eine Handhabe bieten, den Verletzten gemäß § 405 aus dem Verfahren zu entfernen. Der Verletzte steht sich hier also geradezu besser, wenn man ihm das Ablehnungsrecht versagt. Denn dann behält er, selbst wenn der Sachverständige ihm gegenüber befangen ist, eher die Chance, daß ihm schon in diesem Verfahren etwas zugesprochen wird. Einem Zeugen steht kein Ablehnungsrecht zu, ebensowenig einem anderen Sachverständigen. Der Sachverständige, der sich selbst für befangen hält und deshalb seine Entbindung beantragt, wird durch Beschluß zu bescheiden sein. Der Verteidiger kann den Sachverständigen nicht aus eigenem Recht, sondern nur namens des Beschuldigten ablehnen. Allerdings können sich Ablehnungsgründe für den Beschuldigten unter Umständen auch aus dem Verhältnis (Feindschaft, Zusammenstößen) zwischen dem Sachverständigen und dem Verteidiger ergeben. 7. Der Sachverständige ist den Ablehnungsberechtigten namhaft zu machen, wenn nicht besondere Umstände entgegenstehen. Durch diese Einschränkung unterscheidet sich § 74 Abs. 2 S. 2 von § 28 Abs. 3 S. 2; andererseits auch dadurch, daß die Richter nur auf Verlangen, die Sachverständigen auch ohne solches genannt werden müssen. D a die Prozeßbeteiligten in der Hauptverhandlung den Namen des Sachverständigen entweder durch seine Vernehmung zur Person oder — soweit sie zulässig ist — durch die Verlesung seines Gutachtens erfahren und da sie dann immer noch Zeit und Gelegenheit zur Ablehnung haben (eine dem § 25 entsprechende Vorschrift gibt es hier nicht), muß der Sinn der Bestimmung darin gesehen werden, daß der Ablehnungsberechtigte den Namen des Sachverständigen alsbald bei dessen Bestellung erfahrt, damit im Fall einer begründeten Ablehnung Zeitverlust und vergebliche Arbeit tunlichst vermieden werden. Unter diesem Gesichtspunkt ist auch die Frage zu beantworten, was „besondere Umstände" sind, die der sofortigen Namhaftmachung entgegenstehen können. Niemals kommen Gründe in Betracht, die es rätlich erscheinen lassen können, einem Ablehnungsberechtigten den Namen des Sachverständigen 497

§ 74 Anm. 8 , 9

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überhaupt zu verheimlichen; denn vor Schluß der Beweisaufnahme muß er ihn doch erfahren. Es kann sich vielmehr immer nur um Gründe der Beschleunigung, der Gefahr im Verzuge handeln, wie etwa den, daß ein Beweismittel (Augenscheinsobjekt, Zeuge), dessen der Sachverständige zur Vorbereitung seines Gutachtens bedarf, unterzugehen droht, ehe der abwesende oder verhandlungsunfahige (z. B. betrunkene) Prozeßbeteiligte verständigt werden kann. 8. Das Ablehnungsgesuch muß den Ablehnungsgrund nennen und glaubhaft machen. Hierbei empfiehlt sich von vornherein Genauigkeit und Vollständigkeit, weil nur die im Ablehnungsgesuch behaupteten und glaubhaft gemachten Tatsachen bei einer späteren Revisionsrüge berücksichtigt werden können; vgl. unten 10b. Zur Glaubhaftmachung kann der Ablehnende sich auf das (uneidliche) Zeugnis des Abgelehnten berufen. Die Vorschriften über Beweisanträge und deren Ablehnung sowie über die Beweisaufnahme gelten für dieses Ablehnungsverfahren nicht. Vielmehr handelt es sich um einen Fall des „Freibeweises". Das Gericht kann Beweispersonen hier formlos (auch schriftlich, fernmündlich, durch beliebige Mittelspersonen) hören; es kann nicht genötigt werden, von bestimmten Beweismitteln Gebrauch zu machen. Das Ablehnungsgesuch kann gestellt werden, sobald der Sachverständige ernannt worden und die Sache bei Gericht anhängig ist. Ob es das Gericht war, das ihn ausgewählt hat, ist unerheblich; abgelehnt werden kann auch ein Sachverständiger, den einer der Prozeßbeteiligten gemäß § 222 unmittelbar hat laden lassen. Es steht der Ablehnung auch nicht entgegen, daß der Ablehnende den Sachverständigen selbst benannt hatte. Der letzte Zeitpunkt, in dem die Ablehnung erklärt werden kann, ist der Schluß der Hauptverhandlung, bei der das Gutachten verwertet werden sollte; da nach Beginn der Urteilsverkündung niemand mehr das Wort zu erhalten braucht, praktisch also der Augenblick vor Beginn der Urteilsverkündung. Insbesondere steht es der Zulässigkeit des Ablehnungsgesuchs nicht entgegen, daß der Ablehnende es in Kenntnis des Ablehnungsgrundes hat zur Erstattung des Gutachtens kommen lassen. O L G Stuttgart NJW 1957 1646 hält die Ablehnung für unzulässig, wenn der Ablehnende durch sein Verhalten während der Hauptverhandlung (widerspruchslose Einlassung auf die Vernehmung des Sachverständigen, Antrag auf dessen Vereidigung, Zustimmung zu seiner Entlassung) einen Verzicht zum Ausdruck gebracht habe; zustimmend E b S c h m i d t Nachtr. zu II Rdnr. 4. Dem ist nicht zu folgen. Zwar erklärt RGSt. 58 301, worauf OLG Stuttgart sich beruft, einen Verzicht für zulässig; es erblickt ihn aber gerade darin, daß während der ganzen Hauptverhandlung keine Ablehnung erklärt wurde, also auch nicht im Schlußwort. Daß der Ablehnende der Vernehmung nicht widerspricht, bedeutet zweifellos keinen Verzicht, da ja die Ablehnung noch nach dem Gutachten zulässig ist (auch das hebt RGSt. 58 301 ausdrücklich hervor). Daß er die Vereidigung beantragt, bedeutet Mißtrauen, nicht Zustimmung. Daß er der Entlassung zustimmt, besagt nichts; der Sachverständige wird in keinem Falle mehr gebraucht, weder wenn die Ablehnung begründet, noch wenn sie unbegründet ist. Wird eine für begründet erklärte Ablehnung nachträglich zurückgenommen, so steht der Vernehmung des zunächst abgelehnten Sachverständigen und der Verwertung seines Gutachtens nichts entgegen, und zwar selbst dann nicht, wenn es sich um einen Ablehnungsgrund handelte, der bei einem Richter zur Ausschließung gemäß § 22 gefuhrt hätte (RG JR 1927 Nr. 1265). Ein vor der Hauptverhandlung gestelltes Ablehnungsgesuch kann, gleichviel ob das Gericht darüber entschieden hatte oder nicht, in der Hauptverhandlung von neuem gestellt werden, RGSt. 47 240. Das muß geschehen, wenn später eine Entscheidung des Revisionsgerichts über die Berechtigung der Ablehnung herbeigeführt werden soll. 9. Das Gericht entscheidet über die Ablehnung durch Beschluß. Geschieht das in der Hauptverhandlung, so wirken beim Schöffengericht, bei der Strafkammer und beim Schwurgericht, anders als bei der Richterablehnung gemäß § 27 Abs. 2, 3, die Laienrichter mit. „Stillschweigend" kann der die Ablehnung zurückweisende Beschluß schon wegen § 34 nicht ergehen. Die Gründe müssen dem Ablehnenden und den anderen Prozeßbeteiligten eine hinreichende Grundlage für ihr weiteres Verhalten geben. Sie müssen sie u. U. in die Lage setzen, das Ablehnungsgesuch mit besserer oder ausführlicher Begründung zu wiederholen. Die

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§ 74 Anm. 10

Gründe müssen erkennen lassen, ob das Gericht von einem zutreffenden Begriff der „Besorgnis der Befangenheit" ausgegangen ist, ob es insbesondere die Frage nicht nur objektiv, sondern auch vom Ständpunkt des Ablehnenden aus geprüft hat. Die Entscheidung darf nicht dadurch umgangen werden, daß die Beweisperson statt als Sachverständiger nunmehr als sachverständiger Zeuge vernommen wird, SchlHOLG SchlHA 1949 87 = DRsp. IV (450) 16d;s. u. Erklärt der Beschluß die Ablehnung für begründet, so darf der Sachverständige nicht mehr vernommen, ein von ihm bereits erstattetes Gutachten nicht verwertet werden. Der abgelehnte Sachverständige darf zwar noch als Zeuge, gegebenenfalls als sachverständiger Zeuge vernommen werden; als solcher darf er aber nur über solche Beobachtungen gehört werden, die er etwa unabhängig von seiner Bestellung zum Sachverständigen — also gewöhnlich vor dieser Bestellung — gemacht hat, und die sich auf den speziellen Prozeßgegenstand beziehen. Alle Fragen allgemeiner Sachkunde (und der Tatsachen, die zu ihrem Erwerb geführt haben) scheiden aus; ebenso scheiden alle Fragen über Beobachtungen aus, die der Abgelehnte erst deshalb gemacht hat, weil er in diesem Verfahren (sei es auch nur durch die Polizei oder die Staatsanwaltschaft) als Sachverständiger herangezogen war; a. M. leider BGHSt. 20 222. 10. Rechtsmittel. a) Hat nicht das erkennende Gericht entschieden, so unterliegt der Beschluß der einfachen (nicht, wie nach § 28 Abs. 1, der sofortigen) Beschwerde. Sie ist sowohl gegen einen zurückweisenden wie gegen einen die Ablehnung fiir begründet erklärenden Beschluß zulässig. Sie steht, wie die Ablehnung selbst (vgl. oben 6), nur den Prozeßbeteiligten zu, nicht dagegen dem betroffenen Sachverständigen selbst. Das Beschwerdegericht entscheidet ohne Beschränkung über Tat-, Rechts- und — soweit das überhaupt in Betracht kommt — Ermessensfrage. Weist das Beschwerdegericht die Ablehnung als unbegründet zurück, so wird diese Entscheidung ebensowenig materiell rechtskräftig wie wenn sie vom Gericht erster Instanz ausgesprochen wäre. Sie hindert also weder den Ablehnenden noch einen anderen Prozeßbeteiligten, den Sachverständigen in der Hauptverhandlung erneut abzulehnen, um die Frage — bei erneuter Zurückweisung — vor das Revisionsgericht zu bringen. Die Beschwerdemöglichkeit endet mit der Eröffnung des Hauptverfahrens, OLG Schleswig SchlHA 1953 222 = DRSp. IV (450) 55 d; OLG Oldenburg VRS Bd. 19 (1960) S. 301 gegen OLG Celle NdsRpfl. 1956 80. Von da ab ist die Bestellung des Sachverständigen und die Beurteilung seiner Unbefangenheit eine „Entscheidung des erkennenden Gerichts, die der Urteilsfällung vorausgeht", im Sinne des § 305 S. 1. Es handelt sich auch nicht um eine der in § 305 S. 2 ausgenommenen „Entscheidungen, durch die dritte Personen betroffen werden". Der Sachverständige ist durch sein Ausscheiden oder durch sein Verbleiben im Prozeß nicht in dem hier gemeinten Sinne „betroffen". Freilich setzt das OLG Oldenburg, das den Ablehnenden auf die Berufung oder die Revision verweist, sich nicht mit dem naheliegenden Einwand auseinander, daß jedenfalls die Revision dem Ablehnenden geringere Möglichkeiten gibt als ihm die Beschwerde geben würde, weil das Revisionsgericht die Ablehnung eines Sachverständigen nicht nach Beschwerdegesichtspunkten beurteilt (s. unten zu b). Indessen trifft das auch für andere Entscheidungen des erkennenden Gerichts zu. Gerade unbegründete Ablehnungen von Sachverständigen zwischen der Eröffnung des Hauptverfahrens und dem Beginn der Hauptverhandlung gäben eine Handhabe zu geradezu unerträglicher Verschleppung. b) Hat das erkennende Gericht (also von der Eröffnung des Hauptverfahrens an, vgl. oben zu a) die Ablehnung für begründet erklärt, so gibt es dagegen kein Rechtsmittel. Das Berufungsgericht mag den abgelehnten Sachverständigen, wenn es die Besorgnis der Befangenheit fiir unbegründet hält, seinerseits vernehmen. Mit der Revision ließe sich allenfalls als eine Verletzung der Aufklärungspflicht rügen, daß der Tatrichter den abgelehnten Sachverständigen zu Unrecht für befangen gehalten und ihn deshalb nicht vernommen oder sein Gutachten nicht benutzt habe. Erfolg wird eine solche Rüge aber nur in Ausnahmefallen haben können, z. B. wenn der Tatrichter keinen anderen, gleichwertigen Sachverständigen zum gleichen Beweisthema gehört hat.

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§75

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Die Zurückweisung eines Ablehnungsgesuchs als unbegründet kann zum Gegenstand einer Revisionsrüge gemacht werden. Ihre revisionsrechtliche Behandlung unterscheidet sie jedoch grundsätzlich von der Rüge, daß die Ablehnung eines Richters zu Unrecht verworfen worden sei. Beim Richter ist das ein zwingender Revisionsgrund, dessen Voraussetzungen in § 338 Nr. 3 geregelt sind. Entsprechend dieser besonderen Vorschrift wird — gleichsam nach Beschwerdegesichtspunkten — die Entscheidung über das Ablehnungsgesuch auch in den nicht rechtlichen Grundlagen nachgeprüft. Anders bei der Ablehnung eines Sachverständigen. Hier ist die Rüge eines Verfahrensverstoßes nach allgemeinem Revisionsrecht (§ 337) zu beurteilen. Nach der älteren Rechtsprechung war der Unterschied praktisch sehr bedeutend. So hat RGSt. 25 362 es überhaupt abgelehnt, sich auf eine „materielle Beurteilung" der Ablehnungsgründe einzulassen. Die Strafkammer hatte das Ablehnungsgesuch mit der — wie man heute sicherlich sagen würde — rein formelhaften Begründung abgelehnt, es liege kein Grund vor, an der Unbefangenheit und Unparteilichkeit des Sachverständigen zu zweifeln. Dabei ergibt das Revisionsurteil, daß der Beschwerdeführer dem Landgericht Tatsachen zur Begründung des Ablehnungsgesuchs vorgetragen hatte, und daß das Landgericht nicht einmal zu erkennen gegeben hatte, ob es diese Tatsachen als glaubhaft gemacht ansah oder nicht, und ob der Sachverständige selbst sie eingeräumt hatte oder nicht. Ein solches Verfahren würde heute kein Revisionsgericht mehr billigen. Nach der jetzt herrschenden Rechtsprechung halten die Revisionsgerichte sich nur an die Tatsachen gebunden, von denen der Tatrichter bei der Beurteilung der Befangenheitsfrage ausgegangen ist. Selbst diese Bindung entspricht nicht der sonstigen Handhabung des Revisionsrechts, das eine Bindung an tatsächliche Feststellungen nur bei der Anwendung des sachlichen Rechts, nicht aber bei der Beurteilung von Verfahrensrügen kennt. Es handelt sich bei der Glaubhaftmachung von Ablehnungsgründen ohnehin um ein ganz freies Beweisverfahren, das dem Revisionsrichter ebenso möglich ist wie bei der tatsächlichen Aufklärung von Verfahrensverstößen sonst. Entspricht dies nun freilich nicht der zur Zeit bei den Revisionsgerichten herrschenden Übung, soweit die Beurteilung der Ablehnung von Sachverständigen in Betracht kommt, so nehmen sie doch zunächst mindestens eine rechtliche „materielle Beurteilung" für sich in Anspruch. Ihr würde heute der in RGSt. 25 362 behandelte Beschluß gewiß nicht standhalten: erstens nicht, weil er keine Tatsachen enthält, und zweitens nicht, weil er nicht erkennen läßt, ob der Begriff der „Besorgnis der Befangenheit" (falschlich) nur vom Standpunkt des Gerichts oder (zutreffend) von dem eines vernünftigen Angeklagten aus beurteilt worden ist. Bis vor kurzem konnte aber als herrschende Meinung bezeichnet werden, daß der Revisionsrichter „das innerhalb des richtig verstandenen Rechtsbegriffs geübte Ermessen des Tatrichters" nicht nachzuprüfen hatte ( E b S c h m i d t 23). In Wahrheit ist hier jedoch kaum eine Gelegenheit zu Ermessensentscheidungen: BGHSt. 8 226 = NJW 1956 271 = JZ 1956 183 = LM Nr. 1 zu § 74 StPO. „Besorgnis der Befangenheit" ist ein unbestimmter Rechtsbegriff, dessen Handhabung in vollem Umfange auch dem Revisionsgericht zusteht. Diese Entwicklung der Rechtsprechung fuhrt zu weitgehender Einebnung des Unterschiedes zwischen der Ablehnung des Richters und der des Sachverständigen in ihrer praktischen revisionsrechtlichen Handhabung. Zu beachten ist, daß die Revision auf Befangenheit eines Sachverständigen nur dann und nur insoweit gestützt werden kann, wenn und als der Revisionsführer den Sachverständigen in (nicht vor) der Hauptverhandlung vor dem Tatrichter abgelehnt hatte (vgl. oben 5 a. E.). Tatsachen, die dieses Ablehnungsgesuch nicht behauptet hatte, können mit der Revision nicht mehr geltend gemacht werden. Dieser Unterschied zwischen Beschwerde und Revision bleibt bestehen.

§75 (1) Der zum Sachverständigen Ernannte hat der Ernennung Folge zu leisten, wenn er zur Erstattung von Gutachten der erforderten Art öffentlich bestellt ist, oder wenn er die Wissenschaft, die Kunst oder das Gewerbe, deren Kenntnis Voraussetzung der Begutachtung ist, öffentlich zum Erwerb ausübt, oder wenn er zu ihrer Ausübung öffentlich bestellt oder ermächtigt ist. 500

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§ 75 Anm. 1—3

(2) Zur Erstattung des Gutachtens ist auch der verpflichtet, welcher sich hierzu vor Gericht bereit erklärt hat. 1. Die Pflicht, als Sachverständiger tätig zu werden, ist eine Staatsbürgerpflicht (das wird bei Erörterungen über die Angemessenheit der Entschädigung bisweilen verkannt). Sie trifft jedoch (anders als die Zeugenpflicht) nicht jeden, der über das erforderliche Wissen verfügt, sondern hängt von bestimmten Voraussetzungen ab. Diese Voraussetzungen sind: a) Öffentliche Bestellung gerade zur Erstattung von Gutachten der erforderten Art. Hierher gehören vor allem die Gerichtsärzte, öffentlich bestellte Buchsachverständige und Wirtschaftsprüfer. Vgl. Anm. 9 zu § 73. b) Öffentliche Ausübung der Wissenschaft, der Kunst oder des Gewerbes zum Erwerbe. Der Begriff des „Gewerbes" ist weit auszulegen; es ist nicht der der Gewerbeordnung. Gemeint ist jede Art von Erwerbstätigkeit, die nicht nur vereinzelte Erwerbsakte umfaßt ( E b S c h m i d t 5). Ausübung „zum Erwerbe" bedeutet, daß sie eine laufende Einnahmequelle bilden soll, wenn auch nicht die einzige oder die hauptsächliche ( E b S c h m i d t 4a). „Öffentliche" Ausübung geschieht gegenüber einem unbestimmten Kreise von Personen ( E b S c h m i d t 4 b), gegenüber dem Publikum (Kl M. 3). Hiernach kann jeder praktizierende Arzt (auch Facharzt; über die nicht praktizierenden Ärzte vgl. unten d), jeder Schriftsteller, jeder öffentlich auftretende oder seine Werke verkaufende Künstler, jeder Handwerker als Sachverständiger herangezogen werden; nicht dagegen Sachkenner, die ihr Wissen nur als persönliche Liebhaberei erworben haben und benutzen ( E b S c h m i d t 4). c) Öffentliche Bestellung zur Ausübung der betreffenden Fertigkeit ist vor allem jede Anstellung als Beamter. Hiernach sind insbesondere Universitätsprofessoren zur Sachverständigentätigkeit verpflichtet. d) Öffentliche Ermächtigung zur Ausübung ist z. B. die venia legendi, die ärztliche Approbation (so daß auch ein nicht praktizierender Arzt herangezogen werden kann). e) Bereiterklärung (Abs. 2). Nach herrschender und richtiger Meinung fällt hierunter nicht ein allgemeines Angebot eines Sachkenners an die Gerichte, Gutachten aus seinem Wissensgebiet zu erstatten (a. M. J e s s n i t z e r S. 80), sondern nur die in einer bestimmten Strafsache abgegebene Erklärung. K1M. 4 leiten dies daraus ab, daß die Erklärung „vor Gericht" abgegeben sein muß, E b S c h m i d t 8 überzeugender daraus, daß die Vorschrift von der Bereitschaft zur Erstattung „des" Gutachtens spricht. In aller Regel ist hier an den Fall zu denken, daß der Sachkundige auf eine Anfrage des Gerichts seiner Heranziehung zugestimmt hat. In diesem Fall ist die Bereitschaftserklärung schlechthin unwiderruflich (sonst hätte Abs. 2 überhaupt keinen praktischen Sinn). Hat der Betreffende dagegen seine Bereitschaft unaufgefordert erklärt, so kann er diese Erklärung solange zurücknehmen, als weder das Gericht noch ein Prozeßbeteiligter (durch Ladung gemäß § 220) davon Gebrauch gemacht hat. 2. Die Pflicht, als Sachverständiger tätig zu werden, findet eine Grenze an der Zumutbarkeit. Mancher Sachverständige ist stark mit Arbeit überhäuft. Die Staatsbürgerpflicht geht nicht so weit, wegen der Sachverständigentätigkeit die sonstige Berufsarbeit zu vernachlässigen. Bei Universitätsprofessoren sind Forschung und Lehre ebenso wichtig wie die Erstattung von Gutachten. Auch ist ein stark beschäftigter Mann nicht verpflichtet, seinen Erholungsurlaub an die Gutachtertätigkeit zu wenden. Zust. J e s s n i t z e r S. 81. Bei kollidierenden Aufträgen mehrerer Gerichte geht der vor, den der Sachverständige früher erhalten hat. Vgl. ferner § 76. 3. Der Inhalt der Sachverständigenpflicht ergibt sich aus dem jeweiligen Auftrag. Nur in Ausnahmefallen beschränkt er sich darauf, im Termin zu erscheinen und die dort gestellten Fragen nach dem präsenten Wissen zu beantworten. Oft wird Aktenstudium, Forschungsarbeit, vorbereitende Aufklärung (gemäß § 80) u. a. m. erforderlich sein. Der Sachverständige hat sich den Anordnungen zu fügen, die der Richter ihm gemäß § 78 erteilt. In Zweifelsfallen hat er solche Weisungen zu erbitten. Er muß, wenn er Auskünfte von Zeugen benötigt, beim Gericht deren Vernehmung verlangen (§ 80); nicht etwa darf

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§ 75 Anm. 4 § 76 Anm. 1,2

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er selbst kurzerhand Zeugen vernehmen (vgl. 3 zu § 80). Er hat, wenn das Gericht es anordnet, das Gutachten schriftlich vorzubereiten. Ebenso J e s s n i t z e r S. 108. Die fachliche Zuständigkeit des in Anspruch genommenen Sachverständigen zu beurteilen, ist letztlich Aufgabe und Verantwortung des Gerichts; indessen ist es die Pflicht des Gutachters, seine etwaigen Zweifel und Bedenken dem Gericht gegenüber zur Sprache zu bringen. 4. Die Verpflichtung, unter den zu 1 behandelten Voraussetzungen, in den zu 2 dargestellten Grenzen und mit dem zu 3 erörterten Inhalt als Sachverständiger tätig zu werden, entsteht entweder a) durch die gerichtliche Ernennung zum Sachverständigen, oder b) dadurch, daß ein Prozeßbeteiligter (Staatsanwaltschaft gemäß § 222 Abs. 1, Angeklagter gemäß § 220) den Sachverständigen unmittelbar zur Hauptverhandlung lädt. §76 (1) Dieselben Gründe, die einen Zeugen berechtigen, das Zeugnis zu verweigern, berechtigen einen Sachverständigen zur Verweigerung des Gutachtens. Auch aus anderen Gründen kann ein Sachverständiger von der Verpflichtung zur Erstattung des Gutachtens entbunden werden. (2) Für die Vernehmung von Richtern, Beamten und anderen Personen des öffentlichen Dienstes als Sachverständige gelten die besonderen beamtenrechtlichen Vorschriften. Für die Mitglieder der Bundes- oder einer Landesregierung gelten die für sie maßgebenden besonderen Vorschriften. 1. Das hier geregelte Weigerungsrecht setzt voraus, daß der Sachverständige an sich gemäß § 75 zur Erstattung des Gutachtens verpflichtet wäre. Liegen die Voraussetzungen des § 75 nicht vor, so kann er ohne weiteres ablehnen. Liegen sie vor, so kann er sich aus den in den §§ 52 bis 55 angegebenen Gründen weigern (an die Stelle von § 54 Abs. 2 tritt § 76 Abs. 2, E b S c h m i d t 2). Daraus ergibt sich, daß ein Angehöriger des Beschuldigten mit seiner Zustimmung als Sachverständiger herangezogen werden könnte. Empfehlen wird sich dergleichen kaum.,Der Fall des § 55 kann bei einem Sachverständigen z. B. dann eintreten, wenn er dafür benannt wird, daß ein Verhalten, wie es dem Beschuldigten zur Last fallt, allgemein üblich und auch von ihm, dem Sachverständigen selbst für erlaubt gehalten und geduldet worden sei (vgl. BGH 5 StR 90/60 vom 31.5. 1960). 2. Entbinden kann das Gericht den schon ernannten Sachverständigen nach freiem Ermessen gemäß Abs. 1 Satz 2. Die dafür in Betracht kommenden Gründe können sehr mannigfaltig sein und lassen sich nicht vollständig aufzählen. Zunächst kommen Umstände in Betracht, die gleichsam in der Nachbarschaft der Besorgnis der Befangenheit liegen (vgl. oben 5 zu § 74). Es lassen sich Gründe denken, aus denen der Ablehnungsberechtigte sich scheut, den Sachverständigen abzulehnen — sei es, um ihn, sei es, um das Gericht nicht zu verstimmen. Sodann kommt hier die Verhinderung oder Überlastung des Sachverständigen in Betracht. Der Rechtspflege ist nicht damit gedient, wenn ein noch so tüchtiger Sachverständiger vor die Wahl gestellt wird, entweder das Gericht über Gebühr warten zu lassen (und sich den Maßnahmen des § 77 auszusetzen) oder sein Gutachten übers Knie zu brechen. Ferner wird das Gericht den Sachverständigen dann von seiner Pflicht entbinden, wenn ihm zwischen Ernennung und Erstattung des Gutachtens Zweifel an der Sachkunde des Ernannten kommen. Schließlich kann das Gericht auch dann von Abs. 1 Satz 2 Gebrauch machen, wenn es — etwa in einer geänderten Besetzung — seine Ansicht über die Erforderlichkeit der Begutachtung ändert. An der Meinung der 20. Auflage, die Entbindung erfordere einen Antrag (so auch F e i s e n b e r g e r 2 ; S c h w a r z 1) wird nicht festgehalten. Die oben angeführten und die sonst denkbaren Gründe für die Entbindung können so beschaffen sein, daß sie die Stellung

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§ 76 Anm. 3 , 4

eines Antrages geradezu verhindern. Auch in anderen Fällen kann das Gericht den Sachverständigen von Amts wegen, ohne Antrag entpflichten. So auch K l M . 2 ; E b S c h m i d t 3 . Abs. 1 Satz 2 ist (wie Satz 1) auch dann anwendbar, wenn nicht das Gericht den Sachverständigen ernannt, sondern ein Prozeßbeteiligter ihn gemäß §§ 220, 222 unmittelbar geladen hat. Grundsätzlich muß der Sachverständige, wenn die Voraussetzungen des § 75 vorliegen und die des § 220 Abs. 2 erfüllt werden, einer solchen Ladung folgen (vgl. oben 4 b zu § 75). Auch bei unmittelbarer Ladung können aber, ebenso wie bei der Ernennung durch das Gericht, Gründe bestehen, die es angemessen erscheinen lassen, den Sachverständigen von seiner Pflicht zu entbinden. Freilich werden in diesem Falle nur solche Gründe in Betracht kommen, die der Sachverständige selbst geltend macht. Denn bei allen anderen Gründen liegt die Befürchtung nahe, daß der Weg des Abs. 1 Satz 2 mißbraucht werden könne, um dem Prozeßbeteiligten das Recht der unmittelbaren Ladung zu durchkreuzen. In diesem Sonderfall wird man daher für die Zulässigkeit der Entbindung einen Antrag des Sachverständigen fordern müssen. Zust. J e s s n i t z e r S . 81 Fußn. 17. Ein Antrag eines anderen Prozeßbeteiligten als dessen, der den Sachverständigen geladen hat, kann nicht genügen. Ist der (vom Gericht oder unmittelbar von einem Prozeßbeteiligten) geladene Sachverständige bereits zur Hauptverhandlung erschienen, so kann er nur noch mit dem Einverständnis aller Prozeßbeteiligten gemäß Abs. 1 Satz 2 entbunden werden. Fehlt es an diesem Einverständnis, so geht § 245, der diese Frage besonders regelt, dem Abs. 1 Satz 2 vor. 3. Die besonderen Vorschriften für Richter, Beamte, andere Personen des öffentlichen Dienstes und Regierungsmitglieder (Abs. 2) betreffen zwei Gesichtspunkte: a) Im Interesse der Amtsverschwiegenheit kann die Erstattung eines Gutachtens über dienstliche Angelegenheiten verboten oder genehmigungsbedürftig sein. Insoweit wird auf die Erläuterungen zu § 54 verwiesen. Wie dort, so gilt auch hier, daß ein Verstoß das Gutachten nicht prozessual unverwertbar macht (a. M. E b S c h m i d t 6). b) Um die Arbeitskraft des Beamten usw. seinem Amte zu erhalten, kann das Auftreten als Sachverständiger als eine Nebentätigkeit genehmigungsbedürftig sein; so für Bundesbeamte gemäß § § 6 5 ff. BBG. Es ist keinerlei Grund ersichtlich, warum ein Gutachten, mit dessen Erstattung der Beamte usw. nur gegen diese Vorschriften verstößt, prozessual nicht sollte verwertet werden dürfen. Hier werden keine Dienstgeheimnisse verraten und durch Verwertung im Urteil weiter publiziert. Vielmehr geht es nur um die Benutzung privater Kenntnisse; der Fall ist dem des Beamten als Zeugen zu vergleichen, der außerdienstlich, etwa im Straßenverkehr zufallige Beobachtungen gemacht hat, deren Bekundung nicht von einer dienstlichen Erlaubnis abhängig gemacht werden kann. 4. Dem ärztlichen Sachverständigen wollen KIM. 5 keine absolute Mitteilungspflicht gegenüber dem auftragerteilenden Gericht auferlegt wissen. Sie meinen unter Berufung auf F r e y (vgl. Schrifttumsverzeichnis oben 1 vor § 72), der Arzt müsse oft ein Vertrauensverhältnis zu dem zu Begutachtenden herstellen, weil er dessen zu einer „erfolgreichen" Begutachtung bedürfe. Würden ihm dann Geheimnisse anvertraut, deren Kenntnis für die Erstattung des Gutachtens nicht „unbedingt" notwendig seien, so müsse er sie dem Gericht verschweigen. Wir neigen zu der Auffassung, daß der ärztliche Sachverständige sich von vornherein nicht in solche Konflikte bringen sollte (vgl. OGHSt. 3 61). Er ist nicht in dem Sinne Helfer und Heiler des zu Untersuchenden, wie ein von diesem im Krankheitsfall ausgewählter Arzt; vielmehr ist er hier Helfer und Heiler in dem Sinne wie ein Richter, der seinen Beruf richtig auffaßt. Auch zwischen dem Richter und dem Beschuldigten oder Zeugen, der vor ihm steht, sollte die Begründung eines Vertrauensverhältnisses erstrebt werden. Der Sachverständige sollte, wo es nottut, den Untersuchten an die Besonderheit der Sachverständigenstellung als der einer Beweisperson für das Gericht erinnern. Ebenso J e s s n i t z e r S . 93. Ein solcher Hinweis braucht dem Vertrauen nicht zu schaden. Was nicht Grundlage des Gutachtens wird, braucht dem Gericht freilich nicht mitgeteilt zu werden. Vielfach finden sich in Gutachten völlig entbehrliche Einzelheiten z. B. über das Geschlechtsleben des Untersuchten vom Beginn seiner Pubertät an. Wo aber die Erheblichkeit fraglich sein kann,

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§ 7 6 Anm. 5 § 77 Anm. 1—4

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muß der Sachverständige wenigstens erkennen lassen, daß er mehr weiß, als er offenbart, und die letzte Entscheidung zwischen der ärztlichen Pflicht zum Schweigen und der Sachverständigenpflicht zum Reden damit dem Gericht überlassen. 5. Rechtsmittel gegen die Entbindung gemäß Abs. 1 Satz 2 stehen dem Sachverständigen mangels einer Beschwer nicht zu. Im übrigen ist vor der Hauptverhandlung die einfache Beschwerde gegeben: Dem Sachverständigen gegen die Ablehnung der Entbindung (zust. J e s s n i t z e r S . 82), jedem Prozeßbeteiligten gegen die Entbindung. Das Beschwerdegericht entscheidet nach seinem Ermessen. Die Revision wird auf Entbindung oder Nichtentbindung nicht gestützt werden können.

§77 Im Falle des Nichterscheinens oder der Weigerung eines zur Erstattung des Gutachtens verpflichteten Sachverständigen wird dieser zum Ersatz der Kosten und zu einer Ordnungsstrafe in Geld verurteilt. Im Falle wiederholten Ungehorsams kann neben der Verurteilung in die Kosten noch einmal auf eine Ordnungsstrafe erkannt werden. 1. § 77 ersetzt für den Sachverständigen die für den Zeugen geltenden Vorschriften der § § 5 1 Abs. 1, 70. Hiervon unterscheidet er sich erheblich zugunsten des Sachverständigen. Der Sachverständige kann nicht zwangsweise vorgeführt und nicht in Beugehaft genommen werden, weder um das Erscheinen noch um das Gutachten zu erzwingen. Es bedarf dessen zur Aufklärung der Wahrheit nicht, weil der Sachverständige im allgemeinen durch einen anderen ersetzt werden kann. Ein erzwungenes Gutachten wäre auch von höchst zweifelhaftem Wert. Ein Sachverständiger, der nach §§ 75, 76 nicht zur Erstattung des Gutachtens verpflichtet ist, braucht auch (im Gegensatz zum aussageverweigerungsberechtigten Zeugen) nicht zu erscheinen. 2. Die Zwangs- und Strafmaßnahmen sind nur gegen den vom Gericht bestellten Sachverständigen zulässig, ferner gegen den von einem Prozeßbeteiligten gemäß §§220, 222 unmittelbar vor Gericht Geladenen. Staatsanwaltschaft und Polizei haben eigene Zwangsrechte gegen Sachverständige ebensowenig wie gegen Zeugen. Soweit sie sich keiner beamteten Sachverständigen bedienen können, für die das Erstatten von Gutachten zu den Dienstpflichten gehört, und auch niemanden finden, der freiwillig dazu bereit ist, sind sie darauf angewiesen, beim Gericht die Ernennung eines Sachverständigen zu beantragen. 3. Voraussetzungen der Maßnahmen des § 77 sind entweder a) das Nichterscheinen eines gemäß §§ 75, 76 verpflichteten, ordnungsgemäß geladenen Sachverständigen. Vor Gericht zu „erscheinen", bedeutet nicht nur, zur bestimmten Zeit anwesend zu sein, sondern auch, anwesend zu bleiben und sich zur Verfügung des Gerichts zu halten, bis man entlassen wird. Der „Fall des Nichterscheinens" ist also auch bei eigenmächtiger vorzeitiger Entfernung gegeben. — Oder b) die Weigerung. Hierunter fallt nicht nur, wer es ablehnt, das Gutachten zu erstatten, sondern auch schon der Sachverständige, der die von ihm selbst für erforderlich gehaltenen oder vom Gericht angeordneten Vorbereitungsarbeiten nicht leistet, sich der Leitung (§ 78) des Richters nicht unterwirft oder die Beantwortung einzelner Fragen oder die Eidesleistung ablehnt, sowie jede andere Art von passivem Widerstand. 4. Die Ungehorsamsfolgen sind Verurteilung a) zum Kostenersatz. Diese Folge ist für jeden einzelnen Fall des Ungehorsams zwingend vorgeschrieben. Die Kosten sind in dem verurteilenden Beschluß (ebenso wie bei anderen Kostenentscheidungen) nicht zu beziffern, sondern die Ersatzpflicht ist hier zunächst in abstracto auszusprechen. Ferner Verurteilung zu einer

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Siebenter Abschnitt. Sachverständige und Augenschein (Sarstedt) § 7 7 Anm. 5, 6 § 7 8 Anm. 1,2 b) Ordnungsstrafe in Geld (1—1000 DM gemäß Art. II der VO. über Vermögensstrafen und Bußen vom 6. 2. 1924, RGBl. I 45). Diese Folge ist für den ersten Ungehorsamsfall (in einer und derselben Strafsache) zwingend vorgeschrieben, für den zweiten Fall ins Ermessen des Gerichts gestellt („kann"), für weitere Ungehorsamsfalle nicht mehr zulässig („noch einmal"). In Haftstrafe kann die Geldstrafe nicht umgewandelt werden. 5. Verfahren. Die Folgen werden durch Beschluß ausgesprochen. Vor seinem Erlaß ist der Sachverständige zu hören. Der Beschluß ist zu begründen. Das Gericht kann ihn ändern oder aufheben (z. B. wenn der Sachverständige sein Ausbleiben nachträglich ausreichend entschuldigt). 6. Rechtsmittel. Der Sachverständige und die Staatsanwaltschaft können den verurteilenden Beschluß mit einfacher Beschwerde anfechten, der Beschuldigte den eine Verurteilung ablehnenden oder aufhebenden Beschluß. Die Revision kann auf Verstöße bei dem Verfahren, das diese Ungehorsamsfolgen betrifft, nicht gestützt werden. Sie kann allenfalls rügen, daß der Sachverhalt nicht — mit Hilfe dieses oder eines anderen Sachverständigen — hinreichend aufgeklärt worden sei.

§78 Der Richter hat, soweit ihm dies erforderlich erscheint, die Tätigkeit der Sachverständigen zu leiten. 1. Die Vorschrift verdeutlicht zunächst das rechtliche Verhältnis zwischen Richter und Sachverständigen (vgl. darüber oben 8 vor § 72; 7,8 zu § 73). Dem Richter steht die Leitung der Sachverständigentätigkeit zu; demgemäß trägt er auch ein gut Teil der Verantwortung dafür. Das gilt sowohl für die Vorbereitung als auch für die Erstattung des Gutachtens. Das wichtigste Mittel der Leitung ist die Unterrichtung des Sachverständigen, insbesondere über dessen verfahrensrechtliche Stellung mit ihren Pflichten und Befugnissen, über die sachlichrechtliche Lage des Falles und die Einzelheiten der sich daraus ergebenden Fragestellung des Gerichts an den Sachverständigen, und über die dem Gutachten zugrundezulegenden „Anknüpfungstatsachen". 2. Es kann erforderlich sein, den Sachverständigen in verschiedenster Beziehung über seine eigene verfahrensrechtliche Stellung aufzuklären. Die Annahme, ein oft als Gutachter vor Gericht aufgetretener Sachkenner werde darüber ausreichend unterrichtet sein, wird öfter trügen als man denken sollte. So wissen die wenigsten Sachverständigen, daß sie nicht selbständig Zeugen vernehmen dürfen, sondern auf den Weg des § 80 Abs. 1 angewiesen sind. Diese Vorschrift pflegt völlig unbekannt zu sein; man kann als Strafrichter alt werden, ehe man einmal einem solchen „Verlangen" eines Sachverständigen begegnet. Die Rechte des § 80 Abs. 2 pflegen bekannt zu sein; jedoch wird es schwer halten, einen einzigen Sachverständigen zu finden, der auch nur eine ungefähre Vorstellung davon hat, unter welchen Voraussetzungen er den Akten Tatsachen entnehmen darf, um sie seinem Gutachten zugrunde zu legen. Dem nach § 80 a bestellten Sachverständigen wird u. U. gesagt werden müssen, welche Art der „Vorbereitung" von ihm erwartet wird, und wie er sie sich ermöglichen kann. Im Falle des § 81 kann es erforderlich sein, den Anstaltsarzt darauf aufmerksam zu machen, daß körperliche Eingriffe einer besonderen Anordnung gemäß § 81 a bedürfen; ohne solche Belehrung kann man es erleben, daß der Beschuldigte Luft-Enzephalogrammen, Trinkversuchen usw. ausgesetzt wird und dann den Sachverständigen mit Erfolg ablehnt, wie in BGHSt. 8 144, so daß dann die unwiederholbare Unterbringung kein verwertbares Ergebnis hat. Im Falle des § 81 a gehört zur „Leitung" eine hinreichend genaue Angabe, welche Tatsachen festgestellt werden sollen und welcher bestimmte Eingriff vorgenommen werden soll. § 82 betrifft einen Sonderfall des § 78. Nicht selten erklärt der Sachverständige, vom Gericht um ein schriftliches Gutachten ersucht, er werde das Gutachten in der Hauptverhandlung mündlich erstatten. Dergleichen deutet auf eine nicht genügend straffe Leitung hin. Der Richter muß sich von vornherein überlegen, ob er (zur Vorbereitung oder aus

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§78 Anm. 3—6

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

anderen Gründen) ein schriftliches Gutachten braucht. Hat er das bejaht, so darf er sich nicht damit abfinden, daß der Sachverständige es anders beschließt. Derart die Zügel schleifen zu lassen, beeinträchtigt das Vertrauen des Angeklagten zum Gericht. 3. Ferner kann zur Leitung eine Aufklärung des Sachverständigen über die sachliche Rechtslage gehören. Hier kommt etwa eine Belehrung über die Rechtsbegriffe des § 51 StGB, in Betracht. Selbst anerkannte Psychiater müssen bisweilen darauf aufmerksam gemacht werden, daß es hier nicht um einen medizinischen, sondern um einen rechtlichen Krankheitsbegriff geht; daß aktuelle Unrechtseinsicht die Frage nach dem Einsichtsvermögen gegenstandslos macht; daß Hemmungsvermögen etwas anderes ist als philosophische Willensfreiheit; daß die Frage, ob eine Verminderung des Einsichts- oder des Hemmungsvermögens „erheblich" ist, unter rechtlichen und nicht unter ärztlichen Gesichtspunkten gestellt werden muß. Insoweit braucht die „Leitung" nicht immer die Form einer Belehrung anzunehmen, die gegenüber ärztlichen Kapazitäten überheblich wirken könnte; oft wird es genügen, wenn der Richter seine Fragen hinreichend präzise stellt. Keines der Fachgebiete, über deren Fragen Sachverständige vernommen zu werden pflegen, kennt einen Satz, der sich mit dem Grundsatz des „in dubio pro reo" vergleichen ließe. Deshalb wird dieser Grundsatz dem Sachverständigen bisweilen erst nahegebracht und erläutert werden müssen. Gelegentlich verkennen Sachverständige, daß es ihnen gestattet ist, zu einem non liquet zu gelangen. Zur „Leitung" gehört, daß der Richter den Eindruck vermeidet, als verlange er vom Sachverständigen schlechthin eine bejahende oder verneinende Antwort, daß er ihn vielmehr ermutigt, es offen zu sagen, wenn er eine Frage nicht zweifelsfrei beantworten kann. 4. Schließlich kann die Leitung erfordern, daß der Richter dem Sachverständigen die Anknüpfungstatsachen nennt, von denen er bei der Vorbereitung und Erstattung des Gutachtens ausgehen soll, oder daß er diese Anknüpfungstatsachen gemeinsam mit dem Sachverständigen, u. U. auch unter Mitberücksichtigung eines vorläufigen Gutachtens erarbeitet. Auch dieser Teil der leitenden Tätigkeit kann zu einer ungemein verwickelten Aufgabe werden, besonders wenn der Sachverständige schon auf eigene Faust „Beweise erhoben", etwa Zeugen über Dinge ausgefragt hat, die auch ohne seine Sachkunde hätten ermittelt werden können. Hier kann es erforderlich werden, den Sachverständigen zum Absehen von diesen Grundlagen anzuweisen; oder er ist darüber als Zeuge (von Hörensagen) zu vernehmen und sodann zu unterrichten, inwieweit er das Gehörte seinem Gutachten zugrundelegen soll (vgl. BGHSt. 13 1; 13 250; 18 107; 20 164). Hat der Sachverständige die Akten eingesehen, so ist mit besonderer Sorgfalt darauf zu achten, daß er seinem endgültigen Gutachten keine Teile des Akteninhalts zugrundelegt, die nicht Gegenstand der mündlichen geworden sind. Das gilt besonders von Aussagen, die nicht in der Hauptverhandlung wiederholt oder verlesen werden, und ganz besonders von Berichten der Jugend- oder allgemeinen Gerichtshilfe. 5. Für die Leitung sind keine Formen vorgeschrieben. Ob der Richter den Sachverständigen mündlich oder schriftlich, innerhalb oder außerhalb der Hauptverhandlung, in Anwesenheit oder Abwesenheit der Prozeßbeteiligten, durch den Vorsitzenden, den Berichterstatter oder das ganze Kollegium, vor oder während der Erstattung des Gutachtens leitet, ist ebenso seinem Ermessen überlassen wie der sachliche Inhalt der zur Leitung dienenden Äußerungen (BGH 3 StR 178/56 vom 27. 9. 1956). 6. Auf eine Verletzung des § 78 als solchen kann eine Revision nicht gestützt werden. Jedoch können Maßnahmen des Gerichts auf dem Gebiet der Leitung sowie Unterlassungen in diesem Zusammenhange gegen andere Verfahrensvorschriften verstoßen (z. B. gegen §261, gegen das Verwertungsverbot des § 252, gegen § 136a u. v. a. m.) oder auch zur Verletzung des sachlichen Rechts (z. B. § 51 StGB. u. a.) führen. Solche Fälle sind sogar recht häufig.

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§ 79

Anm. 1,2 §79 (1) Der Sachverständige kann nach dem Ermessen des Gerichts vereidigt werden. Auf Antrag der Staatsanwaltschaft, des Angeklagten oder des Verteidigers ist er zu vereidigen. (2) Der Eid ist nach Erstattung des Gutachtens zu leisten; er geht dahin, daß der Sachverständige das Gutachten unparteiisch und nach bestem Wissen und Gewissen erstattet habe. (3) Ist der Sachverständige für die Erstattung von Gutachten der betreffenden Art im allgemeinen vereidigt, so genügt die Berufung auf den geleisteten Eid. Entstehungsgeschichte: I. u. II. Entw. § 70; III. Entw. § 71. — Die ursprüngliche Fassung der Vorschrift verlangte stets eidliche Vernehmung des Sachverständigen, und zwar in der Form des Voreides (oder der vorherigen Berufung auf einen ein für allemal geleisteten Eid). Das Gesetz zur Einschränkung der Eide im Strafverfahren vom 24. 11. 1933 (RGBl. I 1008) führte den jetzigen Wortlaut ein. Durch VO vom 29. 5. 1943 (RGBl. I 341) Art. 4 Nr. 4 wurde Abs. 1 Satz 2 gestrichen. Das Vereinheitlichungsgesetz vom 12. 9. 1950 (BGBl. 455) stellte den Text von 1933 wieder her. 1. Die Vereidigung des Sachverständigen steht, wenn kein Prozeßbeteiligter sie beantragt, im Ermessen des Gerichts. Der Grund, aus dem der Sachverständige nicht, wie regelmäßig der Zeuge, stets vereidigt zu werden braucht, liegt in seiner Unbefangenheit (wäre er befangen, so könnte er abgelehnt werden, § 74), der objektiven Nachprüfbarkeit seines Gutachtens, dem hohen Ansehen und der forensischen Erfahrung vieler Sachverständiger. Hieraus ergeben sich einige Gesichtspunkte für die Ermessensentscheidung. Gründliche Sachkunde auf besonderen Wissensgebieten wird regelmäßig, weil sie meist anhaltende Arbeitsamkeit voraussetzt, mit Zuverlässigkeit des Charakters einhergehen. Wo das Gegenteil feststeht oder naheliegt, wird man den Sachverständigen vereidigen. Überzeugt das Gutachten nicht durch seine innere Logik, bewegt es sich auf Gebieten, die dem Nichtfachmann sehr unzugänglich sind, muß der Richter dem Sachverständigen deshalb mehr oder weniger blindlings folgen, und hängt viel von dem Gutachten ab, so sind das Gründe, die für die Vereidigung sprechen. Einen verfahrensrechtlichen Zwang dazu gibt es jedoch ohne Antrag nicht. Ein Gutachten braucht insbesondere nicht schon deshalb beschworen zu werden, weil es bei Aburteilung eines Verbrechens für das Gericht von ausschlaggebender Bedeutung ist (BGH 5 StR 55/55 vom 24. 6. 1955). Ein Ermessensmißbrauch, der einen Rechtsverstoß enthielte, wird sich kaum jemals dartun lassen; vgl. auch BGH 4 StR 320/57 vom 24. 10. 1957. 2. Die Entscheidung, den Angeklagten nicht zu vereidigen, mußte nach Ansicht der früheren Rechtsprechung ausdrücklich ergehen: BGH NJW 1952 233. Abweichend davon hält neuerdings BGHSt. 21 227 einen ausdrücklichen oder selbst stillschweigenden Beschluß nicht mehr für erforderlich; die Nichtvereidigung sei die gesetzliche Regel, und deshalb bedürfe es keiner besonderen Entscheidung, wenn nach dieser Regel verfahren werde. Das erscheint bedenklich. Das Regel-Ausnahme-Verhältnis ändert nichts daran, daß dem Gericht hier eine Ermessensentscheidung obliegt. Wenn dazu nichts gesagt wird, besteht keine Gewähr dafür, daß die Laienrichter das überhaupt bemerken. Gewiß wird man jemandem, dem man nicht ohne Eid glauben will, von vornherein gar nicht zum Sachverständigen bestellen; und der Fall, daß ein Sachverständiger unter dem Eideszwang sein Gutachten ändert, wird zu den größten Seltenheiten gehören, während das bei Zeugen durchaus vorkommt. Aber trotzdem ist die Entscheidung praktisch wichtig. Denn ein fahrlässig falsches Gutachten kann, wegen § 359 Nr. 2, nur dann zu einer Wiederaufnahme fuhren, wenn es beschworen war. Es wäre also zu wünschen, daß die Rechtsprechung zu ihrem früheren Standpunkt zurückkehrte. Auch danach genügte es aber, wenn der Vorsitzende ausspricht, der Sachverständige solle unvereidigt bleiben (dieser Ausspruch gehört zu den Förmlichkeiten i. S. des § 274 und kann daher nur durch das Sitzungsprotokoll bewiesen werden). Das Gericht kann dann gleichwohl noch die Vereidigung beschließen. 507

§79 Anm. 3—6

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

Die Entscheidung, daß der Sachverständige vereidigt werden soll, bedarf keines ausdrücklichen Beschlusses. Die Vereidigung beschwert ohnehin niemanden. Selbst ein ausdrücklicher Gerichtsbeschluß, den Sachverständigen nicht zu vereidigen, würde gegenstandslos, sobald einer der Prozeßbeteiligten die Vereidigung beantragt. 3. Auf Antrag eines Prozeßbeteiligten muß der Sachverständige vereidigt werden, Abs. 1 S. 2. Das gilt nicht nur für Anträge des Staatsanwalts, Angeklagten oder Verteidigers, sondern auch des Privatklägers (§§ 384, 385) und des Nebenklägers (§ 397). Der Antrag läßt für eine Entscheidung des Gerichts keinen Raum mehr; einen früher gefaßten Beschluß, den Sachverständigen nicht zu vereidigen, macht er gegenstandslos. Bewiesen wird der Antrag als eine der Förmlichkeiten i. S. des § 274 nur durch die Sitzungsniederschrift. 4. Der Geltungsbereich des Entscheidungs- und Vereidigungszwanges beschränkt sich auf den Strengbeweis (vgl. D i t z e n : Dreierlei Beweis im Strafverfahren, 1926), d . h . auf den Beweis der im Urteil festzustellenden Tatsachen zur Schuld- und Straffrage. Soweit es um die Ermittlung anderer Dinge geht, z. B. um die Verhandlungsfahigkeit des Angeklagten, um die Frage, ob ein Beweismittel erreichbar oder unerreichbar ist, gelten die Regeln des Freibeweises ( D i t z e n aaO.), der völlig formlos erhoben werden kann. So kann kein Prozeßbeteiligter die Vereidigung eines Arztes verlangen, der sich nur über die Frage der Verhandlungsfahigkeit äußert, RG JW 1931 214 mit zust. Anmerkung von O e t k e r . 5. Die für Zeugen in § 57 vorgeschriebene Ermahnung zur Wahrheit und die Belehrung über die Bedeutung des Eides usw. sind beim Sachverständigen in aller Regel entbehrlich (vgl. oben 1 f zu § 72). Es handelt sich ohnehin nur um eine Ordnungsvorschrift, deren Verletzung (selbst gegenüber Zeugen) die Revision nicht begründen könnte. 6. Zeitpunkt und Form der Vereidigung. a) Der Eid ist (anders als vor 1933) stets ein Nacheid, also nach Erstattung des Gutachtens zu leisten. In aller Regel geschieht das, wenn überhaupt, erst in der Hauptverhandlung. Im vorbereitenden Verfahren, in der Voruntersuchung und vor dem beauftragten und ersuchten Richter wird der Sachverständige unter den Voraussetzungen der §§ 66, 66 b vereidigt, vgl. oben 1 n zu § 72. b) Die Eidesformel, die dem Sachverständigen vorzusprechen ist, lautet gemäß §§ 66 c, 79 Abs. 2: „ Sie schwören bei Gott dem Allmächtigen und Allwissenden, daß Sie das Gutachten unparteiisch und nach bestem Wissen und Gewissen erstattet haben". Jeder Sachverständige ist einzeln zu vereidigen. Bei nochmaliger Vernehmung desselben Sachverständigen in demselben Verfahren ist § 67 entsprechend anwendbar. Die Eidesleistung kann in dem Verfahren, in dem der Eid geleistet worden ist, als eine der Förmlichkeiten i. S. des § 274 nur durch die Sitzungsniederschrift bewiesen werden (in einem späteren Verfahren, etwa wegen Meineids, aber auch mit anderen Beweismitteln). Der Vermerk hat richtigerweise nicht zu lauten, daß der Sachverständige „vorschriftmäßig vereidigt" worden sei, sondern: „Der Sachverständige leistete den Sachverständigeneid." Der Vermerk „ein für allemal vereidigt" genügt nicht, RG LZ 1919 717. c) Die allgemeine Vereidigung von Sachverständigen und der örtliche, zeitliche und sachliche Umfang, in dem der Sachverständige sich auf den Eid berufen kann, richtet sich nach Landesrecht. Es genügt nicht, daß der Richter den Sachverständigen auf den Eid „hinweist"; vielmehr muß der Sachverständige sich selbst auf den Eid berufen. Es genügt , j a " des Sachverständigen auf die Frage des Richters, ob er sich auf den geleisteten Eid berufe. Der Sachverständige braucht dabei nicht zu versichern, daß er sein Gutachten nach bestem Wissen und Gewissen erstattet habe (BGH 4 StR 72/60 vom 25. 3. 1960). Über den verfahrensrechtlichen Beweis der Berufung auf den Eid gilt Entsprechendes wie oben zu b. Der korrekte Vermerk lautet: „Der Sachverständige berief sich auf seinen allgemeinen Sachverständigeneid." Wann und wo er geleistet worden ist, braucht die Sitzungsniederschrift nicht anzugeben (BGH aaO.). Hat freilich der Richter Zweifel daran, ob der Sachverständige einen allgemeinen Eid geleistet hat und ob dieser Eid das jetzt erstattete Gut-

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Siebenter Abschnitt. Sachverständige und Augenschein (Sarstedt)

§ 79 Anm. 7 , 8

achten zu decken vermag, so muß er sich entweder erst davon überzeugen oder den Sachverständigen vereidigen. Eine Weigerung des Sachverständigen, den von ihm verlangten Eid zu leisten, zieht die Folgen des § 77 auch dann nach sich, wenn die Berufung auf den allgemeinen Eid sich nachträglich als ausreichend herausstellt. Zustimmend J e s s n i t z e r S. 112. 7. Umfang des Sachverständigeneides. a) Der vorgeschriebene Wortlaut des Eides läßt keinen Zweifel daran, daß er sich nicht auf die Angaben zur Person erstreckt, RGSt. 20 235. Wünscht das Gericht aus besonderen Gründen (etwa um sich von der wissenschaftlichen Qualifikation des Sachverständigen zu überzeugen oder um dessen persönliche Beziehungen zum Angeklagten oder zum Verletzten aufzuklären) hierüber eidliche Angaben, so muß es dem Sachverständigen den Zeugeneid abnehmen. Die beiden Eidesformeln lassen sich verbinden: „ . . . d a ß Sie nach bestem Wissen die reine Wahrheit gesagt und nichts verschwiegen und daß Sie das Gutachten unparteiisch und nach bestem Wissen und Gewissen erstattet haben". Der Zeugeneid allein deckt aber auch ein Gutachten; „die reine Wahrheit" ist immer „unparteiisch" und genügt dem „besten Gewissen". b) Der Unterschied zwischen dem Zeugeneid und dem weniger umfassenden, vor allem nicht ohne weiteres zwingend vorgeschriebenen Sachverständigeneid gibt dem Unterschied zwischen Zeugen und Sachverständigen besondere verfahrensrechtliche Bedeutung. Denn soweit sich die Äußerungen des Sachverständigen nicht als Gutachten, sondern als Zeugenaussage darstellen, müssen sie, wenn das Gericht sie bei der Wahrheitsfindung verwerten will oder (gemäß § 261) muß, nach § 59 beschworen werden, falls keine der in den folgenden Bestimmungen vorgeschriebenen oder zugelassenen Ausnahmen vorliegt. Demnach muß ein Sachverständiger für alle Bekundungen den Zeugeneid leisten, soweit sie sich auf Beobachtungen beziehen, die er unabhängig von seiner Bestellung zum Sachverständigen gemacht hat. Das sind erstens Zufallsbeobachtungen vor dieser Bestellung. Unter diesen „Zufallsbeobachtungen" sind solche zu verstehen, die eine konkrete Beziehung zum Gegenstand des vorliegenden Verfahrens haben; natürlich nicht die Beobachtungen, auf denen die allgemeine Sachkunde und Erfahrung des Gutachters beruht. Zweitens können aber auch Zufallsbeobachtungen zum Prozeßgegenstand nach der Bestellung zum Sachverständigen nur Gegenstand einer Zeugenaussage, nicht des Gutachtens sein. Bei den Beobachtungen, die der Sachverständige gerade auf Grund seines Auftrages macht, ist zu unterscheiden. Das Ergebnis der Untersuchungen, die das Gericht dem Sachverständigen auftragen durjte, gehört zum Gutachten, auch wenn es sich um beobachtete Tatsachen handelt. Was er darüber bekundet, braucht nur unter den Voraussetzungen des § 79 beschworen zu werden und wird vom Sachverständigeneid gedeckt. Stellt aber der Sachverständige Ermittlungen an, die nach dem Verfahrensrecht nicht Aufgabe eines Sachverständigen sind, „vernimmt" er etwa selbständig Auskunftspersonen oder bringt er den Beschuldigten zum Geständnis, so kann er darüber nur als Zeuge aussagen. Fehlt insoweit der Zeugeneid, so ist das ein Verfahrensverstoß. Ähnlich E b S c h m i d t 8; anders T i l l m a n n in der 20. Auflage mit der bisher herrschenden Lehre (KIM. 2) und Rechtsprechung: RGSt. 69 97; OGHSt. 3 61; BGH 4 StR 258/54 vom 12. 8. 1954 (Feriensenat!). Neuerdings neigt sich der Bundesgerichtshof (BGHSt. 13 1; 13 250) der hier vertretenen Ansicht zu. 8. Mit der Revision kann nicht gerügt werden, daß der Tatrichter von seinem Ermessen (Abs. 1 S. 1) einen unrichtigen Gebrauch gemacht habe. Soweit mit einer solchen Rüge die Nichtvereidigung beanstandet werden soll, hat das um so weniger Sinn, als der Beschwerdeführer es in der Hand gehabt hätte, den Tatrichter durch einen Antrag gemäß Abs. 1 S. 2 zur Vereidigung des Sachverständigen zu zwingen. Hat dagegen das Gericht den Sachverständigen unvereidigt gelassen, ohne das wenigstens der Vorsitzende eine dahingehende Entscheidung bekanntgegeben hat (vgl. oben 2), so ist das ein revisibler Verstoß. Freilich wird es sich gelegentlich ausschließen lassen, daß das Urteil darauf zum Nachteil des Beschwerdeführers beruht, vor allem wenn er in der Verhandlung juristisch beraten war und deshalb wußte, daß er die Vereidigung erzwingen konnte.

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§80 Anm. 1—3

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Ein Verstoß gegen Abs. 1 S. 2 begründet die Revision ohne weiteres; auch die des Angeklagten, wenn nicht er, sondern nur der Staatsanwalt die Vereidigung des Sachverständigen beantragt hatte (OLG Hamm NJW 1960 1361). Hier wird sich das Beruhen nur ganz ausnahmsweise einmal ausschließen lassen; denn es ist schwer zu sagen, ob und wie der Sachverständige sein Gutachten vielleicht geändert hätte, wenn er es hätte beschwören müssen — oder ob das Gericht, das dem unbeeidigten Gutachten nicht gefolgt ist, dem beeidigten vielleicht gefolgt wäre. Hat der Sachverständige sich auf einen allgemein geleisteten Eid berufen, war dieser Eid aber nicht (zulässig) geleistet, oder deckte er aus irgendwelchen Gründen dieses Gutachten nicht, so ist das ein revisibler Verstoß. Das Urteil wird darauf aber mindestens dann nicht beruhen, wenn der Sachverständige an die Wirksamkeit seiner Berufung glaubte. Ist eine Bekundung, die sich ihrem Inhalt nach als Zeugenaussage darstellt, überhaupt nicht oder nur mit dem Sachverständigeneid beschworen worden, so ist das ein Versto'ß gegen § 59, der die Revision begründen kann. Ob sich das Beruhen des Urteils auf diesem Verstoß ausschließen läßt, ist eine Frage des einzelnen Falles.

§80 (1)Dem Sachverständigen kann auf sein Verlangen zur Vorbereitung des Gutachtens durch Vernehmung von Zeugen oder des Beschuldigten weitere Aufklärung verschafft werden. (2) Zu demselben Zweck kann ihm gestattet werden, die Akten einzusehen, der Vernehmung von Zeugen oder des Beschuldigten beizuwohnen und an sie unmittelbar Fragen zu stellen. Entstehungsgeschichte: Die Vorschrift, die in den Entwürfen fehlte, ist erst in der Reichstagskommission eingefügt worden (Prot. S. 84, 829). 1. Die Bedeutung der Vorschrift liegt nicht in dem, was sie gestattet; sie darf auch nicht dahin mißverstanden werden, als werde mit dem Wort „kann" die Beschaffung der Grundlagen für das Gutachten (der „Anknüpfungstatsachen") in das mehr oder weniger freie Ermessen des Gerichts gestellt. Vielmehr verwandelt die Aufklärungspflicht dieses „kann" je nach den Umständen in ein „muß". Der eigentliche Sinn der Bestimmung liegt vielmehr darin, wie der Sachverständige zu unterrichten ist, wenn er unterrichtet werden muß — und wie nicht. Die speziellen Tatsachen, die der Sachverständige seinem Gutachten zugrundelegt, dürfen nicht auf beliebige, sondern müssen auf prozeßordnungsmäßige Weise ermittelt und bewiesen werden. 2. Erforderlichkeit der „weiteren Aufklärung". Die Anknüpfungstatsachen brauchen nicht immer vor Erstattung des Gutachtens ermittelt zu werden. Vielmehr kann der Richter dem Sachverständigen aufgeben, diese oder jene Tatsachen zu unterstellen. Ein solches Verfahren kann sich je nach Sachlage im Interesse der Prozeßökonomie empfehlen. Man kommt unter Umständen einfacher und rascher zum Ziel, wenn man zunächst dem Gutachten entnimmt, auf welche Anknüpfungstatsachen es genau ankommt. Es ist eine Frage der Zweckmäßigkeit im Einzelfall, ob der Richter sich erst die Sachkunde oder erst die Tatsachenerkenntnis verschafft. Der Richter hat diese Frage zu entscheiden, auch ohne „Verlangen" des Sachverständigen. 3. Verfahren der „weiteren Aufklärung". Erscheint es zweckmäßig oder notwendig, daß der Sachverständige die Anknüpfungstatsachen vor der Erstattung des Gutachtens erfahrt, so zeigt § 80 die Wege, die dafür in Betracht kommen: a) Zeugen, deren Aussagen der Sachverständige für sein Gutachten benötigt, sind grundsätzlich zu vernehmen; durch wen, richtet sich nach den dafür geltenden Vorschriften — jedenfalls nicht durch den Sachverständigen. Im allgemeinen empfiehlt sich hier eine richterliche Vernehmung. Es ist eine ständige Quelle von Verfahrensverstößen, wenn Sachver-

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§ 80 Anm. 3

ständige auf eigene Faust Ermittlungen anstellen, deren Ergebnisse sie dann in ihren Gutachten zugrunde legen; einen typischen Fall behandelt BGH NJW 1951 771; vgl. auch B l a u GoldtA. 1959 304, der mit Recht von U n d e u t s c h angewendeten Niethoden widerspricht. Zustimmend J e s s n i t z e r S. 120. Befragungen durch Sachverständige sind keine „Vernehmungen" im Sinne des Verfahrensrechts (W ei m a n n JR 1951 198). Selbst wenn Niederschriften darüber aufgenommen würden, wären sie nicht gemäß § 251 Abs. 2 verlesbar. Auch pflegen Sachverständige, wenn sie Zeugen selbständig befragen, die Belehrungspflichten nicht zu kennen und nicht zu befolgen. Schließlich ist niemand verpflichtet, einem Sachverständigen die Wahrheit zu sagen. — Abs. 1 hat eine Vernehmung in Abwesenheit des Sachverständigen vor Augen; Abs. 2 stellt klar, daß ihm auch die Anwesenheit und das Stellen von Fragen gestattet werden kann — aber nur in Gegenwart des Vernehmungsbeamten. Ob der Vorsitzende in der Hauptverhandlung erst dem Sachverständigen oder erst den anderen Verfahrensbeteiligten das Wort zur Stellung von Fragen erteilt, ist Sache seines Ermessens; das Verfahrensrecht schreibt keine bestimmte Reihenfolge vor, BGH NJW 1969 437. Die vorstehenden Grundsätze gelten indessen nicht für Unterhaltungen, die der Sachverständige mit einem Zeugen führt, dessen Glaubwürdigkeit sachkundig zu beurteilen er vom Richter beauftragt ist. Denn eine derartige Untersuchung wäre vielfach in Gegenwart und unter der verantwortlichen Leitung eines Vernehmungsbeamten nicht möglich oder nicht erfolgversprechend (vgl. BGH St. 7 8 2 = NJW 1955 5 9 9 = LM Nr. 15 zu StPO § 244 Abs. 2 m. Anm. von J a g u s c h ) . Freilich wird hier eine schwache Stelle dieser Glaubwürdigkeitsuntersuchungen sichtbar. Denn zweifellos ist kein Zeuge verpflichtet, sich einem Sachverständigen zu derartigen Untersuchungen zur Verfügung zu stellen (vgl. darüber ausführlich und insoweit zutreffend B o c k e l m a n n GoldtA. 1955 332). Und vielleicht ist es nicht nur ein nobile officium (so B o c k e l m a n n S. 333) des Richters, den Zeugen (oder gegebenenfalls seinen gesetzlichen Vertreter) hierüber zu belehren; vielleicht läuft es sogar auf eine Täuschung (§§ 136 a, 69 Abs. 3!) hinaus, wenn solche Belehrung unterbleibt. Braucht der Sachverständige keine Antworten des Untersuchten, so handelt es sich nicht um einen Zeugen, sondern um ein Augenscheinsobjekt. Hier bedarf es also keiner Vernehmung. Vielmehr handelt es sich um einen Anwendungsfall des § 81 c. Beschuldigte, deren Angaben der Sachverständige für sein Gutachten braucht, sind ebenfalls zu vernehmen — auch sie nicht durch den Sachverständigen, sondern durch den Richter, notfalls den Statsanwalt oder die Polizei, in An- oder Abwesenheit des Sachverständigen. Auch hier ist nicht an den Fall gedacht, daß der Auftrag des Sachverständigen dahin geht, den Beschuldigten zu untersuchen. Soll die Untersuchung sich auf den Geisteszustand beziehen, so gilt §81. c) Bei der Akteneinsicht durch den Sachverständigen muß das Gericht peinlichst darauf achten, daß nicht der Akteninhalt als solcher zur Grundlage des Gutachtens und dann mittelbar zur Grundlage des Urteils gemacht wird. Die Gefahr ist groß und liegt nahe, daß der Sachverständige das Gutachten auf Einlassungen und Aussagen stützt, die nur in den Akten stehen und in der Hauptverhandlung nicht wiederholt werden, vielleicht nicht einmal festgestellt werden können oder dürfen. Bisweilen wird ein solcher Verstoß aus den schriftlichen Gutachten deutlich und beweisbar. Besonders gefahrlich sind aber mündliche Glaubwürdigkeitsgutachten, denen in unkontrollierter Weise eine „Beweiswürdigung"des Sachverständigen unter Benutzung unverwertbarer Aktenteile (Aussagen von Zeugen, die später von einem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch machen; Berichte der Jugend- oder allgemeinen Gerichtshilfe) zugrundeliegen kann. d) Wenngleich das Gesetz an Beweismitteln, durch deren Benutzung dem Sachverständigen weitere Aufklärung verschafft werden kann, ausdrücklich nur Zeugen und den Beschuldigten erwähnt, kann nicht bezweifelt werden, daß ihm auch Augenscheinsobjekte zur Verfügung gestellt werden können, und daß auf seinen Wunsch auch Sachverständige desselben oder eines anderen Fachgebiets herangezogen werden können (Beispiel: der als Sachverständiger zugezogene Arzt bittet um eine chemische Untersuchung, die ihm selbst nicht möglich ist). 511

§80 Anm. 4 , 5

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

4. Auch für die Hauptverhandlung gilt § 80. a) Dem Sachverständigen hier von vornherein die Anwesenheit zu gestatten (und vorzuschreiben), ist zulässig und vielfach empfehlenswert. Die Anwesenheit kann auch einem Sachverständigen gestattet werden, der außerdem als Zeuge vernommen werden soll. Andererseits gehört der Sachverständige niemals zu den Personen, „deren Anwesenheit das Gesetz vorschreibt" (§ 338 Nr. 5; R G J W 1927 2040 mit Anm. von U n g e r ; R G JW 1933 2774). Vielmehr entscheidet über die Anwesenheit der Vorsitzende, auf Antrag das Gericht nach Ermessen. Der entscheidende Gesichtspunkt wird sein, ob es der besonderen Sachkunde des Gutachters bedarf, um aus den Angaben des Angeklagten und den Aussagen der Zeugen die richtigen Schlüsse zu ziehen. War der Sachverständige bei den Vernehmungen, deren Ergebnisse er in seinem Gutachten verwerten soll, nicht zugegen, so muß das Gericht ihm diese Ergebnisse mitteilen. Das wird meist, muß aber nicht unbedingt in der Hauptverhandlung geschehen; der Angeklagte oder sein Verteidiger brauchen nicht dabei zu sein (BGHSt. 2 25 = LM Nr. 2 zu § 80 StPO mit Anm. von A r n d t ) . Freilich dürfen ihm die Grundlagen des Gutachtens nicht vorenthalten werden; sie müssen sich aus dem Gutachten selbst ergeben. b) In der Hauptverhandlung kann ein Sachverständiger, der die Glaubwürdigkeit eines Zeugen begutachten soll, auch dann zugezogen werden, wenn der Zeuge sich geweigert hat, sich auf seine Glaubwürdigkeit untersuchen zu lassen, BGHSt. 23 1. Gegen diese Entscheidung hat P e t e r s JR 1970 68 Bedenken erhoben, die er aus dem von ihm aufgestellten „Verbot der Rollenvertauschung" ableitet: aus einem Beweismittel dürfe keine Vernehmungsperson gemacht werden. Ein „Verbot der Rollenvertauschung" gibt es weder allgemein, noch gerade für diesen Fall. Jeden Tag werden vor Gericht Vernehmungsbeamte als Zeugen gehört, also zu Beweismitteln gemacht. Vor P e t e r s und außer P e t e r s ist niemand auf den Gedanken gekommen, daß das verboten sein könnte; das Gesetz jedenfalls enthält ein solches Verbot gewiß nicht. Und daß der Sachverständige Fragen an Zeugen und Beschuldigte stellen, also gleichzeitig Beweismittel und Vernehmungsperson sein darf, ist gerade der ausdrückliche Inhalt des Abs. 2. Es trifft auch nicht zu, daß ein Zeuge Fragen, die der Beurteilung seiner Glaubwürdigkeit dienen sollen, nicht zu beantworten brauche. Fragen können nur als „ungeeignet" oder als ,glicht zur Sache gehörend" zurückgewiesen werden, § 241 Abs. 2. Fragen, aus deren Beantwortung Schlüsse auf die Glaubwürdigkeit oder Unglaubwürdigkeit eines Zeugen gezogen werden können, gehören allemal zur Sache. Gewiß können bloßstellende Fragen (nach Geschlechtskrankheiten, erblicher Belastung, Umständen der Intimsphäre) im Einzelfall einmal „ungeeignet" sein. Dabei kann die Zumutbarkeit eine Frage der Verhältnismäßigkeit sein; ist dem Zeugen die Beantwortung vor der Öffentlichkeit nicht zuzumuten, so ist es wiederum eine Frage der Verhältnismäßigkeit, ob dann die Frage „ungeeignet" oder die Öffentlichkeit eine Gefahrdung der öffentlichen Ordnung ist (GVG § 172), etwa wegen der Wichtigkeit der Sache und der Wichtigkeit der Frage für die Sache. Im Ergebnis ist also dem Bundesgerichtshof gegen P e t e r s und O L G H a m m JMB1NRW 1957 45 zuzustimmen. Vgl. auch K o h l h a a s LM Anm. bei Nr. 9 zu § 80 StPO. Die ganze Frage wäre kaum entstanden, wenn die Praxis sich von Hause aus enger an Abs. 2 gehalten hätte. Weit bedenklicher und jedenfalls der Vorschrift weit weniger entsprechend ist die Übung, den Zeugen dem Sachverständigen zu einer „Vernehmung" — denn etwas anderes ist es doch nicht — ohne die Kontrolle des Gerichts, der Verfahrensbeteiligten und der Öffentlichkeit auszuliefern. Dabei wird der Sachverständige auch rechtlich sehr leicht überfordert. So war es in dem Fall der Entscheidung BGH M D R 1969 1023. Dort war es praktisch dem Ermessen der Sachverständigen überlassen worden, ob sie sich mit dem zu untersuchenden Kinde durch eine Dolmetscherin verständigte oder ob sie die Untersuchung einem anderen Sachverständigen übertrug, der die fremde Sprache beherrschte. Die Entscheidung, die das gebilligt hat, ist sehr bedenklich. So selbständig stellt sich das Gesetz die Stellung des Sachverständigen gewiß nicht vor; die Auswahl von Sachverständigen und Dolmetschern ist Sache des Gerichts, § 73. 5. Die dem Gutachten zugrundegelegten Anknüpfungstatsachen müssen nicht nur in prozeßordnungsmäßiger Weise ermittelt worden sein (vgl. oben 3), sondern sie müssen auch erwiesen sein, d. h. das Gericht muß in der dem Urteil zugrundeliegenden Beratung von 512

Siebenter Abschnitt. Sachverständige und Augenschein (Sarstedt)

§ 80a

ihrer Wahrheit überzeugt sein (vgl. BGHSt. 13 1 = NJW 1959 828 = MDR 1959 775 = LM Nr. 11 zu § 250 StPO mit Anm. von F r a n k e l ) . Es ist eine nicht ganz einfache Frage, inwieweit es diese Überzeugung aus dem Gutachten selbst gewinnen darf. Soweit die Tatsachen von Zeugen bekundet worden sind, müssen deren Aussagen in der Hauptverhandlung erstattet, wiederholt oder — soweit das nach § 251 zulässig ist — verlesen worden sein. Es wäre auch kein Verfahrensverstoß, wenn andere Zeugen über frühere Angaben jener Zeugen gehört werden — Vernehmungsbeamte, Zufallszeugen, zur Not auch der Sachverständige, aber nicht als solcher, sondern als Zeuge (BGHSt. 13 250 = NJW 1959 2222 = MDR 1960 64 = LM Nr. 12 zu § 250 StPO mit Anm. von K r u m m e ) . Der Sachverständige kann als solcher, ohne Vernehmung als Zeuge, nur über die Tatsachen gehört werden, die er gemäß dem richterlichen Auftrag gerade mittels seiner Sachkunde erforscht hat (BGHSt. 18 107). Seiner Vernehmung als Zeuge (von Hörensagen) steht kein „Unmittelbarkeitsgrundsatz" entgegen. Einen solchen Grundsatz (im Sinne der angelsächsischen rule of best evidence) gibt es im deutschen Verfahrensrecht nicht allgemein. Ob außer einem mittelbaren Beweismittel noch das unmittelbare benutzt werden muß, ist vielmehr im Einzelfall eine Frage der Aufklärungspflicht, die je nach den Umständen zu bejahen oder zu verneinen ist. Was ein Zeuge, der vom Richter über sein Zeugnisverweigerungsrecht belehrt worden ist, daraufhin vor dem Richter ausgesagt hat, kann durch Vernehmung dieses Richters auch dann in die Hauptverhandlung eingeführt werden, wenn der Zeuge jetzt das Zeugnis verweigert (BGHSt. 2 99 = NJW 1952 356 = LM Nr. 5 zu § 252 StPO mit Anm. von J a g u s c h ) . BGHSt. 11 9 7 = NJW 1958 2 6 8 = LM Nr. 11 zu § 252 StPO (mit Anm. von K r u m m e ) nennt es eine Fortbildung dieser Entscheidung, auch die Verwertung der vor einem Sachverständigen gemachten Angaben zu gestatten, wenn der vorher richterlich darüber belehrte Zeuge nachträglich die Aussage verweigert. Dies erscheint nicht unbedenklich. Mindestens müßte der Zeuge, ehe er die Angaben gegenüber dem Sachverständigen machte, richterlich darüber belehrt worden sein, daß er auch zu solchen Angaben nicht verpflichtet ist (BGHSt. 13 394 = NJW 1960 5 84 = MDR 1960 419 = LM Nr. 4 zu § 81 c StPO mit Anm. von F r ä n k e l ) . Das beruht aber nicht auf seinem Zeugnisverweigerungsrecht, sondern darauf, daß sich überhaupt niemand (außerhalb einer richterlichen Vernehmung) von einem Sachverständigen ausfragen zu lassen braucht. Der Richter wäre nicht befugt, dem Sachverständigen das Vernehmungsrecht zur selbständigen Ausübung zu delegieren; und kein Zeuge — selbst wenn ihm ein Zeugnisverweigerungsrecht nicht zustünde — wäre gehalten, einem Sachverständigen die Wahrheit zu sagen. Deshalb ist es bedenklich, mit BGHSt. 1197 die Belehrung über das Zeugnisverweigerungsrecht ohne weiteres mit der Belehrung über das Recht gleichzusetzen, vor dem Sachverständigen zu schweigen; das sind zwei ganz verschiedene Rechte. Erst recht ist es bedenklich, die Angaben des Zeugen vor dem Sachverständigen, weil dieser „Gehilfe des Richters" sei, „wie Aussagen vor Gericht" zu behandeln, sei es auch nur „in gewissem Maße" (wie weit soll diese Einschränkung in BGHSt. 11 97, 100 gehen?); denn bei Vernehmungen ist der Sachverständige, wenn überhaupt Gehilfe, sicherlich nicht Vertreter des Richters. Angaben ohne Wahrheitspflicht und Aussagen mit Wahrheitspflicht in dieser Weise gleichzusetzen, ist eine gefahrliche prozessuale Unklarheit.

§ 80a Ist damit zu rechnen, daß die Unterbringung des Beschuldigten in einer Heil- oder Pflegeanstalt, einer Trinkerheilanstalt oder einer Entziehungsanstalt oder die Sicherungsverwahrung angeordnet werden wird, so soll schon im Vorverfahren einem Sachverständigen Gelegenheit zur Vorbereitung des in der Hauptverhandlung zu erstattenden Gutachtens gegeben werden. Entstehungsgeschichte: Die Vorschrift ist durch das AG z. Ges. gegen gefahrliche Gewohnheitsverbrecher usw. vom 24. 11. 1933 (RGBl. I S. 1000) Art. 2 Nr. 2 eingefügt worden. Sie enthielt damals nach dem Wort „Entziehungsanstalt" noch die Worte: „oder 513

§ 8 0 a Anm. 1—4 § 81 Anm. 1

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

seine Entmannung". Jetzige Fassung: Vereinheitlichungsgesetz vom 12. 9. 1950 (BGBl. 455); die Werte „oder die Sicherungsverwahrung" sind durch das Erste Gesetz zur Reform des Strafrechts vom 25. 6. 1969 (BGBl. I 645) eingefügt worden. 1. Die Vorschrift gilt nicht nur für das Strafverfahren, sondern auch (und gerade) für das Sicherungsverfahren nach §§ 429aff. RGSt. 70 176 (177); E b S c h m i d t I a. E. 2. Für die Hauptverhandlung schreibt § 246 a die Vernehmung eines Sachverständigen zwingend vor, wenn mit der Unterbringung des Angeklagten „zu rechnen" ist. Nur in Ausnahmefallen wird aber ein Sachverständiger deren Erforderlichkeit auf Grund bloßer Teilnahme an der Hauptverhandlung bejahen können. Deshalb „soll" er nach § 246 a Satz 2 vor der Hauptverhandlung Gelegenheit erhalten, den Angeklagten zu untersuchen, wenn dies nicht schon früher geschehen ist. Letzteres ist aber gemäß § 80 a der Regelfall und weit zweckmäßiger, weil der Sachverständige dabei weniger unter Zeitdruck steht. Es empfiehlt sich auch dringend, daß der Sachverständige, der nach § 81 dazu gehört werden muß, sich schon frühzeitig ein Urteil darüber bilden kann, ob die Beobachtung des Beschuldigten in einer Heil- oder Pflegeanstalt erforderlich ist. 3. Das Vorverfahren umfaßt das staatsanwaltliche einschließlich des polizeilichen Ermittlungsverfahrens und die Voruntersuchung. Im Ermittlungsverfahren wählt der Staatsanwalt (vgl. zu § 73), in der Voruntersuchung der Untersuchungsrichter den Sachverständigen aus. Eine Auswahl durch die Polizei, in anderen Fällen nicht verboten (vgl. zu § 73), erscheint für die Unterbringungsfälle nicht am Platze. In jedem Fall kann das erkennende Gericht einen anderen Sachverständigen auswählen, wird dann aber auch den des Vorverfahrens vernehmen müssen, wenn der Staatsanwalt oder der Angeklagte ihn lädt (§§ 222, 245). 4. Die Gelegenheit zur Vorbereitung wird im allgemeinen darin bestehen müssen, daß der Sachverständige den Beschuldigten spricht und untersucht. Stößt er dabei auf Widerstand, so ist nach §§ 80, 81, 81 a zu verfahren.

§81 (1) Zur Vorbereitung eines Gutachtens über den Geisteszustand des Beschuldigten kann das Gericht nach Anhörung eines Sachverständigen und des Verteidigers anordnen, daß der Beschuldigte in eine öffentliche Heil- oder Pflegeanstalt gebracht und dort beobachtet wird. Im vorbereitenden Verfahren entscheidet das Gericht, das für die Eröffnung des Hauptverfahrens zuständig wäre. (2) Dem Beschuldigten, der keinen Verteidiger hat, ist ein solcher zu bestellen. (3) Gegen den Beschluß ist sofortige Beschwerde zulässig. Sie hat aufschiebende Wirkung. (4) Die Verwahrung in der Anstalt darf die Dauer von sechs Wochen nicht überschreiten. Entstehungsgeschichte: Die Entwürfe enthielten die Vorschrift nicht. Sie ist in ihrer ursprünglichen Fassung durch die Reichstagskommission eingefügt worden. Das Gesetz vom 24. 11. 1933 (RGBl. I S. 1000) änderte den Abs. 1 inhaltlich (es gestattete die Beobachtung schon im vorbereitenden Verfahren, nicht erst nach Klageerhebung), den Abs. 2 in der Fassung. Das Vereinheitlichungsgesetz vom 12. 9. 1950 (BGBl. 455) ersetzte den früher erforderlichen Antrag eines Sachverständigen durch dessen Anhörung. Schrifttum: L ö f f l e r : Voraussetzungen für die Anwendbarkeit der §§81, 81a StPO, NJW 1951 821. 1. Nach der Neufassung von 1960 (vgl. oben zur Entstehungsgeschichte) ordnet das Gericht die Beobachtung nicht mehr auf Antrag eines Sachverständigen, sondern von Amts wegen an. , Anträge" der Prozeßbeteiligten sind genau genommen nur Anregungen. Des-

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Siebenter Abschnitt. Sachverständige und Augenschein (Sarstedt)

§ 81 Anm. 2, 3

halb unterliegen sie nicht dem formlichen Beweisantragsrecht (§ 244). Insbesondere kann ein Mitbeschuldigter nicht „beantragen", einen anderen Mitbeschuldigten in einer Anstalt beobachten zu lassen (BGH JR 1955 472 = DRsp. IV [450] 70 a). Die Anstaltsbeobachtung ist gegenüber der ambulanten Untersuchung nicht ohne weiteres ein „überlegenes Forschungsmittel" im Sinne des § 244 Abs. 4. — Die Anordnung ist eine Ermessensentscheidung. Da sie nicht nur die Freiheit des Beschuldigten in einer besonders unangenehmen Form beschränkt, sondern auch sein Ansehen schwer gefährdet, ist das Ermessen an besondere förmliche und sachliche Voraussetzungen gebunden. 2. Förmliche Voraussetzungen sind: a) Die Anhörung eines Sachverständigen. An seine Eignung müssen hier besondere Anforderungen gestellt werden. Mit Recht fordert L ö f f l e r 822, daß es ein Psychiater oder ein Neurologe sein müsse. Am besten fragt man einen Facharzt eben der Anstalt, in der die Beobachtung in Aussicht genommen ist. Es empfiehlt sich nicht, die Beobachtung erst einmal auf Grund der Äußerung eines weniger sachkundigen Arztes anzuordnen und es darauf ankommen zu lassen, ob die Anstalt ihn alsbald wieder entläßt (OLG Hamm NJW 1957 1290 = DRsp. IV [449] 21a). Ferner muß das Gericht dafür sorgen, daß der Sachverständige, ehe er seine Äußerung abgibt, den Beschuldigten untersucht hat; es genügt nicht, wenn die Äußerung nur auf einem Aktenstudium beruht (OLG Hamm JMB1NRW 1952 195 = DRsp. IV [450] 43 c; OLG Oldenburg NJW 1961 981). Auch an den Inhalt der Äußerung sind einige Anforderungen zu stellten. Es genügt nicht zur Unterbringung, wenn der befragte Sachverständige die Anwendbarkeit des § 51 StGB, bejaht oder verneint (so daß also nach seiner Ansicht keine Unterbringung mehr nötig wäre) und sich zu der Unterbringungsfrage nicht ausdrücklich äußert (OLG Hamm NJW 1957 1290). Die Anhörung des Sachverständigen wird nicht dadurch entbehrlich, daß der Beschuldigte sich der Untersuchung durch ihn zu entziehen sucht. Hier muß notfalls mit §§ 80, 81 a geholfen werden. b) Anhörung eines Verteidigers. Hat der Beschuldigte noch keinen Verteidiger, so ist ihm einer zu bestellen, sobald eine Anordnung nach § 81 vom Gericht in Erwägung gezogen oder von einem Prozeßbeteiligten (Staatsanwalt, Beschuldigter selbst) ernstlich angeregt wird. Von diesem Zeitpunkt ab ist die Verteidigung notwendig und bleibt es bis zum rechtskräftigen Abschluß des Verfahrens, auch wenn es nicht zu der Anstaltsbeobachtung kommt (BGH NJW 1952 797 = LM Nr. 3 zu § 140 StPO = DRsp. IV [450] 43d; L ö f f l e r 821), sogar wenn das Gericht sie ohne weiteres ablehnen will, RGSt. 67 259. Der Verteidiger muß gehört werden, nachdem die Äußerung des Sachverständigen eingeholt worden ist ( L ö f f l e r 821). Zum rechtlichen Gehör ist erforderlich, daß dem Verteidiger von den Ermittlungsergebnissen alles mitgeteilt wird, was für die Frage der Anstaltsbeobachtung irgend erheblich sein kann. Praktisch wird das im allgemeinen der ganze Akteninhalt sein müssen; denn es gehört zu den Aufgaben des Verteidigers, auch gerade auf solche Zusammenhänge hinzuweisen, die Staatsanwalt, Richter und Sachverständiger bisher nicht gesehen haben. Man wende nicht ein, in diesem Stadium des Verfahrens könne dem Verteidiger nicht immer die volle Akteneinsicht gewährt werden. Bis 1933 stand sie ihm bei dieser Gelegenheit gewöhnlich zu, weil bis dahin nur der „Angeschuldigte" zur Anstaltsbeobachtung gebracht werden durfte und die Erhebung der öffentlichen Klage, die den Beschuldigten zum Angeschuldigten macht, gemäß § 147 das Recht auf uneingeschränkte Akteneinsicht entstehen läßt, mit gewissen Einschränkungen nur in den Fällen der Voruntersuchung. — Einverständnis des Verteidigers mit der Beobachtung ist natürlich nicht erforderlich. c) Daß auch der Staatsanwalt angehört werden muß, ergibt sich aus § 33. d) Der Beschuldigte selbst braucht nicht gehört zu werden. 3. Die sachlichen Voraussetzungen der Anstaltsbeobachtung ergeben sich aus der einschneidenden Wirkung dieser Maßnahme.

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§81 Anm. 4

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

a) Vor allem müssen ausreichende Anhaltspunkte für die Täterschaft des Beschuldigten vorliegen (OLG. Düsseldorf JMBINRW. 1958 213 = DRsp. IV [449] 23 b), mindestens entsprechend dem dringenden Tatverdacht bei der Untersuchungshaft. b) Die Maßnahme muß in einem angemessenen Verhältnis zur Bedeutung der Strafsache stehen (OLG Saarbrücken HESt. Bd. 3 S. 18 = DRZ 1950 259 = SLZ 1950 139; OLG Hamm JMBINRW 1956 107; LG Berlin NJW 1960 2256 mit Anm. S a u e r ) . Keinesfalls darf die Unterbringung schwerer sein als die zu erwartende Strafe. Aus diesem Gesichtspunkt ist sie im Privatklageverfahren unzulässig; OLG Hamburg JR 1955 394 = DRsp. IV (450) 69 c begründet dies etwas formell, aber im Ergebnis zutreffend damit, daß „Beschuldigter" im Sinne des § 81 nur jemand sei, gegen den das öffentliche Strafverfahren eingeleitet worden ist. KG DJZ Bd. 33 (1928) Sp. 1687= Recht 1929 Nr. 179 begründete die Unanwendbarkeit des § 81 im Privatklageverfahren (nach dem damaligen Wortlaut der Vorschrift) damit, daß „Angeschuldigter" nur ein Beschuldigter sei, gegen den die öffentliche Klage erhoben ist (§ 157). Nachdem 1933 das Wort „Angeschuldigter" durch das Wort „Beschuldigter" ersetzt worden ist, kann man sich darauf nicht mehr unmittelbar berufen. Indessen wird man sagen dürfen, daß der Gesetzgeber von 1933 nichts anderes im Sinne hatte, als die Maßnahme auch im Vorverfahren zu gestatten, und daß ihm ihre Zulassung für das Privatklageverfahren sicherlich völlig ferngelegen hat. c) Die Anstaltsbeobachtung muß in dem betreffenden Einzelfall zur Beurteilung des Geisteszustandes (nicht etwa der Glaubwürdigkeit, BGH JR 1955 472 = DRsp. IV [450] 70 a) einerseits unentbehrlich sein, andererseits auch Erfolg versprechen. Läßt sich vorher sagen, daß die sechswöchige Unterbringung nicht genügen wird, um Klarheit zu schaffen, so ist sie ebenso unzulässig, wie wenn die Beurteilung ohne Unterbringung möglich ist. Erforderlichenfalls muß der Sachverständige veranlaßt werden, sich hierüber zu äußern. Die Anstaltsbeobachtung darf nicht der bloßen Bequemlichkeit dienen. Streitig ist, ob die Beobachtung nur der Ermittlung des Geisteszustandes zur Tatzeit oder nur der Beurteilung seines gegenwärtigen Geisteszustandes (Verhandlungsfahigkeit) dienen darf, oder beidem. Grundsätzlich wird man mit der herrschenden Meinung ( E b S c h m i d t 7; L ö f f l e r 821; KIM. 1) beides für zulässig halten dürfen, freilich mit gewissen praktischen Einschränkungen. Die Frage der bloßen Verhandlungsfahigkeit wird wohl niemals so schwierig zu beantworten sein, daß sie allein eine Anstaltsbeobachtung rechtfertigen könnte (vgl. dazu BVerfG NJW 1970 505); übrigens unterliegt das als eine prozessuale Entscheidung dem Freibeweis. Steht die gegenwärtige geistige Gesundheit des Beschuldigten fest, so wird eine Anstaltsbeobachtung praktisch kaum etwas dafür erbringen können, ob er zur Tatzeit an ganz vorübergehenden Störungen (Trunkenheit, Affektstau) gelitten hat. Zur Feststellung der Alkoholverträglichkeit mittels Trinkversuchen (die zu den körperlichen Eingriffen des § 81 a gehören und zu denen es auch nach Anordnung der Anstaltsbeobachtung noch einer besonderen Anordnung gemäß § 81 a Abs. 2 bedarf) kommt Anstaltsbeobachtung nur dann in Betracht, wenn Anhaltspunkte für eine krankhafte Überempfindlichkeit gegen Alkohol vorliegen. Denn die gewöhnliche — größere oder geringere — Alkoholverträglichkeit eines Gesunden hat nichts mit der Beurteilung des „Geisteszustandes" zu tun. 4. Keinen rechtlichen Unterschied macht es, ob der Beschuldigte in Untersuchungshaft oder in Freiheit ist; in beiden Fällen ist die Anordnung zulässig, und im Falle der Untersuchungshaft immer dann erforderlich, wenn der Beschuldigte in einer Heil- oder Pflegeanstalt außerhalb der Untersuchungshaftanstalt beobachtet werden soll. Keiner besonderen Anordnung bedarf es jedoch, wenn er innerhalb der Untersuchungshaftanstalt ärztlich beobachtet werden soll. Die Unterbringung auch eines auf freiem Fuß befindlichen Beschuldigten gemäß § 81 wird nach der Neufassung des § 60 StGB regelmäßig auf die spätere Strafe angerechnet. Ficht ein Angeklagter, der zu Freiheitsstrafe und gemäß § 42 StGB zur Unterbringung in einer Heil- oder Pflegeanstalt verurteilt ist, das Urteil nur wegen der Anordnung dieser Maßregel an, so kann es noch nach Beginn der Strafvollstreckung zu einer Unterbringung gemäß § 81 in derselben Sache kommen. Die Dauer dieser Unterbringung muß dann auf die Strafzeit angerechnet werden, OLG Celle NdsRpfl. 1961 92.

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§ 81 Anm. 5 - 9

5. Ebensowenig macht es einen Unterschied, ob es sich um ein Strafverfahren oder um ein Sicherungsverfahren gemäß §§429 a ff. handelt. Hinsichtlich der einstweiligen Unterbringung(§ 126 a) gilt dasselbe wie bei der Untersuchungshaft (oben 4). 6. Die Anordnung ist nach § 34 mit Gründen zu versehen, O L G Köln JMB1NRW 1960 4 4 = DRsp. IV (449) 29a; OLG Oldenburg NJW 1961 981. Zum Inhalt des Beschlusses gehört die Bezeichnung der Anstalt; das ergibt sich schon aus § 73 Abs. 1. 7. Nur eine öffentliche Heil- oder Pflegeanstalt kommt in Betracht. Eine Privatanstalt darf nicht gewählt werden; aber auch nicht die psychiatrischen Abteilungen in Untersuchungshaft- oder Strafanstalten; so mit Recht E b S c h m i d t 22, a. M. T i l l m a n n in der 20. Aufl. Anm. 13. Niemand, bei dem weder Flucht- noch Verdunkelungsgefahr besteht, darf, nur weil er möglicherweise krank ist, in ein Gefängnis gebracht werden; zu dieser Beeinträchtigung seiner Freiheit fehlt es nach heutigen Begriffen an den gesetzlichen Voraussetzungen. 8. Die Unterbringung darf die Dauer von sechs Wochen nicht überschreiten, auch dann nicht, wenn nach Ablauf dieser Zeit noch keine Beurteilung möglich ist. Andererseits darf die Unterbringung auch innerhalb dieser Frist nur so lange dauern, wie der Sachverständige ihrer bedarf. Der Beschluß muß also sagen: „bis zu sechs Wochen" oder „auf höchstens sechs Wochen". Läßt sich vorher schon überblicken, daß eine kürzere Zeit ausreichen wird, so ist diese einzusetzen, OLG Oldenburg NJW 1961 981. E b S c h m i d t Nachtr. zu II Rdnr. 5 meint hiergegen, das bringe OLG Oldenburg nicht zum Ausdruck; auch seien solche Vorausberechnungen wohl stets fragwürdig. Gegen den ersten Einwand setzen wir den Leitsatz des OLG: „Die Einweisung darf nicht ohne weiteres für die gesetzliche Höchstdauer erfolgen, sondern es ist zu prüfen, welche Zeit für die Begutachtung im Einzelfall erforderlich ist; auf diese Zeitdauer ist die Anordnung zu begrenzen." Deutlicher kann man sich nicht ausdrücken. Gegen den zweiten Einwand ist zu sagen: zahlreiche Gutachten lassen erkennen, und manche Untergebrachte klagen darüber, daß sie sechs Wochen lang festgehalten, aber nur wenige Tage oder gar Stunden untersucht worden sind. Das sind empörende Dinge. Das anordnende Gericht hört ja schon einen Sachverständigen. Gewiß mag ihm eine Vorausberechnung nicht immer möglich sein. Aber ebenso sicher gibt es Fälle, in denen die Unterbringung nur wegen gewisser diagnostischer Verfahren notwendig ist, und in denen man mit aller Gewißheit vorhersagen kann, daß wenige Tage ausreichen. E h r h a r d t („Rauschgiftsucht" in Ponsold, Lehrbuch der Gerichtlichen Medizin 3. Aufl. 1967 S. 128) sagt, bei Süchtigen sei für den Erfolg „die kurzfristige Abwicklung des erstinstanzlichen Verfahrens" bis zur Unterbringung gemäß § 42 b StGB „in einem Zeitraum von etwa 4 Wochen" entscheidend — einschließlich der Unterbringung gemäß § 81 StPO! Die Gerichte müssen dem in einigen Anstalten eingerissenen Mißbrauch steuern, daß der Sachverständige sich um den Untergebrachten zunächst wochenlang nicht kümmert, um dann Untersuchung nebst Begutachtung übers Knie zu brechen, weil jetzt das Bett gebraucht wird oder die sechs Wochen zu Ende gehen. 9. Die Unterbringung darf wiederholt werden, bis die Gesamtdauer von sechs Wochen erreicht ist. So mit überzeugender Begründung O L G Hamm NJW 1953 1237= JMB1NRW 1953 189= DRsp. IV (450) 52b und besonders OLG Schleswig MDR 1 9 5 9 4 1 5 = SchlHA 1959 81 gegen die frühere Meinung von E b S c h m i d t 21 (der sich zu Unrecht auf RGSt. 23, 209 berief) und Kl M. 6 d. Mehrmalige Unterbringung bis zur Gesamtdauer von sechs Wochen ist kein schwererer Eingriff in die persönliche Freiheit als einmalige Unterbringung für sechs Wochen. § 74 StGB geht mit Recht gerade von der umgekehrten Ansicht aus. Außerdem ist zu bedenken, daß die erneute Unterbringung im Einzelfall ebensowohl zu einem günstigeren wie zu einem ungünstigeren Ergebnis für den Beschuldigten führen kann. Ob das endgültig entscheidende Gericht in die Lage kommt, nach einem ersten unzulänglichen Gutachten in dubio pro reo zu entscheiden, ist bei der Entscheidung über die Wiederholung durchaus nicht immer gesagt. Müßte von wiederholter Unterbringung abgesehen werden, so käme es vielleicht auf Grund eines ambulanten Gutachtens in die Lage, zu Ungunsten des Beschuldigten zu entscheiden. Die Zulassung einer Wiederholung erscheint besonders drin517

§81 Anm. 10,11

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gend geboten, wenn man die Verlegenheit bedenkt, in die man bei einer erfolgreichen Ablehnung des ersten Anstaltsarztes geraten kann. Richtig jetzt E b S c h m i d t Nachtr. zu II Erl. 21; Kl 29. Aufl. 9. 10. Bekanntmachung a) Ergeht der Beschluß in der Hauptverhandlung, so wird er verkündet. Ob der Beschuldigte anwesend sein muß, richtet sich nach §§ 231, 232, 247, 429c. Der Verteidiger muß immer anwesend sein, weil es sich gemäß § 140 Abs. 1 Nr. 6 um einen Fall der notwendigen Verteidigung handelt. b) Ergeht der Beschluß außerhalb der Hauptverhandlung, so ist er dem Beschuldigten und dem Verteidiger zuzustellen, E b S c h m i d t 14. Die Ansicht des OLG. Hamm JMB1NRW 1956 108 = DRsp. IV (450) 77 f, der Verteidiger habe ohne Zustellungsvollmacht „keinen Anspruch" auf Zustellung, deshalb setze die Zustellung an den Beschuldigten die Beschwerdefrist auch „für den Verteidiger" in Lauf, geht fehl. Sie verkennt den inneren Grund, der hier die Verteidigung notwendig macht. Er liegt in der Ungewißheit, ob der Beschuldigte geisteskrank und möglicherweise (jedenfalls für diese Frage!) verhandlungsunfähig oder gesund und verhandlungsfahig ist. Deshalb muß bei der Beurteilung solcher Verfahrensfragen jeweils mit beiden Möglichkeiten gerechnet werden. Ist der Beschuldigte schwer geisteskrank und verhandlungsunfähig, so ist es ein ganz unmögliches Ergebnis, durch Zustellung allein an ihn Fristen in Lauf setzen zu wollen und ihn damit praktisch des Rechtsmittels zu berauben, das ja trotzdem (etwa wegen mangelnden Tatverdachts) sehr wohl begründet sein kann. Umgekehrt muß auch dem Beschuldigten selbst dann zugestellt werden, wenn er dem Verteidiger Zustellungsvollmacht erteilt hat; denn die Frage, ob er verhandlungsfahig und ob demgemäß die Zustellungsvollmacht wirksam ist, muß einstweilen offen gelassen werden. 11. Rechtsmittel. a) Der anordnende Beschluß unterliegt nach Abs. 3 Satz 1 der sofortigen Beschwerde. Sie steht nicht nur dem Beschuldigten zu, für den sie auch der Verteidiger einlegen kann, sondern auch dem Staatsanwalt. Den Sachverständigen steht sie nicht zu, weder dem, dessen Äußerung vorher eingeholt worden ist, noch dem Anstaltsarzt. Auf die sofortige Beschwerde des Verteidigers ist § 297 hier nicht anzuwenden. Er kann sie also auch gegen den ausdrücklichen Willen des Beschuldigten einlegen, und der Beschuldigte kann die vom Verteidiger eingelegte nicht zurücknehmen. Das ergibt sich daraus, daß die geistige Gesundheit und mit ihr die Verhandlungsfahigkeit des Beschuldigten in dieser Lage des Verfahrens zweifelhaft ist (vgl. oben 10 b). Das Rechtsmittel hat entgegen der Regel des § 307 Abs. 1 aufschiebende Wirkung, Abs. 3 Satz 2. Die sofortige Beschwerde ist auch gegen den Beschluß des erkennenden Gerichts gegeben: OLG Köln MDR 1951 373 = DRsp. IV (450) 31c; OLG Oldenburg NdsRpfl. 1949 63 = DRsp. IV (450) 16f; KG DJZ Bd. 33 (1928) Sp. 1687= Recht 1929 Nr. 179; OLG Saarbrücken DRZ 1950 259 = SJZ 1950 139; Kl M. 7. Der dem § 305 Satz 1 zugrundeliegende Gedanke, daß die dem Urteil vorausgehenden Entscheidungen zusammen mit dem Urteil (also auf Berufung oder Revision) nachgeprüft werden können, paßt hier nicht. Denn die Beeinträchtigung der Freiheit könnte nicht wieder rückgängig gemacht werden, auch wenn das Berufungs- oder Revisionsgericht sie mißbilligte. Das Beschwerdegericht prüft die Entscheidung unter allen oben (1—9) erörterten Gesichtspunkten nach und beurteilt dabei die Zweckmäßigkeitsfrage nach seinem eigenen Ermessen: OLG Hamm MDR 1950 373 = JMB1NRW 1950 107 = DRsp. IV (450) 22d (anders NJW 1953 1237); OLG Köln MDR 1951 3 7 3 = DRsp. IV (450) 31 d; Kl M. 7. Es handelt sich nicht um eine revisionsartige Rechtsbeschwerde, die gerade bei dieser schwerwiegenden Entscheidung dem rechtsstaatlichen Bedürfnis nicht genügen würde, weil es nicht um die einfache Subsumtion eines festgestellten Sachverhalts unter einen Rechtssatz geht, sondern gerade im wesentlichen Kern um die Handhabung vernünftigen Ermessens. Mit 518

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Recht nehmen deshalb OLG Celle NdsRpfl. 1956 80 und KIM. 7 für das Beschwerdegericht auch das Recht in Anspruch, die Unbefangenheit des Sachverständigen nachzuprüfen. Weitere Beschwerde ist nicht gegeben, OLG Bremen NJW 1949 74; OLG Hamburg JR 1956 192 (mit weiteren Nachweisen); KIM. 7. b) Gegen die Ablehnung gibt es kein Rechtsmittel. Sie bedarf nach der hier (oben 1) vertretenen Ansicht überhaupt keines Gerichtsbeschlusses. „Anträge" der Prozeßbeteiligten sind nur Anregungen. Allenfalls könnte man unter der Voraussetzung, daß ein bestimmtes Beweisthema genannt wird (was durchaus unüblich ist), einen Beweisantrag annehmen (vgl. Kl M. le). Für dessen Ablehnung wäre das beschließende Gericht nicht zuständig; die Ablehnung eines Beweisantrages durch das erkennende Gericht aber unterliegt gemäß § 305 Satz 1 nicht der selbständigen Anfechtung. Der Grund, aus dem selbständige Anfechtung des anordnenden Beschlusses zulässig ist (oben a), trifft auf die Ablehnung nicht zu. Wie hier die herrschende Meinung: E b S c h m i d t 19; Kl M. 7; S c h w a r z 2 Baa; G e r l a n d S. 225. A. M. OLG Braunschweig NJW 1955 1492= NdsRpfl. 1955 1 9 8 = DRsp. IV (450) 67c, das eine überzeugende Begründung für die hier vertretene Meinung vermißt. Der eigentliche Grund liegt darin, daß die Anstaltsbeobachtung materiell eine Maßnahme der Sachaufklärung ist. Auch sonst ist niemals die Beschwerde, sondern immer nur die Berufung oder die Revision der gegebene Weg, um eine vermißte Sachaufklärung durchzusetzen. Das Revisionsgericht kann sie — auf eine Aufklärungsrüge hin — zum Anlaß einer Aufhebung und Zurückverweisung nehmen und zwar auch dann, wenn es nicht das erkennende Gericht erster (oder zweiter Tatsachen-)Instanz, sondern das Gericht der sofortigen Beschwerde war, das die Anordnung abgelehnt oder aufgehoben hatte. Dann wird die Anstaltsbeobachtung eben erzwungen, weil sie nach der endgültig maßgebenden Ansicht nicht zu entbehren ist. Dagegen wäre es im umgekehrten Fall für den Beschuldigten eine unbillige Härte, sich dieser Maßnahme unterwerfen zu müssen, wenn nur das Beschwerdegericht, dagegen keines der zur Sachentscheidung selbst berufenen Gerichte sie für unentbehrlich hält. 12. Die Ausführung des Beschlusses ist Sache der Staatsanwaltschaft (Einzelheiten regelt Nr. 52 RiStV) und der Anstalt. In der Anstalt darf der Beschuldigte nur „beobachtet" werden. Die Anordnung der Unterbringung ermächtigt die Anstalt zu keinerlei körperlichen Eingriffen: BGHSt. 8 144 = NJW 1765 = JR 1956 68 (mit zust. Anm. von EbS c h m i d t ) ; BGH NJW 1968 2297. Hält der Sachverständige einen solchen Eingriff für erforderlich, so muß er vielmehr dessen besondere Anordnung gemäß § 81 a herbeiführen. Das gilt aber nicht für die Auslösung von Kniesehnenreflexen und ähnliche völlig harmlose Dinge. Befragungen des Beschuldigten durch den Sachverständigen und seine Hilfskräfte sind gestattet; soweit dessen Antworten aber nicht nur Rückschlüsse auf den Geisteszustand (auf dessen Erforschung sich der Auftrag des Sachverständigen beschränkt), sondern auch auf den Tathergang gestatten, können sie nicht durch das Gutachten, sondern nur durch eine Zeugenaussage des Sachverständigen als Urteilsgrundlage in den Prozeß eingeführt werden: BGHSt. 13 1 = NJW 1959 828 = MDR 1959 775 = LM Nr. 11 zu §250 StPO mit Anm. von F r ä n k e l ; BGHSt. 13 250 = NJW 1959 2222 = MDR 1960 64 = LM Nr. 12 zu §250 StPO mit Anm. von K r u m m e . Dem Anstaltsarzt steht keine eigene Briefkontrolle zu, noch weniger die Vernichtung von Briefen. Er kann Briefe ungeöffnet dem zuständigen Richter vorlegen, BGH NJW 1961 2069. Der Sachverständige (Anstaltsleiter) hat den Beschuldigten auch vor Ablauf der sechs Wochen zu e n t l a s s e n , sobald die Beobachtung zur Beurteilung des Geisteszustandes ausreicht.

§ 81a (1) Eine körperliche Untersuchung des Beschuldigten darf zur Feststellung von Tatsachen angeordnet werden, die für das Verfahren von Bedeutung sind. Zu diesem Zweck sind Entnahmen von Blutproben und andere körperliche Eingriffe, die von einein Arzt nach den Regeln der ärztlichen Kunst zu Untersuchungszwecken vorgenommen werden, ohne 519

§ 81a

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

Einwilligung des Beschuldigten zulässig, wenn kein Nachteil für seine Gesundheit zu befürchten ist. (2) Die Anordnung steht dem Richter, bei Gefahrdung des Untersuchungserfolges durch Verzögerung auch der Staatsanwalt und ihren Hilfsbeamten (§ 152 des Gerichtsverfassungsgesetzes) zu. Entstehungsgeschichte: Die Vorschrift war im ursprünglichen Text nicht enthalten. Ihre erste Fassung entstammt dem AG z. Ges. gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher usw. vom 24. 11. 1933 (RGBl. IS. 1000) Art. 2 Nr. 4. Sie lautete: „Eine körperliche Untersuchung des Beschuldigten darf zur Feststellung von Tatsachen angeordnet werden, die für das Verfahren von Bedeutung sind. Andere Personen dürfen ohne ihre Einwilligung nur untersucht werden, wenn festgestellt werden muß, ob sich an ihrem Körper eine bestimmte Spur oder Folge einer strafbaren Handlung befindet. Entnahme von Blutproben und andere Eingriffe, die nach den Regeln der ärztlichen Kunst zu Untersuchungszwecken vorgenommen werden, sind ohne Einwilligung des zu Untersuchenden zulässig, wenn kein Nachteil für seine Gesundheit zu besorgen ist. Die Anordnung steht dem Richter, bei Gefahr im Verzug auch der Staatsanwaltschaft und den Polizei- und Sicherheitsbeamten zu, die als Hilfsbeamte der Staatsanwaltschaft ihren Anordnungen Folge zu leisten haben." Die amtliche Begründung dazu lautete: „Die körperliche Untersuchung des Beschuldigten und die Vornahme von körperlichen Eingriffen zu Untersuchungszwecken werden in den Verfahren, die die Unterbringung des Beschuldigten in einer Heil- oder Pflegeanstalt, einer Trinkerheilanstalt oder Entziehungsanstalt oder seine Entmannung zum Gegenstand haben, öfters notwendig sein. Im § 81 a werden hierüber Vorschriften gegeben; sie sollen die bisher über die Zulässigkeit derartiger Untersuchungsmaßnahmen bestehenden Zweifel beseitigen. Sie haben auch Bedeutung für andere Strafverfahren, wenn z. B. festgestellt werden soll, ob aus der Beschaffenheit des Körpers auf die Begehung einer strafbaren Handlung oder aus dem Ergebnis einer Blutuntersuchung auf einen Rauschzustand des Beschuldigten geschlossen werden kann. Wegen des inneren Zusammenhanges empfiehlt es sich, hierbei auch die Frage zu regeln, unter welchen Voraussetzungen bei Personen, die nicht Beschuldigte sind, eine körperliche Untersuchung zulässig ist. § 81 c läßt eine solche Untersuchung nur in solchen Fällen zu, in denen sie im Interesse der Strafrechtspflege unbedingt geboten ist, nämlich dann, wenn festgestellt werden muß, ob sich am Körper dieser Person eine bestimmte Spur oder Folge einer strafbaren Handlung befindet. Bei Beschuldigten hingegen darf die Untersuchung zur Feststellung aller Tatsachen angeordnet werden, die für das Verfahren von Bedeutung sind. Die Zuständigkeit für die Anordnung ist dieselbe wie bei der Beschlagnahme und der Durchsuchung. Daß bei der körperlichen Untersuchung einer Frau die Forderungen der Schicklichkeit zu wahren sind und die Untersuchung unter Umständen einem Arzt übertragen werden muß, bedarf keiner besonderen Betonung." Das Vereinheitlichungsgesetz vom 12. 9. 1950 (BGBl. 455) löste die Vorschriften über die Untersuchung anderer Personen als des Beschuldigten aus dem § 81 a heraus und stellte sie in einen neuen § 81c. § 81a Abs. 1 S. 2 wurde geändert durch das S.Strafrechtsänderungsgesetz vom 4. 8. 1953 (BGBl. I S. 735). Schrifttum: A b e l e : Die Rückrechnung auf die Blutalkoholkonzentration zur Tatzeit an Hand von zwei zeitlich getrennten Blutentnahmen, DAR 1955 52; B e c k e r : Blutentnahmepflicht im Prozeß, JR 1953 453; B e r g : Fortschritte der gerichtlichen MedizinAlkoholforschung, GoltdA 1954 97; B r e s s e r : Die Hirnkammerluftfiillung und ihre Anwendung gemäß § 81a StPO, NJW 1961 250; C o s t a : Die gerichtsverfassungsrechtlichen und verfahrensrechtlichen Vorschriften des Dritten Strafrechtsänderungsgesetzes, MDR 1953 577; D a h s und R. W i m m e r : Unzulässige Untersuchungsmethoden bei Alkohol-

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Siebenter Abschnitt. Sachverständige und Augenschein (Sarstedt)

§ 81 a Anm. 1,2

verdacht, NJW 1960 2217; D a l i i n g e r : Zur Vereinheitlichung des Strafverfahrens, SJZ 1950 733; D ü n n e b i e r : Anm. zu OLG. München JZ 1952 427; G o l t z : Blutalkoholgehalt und Fahruntüchtigkeit, JR 1955, 169; G ö p p i n g e n Der ärztliche Eingriff in Narkose bei der Begutachtung im Strafprozeß (§ 81a StPO), Der Nervenarzt 1952 246; G r ö m i g : Die Zulässigkeit einer Encephalographie gemäß § 81a StPO, NJW 1954 300; H ä n d e l : Unzulässige Untersuchungsmethoden bei Alkoholverdacht, in „Blutalkohol", Bd. 1, Heft 2 (April 1961), S. 37; K o h l h a a s : Verfahrensfragen bei der Blutprobeentnahme, DAR 1956 201; K o h l h a a s : Eine Lücke im Verfahren der körperlichen Untersuchung nach §§ 81a und 81c StPO, DAR 1960 254; K r a n z : Die Narkoanalyse als diagnostisches und kriminalistisches Verfahren (Tübingen 1950); L ö f f l e r : Voraussetzungen für die Anwendbarkeit der §§81, 81a StPO NJW 1951 821; M ü h l h a u s : Bestimmung des Alkohols im Blut, D A R 1954 121; M u e l l e r : Praktisch wichtige Gesichtspunkte bei der Bewertung von Blutalkoholbefunden, NJW 1952 768; N a u : Beschlagnahme des Führerscheins und Blutentnahme bei Abgeordneten, NJW 1958 1668; P o n s o l d : Die Rückrechnung auf die Blutalkoholkonzentration zur Tatzeit an Hand von zwei zeitlich getrennten Blutentnahmen, DAR 1955 52; R e h : Zur Anwendbarkeit des Art. 46 Abs. 2 G G (Abgeordnetenimmunität), NJW 1959 86; R o t h - S t i e l o w : Blutalkoholberechnung — eine immer noch unsichere Sache, NJW 1956 1785; E b S c h m i d t : Anm. zu BGH JR 1956 69; EbS c h m i d t : Anm. zu BayObLG JR 1957 112; E b S c h m i d t und K. S c h n e i d e r : Zur Frage der Eunarkonversuche in der gerichtlichen Praxis, SJZ 1949 449; S c h u m a n n : Ein Beitrag zu § 81a StPO D A R 1951 92; Frhr. v. S t a c k e l b e r g im Berliner Anwaltsblatt 1960 7 4 ( 8 1 ) ; W e l t z i e n : D e r Stand der Blutalkoholforschung in der verkehrsmedizinischen Praxis, DAR 1955 82. 1. E b S c h m i d t 3 spricht von einer „sehr glücklichen Neufassung" der Vorschrift. Dieses Lob können wir uns nicht zu eigen machen. Dazu hat die Bestimmung in der kurzen Zeit ihrer Geltung schon zu viele Zweifelsfragen heraufbeschworen. Sie spricht insbesondere gerade das nicht aus, was ihr eigentlicher Sinn ist; sie zwingt den Ausleger, diesen eigentlichen Sinn aus der geschichtlichen Entwicklung, aus dem Grundgesetz, aus dem Zusammenhang mit anderen Vorschriften (§§ 8c, 102, 103, 136a) zu ermitteln, wobei denn auf Schritt und Tritt Zweifel und Unsicherheit nicht ausbleiben können. Die Zweifel beginnen schon mit der Frage, ob die Vorschrift mit dem Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG) vereinbar ist. Dies wird zum guten Teil davon abhängen, wie man sie auslegt; vgl. BVerfGE 16 1 9 4 = NJW 1963 1597; BVerfGE 17 1 0 8 = NJW 1963 2368; BVerfG NJW 1970 505. Eine weite Auslegung, wie der dunkle Wortlaut sie durchaus zuläßt, könnte so unbestimmt sein, daß dem Gesetzesvorbehalt des Art. 2 Abs. 2 S. 3 G G nicht genügt wäre. Der Sinn der Vorschrift, über den der Wortlaut völlig schweigt, besteht darin, daß körperliche Eingriffe gegen den Beschuldigten nur dann zulässig sind, wenn sie in einem angemessenen Verhältnis zur Schwere der Beschuldigung, zur Stärke des Verdachts, zur Wahrscheinlichkeit eines Ergebnisses und zu dessen Erkenntniswert stehen; nur dann, wenn die Erheblichkeit der Tatsache, die es aufzuklären gilt, im Einzelfall schwerer wiegt als die Rücksicht auf die körperliche Unversehrtheit. D a s ist der Grund dafür, daß jeder einzelne der Begriffe, mit denen die Vorschrift arbeitet (nicht nur der Begriff des Beschuldigten) „der scharfen Grenze entbehrt" ( E b S c h m i d t 7a). 2. Für den Begriff des Beschuldigten gilt das freilich in besonderem Maße. Er kann weit gefaßt werden, wenn es sich um einen geringfügigen Eingriff handelt, der ohne „Gefahrdung des Untersuchungserfolges" nicht so lange aufgeschoben werden kann, bis der Beschuldigte es zum Angeschuldigten oder zum Angeklagten gebracht hat. Wenn einem verunglückten Kraftwagen zwei Personen entstiegen sind, die beide nach Alkohol riechen, und von denen jeder behauptet, der andere habe gefahren, so bestehen keine Bedenken, sie für die Frage der Blutentnahme zunächst einmal beide als „Beschuldigte" anzusehen. Der Grund ist, daß es sich um einen harmlosen Eingriff handelt, der hohen Erkenntniswert hat, und daß sein Ergebnis für Schuldfrage und Strafhöhe entscheidend sein kann. Das andere Extrem liegt beispielsweise bei einer Enzephalographie mit Luftfüllung vor. Sie führt häufig, wenn auch nicht regelmäßig zu gewissen Kopfbeschwerden, leichten Schwindelerscheinungen oder diffusen Allgemeinstörungen und kann bei gewissen (allerdings seltenen) körperlichen Zu521

§ 81a

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

Anm. 3 ständen sogar das Leben gefährden ( B r e s s e r NJW 1961 250;BVerfGE 17 108= NJW 1953 2368). Ihr Erkenntniswert für die Frage der Zurechnungsfähigkeit ist gering ( B r e s s e r aaO.). Will man sie trotzdem in Grenzfallen einmal für zulässig halten, so doch gewiß noch nicht im vorbereitenden Verfahren und auch später nicht, solange noch ernstlich an der Täterschaft des Beschuldigten gezweifelt werden kann; sie kann, wenn überhaupt, so doch höchstens als eine ultima ratio angeordnet werden. Hier kommt also als „Beschuldigter" wohl nur ein Angeklagter in Betracht. Der Begriff des Beschuldigten im Sinne des § 81 a läßt sich auch nicht dadurch verdeutlichen, daß man ihn von dem „Verdächtigen" des § 102 abgrenzt. Gewiß kann man jemanden „verdächtig" nennen, gegen den überhaupt (noch) kein Verfahren betrieben wird, und der aus diesem Grunde noch kein „Beschuldigter" ist. Aber die Einleitung eines vorbereitenden Verfahrens ist ja an keine Formen gebunden. Das Verfahren kann sehr wohl gerade damit beginnen, daß ein Hilfsbeamter der Staatsanwaltschaft gemäß § 81 a eine „körperliche Untersuchung" oder nach § 102 eine „Durchsuchung der Person" anordnet. Spätestens mit einer solchen Anordnung wird der „Verdächtige" ohne weiteres zum „Beschuldigten". Daß § 81 a vom Beschuldigten spricht, soll sicherlich bedeuten, daß der Verdächtige schon vor der Anordnung durch irgend eine andere Maßnahme „Beschuldigter" geworden sein müsse. T i l l m a n n (Anm. 6 in der 20. Auflage) wollte den Begriff des Beschuldigten im Sinne des § 81 a durch einen konkreten Verdacht bestimmen und es nicht schon genügen lassen, daß der Verdächtige verantwortlich vernommen worden ist. Daran wird nicht festgehalten. Einer verantwortlichen Vernehmung bedarf es nicht immer; ein konkreter Verdacht genügt nicht immer. Je schwerer der Eingriff, umso mehr muß der Verdacht sich schon zur Gewißheit verdichtet haben. Je leichter der Eingriff, umso geringer die Anforderungen an die Bestimmtheit des Verdachts. 3. Die 20. Auflage wollte zwischen „körperlicher Untersuchung" (Abs. 1 Satz 1) und „Durchsuchung der Person" (§ 102) „scharf' unterscheiden. Das will auch E b S c h m i d t 8, wenngleich völlig anders. Indessen bedarf es für die Auslegung des § 81 a Abs. 1 einer so scharfen Unterscheidung gar nicht. Die Voraussetzungen des Abs. 1 und des § 102 stimmen praktisch überein. Eine Unterscheidung zwischen „Beschuldigtem" und „Verdächtigem" ist gegenstandslos (oben 2). „Feststellung von Tatsachen" und „Auffindung von Beweismitteln" ist ebenfalls kein scharfer Unterschied. Gewiß ist es für den Betroffenen ein großer Unterschied, ob er seinen unbekleideten Körper oder nur seine „Person" und seine Sachen ansehen lassen muß. (Dies hebt EbSchmidt besonders hervor.) Aber § 8 1 a Abs. 1 gibt ihm gegen die eine Zumutung keinen wirksameren Schutz als § 102 gegen die andere. Glaubt der Ermittlungsbeamte den unbekleideten Körper sehen zu müssen, um dort Tatsachen feststellen zu können, so genügt eine Anordnung wie die nach § 102, erlassen unter den gleichen Voraussetzungen und von demselben Richter, Staatsanwalt oder Hilfsbeamten. Daß unter § 102 keine Maßnahme fallen dürfe, die die Heranziehung des § 81 d erforderlich machen könnte, weil dieser sich nur auf §§ 81 a—c, nicht aber auf § 102 beziehe, ist ein allzu äußerliches Argument. Was in § 81 d steht, versteht sich völlig von selbst und wurde schon beachtet, ehe der § 81 d geschaffen wurde. Auf das weibliche (übrigens auch auf das männliche) Schamgefühl muß in jeder denkbaren Verfahrenssituation jeweils die Rücksicht genommen werden, die ohne Gefahrdung des Zwecks möglich ist, RGSt. 14 189. Selbstverständlich muß auch die „Durchsuchung der Person" einer bekleideten Frau einer Frau übertragen werden; es bedarf keiner Vorschrift, um zu verbieten, daß ein männlicher Kriminalbeamter in den Kleidungsstücken, die eine verdächtigte Frau am Körper trägt, nach Beweismitteln sucht. E b S c h m i d t hält auch jetzt noch (Nachtr. zu II Rdnr. 4) an der „Notwendigkeit scharfer begrifflicher Trennung" zwischen „körperlicher Untersuchung" gemäß § 81 a und „Durchsuchung der Person" gemäß § 102 fest. Gegen K e r n (7. Aufl. S. 141), der dieselbe Forderung erhebt, wendet er mit Recht ein, daß er nicht kläre, was er bei § 102 unter „Durchsuchung des Körpers des Verdächtigen" verstanden wissen wolle. Aber dieser Einwand trifft ihn auch selbst. Auch er selbst liefert diese scharfe begriffliche Unterscheidung nicht. Das Kriterium darin zu sehen, ob der Körper nackt oder bekleidet ist, bedeutet alles andere als eine „scharfe" begriffliche Unterscheidung. Weder braucht der Körper zu einer Untersuchung gemäß § 8 1 a immer oder auch nur regelmäßig nackt zu sein; zu Blutproben, Röntgendurchleuchtungen, Elektroenzephalogrammen zieht man sich gewöhnlich nicht aus. 522

Siebenter Abschnitt. Sachverständige und Augenschein (Sarstedt)

§ 81 a Anm. 4—6

Noch schließt das Erfordernis einer teilweisen oder auch völligen Entblößung die Anwendbarkeit des § 102 aus; auch nach dieser Vorschrift kann der Durchsuchende sich überzeugen, ob der Durchsuchte eine bestimmte Tätowierung auf der Brust trägt. Wichtiger ist es, die „körperliche Untersuchung" des Abs. 1 Satz 1 von den „Eingriffen" des Satzes 2 zu unterscheiden. Denn hier besteht ein praktisch wichtiger Unterschied darin, daß ein „Eingriff' nur von einem Arzt, eine andere körperliche Untersuchung auch von einem anderen ausgeführt werden darf. „Eingriff" ist zunächst alles, was zu einer — wenn auch noch so geringfügigen Verletzung des Körpers führen kann. Das ergibt sich daraus, daß das Gesetz die überaus harmlose Entnahme von Blutproben zu den „Eingriffen" zählt, die dem Arzt vorbehalten sind. Als ein „Eingriff" muß ferner alles angesehen werden, was Schmerzen verursachen kann, sowie alles, wozu ärztliche Instrumente erforderlich sind: Ausheberung des Magens, Röntgendurchleuchtung, Verwendung von Abführmitteln, Sonden, Pinzetten. Auch das vorübergehende Herausnehmen einer beweglichen Zahnprothese ist (wenn der zu Untersuchende sich nicht selbst freiwillig dazu bereitfindet) dem Arzt (Zahnarzt) vorbehalten. Einfache Messungen und Wägungen sind keine Eingriffe; über Lichtbildaufnahmen und Fingerabdrücke vgl. § 81 c. 4. Zur Feststellung von Tatsachen muß die Untersuchung dienen, „die für das Verfahren von Bedeutung sind". Die Beschränkung auf Spuren oder Folgen der Straftaten, wie sie § 81 c für die Untersuchung anderer Personen enthält, gilt also nicht für die Untersuchung des Beschuldigten. Die „Tatsachen" können auch andere Beweisanzeichen sein. Insbesondere ist eine körperliche Untersuchung zur Feststellung des geistigen Zustandes des Beschuldigten zulässig, vor allem seiner Verantwortlichkeit (§ 51 StGB) und seiner Verhandlungsfahigkeit. Nicht schlechthin ausgeschlossen sind auch körperliche Untersuchungen zur Beurteilung seiner Glaubwürdigkeit. Zweifellos unbedenklich ist das etwa, soweit es um die Bestätigung oder Widerlegung seiner Behauptungen über körperliche Zustände geht. Dagegen dürfen keine Eingriffe vorgenommen, keine Mittel verabreicht, keine Hypnose eingeleitet werden, wodurch „die Freiheit der Willensentschließung und der Willensbetätigung des Beschuldigten beeinträchtigt werden" könnte (§ 136 a). Gemeint ist die Freiheit zur Aussage und zum Schweigen; ob und was ein Beschuldigter aussagt, soll sein freier Entschluß bleiben. Zu anderen Zwecken können die genannten Maßnahmen unter Umständen einmal gestattet werden. Soll der Arzt einem tobenden, angetrunkenen Beschuldigten eine Blutprobe zur Alkoholuntersuchung entnehmen, so wird der die Untersuchung führende Beamte dem Arzt gestatten dürfen, ihm zunächst eine Beruhigungsspritze zu geben. Freilich wird es sich dann zur Vermeidung eines Verstoßes gegen § 136 a dringend empfehlen, während der Wirkungsdauer des Beruhigungsmittels keine Erklärungen des Beschuldigten zur Sache entgegenzunehmen. 5. Es darf kein Nachteil für die Gesundheit zu befürchten sein. Bei diesem Begriff muß ein gewisser Spielraum gelassen werden. Zwar muß ein bleibender Schaden in jedem Fall nach menschlichem Ermessen ausgeschlossen sein. Aber wenn es um einen dringend Verdächtigen, um eine schwere Tat, um einen Eingriff von bedeutendem Erkenntniswert für eine schlechthin entscheidende Frage geht, wird unter Umständen ein Unwohlsein von zwei oder drei Tagen gerade noch in Kauf genommen werden dürfen. 6. Einzelne Eingriffe: a) Enzephalographie mit Luftfüllung der Hirnkammer wird nach den klärenden Ausführungen von B r e s s e r NJW 1961 250 kaum noch gestattet werden können. Die Bedenken beruhen nicht, wie BGH 5 StR 203/57 vom 1. 10. 1957 nach annahm, auf einer generellen Gefährlichkeit dieses Eingriffs, sondern auf dem Mißverhältnis zwischen den dadurch verursachten Beschwerden und der für die hier in Betracht kommenden Zwecke zu geringen diagnostischen Ergiebigkeit. Die Entnahme von Rückenmarkflüssigkeit (Lumbalpunktion) ist aus dem gleichen Grunde ebenso bedenklich wie die Okzipitalpunktion; zust. E b S c h m i d t Nachtr. zu II Rdnr. 21. b) Hirnstromuntersuchung

kann gestattet werden. 523

§81 a Anm. 7,8

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

c) Auspumpen des Magens, Äöni^endurchleuchtung (auch nach Eingeben von Kontrastbrei) kann gestattet werden. d) Narkoanalyse, Eunarkon-, Evipanversuche, das Verabfolgen von Luminal, Scopolamin, die Anwendung eines Lügendetektors ist schlechthin unzulässig (seit BGHSt. 5 332 unstreitig). e) Eine gewöhnliche Narkose oder örtliche Betäubung zur Ermöglichung oder Erleichterung eines anderen Eingriffs kann zulässig sein, bedarf aber der besonderen Anordnung durch den Richter, Staatsanwalt oder Hilfsbeamten der Staatsanwaltschaft. f) Trinkversuche sind unzulässig. Sie bedürfen, um auch nur geringen Erkenntniswert zu haben, der aktiven Mitarbeit des Beschuldigten (LG Karlsruhe DAR 1959 246). Gerade diese leidet dann aber in einer mit § 136a nicht vereinbaren Weise unter der alkoholischen Beeinflussung des Willens. g) Für völlig unzulässig halten wir es, anders als früher E b S c h m i d t 7a und 17, einem Beschuldigten gegen seinen Willen den Bart abzunehmen. Das verstieße gegen Art. 1 Abs. 1 Satz 1 und Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG und wird weder durch den Sinn noch durch den Wortlaut des § 81 a gedeckt. Indem die Vorschrift für jeden Eingriff die Hand des Arztes verlangt, gestattet sie gerade nur solche Eingriffe, die einem Arzt zugemutet werden können. Gewiß verfügt der Arzt über die Fertigkeit des Rasierens, und er wird das tun, sobald es etwa zur Vorbereitung einer Operation erforderlich wird. Einen Beschuldigten zu rasieren, um ihn durch einen Zeugen erkennen zu lassen, kann man aber einem Arzt unmöglich ansinnen. E b S c h m i d t sagte schon selbst (17), daß „der Friseur genügt". Den Friseur darf der Richter aber gerade nicht auf den Beschuldigten loslassen. Man kann auch nicht mit E b S c h m i d t aaO. a maiore ad minus schließen, daß § 81 a solche Eingriffe gestatte, „die wegen ihrer völligen Ungefahrlichkeit und Einfachheit die Hand des Arztes nicht erfordern". Die Vorschrift schützt den Beschuldigten nicht nur vor körperlicher Gefahr, sondern auch vor Entwürdigung. Niemand als ein Arzt soll in seine körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG!) eingreifen dürfen, nicht nur mit Rücksicht auf seine Gesundheit, sondern auch auf seine Würde. Ein anderer Grund dafür, daß selbst eine Blutprobe nur durch den Arzt entnommen werden darf (woran der Gesetzgeber eine Novelle gewendet hat!), ist nicht erfindlich. Denn das ist noch weit einfacher und ungefährlicher als das Abnehmen eines Bartes (wobei selbst geschickte Friseure gelegentlich „Blutproben" entnehmen). Bei einem Beschuldigten gar, der sich der Rasur zu widersetzen suchte, könnte es zu ebenso gefahrlichen wie unwürdigen Auftritten kommen. E b S c h m i d t (Nachtr. zu II Korr. 22) ist uns inzwischen beigetreten. 7. Die Einwilligung des Beschuldigten kann unter Umständen Eingriffe zulässig machen, die sonst unzulässig wären. Das setzt zunächst voraus, daß die Einwilligung weder auf Täuschung noch auf Zwang beruht. Sodann darf der Eingriff nicht trotz der Einwilligung gegen die guten Sitten verstoßen (§ 226a StGB): KIM. 4b; E b S c h m i d t 18. Ein solcher Verstoß kann auf zu großer Gefährlichkeit, aber auch auf fehlender Erheblichkeit der zu beweisenden Tatsache oder auf fehlender Eignung des Eingriffs zum Beweise beruhen. Die Einwilligung kann sich nicht nur auf die Art des Eingriffs, sondern auch auf die Person des Eingreifenden beziehen: Der Beschuldigte kann sich wirksam damit einverstanden erklären, daß die Blutprobe ihm nicht durch einen Arzt, sondern durch einen Sanitäter oder durch eine Krankenschwester entnommen wird. Wirksame Einwilligung macht nicht nur den sonst unzulässigen Eingriff zulässig, sondern auch die in Abs. 2 vorgeschriebene Anordnung entbehrlich. Sind Zweifel über die Wirksamkeit der Einwilligung möglich, so empfiehlt es sich, trotzdem eine Anordnung herbeizuführen. 8. Die Anordnung steht grundsätzlich dem Richter zu, d. h. bis zur öffentlichen Klage dem örtlich zuständigen Amtsrichter, wenn nicht vorher oder gleichzeitig eine Unterbringung gemäß § 81 angeordnet werden soll oder worden ist; dann ist das für die Eröffnung des Hauptverfahrens zuständige Gericht auch zu dieser Anordnung berufen. Während der Voruntersuchung ist der Untersuchungsrichter (Hamm JMB1NRW 1951 243 = DRsp. IV [450] 40c) mit der gleichen Einschränkung berufen; im übrigen bis zum Beginn der Haupt524

Siebenter Abschnitt. Sachverständige und Augenschein (Sarstedt)

§ 81 a Anm. 9,10

Verhandlung die Beschlußstrafkammer oder der Amtsrichter (die aber von der Eröffnung des Hauptverfahrens an als „erkennendes Gericht" im Sinne des § 305 gelten), in der Hauptverhandlung das Gericht in der für sie vorgeschriebenen Besetzung. Bei „Gefahrdung des Untersuchungserfolges durch Verzögerung" (dies anstelle von „Gefahr im Verzuge" eine deutlichere und bessere Übersetzung des alten „periculum in mora"; leider hat der Gesetzgeber diese seine neue Wendung bis § 81 c Abs. 4 Satz 2 schon wieder vergessen) kann auch der Staatsanwalt oder ein Hilfbeamter der Staatsanwaltschaft, nicht jedoch ein anderer Polizeibeamter den Eingriff anordnen. Der gewöhnlichste Fall ist die Anordnung der Blutentnahme zur Alkoholuntersuchung (was auf nächtlicher Landstraße schon einmal vorkommen kann), so bleibt der Verkehrspolizei nur der Versuch, die Einwilligung (vgl. oben 7) des Beschuldigten zu erreichen. Daß das dafür ausgegebene Formblatt auch die Erklärung des Beschuldigten vorsieht, er übernehme die Kosten der Blutuntersuchung, ist freilich ein Mißbrauch und eine Ungeschicklichkeit, weil es nur unnötig zum Widerstand reizt; die Kosten der Blutuntersuchung gehören zu den Kosten des Verfahrens, über die später im Urteil zu entscheiden ist. Die Anordnung muß den zugelassenen Eingriff genau bezeichnen; sie darf es nicht dem Arzt überlassen, ob und welche Eingriffe vorgenommen werden sollen: BayObLGSt. 1956 180= NJW 1957 272; Hamm JMB1NRW 1953 117= DRsp. IV (450) 48c; Celle MDR 1956 695. Keinesfalls ermächtigt die Unterbringung gemäß § 81 den Anstaltsarzt zu irgendwelchen körperlichen Eingriffen: BGHSt. 8 144= NJW 1955 1765. Bei nicht ganz gewöhnlichen Eingriffen kann es angebracht sein, daß der Richter sich vor der Anordnung ein Gutachten über Erforderlichkeit, Natur des Eingriffs, seine Unfähigkeit und seine Aussichten erstatten läßt; oft wird auch eine vorherige Anhörung des Beschuldigten am Platze sein. 9. Die Anordnung rechtfertigt nicht nur den Eingriff in die körperliche Unversehrtheit selbst, sondern auch die mit dem Eingriff notwendig verbundene Beschränkung der Bewegungsfreiheit. Dazu bedarf es nicht immer eines Haftbefehls und erst recht nicht immer einer Unterbringung gemäß § 81. Für diese beiden Maßnahmen brauchen die Voraussetzungen nicht immer vorzuliegen, wenn die des Eingriffs gegeben sind. Das kann unmöglich zur Folge haben, daß dann der Eingriff unterbleiben müßte. Das Verfahrensrecht kennt auch sonst Beschränkungen der Bewegungsfreiheit ohne Haftbefehl (und ohne Festnahme) etwa in § 231 Abs. 1 Satz 2. Bei einer Blutentnahme zur Alkoholuntersuchung wird zwar oft Verdunklungsgefahr bestehen, die gemäß § 127 Abs. 2, § 112 Abs. 1 Nr. 3 eine vorläufige Festnahme rechtfertigen kann, jedenfalls bis zur Blutentnahme. Die bloße Tatsache indessen, daß der Alkohol im Blut abgebaut wird, bedeutet nicht die Gefahr, daß „der Beschuldigte" (§112 Abs. 1 Nr. 3) die Ermittlung der Wahrheit erschweren werde. Dazu gehören Handlungen, nicht Vorgänge in seinem Körper, die von seinem Willen unabhängig sind. Außerdem entfallt das Festnahmerecht, wenn die Tat nur mit Freiheitsstrafe bis zu sechs Monaten oder Geldstrafe bedroht ist (§ 113). Trotzdem muß aus § 81 a das Recht abgeleitet werden, den Beschuldigten für die Zeit festzuhalten, die bis zur Blutentnahme notwendigerweise vergehen muß. Ebenso darf gleichzeitig mit einem Eingriff, der sachgemäß und gefahrlos nur in einem Krankenhaus vorgenommen werden kann, angeordnet werden, daß der Beschuldigte für die erforderliche Zeit, die der Eingriff selbst unmittelbar erfordert, sondern auch für eine etwa notwendige Vorbereitungs- und Erholungszeit. Äußerstenfalls werden einige wenige Tage in Betracht kommen. Auch insoweit darf die Entscheidung nicht dem Arzt überlassen werden; vielmehr muß der Richter sie treffen, zweckmäßig bei der Anordnung des Eingriffs selbst. Wie hier KIM. lc; BayObLGSt. 1956 180= NJW 1927 272; a. M. E b S c h m i d t 15. 10. Rechtsmittel. a) Die richterliche Anordnung kann mit der einfachen Beschwerde angefochten werden: OLG Frankfurt NJW 1957 839; OLG Schleswig SchlHA 1961 24 (nicht mit der sofortigen, wie LG Göttingen MDR 1952 629 meint). Die Beschwerde ist auch gegen eine Anordnung des erkennenden Gerichts zulässig; BayObLGSt. 1956 180 = NJW 1957 272 mit überzeugender Begründung unter Aufgabe von BayObLGSt. 1949/51 472; a. M. auch OlG Hamm JMB1NRW 1956 107; NJW 1959 447. - OLG Schleswig SchlHA 1961 24 läßt 525

§81 a Anm. 11,12

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

nur bei „erheblichen" Eingriffen die Beschwerde gegen Entscheidungen des erkennenden Gerichts zu. Das Rechtsmittel hat keine aufschiebende Wirkung (§ 307 Abs. 1); jedoch kann der Richter die Vollziehung seiner Anordnung aussetzen (§ 307 Abs. 2). Das Beschwerdegericht prüft nicht nur die Rechtmäßigkeit, sondern auch die Zweckmäßigkeit der Anordnung nach. Weitere Beschwerde ist nicht gegeben. b) Gegen die Anordnung des Staatsanwalts und des Hilfsbeamten der Staatsanwaltschaft ist die Dienstaufsichtsbeschwerde gegeben; auch kann gegen den Hilfsbeamten der Staatsanwalt selbst angerufen werden. Praktische Bedeutung haben diese Möglichkeiten kaum; denn ein Untersuchungsführer, der eine „Gefährdung des Untersuchungserfolges durch Verzögerung" angenommen hat — annehmen mußte, um seine eigene Zuständigkeit bejahen zu können —, wird folgerichtigerweise für schleunige Vollziehung sorgen müssen. Deshalb wird die Beschwerde hier wohl immer zu spät kommen. Daß demgemäß die Entscheidung einer Strafkammer nachgeprüft werden kann, die gleichlautende Entscheidung eines Kriminalassistenten dagegen praktisch nicht, ist eine Ungereimtheit, die in Kauf genommen werden muß. Ist der Weg der Dienstaufsichtsbeschwerde erschöpft, so kann der Beschuldigte gemäß §§ 2 3 - 3 0 EGGVG (i. d. F. des § 179 VwGO vom 21. 1. 1960 BGBl. I S. 17, 38ff.) den Strafsenat des Oberlandesgerichts anrufen. 11. Die Vollziehung der gerichtlichen Anordnung ist Sache der Staatsanwaltschaft, die sich dazu, wie bei ihren eigenen Anordnungen, ihrer Hilfsbeamten bedienen kann. Bei der praktischen Durchführung ist die anordnende Stelle aber nicht nur auf Hilfsbeamte der Staatsanwaltschaft beschränkt, kann vielmehr auch andere Bedienstete beauftragen. Unmittelbarer Zwang darf angewendet werden, soweit dadurch nicht eben der Untersuchungserfolg in Frage gestellt wird. Der in Anspruch genommene Arzt hat die verfahrensrechtliche Stellung eines Sachverständigen. Demgemäß ist er zur Mitwirkung nur auf richterliche Anordnung oder auf Grund des Beamtenrechts (als Amtsarzt) oder eines besonderen Vertrages verpflichtet. — Ordnungsstrafen können wegen der Weigerung, den angeordneten Eingriff zu dulden, gegen den Beschuldigten nicht verhängt werden, OLG München HRR 1938 Nr. 611. 12. Verstöße gegen § 81a machen das Ergebnis des Eingriffs nicht unverwertbar. So kann auch die durch einen Nichtarzt unternommene Blutprobe zum Beweis des Blutalkoholgehalts benutzt werden, OLG Oldenburg NdsRpfl. 1955 99 = MDR 1955 373 = NJW 1955 683 = DAR 1955 139 = VRS Bd. 8 (1955) 219; OLG Stuttgart NJW 1960 2257; weitere Rechtsprechung im gleichen Sinne bei E b S c h m i d t Nachtr. zu II Rdnr. 3. Anders nur, wenn das Verfahren gleichzeitig gegen § 136a verstieß; BayObLG 1965 1 2 8 = NJW 1966 415. E b S c h m i d t (Nachtr. zu II Rdnr. 3) tritt für ein allgemeines Verwertungsverbot ein. Er meint, die Entnahme von lOccm Blut aus der Vene sei kein ganz harmloser Eingriff (aber bei Blutspenden sind es 300 ccm; 10 ccm ist die Hälfte eines kleinen Schnapsglases); ein solcher Eingriff sei nur zu verantworten, wenn der Beschuldigte dabei in die Hand des Arztes gegeben sei (aber bei Blutspenden machen es Krankenschwestern). Uns scheinen diese Bedenken gar zu doktrinär; denn welches wären die praktischen Folgen der Unverwertbarkeit? Entweder wird der Fehler rechtzeitig bemerkt; dann müßte das Opfer ein zweites Mal bluten! Daß dies aus rechtsstaatlichen Gründen und prinzipiell zu seinem eigenen Schutze geschieht, wird man ihm kaum überzeugend klarmachen können. Oder der Alkoholgehalt des Blutes ist inzwischen abgebaut; dann wäre das Beweismittel, obwohl man es in der Hand hat, endgültig verloren. Man wende nicht ein, daß das gemäß dem Satz „in dubio pro reo" stets zugunsten des Beschuldigten wirke. Erstens wäre das ein schwacher Trost; denn die Bekämpfung des Alkohols im Straßenverkehr ist eine besonders wichtige staatliche Aufgabe, und zwar gerade im Interesse des Rechtsgutes, das hier zur Begründung herhalten soll, nämlich der körperlichen Unversehrtheit und selbst des Lebens der Staatsbürger einschließlich des Beschuldigten selbst. Zweitens stimmt es auch gar nicht immer, daß der Fortfall des Beweismittels zugunsten des Beschuldigten wirken müßte. Alkoholgeruch aus seinem Munde, vom Polizisten bekundet, Lallen, Torkeln und glasiger Blick, von dem anderen Verkehrsteilnehmer (vielleicht gerade dem wirklich Schuldigen) bekundet, 526

Siebenter Abschnitt. Sachverständige und Augenschein (Sarstedt)

§ 81 b Anm. 1—3

können ausreichen, um den Richter von der Trunkenheit des Beschuldigten zu überzeugen, bis die Blutuntersuchung ergibt, daß er nur in völlig harmlosem Maße getrunken hatte. Solche Fälle sind gar nicht so selten. Die einhellige Praxis tut also gut daran, billigenswerte rechtsstaatliche Grundsätze nicht zu Tode zu reiten.

§ 81b Soweit es für die Zwecke der Durchführung des Strafverfahrens oder für die Zwecke des Erkennungsdienstes notwendig ist, dürfen Lichtbilder und Fingerabdrücke des Beschuldigten auch gegen seinen Willen aufgenommen und Messungen und ähnliche Maßnahmen an ihm vorgenommen werden. Entstehungsgeschichte: Die Vorschrift war im ursprünglichen Text nicht enthalten. Ihre erste Fassung entstammt dem AG z. Ges. gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher usw. vom 24. 11. 1933 (RGBl. I S. 1000) Art. 2 Nr. 4. Sie unterschied sich vom jetzigen Wortlaut nur dadurch, daß es am Schluß hieß: „Messungen o d e r ähnliche Maßnahmen". Jetzige Fassung: Vereinheitlichungsgesetz vom 12. 9. 1950 (BGBl. 455). 1. Die amtliche Begründung lautete: „Der Erkennungsdienst ist im Kampf gegen das Verbrechertum von besonderer Bedeutung. § 81b schafft für bestimmte Maßnahmen, die den Erkennungsdienst ermöglichen sollen, eine gesetzliche Grundlage, um jeden Zweifel an ihrer Zulässigkeit zu beseitigen." Ebenso schon die Begründung zum Entwurf eines EGStGB S. 59. 2. Die Vorschrift behandelt Maßnahmen, die — trotz inhaltlicher Übereinstimmung — je nach ihrem jeweiligen Zweck in einen völlig verschiedenen systematischen Zusammenhang gehören. Auf den Unterschied kommt es vor allem wegen der Verschiedenheit der Rechtsbehelfe entscheidend an; vgl. unten 8. a) Nur soweit die Maßnahmen den Zwecken „des" (gerade anhängigen) Straßerfahrens dienen soll, handelt es sich um Strafprozeßrecht. Das ist also etwa der Fall, wenn ein Lichtbild des Beschuldigten aufgenommen wird, damit es in dem gegenwärtigen Ermittlungsverfahren einem Zeugen vorgelegt werden kann, dessen Gegenüberstellung mit dem Beschuldigten auf Hindernisse stößt; oder wenn Fingerabdrücke genommen werden, um sie mit den Spuren am Tatort zu vergleichen, oder um (z. B. wegen etwaiger Anwendbarkeit der Rückfallbestimmungen oder des § 20 a StGB) die Identität des Beschuldigten mit einem Vorbestraften zu ermitteln. Die Zuordnung solcher Maßnahmen zum Strafverfahrensrecht ist unstreitig. b) Wenn und soweit dagegen die gleichen Maßnahmen den Zwecken des Erkennungsdienstes nutzbar gemacht werden sollen, handelt es sich um materielles Polizeirecht. Daß die Vorschrift in der Strafprozeßordnung steht, ist eine Äußerlichkeit und deshalb kein überzeugender Gegengrund. Daß ihre Anwendung einen „Beschuldigten" voraussetzt, besagt nur, daß der Präventivpolizei nicht das Recht eingeräumt werden soll, beliebige harmlose Bürger für die Verbrecherkartei zu fotografieren und Fingerabdrücke von ihnen zu nehmen; andererseits hätte es kaum ausgereicht, diese Maßnahmen auf Verurteilte zu beschränken. Die Ansicht des BVerwG NJW 1956 234 - MDR 1956 313 = DRsp. IV (450) 73 e, es handle sich auch insoweit um Strafverfahrensrecht, ist mit Recht auf Ablehnung gestoßen: B a c h o f MDR 1956 314; OLG Düsseldorf NJW 1959 1790; zu Einzelheiten der Begründung kritisch auch Blau NJW 1956 805, der freilich im Ergebnis dem BVerwG zustimmt. Wie hier Eb S c h m i d t 1; a. M . K I M 3 4. Die erkennungsdienstlichen Unterlagen dürfen auch über die Dauer des Strafverfahrens hinaus aufbewahrt werden, BVerwG NJW 1961 571. Vgl. jedoch unten 8b a. E. 3. Die Maßnahmen des § 81 b, mögen sie dem einen oder dem anderen Zwecke dienen, sind nicht gegen Zeugen oder unbeteiligte Dritte, sondern nur gegen Beschuldigte zulässig. Der Begriff ist hier im weitesten Sinne zu nehmen; es genügt jeder Verdacht, nur muß er sich 527

§ 8 1 b Anm. 4—8

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

§ 81c auf eine bestimmte Tat beziehen. Rechtskräftige Erledigung steht den Maßnahmen nicht schlechthin entgegen; gegenüber einem Freigesprochenen kommen sie für die Zwecke eines Wiederaufnahmeverfahrens, gegenüber einem Verurteilten für erkennungsdienstliche Zwecke auch noch nach Rechtskraft der Verurteilung in Betracht. 4. Zuständig für die verfahrensrechtlichen Maßnahmen sind Gericht, Staatsanwaltschaft und deren Hilfsbeamte (die beiden letzteren, anders als nach § 81 a Abs. 2, auch dann, wenn keine Gefahrdung des Untersuchungszwecks durch Verzögerung zu befürchten ist), für die erkennungsdienstlichen Maßnahmen die Polizei (deren Beamte insoweit nicht als Hilfsbeamte der Staatsanwaltschaft tätig werden, nicht deren Weisungen nach § 161 Abs. 1 S. 2 unterliegen und nicht gemäß § 152 Abs. 2 GVG bestellt zu sein brauchen). 5. Zur Durchführung der Maßnahmen ist unmittelbarer Zwang zulässig. 6. Von der Aufnahme der Lichtbilder ist die Erlangung bereits vorhandener Lichtbilder zu unterscheiden. Sie können, falls der Inhaber sie nicht freiwillig herausgibt, unter den Voraussetzungen des § 94 beschlagnahmt werden. Eine von der Aufnahme und der Beschlagnahme von Lichtbildern streng zu trennende Frage ist die nach der Befugnis zu ihrer Vervielfältigung, Veröffentlichung und Verbreitung; sie ist in § 24 KunstUrhGes. geregelt. 7. Der Beweis mit Fingerabdrucken ist ein Sachverständigenbeweis (etwas anders E b S c h m i d t 4 , der ihn „zugleich" für „einen mit Hilfe eines Augenscheinmittlers durchgeführten Augenscheinsbeweis" hält. Das ist verfehlt, weil keine der Vorschriften über den Augenschein — §§ 86, 244 Abs. 5 — darauf paßt). 8. Rechtsbehelfe. a) Gegen Maßnahmen, die (allein oder auch) der Durchführung des gegenwärtigen Straßerfahrens dienen sollen, ist, soweit sie vom Gericht angeordnet werden, die einfache Beschwerde, im übrigen die Dienstaufsichtsbeschwerde zulässig. Bei den Hilfsbeamten der Staatsanwaltschaft entscheidet diese. Ist der Beschwerdeweg erschöpft, so kann der Betroffene gemäß §§ 2 3 - 3 0 EGGVG (in der Fassung des § 179 VwGO vom 21. 1. 1960 BGBl. I S . 17, 3 8 ff.) den Strafsenat des Oberlandesgerichts anrufen. b) Gegen rein erkennungsdienstliche Maßnahmen ist der unter a a. E. genannte Weg nicht gangbar, weil es sich nicht um Maßnahmen von Justiz- oder Vollzugsbehörden handelt (vgl. § 23 EGGVG). Hier steht deshalb - entgegen BVerwG NJW 1956 234 (vgl. oben 2 b) — der Rechtsweg vor den Verwaltungsgerichten offen. Vom abweichenden Standpunkt des BVerfG (aaO.) aus hätte es gemäß Art. 19 Abs. 4 S. 2 G G in den ordentlichen Rechtsweg verweisen müssen ( B a c h o f MDR 1956 314). Wer unschuldig in ein Ermittlungsverfahren geraten ist, hat einen Rechtsanspruch auf Vernichtung der aufgenommenen erkennungsdienstlichen Unterlagen: VG Berlin NJW 1955 964 mit zust. Anm. von K ö h l e r . Auch dieser Anspruch gehört vor die Verwaltungsgerichte. Ist der Beschuldigte aus Mangel an Beweisen freigesprochen worden, so hat das Verwaltungsgericht zu entscheiden, ob er weiterhin als hinreichend verdächtig gelten kann, daß die Aufbewahrung der Unterlagen gerechtfertigt ist; ähnlich bei Verjährung, BVerwG NJW 1961 571. Bei einem Freispruch wegen erwiesener Unschuld geht das jedoch nicht an; vgl. BVerwG NJW 1967 1192.

§ 81 c (1) Andere Personen als Beschuldigte dürfen, wenn sie als Zeugen in Betracht kommen, ohne ihre Einwilligung nur untersucht werden, soweit zur Erforschung der Wahrheit festgestellt werden muß, ob sich an ihrem Körper eine bestimmte Spur oder Folge einer strafbaren Handlung befindet. Die Untersuchung kann aus den gleichen Gründen wie das Zeugnis verweigert werden. Die Untersuchung ist unzulässig, wenn sie dem Betroffenen bei Würdigung aller Umstände nicht zugemutet werden kann. 528

Siebenter Abschnitt. Sachverständige und Augenschein (Sarstedt)

§ 81C Anm. 1,2

(2) Bei anderen Personen als Beschuldigten sind Untersuchungen zur Feststellung der Abstammung und die Entnahme von Blutproben ohne Einwilligung des zu Untersuchenden zulässig, wenn kein Nachteil für seine Gesundheit zu befürchten und die Maßnahme zur Erforschung der Wahrheit unerläßlich ist. Die Untersuchungen und die Entnahme von Blutproben dürfen stets nur von einem Arzt vorgenommen werden. Absatz 1 Satz 2 und 3 gilt auch hier. (3) Die Anordnung steht dem Richter, bei Gefährdung des Untersuchungserfolges durch Verzögerung auch der Staatsanwaltschaft und ihren Hilfsbeamten (§152 des Gerichts verfassungsgesetzes) zu. (4) Bei Weigerung des Betroffenen gilt die Vorschrift des § 70 entsprechend. Unmittelbarer Zwang darf nur auf besondere Anordnung des Richters angewandt werden. Die Anordnung setzt voraus, daß der Betroffene trotz Auferlegung einer Ordnungsstrafe bei der Weigerung beharrt oder daß Gefahr im Verzug ist. Entstehungsgeschichte: Die Vorschrift war im ursprünglichen Text nicht enthalten. Sie entstammt dem § 81a in der Fassung des AG z. Ges. gegen gefahrliche Gewohnheitsverbrecher usw. vom 24. 11. 1933 (RGBl. I 1000). Vgl. oben Anm. „Entstehungsgeschichte" zu § 81 a. Spätere Fassung: Vereinheitlichungsgesetz vom 12.9. 1950 (BGBl. 455). Über Einzelheiten der Entstehungsgeschichte vgl. D ü n n e b i e r GoldtA 1953 65. Abs. 2 wurde durch das Dritte Strafrechtsänderungsgesetz vom 4. 8. 1953 (BGBl. 735) geändert. 1. Schrifttum: B e c k e r : Blutentnahmepflicht im Prozeß, JR 1953 453; B l a u : Zur ZuIässigkeit und Zweckmäßigkeit psychologischer Glaubwürdigkeitsgutachten in Jugendschutzsachen, GoldtA 1959 293; B o c k e l m a n n : Strafrichter und psychologischer Sachverständiger, GoldtA 1955 321; B o s c h : Grundsatz des Beweisrechts (1963); D a h r : Zum Beweiswert eines Ausschlusses im C/c-System der sogenannten Rh-Untergruppen, NJW 1958 2097; D ü n n e b i e r : Anm. zu OLG München JZ 1952427; D ü n n e b i e r : Zweifelsfragen zu § 81c StPO GoldtA 1953 65; D ü n n e b i e r : Der positive Vaterschaftsnachweis, JZ 1955 487; F ö r s t e r : Die Zuverlässigkeit des Vaterschaftsausschlusses auf Grund des Rhesus-Blutgruppensystems, NJW 1957 1568; F r a n z : Nochmals: Erbbiologische Ähnlichkeitsprüfungen durch den Richter, NJW 1955 1019; H e i n i t z : Anm. zu BGH JR 1960 226; H ü l l e : Zu den Strafverfahren wegen Sittlichkeitsverbrechen an Kindern (zugleich ein Beitrag zur Rolle des psychologischen Sachverständigen im Strafprozeß), JZ 1955 8; J a ne t z k e : Die Beweiserhebung über die Glaubwürdigkeit des Zeugen im Strafprozeß, NJW 1958 534; K o h l h a a s : Eine Lücke im Verfahren der körperlichen Untersuchung nach §§ 81a und 81c StPO, DAR 1960 254; L e h m a n n : Nochmals: Erbbiologische Ähnlichkeitsprüfungen durch den Richter, NJW 1955 1019; L o r e n z : Ähnlichkeitsgutachten in Unterhaltsklagen, M D R 1954 661; P r e i s e r : Erbbiologische Ähnlichkeitsprüfungen durch den Richter, NJW 1955 331; S c h m i d t , Eb.: Kritische Bemerkungen zu dem Beschluß des Großen Senats für Strafsachen vom 8. 12. 1958, betreffend das Untersuchungsverweigerungsrecht nach StPO § 8 1 c , JR 1959 369; S t a c k e l b e r g , Frhr. von, im Berliner Anwaltsblatt 1960 74 (81); U n g e n a n n t (MKb.): Unzulässig gewonnene Untersuchungsergebnisse als Beweismittel? NJW 1957 51; W i c h m a n n : Die Zuverlässigkeit des Vaterschaftsausschlusses auf Grund des Rhesusblutgruppensystems, NJW 1958 252. 2. Im Anschluß an die § § 81 a, 81 b, die sich mit der Pflicht des Beschuldigten zur Duldung körperlicher Untersuchungen und Eingriffe befassen, regelt diese Vorschrift die entsprechenden Duldungspflichtigen Nichtbeschuldigter. Der Sinn der Trennung liegt darin, den Unverdächtigen in dieser Hinsicht besser zu behandeln als den Verdächtigen. Beim Abwägen zwischen den persönlichen Freiheitsrechten des Einzelnen, insbesondere auf körperliche Unversehrtheit, und dem Interesse der Allgemeinheit an einer wirksamen Bekämpfung des Verbrechens schlägt die Waage verschieden aus, je nachdem in der einen Waagschale das Recht eines Verdächtigen oder das eines unbescholtenen Bürgers liegt. Freüich muß man sich bei der Auslegung hüten, den Unterschied zu übertreiben. Denn es gehört nicht gar so viel dazu, daß ein Unschuldiger verdächtig wird; und bisweilen bedarf es nur eines Entschlusses, um den bisherigen Belastungszeugen der Verleumdung, den Entlastungszeugen der Begünstigung verdächtig zu halten und damit die Rollen auch im Bereich der §§ 81a, 81c zu ver-

529

§ 81 C Anm. 3 , 4

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

tauschen. So will es z. B. wenig besagen, daß § 81a keine dem Abs. 1 S. 3 entsprechende Bestimmung enthält. Auch gegenüber dem Beschuldigten ist alles unzulässig, was ihm „bei Würdigung aller Umstände nicht zugemutet werden kann". Freilich gehört es zu diesen Umständen, ob der Betroffene verdächtig oder unverdächtig ist; aber ob dieser Unterschied sehr ins Gewicht fallt, hängt entscheidend davon ab, wie verdächtig der eine, wie unverdächtig der andere ist. Es gibt ganze Gruppen von Strafverfahren (z. B. viele Meineidssachen), bei denen Ermittlungsbeamte, Staatsanwälte und Richter sich hüten sollten, der suggestiven Wirkung zu erliegen, die von der jeweiligen Prozeßrolle des einen als Beschuldigten, des anderen als Zeugen ausgehen kann. Eine allzu vorsichtige Auslegung des § 81 c bringt auch die Gefahr mit sich, daß die Untersuchungsbeamten in Versuchung geführt werden, dem Betroffenen auf nicht ganz einwandfreie Art eine Einwilligung nahezulegen. Übertriebene Ängstlichkeit, die dann aus praktischen Gründen darauf bauen muß, daß der Bürger von der ihm in allzu reichem Maße gewährten Freiheit schon keinen Gebrauch machen werde, ist das Gegenteil der Rechtsstaatlichkeit. Diese erfordert vielmehr, daß das Gesetz selbst die Grenzen der Freiheit da zieht, wo es um der Allgemeinheit willen notwendig ist. 3. Was damit gesagt sein soll, daß Personen (abgesehen von den Fällen des Abs. 2 — Feststellung der Abstammung, Entnahme von Blutproben) nur dann untersucht werden dürfen, „wenn sie als Zeugen in Betracht kommen", ist eine ungemein schwierige Auslegungsfrage. Sie ist dadurch heraufbeschworen worden, daß diese unglückliche Wendung im Plenum des Bundestages in der dritten Lesung (BTProt. der 81. Sitzung, S. 3063 D, 3071 C bis 3072 C; dazu D ü n n e b i e r GoldtA 1953 65) in die Vorschrift im Wege der Improvisation hineinredigiert worden ist. D ü n n e b i e r aaO. hat überzeugend dargelegt, daß dieser Bedingungssatz unmöglich das meinen kann, was die Worte sagen. Seinen schlechthin zwingenden Gründen läßt sich noch hinzufügen, daß der scheinbare Sinn dieser Worte sich wesentlich einfacher hätte ausdrücken lassen, indem man nämlich die Vorschrift hätte beginnen lassen: „Zeugen dürfen ohne ihre Einwilligung nur untersucht werden, soweit...". Denn wenn jemand als Zeuge „in Betracht kommt", wird man ihn ohnehin vernehmen und damit zum wirklichen Zeugen machen müssen, schon um der Aufklärungspflicht zu genügen. Selbst wenn man es nicht gelten lassen wollte, daß der „in Betracht Kommende" schon aus diesem Grunde vernommen werden muß, so läge es doch sehr nahe und wäre stets sehr einfach, ihn — wenn auch nur kurz — als Zeugen zu vernehmen, und sei es nur, um diese wunderliche Voraussetzung der Untersuchung zu erfüllen. Eine Vernehmung ist stets einfacher als eine Untersuchung; sie erfordert niemals weitergehende Zurüstungen. Ausnahmen sind nur bei solchen Personen denkbar, die eben — nicht „als Zeugen in Betracht kommen": insbesondere bei ganz kleinen Kindern, schwer Geistesgestörten, in seltenen Ausnahmefallen vielleicht auch einmal bei Bewußtlosen. Letztere wird man in aller Regel aber mindestens darüber als Zeugen vernehmen können, ob sie zu der betreffenden Zeit bewußtlos waren, und ob, gegebenenfalls wann sie selbst Tatspuren oder -folgen an ihrem Körper bemerkt haben. Nähme man den erörterten Bedingungssatz wörtlich, so wäre das unverständliche Ergebnis, daß man ausgerechnet Säuglinge nicht ohne Zustimmung des gesetzlichen Vertreters auf Verletzungen untersuchen dürfte, die der Täter ihnen zugefügt hat (so in der Tat Kl M. 3a); und es wäre das einzige Ergebnis. Ein solcher Wille kann dem Gesetzgeber unmöglich unterstellt werden, zumal die Erörterung im Bundestag nicht den mindesten Anhalt für eine derart seltsame Absicht erkennen läßt. Es ist dann allerdings keine ganz einfache Frage, wie denn diese Einschränkung sonst zu verstehen sei. Am wenigsten Unheil wird die Auslegung von D ü n n e b i e r aaO. anrichten, „daß die Untersuchung auf Personen beschränkt ist, bei denen Spuren oder Folgen einer strafbaren Handlung zu erwarten, daß aber Reihenuntersuchungen nach Spurenträgern unzulässig sind". Freilich ist die Einschränkung in dieser Form höchst überflüssig; niemand sucht da, wo er ohnehin nichts zu finden erwartet, und von derartigen Reihenuntersuchungen ist auch noch niemals etwas bekannt geworden. 4. Gestattet ist, abgesehen von den Fällen des Abs. 2 (Feststellung der Abstammung; Entnahme von Blutproben), nur die Suche nach Spuren und Tatfolgen. Beides sind Veränderungen am Körper, verursacht durch die Tat; Spuren unmittelbar und mit Hinweisen 530

Siebenter Abschnitt. Sachverständige und Augenschein (Sarstedt)

§ 81C Anm. 5 , 6

auf die Person des Täters, Tatfolgen auch mittelbar und ohne solche Hinweise. An der Ansicht T i l l m a n n s (Anm. 7 der 20. Auflage), unter Tatfolgen seien (nur) „die zum gesetzlichen Tatbestand gehörenden Folgen der Tat zu verstehen", wird nicht festgehalten. Tatfolge einer Notzucht kann die Defloration oder die Ansteckung sein, die beide nicht zum gesetzlichen Tatbestand des § 177 StGB gehören; Tatfolge einer Körperverletzung — ein Hämatom, ein Knochenbruch, eine Wunde — alles keine gesetzlichen Tatbestandsmerkmale. Es genügt, daß es sich um Indizien handelt: etwa um eine Hautabschürfung, die beim Raube oder bei § 176 Abs. 1 Nr. 1 StGB die Gewaltanwendung beweist, aber nicht selbst zum Tatbestand dieser Verbrechen gehört. Aber auch die Eignung zum Beweise der Tat gehört nicht zum Begriff der Tatfolge. Tatfolge kann etwa bei der Freiheitsberaubung, beim Kindesraub, bei der Verschleppung der schlechte Ernährungszustand (Dystrophie) des Verletzten sein, also Dinge, die nicht der Überführung des Beschuldigten dienen, sondern nur für die Strafzumessung von Bedeutung sind. Gewiß kommen auch Tatbestandsmerkmale in Betracht, z. B. bei der schweren Körperverletzung (§ 224 StGB). 5. Die Spur oder Tatfolge, die man zu finden erwartet, muß bestimmt und erheblich sein. a) „Eine bestimmte Spur oder Folge einer strafbaren Handlung" darf gesucht werden. Dieser Wortlaut soll ausschließen, daß aufs Geratewohl, auf ganz vage Möglichkeiten hin unverdächtige Personen einer körperlichen Untersuchung unterworfen werden — daß etwa zu jemandem, der eine Anzeige wegen einer Ohrfeige erstattet, gesagt wird: „Ziehen Sie sich mal aus!" Wie bestimmt der Anhalt sein muß, daß man etwas Wichtiges finden werde, und wie genau schon vorher die Vorstellungen sein müssen, die der Ermittlungsführer von der Beschaffenheit der Spur oder Tatfolge hat, hängt von den Umständen des einzelnen Falles ab. Geht es um die Aufklärung eines schweren Verbrechens, um die Auffindung eines besonders zuverlässigen Beweismittels, um Dinge von großer Erheblichkeit, so wird man an den Bestimmtheitsgrad der Erwartung und an die Genauigkeit ihres Inhalts geringere Anforderungen stellen als bei Übertretungen, ohnehin wenig überzeugenden Spuren und bei Folgen, die nur für die Strafhöhe eine Rolle spielen. b) Vorausgesetzt ist ferner, daß die Spur oder Folge„zur Erforschung der Wahrheit festgestellt werden muß'. Damit ist gesagt, daß nur nach Dingen geforscht werden darf, auf die es für die Entscheidung ankommt. Nicht dagegen ergibt sich aus dem Worte „muß", daß die körperliche Untersuchung erst „ein letzter Ausweg" sein dürfte, wenn „die übrigen Beweismittel nach erschöpfender Auswertung den Untersuchungserfolg nicht mehr erbringen können" (wie T i l l m a n n in Anm. 5b der 20. Auflage meinte). Dieser Auslegung, für die der Wortlaut nichts ergibt, steht die Erfahrung entgegen, daß Spuren und Tatfolgen am Körper des Verletzten oft höchst vergänglich sind und einen Wert oft nur haben, wenn sie so früh wie möglich festgestellt werden; zu einem Zeitpunkt, in dem sich noch in keiner Weise absehen läßt, ob vielleicht die übrigen Beweismittel ausreichen werden. Man soll die Freiheitsrechte des Dritten, die mit dem Untersuchungsinteresse kollidieren, in vernünftigen Grenzen berücksichtigen; aber man sollte den erforderlich werdenden Eingriff in sie nicht dramatisieren. Es ist für den Anzeigeerstatter, der verprügelt zu sein behauptet, weit weniger unangenehm, wenn man ihn sofort — nicht als „letzten Ausweg", sondern als allererstes! — zwingt, seine Striemen vorzuzeigen, als wenn man es darauf ankommen läßt, ob drei Monate später, wenn nichts mehr zu sehen ist, sein Eid den Richter überzeugt. Selbst wenn das der Fall ist, setzt man ihn noch einer Meineidsanzeige des Verurteilten aus, die, auch wenn sie schließlich ohne Erfolg bleibt, allemal für den Betroffenen weit unangenehmer ist als eine noch so eingehende körperliche Untersuchung. 6. Die Betroffenen dürfen darauf untersucht werden, ob sich an ihrem Körper Spuren oder Tatfolgen befinden. Aus dieser Ausdrucksweise des Gesetzes schließt E b S c h m i d t 4 (ihm folgend jetzt auch Kl 3), das Körperinnere sei (abgesehen von den Fällen der Blutentnahme und der Einwillgung) nicht Gegenstand der Untersuchung. Wir halten mit Tillm a n n (Anm. 7 der 20. Auflage) und KMR 3. Aufl. 2 c daran fest, daß je nach den Umständen des Falles auch eine Untersuchung gestattet sein kann, die einen Eingriff in das Körperinnere erforderlich macht. Die Unterscheidung zwischen Untersuchungen auf der Oberfläche des Körpers und Untersuchungen im Körperinneren ist gar zu äußerlich, übrigens auch sehr 531

§ 81C Anm. 7 , 8

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

schwierig. Öffnet der Betroffene den Mund nicht freiwillig, um seine eingeschlagenen Zähne ansehen zu lassen: Handelt es sich dann um eine äußere oder um eine innere Untersuchung? Wie ist es bei der Feststellung der Defloration, bei der Palpation (Abtastung) zur Feststellung innerer Verletzungen, bei der Röntgendurchleuchtung, beim Untersuchen einer mehr oder weniger tiefen Wunde mit der Sonde? Darf dem Betroffenen, der sich der schmerzhaften Untersuchung einer Verletzung der Körperoberfläche (!) widersetzt, zwangsweise eine subkutane (!) Spritze zur Vermeidung von Schmerzen oder vielleicht zur Beruhigung gegeben werden? Wie steht es, wenn erst ein Verband entfernt werden muß? Bei all solchen Fragen ergibt die etwas primitive Unterscheidung zwischen außen und innen keinen brauchbaren Gesichtspunkt für die Entscheidung. Äußere Untersuchungen können sehr unangenehm, innere so gut wie beschwerdefrei sein. Nicht unter diesem Gesichtspunkt ist deshalb die — gewiß unumgänglich notwendige — Einschränkung zu suchen, sondern unter dem der Zumutbarkeit (Abs. 1 S. 3); vgl. unten 10. 7. Eine Untersuchung des Geisteszustandes, insbesondere der Glaubwürdigkeit fallt nicht unter diese Vorschrift. Sie kann beim Zeugen nur in der Form erzwungen werden, daß ein Sachverständiger gemäß § 80 einer richterlichen Vernehmung des Zeugen beiwohnt und bei dieser Gelegenheit unmittelbar Fragen an ihn stellt. OLG Hamm JMB1NRW 1957 45 = DRsp. IV (450) 88 b = JZ 1967 186 (L) will freilich gerade diese Form der Untersuchung nicht gestatten; dagegen die völlig zutreffenden Ausführungen von J a n e t z k e NJW 1958 534; BGHSt 23 1; vgl. oben 4 b zu § 80. Das Recht und die Pflicht des Richters ist es bei diesem Verfahren, „ungeeignete" und „nicht zur Sache gehörende" Fragen zurückzuweisen (entspr. § 241 Abs. 2). Fragen, die einem Sachverständigen zur Aufklärung der dem Gericht fraglichen Glaubwürdigkeit des Zeugen geboten erscheinen, gehören allemal „zur Sache". Trotzdem können sie „ungeeignet" sein, z. B. weil sie auf eine Bloßstellung abzielen, die dem Zeugen unter Würdigung aller Umstände nicht zugemutet werden kann. Hier greifen entsprechende Erwägungen Platz, wie bei der Auslegung des § 81 c Abs. 1 S. 3; vgl. unten 10. Alle anderen Maßnahmen zur Ermittlung der Glaubwürdigkeit sind nur zulässig, wenn der Zeuge sich ihnen freiwillig unterwirft, oder wenn, bei mangelnder Reife des Zeugen selbst, sein gesetzlicher Vertreter in sie einwilligt. Das haben B o c k e l m a n n GoldtA 1955 321; B l a u GoldtA 1959 293; J a n e t z k e NJW 1958 534 überzeugend dargelegt; ausdrücklich jetzt auch BGHSt. 13 394 (398) = NJW 1960 419 = LM Nr. 4 zu § 81c StPO mit Anm. von F r ä n k e l ; BGHSt. 14 21 (23)= NJW 1960 5 8 6 = LM Nr. 16 zu § 52 StPO mit Anm. von K o h l h a a s . Entsprechendes gilt auch für die Untersuchung eines Zeugen auf seine Sehfähigkeit, OLG Hamm VRS 21,62. 8. Einwilligung des Betroffenen macht die Prüfung aller bisher erörterten Voraussetzungen entbehrlich. a) Die Einwilligung muß frei gegeben worden sein; ist sie durch Täuschung (z. B. darüber, daß es der Einwilligung gar nicht bedürfe) oder durch Drohung erreicht worden, so ist sie wirkungslos. b) Die Einwilligung muß sich auf die Untersuchung beziehen. Willigt ein Zeugnisverweigerungsberechtigter ein, auszusagen, so gilt das nicht ohne weiteres für eine körperliche Untersuchung, selbst wenn deren übrige Voraussetzungen vorliegen: BGH 4 StR 502/59 vom 15. 1. 1960. c) Der Einwilligende braucht nicht unbeschränkt geschäftsfähig zu sein. Erforderlich und genügend ist, wenn er die geistige Reife besitzt, um Sinn und Tragweite seiner Einwilligung zu verstehen. Andernfalls ist es Sache seines gesetzlichen Vertreters, die Einwilligung zu erteilen oder zu versagen. d) Die Frage der Zumutbarkeit (Abs. 1 S. 3) wird durch die Einwilligung erledigt. Jedoch ist die Einwilligung unwirksam, wenn die Untersuchung trotzdem gegen die guten Sitten verstößt (§ 226 a StGB). Das muß entsprechend auch dann gelten, wenn die Untersuchung nicht gerade den Tatbestand einer Körperverletzung verwirklicht. Der Sittenverstoß kann auch in anderen Dingen bestehen. 532

Siebenter Abschnitt. Sachverständige und Augenschein (Sarstedt)

§ 81C Anm. 9 , 1 0

e)Die Einwilligung ist bis zum Abschluß der Untersuchung frei widerruflich. Was bis zum Widerruf ermittelt ist, bleibt verwertbar. (A.M. E b S c h m i d t Nachtr. zu II Rdnr. 17.) Dies gilt aber nur für die Einwilligung einer Person, die kein Zeugnisverweigerungsrecht hat, hat, und ihren Widerruf. Über Weigerungsberechtigte vgl. unten 9. 9. Das Recht zur Weigerung (Abs. 1 S. 2) entspricht dem Zeugnisverweigerungsrecht des § 52; die §§ 53, 53 a und 54 kommen hier nicht in Betracht, weil das Anvertrauen und das Erfahren von Geheimnissen keine Spuren oder Folgen am Körper hinterläßt. Der Angehörige (§ 52) kann das Zeugnis oder die Untersuchung, er kann auch beides verweigern; darüber muß er gemäß § 52 Abs. 2 S. 1 durch den Richter belehrt werden. Fehlt es an der Belehrung, so ist das Untersuchungsergebnis unverwertbar. Das gilt auch dann, wenn es sich um eine Untersuchung handelt, die der Betroffene schon ihrer Natur nach hätte ablehnen können, auch wenn er nicht zeugnisverweigerung'sberechtigt gewesen wäre: BGHSt. 13 394 = NJW 1960 584 = MDR 1960419 = LM Nr. 4 zu § 81a StPO (mit Anm. von F r ä n k e l ) : „Das Gesetz will nicht, daß jemand zu einem freiwilligen Beweisakt gegen einen verwandten Beschuldigten veranlaßt wird, ohne sich wenigstens der Konfliktlage bewußt gewesen zu sein." A.M. K l M 5a: nur eine angeordnete Maßnahme könne „verweigert" werden (?). § 55 StPO gibt kein Zeugnisverweigerungsrecht, sondern das Recht, die „Auskunft" auf (einzelne) Fragen zu verweigern. Darauf erstreckt sich die Bezugnahme in Abs. 1 S. 2 also schon ihrem Wortlaut nach nicht (a. M. K l M 5; E b S c h m i d t 7). Vor allem aber hätte es gar keinen praktischen Sinn, dem Betroffenen das Recht zuzugestehen, die Untersuchung ausgerechnet mit der Begründung zu verweigern, daß er strafgerichtliche Verfolgung fürchte. Denn mit einer so begründeten Weigerung begäbe er sich ja in die Rolle des Beschuldigten und damit aus dem Geltungsbereich des § 81 c in den für ihn viel unangenehmeren Geltungsbereich des § 81 a. Soweit es sich um die Beantwortung von Fragen handelt, liegt in dem Weigerungsrecht ein guter Sinn; denn insoweit käme der Befragte in der Rolle des Beschuldigten in eine günstigere Lage, weil er in dieser Eigenschaft überhaupt keine Fragen mehr zu beantworten braucht (eben aus diesem Grunde führt die Verweigerung der Auskunft gemäß § 55 so selten zu einem Verfahren gegen den Zeugen). Trägt er aber die Beweismittel gegen sich an seinem Körper, und macht er darauf auch noch zur Begründung seiner Weigerung aufmerksam, so ist es doch geradezu die Pflicht der Strafverfolgungsbehörde, dem nunmehr gemäß § 81 a nachzugehen. Etwas anderes ließe sich allenfalls für den Fall vertreten, daß die Untersuchung gemäß § 55 nicht mit Rücksicht auf den Betroffenen selbst, sondern deshalb verweigert wird, um einen seiner Angehörigen vor Strafverfolgung zu schützen. Dabei scheiden aber die Fälle aus, in denen dieser Angehörige ohnehin schon der Beschuldigte ist; denn hier besteht ja das Weigerungsrecht des § 52. Abgesehen davon werden sich kaum Fälle finden, in denen der körperliche Befund für sich allein (ohne die Aussage des Untersuchten) auf einen Angehörigen als Täter hinweist. — Zum Weigerungsrecht vgl. weiter unten 13. 10. Bei der Frage, ob die Untersuchung dem Betroffenen nicht zugemutet werden kann, kommt es auf eine Würdigung aller Umstände an, Abs. 1 S. 3. Dabei können die persönlichen Verhältnisse der Beteiligten, die Art und Folgen der Untersuchung von Bedeutung sein; wesentlich ist auch, in welchem Verhältnis die Maßnahme zur Bedeutung der Strafsache steht: BGH bei D a l l i n g e r MDR 1956 527. Verteidigt sich jemand, der einer Notzucht oder auch nur einer Verführung beschuldigt ist, mit der Behauptung, die Anzeigeerstatterin sei noch unberührt, so wird ihr eine ärztliche Untersuchung zuzumuten sein; die gleiche Untersuchung wird aber als unzumutbar angesehen werden müseen, wenn sie in einem Privatklageverfahren dem Wahrheitsbeweis (§ 186 StGB) desjenigen dienen soll, der von einem Mädchen aufs Geratewohl behauptet hat, sie sei nicht mehr unbescholten. Es wäre die verkehrte Welt, wenn jemand durch üble Redereien das Recht erwürbe, seine Opfer einer peinlichen Untersuchung auszuliefern, um sich selbst vor einer verhältnismäßig geringen Strafe zu schützen. In solchem Falle muß es in Kauf genommen werden, daß der Wahrheitsbeweis nicht erbracht werden kann und der Angeklagte bestraft wird; in anderen Fällen führt die Unzumutbarkeit zur Anwendung des Grundsatzes „in dubio pro reo". Das Gesetz schreibt nicht vor, daß jede körperliche Untersuchung nur von einem Arzt vorgenommen werden dürfe. Indessen wird es vielfach so liegen, daß nur eine ärztliche 533

§ 81c

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

Anm. 11,12 Untersuchung zumutbar, eine andere unzumutbar ist. Für die Untersuchung einer Frau gilt ohnehin § 81 d, der aber nicht etwa bedeutet, daß jeder Frau jede ärztliche Untersuchung zuzumuten wäre. 11. Abs. 2 ist durch das S.Strafrechtsänderungsgesetz neugefaßt worden. Die frühere Fassung wandte den „Spurengrundsatz" (vgl. oben 4) auch auf die Entnahme von Blutproben an. Das hatte die wunderliche Folge, daß Blutgruppenuntersuchungen nicht zur Feststellung von Meineiden (in Unterhaltsprozessen) benutzt werden konnten; denn die Blutgruppe war weder eine Spur noch eine Folge des Meineids (BGH LM Nr. 1 zu § 81 c StPO mit Anm. von R. N e u m a n n ) . Außerdem konnte eine naheliegende falschliche Anwendung des leicht mißzuverstehenden, völlig verunglückten „Zeugengrundsatzes" (vgl. oben 3) dazu führen, daß man die Entnahme von Blutproben bei Säuglingen (die ja nicht „als Zeugen in Betracht kommen") überhaupt für unzulässig erklärte. Nachdem die angeführte BGH-Entscheidung diesen unbefriedigenden Rechtszustand sichtbar gemacht hatte, ließ die Änderung sich nicht vermeiden. Erfreulicherweise gestattete sie auch andere Abstammungsuntersuchungen und beseitigte wenigstens insoweit den „Zeugengrundsatz" (was auch immer er bedeute) — ohne daß jemand die Befürchtung äußerte, dies könne nun zu Reihenuntersuchungen führen. 12. Untersuchungen zur Feststellung der Abstammung und (zu diesem oder zu anderen Zwecken) die Entnahme von Blutproben (vgl. dazu auch das Schrifttum und die Rechtsprechung zu § 372 a ZPO) sind unter folgenden Voraussetzungen auch ohne Einwilligung zulässig: a) Es darf kein Nachteil für die Gesundheit zu befürchten sein; eine ziemlich überflüssige Bestimmung, denn die Zumutbarkeit hört ohnehin schon auf, ehe die Nachteile für die Gesundheit anfangen. Außerdem sollte die obligatorische Vornahme durch einen Arzt Gesundheitsschäden unmöglich machen, zumal bei Blutproben, die bei sachgemäßer Entnahme höchstens einen Bluter gefährden können, und bei sonstigen Abstammungsuntersuchungen, die — bei den bisher bekannten Methoden — völlig harmlos sind. b) Die Maßnahme muß zur Erforschung der Wahrheit „unerläßlich" sein. Dieser Ausdruck soll nach Ansicht mehrerer Ausleger ( E b S c h m i d t 9; K l M 4 b II) noch strengere Anforderungen stellen als das „muß" des Abs. 1 S. 1. Es muß zugegeben werden, daß der Gesetzgeber sich in seinem Streben nach dem, was er für rechtsstaatlich hielt, bemüht hat, starke Worte zu finden und sein eigenes „muß" noch zu übertrumpfen. Indessen sollte man nicht ganz aus den Augen verlieren, um was es hier eigentlich geht. Der häufigste Fall ist ( S c h w a r z 1 B.b.) „die Blutprobe bei einem Kinde im Meineidsprozeß gegen den angeblichen Schwängerer" oder richtiger, gegen die Kindesmutter; denn da der Schwängerer als Beklagter „Partei" und die Kindesmutter ,Zeugin" im Unterhaltsprozeß ist, und da von solchen rein förmlichen Zufälligkeiten in unserem Lande eine ungemein suggestive Kraft ausgeht, pflegt nicht der (wirkliche oder angebliche) Schwängerer, sondern die Kindesmutter vereidigt zu werden. Und wenn dieses Unglück geschehen, die Aussage durch den Eid aber (was man vorher hätte wissen können) kaum überzeugender geworden, wenn also (mit E b S c h m i d t 9 zu sprechen) „ohne die Blutentnahme eine Wahrheitsforschung ausgeschlossen ist" — dann ist es soweit. Dann entschließt sich der Amtsrichter (lange ehe noch an einen Meineidsprozeß zu denken ist, und trotzdem schon zu spät) zu jenem unerhörten Eingriff in die körperliche Unversehrtheit eines unverdächtigen Staatsbürgers, will sagen, zu der Anordnung, dem Kinde durch einen Arzt aus der Fingerbeere oder dem Ohrläppchen ein Tröpfchen Blut entnehmen zu lassen und ein Abstammungsgutachten einzufordern. Das führt dann zu einem Meineidsprozeß. Da aber eine gewissenhafte Strafkammer eine Verurteilung wegen Meineides nicht auf ein einziges Gutachten stützt (vgl. unten 3 zu § 83), will sie ein zweites einfordern. Doch halt: „erst müssen alle anderen Beweismöglichkeiten geprüft und als ungenügend befunden sein, bevor die Abstammungsuntersuchung oder die Entnahme einer Blutprobe angeordnet werden d a r f ' ! (KMR 4 b II a. E.). Mit anderen Worten: erst muß die Menge der plurium concumbentium ausfindig gemacht worden sein und jeder von ihnen Gelegenheit erhalten haben, auch seinerseits einen Meineid zu leisten, ehe schließlich der Strafrichter von § 81 c Abs. 2 S. 1 den nunmehr „unerläßlichen" Gebrauch machen kann. 534

Siebenter Abschnitt. Sachverständige und Augenschein (Sarstedt)

§ 81C Anm. 13, 14

Wir haben den trockenen Ton verlassen, wir haben uns des an dieser Stelle durchaus ungewöhnlichen Stilmittels der Ironie bedient, damit nichts unterlassen bleibe, um das namenlose Unglück zu bekämpfen, das jahraus jahrein durch allzu sklavische Befolgung einer gut gemeinten, aber allzu doktrinär konzipierten Vorschrift über schwache, aber nicht verworfene Menschen gebracht wird. „Unerläßlich" ist alles, was dazu dienen kann, zu verhindern, daß bisher schuldlose Menschen vor den Schranken des Gerichts, wo sie als Zeugen eine Staatsbürgerpflicht erfüllen, unter Mitwirkung der Richter in Schuld geführt werden. Auch das muß ein Anliegen des Rechtsstaats sein. „Zur Erforschung der Wahrheit unerläßlich" ist es, von einem so einfachen und so unendlich harmlosen, gleichzeitig aber so zuverlässigen Beweismittel wie der Blutprobe so früh wie möglich Gebrauch zu machen, ehe weiteres Unheil geschieht. A.M. E b S c h m i d t Nachtr. zu II Rdnr. 20. Er tritt uns nur für die Blutentnahme bei. Aber da das die einzige Untersuchungsmethode ist, die das Gesetz überhaupt erwähnt, scheint doch praktisch weitgehend Einverständnis zu bestehen. E b S c h m i d t weist auf Maßnahmen hin, die, wie er sagt, dem zu Untersuchenden weit mehr zumuten: Untersuchung der Empfängnisfähigkeit, der Zeugungsfähigkeit, Tragzeitgutachten, genetische Wirbelsäulenuntersuchung usw. Aber diese Maßnahmen sind so selten, wie die Entnahme von Blutproben häufig ist. Ein Fall, in dem die Empfängnisfähigkeit zu untersuchen gewesen wäre, ist uns in drei Jahrzehnten strafrichterlicher Praxis nicht vorgekommen. Das Lehrbuch von Ponsold (3. Aufl. 1967) erwähnt so etwas gar nicht. Im allgemeinen kann man sich bei Feststellung der Abstammung darauf verlassen, daß „mater Semper certa". Untersuchung der Zeugungsfähigkeit ist, darin glauben wir uns mit E b S c h m i d t einig, schlechterdings unzumutbar. „Die Methode der Wahl ist die Masturbation. Bei einem verheirateten Probanden läßt sich der Samen auch durch einen Coitus interruptus und selbst durch einen Coitus condomatus gewinnen... Postkoitale Tests bei der E h e f r a u . . . " ( D o e p f m e r : „Zeugungsfähigkeit" in Ponsold, 3. Aufl. 1967 S. 523) — das sind denn wohl doch alles Dinge, die, noch dazu unter ärztlicher Aufsicht, auch im Namen der Gerechtigkeit wirklich von keinem Menschen verlangt werden können. Wenn D o e p f m e r aaO. die „Verweigerung der notwendigen Untersuchungen" an erster Stelle der bekannten „Betrugsmanöver" aufführt, und wenn er rät, den Probanden darauf aufmerksam zu machen, daß er beweispflichtig ist, so sollte uns das darüber zu denken geben, ob die Juristen den Ärzten bei ihren Untersuchungen nicht etwas mehr auf die Finger sehen müßten. Tragzeitgutachten kommen nur in etwa 10 v.H. der Vaterschaftsprozesse vor ( S t e g m a n n : „Feststellung der Vaterschaft" in Ponsold, 3. Aufl. 1967 S. 509); außerdem sind sie immer zumutbar, denn es handelt sich dabei um reines Papierwerk („Aktengutachten": S t e g m a n n aaO.). Genetische Wirbelsäulenvergleiche sind sicherlich unzulässig; hier steht eine „starke Strahlenwirkung" auf den Probanden einem höchst fragwürdigen Beweiswert gegenüber ( B e i t z k e : „Forensische Bewertung der Vaterschaftsbeweise" in Ponsold, 3. Aufl. 1967 S. 585). Aber alles das sollte nicht auf die Zulassung von Blutproben abfärben. 13. Auch hier hat der Betroffene das Weigerungsrecht des Abs. 1 S. 2 (vgl. oben 9). Es wird gerade hier eher praktisch, weil die Feststellung der Abstammung und die (meist ihr dienende) Entnahme von Blutproben gewöhnlich mit der Verwandtschaft zwischen dem Betroffenen und dem Beschuldigten zusammenhängt. Ist bei Kleinkindern der Angehörige, der in die Gefahr der Strafverfolgung kommen würde, gerade der gesetzliche Vertreter selbst, so ist er an der Entscheidung, ob von dem Weigerungsrecht Gebrauch gemacht werden soll, verhindert; hierfür muß dann vielmehr ein Pfleger bestellt werden. Der Weigerungsberechtigte oder der gesetzliche Vertreter muß durch den Richter (a. M. E b S c h m i d t JR 1959 369) über das Weigerungsrecht belehrt werden. Die Einwilligung ist widerruflich. Vgl. zu alledem BGH St. 12 2 3 5 = JR 1959 3 8 8 = NJW 1959 4 4 5 = MDR 1959 3 1 8 = JZ 1959 3 2 3 = LM Nr. 2 zu § 81c StPO (mit Anm. von B u s c h ) = FamRZ 1959 160= DRsp. IV (449) 25 a—b. Ist die Belehrung unterblieben, so wird dieser Verstoß dadurch geheilt, daß der Zeuge später über sein Zeugnisverweigerungsrecht belehrt wird und dann aussagt: BGHSt. 20 234. 14. Die Anordnung ist in aller Regel Sache des Richters: im Vorverfahren des Amtsrichters, in der Voruntersuchung des Untersuchungsrichters, im Zwischenverfahren der Beschlußstrafkammer, nach Eröffnung Sache des erkennenden Gerichts. Sie geschieht von

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§ 81 C Anm. 15—17 Strafprozeßordnung. Erstes Buch § 81d Amts wegen oder auf Antrag. Die Vorschrift, daß „bei Gefahrdung des Untersuchungserfolges durch Verzögerung" (das ist dasselbe wie die „Gefahr im Verzug" des Abs. 4) auch die Staatsanwaltschaft oder ihre Hilfsbeamten die Anordnung aussprechen können, steht praktisch nur auf dem Papier. Denn wenn der Betroffene einwilligt, bedarf es keiner „Anordnung"; und wenn er sich weigert, geht es doch nicht ohne den Richter. Die einzige Sanktion, die der Ungehorsam gegenüber einer staatsanwaltlichen Anordnung nach sich zieht, ist die durch den Richter zu verhängende Kostenfolge und Ordnungsstrafe (§ 70). Das aber ist kein Mittel gegen die Verzögerung, die ja — wie Abs. 3 es voraussetzt — den Untersuchungserfolg gefährdet. Im übrigen ist der Richter durchaus nicht verpflichtet, diese Folgen auszusprechen; dazu brauchte man keinen Richter. Vielmehr hat er alle Voraussetzungen der Anordnung zu prüfen, und zwar, soweit es dabei um Ermessensfragen geht, nach seinem eigenen Ermessen. Insbesondere kann er bei Ungehorsam gegen eine Anordnung der Staatsanwaltschaft oder ihrer Hilfsbeamten nur dann die Folgen des § 70 aussprechen, wenn zur Zeit der Anordnung nach seiner Ansicht Gefahr im Verzuge lag. 15. Zwang erfordert ausnahmslos eine besondere Anordnung, die nur der Richter erlassen kann (Abs. 4 S. 2). Sie ist von der Anordnung der Untersuchung selbst verschieden und muß zu ihr hinzukommen. Sie setzt entweder Weigerung trotz Ordnungsstrafe oder „Gefahr im Verzuge" (gleich Gefahrdung des Untersuchungserfolges durch Verzögerung) voraus. 16. Rechtsmittel des Betroffenen: Gegen richterliche Anordnungen steht dem Betroffenen in jeder Lage des Verfahrens die einfache Beschwerde zu ( 304): OLG Braunschweig NJW 1954 1052 = NdsRpfl. 1954 73 = DRsp. IV (450) 60d. Sie hat, wenn nicht gemäß § 307 Abs. 2 die Vollziehung ausgesetzt wird, keine aufschiebende Wirkung. Gegen Anordnungen der Staatsanwaltschaft oder ihrer Hilfsbeamten ist die Dienstaufsichtsbeschwerde zulässig, die im Falle der Anordnung eines Hilfsbeamten an die Staatsanwaltschaft geht. Ein noch einfacherer Behelf für den Betroffenen ist der Ungehorsam, der die Anordnung ohne weiteres zur richterlichen Entscheidung bringt. Aus diesem Grunde dürfte hier der Weg der §§23 bis 30 EGGVG (in der Fassung des § 179 VwGO vom 21. 1. 1960 - BGBl. I S. 17, 38 ff.) nicht gangbar sein. 17. Die verfahrensrechtlichen Folgen eines Verstoßes sind je nach dessen Art verschieden. Ist das auf der entsprechenden Anwendbarkeit des § 52 beruhende Weigerungsrecht des Betroffenen unbeachtet geblieben, sei es auch nur dadurch, daß er (oder sein gesetzlicher Vertreter) nicht richterlich über dieses Weigerungsrecht belehrt werden, so darf das Untersuchungsergebnis nicht verwertet werden. Geschieht es dennoch, so begründet der Verstoß, soweit das Urteil darauf beruhen kann, die Revision: BGHSt. 12 235 (Großer Strafsenat; kritisch E b S c h m i d t JR 1959 369). Andere Verstöße (gegen den „Spurengrundsatz", gegen die Zumutbarkeit, das Fehlen sonstiger Voraussetzungen der Anordnung oder ihrer Durchsetzung) kann der Prozeßbeteiligte (Staatsanwalt, Angeklagte usw.) nicht geltend machen: nicht zu seinen Gunsten sind diese Vorschriften gegeben.

§ 81 d (1) Kann die körperliche Untersuchung einer Frau das Schamgefühl verletzen, so wird sie einer Frau oder einem Arzt übertragen. Auf Verlangen der zu untersuchenden Frau soll eine andere Frau oder ein Angehöriger zugelassen werden. (2) Diese Vorschrift gilt auch dann, wenn die zu untersuchende Frau in die Untersuchung einwilligt. Entstehungsgeschichte: Die Vorschrift war im ursprünglichen Text nicht enthalten. Noch die amtliche Begründung zum AG z. Ges. gegen gefahrliche Gewohnheitsverbrecher usw. vom 24. 11. 1933 (vgl. oben zur Entstehungsgeschichte des § 81a) hielt sie für entbehrlich. Gleichwohl wurde sie durch das Vereinheitlichungsgesetz vom 12. September 1950 (BGBl. 455) eingefügt. 536

Siebenter Abschnitt. Sachverständige und Augenschein (Sarstedt)

§ 81 d Anm. 1—3

1. Die Vorschrift sagt etwas Selbstverständliches. Nicht nur das Schamgefühl einer Frau, sondern auch das eines Mannes, übrigens auch die allgemeinen Regeln der Schicklichkeit sind in jeder Lage des Verfahrens (nicht nur bei körperlichen Untersuchungen, sondern auch bei einer „Durchsuchung der Person" gemäß § 102, bei der Einnahme eines richterlichen oder sonstigen Augenscheins und bei jeder anderen Gelegenheit) soweit zu wahren, als es sich mit dem Ermittlungszweck verträgt. Die körperliche Untersuchung einer Frau ist dafür nur ein Beispiel. Weder ist eine Richterin, Staatsanwältin, Polizeibeamtin genötigt, sich den entblößten Körper eines körperlich zu untersuchenden Mannes anzusehen, noch braucht der Mann sich darauf einzulassen. Auch eine Protokollführerin hat Anspruch auf Berücksichtigung ihres Schamgefühls und der Schicklichkeit ihr gegenüber. Ob es sich um eine freiwillige oder eine unfreiwillige Untersuchung handelt, spielt bei alledem keine Rolle (Abs. 2). 2. Indessen ist die Vorschrift in mehrfacher Hinsicht von systematischem Interesse. a) Zunächst ist sie kennzeichnend dafür, daß es im Strafverfahren keinen allgemeinen Grundsatz der „Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme" gibt. Die Unmittelbarkeit braucht vielmehr, von Sondervorschriften wie § 250 abgesehen, nur so weit zu gehen, wie die Aufklärungspflicht sie erfordert. Der Richter braucht deshalb eine Narbe oder eine Tätowierung am Körper eines Beschuldigten oder Zeugen auch dann nicht s e l b s t in Augenschein zu nehmen, wenn der Augenschein aus Gründen der Aufklärung (etwa der Identifizierung) unentbehrlich ist. Insoweit verträgt die Vorschrift eine bedeutende Verallgemeinerung. Der Richter kann sich überall da eines Beweismittlers bedienen, wo ihm selbst die Augenscheinseinnahme aus irgend welchen Gründen (also nicht nur um des Schamgefühls oder der Schicklichkeit willen) nicht möglich ist oder nicht zugemutet werden kann. Andere Beispiele sind Augenscheinseinnahmen an schwer zugänglichen oder gefahrlichen Orten (auf Dächern oder Gerüsten, im Hochgebirge, unter Wasser, unter Tage; auch Blindheit des Richters kann die Heranziehung eines Beweismittlers erforderlich machen). b) Dabei entsteht die Frage, ob der Beweismittler — z. B. die nach Abs. 1 Satz 1 herangezogene Frau oder der Arzt Zeuge oder Sachverständiger ist. Wo der Augenschein selbst (nicht nur das Erreichen des Ortes, an dem der Augenschein eingenommen werden soll) besondere — etwa ärztliche — Sachkunde vorausgesetzt, handelt es sich um einen Fall des Sachverständigenbeweises (Kl M 2). Das ist aber nicht eigentlich der Fall des § 81 d. Hier sind die Fälle gemeint, in denen der Arzt (oder eine Frau) nur zur Schonung des Schamgefühls, nicht um seiner Sachkunde willen herangezogen wird. Der Beweismittler ist weder Zeuge noch Sachverständiger; er ist eine Beweisperson besonderer Art, für die teilweise die Regeln des Zeugenbeweises, teilweise die Regeln des Sachverständigenbeweises gelten. Hinsichtlich der Frage, ob jemand verpflichtet ist, sich dem Gericht als Beweismittler zur Verfügung zu stellen, gelten die Regeln des Sachverständigenbeweises entsprechend. Soweit es also überhaupt keiner Sachkunde bedarf (wie bei der Frau des Abs. 1 Satz 1), trifft keine Frau die Staatsbürgerpflicht, auf Verlangen des Gerichts (der Staatsanwaltschaft, der Polizei) eine andere Frau körperlich zu untersuchen. Die untersuchende Behörde ist vielmehr auf eine Beamtin oder auf eine Freiwillige angewiesen. Sind irgend welche besonderen Fähigkeiten erforderlich (sei es auch nur, um an den Augenscheinsort zu gelangen), so bestimmt sich der Kreis der Verpflichteten nach § 75, der hier nicht unmittelbar, sondern entsprechend anzuwenden ist. Demnach ist der Dachdeckermeister, der Bezirksschornsteinfeger, der Bergführer auf Verlangen des Gerichts verpflichtet, auf dem Dach, dem Schornstein, dem Berggipfel einen Augenschein einzunehmen. Der Beweismittler wird vom Richter ausgewählt (entspr. § 73 Abs. 1); er kann entsprechend § 74 abgelehnt werden. Nachdem er den Augenschein eingenommen hat, wird man ihn im übrigen wie einen Zeugen behandeln müssen, vor allem was nunmehr den Aussagezwang und die Vereidigung angeht. 3. Absatz 1 Satz 2 dient der besonderen Sicherung einer zu untersuchenden Frau gegen Unschicklichkeiten bei der Untersuchung. Es handelt sich um eine Sollvorschrift in dem Sinne, daß aus triftigen Gründen von ihrer Befolgung abgesehen werden darf. Solche Gründe können darin liegen, daß eine Verzögerung eintreten, die Untersuchung gestört (Kl M 3) oder 537

§82 Anm. 1,2

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

ihr Ergebnis in Frage gestellt werden könnte. Die Wahl zwischen Zuziehung einer anderen Frau und Zuziehung eines Angehörigen steht nicht der zu Untersuchenden, sondern dem Untersuchungsführer zu; ebenso die Auswahl der anderen Frau.

§82 Im Vorverfahren hängt es von der Anordnung des Richters ab, ob die Sachverständigen ihr Gutachten schriftlich oder mündlich zu erstatten haben. 1. Soweit es im Vorverfahren einer Anordnung des Richters bedarf, bestimmt er, ob das Gutachten schriftlich oder mündlich zu erstatten ist. Meist kommt es im vorbereitenden Verfahren aber gar nicht zu einer richterlichen Anordnung, nämlich immer dann nicht, wenn Staatsanwaltschaft oder Kriminalpolizei aus eigenem Antrieb Sachverständige heranziehen, gegen die sie des Zwanges nicht bedürfen, und soweit es nicht um Maßnahmen geht, die (etwa gemäß 81 ff.) dem Richter vorbehalten sind. Die Anordnung schriftlicher Begutachtung kann sich aus verschiedenen Gründen empfehlen: etwa zur Erleichterung der Vorbereitung für Gericht, Staatsanwalt und Verteidiger, zur Ermöglichung einer Nachprüfung, auch zur Entlastung des Sachverständigen in den Fällen, für die § 256 eine Verlesung des Gutachtens in der Hauptverhandlung gestattet. 2. Für die Hauptverhandlung gilt der Grundsatz der Mündlichkeit (nicht, wie K l M 3 meinen, der „Grundsatz der Unmittelbarkeit"; einen solchen allgemeinen Grundsatz kennt das Strafverfahren gar nicht, es schreibt Unmittelbarkeit nur in bestimmten Beziehungen vor und sieht vielfach sogar ausdrücklich von ihr ab). Der ausnahmslos geltende Mündlichkeitsgrundsatz verlangt, daß (abgesehen nur von dem in der Hauptverhandlung eingenommenen Augenschein) alles, was zur Urteilsgrundlage werden soll, in der Hauptverhandlung mündlich gesagt (ausgesagt, vorgetragen, verlesen) sein muß. Geschriebenes, auf das nur verwiesen, Bezug genommen wird, gehört nicht zum „Inbegriff der Verhandlung" (§ 261). Die Verlesung, die dem Grundsatz der Mündlichkeit immer genügt, ist aber nicht immer gestattet. Das Gesetz verlangt außer der Mündlichkeit eben bisweilen(!) auch noch die Unmittelbarkeit. Es verlangt sie, was Sachverständigengutachten betrifft, nicht in den Fällen der § 256 und § 251. Die Verlesbarkeit gemäß § 251 Abs. 1 setzt aber (anders als die gemäß § 256 oder § 251 Abs. 2) unter anderem voraus, daß das, was verlesen wird, eine Niederschrift über eine frühere richterliche Vernehmung ist. Eine Vernehmung ist wiederum ein rein mündlicher Vorgang. Die Niederschrift darf deshalb im Bereich des § 251 Abs. 1 nur insoweit in der Hauptverhandlung verlesen werden, als sie ihrem Inhalt nach besagt, daß das, was jetzt verlesen werden soll, seinerzeit bei der Vernehmung mündlich zum Ausdruck gekommen ist; eine schriftliche „Vernehmung" kennt das Strafverfahren nicht. Nicht verlesbar wäre also eine Niederschrift, die ergibt, daß der Sachverständige ein Schriftstück überreicht und erklärt hat, das sei sein Gutachten, der Inhalt sei richtig. Vielmehr muß entweder der Sachverständige dem Richter (oder auch der Richter oder der Protokollführer dem Sachverständigen) das schriftliche Gutachten vorgelesen haben und das Protokoll dies bescheinigen; dann, und nur dann, kann das schriftliche Gutachten als Protokollanlage später in der Hauptverhandlung verlesen werden. Oder der Sachverständige muß dem Richter sein Gutachten mündlich vorgetragen haben und die Niederschrift muß es ohne Bezugnahme enthalten. Auch der in der Hauptverhandlung erschienene Sachverständige muß sein ganzes Gutachten mündlich vortragen, soweit es Urteilsgrundlage werden soll; Bezugnahme auf das schriftliche Gutachten widerspricht dem Mündlichkeitsgrundsatz. Dagegen wird freilich sehr oft verstoßen. Läßt der Verstoß sich beweisen, so begründet er — entweder als Verletzung des § 251 Abs. 1 oder des § 261 — die Revision. Der Mündlichkeitsgrundsatz gilt nur für die Urteilsgrundlagen, nicht für die Feststellung von Prozeß- und Sachurteilsvoraussetzungen oder -hindernissen. Soweit es etwa um die Verhandlungsfähigkeit des Angeklagten geht, kann das Gutachten völlig formlos erstattet und entgegengenommen werden. Wenn etwa der Sachverständige durch seine Sprechstundenhilfe der Geschäftsstelle telefonisch mitteilen läßt, der Angeklagte sei verhandlungsfahig, 538

Siebenter Abschnitt. Sachverständige und Augenschein (Sarstedt)

§ 8 2 Anm. 3 § 8 3 Anm. 1 - 3

so liegt, wenn das Gericht sich damit begnügt, kein Verstoß vor; es ist auch nicht erforderlich, daß die Prozeßbeteiligten verständigt werden. Es handelt sich um einen „Freibeweis" im Sinne von D i t z e n : Dreierlei Beweis im Strafverfahren (1926). 3. Für die Vernehmung des Sachverständigen gibt es, außer dem oben 2 Abs. 1 dargestellten Mündlichkeitsgrundsatz, keine Vorschriften. Im allgemeinen wird der Richter sich an § 69 halten, d. h. den Sachverständigen auffordern, sein Gutachten zu erstatten, und sodann einzelne Fragen folgen lassen. Häufig ist es damit aber nicht getan. Vielfach wird es bei der Vernehmung noch notwendig sein, die gutachtliche Tätigkeit des Sachverständigen zu „leiten" (vgl. die Erläuterungen zu § 78).

§83 (1) Der Richter kann eine neue Begutachtung durch dieselben oder durch andere Sachverständige anordnen, wenn er das Gutachten für ungenügend erachtet. (2) Der Richter kann die Begutachtung durch einen anderen Sachverständigen anordnen, wenn ein Sachverständiger nach Erstattung des Gutachtens mit Erfolg abgelehnt ist. (3) In wichtigeren Fällen kann das Gutachten einer Fachbehörde eingeholt werden. 1. Schrifttum: M e y e r : Die Ablehnung von Beweisanträgen auf Anhörung weiterer Sachverständiger im Strafverfahren, NJW 1958 616; R i c h t e r : Ablehnung von Beweisanträgen auf Anhörung weiterer Sachverständiger im Strafverfahren, NJW 1958 1125. 2. Die Vorschrift will weder die Rechte des Gerichts aus § 73 noch seine Pflichten aus § 244 Abs. 2 und 4 und § 245 einschränken. Sie betont vielmehr nur die Freiheit des Richters in förmlicher Hinsicht („kann"), deren er zur Erfüllung seiner Aufklärungspflicht bedarf. Da Abs. 1 und 2 voraussetzen, daß schon ein Gutachten vorliegt, betreffen sie im allgemeinen ein fortgeschritteneres Stadium des Verfahrens, etwa von der Voruntersuchung bis (einschließlich) zur Hauptverhandlung. Freilich kann der Richter, wenn diese Frage schon im vorbereitenden Verfahren an ihn herangetragen wird, auch hier eine neue Begutachtung anordnen. Solange aber der Staatsanwalt noch der Herr des Verfahrens ist (also vor Erhebung der öffentlichen Klage), wird im allgemeinen praktisch kaum Sinn darin liegen, daß der Richter eine Begutachtung anordnet, die der Staatsanwalt nicht für erforderlich hält; vgl. den Fall O L G Celle HannRPfl. 1946 94. Denn wenn der Staatsanwalt das Verfahren mangels Beweises einstellen will, kann der für die Anwendung des § 83 zuständige Richter ihn ohnehin nicht hindern; und dann wird seine Anordnung gegenstandslos. Und wenn der Staatsanwalt anklagt (eine Voruntersuchung, einen Strafbefehl beantragt), hat der Richter immer noch ausreichend Gelegenheit, von § 83 Gebrauch zu machen. Praktisch werden Anordnungen gemäß § 83 vor Klageerhebung also allenfalls im Haftverfahren oder bei Anwendung der §§ 81 ff. in Betracht kommen; gerade bei § 81 ist aber zu beachten, daß die Sechswochenfrist insgesamt nicht überschritten werden darf (oben 8,9 zu § 81). 3. Ob ein Gutachten „ungenügend" ist, entscheidet das richterliche Ermessen. Diese Voraussetzung muß nicht immer gegeben sein, wenn das Gutachten den Richter nicht überzeugt (a. M. KMR 1). Denn auch wenn es ihn nicht überzeugt, kann es ihm unter Umständen ausreichende Sachkunde vermitteln, um die Frage selbst beantworten, wenn auch vielleicht in anderem Sinne als der Sachverständige (vgl. BGHSt. 8 113). Oder das nicht (im Sinne seines Ergebnisses) überzeugende Gutachten kann dem Richter die Auffassung vermitteln, daß die betreffende Frage sich auch durch neue Begutachtung nicht überzeugend wird klären lassen. Dann braucht er die neue Begutachtung natürlich auch nicht anzuordnen. Andererseits hindert der Umstand, daß der Richter keine Bedenken gegen die Darlegungen des bisherigen Gutachtens zu erheben weiß, ihn keineswegs, dennoch ein anderes Gutachten zu erfordern. Ein Angeklagter, bei dem ein angesehener Sachverständiger die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 StGB — an sich „überzeugend" und durchaus „genügend" — dargetan zu haben scheint, erwirbt dadurch nicht auf Grund des § 83 das Recht, nun ohne weiteres freigesprochen zu werden: BayObLGSt. 1955 262 = NJW 1956 1001. Vielmehr darf der Richter erwägen, ob es nicht angemessen sei, eine wichtige Entscheidung lieber auf mehrere

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§83 Anm. 4 - 8

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

Gutachten zu stützen, etwa durch Sachverständige verschiedener Schulen und Richtungen. Diese auf § 73 beruhende Möglichkeit wird durch § 83 keineswegs ausgeschlossen. 4. Die Vorschrift betrifft nur eine neue Begutachtung derselben Beweisfrage unter den Gesichtspunkten desselben Fachgebiets. Ist etwa die Frage einer Urkundenfälschung von einem Schriftsachverständigen, soweit es dessen Fachgebiet betrifft, schlechthin überzeugend begutachtet worden, so gilt die durch das „kann" des Abs. 1 gewährte richterliche Ermessensfreiheit nicht gegenüber dem Antrage, nunmehr einen chemischen Sachverständigen zu hören, der die Anknüpfungstatsachen des Schriftgutachtens widerlegen oder erschüttern soll: RG JW 1931 949 Nr. 23 mit (insoweit) zustimmender Anm. von v. B e l i n g . 5. Weitere Einschränkungen der Ermessensfreiheit können sich aus dem Inhalt des Gutachtens, aus Beweisanträgen (§ 244 Abs. 4, vgl. die dortigen Erläuterungen) sowie aus der richterlichen Behandlung der begutachteten Frage in Beschluß- oder Urteilsgründen ergeben (vgl. darüber die Kontroverse zwischen M e y e r und R i c h t e r — oben 1 —, in der dem letzteren beizutreten ist). Die Anordnung einer (ersten) Begutachtung spricht immer dafür, daß der Richter sich selbst die erforderliche Sachkunde zunächst nicht zugetraut hat. Ergibt dann das Gutachten, daß der zunächst bestellte Sachverständige sie ebenfalls nicht besitzt, so wird es zum mindesten besonderer Darlegungen bedürfen, aus welchen Gründen keine neue Begutachtung angeordnet worden ist. Ähnliches gilt, wenn das Gutachten innere Widersprüche oder sonstige erkennbare Fehler aufweist; damit wird das Gericht, wenn es ihm trotzdem folgt, sich auseinandersetzen müssen. Ebenso bedarf es einer Begründung, wenn das Gericht einem Gutachten nicht folgt. 6. Dieselben oder andere Sachverständige: Der Plural bedeutet nicht, daß immer nur mehrere Sachverständige in Betracht kommen. Es kann auch eine neue Begutachtung durch denselben oder einen anderen Sachverständigen angeordnet werden. Derselbe wird etwa dann in Betracht kommen, wenn die bisherige „ungenügende" Begutachtung nicht auf mangelnder Sachkunde beruht, sondern auf der Berücksichtigung von Anknüpfungstatsachen, die das Gericht nicht für erwiesen hält. 7. Das Gutachten eines mit Erfolg abgelehnten Sachverständigen darf in keiner Weise verwertet werden; auch nicht etwa in der Form, daß das Gericht aus diesem Gutachten „eigene" Sachkunde gewinnt. In der Regel wird hier die Begutachtung durch einen anderen Sachverständigen nicht zu umgehen sein. Daß sie trotzdem nach Abs. 2 nur angeordnet werden „kann", nicht muß, beschränkt sich auf besondere Fälle, z. B. auf den, daß von mehreren Sachverständigen nur einer mit Erfolg abgelehnt worden ist. Einen anderen Fall behandelt BGH 5 StR 90/60 vom 31.5. 1960. Das Revisionsgericht hob auf, weil ein Ablehnungsgesuch mit Unrecht verworfen worden sei; gleichzeitig wies es den Tatrichter darauf hin, daß er in der neuen Entscheidung vielleicht keines Sachverständigen bedürfen werde, weil es sich bei der begutachteten Frage (Üblichkeit von Geschenken an Beamte) möglicherweise nicht um eine Sachverständigenfrage, sondern nur um eine Rechtsfrage handle. 8. Fachbehörden sind z. B. Fakultäten, Sachverständigenkammern, Industrie- und Handelskammern, Bundesbahndirektionen (OLG Hamm GoltdA Bd. 71 S. 116); vgl. ferner §§ 91, 92. Ihre Verpflichtung zur Begutachtung wird sich, wo besondere Vorschriften fehlen, meist aus der allgemeinen Pflicht der Behörden zu gegenseitiger Amtshilfe ergeben. Was „wichtigere" Fälle sind, entscheidet nicht die Behörde, sondern das Gericht; denn nach dem Zusammenhang, in dem das Wort hier steht, geht es nicht um die Wichtigkeit für die Fachbehörde, sondern für die betreffende Entscheidung. Wo nur Fachbehörden über die erforderliche Sachkunde verfügen, wird von dem Erfordernis der Wichtigkeit ohnehin abgesehen werden müssen. Behördliche Gutachten bieten die Bequemlichkeit, daß sie nach § 256 Abs. 1 stets verlesbar sind.

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Siebenter Abschnitt. Sachverständige und Augenschein (Sarstedt)

§ 84 § 85 Anm. 1

§84 Der Sachverständige wird nach dem Gesetz über die Entschädigung von Zeugen und Sachverständigen entschädigt. Entstehungsgeschichte: Die ursprüngliche Fassung verwies auf die Gebührenordnung für Zeugen und Sachverständige. Die Bundeskostenordnung vom 26. 7. 1957 (BGBl. I S. 861) faßte sie neu und nannte sie Gesetz über die Entschädigung von Zeugen und Sachverständigen (ebenfalls vom 26. 7. 1957 — BGBl. I S. 902). Maßgebend ist jetzt dieses Gesetz in der Fassung vom 1. 10. 1969 (BGBl. I S. 1757). Schrifttum: B r o c k e - R e e s e : Die Entschädigung von Beisitzern, Zeugen und Sachverständigen (2. Aufl. 1964); G ö p p i n g e r : Leistung und Honorierung des Sachverständigen, Der medizinische Sachverständige 1958 81; J e s s n i t z e r : Die Entschädigung des gerichtlichen Sachverständigen (Neufassung 1970 des 20. Abschnitts und „Der gerichtliche Sachverständige" 3. Aufl. 1966); M e y e r - H ö v e r : Gesetz über die Entschädigung von Zeugen und Sachverständigen, 13. Aufl. mit Nachtrag 1969; R e e s e : Probleme bei der Sachverständigenentschädigung, Der medizinische Sachverständige 1958 58; S c h l e y e r : Die angemessene Entschädigung des ärztlichen Sachverständigen, NJW 1958 2094; T s c h i s c h g a l e : Die neuen Bestimmungen über die Entschädigung von Zeugen und Sachverständigen, RPfleger 1958 1; U n d e u t s c h : Die Entschädigung der Sachverständigen für Wege, Reise- und Wartezeiten, Ärztliche Mitteilungen 1958 267.

§85 Soweit zum Beweis vergangener Tatsachen oder Zustände, zu deren Wahrnehmung eine besondere Sachkunde erforderlich war, sachkundige Personen zu vernehmen sind, gelten die Vorschriften über den Zeugenbeweis. 1. Die gute Ordnung rechtswissenschaftlichen Denkens und die Leichtigkeit praktischer Rechtsanwendung sollten es verbieten, besondere Begriffe da zu bilden, wo keine andere rechtliche Regelung gilt als für den übergeordneten allgemeinen Begriff. Gegen diesen einfachen und selbstverständlichen Satz verstößt der Begriff des „sachverständigen Zeugen", den man angesichts der vorstehenden Bestimmung gebildet hat. Der „sachverständige Zeuge" unterscheidet sich rechtlich in nichts von allen anderen Zeugen. Für ihn gelten alle Rechtssätze, die für Zeugen gelten, und kein Rechtssatz aus dem Sachverständigenrecht. Eine juristische Grenzziehung zwischen dem „sachverständigen Zeugen" und anderen Zeugen ist daher weder sinnvoll noch möglich. Das größere oder geringere Maß oder auch die völlige Abwesenheit von Sachkunde bei einem Zeugen ist verfahrensrechtlich (auch für die Entschädigung) völlig unerheblich. Die Vorschrift hat demnach nur den Sinn, die Unterscheidung zwischen dem Sachverständigen einerseits, dem („sachverständigen" oder nicht sachverständigen) Zeugen andererseits zu verdeutlichen. Sie hätte ihren Platz deshalb besser am Kopf des Sechsten oder des Siebenten Abschnittes gefunden, als mitten im Siebenten Abschnitt. Wir haben die Unterscheidung oben 3—5 vor § 72 ausführlich behandelt. § 85 bestätigt ausdrücklich, daß nicht die Sachkunde eine Beweisperson zum Sachverständigen macht, sondern die besondere Art des richterlichen Auftrages. Soweit eine Beweisperson über Einzeltatsachen vernommen werden soll, die sie unabhängig von einem richterlichen (staatsanwaltlichen, polizeilichen) Auftrag wahrgenommen hat, ist sie Zeuge. Ob die Wahrnehmung Sachkunde erforderte, ist gleichgültig. Der nächstliegende und einfachste Fall, in dem die Wahrnehmung nicht vom Auftrage abhängt, ist der vom Gesetz allein erwähnte, daß die Wahrnehmung schon der Vergangenheit angehörte, als die Beweisperson erstmalig als solche in das Verfahren hereingezogen wurde. Dann ist sie allemal Zeuge. Indessen kommt es nicht eigentlich auf die zeitliche Reihenfolge (erst Wahrnehmung, dann Heranziehung) an, sondern auf die Unabhängigkeit der Wahrnehmung vom Auftrag. Sie ist bisweilen auch dann gegeben, wenn die Wahrnehmung dem Auftrag nachfolgt. Macht der zum Sachverständigen Bestellte nach dieser Bestellung Beobachtungen, auf die sein Auftrag sich

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§85 Anm. 2—4

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

nicht (oder nicht wirksam) bezog, so kann er darüber nur als Zeuge vernommen werden. Insoweit kann er also weder abgelehnt noch entbunden werden und muß den Zeugeneid leisten. Über hierauf bezügliche Beweisanträge ist gemäß § 244 Abs. 3, nicht Abs. 4 zu entscheiden. Ob die Beobachtung, über die eine Beweisperson vernommen wird, auch noch zur Zeit der Vernehmung möglich wäre, ist unerheblich. Wird ein Sachverständiger an einen Unfall- oder sonstigen Tatort geschickt, um den Hergang zu rekonstruieren und zu begutachten, so gehören seine späteren Mitteilungen über die (seitdem unveränderte und vielleicht unveränderliche) Beschaffenheit des Unfallorts (Breite, Richtung, Steilheit einer Straße; Beschädigung einer Tür durch ein Geschoß; Sichtmöglichkeiten aus einem Fenster) zum Gutachten. Wird ein Unfall- oder sonstiger Tatzeuge—d.h. jemand, der diese Beschaffenheit des Ortes ohne gerichtlichen Auftrag kennengelernt hat — darüber vernommen, so gehören die nämlichen Angaben zum Zeugnis. 2. Über den Beweismittler (Augenscheinsgehilfen, Quasisachverständigen) vgl. oben 2 zu § 81 d. 3. Weder diese Vorschrift noch andere schließen es aus, daß jemand Zeuge und Sachverständiger ist. Hier ist zunächst an den Fall zu denken, daß ein Zeuge aufgefordert wird, einen von ihm zufallig beobachteten Vorgang nunmehr sachkundig zu begutachten, etwa unter Berücksichtigung weiterer Tatsachen, die im Verfahren ohne seine Mitwirkung ermittelt worden sind. Der als Zeuge geladene behandelnde Arzt wird etwa gefragt, ob die später erhobenen Befunde (chemische, mikroskopische Untersuchungen, Röntgenaufnahmen, Leichenöffnung) ihm Anlaß geben, seine frühere Diagnose zu ändern: das ist eine Sachverständigenfrage! Häufiger und unter verfahrensrechtlichen Gesichtspunkten auch wichtiger ist der umgekehrte Fall, daß ein Sachverständiger über Beobachtungen aussagt, die er (und sei es auch zur Vorbereitung seines Gutachtens!) angestellt hat, ohne durch den Auftrag dazu ermächtigt zu sein. Das wichtigste Beispiel ist, daß er Beweispersonen „vernommen", befragt hat, deren Angaben er in seinem Gutachten verwertet. Eine solche (selbständige) Befragung durfte ihm nicht aufgetragen werden. Sie wird deshalb durch seinen Auftrag selbst dann nicht gedeckt, wenn darin von derart selbständigen Vernehmungen die Rede gewesen sein sollte. Er muß deshalb über den Inhalt solcher Gespräche, soweit sie Anknüpfungstatsachen für das Gutachten ergeben haben oder sonst im Urteil verwertet werden sollen, als Zeuge vernommen werden. Voraussetzung dafür ist aber, daß nicht die Ausübung eines Zeugnisverweigerungsrechts durch den Befragten dessen Angaben überhaupt unverwertbar machen. Vgl. dazu BGHSt. 13 1; 13 250. 4. Der verfahrensrechtliche Unterschied zwischen (sachverständigen oder nicht sachverständigen) Zeugen und Sachverständigen läßt es nicht zu, daß ein abgelehnter Sachverständiger das Gutachten als (sachverständiger) Zeuge erstattet; insoweit ausdrücklich ebenso BGHSt. 20 224. Er fragt sich, ob er nach erfolgreicher Ablehnung auch nicht über solche Tatsachen vernommen werden kann, die er im Rahmen des ihm erteilten Auftrages ermittelt hat. Wir haben diese Frage in der Vorauflage allgemein verneint; BGHSt. 20 223 will sie allgemein bejahen. Dort ging es um einen abgelehnten Sachverständigen, der dann als Zeuge darüber gehört worden war, wie eine von ihm zwecks Beurteilung der Glaubwürdigkeit untersuchte Zeugin ihm das sogenannte Tatgeschehen geschildert hatte. Vgl. dazu die klärende Anmerkung von K o h l h a a s bei LM Nr. 1 zu § 85 StPO. Im Anschluß an ihn wird man unterscheiden müssen. Er meint, ein abgelehnter Psychiater müsse als Zeuge sagen dürfen, daß der Untersuchte ihm ein Glas an den Kopf geworfen habe. Das ist zweifellos richtig, auch nach der hier in der Vorauflage vertretenen Ansicht. Denn diesen Wurf hat der Sachverständige weder „ermittelt", noch lag es „im Rahmen des ihm erteilten Auftrages", sich Gläser an den Kopf werfen zu lassen. Ebenso darf — ein weiteres Beispiel von K o h l h a a s — ein später abgelehnter Prosektor bekunden, daß während der Leichenöffnung ein fremder Mann habe eindringen wollen. Das sind keine Ermittlungen im Rahmen des Sachverständigenauftrages, und es ist auch keinerlei Sachkunde dabei im Spiel. Aber wie steht es mit den Beobachtungen an der Leiche selbst? Der Prosektor hat protokollieren lassen: „Der Schädel sägt sich leicht; Magen ohne ungehörigen Inhalt; Leber ohne Befund." Das sind tatsächliche Beobachtungen und fachmännische Beurteilungen in unauflöslichem Miteinander. Wie könnte man diese Beweisperson, deren sachkundige Ansichten dem Urteil

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Siebenter Abschnitt. Sachverständige und Augenschein (Sarstedt)

§ 86 Anm. 1

nicht zugrundegelegt werden dürfen, veranlassen, bei einer Zeugenaussage von ihrer Sachkunde abzusehen? Die Frage: „Was nennen Sie Angehörigen' Mageninhalt?" wäre doch gewiß eine unzulässige Sachverständigenfrage. Die Frage: „Was haben Sie im Magen gefunden?" dürfte man doch wohl nur stellen, wenn man hinzusetzen könnte: „Sagen Sie aber nicht ,Chymus\ denn das wäre schon wieder ein Gutachten". Erst recht dürfte man nicht fragen: „Sind Sie sicher, daß der Chymus weder Gift noch Abbauprodukte von Giften enthielt?"; denn das wäre erst recht eine Sachverständigenfrage. Und jetzt zeigt sich, was ein abgelehnter Sachverständiger, der als Zeuge nur „über Tatsachen" soll aussagen dürfen, mit einem sachverständigen Zeugen gemeinsam hat. Auch letzterer ist weder verpflichtet noch auch nur berechtigt, bei der Aussage von seiner Sachkunde abzusehen. Einen sachverständigen Zeugen dürfen die Prozeßbeteiligten ohne weiteres fragen, wie er die von ihm beobachteten Tatsachen bei der Beobachtung sachkundig beurteilt hat. Denn diese Beurteilung ist eine der Vergangenheit angehörende innere Tatsache; von der Frage nach ihr kann man weder sagen, sie sei „ungeeignet", noch kann man sie mit der Begründung zurückweisen, sie gehöre nicht zur Sache. Das aber sind die beiden einzigen Gründe, aus denen — bei einer überhaupt zulässigen Vernehmung — nach § 241 Fragen zurückgewiesen werden können. Der sachverständige Zeuge wäre, auch wenn es sich bei ihm um den abgelehnten bisherigen Sachverständigen handelt, verpflichtet, die ganze Wahrheit zu sagen. Man müßte den abgelehnten Prosektor alles fragen können, was man einen ebenso sachkundigen Zufallszeugen fragen könnte, also etwa einen Anatormeprofessor, der bei der Leichenöffnung ohne Auftrag, nur als Freund eines der beiden Ärzte oder des Richters zugesehen hätte. Und dann ließe es sich gar nicht verhindern, daß die Sachkunde des Abgelehnten, seine Angaben über die innere Tatsache seiner damaligen sachkundigen Beurteilung, zur Grundlage des Urteils würden. Es ist auch nichts damit geholfen, daß nunmehr ein anderer Sachverständiger zugezogen wird. Denn es ist möglich, daß die frühere Ansicht des Abgelehnten dem Gericht mehr einleuchtet als das jetzige Gutachten des unbefangenen Sachverständigen. So kann es auch in dem Fall gewesen sein, den BGHSt. 20 223 zu entscheiden hatte. Wenn freilich der Sachverständige die Zeugin nur aufgefordert hat, ihm das Tatgeschehen zu erzählen, und wenn er als Zeuge nichts als eine Nacherzählung geliefert hat, dann trifft die Begründung des Bundesgerichtshofs zu. Aber die Voraussetzung ist doch einigermaßen unwahrscheinlich. Bei jeder Zwischenfrage, die er den Zeugen damals gestellt hat, und die er nun als Tatsache bekundet, muß er gefragt werden dürfen, ja muß er sogar ungefragt sagen dürfen, warum er sie gestellt hat. Und wenn die wahrheitsgemäße(!) Antwort lautet: „weil ich der Zeugin ihre Darstellung unter Berücksichtigung dieser oder jener psychologischen Erfahrung nicht geglaubt habe", wird seine Begutachtung in den Beweisstoff eingeführt, und eben das muß mit der Ablehnung verhindert werden können. Wir halten also unsere Meinung, daß der abgelehnte Sachverständige in dem angegebenen Rahmen nicht als sachverständiger Zeuge vernommen werden darf, nicht für widerlegt. Die lästige Folge ist, daß der Sachverständige, der den Beschuldigten gemäß § 81 in einer Anstalt beobachtet hat, über die Beobachtungen, die er dort angestellt hat, nach erfolgreicher Ablehnung weder als Sachverständiger noch als (sachverständiger) Zeuge vernommen werden kann, und zwar selbst dann nicht, wenn die Sechswochenfrist ganz oder im wesentlichen erschöpft ist, so daß die Anstaltsbeobachtung auch nicht wiederholt werden kann. Diese unbequeme Folge vermeidet BGHSt. 20 223 allerdings.

§86 Findet die Einnahme eines richterlichen Augenscheins statt, so ist im Protokoll der vorgefundene Sachbestand festzustellen und darüber Auskunft zu geben, welche Spuren oder Merkmale, deren Vorhandensein nach der besonderen Beschaffenheit des Falles vermutet werden konnte, gefehlt haben. 1. Schrifttum: A l s b e r g - N ü s e : Beweisantrag S. 372ff. (zum Tonband auch S. 269ff.); F e l d m a n n : Das Tonband als Beweismittel im Strafprozeß, NJW 1958 1166; H a r t n a c k : Nochmals: „Das Tonband als Beweismittel im Strafprozeß", NJW 1958 1478 (mit Schluß543

§86 Anm. 2—4

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

wort von F e l d m a n n ) ; H e n k e l : Die Zulässigkeit und die Verwertbarkeit von Tonbandaufnahmen bei der Wahrheitsforschung im Strafverfahren, JZ 1957 148; H e n k e l : Die Zulässigkeit und die Verwendbarkeit des Tonbandes bei der Wahrheitserforschung im Strafverfahren, in: Tonbandaufnahmen, Zulässigkeit und Grenzen ihrer Verwendung im Rechtsstaat, Bericht über eine Arbeitstagung des Instituts zur Förderung öffentlicher Angelegenheiten (Mannheim 1957) S. 45; K o h l h a a s : Die Tonbandaufnahme als Beweismittel im Strafprozeß, NJW 1957 81; E b S c h m i d t : Die Verwendbarkeit von Tonbandaufnahmen im Strafprozeß, in: Forschungen und Berichte aus dem öffentlichen Recht (Gedächtnisschrift für Walter Jellinek, S. 625ff.; S c h u l z : Tonbandaufnahmen im strafrechtlichen Ermittlungsverfahren, Kriminalistik Januar 1958; S i e g e r t : Die außergerichtlichen Tonbandaufnahmen und ihre Verwertung im Zivilprozeß, NJW 1957 689; S i e g e r t : Die Grenzen rechtmäßiger Tonbandaufnahmen im Strafprozeß, DRiZ 1957 101; S i e g e r t : Verwertung rechtmäßiger Tonbandaufnahmen im Strafprozeß, GoldtdA 1957 265. 2. Die Bezeichnung und die gesetzliche Regelung des Augenscheins ist so verwirrend, daß es zunächst einer logischen Besinnung bedarf. Der Begriff des Augenscheins ist der allgemeinste, der Oberbegriff für die Benutzung aller Beweismittel. Die Bezeichnung darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß es nicht auf die Wahrnehmung von Sichtbarem ankommt. Ob es sich um Beweisaufnahmen durch Sehen, Hören, Riechen, Schmecken, Fühlen handelt, macht keinen grundsätzlichen Unterschied. All diese Wahrnehmungen können als Augenschein vorkommen. Einige (besonders wichtige) von ihnen, die man logisch ebenfalls als „Augenschein" auffassen müßte, sind es verfahrensrechtlich nur deshalb nicht, weil das Gesetz sie unter je einer besonderen Bezeichnung einer besonderen Regelung unterwirft: Zeugenbeweis, Sachverständigenbeweis, Urkundenbeweis — und die Benutzung der Angaben des Beschuldigten. Alle diese Beweismittel wirken auf den Richter durch die Sinne, und zwar nach gesetzlicher Vorschrift (§ 249) durch den Gehörsinn auch da, wo (wie beim Urkundenbeweis) eine Wahrnehmung durch den Gesichtssinn an sich möglich wäre und vielleicht naheläge. Aus dem Gesagten ergibt sich folgende Begriffsbestimmung: Augenschein ist jede Art von Beweisaufnahme, die nicht als Zeugen-, Sachverständigen-, Urkundenbeweis oder Vernehmung des Beschuldigten gesetzlich besonders geregelt ist. 3. Die gesetzliche Regelung des Augenscheins ist mehr als lückenhaft. Vor allem verliert das Gesetz über den wichtigsten Fall, nämlich den Augenschein in der Hauptverhandlung, kein Wort. Die vorstehende Bestimmung, die ohnehin nicht den Augenschein selbst, sondern nur seine Protokollierung regelt, gilt nicht für die Hauptverhandlung, weil hierfür die Sonderbestimmungen der §§ 271—274 getroffen sind. Ebenso regeln die §§ 87—92 nur einige besondere Fälle des Augenscheins, die ihrer Natur nach nur oder fast nur im Vorverfahren vorkommen können. Aus diesem Fehlen einer Regelung ergibt sich, daß jede Art der Beweiserhebung erlaubt (und dann möglicherweise durch die Aufldärungspflicht geboten) ist, soweit nicht besondere Gegengründe dargelegt werden können. Einschränkungen ergeben sich insbesondere aus §§ 81a—81 d. Über Beweisanträge auf Augenschein vgl. § 244 Abs. 5. Diese Vorschrift zeigt besonders deutlich, daß das Verfahrensrecht keinen allgemeinen Unmittelbarkeitsgrundsatz kennt; sinnliche Wahrnehmung durch den Richter wäre in zahlreichen Fällen die unmittelbarste Beweisaufnahme, die sich denken läßt, und gerade zu ihr zwingt das Gesetz den Richter im allgemeinen nicht. 4. Augenschein ist insbesondere das Abhören von Tonbändern, Schallplatten, Filmen usw. Daß das Abspielen von Tonbändern, die eine Aussage tragen, kein Urkundenbeweis ist, ergibt sich daraus, daß man einen solchen Vorgang unmöglich als „Verlesen" bezeichnen kann; das widerstreitet dem Sprachgebrauch und dem, was § 249 meint. Man kann auch nicht sagen, daß der Gedankeninhalt das Tonband zu einer Urkunde im Sinne des § 249 macht (bei § 267 StGB handelt es sich um eine andere Frage) oder wenigstens einen Analogieschluß zum Recht des Urkundenbeweises gestatte. Denn auch bildliche Darstellungen, die unstreitig nur Mittel des Augenscheinsbeweises sein können, weil sie sich nicht verlesen lassen, können einen Gedankeninhalt zum Ausdruck bringen (vgl. z.B. RGSt. 64 121: Christus mit Gasmaske). Die Frage kann jeweils nur sein, ob die Benutzung des Tonbandes in der Hauptverhandlung aus bestimmten Gründen unzulässig ist. Dafür sind zwei Gruppen von Gründen denkbar: 544

Siebenter Abschnitt. Sachverständige und Augenschein (Sarstedt)

§ 86 Anm. 5 , 6

a) Die Entstehung des Tonbandes kann unter verfahrensrechtlichen Verstößen leiden, die es als Beweismittel unverwertbar machen. In Betracht kommen vor allem Verstöße gegen § 136a, insbesondere wohl Täuschung. b) Die Verwertung auch eines einwandfrei entstandenen Tonbandes kann mit Rücksicht auf § 250 unzulässig sein. Soweit die Vernehmung eines Zeugen oder Sachverständigen nicht durch Verlesung von Urkunden ersetzt werden darf, darf sie es auch nicht durch die Einnahme des Augenscheins an Gegenständen, an denen das Wissen der Beweisperson niedergelegt ist. Das ergibt sich nicht nur aus entsprechender Anwendung des § 250 S. 2, sondern unmittelbar aus § 250 S. 1. Zulässig bleibt aber, ebenso wie die Vorlesung von Protokollen, auch die Benutzung von Augenscheinsobjekten, insbesondere also das Anhören von Tonbändern, neben der durch § 250 Abs. 1 gebotenen Vernehmung. 5. Andere Beispiele für Augenscheinsobjekte sind: a) Grundstücke, insbesondere Tatorte. Hier kann die Lage und Beschaffenheit es mit sich bringen, daß § 226 nicht ganz streng befolgt werden kann, weil der Ort nicht alle Teilnehmer an der Hauptverhandlung aufnimmt. Das ist für den späteren Bestand des Urteils dann ebenso unschädlich wie gewisse unvermeidliche Beeinträchtigungen der Öffentlichkeit. Zum Augenschein an Ort und Stelle gehören auch Feststellungen wie die, ob man von einem Punkt sehen oder hören kann, was an einem anderen Punkt vorgeht, oder wie lange man zu Fuß oder mit einem Fahrzeug von einem Punkt zum anderen unterwegs ist. b) Urkunden, soweit die Beweisaufnahme nicht ihren gedanklichen Inhalt, sondern ihre sonstige Beschaffenheit betrifft, z. B. soweit sie Gegenstand einer richterlichen Schriftvergleichung sind (vgl. § 93). c) Lichtbilder, Zeichnungen, Ortsskizzen u. dgl. Das Verfahrensrecht verlangt nicht grundsätzlich, daß der Fotograf, Zeichner usw. als Zeuge vernommen wird; nur je nach Lage des einzelnen Falles kann die Aufklärungspflicht das erfordern. d) Vorgänge, wie z. B. Rekonstruktionen des Tatverlaufs, Schießversuche u. dgl. e) Trinkversuche halten wir für unzulässig (vgl. oben 6 f zu § 81 a). Begrifflich würden sie, soweit sie vor dem Richter stattfanden, Augenschein sein. 0 Personen (Beschuldigte, Zeugen, Dritte) können Augenscheinsgegenstände sein, soweit es darum geht, daß der Richter ihre Beschaffenheit feststellt. Bei Gegenüberstellungen, die der Identifizierung eines Menschen (Beschuldigten, Zeugen) durch einen anderen dienen sollen, handelt es sich im allgemeinen nicht um (richterlichen) Augenschein, sondern um Vernehmungen. 6. Verfahren. a) In der Hauptverhandlung wird der Augenschein von allen Mitgliedern des Gerichts und allen Prozeßbeteiligten gleichzeitig oder, wenn das nicht möglich ist, nacheinander eingenommen. Die Sitzungsniederschrift braucht nur zu vermerken: „ . . . wurde in Augenschein genommen." b) Richterlicher Augenschein vor oder außerhalb der Hauptverhandlung (durch den Amtsrichter gemäß §§ 162, 165, den Untersuchungsrichter gemäß § 187, das beschließende Gericht gemäß § 202, den ersuchten oder beauftragten Richter gemäß § 157 GVG oder § 225) ist der in § 86 geregelte Fall. Zuziehung eines Protokollführers ist für alle diese Fälle zwingend vorgeschrieben; fehlt er, so ist die Niederschrift nicht verlesbar; wird sie dennoch verlesen, so handelt es sich um einen revisiblen Verstoß, der zur Aufhebung führt, wenn das Urteil auf der Verlesung beruhen kann. Dagegen kommt es nicht darauf an, ob die Niederschrift auf dem Fehlen des Protokollführers beruht; ohne ihn ist sie schlechthin unverlesbar. 545

§ 8 6 Anm. 7 § 8 7 Anm. 1,2

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

Denn er muß die Mitverantwortung für den Inhalt des Protokolls übernommen haben. Bei Meinungsverschiedenheiten sind beide Meinungen, die des Richters und die des Protokollführers zu beurkunden (dagegen nicht abweichende Meinungen anwesender Prozeßbeteiligter). Die Anwesenheit ist den Prozeßbeteiligten gemäß §§ 169, 193, 224 gestattet; dem nicht auf freiem Fuß befindlichen Beschuldigten nur bei Terminen an der Gerichtsstelle des Haftortes. Ein brauchbares Augenscheinprotokoll abzufassen, ist nicht leicht. Der Richter (auch der beauftragte Richter!) muß sich dabei vor Augen halten, daß die spätere Verlesung des Protokolls in der Hauptverhandlung den Augenschein muß ersetzen können. Er muß sich deshalb um eine anschauliche Darstellung bemühen, bei der nichts fehlt, was eines der Gerichtsmitglieder für wesentlich halten könnte. Es ist zulässig und wird sich vielfach empfehlen, die wörtliche Schilderung durch Fotografien, Zeichnungen, Skizzen zu ergänzen. Das Gesetz hebt besonders die Notwendigkeit hervor, unter Umständen im Protokoll auch zu erwähnen, was nicht vorgefunden wurde. c) Nichtrichterliche Besichtigungen usw. nennt das Gesetz nicht „Augenschein". Hat also der Staatsanwalt oder die Polizei Beweis durch Benutzung von Augenscheinsobjekten erhoben, so ist der betreffende Beamte als Zeuge zu vernehmen; seine etwaigen Aufzeichnungen sind nicht als Urkunden gemäß § 249 verlesbar (§ 250 Abs. 1). Bedurfte es besonderer Sachkunde und ist deshalb ein Sachverständiger mit der betreffenden Ermittlung beauftragt worden, so gehört der Bericht darüber zum Inhalt des Gutachtens. Diese mittelbare Beweiserhebung an Augenscheinsobjekten ist oft wesentlich bequemer für das Gericht als der richterliche Augenschein. Das Gesetz gestattet diese Mittelbarkeit in weitem Umfang, indem es selbst bei Beweisanträgen den Augenschein in das Ermessen des Gerichts stellt (§ 244 Abs. 5). Freilich ist das Ermessen nicht ohne Schranken; indessen ist vielfach die Besichtigung durch einen beliebigen Dritten völlig ausreichend. Über die für solche Beweismittler" geregelten Rechtssätze vgl. oben zu § 81 d. 7. Über die Beschaffung von Augenscheinsobjekten vgl. §§ 94 ff.

§87 (1) Die richterliche Leichenschau wird unter Zuziehung eines Arztes, die Leichenöffnung im Beisein des Richters von zwei Ärzten, unter denen sich ein Gerichtsarzt befinden muß, vorgenommen. Dem Arzt, welcher den Verstorbenen in der dem Tode unmittelbar vorausgegangenen Krankheit behandelt hat, ist die Leichenöffnung nicht zu übertragen. Er kann jedoch aufgefordert werden, der Leichenöffnung beizuwohnen, um aus der Krankheitsgeschichte Aufschlüsse zu geben. (2) Die Zuziehung eines Arztes kann bei der Leichenschau unterbleiben, wenn sie nach dem Ermessen des Richters entbehrlich ist. (3) Zur Besichtigung oder Öffnung einer schon beerdigten Leiche ist ihre Ausgrabung statthaft. 1. Schrifttum: J a n e t z k e : Die Leichenöffnung, DRiZ 1957 232; P o n s o l d , Lehrbuch der Gerichtlichen Medizin, 3. Aufl. 1967 S. 284 ff. 2. Die Voraussetzungen für Leichenschau und Leichenöffnung ergeben sich aus § 159: Bestehen Anhaltspunkte dafür, daß jemand eines unnatürlichen Todes gestorben ist, oder wird der Leichnam eines Unbekannten gefunden, so ist zur Bestattung die schriftliche Genehmigung des Staatsanwalts oder des Amtsrichters .erforderlich. Wird diese Genehmigung zunächst nicht erteilt, so wird der Staatsanwalt (wenn er es ist, der durch Anzeige der Polizei oder auf andere Weise als erster mit der Sache befaßt wird) beim Amsrichter die Leichenschau oder Leichenöffnung gemäß § 162 beantragen. Die streitige Frage, ob der Amtsrichter im Bereich des § 162 n u r die Zulässigkeit oder auch die Notwendigkeit und Angemessenheit der beantragten Maßnahme nachprüfen kann, ist hinsichtlich der Leichenschau und der Leichenöffnung im zweiten Sinne zu beantworten. Das ergibt sich aus § 159 546

Siebenter Abschnitt. Sachverständige und Augenschein (Sarstedt)

§ 87 Anm. 3—5

Abs. 2: Der Amtsrichter kann den Antrag der Staatsanwaltschaft dadurch gegenstandslos machen, daß er die Leiche kurzerhand freigibt (a. M. J a n e t z k e DRiZ 1957 232, der aber das umgekehrte Recht für den Staatsanwalt in Anspruch nimmt). 3. Leichenschau und Leichenöffnung sind besondere Fälle des richterlichen Augenscheins. Das ergibt sich aus der Stellung der Vorschrift im Gesetz (im Anschluß an § 86) und aus ihrem eindeutigen Wortlaut. Der Ansicht J a n e t z k e s (DRiZ 1957 232), es könne auch eine staatsanwaltliche Leichenschau und Leichenöffnung stattfinden, und seiner Forderung, diese solle die Regel werden, ist nicht zu folgen. Erstens könnte der Richter den staatsanwaltlichen Augenschein dadurch praktisch verhindern, daß er die Bestattung genehmigt (s. oben 2) Zweitens bedarf der Staatsanwalt des Richters ohnehin, sobald eine Beschlagnahme oder (im Falle des § 88) ein Zeugniszwang erforderlich wird. Drittens wäre eine Niederschrift des Staatsanwalts nicht (wie eine richterliche, vgl. oben 6 b zu § 86) in der Hauptverhandlung verlesbar, vgl. oben 6 c zu § 86; die Sachverständigen müßten vernommen werden, u. U. der Staatsanwalt als Zeuge. 4. Leichenschau heißt die richterliche Besichtigung einer Leiche, wenn es nicht zu deren Öffnung kommt. Der Richter entscheidet nach seinem Ermessen, ob er eines (oder auch mehrerer, § 73 Abs. 1) ärztlicher Sachverständiger dabei bedarf. Der oder die Sachverständigen sollten das Protokoll mit unterzeichnen (vor dem Richter und Protokollführer); davon hängt aber bei der Leichenschau (anders als bei der Leichenöffnung, vgl. unten 5) die spätere Verlesbarkeit des Protokolls in der Hauptverhandlung nicht ab, weil ja die Beteiligung des Sachverständigen ohnehin nicht zwingend vorgeschrieben ist. Vgl. im übrigen unten 5 b, c, d. 5. Leichenöffnung. a) Es gibt keinen Fall, für den die Leichenöffnung zwingend vorgeschrieben wäre. So kann sie unterbleiben, wenn die Todesursache ohnehin völlig einwandfrei feststeht (Eisenbahnunfall). Da die endgültige Beweiswürdigung aber nicht dem Amtsrichter, sondern dem später erkennenden Gericht zusteht, sollte er die Leichenöffnung immer dann anordnen, wenn die Auffindung bisher unbekannter Tatsachen nicht ganz ausgeschlossen erscheint (der Bearbeiter hat einmal an einer Leichenöffnung teilgenommen, die zur Aufdeckung eines Schädelbruchs — Folge einer tätlichen Auseinandersetzung — als der Todesursache führte, nachdem der Untersuchte im Krankenhaus zwei Wochen lang nur auf Zuckerkrankheit behandelt worden war; die behandelnden Ärzte hatten die Bewußtlosigkeit nach Gehirnerschütterung mit einem Diabetikerkoma verwechselt). Haben mehrere Personen bei demselben Ereignis den Tod gefunden, so kann sich die Leichenöffnung nach Lage der Sache auf einen oder einige der Toten beschränken. b) Die Leichenöffnung ist eine richterliche Handlung nur, soweit es sich um die Einnahme des Augenscheins handelt. Richter und Protokollführer müssen von Anfang bis Ende zugegen sein und sich überzeugen, daß der Befund, den gewöhnlich einer der Arzte diktiert, mit dem Augenschein übereinstimmt, soweit ein Nichtarzt das beurteilen kann. Vielfach geht der Befund freilich in eine sachverständige Begutachtung über, so z. B. schon, wenn vermerkt wird, dieses oder jenes Organ sei „ohne Befund" oder „ohne ungehörigen Inhalt", oder der Schädel „säge sich leicht". Knochenbrüche, äußere Wunden, Färbungen und vieles andere können aber auch Richter und Urkundsbeamte sehen, und insoweit tragen auch sie die Verantwortung für richtige Protokollierung. (Die Unterscheidung ist sachlich wichtig wegen der Verlesbarkeit des Protokolls in der späteren Hauptverhandlung.) Im übrigen spielt der Richter eine mehr passive Rolle („Beisein"); soweit die Äußerungen der Ärzte gutachtlich sind, nimmt er sie im allgemeinen nur entgegen. Gleichwohl wird an der Auffassung der 20. Auflage, der Richter sei hier zu einer Leitung (§ 78) der Sachverständigentätigkeit nicht befugt, nicht festgehalten. Wäre diese Ansicht richtig, so bedürfte es des Richters gar nicht. So muß der Richter darauf bestehen, daß vor der Leichenöffnung die Identität des Verstorbenen festgestellt wird (§ 88). Ferner können Meinungsverschiedenheiten der beiden Ärzte ihn in die Lage bringen, ihre Tätigkeit „leiten" zu müssen. Er ist 547

§ 8 7 Anm. 6 § 8 8 Anm. 1

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

es, der letztlich darüber entscheidet, ob der behandelnde Arzt zugezogen wird; denn nur er kann dessen Erscheinen erzwingen. Er ist dafür verantwortlich, daß die Ärzte alle drei Höhlen öffnen (§ 89). Auch sonst können während der Leichenöffnung richterliche Anordnungen erforderlich werden; etwa auf Beschlagnahme einer Zahnprothese zum Zwecke späterer sicherer Identifizierung (meist ein untrügliches Mittel!). Da gewöhnlich der Richter, anders als die Sachverständigen, die Ergebnisse der bisherigen Ermittlungen kennt, kann er in die Lage kommen, den Sachverständigen besondere Fragen zu stellen und besondere Untersuchungen aufzugeben (z. B. bedurfte es in dem oben a mitgeteilten Fall der Frage, ob sich Zuckerkrankheit mit Sicherheit als Todesursache ausschließen lasse). Der Richter kann, wenn die Ärzte über die Notwendigkeit oder Angemessenheit zweifeln oder streiten, die Entnahme von Körperflüssigkeiten oder Gewebeteilen zum Zweck späterer Untersuchung anordnen, vgl. § 9 1 . Schließlich muß der Richter bei Beendigung der Leichenöffnung entscheiden, was nunmehr mit der Leiche geschehen soll, insbesondere ob sie zur Bestattung (oder sogar Verbrennung) freigegeben wird. c) Während der ganzen Leichenöffnung, die mit der Besichtigung der Identitätsfeststellung beginnt, müssen der Richter, der Gerichtsarzt, der andere Arzt und der Protokollführer anwesend sein; andernfalls ist das Protokoll in der späteren Hauptverhandlung auch insoweit nicht verlesbar, als es nur den richterlichen Augenschein (vgl. oben b) betrifft. Die 20. Auflage meinte unter Bezugnahme auf eine unveröffentlichte Reichsgerichtsentscheidung (I 924/21 vom 7. 7. 1921), ein Verstoß gegen die Bestimmung, zwei Ärzte zuzuziehen, sei unschädlich, „da das Urteil nicht auf dem Protokoll über die Leichenöffnung, sondern auf dem Ergebnis der Hauptverhandlung beruht". So kann es im Einzelfall sehr wohl einmal liegen, und das wird möglicherweise nicht selten sein. Ist aber das Sektionsprotokoll in der Hauptverhandlung zum Beweis über das Ergebnis eines richterlichen Augenscheins förmlich verlesen worden (was mindestens in den oben unter b dargestellten Grenzen bei vorschriftsmäßig zustande gekommener Leichenöffnung zulässig ist), so kann zwischen dem Beruhen auf der Hauptverhandlung und dem Beruhen auf dem Sektionsprotokoll (und damit auf dem Verfahrensverstoß bei der Leichenöffnung selbst) nicht mehr unterschieden werden. d) Soweit das Protokoll nicht nur einen richterlichen Augenschein, sondern eine sachverständige Begutachtung (über den Unterschied vgl. oben b) beurkundet, ist es nur in den Grenzen des § 251 verlesbar. 6. Die Ärzte, die bei der Leichenschau oder der Leichenöffnung mitwirken, sind Sachverständige, nicht (sachverständige) Zeugen (BGH 3 StR 420/55 vom 12. 1. 1956), weil sie ihre Wahrnehmungen im richterlichen Auftrage machen (vgl. oben 3—5 vor § 72; 1 zu § 72; 1 zu § 85). Werden sie mit Erfolg abgelehnt, so können sie auch nicht als (sachverständige) Zeugen über ihre Wahrnehmungen bei der Leichenöffnung vernommen werden. Vgl. darüber oben 4 zu § 85. Ob im übrigen einer von ihnen oder sogar beide in der Hauptverhandlung vernommen werden müssen, ist eine Frage der Aufklärungspflicht im Einzelfall. Ein allgemeiner Zwang dazu besteht keinesfalls.

§88 Vor der Leichenöffnung ist, wenn nicht besondere Hindernisse entgegenstehen, die Persönlichkeit des Verstorbenen, insbesondere durch Befragung von Personen, die den Verstorbenen gekannt haben, festzustellen. Ist ein Beschuldigter vorhanden, so ist ihm die Leiche zur Anerkennung vorzuzeigen. 1. Die Persönlichkeit des Verstorbenen ist, wenn irgend angängig, vor der Leichenöffnung festzustellen. Ist der Verstorbene dem Richter bekannt, so bedarf es dazu keiner weiteren Maßnahmen. Bei entstelltem Äußeren kann, um eine zuverlässige Identifizierung durch Zeugen zu ermöglichen, zunächst eine sogenannte „Leichentoilette" erforderlich sein: Säuberung, Rasieren, Frisieren, Einspritzen von Glyzerin in eingefallene Augäpfel ( P o n s o l d , Lehrbuch der Gerichtlichen Medizin, 2. Aufl. 1957, S. 280). Ein sehr zuverlässiges Identifizierungsmittel sind oft die Zähne, besonders Zahnprothesen. 548

Siebenter Abschnitt. Sachverständige und Augenschein (Sarstedt) § 8 8 Anm. 2

§§ 89-91 2. Dem Beschuldigten die Leiche vorzuzeigen, ist (trotz des „ist") nur eine instruktioneile Vorschrift ( E b S c h m i d t 2). Ihre Nichtbefolgung kann nur ganz ausnahmsweise verfahrensrechtliche Folgen haben, wenn nämlich infolgedessen die Identität des Verstorbenen nicht einwandfrei festgestellt werden kann (BGH 3 StR 336/53 vom 10. 9. 1953) und die Feststellung der Täterschaft überhaupt etwas mit der Identität des Verstorbenen zu tun haben kann. Dagegen kann umgekehrt die Befolgung des S. 2 zu einem Verstoß gegen § 136 a werden, wenn der Anblick der Leiche geeignet ist, die Willensentschließung und -betätigung des Beschuldigten zu beeinflussen, BGH NJW 1961 84. §89 Die Leichenöffnung muß sich, soweit der Zustand der Leiche dies gestattet, stets auf die Öffnung der Kopf-, Brust- und Bauchhöhle erstrecken. 1. Die Öffnung der drei Höhlen ist auch für den Fall vorgeschrieben, daß die Obduzenten die Todesursache schon vorher gefunden zu haben glauben. Denn selbst wenn insoweit kein Irrtum möglich wäre, werden u. U. noch andere für das spätere Verfahren erhebliche Tatsachen festzustellen sein. Übrigens ist es mit der Öffnung der drei Höhlen nicht immer getan. Je nach dem Ergebnis der Besichtigung und dem Befund im Körperinnern können noch weitere Untersuchungen erforderlich sein. Bei Vergiftungsverdacht vgl. § 91. 2. Ein Verstoß gegen die Vorschrift begründet keine Revision. Das erkennende Gericht hat keinen Einfluß auf die Durchführung der Leichenöffnung und kann im allgemeinen auch keine Ergänzung mehr veranlassen. Verspricht freilich eine Ausgrabung (vgl. § 87 Abs. 3) noch weitere Aufschlüsse (Arsenvergiftung!), so kann ihre Unterlassung als Verletzung der Aufklärungspflicht mit der Revision gerügt werden.

§90 Bei Öffnung der Leiche eines neugeborenen Kindes ist die Untersuchung insbesondere auch darauf zu richten, ob es nach oder während der Geburt gelebt hat, und ob es reif oder wenigstens fähig gewesen ist, das Leben außerhalb des Mutterleibes fortzusetzen. 1. Die Bedeutung der Vorschrift ergibt sich aus der sachlich-rechtlichen Bedeutung des Lebens als Voraussetzung der Tötungsdelikte, insbesondere des § 217, aber auch der §§211 ff., 222. Es versteht sich, daß Kindesleichen gegebenenfalls auch auf Anzeichen für versuchte oder vollendete Abtreibung untersucht werden müssen. Über die verschiedenen Untersuchungsmethoden vgl. P o n s o l d , Lehrbuch der Gerichtlichen Medizin, 3. Aufl. 1967 S. 286 ff. §91 (1) Liegt der Verdacht einer Vergiftung vor, so ist die Untersuchung der in der Leiche oder sonst gefundenen verdächtigen Stoffe durch einen Chemiker oder durch eine für solche Untersuchungen bestehende Fachbehörde vorzunehmen. (2) Der Richter kann anordnen, daß diese Untersuchung unter Mitwirkung oder Leitung eines Arztes stattzufinden hat. 1. Die Sorge für die Giftuntersuchung gehört zur Verantwortung des Richters, der die Leichenöffnung leitet. Nach Anhaltspunkten wird er die Obduzenten fragen; auch können sie im bisherigen Ermittlungsergebnis zu finden sein. Die Auswahl des Chemikers (der Sachverständiger im Sinne der §§ 72ff. wird) oder der Fachbehörde ist ebenfalls Aufgabe des Richters. Die Bestimmung einer Fachbehörde anstelle eines einzelnen Sachverständigen hat den praktischen Vorzug, daß ihr Gutachten in der Hauptverhandlung gemäß § 256 verlesbar ist, während der einzelne Sachverständige vernommen werden muß. 2. Ob ein Arzt bei der chemischen Untersuchung mitwirkt oder sie sogar leitet, bestimmt ebenfalls der Richter. Auch er selbst könnte sie gemäß § 78 leiten.

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§ 9 2 Anm. 1,2 § 9 3 Anm. 1

Strafprozeßordnung. Erstes Buch §92

(1) Bei Münzverbrechen und Münzvergehen sind die Münzen oder Papiere erforderlichenfalls der Behörde vorzulegen, von der echte Münzen oder Papiere dieser Art in Umlauf gesetzt werden. Das Gutachten dieser Behörde ist über die Unechtheit oder Verfälschung sowie darüber einzuholen, in welcher Art die Fälschung mutmaßlich begangen worden ist. (2) Handelt es sich um ausländische Münzen oder Papiere, so kann an Stelle des Gutachtens der ausländischen Behörde das einer deutschen erfordert werden. 1. Die Münzverbrechen und -vergehen sind die im achten Abschnitt des besonderen Teils des Strafgesetzbuchs geregelten Delikte. Ihr Gegenstand ist nicht nur Geld, sondern es sind die in § 149 StGB aufgeführten Papiere, die zum Teil auch von Privatpersonen ausgestellt sein können. 2. Inländisches Geld setzt zur Zeit nur die Deutsche Bundesbank (Frankfurt/Main, Taunusanlage 4—5) in Umlauf. Handelt es sich um Schuldverschreibungen, Zins- oder Erneuerungsscheine des Deutschen Reichs, der Deutschen Reichspost, des Preußischen Staates, der Bundesrepublik Deutschland oder der Deutschen Bundespost, so ist die zuständige Behörde die Bundesschuldenverwaltung in Bad Homburg v. d. H. Außerdem empfiehlt es sich, die Nachrichtensammei- und Auswertungsstelle beim Bundeskriminalamt zu beteiligen. Dort werden eine Falschgeldtypenkartei, eine Geldfalscherkartei, eine Falschgeldverbreiterkartei und eine Ortskartei über Falschgeldfalle geführt. Auch die Landeskriminalämter kommen für Auskünfte und Gutachten in Betracht. Vgl. des Näheren RiStV Nr. 227 bis 239. Die Gutachten aller dieser Stellen können in der Hauptverhandlung gemäß § 256 verlesen werden.

§93 Zur Ermittlung der Echtheit oder Unechtheit eines Schriftstücks sowie zur Ermittlung seines Urhebers kann eine Schriftvergleichung unter Zuziehung von Sachverständigen vorgenommen werden. Schrifttum: A l s b e r g - N ü s e : Der Beweisantrag im Strafprozeß, 2. Aufl. 1956, S. 266; B o h n e : „Mit einer an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit", NJW 1953 1377; D e i t i g s m a n n : Der gerichtliche Schriftsachverständige, JZ 1953 494; D e i t i g s m a n n : Grundlagen und Praxis der gerichtlichen Handschriftenvergleichung (1954); D e i t i g s m a n n : Vom Wesen der Schriftfalschung, NJW 1956 330; D e i t i g s m a n n : Fehlurteile auf Grund von unrichtigen Schriftgutachten, NJW 1957 .1867; F a l c k : Der technische Sachverständige im Strafprozeß, JR 1955 285; F a l c k : Über den gerichtlichen Schriftsachverständigen, JR 1956 255; F e l d e n : Der Beweiswert von Schriftgutachten in der forensischen Praxis (Gött. Diss. 1938); G ö r t h e i m : Wissenschaftliche Graphologie und gerichtliche Schriftidentifizierung (Lübeck 1942); K l a g e s , Ludwig: Handschrift und Charakter, 23. Aufl. 1949; L a n g e n b r u c h : Der Schriftsachverständige, JR 1950 212; M a y e r , R. M.: Gerichtliche Schriftuntersuchung (Berlin-Wien 1933); M e y e r , Georg: Die wissenschaftlichen Grundlagen der Graphologie, 2. Aufl. 1925; P r e y e r : Zur Psychologie des Schreibens, 3. Aufl 1928; S c h e f f l e r : Die Bewertung von Schriftgutachten, DRiZ 1953 141; S c h n e i c k e r t : Leitfaden der gerichtlichen Schriftvergleichung (1918); S p e c h t : Gedanken zur Bewertung von Schriftidentitätsbegutachtungen, GoltdA 1955 129; W i t t l i c h : Angewandte Graphologie, 2. Aufl. 1951. 1. Die Schriftvergleichung, von der die Vorschrift handelt, ist zu unterscheiden a) von der Graphologie. Es geht hier nicht um die Beurteilung des Charakters, auch nicht um die der geistigen oder körperlichen Gesundheit des Schreibers; also weder um die Frage, ob dem Beschuldigten eine bestimmte Tat „zuzutrauen" sei, noch um die graphologische Beurteilung der Glaubwürdigkeit von Zeugen. Dabei ist indessen zweierlei hervorzuheben: Erstens ist der Versuch einer Erforschung auch des Charakters auf Grund der Handschrift, wenngleich das Gesetz sie weder an dieser Stelle noch anderwärts behandelt,

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Siebenter Abschnitt. Sachverständige und Augenschein (Sarstedt)

§ 93 Anm. 2—4

dem Gericht nicht verboten. Daß sich dabei große Vorsicht und Zurückhaltung empfiehlt, braucht kaum hervorgehoben zu werden. Es gibt nur ganz wenige Sachverständige, denen ein derartiges Gutachten anvertraut werden kann; und seine Würdigung setzt voraus, daß der Richter sich (etwa durch Studium der Veröffentlichungen von L. K l a g e s ) etwas mit der Arbeitsweise dieser Sachverständigen vertraut gemacht hat. — Zweitens wird auch die Schriftvergleichung, die den Gegenstand der Vorschrift bildet, bisweilen den Umweg über die Charakterdeutung zu Hilfe nehmen. Sie beschränkt sich ohnehin nicht mehr ganz ausschließlich auf die Befassung mit „Zeichen" (Einzelformen), sondern verwertet auch den Gesamteindruck einer Schrift (das, was L. K l a g e s das „Formniwo" nennt). Zudem ist bei zeitlich weit auseinanderliegenden Vergleichsschriften die Frage, ob eine bestimmte Schriftentwicklung eines und desselben Schreibers möglich und naheliegend sei, nicht immer von der Frage zu trennen, ob eine dem entwickelten Schriftbild entsprechende Charakterentwicklung innerlich wahrscheinlich ist. b) Ferner unterscheidet sich die eigentliche Schriftvergleichung, d. h. die Vergleichung des im Schriftbild sichtbaren fixierten Bewegungsausdrucks, von physikalischen und chemischen Methoden, das Alter, die Freiheit von späteren Verfälschungen, technische Besonderheiten beim Schreiben (Bleistiftspuren unter Tinte, Abdrucke, Paus- oder Kohlepapierspuren usw.), bei einem Schriftstück zu ermitteln. Auch diese Methoden sind erlaubt; nicht selten werden sie auch von den eigentlichen Schriftsachverständigen nebenher angewendet. Insoweit ist jedoch eine Kontrolle durch Physiker oder Chemiker vom Fach möglich und bisweilen angebracht. 2. Ziel einer Schriftvergleichung ist entweder, „Echtheit oder Unechtheit" eines Schriftstücks, oder „seinen Urheber" zu ermitteln. Im ersten Fall geht es um die Frage, ob gerade der anscheinende Urheber der wirkliche Urheber, im zweiten Fall um die umfassendere Frage, wer (von mehreren in Betracht kommenden Personen) der Urheber ist. 3. Als „Anknüpfungstatsachen" braucht der Schriftsachverständige außer dem zu untersuchenden Schriftstück (oder Schriftzug) Vergleichsschriften. Wenn es irgend möglich ist, sollte ein Gutachten sich nicht auf Fotokopien, sondern auf die Originalschriftstücke selbst stützen. Das Vergleichsmaterial muß so reichlich wie möglich beschafft werden, vor allem in Gestalt unbefangen zustande gekommener Schriftstücke. Erforderlichenfalls sind sie zu beschlagnahmen. Besondere Sorgfalt ist auf die Frage zu verwenden, ob die Vergleichsschriften wirklich von dem herrühren, der als ihr Schreiber angegeben wird. Gerade wegen dieser möglichen Ungewißheit ist es wertvoll, wenn der in Betracht kommende Beschuldigte oder Zeuge sich freiwillig bereitfindet, in Gegenwart des Sachverständigen und unter dessen Anleitung neue Vergleichsschriften anzufertigen. Dazu ist jedoch weder ein Beschuldigter noch ein Zeuge verpflichtet; keinesfalls darf ein Zwang ausgeübt werden, abgesehen davon, daß eine unter Zwang zustande gekommene Vergleichsschrift als Grundlage des Gutachtens nur von sehr fragwürdigem Wert wäre. Auch dürfen weder Beschuldigte noch Zeugen durch eine Täuschung darüber, daß das Geschriebene einer Schriftvergleichung zugrunde gelegt werden soll, zum Schreiben veranlaßt werden; das verstieße gegen § 136 a und hätte die prozessuale Unverwertbarkeit der Schriftvergleichung zur Folge. Schließlich empfiehlt sich auch äußerste Vorsicht mit dem Hinweis, daß aus einer Weigerung Schlüsse gezogen werden könnten. Das wäre eine Drohung, die mindestens in bedenkliche Nähe des § 136a führt; denn solche Schlüsse werden nur in seltenen Fällen möglich sein. Gerade Schriftsachverständige sind seit dem Dreyfus-Prozeß so oft und in so aufsehenerregender Weise Irrtümern zum Opfer gefallen, daß mit allgemeinen Mißtrauen gerechnet werden muß. Solches Mißtrauen wird im allgemeinen eine mindestens ebenso naheliegende Erklärung für die Weigerung sein wie die Annahme, ihr liege das Bewußtsein der Schuld zugrunde. 4. Die Auswahl des Schriftsachverständigen bietet ganz besondere Schwierigkeiten. Es gibt auf diesem Gebiet bisher weder eine allgemein geregelte Ausbildung noch eine Abschlußprüfung. Es ist deshalb gerade auf diesem Gebiet unerläßlich, daß sich der Richter

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§ 9 3 Anm. 5—6 V o r § 9 4 Anm. 1 , 2

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

selbst über den Stand der Dinge wenigstens so weit unterrichtet, daß er dem Sachverständigen nicht kritiklos ausgeliefert ist. Unter Umständen bedarf es gerade bei Schriftsachverständigen besonders straffer Leitung (§ 78). Oft wird es sich empfehlen, mehrere Sachverständige zu bestellen und darauf zu achten, daß sie unabhängig voneinander arbeiten. Akteneinsicht sollte ein Schriftsachverständiger im allgemeinen nicht erhalten, damit seine Unbefangenheit erhalten bleibt und sein Gutachten sich wirklich nur auf die Schriftvergleichung stützt. 5. Für die Würdigung von Schriftgutachten seien einige Gesichtspunkte genannt: a) Ein Sachverständiger, der sich auf Fotokopien verläßt, obwohl er die Originalschriften haben könnte, stellt damit seine Sachkunde in Frage: O L G Braunschweig N J W 1953 1035 = JZ 1953 5 1 5 = BB 1953 3 9 8 = NdsRpfl. 1953 1 4 9 = DRsp. IV (454) 62 a, b. b) Fotografisch vergrößerte Einzelbuchstaben oder Teile davon können in ihrer Übereinstimmung auf Laien höchst überzeugend wirken. Dabei können solche Ubereinstimmungen verschiedener (!) Schriften sehr einfache Erklärungen haben (gleiche Schulvorlage, gleicher Lehrer!). c) D a ß jemand seine Schrift verstellt, muß kein Beweis dafür sein, daß er ein bestimmtes Schriftstück gefälscht hat. d) Schriftmerkmale, die dem Schreiber selbst auffallen, sind leichter zu verstellen, als solche, die ihm nicht auffallen: Verhältnis der Oberlängen zur Schrifthöhe, F o r m der iPunkte, Abstriche u. dgl. e) Es ist leicht, steiler, straffer, schulmäßiger, langsamer, kräftiger zu schreiben als gegewohnt; es ist schwer, schräger, gelöster, schneller zu schreiben als sonst. Verstellungen pflegen daher in die erste Richtung zu gehen. Wer gewohnt ist, viele Buchstaben in einem Zuge zu schreiben, findet es nicht schwer, statt dessen öfter abzusetzen; wer oft abzusetzen pflegt, kann nur schwer in einem Zuge schreiben. Die Gewohnheit, i-Punkte und u-Haken entweder sofort beim Schreiben des betreffenden Buchstaben oder erst nach Fertigung des Wortes zu setzen, läßt sich nur schwer umstellen. f) Eine verstellte Schrift wird der unverstellten um so ähnlicher, je länger und je schneller man schreibt. 6. Maschinenschrift kann, obwohl der Gesetzgeber kaum an sie gedacht haben dürfte, ebenfalls Gegenstand einer Schriftvergleichung sein. Eine Schreibmaschine, die mehrere Jahre in Benutzung ist, hat ein völlig individuelles Schriftbild, das leichter und sicherer zu identifizieren ist als eine Handschrift.

ACHTER ABSCHNITT Beschlagnahme, Überwachung des Fernmeldeverkehrs und Durchsuchung Vorbemerkungen 1. Schrifttum: C r a m e r , Das Zeugnisverweigerungsrecht von Presse und Rundfunk, 1968; V a n G e l d e r , Die Verfassungsmäßigkeit der landespresserechtlichen Zeugnisverweigerungsrechte, J Z 1969 658; G r o s s , Zeugnisverweigerungsrecht und Beschlagnahmeprivileg, A r c h P r R 1965 542; K a i s e r , Die Verfassungsmäßigkeit des Zeugnisverweigerungsrechts der Presse, N J W 1968 1260; L ö f f l e r , Presserecht, Band I, Allgemeines Presserecht, 1969; M ö h l , D a s Zeugnisverweigerungsrecht der Presse im Straf- und Disziplinarverfahren, 1963; R e b m a n n - O t t - S t o r z , D a s baden-württembergische Gesetz über die Presse, 1964. 2. Entstehungsgeschichte. Der Abschnitt ist, abgesehen von der Einfügung der §§ 100a, 100b, 101 a, l i l a , weder im Inhalt noch im Wortlaut wesentlich verändert worden. Art. 6 der 4. Verordnung zur Vereinfachung der Strafrechtspflege vom 13. 12. 1944 (RGBl. I 339),

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Achter Abschnitt. Beschlagnahme, Überwachung des Fernmeldeverkehrs und Durchsuchung (Dünnebier)

Vor § Anm. 3—5

der dem Staatsanwalt das Recht einräumte, Beschlagnahmen und Durchsuchungen anzuordnen sowie Briefe zu öffnen, Papiere durchzusehen, ist durch Art. 8 Nr. 40 VereinhG wieder aufgehoben worden. Eine inhaltliche Änderung des § 97 enthält Art. 4 Nr. 12 des Dritten Strafrechtsänderungsgesetzes. Durch Art. 4 des Vierten Strafrechtsänderungsgesetzes ist den §§ 98 und 105 je ein Absatz 4 über Durchsuchung und Beschlagnahme in Anlagen der Bundeswehr angefügt worden. Eingefügt worden sind: § 101a (Notveräußerung) durch Art. 4 Nr. 13 des Dritten Strafrechtsänderungsgesetzes; § l i l a (vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis) durch Art. 3 Nr. 1 des Gesetzes zur Sicherung des Straßenverkehrs vom 19. 12. 1952 (BGBl. I 832); §§ 100a, 100b (Überwachung und Aufnahme des Fernmeldeverkehrs) durch Art. 2 des Gesetzes „zur Beschränkung des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses (Gesetz zu Artikel 10 Grundgesetz) (G 10)" vom 13. 8. 1968 (BGBl. I 949). 3. Inhalt. Hinsichtlich der Beschlagnahme ist Inhalt der Regelung nur die prozessuale Beschlagnahme von Beweis- und Einziehungsgegenständen. Die in den Landespolizeigesetzen geordnete präventiv-polizeiliche Beschlagnahme wird von den prozessualen Bestimmungen nicht berührt (RGSt. 13 44; 21 49; 39 193; 52 118). Die Beschlagnahme verfolgt nur das prozessuale Ziel, eine Beweisführung oder eine künftige Einziehung sicherzustellen; die Gefährdung dieses Ziels ist ihre Voraussetzung. Zu dem Zwecke, künftige Straftaten dadurch zu verhindern oder zu erschweren, daß bestimmte Gegenstände weggenommen werden, ist sie nicht zulässig (IV 6 zu § 94; V 3 zu § l i l a ) . Weitere Vorschriften behandeln die Beschlagnahme des Vermögens (§ 284 Abs. 1, § 290, § 443 Abs. 1) oder von Vermögensbestandteilen (§ 283 Satz 1). Die letztere, hilfsweise die des ganzen Vermögens nach § 284 Abs. 1, dient der Sicherung von Geldstrafe und Kosten im Abwesenheitshauptverhandlungsverfahren (§§ 277 bis 284). Mit dem Mittel der Vermögensbeschlagnahme des § 290 soll ein abwesender Angeklagter, gegen den keine Abwesenheitshauptverhandlung stattfinden kann, zur Gestellung gezwungen werden. Zweck der Vermögensbeschlagnahme nach § 443 ist es, den des Hoch- oder Landesverrats Verdächtigen zu hindern, sein Vermögen zu weiteren gleichen Straftaten einzusetzen (BGHSt. 19 2). Die Durchsuchung (§§ 102 ff.) soll, wie die Herausgabepflicht (§ 95), grundsätzlich eine Beschlagnahme möglich machen und vorbereiten, ist aber auch zulässig, um den Beschuldigten und Verurteilten zu ergreifen; wohl aus diesem Grunde sieht sie die Überschrift nicht als einen Anhang zur Beschlagnahme, sondern als selbständiges Institut an. Die Überwachung des Fernmeldeverkehrs und seine Aufnahme auf Tonträger, jahrzehntelang nicht sonderlich vermißt, verbreitert für bestimmte schwere Verbrechen die Ermittlungsmöglichkeiten. Das Institut, ein Anwendungsfall des § 33 Abs. 4, steht mit Art. 103 Abs. 1 G G in Übereinstimmung. 4. Geltung. Der Abschnitt behandelt — von § 111 a abgesehen — die Beschlagnahme von Beweisstücken und Einziehungsgegenständen, die Durchsuchung und die Überwachung des Fernmeldeverkehrs zum Zwecke der Strafverfolgung, gilt also grundsätzlich für die Zeit vom ersten Angriff bis zur Rechtskraft des Urteils, doch sind einzelne auf die Durchsuchung bezügliche Bestimmungen schon anwendbar, bevor ein Verfahren gegen einen bestimmten Beschuldigten begonnen hat (2 a zu § 102) und andere noch für die Strafvollstreckung (2 b zu § 102). 5. Die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis (§ l i l a ) steht nur in einem sehr losen Zusammenhang mit der Beschlagnahme und gehört nicht eigentlich in diesen Abschnitt. Zwar ist in § 111 a Abs. 3 auch von der Beschlagnahme die Rede, doch ergänzt die Beschlagnahme nur die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis und bestimmt nicht den Inhalt des Instituts. Dieser ist von der Beschlagnahme grundsätzlich unterschieden. Während die Beschlagnahme von Einziehungsgegenständen sonst die künftige Einziehung sichert und nur zu diesem Zwecke zulässig ist, verlegt die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis die künftige Urteilswirkung weit voraus in eine Zeit, in der sie ihre Wirkung besser zu entfalten vermag als nach Jahr und Tag, wenn die Erlaubnis einmal rechtskräftig entzogen sein wird. Die Maßnahme, die am ehesten der Untersuchungshaft gegen Sittlichkeitstäter bei Wieder-

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Vor § 94 Anm. 6, 7

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

holungsgefahr (§112 Abs. 3) ähnelt, weicht damit so sehr von der Beschlagnahme ab, daß § 111 a als ein eigener Abschnitt anzusehen ist; den §§ 94 bis 111 kann zu seiner Auslegung nichts entnommen werden. 6. Reform. Die Vorschriften über die Beschlagnahme sind nicht einwandfrei gefaßt. Unter dem Wort Beschlagnahme ist bald die richterliche Anordnung, bald der Verstrickungsakt zu verstehen. Die Durchsuchungsgegenstände sind in den §§ 102 bis 104 ohne Grund unterschiedlich bezeichnet. Unklar ist auch, warum nur in § 104 von der Wiederergreifung eines entwichenen Gefangenen die Rede ist, nicht aber in den §§102 und 103. Die Stellung des § 109 ist unsystematisch. Bei einer Reform wird auf eine Verwendung klarer Begriffe Bedacht zu nehmen sein. Außerdem sollte in einer besonderen Bestimmung angeordnet werden, daß der gesamte Abschnitt, nicht nur der Teil über die Durchsuchung, auf die Strafvollstreckung Anwendung findet. § 13 des Fernmeldeanlagengesetzes wäre angepaßt in die Strafprozeßordnung zu übernehmen. Bei der Überwachung des Fernmeldeverkehrs sollten die Rechtsmittel dahin verbessert werden, daß auch bei prozessualer Überholung die Nachprüfung der Rechtmäßigkeit zulässig bleibt, und ungesetzlich erlangte Beweismittel zu vernichten und damit als Beweismittel auszuscheiden wären (7 zu § 100 b). Bei der vorläufigen Entziehung der Fahrerlaubnis wird der Gesetzgeber zu entscheiden haben, ob er die Vorwegnahme einer künftigen Entziehung der Fahrerlaubnis durch die Polizei auf der Straße, die die Rechtsprechung durch eine Verzerrung des Begriffs der „Gefahr im Verzug" eingeführt hat (V 3 zu § 111 a), gesetzlich sanktionieren oder verwerfen will. 7. Beschlagnahme bei der Presse. Die Beschlagnahme bei Presseangehörigen (Redakteuren, Verlegern, Druckern usw.; ebenso beim Rundfunk) wird durch die Verweisung in § 97 Abs. 5 an das Zeugnisverweigerungsrecht geknüpft. Dieses ist in § 53 Abs. 1 Nr. 5 und 6 geregelt. Außerdem aber sind Zeugnisverweigerungsrecht 1 und Beschlagnahme 2 bei Presse und Rundfunk landesrechtlich geordnet. Im Gegensatz zu K o h l h a a s (IV 2 b zu § 53) wird hier die Auffassung vertreten, daß die Bestimmungen der Landespressegesetze geltendes Recht sind und daß mit ihrem Inkrafttreten § 53 Abs. 1 Nr. 5 und 6 und § 97 Abs. 5 außer Kraft getreten sind. Die wohl noch überwiegende Meinung 3 schlägt Zeugnisverweigerung und Beschlagnahme bei der Presse zu dem gerichtlichen Verfahren, weil es nicht nur das Pressestrafrecht, sondern alle Arten der Rechtsdurchsetzung berühre ( C r a m g r 15). Daraus wird gefolgert: Als Verfahrensrecht unterliegt es der konkurrierenden Gesetzgebung des Bundes (Art. 74 Nr. 1 GG). Da der Bund mit den §§ 53, 97 von seinem Gesetzgebungsrecht Gebrauch gemacht hat, haben die Länder keine Befugnis zur Gesetzgebung (Art. 72 Abs. 1 GG). Die Landespressegesetze sind daher, soweit sie Zeugnisverweigerung und Beschlagnahme bei der Presse regeln, mangels Zuständigkeit der Länder nichtig. G r o s s schließt sich dem Ausgangspunkt an, gibt aber den Ländern die Gesetzgebungskompetenz, weil § 53 Abs. 1 Nr. 5 und § 97 Abs. 5 gegen Art. 5 Abs. 1 und 2 G G verstießen, daher nichtig seien, und die durch die Nichtigkeit entstandene Lücke nach Art. 72 Abs. 1 G G von den Ländern (als landesrechtliches Verfahrensrecht) ausgefüllt werden dürfe (ArchPrR 1965 544; NJW 1968 2369). Dieser Ansicht stehen zwei Erwägungen entgegen: Bei Grundrechtswidrigkeit kann nur das Bundesverfassungsgericht die Nichtigkeit aussprechen. Das hat es nicht getan. Denn § 53 Abs. 1 Nr. 5 und § 97 Abs. 5 sind nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zwar nicht verfassungskonform, aber auch nicht wegen (völliger) Verfassungswidrigkeit nichtig (BVerfGE 20 1 8 9 = NJW 1966 1608). 1

Baden-Württemberg: § 23 Abs. 1 bis 3; Bayern: § 12; Berlin: § 18 Abs. 1 und 2; Bremen, Niedersachsen, Rheinland-Pfalz, Saarland, Schleswig-Holstein: § 2 3 Abs. 1; Hamburg: § 2 2 Abs. 1; Hessen: § 22 Abs. 1 und 2. 2 Baden-Württemberg: § 23 Abs. 4; Bremen, Niedersachsen, Rheinland-Pfalz, Saarland, SchleswigHolstein: § 2 3 Abs. 4; Hamburg: § 2 2 Abs. 2; Hessen: § 2 3 Abs. 1. Beschlagnahme in Redaktionsarchiven usw.: Baden-Württemberg: § 23 Abs. 5; Bremen, Niedersachsen, Rheinland-Pfalz, Saarland, Schleswig-Holstein: § 23 Abs. 2; Hamburg: § 22 Abs. 2; Hessen: § 23 Abs. 1 3 IV 2 b zu § 53; v a n G e l d e r 700; C r a m e r 16; R o x i n § 36 B II 1 e

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Achter Abschnitt. Beschlagnahme, Überwachung des Fernmeldeverkehrs und Durchsuchung (Dünnebier)

^or § Anm. 7

M ö h l hält das Zeugnisverweigerungsrecht und das Beschlagnahmeprivileg bei Presseangehörigen zwar für Presserecht (43, 106), sieht aber § 53 Abs. 1 Nr. 5 (und § 97 Abs. 5) als verfassungswidriges (103), aber nicht nichtiges (105) — Bundesrahmengesetz i. S. des Art. 75 Nr. 2 G G an. Von anderen Einwänden abgesehen ist dem die fehlende Intentionalität des Gesetzgebers entgegenzuhalten, nur für das Zeugnisverweigerungsrecht und das Beschlagnahmeprivileg ein Presserechtsrahmengesetz inmitten der Strafprozeßordnung zu erlassen. Wie M ö h l und G r o s s hält auch K a i s e r § 53 Abs. 1 Nr. 5 wegen Verstoßes gegen Art. 5 Abs. 1 Satz 2 G G für verfassungswidrig und entgegen der von M ö h l und hier vertretenen Ansicht auch für nichtig. Doch hätte es dieses Umweges nicht bedurft, weil er, was er hilfsweise erörtert, das Zeugnisverweigerungsrecht zu Recht dem Presserecht zuordnet. Für die Zuordnung einer Materie, die mehreren Sachbereichen unterfallt, kommt es darauf an, den Sinn zu ermitteln, den das Grundgesetz verfolgt, wenn es ein Sachgebiet besonders benennt, von dem Teile schon in anderen Sachgebieten enthalten sind 4. Ein Vorrang des Bundesrechts ist dabei nicht anzuerkennen 5 . Oft wird darauf abgestellt, mit welchem Kompetenzbereich die engere Verbindung besteht, doch sollte präziser gefragt werden, welche Materie durch die fragliche Bestimmung am stärksten in ihrem Wesen betroffen wird. Dazu kann die gelegentliche Äußerung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE 7 3 9 = NJW 1957 1355), entscheidend für die Einordnung einzelner Vorschriften in die Materie Presserecht sei „die besondere Eigenart der durch die Presse begangenen D e l i k t e " , nicht als abschließende Stellungnahme angesehen werden. Bei der Verjährungsfrage, die das Bundesverfassungsgericht zu prüfen hatte, bot es sich an, auf die Eigenart des Delikts abzustellen; die Prüfung, ob nicht die Eigenart der I n s t i t u t i o n den Ausschlag geben müsse, konnte unterbleiben. Das Gericht erkennt aber klar, daß die Eigenart des Delikts aus der „spezifischen Begehungsform" folgt, die wiederum auf der „besonderen Situation der Presse" beruht. In Wirklichkeit kommt es daher auf die Eigenart der Institution „Presse" an, von der das Bundesverfassungsgericht nur einen Teilaspekt zu behandeln brauchte. Was für die Verjährung gilt, gilt erst recht für Zeugnis und Beschlagnahme. Denn wichtiger als die Ruhe (Verjährung) ist für die Presse die Aktivität. Dieser dient die Nachrichtenbeschaffung, der „freie Fluß der Quellen", der vom Recht der Zeugnisverweigerung und Beschlagnahmebeschränkung so ausschlaggebend abhängt, daß ohne Anonymität der Mitarbeiter „ein guter Teil der Wirksamkeit der periodischen Presse brachgelegt" würde (Abg. v. S c h w a r z e , RTVerh., II LegP, 1. Sess., 3 261). Zeugnisverweigerungsrecht und Beschlagnahmerecht machen die Pressefreiheit, die „schlechthin konstituierend ist" (BVerfGE 10 1 1 8 = NJW 1960 29), entweder durch angemessene Regelung erst wirksam oder lähmen sie bei mangelhafter Ausgestaltung. Sie gestalten daher das Presserecht, sind Teil von ihm, als solcher aufs engste mit ihm verbunden und daher der Materie Presserecht zuzuordnen 6. Auf den Begriff des Herkömmlichen, dem auch R e b m a n n - O t t - S t o r z (Einl. 19) und L ö f f l e r (1 Kap. 4 17 Abs. 2) nur einen Indizwert einräumen, ausschlaggebend abzustellen, ist unangemessen ( M a l l m a n n JZ 1964 77), weil damit die Entwicklung abgeschnitten würde, die ja auch durch das Grundgesetz gefördert werden sollte und, wie die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts erweist, gefordert worden ist. Zudem fragt es sich, wie bei allen historischen Argumenten, wo man mit der Historie anfangt. Denn die Regelung des Zeugnisverweigerungsrechts in Pressegesetzen war zwar nicht verbreitet, einigen Ländern und dem Reichstag aber nicht fremd ( M ö h l 24, 25). Der Umstand, daß in benachbarten, aber verschiedenen Ländern zugehörenden Städten zu Lasten der Praktikabilität verschiedenes Recht gelte, ist ggf. eine Folge der Kompetenzverteilung, aber kein verfassungsrechtliches Argument. Es kann nicht herangezogen werden, die Frage zu klären, welche Katalogmaterie vom Zeugnisverweigerungsrecht und von dem Beschlagnahmeprivileg der Presseangehörigen am stärksten betroffen wird. Aber auch abgesehen davon wird es gegen die Zuweisung der Materie zum Presserecht zu Unrecht ins Feld 4 5 6

K l e i n III 7 e 2 vor Art. 70. M a u n z - D ü r i g 25 bis 32 zu Art. 70. L ö f f l e r 4 17; R e b m a n n - O t t - S t o r z Einl. 18 bis 23; K l e i n V 3 b zu Art.75.

555

Vor § 94 Anm. 8

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

geführt. Denn die Ungleichheiten können, wo sie anstößig sind, durch die Rahmengesetzgebung beseitigt werden. Wo sie bleiben müssen, entsprechen sie als Ausdruck der kulturellen Länderhoheit dem föderalen Prinzip. Nach diesen Erwägungen gehören das Zeugnisverweigerungsrecht und das Beschlagnahmeprivileg für Presse und Rundfunk zum Presserecht und damit nach Art. 70 GG, da weder in Art. 73 noch in Art. 72 G G aufgeführt, zur gesetzgeberischen Zuständigkeit der Länder. Anders als die Grundrechtswidrigkeit ist die Kompetenzwidrigkeit auch ohne Ausspruch des Bundesverfassungsgerichts alsbald zu beachten. Daher sind mit dem Inkrafttreten der Landespressegesetze § 53 Abs. 1 Nr. 5 und § 97 Abs. 5 in den einzelnen Ländern außer Kraft getreten. Dagegen wird man nicht annehmen können, daß sie schon mit Inkrafttreten des Grundgesetzes außer Kraft getreten sind. Denn sie waren als Verfahrensrecht gesetzt und haben daher — anders als § 22 PressG —, nicht als Landespresserecht fortgegolten. Vielmehr wird man bei gemischten Materien zugestehen müssen, daß die Regelung auf einem Gebiet, wohin sie als Nebenmaterie a u c h gehört, solange zulässig ist, als der für die Hauptmaterie zuständige Gesetzgeber sie nicht für sich in Anspruch genommen hat. So erklärt sich auch, daß das Bundesverfassungsgericht § 53 Abs. 1 Nr. 5 als verfassungsmäßig (wenn auch nicht verfassungskonform) angesehen hat (BVerfGE 20 189 = NJW 1966 1608), solange keine Landesgesetze in Kraft getreten waren, aber den Vorrang der Landesgesetze zur Erwägung stellt, sobald dies geschehen war (BVerfGE 2 1 5 1 ; BVerfGE 25 304 = NJW 1969 1019). 8. Beweisverbote. Soweit das Gesetz Beweiserhebungsverbote enthält (§ 96: „darf nicht gefordert werden"; § 9 7 Abs. 1: „Der Beschlagnahme unterliegen nicht"; § 9 7 Abs. 3: „ist die Beschlagnahme unzulässig") sind sie am einschlägigen Ort (5 Abs. 1 zu § 96; V 1 zu § 97) nebst den daraus folgenden Beweisverwertungsverboten (5 Abs. 3 zu § 96; V 4 zu § 97) erläutert. Die neuere Rechtsprechung leitet Beweisverbote aber auch aus dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ab (Einl. Kap. 12 IV). Denn prozessuale Zwangsmaßnahmen greifen in der Regel in Grundrechte ein. Der Eingriff bedarf der gesetzlichen Grundlage. Diese ist in der Strafprozeßordnung vorhanden. Indessen ist die Beziehung zwischen dem Grundrecht und dem einschränkenden Gesetz, wie das Bundesverfassungsgericht mehrfach ausgesprochen hat, nicht als einseitige Beschränkung der Geltungskraft des Grundrechts durch diese Gesetze aufzufassen. Vielmehr findet eine Wechselwirkung in dem Sinne statt, daß die einschränkenden Gesetze zwar dem Wortlaut nach dem Grundrecht Schranken setzen, ihrerseits aber aus der Erkenntnis der wertsetzenden Bedeutung, die dem Grundrecht zukommt, ausgelegt und so in ihrer das Grundrecht begrenzenden Wirkung selbst wieder eingeschränkt werden müssen (BVerfGE 7 209 = NJW 1958 258; 20 177 = NJW 1966 1605; 25 55 = NJW 1969 739). Demzufolge ist bei jeder strafprozessualen Maßnahme zwischen den Erfordernissen der Strafverfolgung und der Erhaltung des Grundrechts abzuwägen. Schlägt diese Abwägung zugunsten des Grundrechts aus, dürfen in der Strafprozeßordnung vorgesehene Beweise nicht erhoben, oder wenn das geschehen ist, nicht verwertet werden. Die klassischen Beweiserhebungsverbote verzichten aus verschiedenen Erwägungen (Einl. Kap. 12 IV) darauf, von anderen einzuholende Beweise zu erheben (§§ 96, 97) oder Erkenntnismittel zu verwerten, die mit unzulässigen Methoden erlangt worden sind (§ 136 a). Das Vorgehen gegen den Beschuldigten selbst bleibt dagegen — von § 136 a abgesehen — unbeschränkt (I, IV 6 zu § 97 mit Fußn. 13). Wird dagegen das Beweisverbot aus dem Grundsatze der Verhältnismäßigkeit hergeleitet, können dadurch auch Maßnahmen gegen den Beschuldigten eingeschränkt werden. Der Gesetzgeber selbst verfahrt so, wenn er die Überwachung des Fernmeldeverkehrs nur bei schwereren Straftaten zuläßt (§ 100 a), die Untersuchungshaft bei Bagatelldelikten weitgehend ausschließt (§ 113) und ihre Anordnung ganz allgemein dem Verhältnismäßigkeitsprinzip unterstellt (§112 Abs. 1 Satz 2; § 120 Abs. 1 Satz 1, zweiter Halbsatz; dazu auch BVerfGE 19 3 4 7 = NJW 1966 244). Die Rechtsprechung hat den „nicht belanglosen" körperlichen Eingriff der Liquorentnahme nach § 81 a Abs. 1 in einer „Bagatellsache" nicht für gerechtfertigt angesehen (BVerfGE 16 203 = NJW 1963 1598), ebenso nicht die Verwertung eines Tagebuchs, weil „kein so bedeutendes Tatunrecht vorliegen" konnte, „daß ein Zurückstellen des Rechtes der Angeklagten an ihrer Intimsphäre gerechtfertigt wäre" (BGHSt. 19 334 und zur Abwägungsfrage 556

Achter Abschnitt. Beschlagnahme, Überwachung des Fernmeldeverkehrs und Durchsuchung (Dünnebier)

§ 94

D ü n n e b i e r MDR 1964 968). Endlich hat das Bundesverfassungsgericht entschieden, daß bei Durchsuchungen und Beschlagnahmen in Redaktionsräumen das Redaktionsgeheimnis zu berücksichtigen ist (BVerfGE 20 189 = NJW 1966 1608), wobei die eine Auffassung den Schutz des Redaktionsgeheimnisses durchschlagen ließ, weil der Verdacht des inneren Tatbestandes gering war (202 = 1610), und es zudem unwahrscheinlich war, daß für die Erhärtung dieses Verdachts Beweismaterial gefunden werden könnte (204 = 1611), während die die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts tragende Auffassung den Erfordernissen des Staatsschutzes Vorrang zuließ (219= 1614). Die aus dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit abgeleiteten Beweisverbote sind mit großer Unsicherheit behaftet. Soweit als möglich sollte der Gesetzgeber die Abwägung selbst vornehmen, wie er das z. B. in § 97 und in den Pressegesetzen, wenn dort auch verschieden, getan hat. Wo der Gesetzgeber Beweisverbote aufgestellt hat, sind sie absolut; die Abwägung zwischen den verschiedenen Interessen hat der Gesetzgeber vorgenommen. Richter und Beamte haben sie auch dann anzuwenden, wenn die Abwägung für den Einzelfall sinnwidrig erscheint, z. B. wenn ein Mord nicht aufgeklärt werden kann, weil die schriftliche Mitteilung zwischen dem Beschuldigten und einem mit ihm in der Seitenlinie im zweiten Grade Verschwägerten nicht verwertet werden darf, obwohl die Ehe, die die Schwägerschaft begründet hat, seit Jahren nicht mehr besteht und vielleicht nur kurze Zeit bestanden hat. Wo dagegen dem Richter die Abwägung überlassen ist, muß er auf die Schwere des Delikts, dessen Aufklärung bei Beachtung eines Beweisverbots verhindert würde, des Unrechts und des Verdachts Bedacht nehmen (Einl. Kap. 12 IV Abs. 2)7. Die Verletzung bloßer Formvorschriften begründet kein Verbot, die erlangten Beweise zu benutzen. Die Strafprozeßordnung enthält für ein Verbot keinen Hinweis 8 . Die Überlegung, daß bei richtiger Handhabung grundsätzlich das gleiche Ergebnis erzielt wäre, spricht gegen ein Verbot, zulässige Beweismittel zu verwerten, wenn sie unter Verletzung von Formvorschriften erlangt worden sind ( N i e s e 135, 136, 139). Ein beschlagnahmter Gegenstand ist daher auch dann zu verwerten, wenn der Staatsanwalt seine Beschlagnahme angeordnet hat, obwohl keine Gefahr des Beweisverlustes im Verzuge war (vgl. III 2 b Abs. 2 zu § 98); wenn er bei der Beschlagnahme rechtsirrig als mögliches Beweismittel angesehen worden ist, diese Eigenschaft aber in Wirklichkeit erst durch spätere Gestaltung der Prozeßlage erlangt hat; wenn bei der Beschlagnahme die sachlichen Voraussetzungen nicht vorgelegen haben, aber nachträglich eingetreten sind. Wird bei einem vermeintlichen Täter nach einem Gegenstand gesucht, so ist der gefundene auch dann als Beweismittel verwendbar, wenn der von der Durchsuchung Betroffene in Wirklichkeit eine „andere Person" (§ 103) war, und keine Anhaltspunkte bestanden hatten, daß die gesuchte Sache sich in den zu durchsuchenden Räumen befinde.

§94 (1) Gegenstände, die als Beweismittel für die Untersuchung von Bedeutung sein können oder der Einziehung unterliegen, sind in Verwahrung zu nehmen oder in anderer Weise sicherzustellen. (2) Befinden sich die Gegenstände in dem Gewahrsam einer Person und werden sie nicht freiwillig herausgegeben, so bedarf es der Beschlagnahme. Schrifttum: F r i e d r i c h s , Einziehung und Beschlagnahme in der Rechtsprechung des Reichsgerichts in Strafsachen, JW 1924 260; Z i t z l a f f , Zur Lehre von der Beschlagnahme von Druckschriften, GA 54 42.

7

8

Beispiele für Abwägung, wenn die Schweigepflicht einschlägt: OLG Celle NJW 1963 406; 1965 362; L e n k n e r NJW 1965 3 2 7 , Zust. R o x i n § 36 B II 2; a. A., zum Teil wohl als Folge eines Mißverständnisses — „nachträgliche Rechtfertigung durch Erfolg" - O t t o G A 1970 305.

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§94 Anm. 1 1 , 2

Strafprozeßordnung. Erstes Buch Übersicht

I. Gegenstände der Sicherstellung 1. Gegenstände 2. Ausgenommene Gegenstände II. Sicherstellung von Beweismitteln 1. Untersuchung 2. Bedeutung 3. Sachen III. Sicherstellung von Einziehungsgegenständen 1. Beschlagnahmevoraussetzung 2. Einziehungsgegenstände

3. Pressebeschlagnahme IV. Sicherstellung 1. Begriff 2. Verwahrung 3. Geschäftsmäßige Behandlung 4. In anderer Weise 5. Beschlagnahme 6. Legalitätsprinzip V. Auskunft

I. Gegenstände der Sicherstellung. 1. Das Wort Gegenstände stimmt mit dem Begriff in § 40 StGB überein. Wie schon bisher auf Teilgebieten (BGHSt. 9 184) umfaßt der Ausdruck, im Gegensatz zur alten Fassung des § 40 S t G B n i c h t nur körperliche Gegenstände (Sachen) sondern auch Rechte (Forderungen, Bankguthaben, Miteigentumsanteile). Das folgt auch aus dem Zweck der Beschlagnahme, Beweismittel bereitzustellen und eine künftige Einziehung zu sichern, so daß die Beschlagnahme alles umfassen muß, was als Beweismittel in Betracht kommt und was der Einziehung unterliegt. Für die Beweismittel ist das freilich ohne Bedeutung. Denn mit unkörperlichen Gegenständen kann kein Beweis geführt werden. Ob ein Recht besteht, kann zwar für die Untersuchung von Bedeutung sein; der Beweis dafür ist aber außer durch Zeugenaussagen mit körperlichen Gegenständen (Urkunden, Büchern, Schriftwechsel) zu führen. Wohl aber können, wie neben anderen Vorschriften namentlich § 40 Abs. 2 Nr. 1 („zustehen") und § 40 a Nr. 1 StGB („die Sache oder das Recht") erweisen, Rechte Einziehungsgegenstände sein ( B o d e N J W 1969 1052). Wie im einzelnen noch darzulegen sein wird, können sein Beweismittel alle beweglichen und unbeweglichen Sachen, Einziehungsgegenstände alle beweglichen und unbeweglichen Sachen, schuldrechtliche Forderungen und dingliche Rechte; Tiere, Tierkörper und menschliche Leichen zählen zu den Sachen. Ob Forderungen und Rechte zu den Einziehungsgegenständen gehören, ist nach der Vorschrift des sachlichen Rechts zu entscheiden, nach der der Gegenstand eingezogen werden soll. Danach ist auch festzustellen, ob Eigentum des Täters Einziehungs- und damit Beschlagnahmevoraussetzung ist. Als Einziehungsgegenstände sind auch Gegenstände anzusehen, die dem Verfall, der Unbrauchbarmachung, der Vernichtung oder der Tötung unterliegen. 2. Ausgenommene Gegenstände. Von der Beschlagnahme ausgenommen sind Gegenstände, die sich im Gewahrsam von Exterritorialen, d. s. die Missionschefs (Botschafter, Legaten und Nuntien, Gesandte, außerordentliche Gesandte und Geschäftsträger), ihre Familien, und ihr nichtdeutsches Personal, oder in Konsulatsarchiven 2 befinden (§§ 18, 19 GVG; D a h m Völkerrecht 1 315, 325, 341, 369). Soweit der Abgeordnete nicht verfolgbar ist (Art. 46 Abs. 1 GG), ist auch keine Beschlagnahme zulässig. Soweit die Strafverfolgung der Genehmigung des Parlaments bedarf (Art. 46 Abs. 2), dürfen Beschlagnahmen nicht angeordnet und durchgeführt werden, bevor diese Genehmigung erteilt ist3.

' B G H S t . 2 338; 8 214; 19 163. Art. 33 des Wiener Abkommens; Gesetz zu dem Wiener Abkommen vom 2 4 . 4 . 1963 über konsularische Beziehungen vom 26. 8. 1969 (BGBl. II 1585). ' B o c k e l m a n n , Die Unverfolgbarkeit der Abgeordneten nach deutschem Immunitätsrecht, S. 50; v. M a n g o l d t - K l e i n IV 5 b zu Art. 46. 2

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Achter Abschnitt. Beschlagnahme, Überwachung des Fernmeldeverkehrs und Durchsuchung (Dünnebier)

§ Anm. II 1, 2

II. Sicherstellung von Beweismitteln. 1. Untersuchung. Eine Sache darf sichergestellt werden, wenn sie als Beweismittel für die Untersuchung von Bedeutung sein kann. Untersuchung ist das gesamte Strafverfahren unter Einschluß des Sicherungsverfahrens. Es beginnt mit dem ersten, in der Regel polizeilichen (§ 163 Abs. 1), Zugriff. Dabei kann die erste Untersuchungshandlung durchaus auch die Sicherstellung (Verwahrung), Beschlagnahme oder Durchsuchung sein (OLG Celle NJW 1963 407). Es endet mit der Einstellung (§ 170 Abs. 2; nicht § 205), der rechtskräftigen Ablehnung der Eröffnung des Hauptverfahrens (§ 204 Abs. 1) oder der Außerverfolgungsetzung (§ 204 Abs. 2), oder einem rechtskräftigen (BayObLGSt. 20 228) Urteil, das auf Freispruch, Verurteilung, Anordnung einer Maßregel der Besserung oder Sicherung (§ 260 Abs. 1) erkennt, mit einem auf Einziehung lautenden Urteil (§ 431 Abs. 1) oder Beschluß (§ 431 Abs. 4), oder einem auf Einstellung lautenden Urteil (§ 260 Abs. 1), wenn der Einstellungsgrund nicht alsbald behebbar (Mangel der Anklage oder des Eröffnungsbeschlusses) ist und behoben wird. Im übrigen beendet das Einstellungsurteil wie auch die staatsanwaltschaftliche Einstellung die Möglichkeit der Sicherstellung; sie beginnt erneut, wenn das Verfahren wieder fortgesetzt wird. Im Wiederaufnahmeverfahren ist die Sicherstellung zulässig, auch wenn die Rechtskraft des angegriffenen Urteils noch nicht durch eine Entscheidung nach § 370 Abs. 2 beseitigt worden ist (RGSt. 35 352; 57 317), ja selbst wenn ein Wiederaufnahmeverfahren vorbereitet wird (OLG Breslau GA 59 172; BayObLG DRiZ 1931 49). Die Strafvollstreckung gehört nicht mehr zur Untersuchung (OLG Rostock GA 54 104; S c h n e i d e w i n LZ 1922 182). Die Untersuchung umfaßt auch das Privatklageverfahren4, nicht jedoch, da für dieses kein vorbereitendes Verfahren vorgesehen ist, dessen Vorbereitung. Eine Beweissicherung (Beschlagnahme eines beleidigenden Briefes) findet also vor Erhebung der Privatklage nicht statt. Jedoch kann die Staatsanwaltschaft in dem Verfahren zur Prüfung, ob die öffentliche Klage im öffentlichen Interesse zu erheben sei (§ 376), Ermittlungen anstellen (Nr. 76 Abs. 3 RiStBV) und dazu auch Beweismittel sicherstellen. Dieses staatsanwaltschaftliche Verfahren gehört zur Untersuchung. Ordnet der Richter vor Eröffnung des Hauptverfahrens nach § 383 Abs. 1 Satz 1 in Vbdg. mit § 202 Abs. 1 einzelne Beweiserhebungen an, so gehört auch dieser Abschnitt zur Untersuchung, so daß die Sicherstellung von Beweismitteln zulässig ist. 2. Bedeutung als Beweismittel hat ein Gegenstand, wenn die Möglichkeit besteht, ihn im staatsanwaltschaftlichen oder gerichtlichen, subjektiven oder objektiven (RGSt. 44 279) Verfahren zur Ent- oder Belastung des Beschuldigten — nicht nur in der Beweisfrage, sondern z. B. auch in bezug auf die Haftgründe (OLG Hamburg NJW 1967 166) — zu verwenden 5 . Die genannte Möglichkeit darf nicht fernliegen, doch kommt es im Hinblick auf die Ungewißheit des Beweisergebnisses und auf die Entwicklung des Prozesses nicht darauf an, ob der Gegenstand später als Beweismittel benutzt wird und ob er, wenn das geschieht, beweiserheblich ist (BGHZ JZ 1962 610). Im einzelnen muß die Möglichkeit bestehen, mit dem Gegenstand beweisen zu können ein Handeln (Tun oder Unterlassen) des Beschuldigten; sein Wissen und Wollen in bezug auf die Tat und ihre Umstände; seinen Aufenthalt nach Zeit und Ort in bezug auf die Tat und ihre Umstände aber auch zum Zwecke der Strafverfolgung (BayObLGSt. 20 227); ein auf die vorgenannten Umstände bezogenes Handeln, Wissen oder Wollen eines anderen; oder eine mündliche oder schriftliche Äußerung darüber oder über deren Wahrheit oder Unwahrheit. Dafür können u. a. auch Schriftstücke in Betracht kommen, die von Personen, die an der Tat unbeteiligt sind, an ebensolche Unbeteiligte gerichtet worden sind (RG DRiZ 1927 1802). Die Bedeutung für das Verfahren besteht schon, wenn eine noch zu schaffende Verfahrensvoraussetzung, wie Strafantrag (§ 61 StGB), behördlicher Antrag (§ 122b Abs. 3 StGB), Ermächtigung (z. B. § 90 Abs. 4, § 90b Abs. 2, § 97 Abs. 3, § 104a Satz 1, § 197 4

5

B e l i n g § 104 II; E b S c h m i d t 5 vor § 94; M i i l l e r - S a x 1 c vor § 94; einschränkend K l 5 B zu § 384; F e i b e r NJW 1964 710; a. A. S a n g m e i s t e r NJW 1964 16. Enger — Beschlagnahme auch von Beweismitteln n u r für künftiges g e r i c h t l i c h e s Verfahren zulässig — BGHSt. 9 355, doch bot der Fall nur Veranlassung, sich mit Einziehungsgegenständen zu befassen.

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§94 Anm. II 3; III 1

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

Satz 2, § 353 a Abs. 2, § 353 b Abs. 4, § 353 c Abs. 4 StGB) oder ein Strafverlangen (§ 104a Satz 1 StGB) noch nicht vorliegt (RGSt. 33 381). Sie ist'nicht gegeben, wenn feststeht, daß die fehlende Verfahrensvoraussetzung nicht geschaffen wird, alle Antragsberechtigten z. B. auf Strafantrag verzichtet haben, oder wenn ein Prozeßhindernis, wie die Verjährung (§ 66 StGB), unbehebbar eingetreten ist (RGSt. 6 37). S. jedoch wegen der Immunität der Abgeordneten I 2. 3. Sachen. Nach dem Untersuchungszweck ist der Ausdruck Beweismittel im weitesten Sinne zu verstehen. Er umfaßt alle beweglichen und unbeweglichen Sachen, die i. S. der Nr. 2 bedeutungsvoll sind, sei es, weil sie selbst Beweismittel sind (Tatwerkzeuge, durch die Tat erlangte, hervorgebrachte oder veränderte Sachen), sei es, weil sie Beweismittel an sich tragen, die nicht (Blut, Fingerabdrücke), nicht alsbald (von Vieh verschluckte Beweisgegenstände) oder schwer (zerstörte Maschinenteile) von an sich beweisunerheblichen Sachen trennbar sind, sei es, weil mit ihrer Hilfe, z. B. mit an sich beweisunerheblichen Schriften oder Schuhen, bewiesen werden kann, daß ein anderer Gegenstand, z. B. eine gefälschte Urkunde, oder eine Spur (Schuhabdruck) beweiserheblich ist. Zu diesen Sachen zählen u. a. Tatwerkzeuge, Kleidungsstücke, Fahrzeuge oder Teile von ihnen, Schriftstücke, Druckschriften, Vieh, Tierkörper und Grundstücke, wie etwa der gesamte Tatort. Dagegen fallen Gegenstände, die nicht zum Nachweise der Tat oder des Täters sondern nur der Untersuchung darüber dienen können (Anklageschrift bei Verlust der Akten), nicht unter die untersuchungsbedeutsamen Sachen (a.A. R G J W 1923 17). Auf das Eigentum an den Sachen, auf eine unmittelbare Beziehung zum Täter und auf die Prozeßrolle des Besitzers kommt es nicht an. Daher können auch Schriftstücke beschlagnahmt werden, die Unbeteiligte verfaßt, in ihrem Besitz behalten oder an andere Unbeteiligte gesandt haben (RG DRiZ 1927 1082), oder auch solche Schriftstücke, die sich in der Hand des Privatklägers befinden (LG Altona J W 1925 2822). Der menschliche Körper ist kein Beweismittel i. S. des § 94. Die „Beschlagnahme" in der Form des persönlichen Arrestes, um Deliktsspuren zum richterlichen Augenschein zu bringen oder verschluckte Beweismittel wieder zu erlangen, ist im Rahmen des achten Abschnittes unzulässig; der Gebrauch des menschlichen Körpers zu Beweiszwecken ist in § § 8 1 a b i s 8 1 d abschließend geregelt. Abgetrennte Teile des menschlichen Körpers (Haare) und Körperinhalte (Blut, Sperma, Kot, Mageninhalt) sind dagegen wie Sachen beschlagnahmefähig, wenn sie vom Körper abgegeben zur Verfügung stehen; ihre Gewinnung dagegen richtet sich ausschließlich nach §§ 81 a bis 81 d. Dem Körper eingefügte Kunstteile sind als Teil des menschlichen Körpers von der Beschlagnahme ausgenommen; ihm angefügte Teile (Gebiß, zum Schmuggeln benutztes Kunstbein) sind beschlagnahmefähig, wenn auch äußerste Rücksicht zu walten hat und der Weg der bloßen Untersuchung in aller Regel vorzuziehen ist. Leichen und Leichenteile, auch Föten, fallen unter die beschlagnahmefähigen Beweismittel ( M ü l l e r - S a x 1; K l 1). III. Sicherstellung von Einziehungsgegenständen. 1. Beschlagnahmevoraussetzung. D a die Einziehung nur durch gerichtliche Erkenntnis (§ 260 Abs. 1, § 407 Abs. 2 Nr. 1, § 440) angeordnet werden kann, dient die Sicherstellung von Einziehungsgegenständen allein der Sicherung der künftigen Vollstreckung einer Einziehungsanordnung. Die Gefährdung der Urteilsvollstreckung ist daher — ungeschriebene — Voraussetzung der Sicherstellung, die — wie jeder belastende Akt — nur bei gebotener Notwendigkeit zulässig ist. Im Gegensatz zur Sicherstellung eines Beweismittels — die auch zulässig ist, wenn die Staatsanwaltschaft ein Entlastungsbeweismittel nur für ein staatsanwaltschaftliches Verfahren bis zur Erschöpfung des Anklageerzwingungsverfahrens (§ 172, § 174 Abs. 2) benötigt — setzt die Sicherstellung eines Einziehungsgegenstandes die Absicht der Staatsanwaltschaft voraus, ein gerichtliches Verfahren, sei es durch Anklage, sei es durch Antrag auf Einziehung im objektiven Verfahren, zu betreiben (BGHSt. 9 355). Daß sie das tun werde, ist grundsätzlich anzunehmen. In bezug auf die Untersuchung ist Voraussetzung der durch tatsächliche Anhaltspunkte gestützte Verdacht des Unternehmens 560

Achter Abschnitt. Beschlagnahme, Überwachung des Fernmeldeverkehrs und Durchsuchung (Dünnebier)

§ 94 Anm. III 2

einer strafbaren Handlung 6 , wegen deren die Möglichkeit besteht, daß das zur Entscheidung berufene Gericht auf die Einziehung erkennen werde (LG Wiesbaden MDR 1951 631). Demzufolge ist die Beschlagnahme nicht nur dann zulässig, wenn die Einziehung ausgesprochen werden muß (z. B. § 92b Abs. 2 Satz 1, § 152, § 285b Satz 1 StGB), sondern auch dann, wenn ihre Anordnung zwar im Ermessen des Gerichts steht 7 , aber zu erwarten ist. Daß ein Gegenstand der Einziehung unterliege, ist auch bei fehlenden aber noch zu schaffenden Verfahrensvoraussetzungen regelmäßig anzunehmen. Es gilt das II 2 Abs. 2 Ausgeführte entsprechend. Im Gegensatz zu den Beweismitteln kann bei den Einziehungsgegenständen das Eigentum dann eine Rolle spielen, wenn die Einziehung nur zulässig ist, falls der Einziehungsgegenstand dem Täter gehört (z. B. § 40 Abs. 2 Nr. 1; anders § 92 b Abs. 2 StGB). 2. Einziehungsgegenstände. Die Vorschrift spricht von Gegenständen, die der Einziehung unterliegen. Sie bezeichnet damit den Hauptfall (§ 40 StGB), bezieht sich aber nach dem Zweck der Beschlagnahme auf alle Fälle, in denen das Eigentum an einem vorhandenen Gegenstand oder eine Forderung durch rechtskräftiges Urteil von Rechts wegen auf den Staat übergeht, oder in denen ein Gegenstand zur Vollstreckung (Vernichtung) in unveränderter Form erhalten bleiben muß. Anwendung findet die Sicherstellung zur Einziehungssicherung daher, vorzüglich aber beispielsweise, auf folgende Fälle: Einziehung nach § 40 StGB von körperlichen, beweglichen und unbeweglichen Sachen, Forderungen und Rechten (§ 40 a Nr. 1 StGB), die durch ein Verbrechen oder ein vorsätzliches Vergehen hervorgebracht oder zu ihrer Begehung gebraucht worden oder bestimmt gewesen sind. Einziehung nach § 92 b Abs. 1, § 101 a Abs. 1, § 109 k Abs. 1, § 132 a Abs. 4 StGB von Gegenständen, die durch bestimmte mit Strafe bedrohte Handlungen hervorgebracht oder zu ihrer Begehung gebraucht worden oder bestimmt gewesen sind; sowie eines für die Begehung bestimmter Handlungen empfangenen Entgelts, soweit dieses wie bei Sachen, dinglichen Rechten und schuldrechtlichen Forderungen, unverändert durch eine Zwangsvollstreckung erfaßt werden kann; Einziehung nach § 109k Abs. 1, § 152, § 285b, § 295 Abs. 1, § 296a Abs. 2 StGB von Falschmünzergerät, Diebeswerkzeug, Spieleinrichtungen und Spielgeld, Jagd-, Fischereiund Fanggeräten sowie Hunden und anderen Jagdtieren; nach § 399 Abs. 4, § 401 Abs. 2 AO von Erzeugnissen, anderen Sachen, Beförderungsmitteln, Steuerzeichen sowie Fälschungsgeräten und -mittein; nach § 123 Abs. 1, § 124 Abs. 3 BranntwMonG von Branntwein, Branntweinerzeugnissen, Beförderungsmitteln und beweglichen Sachen, die zur Regelung oder Vorbereitung einer Monopolhinterziehung oder -hehlerei bestimmt waren oder benutzt worden sind; Einziehung nach § 7 WiStG und nach § 13 LebensmittelG von Gegenständen, nach § 10 TierschutzG von Tieren, auf die sich bestimmte Straftaten beziehen; Einziehung nach § 39 AußenWiG, worunter nach § 4 Abs. 2 Nr. 1 auch Forderungen und Rechte fallen (vgl. für das M R G 53 BGHSt. 9 184): Verfall nach § 335 StGB des bei einer Bestechung empfangenen Vorteils, soweit dieser, wie bei Sachen, Forderungen und Rechten, noch in Natur vorhanden ist und durch eine Zwangsvollstreckung erfaßt werden kann 8 . Ist das Empfangene nicht mehr vorhanden, dann liegt der im letzten Absatz behandelte Fall der Abführung des Wertes vor; Unbrauchbarmachung nach § 4 1 Abs. 1 Satz 2 StGB 9 von Schriften, Abbildungen und Darstellungen eines bestimmten Inhalts; Vernichtung nach § 13 Abs. 1 LebensmittelG, § 28 WeinG von Gegenständen, Erzeugnissen und Stoffen, auf die sich bestimmte Straftaten beziehen; 6

L a c k n e r M D R 1951 632. Z. B. § 4 0 Abs. 1 StGB und die soeben nicht genannten Einziehungsvorschriften des Strafgesetzbuches. 8 RGSt. 51 89: „eine besondere Art der Einziehung"; a. A. — Verfall begründet nur Forderung des Fiskus — F r i e d r i c h s 262. 9 Zitzlaff42;Peters§48I3. 7

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§94

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

Anm. III 3; IV 1 Tötung nach § 10 Abs. 1 TierschutzG von Tieren, auf die sich eine strafbare Tierquälerei bezieht. D a ß die Gegenstände den vorstehend bezeichneten Charakter haben (instrumenta sceleris, fructus sceleris, Jagdgeräte usw.), muß mit einer hohen Wahrscheinlichkeit feststehen, die jedoch keinen endgültigen Charakter haben muß, sondern unter Berücksichtigung des jeweiligen Standes des Verfahrens getroffen werden kann (BGHSt. 21 324). Dagegen muß schon bei der Beschlagnahme feststehen, daß Gegenstände dem Täter (allein: BGHSt. 2 337) gehören oder zustehen, wenn das, wie in § 40 Abs. 1 Nr. 1 StGB, Voraussetzung der Einziehung ist (LG Krefeld D A R 1966 192). Denn auch nur vorläufige Maßnahmen sind einem Unbeteiligten gegenüber unzulässig. Keine Anwendung findet die Sicherstellung zur Einziehungssicherung dagegen, wenn nicht die Wegnahme eines bestimmten vorhandenen Gegenstandes (auch empfangenen, in Natur noch vorhandenen Geldes) oder der Übergang eines solchen Rechts in Betracht kommt, sondern Summen abgeführt werden müssen (BGHSt. 21 325). D a s betrifft z. B. folgende Fälle: Einziehung (richtig: Abführung) eines Geldbetrages nach § 9 2 b Abs. 2 Satz 1 2. Alt. StGB; Verfall (richtig: Abführung) des Wertes des Empfangenen nach § 335 StGB; Abführung des Mehrerlöses nach § 8 Abs. 1 und 3 WiStG. 3. Pressebeschlagnahme. Für die Sicherstellung von Druckschriften, die nicht ihres Inhalts wegen stattfindet (Sicherstellung gestohlener Bücher zu Beweiszwecken), gilt nichts besonderes ( R G J W 1927 1595). Bei der Sicherstellung aller Exemplare derselben Druckschrift zur Sicherung der Einziehung sind die Landespressegesetze zu beachten. Danach ist eine vorläufige Sicherstellung nicht allenthalben zulässig (I 2 Abs. 5 zu § 98), darf die Beschlagnahme nur unter bestimmten engen Voraussetzungen allein vom Richter angeordnet werden und erfaßt — im Übereinstimmung mit § 41 Abs. 2 StGB — die Stücke eines Druckwerks nur dort, w o sie sich zum Zwecke der Verbreitung befinden, also nicht in der Hand des Lesers, soweit er sie nicht (Propagandaschriften) weiter verbreiten will 10 . Z u Beweiszwecken scheidet die Beschlagnahme der gesamten Auflage aus; es genügt, soweit der Beweis nicht mit dem Pflichtexemplar zu erbringen ist, die Beschlagnahme eines einzelnen Stückes. Dafür gelten die allgemeinen Bestimmungen ( Z i t z l a f f 44). Die Sicherstellung künftiger Ausgaben von erfahrungsgemäß strafbaren (obszönen, staatsgefahrdenden, verbotenem Wettbewerb dienenden) Schriften als Einziehungsgegenstände ist unzulässig, weil wegen dieser Schriften noch kein Verdacht einer strafbaren Handlung vorliegt, daher auch keine künftige Einziehung gesichert werden kann 1 1 . IV. Sicherstellung. 1. Begriff. Die Herstellung der staatlichen Gewalt über die Beweismittel oder Einziehungsgegenstände wird Sicherstellung genannt. Die Vorschrift überläßt die Art der Sicherstellung der Praxis, hebt aber den Fall der Verwahrung, als den häufigsten der Sicherstellungsformen, hervor. Die Verwahrung ist nur ein Unterfall der Sicherstellung, wie sich aus der Wendung ergibt: „in Verwahrung zu nehmen oder in anderer Weise sicherzustellen". Bei den Erfassungsformen spricht man von der formlosen Sicherstellung, wenn der Gewahrsamsinhaber den Gegenstand freiwillig zur Verfügung stellt oder wenn kein Gewahrsamsinhaber bekannt ist, wie bei herrenlosen Sachen 1 2 . Dann bedarf es keiner Beschlagnahme, doch ist sie zulässig (5). Wird der Gegenstand nicht freiwillig der Gewalt der Behörde unterstellt, dann ist die Sicherstellung mit dem Mittel der zweiten Erfassungsform, der Beschlagnahme, durchzuführen. D a s Herausgabeverlangen (§ 95) und die Durchsuchung (§ 102) dienen der Vorbereitung der Sicherstellung, die in diesen Fällen regelmäßig mit dem Mittel der Beschlagnahme durchzufuhren ist. Danach ist die Beschlagnahme eine formelle Sicherstellung 13 , die sich von der formlosen Sicherstellung durch die Anwendung oder wenig10

Baden-Württemberg: §§ 13, 14; Bayern: §§ 16, 17; Berlin: §§ 12, 13; Bremen: §§ 13, 14; Hamburg: §§12, 13; Hessen, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Saarland, SchleswigHolstein: §§ 13, 14. 11 L ü t t g e r und K a u l GA 1961 74. 12 K a u f m a n n 125. 13 „eine qualifizierte Form der einfachen Sicherstellung", K a u f m a n n 126.

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Achter Abschnitt. Beschlagnahme, Überwachung des Fernmeldeverkehrs und Durchsuchung (Dünnebier)

§ Anm. IV 2—5

stens Bereithaltung von Gewalt und durch die Folgen (5) unterscheidet, an der Ausgestaltung der Sicherstellung sowie der Verwahrung als einer Form der Sicherstellung aber nichts ändert M . 2. Die Verwahrung^ ist nur an beweglichen („herausgebbaren"; Absatz 2) Sachen möglich. Sie bedeutet die Überführung der Sache in den Besitz einer Behörde oder einer von ihr mit der Aufbewahrung betrauten Stelle. Der im letzteren Falle begründete mittelbare Besitz bleibt auch dann amtliche Verwahrung, wenn der unmittelbare Besitzer eine Privatperson ist. Die Sachen stehen unter dem Strafschutz des § 133 StGB. Die amtliche Verwahrung begründet ein öffentlich — rechtliches Verwahrungsverhältnis sowie eine Haftung nach § 839 BGB in Vbdg. mit Art. 34 GG. Die Behörden und ihre Beamten übernehmen mit dem Eingriff in die Verfügungsmacht des Berechtigten die Pflicht, die Sache pfleglich zu behandeln und sie vor Verschlechterung, Untergang oder sonstiger Gefährdung zu bewahren (RGZ 105 340; R G LZ 1923 496). Diese Pflicht besteht nicht nur gegenüber dem letzten Gewahrsamsinhaber sondern auch gegenüber dem in § 111 genannten Verletzten (RGZ 108 251). Verwahrten Gegenständen hat daher die verwahrende Behörde besondere Aufmerksamkeit zu schenken (Nr. 64 Abs. 1 RiStBV). 3. Geschäftsmäßige Behandlung. Werden Sachen in amtliche Verwahrung genommen, so hat die Polizei sie bei Abgabe der Vorgänge (§ 163 Abs. 3 Satz 1) der Staatsanwaltschaft in Natur zu übergeben. Gelangen die Akten ans Gericht, so sind diesem die Sachen zur Verfügung zu stellen (vgl. § 98 Abs. 3, letzter Halbsatz). Das Gericht kann dazu die Übergabe verlangen, doch kann sich bei umfänglichen Sachen empfehlen, sie im Gewahrsam der Staatsanwaltschaft zu belassen. Namentlich werden Einziehungsstücke, die in mehreren Exemplaren in Verwahrung genommen sind, in der Regel bis auf eines bei der Staatsanwaltschaft verbleiben. Die Staatsanwaltschaft verwahrt die Sachen bei den Akten, in der Geschäftsstelle, in besonderen Asservatenräumen, in besonders gesicherten Behältnissen oder bei der zuständigen Gerichtskasse. Die Verwahrung bei den Akten ist nur bei losen Einzelurkunden zu empfehlen. Werden Akten dem Verteidiger ins Haus gegeben, müssen Überführungs- (§147 Abs. 4) wie auch Einziehungsstücke zurückbehalten werden. Die Einzelheiten der Verwahrung sind geregelt in der AV vom 3. 12. 1938 (DJ 1938 1932); ergänzende Bestimmungen enthält § 109. 4. In anderer Weise sind Gegenstände sicherzustellen, die, wie Grundstücke oder Forderungen, nicht in Verwahrung genommen werden können oder bei denen das nicht angebracht ist, oder die zum Zwecke genauerer Untersuchung in ihrer Umgebung an Ort und Stelle, wenn auch nur vorübergehend, verbleiben müssen 15 . Dazu kommt in Betracht bei Grundstücken eine Absperrung und Versiegelung und bei Sachen Gebote und Verbote an den unmittelbaren Besitzer (III 4 zu § 98). Solche Maßnahmen werden der amtlichen Verwahrung vorzuziehen sein, wenn ein Gegenstand sich bei einem anderen als dem Beschuldigten befindet. Jedoch ist bei Beweisstücken zu beachten, daß auch eine zufällige Veränderung oder ein zufalliger Untergang ausgeschlossen bleiben muß. Bei Einziehungsgegenständen, die wegen ihres Inhalts oder wegen ihrer Gefährlichkeit eingezogen werden, wird eine andere Form der Sicherstellung als die amtliche Verwahrung regelmäßig ausscheiden. Sie entfällt auf jeden Fall, wenn durch die Sicherstellung der Fahrausweis dem Besitz des Berechtigten entzogen werden soll (OLG Schleswig SchlHA 1968 54; OLG Stuttgart VRS 35 138). 5. Beschlagnahme. Werden Gegenstände, die in jemandes Besitz stehen, nicht freiwillig herausgegeben, so sind sie, wenn erforderlich, zu beschlagnahmen. Wegen des Begriffs Beschlagnahme s. I 1, wegen der Anordnung II 1 bis 3 und wegen Form, Inhalt und Wir14

15

Verwirrend daher § 109 Absatz 1, w o Verwahrung und Beschlagnahme einander gegenübergestellt und § l l l a Abs. 5, w o Verwahrung, Sicherstellung und Beschlagnahme nacheinander aufgeführt werden, statt davon zu sprechen, daß der Führerschein aufgrund freiwilliger Herausgabe oder zufolge einer Beschlagnahme sichergestellt sei. Erhaltung der Brandstätte oder des Mordzimmers bis zur Untersuchung und Aufnahme durch Sachverständige; v. H i p p e l § 68 VI Anm. 4.

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§ 94 Anm. IV 6

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

kungen der Beschlagnahme III 1 bis 3 zu § 98. Die Beschlagnahme von Gegenständen, die der Beschlagnahme unterliegen, ist nicht nur unter den Voraussetzungen des Absatzes 2, sondern jederzeit zulässig (BGH NJW 19561806), aber entbehrlich, wenn die Gegenstände keinen Gewahrsamsinhaber haben oder wenn ein solcher sie freiwillig herausgibt, selbst wenn er durch die Herausgabe dem Willen des Eigentümers oder sonst Berechtigten zuwiderhandelt. Auch bei Bereitwilligkeit des Besitzers kann die Beschlagnahme angebracht sein, weil nur die Sicherstellung kraft Beschlagnahme, nicht bei freiwilliger Herausgabe den strafrechtlichen Schutz des § 137 StGB begründet ( K a u f m a n n 126). Soweit ein Siegel angelegt ist, um eine Sache zu verschließen oder ihre Beschlagnahme zu bezeichnen, wird dadurch außerdem der Schutz nach § 136 StGB bewirkt. Die zivilrechtlichen Folgen der Beschlagnahme — nicht ihrer Anordnung — richten sich nach dem Zwecke der Beschlagnahme. Bei dem Beweisstück kommt es nur darauf an, daß sein Zustand unverändert bleibt, nicht dagegen auf das Eigentum. Die Beschlagnahme zu Beweiszwecken enthält daher von sich aus kein Verfügungsverbot 16 , doch ist die Erfüllung einer Verfügung durch § 137 StGB ausgeschlossen, wenn sie mit einer Ortsveränderung verbunden ist ( K a u f m a n n 155). Die Beschlagnahme von Einziehungsgegenständen begründet ein absolutes Veräußerungsverbot (§ 134 BGB), wenn der Gegenstand wegen seiner Beschaffenheit oder aus besonderen Gründen zum Schutz der Allgemeinheit (Falschgeld, Sprengstoffe) für immer aus dem Verkehr gezogen werden muß, also dann, wenn die Einziehung selbst vorwiegend Sicherungscharakter hat. Kommt es dagegen bei vorwiegend nebenstrafrechtlichem Charakter der Einziehung mehr darauf an, daß der in dem Gegenstand verkörperte Wert dem Fiskus zugeführt werden soll (Einziehung von geschmuggelten Waren), dann begründet die Beschlagnahme nur ein relatives Veräußerungsverbot nach § 135 BGB 17 . 6. Legalitätsprinzip. Die Verpflichtung der Staatsanwaltschaft, strafbare Handlungen zu verfolgen (§ 152 Abs. 2), legt ihr auch auf, dafür Sorge zu tragen, daß ein Gegenstand, der eingezogen werden muß, bei der Vollstreckung vorhanden ist. Das besagt jedoch nicht, daß stets eine Beschlagnahme herbeigeführt werden müßte. Denn Voraussetzung der Beschlagnahme ist, da kein Eingriff ohne Notwendigkeit angeordnet werden darf, die Gefahr, daß die künftige Einziehung ohne die sicherstellende Beschlagnahme nicht möglich sein werde (III 1). Der Begriff der Gefahr ist dabei rein prozessual und allein auf die künftige Vollstreckung abgestellt. Abzulehnen ist die Auffassung ( G ö h l e r MDR 1969 1030), daß mit der Beschlagnahme auch gegenwärtigen Gefahren anderer Art als der Beseitigung des Einziehungsstücks begegnet werden dürfe. Freilich werden die Anforderungen an die Feststellung jener Gefahr nicht überspannt werden dürfen, doch scheidet die Beschlagnahme aus, wenn sie ausgeschlossen werden kann. Ist das nicht der Fall, wird die Beschlagnahme herbeizuführen sein, wenn die Einziehung zwingend vorgeschrieben ist (z. B. § 41 Abs. 1; s. III 1). Diese Verpflichtung besteht jedoch nicht, solange eine noch zu schaffende Verfahrensvoraussetzung (II 2 Abs. 2) fehlt, doch sollte die Sicherstellung vorgenommen werden, wenn mit Sicherheit zu erwarten ist, daß die Verfahrensvoraussetzung geschaffen werden wird. Steht die Einziehung im Ermessen des Gerichts (z. B. § 40 StGB), so entscheidet das Ermessen der Staatsanwaltschaft, ob eine Sicherstellung vorzunehmen ist; die Polizei hat beim ersten Angriff, wenn ihr die Praxis der Staatsanwaltschaft keinen Anhalt bietet, deren Weisung einzuholen (M ü 11 e r - S a x 4). Bei den Beweismitteln enthält schon der Gesetzeswortlaut („die . . von Bedeutung sein können") ein der Wertung unterworfenes Element, so daß die Staatsanwaltschaft eine Auswahl unter mehreren Beweisstücken treffen kann, namentlich bei einem Geständnis von der Sicherstellung solcher Beweisstücke absehen wird, die dem Verletzten gehören (Diebesbeute) und von ihm benötigt werden. Doch ist, wenn das Geständnis kein richterliches ist (§ 254 Abs. 1), Vorsicht am Platze, solange mit einem Widerruf zu rechnen ist. 16

17

E l l e r , Die bürgerlich rechtlichen Wirkungen einer Beschlagnahme Hamburg 1935. OLG Bremen NJW 1951 675; E l l e r 16; M ü l l e r - S a x 6 c bb.

564

nach

§ 98

StPO;

Diss.

Achter Abschnitt. Beschlagnahme, Überwachung des Fernmeldeverkehrs und Durchsuchung (Dünnebier)

§ 9 4 Anm. V § 9 5 Anm. 1

Das Gericht hat die Voraussetzungen der Beschlagnahme selbständig zu prüfen, ohne dabei an frühere Entscheidungen anderer Gerichte in der gleichen Sache oder in ähnlichen Sachen gebunden zu sein (OLG Bremen MDR 1960 425; LG Wiesbaden MDR 1951 631). Es wird jedoch zu beachten haben, daß die Ablehnung einer Beschlagnahme in der Regel die endgültige Entscheidung vorwegnimmt, so daß Zurückhaltung geboten ist. Das gilt noch mehr gegenüber staatsanwaltschaftlichen Anträgen, Beweisstücke zu beschlagnahmen, weil in der Regel ein anderes als das beschlagnahmende Gericht die Beweise zu würdigen hat. V. Auskunft. Wenn eine Beschlagnahme von Büchern usw. angeordnet werden kann, können sich Gerichte und sonstige Behörden in manchen Fällen auch mit einer Auskunft begnügen; zuweilen kann diese bessere Dienste leisten als die Beschlagnahme. So ist es in der Regel forderlicher, eine Bankauskunft zu erbitten, als die Bücher zu beschlagnahmen und mit Hilfe von Sachverständigen auswerten zu lassen. Das Auskunftsersuchen muß von der Stelle ausgehen, die die Beschlagnahme anordnen kann (II 1 bis 3 zu § 98), doch wird in der Regel Gefahr im Verzuge und damit ein Handeln der Staatsanwaltschaft oder ihrer Hilfsbeamten zu verneinen sein. Die Bank oder sonstige Stelle braucht die Auskunft nicht zu erteilen, sondern kann es auf die Beschlagnahme ankommen lassen, wird aber in der Regel die Auskunft vorziehen 18 .

§95 (1) Wer einen Gegenstand der vorbezeichneten Art in seinem Gewahrsam hat, ist verpflichtet, ihn auf Erfordern vorzulegen und auszuliefern. (2) Er kann im Falle der Weigerung durch die in § 70 bestimmten Zwangsmittel hierzu angehalten werden. Gegen Personen, die zur Verweigerung des Zeugnisses berechtigt sind, werden diese Zwangsmittel nicht angewandt. 1. Verhältnis zu § 94. Die Herausgabepflicht dient, wie die Durchsuchung (§ 102), der Vorbereitung einer Sicherstellung, wenn sich „Gegenstände in dem Gewahrsam einer Person" befinden (§ 94 Abs. 2). Das Wort „Gegenstände" ist hier — im Gegensatz zu § 94 — nur auf bewegliche Sachen zu beziehen, wie sich aus den Worten „Gewahrsam, vorlegen und ausliefern" ergibt. „Gegenstände der vorbezeichneten Art" sind somit, weil damit an § 94 angeknüpft wird, bewegliche Sachen, die als Beweismittel für die Untersuchung von Bedeutung sein können oder der Einziehung unterliegen und als solche beschlagnahmt werden können. Gibt der Gewahrsamsinhaber zufolge des Herausgabeverlangens aufgrund der ihm in Absatz 1 auferlegten Verpflichtung die Sache freiwillig heraus, so genügt für das weitere Verfahren die formlose Sicherstellung; von der Beschlagnahme kann — muß aber nicht — abgesehen werden. Kommt der Gewahrsamsinhaber der Vorlage oder Auslieferung nur aufgrund des Zwanges nach Absatz 2 Satz 1 nach, so ist die Beschlagnahme nur entbehrlich, wenn dem Untersuchungszweck durch die bloße Vorlage (etwa in einer Hauptverhandlung) genügt wird. Sonst ist der Gegenstand zu beschlagnahmen. Denn der Zwang des Absatzes 2 Satz 1 hat ihn nur in die Hand der Behörde gebracht; die Rechtsgrundlage dafür, daß sie ihn weiterhin verwahren oder sonst sicherstellen kann, muß durch die Beschlagnahme geschaffen werden, sofern nicht der Gewahrsamsinhaber, nachdem er durch den Zwang sein Versteck hat öffnen müssen, die Sachen nunmehr freiwillig überläßt. Aber selbst bei freiwilliger Herausgabe bleibt die Beschlagnahme zulässig, da es der Behörde stets freistehen muß, die Verstrickung und den dadurch ausgelösten Strafschutz herbeizuführen. Die Einschränkung des Absatzes 2 Satz 1 durch dessen Satz 2 ist auf § 94 ohne Einfluß. Auch bei den durch Absatz 2 Satz 2 privilegierten Personen (5) ist die Beschlagnahme, wie auch die Durchsuchung, statthaft; nur eine, wenn auch erzwungene, Mitwirkung an der Belastung eines Angehörigen oder Vertrauten bleibt ihnen erspart. Greifen aber die 18

Vgl. zu der Frage LG Frankfurt NJW 1954 688; LG Hof NJW 1968 65; S i c h t e r m a n n NJW 1968 1997; s. III I zu § 99.

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§ 95 Anm. 2, 3

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

Beschlagnahmeverbote des § 97 oder der Pressegesetze 1 Platz, dann findet auch § 95 keine Anwendung. Denn die genannten Vorschriften schließen, wenn die darin aufgeführten Voraussetzungen vorliegen, die Beschlagnahme schlechthin aus. Die von ihnen erfaßten Gegenstände fallen, weil sie nicht der Beschlagnahme unterliegen, nicht unter § 94. Sie sind demzufolge kein „Gegenstand der vorbezeichneten Art" und daher auch von § 95 ausgenommen (V 1 zu § 97; zust. OLG CeUe NdsRpfl. 1963 20). Die verschiedenen Maßnahmen zur Erlangung eines Beweismittels oder eines Einziehungsgegenstandes können auch gleichzeitig durchgeführt werden. So kann z. B. die Durchsuchung stattfinden, während der Gewahrsamsinhaber zur Erzwingung der Herausgabe in Haft ist; jedoch macht der erlangte amtliche Besitz an der Sache Durchsuchung (7 zu § 102) und Erzwingungshaft (4 Abs. 4) unzulässig. 2. Der Gewahrsamsinhaber ist verpflichtet, den Beweis- oder Einziehungsgegenstand herauszugeben. Gewahrsam bedeutet, wie in § 246 StGB, das tatsächliche Herrschaftsverhältnis, gleichgültig wie es zustande gekommen ist. Ist Eigentümer ein anderer als der Gewahrsamsinhaber, so kommt es auf die Zustimmung des Eigentümers nicht an und findet das Verfahren des § 95 diesem gegenüber keine Anwendung. Der Eigentümer hat die Veränderung des Gewahrsams von Rechts wegen zu dulden. Das Verfahren findet nur statt, wenn der Gewahrsam feststeht. Bei bloßem Verdacht des Gewahrsams ist nur die Durchsuchung zulässig. Daher kommt dem Verfahren in der Praxis nur geringe Bedeutung zu. Der Beschuldigte fällt nicht unter Absatz 1. Er ist nicht verpflichtet, zu seiner Überführung beizutragen und demzufolge auch nicht verpflichtet, Sachen vorzulegen 2 . Ihm kann nur Gelegenheit gegeben werden, zur Abwendung einer Durchsuchung oder allgemein zu der auch in seinem Interesse liegenden Beschleunigung des Verfahrens Sachen, in der Regel Urkunden, beizubringen; mit § 95 hat das indessen nichts zu tun. Die Zeugnisverweigerungsberechtigten sind zunächst, soweit die Beweismittel nicht der Beschlagnahme schlechthin (1 Abs. 2) entzogen sind, dem Verlangen nach Absatz 1 ausgesetzt, können aber die Herausgabe verweigern und unterliegen nicht dem Zwang des § 70. Eine A usnahme gilt für den katholischen Geistlichen in bezug auf Gegenstände, die ihm bei der Seelsorge anvertraut sind. Nach Art. 9 des Reichskonkordats 3 dürfen Geistliche nicht um Auskünfte über Tatsachen angehalten werden, die ihnen bei Ausübung der Seelsorge anvertraut sind und deshalb unter die Pflicht der seelsorgerischen Verschwiegenheit fallen. Wer nach seinem Wissen nicht gefragt werden darf, darf auch nicht aufgefordert werden, Urkunden über das ihm vorbehaltene Wissen auszuliefern. Das gleiche gilt für den evangelischen Geistlichen 4 . 3. Zwangsmittel (Absatz 2 Satz 1). Kommt der Verpflichtete der Aufforderung nicht nach, kann er durch Zwangsmittel dazu angehalten werden. § 70, auf den der Satz verweist, kennt nur ein einziges Zwangsmittel, nämlich die dort in Absatz 2 vorgesehene Beugehaft; daneben sieht er in Absatz 1 eine Ordnungsstrafe vor und die Verurteilung in die Kosten, die durch die Verweigerung des Zeugnisses oder des Eides entstanden sind, z. B. diejenigen für das Umladen beim Unterbrechen einer Hauptverhandlung. Wenn § 95 Abs. 2 gleichwohl d i e in § 70 bestimmten Zwangsmittel benennt, so kann daraus nur die Folge gezogen werden, daß der Gesetzgeber auch die Ordnungsstrafe und die Kostenpflicht als Zwangsmittel ansieht mit der Folge, daß im Falle der Verweigerung der Herausgabepflichtige wie der Zeuge zu behandeln ist 5 . Danach sind zulässig 'Baden-Württemberg: § 2 3 Abs. 4; Berlin: § 1 8 Abs. 2; Bremen: § 2 3 Abs. 2; Hamburg: § 2 2 Abs. 2; Hessen: § 2 3 Abs. 1; Niedersachsen: § 2 3 Abs. 2; Nordrhein-Westfalen: § 2 4 Abs. 2; Rheinland-Pfalz, Saarland, Schleswig-Holstein: § 23 Abs. 2. 2 N i e s e 140; M ü l l e r - S a x 2 ; K 1 1; F u h r m a n n - D a l c k e 1. 3 vom 20. 7. 1933 (RGBl. II 679). " L G Fulda SJZ 1950 826; R o s e n b e r g , Lehrb. des ZivPrR, 9. Aufl., § 119 III 2 b a ; W i e c z o r e k e II zu § 385. 5 J o h n 2 ; M ü l l e r - S a x 3 b ; K l 2.

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Achter Abschnitt. Beschlagnahme, Überwachung des Fernmeldeverkehrs und Durchsuchung (Dünnebier)

§ 95 Anm. 4 , 5

Verurteilung in die durch die Weigerung verursachten Kosten; Verurteilung zu einer Ordnungsstrafe in Geld und für den Fall, daß diese nicht beigetrieben werden kann, zu Haftstrafe bis zu sechs Wochen; Anordnung der Haft zur Erzwingung der Herausgabe, jedoch nicht über die Zeit der Beendigung des Verfahrens in dem Rechtszug, in dem die Herausgabe verlangt wird, auch nicht über die Zeit von sechs Monaten und bei Übertretungen über die Zahl von sechs Wochen hinaus. Die Anwendung des Zwangsmittels setzt voraus, daß das Erfordern auf einen bestimmten Gegenstand gerichtet ist, und daß zur richterlichen Überzeugung feststeht, er befinde sich im Gewahrsam des die Herausgabe Verweigernden. Es genügt nicht, daß Tatsachen vorliegen, nach denen dieser Gewahrsam lediglich wahrscheinlich ist. Die Weigerung ist ebenfalls Voraussetzung der Anwendung der Beugemittel. Sie braucht nicht ausdrücklich erklärt worden zu sein, muß aber den Umständen (Fristablauf) zweifelsfrei entnommen werden können. 4. Einzelheiten. Höchstbetrag der Ordnungsstrafe ist 1000 DM 6 . Die Verurteilung in die Kosten und in eine Ordnungsstrafe ist im gesamten Verfahren aller Instanzen nur einmal zulässig; gleichviel in welcher Höhe die Ordnungsstrafe ausgeworfen worden ist (§ 70 Abs. 4). Die Haft kann mehrfach angeordnet werden, bis die Summe die Zeit von sechs Monaten, bei Übertretungen sechs Wochen, ergibt. Die mehrfache Anordnung ist in der gleichen Instanz, etwa wenn eine Einstellung aufgehoben und das Verfahren fortgeführt wird, oder in der Berufungsinstanz zulässig, aber nur selten empfehlenswert, weil der einmal standhafte Wille auch ein weiteres Mal standhaft bleiben wird und der Beugehaft jeder Strafcharakter fernbleiben muß. Unter Beendigung der Instanz ist nach dem Sinn der Bestimmung der Abschluß der unmittelbaren staatsanwaltschaftlichen oder richterlichen Tätigkeit zu verstehen; Rechtsmittelfristen, Aktenvorlage usw. bleiben außer Betracht. Danach ist die Instanz beendet mit der Einstellung des Verfahrens (§ 170 Abs. 2 Satz 1), mit der Ablehnung der Eröffnung des Hauptverfahrens (§ 204 Abs. 1), mit der Außerverfolgungsetzung (§ 204 Abs. 2), mit der Einstellung wegen Abwesenheit (§ 205), mit einem Urteil (§ 260 Abs. 1, § 328 Abs. 1 und 2, § 353) und mit dem Beschluß nach § 441 Abs. 2; mit der Verwerfung eines Wiederaufnahmeantrags nach § 370 Abs. 1, einem Beschluß nach § 371 Abs. 1 oder 2 und dem Urteil im Wiederaufnahmeverfahren (§ 373 Abs. 1). In § 70 Abs. 1 sind die Verurteilung in die Kosten und die Ordnungsstrafe zwingend vorgeschrieben und ist die Beugehaft ins Ermessen des Gerichts gestellt. § 95 Abs. 2 dehnt für den Fall der Herausgabeverweigerung das Ermessen auch auf die ersten beiden Maßnahmen aus. Demzufolge kann der Richter sich auf eine von ihnen beschränken, alle oder zwei von ihnen koppeln oder auch gar keinen Gebrauch von ihnen machen. Wenn sich der Weigerungsfall, wie fast stets, nicht in der Hauptverhandlung ereignet, wird es regelmäßig unpraktisch sein, die Verurteilung in die Kosten auszusprechen, und kein Anlaß zu einer Ordnungsstrafe bestehen, weil der Ungehorsam die Würde des Gerichts nicht nach außen sichtbar beeinträchtigt hat. Die Verurteilung in die Kosten und in die Ordnungsstrafe ist als Folge der Weigerung endgültig. Sie bleibt auch dann bestehen, wenn der Gewahrsamsinhaber nachträglich die Sache herausgibt. Die Beugehaft dagegen wird außer mit Beendigung der Instanz auch dann unzulässig und ist aufzuheben, wenn der mit ihr erstrebte Zweck erfüllt ist. Das ist der Fall, wenn der Gewahrsamsinhaber die Sache herausgibt; wenn sie auf andere Weise, etwa bei einer Durchsuchung, in die Hände der Behörde gelangt; wenn sie durch den Fortgang des Verfahrens beweisunerheblich wird; wenn sie, etwa durch Zerstörung, untergeht; oder wenn der Gewahrsam des Gezwungenen endet, indem er eine fremde Sache dem Eigentümer zurückgibt oder eine eigene veräußert und dem neuen Eigentümer übergibt, oder die verwahrte Sache gestohlen wird. 5. Ausnahmen (Absatz 2 Satz 2). Die Zwangsmittel können nicht angewendet werden, wenn der Gewahrsamsinhaber berechtigt ist, sein Zeugnis zu verweigern. Das ist stets der 6

Art. II Abs. 2 VO über Vermögensstrafen vom 6. 2. 1924 (BGBl. III 4 5 0 - 9 ) .

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§ 9 5 Anm. 6 §96

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

Fall bei dem Personenkreis des § 52 (Verlobte, Ehegatten, gewisse Verwandte und Verschwägerte). Im übrigen ist folgendes hervorzuheben: Bei den Personen des § 53 besteht das Herausgabeverweigerungsrecht nur, wenn der Vertrauensperson der Gegenstand in der in § 53 bezeichneten Eigenschaft anvertraut (§ 53 Nr. 4) oder in ihren Besitz gekommen ist (Nr. 1 bis 3). Meist wird daher der Fall des § 97 vorliegen, in dem das Verfahren des § 95 ausgeschlossen ist. Bei den in Nr. 2 und 3 Genannten (Verteidigern, Anwälten, Ärzten usw.) besteht das Verweigerungsrecht nur, wenn sie nicht von der Verpflichtung zur „Verschwiegenheit" d. h. hier zur Wahrung des Geheimnisses durch Verweigern der Herausgabe, entbunden worden sind. Im übrigen beseitigt das Einverständnis des Beschuldigten das Herausgabeverweigerungsrecht nicht (RG Recht 1927 2623). Im Falle des § 55 ist das Herausgabeverweigerungsrecht gegeben, wenn der Gewahrsamsinhaber durch die Herausgabe der Sache sich oder bestimmten Angehörigen die Gefahr strafrechtlicher Verfolgung zuziehen würde. Im Presserecht besteht das Recht, die Herausgabe zu verweigern, regelmäßig nur in bezug auf Ermittlungen darüber, wer Verfasser, Einsender oder Gewährsmann einer Äußerung ist und welchen Inhalt sie hat 7 . Wird eine Sache aufgrund des Zwanges nach Absatz 2 Satz 1 erlangt, obwohl Gewahrsamsinhaber der Beschuldigte oder ein zur Verweigerung des Zeugnisses Berechtigter war, ist die Verwertung des Beweismittels unzulässig. 6. Der Privatkläger steht dem Zeugnisverweigerungsberechtigten nicht gleich. Zwar kann er nicht als Zeuge vernommen werden (4 zu § 384), doch wird damit keine Parallele zur Lage des zeugnisverweigerungsberechtigten Zeugen hergestellt8. Das Verweigerungsrecht ist dem Zeugen eingeräumt, weil „es vorzuziehen sei, lieber auf ein Beweismittel zu verzichten, als einen nahen Angehörigen des Beschuldigten der Versuchung auszusetzen, zugunsten des letzteren einen Meineid zu leisten" (Mot. H a h n 1 107). Darüber hinaus achtet der Gesetzgeber in § 97 das Vertrauensverhältnis, das zwischen dem Beschuldigten und bestimmten Personen besteht, indem er ihnen auch ohne die Gefahr eines Meineids die weitere Gefahr erspart, zur Belastung des Beschuldigten beizutragen, der ihnen Mitteilungen schriftlich anvertraut hat. Unabhängig von einem Anvertrauen räumt § 81 c Abs. 1 Satz 2 dem Zeugnisverweigerungsberechtigten ein Untersuchungsverweigerungsrecht ein aus der Erwägung, daß die Menschenwürde es gebietet, einen Angehörigen allein darüber bestimmen zu lassen, ob er durch seine Mitwirkung die Möglichkeit einer Belastung des Beschuldigten herbeiführen will ( D ü n n e b i e r GA 1953 71). Alle diese Erwägungen schlagen gegenüber der Herausgabepflicht des Privatklägers nicht durch. Wenn der Beschuldigte von ihm die Herausgabe einer Urkunde begehrt, so will er mit dieser die Anklage zu Fall bringen. Diese Lage kann auch nicht mit der des Beschuldigten verglichen werden, der nicht gezwungen werden darf, zu seiner Belastung beizutragen. Vom Kläger kann und muß verlangt werden, daß er Material herausgibt, das eine ungerechte Verurteilung verhindert (ebenso E b S c h m i d t 2 ; M ü l l e r - S a x 2 b ) . §96 Die Vorlegung oder Auslieferung von Akten oder anderen in amtlicher Verwahrung befindlichen Schriftstücken durch Behörden und öffentliche Beamte darf nicht gefordert werden, wenn deren oberste Dienstbehörde erklärt, daß das Bekanntwerden des Inhalts dieser Akten oder Schriftstücke dem Wohl des Bundes oder eines deutschen Landes Nachteile bereiten würde. Entstehungsgeschichte: Das Wort „Bundes" ist durch Art. 3 Nr. 96 VereinhG an die Stelle des Wortes „Reichs" gesetzt worden. 'Bayern: § 1 2 ; Berlin: § 1 8 Abs. 1; Bremen: § 2 3 Abs. 1; Hamburg, Hessen: § 2 2 Abs. 1; Niedersachsen: § 2 3 Abs. 1; Nordrhein-Westfalen: § 2 4 Abs. 1; Rheinland-Pfalz, Saarland, Schleswig-Holstein: § 23 Abs. 1. Baden-Württemberg (§ 23 Abs. 1) sieht in sorgfaltiger Abwägung bedeutsame Ausnahmen von Zeugnisverweigerungsrecht vor (§ 23 Abs. 2). 8 So aber LG Altona JW 1925 2822. Eine Abwägung verlangt K l 5 D zu § 384.

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Achter Abschnitt. Beschlagnahme, Überwachung des Fernmeldeverkehrs und Durchsuchung (Dünnebier)

§ 96 Anm. 1, 2

Schrifttum: v. K ö h l e r , Einsicht in Behördenakten, NJW 1956 1400; S t r a t e n w e r t h , Zur Beschlagnahme von Behördenakten im Strafverfahren, JZ 1959 693. 1. Inhalt. Die Vorschrift ist keine Ergänzung zu § 95. Denn die dort aufgestellte Vorlegungspflicht des Staatsbürgers gegenüber dem Staat ist mit der auf der gegenseitigen behördlichen Rechtshilfepflicht beruhenden behördlichen Vorlegungspflicht in ihrer Grundlage nicht zu vergleichen. Die Bestimmung ist auch nicht als Ausnahme von § 94 gedacht. Denn nach den staatsrechtlichen Vorstellungen zur Zeit des Erlasses der Strafprozeßordnung war es eine „unmögliche Vorstellung" ( E b S c h m i d t 1), daß das Gericht behördliche Akten, die sich bei Behörden befinden, beschlagnahmen könne; es fehlt an dem dazu notwendigen Verhältnis der Überordnung des Gerichts zu einem untergeordneten Rechtssubjekt ( J o h n 2c). Die Vorschrift geht vielmehr von einer außerhalb der Strafprozeßordnung auf allgemeinem Staatsrecht (vgl. jetzt Art. 35 GG) beruhenden Rechts- und Amtshilfepflicht aus, und beschränkt diese, wenn bei ihrer Durchführung das öffentliche Wohl beeinträchtigt werden könnte. Diese Beschränkung ist ihr einziger Inhalt. Von diesem Gesichtspunkt aus sind die §§ 94 und 95, wie auch § 103 (s. dazu 1 Abs. 4 zu § 103), gegenüber Behörden dem System nach unanwendbar; wenn eine Behörde sich weigert, der Strafrechtspflege Akten zu überlassen, hat diese keine Zwangsmittel (BayObLG DRiZ 1931 117; N i e s e 140). Die Sperrerklärung schließt jede weitere Erörterung aus; wird sie nicht abgegeben, werden die Akten aber gleichwohl vorenthalten, verbleibt nur die Dienstaufsichtsbeschwerde, letztlich eine Verhandlung der Minister der beteiligten Ressorts, allenfalls noch, wenn das anwendbare Staatsrecht es zuläßt, die Entscheidung des Kabinetts. Bei der allgemeinen gerichtlichen Kontrolle der gesamten Staatstätigkeit wird dieser Zustand als unbefriedigend empfunden. Wenn auch die Sperrerklärung als bindend hingenommen wird 1 , so wird doch die Auffassung vertreten, daß die Beschlagnahme zulässig sei, wenn jene Erklärung innerhalb einer angemessenen Frist nicht abgegeben 2 oder wenn ihre Abgabe abgelehnt oder verzögert werde 3 . Der berechtigte Wunsch, fiskalischem Denken und Verzögerungen entgegenzutreten, kann jedoch die Überordnung der Strafgerichtsbarkeit über andere Verwaltungen nicht begründen. Eine Beschlagnahme von Behördenakten im Strafverfahren ist daher schlechthin abzulehnen 4 . 2. Auslieferungsgegenstände. Nach dem Sinn von § 96, Beeinträchtigungen des öffentlichen Wohles abzuwenden, kann die Sperrerklärung nur in bezug auf amtliche Akten und amtliche Schriftstücke abgegeben werden, die sich in amtlicher Verwahrung befinden. Gutachten von Behördenangehörigen für Strafverfahren zählen nicht hierher, nachdem sie Teile der Strafakten geworden sind (BGHSt. 18 370). Die amtliche Verwahrung wird nicht dadurch aufgehoben, daß Akten oder Schriftstücke zu amtlichen Zwecken (Binden, Restaurieren, Bearbeitung zu Forschungszwecken) an private Stellen vorübergehend herausgegeben werden. Diebstahl hebt zwar den amtlichen Gewahrsam auf, nicht aber die Verfügungsmacht der Behörde für den Fall, daß eine Verfügung wieder möglich wird. Deshalb kann eine gestohlene Urkunde zwar bei dem Dieb als Beweismittel für den Diebstahl beschlagnahmt werden. Für andere Verfahren unterliegt ihre Verwendung wieder der Schranke des §96. Ursprünglich private Akten und Schriftstücke können wegen der Art und des Zwecks der Verwahrung zu den amtlichen zu zählen sein, so z. B. gefundene Spionageberichte und private Schriftstücke, die durch amtliche Verwahrung sichergestellt sind (§ 94 Abs. 1). Sonstige private Schriftstücke, die nicht auf den genannten Wegen zu amtlichen geworden sind, fallen auch dann nicht unter § 96, wenn die Privatperson sie unter der Bedingung oder Voraussetzung der Geheimhaltung bei einer Behörde niedergelegt hat ( H a h n Mat. 1 624). Das bedeutet, daß in bezug auf solche Schriftstücke, wie bei Gericht verwahrte Testamente oder in Staatsarchiven hinterlegte Urkunden (Nachlässe, Tagebücher, Briefe), 1 2 3

4

LG Bremen NJW 1955 1850; M ü l l e r - S a x 4 b ; Kl 3; vgl. auch BVerwG NJW 1956 1493. LG Hannover NJW 1959 351; NdsRpfl. 1962 40. LG Bremen NJW 1955 1850; M ü l l e r - S a x 1 b; K l 3. Auch die Fassung von § 220 E 1939 scheint von der Möglichkeit der Beschlagnahme bei einer Behörde auszugehen. S t r a t e n w e r t h 694; E b S c h m i d t 6; S c h w a r z , 22. Aufl. 1 B; L o h m e y e r JR 1964 171; inhaltlich auch RGSt. 72 275.

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§ 96 Anm. 3—5

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

keine Sperrerklärung abgegeben werden kann 5 . Der Beschlagnahme unterliegen sie gleichwohl nicht, weil § 94 den Staat als Gewahrsamsinhaber nicht im Auge hat 6 . 3. Behörden sind selbständige, von der Person unabhängige Organe des Staates oder einer in die Staatsverfassung eingegliederten Person des öffentlichen Rechts (Gemeinden, Gebietskörperschaften), die diese in Erklärungen und Handlungen vertreten und dazu berufen sind, unter öffentlicher Autorität für die Zwecke des Staates tätig zu sein; die Ausübung öffentlicher Gewalt gehört nicht notwendig zu ihren Eigenschaften 7 . Mit Beamten sind nach dem Zusammenhang nur solche gemeint, die für sich allein eine Behörde bilden, wie der einzeln amtierende Landgendarm ( E b S c h m i d t 2). Wegen der Grenzen der Gesetzgebung der Bundesrepublik bezieht sich die Vorschrift nur auf Behörden im Geltungsbereich der Strafprozeßordnung. Wegen des Ersuchens um Überlassung ausländischer Akten vgl. Nr. 156 RiVASt. Willenbildende Organe, wie Parlamente, Stadtverordnetenversammlungen und andere Beschlußorgane ohne Ausführungsbefugnisse sind keine Behörden, weil ihnen die Vertretungsbefugnis fehlt. Auf diese Wortinterpretation kann jedoch nicht abgestellt werden. Der Sinn der Vorschrift, das öffentliche Wohl vor Schaden zu bewahren, gebietet die Anwendung von § 96 auch auf Schriften, die etwa bei Bundestagsausschüssen amtlich verwahrt werden. § 96 ist daher auch auf Parlamente, Beschlußorgane usw. anzuwenden (BGHSt. 20 190)8. 4. Die Sperrerklärung. Die Sperrerklärung muß den ausdrücklichen Inhalt haben, daß das Bekanntwerden des Inhalts des angeforderten Schriftstücks dem Wohl des Bundes oder eines deutschen Landes Nachteile bereiten würde. Ist das Schriftstück im Gewahrsam einer Gemeinde, so genügt ein Nachteil für diese nicht. Eine Begründung kann nicht gefordert und wird in der Regel nicht gegeben werden. Der Weigerung steht es gleich, wenn Akten unter dem Verbot der Bekanntgabe an die Prozeßbeteiligten „zu vertraulicher Kenntnisnahme" mitgeteilt werden (RGSt. 44 291). Das Gericht oder die Staatsanwaltschaft fordert die Akten an. Die ersuchte Behörde führt, wenn sie gegen die Herausgabe Bedenken hat oder durch Dienstvorschriften dazu gehalten ist, die Entscheidung der vorgesetzten Behörde und diese ggf. die Erklärung der obersten Dienstbehörde herbei. Die ersuchte Behörde wird der ersuchenden eine Zwischenmitteilung geben, wenn eine solche Prüfung eingeleitet wird. Die oberste Dienstbehörde kann auch von Amts wegen die Erklärung jederzeit abgeben, auch wenn die untere Behörde die Akten bereits ausgeliefert hat. Oberste Dienstbehörde ist in der Regel, z. B. im Bund nach Art. 65 Satz 2 GG, der zuständige Fachminister, bei republikanischer Staatsverfassung das Kabinett, z. B. nach Art. 118 brem. LVerf. der Senat. Für Gemeinden ist oberste Dienstbehörde der Landesinnenminister, in Angelegenheiten im übertragenen Wirkungskreis, die einer besonderen Fachaufsicht unterliegen, der zuständige Fachminister. 5. Folgen. Folge der Sperrerklärung ist, wie unter 1 dargestellt, der Ausschluß jeder weiteren Erörterung. Die Beschlagnahme wird nicht durch die Sperrerklärung unzulässig, sondern war es auch ohne sie schon vorher. Ist die Erklärung abgegeben, so kann wegen der NichtVerwendung des Beweismittels die Verletzung der Aufklärungspflicht (§ 244 Abs. 2) nicht mehr gerügt werden. Das Beweismittel ist aus dem Kreis der Aufklärungsmittel ebenso ausgeschieden wie das Wissen einer Person, die von ihrem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch gemacht hat (RGSt. 72 271). Werden die Akten übersandt, dann brauchen die die Akten verwertenden Behörden die Frage der Benachteiligung des öffentlichen Wohles nicht zu prüfen®. Sie können eine 5

F e i s e n b e r g e r 1; E b S c h m i d t 3; S c h w a r z , 22 Aufl. 1; a. A. M ü l l e r - S a x 2a. A . A.— Beschlagnahme zulässig — E b S c h m i d t 3. 7 RGSt. 18 246; 4 0 161; 57 323; 6 9 357; B e h r Hans. RZ 1917/18 143; H ä n s e l , Der Behördenbegriff, Diss. Leipzig 1937, S. 29. Einzelheiten in den Kommentaren zu § 114 StGB. 8 A. A. — nicht anwendbar auf gesetzgebende Körperschaften und Gemeinderäte — S c h w a r z , 22. Aufl. 1 A. ' N i e s e 140. 6

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Achter Abschnitt. Beschlagnahme, Überwachung des Fernmeldeverkehrs und Durchsuchung (Dünnebier)

§ 96 Anm. 6—8

Prüfung der übersendenden Behörde anregen. An eine ergangene Entscheidung, auch der unteren Behörde, daß sie keine Veranlassung sehe, eine Erklärung der obersten Behörde beizuziehen, sind sie gebunden. Wird die Sperrerklärung nach Übersendung der Akten abgegeben, so sind diese zurückzugeben; sie scheiden aus dem Verfahren aus. Haben Gerichtspersonen von ihnen schon außerhalb einer Hauptverhandlung, etwa zu deren Vorbereitung, Kenntnis genommen, so dürfen sie ihr Wissen nicht verwerten. Können sie einen Einfluß auf ihre Entscheidung nicht ausschließen, so müssen sie nach § 30 verfahren. Sind die Akten schon in der Hauptverhandlung zum Zwecke des Beweises vorgetragen worden, so ist die danach abgegebene Sperrerklärung bedeutungslos. 6. Anfechtbarkeit. Die unterschiedliche Auffassung zwischen Justiz- und Verwaltungsbehörden über den Begriff des Wohles des Bundes oder eines Landes und die allgemeine gerichtliche Nachprüfung von Entscheidungen der Verwaltungsbehörden lassen der Praxis eine gerichtliche Nachprüfung auch der Sperrerklärung wünschenswert erscheinen. Nach geltendem Recht findet sie nicht statt. Das Strafgericht hat nicht über die Berechtigung einer Sperrerklärung zu entscheiden 10 , weil ihm die Zuständigkeit fehlt, über die Verwaltung zu urteilen. Die Verwaltungsgerichte sind nicht zuständig, weil Staatsanwaltschaft, Privatund Nebenkläger und Beschuldigter nicht in ihren Rechten verletzt sind 11 . Abhilfe könnte nur der Gesetzgeber schaffen, etwa indem kraft ausdrücklicher Gesetzesvorschrift das oberste Bundes- oder Landesgericht des Verwaltungszweiges der die Sperrerklärung abgebenden Behörde von dem Beweisführer um gerichtliche Entscheidung angegangen werden könnte 12 . 7. Sonstige Einschränkungen. § 95 begründet keine prozessuale Vorlagepflicht der Behörden, sondern setzt sie voraus. Sie ist im Grundsatz in Art. 35 G G enthalten, doch steht dort im Vordergrund, daß die Rechtshilfe nicht an den Landesgrenzen haltmachen darf. Den Rechtshilfeverkehr im einzelnen zu regeln, ist Sache der Länder (§ 168 GVG). Diese sind berechtigt, bestimmte Urkunden (Grundbücher, Handakten der Staatsanwaltschaft, Senatsakten der Revisionsgerichte) von der Versendung auszuschließen. Die beweisführende Behörde muß sich mit Abschriften, Ablichtungen oder der Einsicht, dem Augenschein am Verwahrungsort, begnügen. Nur für Urkunden, bei denen es zur Beweisführung nicht auf einen auch sonst beweiserheblichen (Eigentum, Geschäftsführerbestellung) sondern auf einen eine Strafbarkeit unmittelbar begründenden Inhalt (Fälschung, beleidigender, obszöner, staatsgefahrdender Inhalt einer Schrift) ankommt, muß eine Ausnahme gelten; sie müssen, wenn nicht die Sperrerklärung abgegeben wird, in Natur vorgelegt werden. 8. Kein Beweisverbot. Hat das Gericht entgegen § 96 gesperrte Schriftstücke verwertet, so begründet das kein Beweisverwertungsverbot für das weitere Verfahren (eher zust. R o x i n § 36 B II 2). Zwar stehen auch hier hohe, schutzwürdige Interessen auf dem Spiel, aber nicht solche des Angeklagten, sondern des Staates. Das Bekanntwerden, etwa eines Staatsgeheimnisses, durch die Hauptverhandlung oder durch das schriftliche Urteil soll verhütet werden. Daher ist das Gericht, wenn ihm trotz einer Sperrerklärung von dieser betroffene Schriftstücke zugänglich geworden sind, bis zur Urteilsfällung verpflichtet, die Schriften zurückzugeben und ihren Inhalt bei der Beweiswürdigung außer Betracht zu lassen; ggf. muß es nach § 30 verfahren. Sind die Schriften aber versehentlich zur Beweisführung im Urteil benutzt und damit bekanntgeworden, dann ist der Zweck der Vorschrift hinfällig geworden; Interessen, deren Schutz jetzt noch die Verwertung des erlangten Beweises verböte, sind nicht ersichtlich. Der Angeklagte kann alsdann seine Revision nicht darauf stützen, daß ein verbotenes Beweismittel verwendet worden sei (a. A. E b S c h m i d t 5 zu §96). Die 10

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vgl. B G H Z NJW 1952 305; a. A. für die Auskunfts- und Aussageverweigerung BVerwGE 8 324 = NJW 1959 1426 - abl. R u p p JZ 1960 66; V o g e l NJW 1959 1938 - und eingehend W i t t e n NJW 1961 757; LG Bonn JZ 1965 34, abl. R u p p . § 42 Abs. 2 VwGO; im Ergebnis ebenso S t r a t e n w e r t h 695 Anm. 30; a. A. — in beschränktem Umfange Recht auf Akteneinsicht — v o n K ö h l e r 1463. ähnlich S t r a t e n w e r t h 695; vgl. auch für die Aussagegenehmigung bei Beamten B e l i n g , Beweisverbote 36.

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§97

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

Abgabe der Sperrerklärung bewirkt daher wohl in der Regel den Beweisverlust, begründet aber kein volles Beweisverbot mit der Folge, daß ein wider die Erklärung erlangter Beweis stets unbeachtlich sei I3 .

§97 (1) Der Beschlagnahme unterliegen nicht 1. schriftliche Mitteilungen zwischen dem Beschuldigten und den Personen, die nach § 52 oder § 53 Abs. 1 Nr. 1 bis 3 das Zeugnis verweigern dürfen; 2. Aufzeichnungen, welche die in § 53 Abs. 1 Nr. 1 bis 3 Genannten über die ihnen vom Beschuldigten anvertrauten Mitteilungen oder über andere Umstände gemacht haben, auf die sich das Zeugnisverweigerungsrecht erstreckt; 3. andere Gegenstände einschließlich der ärztlichen Untersuchungsbefunde, auf die sich das Zeugnisverweigerungsrecht der in § 53 Abs. 1 Nr. 1 bis 3 Genannten erstreckt. (2) Diese Beschränkungen gelten nur, wenn die Gegenstände im Gewahrsam der zur Verweigerung des Zeugnisses Berechtigten sind; Gegenstände, auf die sich das Zeugnisverweigerungsrecht der Ärzte, Zahnärzte, Apotheker und Hebammen erstreckt, unterliegen der Beschlagnahme auch dann nicht, wenn sie im Gewahrsam einer Krankenanstalt sind. Die Beschränkungen der Beschlagnahme gelten nicht, wenn die zur Verweigerung des Zeugnisses Berechtigten einer Teilnahme, Begünstigung oder Hehlerei verdächtig sind, oder wenn es sich um Gegenstände handelt, die durch ein Verbrechen oder Vergehen hervorgebracht oder zur Begehung eines Verbrechens oder Vergehens gebraucht oder bestimmt sind oder die aus einer solchen Straftat herrühren. (3) Soweit das Zeugnisverweigerungsrecht der Mitglieder des Bundestages, eines Landtages oder einer zweiten Kammer reicht ( § 5 3 Abs. 1 Nr. 4), ist die Beschlagnahme von Schriftstücken unzulässig. (4) Die Absätze 1 bis 3 sind entsprechend anzuwenden, soweit die in § 53a Genannten das Zeugnis verweigern dürfen. (5) Zu dem Zweck, die Person des Verfassers, Einsenders oder Gewährsmanns einer Veröffentlichung oder Sendung strafbaren Inhalts zu ermitteln, ist die Beschlagnahme von Schriftstücken unzulässig, die sich im Gewahrsam der nach § 53 Abs. 1 Nr. 5 und 6 zur Verweigerung des Zeugnisses Berechtigten befinden. Entstehungsgeschichte: § 97 hatte früher den Inhalt, daß schriftliche Mitteilungen zwischen dem Beschuldigten und den Personen, die wegen ihres Verhältnisses zu ihm nach den §§ 52 oder 53 zur Verweigerung des Zeugnisses berechtigt sind, nicht der Beschlagnahme unterliegen, wenn sie sich in den Händen dieser Personen befinden und diese nicht der Teilnahme, Begünstigung oder ^Hehlerei verdächtig sind. Die gegenwärtige Fassung beruht auf Art. 4 Nr. 12 des 3. StRÄndG. Die Änderung verfolgt im wesentlichen das Ziel, das Verbot über die Beschlagnahme schriftlicher Mitteilungen hinaus auch auf Aufzeichnungen über solche und sonstige Gegenstände zu erstrecken (Begrdg., BTDrucks. I 3713, S. 49). Schrifttum: F u s s , Pressefreiheit und Geheimnisschutz, NJW 1962 2228; G ö p p i n g e n Die Entbindung von der Schweigepflicht und die Herausgabe oder Beschlagnahme von Krankenblättern, NJW 1958 241; K l u g , Presseschutz im Strafprozeß, 1965; K o h l h a a s , Zur Beschlagnahme von Arztkarteien nach Entbindung von der Schweigepflicht, JR 1958 328; Die strafprozessuale Verwertbarkeit beschlagnahmter Krankenblätter, NJW 1962 670; Herausgabepflicht und Beschlagnahme ärztlicher Aufzeichnungen, NJW 1964 1162; v. d. P f o r d t e n , Beschlagnahme und Durchsuchung bei Abgeordneten, LZ 1923 216.

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RGSt. 72 268 behandelt die hiervon verschiedene Frage, ob ein Urteil Bestand haben kann, wenn das Gericht dem Verteidiger vorenthaltene Akten verwertet hat.

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Achter Abschnitt. Beschlagnahme, Überwachung des Fernmeldeverkehrs und Durchsuchung (Dünnebier)

§97 Anm. I; II 1

Übersicht I. Zweck der Vorschrift II. Beschlagnahmefreie Gegenstände 1. Schriftliche Mitteilungen 2. Aufzeichnungen 3. Andere Gegenstände 4. Schriftstücke III. Personenkreis 1. Grundsatz 2. Beschuldigter 3. Angehörige 4. Geistliche 5. Ärzte und Anwälte 6. Abgeordnete 7. Hilfspersonen 8. Presse und Rundfunk

IV. Voraussetzungen und Hindernisse der Beschlagnahmefreiheit 1. Gewahrsam 2. Abgeordnete 3. Ärzte 4. Presseangehörige 5. Gewahrsamsaufgabe und -Verlust 6. Mitbeschuldigte 7. Deliktsgegenstände 8. Entbindung 9. Krankengeschichten V. Folgen 1. Beschlagnahmeverbot 2. Belehrung 3. Durchführung 4. Beweisverbot 5. Einverständnis 6. Widerruf

I. Zweck der Vorschrift. Die Vorschrift ergibt sich notwendig aus §§ 52, 53, 53a. Der Vertrauensschutz, den diese Bestimmungen einräumen wollen, wäre unvollständig, wenn er auf das gesprochene Wort beschränkt bliebe. Deshalb hat § 97 schon immer ein Beschlagnahmeverbot für schriftliche Mitteilungen zwischen dem Beschuldigten und den zeugnisverweigerungsberechtigten Vertrauenspersonen enthalten. Mit Rücksicht auf die beruflichen Gepflogenheiten namentlich der Arzte und Rechtsanwälte mußte der Schutz auf Aufzeichnungen erstreckt und wegen der technischen Untersuchungsmethoden auf Gegenstände ausgedehnt werden. Der gesetzgeberische Zweck, einer Umgehung der Vorschriften über das Zeugnisverweigerungsrecht entgegenzutreten, ist bei der Auslegung stets im Auge zu behalten. Namentlich folgt aus diesem Zweck und aus dem eindeutigen Wortlaut von § 97 Abs. 2 Satz 1, erstem Halbsatz, daß kein Beschlagnahmeverbot besteht, wenn die privilegierte Person nicht als Zeuge sondern selbst als Beschuldigter in Betracht kommt (OLG Hamburg N J W 1962 689; O L G Celle N J W 1963 407; NJW 1965 363; K o h l h a a s JR 1965 110; N J W 1964 1166). D a ß dadurch ein anvertrautes Geheimnis bekannt wird, nimmt der Gesetzgeber hin, doch kann das Bekanntwerden keine strafrechtliche Auswirkung auf eine nicht wegen der gleichen Tat beschuldigte Person haben, die der Vertrauensperson das Geheimnis anvertraut hat (V3 Abs. 2). II. Beschlagnahmefreie Gegenstände. 1. Schriftliche Mitteilungen. Unter den Begriff Mitteilungen fallen Gedankenäußerungen, die eine Person (Absender) einer anderen (Empfanger) zukommen läßt, damit diese durch Kenntnis und Aufnahme an dem Gedanken teilhabe. Ob dieser Zweck erfüllt wird, ja ob der Empfanger das Mitgeteilte auch nur liest, ist gleichgültig; es kommt nur auf die Absicht des Mitteilens an. Deshalb tritt die Beschlagnahmefreiheit schon ein, wenn der Absender die Mitteilung abgesetzt und zum Absenden bestimmt hat, auch wenn sie bei ihm liegen geblieben ist, sofern Absender die Vertrauensperson und nicht der Beschuldigte ist. Denn nach dem Wortlaute sind von der Beschlagnahme auch Mitteilungen der Vertrauensperson an den Beschuldigten ausgenommen, wenn sie sich im Gewahrsam der Vertrauensperson befinden (Absatz 2, 1. Halbsatz). Demzufolge fallen derartige Mitteilungen auch dann unter die Beschlagnahmefreiheit, wenn sie von dem Beschuldigten, der sie von der Vertrauensperson empfangen hatte, an diese zurückgegeben worden sind. Ein Grund für die Freistellung von Mitteilungen der Vertrauensperson an den Beschuldigten ist eigentlich nur gegeben, wenn die Mitteilung der Vertrauensperson sich auf eine voraufgegangene des Beschuldigten an jene bezieht. Die umfassende Privilegierung dürfte gewählt sein, weil eine Abgrenzung schon in der gesetzlichen Anordnung nicht leicht wäre, der Praxis aber noch größere Schwierigkeiten bereiten müßte. 573

§97 Anm. II 2 - 4 ; III 1

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

Schriftlich ist nicht nur das als solches geschriebene, sondern auch ein umschriebenes Wort. Daher sind schriftlich auch Mitteilungen durch Zeichnungen, durch Noten, in Rätselform, Ortsskizzen usw. Zweck und Inhalt sind gleichgültig; eine Beziehung zur Straftat oder zum Strafverfahren braucht nicht gegeben zu sein. Ebenso ist der Zeitpunkt der Mitteilung ohne Bedeutung; es macht keinen Unterschied, ob sie vor oder nach der Tat, vor oder nach Eröffnung der Untersuchung stattgefunden hat. Endlich ist bedeutungslos, ob der Absender die Mitteilung selbst geschrieben oder sich fremder Hilfe bedient hat. Im einzelnen fallen danach namentlich unter den Begriff: Briefe, Karten, Telegramme, Widmungen auf Geschenken, namentlich in Büchern, Zeichnungen und Grafiken, Eintragungen in Gästebüchern, auf Tanz- und Tischkarten u. dgl., gleichviel ob der Beschuldigte sie an die privilegierte Person gerichtet hat oder umgekehrt, sofern sie sich — im letzten Falle noch oder wieder — im Gewahrsam der privilegierten Person befinden. Sonstige Schriftstücke, die keine Mitteilung an einen Empfänger enthalten, sind nicht nach Absatz 1 Nr. 1 von der Beschlagnahme befreit. Danach fallen bei einer privilegierten Person hinterlegte Werkzeichnungen, ebendort versteckte Buchhaltungsunterlagen usw. nach Nr. 1 nicht unter das Beschlagnahmeverbot. Bei einem Tagebuch kommt es auf den Willen des Verfassers an, ob er den Inhalt dem Empfanger mitteilen oder das Buch bei ihm verwahren wollte. Sonstige Schriftstücke können aber andere Gegenstände i. S. von Absatz 1 Nr. 3 oder Schutzobjekte nach den Absätzen 3 und 5 sein. 2. Aufzeichnungen. Der Begriff ist im weitesten Sinne zu verstehen. Er umfaßt neben schriftlichen Aufzeichnungen in jeder Form und Schrift u. a. Lochstreifen, Lochkarten und Tonträger. Namentlich gehören hierher Aufzeichnungen in Krankengeschichten und Karteien der Ärzte und in den Handakten der Rechtsanwälte (Begr. S. 49). Es ist bedeutungslos, ob die privilegierte Person die Aufzeichnungen selbst niedergeschrieben oder sich fremder Hilfe bedient und ob diese Hilfe sich nur auf das Schreiben oder auch auf die Fassung erstreckt hat, solange nur der Gedanke von einer solchen Person herrührt. 3. Andere Gegenstände sind u. a. vom Arzt aus dem Körper des Beschuldigten entfernte Fremdkörper, dem Anwalt übergebene Urkunden, ärztliche Untersuchungsbefunde wie Röntgenaufnahmen, Kardiogramme, Blutbilder, Alkoholbefunde usw. (Begr. S. 49). Unter die anderen Gegenstände können namentlich auch Schriftstücke fallen (LG Kiel SchlHA 1955 368). Dabei ist die Beschlagnahmefreiheit bei einem Verteidiger verwahrter Schriftstücke nicht auf solche beschränkt, die erst nach der Anwaltswahl und auf Grund des zwischen dem Beschuldigten und dem Anwalt bestehenden Vertrauensverhältnisses neu entstanden sind ( M a y e r SchlHA 1955 349). Der Beschuldigte kann Uberführungsstücke dem Strafverfahren nicht dadurch entziehen, daß er sie einer privilegierten Person zum Verstecken übergibt. Denn die Beschlagnahmefreiheit ist — wie unter 3 ausgeführt — dadurch beschränkt, daß die Gegenstände nur dann geschützt sind, wenn sie der privilegierten Person in einer besonderen Eigenschaft (als Arzt, Seelsorger, Abgeordneter) und für die beruflichen Zwecke dieser Person ( M a y e r SchlHA 1955 349) anvertraut worden sind, nicht zum Zwecke des Versteckens. Wegen des Mangels eines solchen Zwecks sind bei den Angehörigen sonstige Schriftstücke und Gegenstände nicht von der Beschlagnahmefreiheit erfaßt. 4. Schriftstücke. Der Ausdruck, der in Absatz 3 vorkommt, wird auch von den „anderen Gegenständen" des Absatzes 1 Nr. 3 umfaßt. Er erstreckt sich seinerseits auf die schriftlichen Mitteilungen des Absatzes 1 Nr. 1 und die Aufzeichnungen der Nummer 2, ergreift aber darüber hinaus alle schriftlich fixierten Gedankenäußerungen, gleichgültig wann und für wen sie verfaßt sind und ob sie einen Verfasser erkennen lassen oder nicht. Insbesondere fallen hierunter die Manuskripte für Veröffentlichungen und Rundfunksendungen. Im übrigen gilt wegen der Schriftlichkeit das zu 1 Ausgeführte. III. Personenkreis. 1. Grundsatz. Die in Absatz 1 genannten Gegenstände sind nicht in jedem Fall schlechthin von der Beschlagnahme ausgenommen, sondern grundsätzlich nur dann, wenn wegen eines Zeugnisverweigerungsrechts über das, was der Gegenstand offenbart, von dem Ver574

Achter Abschnitt. Beschlagnahme, Überwachung des Femmeldeverkehrs und Durchsuchung (Dünnebier)

§ "7 Anm. III 2—5

wahrer (oder wenn dieser eine Krankenanstalt ist, von der Medizinalperson, die den Gewahrsam begründet hat) keine Aussage verlangt werden könnte. Dazu muß die privilegierte Person wegen einer besonderen, in der Regel familiären oder beruflichen, Eigenschaft und im letzteren Fall für den beruflichen Zweck in den Besitz des Geheimnisses gelangt sein. Hieraus folgt eine notwendige Beschränkung des Kreises der beschlagnahmefreien Gegenstände. Keine Rolle dagegen spielt es, wenn die besondere Eigenschaft wieder weggefallen, z. B. die Ehe geschieden (§ 52 Abs. 1 Nr. 2), der Geistliche emeritiert, der Verteidiger entlassen, der Abgeordnete aus dem Parlament ausgeschieden ist. Im einzelnen ergibt sich für die verschiedenen Personengruppen und den Beschuldigten, aus deren Beziehung zueinander der Gegenstand herrührt, das Folgende: 2. Beschuldigter ist der einer strafbaren oder mit Strafe bedrohten (§ 429a) Handlung durch Strafanzeige oder Strafantrag Bezichtigte oder der einer solchen Tat Verdächtige, wenn gegen ihn, gleichviel ob mit oder ohne seine Kenntnis, wegen jener Tat behördlich eingeschritten wird. In einem Verfahren gegen Unbekannt gibt es keinen Beschuldigten 1 , doch kommt es auf die irrtümliche Auszeichnung der Sache nicht an, sofern nur ein Tatverdächtiger verfolgt wird (RGSt. 50 242), wobei der erste Verfolgungsakt in einer Beschlagnahme bestehen kann (OLG CeUe NJW 1963 204). Der Unterschied zwischen dem Beschuldigten und dem Verdächtigen, der in den Debatten zunächst eine Rolle gespielt hatte ( H a h n Mat. 1 624), ist durch die später beschlossene Terminologie (§ 157) 2 grundsätzlich überholt 3 , soweit eine Person in Rede steht, gegen die Verfolgungsmaßnahmen ergriffen werden; er spielt nur in § 102 noch eine Rolle (1 zu § 102). Er hat indessen eine selbständige Bedeutung, wenn der Tatverdacht eines anderen als des in dem Verfahren Verfolgten prozessuale Folgen auslöst, ohne daß gegen den anderen notwendigerweise eine Strafverfolgung begonnen hat oder beginnt (z. B. § 60 Nr. 3, § 97 Abs. 2 Satz 2). Die Eigenschaft als Beschuldigter dauert bis zur Beendigung der Untersuchung (II 1 zu § 94). Der Einziehungsbeteiligte (§ 433 Abs. 1) steht dem Beschuldigten nicht gleich. Er hat zwar, und auch erst von der Eröffnung des Hauptverfahrens an, die Befugnisse, die einem Angeklagten zustehen, aber nur zu dem Zwecke, durch Verleihung von Prozeßrechten seine Vermögensrechte wahrnehmen zu können. Dadurch wird er dem Beschuldigten nicht gleichgestellt4; dazu läge auch kein Anlaß vor. 3. Angehörige. Erfaßt wird der Kreis der in § 52 genannten Personen: Verlobte, Ehegatten und gewisse Verwandte und Verschwägerte. Von der Beschlagnahme ausgenommen sind lediglich schriftliche Mitteilungen (II 1), diese aber ohne Beschränkung und ohne Rücksicht auf ihren Inhalt. Das Beschlagnahmeverbot bleibt auch dann erhalten, wenn die Ehe der Ehegatten oder die, welche die Schwägerschaft begründet hatte, nicht mehr besteht. 4. Geistliche. Beschlagnahmefrei sind schriftliche Mitteilungen (II 1) zwischen ihnen und den Beschuldigten schlechthin; Aufzeichnungen (II 2) über ihnen in ihrer Eigenschaft als Seelsorger anvertraute Mitteilungen; Aufzeichnungen über andere Umstände, die ihnen in jener Eigenschaft anvertraut oder bekannt geworden sind; sowie Gegenstände, die ihnen in dieser Eigenschaft anvertraut worden sind (§ 53 Abs. 1 Nr. 1). 5. Ärzte und Anwälte. Für Verteidiger, Rechtsanwälte, Patentanwälte, Notare, Wirtschaftsprüfer, vereidigte Buchprüfer, Steuerberater und Steuerbevollmächtigte, Ärzte, Zahnärzte. Apotheker und Hebammen (§ 53 Abs. 1 Nr. 2 und 3) gilt das für die Geistlichen Gesagte. Jedoch entfallt mit dem Einverständnis des Beschuldigten das Zeugnisverweigerungsrecht (§ 53 Abs. 2) und damit die Beschlagnahmefreiheit (RG Recht 1927 2623; IV 8). 1 2 3 4

O L G Hamburg DStRZ 1922 306; a. A. E b S c h m i d t 8. wie gelegentlich übersehen worden ist (vgl. noch RGSt. 2 0 91). P u c h e l t 4. Kl 1 zu § 433; E b S c h m i d t Nachtr. 2 5 zu § 433.

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§ 97 Anm. III 6 - 8 ; IV 1

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

Legen die Vertrauenspersonen Akten oder ähnliche Sammlungen an (Handakten der Rechtsanwälte, Krankengeschichten, Karteiblätter der Ärzte), dann sind von der Beschlagnahme nur die Teile ausgenommen, die Mitteilungen des Beschuldigten und, etwa durch Untersuchungen oder Mitteilungen anderer bekannt gewordene, Tatsachen betreffen, die sich auf das Anvertraute oder Bekanntgewordene beziehen. Folgerungen hieraus sind nach § 97 nicht beschlagnahmefrei, soweit sie von den Tatsachen trennbar sind. Eine solche Trennung ist denkbar, wird aber regelmäßig unmöglich sein. Zudem sind die Folgerungen des Arztes kein Zeugenwissen und daher nicht Beweismittel aus Zeugenhand, so daß in der Regel kein Rechtsgrund für eine Beschlagnahme gegeben sein wird. Daher sind grundsätzlich die gesamten Handakten, Krankengeschichten usw. der Beschlagnahme entzogen. 6. Abgeordnete. Erfaßt ist der Personenkreis des § 53 Abs. 1 Nr. 4. Beschlagnahmefrei sind Schriftstücke über Personen, die Abgeordneten in ihrer Abgeordneteneigenschaft Tatsachen anvertraut haben und über diese Tatsachen selbst, also namentlich (II 4) der Briefwechsel zwischen dem Beschuldigten und dem Abgeordneten, Protokolle über Besprechungen, Denkschriften des Beschuldigten (v. d . P f o r d t e n 214). Das Wort anvertraut in § 53 Abs. 1 Nr. 4 ist wie in § 53 Abs. 1 Nr. 1 bis 3 als „anvertraut worden oder bekannt geworden" zu lesen. Die Änderung der letztgenannten Vorschriften sollte nichts Neues bringen, sondern nur eine allgemeine Auslegung des Wortes „anvertraut" gesetzlich festlegen (Begr. S. 47). Alsdann ist diese Auslegung auch für § 53 Abs. 1 Nr. 4 zu übernehmen. Diese Vorschrift konnte die Worte „oder bekannt geworden" nicht aufnehmen, weil der Wortlaut des Art. 4 7 G G erhalten bleiben sollte. Die Schriftstücke brauchen daher nicht „vertraulich" 5 zu sein. 7. Hilfspersonen. Soweit die Beschlagnahme wegen der Beziehung des Geheimnisses zu einer der unter 3 bis 6 genannten Personen unzulässig ist, ist sie es auch, wenn eine der in § 53 a genannten Hilfspersonen das Geheimnis für die Hauptperson empfangen hat. 8. Presse und Rundfunk. Schriftstücke und Unterlagen, die sich im Gewahrsam von Redakteuren, Journalisten, Verlegern, Herausgebern, Druckern und anderer Personen, die bei der Herstellung oder Veröffentlichung eines periodischen Druckwerks berufsmäßig mitwirken, befinden, dürfen nicht zu dem Zwecke beschlagnahmt werden, die Person des Verfassers, Einsenders oder Gewährsmannes oder den Inhalt einer zur Veröffentlichung bestimmten Äußerung oder der einer Veröffentlichung zugrunde liegenden Mitteilung zu ermitteln oder nachzuweisen 6 . Das gleiche gilt für Intendanten, Programmdirektoren, Redakteure und andere, die bei der Vorbereitung oder Durchführung einer Sendung beruflich mitgewirkt haben. IV. Voraussetzungen und Hindernisse der Beschlagnahmefreiheit. 1. Gewahrsam. Die Beschränkung tritt nur ein, wenn sich die Gegenstände im Gewahrsam der unter III 3 bis 7 genannten Personen befinden. Gewahrsam bedeutet das tatsächliche Herrschaftsverhältnis, richtiger (denn das Wort Gewahrsam ersetzt die alte Form „in den Händen") die tatsächliche alleinige Verfügungsmacht über das Geheimnis. Es besteht auch dann als Gewahrsam des Geheimnisträgers, wenn sich die Gegenstände in einem Schließfach befinden, das nur gemeinsam mit dem Vermieter des Fachs, etwa einer Bank, geöffnet werden kann, soweit nur die alleinige Verfügung über das Geheimnis erhalten bleibt. Aber auch wenn der Gewahrsamsinhaber die Sache an eine ihm zum Stillschweigen verpflichtete Stelle vorübergehend (Finanzamt, Treuhand- und Buchprüfungsgesellschaft, ärztliche Verrechnungsstelle) oder auch für unabsehbare Zeit (Ärztekammer; O L G Celle M D R 1952 376) 5 6

So v. M a n g o l d t - K l e i n l l l 5a zu Art. 47. Baden-Württemberg: § 2 3 Abs. 4 und 5 (mit Einschränkungen), § 2 5 Abs. 1 Nr. 1; Berlin: § 18 Abs. 2; Bremen: § 2 3 Abs. 2, § 2 5 Abs. 1 und 4; Hamburg: § 2 2 Abs. 2; Hessen: § 2 3 ; Niedersachsen: § 23 Abs. 2, § 25 Abs. 1 und 3; Nordrhein-Westfalen: § 24 Abs. 2, § 26 Abs. 1 und 3; Rheinland-Pfalz: § 2 3 Abs. 2, § 2 4 Abs. 1; Saarland: § 2 3 Abs. 2; Schleswig-Holstein: § 23 Abs. 2, § 25 Abs. 1 und 2.

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® Anm. IV 2—4

zur Aufbewahrung weitergibt, bleibt er verfügungsberechtigt und verbleibt die Sache in seinem Mitgewahrsam 7 . Verliert er jedoch durch den Mitgewahrsam eines Dritten die ausschließliche Verfügungsmacht, dann ist die Sache nicht mehr ihm allein anvertraut; damit entfällt der Grund für die Beschlagnahmefreiheit, die Schonung dessen, der über das Geheimnis verfügen kann, und damit diese selbst. Das ist stets der Fall, wenn der Gegenstand in den Mitgewahrsam des Beschuldigten gelangt (BGHSt. 19 374); denn bei diesem selbst ist die Beschlagnahme unbeschränkt zulässig. Hat also ein (beim Schreiben oder später) beschuldigter Ehemann seiner auf Reisen befindlichen Frau einen Brief geschrieben, dann endet die Beschlagnahmefreiheit, wenn sie ihn nach der Rückkehr ihrem Mann zur Verwahrung im gemeinschaftlich benutzten Schreibtisch übergibt. Das gleiche ist der Fall, wenn die Frau an den beschuldigten Mann schreibt und dieser den Brief nach der Rückkehr in die gemeinschaftliche Verwahrung der Eheleute bringt. Hier bewirkt der Mitgewahrsam der Ehefrau nicht, daß der Brief beim beschuldigten Ehemann nicht beschlagnahmt werden könnte; denn sie hat nicht die tatsächliche alleinige Verfügungsmacht über das Geheimnis. 2. Für Abgeordnete gilt keine Abweichung. In Art. 38 WeimVerf. hieß die einschlägige Bestimmung: „Auch in Beziehung auf Beschlagnahme von Schriftstücken stehen sie den Personen gleich, die ein gesetzliches Zeugnisverweigerungsrecht haben." Für diese Personen bestimmte § 97, „daß schriftliche Mitteilungen zwischen dem Beschuldigten und den Personen, die wegen ihres Verhältnisses zu ihm nach den §§ 52 oder 53 zur Verweigerung des Zeugnisses berechtigt sind, der Beschlagnahme nicht unterliegen, falls sie sich in den Händen der letzteren Personen befinden . . . " . Demzufolge bestand kein Zweifel, daß Art. 38 WeimVerf. die Beschlagnahme lediglich solcher Schriften verbot, die sich im Besitz von Abgeordneten befanden 8 . Es ist kein Anhaltspunkt gegeben, daß der Parlamentarische Rat von diesem Grundsatz hat abgehen wollen. Der Ch.E. lautete: „Im gleichen Umfang ist auch die Beschlagnahme von Schriftstücken bei einem Abgeordneten zulässig." Der Artikel hat sämtliche Ausschüsse und das Plenum ohne sachliche Erörterungen durchlaufen. Die jetzige Fassung beruht auf einer lediglich redaktionellen Änderung des Redaktionsausschusses (JahrbÖR N F 1 375). Ihr kann keine Änderung des Grundsatzes entnommen werden, für die auch kein Grund ersichtlich wäre. Die privilegierte Person soll weder durch Aussage noch durch Herausgabe noch auch durch Duldung der Beschlagnahme gezwungen werden, zur Belastung eines Beschuldigten beizutragen, der sich ihr im Vertrauen zugewendet hatte. Dieser gesetzgeberische Grund trägt die Beschlagnahmefreiheit dann nicht, wenn ein anderer als der Abgeordnete, gar der Beschuldigte selbst, im Besitz des Geheimnisses ist. Das verkennt S c h n e i d e r 9 , wenn er in der Beschlagnahme bei der beteiligten Person eine Einschränkung des dem Abgeordneten durch das G G eingeräumten Rechts sieht10. 3. Bei Ärzten, Zahnärzten, Apothekern und Hebammen reicht, wegen der Anstellungsverhältnisse, auch der Gewahrsam einer Krankenanstalt aus. Der Begriff Krankenanstalt ist weit auszulegen; er umfaßt auch unter ärztlicher Betreuung stehende Genesungsheime, Pflege- und Verwahranstalten, die Kranken- und Revierabteilungen der Bundeswehr, der Polizei und von Vollzugsanstalten. Dagegen fallen die ärztlichen Verrechnungsstellen und die Ärztekammern nicht unter den Begriff, doch kann sie der Arzt zur Ausübung seines Gewahrsams verwenden (1). 4. Bei Presseangehörigen (III 8) ist das Beschlagnahmeverbot, um das Redaktionsgeheimnis wirksam zu machen, nicht allein auf ihren Gewahrsam abgestellt, vielmehr tritt das Beschlagnahmeverbot auch dann ein, wenn sich die Schriftstücke und Unterlagen in den Räumen der Redaktion, des Verlags und der Druckerei befinden (s. Fußn. 6). 7 8 9 10

K o h l h a a s NJW 1964 1163. A n s c h ü t z RVerf., 14. Aufl., 3 zu Art. 38. Bonn. Komm. II a zu Art. 47. Wie hier M a u n z - D ü r i g 22; v. M a n g o l d t - K l e i n III 5b; G i e s e II 2, je zu Art. 47; Eb. S c h m i d t , Nachtr. 16; K l 7 A; a. A. — Beschlagnahme auch bei Gewahrsam des Beschuldigten zulässig — M ü l l e r - S a x 5 Abs. 1.

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§ 97 Anm. IV 5, 6

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

5. Gewahrsamsaufgabe und -Verlust. Der Gewahrsam muß aus dem Verhältnis zum Beschuldigten unmittelbar entstanden sein. Sobald der Gegenstand aus diesem Gewahrsam durch eine Verfügung des Gewahrsamsinhabers oder durch Erbgang herauskommt, endet die Beschlagnahmefreiheit, selbst wenn der neue Gewahrsamsinhaber ebenfalls zeugnisverweigerungsberechtigt ist. Denn dem neuen Gewahrsamsinhaber war die Mitteilung nicht gemacht (RGSt. 28 286), er hat sie nicht aufgrund des Vertrauensverhältnisses erhalten, das § 97 schützen will. Daraus folgt jedoch eine Ausnahme für die in § 53 genannten Personen: Die Angehörigen (§ 52) empfangen die Mitteilung als Person, so daß der Schutz endet, wenn sie das Geheimnis entlassen oder wenn sie sterben. Auf die Tatsache, daß die Person, die das Schriftstück erhält, auch verweigerungsberechtigt ist, kann nicht abgestellt werden, weil das ein zufälliger Umstand i s t " . Dagegen nehmen die in § 53 Genannten das Geheimnis im Einzelfall zwar vielleicht auch als Person, grundsätzlich aber als Inhaber eines Berufs entgegen, der Vertrauen erfordert und verspricht. Gelangt daher die Mitteilung (Nr. 1), die Aufzeichnung (Nr. 2) oder der Gegenstand (Nr. 3) durch Übergang des Amtes oder der Praxis wieder in die Hand eines Verweigerungsberechtigten der gleichen Kategorie (Geistlicher, Verteidiger, Arzt, Abgeordneter), so setzt sich in dessen Person das alte Vertrauensverhältnis fort. Der Gedanke kommt auch dadurch zum Ausdruck, daß gewisse Gegenstände auch im Gewahrsam einer Krankenanstalt (Absatz 2 Satz 2) und in Pressearchiven usw. (4) geschützt sind. Die Mitteilungen usw. sind auch bei dem Nachfolger der Beschlagnahme entzogen. Erben, die den Nachlaß verwalten und noch nicht an einen Berufsnachfolger abgegeben haben, sind als Berufshelfer (§ 53 a, § 97 Abs. 6) anzusehen. Eine weitere Ausnahme gilt nach § 148 für die Post zwischen dem Beschuldigten und dem Verteidiger und umgekehrt. Sie unterliegt auf dem Wege zwischen den beiden, obwohl während dieser Zeit keiner von beiden Gewahrsam an ihr hat, an keiner Stelle der Beschlagnahme. Gibt der Gewahrsamsinhaber den Gewahrsam nicht freiwillig auf, sondern kommt ihm der Gegenstand abhanden, wird ihm gestohlen oder bei ihm in einer anderen Sache, in der sie nicht beschlagnahmefrei ist, beschlagnahmt, so bleibt die Beschlagnahmefreiheit bestehen; es kann nicht darauf ankommen, ob der Geheimnisträger seinen Rückforderungsanspruch rascher durchsetzen kann als die Behörde ihre Beschlagnahme. D a sein Besitzwille geblieben ist, wird er durch einen Überführungsbeitrag genauso belastet, wie wenn er im Besitz der Sache gewesen wäre 12 . 6. Mitbeschuldigte. D a es widersinnig wäre, den Schriftverkehr zwischen Mitbeschuldigten der Beschlagnahme zu entziehen, entfällt die Beschlagnahmefreiheit bei den unter III 3 bis 8 genannten Personen, wenn sie Mitverdächtige sind 13 . Darunter fallen Personen, die einer Teilnahme an der Tat i. S. des § 264 (BGHSt. 18 229), wegen deren die Beschlagnahme stattfinden soll, als Mittäter ( § 4 7 StGB), Nebentäter (vgl. RGSt. 25 17), Anstifter (§ 48 StGB), Gehilfe (§ 49 StGB), einer Begünstigung (§§ 257, 258 StGB) des Täters dieser Handlung, sei es einer persönlichen — dieser auch im Falle des § 257 Abs. 2 StGB —, sei es einer sachlichen, oder einer Hehlerei (§ 259 StGB) verdächtig sind. Anders als in § 3, der dem " A . A . E b S c h m i d t Nachtr. 6 bei Weitergabe der Mitteilung aus sachlich — notwendigen Gründen an eine andere zeugnisverweigerungsberechtigte Person. 12 A. A. M ü l l e r - S a x 2 c bb; Kl. 3 D. 13 In folgenden Pressegesetzen ausdrücklich bestimmt, allerdings nur bei dringendem Tatverdacht. Nordrhein-Westfalen: § 23 Abs. 4, Rheinland-Pfalz, Schleswig-Holstein: § 23 Abs. 3. Nach altem Recht konnte der Verdacht der Mittäterschaft die Beschlagnahmefreiheit nicht aufheben. Denn der Presseangehörige war zur Verweigerung des Zeugnisses gerade dann berechtigt, wenn er selbst bestraft werden konnte, d. h. also in der Regel, wenn er Mitverdächtiger war; der Grund, der die Beschlagnahmefreiheit herbeiführte, konnte sie nicht zugleich wieder aufheben. Nachdem aber das stets kritisierte Prinzip, bei Presseangehörigen das Zeugnisverweigerungsrecht und damit die Beschlagnahmefreiheit von der Bestrafung des Redakteurs abhängig zu machen, d. h. diesen zu bestrafen und die Informanten laufen zu lassen, aufgegeben worden ist (Ausnahme: BadenWürttemberg: § 23 Abs. 2 Nr. 1), ist es folgerichtig, dem Mitverdächtigen auch im Presserecht das Privileg zu nehmen. K l u g (71) hält eine Beschlagnahme zu dem Zwecke, die subjektiven Strafbarkeitsvoraussetzungen zu erforschen, grundsätzlich für unzulässig; vgl. dazu BVerfGE 20 2 0 3 = NJW 1966 1611.

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Achter Abschnitt. Beschlagnahme, Überwachung des Fernmeldeverkehrs und Durchsuchung (Dünnebier)

§97 Anm. IV 7

Zwecke dient, die an e i n e r Straftat Beteiligten in einer Verhandlung abzuurteilen, ist in § 97 — wie auch in § 102 — der Begriff eng auszulegen, weil seine Anwendung den von ihr Betroffenen belastet. Daher werden notwendige Beteiligte nicht von der Vorschrift umfaßt (RGSt. 14 194). Ebenso reicht, wenn mehrere Personen durch ihre Fahrlässigkeit zu demselben Erfolg beigetragen haben (vgl. RGSt. 64 379), diese „Beteiligung" nicht aus, die Beschlagnahmefreiheit aufzuheben. Der schlichte Verdacht ist weniger als der hinreichende Verdacht des § 203 oder gar der dringende Verdacht des § 112 Abs. 1, aber mehr als eine bloße Vermutung. Der Text stimmt mit § 60 Nr. 3 überein. Trotzdem bestehen Unterschiede, die sich dem gesetzgeberischen Ausdruck versagen. Bei § 60 Nr. 3 wird auf die Bekräftigung einer Aussage durch den Eid verzichtet, in § 97 Abs. 2 Satz 2 wird ein Beweis verbot aufgehoben und damit einer Vertrauensperson ein ihr anvertrautes Geheimnis entrissen. Die zu § 60 entwickelten Grundsätze können daher nur mit einer gewissen Vorsicht Anwendung finden. Die Großzügigkeit, mit der die Praxis den Fall des § 60 Nr. 3 zuweilen annimmt, darf auf § 97 Abs. 2 Satz 2 nicht übertragen werden. E b S c h m i d t leitet aus Absatz 2 Satz 2 die Beseitigung des Beschlagnahmeverbots für den Fall her, daß die Vertrauensperson im Verdacht der Täterschaft steht (Nachtr. 13). Soweit sie der Mittäterschaft verdächtig ist, ergibt sich das aus dem Text („Teilnahme", vgl. § 47 StGB). Soweit Verdacht der Alleintäterschaft der Vertrauensperson besteht, wäre der Schluß nicht unbedenklich, weil die Aufhebung der Beschlagnahmefreiheit ihren Grund in der verbrecherischen Beziehung zwischen der geschützten Person und der Vertrauensperson hat (OLG Celle NJW 1963 407), eine solche Beziehung im Falle der Alleintäterschaft aber nicht besteht. Es kommt jedoch auf diesen Schluß nicht an. Denn der Fall, daß der Gewahrsamsinhaber der Täter ist, fällt nach Sinn und Wortlaut des § 97 ohnehin nicht unter diese Vorschrift, die eine Vertrauensperson davor schützen will, jemanden, der sich ihr anvertraut hat, durch Aufdecken des anvertrauten Geheimnisses belasten zu müssen (I). Für Abgeordnete gilt keine Besonderheit. Die Beschlagnahmefreiheit entfallt auch bei ihnen, wenn sie einer Teilnahme, Begünstigung oder Hehlerei in bezug auf die Straftat verdächtig sind, für welche die Schriftstücke als Beweismittel in Betracht kommen 14 . 7. Deliktsgegenstände sind von der Beschlagnahmefreiheit ausgenommen, wenn das Delikt ein vorsätzliches Verbrechen oder Vergehen ist. Das erfordert der Schutz der Öffentlichkeit15. Die Einschränkung bezieht sich nur auf instrumenta und producta sceleris der Straftat, wegen der die Untersuchung geführt wird 16 . Der Katalog der Deliktsgegenstände (Absatz 2 Satz 2) stimmt mit § 40 StGB im wesentlichen überein, ist aber erweitert um Gegenstände, die aus der Straftat herrühren. Gegenüber § 40 StGB besteht insoweit eine Abweichung, als die dort vorgenommene Beschränkung auf vorsätzliche Vergehen aufgegeben ist. Soweit Übereinstimmung mit § 40 StGB besteht, muß auf die Kommentare zum Strafgesetzbuch verwiesen werden. Der Ausdruck herrühren soll nach der Begründung u. a. die Diebesbeute umfassen (Begr. S. 49). Er ergänzt den Begriff des „Hervorbringens" (§ 40 StGB) und umfaßt u. a. geschmuggelte oder unter Preisverstoß gekaufte Waren, aber auch Verbrechensfrüchte (z. B. unterdrückte Urkunden; LG Frankfurt NJW 1959 543) sowie Gegenstände, die für einen Deliktsgegenstand des § 40 StGB als Ersatz erlangt worden sind, soweit sie als Beweismittel gebraucht werden können, was im letzten Fall indessen nur selten der Fall sein wird. Abgesehen von diesem Fall ist aber zur Abgrenzung des unklaren Begriffs eine unmittelbare Beziehung zur Tat zu fordern, so daß ein Schriftwechsel über die Tat nicht als aus ihr herrührend angesehen werden darf. 14 15

16

v. M a n g o l d t - K l e i n , GG, 2. Aufl., III 5 b zu Art. 47; v. d. P f o r d t e n 211. Begrdg. zu Art. 4 Nr. 11, BTDrucks. I 3713, 49. In dieser Beschränkung liegt keine Verschärfung gegenüber dem Rechtszustand vor dem 3. StRÄndG. Denn die Einschränkung ist regelmäßig nur in bezug auf die der Beschlagnahmefreiheit neu unterworfenen Gegenstände des Absatzes 1 Nr. 3 denkbar, nicht dagegen in Beziehung auf die schon vorher geschützten schriftlichen Mitteilungen (Absatz 1 Nr. 1). M ü l l e r - S a x 3 c cc; E b S c h m i d t . Nachtr. 14.

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§ 97 Anm. IV 8 , 9

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

8. Entbindung. Grundsätzlich kann das Einverständnis des Beschuldigten (wegen des Einverständnisses des Gewahrsamsinhabers s. V5) die Beschlagnahmefreiheit nicht beseitigen (RG BayZ 1928 123). Nur soweit Gegenstände bei den o. III 5 genannten Personen (Ärzten, Anwälten usw.) verwahrt werden, bewirkt in entsprechender Anwendung von § 53 Abs. 2 das Einverständnis des Beschuldigten mit der Beschlagnahme den Wegfall der Beschlagnahmefreiheit. Des Einverständnisses bedarf es nicht, wenn der Beschuldigte den Geheimnisträger von der Verpflichtung zur Verschwiegenheit entbunden (§ 53 Abs. 2) hat. Denn dann befindet sich der Gegenstand nicht mehr im Gewahrsam eines zur Verweigerung des Zeugnisses Berechtigten 1T . Hat der Beschuldigte die Entbindung nur zum Teil bewirkt, dann besteht auch die Herausgabepflicht der Vertrauensperson nur in dem durch die Entbindung abgesteckten Umfang (OLG Hamburg NJW 1962 690), soweit nicht der Beschuldigte ein weitergehendes Einverständnis mit der Beschlagnahme erklärt. Das Einverständnis kann weiterreichend erklärt werden als die Entbindung von der Schweigepflicht; das Umgekehrte ist rechtlich nicht möglich, weil nach der Entbindung von der Schweigepflicht die Beschlagnahmefreiheit kraft Gesetzes entfallen ist und daher für ein Einverständnis zur Beschlagnahme kein Raum bleibt. Hat der Beschuldigte die Vertrauensperson von der Verschwiegenheitspflicht entbunden, oder sich mit der Beschlagnahme einverstanden erklärt, dann ist die Beschlagnahme zulässig, auch wenn der Beschuldigte nicht weiß, was etwa in schriftlichen Unterlagen enthalten ist (OLG Hamburg NJW 1962 690 18 ). Das Recht, den Geheimnisträger von der Verpflichtung zur Verschwiegenheit zu entbinden oder das Einverständnis mit der Beschlagnahme zu erklären, ist höchstpersönlich und nicht vererblich (RGSt. 71 22; OLG Düsseldorf NJW 1955 821; OLG Celle NJW 1965 363). Das Einverständnis kann widerrufen werden (RGSt. 57 66), doch macht der Widerruf eine Beweisaufnahme nicht unwirksam, die mit einem zufolge des Einverständnisses beschlagnahmten Gegenstand vor dem Widerruf durchgeführt worden war. Wohl aber sind nach dem Widerruf vorher beschlagnahmte Gegenstände freizugeben, wenn sie noch nicht in der Hauptverhandlung verwertet worden sind (so wohl auch OLG Nürnberg NJW 1958 272). Ist z. B. aufgrund einer zufolge Einverständnisses des Beschuldigten beschlagnahmten Krankengeschichte ein Sachverständigengutachten schriftlich erstattet worden, so darf es der Sachverständige in der Hauptverhandlung nicht vortragen, wenn der Angeklagte in dieser vor der Sachverständigenvemehmung sein Einverständnis widerruft. Ist das Gutachten bereits erstattet, ist der Widerruf wirkungslos. In allen hier nicht genannten Fällen ist das Einverständnis des Beschuldigten auf die Beschlagnahmefreiheit ohne Einfluß. Die Verbote des § 97 erleiden, von der oben dargestellten Ausnahme abgesehen, keine weitere für den Fall, daß der Beschuldigte selbst beantragt hat, geschützte Schriftstücke oder Gegenstände herbeizuziehen (RG Recht 1927 2623). 9. Für Krankengeschichten und Anwaltshandakten besteht keine Ausnahme. Sie werden durch das Einverständnis des Beschuldigten beschlagnahmefähig 19 . Soweit der Arzt in Krankengeschichten Folgerungen aus ihm Anvertrauten, Bekanntgewordenen oder durch die Untersuchung Festgestellten gezogen oder soweit er Kritik an der Diagnose oder Behandlung eines anderen Arztes geübt oder Bemerkungen für eine wissenschaftliche Behandlung angebracht hat, enthalten solche Teile der Krankengeschichte zwar kein Zeugen-, sondern Sachverständigenwissen, und sind daher nicht Beweismittel aus Zeugenhand, so daß in der Regel kein Rechtsgrund für eine Beschlagnahme gegeben sein wird (III 5). Gleichwohl kann durch eine solche Vermengung die Beschlagnahme beschlagnahmefähiger Teile nicht gehindert werden. Es muß den Ärzten angesonnen werden, Feststellungen und Bekundungen von Folgerungen und persönlichen Anmerkungen so anzubringen, daß die beiden Teile bei einer Beschlagnahme getrennt werden können. Die Erwägung, der Arzt wahre in der Krankengeschichte auch die Geheimnisse anderer, z. B. Krankheiten Verwandter ( G ö p p i n g e r 241), und schulde diesen anderen die Unter11

M ü l l e r - S a x 8; K i e r s k i , Med. SachVerst. 1963 206; a. A. E b S c h m i d t , Nachtr. 10; G ö p p i n g e r 241. 18 A . A . K o h l h a a s NJW 1964 1162. ' » O L G Nürnberg NJW 1958 272; O L G Hamburg NJW 1962 689; K o h l h a a s JR 1958 328; zweifelnd aber eher a. A. E b S c h m i d t, Nachtr. 10.

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§ 97 Anm. V 1, 2

lassungspflicht, ihre Geheimnisse nicht preiszugeben ( K a u f m a n n NJW 1958 272), kann nicht zu der Folgerung ( G ö p p i n g e r 243) führen, daß nur die anderen die Einwilligung in die Verwendung der Krankengeschichte geben könnten. Der Beschuldigte entscheidet wegen seiner Geheimnisse über die Aussagefreiheit des Arztes. Nur auf diese, nicht auf eine Verfügung über Geheimnisse, stellt das Prozeßrecht ab. Das Interesse der Allgemeinheit, das K a u f m a n n mit Recht hervorhebt, daran, daß jedermann dem Arzt auch Geheimnisse anvertrauen kann, die andere als ihn selbst betreffen, kann künftige gesetzgeberische Erwägungen leiten, aber nicht die Auslegung des geltenden Rechts beeinflussen. Im übrigen ist der Dritte gegen eine Strafverfolgung wegen Delikten, die durch die Beschlagnahme bekannt werden, durch ein Verwertungsverbot geschützt (V 3). Für Handakten der Rechtsanwälte gelten die Erwägungen entsprechend. Bei ihnen ist die Trennung zwischen Feststellungen und Bekundungen auf der einen Seite und daraus gezogenen Folgerungen auf der anderen Seite technisch einfach. V. Folgen. 1. Beschlagnahmeverbot. Nach dem Sinn der Vorschrift, demjenigen, der als Zeuge schweigen darf, sein Geheimnis nicht durch eine Beschlagnahme zu entreißen, wäre für den Gesetzgeber eine vollständige Parallele zu dem — verzichtbaren — Zeugnisverweigerungsrecht zu erwägen gewesen. Bei einer solchen Ausgestaltung wäre die Beschlagnahme — bei den Angehörigen nach Belehrung; § 52 Abs. 2 — zulässig, solange sich der von ihr Betroffene nicht ausdrücklich auf sein Recht beruft, ihre Duldung zu verweigern. Allein diesen Weg ist der Gesetzgeber nicht gegangen. Die Gründe liegen auf der Hand: Da die Gestattung der Beschlagnahme jederzeit widerruflich (§ 52 Abs. 2), der Beweisgegenstand aber bis dahin sichtbar gewesen wäre, hätten Schwierigkeiten in der Durchführung des Prinzips auftreten können, die schwerer wiegen als bei der Aussage, die beim Widerruf des Verzichts in der Regel noch nicht abgeschlossen vorliegen wird. Der Gesetzgeber mußte daher soweit als möglich auf klare Verhältnisse bedacht sein. Dem Verzichtsgedanken wird daher nur durch die Verwertung freiwillig herausgegebener Gegenstände (5) Rechnung getragen; für diese seltenen Fälle waren gewisse Schwierigkeiten für die Hauptverhandlung in Kauf zu nehmen. Im übrigen hat der Gesetzgeber ein striktes Beschlagnahmeverbot ausgesprochen. Die Begründung sagt dazu: „Was die Korrespondenz des Beschuldigten mit den von der Zeugnispflicht befreiten Personen betrifft, so ist der Entwurf nicht . . . dabei stehen geblieben, diese Personen von der Pflicht zur Herausgabe, also zur Mitwirkung an der Überführung des Beschuldigten zu befreien, sondern er untersagt die Beschlagnahme der Korrespondenz schlechthin" (Mot. H a h n 1 125). Beschlagnahme ist hier wie in § 99 — anders als in § 94 Abs. 2 und § 98 Abs. 1, 3 und 4 — die Anordnung, daß ein Gegenstand in amtliche Verwahrung zu nehmen oder in anderer Weise sicherzustellen sei (I 1 zu § 98). Wegen des darin liegenden Verbotes können die Gegenstände nicht als Beweismittel für die Untersuchung von Bedeutung sein. Sie fallen daher nicht unter § 94 und demzufolge („Gegenstand der vorbezeichneten Art") unter § 95 (wegen der Durchsicht s. 1 Abs. 2 zu § 110). Da sohin die Gegenstände weder beschlagnahmt noch in Verwahrung genommen oder sichergestellt werden können, noch ihre Vorlage oder Auslieferung gefordert werden kann, muß die Behörde regelmäßig untätig bleiben. 2. Belehrung. Bei diesem System ist für eine Belehrung über die Beschlagnahmefreiheit 20 kein rechter Raum. Die Behörde kann allenfalls — doch wird sie das grundsätzlich nicht tun — den Gewahrsamsinhaber fragen, ob er die Gegenstände freiwillig herausgeben wolle. Dabei muß sie darauf hinweisen, daß der Gegenstand nicht beschlagnahmt werden darf und nur mit Einwilligung des Gewahrsamsinhabers in amtliche Verwahrung genommen werden darf; sie darf ihn nicht wegnehmen und einen Widerspruch abwarten. Diesen Hinweis auf den freien Willen des Gewahrsamsinhabers kann man als eine Belehrung, entsprechend der nach § 52 Abs. 2 Satz 1, auffassen 21 . Der Bundesgerichtshof verlangt sie für den Fall, daß der Gegenstand wegen einer Tat rechtmäßig beschlagnahmt ist, wegen einer ande20 21

So K a u f m a n n 46. So H e r d e g e n G A 1963 144.

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§97 Anm. V 3 - 5

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ren aber unter dem Beweisverwertungsverbot des § 97 steht, wenn er dort durch Einverständnis des Gewahrsamsinhabers von dem Verbot befreit werden soll (s. 5 Abs. 2); doch liegt hier wegen der Aufhebung des Gewahrsams der Vertrauensperson eine außergewöhnliche Lage vor, die eine besondere Sorgfalt erfordert. Der Folgerung H e r d e g e n s , auch was „spontan" freiwillig herausgegeben wird, sei erst nach Belehrung verwertbar, ist keinesfalls zuzustimmen. Sie geht von einer Unmündigkeit der Rechtsgenossen aus, die noch nicht besteht, aber herbeigeführt wird, wenn Belehrungen als Verwertungsvoraussetzung gefordert werden, die niemand erwartet. Die Lage ist anders als bei der Zeugenaussage. Dort wird der Zeuge unter Androhung von Zwang vor Gericht geladen (§ 48). Dann bedarf er der Belehrung, daß er wohl erscheinen mußte, aber gleichwohl nichts zu sagen braucht. Wer freiwillig eine ihm vom Beschuldigten anvertraute Mitteilung herbeibringt, befindet sich in keiner vergleichbaren Lage. 3. Durchführung. Zufolge des Verbots darf nicht mit der Beschlagnahme begonnen und ein Widerspruch des Zeugnisverweigerungsberechtigten abgewartet, sondern die Beschlagnahme gar nicht beantragt und angeordnet werden (RGSt. 20 91). Wird die Anordnung einer Beschlagnahme beim Amtsrichter beantragt, so hat dieser die Zulässigkeit der richterlichen Untersuchungshandlung auch im Hinblick auf § 97 zu prüfen ( J o h n 1 782) und, wenn dessen Verbote einschlagen, abzulehnen. Werden geschützte Gegenstände gleichwohl wissentlich oder versehentlich beschlagnahmt, was sich bei einer Durchsuchung (§ 103) nicht immer vermeiden läßt (RGSt. 47 195), dann hat der Richter bei der Durchsicht der Papiere (§ 110 Abs. 1) sie alsbald — soweit nicht ihre einstweilige Beschlagnahme nach § 108 in Betracht kommt — zurückzugeben. Ist er erkennender Richter, darf er das erlangte Wissen nicht verwerten und muß ggf. nach § 30 verfahren. Werden bei einer Vertrauensperson, die selbst beschuldigt ist (IV 6), Gegenstände, namentlich Papiere, beschlagnahmt, die auch auf die VerÜbung einer strafbaren Handlung durch eine nach § 97 geschützte Person hindeuten, so ergeben sich keine Besonderheiten, wenn das Verfahren gegen die Vertrauensperson dieselbe Tat (§ 264) betrifft wie die gegen die geschützte Person. Da die Beschlagnahmefreiheit entfallen ist, stehen die Beweismittel im Verfahren gegen beide Personen zur Verfügung. Hat dagegen das Verfahren gegen die geschützte Person eine andere Tat zum Inhalt als diejenige gegen die Vertrauensperson, dann sind die Gegenstände in entsprechender Anwendung von § 108 an sich der Staatsanwaltschaft zu einem neuen Verfahren gegen die geschützte Person zu übergeben. Da aber in einem Verfahren gegen die geschützte Person wiederum § 97 Anwendung finden würde, die Papiere daher in diesem Verfahren alsbald ohne jede Verwertungsmöglichkeit (4) freizugeben wären, ist davon abzusehen, sie für ein neues Verfahren weiterzugeben, es sei denn, daß zunächst Zweifel zu klären wären. Anlaß zu einem Einschreiten gegen die geschützte Person dürfen die Gegenstände nicht bieten (OLG Celle NJW 1963 407) 22 . In einem sonst gegen die geschützte Person eingeleiteten Verfahren wegen einer anderen Tat sind sie verbotene Beweismittel, selbst wenn die andere Tat in demselben Verfahren wie gegen die Vertrauensperson mit untersucht und beurteilt wird (BGHSt. 18 229). 4. Beweisverbot. Ist ein geschützter Gegenstand entgegen dem Verbote des § 97 beschlagnahmt worden, dann darf er in der Hauptverhandlung nicht als Beweismittel, auch nicht lediglich für Zwecke der Schriftvergleichung (RGSt. 20 92), benutzt und wenn das versehentlich geschehen sein sollte, das Ergebnis bei der Urteilsfallung nicht verwertet werden (RGSt. 20 91; 47 196; R G DRiZ 1927 1082; B e l i n g 22; BGHSt. 18 228). Sofern der Richter sich von dem Eindruck des Beweisgegenstandes nicht lösen kann, hat er nach § 30 zu verfahren. 5. Das Einverständnis des Gewahrsamsinhabers, bei den Hilfspersonen des Hauptgeheimnisträgers, mit der Verwendung des Beweisgegenstandes entspricht dem Verzicht des Zeugen auf das Zeugnisverweigungsrecht und macht den Weg frei sowohl zur formlosen Sicherstellung als auch zur Beschlagnahme (BGHSt. 18 230). Der Verzicht auf das Zeugnisverweigerungsrecht kann noch während der Vernehmung widerrufen werden (§ 52 22

Ebenso K o h l h a a s NJW 1962 670; 1964 1166.

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§ 9 7 Anm. V 6 §98

Abs. 2), und zwar nicht nur im Falle des § 52, sondern auch in den Fällen der §§ 53, 53a (RGSt. 63 302). Alsdann kann auch der Gewahrsamsinhaber sein Einverständnis widerrufen 23 . Das Einverständnis setzt die Kenntnis von der Beschlagnahmefreiheit voraus. Denn verzichten kann man nur auf ein Recht, von dem man weiß, daß man es hat. Daher liegt in der freiwilligen Herausgabe von Beweismitteln zwar regelmäßig ein Verzicht auf das Beschlagnahme- und Verwertungsverbot (BGHSt. 18 230). Wird aber entgegen § 97 von einer privilegierten Person die Herausgabe von Urkunden gefordert — nicht ihre freiwillige Überlassung erbeten — und gibt sie diese in dem Glauben heraus, sie sei dazu verpflichtet, dann wird durch diese Herausgabe das Beweisverbot des § 97 nicht aufgehoben. Sind die Gegenstände auf rechtmäßige Weise in den Besitz der Behörde gekommen, etwa zufolge der Beschlagnahme in einem Verfahren, in dem Absender und Empfanger Teilnehmer waren, dann dürfen sie in einem Verfahren gegen die geschützte Person nicht verwertet werden (3). Die Verwendung kann dadurch herbeigeführt werden, daß die Vertrauensperson, die früher Gewahrsamsinhaber war, ihr Einverständnis zur Verwertung erteilt. Ebenso wie sie gefragt werden kann, ob sie Gegenstände freiwillig herausgeben will (2), kann sie auch gefragt werden, ob sie freiwillig der Verwertung zustimmt. Für den Hinweis auf die Freiwilligkeit ist in entsprechender Anwendung des § 52 Abs. 2 Satz 1 die Belehrung übei ihr Recht zu verlangen, die Zustimmung zur Verwertung zu verweigern (BGHSt. 18 213). 6. Widerruf. Der Bundesgerichtshof hat den Widerruf auf das Untersuchungsverweigerungsrecht (§ 81 c Abs. 1 Satz 2 in Vbdg. mit § 52 Abs. 2 Satz 2) nur für den Zeitpunkt während der Untersuchung — nicht für den Zeitpunkt der Verwertung der Untersuchung in der Hauptverhandlung - für zulässig erklärt (BGHSt. 5 315). H e r d e g e n (GA 1963 145) zieht hieraus die Folgerung, daß bei freiwilliger Herausgabe der nachträgliche Widerspruch die Benutzung des Beweismittels nicht unzulässig mache. Indessen ist der Widerruf des Zeugnisverweigerungsrechts mit dem Widerruf des Untersuchungsverweigerungsrechts und dem des Einverständnisses mit Sicherstellung oder Beschlagnahme nicht zu vergleichen. Bedeutung erlangen diese Beweisbeschränkungen in der Hauptverhandlung, weil nur diese die Grundlage für ein Urteil schafft. Der Widerruf des Zeugnisverweigerungsrechts bewirkt daher, daß der Zeuge nicht weiter auszusagen braucht. Zwar ist das vor dem Widerruf in der Hauptverhandlung und das vor ihr nach Belehrung vor einem Richter Ausgesagte zu verwerten (BGHSt. 2 107), doch kann der Zeuge seine weitere Mitwirkung zur Überführung einstellen. Alsdann kann auch für die Untersuchung und die Beschlagnahme nur darauf abgestellt werden, ob der Privilegierte in der Hauptverhandlung, in der er meist erst zum vollen Bewußtsein der Tragweite seiner Erklärung gelangt, noch zur Überführung beitragen will. Der Verwertung des vor der Hauptverhandlung Erlangten steht entgegen, daß bei dem wohl meist der Polizei erklärten Einverständnis mit einer Sicherstellung oder Beschlagnahme ein Akt fehlt, der die gleiche Bedeutung hat und die gleiche Aufklärung über die Willensentscheidung schafft, wie sie die richterliche Zeugenvernehmung nach richterlicher Belehrung über das Zeugnisverweigerungsrecht darstellt. Der Widerruf kann daher bis zur Hauptverhandlung und in ihr auch während der Benutzung des Beweismittels mit der Folge erklärt werden, daß das in der Hauptverhandlung vor dem Widerruf zutage Geförderte zu verwerten, die weitere Benutzung aber verboten, namentlich eine begonnene Verlesung von Schriftstücken abzubrechen ist.

§98 (1) Beschlagnahmen dürfen nur durch den Richter, bei Gefahr im Verzug auch durch die Staatsanwaltschaft und ihre Hilfsbeamten (§ 152 des Gerichtsverfassungsgesetzes) angeordnet werden. (2) Der Beamte, der einen Gegenstand ohne richterliche Anordnung beschlagnahmt hat, soll binnen drei Tagen die richterliche Bestätigung nachsuchen, wenn bei der Beschlagnahme weder der davon Betroffene noch ein erwachsener Angehöriger anwesend war, oder 23

M ü l l e r - S a x 9.

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§ 98 Anm. I 1

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

wenn der Betroffene und im Falle seiner Abwesenheit ein erwachsener Angehöriger des Betroffenen gegen die Beschlagnahme ausdrücklichen Widerspruch erhoben hat. Der Betroffene kann jederzeit die richterliche Entscheidung nachsuchen. Solange die öffentliche Klage noch nicht erhoben ist, entscheidet der Amtsrichter, in dessen Bezirk die Beschlagnahme stattgefunden hat. (3) Ist nach erhobener öffentlicher Klage die Beschlagnahme durch die Staatsanwaltschaft oder einen ihrer Hilfsbeamten erfolgt, so ist binnen drei Tagen dem Richter von der Beschlagnahme Anzeige zu machen; die beschlagnahmten Gegenstände sind ihm zur Verfügung zu stellen. (4) Wird eine Beschlagnahme in einem Dienstgebäude oder einer nicht allgemein zugänglichen Einrichtung oder Anlage der Bundeswehr erforderlich, so wird die vorgesetzte Dienststelle der Bundeswehr um ihre Durchführung ersucht. Die ersuchende Stelle ist zur Mitwirkung berechtigt. Des Ersuchens bedarf es nicht, wenn die Beschlagnahme in Räumen vorzunehmen ist, die ausschließlich von anderen Personen als Soldaten bewohnt werden. Entstehungsgeschichte: Die Absätze 1 und 3 haben ihre Fassung durch Art. 3 Nr. 38 und 39 VereinhG erhalten; ihr Inhalt entspricht dem der früheren Fassung. Absatz 4 ist angefügt durch Art. 4 Nr. 4 des 4. StRÄndG. Übersicht I. Begriffe 1. Beschlagnahme 2. Vorläufige Verwahrung II. Anordnung der Beschlagnahme 1. Anordnung durch den Richter 2. Gefahr im Verzug 3. Anordnung durch Beamte 4. Bestätigung (Absatz 2) 5. Ablieferung von Beschlagnahmegegenständen (Absatz 3) III. Verfahren 1. Form der Anordnung 2. Inhalt a) Beschlagnahmeanordnung b) Bestätigung

3. 4. 5. 6.

Wirkungen Durchführung der Beschlagnahme Bundeswehr (Absatz 4) Besonderheiten

IV. Rechtsbehelfe und Rechtsmittel 1. Antrag auf gerichtliche Entscheidung 2. Beschwerde 3. Revision V. Beendigung der Beschlagnahme 1. Erlöschen 2. Aufhebung 3. Zuständigkeit 4. Verfahren 5. Rechtsmittel

I. Begriffe. 1. Beschlagnahme ist nach den Motiven die ausdrückliche, regelmäßig nur dem Richter zustehende Anordnung, daß ein Gegenstand in amtliche Verwahrung zu nehmen oder in anderer Weise sicherzustellen sei ( H a h n 1 124). Wie indessen die Worte „bei der Beschlagnahme" in Absatz 2 und „Beschlagnahme in einem Dienstgebäude" in Absatz 4 ergeben, muß 1 als Beschlagnahme die amtliche Verwahrung oder sonstige Sicherstellung eines Gegenstandes aufgrund ausdrücklicher, regelmäßig nur dem Richter zustehender Anordnung verstanden werden. In der Tat werden ja auch die Folgen einer Beschlagnahme nicht durch die Anordnung ausgelöst, sondern durch deren Vollzug (BGHSt. 3 400), durch die aufgrund der Anordnung hergestellte „unmittelbare besitzähnliche Beziehung" (RGSt. 51 237) oder eine sonstige Handlung, die zum Ausdruck bringt, daß die Sache der freien Verfügung des Inhabers entzogen (RGSt. 18 72) und eine staatliche Herrschaftsgewalt über sie begründet wird (BGHSt. 15 150). Die begriffliche Trennung der Anordnung von dem Vollzug der Beschlagnahme schließt, namentlich bei der Beschlagnahme durch Beamte (II 3), nicht aus, daß beide Akte zusammenfallen können ( F e i s e n b e r g e r 1 vor § 94). 'in Übereinstimmung mit dem Zivilprozeßrecht ( J o h n 1 759) und der Regelung in § 114a Abs. 1, wo zwischen Haftbefehl und Verhaftung geschieden wird.

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§98 Anm. I 2; I I 1

Sowohl die amtliche Verwahrung als auch die Sicherstellung in anderer Weise können auch aufgrund freiwilliger Herausgabe durch den Beschuldigten oder durch dessen Einwilligung herbeigeführt werden. Da alsdann die Beschlagnahmeanordnung fehlt, fehlen auch die straf- und zivilrechtlichen Folgen ( I V 5 zu § 94), die nur durch diese ausgelöst werden können. 2. Vorläufige Verwahrung. Von der Beschlagnahme zu unterscheiden ist die vorläufige Verwahrung. Sie muß, wenn der Beschuldigte ihr nicht zustimmt und die Sachen damit freiwillig herausgibt, alsbald durch eine Beschlagnahme ersetzt werden. Im einzelnen handelt es sich um folgende Fälle: Die Anordnung zur Durchsuchung nach § 102 enthält regelmäßig zugleich die Anordnung, sich etwa gefundener Gegenstände zu bemächtigen. Eine solche allgemeine Anordnung wird aber meistens wegen ihres Mangels an Bestimmtheit keine Anordnung der Beschlagnahme i.S. des § 98 Abs. 1 sein. Solchenfalls trifft sie erst der durchsuchende Beamte beim Auffinden bestimmter Gegenstände, wenn er als Hilfsbeamter der Staatsanwaltschaft dafür zuständig ist ( H ä r t u n g JR 1926 42). Fehlt ihm diese Zuständigkeit, dann kann er die gefundenen Sachen in vorläufige Verwahrung nehmen (6 Abs. 2 zu § 105). Ebenso sind in vorläufige Verwahrung zu nehmen Sachen, die bei Gelegenheit einer Durchsuchung gefunden werden, zwar in keiner Beziehung zur Untersuchung stehen, aber auf die Verübung einer anderen strafbaren Handlung hindeuten (4 zu § 108). Die Befugnis zur vorläufigen Festnahme schließt das Recht ein, Sachen, die der Festgenommene bei sich trägt, namentlich solche, die er zur Straftat gebraucht hat, als Einziehungsgegenstände wegzunehmen und vorläufig zu verwahren, auch wenn dem Verhaftenden keine Beschlagnahmebefugnisse zustehen ( R G D S t R Z 1917 304; II 9 zu § 127). Dagegen kann keine Rede davon sein, daß alle Sachen, welche der Verhaftete bei sich trägt, mit ihm in den polizeilichen oder richterlichen Gewahrsam übergehen2, und daß es deshalb keiner Beschlagnahme bedürfe 3 . Es ist kein Rechtsgrund ersichtlich und in der angezogenen Entscheidung auch nicht aufgezeigt, der es ermöglichte, und kein Grund, der es notwendig machte, den Verhafteten darin zu beschränken, bei der Verhaftung etwa Schmuck seiner Familie zurückzulassen oder wenn er es nicht tut, für die Zukunft eine automatische Verfügungsbeschränkung anzunehmen. Beschränkungen im Gebrauch persönlicher Sachen zufolge der Ordnung in der Anstalt oder zur Vermeidung einer Flucht haben mit der hier zu behandelnden Beschlagnahme von Beweis- und Einziehungsgegenständen nichts zu tun. Besteht das Recht zur vorläufigen Festnahme, so kann der Festnehmende, wenn er Widerstand findet, sich darauf beschränken, Übelführungsstücke zur vorläufigen Verwahlung an sich zu nehmen ( B o e h m JR 1925 493). Doch läßt sich dieses Wegnahmerecht dann nicht aus dem Festnahmerecht ableiten, wenn keine Festnahme beabsichtigt ist (RGSt. 46 350) oder keine Festnahmegründe vorliegen (RGSt. 55 167). In Pressesachen ist die Zuständigkeit der Staatsanwaltschaft und ihrer Hilfsbeamten zur Beschlagnahme ausgeschlossen. Dafür ist ihnen in den meisten Ländern das Recht eingeräumt, Druckwerke gewissen strafbaren Inhalts, meist mit Ausnahme von Zeitungen und Zeitschriften, dem Verbreiter vorläufig wegzunehmen. Die Druckwerke sind dem Richter unverzüglich vorzulegen, der innerhalb von 24 Stunden eine Entscheidung zu treffen hat4. II. Anordnung der Beschlagnahme. 1. Anordnung durch den Richter. Die Beschlagnahme ist als Eingriff in den Besitz und in die Verfügungsfreiheit mit Recht dem Richter vorbehalten. Richter ist 2

So R G S t . 8 290.

' S o F e i s e n b e r g e r l ; K l 1; wie hier M ü l l e r - S a x 5 b. 4

I m einzelnen muß auf die K o m m e n t a r e zu den Pressegesetzen verwiesen werden. D i e Regelungen stimmen — leider — nicht ganz überein. W i e im T e x t : Baden-Württemberg ( § 18), Bremen ( § 18), Niedersachsen ( § 18), Nordrhein-Westfalen ( § 19), Saarland ( § 18), Schleswig-Holstein ( § 18). Keine vorläufige Sicherstellung kennen die Pressegesetze von Berlin, H a m b u r g , Hessen und Rheinland-Pfalz; in Bayern ist sie nur bei Impressumsverstößen zulässig ( § 16 A b s . 2).

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§98 Anm. II 1

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vor Erhebung der öffentlichen Klage der Amtsrichter, in dessen Bezirk die Beschlagnahme stattfinden soll (§ 162 Abs. 1). Steht das, weil sich der zu beschlagnahmende Gegenstand im Auslande befindet, nicht fest, so weicht die Sonderregelung des § 162 Abs. 1 der allgemeinen Zuständigkeitsregel, nach der jeder Amtsrichter zuständig, in dessen Bezirk ein Gerichtsstand begründet ist 5 ; während der Voruntersuchung der Untersuchungsrichter (§ 184; BayObLGSt. 19 74). Die Voruntersuchung endet, wenn die Staatsanwaltschaft erklärt hat, keine Anträge zu stellen (§ 197 Abs. 1), oder wenn ihr Antrag auf Ergänzung der Voruntersuchung (§ 197 Abs. 2) rechtskräftig abgelehnt worden ist (§ 183; II 3 zu § 16); nach Einreichen der Anklageschrift das mit der Sache befaßte Gericht, nicht sein Vorsitzender (OLG Stettin GA 43 269) 6 ; wenn Revision eingelegt ist, das Gericht, dessen Urteil angefochten ist (RGSt. 54 165). Bis zur Vorlage der Akten bei dem Berufungsgericht (§ 321) bleibt das Gericht der vorhergehenden Instanz zuständig (BayObLGSt. 32 128), und entsprechend diesem Prinzip der Untersuchungsrichter bis zur Vorlage der Akten nach § 198 Abs. 2 an das erkennende Gericht 7 . Mit dem Übergang der Zuständigkeit vom Amtsrichter oder Untersuchungsrichter auf ein höheres Gericht werden Beschwerden, die gegen Entscheidungen jener Richter eingelegt werden, nicht 8 gegenstandslos; doch kann das Gericht die Beschlagnahme bestätigen und es dem Beschuldigten überlassen, gegen diese (nunmehr erstinstanzliche) Entscheidung Beschwerde einzulegen'. § 7 Abs. 2 gilt im vorbereitenden Verfahren nicht. Für dieses besteht nach wie vor der fliegende Gerichtsstand außer am Erscheinungsort auch an jedem Ort der Verbreitung ( L ö f f l e r 2 17 zu § 13). In den besonderen Verfahrensarten stehen der Einreichung der Anklageschrift gleich die Erhebung der Privatklage (§ 381), die Nachtragsanklage (§ 266 Abs. 2), der Antrag auf Erlaß eines Strafbefehls (§ 408 Abs. 1) und — die Klage ersetzend — der polizeiliche Antrag auf Erlaß einer amtsrichterlichen Strafverfügung (§413 Abs. 1) sowie der Antrag des Finanzamts (Hauptzollamts) auf Erlaß eines Strafbefehls (§ 435 AO), ferner der Antrag im Sicherungsverfahren (§ 429a, § 429b Abs. 2 Satz 1), der Antrag im selbständigen Einziehungsverfahren (§ 440) und der Antrag im selbständigen Verfahren bei Festsetzung von Geldbußen gegen juristische Personen und Personenvereinigungen (§ 444 Abs. 3 in Vbdg. mit § 440). Im beschleunigten Verfahren wird die Anklage entweder durch Einreichen einer Anklageschrift oder in der Hauptverhandlung mündlich erhoben (§ 212 a Abs. 2). Im letzten Fall wird nach dem Grundsatz, daß das sachnächste Gericht entscheiden soll, die Zuständigkeit des angerufenen Gerichts nicht erst mit der mündlichen Anklage, sondern schon mit dem Antrag begründet, die Sache im beschleunigten Verfahren abzuurteilen (§ 212). Im vorbereitenden Verfahren entscheidet das Gericht nur auf Antrag der Staatsanwaltschaft (§ 162 Abs. 1), soweit nicht der Amtsrichter bei Gefahr im Verzuge und wenn kein Staatsanwalt erreichbar ist, eine Beschlagnahme von Amts wegen nach § 165 anordnet. Uber den Antrag des Staatsanwalts kann das Gericht nicht hinausgehen. Es ist namentlich nicht befugt, die Beschlagnahme der ganzen Auflage einer Schrift anzuordnen, wenn der Staatsanwalt nur die Beschlagnahme von Einzelstücken beantragt. Hat der Amtsrichter als Notstaatsanwalt entschieden, so hat er einem Antrag der Staatsanwaltschaft, die Beschlagnahme ganz oder teilweise wieder aufzuheben, stattzugeben. Nach Eröffnung des 5

Vgl. § 125 Abs. 1; etwas enger LG Nürnberg - Fürth G A 1958 349. Der Vorsitzende kann auch nicht in dringenden Fällen die Beschlagnahme anordnen. N a c h § 125 Abs. 2 Satz 2 kann er zwar solchenfalls einen Haftbefehl erlassen. Die fürs Haftrecht getroffene Sonderregelung kann aber nicht auf andere Zwangseingriffe übertragen werden. Der Gesetzgeber hätte unschwer eine allgemeine Zuständigkeitsregelung treffen können (9 vor § 7). Indem er sich aufs Haftrecht beschränkt hat, hat er zu erkennen gegeben, daß er eine allgemeine Anwendung der Sondervorschriften einer späteren Prüfung und Regelung vorbehält. 1 1 m Ergebnis ebenso RGSt. 33 302. Fürs Haftrecht vgl. § 125 Abs. 3 Satz 2. A. A. - vom Schluß der Voruntersuchung an ist die Strafkammer zuständig — K G G A 61 364. 8 So fürs Haftrecht OLG Oldenburg NJW 1957 233. 9 Vgl. fürs Haftrecht D ü n n e b i e r M D R 1 9 6 8 1 8 6 .

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§98 Anm. II 2, 3

Hauptverfahrens (I 3 zu § 12) entscheidet das Gericht auf Antrag der Staatsanwaltschaft oder von Amts wegen, ist also an den Antrag der Staatsanwaltschaft nicht gebunden. Dasselbe gilt für den Untersuchungsrichter. 2. Bei Gefahr im Verzug ist auch eine nichtrichterliche Beschlagnahme zulässig. Dieser Fall liegt vor, wenn der Erfolg der Beschlagnahme durch die Verzögerung gefährdet wäre, die eintreten würde, falls der Richter angerufen werden müßte (RGSt. 37 34; vgl. § 81c Abs. 3: Gefährdung des Untersuchungserfolgs durch Verzögerung). Gefahr ist aber nicht schon die bloße Möglichkeit der Verzögerung. Sie besteht vielmehr in der durch Tatsachen begründeten (OLG Celle GA 52 117) naheliegenden Möglichkeit, einer gewissen Wahrscheinlichkeit, der Erfolg werde vereitelt werden 10 . Ob der Gefahrenbegriff des Strafrechts innerhalb des Strafgesetzbuchs überall gleich ist, und ob er auf den Strafprozeß übertragen werden darf, kann dahinstehen. Jedenfalls kann die auch fürs Strafrecht nicht unbestrittene 11 Ansicht, eine Gefahr liege nur vor, wenn die Möglichkeit, daß ein Schaden eintrete, größer sei als die gegenteilige, daß er ausbleiben werde (BGHSt. 8 31), für die Maßnahmen des Prozeßrechts nicht übernommen werden. Weil sie eilbedürftig sind, ist eine so genau bemessene Abwägung nicht möglich. Sie ist auch nicht geboten. Denn der Gefahrenzustand verschiebt nur die Zuständigkeit; an den sachlichen Voraussetzungen wird nichts geändert. Daher genügt es, daß erkennbare Tatsachen nach vernünftiger Erfahrung die Möglichkeit eines Beweisverlustes nahelegen. Der Begriff der Gefahr im Verzug ist ein unbestimmter Rechtsbegriff. Die früher vertretene Ansicht, daß der Beamte nach seinem Ermessen entscheide 12 , kann nicht mehr aufrechterhalten werden ( B a u m a n n JZ 1962 612). Die Frage, unter welchen Voraussetzungen der Beamte handeln darf, ist indessen mehr fürs Beamtenrecht, für die Beurteilung von Widerstandshandlungen und von Schadensersatzansprüchen von Bedeutung als fürs Prozeßrecht. Selbstverständlich hat der Beamte die Beschlagnahme zu unterlassen, wenn er die Anordnung des Richters noch rechtzeitig erlangen kann. Kann er erwarten, er werde bei dem Beschuldigten Beschlagnahmegegenstände auffinden, dann darf er den Gefahrenfall nicht dadurch herbeiführen, daß er den Beschuldigten vernimmt, ohne vorher eine richterliche Beschlagnahmeanordnung erwirkt zu haben 13 . Ist der Beamte indessen fehlerhaft oder pflichtwidrig verfahren, so bleibt der Umstand, daß er dadurch die Gefahr mit verursacht hat, gleichwohl für die Beurteilung, ob Gefahr im Verzug sei, außer Betracht (vgl. BGHSt. 3 243). Wegen der Bestätigung, wenn der Beamte sich tatsächlich oder rechtlich darüber geirrt hat, daß Gefahr im Verzug gewesen sei, s. III 2 b. umfaßt die Bundes3. Anordnung durch Beamte. Der Ausdruck Staatsanwaltschaft anwälte, Staatsanwälte und Amtsanwälte (§ 142 Abs. 1), die letzteren nicht nur im Umfange ihrer Zuständigkeit nach den Anordnungen der Landesjustizverwaltungen über Organisation und Dienstbetrieb der Staatsanwaltschaft (OrgStA), sondern in allen Sachen, die zur Zuständigkeit des Amtsgerichts (§ 24 GVG) gehören (§ 142 Abs. 2), doch wird sich der Amtsanwalt in den ihm nicht nach dem OrgStA zugewiesenen Sachen der Anordnung einer Beschlagnahme zu enthalten haben, wenn nicht Gefahr im Verzuge in der Weise vorliegt, daß nicht nur kein Richter sondern auch kein Staatsanwalt zu erlangen ist. Wegen der Hilfsbeamten der Staatsanwaltschaft vgl. § 152 Abs. 2 GVG 1 4 . Die Zuständigkeit der Hilfsbeamten der Staatsanwaltschaft ist derjenigen der Staatsanwaltschaft nicht in der Weise nachgeordnet, daß der Hilfsbeamte nur tätig werden könnte, wenn er keinen 10 11 12

13 14

F e i s e n b e r g e r 3; vgl. RGSt. 10 176. D r e h e r 3 A zu § 5 2 StGB. RGSt. 23 334; BayObLGSt. 20 153; OLG Stuttgart 1969 761; abl. H r u s c h k a NJW 1969 1310; noch weitergehend — allerdings wohl nur in der Formulierung — O L G Celle G A 52 117: Es genügt Glaube des Beamten an die Wahrscheinlichkeit eines Beweisverlustes. vgl. N e i d h a r d DRechtsZ 1949 204. Der Katalog der Hilfbeamten der Staatsanwaltschaft ist — mit Ländervorbehalten — bundeseinheitlich; letzte Fassung vom 1. 5. 1969. Als Beispiel der danach ergangenen Verordnungen vgl. die Verordnung der Landesregierung des Landes Nordrhein-Westfalen vom 29. 7. 1969 (JMB1NRW 1969 579).

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§98 Anm. II 4, 5

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

Staatsanwalt erreichen kann; doch sollte er vor allen bedeutsamen Beschlagnahmen mit ihm, wenn möglich, Fühlung nehmen. Das kann durch Anordnungen nach § 152 Abs. 1 GVG geregelt werden. In Steuersachen nehmen die Finanz- und Hauptzollämter sowie die Zollfahndungsstellen 15 die Rechte und Pflichten wahr, die der Staatsanwaltschaft im Ermittlungsverfahren zustehen, wenn sie das Ermittlungsverfahren selbständig durchführen (§ 421 Abs. 2, § 433 Abs. 1 AO). In Pressesachen ist die Anordnung der Beschlagnahme in allen Ländern allein dem Richter vorbehalten und auch bei Gefahr im Verzuge nicht der Staatsanwaltschaft oder ihren Hilfsbeamten zugestanden. Die Norm und zugleich die klare Unterscheidung zwischen Anordnung und (Durchführung der) Beschlagnahme kommt am klarsten zum Ausdruck in § 16 des Hessischen Pressegesetzes: „Die Beschlagnahme kann nur der Richter anordnen. Polizei und andere Behörden dürfen ein Druckwerk nur auf Grund einer solchen Anordnung beschlagnahmen." 4. Bestätigung (Absatz 2). Die Anordnung der Staatsanwaltschaft und ihrer Hilfsbeamten sowie der Hauptzollämter vertritt eine richterliche Anordnung endgültig, wenn bei der Beschlagnahme der von ihr Betroffene oder ein erwachsener Angehöriger anwesend war und gegen sie keinen Widerspruch erhoben hat. Anderenfalls bedarf die Beschlagnahme der richterlichen Bestätigung, die der Beamte binnen drei Tagen nachsuchen soll. Hilfsbeamte der Staatsanwaltschaft legen ihre Vorgänge dazu über die Staatsanwaltschaft dem Gericht vor, soweit sie das ohne Fristversäumnis können. Die Frist beginnt mit dem Ende der Beschlagnahme. Kommt der Beamte seiner Verpflichtung, die richterliche Entscheidung nachzusuchen, nicht oder nicht rechtzeitig nach, so tritt die Beschlagnahme nicht von selbst außer Kraft (SächsOLG 7 309), wie es etwa für die vorläufige Sicherstellung in Pressesachen in § 18 Abs. 5 einiger Pressegesetze vorgeschrieben ist. Weil eine Belehrung über die Möglichkeit richterlicher Entscheidung und über die Wirksamkeit des Widerspruchs weder vorgeschrieben noch üblich ist, wird die Beschlagnahme weitgehend von der Polizeipraxis bestimmt. Betroffener ist derjenige, einschließlich des Beschuldigten, in dessen Gewahrsam (vgl. § 95 Abs. 1) durch die Beschlagnahme eingegriffen wird. Der Ausdruck Angehöriger ist, da das Gesetz keine Begriffsbestimmung gibt, nach dem Zweck der Vorschrift im weitesten Sinne zu verstehen. § 52 Abs. 2 StGB kann, da in einem der hier geregelten Materie fremden Zusammenhange stehend, nicht angewendet werden. Demnach sind selbst Personen, die nur in einem entfernten Grade oder auch gar nicht mit dem Betroffenen verwandt oder verschwägert sind, Angehörige i. S. des § 98 Abs. 2. Vor allem zählen hier der Ehegatte sowie Adoptiv- und Pflegeeltern zu den Angehörigen. Der Begriff erwachsen endlich ist nach dem Sprachgebrauch zur Zeit des Erlasses der Strafprozeßordnung dem des Kindes entgegengesetzt. Er bezeichnet nicht nur den Volljährigen, sondern den dem Kindesalter Entwachsenen, der in der Lage ist, die Bedeutung einer Beschlagnahme zu erkennen und Sicherheit für eine Unterrichtung des Betroffenen bietet, damit dieser selbst Entschließung fassen kann, ob er die Beschlagnahme hinnehmen oder sich gegen sie wenden will. Die Entscheidung, ob ein Anwesender erwachsen, ist von Fall zu Fall zu treffen, doch werden 18jährige regelmäßig als erwachsen anzusehen sein. Die Zuständigkeit ist die gleiche wie bei der Beschlagnahme (II 1), doch entscheidet bis zur Erhebung der öffentlichen Klage der Amtsrichter, in dessen Bezirk die Beschlagnahme stattgefunden hat (Absatz 2 Satz 3), gleichgültig wo sich die Sache zur Zeit der Entscheidung befindet, und wo das Verfahren stattgefunden hat. § 126 Abs. 1 Satz 3 darf nicht entsprechend angewendet werden. 5. Ablieferung von Beschlagnahmegegenständen (Absatz 3). Absatz 3 regelt das Verfahren nach nichtrichterlicher Beschlagnahme für den Zeitpunkt nach Erhebung der öffentlichen Klage nicht abweichend von Absatz 2 sondern ergänzt ihn. Er bestimmt einmal, daß die beschlagnahmten Gegenstände dem Richter zur Verfügung zu stellen sind, weil er ja mit Erhebung der öffentlichen Klage Herr des Verfahrens geworden ist. Aus der Ver15

§ 1 N r . 2 Satz 2 des Gesetzes über die Finanzverwaltung vom 6 . 9 . 1950 (BGBl. III 6 0 0 - 1 ) .

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Achter Abschnitt. Beschlagnahme, Überwachung des Fernmeldeverkehrs und Durchsuchung (Dünnebier)

§98 Anm. III 1,2

fahrensherrschaft folgt, daß auch ohne Beschlagnahme sichergestellte Gegenstände alsbald dem Richter abzuliefern sind. Zum anderen wird verordnet, daß der Beamte von der Beschlagnahme, nicht von der Anordnung einer erfolglosen Beschlagnahme, den Richter auch dann — binnen drei Tagen — zu benachrichtigen hat, wenn er nach Absatz 2 nicht genötigt ist, die richterliche Bestätigung nachzusuchen. Auf diese Weise wird für den Richter klargestellt, daß die abgelieferten Sachen beschlagnahmte (§ 94 Abs. 2) und nicht ohne Beschlagnahme verwahrt oder sichergestellt (I 1 Abs. 2) sind. Ist die Bestätigung nach § 98 Abs. 2 erforderlich, dann liegt die Anzeige nach Absatz 3 in dem Bestätigungsantrag des Absatzes 2. III. Verfahren. 1. Form der Anordnung. Die vorläufige Verwahrung, die — außer in Pressesachen (I 2 a. E.) — nur eine Rolle spielt, wenn sich einer Sache ein Beamter bemächtigen muß, der nicht Hilfsbeamter der Staatsanwaltschaft ist, entbehrt einer Anordnung und besonderer Formen. Anordnungen der Beschlagnahme, sowohl die durch den Richter als auch die durch Beamte, ergehen in der Form einer Verfügung. Die Anordnung eines Hilfsbeamten der Staatsanwaltschaft kann auch mündlich eröffnet werden, ja sogar schlüssig in der Beschlagnahme selbst liegen. Beim erkennenden Gericht ergeht die Beschlagnahmeanordnung als Beschluß. Die gerichtlichen Entscheidungen werden nach Erklärung der Staatsanwaltschaft (§ 33 Abs. 2) erlassen, die meist in ihrem Antrag liegt. Der Betroffene (II 4 Abs. 2) ist zu hören, soweit nicht, was meist der Fall sein wird, § 33 Abs. 4 einschlägt. Die gerichtlichen Anordnungen sind zu begründen (§ 34), doch genügt für die Begründung regelmäßig die kurze Feststellung, daß die Sache als Beweismittel benötigt werde, oder daß ein Gegenstand der Einziehung unterliege oder eingezogen werden könne und die Einziehung zu erwarten und ohne die Beschlagnahme gefährdet sei. Die Bestätigung ist nicht nur ein innerdienstlicher Vorgang. Sie tritt für das weitere Verfahren, namentlich in bezug auf die Anfechtung, an die Stelle der nicht richterlichen Beschlagnahme. Für ihre Form gilt das für die richterliche Anordnung Gesagte. Die Anordnungen sind dem Betroffenen, die gerichtlichen Anordnungen und Bestätigungen dem Betroffenen und den Prozeßbeteiligten bekanntzumachen, doch kann die Bekanntmachung an den Beschuldigten zurückgestellt werden, wenn dadurch der Untersuchungszweck gefährdet würde (vgl. § 101 Abs. 1). Auch dem nicht beschuldigten Betroffenen wird die Anordnung erst unmittelbar vor der Beschlagnahme von dem ausführenden Beamten bekanntgegeben. 2. Inhalt. a) Beschlagnahmeanordnung. Die gerichtliche Anordnung wird sich in der Regel auf den Ausspruch der Beschlagnahme beschränken und die Art (Verwahrung oder sonstige Sicherstellung) der Staatsanwaltschaft überlassen. Die zu beschlagnahmenden Gegenstände sind so genau wie möglich zu bezeichnen, doch ist eine gewisse Unbestimmtheit (der auf einen bestimmten Geschäftsvorfall bezügliche gesamte Schriftwechsel, nur der Art nach bezeichnetes Diebstahlsgut) der Natur der Sache nach zulässig. Wird nur die Beschlagnahme angeordnet, ist es Sache der vollstreckenden Staatsanwaltschaft, die Art und Weise der Vollstreckung (amtliche Verwahrung oder Sicherstellung) zu bestimmen. Die Anordnung kann darüber aber auch selbst Verfügungen treffen, indem etwa bestimmt wird, daß eine Sache an einer bestimmten Stelle (etwa bei einem Sachverständigen, einem Tierpfleger) zu hinterlegen sei, daß keine andere Form als die amtliche Verwahrung gewählt werden dürfe, oder daß an deren Stelle die Versiegelung, Absperrung oder ähnliches zu treten habe. Die Anordnung kann sich auch auf bloße Verbote (RGSt. 18 72) oder Gebote (RGSt. 52 117) beschränken. Es ist stets die Maßnahme zu wählen, die am wenigsten in bestehende Rechte eingreift, aber den Zweck der Beschlagnahme zugleich zuverlässig sichert. Aus diesem Grunde wird in der Regel nur die Beschlagnahme auszusprechen, die Art der Sicherstellung aber der Vollstreckung vorzubehalten sein, weil die Verhältnisse am besten an Ort und Stelle beurteilt werden können. Die Wichtigkeit einer Sicherstellung kann jedoch 589

§98 Anm. 1113,4

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im Einzelfalle dazu führen, andere Formen als die amtliche Verwahrung auszuschließen; auch sonst können die Umstände Veranlassung geben, auch die Ausführungsart vorzuschreiben. Solche Anordnungen wird grundsätzlich nur das erkennende Gericht treffen, der Amtsrichter nur, wenn eine weniger eingreifende Maßnahme als die Wegnahme geboten und mit Sicherheit genügend ist. Da im Ermittlungsverfahren die Beschlagnahme von einem Antrag der Staatsanwaltschaft abhängt, kann während dieses Zeitraums der Richter nicht tiefer eingreifende Maßnahmen aussprechen, als die Staatsanwaltschaft es beantragt. b) Bestätigung. Das Gericht prüft, ob die sachlichen Voraussetzungen der Beschlagnahme gegeben waren, namentlich ob die Schranken des § 97 beachtet worden sind. Haben die Voraussetzungen vorgelegen, so bestätigt es die Beschlagnahme. Das hat es auch zu tun, wenn die Voraussetzungen erst nach der Beschlagnahme eingetreten sein sollten. Denn dann hat es nunmehr selbst die Beschlagnahme anzuordnen und kann dies in der Form der Bestätigung tun. Sind die sachlichen Voraussetzungen der Beschlagnahme zur Zeit der Prüfung nicht gegeben, dann hebt das Gericht sie auf, sofern nicht Beschlagnahme in einer anderen Sache erforderlich ist (§ 108). Es kann auch anordnen, daß anstelle der Verwahrung eine weniger einschneidende Form der Sicherstellung (IV 4 zu § 94) gewählt werde, wenn dies geboten ist, und dadurch der Zweck der Maßnahme nicht gefährdet wird. Die Frage, ob zur Zeit der Anordnung Gefahr im Verzug gegeben war, kann das Gericht bei der Bestätigungsentscheidung nicht nachprüfen. Zwar kann man nicht darauf abstellen, daß es nur auf das freie Ermessen des Beamten und auf dessen Glauben an die Wahrscheinlichkeit des Beweisverlustes ankomme (II 2). Die Nachprüfung im Bestätigungsverfahren ist vielmehr deshalb ausgeschlossen, weil man sonst das Beweismittel preisgeben müßte. Das aber ist nicht zulässig, weil das Gericht, wenn die sachlichen Voraussetzungen der Beschlagnahme vorliegen, sie nunmehr anordnen müßte. Insofern und nur in bezug auf die prozessuale Frage kommt es für das Bestätigungsverfahren auf einen Irrtum des Beamten nicht an (weitergehend BGH MDR 1964 7 1 = LM 1 zu § 104 mit zust. Anm. Jagusch). 3. Wirkungen. Wegen der sachlichen Wirkungen der Beschlagnahme s. IV 5 zu § 94. Die Beschlagnahmeordnung des Richters oder Staatsanwalts ist im gesamten Geltungsbereich der Strafprozeßordnung vollstreckbar (§ 160 GVG), soweit nicht in ihr selbst eine Beschränkung enthalten ist16. Dieser Wirkung kommt namentlich bei Druckschriften Bedeutung zu, wenn die gesamte Auflage beschlagnahmt worden ist17. Für Anordnungen von Hilfsbeamten der Staatsanwaltschaft gilt das gleiche, wenn sie auf Weisung des Staatsanwalts (§ 152 Abs. 1 GVG) handeln. Soweit sie keinen Aufschub gestattende Anordnungen aus eigener Entschließung treffen (§ 163 Abs. 1), sind diese nur innerhalb des Bereichs ihres Hauptamtes vollziehbar (RGSt. 66 340). 4. Durchführung der Beschlagnahme. Während die Anordnung der Beschlagnahme nur vom Richter, Staatsanwalt und von solchen Polizeibeamten getroffen werden kann, die Hilfsbeamte der Staatsanwaltschaft (§ 152 GVG) sind, kann die Beschlagnahme selbst von jedem Polizeibeamten (§ 163) durchgeführt werden; auch können Nichtbeamte, etwa Spediteure, zur Hilfeleistung zugezogen werden (RGSt. 25 253). Die Beschlagnahme wird vollstreckt durch Absperren von Grundstücken und das Versiegeln von Sachen, durch die Bekanntgabe von Geboten und Verboten, z. B. an den unmittelbaren Besitzer einer Sache, über die Sache zu verfügen (RGSt. 18 72) oder diese an keinen 16 17

M ü l l e r - S a x 3a vor § 94. Fürs Presserecht ist die Frage nicht mehr unzweifelhaft. Solange ein Bundesrahmengesetz fehlt, bestimmen die Länder, jeweils für ihr Gebiet, Voraussetzungen, Umfang und Wirkung der Beschlagnahme in ihren Landespressegesetzen selbst. Da sie über eine bundeseinheitliche Regelung keine volle Übereinstimmung erzielen konnten, ist daraus ihr Wille zu entnehmen, sich weitergehenden Regelungen nicht zu unterwerfen. Ob ihnen durch § 160 GVG für das dem Landesrecht vorbehaltene Presserecht die Vollstreckung einer auswärts angeordneten Beschlagnahme dann aufgezwungen werden kann, wenn das eigene Pressegesetz die Beschlagnahme nicht zuläßt, wird eher zu verneinen sein.

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§98 Anm. I I I 5 , 6

anderen als den behördlich ausgewiesenen Empfanger herauszugeben (RGSt. 52 117), sie zu vernichten, zu verändern oder sonst über sie zu verfügen ( O L G Frankfurt HESt. 2 338; O L G Stuttgart M D R 1951 692) sowie durch die Wegnahme von beweglichen Sachen und die Überführung des Besitzes in amtlichen oder privaten Gewahrsam. Sie ist mit Schonung durchzuführen, doch kann, wenn die Vollstreckung sonst gefährdet wäre, Gewalt angewendet werden ( R G J W 1892 194) gegen Personen, die sich der Wegnahme widersetzen, und gegen Sachen, die ohne gewaltsame Veränderung nicht weggenommen oder von anderen Sachen nicht getrennt werden können. Zu diesem Zweck kommen in Betracht bei Personen körperliche Gewalt zum Brechen eines Widerstandes, Festnahme (§ 164; RGSt. 33 251) und Wegnahme von Hilfsmitteln der Sache (Schlüssel von Koffern, Aktentaschen, Schränken, Autos) sowie bei Sachen das Aufbrechen von Türen, das Erbrechen von Verschlüssen ( B G H Z JZ 1962 611) oder die Zerstörung einer Umhüllung. Dabei ist unter mehreren möglichen und geeigneten Maßnahmen die am wenigsten eingreifende zu treffen. Auch darf ein durch die Zwangsmaßnahme zu erwartender Schaden nicht erkennbar außer Verhältnis zu dem angestrebten Erfolg stehen. 5. Bundeswehr (Absatz 4). Wegen der besonderen Verhältnisse in Einrichtungen der Bundeswehr wird die Beschlagnahme dort durch deren Dienststellen, sei es allein, sei es unter Mitwirkung der beschlagnahmenden Behörde, durchgeführt. Außerhalb der militärischen Dienstgebäude usw. unterliegt die Beschlagnahme gegenüber Soldaten keinen Beschränkungen. Dienstgebäude sind Kasernen, Werkstätten u. dgl. Nicht allgemein zugängliche Einrichtungen und Anlagen sind u. a. Übungsplätze, Schiffe, Lazarette und Genesungsheime. Die vorgesetzte Dienststelle ist die dem von der Beschlagnahme betroffenen Soldaten vorgesetzte Dienststelle, der die dienstliche Gewalt über das Gebäude oder über die Anlage zusteht, worin sich die Sache befindet. Wegen dieser dienstlichen Gewalt über die Anlage kommt daher regelmäßig der Kommandeur, Kommandant oder der Standortälteste in Betracht ( K l e i n k n e c h t JZ 1957 407). Räume, die ausschließlich von Nichtsoldaten bewohnt werden, sind die in einem Gebäude oder einer Einrichtung liegenden, aber in sich abgeschlossenen Wohnungen von Zivilangestellten, verpachtete Kantinen und Läden. Ersuchende Stelle ist in der Regel die Staatsanwaltschaft oder die Polizei, die auch sonst die vom Gericht angeordnete Beschlagnahme durchführt ( § 3 6 Abs. 1), kann aber auch das erkennende Gericht selbst sein ( § 3 6 Abs. 2). Absatz 4 gilt nicht in Berlin, Klausel enthält.

da das Vierte Strafrechtsänderungsgesetz keine Berlin-

6. Besonderheiten. Bei Abgeordneten bedarf die Beschlagnahme, soweit sie zulässig ist (I 2 zu § 94), wenn sie in den Räumen des Parlaments stattfinden soll, der Genehmigung des Präsidenten des Parlaments (Art. 40 Abs. 2 Satz 2 G G , ebenso in allen Landesverfassungen). Räume des Parlaments sind solche Sitzungs-, Büro- und Abgeordnetenzimmer, die — mögen sie in einem Gebäude vereint oder auf mehrere verteilt sein — nach Herkommen oder ausdrücklicher vorheriger Erklärung des Präsidenten dazu bestimmt sind, und in denen dieser willens und in der Lage ist, Hausrecht und Polizeigewalt auszuüben. Darunter fallen auch die in dem Parlament oder im Zusammenhang mit ihm eingerichteten Arbeitsräume und zugleich als Arbeitsräume bestimmten Wohnräume der Abgeordneten, nicht jedoch ihre privaten Wohnräume. Für diese gelten die allgemeinen Regeln (BayStaatsGH BayZ 1923 2; v . d. P f o r d t e n L Z 1923 312). Soll in deutschen Hoheitsgewässern, insbesondere in einem deutschen Seehafen an Bord eines ausländischen Seehandelsschiffes oder seiner Hilfsfahrzeuge, eine Beschlagnahme vorgenommen werden, so ist die konsularische Vertretung, die zur Wahrnehmung der Interessen des Flaggenstaates zugelassen ist, rechtzeitig vorher zu benachrichtigen, es sei denn, daß Gefahr im Verzuge vorliegt oder die Beschlagnahme nicht am Sitz der zuständigen konsularischen Vertretung oder in dessen Nähe vorgenommen wird 18 . 18

G V über die Zuziehung ausländischer konsularischer Vertretungen zu Amtshandlungen an B o r d ausländischer Seehandelsschifte und zu Vernehmungen von Angehörigen ihrer Besatzung v o m 8. 12. 1936 ( R M B I . 519).

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§ 98 Anm. IV 1 - 3

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

IV. Rechtsbehelfe und Rechtsmittel. 1. Antrag auf gerichtliche Entscheidung. Für die vorläufige Verwahrung (I 2) stellt das Gesetz keinen Rechtsbehelf zur Verfügung, doch ist der Antrag auf richterliche Entscheidung (Absatz 2 Satz 2) der Natur der Sache nach gegeben. Bei ordnungsgemäßer Behandlung wird allerdings die alsbald herbeizuführende richterliche Beschlagnahme einen Antrag auf richterliche Entscheidung überholen. Der Antrag ist alsdann gegenstandslos, aber in der Regel in eine Beschwerde umzudeuten. Gegen die von einem Beamten angeordnete Beschlagnahme ist der Antrag auf gerichtliche Entscheidung (Absatz 2 Satz 2) statthaft. Der Antrag wird nicht deshalb ausgeschlossen oder gegenstandslos, weil der Richter inzwischen auf Nachsuchen der Beamten die Beschlagnahme bestätigt hat, doch entfallt eine besondere Bestätigungsentscheidung, wenn das Gericht einen Antrag auf richterliche Entscheidung als unbegründet verwirft. Der Antrag ist formfrei und an keine Frist gebunden. Ihn kann, falls er beschwert ist, auch der nichtbesitzende Eigentümer stellen. Ist von der Beschlagnahme abgesehen worden, weil der Betroffene die als Beweisstücke oder Einziehungsgegenstände benötigten Sachen freiwillig herausgegeben hat (I 1 Abs. 2), dann kann er die Einwilligung in die Wegnahme jederzeit widerrufen. Die Sicherstellung steht dann einer Beschlagnahme durch einen Beamten in Anwesenheit des Betroffenen gleich, der keinen Widerspruch erhoben hat (§ 98 Abs. 2). Der Betroffene kann nunmehr die richterliche Entscheidung nachsuchen; jeder Antrag auf Herausgabe der zunächst freiwillig herausgegebenen Sachen, auch wenn er bei der Polizei oder Staatsanwaltschaft angebracht wird, ist als solcher Antrag zu behandeln. Die richterliche Entscheidung kann auch der letzte Besitzer einer Sache beantragen, die als in keinem Gewahrsam stehend behandelt worden ist. Endlich kann der zur Zeit der Beschlagnahme oder Sicherstellung nichtbesitzende Eigentümer den Antrag stellen, wenn ein ihm gegen den Gewahrsamsinhaber zustehendes Rückforderungsrecht durch die Beschlagnahme oder Sicherstellung beeinträchtigt und er durch sie behindert wird, selbst den Gewahrsam auszuüben. 2. Beschwerde. Gegen die richterliche Beschlagnahme, gegen die Bestätigung der Beschlagnahme durch einen Beamten und gegen die Ablehnung einer beantragten Beschlagnahme stehen, wenn sie nicht von einem Strafsenat als Rechtsmittelgericht ausgesprochen werden (§ 304 Abs. 4), den Prozeßbeteiligten und dem Gewahrsamsinhaber die Beschwerde zu, auch wenn die Entscheidung die eines erkennenden Gerichts ist (§ 304 Abs. 1, § 305 Satz 2). Der nichtbesitzende Eigentümer ist grundsätzlich durch die Beschlagnahme nicht beschwert, weil sie sein Eigentum unberührt läßt. Hat er dessen Verlust durch eine künftige Einziehung zu befürchten, so muß er sein Recht im Strafverfahren als Einziehungsbeteiligter (§431 Abs. 1) geltend machen. Im Beschlagnahmeverfahren ist er nur ausnahmsweise beschwert, wenn ein ihm gegen den Gewahrsamsinhaber zustehendes Rückforderungsrecht durch die Beschlagnahme beeinträchtigt und er durch sie behindert wird, selbst den Gewahrsam auszuüben. Alsdann hat auch er das Beschwerderecht. Weitere Beschwerde ist nicht statthaft (§310 Abs. 2 in Vbdg. mit Abs. 1). In Pressesachen ist in Hessen die Entscheidung des Beschwerdegerichts, welche die Beschlagnahme eines Druckwerks anordnet oder bestätigt, mit der weiteren Beschwerde anfechtbar 19 . 3. Die Revision kann nicht darauf gestützt werden, daß die Formen der Beschlagnahme nicht beachtet worden seien, daß namentlich die richterliche Bestätigung nicht oder nicht fristgemäß herbeigeführt, der Begriff der Gefahr im Verzuge verkannt oder der Gegenstand überhaupt wider den Willen des Betroffenen ohne Beschlagnahme als Beweismittel im Hauptverfahren verwendet worden sei ( 8 Abs. 4 vor § 94). Wird dagegen ein geschützter Gegenstand (§ 97) oder ein geschützter Verteidigerbrief (IV 5 zu § 97) bei der Urteilsfällung 19

§ 17 des Hessischen Gesetzes über Freiheit und Recht der Presse vom 20. 11. 1958 (GVB1. 183). Gegen die Gültigkeit dieser Bestimmung bestehen Bedenken, weil die Regelung des strafprozessualen Beschwerdeverfahrens zum Gebiet des gerichtlichen Verfahrens (Art. 74 Nr. 1 G G ) gehört, auf dem der Bund von seinem Gesetzgebungsrecht vollen Gebrauch gemacht hat (Art. 72 Abs. 1 GG), und § 17 HessPrG nicht als Inhalt des Presserechts angesehen werden kann.

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§98 Anm. V 1,2

wissentlich oder versehentlich verwertet, so ist die Revision begründet. D e n Verstoß kann auch ein Mitangeklagter rügen, wenn das Beweismittel auch gegen ihn verwendet worden ist ( R G S t . 20 93). Denn in dem P r o z e ß gegen beide Angeklagte stand das Beweismittel wegen der Beziehung eines Angeklagten zu dem Gewahrsamsinhaber schlechthin nicht zur Verfügung. D i e Ablehnung einer Beschlagnahme durch das erkennende Gericht begründet die Revision, wenn das Urteil auf einem durch die Ablehnung herbeigeführten Beweismangel beruht V . Beendigung der Beschlagnahme. 1. D a s Erlöschen der Beschlagnahme ist in der Strafprozeßordnung nicht geregelt. Namentlich erlischt die nichtrichterliche Beschlagnahme nicht etwa dadurch, daß die richterliche Bestätigung nicht oder nicht fristgemäß nachgesucht wird ( S ä c h s O L G 7 309). D e r N a tur der Sache nach erlischt die Beschlagnahme aber mit der Rechtskraft eines Urteils, durch das ein beschlagnahmter Einziehungsgegenstand eingezogen oder nicht eingezogen wird. Denn mit der Rechtskraft der Einziehung geht das Eigentum an dem Gegenstand auf den Staat über 20 , und das staatliche Eigentum kann nicht mit einer Beschlagnahme zugunsten des Staates belastet sein. M i t der Rechtskraft des nicht einziehenden Urteils steht fest, daß der Staat das Eigentum an dem Gegenstand nicht erlangt. Beweismittel sind für das Verfahren ( § 94) beschlagnahmt w o r d e n ; mit der Beendigung des Verfahrens fällt dieser Z w e c k dahin. D a s Fortbestehen der Beschlagnahme bis zu einer förmlichen Aufhebung entbehrte des Rechtsgrundes. D a s Gericht müßte die Beschlagnahme ohne Sachprüfung aufheben. D i e Verfügung über die Einziehungsgegenstände und Beweismittel könnte damit nicht verbunden werden, weil das Gericht nach der Rechtskraft nicht mehr Herr des Verfahrens ist, also nur über seinen Beschlagnahmebeschluß, nicht aber über die Beschlagnahmegegenstände verfügen kann. A u f der anderen Seite kann die Staatsanwaltschaft nicht eine gerichtliche Beschlagnahmeanordnung aufheben. M a n wird bei dieser Sachlage und beim Schweigen des Gesetzgebers nach der N a t u r der Sache ein Erlöschen der Beschlagnahmeanordnung wie auch der Beschlagnahme selbst mit der Rechtskraft der das Verfahren abschließenden Entscheidung annehmen können 2 1 . D i e von der Staatsanwaltschaft bei G e f a h r im Verzug verfügte Postbeschlagnahme und die Überwachung des Fernmeldeverkehrs erlöschen, wenn sie nicht binnen drei T a g e n richterlich bestätigt worden sind ( § 100 A b s . 2; § 100 b A b s . 1 Satz 2). D a s Presserecht kennt kein an einen bestimmten Zeitpunkt geknüpftes Erlöschen der Beschlagnahme, regelt dafür aber die Aufhebung, wenn auch nur für ein Teilgebiet (2 A b s . 3). Dagegen tritt die vorläufige Sicherstellung, w o sie besteht ( I 2 A n m . 5), automatisch außer K r a f t , wenn nicht innerhalb von fünf T a g e n seit ihrer A n o r d n u n g der Behörde, die die Sicherstellung angeordnet hatte, die A n o r d n u n g der Beschlagnahme mitgeteilt worden ist 22 . 2. Aufhebung. D i e Beschlagnahme ist jederzeit auf A n t r a g oder von A m t s wegen aufzuheben, wenn sich herausstellt, daß die beschlagnahmten Gegenstände der Beschlagnahme nicht unterlegen haben oder nicht mehr unterliegen, z. B. nach W i d e r r u f des Einverständnisses des Beschuldigten ( I V 8 zu § 9 7 ) oder des Gewahrsamsinhabers ( V 6 zu § 97), oder wenn sie für das weitere Verfahren nicht mehr benötigt werden. D a s ist bei Beweisstücken der Fall, wenn der Beweis auf andere Weise, etwa durch ein richterliches Geständnis, geführt werden kann oder wenn sich ein verderblicher Gegenstand nicht mehr in der zur Beweisführung erforderlichen F o r m erhalten läßt. In diesem Falle müssen Fotografien, Sachverständigengutachten und Zeugenaussagen zur Beweisführung bereitgestellt werden. Bei Einziehungsgegenständen wird im allgemeinen eine Aufhebung während des Verfahrens ausscheiden, kann aber in Betracht kommen, wenn das erkennende Gericht, etwa bei E r ö f f nung des Hauptverfahrens, im Gegensatz zu der Ansicht des Amtsrichters zu der A u f f a s 20 21 22

§ 41a Abs. 1 StGB. im Ergebnis ebenso B e l i n g § 104 IV. Baden-Württemberg, Saarland, Schleswig-Holstein: § 1 8 Abs. 4; Bremen, Niedersachsen: § 18 Abs. 5; Nordrhein-Westfalen: § 19 Abs. 5. Für Bayern fehlt eine entsprechende Regelung.

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sung gelangt, daß es eine ins richterliche Ermessen gestellte Einziehung nicht anordnen werde, oder wenn bei Änderung der rechtlichen Beurteilung anzunehmen ist, daß der Verurteilung keine Vorschrift zugrunde liegen wird, die eine Einziehung vorschreibt oder gestattet. D a vor Erhebung der öffentlichen Klage der Amtsrichter grundsätzlich nur auf Antrag der Staatsanwaltschaft tätig werden kann (§ 162 Abs. 1, § 165), hat das Gericht bis dahin einem Antrag der Staatsanwaltschaft, die Beschlagnahme aufzuheben, stattzugeben, wie das für den Haftbefehl in § 120 Abs. 3 Satz 1 und im Presserecht ausdrücklich vorgeschrieben ist. Nach Presserecht ist die Beschlagnahmeanordnung vor Erhebung der öffentlichen Klage auf Antrag der Staatsanwaltschaft und von Amts wegen dann aufzuheben, wenn nicht binnen eines Monats die öffentliche Klage erhoben oder die selbständige Einziehung oder Unbrauchbarmachung beantragt ist. Die Frist kann in der Regel verlängert werden 23 . 3. Zuständigkeit. Hat ein Hilfsbeamter der Staatsanwaltschaft eine Beschlagnahme angeordnet, so ist grundsätzlich die Staatsanwaltschaft zur weiteren Entscheidung zuständig. Denn dieser hat die Polizei ihre Verhandlungen ohne Verzug zu übersenden, und die Staatsanwaltschaft ist Herr des Vorverfahrens, nicht sind es ihre Hilfsbeamten. Stellt jedoch ein Hilfsbeamter alsbald nach der von ihm ohne staatsanwaltschaftlichen Auftrag angeordneten Beschlagnahme vor Abgabe der Akten an die Staatsanwaltschaft und vor richterlicher Bestätigung fest, daß der Gegenstand nicht der Beschlagnahme unterliegt, zur Beweisführung offensichtlich entbehrlich oder versehentlich beschlagnahmt worden ist, so ist er befugt, alsbald seine eigene Beschlagnahme aufzuheben 2 4 . Er kann das aber auch der Staatsanwaltschaft überlassen. Die Staatsanwaltschaft ist als Herr des Vorverfahrens bis zur Erhebung der öffentlichen Klage zur Aufhebung der Beschlagnahme und ihrer Anordnung befugt, wenn sie von der Staatsanwaltschaft oder von einem ihrer Hilfsbeamten erlassen, auch wenn sie vom Richter bestätigt worden ist. Hat der Richter die Anordnung getroffen, so kann der Staatsanwalt sie nicht aufheben, wohl aber die Beschlagnahme selbst. Er hat gleichzeitig die Aufhebung der Anordnung beim Richter zu beantragen (2 Abs. 1). Nach Erhebung der öffentlichen Klage ist zuständig (BayObLGSt. 23 20) während der Voruntersuchung der Untersuchungsrichter, sonst das mit der Sache befaßte Gericht (II 1). Nach Rechtskraft des Urteils und dem dadurch herbeigeführten Erlöschen der Beschlagnahme (1) verfügt die Staatsanwaltschaft über die Gegenstände, bei Einziehungsgegenständen im Wege der Vollstreckung des einziehenden oder nicht einziehenden Urteils, bei Beweismitteln im Wege der Bereinigung der Sache, die ihr zusammen mit der Vollstreckung zusteht 25 . Ausschließliche gerichtliche Zuständigkeit nicht nur für die Zeit der Anhängigkeit der Sache, sondern auch für das Ermittlungsverfahren und noch nach Rechtskraft des Urteils besteht im Falle des § 111 (5 zu § 111). 4. Verfahren. Die Aufhebung der Beschlagnahme wird durch Verfügung angeordnet. Ergeht sie anläßlich eines freisprechenden Urteils, so gehört sie nicht ins Urteil (vgl. RGSt. 54 166). Sie ist dem letzten Gewahrsamsinhaber mitzuteilen, außerdem den Prozeßbeteiligten, wenn sie von der Beschlagnahme Kenntnis erhalten hatten und das Verfahren noch nicht beendet ist. 23

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Zweimal unbefristet: Bremen (§ 16 Abs. 2); mehrfach einen Monat: Niedersachsen (§ 16 Abs. 2), Schleswig-Holstein — (§ 16 Abs. 1), aber nicht mehr als sechs Monate: Hamburg (§ 16 Abs. 2); mehrfach zwei Wochen: Saarland ( § 1 6 Abs. 2); einmal sechs Monate: Berlin ( § 1 5 Abs. 2); zweimal einen Monat: Baden-Württemberg ( § 1 6 Abs. 2), Nordrhein-Westfalen ( § 1 7 Abs. 2); einmal einen Monat: Rheinland-Pfalz (§ 16 Abs. 2). Keine Verlängerung Hessen, keine Befristung Bayern. weitergehend — uneingeschränkte Zuständigkeit zur Aufhebung der Beschlagnahme vor Abgabe an die Staatsanwaltschaft - BGHSt. 5 158. Im Ergebnis ebenso O L G Hamburg A l s b . E 1 205; OLG Neustadt NJW 1954 286; O L G Hamm JMB1NRW 1961 94, jedoch für einen Sachverhalt, der sich auf ohne gerichtliche Bestätigung von der Staatsanwaltschaft sichergestellte Sachen bezieht; E b S c h m i d t 4 zu § 111.

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Achter Abschnitt. Beschlagnahme, Überwachung des Fernmeldeverkehrs und Durchsuchung (Dünnebier)

§ 98 Anm. V 5 §99

Verwahrte Gegenstände gibt die Staatsanwaltschaft, soweit nicht der Fall des § 111 vorliegt, dem letzten Gewahrsamsinhaber heraus, selbst wenn dieser sie von dem Beschuldigten nur zur vorübergehenden Aufbewahrung erhalten hatte (OLG Bremen MDR 1960 603). Stehen der Herausgabe Ansprüche eines Dritten entgegen, so ist diesem Gelegenheit zu geben, seine Rechte geltend zu machen (Nr. 65 Abs. 4 Satz 1 RiStBV). Macht der Dritte seine Ansprüche nicht gerichtlich geltend, so ist die Sache dem letzten Gewahrsamsinhaber herauszugeben (Nr. 65 Abs. 4 Satz 2 RiStBV). Ist der letzte Gewahrsamsinhaber indessen der Beschuldigte, der die Sache dem Verletzten entzogen hatte (§ 111), so darf diese niemals dem Beschuldigten herausgegeben werden. Es ist nach § 111 zu verfahren; die Sache gebührt dann dem Verletzten (4 zu § 111). Ist dieser nicht bekannt, steht aber fest, daß der Gegenstand unrechtmäßig in die Hand des letzten Gewahrsamsinhabers gekommen ist, dann ist die Sache nach § 983 BGB und den dazu erlassenen landesrechtlichen Vorschriften zu behandeln (Nr. 65 Abs. 5 RiStBV), die Versteigerung nach Aufgebot vorsehen. Ebenso ist zu verfahren, wenn die Gegenstände bei der Sicherstellung in niemandes Gewahrsam waren und kein Berechtigter bekannt ist. Ist der letzte Gewahrsamsinhaber verstorben, sind verwahrte Sachen an den herauszugeben, der sich als Erbe ausweist. Zum Ausweis ist ein Erbschein am besten geeignet, aber doch nicht immer zu fordern, namentlich bei Sachen von geringem Wert. Sind mehrere Personen Erben, dann dürfen verwahrte Sachen an eine von ihnen nur herausgegeben werden, wenn die anderen zustimmen. Sonst ist die Sache für die Erben gerichtlich zu hinterlegen, und es ist diesen zu überlassen, durch Klage den Empfänger bestimmen zu lassen. Die — an sich tunlichst zu vermeidende — gerichtliche Hinterlegung ist auch nicht zu umgehen, wenn ein Gegenstand im Gewahrsam mehrerer, etwa von Eheleuten, war, der gemeinschaftliche Hinterlegungsort, etwa durch Ehescheidung, aufgegeben worden ist, und kein Einverständnis zur Herausgabe an einen der mehreren früheren gemeinschaftlichen Gewahrsamsinhaber zu erzielen ist. Die Sache bleibt dann gerichtlich für die letzten Gewahrsamsinhaber hinterlegt, bis einer von ihnen gegen die anderen ein Urteil erzielt hat, das ihn zum Empfang berechtigt. Die herausgebende Stelle ist an dem Herausgabeverfahren nicht beteiligt. Waren die Gegenstände nicht verwahrt, sondern in anderer Weise sichergestellt, so ist die Maßnahme, die zu dieser Sicherstellung (III 4) angeordnet worden war, aufzuheben und dafür Sorge zu tragen, daß der Gewahrsamsberechtigte wieder frei über die Gegenstände verfügen kann. 5. Rechtsmittel. Der letzte Gewahrsamsinhaber kann die Aufhebung der Beschlagnahmeanordnung bei der Stelle beantragen, die sie erlassen hat. Ist das nicht der Richter, kann er gerichtliche Entscheidung nachsuchen, nach Erhebung der öffentlichen Klage kann er sich nur an das Gericht wenden. Gegen die ablehnende Entscheidung steht ihm, wenn sie nicht von einem Strafsenat als Rechtsmittelgericht ergeht (§ 304 Abs. 4), die Beschwerde zu, auch wenn die Entscheidung das erkennende Gericht getroffen hat (§ 304 Abs. 1, § 305 Satz 2). Der Privat- und der Nebenkläger sind durch die Ablehnung der Aufhebung einer Beschlagnahme in der Regel nicht beschwert, doch kann eine Beschwer vorliegen, wenn der Gegenstand der Entlastung des Beschuldigten dient. Dieser kann beschwert sein, etwa wenn die Beschlagnahme eines Gegenstandes nicht aufgehoben wird, der nach § 97 nicht der Beschlagnahme unterliegt. Die Revision kann nicht auf die unterlassene Aufhebung einer Beschlagnahmeanordnung gestützt werden, sondern nur auf die Verwendung eines Gegenstandes als Beweismittel, der wegen eines Beweisverbots nicht als Beweismittel hätte verwendet werden dürfen. §99 Zulässig ist die Beschlagnahme der an den Beschuldigten gerichteten Briefe und Sendungen auf der Post sowie der an ihn gerichteten Telegramme auf den Telegraphenanstalten; ebenso ist zulässig an den bezeichneten Orten die Beschlagnahme solcher Briefe, Sendungen und Telegramme, bei denen Tatsachen vorliegen, aus welchen zu schließen ist, daß sie von dem Beschuldigten herrühren oder für ihn bestimmt sind, und daß ihr Inhalt für die Untersuchung Bedeutung hat. 595

§ 99 Anm. 1 1 , 2

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

Schrifttum: A u b e r t , Fernmelderecht, 2. Aufl. 1962; A s c h e n b o r n - S c h n e i d e r , Gesetz über das Postwesen, 2. Aufl. 1928; L e n g n i n g , Post- und Fernmeldegeheimnis, 3. Aufl. 1967; N i g g l , Dt. Postrecht, 2. Aufl. 1931; S c h ä f e r , Das Telegraphen- und Fernsprechgeheimnis nach der Novelle zum Telegraphengesetz vom 3. 12. 1927, JR 1928 215. I. Inhalt. 1. Begrenzung. Die §§ 99 und 100 schränken die allgemeinen Beschlagnahmebestimmungen (§§ 94 bis 98) verfahrensrechtlich ein, um dem Grundrechte der Unverletzlichkeit des Post- und Fernmeldegeheimnisses (Art. 10 GG) Rechnung zu tragen. Dagegen findet das Briefgeheimnis, soweit seinem Schutze nicht das Post- und Fernmeldegeheimnis mittelbar dient, in den genannten Bestimmungen unmittelbar keine Berücksichtigung. Die § § 9 9 bis 101 gehören zu der gesetzlichen Grundlage der Beschränkung des Post- und Fernmeldegeheimnisses 1 . Der Einschränkung der §§ 94 bis 98, die auf die grundsätzliche Ausschließlichkeit der richterlichen Entscheidung hinauslaufen, stehen auf der anderen Seite Erweiterungen gegenüber. § 99 geht, um die Beschlagnahme von Sendungen, deren Inhalt unbekannt und nur zu vermuten ist, praktikabel zu machen, über § 94 hinaus. Dort ist Voraussetzung, daß die zu beschlagnahmenden Gegenstände entweder der Einziehung unterliegen oder als Beweismittel für die Untersuchung von Bedeutung sein können. Dagegen genügt bei Briefen, Sendungen und Telegrammen, die wahrscheinlich vom Beschuldigten herrühren oder für ihn bestimmt sind, daß aus Tatsachen zu schließen ist, ihr Inhalt habe für die Untersuchung Bedeutung; und selbst diese Voraussetzung wird nicht gefordert bei Briefen, Sendungen und Telegrammen, die an den Beschuldigten gerichtet sind. Das Prinzip des § 94, daß nur Beweismittel und Einziehungsgegenstände beschlagnahmt werden dürfen, wird dadurch aber nicht verdrängt (II 4). Wenn auch § 99 danach keinen Verdacht voraussetzt, so darf doch nach dem Grundsatz, daß Grundrechte so weit wie möglich zu erhalten sind ( 8 vor § 94), die Postbeschlagnahme nicht angeordnet werden, wenn sie zu der Bedeutung der Sache und zu der zu erwartenden Sanktion in keinem angemessenen Verhältnis steht. Bei der Abwägung mit der Bedeutung der Sache kann der Verdachtsgrad eine Rolle spielen ( W e l p 268). Die Abwägung mil der Sanktion schließt die Postbeschlagnahme bei kleineren Gelegenheitstaten aus. 2. Verhältnis zu anderen Beschlagnahmevorschriften. § 94 Abs. 1 liegt als allgemeine Norm auch dem § 99 zugrunde (II 4), wenn auch, weil die Eigenschaft einer Sendung als Beweismittel oder Einziehungsgegenstand in der Regel bei der Beschlagnahme nicht feststeht, aus Gründen der Praktikabilität die Zulässigkeitsvoraussetzungen modifiziert sind. Die Beschlagnahme (§ 94 Abs. 2) findet, wie in § 99 geregelt, stets Anwendung, weil die Post wegen Art. 10 G G keine Sendungen freiwillig herausgeben darf. Dagegen sind von der Anwendung ausgeschlossen § 95, weil Behörden nicht zu seinen Normadressaten zählen, und § 96, weil er sich nur auf amtliche Schriftstücke bezieht (2 zu § 96). Der Fall des § 97 kann bei der Postbeschlagnahme nicht eintreten, weil jene Vorschrift den Gewahrsam bei den privilegierten Personen (oder in einer Krankenanstalt) voraussetzt. § 98 Abs. 4 ist seinem Inhalte nach unanwendbar, die Absätze 1, 2 Satz 1 und 2 und Absatz 3 werden durch die Sondervorschrift des § 100 verdrängt. Die Verweisung in § 100 Abs. 3 auf § 98 hat nur für die in dessen Absatz 2 Satz 3 geregelte Zuständigkeit Bedeutung. In bezug auf Briefe, Sendungen, Telegramme und auf Mitteilungen im Fernmeldeverkehr schließt das besondere — beschränkte — Auskunftsrecht (III) das in § 161 geregelte Auskunftsrecht aus. Es kann also z. B. nach § 161 keine Auskunft von der Post verlangt werden über einen beweiserheblichen Briefwechsel zwischen zwei Personen, von denen keine der Beschuldigte ist und der weder vom Beschuldigten herrührt noch für ihn bestimmt ist. Dagegen kann Auskunft nach § 161 gefordert werden, soweit sie sich nicht auf Sendungen und Mitteilungen bezieht, so z. B. darüber, ob eine bestimmte Person zu bestimmten Zeiten im Post- oder Fernmeldedienst beschäftigt war. Die Beschlagnahmebestimmungen des Presserechts engen die allgemeinen Vorschriften über die Beschlagnahme (§§ 94 bis 101) ein. Sie sind in erster Linie als Beschränkung der 1

Weitere Beschränkungen enthalten u. a. § 121 KO, § 6 Abs. 7 ZollG, § 46 des Außenwirtschaftsgesetzes.

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§99 Anm. I 3 , 4

§§ 94 bis 98 abgefaßt, heben aber die Vergünstigungen, die den Betroffenen in den §§ 99 bis 101 gegenüber den §§ 94 bis 98 eingeräumt worden sind, nicht auf, sondern verstärken sie. Danach ist die vorläufige Sicherstellung 2 durch Hilfsbeamte der Staatsanwaltschaft auf der Post unzulässig. Auf der anderen Seite schränken die Pressegesetze § 100 dahin ein, daß die Staatsanwaltschaft nicht zur Beschlagnahme befugt ist, wohl aber, wo diese zulässig ist, zur vorläufigen Sicherstellung. Für deren Außerkrafttreten wiederum gilt nicht die Fünftagefrist der Landespressegesetze über die vorläufige Sicherstellung, sondern die Dreitagefrist des § 100 Abs. 2. Es sind also stets die Bestimmungen über die Postbeschlagnahme mit denen über die Pressebeschlagnahme in der Weise zu verbinden, daß dem Betroffenen die Vorteile beider Gesetzesgruppen zukommen 3 . 3. Einwilligung. Durch das Post- und Fernmeldegeheimnis werden das Vertrauen der Postbenutzer zum Post- und Fernmeldedienst und die Sicherheit des Postverkehrs geschützt. Das Rechtsgut dient also dem Schutze der Allgemeinheit 4 , es konkretisiert sich aber im Schutze des einzelnen Postbenutzers. Daher kann dieser einwilligen, daß von einer Innehaltung der ihn betreffenden Schutzbestimmungen abgesehen, d. h. ein Brief ausgehändigt oder Auskunft über den Post- und Fernmeldeverkehr (III) erteilt wird ( L e n g n i n g 51). Beim Telefon verkehr kommt es nicht darauf an, wer angemeldeter Fernsprechteilnehmer ist cder wer die Gebühren zahlt; die Einwilligung kann allein der tatsächliche Benutzer der Einrichtung erteilen ( A u b e r t 70). Wird die Einwilligung erteilt, dann bedarf es der Beschlagnahme oder des förmlichen Auskunftsersuchens (V zu § 100) nicht, auch kann die Übersendung der Einwilligung und das damit verbundene Ersuchen um Aushändigung einer Sendung oder um Auskunft von anderen als in § 100 Abs. 1 genannten Stellen ausgehen, namentlich auch von der Polizei. Da jedermann über den Inhalt seiner Sendungen frei verfügen kann, und da der Absender dem Empfanger in der Regel mit der Absendung die Verfügung überläßt, können sowohl der Absender als auch der Empfanger, jeder allein, die Einwilligung erklären 5 . Die Post darf die Einwilligung des Empfängers jedoch nicht beachten, wenn der bis zur Aushändigung der Sendung an den Empfänger der Post gegenüber verfügungsberechtigt bleibende (§ 44 Abs. 1 PostO 6 ) Absender der Post erklärt hat, daß er der Abweichung vom Postgeheimnis nicht zustimme. Die Post braucht jedoch nach einem solchen nicht zu vermutenden Vorbehalt nicht zu forschen. 4. Von Amts wegen darf die Post oder Fernmeldeanstalt grundsätzlich nicht tätig werden. Eine Ausnahme besteht, wenn ein Bediensteter bei der Bearbeitung von Postsachen oder der Erledigung von Fernmeldeangelegenheiten von dem Vorhaben oder der Ausführung eines der in § 138 Abs. 1 StGB, § 13 des Sprengstoffgesetzes 7 und in § 51 Abs. 1 des Atomgesetzes 8 genannten Verbrechen zu einer Zeit Kenntnis erhält, zu der die Ausführung oder der Erfolg noch abgewendet werden kann. Alsdann ist er zu einer Anzeige bei seinem Vorgesetzten verpflichtet, der das Erforderliche zu veranlassen hat. Bei Gefahr im Verzuge muß er auch selbst der nächsten Polizeibehörde Kenntnis geben. Ist die Straftat beendet oder kann durch die Offenbarung weder die Ausführung des Verbrechens noch der Erfolg abgewendet werden, dann entfallt die Anzeigepflicht und damit die Pflicht und das Recht des Bediensteten, das Post- und Fernmeldegeheimnis zu brechen ( A u b e r t 67), doch kann er das nach den Grundsätzen des rechtfertigenden Notstandes tun, wenn er von einem be2

3 4 5 6 7

8

Baden-Württemberg, Bremen, Niedersachsen: § 18; Nordrhein-Westfalen: § 19; Saarland, SchleswigHolstein: § 18. L ö f f l e r 1 PostR 44; 2 13, 19 vor § 13 LPG. A u b e r t , Jahrb. Postw. 1956/57 43. A s c h e n b o r n - S c h n e i d e r 138; A u b e r t 69; L e n g n i n g 52; zweifelnd N i g g l 128. Vom 16. 5. 1963 (BGBl. III 901 - 1 - 1). Gesetz gegen den verbrecherischen und gemeingefährlichen Gebrauch von Sprengstoffen vom 9. 6. 1884 (BGBl. III 453 - 8 ) . Gesetz über die friedliche Verwendung der Kernenergie und den Schutz gegen ihre Gefahren (Atomgesetz) vom 23. 12. 1969 (BGBl. III 751 - 1).

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§99

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Anm. II 1,2 gangenen Kapitalverbrechen durch seine dienstliche Tätigkeit Kenntnis erhalten hat und weitere Taten des gleichen Täters zu erwarten sind. Vergehen (etwa Abtreibung) rechtfertigen den Bruch des Fernmeldegeheimnisses nicht 9 . II. Beschlagnahme. 1. Begriffe. Beschlagnahme ist hier, wie sich aus § 100 ergibt — anders als in § 94 Abs. 2 und § 98 Abs. 1, 3 und 4 —, die ausdrückliche, regelmäßig nur dem Richter zustehende Anordnung, daß ein Gegenstand in amtliche Verwahrung zu nehmen oder in anderer Weise sicherzustellen sei (I 1 zu § 98). Eine solche Sicherstellung liegt schon darin, daß mit der Sendung in anderer Weise verfahren wird, als es für die ordnungsmäßige Beförderung vorgeschrieben ist, namentlich daß sie angehalten, ausgesondert oder dem Richter oder Staatsanwalt zur Besichtigung ihrer äußeren Beschaffenheit, der Anschrift, des Absenders, der Handschrift oder der Papierart vorzulegen ist. Wegen des Begriffs Beschuldigter s. III 2 zu § 97 10 . Zum Begriff Untersuchung s. II 1 zu § 94. Da die zu beschlagnahmende Sendung an den Beschuldigten gerichtet sein, für ihn bestimmt sein oder von ihm herrühren muß, findet § 99 in dem objektiven Verfahren bei Einziehung und bei Festsetzung von Geldbußen gegen juristische Personen und Personenvereinigungen (§ 440, § 444 Abs. 3 Satz 1), das keinen Beschuldigten kennt, keine Anwendung (BGHSt. 23 331; OLG Hamburg DStRZ 1922 3 0 6 ) D a b e i ist jedoch zu beachten, daß dem objektiven Verfahren oftmals ein staatsanwaltschaftliches subjektives Verfahren vorausgeht, in dem erst die Unverfolgbarkeit des zunächst Beschuldigten festgestellt wird 12 . Beweismittel, die in diesem subjektiven Verfahren erlangt worden sind, können in dem nachfolgenden objektiven Verfahren verwertet werden. — Die Frage ist von geringer Bedeutung, weil § 99 hauptsächlich zur Beschlagnahme von Beweisstücken Bedeutung gewinnt, das Verfahren der §§ 440, 444 Abs. 3 dagegen allein Einziehungsgegenstände erfassen kann. 2. Auf der Post usw. Die §§ 99 bis 101 sind nur auf Beschlagnahmen anwendbar, die auf der Post oder in der Telegrafenanstalt durchgeführt werden. Außerhalb dieser Anstalten linden die allgemeinen Bestimmungen (§§ 94 bis 98) Anwendung. Auf der Post oder in der Telegrafenanstalt 13 befindet sich eine Sendung, solange sie in der Gewalt einer Dienststelle der Bundespost ist, sei es bei den Verkehrsämtern (und hier sowohl bei der Ausgabe- als auch der Empfangsanstalt), sei es bei den Aufsichtsstellen, namentlich bei der Oberpostdirektion 14 . Das ist auch der Fall, solange eine aufgegebene Sendung befördert wird, sei es in Fahrzeugen der Post, sei es im Eisenbahnpostbetrieb, oder solange eine zur Ausgabe gelangende Sendung sich in der Hand des bestellenden Bediensteten befindet. Praktisch ist allerdings eine Beschlagnahme an einer anderen Stelle als der Empfangsanstalt schwierig und im Erfolg unsicher. Die Bestimmung, wann sich eine Sendung auf der Post oder in der Telegrafenanstalt befindet, ist aber deshalb von Bedeutung, weil außerhalb dieser Zeit die allgemeinen Beschlagnahmebestimmungen Anwendung finden. 9 10 11 12 13

14

A u b e r t Jahrb. Postw. 1956/57 35; L e n g n i n g 9 8 , 9 9 . Unrichtig N i g g l (132), der unter Beschuldigten nur den Angeschuldigten und Angeklagten versteht. Ebenso S c h ä f e r JR 1928 218; A s c h e n b o r n - S c h n e i d e r 141. W a g n e r M D R 1961 97. Telegrafenanstalten sind die dem Telegrammdienst dienenden Dienststellen der Bundespost. Der Anwendungsbereich wird erweitert durch das Gesetz über Fernmeldeanlagen vom 14. 1. 1928 (RGBl. I 8), § 13: „Die Bestimmungen über die Beschlagnahme von Telegrammen auf der Deutschen Bundespost gelten entsprechend für Telegramme im Gewahrsam einer nicht der Deutschen Bundespost gehörenden deutschen Telegrafenanstalt, die mit der Deutschen Bundespost unmittelbar oder durch Vermittlung eines Dritten über beförderte Telegramme abrechnet. Das gleiche gilt für Telegramme im Gewahrsam des Dritten, der die Abrechnung vermittelt." Telegrafenämter i. S. des § 13 F A G sind (Nr. 72 Abs. 2 RiStBV) die dem öffentlichen Verkehr dienenden Bordfunkstellen auf deutschen Handelsschiffen; die Deutsch-Atlantische Telegrafengesellschaft in Köln, Kaiser-Wilhelm-Ring 28; die Bundesbahn, soweit sie Telegramme befördert nach dem Reglement über die Benutzung der Eisenbahntelegrafen vom 7 . 3 . 1876 (ZentrBl. S. 156). Die Abrechnung vermittelt u. a. die Deutsche Betriebsgesellschaft für drahtlose Telegrafie ( A u b e r t 60). A u b e r t 59; L e n g n i n g 61; a. A. A s c h e n b o r n - S c h n e i d e r § 5 Anm. 7.

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Achter Abschnitt. Beschlagnahme, Überwachung des Fernmeldeverkehrs und Durchsuchung (Dünnebier)

§ 99 Anm. II 3 , 4 ; III 1

Das ist z. B. der Fall, wenn der Empfänger einen postlagernden Brief im Schaltervorraum in Empfang genommen hat. Eine dort vorgenommene Beschlagnahme ist keine „auf der Post". 3. Briefe, Sendungen und Telegramme. § 100 Abs. 3 enthält eine Sondervorschrift für verschlossene Briefe oder andere Postsendungen. Das Postbeschlagnahmerecht der Strafprozeßordnung kennt daher nur den Unterschied zwischen offenen und verschlossenen Sendungen, behandelt aber innerhalb der beiden Fallgruppen alle Sendungen gleich. Die — im Hinblick auf den Postzwang für verschlossene Briefe entstandenen — postrechtlichen Streitigkeiten über den Begriff des Briefes sind daher für die Strafprozeßordnung ohne Bedeutung. Die Beschlagnahmegegenstände brauchen allein nach äußeren Merkmalen bezeichnet zu werden. Nr. 66 Abs. 4 RiStBV schlägt dafür vor: Briefsendungen (Briefe, Päckchen, Postkarten, Drucksachen, Blindenschriftsendungen, Geschäftspapiere, Warenproben, Mischsendungen, Phonopostsendungen); Paketsendungen (Pakete und Postgüter); Postanweisungen, Zahlungsanweisungen und Zahlkarten; Zeitungen; Telegramme. 4. Beschuldigtenpost. Die Beschlagnahme darf nur Sendungen treffen, die an den Beschuldigten gerichtet oder für ihn bestimmt sind oder von ihm herrühren. An den Beschuldigten gerichtet sind Briefe, Telegramme und sonstige Sendungen, wenn auf ihnen der Beschuldigte ausdrücklich als Empfänger bezeichnet ist, sei es mit seinem bürgerlichen Namen, sei es mit einem Künstler- oder sonstigen Decknamen, unter dem er lebt. Die Beschlagnahme solcher Sendungen ist in Abweichung von § 94 nicht von dem Nachweise abhängig, daß sie als Beweismittel für die Untersuchung von Bedeutung sein können oder der Einziehung unterliegen. Der Nachweis wird indessen lediglich aus Gründen der Praktikabilität erlassen; Zweck der Beschlagnahme ist auch hier, Beweismittel oder Einziehungsgegenstände zu erlangen. Sie dient dagegen nicht 15 der Beschaffung von Gegenständen zur Beweisermittlung. Daher ist die Beschlagnahme unzulässig, wenn feststeht, daß eine Sendung weder als Beweismittel noch als Einziehungsgegenstand in Betracht kommen kann. Von dem Beschuldigten herrührend oder für ihn bestimmt sind Briefe, Telegramme oder sonstige Sendungen, deren Verfasser der Beschuldigte ist, oder die er, wenn auch nicht als Empfanger auf ihnen bezeichnet, erhalten soll, namentlich also postlagernde Sendungen und solche unter einer Deckadresse. Die Tatsachen, daß die Briefe vom Beschuldigten herrühren oder für ihn bestimmt sind, können aus Hilfstatsachen geschlossen werden, etwa aus der Aussage eines Zeugen, daß der Beschuldigte ihm das Kennzeichen für an ihn zu richtende postlagernde Sendungen benannt habe, oder aus der Beobachtung, daß er durch andere mit deren Absenderangabe eigene Briefe habe aufgeben lassen. Bei diesen weniger klaren Verhältnissen ist, anders als bei Sendungen, auf denen der Beschuldigte eindeutig als Empfänger bezeichnet ist, als Voraussetzung der Beschlagnahme der Nachweis von Tatsachen erforderlich, aus denen zu schließen ist, daß der Inhalt der Sendungen für die Untersuchung von Bedeutung ist (II 2 zu § 94). Diese kommt zwar in erster Linie Beweismitteln zu, kann aber auch auf Einziehungsgegenstände bezogen werden. III. Auskunft. 1. Voraussetzungen. Soweit in bezug auf Briefe, Sendungen und Telegramme nach §99 die Beschlagnahme zulässig ist, kann als das Mindere, in dem Beschlagnahmerecht Enthaltene, Auskunft gefordert werden 16 . Danach kann Auskunft nur verlangt werden über Briefe, Sendungen und Telegramme, die an den Beschuldigten gerichtet sind, oder über Briefe, Sendungen und Telegramme, bei denen Tatsachen vorliegen, aus denen zu schliessen ist, daß sie von dem Beschuldigten herrühren oder für ihn bestimmt sind, und daß ihr Inhalt für die Untersuchung Bedeutung hat. 15 16

So P e t e r s § 4 8 III 1 Abs. 1. A s c h e n b o r n - S c h n e i d e r 142 Nr. 8; S c h i e r l i n g e r DStRZ 1917 337; L e n g n i n g 68.

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§99 Anm. III 2

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

Für den Fernmeldeverkehr (Telegraf, Fernsprecher, Funk) ist das Auskunftsrecht ausdrücklich geregelt in dem Gesetz über Fernmeldeanlagen vom 14. 1. 1928 (BGBl. III 9020-1) § 12 In strafgerichtlichen Untersuchungen kann der Richter und bei Gefahr im Verzuge, falls die Untersuchung nicht ausschließlich Übertretungen betrifft, auch die Staatsanwaltschaft Auskunft über den Fernmeldeverkehr verlangen, wenn die Mitteilungen an den Beschuldigten gerichtet waren, oder wenn Tatsachen vorliegen, aus denen zu schliessen ist, daß die Mitteilungen von dem Beschuldigten herrührten oder für ihn bestimmt waren, und daß die Auskunft für die Untersuchung Bedeutung hat. Die Auskunftsvoraussetzungen sind somit nach dem Fernmeldeanlagengesetz die gleichen wie die Beschlagnahmevoraussetzungen des § 99, die auch für die Auskunft über die in § 99 genannten Gegenstände maßgebend sind. 2. Inhalt. Briefe, Sendungen und Telegramme. Die Auskunft ist gegenüber der Beschlagnahme das Mindere; daher darf ihr Inhalt keine weiteren Kenntnisse umfassen, als sie sich die Post oder die Telegrafenanstalt bei Durchführung der Beschlagnahme hätte verschaffen können. Da die Kenntnisnahme vom Inhalt eines Briefes, einer Sendung oder eines Telegramms im Beschlagnahmeverfahren dem Richter vorbehalten ist, scheidet jede Auskunft über diesen Inhalt aus, auch wenn die Post außerhalb des Auskunftsverfahrens, etwa zur Feststellung des Absenders eines unzustellbaren Briefes oder zur Gebührenprüfung, von ihm Kenntnis erhalten hat. Die Auskunft erstreckt sich danach auf äußere Merkmale einer Sendung, wie Absender, Empfanger, Art des Postgutes, und auf die Daten des Postverkehrs. Funk- und Fernsprechverkehr. § 12 FAG ist nur die Einschränkung zu entnehmen, daß die Auskunft sich nicht auf einen künftigen, sondern nur auf einen vergangenen Verkehr beziehen darf (3 Abs. 2), sonst aber keine. Der Wortlaut gestattet daher Auskunft sowohl über die Umstände, unter denen der Verkehr stattgefunden hat (Ort, Datum, Uhrzeit, Dauer), und über die daran beteiligten Personen (Sender, Sprecher, Empfänger; OLG Köln MDR 1970 698), als auch, wie sich aus dem Worte „Mitteilungen" ergibt, über den Inhalt der Sendung oder des Gesprächs ( S c h ä f e r 218). Der Wortlaut ist aber nicht mehr uneingeschränkt anzuwenden. Gegenüber § 12 FAG ist § 100a das spätere Gesetz. § 1 2 FAG darf daher nur insoweit angewendet werden, als er nicht durch die neue Vorschrift verdrängt oder modifiziert worden ist. Zwar bezieht sich § 100a im Gegensatz zu § 12 FAG nur auf eine zukünftige Überwachung; die Ansicht, daß beide Vorschriften sich widerspruchslos ergänzten (OLG Köln NJW 1970 1856), ist aber nur im Grundsatz richtig. Die richterliche Alleinzuständigkeit nach § 100 a, eine Überwachung anzuordnen, würde ausgehöhlt, wenn mit der Auskunft Ergebnisse einer planmäßigen Überwachung von Straftaten verlangt werden könnten. Hat die Post solche Erkenntnisse für innerbetriebliche Zwecke gewonnen, wobei hier dahinstehen muß, ob sie dazu befugt ist, darf sie diese auch nur für innerdienstliche Zwecke verwerten und darüber keine Auskunft geben. Hat sie das doch getan, ist die Verwertung des erlangten Beweises verboten (vgl. auch für ähnliche Gedanken BGHSt. 18 227; 23 331). § 12 FAG hat daher für den Funk- und Fernsprechverkehr nur Bedeutung in bezug auf Kenntnisse, die die Post nicht aus einer planmäßigen Überwachung von Straftaten gewonnen hat; diese Materie ist für die Verwendung bei Gericht abschließend in § IOC a geregelt. Soweit Telegramme in Rede stehen, bewirkt §12 FAG keine Erweiterung des aus §99 hergeleiteten Rechts in der Richtung, daß auch Auskunft über den Inhalt von Telegrammen verlangt werden könnte. Eine solche Erweiterung würde für den von der Auskunft Betroffenen eine weitere Einschränkung des Postgeheimnisses über §99 hinaus bedeuten. Es ist schon zweifelhaft, ob das Gesetz über Fernmeldeanlagen den § 99 in bezug auf Auskünfte über Telegramme hat ändern wollen ( S c h ä f e r a. a. O.). Auf jeden Fall ist die Strafprozeßordnung zeitlich nach jenem Gesetz zufolge Art. 9 VereinhG 17 als ganzes Gesetz neu 17

„Das Gerichtsverfassungsgesetz, die Zivilprozeßordnung und die Strafprozeßordnung gelten vom Tage des Inkrafttretens dieses Gesetzes ab in der aus den Anlagen 1 bis 3 ersichtlichen Fassung".

600

Achter Abschnitt. Beschlagnahme, Überwachung § 9 9 A n m . III 3 des Fernmeldeverkehrs und Durchsuchung (Dünnebier) § 1 0 0 Anm. I 1 veröffentlicht worden 18 in der Weise, daß die Gültigkeit ihrer einzelnen Bestimmungen nicht auf der ursprünglichen Gesetzgebung oder auf Änderungsgesetzen, sondern allein auf der Neuveröffentlichung beruht. Damit ist die Veröffentlichung der Strafprozeßordnung von 1950 gegenüber dem Gesetz über Fernmeldeanlagen eine neuere gesetzliche Regelung. Wenn aber das in ihr geregelte Beschlagnahmerecht das Recht auf Auskunft mit umfaßt, ist der Umfang dieses Rechts allein aus dem letzten Gesetz zu gewinnen und tritt eine durch das Fernmeldeanlagengesetz etwa beabsichtigte Erweiterung, d. h. eine weitere Beschränkung der Rechte des von der Auskunft Betroffenen, demgegenüber zurück. 3. Umfang. Da das Auskunftsrecht nicht weiter gehen kann als die Beschlagnahme, an deren Stelle sie als ein Minderes tritt, kann sich die Auskunft nur auf Briefe, Sendungen und Telegramme erstrecken, die bei Eingang des Auskunftsersuchens auf der Post oder in der Telegrafenanstalt sind, oder die nach diesem Zeitpunkt dorthin gelangen. Nach der Übung der Post- und Telegrafenämter 19 dagegen kann sich die Auskunft erstrecken auf Kenntnisse, welche die Post oder Telegrafenanstalt erlangt hat, als die Briefe, Sendungen und Telegramme bei ihr gewesen sind; daß sie sich im Zeitpunkte des Auskunftsersuchens noch dort befinden, wird nicht für erforderlich gehalten. Eine gesetzliche Grundlage für diese Ansicht, nach der die Auskunft weiter geht als die Beschlagnahme, aus der sie hergeleitet wird, ist nicht ersichtlich. In bezug auf den Funk- und Fernsprechverkehr kann, da er von § 99 nicht umfaßt wird, nach § 12 F A G Mitteilung über Kenntnisse verlangt werden, welche die Fernmeldeanstalt schon vor Eingang des Auskunftsersuchens erlangt hatte, soweit sich nicht auch insoweit eine Einschränkung aus § 100 a ergibt (2 Abs. 2). Dagegen ist nach dem eindeutigen Wortlaut des § 12 FAG jede Wirkung des Auskunftsersuchens in die Zukunft ausgeschlossen. Demzufolge ist die Überwachung des Funk- und Fernsprechverkehrs mit dem Ziele, Kenntnisse für künftige Auskünfte zu erlangen oder das Verlangen, Ferngespräche auf Tonband aufzunehmen und das Band zu beschlagnahmen, nach § 99 und nach § 12 F A G unzulässig 20 . Diese Materie ist abschließend in §§ 100a, 100b geregelt. In bezug auf Telegramme führt § 12 FAG keine Einschränkung des aus § 99 hergeleiteten Rechts herbei, Auskunft über einen zukünftigen Telegrammverkehr zu verlangen, weil §99 dem § 12 FAG, wenn dieser §99 überhaupt ändern wollte, jedenfalls als späteres Gesetz in der Wirkung vorgeht und diesem der Umfang des Auskunftsrechts allein zu entnehmen ist.

§ 100 (1)Zu der Beschlagnahme (§99) ist nur der Richter, bei Gefahr im Verzug und, wenn die Untersuchung nicht nur eine Übertretung betrifft, auch die Staatsanwaltschaft befugt. Die letztere muß jedoch den ihr ausgelieferten Gegenstand sofort, und zwar Briefe und andere Postsendungen uneröffhet dem Richter vorlegen. (2) Die von der Staatsanwaltschaft verfügte Beschlagnahme tritt, auch wenn sie eine Auslieferung noch nicht zur Folge gehabt hat, außer Kraft, wenn sie nicht binnen drei Tagen von dem Richter bestätigt wird. (3) Über eine von der Staatsanwaltschaft verfügte Beschlagnahme sowie über die Eröffnung eines ausgelieferten Briefes oder einer anderen Postsendung entscheidet der zuständige Richter (§ 98). I. Beschlagnahmeanordnung. 1. Form. Das Wort Beschlagnahme ist hier, anders als in § 98 (I 1 zu § 98), als Anordnung der Beschlagnahme zu verstehen. Die Anordnung ergeht in der Form eines Beschlusses, einer Verfügung oder eines unterzeichneten Ersuchenschreibens. Es genügt, wenn 18 19 20

BGBl. 19501 631 = BGBl. III 312 - 2. N i g g l 406; L e n g n i n g 68; Nr. 74 Abs. 1 Satz 2 RiStBV. Herrschende Ansicht; vgl. u.a. A u b e r t 64 und NJW 1955 449; E ' b S c h m i d t 9 ; S a x 8 ; K 1 5 ; E r b s - K o h l h a a s 2 z u § 12 FAG.

Müller-

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§ 100

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Anm. I 2—4 eine Ausfertigung oder eine beglaubigte Abschrift der bei den Akten verbleibenden Urschrift erteilt wird. Sowohl urschriftliche Anordnungen als auch Ausfertigungen oder beglaubigte Abschriften müssen mit einem Dienstsiegel versehen sein. Die Anordnung kann auch telegrafisch, telefonisch oder fernschriftlich erteilt, muß dann aber schriftlich bestätigt werden. Wegen der Durchführung solcher Anordnungen s. II 1. Die Anordnung muß erkennen lassen, daß sie in der Untersuchung (II 1 zu § 94) gegen einen Beschuldigten (III 2 zu § 97) von einer zur Postbeschlagnahme zuständigen Stelle (5) ergeht. Die Zulässigkeitsvoraussetzungen (Tatsachen, aus denen zu schließen ist, daß die Sendungen von dem Beschuldigten herrühren oder für ihn bestimmt sind, und daß ihr Inhalt für die Untersuchung Bedeutung hat) brauchen nicht angegeben zu werden und bleiben zweckmäßigerweise weg. 2. Inhalt. Die Anordnung muß die zu beschlagnahmende Sendung genau bezeichnen, bei Sendungen an den Beschuldigten also seinen vollen Namen und seine genaue Anschrift aufführen. Bei Sendungen, die von dem Beschuldigten herrühren, ist anzugeben, mit welchem Absender sie, wenn einer aufgeschrieben ist, versehen sein werden. Es empfiehlt sich auch, die wahrscheinlich als Empfanger in Betracht kommenden Personen mitzuteilen, weil Nachforschungen bei der Absendeanstalt nur in sehr kleinen Orten Erfolg versprechen. Die Bezeichnung der Sendung nach einer Schriftprobe ist zulässig, aber nur selten durchführbar. Bei Sendungen, die für den Beschuldigten bestimmt sind, ist das Kennzeichen für postlagernde Sendungen, die Deckadresse oder die Anschrift des Empfängers anzugeben, der die für den Beschuldigten bestimmten Sendungen in Empfang nimmt. Die bloße Wiedergabe des Gesetzeswortlautes (Sendungen, bei denen Tatsachen vorliegen, aus welchen zu schließen ist, daß sie von dem Beschuldigten herrühren) genügt nicht (Nr. 67 Abs. 2 Satz 5 und 6 RiStBV). Die Sendung ist vielmehr so bestimmt anzugeben, daß mit ihr in dem Massenbetrieb der Post gearbeitet werden kann (BayObLGSt. 11 202). Da die Beschlagnahme darauf gerichtet ist, Beweismittel und Einziehungsgegenstände zu beschaffen, ist die Anordnung schon aus diesem Grunde regelmäßig nicht auf die gesamte Korrespondenz zu erstrecken. Es muß auch, weil die Postbeschlagnahme eine Ausnahme von dem Grundrecht des Postgeheimnisses ist, sorgfaltig jeder Eingriff in die Geschäftsbeziehungen vermieden werden, wenn aus ihnen mit Sicherheit keine Beweismittel zu erwarten sind. Schließlich kann die Beschränkung auf einzelne Arten von Sendungen für die Untersuchung zweckmäßig sein, weil — wenn andere Sendungen ausgeliefert werden — damit verhindert werden kann, daß die Beschlagnahme vorzeitig bekannt wird (Nr. 66 Abs. 3 RiStBV). 3. Durchführbarkeit. Die Anordnung muß durch die Bestimmtheit ihres Inhalts und im Hinblick auf die bei der Post erforderlichen Maßnahmen durchführbar sein. Undurchführbare Anordnungen sind für die Post unbeachtlich. So kann und braucht die Beschlagnahme der von einem bestimmten Beschuldigten „in Hamburg aufgegebenen Briefe und Postkarten an unbekannte Empfanger" nicht durchgeführt werden, weil es unmöglich ist, die gesamten in Hamburg zur Einlieferung kommenden Briefe und Postkarten daraufhin nachzuprüfen, ob sie — vielleicht — den Namen des Beschuldigten als Absender tragen. Der Begriff der Undurchführbarkeit ist jedoch kein absoluter Begriff. Was undurchführbar ist, hängt außer von Unterschieden in der Örtlichkeit auch von der Wichtigkeit der Untersuchung ab. Was im allgemeinen undurchführbar ist, kann in einer staatswichtigen Hochverratssache sogar zu Personalabordnungen fuhren. In zweifelhaften Fällen wird sich daher der die Beschlagnahme beantragende Staatsanwalt oder der Richter mit der Oberpostdirektion darüber verständigen, ob eine Beschlagnahme durchführbar ist und wie sie ggf. am zweckmäßigsten durchgeführt werden kann (Nr. 67 Abs. 3 RiStBV). 4. Gehör; Bekanntmachung. Mag es bei der gewöhnlichen Beschlagnahme oft, wenn auch keineswegs regelmäßig, möglich sein, daß ein anwesender Beamter, der die Vernichtung von Beweismitteln verhindern kann, dem Betroffenen vor der Beschlagnahme rechtliches Gehör gewährt, so kommt bei der Postbeschlagnahme das vorherige Gehör dem

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Achter Abschnitt. Beschlagnahme, Überwachung des Fernmeldeverkehrs und Durchsuchung (Dünnebier)

S Anm. I 5; II 1

Ausschluß des Beweismittels gleich; es ist daher regelmäßig zu unterlassen (§ 33 Abs. 4 Satz 1). Der Betroffene ist im Beschwerdeverfahren in der Lage, sich Gehör zu verschaffen, nachdem er später (§ 101 Abs. 1) benachrichtigt worden ist oder zufolge der Durchführung von der Postbeschlagnahme Kenntnis erhalten hat. Aus dem gleichen Grunde unterbleibt zur Zeit der Anordnung deren Bekanntmachung sowohl an den Beschuldigten als auch an den sonst von der Beschlagnahme Betroffenen, etwa an den Empfanger, wenn der Beschuldigte der Absender ist. Die Bekanntmachung ist nachzuholen, sobald das ohne Gefährdung des Untersuchungszwecks geschehen kann (§ 101 Abs. 1). Das wird in der Regel der Fall sein, wenn ein geöffneter Brief nach § 101 Abs. 2 auszuhändigen oder eine Teilabschrift nach § 101 Abs. 3 mitzuteilen ist; doch kann zu diesem Zeitpunkt zuweilen noch damit gerechnet werden, daß weitere Beweismittel erlangt werden können. Die Anordnung ist den Post- oder Telegrafenämtern bekanntzumachen ( § 3 5 Abs. 2 Satz 2), bei denen die Beschlagnahme durchzuführen ist. In Zweifelsfällen kann die Oberpostdirektion um Vermittlung gebeten werden (Nr. 68 Abs. 1 Satz 3 RiStBV). 5. Zuständigkeit. Die Beschlagnahme ist wegen des Eingriffs in das Grundrecht des Postund Fernmeldegeheimnisses grundsätzlich dem Richter anvertraut. Wegen der Zuständigkeit s. II 1 zu § 98. Hilfsbeamte der Staatsanwaltschaft sind in keinem Fall zuständig, die Beschlagnahme anzuordnen. Auch für die vorläufige Sicherstellung in Pressesachen (I 2 zu § 98) ist ihre Zuständigkeit ausgeschlossen (I 2 Abs. 3 und 4 zu § 99)'. Die Staatsanwaltschaft ist zur Beschlagnahme befugt bei Gefahr im Verzuge (II 2 zu § 98), jedoch nicht, wenn die Untersuchung (II 1 zu § 94) lediglich eine Übertretung betrifft. Betrifft die Untersuchung neben einer Übertretung ein Vergehen oder Verbrechen, dann ist die Zuständigkeit der Staatsanwaltschaft ausgeschlossen, wenn die Sendung lediglich für eine Übertretung erheblich ist. In Pressesachen ist die Zuständigkeit des Staatsanwalts auch bei Gefahr im Verzuge nur begründet, wenn und wo die vorläufige Sicherstellung zulässig ist (I 2 zu § 98). Die staatsanwaltschaftliche Beschlagnahme ist nur eine vorläufige. Sie bedarf der richterlichen Bestätigung. Diese ist alsbald nachzusuchen, da die Entscheidung des Richters binnen drei Tagen bei der Post oder Telegrafenanstalt eingegangen sein muß. Der Post gegenüber wirkt die vorläufige Beschlagnahme wie eine endgültige. Die Post ist nicht etwa berechtigt, die aus der Beförderung herausgenommenen Sendungen bis zum Eingang der richterlichen Bestätigung zurückzubehalten. Das ergibt sich aus dem Zwischensatz von § 100 Abs. 2: „auch wenn sie eine Auslieferung nicht zur Folge gehabt hat" 2 . Das Gericht bestätigt die Anordnung der Beschlagnahme, wenn es ihre Voraussetzungen bejaht; es hebt sie auf, wenn diese nicht gegeben waren. Die Frage, ob zur Zeit der Anordnung Gefahr im Verzuge gegeben war, kann das Gericht nicht nachprüfen (III 2b zu § 98). Für die Bestätigung gilt sonst das gleiche wie für die Anordnung. Eine verspätete Bestätigung gilt als neue richterliche Beschlagnahmeanordnung ( L e n g n i n g 62). II. Durchführung der Beschlagnahme. 1. Postamtlich. Die Beschlagnahme kann nur in der Weise vollzogen werden, daß die Post oder das Telegrafenamt die Sendung heraussucht und der anordnenden Behörde ausliefert. Führt die Post oder die Telegrafenanstalt die Anordnung nicht aus oder weigert sie sich ausdrücklich, sie auszuführen, so gibt es, da zwischen dem Gericht und der Postverwaltung kein Verhältnis der Über- und Unterordnung besteht, keine Möglichkeit unmittelbaren Zwanges; es bleibt allein der Weg der Dienstaufsichtsbeschwerde 3 . Das Betreten 1

2 3

Art. 15 Abs. 4 Satz 2 BremVerf., der bei Gefahr im Verzuge auch die Hilfsbeamten der Staatsanwaltschaft für zuständig erklärt, ist — nach Art. 125 Nr. 2 G G , da § 100 StPO ändernd, Bundesrecht — durch die Neufassung zufolge der durch Art. 9 VereinhG durchgeführten Neuveröffentlichung der Strafprozeßordnung gegenstandslos geworden (vgl. III 2 zu § 99). A u b e r t 61; a. A. N i g g l 134; s. auch u. III 1 Abs. 2. F e i s e n b e r g e r 5 zu § 99, 3 zu § 96.

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§ 100 Anm. II 2, 3

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der Posträume ist dem Richter oder Staatsanwalt untersagt; noch weniger kann er Polizeioder Zollbeamte damit beauftragen (LG Freiburg DRechtsZ 1948 258). Die Postdienststellen sind rechtlich zur Durchführung verpflichtet. Sie haben die Anordnung sinnvoll, nicht wörtlich, durchzuführen. Ist z. B. als Anschrift der zu beschlagnahmenden Sendung Johannes Müller, Karlstraße 12 I r, angegeben, so ist auch ein Brief an Hans Müller, Carlstraße 12, auszuliefern, wenn es im Orte nur eine Karlstraße gibt, und wenn in dem angegebenen Hause kein anderer Hans oder Johannes Müller wohnt. Ist die Anordnung undurchführbar, so ist das ersuchte Amt verpflichtet, das alsbald der ersuchenden Behörde mitzuteilen, damit diese die Anordnung ändern kann; ist sie teilweise undurchführbar, ist der durchführbare Teil zu vollziehen und wegen des undurchführbaren Mitteilung zu geben. Eine mündliche, telefonische oder telegrafische Anordnung führt die Post zunächst nur in der Weise durch, daß sie die von ihr erfaßten Sendungen aussondert und zurückbehält. Sie liefert sie erst nach Eingang der schriftlichen Anordnung aus, kann das aber bei einer sehr dringlichen Sache auch alsbald tun, wenn an der Ordnungsmäßigkeit der Anordnung kein Zweifel besteht. Die Verantwortung für die Rechtmäßigkeit der Beschlagnahme trifft die anordnende Behörde. Sie prüft allein die Zulässigkeitsvoraussetzungen, zu denen bei der staatsanwaltschaftlichen Beschlagnahme auch das Vorliegen von Gefahr im Verzuge gehört. Diese darf die Post- oder Telegrafenanstalt nicht nachprüfen. Ihre Nachprüfung beschränkt sich darauf, daß die Anordnung in der Untersuchung gegen einen bestimmten Beschuldigten ergangen und nach dem Merkmale der Bestimmtheit und den betrieblichen Notwendigkeiten durchführbar ist. 2. Staatsanwaltschaft. Werden der Staatsanwaltschaft Gegenstände ausgeliefert, so ist sie, solange das Hauptverfahren noch nicht eröffnet ist, befugt, diese dem Empfanger auszuhändigen oder sie der Post oder der Telegrafenanstalt zurückzugeben, wenn sich aus der äußeren Besichtigung, der Kenntnisnahme von dem Inhalt unverschlossener Sendungen oder aus der Entwicklung des Verfahrens ergibt, daß die Sendungen nicht mehr benötigt werden. Geschieht das nicht, dann hat der Staatsanwalt alle Sendungen, offene wie geschlossene, unverzüglich dem Gericht zu übersenden. Der Staatsanwalt kann auch in seiner Anordnung bestimmen, daß die Post oder die Telegrafenanstalt die Sendungen unmittelbar dem Richter auszuliefern hat. Mit Einwilligung des Betroffenen kann der Staatsanwalt auch von verschlossenen Sendungen Kenntnis nehmen (I 3 zu § 99). 3. Das Gericht prüft zunächst, ob die Sendung nach ihren äußerlichen Merkmalen oder nach dem Stande der Untersuchung ausgehändigt werden kann (§101 Abs. 2 Satz 1). Im vorbereitenden Verfahren hat der Amtsrichter (§ 162 Abs. 1) eine Sendung auszuhändigen, wenn die Staatsanwaltschaft das beantragt (vgl. § 120 Abs. 3). Kommt keine Aushändigung in Betracht, dann prüft das Gericht den Inhalt unverschlossener und verschlossener Sendungen. Bei der Entscheidung über die Zurückbehaltung und Verwendung im Verfahren äußert der Umstand, daß die §§ 99 bis 101 ein Unterfall der § § 9 4 bis 98 sind, voll seine Wirkung: Das Gericht darf nur solche Sendungen zurückbehalten, die als Beweismittel für die Untersuchung von Bedeutung sein können (II 2 zu § 94; II 4 zu § 99) oder der Einziehung unterliegen (III 2 zu § 94). Alle Sendungen, bei denen das nicht der Fall ist, sind sofort auszuhändigen (§101 Abs. 2 Satz 2). Die Aushändigung darf nicht etwa deshalb aufgeschoben werden, weil durch sie die Beschlagnahme bekannt werden und auf diese Weise der Untersuchungszweck gefährdet werden könnte ( M ü l l e r - S a x 3d). Ist zuständiger Richter der ersuchte Amtsrichter (§ 162 Abs. 1), so wird er, da er die Untersuchung oft nicht voll übersehen kann, und da die Aushändigung zum Verlust des Beweismittels führt, vor einer beabsichtigten Aushändigung mit der Staatsanwaltschaft Fühlung nehmen. Ihres Einverständnisses zur Herausgabe einer Sendung bedarf er indessen nicht (a. A. M ü l l e r - S a x 3d). Sendungen, die das Gericht als Beweismittel oder als Einziehungsgegenstände zurückbehalten hat, gelangen nach der Zurückbehaltung offen in den Geschäftsverkehr, doch können in geeigneten Fällen Sicherungen veranlaßt sein, um den Einblick in vertrauliche

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Achter Abschnitt. Beschlagnahme, Überwachung § 100 des Fernmeldeverkehrs und Durchsuchung (Dünnebier) Antn. III 1, 2; IV; V Schriftstücke soweit wie möglich einzuschränken. Die Schriften usw. werden der Staatsanwaltschaft zugeleitet, wenn diese die Klage noch nicht erhoben hat und dort, sonst bei Gericht, in amtliche Verwahrung genommen (IV 2 zu § 94). III. Beendigung. 1. Erlöschen (Absatz 2). Die staatsanwaltschaftliche Beschlagnahme erlischt, wenn sie nicht binnen drei Tagen vom Richter bestätigt wird. Presserechtliche Vorschriften, die eine weitere Frist einräumen (V 1 zu § 98) treten gegenüber Absatz 2 zurück (I 2 zu § 99). Die Frist beginnt mit dem Zeitpunkt, in dem die Beschlagnahmeanordnung bei der Post oder der Telegrafenanstalt eingeht. Die Frist berechnet sich nach § 42, endet also am dritten Tage nach dem Eingang der Anordnung 24 Uhr (2 zu § 42). Bis zu diesem Zeitpunkt muß die richterliche Bestätigung bei der Post oder auf der Telegrafenanstalt vorliegen. Diese Stellen sind nicht gehalten, Rückfragen zu halten. Sie haben nach Ablauf der Frist Sendungen, die noch nicht ausgeliefert sind, etwa weil sie erst kurz vor Fristablauf eingegangen sind, in den ordnungsmäßigen Beförderungsgang zu geben und dürfen keine weiteren zurückhalten. Das automatische Außerkrafttreten hat keine Rückwirkung. Bis zum Fristablauf der Staatsanwaltschaft ausgelieferte Sendungen werden nicht von der Beschlagnahme frei. Die Beschlagnahme der ausgelieferten und zurückbehaltenen Sendungen erlischt weiterhin mit der Rechtskraft der das Verfahren abschließenden Entscheidung ( V I zu § 98). 2. Aufhebung. Im übrigen endet die Beschlagnahme mit der Aufhebung (V 2 zu § 98). Von der Aufhebung der Beschlagnahmeanordnung gegenüber der Post oder der Telegrafenanstalt ist die Aufhebung der durch Zurückbehaltung der Sendungen endgültig gewordenen Beschlagnahme zu unterscheiden. Für die letztere gelten keine Besonderheiten. Für die erstere bemerkt Nr. 70 Abs. 1 RiStBV mit Recht, daß eine Postbeschlagnahme den Beteiligten mit der Zeit bekannt wird, damit ihren Erfolg verliert und deshalb so bald wie möglich wieder aufzuheben ist. Hat die Staatsanwaltschaft die Beschlagnahme angeordnet, so ist sie bis zur Erhebung der Anklage auch befugt, sie aufzuheben, auch wenn das Gericht sie bestätigt hat, solange dem Gericht noch keine Sendungen vorgelegt worden sind. In allen anderen Fällen ist das Gericht zuständig. Wegen der Zuständigkeit des Gerichts s. V 3 zu § 98. IV. Rechtsmittel. Gegen die staatsanwaltschaftliche Anordnung ist neben der stets zulässigen Dienstaufsichtsbeschwerde der Antrag auf gerichtliche Entscheidung zulässig (§ 100 Abs. 3; IV 1 zu § 98). Gegen die richterliche Beschlagnahme, gegen die Bestätigung einer staatsanwaltschaftlichen Beschlagnahme, gegen die richterlichen Einzelentscheidungen über die Eröffnung und Zurückbehaltung einer Sendung und gegen die richterliche Ablehnung einer Beschlagnahme steht, wenn sie nicht von einem Strafsenat als Rechtsmittelgericht ausgesprochen wird (§ 304 Abs. 4), den Prozeßbeteiligten, dem von dem Beschuldigten verschiedenen Absender oder Empfanger und der Post oder der Telegrafenanstalt die Beschwerde zu, auch wenn die Entscheidung die eines erkennenden Gerichts ist (§ 304 Abs. 1, § 305 Satz 2). Post und Telegrafenanstalt brauchen jedoch vom Beschwerderecht keinen Gebrauch zu machen. Sie können, wenn sie eine Anordnung glauben nicht durchführen zu können, oder zu dürfen, es auf eine Entscheidung ihrer von dem Gericht oder der Staatsanwaltschaft angegangenen Dienstaufsichtsbehörde ankommen lassen. Wegen der Revision s. IV 3 zu § 98. V. Die Auskunft (III 1 zu § 99) erfordert, im Post- und im Fernmeldeverkehr gjeichmäßig, der Richter, bei Gefahr im Verzuge der Staatsanwalt, dieser jedoch nicht bei Übertretungen. Wegen Form, Inhalt und Zuständigkeit gilt das zur Beschlagnahmeanordnung Ausgeführte (I 1,2,5). Das Auskunftsersuchen ist eine, wenn auch an besondere Voraussetzungen geknüpfte gewöhnliche Ermittlungshandlung. Gehör des Beschuldigten, Bekanntmachung und Beschwerde entfallen daher; § 101 findet keine Anwendung. Für den Fern-

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§ 100 a

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Anm. 1 Sprech- und Funkverkehr, der in § 12 F A G geregelt ist, gibt es auch keine dem § 100 Abs. 2 entsprechende Bestimmung; sie wäre auch sinnlos, da Mitteilung über künftige Kenntnisse nicht verlangt werden kann (III 3 zu § 99). Für den Post- und Telegrafenverkehr dagegen ist § 100 Abs. 2 anzuwenden, wenn die von der Staatsanwaltschaft erbetene Auskunft Kenntnisse vermitteln soll, welche die Post oder die Telegrafenanstalt nach Eingang des Auskunftsersuchens zu ermitteln hat. Wegen der dabei für Auskünfte über Telegramme auftretenden Konkurrenz mit § 12 F A G s. III 3 Abs. 3 zu § 99. Wegen der Zuständigkeit gilt dabei § 100 Abs. 3; soweit er die Eröffnung von Sendungen behandelt, kann er keine Anwendung finden.

§ 100 a Die Überwachung und Aufnahme des Fernmeldeverkehrs auf Tonträger darf angeordnet werden, wenn bestimmte Tatsachen den Verdacht begründen, daß jemand als Täter oder Teilnehmer 1. a) Straftaten des Friedensverrats, des Hochverrats und der Gefahrdung des demokratischen Rechtsstaates oder des Landesverrats und der Gefährdung der äußeren Sicherheit (§§ 80 bis 82, 84 bis 86, 87 bis 89, 94 bis 100a des Strafgesetzbuches, § 20 Abs. 1 Nr. 1 bis 4 des Vereinsgesetzes), b) Straftaten gegen die Landesverteidigung (§§ 109 b bis 109 h des Strafgesetzbuches), c) Straftaten gegen die öffentliche Ordnung (§§ 129 bis 130 des Strafgesetzbuches, § 47 Abs. 1 Nr. 7 des Ausländergesetzes), d) Straftaten gegen die Sicherheit der in der Bundesrepublik Deutschland stationierten Truppen der nichtdeutschen Vertragsstaaten des Nordatlantikvertrages oder der im Land Berlin anwesenden Truppen einer der Drei Mächte (§§ 89, 94 bis 97, 98 bis 100, 109b bis 109g des Strafgesetzbuches in Verbindung mit Artikel 7 des Vierten Strafrechtsänderungsgesetzes vom 11. Juni 1957 in der Fassung des Achten Strafrechtsänderungsgesetzes) oder 2. einen Mord, einen Totschlag, ein Münzverbrechen, einen Raub, eine räuberische Erpressung, einen Menschenraub, eine Verschleppung, eine erpresserische Kindesentführung, einen Mädchenhandel, ein gemeingefährliches Verbrechen im Sinne des § 138 des Strafgesetzbuches oder eine Erpressung begangen oder in Fällen, in denen der Versuch strafbar ist, zu begehen versucht oder durch eine mit Strafe bedrohte Handlung vorbereitet hat, und wenn die Erforschung des Sachverhalts oder die Ermittlung des Aufenthaltsortes des Beschuldigten auf andere Weise aussichtslos oder wesentlich erschwert wäre. Die Anordnung darf sich nur gegen den Beschuldigten oder gegen Personen richten, von denen auf Grund bestimmter Tatsachen anzunehmen ist, daß sie für den Beschuldigten bestimmte oder von ihm herrührende Mitteilungen entgegennehmen oder weitergeben oder daß der Beschuldigte ihren Anschluß benutzt. Entstehungsgeschichte: Eingefügt durch Art. 2 Nr. 2 des Gesetzes zur Beschränkung des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses vom 13. 8. 1968 (BGBl. I 949). Schrifttum: K a i s e r , Das Postgeheimnis und seine erlaubte Durchbrechung, N J W 1969 18; W e l p , Nachrichtendienstliche und strafprozessuale Eingriffe in das Post- und Fernmeldegeheimnis, D Ö V 1970 267; Z u c k , Abhörgesetz und Anwaltschaft, N J W 1969 911. 1. Inhalt. § 99 und § 12 F A G geben keine Grundlage, den Fernmeldeverkehr mit dem Ziele zu überwachen, Kenntnisse für künftige Auskünfte zu verlangen (III 3 zu § 99). Das ist seit 90 Jahren kaum als bedeutender Mangel empfunden worden außer bei der Aufklärung des erpresserischen Kindesraubs und bei telefonischen — meist nächtlichen und unflätigen — Beleidigungen. Als den Nachrichtendiensten zur Ablösung alliierter Vorbehaltsrechte das Abhören eingeräumt werden mußte \ wurden den Strafverfolgungsbehörden ähnliche Rechte 1

Art. 1 des Gesetzes zur Beschränkung des Brief-. Post- und Fernmeldegeheimnisses zu Artikel 10 Grundgesetz) ( G 10) vom 13.8.1968 - BGBl. I 949 - .

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(Gesetz

Achter Abschnitt. Beschlagnahme, Überwachung des Fernmeldeverkehrs und Durchsuchung (Dünnebier)

a ' Anm. 2—4

zugestanden mit der Begründung, daß auf dieses Mittel der Sachaufklärung nicht verzichtet werden könne, was vor allem einige Fälle des erpresserischen Kindesraubs deutlich machten 2 . Die Überwachung ist freilich nur zulässig, wenn besonders schwerwiegende Delikte untersucht werden, wobei die — lästige, aber hinnehmbare — Beleidigung mit Recht ausgelassen worden ist; der Katalog der Straftaten ist aber nach deren Schwere aufgestellt, nicht nach empirisch nachgewiesenen kriminalpolitischen Notwendigkeiten 3 . Es besteht wenig Aussicht, Mord und Totschlag durch Überwachung des Femmeldeverkehrs aufzuklären. Die Mahnung K a i s e r s (20), das Gesetz restriktiv anzuwenden, sollte ernstlich beachtet werden. Die §§ 100 a, 100 b regeln die Überwachung und Aufzeichnung des Fernmeldeverkehrs nach Voraussetzung, Umfang und Zuständigkeit abschließend zusammen mit § 101, der die beiden Bestimmungen in bezug auf die (nachträgliche) Benachrichtigung mit der Postbeschlagnahme (§ 99) verzahnt. Sonst ist es weder notwendig noch zulässig, auf die allgemeinen Bestimmungen (§§94 ff.) zurückzugreifen. Die unvollständige Zuständigkeitsordnung in § 100b kann nicht durch § 98, der auch nur den Richtervorbehalt und — anders als §§ 125, 126 — keine Zuständigkeitsbestimmungen enthält, ergänzt werden; vielmehr muß, wie in §§ 98,100,105, auf allgemeine Grundsätze zurückgegriffen werden. 2. Fernmeldeverkehr ist nach § 1 F A G 4 die Übermittlung oder der Empfang von Nachrichten, Zeichen, Bildern oder Tönen auf Fernsprech-, Telegrafen- und Funkanlagen. Er wird in der Hauptsache auf Anlagen betrieben, die der Deutschen Bundespost gehören, in nicht unerheblichem Umfang aber auch auf Fernmeldeanlagen, die für den öffentlichen Verkehr bestimmt sind, aber nicht der Deutschen Bundespost gehören (vgl. § 10 Abs. 2 FAG). Da indessen die Überwachung mit Hilfe der Deutschen Bundespost durchgeführt werden muß (§ 100b Abs. 3), kann unter Fernmeldeverkehr i. S. der §§ 100a, 100b nur der verstanden werden, zu dem Anlagen benutzt werden, die der Deutschen Bundespost gehören (Kl 1B). Eine weitere Einschränkung ergibt sich daraus, daß die Beschlagnahme von Telegrammen in § 99 geregelt ist, Telegramme zudem nicht sinnvoll auf Tonträger aufgenommen werden können. Daher ist in §§ 100 a, 100 b der Telegrafen verkehr aus dem Begriff des Fernmeldeverkehrs auszuscheiden 5 . Auf der anderen Seite ist der Begriff des § 1 F A G für §§ 100a, 100b, um den Fernschreibverkehr zu erweitern, wie sich aus § 100b Abs. 3 (Mitlesen des Fernschreibverkehrs) ergibt6. 3. Überwachung und Aufnahme. Der Richter darf anordnen, daß der Fernmeldeverkehr überwacht und auf Tonträger (Platten, Bänder) aufgenommen wird. In der Regel wird die Anordnung sich auch auf beides beziehen, doch kann — wohl nur ganz ausnahmsweise — die Überwachung genügen; die Aufnahme auf Tonträger allein kann dagegen nicht angeordnet werden. Nach § 100 b Abs. 3 fallt unter Überwachung auch das Mitlesen des Fernschreibverkehrs. Nach Ansicht des Rechtsausschusses brauchte die Befugnis zur Übertragung des Fernschreibverkehrs auf „Schriftträger" nicht besonders erwähnt zu werden, „weil anders ein Mitlesen des Fernschreibverkehrs nicht möglich erscheint" 7 . Das ist nicht ganz schlüssig; doch wird man das Abschreiben des Fernschreibens als vom Sinn der Vorschrift gedeckt ansehen. Daraus folgt: Der Richter kann auch die Abschrift des Fernschreibens anordnen; er braucht es aber nicht; das Abschreiben ist auch ohne besondere Anordnung zulässig. Will der Richter aber die Fixierung ausschließen und seine Anordnung (wie beim Telefonverkehr auf das Mithören) auf das Mitlesen beschränken, so muß er das zum Ausdruck bringen. 4. Verdacht. Voraussetzung der Anordnung ist der Verdacht gewisser Straftaten. Der Verdacht ist weniger als der dringende (§112 Abs. 1) oder der hinreichende (§ 203) Ver2

BTDrucks. V 1880, S. 7. Bedenken auch bei K a i s e r ( 1 9 ) und bei Z u c k (912), namentlich hinsichtlich der Erpressung. 4 Gesetz über Fernmeldeanlagen vom 14. 1. 1928 (BGBl. III 9 0 2 0 - 1). 5 Auch Art. 1 § 8 G 10 zählt die Telegramme zu den Sendungen des Postverkehrs. ' K a i s e r 19;K1 1 A ; E b S c h m i d t Nachtr. 2 3 1 BTDrucks. V 2930 (Schriftlicher Bericht des Rechtsausschusses) zu Art. 2 Nr. 2 a (§ 100 a). 3

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§ 100 a Anm. 5—7

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

dacht einer strafbaren Handlung. Verdacht (§ 160 Abs. 1) liegt vor, wenn zureichende tatsächliche Anhaltspunkte gegeben sind, gegen den Beschuldigten einzuschreiten (§ 152 Abs. 2). Der Verdacht muß durch bestimmte Tatsachen begründet sein. Zu diesem Begriff wird 8 auf § 112 Abs. 2, 3 StPO verwiesen. Dort soll der Ausdruck „bestimmte (objektiv) festgestellte Tatsachen" umfassen (8 zu § 112). Nach der Begründung reichen bloße Vermutungen und Schlußfolgerungen nicht aus, vielmehr muß der Verdacht durch schlüssiges Tatsachenmaterial „aus der äußeren oder inneren Geschehenswelt" bereits ein gewisses Maß an Konkretisierung erreicht haben. Man wird dem folgen können und die schwer verständliche Floskel (unbestimmte Tatsachen können ohnehin keine Entscheidungsgrundlage sein) wie bei § 112 dahin auslegen müssen, daß unter den Begriff sowohl äußerlich wahrnehmbare Ereignisse fallen, die zu deuten der Beobachter keiner oder nur einfacher Schlüsse bedarf, als auch das, was nach der Lebenserfahrung 9 aus dem Inneren eines Menschen anhand äußerer Tatsachen geschlossen werden kann. 5. Straftatenkatalog. Wegen des Eingriffs in ein bedeutsames Grundrecht kommt der Wahrung der Verhältnismäßigkeit besondere Bedeutung zu. Der Gesetzgeber hat sie selbst vorgenommen, indem er die Anordnung nur zuläßt bei Verdacht bestimmter, abschließend aufgeführter Straftaten, die entweder den Staatsschutz oder die Hochkriminalität betreffen 10 . Anstiftung und Beihilfe stehen der Täterschaft gleich. Verdacht des strafbaren Versuchs wird wie der der Vollendung behandelt; dem Versuch wird die (auch an sich straffreie) Vorbereitung gleichgestellt, aber nur dann, wenn sie (irgendeine) selbständige mit Strafe bedrohte (nicht notwendigerweise schuldhafte) Handlung darstellt. 6. Subsidiarität. Die dem bisherigen Recht unbekannte, schwer in die Intimsphäre, zum Teil auch unbeteiligter, eingreifende Überwachung ist nur als letztes Aushilfsmittel zulässig. Dazu wird gefordert: Die Erforschung des Sachverhalts oder die Ermittlung des Aufenthaltsortes muß sonst aussichtslos oder wenigstens wesentlich erschwert sein. Die erste Alternative bedarf keiner Erläuterung. Eine wesentliche Erschwerung liegt nur vor, wenn mit anderen Aufklärungsmitteln erheblich mehr Zeit aufgewendet werden müßte. Auf einen größeren Arbeitsaufwand wird man nur abstellen dürfen, wenn wegen seines zu erwartenden außergewöhnlichen Umfangs das Interesse an der Strafverfolgung das an der Erhaltung des Grundrechts eindeutig überwiegt. Der Kostenaufwand darf keine Rolle spielen (a. A. Kl 5). 7. Betroffene. Die Anordnung darf sich in erster Linie nur gegen den Beschuldigten richten. Da es sich meist um die Erforschung des Sachverhalts handelt, ist Beschuldigter der wegen einer in Absatz 1 aufgeführten Straftaten Verfolgte, doch kommt, namentlich wegen der Ermittlung des Aufenthalts auch der Angeschuldigte oder Angeklagte (§ 157) in Betracht. Ausnahmsweise kann die Überwachung auch gegen andere Personen angeordnet werden, von denen auf Grund bestimmter Tatsachen (4 Abs. 2) anzunehmen ist, daß sie Nachrichten, die an den Beschuldigten gerichtet oder von ihm ausgegangen sind, auch gutgläubig, entgegennehmen oder weitergeben. Endlich muß der sich die Überwachung gefallen lassen, von dem bekannt oder anzunehmen ist, daß der Beschuldigte seinen Anschluß benutzt, sei es der Haushaltungsvorstand, sei es ein Bekannter, ein Gastwirt oder eine andere Person. Diese Betroffenen brauchen von der Benutzung des Anschlusses nichts zu wissen. Auch die Überwachung von öffentlichen Telefonzellen ist danach nicht unzulässig und, etwa bei erpresserischem Kindesraub, nicht zu vermeiden. Da der Verkehr des Beschuldigten mit seinem Verteidiger völlig frei von jeder Überwachung sein muß (1 zu § 148), darf der Anschluß einer als Verteidiger bekannten Person 8

Begrdg. BTDrucks. V 1880, S. 11. Kl 3: auch kriminalistische Erfahrung. 10 In Berlin-West gelten Buchst, b und d der Nr. 1 des Absatzes 1 nicht (§ 12 G 10). Überdies ist die Anwendung der §§ 100 a, 100 b und 101 Abs. 1 n. F. durch die Alliierte Kommendatura ausgesetzt (GVB1. Berlin 1969 1028). 9

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Achter Abschnitt. Beschlagnahme, Überwachung § 100 b des Fernmeldeverkehrs und Durchsuchung (Dünnebier) Anm. 1, 2 nicht abgehört werden. Da ein Rechtsanwalt immer Verteidiger sein kann und zudem viele vertrauliche Gespräche führt, ist bei der Überwachung anwaltlicher Anschlüsse größte Zurückhaltung geboten. Der Vorschlag Z u c k s (912), Rechtsanwälte ganz von der Anwendung des Gesetzes auszuschließen, es sei denn, daß sie selbst Verdächtige seien, geht aber zu weit.

§ 100 b (1) Die Überwachung und Aufnahme des Fernmeldeverkehrs auf Tonträger (§ 100a) darf nur durch den Richter angeordnet werden. Bei Gefahr im Verzug kann die Anordnung auch von der Staatsanwaltschaft getroffen werden. Die Anordnung der Staatsanwaltschaft tritt außer Kraft, wenn sie nicht binnen drei Tagen von dem Richter bestätigt wird. (2) Die Anordnung ergeht schriftlich. Sie muß Namen und Anschrift des Betroffenen enthalten, gegen den sie sich richtet. In ihr sind Art, Umfang und Dauer der Maßnahmen zu bestimmen. Die Anordnung ist auf höchstens drei Monate zu befristen. Eine Verlängerung um jeweils nicht mehr als drei weitere Monate ist zulässig, soweit die in § 100a bezeichneten Voraussetzungen fortbestehen. (3) Auf Grund der Anordnung hat die Deutsche Bundespost dem Richter, der Staatsanwaltschaft und ihren im Polizeidienst tätigen Hilfsbeamten (§ 152 des Gerichtsverfassungsgesetzes) das Abhören des Fernsprechverkehrs und das Mitlesen des Fernschreibverkehrs zu ermöglichen. (4) Liegen die Voraussetzungen des § 100a nicht mehr vor, so sind die sich aus der Anordnung ergebenden Maßnahmen unverzüglich zu beenden. Die Beendigung ist dem Richter und der Deutschen Bundespost mitzuteilen. (5) Sind die durch die Maßnahmen erlangten Unterlagen zur Strafverfolgung nicht mehr erforderlich, so sind sie unter Aufsicht der Staatsanwaltschaft zu vernichten. Über die Vernichtung ist eine Niederschrift anzufertigen. Entstehungsgeschichte: Eingefügt durch Art. 2 Nr. 2 des Gesetzes zur Beschränkung des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses vom 13.8.1968 (BGBl. I 949). 1. Wegen der Zuständigkeit zur Anordnung gilt das I 5 zu § 100 Ausgeführte entsprechend. 2. Form. Die Anordnung ergeht schriftlich als Beschluß. In ihr sind Namen und Anschrift des Beschuldigten, die Straftat, deren er verdächtig ist 1 und — wenn sie vom Beschuldigten verschieden sind — Namen und Anschrift der sonst Betroffenen (7 zu § 100a) sowie die Nummern der zu überwachenden Anschlüsse aufzuführen. Die Angabe der Straftat wird in Absatz 2 Satz 2 nicht gefordert. Da aber der Beschluß nachträglich bekanntzumachen ist (1 zu § 101), muß er auch die dem Beschuldigten zur Last gelegte Tat angeben, weil dem Betroffenen sonst die Grundlage für die Anfechtung des Beschlusses fehlt (vgl. für die Vernehmung des Beschuldigten § 136 Abs. 1 Satz 1, für den Haftbefehl § 114 Abs. 2 Nr. 2, für die Vernehmung der Zeugen § 69 Abs. 1 Satz 2). Von der Mitteilung an die Post kann die Angabe der Straftat ausgenommen werden. In der Anordnung sind weiter Art, Umfang und Dauer der Maßnahmen zu bestimmen. Dabei ist anzugeben, ob der Fernmeldeverkehr nur überwacht, oder auch, was die Regel sein wird, aufgenommen werden soll. Wegen der Aufzeichnung des Fernschreibverkehrs s. 3 zu § 100 a. Die Anordnung muß zum Ausdruck bringen, ob sie ergeht, um den Sachverhalt zu erforschen oder ob sie erlassen wird, um den Aufenthalt des Beschuldigten zu ermitteln. Diese Angabe ist wichtig, weil davon abhängen kann, wann die Maßnahmen zu beenden sind. Ist eine Beschränkung der 1

Das kann nur eine der im Katalog des § 100a bezeichneten Taten sein. Wird die Katalogtat etwa durch eine Urkundenfälschung vorbereitet, kann die Anordnung nicht in einem Verfahren wegen Urkundenfälschung ergehen, sondern in dem wegen der durch die Fälschung vorbereiteten Katalogtat. Nach dieser, nicht nach der Urkundenfälschung richtet sich auch die Zuständigkeit. Wohl nur scheinbar a. A. K l 4 B zu § 100 a.

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§ 100 b Anm. 3—5

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

Überwachungszeit möglich, ist sie vorzunehmen (tagsüber im Büro, abends in der Wohnung). Die Dauer der Überwachung ist stets anzugeben, auch wenn die Höchstzeit von drei Monaten festgesetzt wird. Alle Betroffenen einschließlich des Beschuldigten werden nicht gehört (§ 33 Abs. 4). 3. Durchführung. Die Anordnung ist von der Staatsanwaltschaft in folgender Weise durchzuführen: Sie teilt die richterliche Anordnung in Urschrift, Ausfertigung oder beglaubigter Abschrift, versehen mit Dienststempel, dem Sicherheitsbeauftragten der zuständigen Oberpostdirektion mit und ersucht ihn, die erforderlichen Schaltungen vorzunehmen. In besonders dringlichen Fällen kann sie sich auch unmittelbar an das zuständige Fernmeldeamt wenden; davon unterrichtet sie die Oberpostdirektion fernmündlich oder fernschriftlich. Gleichzeitig benachrichtigt die Staatsanwaltschaft die Polizei. Diese stellt der Post das benötigte technische Gerät zur Verfügung. Beamte der Polizei, die Hilfsbeamte der Staatsanwaltschaft sind, überwachen in einer möglichst postnahen Abhörstelle im Umfange der Anordnung den Fernmeldeverkehr, nehmen Gespräche auf Tonband auf und fertigen Abschriften (Fotokopien) von Femschreiben. Tonbandaufnahmen können auch in Schrift übertragen werden, wenn das zur Übersicht erforderlich ist. 4. Dauer. Die Maßnahmen dauern solange, bis der Sachverhalt soweit erforscht ist, als er nicht mit anderen Mitteln erforscht werden kann, oder bis der Aufenthalt ermittelt ist. Höchstdauer ist die in der Anordnung angegebene Zeit. Diese kann beliebig oft verlängert werden, jedoch jeweils nicht um mehr als drei Monate. Daß die Verlängerung nur zulässig ist, soweit die in § 100a bezeichneten Voraussetzungen fortbestehen (Absatz 2 Satz 3), ist selbstverständlich und im Gesetzestext überflüssig. Die Verlängerung scheidet aus, wenn keine Aussicht mehr besteht, den Sachverhalt aufzuklären oder den Aufenthalt zu ermitteln. Sobald das feststeht oder sobald eine der Voraussetzungen des § 100a weggefallen ist — es genügen z. B. nunmehr andere Mittel, den Sachverhalt oder Aufenthalt zu ermitteln; der Verdacht hat sich zerstreut —, ist die Maßnahme zu beenden. Die Polizei wird sich vorher mit der Staatsanwaltschaft in Verbindung setzen, diese die endgültige Entscheidung treffen. Der Ermittlungsrichter ist an der Entscheidung nicht beteiligt; er ist von der Beendigung zu benachrichtigen. Handelt es sich um die Aufenthaltsermittlung in einem anhängigen Verfahren, so beschließt das Gericht die Beendigung. Die Beendigung ist der Oberpostdirektion mitzuteilen. Das beteiligte Postamt erhält durch Abbau der Geräte Kenntnis. 5. Vernichtung. Durch Überwachung und Aufzeichnung des Telefon- und Fernschreibverkehrs kann eine Menge Material anfallen, das schließlich für die Strafverfolgung nicht benötigt wird. Es ist zu vernichten, sobald feststeht, daß es nicht mehr erforderlich ist, aber auch, daß es überhaupt nicht erforderlich sein kann. Alles Zufallsmaterial ist daher alsbald zu vernichten, wenn auch nicht jeden Tag, so doch in angemessener Frist, etwa alle drei Tage. Material, das nicht gleich endgültig beurteilt werden kann, ist zunächst aufzubewahren, aber zu vernichten, sobald erkennbar geworden ist, daß es nicht gebraucht wird. Beweiserhebliches Material (Tonbänder, schriftliche Fixierung des Tonbandinhalts, Abschriften von Fernschreiben) ist nur zu vernichten, wenn es deshalb nicht mehr gebraucht wird, weil sein Inhalt inzwischen durch andere Beweismittel bestätigt worden ist. Bildet das Material selbst eine Urteilsgrundlage, so ist es überhaupt nicht zu vernichten, sondern bei den Beweismitteln aufzubewahren. Nach Rechtskraft des Urteils scheint es „zur Strafverfolgung nicht mehr erforderlich" zu sein. Doch sind die Gesetze sinnvoll auszulegen. Die Beweismittel des Hauptverfahrens können auch in einem Wiederaufnahmeverfahren eine Rolle spielen; sie müssen daher erhalten bleiben. Die Vernichtung nimmt die Polizei vor, die die Überwachung durchgeführt (3) hat. Die Staatsanwaltschaft hat, auch wenn die Sache bei Gericht anhängig ist, den Vernichtungsvorgang zu beaufsichtigen. Da die Aufsicht kaum wegen der Art der realen Vernichtung (Zerreißwolf) erforderlich wäre, ist Inhalt der Vorschrift in erster Linie, daß die Staatsanwaltschaft den Umfang der Aussonderung bestimmt, damit nicht aus übergroßer Vorsicht zu wenig vernichtet wird, auf der anderen Seite aber auch, damit alles Beweiserhebliche

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Achter Abschnitt. Beschlagnahme, Überwachung § 1 0 0 b Anm. 6, 7 des Fernmeldeverkehrs und Durchsuchung (Dünnebier) § 101 Anm. 1 erhalten bleibt. Die Niederschrift über die Vernichtung hat die Zahl der Unterlagen zu enthalten; ihr Inhalt darf nicht aufgeführt, kann aber allgemein („familiäre Gespräche") bezeichnet werden. 6. Kosten. Nach § 11 G 10 haben „die berechtigten Stellen" die Leistungen der Bundespost abzugelten. Der Folgerung K l e i n k n e c h t s (Kl 9), daß die auf diese Weise von der Staatsanwaltschaft an die Post abgeführten Beträge als Auslagen nach § 92 Nr. 6 G K G zu behandeln sind, ist beizutreten, wenn es sich auch zum Teil um recht erhebliche Kosten handeln wird. 7. Beschwerde. Wegen der Beschwerde gilt das zu IV zu § 100 Ausgeführte entsprechend. Die Beschwerde ist jedoch nur zulässig, solange eine der Maßnahmen (3 zu § 100 a) noch andauert. Das wird selten der Fall sein, weil die Entscheidung regelmäßig erst bekanntgemacht (1 zu § 101) wird, wenn die Maßnahmen abgeschlossen sind. Ein Verfahren zur abstrakten Feststellung, daß die Maßregel rechtswidrig war (§ 28 Abs. 1 Satz 3 EGGVG), odet zum Zwecke, die Vernichtung angefallenen Materials (§ 28 Abs. 1 Satz 2 EGGVG) zu erreichen — womit etwa rechtswidrig erlangtes Beweismaterial ausschiede —, sieht das Gesetz nicht vor. Wenigstens das letzte sollte bei einer Reform nachgeholt werden. Zur Zeit steht meist allenfalls die Verfassungsbeschwerde zur Verfügung.

§ 101 (1) Von den getroffenen Maßregeln (§§99, 100, 100a, 100b) sind die Beteiligten zu benachrichtigen, sobald dies ohne Gefährdung des Untersuchungszwecks geschehen kann. (2) Sendungen, deren Eröffnung nicht angeordnet worden ist, sind dem Beteiligten sofort auszuhändigen. Dasselbe gilt, soweit nach der Eröffnung die Zuriickbehaltung nicht erforderlich ist. (3) Der Teil eines zurückbehaltenen Briefes, dessen Vorenthaltung nicht durch die Rücksicht auf die Untersuchung geboten erscheint, ist dem Empfangsberechtigten abschriftlich mitzuteilen. 1. Benachrichtigung. Von den getroffenen Maßregeln sind die Beteiligten zu benachrichtigen, wenn dadurch der Zweck der Untersuchung nicht mehr gefährdet werden kann. Eine solche Gefährdung liegt regelmäßig solange vor, als noch zu erwarten ist, daß mit Hilfe der Postbeschlagnahme und der Überwachung Beweismittel und Einziehungsgegenstände aufgefunden oder beweiserhebliche Mitteilungen aufgefangen werden können. Diese Erwartung entfallt regelmäßig, wenn die Beschlagnahme zur Öffnung von Briefen geführt hat, weil dadurch die Maßnahme bekannt wird. Muß eine eröffnete Sendung dem Beschuldigten ausgehändigt werden (Absatz 2 Satz 2), so wird damit stets die Benachrichtigung nach Absatz 1 verbunden werden müssen. Diese Benachrichtigung umfaßt stets die (nachträgliche) Bekanntmachung der Entscheidung (§35 Abs. 2), damit die Frist zur Erhebung einer Verfassungsbeschwerde eröffnet wird. Unter Maßregeln ist sowohl die Anordnung der Beschlagnahme oder der Überwachung und Aufnahme des Fernmeldeverkehrs zu verstehen als auch besonders die Vollstreckung solcher Anordnungen, d. h. die Durchsicht von Postsendungen und die Überwachung des Fernmeldeverkehrs, das Entnehmen von Sendungen aus dem ordnungsmäßigen Gang der Beförderung, die Auslieferung an Staatsanwaltschaft oder Gericht, die Öffnung und Zurückbehaltung, die Aufnahme des Fernmeldeverkehrs auf Tonträger, das Mitlesen des Fernschreibverkehrs und die Erstellung von Unterlagen darüber. Die Benachrichtigung ist also auch zu geben, wenn die Anordnung erfolglos geblieben ist, weil keine gesuchte Post eingegangen, kein aufzeichnungswertes Gespräch geführt oder kein aufzeichnungswertes Fernschreiben durchgelaufen ist. Empfänger der Benachrichtigung sind die Beteiligten, also Absender und Empfänger der Sendung, doch genügt die Benachrichtigung an einen von ihnen. Ist der Beschuldigte Empfanger, wird regelmäßig nur er zu benachrichtigen sein. Aber auch wenn er der Absender ist, ist grundsätzlich die Benachrichtigung an ihn vorzuziehen, damit andere nicht unnötigerweise von der gegen ihn gerichteten Untersuchung erfahren. 611

§ 101 Anm. 2—4

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

2. Aushändigung (Absatz 2). Sendungen, deren Öffnung nicht angeordnet worden ist, können der Post zur Weiterbeforderung übergeben werden. So kann auch verfahren werden, wenn geöffnete Sendungen bei der Aufgabeanstalt oder auf einer Zwischenstation beschlagnahmt worden sind. In diesem Fall sind sie zu verschließen und mit einem Vermerk über die gerichtliche Öffnung zu versehen. Wird von diesem Wege kein Gebrauch gemacht oder sind Sendungen bei der Auslieferungsanstalt beschlagnahmt und geöffnet worden, so sind sie dem Empfanger durch die beschlagnahmende Stelle auszuhändigen. Die Post kann darum nicht ersucht werden, doch können die Justizbehörden die zu befördernde Sendung in neuer Verpackung als ihre Sendung durch die Post befördern; aushändigen heißt nicht, daß die Justiz die Sendung unmittelbar dem Empfanger in die Hand geben müßte. Nachnahmesendungen dürfen nur unter Erhebung der Nachnahme ausgehändigt werden, bei Sendungen mit Nachporto ist dessen Einziehung zu veranlassen. Die erlangten Beträge sind an die Post abzuführen. 3. Briefteile (Absatz 3). Eine besonders geregelte Mitteilung von der Öffnung eines Briefes enthält Absatz 3. Danach ist dem Empfangsberechtigten Abschrift des Teiles eines zurückbehaltenen Briefes zu geben, dessen Vorenthaltung nicht durch die Rücksicht auf die Untersuchung geboten erscheint. Da der Text nicht lautet: „..wenn dessen Vorenthaltung nicht durch die Rücksicht auf die Untersuchung geboten erscheint", kann nicht darauf abgestellt werden, daß durch die Übersendung des nicht benötigten Teils die Beschlagnahme bekannt und dadurch zufolge der zu erwartenden Verhinderung der Beschlagnahme weiterer Sendungen der Untersuchungszweck gefährdet werde. Entscheidend ist vielmehr allein, ob die Vorenthaltung des Inhalts des Briefteiles mit Rücksicht auf den Untersuchungszweck geboten ist. Das ist stets zu verneinen, wenn der Teil nicht als Beweismittel oder Einziehungsgegenstand in Betracht kommt. Aber auch wenn der Briefteil — und dasselbe gilt für den ganzen Brief — zu Untersuchungszwecken zurückgehalten werden muß, ist stets zu prüfen, ob es zusätzlich erforderlich ist, dem Empfanger auch seinen Inhalt vorzuenthalten. Das ist nicht stets der Fall. Oft wird es sogar zweckmäßig sein, einen als Beweismittel erlangten Brief dem Beschuldigten abschriftlich mitzuteilen, damit er Gelegenheit erhält, zu der Belastung Stellung zu nehmen. Nach Abschluß der Ermittlungen ist das geboten. Ist die Vorenthaltung nicht erforderlich, dann ist die Abschrift zu erteilen, auch wenn durch die Aushändigung der Untersuchungszweck gefährdet wird 1 . Die Vorschrift, die die Postbeschlagnahme in ihrer Wirkung einschränkt, ist sinnvoll auszulegen. Der Teil des Briefes muß eine für sich ohne den zurückbehaltenen Teil verständliche Mitteilung eigenen Inhalts ergeben. Die Anschrift und die Schlußformel (Grüße usw.) können als solche nicht angesehen werden. Aber auch die üblichen, die eigentliche Mitteilung aus Gründen der Höflichkeit einrahmenden Angaben und Anfragen über Familie und Gesundheitszustand bilden nur ausnahmsweise einen selbständigen Teil des Briefes. 4. Zuständigkeit. Die Benachrichtigung über die Anordnung der Postüberwachung und die einzelnen Maßnahmen obliegt der Staatsanwaltschaft, wenn sie die Beschlagnahme oder die Überwachung angeordnet hat, auch nach Bestätigung (§ 100 Abs. 2) durch den Richter, jedoch nur solange, als dem Richter noch keine Sendungen ausgeliefert worden (§ 100 Abs. 1 Satz 2) sind. In allen anderen Fällen ist die Benachrichtigung Sache des Gerichts. In dem Sonderfall des § 101 Abs. 3 ist eine Mitteilung durch den Staatsanwalt daher nicht denkbar. Wegen der Zuständigkeit des Gerichts s. II 1 zu § 98. Die Benachrichtigung über die Anordnung der Überwachung und Aufnahme des Fernmeldeverkehrs auf Tonträger ist Sache der Staatsanwaltschaft. Die Maßnahme findet regelmäßig nur im Ermittlungsverfahren statt. Sie ist von der Staatsanwaltschaft zu beenden, was sich daraus ergibt, daß die Beendigung dem Richter anzuzeigen ist (§ 100b Abs. 4 Satz 2). Die Aushändigung (Absatz 2) obliegt dem Staatsanwalt, wenn er Sendungen, die er erhalten hat, alsbald für entbehrlich erachtet (II 2 zu § 100). Sonst ist sie Sache des Richters, der sich dabei der Geschäftsstelle bedienen kann. § 36 findet keine Anwendung, weil er neben zuzustellenden nur solche Entscheidungen im Auge hat, deren Vollstreckung erforderlichenfalls unter Anwendung von Zwang durchzuführen ist (3 zu § 36). 1

Müller-Sax 1 c (3); a. A.K14.

612

Achter Abschnitt. Beschlagnahme, Überwachung des Fernmeldeverkehrs und Durchsuchung (Dünnebier)

§ 101a Anm. 1, 2

Die Post- und Fernmeldebehörden dürfen von sich aus die Betroffenen nicht benachrichtigen. Sie können es mit Zustimmung der anordnenden Behörde tun 2 .

§ 101a (1) Sichergestellte oder beschlagnahmte Gegenstände, die eingezogen werden können, dürfen vor der Entscheidung über die Einziehung veräußert werden, wenn ihr Verderb oder eine wesentliche Minderung ihres Wertes droht oder ihre Aufbewahrung, Pflege oder Erhaltung mit unverhältnismäßig großen Kosten oder Schwierigkeiten verbunden ist. Der Erlös tritt an die Stelle der Gegenstände. (2) Die Notveräußerung wird durch den Richter, nach Eröffnung des Hauptverfahrens in dringenden Fällen durch den Vorsitzenden des erkennenden Gerichts angeordnet. Die Anordnung kann auch durch die Staatsanwaltschaft oder ihre Hilfsbeamten (§ 152 des Gerichtsverfassungsgesetzes) getroffen werden, wenn der Gegenstand zu verderben droht, bevor die Entscheidung des Richters herbeigeführt werden kann. (3) Der Beschuldigte, der Eigentümer und andere, denen Rechte an der Sache zustehen, sollen vor der Anordnung gehört werden. Die Anordnung sowie Zeit und Ort der Veräusserung sind ihnen, soweit tunlich, mitzuteilen. (4) Die Notveräußerung wird nach den Vorschriften der Zivilprozeßordnung über die Verwertung einer gepfändeten Sache durchgeführt. An die Stelle des Vollstreckungsgerichts tritt der Strafrichter. Er kann die nach § 825 der Zivilprozeßordnung zulässige Verwertung auf Antrag der Staatsanwaltschaft oder einer der in Absatz 3 genannten Personen oder von Amts wegen gleichzeitig mit der Notveräußerung oder nachträglich anordnen. Entstehungsgeschichte: Eingefügt durch Art. 4 Nr. 13 des 3. StRÄndG. 1. Einziehungsgegenstände. Die Vorschrift erfaßt Einziehungsgegenstände (III 2 zu § 94), kann sich aber nach ihrem Inhalt nur auf bewegliche und unbewegliche Sachen beziehen. Sie erstreckt sich auf alle beschlagnahmten oder nicht beschlagnahmten Einziehungsgegenstände, die entweder bei einer Behörde oder bei einer von ihr beauftragten Stelle verwahrt (IV 3 zu § 94) oder in anderer Weise sichergestellt (IV 4 zu § 94) sind. Dem Zwecke der Vorschrift entsprechend sind von der Notveräußerung jedoch solche Sachen ausgenommen, die unbrauchbar gemacht, vernichtet, getötet (III 2 am Ende zu § 94) oder sonst, wie etwa Falschmünzergerät, aus dem Verkehr gezogen werden müssen. Das schließt jedoch nicht aus, daß auch solche Sachen vor der rechtskräftigen Entscheidung aus der Verwahrung oder sonstigen Sicherstellung entfernt werden können. So wird man die vorzeitige Vernichtung für zulässig erachten, wenn Lebensmittel so verdorben sind, daß sie nicht wieder in den Verkehr gebracht werden dürfen, aber auch, wenn die Erhaltungskosten (Lagerung im Kühlhaus) auf jeden Fall höher als der Wert der Sache sind, für die die Anordnung der Vernichtung usw. zu erwarten ist. Unter Umständen kann die Vernichtung mit der Erlaubnis verbunden werden, das Vernichtungsprodukt (Fischmehl) frei zu verwenden. Die Vorschrift bezieht sich nicht auf BeweismittelDiese sind, wenn ihr Verderb zu befürchten ist, durch Photographieren, richterlichen Augenschein, Besichtigung und Beschreibung durch Sachverständige oder auf sonstige Weise so auszuwerten, daß das Ergebnis im weiteren Verfahren verwertet werden kann, und dann freizugeben. Die Kosten oder Schwierigkeiten bei der Verwahrung von Beweismitteln rechtfertigen ihre Freigabe nicht. 2. Zeit der Veräußerung. Die Notveräußerung (Absatz 2) ist „vor der Entscheidung über die Einziehung" (Absatz 1) zulässig. Die Fassung ist ungenau; nach dem Sinne der Vorschrift können die Worte nur so verstanden werden, daß die Notveräußerung zulässig ist bis zur Rechtskraft der Entscheidung über die Einziehung. Nach dieser ist die Beschlagnahme entweder durch den Ubergang des Eigentums auf den Staat oder durch Erledigung des Beschlagnahmegrundes erloschen (V 1 zu § 98). 2 1

N i g g l 135; A u b e r t 63. Begrdg. zu § 12 Abs. 3, BTDrucks. I 3713, S. 50.

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§ 101a Anm. 3—5

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

3. Voraussetzungen. Die Notveräußerung ist zulässig, wenn entweder, etwa durch Verderb, eine wesentliche Minderung des Sachwertes droht, oder wenn die Verwaltungskosten in einem Mißverhältnis zu dem Sachwerte stehen. Ein solches besteht indessen noch nicht, wenn die Aufbewahrungskosten hoch sind; sie müssen unverhältnismäßig groß sein. Der Staat, der durch die Beschlagnahme ohne Urteilsspruch in den Besitz eingreift, muß ggf. beträchtliche Aufwendungen hierfür in Kauf nehmen, ehe er vor einem rechtskräftigen Richterspruch auch das Eigentum untergehen läßt. Die Veräußerung ist endlich zulässig, wenn die Aufbewahrung, Pflege oder Erhaltung der Sache mit unverhältnismäßig großen Schwierigkeiten verbunden ist. Dieses Merkmal, das etwa bei der Erhaltung von Tieren und Pflanzen eine Rolle spielen kann, ist eng auszulegen. Die Schwierigkeit kann nicht an dem vorhandenen Personal gemessen werden, wenn sie für einen Fachmann nicht besteht. Es ist vielmehr auch hier auf einen unverhältnismäßig hohen Kostenaufwand abzustellen, der durch den Auftrag an einen solchen Sachverständigen entstehen würde. Die Schwierigkeit für eine kleine Behörde etwa, einen solchen ausfindig zu machen, genügt nicht. 4. Wirkung. Mit der Veräußerung geht das Eigentum an der Sache unter. Der Erlös tritt nach dem Wortlaut des Gesetzes an seine Stelle. Demzufolge ist, wenn es zur Einziehung kommt, auf Einziehung des Erlöses zu erkennen (BGHSt. 8 46). Indessen ist der Wortlaut auch an dieser Stelle ungenau. Der Erlös tritt nur als Beschlagnahmegegenstand an die Stelle der ursprünglichen Sache, aber nicht in Beziehung zu deren früherem Eigentümer. Dieser wird nicht Eigentümer des mit der Beschlagnahme belasteten Erlöses. Er erlangt vielmehr anstelle des Sacheigentums einen Anspruch auf Auszahlung des Erlöses, wenn die Beschlagnahmevoraussetzungen wegfallen. Eigentümer ist das Rechtssubjekt, dessen Behörden die Sache versteigert haben, also eines der Bundesländer. Das Eigentum ist aber nur rechtliches Eigentum, nach der Art dessen, das derjenige erhält, dem eine Sache zur Sicherung übereignet ist. Wirtschaftlich zählt der Gegenstand bis zur Rechtskraft der Einziehung zum Vermögen des Eigentümers der untergegangenen Sache, „an deren Stelle" der Erlös getreten ist. Dieses Verhältnis wirkt sich bei den Früchten des Erlöses aus, die bis zur Rechtskraft der Einziehung anfallen. Sie fallen an den Gewahrsamsinhaber des Erlöses, doch hat dieser sie oder ihren Gegenwert an den Eigentümer der früheren Sache oder denjenigen auszukehren, dem dieser sie zur Nutzung überlassen hatte. Denn bis zur Rechtskraft der Einziehung, die den Übergang des (Voll)Eigentums auf den Staat herbeiführt, berechtigt das juristische Eigentum den Staat nicht, den Erlös — wie vorher die Sache — wirtschaftlich zu nutzen. 5. Anordnung (Absatz 2). Wegen des Eingriffs in das Eigentum ist die Anordnung dem Gericht vorbehalten, doch können bei Gefahr im Verzuge (II 2 zu § 98) auch die Staatsanwaltschaft oder ihre Hilfsbeamten (II 3 zu § 98) die Notveräußerung anordnen. Gefahr im Verzuge liegt nur vor, wenn der Gegenstand zu verderben droht, bevor die Entscheidung des Richters herbeigeführt werden kann (Satz 2). In Steuersachen hat das Finanz(Hauptzoll-)amt die Rechte der Staatsanwaltschaft (§ 433 Abs. 1 AO). Unabhängig davon kann es die Sachen dem Betroffenen zurückgeben oder zur vorläufigen weiteren Benutzung überlassen (§ 429 AO). In dringenden Fällen kann nach Eröffnung des Hauptverfahrens (§ 207; 14 zu § 18) der Vorsitzende des erkennenden Gerichts die Veräußerung veranlassen. Dringend ist der Fall, wenn die Entscheidung nicht bis zum Zusammentreten des Gerichts aufgeschoben werden kann. Da während der Hauptverhandlung das Kollegium stets entscheiden, mithin kein dringender Fall vorliegen kann, und außerhalb der Hauptverhandlung die Schöffen nicht mitentscheiden (§ 28, § 76 Abs. 1 GVG), kommt der Vorschrift Bedeutung zu für Entscheidungen des Vorsitzenden der Strafkammer und der Strafsenate außerhalb der Hauptverhandlung, wenn die Beisitzer nicht alsbald zu erreichen sind. Auch insofern ist der Wortlaut ungenau: Die Kammern und Senate werden mit der Anklage (II 1 zu § 98) zuständig, aber erst mit der Eröffnung des Hauptverfahrens erkennende Gerichte (6, 7 zu § 28). Daß für die Zeit vom Eingang der Anklageschrift bis zur Eröffnung des Hauptverfahrens die Zuständigkeit des Vorsitzenden, in dringenden Fällen zu entscheiden, ausgeschlossen sein soll, entbehrt jeden Grundes. Die Vorschrift ist daher so zu lesen, daß 614

Achter Abschnitt. Beschlagnahme, Überwachung § 1 0 1 a A n m . 6 - 8 des Fernmeldeverkehrs und Durchsuchung (Dünnebier) § 102 Anm. 1 nach Einreichen der Anklageschrift (§ 200) der Vorsitzende des angerufenen Gerichts in dringenden Fällen entscheiden kann. Wegen der Zuständigkeit des Gerichts s. II 1 zu § 98. 6. Gehör; Bekanntmachung (Absatz 3). Absatz 3 Satz 1 erweitert § 33 Abs. 3. Er schreibt das Gehör der Beteiligten schlechthin vor, nicht nur wenn Tatsachen verwertet werden sollen, zu denen sie noch nicht gehört worden sind. Als Beteiligte werden bezeichnet der Beschuldigte, der Eigentümer und andere, denen Rechte an der Sache zustehen, so etwa der Pfandgläubiger; doch sollte der Richter auch Mieter, Pächter usw., auf jeden Fall aber den letzten Gewahrsamsinhaber hören. Die Beteiligten „sollen" gehört werden. Daraus kann man folgern, daß das Gehör unterbleiben kann, wenn die Entscheidung sehr dringlich ist, etwa weil eine Sache unmittelbar vor dem Verderben steht; doch ist dabei Zurückhaltung am Platze. Die Bekanntmachung an den Beschuldigten ist schon in § 35 Abs. 2 vorgeschrieben. Absatz 3 Satz 2 erweitert die Verpflichtung, ordnet die Bekanntmachung der Anordnung sowie Zeit und Ort der Veräußerung auch an den Eigentümer und die dinglich Berechtigten an. Die Bekanntmachung auch an einen nicht dinglich berechtigten letzten Gewahrsamsinhaber ist hier ebenfalls empfehlenswert. Die Bekanntmachung der Veräußerungsdaten kann unterbleiben, wenn sie, etwa wegen der Eile der Veräußerung, untunlich ist. Die Bekanntmachung der Anordnung selbst kann niemals untunlich sein 2 . 7. Durchführung. Die Notveräußerung wird nach den §§814 bis 825 ZPO durchgeführt, doch tritt an die Stelle des Vollstreckungsgerichts das mit der Sache befaßte Strafgericht, niemals der Staatsanwalt. Dieser kann im Rahmen von Absatz 2 Satz 2 den Gerichtsvollzieher beauftragen, wie der private Pfandgläubiger, nicht aber Akte vornehmen, die dem Vollstreckungsgericht vorbehalten sind (§§ 822, 823, 825 ZPO). Die Veräußerung wird danach grundsätzlich in der Weise durchgeführt, daß der Gerichtsvollzieher die Sachen nach öffentlicher Bekanntmachung (§816 Abs. 3 ZPO) öffentlich versteigert (§ 814 ZPO). Das Gericht kann (Absatz 4 Satz 3) auf Antrag der Staatsanwaltschaft, des Beschuldigten, des Eigentümers, des dinglich Berechtigten oder von Amts wegen die Verwertung in anderer Weise, namentlich durch freihändigen Verkauf, anordnen und diese Anordnung auch schon mit derjenigen der Notveräußerung verbinden. 8. Beschwerde. Gegen die Anordnung der Staatsanwaltschaft ist neben der Dienstaufsichtsbeschwerde der Antrag auf gerichtliche Entscheidung in entsprechender Anwendung von § 98 Abs. 2 Satz 2 zulässig. Gegen die gerichtlichen Anordnungen und Entscheidungen steht, wenn sie nicht von einem Strafsenat als Rechtsmittelgericht ausgesprochen werden (§ 304 Abs. 4), den Prozeßbeteiligten, den sonst in Absatz 3 Genannten und dem vom Beschuldigten verschiedenen, nicht dinglich berechtigten letzten Gewahrsamsinhaber die Beschwerde zu, auch wenn die Entscheidungen solche eines erkennenden Gerichts sind (§ 304 Abs. 1, § 305 Satz 2).

§ 102 Bei dem, welcher als Täter oder Teilnehmer einer strafbaren Handlung oder als Begünstiger oder Hehler verdächtig ist, kann eine Durchsuchung der Wohnung und anderer Räume sowie seiner Person und der ihm gehörenden Sachen sowohl zum Zweck seiner Ergreifung als auch dann vorgenommen werden, wenn zu vermuten ist, daß die Durchsuchung zur Auffindung von Beweismitteln führen werde. 1. Verdächtiger. Die Vorschrift gestattet die Durchsuchung, beschränkt sie aber, weil sie von der bloßen Vermutung abhängig gemacht wird, daß Beweismittel aufgefunden werden könnten, auf den Kreis der Verdächtigen. Wegen dieses Begriffs s. III 2 zu § 97. Wie bei § 97 Abs. 2 Satz 2 fallen auch hier notwendige Beteiligte nicht unter die Vorschrift 2

A. A. M ü l l e r - S a x 2b.

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§ 102 Anm. 2

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

(RGSt. 14 194). Ebenso kommt es, wenn mehrere Personen durch ihre Fahrlässigkeit zu demselben Erfolg beigetragen haben (vgl. RGSt. 64 379), nicht auf diese „Beteiligung" sondern allein darauf an, ob bei jeder von ihr die Voraussetzungen des § 102 vorliegen. Der Begriff des Verdächtigen ist dem des Beschuldigten entgegengesetzt, enthält aber ebenso wie dieser den Tatverdacht als Begriffskern. Da der Verdacht mehr sein muß als eine Vermutung, ist der Verdächtige nur insoweit vom Beschuldigten unterschieden, als der Verdacht einer Straftat sowohl in bezug auf die Person als auch auf die Art der Tatbeteiligung noch nicht konkretisiert zu sein braucht. Es muß daher zwar der Verdacht, z. B. eines Diebstahls gegen Angehörige eines bestimmten Personenkreises, b e s t e h e n d o c h brauchen die Umstände noch nicht soweit geklärt zu sein, daß von den mehreren möglichen Tätern gegen bestimmte wegen Diebstahls, gegen andere bestimmte wegen Hehlerei eingeschritten werden dürfte, und andere ganz ausgeschieden werden könnten. Ist z. B. in einer geschlossenen Gesellschaft eine Kostbarkeit aus Anlaß der Besichtigung durch jeden einzelnen abhanden gekommen, so ist jeder ihrer Teilnehmer als Täter, Teilnehmer, Hehler oder Begünstiger verdächtig. Ist beobachtet worden, daß ein gewildertes Tier in die Unterkunft einer Gruppe von Saisonarbeitern gebracht worden ist, so ist jeder in der Unterkunft verdächtig. Der Umstand, daß an einer Stelle viel gestohlen wird (Kleindiebstähle in Häfen und Fabriken), begründet indessen keinen Verdacht gegen die einzelnen Passanten dieser Stelle. Deshalb ist eine allgemeine polizeiliche Kontrolle an Hafenausgängen und Fabriktoren usw. unzulässig. Eine Ausnahme besteht im Zollgrenzbezirk, wo die Durchsuchung zum Zwecke der Feststellung von Zollvergehen auch ohne den Verdacht einer strafbaren Handlung zulässig ist (§ 21 ZollG.). Aus dem gleichen Grunde ist auch eine allgemeine Kontrolle von Postabholern unzulässig, wenn sie den Zweck verfolgen soll, Anhaltspunkte für den Verdacht einer strafbaren Handlung (Verbreitung staatsgefahrdender oder obszöner Schriften) erst zu erlangen (A u b e r t 60). 2. Untersuchung. a) Beschlagnahmegegenstände. Der Begriff Untersuchung ist in § 102 nicht verwendet, weil der Verdacht eine Untersuchung weder voraussetzt noch notwendig dazu führt, daß eine solche eingeleitet wird. Wie jedoch der Begriff des Beschuldigten bis zum Angeklagten reicht (§ 157), so bleibt auch der Beschuldigte, Angeschuldigte und Angeklagte ein Verdächtiger2. Die Durchsuchung ist also vor und während der Untersuchung (II 1 zu § 94) zulässig. Sie darf aber nur angeordnet und durchgeführt werden zur Aufklärung der dem Verdächtigen selbst zur Last gelegten Straftaten, nicht aber zu dem Zweck, Verdachtsgründe gegen noch unbekannte Personen zu finden (BVerfGE 20 192 = NJW 1966 1608). Mit der Zulässigkeit der Durchsuchung bei Verdächtigen verlegt § 102 die Möglichkeit des Einschreitens nach vorn. Soweit die Durchsuchung dem Erlangen von Beschlagnahmegegenständen dient, ist dem System zu entnehmen, daß die Durchsuchung in keinem späteren Verfahrensabschnitt zulässig sein soll als die Beschlagnahme, der sie dient. Daher dauert in der genannten Hinsicht die Eigenschaft als Verdächtiger — wie die als Beschuldigter (III 2 zu § 97) — nicht länger als bis zur Beendigung der Untersuchung und endet die Zulässigkeit der Durchsuchung wie die der Beschlagnahme mit dem Ende der Untersuchung (II 1 zu § 94). b) Ergreifung. Der gleiche Endzeitpunkt kann jedoch nicht angenommen werden, soweit die Durchsuchung der Ergreifung dient. Die Bestimmungen dazu sind im Zusammenhange zu sehen: § 102 handelt von der Ergreifung eines Verdächtigen, § 103, der ganz allgemein schärfere Voraussetzungen hat (4 zu § 103), von der eines Beschuldigten. Mag es hier, selbst wenn das Gesetz darüber schweigt, wie ein nach § 457 ergangener Haftbefehl vollzogen werden soll, noch vertretbar sein, den Verurteilten auszuschließen, so ist das bei § 104 unmöglich, der von der Wiederergreifung eines entwichenen Gefangenen ' M o t . H a h n 1 126; RGRspr. 4 417. P u c h e l t 3 Abs. 3.

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Achter Abschnitt. Beschlagnahme, Überwachung § 102 des Fernmeldeverkehrs und Durchsuchung (Dünnebier) Anm. 3 , 4 spricht. Es wäre gewaltsam, diesen Begriff auf den Untersuchungsgefangenen zu beschränken. Muß man aber von § 104 auch den Strafgefangenen umfaßt sehen 3 , so muß daraus gefolgert werden, daß alle Bestimmungen, die von der Ergreifung handeln, sich auch auf Strafgefangene beziehen (OLG Frankfurt NJW 1964 786). Denn es wäre sinnlos, wenn der Gesetzgeber nur den einen Fall der Durchsuchung zur Nachtzeit zum Zwecke der Ergreifung geregelt, den viel wichtigeren der Haussuchung in der Wohnung eines entwichenen Gefangenen aber offen gelassen hätte. Nach alledem muß geschlossen werden, daß der Gesetzgeber den Begriff des Verdächtigen in § 102, wie auch den Begriff des Beschuldigten in §103, soweit sie von der Ergreifung handeln, auf einen Abschnitt bezieht, der sich über die Dauer der Untersuchung hinaus erstreckt, m. a. W., daß Verdächtiger, Beschuldigter und Gefangener in den §§102 bis 104 auch den Verurteilten mit umfassen (BayObLGSt. 20 152), und daß, namentlich im Hinblick auf Art. 13 Abs. 2 GG, § 105 Abs. 1 auch bei Durchsuchungen nach Verurteilten Anwendung findet4. Das ist zwar unsystematisch, doch ist eher anzunehmen, daß der Gesetzgeber etwas unsystematisch geregelt hat als gar nicht. 3. Durchsuchung ist das amtliche Suchen, notfalls wider den Willen des Besitzers, nach beweglichen Sachen, die als Beweismittel für eine künftige oder gegenwärtige Untersuchung (II zu § 94) von Bedeutung sein können oder die in einer künftigen oder gegenwärtigen Untersuchung der Einziehung unterliegen; nach Spuren an unbeweglichen Sachen, die als Beweismittel in Betracht kommen; und nach Personen, die als Täter oder Teilnehmer einer strafbaren Handlung, als Begünstiger oder Hehler verdächtig sind. Ebenso wie die Beschlagnahme (II 2 zu § 94) dient auch die Durchsuchung, namentlich die nach Beweismitteln, nicht nur der Überführung sondern auch der Entlastung des Beschuldigten (RGSt. 14 195). Führt die Durchsuchung ein Richter selbst durch, dann kann sie zugleich die Bedeutung der Einnahme eines richterlichen Augenscheins (§ 86) haben. Da die Protokolle hierüber in der Hauptverhandlung verlesbar sind (§ 249 Satz 2), wird sich die Verbindung der Durchsuchung mit dem Augenschein dann empfehlen, wenn für die künftige Hauptverhandlung nicht nur die Sache als solche dem Beweise dienen soll, sondern zugleich aus ihrer Auffindung an einer bestimmten Stelle, aus ihrem Verhältnis zu anderen Sachen und dgl. Schlüsse werden gezogen müssen. Ist der richterliche Augenschein unterblieben, dann können über die Verhältnisse an Ort und Stelle diejenigen Beamten als Zeugen vernommen werden, die die Durchsuchung vorgenommen hatten. Diese haben indessen meist viele gleichartige Geschäfte durchzuführen, so daß ihr Gedächtnis in der Hauptverhandlung getrübt sein kann. In allen großen Sachen, namentlich in Mordsachen, sollte daher die Verbindung der richterlichen Durchsuchung mit der Einnahme eines richterlichen Augenscheins gewählt werden. Wegen der Zuziehung eines Urkundsbeamten s. §§ 168, 187, 188. 4. Räume. Die Durchsuchung ist in Wohnungen und anderen Räumen zulässig. Der Inhalt der Begriffe ist aus dem Zusammenhang der Vorschriften des Abschnitts, namentlich aus § 104 Abs. 1 und § 105 Abs. 2, zu gewinnen. Danach umfassen: das Wort Räume auch sonstiges befriedetes Besitztum; das Wort Wohnungen auch Schiffe, Artisten- und sonstige Wohnwagen (RGSt. 13 312); die Bezeichnung Geschäftsräume auch Marktbuden. Befriedetes Besitztum ist nur unbewegliches (RGSt. 13 314), doch braucht es in keinem räumlichen oder wirtschaftlichen Zusammenhang mit einem Gebäude zu stehen (RGSt. 36 395); es kann auch ein Neubau sein (RGRspr. 10 638). Befriedet ist das Besitztum, wenn es mit einer Einhegung (Einzäunung, Verdrahtung, Abgrenzung durch Gräben) versehen ist; auf unbefriedetem Besitztum finden Durchsuchungen ohne die Einschränkungen und Förmlichkeiten der §§ 102 bis 110 statt 5 . Auf das Eigentum des Verdächtigen an den Räumen usw. oder auf ein ihm vertraglich eingeräumtes Besitz- oder Nutzungsrecht kommt es nicht an, wenn er nur tatsächlich die Räume, sei es als Wohnung 3 4 5

P u c h e l t 6 zu § 104; F e i s e n b e r g e r 5 zu § 104; Kl 3 1 in Vbdg. mit 4 zu § 35. O L G Frankfurt NJW 1964 786; a. A. E b S c h m i d t 12; Einzelheiten 1 zu § 105. v. H i p p e l § 69 I; E b S c h m i d t 10.

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§ 102 Anm. 5, 6

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

oder Geschäftsraum, sei es als Nebenraum (Schuppen, Scheune, Bootsschuppen, Garage), innehat, sei es allein, sei es gemeinschaftlich mit anderen. Auch die Dauer spielt keine Rolle, so daß der Hotelgast das Hotelzimmer, der Hausbesuch das Fremdenzimmer zur Wohnung hat ( K a u f m a n n 108). Dagegen können nicht nach § 102 durchsucht werden Räume, in denen sich der Verdächtige vorübergehend aufhält, ohne zu ihnen eine der vorgenannten Beziehungen zu haben, z. B. in Wohnungen, wo er zu Besuch ist, auf der Arbeitsstelle, in einer Gastwirtschaft. Für diese Fälle ist nach § 103 zu verfahren. Der in früheren Landesgesetzen ausdrücklich behandelte Fall einer allgemeinen Haussuchung, d. h. einer solchen in allen Häusern einer Ortschaft, eines Wohnviertels, einer Straße oder von bestimmten Teilen solcher Örtlichkeiten, hat in der Strafprozeßordnung keine Erwähnung gefunden. Sonach müssen, wenn eine Mehrzahl von Häusern usw. durchsucht werden sollen, die Voraussetzungen dazu bei jedem einzelnen zutreffen ( F u l d GS 1883 54). Freilich kommt es nur darauf an, daß der Gewahrsamsinhaber verdächtig ist. Ruht der Verdacht auf mehreren Personen, dann kann die Durchsuchung bei jeder von ihnen auch dann stattfinden, wenn von vornherein feststeht, daß nur einer der Schuldige sein kann. Von der Durchsuchung ausgenommen sind die Wohnungen, Geschäftsräume und Sachen von Exterritorialen (I 2 zu § 94) und die Geschäftsräume der Konsuln, soweit sie von den Privaträumen getrennt sind; wenn dies nicht der Fall ist, auf jeden Fall die Konsulatsarchive 6 . Wegen der Abgeordneten gilt das I 2 zu § 94 Ausgeführte entsprechend. 5. Person. Die Vorschrift gestattet auch die Durchsuchung des Verdächtigen und seiner Sachen. Bei der Auslegung ist zu beachten, daß der Text abgefaßt worden ist, ehe § 81a ins Gesetz eingefügt worden ist. Seit dieser Einfügung ist die körperliche Untersuchung abschließend in § 81a geregelt und nur bei dem Beschuldigten (III 2 zu § 97) zulässig, nicht bei einem Verdächtigen, doch wird der Verdächtige zu einem individuell verfolgbaren Beschuldigten, wenn er etwa beim Verschlucken von Beweismitteln betroffen wird. Im Rahmen von § 102 jedenfalls ist jede körperliche Untersuchung und damit jede Durchsuchung des Körpers nach verschluckten oder in Körperöffnungen oder sonstigen körperlichen Verstecken verborgenen Sachen unzulässig 7 . Unter den Begriff der körperlichen Untersuchung fallt auch jede Untersuchung der Körperoberfläche 8 . Auf den Wortlaut von § 102 kommt es nicht an, weil § 81a ihm gegenüber eine sein Gebiet abschließend regelnde Sondervorschrift ist. Sachen sind die Kleidungsstücke, die der Verdächtige an sich trägt, und seine bewegliche Habe (Akten- und sonstige Taschen, Koffer, Auto, Wohnungs- und Geschäftseinrichtung). Trotz des Ausdrucks „der ihm g e h ö r e n d e n Sachen" kann nicht auf das Eigentum des Verdächtigen abgestellt werden, sondern allein darauf, ob er sie tatsächlich benutzt, ja, wenn er die Räume mit Unverdächtigen teilt, ob er zu ihnen Zutritt hat. Die Sachen müssen sich nicht notwendigerweise in den Räumen des Verdächtigen befinden; sie können auch dort durchsucht werden, wo er sie, etwa in einem Möbellager oder in einer Sammelgarage, abgestellt hat. Insoweit liegt noch keine Durchsuchung bei anderen Personen (§ 103) vor. 6. Zwecke und Voraussetzungen der Durchsuchung. Die Durchsuchung ist zulässig zum Zwecke der Ergreifung des Verdächtigen. Dazu ist nicht erforderlich, daß der Verdächtige selbst in den Räumen gesucht wird; zulässig ist auch das Suchen nach Anhaltspunkten über seinen Verbleib. Ergreifung ist die amtliche vorläufige Festnahme (§127 Abs. 2) oder die Verhaftung (§ 114a Abs. 1, § 125 Abs. 1, § 126a Abs. 2) zum Zwecke der Verbringung in Untersuchungshaft (§112) oder in einstweilige Unterbringung (§ 126a Abs. 1); die Verhaftung im laufenden Verfahren aufgrund eines Vorführungsbefehls (§§ 134, 230 Abs. 2) und die Verhaftung zur Vollstreckung eines auf Freiheitsstrafe oder Unterbringung in einer Heil-, Pflege- oder Entziehungsanstalt lautenden Urteils (§ 457, § 463 a Abs. 1). Unzulässig ist die Ergreifung zum Zwecke lediglich einer polizeilichen Vernehmung ( J o h n 1 b zu §§ 102, 103). 6

D a h m Völkerrecht I 3 1 5 , 3 2 5 , 3 4 1 , 3 6 9 ; vgl. I 2 Fußn. 2 z u § 94. ' E b S c h m i d t 11; 9 zu § 81 a; P e t e r s § 4 0 II 3; K e r n - R o x i n § 37 A V 3. 8 A. A. K l 2 B; K a u f m a n n 103; H e n k e l § 71 B I.

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Achter Abschnitt. Beschlagnahme, Überwachung des Fernmeldeverkehrs und Durchsuchung (Dünnebier)

§ 102 Anm. 7, 8

Die Durchsuchung ist ferner zulässig, wenn zu vermuten ist, daß sie zum Auflinden von Beweismitteln führen werde. Wegen des Begriffs s. II 2, 3 zu § 94. Personen, die als Zeugen benötigt werden, unterfallen diesem Begriff des Beweismittels nicht ( O L G Rostock A l s b . E 1 235). Bestimmte Beweismittel braucht die anordnende Behörde nicht im Auge zu haben. Die Vermutung, daß die Durchsuchung zum Auffinden von Beweismitteln führen werde, kann sich aus der Lebenserfahrung ergeben ( E b S c h m i d t 15). Tatsachen, die sie stützen (vgl. § 112 Abs. 2 Satz 1), brauchen nicht vorzuliegen. Die Durchsuchung von Sachen beschränkt sich nicht auf Beweismittel; sie ist gerade auch an Sachen zulässig, die keine Beweismittel sind, aber auf solche hinweisen. So kann bei der Suche nach einem Koffer eine Brieftasche durchsucht werden, weil in ihr ein Hinterlegungsschein gefunden werden könnte. § 103 läßt die Durchsuchung zu zum Zwecke der Beschlagnahme bestimmter Gegenstände und knüpft damit ersichtlich an § 94 an, der als Beschlagnahmegegenstände Beweismittel und Einziehungsgegenstände bezeichnet. Wenn aber die Beschlagnahme von Einziehungsgegenständen beim Unverdächtigen zulässig ist, muß sie es erst recht beim Verdächtigen sein. Dem Zusammenhange nach muß der Schlußsatz von § 102 daher so gelesen werden, d a ß die Durchsuchung auch dann zulässig ist, wenn sie zum Auffinden von Einziehungsgegenständen führen werde 9 . Die Anwendung der Durchsuchung steht unter dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Sie ist daher nicht zulässig, wenn weniger einschneidende Mittel zur Verfügung stehen (BVerfGE 20 1 8 7 = N J W 1966 1607). 7. Beendigung. Die Durchsuchung ist zu beenden, wenn der Durchsuchungszweck erfüllt ist. D a s ist der Fall, wenn die gesuchte Person ergriffen oder die gesuchte Sache gefunden worden ist. Das Ziel der Durchsuchung ist aber auch erreicht, wenn die Person oder Sache unabhängig von der Durchsuchung in die Gewalt der Behörde gelangt ist, welche die Untersuchung führt 1 0 . Endlich ist die Durchsuchung einzustellen, wenn das Verfahren endet, etwa durch Tod des Beschuldigten, durch Verjährung, durch Amnestie oder weil, gleichgültig welches Beweismittel auch gefunden wurde, das Verfahren sachlich einzustellen ist. Endet die Durchsuchung, so darf nicht etwa weiter durchsucht werden, weil die bisherige Durchsuchung die Vermutung begründet hat, es könnten Gegenstände gefunden werden, die zwar in keiner Beziehung zu der Untersuchung stehen, aber auf die Verübung einer anderen strafbaren Handlung hindeuten (§ 108). Es ist aber zulässig, daß — auch stillschweigend — wegen der neuen Straftat, wenn für eine solche ausreichender Anhalt besteht, eine Untersuchung eingeleitet und nach Beweismitteln für diese Straftat gesucht wird, falls die Voraussetzungen der §§ 102, 103 auch in bezug auf die neue Straftat vorliegen. 8. In Pressesachen ist die Durchsuchung bei dem Verdächtigen grundsätzlich zulässig 11 , jedoch nicht, um — nebenher oder unter dem Vorwande, Material gegen den Verdächtigen zu suchen - Informanten zu ermitteln (BVerfGE 20 1 9 2 , 2 1 7 = N J W 1966 1608, 1614). Auch kann eine Durchsuchung, die schwer in einen Pressebetrieb eingreift mit dem Ziel, einen wenig wahrscheinlichen Tatbestand aufzuklären, inadäquat sein (BVerfGE 20 204 = N J W 1966 1611), aber nicht, wenn Redakteure als Täter und Informanten als Teilnehmer bei Verbrechen gegen Rechtsgüter in Betracht kommen, die nach § 138 StGB geschützt sind (BVerfGE 20 2 2 0 = N J W 1966 1614).

»v. H i p p e l § 6 9 1 Anm. 2; P e t e r s §48 V 1; E b S c h m i d t 2; M ü l l e r - S a x 5 b; Kl 3. Beispiel: Die gesuchte Person ist anderwärts gefunden worden oder hat sich gestellt. Die Sache ist auf Grund von § 95 oder freiwillig herausgegeben worden. "BVerfGE 20 217 = NJW 1966 1613. - Ausdrücklich bestätigt wird das in folgenden Pressegesetzen: Nordrhein-Westfalen (§24 Abs. 3); Rheinland-Pfalz und Schleswig-Holstein (§23 Abs. 3): „Die Beschränkungen der Beschlagnahme und der Durchsuchung gelten nicht, wenn der zur Verweigerung des Zeugnisses Berechtigte als Täter oder Teilnehmer einer strafbaren Handlung dringend verdächtig ist". 10

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§ 103 Anm. 1—3

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

§ 103 (1)Bei anderen Personen sind Durchsuchungen nur zur Ergreifung des Beschuldigten oder zur Verfolgung von Spuren einer strafbaren Handlung oder zur Beschlagnahme bestimmter Gegenstände und nur dann zulässig, wenn Tatsachen vorliegen, aus denen zu schließen ist, daß die gesuchte Person, Spur oder Sache sich in den zu durchsuchenden Räumen befindet. (2) Diese Beschränkung gilt nicht für Räume, in denen der Beschuldigte ergriffen worden ist, oder die er während der Verfolgung betreten hat, oder in denen eine unter Polizeiaufsicht stehende Person wohnt oder sich aufhält. 1. Andere Personen. Die Vorschrift handelt von der Durchsuchung bei anderen Personen. Der Begriff steht im Gegensatz zu dem des Verdächtigen des § 102 und umfaßt damit alle anderen Personen als Verdächtige (vgl. § 81 c Abs. 1 und 2). Unter ihn fallen auch Personen, die zur Verweigerung des Zeugnisses berechtigt sind (§§ 52, 53, 53a; Beschränkung s. 4 Abs. 2). Wegen der Wohnungen und Geschäftsräume von Exterritorialen s. 4 Abs. 3 zu § 102. Bei unverdächtigen Abgeordneten ist die Durchsuchung zulässig, soweit sie nicht, was grundsätzlich zu verneinen sein wird, eine Hinderung ihrer Abgeordnetentätigkeit (§ 48 Abs. 2 G G ) darstellt. Sie ist auch dann zulässig, wenn ein verdächtiger Abgeordneter nicht verfolgt werden kann, wohl aber ein Mittäter. In bezug auf das Verfahren gegen den Mittäter ist der nicht verfolgbare Abgeordnete als ein Nichtverdächtiger zu behandeln ( B o c k e l m a n n 55). Dem System des achten Abschnitts ist zu entnehmen, daß auf der Post keine Durchsuchungen stattfinden dürfen 1 . Die Eingriffe in den Postbetrieb sind in §§ 99 bis 101 abschließend geregelt in der Weise, daß das Verfahren der Postbeschlagnahme — in seinem ersten Akte (§ 99) der Durchsuchung verwandt 2 — an die Stelle von Durchsuchung (§§ 102 bis 111) und Beschlagnahme (§§ 94 bis 98) außerhalb der Post tritt. Abgesehen von diesen Erwägungen ist die Durchsuchung aber bei sämtlichen Behörden schon deshalb ausgeschlossen, weil sie eine Überordnung der die Durchsuchung anordnenden Behörde (Gericht, Staatsanwaltschaft, Polizei) über die Behörde voraussetzte, die die Durchsuchung zu dulden hat. Eine solche ist ihr indessen nicht eingeräumt (1 zu § 96). 2. Durchsuchung. Der Begriff ist derselbe, wie 3 zu § 102 entwickelt. Wegen der Verwendung des Wortes Beschuldigter kommt jedoch eine Durchsuchung nur in bezug auf eine gegenwärtige, nicht auf eine künftige Untersuchung in Betracht. Nachdem durch die Sondervorschrift des § 81a in § 102 das Wort Person seine Bedeutung verloren hat, ist der Untersuchungsgegenstand in § 103 derselbe wie in § 102. Zwar spricht § 103 nur von zu durchsuchenden Räumen, tut dies aber im Zusammenhang mit der Zulässigkeitsvoraussetzung der Erfolgsprognose, nicht zur Begrenzung des in der ersten Zeile gebrauchten Wortes Durchsuchungen. Dieses nimmt ersichtlich auf § 102 Bezug. Danach ist bei Unverdächtigen zulässig: die Durchsuchung von Wohnungen, Geschäftsräumen, sonstigem befriedetem Besitztum und von den darin befindlichen Sachen, wozu auch diejenigen gehören, die der Inhaber der zu durchsuchenden Räume am Körper trägt 3 . 3. Ergreifung. Die Durchsuchung bei Unverdächtigen zum Zwecke der Ergreifung des Beschuldigten ist erst zulässig, wenn sich der Tatverdacht auf einen bestimmten Verdächtigen so weit konkretisiert hat, daß gegen diesen die Verfolgung — wenn auch mit der Durchsuchung bei einem Unverdächtigen als ersten Akt — als gegen einen Beschuldigten (III 2 zu § 97) in einer Untersuchung (II 1 zu § 94) und auch nach Abschluß der Untersuchung gegen einen Verurteilten (2 zu § 102) durchgeführt wird. Wegen des Begriffs der Ergreifung s. 2b zu § 102. Weiter wird gefordert, daß aus festgestellten Tatsachen auf die 1

2 3

A. A. — Durchsuchungen auf der Post ohne die Schranken des § 103 zulässig — F e i s e n b e r g e r 4 zu § 99; zum Begriff auf der Post s. II 2 zu § 99. v . H i p p e l § 6 9 VII. B e l i n g § 106 II 2 Abs. 1; E b S c h m i d t 4 ; M ü l l e r - S a x 4 ; K l 1 A.

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Achter Abschnitt. Beschlagnahme, Überwachung § 1 0 3 Anm. 4 , 5 des Fernmeldeverkehrs und Durchsuchung (Dünnebier) § 104 Anwesenheit des Beschuldigten in dem zu durchsuchenden Raum zu schließen ist. Die Tatsachen können Bekundungen von Zeugen, Briefe, frühere Beobachtungen über die Lebensgewohnheiten usw. sein. 4. Beschlagnahmegegenstände. Auch die Durchsuchung nach Beweismitteln und Einziehungsgegenständen (2a und b zu § 102) ist von schärferen Voraussetzungen abhängig als in § 102. Die Durchsuchung ist nur zulässig zur Spurenverfolgung oder zur Beschlagnahme bestimmter, also vom Anordnenden konkret, wenn auch nicht in Einzelheiten (die Geschäftsbücher des Beschuldigten, Packungen verschiedener Zigaretten, Stücke verschiedener Ausgaben von Zeitungen bestimmter Art) anzugebender Gegenstände, deren Beweiskraft (OLG Stuttgart A l s b . E l 232) oder Eigenschaft als Einziehungsgegenstand feststeht. Weiter ist Voraussetzung, daß aus festgestellten Tatsachen zu schließen ist, die gesuchte Spur oder Sache werde sich in den zu durchsuchenden Räumen befinden. Findet die Durchsuchung bei zeugnisverweigerungsberechtigten Personen statt, so darf sie nicht auf die in § 97 genannten Mitteilungen, Schriftstücke, Aufzeichnungen und Gegenstände erstreckt werden 4 ; sind sie nicht erkennbar, werden sie bei der Durchsicht nach § 110 ausgesondert (V 3 zu § 97). Ebenso darf bei Presseangehörigen nicht nach Schriftstücken, Tonträgern, Abbildungen und Darstellungen mit dem Zwecke durchsucht werden, Tatsachen zu ermitteln, festzustellen oder nachzuweisen, die sich auf die Person des Verfassers, Einsenders oder Gewährsmanns von Beiträgen oder Unterlagen und deren Inhalt beziehen 5 . 5. Ausnahme (Absatz 2). Die einschränkenden Voraussetzungen fallen jedoch wieder weg, und es kann wie bei einem Verdächtigen (§ 102), also ohne weitere Voraussetzungen als den Tatverdacht, durchsucht werden in Räumen, die der Beschuldigte während der Verfolgung betreten hat oder in denen er ergriffen worden ist. Der Grund für die Einschränkung liegt in der Erfahrungstatsache, daß ein Verfolgter sich in den genannten Räumen der Beute oder sonstiger Beweisstücke zu entledigen pflegt. Die Einschränkungen des § 103 Abs. 1 entfallen endlich bei der Durchsuchung von Räumen, in denen ein unter Polizeiaufsicht Stehender (§§ 38, 39 StGB) wohnt oder sich aufhält. Das Gesetz stellt ihn dem Teilnehmer, Begünstiger oder Hehler des § 102 gleich. Während die Ergreifung in Absatz 1 eine amtliche ist, ist ergriffen im Sinne von Absatz 2 auch der aufgrund von § 127 Abs. 1 Festgenommene.

§ 104 (1)Zur Nachtzeit dürfen die Wohnung, die Geschäftsräume und das befriedete Besitztum nur bei Verfolgung auf frischer Tat oder bei Gefahr im Verzug oder dann durchsucht werden, wenn es sich um die Wiederergreifung eines entwichenen Gefangenen handelt. (2) Diese Beschränkung gilt nicht für Wohnungen von Personen, die unter Polizeiaufsicht stehen, sowie für Räume, die zur Nachtzeit jedermann zugänglich oder die der Polizei als Herbergen oder Versammlungsorte bestrafter Personen, als Niederlagen von Sachen, die mittels strafbarer Handlungen erlangt sind, oder als Schlupfwinkel des Glücksspiels oder gewerbsmäßiger Unzucht bekannt sind. (3) Die Nachtzeit umfaßt in dem Zeitraum vom ersten April bis dreißigsten September die Stunden von neun Uhr abends bis vier Uhr morgens und in dem Zeitraum vom ersten Oktober bis einunddreißigsten März die Stunden von neun Uhr abends bis sechs Uhr morgens. 4 3

B e l i n g § 106 II 2 Abs. 3; K l u g 19, 47; LG Kiel SchlHA 1955 368. Einzelheiten in den Kommentaren zu den Pressegesetzen. Die landesrechtlichen Vorschriften stimmen nicht völlig überein. Baden-Württemberg: § 23 Abs. 4 Satz 2 (mit erheblichen Einschränkungen); Berlin: § 18 Abs. 3; Bremen: § 2 3 Abs. 3; Hamburg: § 2 2 Abs. 3; Hessen: § 2 3 Abs. 2; Niedersachsen: § 2 3 Abs. 3; Nordrhein-Westfalen: § 2 4 Abs. 3; Rheinland-Pfalz: § 2 3 Abs. 2 Satz 2; Saarland: § 2 3 Abs. 3; Schleswig-Holstein: § 2 3 Abs. 2 Satz 3. D a s Durchsuchungsverbot bezieht sich stets auch auf die Redaktions- und Verlagsräume und die Druckerei. Keine Regelung in Bayern.

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§104 Anm. 1—3

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

1. Inhalt. Die Vorschrift schränkt die §§102 und 103 ein; die Voraussetzungen derjenigen der beiden Vorschriften, nach der zur Nachtzeit durchsucht werden soll, müssen daher in erster Linie vorliegen. Die Einschränkung des § 104 Abs. 1 geht dahin, daß bei Nachtzeit Durchsuchungen nur in drei bestimmten Fällen stattfinden dürfen. Der Gegenstand der Durchsuchung ist der gleiche wie in den §§ 102, 103 (Wohnung, Geschäftsräume, befriedetes Besitztum und Sachen; 4,5 zu § 102). Die Sachen sind ebensowenig ausgeschlossen wie in § 103, der sie auch nicht erwähnt (2 zu § 103). Auch die Zwecke der Durchsuchung sind die gleichen wie in den §§ 102, 103 (Ergreifung, Auffinden von Beschlagnahmegegenständen). Die Vorschrift ist nicht etwa nur auf Durchsuchungen zum Zwecke einer Ergreifung beschränkt ( E b S c h m i d t 4). Das ergibt schon der Fall der Durchsuchung bei Gefahr im Verzuge, aber auch die Auslegung der beiden übrigen Fälle. 2. Der Begriff der Nachtzeit ist in Absatz 3 abschließend umschrieben, doch darf eine bei Tage begonnene Untersuchung in die Nacht hinein fortgesetzt werden. Das folgt schon daraus, daß nach Beginn einer Untersuchung stets Gefahr des Beweisverlustes im Verzuge ist, wenn sie wegen hereinbrechender Nacht abgebrochen würde. Es entspricht jedoch dem Sinn des Gesetzes, eine Untersuchung so rechtzeitig zu beginnen, daß ihr Ende vor Beginn der Nachtzeit zu erwarten ist. 3. Durchsuchungsvoraussetzungen. a) Verfolgung auf frischer Tat ist gegeben, wenn unmittelbar nach Entdeckung der vollendeten und, wenn strafbar, auch der versuchten oder unternommenen Tat, bei der der Täter selbst nicht betroffen zu werden braucht, die strafrechtliche Verfolgung des Täters aufgenommen worden ist. Die Verfolgung braucht sich jedoch nicht augenblicklich anzuschließen. Der verfolgende Beamte kann dazu vom Verletzten, unmittelbar nachdem dieser die Tat entdeckt hat, aufgesucht worden sein und sich zur Verfolgung, etwa durch Übergabe des Dienstes, Heranrufen eines Wagens, vorbereitet haben. Eine Verfolgung des Täters auf Sicht oder Gehör ist nicht notwendig. Eine Rast ändert nichts an dem Charakter des Nacheilens als Verfolgung (RGSt. 58 226). Die Verfolgung braucht nicht auf die Ergreifung des Täters abzuzielen, es genügen auch sonstige Maßnahmen zur Aufklärung, namentlich das Suchen nach Beute, die er in der Wohnung abgelegt hat ( E b S c h m i d t 4; M ü l l e r S a x 4). b) Gefahr im Verzug liegt vor, wenn die durch Tatsachen begründete naheliegende Möglichkeit besteht, daß ohne die Durchsuchung bei Nachtzeit die beabsichtigte Ergreifung des Verdächtigen (§ 102) oder des Beschuldigten (§ 103) — wobei beide Begriffe, soweit die Ergreifung Durchsuchungsziel ist, den Verurteilten umfassen (2b zu § 102) — vereitelt oder die gesuchte Sache oder Spur (§ 103 Abs. 1) beiseite geschafft, beseitigt oder sonst dem Zugriff entzogen werden könnte. c) Wiederergreifung eines Gefangenen. Gefangene sind amtlich vorläufig Festgenommene (§ 127 Abs. 2), nicht dagegen von einer Privatperson vorläufig Festgenommene, solange sie noch nicht dem zuständigen Beamten abgeliefert worden sind (RGSt. 13 254); Personen, die sich in Untersuchungshaft (§ 112) oder in einstweiliger Unterbringung (§ 126a Abs. 1) befinden oder, um dahin gebracht zu werden, verhaftet worden sind (§ 114 Abs. 1, § 125 Abs. 1, § 126a); im laufenden Verfahren auf Grund eines Vorführungsbefehls Verhaftete (§§ 134,230 Abs. 2; RGSt. 12 162); Strafgefangene und auf Grund strafgerichtlichen Urteils in einer Heil-, Pflegeoder Entziehungsanstalt Untergebrachte und Verurteilte, die zum Zwecke des Vollzugs verhaftet worden sind (§ 457, § 463a Abs. 1). Die Eigenschaft als Gefangener hört nicht auf, wenn sich ein Untersuchungsgefangener (RGSt. 19 330) oder ohne Unterbrechung des Strafvollzugs ein Strafgefangener in einem Krankenhaus befindet. Bei der Durchsuchung ist nicht erforderlich, daß der Verfolgte selbst in den Räumen gesucht wird; zulässig ist auch das Suchen nach Anhaltspunkten über seinen Verbleib,

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Achter Abschnitt. Beschlagnahme, Überwachung § 1 0 4 Anm. 4, 5 des Fernmeldeverkehrs und Durchsuchung (Dünnebier) § 105 etwa nach abgelegten Kleidern, oder die Suche nach einem negativen Beweismittel, wie dem Fehlen von Fahrrädern, Kraftwagen oder sonstiger Beförderungsmittel, die zur weiteren Flucht benutzt worden sind. Das ergibt sich deutlich aus der Wendung: „wenn es sich um die Wiederergreifung eines Gefangenen h a n d e l t " (nicht: um einen entwichenen Gefangenen wieder zu ergreifen"). 4. Ausnahmen (Absatz 2). Die Beschränkungen von Absatz 1 gelten nicht, d. h. die §§ 102 und 103 finden auch zur Nachtzeit voll Anwendung, für die Durchsuchung der folgenden Unterkünfte: Wohnungen von Personen, die unter Polizeiaufsicht stehen. Ist bei solchen Personen eine Durchsuchung nach § 103 zur Nachtzeit beabsichtigt, so bewirkt § 103 Abs. 2, daß sie unter den erleichterten Voraussetzungen des § 102 stattfindet; Räume, die zur Nachtzeit jedermann zugänglich sind, d. s. Herbergen, Gasthäuser, Wartesäle, mit Ausnahme der dem Wirt zur Wohnung dienenden abgetrennten Räume, und nur solange, als sie noch zum beliebigen Betreten geöffnet sind; Räume, die der Polizei bekannt sind als Herbergen oder Versammlungsorte bestrafter Personen, also Lokale von Ringvereinen, bestimmte Dirnenquartiere, Hehlerkneipen und dgl.; als Niederlagen von Sachen, die mittels strafbarer Handlungen erlangt sind, d. s. namentlich Läden und Wohnungen von Hehlern und ihren Vermittlern und als Schlupfwinkel des Glücksspiels oder gewerbsmäßiger Unzucht, in erster Linie geheime Spielklubs, Bordelle, Absteigequartiere (Verbrecherquartiere). 5. Fernmeldeanlagen. § 104 Abs. 2 findet seine Ergänzung durch das Gesetz über Fernmeldeanlagen vom 14. 1. 1928 (BGBl. III 9020-1). § 21 Abs. 1 Für die Durchsuchung der Wohnung, der Geschäftsräume und des befriedeten Besitztums sind die Vorschriften der Strafprozeßordnung maßgebend; die Durchsuchung ist aber zur Nachtzeit stets zulässig, wenn sich in den Räumen oder auf dem Besitztum eine Funkanlage befindet und der begründete Verdacht besteht, daß bei ihrer Errichtung oder ihrem Betrieb eine nach § 15 strafbare Handlung begangen wird oder begangen ist. In § 15 FAG ist unter Strafe gestellt das vorsätzliche oder fahrlässige Errichten oder Betreiben einer Telegrafen-, Fernsprech- oder Funkanlage zum Senden und Empfangen, ihr bestimmungswidriger Betrieb oder die Verletzung der Anordnung, sie zu beseitigen, nachdem die Verleihung entfallen ist. Es handelt sich, soweit der Verdacht der Begehung einer strafbaren Handlung in Betracht kommt, um eine Vermutung der frischen Tat; soweit auf den Verdacht abgestellt wird, daß eine strafbare Handlung begangen sei, um eine Vermutung der „Gefahr im Verzuge" ( A u b e r t 259). Daß die Anlage im Augenblick der Durchsuchung tatsächlich betrieben wird, ist ausdrücklich („begangen i s t") nicht Voraussetzung der nächtlichen Durchsuchung. Für den ersten Fall ist die Sondervorschrift nach der Art der geregelten Materie als notwendig anzuerkennen. Dagegen ist schwerer, einzusehen, daß wegen des Verdachts abgeschlossener Straftaten die Durchsuchung zur Nachtzeit erlaubt wird. Das Zugeständnis ist wohl damit zu begründen, daß der Zustand der Geräte kurz nach der Tat geeignet sein kann, den Beweis einer nach § 15 FAG strafbaren Handlung zu erbringen. Ohne die Erwartung eines solchen Beweises sollte die Durchsuchung bei abgeschlossenen Straftaten zur Nachtzeit unterbleiben.

§ 105 (1) Durchsuchungen dürfen nur durch den Richter, bei Gefahr im Verzug auch durch die Staatsanwaltschaft und ihre Hilfsbeamten (§ 152 des Gerichtsverfassungsgesetzes) angeordnet werden. (2) Wenn eine Durchsuchung der Wohnung, der Geschäftsräume oder des befriedeten Besitztums ohne Beisein des Richters oder des Staatsanwalts stattfindet, so sind, wenn möglich, ein Gemeindebeamter oder zwei Mitglieder der Gemeinde, in deren Bezirk die 623

§ 105

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

Anm. 1 Durchsuchung erfolgt, zuzuziehen. Die als Gemeindemitglieder zugezogenen Personen dürfen nicht Polizeibeamte oder Hilfsbeamte der Staatsanwaltschaft sein. (3) Die in den vorstehenden Absätzen angeordneten Beschränkungen der Durchsuchung gelten nicht für die in § 104 Abs. 2 bezeichneten Wohnungen und Räume. (4) Wird eine Durchsuchung in einem Dienstgebäude oder einer nicht allgemein zugänglichen Einrichtung oder Anlage der Bundeswehr erforderlich, so wird die vorgesetzte Dienststelle der Bundeswehr um ihre Durchführung ersucht. Die ersuchende Stelle ist zur Mitwirkung berechtigt. Des Ersuchens bedarf es nicht, wenn die Durchsuchung von Räumen vorzunehmen ist, die ausschließlich von anderen Personen als Soldaten bewohnt werden. Entstehungsgeschichte: I. Entw. § 90. II. § 95. III. § 96. Änderungsvorschläge: NE I §§ 101, 106. III §§ 122, 127. Spätere Änderungen: Absatz 1 ist ohne inhaltliche Änderung sprachlich neu gefaßt durch Art. 3 Nr. 42 VereinhG. Durch Art. 3 Nr. 43 VereinhG. sind in Absatz 2 Satz 2 die Hilfsbeamten der Staatsanwaltschaft eingefügt worden. Absatz 4 ist angefügt durch Art. 4 Nr. 2 des 4. StRÄndG. 1. Anordnung der Durchsuchung. Wegen der Anordnung der Durchsuchung durch den Richter, den Staatsanwalt und durch seine Hilfsbeamten sowie durch die Beamten der Hauptzollämter gilt das zu § 98 Ausgeführte entsprechend. Trotz der meist gebotenen Eile sollte der Durchsuchungsbeschluß regelmäßig schriftlich ergehen und die Straftat, Zweck, Ziel und Umfang der Durchsuchung, möglichst konkret und genau bezeichnen (BVerfGE 20 223, 2 2 7 = N J W 1966 1615, 1616). D a ß eine Anordnung unterbleiben kann, wenn sich der von der Durchsuchung Betroffene ihr freiwillig unterwirft, bezeichnen die Motive ( H a h n 1 128) zu Recht als selbstverständlich. Der Betroffene handelt nur dann freiwillig, wenn er weiß, daß er eine ausdrückliche Beschlagnahmeanordnung verlangen kann und in dieser Kenntnis sein Besitztum zur Durchsuchung zur Verfügung stellt. Wegen der Beschränkung des Personenkreises, der zur Anordnung berechtigt ist, können Amtspersonen, die keine Hilfsbeamten der Staatsanwaltschaft sind, wie etwa Nachtwächter, einen ertappten Dieb zwar festnehmen (§ 127 Abs. 1), nicht aber durchsuchen (RG G A 59 462). Wegen des Rechts, dem Festgenommenen gewisse Sachen wegzunehmen s. II 9 Abs. 3 zu § 127. Haftbefehle, Vorführungsbefehle und Steckbriefe enthalten nicht zugleich eine (stillschweigende) Durchsuchungsanordnung nach § 105 (OLG Frankfurt N J W 1964 785) 1 . Auch dem Strafurteil kann eine solche Anordnung nicht entnommen werden 2 . Denn Freiheitsentziehung und Wohnungsdurchsuchung sind Ausfluß verschiedener Grundrechtsgarantien; das Urteil ist allein Grundlage der Freiheitsentziehung. Wäre es Grundlage für alle Maßnahmen, die notwendig werden, die Strafe zu vollstrecken, dann wäre die Einrichtung des Vollstreckungshaftbefehls (§ 457) überflüssig. In den genannten Fällen ist daher, um nach dem Beschuldigten zu suchen, ein Durchsuchungsbefehl erforderlich. Für die Zuständigkeit, ihn zu erlassen, gelten die allgemeinen Vorschriften; nur für die Durchsuchung nach rechtskräftigem Urteil ergibt sich eine Ausnahme. Das Gericht des § 462 kann wegen des geschlossenen Katalogs seiner Zuständigkeiten (§§ 458 bis 461) nicht zuständig sein. Die Zuständigkeit kommt vielmehr der Vollstreckungsbehörde zu. Wenn sie schon die Verhaftung anordnen kann (§ 457), dann ist dem System der Strafprozeßordnung zu entnehmen, daß sie auch die Zuständigkeit hat, die dazu erforderliche Durchsuchung zu verfügen. Da jede Ausfüllung einer Gesetzeslücke nicht unanfechtbar ist, wäre es erwünscht, wenn der Gesetzgeber bei einer Reform die Lücke schließen würde, doch hat das Fehlen einer gesetzlichen Regelung für die Praxis geringe Bedeutung, weil meist Gefahr im Verzug und damit die Zuständigkeit von Hilfsbeamten der Staatsanwaltschaft gegeben sein wird. 1 2

Ebenso K o h l h a a s N P A 1962 508; a. A. K a i s e r NJW 1964 759. A. A. O L G Frankfurt NJW 1964 785.

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Achter Abschnitt. Beschlagnahme, Überwachung des Femmeldeverkehrs und Durchsuchung (Dünnebier)

§ 105 Anm. 2, 3

Die in § 98 Abs. 2 Satz 1 vorgesehene richterliche Bestätigung ist für die von einem Beamten angeordnete Durchsuchung nicht vorgeschrieben, weil ihre Versagung gegenstandslos wäre 3 . Findet eine nichtrichterliche Beschlagnahme statt, dann ist für diese nach § 98 Abs. 2 Satz 1 zu verfahren. 2. Ausnahmen (Absatz 3). Die Beschränkung des Kreises der anordnungsberechtigten Personen durch Absatz 1 soll nach Absatz 3 nicht bei der Anordnung von Durchsuchungen für die in § 104 Abs. 2 genannten Unterkünfte (4 zu § 104) gelten. Mit dem Wegfall der Beschränkungen treten die allgemeinen Vorschriften der §§ 160 ff. in Wirksamkeit. Nach diesen haben die Behörden und Beamten des Polizeidienstes alle keinen Aufenthalt gestattenden Anordnungen zu treffen, um bei der Erforschung strafbarer Handlungen die Verdunkelung der Sache zu verhüten. Der Ausdruck „keinen Aufschub gestatten" steht dem der „Gefahr im Verzug" nicht gleich. Er besagt, daß die Polizei von sich aus zur Durchführung der Ermittlungen auch nicht dem Richter oder Staatsanwalt vorbehaltene Anordnungen treffen kann, die nicht bis zur Übernahme der Sache durch die Staatsanwaltschaft anstehen können, enthält aber nicht die Verpflichtung, sich einer Anordnung zu enthalten, wenn sie bei Unterbrechungen der Ermittlungen und Vortrag beim Staatsanwalt von diesem zu erlangen wäre. Danach wären, wenn die in § 104 Abs. 2 genannten Unterkünfte zu durchsuchen sind, alle Polizeibeamten, auch wenn sie keine Hilfsbeamten der Staatsanwaltschaft sind, zur Anordnung der Durchsuchung berechtigt, auch wenn keine Gefahr im Verzug vorliegt. Nach Art. 13 Abs. 2 G G dürfen Durchsuchungen der nach Absatz 1 unverletzlichen Wohnung nur durch den Richter, bei Gefahr im Verzug auch durch die in den Gesetzen vorgesehenen anderen Organe angeordnet werden. Soweit Absatz 3 hiervon befreien will, ist er verfassungswidrig. Danach ist er dahin zu lesen, daß Durchsuchungen angeordnet werden können in den in § 104 Abs. 2 bezeichneten Wohnungen nur durch den Richter; bei Gefahr im Verzug auch durch die Staatsanwaltschaft und ihre Hilfsbeamten und durch alle Polizeibeamten, auch wenn sie keine Hilfsbeamten der Staatsanwaltschaft sind; in den in § 104 Abs. 2 bezeichneten Räumen, soweit sie keine Wohnungen sind, gleichgültig ob Gefahr im Verzug vorliegt oder nicht, durch den Richter, die Staatsanwaltschaft und ihre Hilfsbeamten und durch alle Polizeibeamten, auch wenn sie keine Hilfsbeamten der Staatsanwaltschaft sind 4 . 3. Durchsuchungspersonen. Die Anordnenden können die Durchsuchung selbst durchführen oder andere Behörden, z. B. das Finanzamt, die Preisbehörde, oder Beamte, auch solche, die keine Hilfsbeamten der Staatsanwaltschaft sind, damit beauftragen (RGSt. 58 194), soweit ihnen, wie etwa dem Untersuchungsrichter gegenüber der Polizei (§ 189), ein Auftragsrecht zusteht. Will sonst der Richter die Durchsuchung nicht selbst durchführen ( § 3 6 Abs. 2), hat er die Anordnung der Durchsuchung der Staatsanwaltschaft zur Vollstreckung zu übergeben (§36 Abs. 1); diese bestimmt dann die Art der Durchführung; namentlich ist es ihre Entscheidung, ob sie die Durchsuchung selbst durchführt oder die Polizei damit beauftragt. Der Richter kann selbst dann andere mit der Durchführung beauftragen oder die Vollstreckung der Staatsanwaltschaft überlassen, wenn die Anordnung bei ihm beantragt (§ 162) oder er um sie ersucht (§ 157 GVG) war. Bundeswehranlagen (Absatz 4). Wegen der Durchsuchung in Dienstgebäuden, Einrichtungen und Anlagen der Bundeswehr gilt das III 5 zu § 98 Ausgeführte entsprechend 5 . Bei Abgeordneten bedarf die Durchsuchung, soweit sie zulässig ist (4 Abs. 3 zu § 102, 1 Abs. 2 zu § 103), der Genehmigung des Präsidenten des Parlaments. Das III 6 zu § 98 Ausgeführte gilt entsprechend. In Steuersachen sind die Finanz(Hauptzoll-)ämter befugt, an der Durchsuchung teilzunehmen (§ 438 Abs. I A O ) . Wird eine Durchsuchung zur Verfolgung einer nach § 15 3

4

5

Art. 14 Abs. 3 Satz 2, 2. Halbs. Brem.LVerf. und Art. 19 Abs. richterliche Genehmigung einer Beamtenanordnung verlangen, (s. I 5 Fußn. 1 zu § 100). K l 4; M ü l l e r - S a x 1 a; a. A. — Durchsuchung durch die auch in Wohnungen zulässig — E b S c h m i d t 7; E r b s III zu § 104; Absatz 4 gilt nicht in Berlin (III 5 Abs. 3 zu § 98).

1 Satz 2 Hess. LVerf., die die sind gegenstandslos geworden vorgenannten Polizeibeamten K a u f m a n n 98.

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§ 105

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

Anm. 4—6 F A G strafbaren Handlung (5 zu § 104) vorgenommen, so sind Beauftragte der Bundespost berechtigt, sich an der Durchsuchung zu beteiligen ( § 2 1 Abs. 2 FAG). Wegen der Durchsuchung an Bord eines deutschen Seehandelsschiffes oder seiner Hilfsfahrzeuge gilt das III 6 Abs. 2 zu § 98 Ausgeführte entsprechend. 4. Beizuziehende Personen (Absatz 2). Führt der Richter die Durchsuchung selbst durch, dann hat er einen Urkundsbeamten zuzuziehen (§§ 168, 188 Abs. 1). Für den Staatsanwalt besteht eine solche Verpflichtung nicht, doch wird er zweckmäßigerweise einen Protokollführer oder einen Polizeibeamten zuziehen. Werden nicht nur Sachen, sondern auch Wohnungen, Geschäftsräume oder befriedetes Besitztum ohne Beisein des Richters oder Staatsanwalts 6 durchsucht, dann hat der durchsuchende Beamte einen Gemeindebeamten oder zwei Gemeindemitglieder beizuziehen. Diese dürfen nicht Polizeibeamte oder Hilfsbeamte der Staatsanwaltschaft sein. Für den Gemeindebeamten besteht diese Einschränkung nicht. Nach Befinden können auch weitere Personen zugezogen werden (RGSt. 25 253). Zweck der Zuziehung ist, dafür zu sorgen, daß die Durchsuchung ordnungsgemäß vorgenommen wird und daß dies nötigenfalls durch Zeugen bewiesen werden kann. Ebenso wie der Bertroffene vor Übergriffen der Durchsuchungsbeamten sollen diese vor unberechtigten Vorwürfen des Betroffenen über die Art und Weise der Durchsuchung geschützt werden. Daher genügt es, wenn die Zeugen unmittelbar vor Beginn der eigentlichen Durchsuchungshandlung zugezogen werden ( B G H N J W 1963 1461). Die Beiziehung unterbleibt, wenn sie unmöglich ist. Eine absolute Unmöglichkeit wird nicht gefordert (RGRspr. 6 366). Abzustellen ist darauf, ob der Zeitverlust den Erfolg der Untersuchung vereiteln wird (RGSt. 55 166)7. Es entscheidet das pflichtmäßige Ermessen des durchsuchenden Beamten. Er handelt rechtswidrig, wenn er keine Ermessensprüfung anstellt (RG JW 1893 404), doch berührt das nicht die Verwertung des Untersuchungsergebnisses. Die Beiziehung kann unterbleiben, wenn Unterkünfte der in § 104 Abs. 2 genannten Art (4 zu § 104) durchsucht werden (Absatz 3). 5. Die Durchsuchung besteht in einer auf die Suche nach einer Person oder Sache gerichteten Besichtigung der Wohnung, der Geschäftsräume und des befriedeten Besitztums (4 zu § 102) sowie der darin befindlichen Sachen (5 Abs. 2 zu § 102), einschließlich der Kleidungsstücke, die der verdächtige (1 zu § 102) oder der unverdächtige Inhaber (1 zu § 103) an sich trägt, niemals jedoch des Körpers von Personen (5 zu § 102). Wegen der Vollstreckung gilt das III 4 zu § 98 Ausgeführte entsprechend. Doch kommen zusätzlich in Betracht die Sicherung von zu durchsuchenden Gebäuden und Grundstücken durch Abschließen, Verriegeln, Aufstellen von Wachen, das Erbrechen von Türen und Behältnissen, das Aufbrechen von Fußböden und Verschlägen, das Ablassen von Flüssigkeiten, das Ausleeren von Gruben und ähnliches. Kann der Zweck der Durchsuchung nur durch eine Zerstörung der Sache erreicht werden (bei Behältnissen mit doppelten Böden, bei Vieh, dem Beweismittel zum Verschlucken gegeben worden sind), so ist auch diese zulässig. Doch ist Zurückhaltung geboten, weil bei Fehlgriffen der Betroffene für die Aufopferung zu entschädigen ist. Die Gewaltanwendung gegen Sachen wird, um den Schaden gering zu halten, einem Handwerker zu übertragen sein, wenn nicht durch die dadurch verursachte Verzögerung der Untersuchungszweck vereitelt würde. Doch besteht dazu keine Verpflichtung; der Beamte hat über die Art der Gewaltanwendung nach pflichtgemäßen Ermessen zu entscheiden (RG JW 1892 194). 6. Verwirklichung der Durchsuchungsziele. Wird der Verdächtige (§ 102), der Beschuldigte (§ 103) oder der entwichene Gefangene (§ 104) gefunden, so ist er aufgrund des 6

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Bundesanwalt, Staatsanwalt, nicht Amtsanwalt, wie die Materialien ( H a h n 2 1621) ergeben; ebenso J o h n 1; a. A. M ü l l e r - S a x 3a aa. Beispiel: Die Notwendigkeit der Durchsuchung hat sich bei einer Vernehmung an Ort und Stelle herausgestellt. Der Beschuldigte hat das erkannt; es ist zu befürchten, daß er das Beweismittel vernichten werde.

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Achter Abschnitt. Beschlagnahme, Überwachung des Fernmeldeverkehrs und Durchsuchung (Dünnebier)

§ 105 Anm. 7, 8

Haft- oder Vorführungsbefehls, der Anlaß zu der Durchsuchung gegeben hat, zu verhaften oder, wenn noch kein Haftbefehl ergangen ist, vorläufig festzunehmen. Das weitere Verfahren regelt sich nach den §§ 114 ff., 457,463a. Grundlage für die Festnahme eines entwichenen Strafgefangenen ist die urkundliche Grundlage der Vollstreckung (§13 Abs. 2, § 14 Abs. 1 StVollstrO). Werden bei der Durchsuchung Beschlagnahmegegenstände (I zu § 94) gefunden, so beschlagnahmt sie der Durchsuchende, wenn er als Richter, Staatsanwalt oder Hilfsbeamter der Staatsanwaltschaft dazu zuständig ist; anderenfalls nimmt er die Sachen in vorläufige Verwahrung (I 2 zu § 98). Die Sachen sind alsbald, je nach Verfahrenslage, der Staatsanwaltschaft oder dem Gericht abzuliefern, Papiere (§ 110), mit Ausnahme der Geschäftspapiere, nur dem Richter. 7. Beschwerde. a) Statthaftigkeit. Die Anordnung der Durchsuchung wird in Abweichung von § 35 (I 4 zu § 100) regelmäßig nicht alsbald nach ihrem Erlaß dem Beschuldigten bekanntgemacht werden, wohl aber oft, im Falle der Durchsuchung bei Unverdächtigen stets (§ 106 Abs. 2), unmittelbar vor Beginn der Durchsuchung dem betroffenen Inhaber der zu durchsuchenden Räume oder Gegenstände; anderenfalls wird sie diesem mit dem Beginn der Durchsuchung bekannt. Dem Beschuldigten wird sie bekannt, wenn er selbst Inhaber des Durchsuchungsobjekts ist, oder wenn er auf andere Weise von ihr erfahrt. Die tatsächliche Möglichkeit der Beschwerde ist daher für den betroffenen Inhaber stets gegeben, für den Beschuldigten wird sie oft gegeben sein. Die Beschwerde ist auch nicht ausdrücklich ausgeschlossen. Sie ist daher gegen die richterliche Anordnung der Durchsuchung, wenn sie nicht von einem Strafsenat als Rechtsmittelgericht ausgesprochen wird (§ 304 Abs. 4), für die Prozeßbeteiligten und den betroffenen Inhaber statthaft, auch wenn die Entscheidung die eines erkennenden Gerichts ist. Zwar läßt § 305 Satz 2 Beschwerde gegen solche Entscheidungen ausdrücklich — neben anderen Fällen — nur bei der Beschlagnahme zu. Dem Zwecke der Vorschrift entsprechend muß sich die Ausnahme aber auf alle nach dem achten Abschnitt vorgenommenen Maßnahmen beziehen, die auf die Beschlagnahme abzielen (OLG Rostock A l s b. E l 238). Ist die Anordnung von einem Beamten ergangen, muß beim Fehlen einer gesetzlichen Regelung nach dem System der Bestimmungen der Antrag auf gerichtliche Entscheidung wie bei der Beschlagnahme (§ 98 Abs. 2 Satz 2) als statthaft angesehen werden. b) Zulässigkeit. Sowohl der vorgenannte Antrag als auch die Beschwerde ist aber dann unzulässig, wenn die Durchsuchung völlig abgeschlossen ist, und dadurch die begehrte Entscheidung die Durchsuchung nicht aufhalten kann 8 . Eine Beschwer läge alsdann nur vor, wenn bei Verneinung der Zulässigkeit der Durchsuchung deren Ergebnisse unverwendbar wären. Das ist nicht der Fall. Alsdann ist die Beschwerde für den Regelfall unzulässig. Das gilt auch dann, wenn sie zur Ergreifung einer Person oder zur Wegnahme von Sachen geführt hat. Die Beschwerde muß sich dann gegen den Haftbefehl, die Beschlagnahmeanordnung usw. richten. Die Beschwerde gegen die Durchsuchungsanordnung kann Bedeutung gewinnen, wenn mit erheblichem Zeitaufwand eine sehr große Einrichtung (Fabrik, Bürohaus) zu untersuchen ist, und dabei auf längere Zeit für Werks- oder Betriebsangehörige der Zugang zu dem Durchsuchungsobjekt beschränkt werden muß. 8. Die Revision kann nicht darauf gestützt werden, daß die Formen der Durchsuchung nicht beachtet worden seien, daß namentlich der Begriff der Gefahr im Verzug verkannt "I 2 h zu § 304; O L G Bremen M D R 1963 335 (in einer Haftsache); M ü l l e r - S a x 1 d; Kl 3, je zu § 304; a. A. OLG Rostock A l s b . E 1 238 mit der Begründung, daß nur die Ausführungshandlung, nicht aber die Anordnung erledigt und daher nicht undenkbar sei, daß die Durchsuchung aufgrund des nämlichen Beschlusses wiederholt werde. Grundsätzlich ist das und damit die Folgerung des Oberlandesgerichts auszuschließen. Eine beendete Durchsuchung kann ohne neuen Beschluß nicht wiederholt werden ( K l u g 75). Wird ausnahmsweise eine Durchsuchung — erkennbar — in Etappen durchgeführt und sind daher nach Abschluß der ersten Durchsuchungshandlung weitere zu erwarten, ist die Durchsuchung nicht abgeschlossen und damit die Beschwerde nicht überholt und zulässig.

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§ 106 Anm. 1,2

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

§ 107 sei, oder Zeugen oder Inhaber nicht zugezogen oder vorgeschriebene Eröffnungen unterblieben seien (BayObLGSt. 20 153).

§ 106 (1)Der Inhaber der zu durchsuchenden Räume oder Gegenstände darf der Durchsuchung beiwohnen. Ist er abwesend, so ist, wenn möglich, sein Vertreter oder ein erwachsener Angehöriger, Hausgenosse oder Nachbar zuzuziehen. (2) Dem Inhaber oder der in dessen Abwesenheit zugezogenen Person ist in den Fällen des § 103 Abs. 1 der Zweck der Durchsuchung vor deren Beginn bekanntzumachen. Diese Vorschrift gilt nicht für die Inhaber der in § 104 Abs. 2 bezeichneten Räume. 1. Zuziehung Beteiligter. In § 105 Abs. 2 ist die Zuziehung von Zeugen verordnet. §106 befaßt sich mit der Beteiligung des von der Durchsuchung unmittelbar Betroffenen. Inhaber ist, wer die zu durchsuchenden Räume tatsächlich innehat. Auf die rechtliche Befugnis zur Innehabung kommt es nicht an. Der Inhaber „ d a r f der Untersuchung beiwohnen, doch ergibt Satz 2, daß auf seine Anwesenheit Gewicht zu legen ist. Der durchsuchende Beamte wird daher versuchen, in erster Linie ihn heranzuholen, wenn er abwesend ist, doch braucht er dadurch die Durchsuchung nicht zu verzögern. Hat der Raum mehrere Inhaber, so sind sie alle gleichberechtigt ( M ü l l e r - S a x 1 a). Der Inhaber kann in den Fällen des § 164 und der §§ 180, 177 GVG entfernt werden (RGSt. 33 251). Ist er nicht anwesend, so ist — in der angegebenen Reihenfolge ( K a u f m a n n 115) — sein Vertreter (Vizewirt, Verwalter), ein erwachsener Angehöriger (II 4 Abs. 2 zu § 98), Hausbewohner oder Nachbar zuzuziehen. Die Beiziehung von Zeugen ist schon in § 105 Abs. 2 geregelt. Daher muß den hier genannten Personen eine andere Rolle zukommen. Da sie anstelle des abwesenden Inhabers zuzuziehen sind, kann ihre Funktion nur darin bestehen, daß sie die Rechte eines Beistandes (§ 149) haben und damit die Rechte des Inhabers wahrnehmen. Von der Zuziehung kann abgesehen werden, wenn sie unmöglich (4 zu § 105) ist, doch gilt die Vorschrift auch für die Unterkünfte des § 104 Abs. 2. Der Beschuldigte und sein Verteidiger haben keinen Anspruch, an der Durchsuchung teilzunehmen, es sei denn, daß der Beschuldigte der anwesende Inhaber der zu durchsuchenden Räume ist oder daß mit der Durchsuchung eine vorweggenommene Beweisaufnahme durch Augenschein (§ 193) verbunden wird, von der der Beschuldigte wiederum durch § 193 Abs. 4 ausgeschlossen sein kann. Der Staatsanwalt hat. da er selbst zu den Anordnungsberechtigten gehört, immer ein Anwesenheitsrecht, auch wenn ihm im Einzelfall, weil keine Gefahr im Verzug besteht, kein Anordnungsrecht zusteht und gleichgültig, ob der Richter bei der Anordnung mitwirkt oder nicht. Dem Privatkläger, Nebenkläger und ihren Anwälten steht kein Teilnahmerecht zu. 2. Bekanntmachung (Absatz 2). Wird die Durchsuchung bei einem Unverdächtigen (§ 103) und nicht in den in § 104 Abs. 2 genannten Unterkünften vorgenommen, dann ist dem Inhaber oder dem an seiner Stelle Zugezogenen vor der Durchsuchung deren Zweck bekanntzumachen. Durch die Bekanntmachung kann erreicht werden, daß der Gewahrsamsinhaber die Sachen, nach denen gesucht wird, freiwillig herausgibt oder wenigstens zur Beschlagnahme offenlegt, so daß die Durchsuchung vermieden wird. Bei anderen Durchsuchungen kann die Bekanntmachung unterbleiben. Sie ist aber nicht ausgeschlossen, wenn durch sie der Untersuchungszweck nicht gefährdet wird; sie ist empfehlenswert, wenn zu erwarten steht, daß sie die Durchsuchung überflüssig machen werde.

§ 107 Dem von der Durchsuchung Betroffenen ist nach deren Beendigung auf Verlangen eine schriftliche Mitteilung zu machen, die den Grund der Durchsuchung (§§ 102, 103) sowie im Falle des § 102 die strafbare Handlung bezeichnen muß. Auch ist ihm auf Verlangen ein Verzeichnis der in Verwahrung oder in Beschlag genommenen Gegenstände, falls aber nichts Verdächtiges gefunden wird, eine Bescheinigung hierüber zu geben. 628

nm Achter Abschnitt. Beschlagnahme, Überwachung ® ' ' des Fernmeldeverkehrs und Durchsuchung (Dünnebier) S lUö Anm. 1—3

1. Mitteilung. Dem von der Durchsuchung Betroffenen, d. i. der verdächtige (§ 102) oder unverdächtige (§ 103) Inhaber der Wohnung, des Geschäftsraumes, des befriedeten Besitztums oder der Sachen, ist nach der Durchsuchung Mitteilung zu machen über deren Grund, beim Verdächtigen auch über die strafbare Handlung, wegen deren Verdacht die Durchsuchung stattgefunden hat. In beiden Fällen ist dem Betroffenen ein Verzeichnis der weggenommenen Gegenstände oder eine Bescheinigung zu geben, daß nichts gefunden worden ist. Haben die Räume mehrere Inhaber, so hat jeder Inhaber den Anspruch für sich. Ist der Inhaber abwesend, kann die nach § 106 Abs. 1 Satz 2 zugezogene Person das Verlangen stellen da sie als Beistand seine Rechte wahrnehmen kann. Gebühren werden für die Mitteilung, das Verzeichnis und die Bescheinigung nicht erhoben. 2. Zeitpunkt. Mitteilung, Verzeichnis und Bescheinigung sind nach der Untersuchung, doch nicht notwendig an Ort und Stelle und am gleichen Tage zu erteilen, wenn es auch der Sinn des Gesetzes ist, das Verzeichnis der Beschlagnahmegegenstände alsbald auszufertigen und auszuhändigen.

§ 108 Werden bei Gelegenheit einer Durchsuchung Gegenstände gefunden, die zwar in keiner Beziehung zu der Untersuchung stehen, aber auf die Verübung einer anderen strafbaren Handlung hindeuten, so sind sie einstweilen in Beschlag zu nehmen. Der Staatsanwaltschaft ist hiervon Kenntnis zu geben. 1. Inhalt. Die Vorschrift will sicherstellen, daß der durchsuchende Beamte nicht wegen der Beschränkung der Durchsuchung seine Augen verschließen muß, wenn er verdächtige Gegenstände findet, die mit der Untersuchung, in der die Durchsuchung stattfindet, in keinem Zusammenhang stehen. Man wird die Bestimmung als eine ausreichende Eingriffsunterlage ansehen dürfen. Zwar ist die Durchsuchung nicht wegen der Zufallsfunde angeordnet worden; aber sie sind anläßlich einer rechtmäßigen Untersuchung entdeckt worden. Für ihre einstweilige Sicherstellung wird Gefahr im Verzug gleichsam gesetzlich vermutet. Die angeordnete Durchsuchung bietet jedoch keine Grundlage dafür, anläßlich einer Durchsuchung auch nach Gegenständen Umschau zu halten, die vielleicht Anlaß sein könnten, ein weiteres Strafverfahren einzuleiten. Demzufolge darf auch keine Anordnung ergehen, das zu tun. Auch die Beschlagnahme etwa gefundener Gegenstände darf in dem Verfahren, in dem die Sachen einstweilen in Beschlag genommen worden sind, nicht angeordnet oder bestätigt werden 1 ; das ist allein Sache des Richters, der für das neue Verfahren zuständig ist. Denn der die Durchsuchung anordnende Richter oder Beamte kann das neue Verfahren und in der Regel auch nicht beurteilen, ob er für die neue Sache zuständig sein wird. Werden Gegenstände gefunden, die auf die Verübung einer anderen strafbaren Handlung hindeuten, so darf nach weiteren Beweismitteln für diese Straftat nur gesucht werden, wenn — allerdings auch stillschweigend — wegen der neuen Straftat eine Untersuchung eingeleitet wird, und die Voraussetzungen der §§ 102, 103 auch in bezug auf die neue Straftat vorliegen. 2. Untersuchung ist hier nicht in dem üblichen engeren (II 1 zu § 94), sondern dem weiteren Sinne in der Weise zu verstehen, daß auch das Stadium des noch nicht auf einen bestimmten Beschuldigten konkretisierten Verdachts und der Vollstreckung darunter mit verstanden wird (2a zu § 102). 3. Gegenstände. Die von der Vorschrift umfaßten Gegenstände brauchen auf die Verübung einer anderen strafbaren Handlung als derjenigen, wegen der die Untersuchung geführt wird, nur hinzudeuten. Sie müssen nicht offensichtlich als Beweismittel oder Ein' 1 zu § 1 0 6 ; M ü l l e r - S a x 2; Kl 1; K a u f m a n n 115; a. A. E b S c h m i d t 2; F e i s e n b e r g e r Anm. zu § 107, die die Beistandsrolle der zugezogenen Person verkennen. 1

A. A. — Bestätigung der Beschlagnahme in dem bereits anhängigen Verfahren ist unschädlich — BGHSt. 19 376.

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§ 1 0 8 Anm. 4, 5

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

§ 109 Ziehungsgegenstände erkennbar sein, doch muß die naheliegende Möglichkeit bestehen, daß sie solche Gegenstände sind. Bei den Beweismitteln besteht die Bedeutsamkeit für die Untersuchung in der anderen Sache, wie allgemein, auch dann schon, wenn eine noch zu schaffende Verfahrensvoraussetzung noch nicht eingetreten ist (II 2 zu § 94). Ist ein Gegenstand in dem Verfahren, in dem die Durchsuchung stattfindet, nach § 97 vor der Beschlagnahme geschützt, so kann er gleichwohl wegen seiner Bedeutsamkeit für die andere strafbare Handlung vorläufig verwahrt werden, wenn er nicht erkennbar auch in der anderen Sache geschützt ist (RGSt. 47 198). Ist das der Fall, darf er in der neuen Sache nicht vorläufig sichergestellt werden; die Beschlagnahmeverbote des § 97 gelten auch im Falle des § 108. In der Sache, in der die Durchsuchung stattfindet, darf er keineswegs verwendet, ja in den Akten nicht erwähnt werden. 4. Einstweilige Beschlagnahme. Bei der einstweiligen Beschlagnahme handelt es sich richtiger um eine vorläufige Verwahrung (I 2 zu § 98), da zunächst nicht mehr als eine Sicherstellung ohne nähere Prüfung in Rede steht. Zu dieser vorläufigen Sicherung sind alle mit der Durchsuchung befaßten Richter oder Beamte zuständig, Beamte auch dann, wenn sie keine Hilfsbeamten der Staatsanwaltschaft sind. Die Vorschrift enthält eine Vermutung der Gefahr im Verzug, weil der von der Durchsuchung Betroffene durch sie gewarnt wird. Die Gefahr im Verzug ist daher niemals nachzuweisen, weder von dem durchsuchenden Amtsrichter noch von dem Staatsanwalt oder seinen Hilfsbeamten; § 98 Abs. 1, § 164 finden keine Anwendung, wohl aber § 9 7 (V 3 Abs. 2 zu § 97). Über die Sicherstellung in anderer Sache fertigt der sicherstellende Beamte einen Aktenvermerk, den er, getrennt von der Sache, in der die Durchsuchung stattfindet, aber unter Hinweis auf sie, der Staatsanwaltschaft zuleitet. 5. Weitere Behandlung. Der Staatsanwalt ist, da in der Regel ein neues Ermittlungsverfahren einzuleiten sein wird, von der vorläufigen Verwahrung in Kenntnis zu setzen. Dazu sind ihm die Vorgänge der Polizei zu übersenden und die Beweismittel zur Verfügung zu stellen. Der Staatsanwalt kann die Sachen alsbald freigeben. Ist der für die andere Sache zuständige Staatsanwalt bei der Durchsuchung anwesend, dürfen die Sachen nicht ohne sein Einverständnis verwahrt werden, da er die Verwahrung alsbald aufheben könnte. Werden die Sachen nicht alsbald freigegeben, ist ihre Beschlagnahme herbeizuführen. Da zufolge der vorläufigen Verwahrung keine Gefahr im Verzug vorliegen kann, ist zur Beschlagnahme allein der Richter der neuen Sache zuständig. Der Richter der Sache, in der die Durchsuchung stattfindet, ist auch nicht berechtigt, die Beschlagnahme zu „bestätigen" 2. Nur wenn der Richter selbst durchsucht und auch für die andere Strafsache zuständig ist, kann er anstelle der vorläufigen Verwahrung auch alsbald die endgültige Beschlagnahme aussprechen, wenn der Staatsanwalt das beantragt oder nach der Verfahrenslage (in der anderen Sache ist bereits Anklage erhoben) ein Antrag der Staatsanwaltschaft entbehrlich ist. Wegen des Verfahrens und der Zuständigkeit gelten die allgemeinen Vorschriften. Wegen des Antrags auf gerichtliche Entscheidung über die vorläufige Verwahrung s. IV 1 zu § 98. Bei ordnungsmäßiger Behandlung wird der Antrag durch die Beschlagnahme in der neuen Sache überholt. Wird es pflichtwidrig unterlassen, die Gegenstände zu dem neuen Verfahren zu geben und sie dort zu beschlagnahmen, so ist die vorläufige Verwahrung in der Ursprungssache unzulässig, sobald bei ordnungsmäßiger Bearbeitung die Abgabe zu dem neuen Verfahren hätte veranlaßt werden können (BGHSt. 19 376).

§ 109 Die in Verwahrung oder in Beschlag genommenen Gegenstände sind genau zu verzeichnen und zur Verhütung von Verwechslungen durch amtliche Siegel oder in sonst geeigneter Weise kenntlich zu machen. 2

A . A . — ohne Begründung — B G H S t . 19 376. Richterliche Bestätigung verlangt auch (95), doch sagt er nicht, vom Richter welcher Sache.

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Klug

Achter Abschnitt. Beschlagnahme, Überwachung § 109 Anm. 1,2 des Fernmeldeverkehrs und Durchsuchung (Dünnebier) § 110 Anm. 1 1. Geltungsbereich. Obwohl die Vorschrift sich ihrer Stellung nach an § 107 Satz 2 und § 108 anschließt, bezieht sie sich wegen ihres allgemeinen Inhalts auf alle Fälle der Verwahrung (IV 2 zu § 94), der Sicherstellung in anderer Weise (IV 4 zu § 94), der vorläufigen Verwahrung (I 2 zu § 98) und der Beschlagnahme (I 1 zu § 98). 2. Inhalt. Die Bestimmung ist eine Ordnungsvorschrift. Ihre Verletzung hat prozessual keine Folgen, kann aber bei Schadensersatzforderungen Bedeutung gewinnen. Sie gehört daher eher in die Richtlinien für das Straf- und Bußgeldverfahren oder in die Aktenordnung als in die Strafprozeßordnung. In § 9 AktO sind denn auch die Einzelheiten über die Liste der Überführungsstücke (in die auch Einziehungsgegenstände aufzunehmen sind) und die Kenntlichmachung der Verwahrstücke geregelt

§ 110 (1) Eine Durchsicht der Papiere des von der Durchsuchung Betroffenen steht nur dem Richter, die Durchsicht der Geschäftspapiere, die nach Gesetz aufzubewahren sind, auch der Staatsanwaltschaft zu. (2) Andere Beamte sind zur Durchsicht der aufgefundenen Papiere nur dann befugt, wenn der Inhaber die Durchsicht genehmigt. Andernfalls haben sie die Papiere, deren Durchsicht sie für geboten erachten, in einem Umschlag, der in Gegenwart des Inhabers mit dem Amtssiegel zu verschließen ist, an den Richter oder die Staatsanwaltschaft abzuliefern. (3) Dem Inhaber der Papiere oder dessen Vertreter ist die Beidriickung seines Siegels gestattet; auch ist er, falls demnächst die Entsiegelung und Durchsicht der Papiere angeordnet wird, wenn möglich, zur Teilnahme aufzufordern. (4) Der Richter hat die zu einer strafbaren Handlung in Beziehung stehenden Papiere der Staatsanwaltschaft mitzuteilen. Spätere Änderungen: Die auf die Staatsanwaltschaft bezüglichen Einschübe hinter dem Wort „Richter" in den Absätzen 1 und 2 beruhen auf Art. 2 Nr. 4 EGOWiG. 1. Inhalt. Die Vorschrift hat nicht sämtliche Papiere eines einmal von einer Durchsuchung Betroffenen im Auge, die zu irgendeinem Zeitpunkt in den Gewahrsam der Polizei, der Staatsanwaltschaft oder des Gerichts gelangen. Sie bezieht sich, wie ihrer Stellung und ihrem Sinn und ihrem Wortlaut (des von der Durchsuchung Betroffenen; aufgefundene Papiere) zu entnehmen ist, nur auf solche Papiere, die bei der Durchsuchung bei einem Verdächtigen (§ 102) oder einem Unverdächtigen (§ 103) aufgefunden worden sind, und die als Beweismittel für das Verfahren (die Untersuchung; 2 zu § 108), in dem die Durchsuchung stattgefunden hat, in Betracht kommen oder in diesem Verfahren der Einziehung unterliegen, sowie auf Papiere, die zu jenem Verfahren zwar in keiner Beziehung stehen, aber bei Gelegenheit einer Durchsuchung im Verfahren gefunden worden sind und auf die VerÜbung einer anderen strafbaren Handlung hindeuten (§ 108)'. Auf geschützte Papiere (§ 97) darf die Durchsuchung nicht erstreckt werden (4 Abs. 2 zu § 103), doch läßt sich den Papieren diese Eigenschaft oft nicht ansehen. Eine an sich zulässige Glaubhaftmachung, z.B. durch Einsicht in Anschrift und Unterschrift ( K a u f m a n n 146) wird zuweilen nicht ausreichend sein; oft aber wird der durchsuchende 1

K l u g (92) erachtet die Einhaltung des § 109 als für die Rechtswirksamkeit einer Beschlagnahme konstitutiv. Damit wird das Verhältnis der vorläufigen „Beschlagnahme" (richtiger Sicherstellung) zur endgültigen Beschlagnahme in der neuen Sache nach § 98 verkannt. D i e s e ist nur wirksam, soweit die Beschlagnahmegegenstände genau bezeichnet sind. § 109 soll sicherstellen, daß das geschehen kann. Ist die Liste schlecht oder gar nicht aufgestellt, müssen Staatsanwalt und Richter die Arbeit der Polizeibeamten nachholen. Die Wirksamkeit des Beschlagnahmebeschlusses aber hängt von seinem Inhalt ab, nicht von vorbereitenden Papieren.

1

A. A. — § 110 ist immer da anwendbar, wo dem Inhaber Papiere wider seinen Willen entzogen worden sind — E b S c h m i d t Nachtr. 2 8.

631

§ 110

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

Anm. 2, 3 Beamte nicht beurteilen können, ob sie ausreichend ist. Der Richter hat daher nach der äußeren Besichtigung und aufgrund einer etwa erbrachten Glaubhaftmachung erneut zu prüfen, ob die aufgefundenen Papiere geschützt sind. Kann er das erkennen, hat er sie alsbald ohne Durchsicht herauszugeben. Kann er diese Erkenntnis nicht erlangen, muß er aber damit rechnen oder weist ihn der Gewahrsamsinhaber auf die Eigenschaft der Papiere hin, so wird er durch Teileinsicht versuchen, dem Schutz des § 97 Rechnung zu tragen. Kann er das nicht, ist er befugt, die Papiere ganz durchzulesen (RGSt. 47 197). Erlangt er erst bei der Durchsicht oder an deren Schluß die Erkenntnis, daß die Papiere geschützt sind, so darf er ihren Inhalt niemandem offenbaren. Wird er erkennender Richter, so darf er sein Wissen von dem Inhalt der Papiere nicht verwerten 2 . Kann er seine Befangenheit nicht ausschließen, so hat er Anzeige nach § 30 zu machen. In dieser darf er nur seine Befangenheit zufolge der Durchsicht der Papiere, aber nichts über deren Inhalt angeben. 2. Der Begriff Papiere ist, wie das verwendete Wort anzeigt, und nach dem Sinn der Vorschrift, die Geheimsphäre zu schützen, sehr weit auszulegen. Danach umfaßt die Vorschrift alles auf Papier Geschriebene und Gedruckte, also über die Mitteilungen (II 1 zu § 97) und Aufzeichnungen (II 2 zu § 97) hinaus alle Schriftstücke (II 4 zu 97) und Druckwerke, gleichviel ob sie vertraulich oder nicht, verschlossen oder offen sind, und wem sie gehören, wenn sie nur im Gewahrsam des Betroffenen stehen. Namentlich fallen hierunter auch Handlungs- und Rechnungsbücher, als Manuskript oder Privatdruck gedruckte Bücher (a. A. Eb S c h m i d t Nachtr. 2 7), Orts- und Lageskizzen, Werkzeichnungen und dgl. Dem Sinn der Vorschrift entsprechend sind Mitteilungen und Aufzeichnungen auch dann geschützt, wenn sie nicht mehr wie zur Zeit der Schaffung der Strafprozeßordnung auf Papier, sondern auf anderen Mitteln dargestellt sind, namentlich also Fotografien, Filme, auch Mikrofilme. Tonträger, Lochkarten und -streifen, Magnetbänder und dgl. Dagegen sind ausgenommen im Handel erhältliche Bücher und sonstige Drucksachen und alle Werke (Gemälde, Collagen, Zeichnungen, Graphiken) der schönen Kunst, auch wenn sie auf Papier gebracht worden sind ( E b S c h m i d t Nachtr. 2 7). Welche Geschäftspapiere nach Gesetz aufzubewahren sind, ist nicht allgemein festzulegen, sondern den Einzelgesetzen zu entnehmen. Der Wortlaut ( n a c h Gesetz) scheint solche Geschäftspapiere von der Durchsicht durch den Staatsanwalt auszuschließen, deren Führung nicht im Gesetz, sondern kraft Gesetzes in einer Verordnung angeordnet ist 3 . Das wäre sinnwidrig. Im Gesetz selbst ist die Führung der wichtigsten Bücher vorgeschrieben. Wenn der Staatsanwalt diese durchsehen darf, muß ihm auch erlaubt sein, die — meist minder wichtigen — durchzusehen, deren Führung aufgrund eines Gesetzes in einer Verordnung vorgesehen ist. Den Hauptfall behandelt § 44 HGB. Danach sind aufzubewahren Handelsbücher, Inventare, Bilanzen, empfangene Handelsbriefe und „Wiedergaben" 4 der abgesandten sowie Buchungsbelege. Bedeutsam sind Trödlerbücher 5 , Arbeitsnachweise 6 , Prüfungsbücher 7 u. ähnliches. 3. Durchsicht. Absatz 2 Satz 1 bringt den allgemeinen Gedanken zum Ausdruck, daß die Einwilligung in die Verletzung von Schutzvorschriften möglich ist. Die Einwilligung kann nur der Gewahrsamsinhaber selbst erteilen. Die Genehmigung des nach § 106 Abs. 1 Satz 2 zugezogenen Vertreters genügt nicht. Das ergibt sich aus dem Wortlaut der Vorschrift — vgl. den Unterschied zu der Fassung des Absatzes 3 — wie auch aus der Erwägung, daß nur der Gewahrsamsinhaber selbst über seine Geheimsphäre verfügen kann ( E b S c h m i d t l ) . 2 3 4

5 6

7

N i e s e 141; E b S c h m i d t 4. Beispiel: § 38 GewO. Kopie, Abdruck, Abschrift oder sonstige dauerhafte Wiedergabe des Wortlauts auf einem Schriftoder Bildträger (§ 38 Abs. 2 HGB), auch — ebenso bei den Buchungsbelegen — als Mikrokopie (§ 44 a HGB). § 6 des Gesetzes über den Verkehr mit unedlen Metallen ( E r b s M 53). § 22 Abs. 2 Nr. 2 des Ladenschlußgesetzes ( E r b s L 13); § 59 Abs. 1 Nr. 2 des Jugendarbeitsschutzgesetzes ( E r b s J 212). § 7 Abs. 6 der Apothekenbetriebsordnung vom 7. 8. 1968 - BGBl. I 939 - .

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Achter Abschnitt. Beschlagnahme, Überwachung des Fernmeldeverkehrs und Durchsuchung (Dünnebier)

§ 110 Anm. 4, 5

Die Einwilligung kann auf gewisse Beamte und auf bestimmte Schriftstücke beschränkt und, soweit die Durchsicht noch nicht stattgefunden hat, jederzeit widerrufen werden. Ohne Einwilligung ist dem durchsuchenden Beamten lediglich eine äußere Besichtigung gestattet. Sie wird ihm oft die Entschließung gestatten, daß keine Durchsicht geboten ist. Kann er diese Entscheidung nicht treffen, hat er die Papiere dem Richter, Geschäftspapiere, wenn er sie als solche erkennen kann, dem Staatsanwalt abzuliefern. Hat der Staatsanwalt die Durchsuchung selbst durchgeführt oder geleitet, kann er Geschäftspapiere selbst durchsehen. Die Rechte des Staatsanwalts haben nach § 439 A O die Zoll- und Steuerfahndungsstellen, wenn der Richter die Durchsuchung angeordnet hatte. Führt das Finanzamt (Hauptzollamt) die Ermittlungen in Steuersachen selbst durch, hat es auch sonst die Rechte, die der Staatsanwalt im Ermittlungsverfahren hat. Kann der durchsuchende Beamte oder der Staatsanwalt nicht entscheiden, ob die Papiere Geschäftspapiere sind, hat er sie dem Richter abzuliefern. Der Richter sieht mit eigenen Augen die Papiere daraufhin durch, ob sie als Beweismittel für die Untersuchung (2 zu § 108) von Bedeutung sein können oder der Einziehung unterliegen (§ 94). Er kann sich der Hilfe von Dolmetschern und von Sachverständigen bedienen. Er kann sich z. B. durch Buchsachverständige über den Beweiswert von Handelsbüchern, durch Hollerithsachverständige über den Sinn und Beweiswert von Lochkarten beraten, von Archivaren Tagebücher entziffern lassen usw. Kann er bei Negativfilmen den Beweiswert oder die Eigenschaft als Einziehungsgegenstand nicht erkennen, kann er sich Positive anfertigen lassen. Tonträger, deren Inhalt er nicht im Gedächtnis behalten kann, kann er in Maschinenschrift übertragen lassen. Er ist auch befugt, in Zweifelsfallen die Stellungnahme des Staatsanwalts einzuholen. Findet der Richter bei der Durchsicht Papiere usw., die zwar in keiner Beziehung zu der Untersuchung stehen, aber auf die Verübung einer anderen strafbaren Handlung hindeuten, so verfahrt er mit ihnen nach § 108. Wegen der Zuständigkeit gilt das II 1 zu § 98 Ausgeführte entsprechend. 4. Versiegelung. Auf dem Weg vom wegnehmenden Beamten zum durchsehenden Richter oder Staatsanwalt müssen die Papiere versiegelt befördert werden. Der Gewahrsamsinhaber kann der Versiegelung (Abs. 2 Satz 2) und der Entsiegelung (Abs. 3) beiwohnen. Die Versiegelung ist in seiner Gegenwart vorzunehmen, falls er anwesend ist; zur Teilnahme an der Entsiegelung ist er, auch wenn er kein Privatsiegel abgebracht hat, aufzufordern, es sei denn, daß dies, etwa weil sein Aufenthalt unbekannt, unmöglich ist. Ist der Inhaber bei der Versiegelung nicht anwesend, so ist der nach § 106 Abs. 1 Satz 2 zugezogene Vertreter zuzuziehen; für die Entsiegelung gilt das nicht. Leitet der Richter die Durchsuchung selbst, so braucht er die Papiere selbst dann nicht zu versiegeln, wenn er sie zur Durchsicht mitnimmt, doch muß er das tun, wenn er einen anderen, etwa den Urkundsbeamten, mit dem Transport beauftragt oder wenn er die Papiere vor der Durchsicht in der Geschäftsstelle verwahren will. Das gleiche gilt für den Staatsanwalt in bezug auf Geschäftspapiere. 5. Das Verfahren nach der Durchsicht ist in Absatz 4 nur unvollkommen dargestellt. Diejenigen Papiere, die weder in der Sache, in der die Durchsuchung stattgefunden hat, als Beweismittel oder als Einziehungsgegenstände in Betracht kommen, noch auf die VerÜbung einer anderen strafbaren Handlung hindeuten (§ 108), hat der Richter herauszugeben. Die als Beweis- und Einziehungsgegenstände in Betracht zu ziehenden Papiere sind in der Regel auch nicht schlicht der Staatsanwaltschaft mitzuteilen. Meistens wird diese mit dem Antrage, die Durchsuchung anzuordnen, den weiteren Antrag verbunden haben, die vorgefundenen Beweis- oder Einziehungsstücke zu beschlagnahmen, so daß der Richter nach Aussonderung, soweit er nicht die Rückgabe anordnet, die Beschlagnahme auszusprechen hat. Ggf. hat er, da die Sachen nicht unbeschlagnahmt dem Berechtigten entzogen werden können, einen Antrag der Staatsanwaltschaft anzuregen, und wenn er ausbleibt, die Papiere zurückzugeben. Die Beschlagnahme ist auch auszusprechen, wenn die Durchsuchung vom erkennenden Gericht angeordnet war. D a n n kommt, wenn die gefundenen Sachen zur anhängigen Untersuchung gehören, auch keine Abgabe an die Staatsanwaltschaft in Betracht.

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§ 111 Anm. 1

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

Der Staatsanwaltschaft abzugeben sind die Papiere nach Beschlagnahme, wenn die Voruntersuchung oder das Hauptverfahren noch nicht eröffnet worden ist (wegen der besonderen Verfahrensarten s. I 3 zu § 12), namentlich auch im Falle des § 108. Gibt das Gericht Papiere an die Staatsanwaltschaft ab, ohne eine Beschlagnahme auszusprechen — ein Fall, der nur selten vorkommen sollte —, so hat die Staatsanwaltschaft alsbald zu prüfen, ob die Papiere als Beweismittel oder als Einziehungsgegenstand benötigt werden. Verneinendenfalls hat sie die Papiere sofort herauszugeben, bejahendenfalls hat sie bei Gericht Antrag auf Beschlagnahme zu stellen. Da zufolge des behördlichen Besitzes an den Papieren keine Gefahr im Verzug vorliegen kann, für eine Beschlagnahme durch den Staatsanwalt kein Raum. Bis zur Beschlagnahme sind die Sachen in vorläufige Verwahrung (I 2 zu § 98) zu nehmen. Der Staatsanwalt hat mit den Geschäftspapieren in gleicher Weise zu verfahren wie der Richter. Geschäftspapiere, die für das Verfahren nicht gebraucht werden, gibt er alsbald zurück, wegen der für das Verfahren benötigten veranlaßt er die richterliche Beschlagnahme. Die Geschäftspapiere und Schriften, die das Gericht als Beweismittel oder als Einziehungsgegenstände beschlagnahmt oder nach § 108 vorläufig verwahrt hat, oder die es — in seltenen Fällen — ohne Beschlagnahme an die Staatsanwaltschaft abgibt, gelangen nunmehr offen in den Geschäftsverkehr, doch können in geeigneten Fällen Sicherungen veranlaßt sein, um den Einblick in vertrauliche Schriftstücke soweit als möglich einzuschränken.

§

111

(1) Gegenstände, die durch die strafbare Handlung dem Verletzten entzogen wurden, sind, falls nicht Ansprüche Dritter entgegenstehen, nach Beendigung der Untersuchung und geeignetenfalls schon vorher von Amts wegen dem Verletzten zurückzugeben, ohne daß es eines Urteils hierüber bedarf. (2) Dem Beteiligten bleibt vorbehalten, seine Rechte im Zivilverfahren geltend zu machen. Schrifttum: B e t h k e , Von der Rückgabe beschlagnahmter Gegenstände an den Verletzten, DStRZ 1916 386; B o h m e y e r , Die Rückgabe von Überführungsstücken, GA 74 191, 342; D r e y f u s , Die Rückgabe der in staatlicher Verwahrung befindlichen Gegenstände an den Verletzten, ZStW 36 60; F r a e b , Auslegung und Anwendung des § 111 StPO und die Reform, ZStW 31 899; L e d s c h b o r , Die Rückgabe beschlagnahmter Gegenstände, Diss. Köln 1931; P f l e i d e r e r , Die strafbehördliche Rückgabe von Sachen an den Verletzten nach § 111 StPO, Diss. Thür. 1911. 1. Inhalt. Verwahrte Gegenstände sind, sobald sie für das Verfahren entbehrlich werden, dem letzten Gewahrsamsinhaber zurückzugeben; Gegenstände, die in anderer Weise sichergestellt sind, für diesen freizugeben (V 4 zu § 98). Da der Staat sich nicht an der Aufrechterhaltung eines rechtswidrigen Zustandes beteiligen kann, verbietet die Vorschrift die Rückgabe oder Freigabe, wenn die Gegenstände dem durch die Tat Verletzten durch eine strafbare Handlung entzogen worden sind. Das Gesetz geht aber über ein bloßes Rückgabeverbot hinaus. Denn der Verletzte würde es in der Regel nicht verstehen können, daß er eine ihm widerrechtlich entfremdete Sache, die sich in der Hand des Staates befindet, der dem Täter wegen dieser Widerrechtlichkeit den Prozeß macht, zivil- oder verwaltungsrechtlich herausklagen müßte. Die Bestimmung ordnet daher, um dem Rechtsgefühl des Verletzten entgegenzukommen ( D r e y f u s 60), an, daß die ihm durch strafbare Handlung entzogenen Sachen nicht dem Beschuldigten als dem letzten unberechtigten Gewahrsamsinhaber zurückgegeben werden, sondern dem Verletzten auszuhändigen sind als demjenigen, der zuletzt rechtmäßiger Besitzer der Sache war. Das Verfahren ist eine Art summarischen Adhäsionsverfahrens ( F r a e b 899). Als vorläufige Regelung (Absatz 2) läßt es das Eigentum unbeachtet; die richterliche Entscheidung ist vielmehr eine vorläufige Regelung des Besitzstandes (Mot. H a h n 1 129), durch welche die Besitzlage so wiederhergestellt wird, wie sie vor der strafbaren Handlung bestanden hatte. 634

Achter Abschnitt. Beschlagnahme, Überwachung des Fernmeldeverkehrs und Durchsuchung (Dünnebier)

§ 111 A n m . 2, 3

2. Gegenstände. Der Begriff knüpft an § 94 an und umfaßt die dort genannten Beweismittel und Einziehungsgegenstände, die ja auch die einzigen Gegenstände sein können, die bei richtiger Anwendung des Gesetzes in amtlichen Gewahrsam gelangen können. D a jedoch auch für Gegenstände, die die vorgenannte Eigenschaft nicht haben, die amtliche Verwahrung beendet werden muß, findet § 111 auch Anwendung, wenn die Eigenschaft als Beweismittel oder Gegenstand der Einziehung versehentlich angenommen worden ist oder wenn Gegenstände verwahrt worden sind, obwohl ihnen diese Eigenschaft abgeht, wie dies bei Diebesgut zuweilen der Fall ist. Gegenstände sind bewegliche und unbewegliche Sachen, schuldrechtliche Forderungen und dingliche Rechte ( I 1 zu § 94), doch wird die Vorschrift in der Regel nur bei, meist beweglichen, Sachen praktisch werden. D a die Vorschrift von der Rückgabe der Gegenstände handelt, setzt sie die Verfügungsgewalt der Behörde voraus. Diese muß die Verfügungsgewalt über die Sache v o m Beschuldigten oder von dem, der die Sache wiederum durch strafbare Handlung, z. B. Hehlerei ( R G S t . 19 98), Diebstahl beim Bestohlenen ( L e d s c h b o r 18) erlangt hat, durch freiwillige Herausgabe erhalten oder durch Beschlagnahme erzwungen haben. A u f die Fälle der Beschlagnahme beschränkt ist § 111 nicht ( O L G Dresden L Z 1925 383; B o h m e y e r 199); denn für die Regelung der Besitzlage kann es keinen Unterschied machen, ob die Sache dem Beschuldigten weggenommen werden mußte oder ob er sie, um die Wegnahme zu vermeiden, freiwillig herausgegeben hat. Dagegen findet die Vorschrift keine Anwendung, wenn die Sache von einem anderen als dem Beschuldigten oder einem nachfolgenden Straftäter, freiwillig oder durch Beschlagnahme, in den Besitz der Behörde gelangt ist ( B a y O b L G S t . 13 4 0 7 ) O b und wie der Bestohlene sich gegenüber einem gutgläubigen Erwerber verhält, muß ihm überlassen bleiben; für eine Besitzregelung von Amts wegen ist kein Raum. Allerdings wird die Behörde, ehe sie die Sache an den Dritten herausgibt, dem Verletzten Gelegenheit zu geben haben, seine Rechte, etwa durch Ausbringen einer einstweiligen Verfügung, geltend zu machen ( N r . 65 Abs. 4 RiStBV). Sind die Gegenstände schon, etwa von der Polizei, herausgegeben, ist keine Grundlage für ein Verfahren nach § 111 gegeben. Denn dieses dient einer vorläufigen Besitzregelung; die Entscheidung, ob der Empfänger den Besitz zu Recht erhalten hat, ist Sache des Zivilrechtsverfahrens ( O L G Nürnberg HESt. 2 85). 3. Herkunft der Sache. Die Vorschrift regelt die Rückgabe von Sachen, die dem Verletzten durch strafbare Handlung entzogen worden sind. Der Begriff des Verletzten findet sich in der Strafprozeßordnung an verschiedenen Stellen2. Es ist nicht angängig, ihn stets einheitlich auszulegen ( B G H S t . 4 203; 5 87). In § 111 ist er inhaltsleer und bedeutet denjenigen, dem durch strafbare Handlung der Besitz an Gegenständen entzogen worden ist. Ob dieser Verletzter auch im Sinne des § 172 Abs. 1 ist, was allerdings regelmäßig der Fall sein wird, ist nicht entscheidend 3 . Strafbare Handlung ist nach dem Sinn der Vorschrift die rechtswidrige Handlung, die den Tatbestand eines Strafgesetzes verletzt, ohne Rücksicht darauf, ob sie schuldhaft begangen worden ist 4 und darauf, ob ihrer Aburteilung Prozeßhindernisse entgegenstehen. Denn der Zweck der Vorschrift kann nicht dadurch zunichte gemacht werden, daß der Täter etwa geisteskrank oder die Tat verjährt ist. Entzogen sind die Gegenstände dem Verletzten nicht nur, wenn der Täter sie ihm weggenommen hat ( § § 242, 249 S t G B ) sondern auch, wenn der Täter ihm anvertraute Gegenstände unterschlagen (§ 246 S t G B ) oder veruntreut (§ 266 S t G B ) oder wenn er den Verletzten rechtswidrig veranlaßt hat, sie ihm zu geben ( § § 263, 253 StGB). Nicht entzogen sind dem Verletzten Surrogate, die an die Stelle entzogener Sachen getreten sind, z. B. der Erlös für veräußertes Diebesgut ( R G S t . 1 145), oder Sachen, A. A. OLG Kassel DJZ 1905 1068; H u s s o n g DStRZ 1916 478; B o h m e y e r 198 mit weiteren Nachweisen. 2 z. B. § 22, § 61 Nr. 2, § 172 Abs. 1, § 374, § 403. 3 Ist der Verletzte gestorben, ist die Sache seinen Erben herauszugeben. Ist der Verletzte unbekannt, richtet sich die Behandlung der Gegenstände nach § 983 BGB und den dazu erlassenen landesrechtlichen Vorschriften (Nr. 65 Abs. 5 RiStBV), die Versteigerung nach Aufgebot vorsehen. 4 P f l e i d e r e r 21; B o h m e y e r 196; E b S c h m i d t 10; M ü l l e r - S a x 2c; a. A. L e d s c h b o r 13. 1

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§ 111 Anm. 4 , 5

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

die mit gestohlenem Geld gekauft worden sind (OLG München A l s b . E 1 214), doch ist auch hier bei der Herausgabe Nr. 65 Abs. 4 RiStBV zu beachten. Indessen darf nicht auf eine zivilrechtliche Betrachtungsweise abgestellt werden. So bleiben entzogen: entwendetes Metall trotz Ein- oder Umschmelzens 5 , entwendetes Geld trotz Umwechseins 6 und verwahrtes Geld auch dann, wenn es nicht in Natur hinterlegt, sondern mit den Geldern der Kasse vermischt wird. Der Pfandschein „verbrieft" die Sache so eindeutig, daß er an die Stelle der entzogenen Sache tritt (RGRspr. 2 162; L e d s c h b o r 14). Dasselbe gilt für den Erlös einer notveräußerten Sache (§ 101 a Abs. 1 Satz 2). 4. Rückgabe. Entgegen dem gebrauchten Wort sind die Gegenstände nicht (dem letzten Gewahrsamsinhaber) zurückzugeben sondern dem Verletzten herauszugeben. Da die Vorschrift nicht nur die verwahrten sondern auch die auf sonstige Weise sichergestellten Gegenstände im Auge hat und da unter Gegenstände, wenn auch selten, auch Forderungen fallen, kommen an Stelle der Herausgabe auch Besitzeinräumung und Freigabe (OLG Dresden LZ 1925 383) in Betracht. Die Herausgabe an den Verletzten setzt voraus, daß dieser keine Ansprüche Dritter entgegenstehen. Dabei kommen, da eine vorläufige Regelung des Besitzstandes zu treffen ist, nur solche Ansprüche in Betracht, die den Besitz des Verletzten in Frage stellen, und ein Recht des Anspruchsinhabers zum Eigenbesitz begründen. Es ist nicht erforderlich, daß ein Anspruch geltend gemacht worden ist, die Behörde hat vielmehr bestehende Ansprüche von Amts wegen zu beachten. Ergibt sich ein Anhaltspunkt für solche Ansprüche, so kann eine Rückfrage geboten sein, doch braucht die Behörde nicht nach dem Bestehen von Ansprüchen zu forschen. Sobald jedoch Zweifel bestehen, ob nicht ein Anspruch bestehen könnte, ist dem Dritten Gelegenheit zu geben, seine Ansprüche gerichtlich, etwa durch einstweilige Verfügung, geltend zu machen (Nr. 65 Abs. 4 Satz 1 RiStBV). Tut er das nicht, bleibt sein Anspruch unbeachtet; die Sache wird dem Verletzten herausgegeben (Nr. 65 Abs. 4 Satz 2 RiStBV), und es bleibt dem Dritten vorbehalten, zivilrechtlich gegen diesen vorzugehen (Absatz 2). Ist die Rechtslage so ungewiß, daß auch eine vorläufige Regelung nicht unbedenklich ist, so ist Hinterlegung nicht ausgeschlossen (BayObLGSt. 17 118), wenn sie auch vermieden werden sollte. Die Vorschrift ordnet die Herausgabe an den Verletzten zwingend für den Zeitpunkt der Beendigung der Untersuchung an. Diese ist beendet mit der Rechtskraft des Urteils, ggf. mit Teilrechtskraft. Stehen Beweismittel in Rede, ist die Untersuchung mit der Rechtskraft des Schuldspruchs beendet. Sind Einziehungsstücke zurückzugeben, so ist die Untersuchung beendet, wenn das Gericht von der Einziehung ganz oder teilweise abgesehen hat und das Urteil von der Staatsanwaltschaft nur im Straf- oder Kostenausspruch oder nur vom Angeklagten, seinem gesetzlichen Vertreter oder zu seinen Gunsten von der Staatsanwaltschaft angefochten worden ist, und die Einziehung nicht als Maßregel sondern als Strafe in Betracht kommt (§§ 331, 358 Abs. 2). Ist die Sicherstellung schon vorher aufzuheben, etwa weil Beweismittel mit dem Fortgang des Verfahrens entbehrlich geworden sind, dann sind die Gegenstände schon vorher herauszugeben. Eine zeitliche Grenze besteht nicht; die Herausgabe kann daher der Verwahrung oder Sicherstellung auch alsbald folgen, etwa weil die Staatsanwaltschaft, wenn die Polizei beschlagnahmt hatte, die Gegenstände als Beweismittel für entbehrlich oder die Einziehung nicht für zulässig erachtet. 5. Verfahren. Das Gesetz unterläßt die Bestimmung, wer die Herausgabe anzuordnen hat. Aus den Materialien ergibt sich, daß man als selbstverständlich nur ein gerichtliches Herausgabeverfahren im Auge hatte ( H a h n 1 128, 615; 2 1811). Diese gesetzgeberische Absicht ist auch im Gesetz zum Ausdruck gekommen. Allerdings ist es verfehlt, aus den Worten „ohne daß es eines Urteils . . . bedarf' den Schluß zu ziehen, damit sei die Entscheidung durch Beschluß angeordnet und diese Form sei dem Gericht vorbehalten 7 . Wohl aber ergibt sich die ausschließliche Zuständigkeit des Gerichts aus dem zweiten 5 6 7

D r e y f u s 66; a. A. O L G Kassel G A 53 300; E b S c h m i d t 11; vermittelnd A. A. RGRspr. 2 22; BayObLGSt. 2 420. B e t h k e 387; B o h m e y e r 3 4 4 .

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Müller-Sax2d.

Achter Abschnitt. Beschlagnahme, Überwachung des Fernmeldeverkehrs und Durchsuchung (Dünnebier)

§ 111 Anm. 6

Absatz. Daß bei staatsanwaltschaftlicher Verfügung über die Besitzfrage der Beteiligte seine Rechte und die Befugnis behält, sie geltend zu machen, ist zweifellos. Dagegen bedarf der Regelung, wie sich eine zwar gerichtliche, aber von einem Strafgericht in einem summarischen Verfahren erlassene Entscheidung über ein zivilrechtliches Verhältnis auf dieses auswirkt. Eine solche Regelung ist auch an anderer Stelle, die von einer gerichtlichen Entscheidung handelt, getroffen worden (§ 406 Abs. 3 Satz 2). Absatz 2 ist daher nur sinnvoll, wenn Absatz 1 den Fall einer strafgerichtlichen Anordnung trifft 8 . Kein gerichtliches Verfahren ist nötig, wenn die Beteiligten sich über die Herausgabe an den Verletzten einig sind (RG DJZ 1919 940; K G GA 48 138; Nr. 65 Abs. 2 RiStBV). Der Versuch einer solchen Einigung braucht indessen nicht gemacht zu werden. Das gerichtliche Verfahren hat nicht 9 zur Voraussetzung, daß die Einwilligung des Beschuldigten zur Herausgabe an den Verletzten nicht zu erlangen ist. Es kann zuweilen unangemessen sein, sich mit dem Beschuldigten auseinanderzusetzen. Für die Zuständigkeit gilt das II 1 zu § 98 Ausgeführte entsprechend, doch ist ergänzend zu bemerken: Im vorbereitenden Verfahren trifft die Entscheidung, wie stets, wenn das Gesetz nicht — wie in § 81 Abs. 1 Satz 2 — etwas anderes bestimmt, der Amtsrichter. Zuständig ist in entsprechender Anwendung des § 98 Abs. 2 Satz 3 der Amtsrichter, in dessen Bezirk die Verwahrung, Sicherstellung oder Beschlagnahme stattgefunden hat, gleichgültig wo der Gegenstand verwahrt wird. Nach Rechtskraft des Urteils ist zuständig das Gericht, das die letzte Entscheidung in der Sache getroffen hat. War dies ein Revisionsgericht (§ 354 Abs. 1), so entscheidet das Gericht, gegen dessen Urteil die Revision eingelegt worden war (OLG Hamm JMB1NRW 1961 94). Hat das Berufungsgericht das letzte Urteil erlassen, so entscheidet dieses, auch wenn es die Berufung verworfen hatte, es sei denn, daß es die Berufung als unzulässig verworfen hatte, nach § 328 Abs. 2 verfahren war, oder zufolge Teilanfechtung weder über die Schuldfrage noch, wenn Einziehungsstücke in Rede stehen, über die Einziehung entscheiden durfte. 6. Entscheidung. Die Herausgabe an den Verletzten ist von Amts wegen anzuordnen, doch kann der Verletzte sie beantragen und hat die Staatsanwaltschaft, wenn der Herausgabefall vorliegt, die Anordnung durch Anträge herbeizuführen. Die Entscheidung von Amts wegen ist nicht nur im Interesse des Verletzten, sondern auch im Verfahrensinteresse geboten: Dem unrechtmäßigen letzten Besitzer dürfen die Sachen nicht zurückgegeben werden, eine Beendigung der Verwahrung ist aber erforderlich. Grundlage der Entscheidung sind die Akten, wenn ein Urteil ergangen ist, namentlich dieses. Ermittlungen und Beweiserhebungen finden grundsätzlich nicht statt (OLG Nürnberg HESt. 2 85), doch ist es nicht ausgeschlossen und zuweilen geboten, nach dem Verletzten zu forschen, ggf. aber auch Rückfragen zu halten zur Vergewisserung, daß keine Ansprüche Dritter bestehen. Notwendig sind sie nicht. Bestehen hierüber Zweifel, so kann das Verfahren nicht stattfinden. Das darf allerdings niemals zur Folge haben, daß die Sachen dem Beschuldigten herausgegeben werden, der sie durch eine Straftat an sich gebracht hat (V 4 zu § 98). Das Gericht entscheidet durch Beschluß (RG DJZ 1919 940; BayObLGSt. 13 405). Die Worte „ohne daß es eines Urteils bedarf sind zu lesen „ohne daß es eines Zivilurteils bedarf'. Die Entscheidung durch Strafurteil ist nicht statthaft: die Besitzverteilung hängt mit der Strafsache zwar zusammen, ist aber nicht Gegenstand des Urteilsspruchs; auch ist der Rechtsmittelweg verschieden. Die Entscheidung macht das Gericht, da keine sofortige Beschwerde gegeben ist, durch formlose Mitteilung ( § 3 5 Abs. 2) bekannt, doch kann es auch die Form der Zustellung wählen und diese unmittelbar veranlassen ( § 3 6 Abs. 2) oder der Staatsanwaltschaft überlassen (§ 36 Abs. 1 Satz 1), wenn — etwa wegen des großen Wertes der herauszugebenden Sachen — die formlose Mitteilung nicht genügt. Da die Herausgabe der Sachen keine Vollstreckung (§ 36 Abs. 1) ist, hat das Gericht sie selbst zu veranlassen, wenn es sie in seinem Besitz hat. Befinden sie sich im Gewahrsam der Staatsanwaltschaft oder der Polizei, oder sind sie in anderer Weise (IV 4 zu § 94) sichergestellt, so ist die Staatsanwaltschaft berufen, den gerichtlichen Beschluß auszuführen. 8

Wegen abweichender Ansichten vgl. B o h m e y e r 342,344. ® So K G GA 48 139; B o h m e y e r 197.

637

§ lila

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

Gegen den Beschluß des Gerichts findet, wenn er nicht von einem Strafsenat als Rechtsmittelgericht ausgesprochen wird (§ 304 Abs. 4), Beschwerde statt, auch wenn die Entscheidung die eines erkennenden Gerichts ist (§ 304 Abs. 1, § 305 Satz 2). Die Beschwerde kann neben der Staatsanwaltschaft einlegen der letzte Gewahrsamsinhaber, derjenige, der ein Recht oder einen Anspruch an der Sache behauptet. Der Privat- und Nebenkläger sowie der Beschuldigte sind nur beschwerdeberechtigt, wenn sie Beteiligte i. S. von Absatz 2 sind, oder wenn sie, etwa wegen Verschlechterung der Beweislage, die Herausgabe als solche, nicht diejenige an eine bestimmte Person angreifen. Der gerichtliche Beschluß entscheidet über die Eigentums-, Besitz-, Pfand- und sonstigen Rechte an dem Gegenstand nicht endgültig; er trifft nur eine vorläufige Regelung des Besitzstandes (BayObLGSt. 23 21). Der (besser) Berechtigte kann seine Rechte im Zivilverfahren geltend machen (Absatz 2).

§ lila (1) Sind dringende Gründe für die Annahme vorhanden, daß die Fahrerlaubnis entzogen werden wird (§ 42 m des Strafgesetzbuches), so kann der Richter dem Beschuldigten durch Beschluß die Fahrerlaubnis vorläufig entziehen. Von der vorläufigen Entziehung können bestimmte Arten von Kraftfahrzeugen ausgenommen werden, wenn besondere Umstände die Annahme rechtfertigen, daß der Zweck der Maßnahme dadurch nicht gefährdet wird. (2) Die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis ist aufzuheben, wenn ihr Grund weggefallen ist oder wenn das Gericht im Urteil die Fahrerlaubnis nicht entzieht. (3) Die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis wirkt zugleich als Anordnung oder Bestätigung der Beschlagnahme des von einer deutschen Behörde erteilten Führerscheins. (4) Ist ein Führerschein beschlagnahmt, weil er nach § 42m Abs. 3 Satz 2 des Strafgesetzbuches eingezogen werden kann, und bedarf es einer richterlichen Entscheidung über die Beschlagnahme, so tritt an deren Stelle die Entscheidung über die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis. (5) Ein Führerschein, der in Verwahrung genommen, sichergestellt oder beschlagnahmt ist, weil er nach § 42m Abs. 3 Satz 2 des Strafgesetzbuches eingezogen werden kann, ist dem Beschuldigten zurückzugeben, wenn der Richter die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis wegen Fehlens der in Absatz 1 bezeichneten Voraussetzungen ablehnt, wenn er sie aufhebt oder wenn das Gericht im Urteil die Fahrerlaubnis nicht entzieht. Wird jedoch im Urteil ein Fahrverbot nach § 37 des Strafgesetzbuches verhängt, so kann die Rückgabe des Führerscheins aufgeschoben werden, wenn der Beschuldigte nicht widerspricht. (6) In ausländischen Fahrausweisen ist die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis zu vermerken. Zu diesem Zweck kann der Fahrausweis beschlagnahmt werden. Entstehungsgeschichte: Die Vorschrift wurde eingefügt durch Art. 3 Nr. 1 des (Ersten) Gesetzes zur Sicherung des Straßenverkehrs vom 19. 12. 1952 (BGBl. I 832). Ihre jetzige Fassung verdankt sie Art. 2 Nr. 1 des Zweiten Gesetzes zur Sicherung des Straßenverkehrs vom 26. 11. 1964 (BGBl. I 921). Die erste Fassung stimmte mit Absatz 1, Absatz 2 (früher Absatz 4), Absatz 6 (früher Absatz 3) der jetzigen im wesentlichen überein. Die Absätze 3, 4 und 5 sind neu. Satz 2 des ersten Absatzes ist angefügt durch Art. 2 Nr. 5 EGOWiG. Schrifttum: B r u n s , die Entziehung der Fahrerlaubnis (§ 42m StGB, § l i l a StPO), GA 1954 161; v. B u b n o f f , Der vorläufige Fahrerlaubnisentzug und die Möglichkeit von Ausnahmen für bestimmte Kraftfahrzeugarten, JZ 1968 318; D a h s , jr., Unzulässige Einbehaltung des Führerscheins durch die Polizei, NJW 1968 632; F r i t z , Entzug des Führerscheins durch die Polizei, MDR 1967 723; G u e l d e , Die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis und die Beschlagnahme des Führerscheins nach dem StraßenverkehrsSicherungsgesetz, RdK 1953 57; L a c k n e r , Das Zweite Gesetz zur Sicherung des Straßenverkehrs, JZ 1965 122; M i t t e l b a c h , Die Entziehung der Fahrerlaubnis, 1966; M o h r , Fahrerlaubnisentzug auch künftig Sicherungsmaßregel? DAR 1960 280; v. W e b e r , Die Rechtsnatur der Entziehung der Fahrerlaubnis, JZ 1960 52. 638

Achter Abschnitt. Beschlagnahme, Überwachung des Fernmeldeverkehrs und Durchsuchung (Dünnebier)

§ lila Anm. I

Übersicht I. Charakter II. Voraussetzungen (Absatz 1) 1. Dringende Gründe 2. Maßregelvoraussetzungen 3. Gefährdung der Allgemeinheit III. Entziehung (Absatz 1) 1. Inhalt 2. Ausnahmen für bestimmte Arten von Kraftfahrzeugen 3. Kein Verbot, Fahrerlaubnis zu erteilen 4. Verfahren 5. Prozeßhindernis 6. Entscheidung 7. Zuständigkeit 8. Beschwerde 9. Wirkung IV. Aufhebung (Absatz 2) 1. Aufhebung bei Wegfall des Grundes 2. Aufhebung bei Nichtentziehung im Urteil

3. Zuständigkeit 4. Beschwerde V. Beschlagnahme 1. Vollstreckung (Absatz 3) 2. Polizeiliche Sicherstellung 3. Beschlagnahme nach § 98 4. Entscheidung über die polizeiliche Beschlagnahme (Absätze 3 und 4) 5 . Abgeordnete VI. Rückgabe des Führerscheins (Absatz 5) 1. Beschlagnahme 2. Führerschein 3. Ablehnung der vorläufigen Entziehung der Fahrerlaubnis 4. Aufhebung der vorläufigen Entziehung der Fahrerlaubnis 5. Zuständigkeit VII. Ausländische Fahrausweise (Absatz 6)

I. Charakter. Durch die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis werden dem Beschuldigten vorläufig die gleichen Rechte genommen, die ihm im Urteil endgültig entzogen werden. Damit nimmt die Anordnung, wie schon ihre Bezeichnung andeutet, die endgültige Entziehung, den Maßregelausspruch des künftigen Urteils, zum Teil vorweg. Darin ähnelt sie der einstweiligen Unterbringung (§ 126 a Abs. 1). Wie diese ist sie als eine prozessuale Maßnahme ausgestaltet, die die Allgemeinheit sichern soll. Die Sicherung wird gewährt gegen künftige Rechtsbrüche des Beschuldigten, die er beim Führen eines Kraftfahrzeuges oder im Zusammenhang damit begehen könnte (KG DAR 1954 190). Mit dieser Kennzeichnung wird der Charakter der vorläufigen Entziehung der Fahrerlaubnis nur erschöpft, soweit sie über einen Zurechnungsunfähigen verhängt wird. Wird sie gegen einen Zurechnungsfähigen ausgesprochen, knüpft sie, ebenso wie die endgültige Entziehung, an eine schuldhaft begangene rechtswidrige Tat an und steht zu dieser ebenso in Beziehung wie die endgültige. Daß die endgültige Entziehung der Fahrerlaubnis als eine Strafe empfunden wird, bedarf keines N a c h w e i s e s E s ist aber weiter anerkannt, daß die Strafe auf die Maßregel und diese auf die Strafe abzustimmen ist (OLG Hamm DAR 1955 22), und daß die Maßregel der Entziehung der Fahrerlaubnis Strafzwecke übernehmen kann ( B r u n s 166). Die Gefährdung der Allgemeinheit, die notwendige Voraussetzung einer Maßregel der Sicherung und Besserung, macht der Gesetzestext nicht zur Voraussetzung der Entziehung der Fahrerlaubnis; nach der Rechtsprechung soll sie unwiderleglich vermutet werden ( B r u n s 166). Auf diese Weise war die endgültige Entziehung schon früher stark einer Nebenstrafe angenähert ( M o h r 282). Diese Annäherung ist durch das Zweite Gesetz zur Sicherung des Straßenverkehrs dadurch noch verstärkt worden, daß für gewisse Tatgruppen zu der unwiderleglichen Vermutung der Gefährlichkeit noch eine, wenn auch widerlegbare, der Ungeeignetheit zum Führen von Kraftfahrzeugen getreten ist (§ 42 m Abs. 2 StGB). Der Unterschied zu der durch das gleiche Gesetz eingeführten Sonderstrafe (v. W e b e r DRiZ 1951 154) des Fahrverbots (§37 Abs. 1 und 2 StGB) ergibt sich, wenn einer der Vermutungsfälle vorliegt, dann im wesentlichen daraus, daß beim Fahrverbot die Fahrerlaubnis ruht, während sie bei der Entziehung erlischt, und aus der Länge. Das erste ist in der Wirkung auf den Beschuldigten von geringer Bedeutung. Die Länge ist auch bei der Maßregel abstufbar, sie wird in der 1

H ä r t u n g DRiZ 1954 28; J a g u s c h - F l o e g e l - H a r t u n g 23 zu § 4 2 m StGB; BGH St. 15 398.

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§ 111 a

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

Anm. II 1, 2 Praxis auch abgestuft. Die Abstufung beruht aber nicht auf einer stärkeren oder schwächeren Ungeeignetheit, sondern auf dem größeren oder geringeren Unrechtsgehalt der Tat, wegen der die Fahrerlaubnis entzogen wird. Nach alledem ist nicht zu leugnen, daß die Entziehung der Fahrerlaubnis nach ihrer gesetzlichen Ausgestaltung und nach ihrer Anwendung in der Praxis Elemente einer Nebenstrafe in sich trägt. Demzufolge nimmt die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis auch weitgehend eine Nebenstrafe vorweg, ebenso wie die Untersuchungshaft im Falle der Wiederholungsgefahr eines Sittlichkeitsverbrechens (§ 112 Abs. 3) weitgehend eine vorweggenommene Freiheitsstrafe ist (15 a zu § 112). Aus diesem Grunde wird die vorläufige Entziehung auf die endgültige angerechnet, soweit sie nach Verkündung des letzten Tatsachenurteils verstrichen ist (§ 4 2 n Abs. 5 Satz 2 StGB); im übrigen wird zwar das Wort Anrechnung vermieden, doch kann das Mindestmaß der Sperre (§ 4 2 n Abs. 1 StGB) bis auf drei Monate um die Zeit verkürzt werden, während der die Fahrerlaubnis vorläufig entzogen war (§ 4 2 n Abs. 4 StGB). Zudem kann die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis auch auf die Strafe des Fahrverbots angerechnet werden (§ 60 Abs. 4 StGB); in diesem Falle nimmt sie eindeutig eine Strafe vorweg. Wird so der Angeklagte die Entziehung der Fahrerlaubnis von dem Fahrverbot im Charakter nicht unterscheiden können, so empfiehlt es sich, sie bei einer künftigen Reform von allen nebenstrafrechtlichen Elementen zu befreien und auf die Fälle dauernder Fahrunfähigkeit und auf solche zu beschränken, bei denen der Zustand der Unfähigkeit zwar behoben werden kann, die dafür notwendige Zeit sich aber nicht sicher bestimmen läßt. Im übrigen wird das Fahrverbot, freilich mit einer Verbotszeit bis zu etwa drei Jahren, die Rolle der Entziehung der Fahrerlaubnis übernehmen müssen 2 . Für die vorläufige Entziehung wird das die klare Entscheidung über ihren Charakter ermöglichen und sie damit eindeutig zu einer vorweggenommenen Strafe erklären, wie sie schon jetzt die „Untersusuchungshaft" des Sittlichkeitsverbrechers darstellt, von dem weitere Sittlichkeitsverbrechen zu erwarten sind. II. Voraussetzungen (Absatz 1). 1. Dringende Gründe. Die Fahrerlaubnis darf vorläufig nur dann entzogen werden, wenn dringende Gründe für die Annahme vorhanden sind, daß dem Beschuldigten in einem Strafverfahren die Erlaubnis zum Fahren von Kraftfahrzeugen nach § 4 2 m StGB entzogen werde. Die Worte „dringende Gründe" stehen in Gegensatz zu dem „genügenden Anlaß" zur Klageerhebung (§ 170 Abs. 1) und zu dem „hinreichenden Verdacht", der die Eröffnung des Hauptverfahrens gebietet (§ 203). Sie stimmen überein mit der Fassung, die § 126 a Abs. 1 bei den Voraussetzungen der einstweiligen Unterbringung verwendet. Diese Fassung schließt sich derjenigen des „dringenden Tatverdachts" an, der Voraussetzung ist, die Untersuchungshaft anzuordnen ( § 1 1 2 Abs. 1), doch konnte bei § 126 a und bei § 111 a nicht von dringendem Tatverdacht gesprochen werden, weil beide Bestimmungen auch Täter erfassen, die keiner strafbaren sondern nur einer mit Strafe bedrohten Handlung verdächtig sind. Die Übereinstimmung in dem Worte „dringend" und die Gründe für ein Abweichen in der übrigen Wortfassung lassen erkennen, daß der Verdachtsgrad in allen drei Vorschriften gleich stark ist. Die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis ist daher wie die Anordnung der Untersuchungshaft nur zulässig, wenn eine erhebliche Wahrscheinlichkeit dafür besteht, daß es in der Hauptverhandlung zur Entziehung der Fahrerlaubnis kommen werde. Prognosezeitpunkt ist freilich der Augenblick, in dem über die vorläufige Entziehung unter Berücksichtigung des dabei vorliegenden Materials entschieden wird, so daß der Fall eintreten kann, wenn er auch vermieden werden sollte, daß es, obwohl die Fahrerlaubnis vorläufig entzogen war, nicht zur endgültigen Entziehung, ja ganz ausnahmsweise nicht einmal zur Anklage kommt. 2. Maßregelvoraussetzungen. Die dringenden Gründe für die Annahme, daß die Maßregel angeordnet werde, müssen in bezug auf jede der einzelnen Maßregelvoraussetzungen vorliegen. Diese gehören dem sachlichen Recht an, so daß auf die Kommentierungen zu § 4 2 m 2

v. W e b e r 54; M o h r 282; K o h l h a a s DAR 1959 198; C r a m e r NJW 1968 1764.

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Achter Abschnitt. Beschlagnahme, Überwachung des Fernmeldeverkehrs und Durchsuchung (Dünnebier)

§ lila Anm. II 3; III 1

StGB verwiesen werden muß. Wegen des Zusammenhanges sind die Voraussetzungen jedoch kurz zusammenzustellen. Die endgültige Entziehung der Fahrerlaubnis ist nur zulässig, wenn jemand wegen einer mit Strafe bedrohten Handlung abgeurteilt wird. Mit Strafe bedrohte Handlung ist eine rechtswidrige Handlung, die den Tatbestand eines Strafgesetzes verwirklicht, auch wenn sie nicht schuldhaft begangen ist. Dabei kommen als rechtswidrige Handlungen, wegen deren die Fahrerlaubnis entzogen werden kann, nur solche in Betracht, die der Täter bei der Führung eines Kraftfahrzeugs, im Zusammenhang damit oder unter Verletzung der Pflichten begangen hat, die dem Führer eines Kraftfahrzeuges obliegen. Die Verfolgung muß zu einer Verurteilung oder zum Freispruch lediglich — nicht auch — deshalb führen können, weil die Zurechnungsunfähigkeit des Täters erwiesen oder nicht auszuschließen ist. D a nur auf die Verurteilung abgestellt wird (nicht mehr, wie bei der alten Fassung „zu Strafe"), kann die Entziehung der Fahrerlaubnis auch angeordnet werden, wenn im Verfahren gegen Jugendliche nicht auf Strafe oder auf Freispruch wegen Zurechnungsunfähigkeit erkannt, die Tat vielmehr mit Zuchtmitteln geahndet wird (§ 5 Abs. 2 J G G ) oder aus ihrem Anlaß Erziehungsmaßregeln angeordnet werden (§ 5 Abs. 1 J G G ) oder aber — wenn das auch sicher ein recht seltener Fall sein wird — von Strafe abgesehen wird (z. B. nach § 129 Abs. 5 StGB). Demzufolge ist in diesen Fällen auch die vorläufige Entziehung zulässig. Die Immunität (Art. 46 Abs. 2 G G ) schließt — wenn nicht die Genehmigung des Parlaments vorliegt — die Entziehung aus, mag auch noch so sehr auf der Hand liegen, daß der Abgeordnete ungeeignet ist, Kraftfahrzeuge zu führen. Wegen der vorläufigen Entziehung der Fahrerlaubnis bei Abgeordneten s. III 5, wegen der Beschlagnahme des Führerscheins V 5. Als weitere Voraussetzung muß sich aus der Tat ergeben, daß der Täter ungeeignet ist, Kraftfahrzeuge zu führen. Dieser Zustand braucht kein dauernder zu sein; Gegenstand von § 42 m StGB ist vielmehr in der Regel eine behebbare Ungeeignetheit. Die Prognose, ob die Fahrerlaubnis endgültig entzogen werde, ist dadurch erleichtert, daß für die in der Praxis hauptsächlich vorkommenden Fälle der Täter kraft Gesetzes in der Regel als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen anzusehen ist (§ 42 m Abs. 2 StGB). Eine Ausnahme von dem Grundsatz, daß die Entziehung der Fahrerlaubnis nur mit einem verurteilenden oder lediglich wegen erwiesener oder nicht auszuschließender Zurechnungsunfahigkeit freisprechenden Urteil verbunden werden darf, gilt regelmäßig für Straffreiheitsgesetze 3 . 3. Gefährdung der Allgemeinheit. Nach früherem Recht war die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis nur zulässig, wenn sie erforderlich war, um die Allgemeinheit vor weiterer Gefährdung zu schützen. Diese Voraussetzung ist entfallen, weil wegen der Regelung des Absatzes 3 die Anforderungen für die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis nicht strenger sein sollen als für die Beschlagnahme des Führerscheins (Begrdg. BTDrucks. IV 651, S. 31). Diese gesetzgeberische Entscheidung nimmt die letzte Klausel weg, die den Maßregelcharakter wenigstens bei der vorläufigen Entziehung betonte und verwischt damit die Grenzen zwischen Strafe und Maßregel weiter. Zweck des Gesetzes ist der Schutz der Allgemeinheit freilich, und dieser Gesetzeszweck ist bei der Anwendung und Auslegung des Gesetzes weiter zu beachten. III. Entziehung (Absatz 1). 1. Inhalt. Der Richter k a n n die Fahrerlaubnis vorläufig entziehen. Eine Richtlinie, wann er das tun soll, gibt ihm der Text des Gesetzes nicht; sie ist aber in seinem Zweck zu finden, ungeeignete Fahrer von Kraftfahrzeugen für eine gewisse Zeit aus dem Verkehr zu entfernen, um die von ihnen drohende Gefahrdung der Allgemeinheit zu beseitigen. Ist dazu die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis nicht erforderlich, so hat sie zu unterbleiben, z. B. wenn der Täter tatsächlich verhindert ist, Kraftfahrzeuge zu führen, etwa 3

So ist in § 13 des Gesetzes über die Gewährung von Straffreiheit vom 17. 7. 1954 (BGBl. I 203) bestimmt, daß Maßregeln der Sicherung und Besserung von der Einstellung des Verfahrens nicht berührt werden.

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§ 111 a Anm. III 2, 3

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

weil er seinen Führerschein freiwillig herausgibt oder sein Kraftfahrzeug stillegt (OLG Hamm NJW 1954 812; OLG Karlsruhe JZ 1954 49); weil er krank oder für Jahre im Strafvollzug ist. Doch bleibt, wenn der Täter in Untersuchungshaft genommen wird, die Gefahrdung in der Regel bestehen, weil jederzeit mit Aufhebung der Haft gerechnet werden muß. Die amtliche Verwahrung aufgrund freiwilliger Herausgabe des Führerscheins wird in § 21 Abs. 2 Nr. 2 StVG der Verwahrung aufgrund einer Beschlagnahme gleichgestellt, jedoch nur für den Fall, daß der Führerschein nach § 94 Abs. 1 als Einziehungsgegenstand in Verwahrung genommen wird. Wird er aber als Sicherheit verwahrt, um eine vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis abzuwenden, dann begeht der Beschuldigte, wenn er trotzdem fahrt, nur eine Ordnungswidrigkeit nach § 4 Abs. 2 Satz 2 StVZO in Vbdg. mit § 24 StVG, nicht aber ein Vergehen nach § 21 Abs. 2 Nr. 2 StVG. Daher kann die freiwillige Herausgabe des Führerscheins nur bei einer gewissen Vertrauenswürdigkeit des Täters die künftige Gefahrdung der Allgemeinheit ausschließen. 2. Ausnahme für bestimmte Arten von Kraftfahrzeugen. Bei der endgültigen Entziehung der Fahrerlaubnis bestimmt das Gericht zugleich eine Sperrfrist, während der dem Täter keine neue Fahrerlaubnis erteilt werden darf (§ 42 n Abs. 1 StGB). Von der Sperre kann es bestimmte Arten von Kraftfahrzeugen ausnehmen (§ 42 n Abs. 2 StGB), so daß die Verwaltungsbehörde die Möglichkeit hat, für die ausgenommenen Arten alsbald eine neue Fahrerlaubnis zu erteilen. § l i l a Abs. 1 Satz 2 trifft, um eine Lücke des Gesetzes (von B u b n o f f 322) zu schließen, eine entsprechende Regelung für die vorläufige Entziehung. Da zufolge der vorläufigen Entziehung die Fahrerlaubnis nicht erlischt, die Anordnung vielmehr die Wirkung eines Fahrverbots hat (9), ist — wie bei dem Verbot, Kraftfahrzeuge J e d e r oder einer bestimmten Art" zu führen ( § 3 7 Abs. 1 StGB) — in der Anordnung der vorläufigen Entziehung selbst die Beschränkung auf bestimmte Arten von Kraftfahrzeugen auszusprechen, und zwar nach dem Wortlaute des Gesetzes in der Weise, daß bestimmte Arten von Kraftfahrzeugen von der vorläufigen Entziehung ausgenommen bleiben. Die Regelung hat zur Folge, daß die Verwaltungsbehörde verpflichtet ist, ohne eigenes Ermessen alsbald einen Ersatzführerschein für die bestehen gebliebene Erlaubnis auszustellen. Von der vorläufigen Entziehung können bestimmte Arten von Kraftfahrzeugen ausgenommen werden; dagegen ist es unzulässig, die vorläufige Entziehung auf bestimmte Zeiten (Wochenenden) oder Orte (Städte) zu beschränken. Gedacht ist in erster Linie an den Landwirt, der mit Zugmaschinen bei der Tagesarbeit gefahrlos umgeht, aber nach Feierabend zu Trunkenheitsfahrten mit dem Kraftwagen oder Kraftrad neigt. Die Ausnahme für bestimmte Kraftfahrzeuge ist nur zulässig, wenn besondere Umstände (meistens das Verhalten mit besonderen Fahrzeugen in der Vergangenheit) die Annahme rechtfertigen, daß der Zweck der Maßnahme dadurch nicht gefährdet wird. Der im Gesetz nicht genannte Zweck ist der Schutz der Allgemeinheit vor einem am Steuer eines Kraftfahrzeugs gefährlichen Täter (II 3). 3. Kein Verbot, Fahrerlaubnis zu erteilen. Bei der endgültigen Entziehung der Fahrerlaubnis bestimmt das Gericht zugleich den Zeitraum, während welchem dem Täter keine neue Fahrerlaubnis erteilt werden darf (Sperre). Hat der Täter keine Fahrerlaubnis, so wird nur die Sperre angeordnet (§ 42 n Abs. 1 StGB). In der Vorauflage (III 2) war angenommen worden, die — damals nicht im Gesetz enthaltenen, sondern durch Auslegung gewonnenen — Sätze seien auch auf die vorläufige Entziehung in der Weise anzuwenden, daß bestimmt werde, die Verwaltungsbehörde sei gehindert, eine Fahrerlaubnis zu erteilen. Nachdem die Rechtsprechung durch das Zweite Straßenverkehrssicherungsgesetz gesetzlich nur für die endgültige, nicht für die vorläufige Entziehung ins Gesetz übernommen worden war, konnte jene Ansicht im Ergänzungsband (III 1 Abs. 3) fürs neue Recht nicht übernommen werden. Diese Ansicht ist dadurch bestätigt worden, daß der Gesetzgeber in Art. 2 Nr. 5 EGOWiG die Lücke zwar in bezug auf die Ausnahmen für bestimmte Arten von Kraftfahrzeugen geschlossen, sie aber wegen des isolierten Verbots bestehen gelassen hat. Daraus ergibt sich eindeutig, daß der Gesetzgeber für die vorläufige Entziehung keine Parallele zu § 42 n Abs. 1 Satz 2 StGB will. Sie ist auch entbehrlich, weil die Verwaltungsbehörde während eines laufenden Verfahrens kaum eine Fahrerlaubnis erteilen wird. Die Staatsanwaltschaft wird in einschlägigen Fällen die Verwaltungsbehörde rechtzeitig zu unterrichten haben. 642

Achter Abschnitt. Beschlagnahme, Überwachung des Fernmeldeverkehrs und Durchsuchung (Dünnebier)

§ lila Anm. III 4—6

4. Verfahren. Weil die Anordnung in die Rechte des Beschuldigten eingreift, ist das Verfahren ein ausschließlich gerichtliches. Wegen polizeilicher Gefahrenabwehr bei Gefahr im Verzug s. V 2 Abs. 2. Die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis ist in jedem Stand des Verfahrens bis zur Rechtskraft eines Urteils zulässig (OLG Karlsruhe DAR 1954 302; OLG Stuttgart VRS 5 356), soweit nicht die Ausnahme in Absatz 2, 2. Halbsatz eingreift (s. dazu IV 2). Sie kann, wenn sie bisher unterblieben ist, auch in einem späteren Stadium des Verfahrens nachgeholt werden, auch ohne daß neue Tatsachen bekannt geworden sind, namentlich wenn die Fahrerlaubnis durch ein Urteil endgültig entzogen worden ist. Denn dann sind, mag eine andere Beurteilung im Rechtsmittelverfahren auch möglich sein, doch regelmäßig dringende Gründe für die Annahme vorhanden, daß die Fahrerlaubnis (endgültig) entzogen werde. Auch wenn der Richter die endgültige Entziehung der Fahrerlaubnis ausgesprochen hat, ohne gleichzeitig die Fahrerlaubnis vorläufig entzogen zu haben, kann das später nachgeholt werden. Der Zeitablauf spielt keine Rolle; denn sonst müßte er auch der Vollstreckung der endgültigen Entziehung entgegenstehen. Ein dringendes Schutzbedürfnis der Allgemeinheit an einer alsbaldigen Maßnahme ist zwar gesetzgeberischer Grund, aber nicht mehr Tatbestandsmerkmal (OLG Hamm JMB1NRW 1963 158 ist durch die Neufassung überholt). Über die Frage der Entziehung kann, da der Beschluß nicht in Rechtskraft erwächst, mehrfach entschieden werden, jedoch nur, wenn neue Tatsachen bekannt werden. In diesem Falle kann die vorläufige Entziehung auch dann angeordnet werden.wenn das zunächst abgelehnt worden war. 5. Prozeßhindernis. Die vorläufige Entziehung ist unzulässig, wenn ein Prozeßhindernis besteht. In der Praxis spielt dabei nur die Abgeordnetenimmunität eine Rolle. Die (endgültige) Entziehung der Fahrerlaubnis fällt als Maßregel der Sicherung und Besserung unter das Verfolgungsverbot des Art. 46 Abs. 2 GG. Sie wird wegen einer mit Strafe bedrohten Handlung verhängt; das Verhängen ist, ganz abgesehen von dem oft nebenstrafrechtlichen Charakter der Maßregel, ein Zur-Verantwortung-Ziehen 4 . Da die vorläufige Entziehung die endgültige vorwegnimmt, kann für sie nichts anderes gelten. Die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis ist daher eine gegen den Täter gerichtete Strafverfolgung (KG JR 1954 231 = VRS 6 293). Demzufolge ist sie gegen Abgeordnete erst zulässig, nachdem die Genehmigung des Parlaments erteilt ist. Wegen der Beschlagnahme des Führerscheins s. V 5. 6. Entscheidung. Das Gericht entscheidet durch Beschluß aufgrund des ihm vorgelegten schriftlichen Materials. Es nimmt im allgemeinen keine selbständigen Ermittlungen vor, hat vielmehr, wenn die Unterlagen nicht ausreichen, den Antrag abzulehnen. Doch ist es ihm nicht schlechthin verwehrt, für eine Ergänzung der Beweise zu sorgen, namentlich einem substantiierten Schutzvorbringen des Beschuldigten nachzugehen. Der Beschluß bedarf der Begründung (§ 34), in der die Tatsachen anzuführen sind, welche die vorläufige Entziehung rechtfertigen (OLG Hamm NJW 1954 812). Da für den Vollzug des Beschlusses keine Überraschung des Beschuldigten erforderlich ist, ist ihm vor Erlaß der Entscheidung rechtliches Gehör nach § 33 Abs. 3 zu gewähren, soweit ihm nicht alle Tatsachen und Beweismittel, die die Entscheidung tragen sollen, schon bekannt sind. Das ist immer dann nicht der Fall, wenn ein Gutachten über den Blutalkoholgehalt des Beschuldigten zur Zeit der Tat eingeholt worden ist. Das Gehör braucht der Richter nicht persönlich zu veranlassen (III 4 Abs. 2 zu § 33). Da die Entscheidung beschleunigt ergehen muß, ist es wünschenswert, wenn die Polizei das Gehör vornimmt und dem Beschuldigten auch Gelegenheit gibt, zu dem Ergebnis der Blutalkoholuntersuchung Stellung zu nehmen ( K o c h DAR 1968 178). Die Polizei oder Staatsanwaltschaft verpflichten, so zu verfahren, kann der Richter allerdings nicht. Der Beschluß ist durch formlose Mitteilung bekanntzumachen ( § 3 5 Abs. 2 Satz 2), doch wird sich wegen der strafrechtlichen Folgen (9) in der Regel Zustellung (§ 35 Abs. 2 Satz 1) empfehlen. 4

B o c k e l m a n n 43. R e h NJW 1959 86; a. A. N a u NJW 1958 1669.

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§ 111 a Anm. III 7 , 8

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

7. Für die Zuständigkeit gilt das II 1 zu § 98 Ausgeführte entsprechend, d. h. es ist grundsätzlich das jeweils mit der Sache befaßte Gericht zuständig (OLG Hamm JZ 1961 233 = VRS 21 283; OLG Celle NJW 1961 1417). Zuständig ist danach vor Erhebung der öffentlichen Klage der Amtsrichter, in dessen Bezirk die vorläufige Entziehung stattfinden soll (§ 162), während des Berufungsverfahrens das Berufungsgericht 5 , während des Revisionsverfahrens der letzte Tatrichter. Bis zur Vorlage bei dem Berufungsgericht (§ 321) bleibt das Gericht der vorhergehenden Instanz zuständig (II 1 zu § 98; O L G Hamm NJW 1969 150). Wegen der Zuständigkeit des Revisionsgerichts, wenn es die vom Tatrichter angeordnete Entziehung der Fahrerlaubnis aufhebt, s. IV 3. Die für die Zuständigkeit des Amtsrichters bisher herrschende Ansicht 6 ist in Frage gestellt worden mit der Begründung, die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis sei keine Untersuchungshandlung i. S. des § 162, sondern eine Sicherungsmaßnahme (LG München NJW 1963 1216). Damit wird der Begriff der Untersuchung verkannt. Er bedeutet nach dem Sprachgebrauch der Strafprozeßordnung zunächst das gerichtliche Verfahren (§ 12), dann aber auch das gesamte Strafverfahren schlechthin, wie sich z. B. aus § 94 Abs. 1, § 108 ergibt. Untersuchungshandlung ist daher jede Prozeßhandlung im gesamten Strafverfahren. Von diesem ist die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis als „Vorgriff auf das Urteil" nicht zu trennen 7 . Im vorbereitenden Verfahren ist daher die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis von dem Gericht des Ortes anzuordnen, wo sich der Führerschein befindet ( E b S c h m i d t 11). Das ist aber nur der Regelfall. § 162 wollte einen Gerichtsstand zur Verfügung stellen, weil oftmals, wenn die richterliche Handlung beantragt wird, noch kein Beschuldigter feststehe (Mot. H a h n 1 149). Auch gibt er die Gelegenheit, unabhängig vom Gerichtsstand denjenigen Richter unmittelbar anzugehen, in dessen, vielleicht weitab vom Tatort oder vom Wohnort des Beschuldigten liegenden Bezirk die Handlung (z. B. eine Zeugenvernehmung) vorgenommen werden soll. Ob im letzteren Fall der Richter, in dessen Bezirk ein Gerichtsstand für die Sache begründet ist (vgl. § 125 Abs. 2), eine richterliche Untersuchungshandlung ablehnen kann, ist hier nicht zu untersuchen. Die Strafprozeßordnung bietet aber keinen Anhalt für die Annahme, in § 162 sei ein ausschließlicher Gerichtsstand verordnet worden. Auf die allgemeine Zuständigkeit muß etwa zurückgegriffen werden, wenn sich ein Beschlagnahmegegenstand im Auslande befindet (II 1 zu § 98). Auf sie darf abgestellt werden, wenn die Sonderregelung des § 162 keine Vorteile bietet und nicht sinnvoll ist. Die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis allein bedarf keiner Vollstreckung (V 1); kommt es, weil der Beschuldigte den Führerschein nicht freiwillig herausibt, zur Vollstreckung, so kann sie die Staatsanwaltschaft überall vollziehen (§ 160 GVG). Demzufolge ist neben dem Amtsrichter des § 162 auch jeder Amtsrichter zur vorläufigen Entziehung der Fahrerlaubnis (wie auch zur Beschlagnahme) zuständig, in dessen Bezirk ein Gerichtsstand für die Sache begründet ist. Daß dieser Gedanke nur in §§ 125, 126 und nicht im Anschluß an § 21 ausgeführt ist, ist eine Folge unserer Gelegenheitsgesetzgebung, aber kein Grund für den Gegenschluß, die Grundsätze der dort getroffenen sachgerechten Regelung (dem § 162 entspricht die Vorschrift, daß zuständig auch der Amtsrichter ist, in dessen Bezirk der Beschuldigte sich aufhält) könnten auf andere Materien als das Haftrecht keine Anwendung finden. 8. Beschwerde. Der Beschluß über die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis ist, wenn er nicht von einem Strafsenat als Rechtsmittelgericht erlassen ist (§ 304 Abs. 4), von der Staatsanwaltschaft, dem Nebenkläger und dem Beschuldigten mit Beschwerde anfechtbar (§ 304 Abs. 1), auch wenn er die Entscheidung eines erkennenden Gerichts ist (§ 305 Satz 2). Für das erstinstanzlich entscheidende Oberlandesgericht ergibt sich das zwar nicht aus dem Ausnahmekatalog des § 304 Abs. 4, der die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis 5

A. A. — aiich während des Berufungsverfahrens bleibt die Zuständigkeit des Amtsrichters zur Aufhebung der vorläufigen Entziehung dann bestehen, wenn er sie angeordnet hatte — E b S c h m i d t , Nachtr. 19.

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E b S c h m i d t , Nachtr. 10; M ü l l e r - S a x 5 a ; Kl 4; LG Siegen NJW 1955 274. Demzufolge wird mit Recht angenommen, daß sie die Verjährung der Strafverfolgung unterbricht ( K G JR 1954 231 = VRS 6 293).

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Achter Abschnitt. Beschlagnahme, Überwachung § 111 a des Fernmeldeverkehrs und Durchsuchung (Dünnebier) Anm. III 9; IV 1 nicht enthält. D a diese aber stets als Anordnung einer Beschlagnahme des von einer deutschen Behörde erteilten Führerscheins wirkt, muß sie in bezug auf das Rechtsmittel wie eine Beschlagnahme (§ 304 Abs. 4 Nr. 1) behandelt werden. Daraus folgt, daß keine Beschwerde gegeben ist, wenn das erstinstanzlich entscheidende Oberlandesgericht einem Täter die Fahrerlaubnis vorläufig entzieht, der nur einen ausländischen Fahrausweis besitzt. In diesem Falle ist allein die nach § 111 a Abs. 6 besonders (wenn auch nicht notwendig gesondert) angeordnete Beschlagnahme anfechtbar. Weitere Beschwerde ist ausgeschlossen ( § 3 1 0 Abs. 2 in Vbdg. mit Abs. 1; O L G Oldenburg RdK 1954 111; O L G Neustadt M D R 1960 604 = D A R 1960 211). Doch liegt keine Beschwerdeentscheidung vor, wenn das zuständig gewordene (7 Abs. 1) Berufungsgericht es ablehnt, die vom Amtsrichter beschlossene vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis aufzuheben, so daß Beschwerde an das Oberlandesgericht statthaft ist (OLG Hamm JZ 1961 2 3 3 = V R S 2 1 283; O L G Celle NJW 1961 1417). 9. Wirkung. Wenn die Fahrerlaubnis endgültig entzogen wird, erlischt sie mit Rechtskraft des Urteils (§ 42 m Abs. 3 Satz 1 StGB). Die vorläufige Entziehung äußert diese Wirkung nicht. Die Fahrerlaubnis bleibt bestehen, die Anordnung hat die Wirkung eines Fahrverbotes. Die Folge dieser Rechtslage ist, daß die Fahrerlaubnis, von dem Fahrverbot befreit, ihrem Inhaber wieder zur Verfügung steht, wenn die vorläufige Entziehung aufgehoben worden ist. Eine weitere Folge ist, daß die Verwaltungsbehörde, da ja die Fahrerlaubnis bestehen geblieben ist, keine neue erteilen kann ( H o h e n e s t e r D A R 1958 223). Wem die Fahrerlaubnis vorläufig entzogen ist, der hat nicht die erforderliche Fahrerlaubnis und ist, wenn er gleichwohl ein Kraftfahrzeug führt, nach § 21 Abs. 1 Nr. 1 StVG strafbar. IV. Aufhebung (Absatz 2). 1. Aufhebung bei Wegfall des Grundes. Während des ganzen Verfahrens bis zur Rechtskraft des Urteils ist zu prüfen, ob die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis noch notwendig ist. Sie ist alsbald aufzuheben, wenn sich herausstellt, daß ein Prozeßhindernis vorliegt oder daß ihr Grund weggefallen ist, d. h. eine der unter II 1 und 2 genannten Voraussetzungen nicht mehr vorliegt. Der erste Fall ist etwa dann gegeben, wenn sich ergibt, daß der Beschuldigte Abgeordneter ist. Der zweite Fall kann dadurch eintreten, daß bei fortschreitender Aufklärung der Tatverdacht schwindet oder die Frage, ob der Beschuldigte ungeeignet ist, Kraftfahrzeuge zu führen, besser als kurz nach der Tat und nunmehr verneinend beantwortet werden kann. Der Grund der vorläufigen Entziehung ist aber auch dann weggefallen, wenn die endgültige deshalb nicht mehr zu erwarten ist, weil die vorläufige Entziehung schon so lange oder gar länger dauert, als voraussichtlich die endgültige — auch wenn § 42 n Abs. 4 StGB beachtet wird - dauern wird (OLG Köln GA 1954 381; JMB1NRW 1964 191; K G N J W 1960 2112; zweifelnd O L G Hamburg NJW 1966 2373). Zwar kann, etwa wenn ein Berufungsverfahren läuft, nicht schematisch auf die Zeit abgestellt werden, für die in der ersten Instanz die Fahrerlaubnis vorläufig entzogen worden ist ( K G VRS 35 293). Denn Strafe und Maßregel sollen zusammen ihre Wirkung auf den Angeklagten entfalten. Doch wird diese Zeit, wenn nicht gerade ihre Länge Gegenstand eines staatsanwaltschaftlichen Rechtsmittels ist, nicht unangemessen überschritten werden können. Die Grenze liegt dort, wo die Maßregel des § 42 m StGB auch mit dem Mindestmaß von drei Monaten (§ 42 n Abs. 4 Satz 2 StGB) nicht mehr notwendig erscheint (OLG Köln JMB1NRW 1964 191). Dabei spielt es keine Rolle, warum es noch nicht zur endgültigen Entscheidung gekommen ist. Die vorläufige Entziehung ist, wenn sie nicht mehr notwendig erscheint, auch dann aufzuheben, wenn der Beschuldigte das Verfahren verschleppt hat (AG Emmerich D A R 1969 247); sie darf nicht als „Prozeßstrafe" mißbraucht werden. Ein besonderer Fall liegt vor, wenn allein zugunsten des Angeklagten, dem vorläufig und endgültig, aber noch nicht rechtskräftig, die Fahrerlaubnis entzogen ist, Revision eingelegt worden ist und die im tatrichterlichen Urteil bestimmte Sperrfrist abläuft, bevor es zur Revisionsverhandlung kommt. Wegen der in § 42 n Abs. 5 Satz 2 StGB verordneten Anrechnung könnte, wenn die vorläufige Entziehung nicht aufgehoben wird, deren Zeit die

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§ 111 a Anm. IV 2

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

endgültig auferlegte Sperrfrist, die sich wegen § 358 Abs. 2 nicht mehr ändern kann, überschreiten. Da die Fahrerlaubnis vorläufig und endgültig aus demselben Grund entzogen wird, nämlich weil der Beschuldigte ungeeignet ist, ein Kraftfahrzeug zu führen, und da die fehlende Eignung nach Ablauf der Sperrfrist jedenfalls wegen der dem Urteil zugrundeliegenden Tat nicht mehr angenommen werden kann, muß die vorläufige Entziehung bei Ablauf der Sperrfrist aufgehoben werden (OLG Celle NdsRpfl. 1967 182; O L G Karlsruhe NJW 1968 460)". Der Gegenansicht (LG Hildesheim NJW 1966 684), es seien immer noch dringende Gründe für die Annahme vorhanden, daß die Fahrerlaubnis entzogen werde, ist entgegenzuhalten, daß § 111 a nur die äußere Beziehung zur endgültigen Entziehung der Fahrerlaubnis aufstellt, den inneren Zweck, die Fahrerlaubnis werde wegen der — inzwischen weggefallenen — Ungeeignetheit des Beschuldigten entzogen werden, aber — als selbstverständlich — unerwähnt läßt. Das Gericht ist auch befugt, die Anordnung der vorläufigen Entziehung der Fahrerlaubnis aufzuheben, weil es seine ursprüngliche Würdigung des Sachverhalts — etwa bei neuer, aber auch bei gleichbleibender Besetzung — als irrtümlich erkennt. Demzufolge kann auch das Berufungsgericht die Anordnung des Amtsgerichts jederzeit, auch schon vor dem Berufungsurteil, aufheben, wenn es den Tatbestand anders als das Amtsgericht würdigt (OLG Hamburg NJW 1963 1215). 2. Aufhebung bei Nichtentziehung im Urteil. Die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis ist namentlich aufzuheben, wenn das Gericht im Urteil die Fahrerlaubnis nicht entzieht. Daß diese Folge eintritt, wenn das Urteil rechtskräftig geworden ist, ist eine Selbstverständlichkeit, die allein keine gesetzgeberische Regelung erfordert hätte. Die Vorschrift ist vielmehr nur sinnvoll, wenn sie — ebenso wie § 120 Abs. 1 Satz 2 und § 126 a Abs. 3 Satz 1 — auch und in erster Linie auf nicht rechtskräftige Urteile bezogen wird 9 . Demzufolge muß das Gericht, das im Urteil die Fahrerlaubnis nicht entzieht oder als Rechtsmittelgericht eine vom Vorderrichter angeordnete (endgültige) Entziehung aufhebt, auch die vorläufige Entziehung aufheben, selbst wenn die Staatsanwaltschaft alsbald gegen das Urteil ein Rechtsmittel einlegt und selbst dann, wenn dem Gericht alsbald bewußt wird, daß seine Entscheidung rechtsirrtümlich ist. Eine Beschwerde gegen die Aufhebung ist in der Regel unbegründet (4), hat aber auf jeden Fall keine aufschiebende Wirkung (§ 307 Abs. 1). Schon die entsprechende Regelung des Haftrechts ist nicht unbedenklich; es wäre vertretbar, eine alsbald einzulegende, mit Berufung oder Revision zu verbindende Beschwerde gegen die Aufhebung des Haftbefehls in Ausnahme von § 307 mit aufschiebender Wirkung auszustatten, und eine gleiche Regelung könnte für § 111 a Abs. 2, 2. Halbsatz in Betracht gezogen werden. Die Lösung, die der Gesetzgeber gewählt hat, ist aber trotz der Bedenken, die gegen sie geltend gemacht werden können, hinzunehmen. Sie ist einem favor defensionis entsprungen, der anderwärts selbst Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft gegen freisprechende Urteile ausschließt. Der Umstand, daß das Gericht im Urteil die Fahrerlaubnis nicht entzogen hat, ist die alleinige Grundlage für die Aufhebung der vorläufigen Entziehung der Fahrerlaubnis. Wenn sie zwingt, die vorläufige Entziehung aufzuheben, dann schließt sie auch aus, daß die Fahrerlaubnis aufgrund anderer Beurteilung des bei Aufhebung bekannten Sachverhalts später erneut vorläufig entzogen wird, sei es durch das Gericht, das die Fahrerlaubnis im Urteil nicht entzogen hat, sei es durch das Gericht, an das die Sache durch ein Rechtsmittel gelangt, es sei denn, daß neue Tatsachen bekannt werden, die die vorläufige Entziehung rechtfertigen 10 . 8 9

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Ebenso L a c k n e r 123; H o h e n e s t e r NJW 1966 2372; D r e h e r 5 B zu § 4 2 n StGB. O L G Frankfurt NJW 1955 1043; O L G Hamm D A R 1957 190; OLG Hamburg D A R 1959 129; O L G Bamberg D A R 1959 215; O L G Schleswig SchlHA 1962 222; OLG Oldenburg NJW 1963 826; OLG Köln NJW 1964 1287. OLG Frankfurt NJW 1955 1043; O L G Hamm D A R 1957 190; JZ 1961 234; O L G Hamburg D A R 1959 129; OLG Bamberg D A R 1959 215; OLG Karlsruhe NJW 1960 2113; OLG Schleswig SchlHA 1962 222; O L G Oldenburg NJW 1963 826; OLG Köln NJW 1964 1 2 8 7 = VRS 27 134; M ü l l e r - S a x 4 b ; K l 5; J a g u s c h - F l o e g e l - H a r t u n g 9 Abs. 2: W e i g e l t D A R 1955 191; a. A. OLG Saarbrücken D A R 1959 214; E b S c h m i d t , Nachtr. 14; F u h r m a n n - D a l c k e 4.

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Achter Abschnitt. Beschlagnahme, Überwachung § 111 a des Fernmeldeverkehrs und Durchsuchung (Dünnebier) Anm. IV 3,4; V 1,2 3. Zuständigkeit. Zuständig, die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis aufzuheben, bleibt, wenn das mit der Sache befaßte Gericht wechselt, nicht das Gericht, das die Anordnung getroffen hat (so OLG Celle GA 1956 359; teilweise anders MDR 1961 83); die Zuständigkeit richtet sich vielmehr nach der Lage des Verfahrens (OLG Celle NJW 1961 133; 1417; OLG Hamm JZ 1961 233 = VRS 21 283). Das V 3 zu § 98 Ausgeführte gilt entsprechend, doch ist das Revisionsgericht, zwar nicht grundsätzlich, so doch ausnahmsweise dann zuständig, wenn es eine in den Vorinstanzen angeordnete Entziehung der Fahrerlaubnis in Wegfall bringt, gleichgültig ob die Sache damit zum Abschluß kommt oder in die Vorinstanz zurückverwiesen wird. 4. Beschwerde. Der Beschluß, der die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis wieder aufhebt, ist, wenn er nicht von einem Strafsenat ergeht (§ 304 Abs. 4), von der Staatsanwaltschaft und dem Nebenkläger mit Beschwerde anfechtbar (§ 304 Abs. 1), auch wenn er die Entscheidung eines erkennenden Gerichts ist (§ 305 Satz 2). Eine Beschwer des Beschuldigten ist nicht denkbar. Wird die vorläufige Entziehung aufgehoben, weil das Gericht im Urteil die Fahrerlaubnis nicht entzogen hat, kann die Beschwerde nur begründet sein, wenn in ihr neue Tatsachen enthalten sind, die das Gericht nicht berücksichtigt hat, als es im Urteil abgelehnt hatte, die Fahrerlaubnis zu entziehen; oder wenn sie darauf gestützt wird, daß das Gericht zu Unrecht angenommen habe, es habe die Fahrerlaubnis nicht entzogen. Dieser Fall ist außerordentlich selten. Er würde vorliegen, wenn das Gericht zwar die Fahrerlaubnis nicht entzogen, aber die gleichwertige Maßnahme einer isolierten Sperrfrist angeordnet hat. V. Beschlagnahme. 1. Vollstreckung (Absatz 3). Die Anordnung, daß die Fahrerlaubnis vorläufig entzogen werde, bedarf, weil ihre Wirkungen kraft Gesetzes eintreten, keiner Vollstreckung; sie ist aber der Verwaltungsbehörde mitzuteilen, damit diese die Polizei für den Fall von Führerscheinkontrollen verständigen kann. Auf solche gelegentlichen Kontrollen und auf den Gehorsam des Beschuldigten will das Gesetz aber nicht allein abstellen. Deshalb bestimmt es, daß die Anordnung über die vorläufige Entziehung zugleich als Anordnung der Beschlagnahme des von einer deutschen Behörde erteilten Führerscheins wirkt. Die Beschlagnahme ist keine Sicherung der vorläufigen Entziehung, sondern, wie sich aus Absatz 5 Satz 1 ergibt, eine Sicherung der künftigen Einziehung. Sie verstärkt aber zugleich die Wirkung der vorläufigen Entziehung: Zwar wird der Beschuldigte auch durch die Beschlagnahme seines Führerscheins nicht gehindert, Kraftfahrzeuge zu führen — eine völlige Verhinderung ist unmöglich; eine ernstliche Erschwerung wäre nur die Beschlagnahme des eigenen Kraftfahrzeugs —, aber die Gefahr entdeckt und dann bestraft zu werden (III 9 Abs. 2), wächst und wird einen gewissen Zwang ausüben, das Fahren zu unterlassen. Die Anordnung hat die Staatsanwaltschaft zu vollstrecken, soweit der Vorsitzende die Vollstreckung nicht unmittelbar veranlaßt (§ 36). Die Vollstreckung besteht darin, daß der Führerschein dem Beschuldigten weggenommen und in amtliche Verwahrung genommen wird. 2. Polizeiliche Sicherstellung. Die Untersuchungshaft, wie die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis eine vorläufige Maßnahme, wird nach § 114 vom Richter angeordnet. Ist es erforderlich, den Beschuldigten alsbald festzunehmen, ist die Polizei nach § 127 zur vorläufigen Festnahme befugt. Der Anordnung der Untersuchungshaft nach § 114 entspricht die Anordnung der vorläufigen Entziehung der Fahrerlaubnis nach § 111 a Abs. 1; eine Parallele zu § 127, die in einer Ermächtigung an die Polizei liegen könnte, den Führerschein bis zur Entscheidung des Richters wegzunehmen, ist für die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis nicht vorgesehen. Damit hat der Gesetzgeber entschieden, daß die Polizei nach Strafprozeßrecht nicht befugt ist, dem Richter vorzugreifen und, um die Allgemeinheit alsbald vor einem ungeeigneten Kraftfahrer zu schützen, die Wirkung der vorläufigen Entziehung durch Sicherstellung des Führerscheins vorwegzunehmen. Es wäre ungesetzlich, wenn sie aus Gründen der Abschreckung den Führerschein an Ort und Stelle wegnähme 11 . 11

Ebenso M i t t e l b a c h 74; zustimmend OLG Köln NJW 1968 667; F r i t z 724; D a h s jr. NJW 1968 632.

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§ 111 a Anm. V 3

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

Geht von dem Fahrer eine akute Gefahr aus, kann die Polizei ihm den Führerschein nach Polizeirecht abnehmen, wenn dadurch die Gefahr abgewendet werden kann (OLG Braunschweig NJW 1956 1088). Das wird nur selten der Fall sein. Denn die Verschlechterung der Rechtsstellung, die dadurch herbeigeführte „psychologische Hemmung" (OLG Köln NJW 1969 441), wird in der Regel, jedenfalls bei einem Trunkenen, nichts an der tatsächlichen Gefahrenlage ändern. Diese kann wohl nur durch Wegnahme des Zündschlüssels oder durch Sicherstellung des Wagens beseitigt werden. Hat die Polizei zur Gefahrensicherung den Führerschein weggenommen, so muß sie ihn alsbald zurückgeben, wenn die akute Gefahr beseitigt ist 12 , d.h. in der Regel am anderen Morgen. Fährt der Beschuldigte vor der Rückgabe gleichwohl, so begeht er eine Ordnungswidrigkeit nach § 4 Abs. 2 Satz 2 StVZO in Vbdg. mit § 24 StVG. 3. Beschlagnahme nach § 98. Wohl aber darf der Führerschein nach § 94 Abs. 1 von der Polizei deshalb in Verwahrung genommen werden, weil er nach § 42 m Abs. 3 Satz 2 StGB der Einziehung unterliegt. Dazu ist die Polizei, wie sich aus § 94 Abs. 2 ergibt, indessen nur in der Lage, wenn der Beschuldigte den Führerschein freiwillig herausgibt. Tut er das nicht, bedarf es der Beschlagnahme; § 95 findet auf den Beschuldigten keine Anwendung (2 Abs. 3 zu § 95). Die Beschlagnahme darf grundsätzlich nur durch den Richter angeordnet werden, und nur bei Gefahr im Verzug auch durch die Staatsanwaltschaft und ihre Hilfsbeamten (§ 98 Abs. 1). Indessen kommen beide Formen regelmäßig nicht in Betracht. Der Richter wird nicht die Beschlagnahme des Führerscheins, sondern die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis anordnen. Denn diese Anordnung wirkt zugleich als Beschlagnahme (Absatz 3). Er hat auch keinen Anlaß, sich etwa zunächst mit der Beschlagnahme zu begnügen. Denn auch diese kann er nur unter den Voraussetzungen des § 111 a Abs. 1 anordnen 13 . Den Hilfsbeamten der Staatsanwaltschaft aber ist in der Regel deshalb keine Beschlagnahme erlaubt, weil meist keine Gefahr im Verzug vorliegt. Diese Gefahr ist nur anzunehmen, wenn die Umstände nahelegen, daß die Einziehung deshalb nicht möglich sein werde, weil der Beschuldigte in der Zeit bis zu einer richterlichen Beschlagnahme den Führerschein beseitigen werde 14 . Das ist regelmäßig nicht der Fall. ( G u e l d e RdK 1953 58); denn die richterliche Entscheidung kann, wie der Erlaß eines Haftbefehls, in kürzester Frist erwirkt werden. Nur wenn ausnahmsweise jene Gefahr besteht, und wenn neben den Voraussetzungen des § 98 Abs. 1 auch die des § 111 a Abs. 1 vorliegen, dürfen die Hilfsbeamten der Staatsanwaltschaft die Beschlagnahme anordnen und durchführen. In diesem — seltenen — Falle sind sie dazu auch verpflichtet. Der Bundesgerichtshof (BGHSt. 22 385 = VRS 37 126; ebenso M ü l l e r - S a x 7b) bezieht Gefahr im Verzug auf die Gefahr, der Täter werde ohne die Abnahme des Führerscheins weitere Trunkenheitsfahrten unternehmen oder sonst Verkehrsvorschriften in schwerwiegender Weise verletzen und beruft sich dazu auf die Entstehungsgeschichte. In dieser wird der Gefahrenbegriff an keiner Stelle in diesem Sinne definiert; aber sie läßt, obwohl unklar im Gedankengang und in der Formulierung, die vom Gericht gezogene Schlußfolgerung zu, daß am Gesetzgebungsverfahren beteiligte Organe von jener Auffassung ausgegangen sein könnten. Das wäre ein Motivirrtum des Gesetzgebers, der, weil der Gesetzeswortlaut klar ist, unbeachtlich bleiben muß (DOGE 140= NJW 1950 652). Denn der Begriff Gefahr im Verzug hat keinen materialen Inhalt. Die Gefahr im Verzuge ist überall in der Strafprozeßordnung allein eine prozessuale. Sie bedeutet (§ 81c Abs. 3) „Gefährdung des Erfolgs durch Verzögerung" (zust. OLG Köln NJW 1968 667). Der durch die Beschlagnahme erstrebte Erfolg ist allein die Sicherung einer durch rechtskräftiges Urteil oder durch rechtskräftigen Strafbefehl angeordneten Einziehung (§ 94 Abs. 1). Auch das Argument (BGHSt. 22 392), daß die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis als Bestätigung der Beschlagnahme wirke (Absatz 3), hierunter aber nicht wohl eine rechtswidrige verstanden werden könne, schlägt nicht durch. Die Lage ist hier genauso wie bei § 98 12 13

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G r o s s D A R 1958 128; G u e l d e RdK 1953 58; D a h s jun. NJW 1968 633. Bgrdg. BTDrucks. IV 651, S 3 1 , zu Art. 2 Nr. 1, Abs. 4; vgl. fürs alte Recht O L G Köln GA 1954 380; OLG Hamburg D A R 1959 129; D e i n h a r d t NJW 1953 891. Beispiel: Der Beschuldigte droht, ihn aufzuessen; OLG Köln NJW 1969 442.

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Achter Abschnitt. Beschlagnahme, Überwachung des Fernmeldeverkehrs und Durchsuchung (Dünnebier)

§ 111 a Anm. V 4, 5

(II 2 Abs. 2; III 2b Abs. 2 zu § 98). Auch dort muß der Richter eine rechtswidrige Beschlagnahme bestätigen, wenn die Beschlagnahmevoraussetzungen im Zeitpunkt der Bestätigung vorliegen. Denn er darf nicht zur „Disziplinierung" von Polizeibeamten eine notwendige Beschlagnahme preisgeben. Ebenso muß der Richter die rechtswidrige Beschlagnahme des Führerscheins bestätigen, wenn im Zeitpunkt seiner Entscheidung die Voraussetzungen der Entziehung der Fahrerlaubnis vorliegen13. Es ist bedauerlich und abzulehnen, daß der Bundesgerichtshof an dieser einen Stelle den einheitlichen prozessualen Begriff der Gefahr im Verzug preisgibt 16 zugunsten einer fragwürdigen polizeilichen Praxis. Will der Gesetzgeber in Analogie zur vorläufigen Festnahme (§ 127 Abs. 2) eine „vorläufige" vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis verordnen, so muß er das Gesetz ändern. Dem Richter ist eine gesetzesändernde Auslegung verwehrt. Auch ist es fraglich, ob der Gesetzgeber heute die Änderung vornähme, nachdem er die vorläufige Festnahme nicht fluchtverdächtiger Seriendiebe nicht beschlossen hat, die dringlicher wäre als die Polizeireaktion an Ort und Stelle gegen Kraftfahrer, die — durch die Tat verschreckt — in der kurzen Zeit, in der eine gerichtliche Entscheidung erlangt werden kann, kaum neue Verkehrsstraftaten begehen, wenn sie aber in seltenen Fällen dazu neigen sollten, nicht durch die Wegnahme des Führerscheins daran gehindert werden können. Wegen der Beziehung der Beschlagnahme zur künftigen Einziehung ist auch die Ansicht S c h w e i c h e i s (NJW 1968 1487) abzulehnen, „die die Einziehung nach § l i l a Abs. 3 vorbereitende vorläufige Beschlagnahme" sei „genauso zulässig wie die vorläufige Festnahme nach § 127". § l i l a Abs. 3 handelt nicht von der Einziehung. Der Begriff ist klar auf die Einziehung durch rechtskräftigen Urteilsspruch bezogen. Für eine andere Auslegung bietet das Gesetz keinen Anhalt. Mit der beanstandeten Auslegung würde die polizeiliche Beschlagnahme die richterliche Beschlagnahme sichern, obwohl nicht diese, sondern die künftige Einziehung durch die Beschlagnahme gesichert werden soll und allein darf. Fährt der Fahrer, dessen Führerschein nach § 94 Abs. 1 in Verwahrung genommen oder nach § 94 Abs. 2 beschlagnahmt worden ist, gleichwohl, so ist er nach § 21 Abs. 2 Nr. 2 StVG strafbar. 4. Entscheidung über die polizeiliche Beschlagnahme (Absätze 3 und 4). Haben in den vorgenannten seltenen Fällen Hilfsbeamte der Staatsanwaltschaft eine Beschlagnahme angeordnet und durchgeführt, so sollen sie binnen drei Tagen die richterliche Bestätigung nachsuchen, wenn bei der Beschlagnahme weder der Beschuldigte noch ein erwachsener Angehöriger anwesend war, oder wenn der Beschuldigte, oder im Falle seiner Abwesenheit ein erwachsener Angehöriger, gegen die Beschlagnahme ausdrücklich Widerspruch erhoben hat (§ 98 Abs. 2 Satz l). Ist in den drei Tagen die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis angeordnet worden, so wirkt sie zugleich als die richterliche Bestätigung der Beschlagnahme (Absatz 3). Ist dagegen die vorläufige Entziehung noch nicht angeordnet, so wird über die Bestätigung nicht entschieden. Vielmehr tritt an deren Stelle die Entscheidung über die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis (Absatz 4). Das ist ebenso der Fall, wenn über die von einem Beamten angeordnete Beschlagnahme eine richterliche Entscheidung erforderlich wird, weil der Beschuldigte die richterliche Entscheidung nachsucht (§ 98 Abs. 2 Satz 2). Wegen der Beschwerde gilt das III 8 Ausgeführte entsprechend. 5. Abgeordnete. Weil für die Beschlagnahme des Führerscheins dieselben Voraussetzungen wie für die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis vorliegen müssen, ist bei Abgeordneten die Beschlagnahme ebenso wie die vorläufige Entziehung (III 5) vor der Genehmigung des Parlaments unzulässig. Das ergibt sich zusätzlich auch daraus, daß die Beschlagnahme zur Untersuchung gehört; damit fällt sie unter den Begriff des Zur-Verantwortung-Ziehens. Auch für die frische Tat ergibt sich keine Ausnahme. Daß bei ihr die Verhaftung zulässig ist (Art. 46 Abs. 2, 2. Halbsatz GG), könnte die Beschlagnahme allenfalls als Verhaftungs15

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Freilich wäre eine andere Konstruktion — Aufhebung der polizeilichen Beschlagnahme, neue Beschlagnahme durch das Gericht — möglich und klarer. Aber auch die vom Gesetzgeber gewählte trägt die Schlußfolgerung des Gerichts nicht. Sehr klar H r u s c h k a NJW 1969 1634 und E h l e r s M D R 1969 1023.

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§ 111 a Anm. VI 1,2

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

ersatz rechtfertigen, wenn die Voraussetzungen eines Haftbefehls vorliegen ( N a u N J W 1958 1670). Das wird nur selten der Fall sein. Die Auslegung, daß bei Flagrantendelikten die Genehmigung des Parlaments entbehrlich sei ( R e h NJW 1959 87), könnte sich zwar auf Sinn und Zweck des Art. 46 Abs. 2 G G stützen, scheitert aber doch an dem Wortlaut der Verfassungen, die Staatsanwaltschaft und Gericht lediglich bei Festnahme, nicht aber einem anderen Einschreiten gegen den auf frischer Tat Betroffenen oder Verfolgten von der parlamentarischen Genehmigung freistellen (Art. 46 Abs. 2, 2. Halbsatz GG und beispielsweise Art. 28 Abs. 1 BayVerf., Art. 95 Brem. Verf., Art. 96 Abs. 1 Hess. Verf., Art. 15 Abs. 1 Nds. Verf., Art. 46 Abs. 1 Verf. NRW). Eine „Vorführung" zur Polizeiwache und zum Krankenhaus zur Überprüfung des Blutalkohols (OLG Bremen NJW 1966 743; OLG Oldenburg NJW 1966 1764) ist keine „Festnahme" i. S. des Art. 46 Abs. 2 GG. Die gegenteilige Ansicht geht zurück auf die des Reichsgerichts, das unter „Festnahme" i. S. des Art. 37 Abs. 1 RVerf. auch die bloße Freiheitsentziehung rechnete, die l e d i g l i c h dazu vorgenommen wurde, die Persönlichkeit des Täters festzustellen (RGSt. 59 114). Da eine solche Freiheitsentziehung nahezu immer möglich ist, läge damit die Aufhebung der Immunität in der Hand des Polizisten auf der Straße. Das unmögliche Ergebnis zeigt, daß der Begriff „Festnahme" auf die vorläufige Festnahme beschränkt ist, die mit der Absicht vorgenommen wird, den Täter aus einem der Haftgründe des § 112 Abs. 2 bis 4 zur Untersuchungshaft zu bringen. Es ist Sache der Verfassungsgesetzgeber, im Wege der Reform für dringliche Untersuchungshandlungen (Beschlagnahme, Blutuntersuchung) Genehmigungsfreiheit zu verordnen, um die unbefriedigenden Verhältnisse, die allerdings fast ausschließlich in Verkehrsstrafsachen bestehen, zu beseitigen. VI. Rückgabe des Führerscheins (Absatz 5). 1. Beschlagnahme. Wie schon bei § 98 ausgeführt (V 1 zu § 98), sagt die Strafprozeßordnung nicht, wann eine Beschlagnahme erlischt und wann und unter welchen Voraussetzungen sie aufzuheben ist. Auch § 111 a macht hiervon keine Ausnahme; Absatz 5 regelt die Rückgabe des Führerscheins. Soweit diese Regelung die Rückgabe eines nach § 94 Abs. 1 ohne Beschlagnahme in Verwahrung genommenen (oder sichergestellten) Führerscheins behandelt, ist sie vollständig. Sie ist dagegen unvollständig, soweit sie sich auf die Rückgabe beschlagnahmter Führerscheine bezieht; denn es wird nicht bestimmt, was mit der Beschlagnahme zu geschehen hat. Da aber ein Gegenstand nicht wohl trotz bestehenbleibender Beschlagnahme zurückgegeben werden kann, ist zu folgern, daß unter den in Absatz 5 angegebenen Voraussetzungen die Beschlagnahme erlischt. Dem Absatz 3 kann das nicht unmittelbar entnommen werden. Er verordnet, daß die vorläufige Entziehung als Anordnung der Beschlagnahme wirkt. Da aber nicht auf den Zustand des Entzogenseins abgestellt wird, sondern — wie in Absatz 4 ausdrücklich gesagt — auf die Entscheidung, daß die Fahrerlaubnis vorläufig entzogen werde, wird in Wirklichkeit der Anordnung der Entziehung die Wirkung der Anordnung der Beschlagnahme beigemessen. Daß die Entscheidung, mit der die vorläufige Entziehung aufgehoben wird (Absatz 2), zugleich die Wirkung einer die Beschlagnahme aufhebenden Entscheidung habe, wird in Absatz 3 nicht ausdrücklich bestimmt. Nach dem Sinn des Absatzes 3 und der Regelung in Absatz 5 kann das aber nicht anders sein: Die Beschlagnahme endet, wenn die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis aufgehoben wird. Absatz 5 zieht dann hieraus die Folgerungen und regelt überdies, wie zu verfahren ist, wenn sich ein Führerschein, weil er freiwillig herausgegeben worden ist, vor der vorläufigen Entziehung der Fahrerlaubnis (nach ihr gilt er nach Absatz 3 als beschlagnahmt) ohne Beschlagnahme in amtlicher Verwahrung befindet. Wegen dieses Falles, und weil in der Regel keine ausdrückliche Beschlagnahmeanordnung ergeht, sondern nur die Wirkung einer Beschlagnahme eintritt (V 3), wird der Gesetzgeber davon abgesehen haben, das Ende der Beschlagnahme zu regeln. 2. Führerschein. Wenn in einem Strafverfahren die Fahrerlaubnis vorläufig entzogen wird, wird der Führerschein im Laufe des Verfahrens in der Regel in amtliche Verwahrung gelangen, sei es daß der Beschuldigte ihn freiwillig herausgibt, sei es daß er zur Vollstreckung der vorläufigen Entziehung (V 1) oder ausnahmsweise schon vorher (V 3) beschlagnahmt wird. Nur von diesem Führerschein, der als Einziehungsgegenstand verwahrt

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Achter Abschnitt. Beschlagnahme, Überwachung des Fernmeldeverkehrs und Durchsuchung (Dünnebier)

§ 111 a Anm. VI 3 , 4

wird, handelt Absatz 5. Nicht erfaßt werden Führerscheine, die als Beweismittel, etwa wegen einer Fälschung, verwahrt werden. Aus Absatz 6 ergibt sich, daß unter Führerscheinen nur die von einer deutschen Behörde ausgestellten (§ 42 m Abs. 3 Satz 2 StGB) zu verstehen sind. Wegen der ausländischen Fahrausweise s. VII. Der Text der Vorschrift ist nicht ganz systemgerecht. § 94 unterscheidet zwischen den Sicherstellungsformen und den Erfassungsformen. Als Sicherstellungsform wird nur die Sicherstellung mit dem — am häufigsten vorkommenden — Unterfall der Verwahrung genannt. Erfassungsformen sind die Beschlagnahme und die freiwillige Herausgabe (IV 1 zu § 94). Die Vorschrift stellt den Unterfall der Sicherstellung, die Verwahrung, neben diese und fügt noch die Beschlagnahme an, ohne das Gegenstück, die freiwillige Herausgabe, zu erwähnen, obwohl es wichtiger wäre, beide Erfassungsformen als beide Sicherstellungsformen zu nennen. Denn sowohl ein freiwillig herausgegebener als auch ein beschlagnahmter Gegenstand können der Verfügungsgewalt des Berechtigten durch Verwahrung oder sonstige Sicherstellung entzogen sein. Demzufolge ist der Sinn des ersten Halbsatzes, daß die Vorschrift auf alle Fälle Anwendung findet, in denen ein Führerschein der Verfügungsgewalt des Berechtigten entzogen ist, sei es nachdem er ihn freiwillig herausgegeben hat, sei es indem er beschlagnahmt worden ist, und gleichgültig in welcher Form er auf Grund der Herausgabe oder der Beschlagnahme sichergestellt worden ist; sei es durch Verwahrung, sei es „in anderer Weise". 3. Ablehnung der vorläufigen Entziehung der Fahrerlaubnis. Ist der Führerschein freiwillig herausgegeben oder ist er ausnahmsweise von einem Beamten beschlagnahmt worden, bevor der Richter die Fahrerlaubnis entzogen hat (V 3), dann ist die Verwahrung zu beenden, wenn der Richter es ablehnt, die Fahrerlaubnis vorläufig zu entziehen. Das Gesetz sieht das nur für den Fall vor, daß der Richter die Anordnung ablehnt, weil die in Absatz 1 geforderten Voraussetzungen fehlen. Diese Einschränkung ist überflüssig und irreführend. Denn bei einer Ablehnung aus anderen Gründen kann der Gesetzgeber nur fehlende Prozeßvoraussetzungen im Auge gehabt haben. Sind sie behebbar und ist damit zu rechnen, daß sie behoben werden, dann beseitigt das vorübergehende Fehlen der Prozeßvoraussetzung nicht sonst vorhandene dringende Gründe für die Annahme, daß dem Täter die Fahrerlaubnis entzogen werde. Das wird der Fall sein, wenn ein Strafantrag zu erwarten ist. Ist ungewiß, ob ein Prozeßhindernis behoben werde, wie im Falle der Immunität, oder steht fest, daß es nicht behoben werden kann, wie das bei der Verjährung der Fall ist, dann sind keine dringenden Gründe mehr für die Annahme vorhanden, daß die Fahrerlaubnis entzogen werde. Das Gegenteil kann auch durch den einschränkenden Zusatz „wegen Fehlens der in Absatz 1 bezeichneten Voraussetzungen" nicht bewirkt werden. 4. Aufhebung der vorläufigen Entziehung der Fahrerlaubnis. Die Verwahrung ist ferner durch Rückgabe des Führerscheins zu beenden, wenn der Richter vor dem Urteil die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis aufhebt (IV 1) oder wenn das Gericht die Fahrerlaubnis im Urteil nicht entzieht (IV 2). Für den letzten Fall gibt es eine Ausnahme. Wenn der Richter im Urteil zwar die Fahrerlaubnis nicht entzieht, wohl aber ein Fahrverbot nach § 37 StGB verhängt, wäre der Führerschein zunächst zurückzugeben. Nach § 37 Abs. 3 StGB ist er aber nach der Rechtskraft für die Dauer des Fahrverbots amtlich zu verwahren. Dazu kann er, wenn er nicht freiwillig herausgegeben wird, nach § 463 b Abs. 1 beschlagnahmt werden. Der Angeklagte hat ein Interesse, daß sein Führerschein in amtlicher Verwahrung ist, wenn das Urteil rechtskräftig wird. Denn die Verbotsfrist wird erst von dem Beginn der amtlichen Verwahrung an gerechnet, wenn diese nach der Rechtskraft beginnt (§ 37 Abs. 4 Satz 1 StGB). Auf der anderen Seite wird die Zeit der Verwahrung, die nach dem Urteil angedauert hat, unverkürzt auf das Fahrverbot angerechnet (§ 450 Abs. 3). Aus diesen Gründen kann, wenn im Urteil die Entziehung der Fahrerlaubnis abgelehnt, jedoch ein Fahrverbot verhängt wird, die Rückgabe des Führerscheins aufgeschoben werden, wenn der Beschuldigte nicht widerspricht. Er wird es dann nicht tun, wenn er beabsichtigt, das Urteil rechtskräftig werden zu lassen.

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§ 111 a Anm. VI 5; VII V o r § 112 Anm. 1

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

5. Zuständigkeit. Die Rückgabe des Führerscheins obliegt im Vorverfahren der Staatsanwaltschaft, nach Erhebung der Klage bis zur Rechtskraft dem mit der Sache befaßten Gericht und nach der Rechtskraft der Vollstreckungsbehörde ( V 3 zu § 98). Soweit das Gericht zuständig ist, kann es, da keine Vollstreckung in Rede steht (§ 36), die Staatsanwaltschaft nicht in Anspruch nehmen. Der Führerschein ist alsbald zurückzugeben, wenn das in Absatz 5 beschriebene Ereignis eingetreten ist. Daß nicht die Rechtskraft des Urteils abgewartet werden darf, in dem das Gericht die Fahrerlaubnis nicht entzieht, ergibt sich aus den Erwägungen, die IV 2 angestellt sind. In den anderen Fällen (Ablehnung oder Aufhebung der vorläufigen Entziehung) kommt eine Rechtskraft, die abgewartet werden könnte, nicht in Betracht. Legt die Staatsanwaltschaft gegen diese Entscheidungen Beschwerde ein, so darf deswegen die Rückgabe des Führerscheins nicht aufgeschoben werden. Wird im Beschwerdeverfahren die Entscheidung, durch die die Rückgabe veranlaßt worden ist, aufgehoben, so wirkt die darin liegende vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis als (erneute) Anordnung der Beschlagnahme (Absatz 2), die dann durch erneute Wegnahme zu vollstrecken ist. VII. Ausländische Fahrausweise (Absatz 6) sind im Regelfall dem Inhaber auf jeden Fall dann zurückzugeben, wenn er die Bundesrepublik verläßt. Daher bezieht sich § 42 m Abs. 3 Satz 2 StGB, der die Einziehung des Führerscheins vorschreibt, nur auf Führerscheine, die von einer deutschen Behörde erteilt worden sind, nicht aber auf ausländische Fahrausweise. Bei ihnen tritt an die Stelle der Einziehung ein Vermerk im Führerschein über die Entziehung der Fahrerlaubnis und die Dauer der Sperre (§ 42 o Abs. 2 StGB). Damit scheidet, weil der ausländische Führerschein nicht der Einziehung unterliegt, eine Beschlagnahme nach §§ 94, 98 aus. Die Anordnung der vorläufigen Entziehung wird in der Weise vollstreckt, daß sie in den ausländischen Fahrausweis eingetragen wird. Wird der Ausweis dazu nicht freiwillig herausgegeben, kann er zu diesem Zweck, und zu keinem anderen, beschlagnahmt werden. Das bedeutet, daß er alsbald nach der Eintragung zurückzugeben ist. Die Beschlagnahme ordnet das Gericht an. Sie wird nach § 36 von der Staatsanwaltschaft durchgeführt, wenn nicht der Vorsitzende des Gerichts die Vollstreckung unmittelbar veranlaßt. Das Gesetz sagt nicht, was zu geschehen hat, wenn der Richter die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis aufhebt oder wenn das Gericht im Urteil die Fahrerlaubnis nicht entzieht. Da der Inhaber eines ausländischen Fahrausweises nicht schlechter gestellt sein kann, als der Inhaber eines von einer deutschen Behörde ausgestellten Führerscheins, müssen die für diesen geltenden Vorschriften (Absatz 5) entsprechend angewendet werden. An die Stelle der Rückgabe des Führerscheins tritt die Tilgung des Vermerks im ausländischen Fahrausweis. NEUNTER ABSCHNITT Verhaftung und vorläufige Festnahme Vo rbemerkungen 1. Schrifttum. A l s b e r g , Festnahme und Untersuchungshaft, JW 1925 1433; A s c h a f f e n b u r g , Die Bedeutung der Untersuchungshaft für die Ermittlung des Tatbestandes, MSchrKrPsych. 1932 257; C o n z e , Die Freiheitsbeschränkung durch Verhaftung und vorläufige Festnahme, Diss. Göttingen 1928; D a h s , Recht und Unrecht der Untersuchungshaft, NJW 1959 505; E b e r m a y e r , Die Haftunfähigkeit, JW 1925 1453; H ä r t u n g , Das Recht der Untersuchungshaft, 1927; v. H e n t i g , Die Bedeutung der Untersuchungshaft für die Ermittlung des Tatbestandes, MSchrKrPsych. 1932 268; H e t z e l , Die Untersuchungshaft nach deutschem, österreichischem, französischem und englischem Recht, 1899; J e s c h e c k , Recht und Praxis der Untersuchungshaft in Deutschland, GA 1962 65; K a s t e n d i e c k , Die Voraussetzungen der Untersuchungshaft, Diss. Göttingen 1965; K l e f i s c h , Zur Reform der Untersuchungshaft, JW 1925 1449; K l e i n k n e c h t , Entscheidungen über die Untersuchungshaft, MDR 1965 781; K o h l r a u s c h , Untersuchungshaft, JW 1925 1440; v. L i l i e n t h a l , Zur Reform der Untersuchungshaft, JW 1925 1448; L o b e - A l s b e r g , Die Untersuchungshaft, 1027; O h m , Persönlichkeitswandel unter Frei652

Neunter Abschnitt. Verhaftung und vorläufige Festnahme (Dünnebier)

V o r

§ 112 Anm. 2

heitsentzug, 1964; R o e s e n , Voraussetzungen eines Haftbefehls, NJW 1953 1733; R o s e n b e r g , Zur Reform der Untersuchungshaft, J W 1925 1446; Die Reform der Untersuchungshaft, ZStW 26 339; S a r s t e d t , Reform der Untersuchungshaft, Justiz 1963 184; S a u e r , Die Praxis der Untersuchungshaft, NJW 1959 1993; S c h m i d t - L e i c h n e r , Haftbefehl und Regreß; NJW 1959 841; Untersuchungshaft und Kleine Strafprozeßreform, NJW 1961 339; S c h m o l z , Die Untersuchungshaft in Theorie und Praxis, Diss. Köln 1930; S c h o r n , Die Rechtsstellung der Untersuchungsgefangenen, J R 1967 448; S e i b e r t , Die Praxis in Haftsachen, DRiZ 1949 106; Der Haftbefehl, NJW 1950 773; S i e v e r t s , Die Wirkungen der Freiheitsstrafe und der Untersuchungshaft, 1929; S p i e c k e r , Reform der Haftjustiz, MSchrKrim. 45 97; T h e u e r k a u f , Untersuchungshaft bei Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung, M D R 1965 179. B a u m a n n , Neue Haftgründe JZ 1962 649; Wird die Untersuchungshaft umfunktioniert? J Z 1969 134, D r e v e s , Die Bestimmungen des Strafprozeßänderungsgesetzes über den Haftbefehl, DRiZ 1965 110; E n d e r , Zur erneuten Reform des Haftrechts — insbesondere zur Vorbeugehaft, N J W 1969 867; G e g e n f u r t n e r , Das Strafprozeß-Änderungsgesetz in der Praxis, DRiZ 1965 334; H e i s s , Eingeengte Untersuchungshaft, N J W 1969 865; H e n g s b e r g e r , Untersuchungshaft und Strafprozeßänderungsgesetz, JZ 1966 209; P h i l i p p , Das künftige Haftrecht und seine Folgen, DRiZ 1965 83; R. S c h m i t t , Strafprozessuale Präventivmaßnahmen, JZ 1965 193; S c h o r n , Die Untersuchungshaft nach dem Strafprozeßänderungsgesetz, NJW 1965 841; W a l d s c h m i d t , Probleme des neuen Haftrechts, NJW 1965 1575. C a r s t e n s , Das Recht des Europarats, 1956; E c h t e r h ö l t e r , Die Europäische Menschenrechtskonvention im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung, J Z 1955 689; Die Europäische Menschenrechtskonvention in der juristischen Praxis, JZ 1956 142; G o l s o n g , Das Rechtsschutz-System der Europäischen Menschenrechts-Konvention, 1958; G u r a d z e , Der Stand der Menschenrechte im Völkerrecht, 1956; H e r z o g , Das Verhältnis der Europäischen Menschenrechtskonvention zu späteren deutschen Gesetzen, DOV 1959 44; Die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zu Art. 5 der Europäischen Menschenrechtskonvention, JZ 1966 657; H o d l e r , Die Europäische Menschenrechtskonvention und das Bonner Grundgesetz, Diss. Göttingen 1953, K r ü g e r , Die Bedeutung der Menschenrechtskonvention für das deutsche Notwehrrecht, NJW 1970 1483; J e s c h e c k , Die Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, NJW 1954 783; M a h l e r , Die Angemessenheit der Untersuchungshaftdauer nach der Menschenrechtskonvention, NJW 1969 353; M a t t i l , Zur Anwendung des Abschnitts I der Europäischen Menschenrechtskonvention, J R 1965 167; M ü n c h , Zur Anwendung der Menschenrechtskonvention in der Bundesrepublik Deutschland, J Z 1961 153; v o n W e b e r , Die strafrechtliche Bedeutung der Europäischen Menschenrechtskonvention, ZStW 65 334; Die Durchsetzung der Grundrechte der Europäischen Menschenrechtskonvention in der innerdeutschen Strafrechtspflege, M D R 1955 386; W i e b r i n g h a u s , Die Rom-Konvention für Menschenrechte in der Praxis der Straßburger Menschenrechtskommission, 1959; W o e s n e r , Die Menschenrechtskonvention in der deutschen Strafrechtspraxis, N J W 1961 1381; Die ersten Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, NJW 1963 694. 2. Entstehungsgeschichte. Obwohl die Regelung der Untersuchungshaft — vielleicht aber mehr die Handhabung der dazu erlassenen Bestimmungen — immer wieder Anlaß zu Angriffen gegeben hatte, war trotz vieler, zum Teil allerdings nur vorübergehender, Eingriffe in das Haftrecht der ursprüngliche Bestand des neunten Abschnitts, selbst in der Fassung ( H a h n Mat. 2 2393), bis zum Strafprozeßänderungsgesetz weitgehend erhalten, wenn man die eingeschobenen Bestimmungen (§§ 114a bis 114d, 115a bis 115d, 126a a. F.) unberücksichtigt läßt. Namentlich die beiden Haftgründe des Fluchtverdachts und der Verdunkelungsgefahr sowie die Beschränkung auf sie, die erst das Strafprozeßänderungsgesetz aufgegeben hat, waren alter Inhalt des Abschnitts. Auch die sonst tief in den Strafprozeß eingreifende „Emminger-Verordnung" 1 hatte das Haftrecht unberührt gelassen. Erst der weite Kreise erregende Tod des ehemaligen Ministers H ö f l e in der Untersuchungshaft war Ansporn, das Haftkontrollverfahren durch ein periodisches Haftprüfungsverfahren neu zu regeln2. 1 2

Verordnung über Gerichtsverfassung und Strafrechtspflege vom 4. 1. 1924 (RGBl. I 15). Gesetz zur Abänderung der Untersuchungshaft vom 27. 12. 1926 (RGBl. I 529).

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Vor § 112 Anm. 3

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

Der Glaube, damit das Beste gefunden zu haben, war so groß, daß die periodische Haftprüfung in den Grundrechtsteil einiger Landesverfassungen aufgenommen worden ist. Aber schon acht Jahre später wurde sie wieder abgeschafft 3 . Kurze Zeit danach wurden die beiden klassischen Haftgründe um zwei neue vermehrt 4 . Die Untersuchungshaft wurde für zulässig erklärt, wenn zu befürchten war, daß der Beschuldigte die Freiheit zu neuen strafbaren Handlungen mißbrauchen werde; oder wenn es mit Rücksicht auf die Schwere der Tat und die durch sie hervorgerufene Erregung der Öffentlichkeit nicht erträglich wäre, den Angeschuldigten in Freiheit zu lassen. Nachdem in den einzelnen Besatzungszonen bereits 1946 der Haftgrund der Erregung der Öffentlichkeit beseitigt worden war, kehrte das Vereinheitlichungsgesetz 5 allgemein auf den Rechtszustand von 1926 zurück. Erhalten blieb der 1933 6 eingefügte § 126a über die einstweilige Unterbringung von Zurechnungsunfähigen. Die §§ 114a (jetzt 114b), 128,129 und 131 wurden an Art. 104 G G angepaßt. Das Dritte Strafrechtsänderungsgesetz 7 hat § 117 verbessert. Tiefere Eingriffe hat erst das Strafprozeßänderungsgesetz8 gebracht. Es will mit seinen Änderungen sowohl die Zahl der Verhaftungen als auch die Dauer der Untersuchungshaft einschränken. Dazu bedient es sich im wesentlichen folgender vier Mittel: Die Voraussetzungen der Haft werden bestimmter und enger umschrieben; der Haftgrund der Verdunkelungsgefahr wird aufs äußerste eingeschränkt, die Begründungspflicht verschärft. Bei Bagatelldelikten wird die Untersuchungshaft stärker als bisher ausgeschlossen. Begrenzt werden die Bagatelldelikte durch eine Strafandrohung von sechs Monaten Freiheitsstrafe. Der darin liegende Gedanke, daß das Übel der Untersuchungshaft zu dem zu erwartenden Ergebnis des Verfahrens in einem angemessenen Verhältnis stehen müsse, wird darüber hinaus durch den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit betont (§ 112 Abs. 1 Satz 2, § 120 Abs. 1 Satz 1,2. Halbsatz). Sollen diese beiden Bestimmungen die Anordnung der Untersuchungshaft einschränken, so dienen zwei weitere Änderungen dem Ziel, die Haft abzukürzen. Die periodische Haftprüfung wird abgeschafft, die Haftprüfung in die Initiative des Beschuldigten gegeben und ihm dazu in beschränktem Umfang die mündliche Verhandlung zur Verfügung gestellt. Der Verzicht auf periodische Haftprüfung ist wohl dadurch erleichtert worden, daß die Untersuchungshaft vor einem freiheitsentziehenden Urteil grundsätzlich nicht länger als sechs Monate dauern darf (§ 121 Abs. 1 und 2). Mit dieser Regelung erfahrt die Forderung der Menschenrechtskonvention, daß jeder Verhaftete den Anspruch hat, entweder in angemessener Frist abgeurteilt oder, wenn das nicht geschieht, freigelassen zu werden, ihre nationale Ausgestaltung. Die bisherigen sichernden Maßnahmen vor dem Urteil (§ l i l a : vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis; § 126a: einstweilige Unterbringung eines Zurechnungsunfähigen) baut der Gesetzgeber durch den Haftgrund der Wiederholungsgefahr bei Sittlichkeitsverbrechern weiter aus. Trotz der Benennung handelt es sich dabei nicht um Untersuchungshaft, sondern um Sicherungshaft. 3. Untersuchungshaft und einstweilige Unterbringung. Zweck der Untersuchungshaft ist, ein inländisches Strafverfahren ( § 1 1 2 Abs. 2 Nr. 2), die Untersuchung (§ 124 Abs. 1), 3

4

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Gesetz zur Änderung von Vorschriften des Strafrechts und des Strafverfahrens vom 2 4 . 4 . 1934 (RGBl. 1341). Art. 5 des Gesetzes zur Änderung von Vorschriften des Strafverfahrens und des Gerichtsverfassungsgesetzes vom 28. 6. 1935 (RGBl. I 844). Gesetz zur Wiederherstellung der Rechtseinheit auf dem Gebiete der Gerichtsverfassung, der bürgerlichen Rechtspflege, des Strafverfahrens und des Kostenrechts vom 12. 9. 1950 (BGBl. 455, 631). Ausführungsverordnung zum Gesetz gegen gefahrliche Gewohnheitsverbrecher und über Maßregeln der Sicherung und Besserung vom 24. 11. 1933 (RGBl. I 1000). vom 4. 8. 1953 (BGBl. I 735). Gesetz zur Änderung der Strafprozeßordnung und des Gerichtsverfassungsgesetzes (StPÄG) vom 19. 12. 1964 (RGBl. I 1067).

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Neunter Abschnitt. Verhaftung und vorläufige Festnahme (Dünnebier)

V o r § 112 Anm. 4

gegen Verdunkelung und gegen Flucht (§112 Abs. 2) des Beschuldigten sowie den Antritt einer in diesem Verfahren erkannten Freiheitsstrafe oder freiheitsentziehenden Maßregel der Besserung und Sicherung (§§ 42b, 42c, 42e StGB) zu sichern (§ 124 Abs. 1; BVerfGE 19 342 = NJW 1966 244; Nr. 1 Abs. 1 UVollzO). Den Vollzug nicht freiheitsentziehender Maßregeln (§§ 42 1, 42 m StGB) oder einer Geldstrafe sicherzustellen, ist dagegen nicht Zweck der Untersuchungshaft (II 4 zu § 124). Ebenso darf sie keine erzieherischen oder strafverhütenden Zwecke erfüllen. Selbstverständlich ist sie auch keine „Ordnungsstrafe" für einen Beschuldigten, der sich der Strafverfolgung nicht stellt (OLG Düsseldorf NJW 1969 439). Grundsätzlich hat sie auch nicht, wie gelegentlich 9 behauptet worden ist, die Funktion, die Allgemeinheit vor weiteren Straftaten zu schützen. Eine Ausnahme enthält das geltende Recht in § 112 Abs. 3 („Untersuchungshaft" bei Sittlichkeitsverbre-' ehern). Selbstverständlich ist, daß die Untersuchungshaft kein Druckmittel sein darf, um den Verhafteten geständnisreif zu machen, und keine Erleichterung, ungestört ermitteln zu können 10 . Die Untersuchungshaft ist Einsperrung in einer geschlossenen Anstalt, wobei die zivile Lebensführung soweit als möglich unangetastet bleiben muß, aber so weit eingeschränkt werden darf, als es notwendig ist, den Haftzweck zu sichern und die Ordnung in der Anstalt aufrechtzuerhalten. Das Verhalten des Gefangenen wird nach dem Wortlaut des Gesetzes anhand (kaum zulänglicher) gesetzlicher Richtlinien durch eine Unzahl richterlicher Verfügungen geregelt. In Wirklichkeit wird es durch die Untersuchungshaftvollzugsordnung bestimmt, die im Einzelfall durch richterliche Anordnungen verdrängt werden kann (I 2 zu §119). Ist die Untersuchungshaft danach grundsätzlich lediglich eine prozeßsichernde Maßnahme, die an einem als unschuldig Geltenden (Art. 6 Abs. 2 MenschRKonv.) vollzogen wird, so wird sie doch „erlitten" (§ 60 StGB); der Untersuchungsgefangene empfindet sie als ein Übel. Dieses trifft den Gestrauchelten oft härter als die Freiheitsstrafe; für den Kriminellen dagegen nimmt die Untersuchungshaft die Strafe in erleichterter Form vorweg. Wegen ihres Ubelcharakters ist sie grundsätzlich und regelmäßig auf die Strafe anzurechnen (§ 60 StGB). Die einstweilige Unterbringung (§ 126a) dient im Gegensatz zur Untersuchungshaft nicht der Verfahrenssicherung. Wie die Untersuchungshaft sichert sie den künftigen Vollzug einer Freiheitsentziehung, doch ist das nicht ihre Aufgabe. Der Zweck, der dazu geführt hat, die Rechtseinrichtung zu schaffen, ist vielmehr ein der Untersuchungshaft fremder: die Allgemeinheit vor weiteren Straftaten des verbrecherischen Geisteskranken zu schützen. Weil der einstweiligen Unterbringung der Charakter des Vorläufigen anhaftet, wird sie in vielen Beziehungen wie die Untersuchungshaft behandelt (§ 126a Abs. 2 Satz 1). Ihrer Bestimmung nach gehört sie mit der vorläufigen Entziehung der Fahrerlaubnis und mit der „Untersuchungshaft" gegen wiederholungsverdächtige Sittlichkeitsverbrecher zusammen. Die äußere Grundlage für die Untersuchungshaft ist der Haftbefehl (§ 114), doch kann die Vollstreckung eines zu erwartenden Haftbefehls in Eilfallen vorweggenommen werden (§ 127 Abs. 2). Der einstweiligen Unterbringung dient der Unterbringungsbefehl (§ 126 a). Grundlage des Vollzugs ist in beiden Fällen ein schriftliches richterliches Aufnahmeersuchen ( § 1 5 UVollzO). Haftbefehl und Unterbringungsbefehl können nur durch eine andere richterliche Anordnung aufgehoben werden. Automatische Folgen der Verletzung von richterlichen Pflichten, etwa einer unterlassenen Vernehmung (§ 114b), einer übersehenen Entscheidung auf einen Antrag auf mündliche Verhandlung (§ 114d Abs. 1), eines unterbliebenen Haftprüfungsverfahrens (§ 115a), sieht das Gesetz nicht vor. Deshalb kommt der Benachrichtigung eines Außenstehenden von jeder Entscheidung über die Fortdauer der Haft oder der einstweiligen Unterbringung (§ 114b Abs. 1; § 126a Abs. 2 Satz 1) besondere Bedeutung zu. 4. Im Privatklageverfahren sind Untersuchungshaft und einstweilige Unterbringung 9 10

S i e g e r t JW 1925 930; H ä r t u n g 926; K a s t e n d i e k 63. K o h l r a u s c h 1441; S e i b e r t NJW 1950 773; R o e s e n 1734; S c h m i d t - L e i c h n e r 845; bedenklich P e t e r s § 47 A I: „ Verwahrung zur Gewährleistung der Ermittlungsaufgaben".

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V o r § 112

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

Antn. 5 ausgeschlossen 1 1 . Für den Ausschluß spricht allerdings nicht 1 2 der Wortlaut der §§ 125. 126, der die öffentliche Klage behandelt. Denn nach Eröffnung des Hauptverfahrens richtet sich das weitere Verfahren nach den Vorschriften, die für den Offizialprozeß gegeben sind (§ 384 Abs. 1). Sie umfassen die Untersuchungshaft ebenso wie die Beschlagnahme 1 3 , bei der in § 98 Abs. 2 Satz 3 ebenso wie in §§ 125, 126 nur von öffentlicher und nicht auch von Privatklage die Rede ist. Wohl aber schließt § 387 Abs. 3 die Zulässigkeit der Untersuchungshaft in Privatklagesachen aus. Er läßt beim Ausbleiben des im Privatklageverfahren Angeklagten nur die Vorführung, aber keinen Haftbefehl zu. Aus dem Gegensatz zu § 230 Abs. 2 kann auf die Unzulässigkeit der Untersuchungshaft im Privatklageverfahren schlechthin geschlossen werden M. Ausschlaggebend ist aber wohl die Erwägung — die auch das gesetzgeberische Motiv für § 387 Abs. 3 sein dürfte —, daß nach dem Grundsatze der Verhältnismäßigkeit der schwere Eingriff der Untersuchungshaft — anders als der weniger tiefgreifende Eingriff der Beschlagnahme — bei solchen Delikten ausgeschlossen ist, die zu verfolgen der Staat dem Privaten überläßt, weil kein öffentliches Interesse besteht, das von Amts wegen zu tun. Auch die einstweilige Unterbringung scheidet aus ähnlichen Erwägun gen aus. Kommt Untersuchungshaft oder einstweilige Unterbringung in Betracht, was nach Art der Delikte ohnehin selten der Fall sein wird, dann liegt die Verfolgung im öffentlichen Interesse (§ 376). Es ist bedauerlich, daß der Gesetzgeber die alte Streitfrage nicht durch eine Ergänzung des § 113 geklärt hat; für eine Reform ist eine solche Klärung zu wünschen. Ergänzende Anordnungen zur Untersuchungshaft und zur einstweiligen Unterbringung treffen § 207 Abs. 4 und § 268 b (Entscheidung über die Fortdauer der Untersuchungshaft oder der einstweiligen Unterbringung bei Zulassung der Anklage und bei Verurteilung). Weitere Vorschriften über Haft enthalten § 230 Abs. 2. § 236 (sog. Ungehorsamhaft), § 457 (Haftbefehl zur Erzwingung des Strafantritts); § 177 G V G ; § 164 StPO (Sitzungspolizei), § 178 G V G (Ordnungsstrafe), § 183 Satz 2 G V G (vorläufige Festnahme in der Sitzung). Besonders, aber in Anlehnung an das Haftrecht der Strafprozeßordnung, ist die Haft in Auslieferungssachen geregelt in §§ 10 bis 23, 30 D A G , und diejenige für Gerichte der D D R in § 4 Abs. 3 R A H G . 5. Kritik. Der Untersuchungsgefangene gilt, da er noch nicht verurteilt ist, als unschuldig (Art. 6 Abs. 2 MenschRKonv.): zuweilen ist er es. Mit der Anordnung der Untersuchungshaft ist von Rechts wegen kein Vorwurf verbunden. Gleichwohl belastet die Haft den Gefangenen schwer. Von der Außenwelt weitgehend abgeschlossen, um Familie, Beruf und soziale Stellung besorgt, kann er in eine seelische Erschöpfung geraten, die ihn in seiner Verteidigungsfähigkeit beeinträchtigt. Ein solcher Zustand läuft nicht nur seinem Interesse zuwider, sondern auch dem des Staates, der die freie Verteidigung als eine der Grundlagen, die Wahrheit zu finden, jederzeit sicherstellen muß. Daher darf die Untersuchungshaft nur dann verhängt und nur solange aufrechterhalten werden, als das unbedingt erforderlich ist. Das neue Haftrecht ist, wenn es richtig angewendet wird, weitgehend geeignet, sowohl dem Zweck der Untersuchung zu dienen, als auch der Forderung nachzukommen, von der Untersuchungshaft nur den sparsamsten Gebrauch zu machen. Es läßt aber erfüllbare Wünsche für eine künftige Reform offen. Will der Richter einen Beschuldigten in Haft nehmen, muß er die Voraussetzungen des § 112 nachweisen, sie nach § 114 begründen und sogleich nach § 116 prüfen, ob er davon absehen kann, die angeordnete Haft zu vollziehen. Die Regeln, die er nach den drei Bestimmungen zu beachten hat, sind zu vielfältig und kompliziert. Haben sie ihren Zweck erfüllt, die Untersuchungshaft einzuschränken, wird ein künftiger Gesetzgeber einfachere Formulierungen vorziehen. Der Haftgrund der Fluchtgefahr ist in keinem Strafprozeßrecht zu entbehren. Der u

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H ä r t u n g 6 zu § 112; H i p p e l 442; P e t e r s § 47 A II 3; H e n k e l § 67 A II 4. Fußn. 12; K e r n R o x i n § 31 B II 4; K l 1 B zu § 112; M ü l l e r - S a x 4 zu § 384; S a n g m e i s t e r N J W 1964 16; Begr. E 1919 S. 68; a. A. O L G Köln A l s b . E I 249; L o b e - A l s b e r g Eint. 8. So E b S c h m i d t , Nachtr. 2 zu § 112. II 1 Abs. 2 zu § 94; E b S c h m i d t , Vorbem. 5 zum achten Abschnitt. E b S c h m i d t Nachtr. 2 zu § 12; a. A. — § 114 und § 230 S t P O sind ganz und gar unterschiedlich — S a n g m e i s t e r aaO.

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Neunter Abschnitt. Vor § 1 1 2 Verhaftung und vorläufige Festnahme (Dünnebier) Anm. 5 Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, den das neue Haftrecht zweimal betont (§112 Abs. 1 Satz 2; § 120 Abs. 1 Satz 1, 2. Halbsatz), verlangt jedoch bei Bagatellstrafsachen Zurückhaltung. Dem trägt § 113 Rechnung, doch hätte der Gesetzgeber dem Richter mehr Verantwortung abnehmen und die Ausnahmeregelung großzügiger gestalten können 15 . Die Zahl der Fälle, in denen Untersuchungshaft ausschließlich wegen Verdunkelungsgefahr verhängt wird, ist klein. Von einem Mißbrauch dieses Haftgrunds wird man nicht sprechen können, wenn er auch in seltenen Fällen beobachtet worden ist („weil die Ermittlungen noch nicht abgeschlossen sind"). Der Haftgrund ist für Ausnahmefälle nicht zu entbehren ( R o s e n b e r g 1447). Wenn jetzt auf die aus bestimmten Tatsachen erkennbare Absicht abgestellt wird, in genau umschriebenen Formen zu verdunkeln, ist die Grenze des für die Praxis Tragbaren erreicht 16 . Der Haftgrund kann keineswegs, wie gelegentlich gefordert worden ist, an die Voraussetzung geknüpft werden, daß der Beschuldigte in der laufenden Strafsache bereits einmal zu verdunkeln unternommen hat. Die neugeschaffene Untersuchungshaft bei Verbrechen wider das Leben (§112 Abs. 4) ist keine Bereicherung des Haftrechts. Der grobgeschnittene Tatbestand hat auch alsbald zu Auslegungsschwierigkeiten und zu einer Korrektur durch das Bundesverfassungsgericht geführt (16b zu § 112; 8 zu § 116). Bei einer künftigen Reform sollte auf ihn verzichtet werden. Das Gericht muß den Haftbefehl aufheben, „sobald" die Voraussetzungen der Untersuchungshaft nicht mehr vorliegen (§ 120 Abs. 1 Satz 1). Dazu muß der Richter unabhängig von Anträgen jederzeit prüfen, ob der Haftbefehl aufzuheben oder sein Vollzug auszusetzen ist (s. 22 zu § 112; I zu § 120). Es war ein überzeugender Gedanke, den Richter an diese dauernde Pflicht durch den Befehl periodischer Haftprüfung zu gemahnen. Die gute Idee hat sich indessen in der Praxis nicht bewährt. Haftbefehle sind häufiger auf wohlbegründete Anträge, auf Haftbeschwerden und namentlich auf weitere Beschwerden aufgehoben worden als bei periodischen Haftprüfungen. Da mit diesen vielfach Zeit vertan worden ist, die besser den Ermittlungen gewidmet worden wäre, ist die Entscheidung der Novelle, die Haftprüfung in die Initiative des Beschuldigten zu stellen, ein beachtlicher Versuch; wie er sich auswirkt, wird sorgfältig zu beobachten sein. Die Staatsanwaltschaft wird die Haftfrage von Amts wegen bei der nicht geringen Zahl von Beschuldigten prüfen müssen, die sich aller Anträge und Beschwerden enthalten. Erwägt man den verhältnismäßig großen Anteil von Gefangenen, deren Verfahren ohne Urteil, mit Freispruch, mit Geldstrafe oder mit geringen oder zur Bewährung ausgesetzten Freiheitsstrafen endet, dann empfindet man die doppelte Betonung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit als den größten Gewinn, den die Neufassung erwarten läßt. Daneben kommt der Haftprüfung, die das Oberlandesgericht vor Ablauf von sechs Monaten anstellen muß, nahezu gleiche Bedeutung zu. Zu Unrecht bezeichnet S p i e c k e r (101) sie als eine bloße Verzögerung des Verfahrens. Sie hat sich im Gegenteil wegen der strengen Anforderungen für eine Haftverlängerung als ein starker Antrieb erwiesen, die Ermittlungen zu beschleunigen. Leider sind die §§ 121, 122 nicht klar genug abgefaßt. In der Praxis hat die Kontrolle durch das Oberlandesgericht (§§ 121, 122) eine doppelte Wirkung gezeitigt. Zum ersten hat sich der Druck, daß nach sechs Monaten Haftvollzuges eine Uberprüfung eintritt, positiv ausgewirkt; Hauptverhandlungen, die nach Ablauf jener 15

Die Bestimmung zeigt die Möglichkeiten, mit denen der Gesetzgeber die Untersuchungshaft wohl wirksamer einschränken kann, als wenn er fortfahrt, die Voraussetzungen der Haft mit Hilfe von Klauseln und Kautelen zu erschweren, die die Praxis kaum anwenden kann, ja in einigen Fällen unbeachtet lassen muß, wenn sie dem erkennbaren Willen des Gesetzgebers genügen will. Im Falle des § 113 wird, von den in Absatz 2 aufgeführten Ausnahmen abgesehen, selbst bei Fluchtgefahr die Verhaftung untersagt, obwohl im Einzelfall eine Strafe von sechs Monaten erwartet werden kann. Das ist ein klarer Verzicht des Gesetzgebers, nicht nur auf die Haft, sondern ggf. auch auf die Durchführung des Verfahrens überhaupt. Die Regelung sollte bei einer Reform nicht auf die Strafdrohung, sondern auf die zu erwartende Strafe aufbauen und diese Strafe mit neun Monaten bemessen. Damit würde der Gesetzgeber die Entscheidung übernehmen, die die Praxis ihm, wie sich gezeigt hat, nicht abgenommen hat und wohl auch nicht abnehmen will. Würde auf diese Weise die Kleinkriminalität großzügig von der Untersuchungshaft ausgenommen, dann wären wohl die augenfälligsten Beschwerden beseitigt.

" P e t e r s § 47 A II 2b cc hält die Regelung der Novelle für bedenklich.

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V o r § 112 Strafprozeßordnung. Erstes Buch Anm. 6 Frist beginnen, sind bedeutend seltener geworden. Auf der anderen Seite sind die Termine dann nicht immer mit besonderer Beschleunigung angesetzt worden, wenn es möglich gewesen ist, einen „normalen" Termin innerhalb der Sechsmonatsfrist unterzubringen. Die Anstrengungen, innerhalb von sechs Monaten zum Termin zu kommen, sind also verstärkt worden, dagegen sind Bemühungen, mit denen die Haft weiter hätte abgekürzt werden können, oft dann unterblieben, wenn gesichert war, daß der Termin noch rechtzeitig stattfinden werde. Auch ist über die Verzögerung geklagt worden, die das Prüfungsverfahren mit sich bringt 11 . Ob die dargestellte positive Wirkung der §§ 121, 122 anhalten wird, ist fraglich. Die Gerichte haben 18 bei Kapitalverbrechen nur in seltenen Fällen den Beschuldigten deshalb entlassen, weil die Sache verzögerlich bearbeitet worden war; meist wurde ein Ausweg gefunden, das zu vermeiden". Die großzügige Handhabung bei Kapitalverbrechen droht in die Praxis auch dann überzugehen, wenn es sich nicht um Kapitalverbrechen, sondern um weniger bedeutende Delikte handelt, bei denen nach dem Willen des Gesetzgebers ganz eindeutig die Haftentlassung stattfinden soll, selbst auf die Gefahr, daß das Verfahren nicht zu Ende gebracht werden kann. Die bedauerliche Feststellung, daß die Dauer der Untersuchungshaft seit Beginn des Jahrhunderts wesentlich zugenommen hat 20 , richtet das Augenmerk auf die Erkenntnis, daß letztlich nicht der Gesetzestext über die Güte des Haftrechts entscheidet, sondern seine Anwendung in der Praxis. Wenn die Praxis jede Routine vermeidet ( S a u e r 1994), wenn sie der Erfahrung vertraut, daß der mit der Untersuchungshaft Verschonte nur selten die Flucht ergreift ( A l s b e r g 1436), wenn sie sich durch gleichwohl getäuschtes Vertrauen nicht verhärten läßt, wird eine maßvolle Haftpraxis zu erzielen sein. Konzentrierte Bearbeitung und der Einsatz technischer Mittel, zu denen namentlich Hilfsakten mit den Durchschlägen von Vernehmungsprotokollen usw. gehören ( S p i e c k e r 102; § 48 Abs. 1 Satz 5 AktO NRW), werden das Verfahren in Haftsachen und damit die Untersuchungshaft wirksam abzukürzen helfen. Zum Abschluß sei noch auf einige Einzelheiten hingewiesen: Zwar wird man die zuweilen nicht ganz unbedenkliche Entlassung bei Freispruch (§ 120 Abs. 1 Satz 2) hinnehmen können. Dagegen ist es oft schwer tragbar, daß § 120 Abs. 2 auch bei sonstigen haftaufhebenden Entscheidungen verbietet, die Vollziehung auszusetzen (§ 307 Abs. 2), wenn Beschwerde erhoben wird. Eine aufschiebende Wirkung für die staatsanwaltschaftliche Beschwerde (vgl. § 454 Abs. 2 Satz 2), wenn sie innerhalb von 24 Stunden eingelegt wird, für die Dauer von etwa drei Tagen wäre der Praxis dringend erwünscht 21 . — Der in § 127 Abs. 3 zum Ausdruck kommende Grundsatz muß in § 114 aufgenommen werden. — Die Bestimmungen über die Sicherheitsleistung gehören zu den am schlechtesten gefaßten des Gesetzes ( G e r d i n g 1), die 1. Alternative des § 123 Abs. 3 ist nahezu unverständlich (7 zu § 123). - § 119 würde nach dem Vorbild von E 1930 (§ 132) besser am Schluß des Abschnitts stehen. 6. Sicherungshaft. Kritik hat die „Untersuchungshaft" für Sittlichkeitsverbrecher erfahren, von denen Wiederholungsgefahr droht (§112 Abs. 3). Allerdings wäre es richtiger gewesen, sie klar als Sicherungshaft 22 auszugestalten und mit der vorläufigen Entziehung der Fahrerlaubnis (§ l i l a ) und der einstweiligen Unterbringung (§ 126a) in einem Abschnitt " S i e b e r t JZ 1967 506. 18 wie der Abgeordnete Dr. Kanka richtig vorausgesagt hat (BTRAusschuß-Prot. 37/31. 19 Hinter einer solchen Zurückhaltung steht ein vernünftiger Gedanke, der in der Regierungsvorlage (BTDrucks. IV 178, S. 5), allerdings zu weitgehend, mit der Fassung zum Ausdruck kam, daß die Haft aufrechterhalten werden könne, „wenn wichtige Belange der Strafrechtspflege die F o r t d a u e r . . . erfordern", und die im Bundestag gefallen ist (Einzelheiten bei D ü n n e b i e r JZ 1966 251). 20 Nach der Statistik von 1908 (Reichstag, Aktenstück 638, S. 3723; Mat. zur StrRRef. 13) war die Untersuchungshaft nur in 5,9% der Fälle länger als drei Monate; freilich waren 55,22% wegen Verdachts lediglich einer Übertretung in Haft. Nach der Querschnittsstatistik 1961 waren länger als sechs Monate 27,9% in Untersuchungshaft (vgl. ErgBd. der Vorauflage 5 vor § 112). 21 Es soll freilich nicht verschwiegen werden, daß der einzige dahingehende Vorschlag aus der Reformgeschichte sich in § 210 Abs. 2, § 215 Abs. 3 Satz 2 E 1939 findet. 22 Vgl. BTProt. IV 6438 B, 6444 A. Ebenso K e r n - R o x i n (§ 31 B II c): „eine Art Sicherungshaft, ähnlich wie in § 126 a".

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Neunter Abschnitt. Vor § 1 1 2 Verhaftung und vorläufige Festnahme (Dünnebier) Anm. 6 zusammenzustellen. Diese vorläufigen Maßnahmen sind solange gerechtfertigt, als auch die endgültige Entziehung der Fahrerlaubnis (§ 42 m StGB) und die Anordnung der Unterbringung in einer Heil- oder Pflegeanstalt (§ 42 b StGB) dem Strafverfahren überlassen bleiben und nicht ins Verwaltungsverfahren zurückgegeben werden. Hält man danach die beiden vorläufigen Maßnahmen im Strafprozeß für zulässig 23 , dann kann man nicht die Sicherungshaft für Wiederholungstäter ablehnen. Dem Einwand B a u m a n n s (693), eine vorläufige Verwahrung wäre nur sinnvoll, wenn das Strafrecht die Verwahrung gefahrlicher Täter allgemein zuließe, ist entgegenzuhalten, daß die Strafe Elemente der Sicherung in sich trägt und somit die Sicherungshaft für Sittlichkeitsverbrecher, von denen Wiederholungsgefahr droht, eine vorweggenommene Strafvollstreckung ist. Sie ist nicht systemwidriger als die vorweggenommene Unterbringung in einer Heil- oder Pflegeanstalt oder als die vorweggenommene Entziehung der Fahrerlaubnis. Der Ernst, mit dem der Gesetzgeber die Sicherungshaft beschränkt hat, verdient Achtung; aber anzuerkennen ist das Ergebnis nicht 24 . Ebenso wie der Sittlichkeitsverbrecher, der sich laufend an Kindern vergangen hat, können auch der arbeitsscheue Seriendieb und der Kreditbetrüger ( H a b e n i c h t 402), der ein Loch aufreißt, um ein anderes zu stopfen, feste Wohnung haben, in ihr Schicksal ergeben sein und keine Fluchtgedanken hegen. Aber vom Verbrechen werden sie noch mehr als der Sittlichkeitsverbrecher allenfalls dann lassen, wenn sie ihre Strafe verbüßt haben werden. Sie bilden eine Gefahr für die Allgemeinheit ebenso wie der Sittlichkeitsverbrecher, von dem Wiederholung droht, wie der geisteskranke Verbrecher (§ 126 a) und wie der gemeingefährliche Kraftfahrer ( § 1 1 1 a). Aber die Mittel, die für die drei genannten Gruppen zur Verfügung stehen, um die Öffentlichkeit vor weiteren Straftaten zu sichern, versagt das Gesetz gegenüber schuldfahigen Tätern, von denen auf anderen Gebieten als dem der Sittlichkeitsverbrechen und des Straßenverkehrs durch Wiederholung ihrer Straftaten eine Gefahr für die Allgemeinheit droht. Die meisten von ihnen kamen als Rückfallverbrecher in Untersuchungshaft, indem die Praxis sich mit der Annahme behalf, daß der gesetzlich begründete Fluchtverdacht durch die persönlichen Verhältnisse des Beschuldigten nicht ausgeräumt sei25. Sie bilden auch den größten Anteil an der Gruppe der Untersuchungshäftlinge, die keine Haftbeschwerde einlegen, so daß die gesetzlich nicht einwandfreie aber nicht unverständliche 26 Haftanordnung selten angegriffen wurde. Das neue Haftrecht läßt diese Begründung nicht mehr zu; der Richter muß ihm bekannte Neigungstäter entlassen. Sie fliehen nicht, werden aber alsbald wieder straffällig, bis sie zum Strafvollzug eingesperrt und durch ihn für einige Zeit abgeschreckt sind. Es wäre daher erwünscht, daß — unter strengen Voraussetzungen sowohl in bezug auf Vorstrafen als auch auf die Prognose neuer erheblicher Taten — der Haftgrund des § 112 Abs. 3 zu einer vorläufigen Verwahrung für solche Serientäter ausgebaut würde, von denen empirisch erwiesen ist, daß sie trotz Aufdeckung einer Tat sich nicht von weiteren abhalten lassen. Die Menschenrechtskonvention läßt in Art. 5 Abs. 1 Buchst, c die Freiheitsentziehung zu dem Zweck zu, den Beschuldigten zu hindern, eine strafbare Handlung zu begehen. In Übereinstimmung damit sieht das Jugendgerichtsgesetz die einstweilige Unterbringung in einem Erziehungsheim vor, wenn Jugendstrafe zu erwarten und die Unterbringung geboten ist, u. a. um einem Mißbrauch der Freiheit zu neuen Straftaten entgegenzuwirken (§ 71 Abs. 2 JGG). Eine solche „Sicherungshaft" müßte allerdings deutlich von der Untersuchungshaft abgehoben sein. Die Haft müßte ohne Ausnahme auf die Strafe angerechnet werden. Die §§ 121, 122 müßten Anwendung finden. Denn wer, ohne Anlaß zu Untersuchungshaft zu geben und ohne verurteilt zu sein, in Haft gerät, hat Anspruch auf besonders beschleunigte Abwicklung des Verfahrens oder, wenn das versäumt wird, auf Freilassung trotz seiner Gefährlichkeit. Wegen dieser besonderen Situation müßte zusätzlich eine besondere Zeitgrenze von höchstens einem Jahr gesetzt werden, nach deren Ablauf der Beschuldigte ohne Verlängerungsmöglichkeit freigelassen werden müßte, wenn noch kein Urteil ergangen ist. 23 24 25

26

Vgl. dazu S e e b o d e Z P R 1969 27 und LG Heidelberg NJW 1969 1636. S i e b e r t JZ 1967 506; B e r t r a m MSchrKrim. 51 288. OLG Nürnberg HESt 2 85; O L G Celle NJW 1950 240; BJM bei BVerfGE 19 346 = NJW 1966 243; D ö r f f l e r , Berichte der amtl. StPkomm. 268; S c h m i t t JZ 1965 194. S e i b e r t NJW 1950 773: Man sollte „doch die Kirche im Dorfe lassen".

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Vor § 112 Anm. 7

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

Die in dieser Richtung vorgelegten, unerledigt gebliebenen Entwürfe 27 sind nicht annehmbar. Sie fassen den Straftatenkatalog zu weit, die Vorstrafenvoraussetzungen zu eng und setzen die den Eingriff rechtfertigende, zu erwartende Strafe zu niedrig an. Nach der kriminalistischen Erfahrung ist eine Sicherungshaft nur notwendig bei rückfälligen Seriendieben und -Betrügern. Sie sollte auf solche Fälle beschränkt werden, bei denen Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr zu erwarten und Strafaussetzung zur Bewährung ausgeschlossen ist 28 . 7. Landesverfassungsrecht. Einige Landesverfassungen enthalten Bestimmungen, durch die Schutzvorschriften des Haftrechts verschärft oder Anordnungen getroffen werden, die der Strafprozeßordnung entgegenstehen. Zur ersten Gruppe gehören Art. 19 Abs. 2 LVerf. Hessen und Art. 5 Abs. 2 Satz 1 LVerf. Rheinland-Pfalz. Danach ist der Festgenommene binnen 24 Stunden dem Richter vorzuführen, und nicht spätestens am Tage nach der Ergreifung oder vorläufigen Festnahme (§115 Abs. 1, § 115a Abs. 1, § 128 Abs. 1). Hierzu rechnet weiter Art. 102 Abs. 2 Satz 1 LVerf. Bayern. Nach dieser Vorschrift ist der Festgenommene spätestens am Tage nach der Festnahme dem zuständigen Richter vorzuführen. Die Möglichkeit, ihn zum nächsten Amtsrichter zu bringen (§ 115a Abs. 1), entfällt (wenn man nicht die Worte zuständiger Richter als gesetzlicher Richter lesen will). Zur anderen Gruppe zählen Art. 5 Abs. 4 Satz 3 LVerf. Bremen, Art. 19 Abs. 2 Satz 1 LVerf. Hessen und Art. 5 Abs. 2 Satz 2 LVerf. Rheinland-Pfalz. Dort wird angeordnet, daß das Gericht in bestimmten Zwischenräumen — in Hessen und Rheinland-Pfalz monatlich, in Bremen alle zwei Monate — von Amts wegen nachprüfen müsse, ob die Fortdauer der Haft gerechtfertigt sei. Diese Bestimmungen stehen in Widerspruch zu § 117, der abgesehen von einer Ausnahme (§117 Abs. 5) keine periodische Haftprüfung von Amts wegen mehr kennt; der Gesetzgeber hat sie vielmehr ausdrücklich verworfen 29 . Alle diese Vorschriften haben ihren Platz in den Grundrechtsteilen der Landesverfassungen. Wenn sie Landesgrundrechte enthalten, ist ihre Gültigkeit nach Art. 142 G G zu beurteilen. Ob sie Grundrechte sind oder (nur) Verfassungsbefehle, die an Grundrechte angeschlossen sind, und ob sie im letzten Fall Grundrechtsrang haben und daher wie Grundrechte zu behandeln sind, kann dahingestellt bleiben. Denn alle Vorschriften sind in bezug auf die Strafprozeßordnung aus folgenden Erwägungen außer Gültigkeit 30 . Nach Art. 31 G G bricht Bundesrecht Landesrecht; d. h. zulässiges Bundesrecht beseitigt Landesrecht, das zum gleichen Gegenstand wie Bundesrecht ergangen ist ( v . M a n g o l d t K l e i n 3c zu Art. 31), auf jeden Fall, wenn es ihm entgegensteht ( M a u n z - D ü r i g 6 zu Art. 31), und zwar auch dann, wenn das Landesrecht Landesverfassungsrecht ist ( M a u n z D ü r i g 5 zu Art. 31). Als Ausnahme hiervon bleiben nach Art. 142 G G Bestimmungen der Landesverfassungen auch insoweit in Kraft, als sie in Übereinstimmung mit den Art. 1 bis 18 (genauer: 17) des Grundgesetzes Grundrechte gewährleisten. Die Vorschrift hat einen doppelten Inhalt: einmal bleiben mit Bundesgrundrechten übereinstimmende Landesgrundrechte als Landesrecht erhalten, was Bedeutung für den Weg zu den Landesverfassungsgerichten hat ( v . M a n g o l d t - K l e i n 2 zu Art. 142; K r a t z e r , Festschr. für L a f o r e t 112). Zum anderen bleiben Landesgrundrechte in Kraft, die über die Bundesgrundrechte hinausgehen, was sich aus dem Wort „auch" ergibt. Diese Ausnahmen finden aber dann keine Anwendung, wenn der Bundesgesetzgeber durch Gesetz in das Grundrecht eingreifen kann (BVerfGE 1 2 8 0 = NJW 1952 866; BayObLGZ 1956 431; H o l t k o t t e n 4a zu Art. 142; v. M a n g o l d t - K l e i n 2 zu Art. 142). 27

BTDrucks. V 3631,3633, BTProt. V 11 428. Die Generalklausel BTDrucks. V 3631 ist unannehmbar. Auch bei dem Vorschlag BTDrucks. V 3633 (richtig als § 126 b formuliert) ist der Katalog der Straftaten viel zu weit. Ein kriminalpolitisches Interesse bei Unterschlagung und Körperverletzung ist nicht zu begründen. Selbst § 112 Abs. 3 beruht nicht auf unabweislichen kriminalpolitischen Notwendigkeiten. 29 Vgl. den Unterschied zwischen § 117 in der Fassung des Entwurfs und der zweiten Lesung; BTDrucks. IV 2378, S. 10. 30 S p i t t a , LVerf. Bremen, Anm. zu Art. 5 Abs. 3 bis 5; Z i n n - S t e i n , L V e r f . Hessen 1 zu Art. 19; OLG Bremen M D R 1965 317; a. A. S ü s t e r h e n n - S c h ä f e r , LVerf. Rheinland-Pfalz 2 zu Art. 5; M a u n z - D ü r i g G G , 42 zu Art. 104; B a u m a n n , Festschr. für E b . S c h m i d t (1961), S. 534; Kern-Roxin § 3 EI. 28

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N e u n t e r Abschnitt. V e r h a f t u n g und vorläufige F e s t n a h m e (Dünnebier)

Vor § 1 1 2 Anm. 8

D a s Verfahren nach F e s t n a h m e (Vorführung z u m Richter in bestimmter Frist) und bei der Entscheidung über die H a f t (alleinige Entscheidungsgewalt des Richters) ist in Art. 104 G G geregelt. Art. 104 ergänzt Art. 2 Abs. 2 Satz 2 G G , so d a ß Art. 142 G G auch für ihn gilt ( B a y O b L G Z 1956 431). In das G r u n d r e c h t der persönlichen Freiheit darf aber nach Art. 2 Abs. 2 Satz 3 G G aufgrund eines Gesetzes eingegriffen werden. D a s ist durch die S t r a f p r o z e ß o r d n u n g geschehen. D a m i t sind die angeführten Bestimmungen der Landesverfassungen aufgehoben. D e r Aufhebungstermin interessiert hier nicht; er liegt wohl beim Inkrafttreten des Grundgesetzes (Art. 125 G G ) , spätestens des Vereinheitlichungsgesetzes. Die hier wiedergegebene A u f f a s s u n g entspricht dem System der Art. 71 ff. G G . Die gegenteilige Ansicht würde der wohlausgewogenen Regelung der S t r a f p r o z e ß o r d n u n g eine sie störende Vielfalt entgegensetzen. Gegenüber der bundesgesetzlichen Regelung könnten allenfalls die verkürzten Vorführungsfristen als eine Verbesserung angesehen werden, freilich recht geringfügiger N a t u r . Bedenklich ist schon die sicher wohlwollend gemeinte Vorschrift in Art. 102 Abs. 2 Satz 1 LVerf. Bayern, w o n a c h der Beschuldigte spätestens a m Tage nach der F e s t n a h m e d e m zuständigen Richter vorzuführen ist. Wird aufgrund eines in P a s s a u ergangenen Haftbefehls ein Beschuldigter auf einer ostfriesischen Insel im Winter verhaftet, d a n n kann die Vorführungsfrist selbst unter Benutzung von Flugzeug und A u t o niclit innegehalten werden; der Vorführende m u ß sie überschreiten. U m die Überschreitung gering zu halten, m ü ß t e die V o r f ü h r u n g z u m nächsten Amtsrichter (§ 115a Abs. 1) unterbleiben, obwohl sie d e m Beschuldigten vielleicht a m ehesten helfen könnte. G e r a d e z u im Widerspruch mit den Absichten des Strafprozeßänderungsgesetzes steht die periodische H a f t p r ü f u n g (Art. 5 Abs. 4 Satz 3 LVerf. Bremen, Art. 19 Abs. 2 Satz 1 LVerf. Hessen und Art. 5 Abs. 2 Satz 2 LVerf. Rheinland-Pfalz). In der S t r a f p r o z e ß o r d n u n g ist sie abgeschafft, weil sie das Verfahren nicht gefördert hat. Wollte m a n ein weitergehendes G r u n d recht auf periodische H a f t p r ü f u n g zulassen, würde es in den davon betroffenen L ä n d e r n neben der H a f t p r ü f u n g der §§ 117 und 118 stehen und durch diese H ä u f u n g die Verfahren beeinträchtigen. Es ist daher allein sinnvoll, d a ß Art. 142 G G weicht und Art. 31 G G herrscht, wo durch Bundesgesetz der Eingriff in das G r u n d r e c h t möglich und v o r g e n o m m e n ist. 8. Menschenrechtskonvention. Die Konvention hat für das H a f t r e c h t allgemeine Bedeutung, namentlich aber wegen der in Art. 5 Abs. 3 Satz 2 und 3 aufgestellten Pflicht, den Verhafteten, wenn auch ggf. gegen Sicherheitsleistung, zu entlassen, falls er nicht innerhalb angemessener Frist abgeurteilt werden kann. Wegen dieser Bedeutung ist es notwendig, auf die Stellung der Konvention in der deutschen Gesetzgebung einzugehen. Die Konvention ist durch Art. II des Gesetzes v o m 7. 8. 1952 - BGBl. II 685, 953 mit Gesetzeskraft veröffentlicht worden. Sie ist a m 3. 9. 1953 in K r a f t getreten 3 1 . In ihrem ersten Abschnitt werden allen der Jurisdiktion der vertragschließenden Staaten unterstehenden Personen Rechte und Freiheiten zugesichert. Werden sie verletzt, kann der Verletzte nach Art. 13 M e n s c h R K o n v . bei einer nationalen Instanz Beschwerde einlegen und sich nach Art. 25 M e n s c h R K o n v . mit einem Gesuch an die Europäische Kommission für Menschenrechte wenden. Namentlich aus diesen Bestimmungen ist gefolgert worden, d a ß die Konvention unmittelbar verbindliches innerstaatliches Recht sei 32 . D e r Ansicht ist indessen nur im G r u n d s a t z zuzustimmen. N a c h Art. 60 M e n s c h R K o n v . werden durch die Konvention keine in der nationalen Gesetzgebung begründeten Menschenrechte oder grundsätzlichen Freiheiten beschränkt. D a r a u s folgt, d a ß nicht schlechthin auf den Wortlaut der Konvention abgestellt werden kann, sondern zunächst ein Vergleich mit d e m nationalen Recht anzustellen ist. Dieser Vergleich führt aber nicht nur dann zur A n w e n d u n g des nationalen Rechts, wenn dies d e m Verhafteten günstiger ist. Vielmehr ist die Geltung nationalen Rechts auch a n z u n e h m e n , wenn unbestimmte Begriffe der Konvention im nationalen Recht präzisiert und allgemeine modifiziert enthalten sind. So widerstreitet die vorläufige Unterbringung eines Zurechnungs31 32

G u r a d z e 171; C a r s t e n s 197. BTVerh. I 9537 C; H o d l e r 64; G u r a d z e 171; G o l s o n g 9; E c h t e r h ö l t e r JZ 1955 689; M a u n z - D ü r i g 59 zu Art. 1 Abs. 2; M ü n c h 154; W o e s n e r 1383; BVerfGE 6 440 = NJW 1957 868; BGHZ 25 61 = NJW 1957 1480; BayVGH DVB1. 1957 57; OVG Münster NJW 1956 1375; OLG Bremen NJW 1960 1265; OLG Saarbrücken NJW 1961 377.

661

Vor § 112

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

Anm. 8 unfähigen (§ 126 a) nicht etwa deshalb der Konvention, weil er weder eine strafbare Handlung begangen hat (Art. 5 Abs. 1 Buchst, c) noch im Einzelfall ein Geisteskranker (Buchst, e) ist. Denn es ist davon auszugehen, daß die Mitgliedstaaten grundsätzlich ihr Recht als mit der Konvention vereinbar ansehen 3 3 . Demzufolge wollen sie in erster Linie, daß die in der Konvention zugesicherten Rechte in der Form gelten, wie sie im nationalen Recht ausgestaltet sind (vgl. Art. 57). Alsdann kommt dem Grundsatz, daß die Konvention unmittelbar gilt, nur dann Bedeutung zu, wenn sie ein Recht gewährt, das eine der Konvention zeitlich vorangehende nationale Gesetzgebung entweder gar nicht oder nur in so mangelhafter Ausbildung kennt, daß es nicht als dessen Ausgestaltung angesehen werden kann 3 4 . Für das Recht der Untersuchungshaft kommt eine selbstständige Bedeutung der Konvention noch in Betracht für Art. 6 Abs. 1 (Beendigung des Verfahrens innerhalb angemessener Frist) 3 5 sowie für die Entschädigung eines Freigesprochenen für erlittene Untersuchungshaft 3 6 . Die Bestimmung des Art. 5 Abs. 3 Satz 2 MenschRKonv., wonach jeder Gefangene Anspruch hat, entweder innerhalb angemessener Frist abgeurteilt oder aber — ggf. gegen Sicherheit — aus der Untersuchungshaft entlassen zu werden, ist im deutschen Recht nicht mehr unmittelbar anzuwenden. Denn dieser Haftaufhebungsgrund hat durch §§ 121, 122, namentlich durch § 121 Abs. 1, seine nationale Ausgestaltung erfahren. Diese gilt für die Beteiligten, die Gerichte und die nationalen Beschwerdeinstanzen. Zwar kann der Beschuldigte die Europäische Kommission für Menschenrechte unmittelbar angehen 3 7 mit der Behauptung, die Frist von sechs Monaten (§ 121 Abs. 1) könne schlechthin nicht als angemessen angesehen werden, oder die Einschränkungen des Absatzes 1, letzter Halbsatz, seien mit Art. 5 Abs. 3 Satz 2 und 3 MenschRKonv. nicht vereinbar. Aber wenn der Ministerausschuß (Art. 32) oder der Gerichtshof (Art. 48, 50, 56) 3 8 auf Antrag der Kommission feststellt, daß das deutsche Recht von der Konvention abweicht, dann ist es Sache des Gesetzgebers, entweder eine Änderung der Konvention herbeizuführen oder eine der Strafprozeßordnung zu beschließen 39 . Solange das nicht geschehen ist, geht die der Konvention zeitlich nachfolgende gesetzliche Regelung, die die Entlassung nach Ablauf angemessener Frist durch §§ 121, 122 erfahren hat, als späteres einfaches ( M ü n c h 153; K e r n R o x i n § 3 C II 1) Bundesgesetz ( H e r z o g 44) dem Art. 5 Abs. 3 Satz 2 MenschRKonv. vor. Deutsche Gerichte könnten die Frage, ob die §§ 121, 122 nicht mehr als nationale Ausgestaltung des Art. 5 angesehen werden könnten, nur dann prüfen, wenn diese Konventionsbestimmung Verfassungsrang hätte. D a s ist indessen zu verneinen. Die Bestimmungen der Konvention können wegen ihrer beschränkten Geltung nicht als den Gesetzen vorgehende Regeln des allgemeinen Völkerrechts (Art. 25 G G ) angesehen werden 4 0 . Sie sind auch keine Positivierung der Menschenrechte des Art. 1 Abs. 2 G G 4 1 . Endlich liegt auch keine Übertragung gesetzgebender Gewalt nach Art. 24 Abs. 1 G G vor ( H e r z o g 47). Gegen eine entsprechende Anwendung von Art. 25 und Art. 1 Abs. 3 G G ( G u r a d z e 177) sprechen die Erwägungen, die oben dazu geführt haben, schon die allgemeine unmittelbare Geltung der Konvention nur dem Grundsatze nach zu bejahen.

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v. W e b e r ZStW 65 346; a. A . E c h t e r h ö l t e r JZ 1956 142. einschränkender J e s c h e c k 784 und H e n r i c h s M D R 1955 140, die jeden Eingriff in das innerstaatliche Recht leugnen. Nur hierauf, nicht auf §§ 121, 122, hätten der Beschluß des Oberlandesgerichts Frankfurt (NJW 1968 2117) und die Erwägungen des Oberlandesgerichts München (NJW 1970 156) gestützt werden können (vgl. G u r a d z e NJW 1968 2164). Das Oberlandesgericht Karlsruhe fußt in einem ähnlichen Fall (verzögerte Urteilsabsetzung) auf Art. 2 Abs. 2 G G (NJW 1969 1682). B G H Z 45 35 = NJW 1966 925; BGHZ 45 49 = NJW 1966 727; B G H Z 45 65 = N J W 1966 1023; E c h t e r h ö l t e r JZ 1956 145; S p i e c k e r 101; A r n d t D R i Z 1966 75. Art. 25; Bekanntmachung vom 4. 11. 1955 (BGBl. II 914) und vom 20. 9. 1961 (BGBl. II 1626). Bekanntmachung vom 29. 6. 1959 (BGBl. II 786) und vom 20. 9. 1961 (BGBl. II 1627). BTVerhdlgen. I 9537 D. H o d 1 er 66; v o n W e b e r M D R 1955 386; E c h t e r h ö l t e r JZ 1955 690; H e r z o g 45; M ü n c h 154; M a u n z - D ü r i g 57 zu Art. 1 Abs. 2; K r ü g e r 1483. G u r a d z e (174) erkennt zwar die Grundbestimmungen der Konvention als allgemeines Völkerrecht an, spricht diese Eigenschaft aber dem ganzen Art. 5 mit Ausnahme des ersten Satzes ab. H e r z o g 45; G e c k DVB1. 1957 41; K r ü g e r 1483; a. A. E c h t e r h ö l t e r JZ 1955 691; 1956 142.

662

Neunter Abschnitt. Verhaftung und vorläufige Festnahme (Dünnebier)

§ 112

§ 112 (1) Die Untersuchungshaft darf gegen den Beschuldigten angeordnet werden, wenn er der Tat dringend verdächtig ist und ein Haftgrund (Absätze 2 und 3) besteht. Sie darf nicht angeordnet werden, wenn sie zu der Bedeutung der Sache und der zu erwartenden Strafe oder Maßregel der Sicherung und Besserung außer Verhältnis steht. (2) Ein Haftgrund besteht, wenn auf Grund bestimmter Tatsachen 1. festgestellt wird, daß der Beschuldigte flüchtig ist oder sich verborgen hält, 2. bei Würdigung der Umstände des Einzelfalles, namentlich der Verhältnisse des Beschuldigten und der Umstände, die einer Flucht entgegenstehen, die Gefahr besteht, daß der Beschuldigte sich dem Strafverfahren entziehen werde (Fluchtgefahr), oder 3. die Absicht des Beschuldigten erkennbar ist, a) Beweismittel zu vernichten, zu verändern, beiseitezuschaffen, zu unterdrücken oder zu fälschen, b) auf Mitbeschuldigte, Zeugen oder Sachverständige in unlauterer Weise einzuwirken oder c) andere zu solchem Verhalten zu veranlassen, und wenn deshalb die Gefahr droht, daß er die Ermittlung der Wahrheit erschweren werde (Verdunkelungsgefahr). (3) Gegen den Beschuldigten, der eines Verbrechens nach § 173 Abs. 1 oder einer Straftat nach den §§ 174, 175 Abs. 1 Nr. 2, 3 oder nach den § § 1 7 6 oder 177 des Strafgesetzbuches dringend verdächtig ist, besteht ein Haftgrund auch dann, wenn bestimmte Tatsachen die Gefahr begründen, daß der Beschuldigte vor rechtskräftiger Aburteilung eine weitere Straftat der bezeichneten Art begehen werde, und die Haft zur Abwendung der drohenden Gefahr erforderlich ist. (4) Gegen den Beschuldigten, der eines Verbrechens wider das Leben nach den § § 2 1 1 , 212 oder § 220 a Abs. 1 Nr. 1 des Strafgesetzbuches dringend verdächtig ist, darf die Untersuchungshaft auch angeordnet werden, wenn ein Haftgrund nach Absatz 2 und 3 nicht besteht. Entstehungsgeschichte: Die Fassung beruht auf Art. 1 Nr. 1 StPÄG. Sie ist gegenüber dem Regierungsentwurf (BTDrucks. IV 178) eindeutiger. Die Wendung, daß „auf Grund bestimmter Tatsachen" eine bestimmte „Gefahr" bestehe, war dort nur für die Definition der Verdunkelungsgefahr gebraucht. Ihre Verwendung auch für die Fluchtgefahr hat erst der Rechtsausschuß herbeigeführt (BTDrucks. IV 1020), von dem auch das Moment der Absicht des Beschuldigten bei der Verdunkelungsgefahr stammt. Nach den Änderungsvorschlägen des Regierungsentwurfs soll bei beiden Haftgründen auf die objektive Gefahr abgestellt werden. Deshalb wurde der Begriff „Befürchtung" ausgeschieden, weil er subjektive Bestandteile enthielt, auf die es nicht entscheidend ankommen sollte (Begrdg. BTDrucks. IV 178, S. 21). Die Einschränkung der Untersuchungshaft gibt der Gesetzgeber durch die vom Rechtsausschuß eingefügten Absätze 3 (Wiederholungsgefahr bei Sittlichkeitsverbrechern) und 4 (Verbrechen wider das Leben) zum Teil wieder auf, um anderen für wichtig erachteten Grundsätzen Genüge zu tun. Absatz 3 ist durch Art. 9 Nr. 5 des 1. S t r R G ohne inhaltliche Änderung neu gefaßt worden. Schrifttum: D a h s , Die Untersuchungshaft wegen „erkennbarer" Absicht der Verdunkelung, N J W 1965 889; Verfassungswidrige Untersuchungshaft? N J W 1966 761; D r e v e s , Der dringende Tatverdacht im Haftbefehl, D R i Z 1966 368; D ü n n e b i e r , Untersuchungshaft bei Verbrechen wider das Leben, N J W 1966 231; F r a n z h e i m , Der Nachweis der Verdunkelungsabsicht nach § 112 StPO, G A 1966 47; H a b e n i c h t , Haftgrund der Verdunkelungsgefahr und Kleine Strafprozeßreform, J R 1963 401; Englische Haftpraxis und Haftgrund der Verdunkelungsgefahr, J R 1964 401; H a n a c k , Rechtliches Gehör, Vollstreckbarkeit und Verhaftung beim Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung, J Z 1966 43; H ä r t u n g , Krankheit und Untersuchungshaft, JR 1925 928; K a n k a , Untersuchungshaft bei Mord, Totschlag und Völkermord, N J W 1966 428; L ö w e n s t e i n , Die Haftun-

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§112

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

Anm. 1 , 2 Fähigkeit, J W 1925 1458; O p p e , Der unbenannte Haftgrund des § 112 Abs. 4 StPO, N J W 1966 93; Das Bundesverfassungsgericht und der Haftgrund des § 1 1 2 Abs. 4 StPO; S c h m i d t - L e i c h n e r , Untersuchungshaft und Grundgesetz, N J W 1966 425. Übersicht 1. Abschließende Regelung 2. Verhältnis zur Ungehorsamshaft 3. Rechtskraft des Strafausspruchs 4. Rechtskraft des Urteils 5. Haftbefehle nach Rechtskraft des Urteils 6. Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung 7. Dringender Tatverdacht 8. Tatsachengrundlage (Absatz 2) 9. Gefahr 10. Flucht (Absatz 2 Nr. 1) 11. Fluchtgefahr (Absatz 2 Nr. 2) 12. Verdunkelungsgefahr (Absatz 2 Nr. 3) 13. Verdunkelungsabsicht 14. Verdunkelungshandlungen a) Vernichten von Beweismitteln b) Einwirkung auf Zeugen c) Veranlassung eines anderen

15. Sittlichkeitsverbrechen (Absatz 3) a) Inhalt b) Voraussetzungen c) Volltrunkenheit 16. Verbrechen wider das Leben (Absatz 4) a) Gesetzesinhalt b) Bundesverfassungsgericht 17. Verhältnismäßigkeit (Absatz 1 Satz 2) 18. Subsidiarität 19. Gesamtwürdigung 20. Haftunfähigkeit a) Geisteskrankheit b) Lebensgefahrdung c) Sonstige Krankheiten 21. Haft in anderer Sache 22. Haftprüfung

1. Abschließende Regelung. Die sachlichen Voraussetzungen der Untersuchungshaft sind in §§ 112, 113 abschließend aufgeführt. Flucht (Absatz 2 Nr. 1), Fluchtgefahr (Absatz 2 Nr. 2), Verdunkelungsgefahr (Absatz 2 Nr. 3) und Wiederholungsgefahr bei Sittlichkeitsverbrechern (Absatz 3) werden als Haftgründe bezeichnet. Im Gegensatz dazu steht der Fall des Absatzes 4 (Verbrechen wider das Leben; 5 zu § 114), bei dem ausdrücklich das Wort Haftgrund vermieden wird. D a s hat Bedeutung für den Inhalt des Haftbefehls (§ 114 Abs. 2 Nr. 3), ist aber ohne Auswirkung auf den Inhalt der Vernehmung (§ 115 Abs. 3 Satz 2). Dringender Tatverdacht und Haftgrund ergeben zusammen die sachlichen „Voraussetzungen der Untersuchungshaft" (§ 120 Abs. 1 Satz 1); diese rechtfertigen die Haft aber nur, wenn sie nicht außer Verhältnis zu der Bedeutung der Sache und der zu erwartenden Strafe oder Maßregel der Sicherung und Besserung steht (§ 112 Abs. 1 Satz 2; § 120 Abs. 1 Satz 1, 2. Halbsatz). Formelle Haftvoraussetzung ist ein schriftlicher Haftbefehl des Richters (§ 114). Die sachlichen Voraussetzungen der Untersuchungshaft gelten auch für die vorläufige Festnahme nach § 127 Abs. 2. Die vorläufige Festnahme nach § 127 Abs. 1 ist dagegen auch bei weniger strengen Voraussetzungen zulässig. 2. Verhältnis zur Ungehorsamshaft. Für die sog. Ungehorsamshaft (§ 230 Abs. 2, § 236, je 2. Alternative) gilt nur der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Allerdings wird er seltener als bei der Untersuchungshaft Anwendung finden. Denn jene Haft endet mit der Hauptverhandlung'; sie kann daher in der Regel nur kurz sein. Freilich können die Art des Delikts und die zu erwartende Strafe auch einen Haftbefehl der genannten Art ausschließen mit der Folge, daß — wie bei § 113 — das Delikt u. U. unverfolgt bleibt. Abgesehen davon ist die Ungehorsamshaft von den sachlichen Voraussetzungen der Untersuchungshaft ebenso unabhängig wie der Vorführungsbefehl (§ 230 Abs. 2, § 236, je erste Alternative). Die genannten Vorschriften sind gegenüber § 112 und § 134 Abs. 1 Spezialbestimmungen. Die Ungehorsamshaft hat ihre Grundlage in dem Ungehorsam des Angeklagten gegenüber einer Ladung (§ 230 Abs. 2) oder Anordnung (§ 236) und in der Aufklärungspflicht des Gerichts. Die Haftgründe spielen bei ihr keine Rolle. Ebenso wird nicht dringender Tatverdacht gefordert, vielmehr genügt der in der Eröffnung des Hauptverfahrens zum Ausdruck kommende hinreichende Verdacht (§ 203). Finden daher § 112 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2, 3 und 4 wie auch die Einschränkungen des § 113 keine Anwendung, so gelten doch 1

Mot. H a h n 1 187: F ü r d i e s e . . V e r h a n d l u n g wird die Anwesenheit des Angeklagten durch die Zwangsmaßregeln des § 193 Abs. 2 — jetzt § 230 Abs. 2 — sicherzustellen sein.

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Neunter Abschnitt. Verhaftung und vorläufige F e s t n a h m e (Dünnebier)

§ 112 Anm. 3 , 4

die §§ 114, 1 1 4 a . 114b. 115, 115a, 116 bis 124, 131, 310 Abs. 1 ( O L G Celle N J W 1957 393) und 295 (1 Abs. 2 zu § 295) auch für sie, nicht indessen für die in den genannten Vorschriften geregelte bloße Vorführung. N ä h m e m a n eine Geltung des § 112 an, dann wären die Sondervorschriften überflüssig. Denn wenn die H a f t g r ü n d e des § 112 vorliegen, kann auch das erkennende Gericht einen Haftbefehl erlassen (§ 125 Abs. 2). § 230 Abs. 2 und § 236, je 2. Alternative, wären dann inhaltslose Verweisungsvorschriften. D a ß sie das sein sollten, wird durch folgende Uberlegung widerlegt: D e r Angeklagte entzieht sich dem Verfahren noch nicht, wenn er Ladungen keine Folge leistet, sondern erst, wenn er auch für Z w a n g s m a ß n a h m e n nicht z u r Verfügung steht; der bloße prozessuale U n g e h o r s a m ist kein Entziehen (II 5, 6 zu § 124). W e r also auf L a d u n g ausbleibt, kann nicht mit einem Haftbefehl nach § 114 überzogen werden. Es ist aber ausgeschlossen anzunehmen, d a ß der Gesetzgeber die Möglichkeit preisgeben wollte (und konnte), auf die H a u p t v e r h a n d l u n g und damit auf den F o r t g a n g des Verfahrens dann zu verzichten, wenn sich der Angeklagte nur einem bestimmten Termin (ggf. mehrfach) entzieht, nicht aber dem ganzen Verfahren. Demzufolge können die Haftbefehle des § 230 Abs. 2 und des § 236 nicht von den H a f t g r ü n d e n des § 112 abhängen. A u c h die Motive ( H a h n 1 187) bringen die „ Z w a n g s m a ß r e g e l n des § 193 Abs. 3 " (jetzt § 230 Abs. 2) nicht mit den H a f t g r ü n d e n des § 112 in Verbindung, sondern stellen allein auf das Erfordernis ab, den Angeklagten während der Verhandlung anwesend zu haben. Die drei Z w a n g s m a ß n a h m e n (Vorführung, U n g e h o r s a m s h a f t b e f e h l und Haftbefehl nach § 1 1 4 ) stehen in folgendem Verhältnis: Wenn irgend möglich, ist das a m wenigsten einschneidende Mittel der V o r f ü h r u n g zu wählen ( A l s b . E l 243). Es ist in der Regel auch zunächst zu versuchen, doch b r a u c h t das Gericht das nicht zu tun, wenn die Unsicherheit, daß der Vorführungsbefehl genügen werde, größer ist als die Erwartung, er werde z u m Erfolge führen ( K ü h n e D R i Z 1963 179). Ist zu erwarten, d a ß der Angeklagte a m Vorführungstage mit großer Sicherheit nicht zu H a u s e zu erreichen sein werde, hat er seinen Aufenthalt mehrfach gewechselt, besteht aber A n l a ß zu der A n n a h m e , d a ß er sich nicht dem ganzen Verfahren, sondern nur dem Termin entziehen will, dann ist Haftbefehl nach § 230 Abs. 2, § 236 zu erlassen. F ü r einen Haftbefehl nach § 112 Abs. 2 Nr. 2 ist erst R a u m , wenn die G e f a h r besteht, d a ß sich der Angeklagte dem ganzen Verfahren und der Vollstreckung einer Freiheitsstrafe (vgl. § 124 Abs. 1) entziehen wolle. Liegen die sonstigen H a f t g r ü n d e vor, scheiden § 230 Abs. 2 und § 236 aus. 3. Rechtskraft des Strafausspruchs. Die U n t e r s u c h u n g s h a f t kann bis zur R e c h t s k r a f t des Urteils angeordnet werden (4). D a h e r ist sie nicht ausgeschlossen, wenn lediglich der Strafausspruch rechtskräftig geworden ist, das Verfahren aber wegen der A n o r d n u n g einer Maßregel der Sicherung und Besserung noch anhängig bleibt. Als Maßregeln k o m m e n dabei in erster Linie die freiheitsentziehenden der Unterbringung in einer Heil- oder Pflegeanstalt (§ 4 2 b StGB, j e d o c h nur gegen den vermindert zurechnungsfähigen Täter; § 126a Abs. 1), in einer Trinkerheilanstalt oder Entziehungsanstalt (§ 42 c StGB) sowie die Sicherungsverwahrung (§ 42 e StGB) in Betracht. Sind nach R e c h t s k r a f t des Schuldspruchs lediglich nicht freiheitsentziehende Maßregeln — U n t e r s a g u n g der Berufsausübung (§ 42 1 S t G B ) und Entziehung der Fahrerlaubnis (§ 4 2 StGB) — oder nur eine Geldstrafe zu erwarten, dann ist die U n t e r s u c h u n g s h a f t zwar rechtlich nicht ausgeschlossen, wohl aber wegen des G r u n d s a t z e s der Verhältnismäßigkeit meist nicht zulässig (17). Ist das Verfahren noch anhängig, weil über den Maßregelausspruch noch nicht rechtskräftig entschieden worden ist, dann steht auch der U m s t a n d , d a ß die Strafe durch A n r e c h n u n g der U n t e r s u c h u n g s h a f t nicht nur rechtskräftig, sondern sogar schon vollstreckt ist, der A n o r d n u n g oder F o r t d a u e r der U n t e r s u c h u n g s h a f t nicht entgegen. Denn das durch die Untersuchungshaft gesicherte Verfahren ist erst beendet, wenn es auch in bezug auf zu erwartende Maßregeln rechtskräftig abgeschlossen ist. Die früher streitige F r a g e 2 ist durch die N e u f a s s u n g von § 112 Abs. 1, § 124 Abs. 1, in denen die Maßregeln der Sicherung und Besserung n u n m e h r ausdrücklich aufgeführt werden, im Sinne des Textes entschieden worden. 4. Rechtskraft des Urteils. Die Untersuchungshaft kann gegen den Beschuldigten angeordnet werden, d . h . also (§ 157) gegen den Beschuldigten im Ermittlungsverfahren, 2

Zusammenfassend OLG Hamm NJW 1957 1812; OLG Frankfurt NJW 1958 1009.

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§ 112 Anm. 5

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

gegen den Angeschuldigten nach Erhebung der öffentlichen Klage, gegen den Angeklagten nach Eröffnung des Hauptverfahrens und auch noch nach Erlaß eines Urteils 3 . Beschuldigter ist danach auch der Angeschuldigte und der Angeklagte bis zur rechtskräftigen Verurteilung ( O L G H a m m N J W 1954 403). Mit der Rechtskraft enden die Untersuchung und daher grundsätzlich sowohl die Untersuchungshaft (Ausnahme II 10 Abs. 3 zu § 120) als auch die Befugnis des Gerichts, Entscheidungen über die Untersuchungshaft zu erlassen (Ausnahmen 8 Abs. 3 zu § 126). Ein Haftbefehl kann zwar in zwei Ausnahmefallen auch nach Rechtskraft des Urteils erlassen werden (5), aber niemals nach Abschluß der Untersuchung. Die Möglichkeit einer Untersuchungshaft nach Rechtskraft kann nicht 4 aus § 450 Abs. 1 hergeleitet werden. Dort ist die Anrechnung der Untersuchungshaft geregelt, die der Angeklagte erlitten hat, nachdem er darauf verzichtet hat, ein Rechtsmittel einzulegen oder nachdem er ein eingelegtes Rechtsmittel zurückgenommen hat. D a ß das Urteil damit rechtskräftig würde, ist — mag es auch praktisch meist so sein — von Rechts wegen nicht der Fall. Man darf also nicht argumentieren, daß der Gesetzgeber in jener Bestimmung Haft nach Rechtskraft als Untersuchungshaft bezeichne. Auch der Schluß, nach Rechtskraft müsse ein Haftbefehl deshalb erlassen werden können, weil sonst die Sicherung der Strafvollstreckung nicht erreicht werden könne 5 , trifft nicht zu. Strafurteile sind vollstreckbar, sobald sie rechtskräftig geworden sind (§ 449). Die Anordnung, daß die Strafvollstreckung aufgrund einer mit der Bescheinigung der Vollstreckbarkeit versehenen beglaubigten Abschrift der Urteilsformel zu betreiben sei ( § 4 5 1 Abs. 1), ist eine technische Vorschrift. Essentiale ist allein das rechtskräftige Urteil (§ 449); die Rechtskraftbescheinigung ist nur eine — für den normalen Geschäftsablauf durchaus gebotene — Sicherung. Deshalb kann der Staatsanwalt, wenn die schriftliche Urteilsformel (§ 268 Abs. 2 Satz 1) verlesen ist und der Angeklagte und der Staatsanwalt auf Rechtsmittel verzichtet haben, den Angeklagten mündlich zum sofortigen Strafantritt laden und gegen ihn, wenn er der Flucht verdächtig ist, mündlich Haftbefehl erlassen. Aus dem Vergleich von § 114 Abs. 1 („durch s c h r i f t l i c h e n Haftbefehl") mit § 457 Abs. 1 („Haftbefehl") ergibt sich, daß der Haftbefehl des § 457 nicht schriftlich sein muß. Im übrigen kann auch, wenn Gefahr im Verzuge ist, die Rechtskraft in wenigen Minuten bescheinigt werden. Dazu genügt es, daß die Urteilsformel verlesen ist (§ 268 Abs. 2); das Protokoll braucht weder unterschrieben, noch auch nur abgesetzt zu sein. 5. Haftbefehle nach Rechtskraft des Urteils sind gleichwohl in zwei Fällen möglich; in beiden läuft jedoch nach der Rechtskraft eine neue Untersuchung; sie rechtfertigt die Untersuchungshaft. Der erste Fall ist die Untersuchungshaft im Wiederaufnahmeverfahren. Hierzu ist gelegentlich die Auffassung vertreten worden, sie sei erst zulässig, wenn die Wiederaufnahme des Verfahrens angeordnet (§ 370) und dadurch das erste Urteil beseitigt sei 6 . Aus § 120 Abs. 1 ist das jedoch nicht herzuleiten; dessen Schranke gegen einen neuen Haftbefehl wird vielmehr gerade durch neue Tatsachen und Beweismittel beseitigt (II 9 zu § 120). Diese sind stets Voraussetzung der Wiederaufnahme zuungunsten des Angeklagten. Bei der Wiederaufnahme zugunsten des Verurteilten (§ 359) sind sie allerdings nicht denkbar, weil sie dort nicht, um den Schuldspruch zu stützen, sondern um ihn zu beseitigen, vorgebracht werden, doch kommt, wenn das Verfahren zugunsten des Verurteilten wieder aufgenommen werden soll, auch keine Untersuchungshaft in Betracht. Auch sonst sind keine Gründe gegen eine Untersuchungshaft für das Beweisverfahren ersichtlich, das dem Beschluß aus § 370 voraufgeht. Sie ist vielmehr gegen den Angeklagten, zu dessen Ungunsten die Wiederaufnahme betrieben wird, statthaft, sobald der Antrag für zulässig befunden worden ist (6 zu § 369). Wenn das Gericht die Wiederaufnahme des Verfahrens angeordnet hat (§ 370 Abs. 2), wird das Verfahren wieder anhängig. F ü r die Untersuchungshaft, die dann — theoretisch — auch 3

4

S c h n e i d e w i n NJW 1954 298; a. A. - kein Haftbefehl nach Erlaß eines Urteils 1954 60. So S a x bei B e t t e r m a n n - S c h e u n e r - N i p p e r d e y , Grundrechte, III 2, 977.

5

W o l f NJW

P o h l m a n n I 3 c zu § 38 StVollstrO. K e r n - R o x i n lassen die Untersuchungshaft mit der Einlieferung in die Strafanstalt beginnen (§ 31 B I). 6 Lobe-AlsbergIII2.

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Neunter Abschnitt. Verhaftung und vorläufige Festnahme (Dünnebier)

§ 112 Anm. 6

gegenüber dem Verurteilten zulässig ist, zu dessen Gunsten die Wiederaufnahme betrieben wird, gelten nunmehr die allgemeinen Vorschriften. Der andere Fall eines Haftbefehls nach Rechtskraft des Urteils ist die Sicherungshaft gegen einen Jugendlichen, der zu Jugendstrafe unter Aussetzung zur Bewährung verurteilt worden ist, wenn in Betracht kommt, die Aussetzung zu widerrufen. Hier kann der Richter, um sich der Person des Jugendlichen während der Vorbereitung seiner Entscheidung zu versichern, vorläufige Maßnahmen treffen, notfalls einen Haftbefehl (über dessen Inhalt s. 1 Abs. 4 zu § 114) erlassen (§ 61 Abs. 1 JGG). Der Haftbefehl nach § 61 Abs. 1 J G G ist gegenüber dem Untersuchungshaftbefehl der Strafprozeßordnung eine Anomalie; mehrere Bestimmungen des Haftrechts (Aussetzung des Vollzugs, Haftprüfung) finden keine Anwendung. Daher wird für die Haft nach § 61 J G G oft der Charakter als Untersuchungshaft verneint und der Haftbefehl dem Vollstreckungshaftbefehl des § 457 zugeordnet 7 . Die Haft steht jedoch der Untersuchungshaft näher als der Strafhaft, zu der die auf Grund des § 457 vorgenommene Verhaftung führt: eine rechtskräftige Entscheidung, die die Strafvollstreckung zuließe, liegt gerade (noch) nicht vor. § 116 brauchte nicht für anwendbar erklärt zu werden, weil die Haft nur „notfalls" angeordnet werden kann, d. h. nur, wenn sonstige Maßnahmen, auch die nach § 116, nicht ausreichen, „sich der Person des Jugendlichen zu versichern". Zwar ist das Urteil rechtskräftig; aber die Untersuchungshaft läßt sich immerhin mit der Erwägung rechtfertigen, daß die Untersuchung wieder aufgenommen wird mit dem (wahrscheinlichen) Erfolg, eine nicht ausgesetzte Strafe herbeizuführen. Einer ausdehnenden Auslegung auf das Erwachsenenstrafrecht ist die Ausnahmebestimmung nicht zugänglich. 6. Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung. Die Untersuchungshaft darf nicht angeordnet werden, wenn nach Verurteilung mit Strafaussetzung zur Bewährung die Strafaussetzung widerrufen worden ist (OLG Karlsruhe NJW 1964 1085). Dazu besteht auch kein Anlaß, weil das Urteil nunmehr vollstreckt und daher ein Haftbefehl nach § 457 erlassen werden kann. Die Ansicht des OLG Karlsruhe 8 , daß vor der Vollstreckung des Urteils der Widerrufsbeschluß rechtskräftig geworden sein müsse, trifft nicht zu. Grundlage der Vollstreckung ist das Urteil in Verbindung mit dem Beschluß, der die im Urteil angeordnete Strafaussetzung zur Bewährung widerruft. Daß Beschlüsse vor ihrer Vollstreckung rechtskräftig sein müßten, sagt die Strafprozeßordnung nicht; das Gegenteil ist aus § 449 zu entnehmen, der das nur für Urteile vorschreibt. In der Tat werden täglich Haftbefehle und Beschlagnahmeanordnungen vollstreckt, die gar nicht in Rechtskraft erwachsen körinen. Wenn zudem eine vollzugsfahige Entscheidung nach § 307 Abs. 1 vor der Rechtskraft vollstreckt werden kann, fehlt es an jeder Begründung, warum bei einer nicht vollzugsfahigen die Wirkung, daß die Nichtvollstreckbarkeit des von ihr betroffenen rechtskräftigen Urteils beseitigt werde, die Rechtskraft des Widerrufsbeschlusses voraussetzen sollte. Das Oberlandesgericht vermengt Rechtskraft und Vollstreckbarkeit. Die Rechtskraft schützt den Beteiligten vor einer Änderung der Entscheidung im gleichen Verfahren und vor einer neuen Beurteilung des gleichen Sachverhalts in einem neuen Verfahren gegen denselben Beschuldigten. Daß § 449 sie zur Voraussetzung der Urteilsvollstrekkung macht, ist ein aus dem Wesen der Rechtskraft nicht abzuleitender positiver Gesetzesbefehl. Allenfalls könnte die Frage aufgeworfen werden, ob zwar nicht § 449 selbst, wohl aber der ihm zugrunde liegende Gedanke es verbietet, ein Urteil, in dem eine Freiheitsstrafe zur Bewährung ausgesetzt ist, zu vollstrecken, bevor der Widerrufsbeschluß rechtskräftig geworden ist. Das ist aber nicht anzuerkennen ( K a i s e r NJW 1964 1947). Der Strafausspruch ist rechtskräftig, nur seine Vollstreckung ist ausgesetzt. Die Aussetzung ist mit dem Vorbehalt versehen, daß sie durch Beschluß beseitigt werden kann. Hätte der Gesetzgeber bei dieser Regelung ausnahmsweise die Rechtskraft des Widerrufsbeschlusses zur Voraussetzung der Vollstreckung des rechtskräftigen Urteils machen wollen, dann hätte er die Anordnung des § 449 in § 453 Abs. 3 wiederholen müssen. Hanack

vergleicht Urteile, bei denen die Strafe zur Bewährung ausgesetzt ist,

' S c h e u n e m a n n NJW 1961 644; OLG Düsseldorf NJW 1964 69; OLG Hamburg NJW 1964 605; D a l i i n g e r - L a c k n e r J G G 1, 10 zu § 61. 8 Z u s t : P o h l m a n n Rpfleger 1964 147; T h e u e r k a u f MDR 1965 179.

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§ 112

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

Anm. 7 mit solchen, die nur teilweise in Rechtskraft erwachsen sind, und will dann, wie bei diesen auch bei jenen die Untersuchungshaft zulassen (JZ 1966 52). Seine Auffassung beruht auf der Voraussetzung, daß die Strafaussetzung nicht bloß ein Vollstreckungshindernis sei, sondern eine rechtskräftige Modifizierung des Strafausspruchs. So sehr nach dem Inhalte des Instituts einer solchen Betrachtung zuzustimmen ist 9 , so wenig läßt sich übersehen, daß die äußere Ausgestaltung der Aussetzung mit der „auflösenden Bedingung guter Führung" (BTDrucks. 13713, S. 30) nur ein Vollstreckungshindernis abgibt. Daher sind sich auch Rechtsprechung (BGH JZ 1956 101) und Praxis ( O s t e n d o r f f SchlHA 1966 28) darüber einig, daß die Entscheidung über die Strafaussetzung nur die Vollstreckung, nicht aber die Verhängung der Strafe betrifft. 7. Dringender Tatverdacht. Erste Voraussetzung eines Haftbefehls ist, daß der Beschuldigte einer Straftat dringend verdächtig ist. Der Verdacht muß sich darauf erstrecken, daß der Beschuldigte eine strafbare Handlung als Täter, Mittäter oder mittelbarer Täter begangen oder daß er den Täter zu der von diesem vorsätzlich (BGHSt. 9 370) begangenen Tat angestiftet oder ihm dazu Beihilfe geleistet hat. Der Verdacht besteht nicht, wenn Gründe vorliegen, welche die Tat rechtfertigen oder entschuldigen. Der dringende Tatverdacht steht begrifflich im Gegensatz zu dem Verdacht einer strafbaren Handlung (§ 160 Abs. 1) und dem genügenden Anlaß, die öffentliche Klage zu erheben (§ 170 Abs. 1); der letzte fallt mit dem Begriff des hinreichenden Verdachts (§ 203) zusammen ( L ü t t g e r GA 1957 195). Verdacht (§ 160 Abs. 1) liegt vor, wenn zureichende tatsächliche Anhaltspunkte gegeben sind, gegen den Beschuldigten einzuschreiten (§ 152 Abs. 2), hinreichender Verdacht, wenn die Wahrscheinlichkeit besteht, daß die demnächst vom Gericht festgestellten Tatsachen bei Annahme der Strafbarkeit der Handlung die Verurteilung erwarten lassen. Der Begriff des dringenden Tatverdachts bringt einen stärkeren Verdachtsgrad zum Ausdruck ( E b S c h m i d t , Nachtr. 4), verlangt daher einen hohen Grad von Wahrscheinlichkeit der Täterschaft und der Schuld 10 , anders ausgedrückt: große (Kl 2) oder höhere ( M ü l l e r - S a x 2b) Wahrscheinlichkeit 11 . Der Verdacht bezieht sich nur auf die Tatfrage, (vgl. § 152 Abs. 2); für die Rechtsfrage gibt es keine Wahrscheinlichkeit ( L ü t t g e r GA 1957 211; Stratenwerth JZ 1957 301). Daher kann der Richter bei zweifelhafter Rechtslage die Auslegung nicht mit der Begründung offen lassen, wenn es auch zweifelhaft sei, ob eine (nach den Tatsachen eindeutig zu beurteilende) Tat den Tatbestand einer strafbaren Handlung erfülle, so sei (wegen der Zweifelhaftigkeit der Auslegung) doch auf jeden Fall dringender T a t v e r d a c h t begründet. Aus diesem Grunde darf der Richter, wenn er die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts einholt, weil er ein Strafgesetz für verfassungswidrig hält, keinen Haftbefehl erlassen und hat einen bestehenden aufzuheben ( S t r a t e n w e r t h aaO.; a. A. zum letzten Punkt OLG Köln NJW 1955 1409). Der begriffliche Unterschied zwischen hinreichendem und dringendem Tatverdacht darf jedoch nicht dazu führen, den dringenden Verdacht an dem hinreichenden Verdacht des § 203 zu messen. Denn dieser ist auf den Zeitpunkt der Anklageerhebung bezogen, der dringende Verdacht dagegen auf den jeweiligen Stand der Ermittlungen ( M ü l l e r - S a x 2). Demgemäß ist er nicht für das ganze Verfahren gleich ( P e t e r s § 47 A II 2a), so daß etwa zu Beginn der Ermittlungen einzelne starke Indizien auch dann einen dringenden Tatverdacht begründen, wenn die Indizienkette noch nicht geschlossen ist und die Möglichkeit besteht, daß der dringende Tatverdacht bei weiteren Ermittlungen wieder zerstört werde (BGHZ 27 351). Sobald aber feststeht, daß Lücken im Indizienbeweis auch bei weiterer Ermittlung nicht ausgefüllt werden können, ist der Verdacht nicht mehr dringend. Im Zeitpunkt der Anklageerhebung muß der dringende Verdacht stets stärker als ein hinreichender sein, doch kann, was keiner Ausführung bedarf, dieses Verhältnis auch schon früher entstehen, und kann ein zur Anklageerhebung nötigender Verdacht stärker als hinreichend, also etwa dringend sein. 9

Meine Auffassung, die ausgesetzte Strafe sei eine Mischsanktion (ZStW 72 33), geht noch weiter.

' " R o s e n b e r g 348; A l s b e r g 1434; H e n k e l § 67 A II l a ; P e t e r s § 47 A II 2 a ; K e r n - R o x i n § 31 B II 1. 11 Strenger: F e i s e n b e r g e r 3: an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit der Täterschaft; B e l i n g § 102 II l b Anm. 4: nahe an Gewißheit heranreichender Verdacht.

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Neunter Abschnitt. Verhaftung und vorläufige Festnahme (Dünnebier)

§ 112 Anm. 8 , 9

Ist der Angeklagte in erster Instanz verurteilt, so ist das in der Regel ein Indiz für dringenden Tatverdacht. 8. Tatsachengrundlage (Absatz 2). Bei den vier Haftgründen der Absätze 2 und 3 darf der Schluß, daß der Haftgrund vorliege — „festgestellt wird" (Nr. 1); „erkennbar ist" (Nr. 3) —, nur auf Grund bestimmter Tatsachen gezogen werden. Damit sind Vermutungen ausgeschlossen, die beim Fluchtverdacht des alten Rechts auf Grund der früheren Begründungserleichterung in der Praxis eine gewisse Rolle gespielt hatten. Die Tatsachen müssen „bestimmte" sein. Da aus unbestimmten Tatsachen ohnehin nichts gefolgert werden kann, soll sich der Ausdruck auf die Feststellung der Tatsachen durch den Beobachter beziehen (BTDrucks. zu IV 1020, S. 2, zu § 112 Abs. 2: „bestimmte [objektiv] festgestellte Tatsachen"). Damit scheint der Gesetzeswortlaut, da die meisten unserer Wahrnehmungen Schlüsse sind, als Grundlage des logischen Urteils des Haftrichters äußerlich wahrnehmbare Ereignisse zu fordern, die zu deuten der Beobachter keiner oder nur einfacher Schlüsse bedarf (Passage buchen, Abreisen, einen Brief erbitten, einen Zeugen fragen, ob er sich an den Umstand X erinnere, obwohl der Zeuge, wie der Beschuldigte weiß, den Umstand Y wahrgenommen hat). Für den Haftgrund der Verdunkelungsgefahr — aus dessen alter Fassung die Klausel stammt — dürfte ein solcher Tatsachenbegriff auch der Vorstellung des Gesetzgebers entsprechen. Im übrigen aber kann die Textfassung nicht fordern, nur auf äußerlich zutage liegende Tatsachen abzustellen. Das ergibt der vierte Haftgrund. Dort sind die bestimmten Tatsachen, die die Gefahr begründen, daß der Beschuldigte ein weiteres Sittlichkeitsverbrechen begehen werde, nicht die Vortaten und die Lebensumstände des Beschuldigten, sondern sein nach wissenschaftlichen Erkenntnissen daraus zu erschließender Hang, bestimmte Straftaten zu begehen. Ist aber Inhalt des Tatsachenbegriffs nicht allein das äußerlich wahrnehmbare, leicht zu deutende Ereignis, dann muß auch bei der Fluchtgefahr das als Tatsache bewertet werden, was nach der Lebenserfahrung aus dem Inneren eines Menschen erschlossen werden kann, nämlich die Antwort auf einen Fluchtreiz. Strafe und die Änderung aller Lebensumstände reizen den Beschuldigten, der sie zu erwarten hat, regelmäßig dazu an, sich ihnen zu entziehen. Daß eine Anzahl Beschuldigter diesem Anreiz nachgibt, wenn eine hohe Strafe zu erwarten ist, lehrt die Lebenserfahrung. Zwar ist die Regel nach den Umständen des Falles zu prüfen; sie wird oft zu verneinen sein n . Die Einzelbewertung ändert aber nichts an der Erkenntnis, daß die aus der Straferwartung herzuleitende Fluchtneigung eine Tatsache im Sinne der Absätze 2 und 3 sein kann 13 . Mit dieser Auslegung ist indessen nicht anerkannt, daß die sachlichen Voraussetzungen der Untersuchungshaft durch die Worte „auf Grund bestimmter Tatsachen" sich nicht wesentlich geändert hätten, wie das Kammergericht in dem angegebenen, in mehreren Formulierungen nicht unbedenklichen Beschluß meint. In der Häufung der hafteinschränkenden Klauseln kommt der eindeutig bekundete Wille des Gesetzgebers klar zum Ausdruck. Er geht dahin, „noch stärker, als es das geltende Recht bereits tut", und noch entschiedener als die Regierungsvorlage „sicher(zu)stellen, daß die Untersuchungshaft nur ausnahmsweise . . . angeordnet wird" (BTDrucks. zu IV 1020, S. 1, zu Art. 1). 9. Gefahr. Bei den Haftgründen der Fluchtgefahr (Absatz 2 Nr. 2), der Verdunkelungsgefahr (Absatz 2 Nr. 3) und der Wiederholungsgefahr bei Sittlichkeitsverbrechern (Absatz 3) ist die Anordnung der Untersuchungshaft davon abhängig, daß eine bestimmte Gefahr bestehe, drohe oder begründet sei. Gefahr ist die hohe Wahrscheinlichkeit eines aus der Sachlage nach den Gesetzen der Kausalität und der Lebenserfahrung zu erwartenden schädlichen Erfolges (RGSt. 6 397; 66 100; BGH NJW 1951 769). In anderem Zusammenhang (Gemeingefahr) hat der Bundesgerichtshof angenommen, Gefahr liege nur vor, wenn es wahrscheinlicher sei, daß ein Erfolg eintrete, als daß er ausbleibe (BGHSt. 8 31). Zwar ist der Gefahrenbegriff an den vielen Stellen, wo er im Strafgesetzbuch und in der Strafprozeßordnung verwendet wird, keineswegs überall gleichmäßig auszulegen ( M a n n 12 13

So wohl OLG Frankfurt NJW 1965 1342. K a s t e n d i e c k a p p e l l i e r t an den „favor libertatis" (125) Im Ergebnis ebenso OLG Braunschweig JZ 1965 619; K G NJW 1965 1390; K l e i n k n e c h t M D R 1965 781, die aber auf die Straferwartung abstellen; a. A. — Straferwartung ist keine Tatsache — P h i l i p p 84.

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§ 112 Anm. 10

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h e i m , Revision 50); deshalb ist es abgelehnt worden, für § 98 die genannte Rechtsprechung zu übernehmen (o. II 2 zu § 98). Im Haftrecht dagegen ist die Gefahrenklausel eine der geradezu gehäuften Kautelen, mit denen der Gesetzgeber bemüht ist, die Untersuchungshaft aufs äußerste zu beschränken. Daher liegt es im Sinne dieser Gesetzesstelle, den Begriff so auszulegen, daß der Gefahrenfall möglichst selten eintritt. Es ist daher dafür, daß der zu vermeidende Erfolg eintritt, eine sehr hohe Wahrscheinlichkeit zu fordern, die stets höher sein muß als die, daß er ausbleibt (OLG Celle NdsRpfl. 1963 214). Wenn auch durch die Gesetzesfassung erreicht werden soll, daß Untersuchungshaft nur mit äußerster Zurückhaltung angeordnet wird, so kann doch der Gesetzgeber nichts Unmögliches verlangt haben. Daß die Gefahr bestehe, drohe oder begründet sei, kann im Haftverfahren regelmäßig nicht mit der gleichen Sicherheit festgestellt werden wie bei Notwehr oder Verkehrsgefahrdung in einer Hauptverhandlung. Es muß vielmehr der hohe Grad von Wahrscheinlichkeit ausreichen, wie er für die Feststellung des dringenden Tatverdachts erforderlich aber auch genügend ist I4 . 10. Flucht (Absatz 2 Nr. 1). Der erste Haftgrund liegt vor, wenn der Täter flüchtig ist oder sich verborgen hält. Flüchtig ist, wer, um unerreichbar zu sein, seine Wohnung verlassen hat, ohne eine neue zu beziehen oder wenigstens eine feste Anschrift zu haben, unter der ihn Post sicher erreichen kann. Danach kann flüchtig sein, wer dauernd sein Quartier wechselt, auch wenn er täglich Meldezettel ausfüllt. Dagegen ist z. B. der Seemann nicht flüchtig, der über seine Reederei, der Reisende, der über seine Firma erreicht werden kann. Flüchtigsein setzt den Willen voraus, für Behörden unerreichbar zu sein, doch kommt es nicht darauf an, ob der Täter sich gerade wegen der Sache nicht erreichen lassen will, in der über die Untersuchungshaft zu entscheiden ist (BayObLGSt. 13 359; a. A. wohl K l e i n k n e c h t MDR 1965 732). Wer jedoch ohne sicheres Wissen der Strafbarkeit eines Verhaltens, ohne Kenntnis eines wider ihn eingeleiteten Verfahrens und ohne den Willen, unerreichbar zu sein, sich auf Reisen begibt, ist nicht flüchtig, auch wenn er tatsächlich nicht erreichbar ist. Ist in der Annahme, er sei flüchtig, gegen ihn Haftbefehl ergangen, so muß er freigelassen werden, wenn feststeht, daß er nicht fliehen wollte, und daß er unter einer festen Anschrift erreicht werden kann. Verborgen hält sich der Täter, der seinen Aufenthalt den Behörden vorenthält, namentlich unangemeldet oder unter falschem Namen lebt. Für die subjektive Seite gilt dabei das oben Gesagte entsprechend. Selbstverständlich kann jemand zugleich flüchtig sein und sich verborgen halten ( K a s t e n d i e c k 108). Daß der Beschuldigte flüchtig ist oder sich verborgen hält, muß der Richter auf Grund bestimmter Tatsachen (8) feststellen. Bei den Nummern 2 und 3 und bei Absatz 3 genügt die Feststellung, daß die Gefahr besteht (droht, begründet ist), ein gewisses Ereignis (Flucht, Verdunkelung, Wiederholung eines Sittlichkeitsverbrechens) werde eintreten. Hier — bei Nummer 1 — wird dagegen die Feststellung gefordert, daß ein bestimmtes Ereignis (Flucht, Verbergen) eingetreten ist. Nähme man die Vorschrift wörtlich, dann könnte der erste Haftgrund nur festgestellt werden, wenn der Beschuldigte einem anderen vor der Flucht offenbart hat, daß er fliehen wolle, oder nach ihr, daß er geflohen sei. Denn daß eine nicht erreichbare Person verunglückt oder verschleppt worden ist oder mit verlorenem Gedächtnis umherirrt, ist, wenn man ihren Willen nicht kennt, nach den äußeren Umständen allein theoretisch meist nicht auszuschließen. Daher sind sichere Feststellungen nur selten möglich, bevor der Täter wieder aufgefunden ist. Von einem so wörtlichen Begriff der Feststellbarkeit kann aber der Gesetzgeber, dem die Regelfalle des täglichen Lebens nicht fremd sind, nicht ausgegangen sein. Es muß daher ausreichen, daß nach den Umständen (Verschwinden, nachdem ein Strafverfahren eingeleitet worden ist) Flucht oder Verbergen näher liegen als — theoretisch ebenfalls denkbare — andere Gründe der Unerreichbarkeit. Der Haftgrund ist nicht mehr gegeben, wenn der Täter, der flüchtig war oder sich verborgen gehalten hatte, ereilt oder aufgespürt worden ist. Daß jemand flüchtig war oder sich verborgen gehalten hatte, ist kein gesetzlicher Haftgrund. Ob die Untersuchungshaft, nach14

OLG Bremen NJW 1955 1 8 9 1 ; D r e v e s 110; F r a n z h e i m 50; a. A. - dringender Verdacht genügt nicht — K o c h NJW 1968 1711.

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§112 Anm. 11

dem der Flüchtige festgenommen worden ist, aufrechterhalten werden kann, ist nunmehr nach Nummer 2 zu beurteilen. Allerdings wird es in der Regel nicht zweifelhaft sein, daß Fluchtgefahr besteht, wenn der Beschuldigte schon einmal geflohen war oder sich verborgen gehalten hatte. 11. Fluchtgefahr (Absatz 2 Nr. 2) ist gegeben, wenn aufgrund bestimmter Tatsachen (8) die hohe Wahrscheinlichkeit (9) besteht, der Täter werde sich demjenigen Verfahren entziehen, in dem erwogen wird, die Untersuchungshaft anzuordnen. Entziehen ist das vom Beschuldigten oder mit seinem Wissen von anderen vorgenommene Verhalten, das den vom Beschuldigten beabsichtigten, erkannten oder in Kauf genommenen Erfolg hat, den Fortgang des Verfahrens dauernd oder vorübergehend durch Aufheben der Bereitschaft zu verhindern, für Ladungen, Vollzugs- und Vollstreckungsmaßnahmen zur Verfügung zu stehen (BGHSt. 23 384; II 5 zu § 124). Dem Verfahren entzieht sich noch nicht, wer auf Terminsladungen nicht erscheint. Gegen ihn ist zunächst das mildere Zwangsmittel der Vorführung anzuwenden. Nur wenn die Gefahr besteht, der Beschuldigte werde es auch unmöglich machen, ihn vorzuführen, ist Haftbefehl zulässig. Bei der Prüfung der Fluchtgefahr sind alle Umstände des Einzelfalles zu würdigen, namentlich die persönlichen Verhältnisse des Täters. Stets sind die Umstände, die für eine Flucht sprechen, gegen diejenigen abzuwägen, die ihr entgegenstehen. Zu den Umständen, die zur Flucht anreizen, gehört auch die Verfolgung wegen des dringenden Verdachts weiterer Straftaten, auch wenn sie nicht Gegenstand des Verfahrens sind, in dem der Haftbefehl erlassen werden soll. Indessen genügt es nicht, daß die äußeren Gelegenheiten einer Flucht günstig sind, vielmehr ist zu prüfen, ob der Beschuldigte von ihnen auch Gebrauch machen wird (OLG Köln NJW 1959 544). Das wird in der Regel anzunehmen sein, wenn der Beschuldigte schon einmal geflohen war oder sich verborgen gehalten hatte. Die Tatsachen, die der Fluchtgefahr zugrunde liegen, brauchen nicht zur vollen richterlichen Gewißheit i. S. des § 267 StPO festzustehen, vielmehr reicht derjenige Grad von Wahrscheinlichkeit aus, der im Haftverfahren erfordert wird, den Tatverdacht festzustellen (OLG Bremen NJW 1955 1891). Familiäre Bindungen und gesicherte Arbeits- und Wohnverhältnisse streiten in der Regel gegen Fluchtgefahr, gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Ruin, der durch die Straftat oder durch eine Verurteilung eintreten wird, sprechen für sie. Die Erwartung einer hohen Strafe wird eine Neigung zur Flucht (8) zwar nicht für sich allein, aber doch bei sonst ungünstigen Verhältnissen in aller Regel erwecken und damit Fluchtgefahr begründen. „Je höher die in Aussicht stehende Strafe, desto größer die Fluchtgefahr" ( H a h n Mat. 1 658; dazu R o s e n b e r g ZStW 26 352). Zwar darf Fluchtgefahr nicht routinemäßig angenommen werden, wenn eine Strafe von einem Jahr zu erwarten ist (OLG Celle NJW 1950 240; a. A. OLG Nürnberg HESt. 2 86), doch werden nur besondere Umstände die Lebenserfahrung ausschließen können, daß Fluchtgefahr besteht, wenn mehrjährige Freiheitsstrafe oder die Sicherungsverwahrung in Aussicht steht. Damit wird die Schwere der Straftat für die Wahrscheinlichkeit der Flucht bedeutsam. Nicht jedoch werden 15 bei schweren Straftaten die Anforderungen für die Annahme der Fluchtgefahr erleichtert; dieser Begriff ist für alle Delikte einheitlich ( D a h s NJW 1961 1881; E b S c h m i d t JR 1962 28). In der Vorauflage war die Meinung vertreten worden, daß ein Haftbefehl auch ergehen könne, wenn der Beschuldigte beabsichtige, Selbstmord zu begehen. Diese Ansicht wird aufgegeben. Zwar kann kein Zweifel bestehen, daß bei einem Selbstmordkandidaten die Gefahr besteht, er werde sich dem Verfahren entziehen; auf die Klammerbezeichnung „Fluchtgefahr" kann zur (einschränkenden) Auslegung nicht entscheidend abgestellt werden. Auch ist das zu § 124 gebrauchte Argument, die Vorschrift habe einen Beschuldigten im Auge, der abwesend, aber doch, wenn er nur erreichbar sei, noch zur Untersuchungshaft gebracht werden könne (OLG Hamburg GA 44 176), jedenfalls für § 112 nicht zwingend. Denn ein System, in dem die Strafe der Vergeltung dient (so noch BVerfGE 21 384 = NJW 1967 1652), könnte auch sicherstellen wollen, daß der Beschuldigte dem Staat zur Vergeltung aufgespart werden müsse. Indessen ist die Ansicht, Zweck der Strafe sei Ver15

So OLG Hamburg NJW 1961 1881 und K l e i n k n e c h t M D R 1965 783.

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§ 112 Anm. 12,13

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geltung, im wesentlichen verworfen; für die meisten steht die Sozialisation des Täters im Vordergrund. Zu ihr muß der Täter selbst beitragen; will er sich ihr durch den Tod entziehen und damit das Verfahren beenden, besteht keine rechtliche Grundlage, ihn mit den Mitteln des Strafprozesses daran zu hindern". Demzufolge ist Selbstmordgefahr nicht als Haftgrund i. S. des § 112 Abs. 2 Nr. 2 anzusehen 17 . 12. Verdunkelungsgefahr (Absatz 2 Nr. 3). Gegenüber dem bisherigen Recht ist der Haftgrund der Verdunkelungsgefahr wohl am bedeutsamsten eingeengt worden. Bisher lag er vor, wenn durch bestimmte Tatsachen die Gefahr begründet wurde, der Beschuldigte werde durch gewisse Verhaltensweisen die Ermittlung der Wahrheit erschweren. Jetzt wird verlangt, daß auf Grund bestimmter Tatsachen die Absicht des Beschuldigten erkennbar ist, er werde bestimmte Tätigkeiten vornehmen, und daß deshalb die Gefahr droht, er werde dadurch die Ermittlung der Wahrheit erschweren. Die Notwendigkeit, eine erkennbare Absicht auf Grund bestimmter Tatsachen festzustellen, wird es praktisch sehr weitgehend ausschließen, den Haftgrund der Verdunkelungsgefahr anzuwenden. Das entspricht dem Willen des Gesetzgebers, der diesem Haftgrund am mißtrauischsten gegenübersteht. Nur wenn die Absicht des Beschuldigten, Verdunkelungshandlungen vorzunehmen, erkennbar ist, ist Absatz 2 Nr. 3 anzuwenden. Der Begriff „erkennbar" weicht ab von dem Begriff „festgestellt wird", der in Nummer 1 verwendet wird, und ist schwächer als dieser. Es muß also der Umriß der Verdunkelungshandlung hervortreten; die Einzelheiten können noch im Dunkeln liegen ( D a h s 891). — Bei den danach verbleibenden seltenen Fällen ist der Haftgrund allerdings unentbehrlich. Die Absicht, Verdunkelungshandlungen auszuführen, berechtigt noch nicht, die Untersuchungshaft anzuordnen. Vielmehr muß aus dieser Absicht die Gefahr drohen, der Beschuldigte werde die Ermittlung der Wahrheit gefährden. Daraus folgt, daß die Handlung tauglich sein muß, die Wahrheitsermittlung zu erschweren. Das ist nur der Fall, wenn das angegriffene Beweismittel sich auf einen zulässigen und erheblichen Beweis bezieht. Wegen des Gefahrbegriffs s. 9. 13. Verdunkelungsabsicht. Der Beschuldigte handelt absichtlich, wenn es ihm darauf ankommt, eine der drei im Gesetz aufgeführten Verhaltensweisen zu verwirklichen. Da das Gesetz die Verdunkelung verhindern, nicht aber die Beweggründe des Beschuldigten bestrafen will, darf nicht auf den Beweggrund sondern nur auf die Zielvorstellung des Beschuldigten abgestellt werden. Wer seine Wohnung von Blut säubert, das einen Kampf verrät, kann das aus dem Motiv tun, wieder sauber zu wohnen, vielleicht aus dem unbewußten, vor sich und der Umwelt rein zu erscheinen. Dieses Ziel kann er aber nur auf dem Umwege erreichen, daß er eine ihn belastende Spur vernichtet. Auch auf dieses Zwischenziel ist seine Absicht gerichtet. In der Regel wird allerdings die Zielvorstellung zugleich der treibende Beweggrund des Beschuldigten sein. Wird mit der vom Gesetzgeber gewählten Form ausschlaggebend auf den Willen des Beschuldigten abgestellt, so rücken D a h s (891) und K l e i n k n e c h t (Kl 6 A) das Wissen des Beschuldigten in den Vordergrund, indem sie den bedingten Vorsatz genügen lassen. Das ist abzulehnen. Absicht ist ein gesetzestechnischer Ausdruck, mit dem, mag seine Bedeutung sonst zwar nicht völlig eindeutig sein, auf jeden Fall der bedingte Vorsatz ausgeschlossen wird. Die Zielvorstellung, die Absicht des Beschuldigten, muß auf Grund bestimmter Tatsachen (8) erkennbar sein. Daher darf Verdunkelungsgefahr niemals aus der in nahezu jeder Strafsache möglichen Vermutung geschlossen werden, der Beschuldigte werde die Ermittlung der Wahrheit erschweren (OLG Köln NJW 1959 544). Auf keinen Fall rechtfertigen noch ausstehende Ermittlungen (OLG Schleswig SchlHA 1954 25) die Untersuchungshaft. Da der Beschuldigte nicht zur Einlassung verpflichtet ist (§ 136 Abs. 1 Satz 2), wird dadurch, daß er sich nicht zur Sache erklärt, keine Verdunkelungsgefahr begründet (OLG Frankfurt NJW 1960 352). Die bisherige Fassung ließ die Auslegung zu, die Verdunkelungsgefahr werde sich oft aus unternommenen oder durchgeführten Verdunkelungsmaßnahmen — z. B. der Verwen16

S. aber wegen der Verhinderung des Selbstmords im Anstaltsvollzug V 8 zu § 119. " O L G Dresden A l s b . E 1 293; O L G Oldenburg NJW 1961 1984; B a d e r JZ 1956 375; Eb. S c h m i d t , Nachtr. 17; M ü l l e r - S a x 3b; KI 5.

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§ 112 Anm. 14

dung ge- oder verfälschter Schriftstücke, der Einschüchterung, Bedrohung oder Bestechung von Zeugen - ergeben (OLG Frankfurt NJW 1960 352), selbst wenn der Beschuldigte diese Maßnahmen v o r dem anhängigen Verfahren angewendet hatte, etwa in einem Zivilprozeß, aus dem ein Verfahren wegen Verleitung zum Meineid hervorgegangen war. Diese Auslegung ist nicht mehr zulässig. Aus früherer Tätigkeit kann man auf eine künftige nur mit einer Vermutung schließen. Der Beweis — selbst in der eingeschränkten Form, die im Haftverfahren anerkannt ist (9 Abs. 2) — einer erkennbaren Absicht des Beschuldigten ist das nicht. Auch der Begründungsverzicht in Staatssicherheitssachen (§ 114 Abs. 2 Nr. 4) gibt für die Feststellung der Absicht keine Erleichterung (6 Abs. 2 zu § 114). Dagegen ist die Ansicht, Verdunkelungsgefahr bestehe, wenn die ganze Lebensführung des Beschuldigen auf Verheimlichen, Verbergen und Verdunkeln, auf Täuschung, Drohung und Gewalt abgestellt sei (gewerbsmäßige Hehler, Zuhälter, Spione und Verräter; OLG Köln NJW 1961 1880; JMB1NRW 1963 252), auch für das geänderte Recht richtig, weil Absicht und Gefahr hier auf der Hand liegen ( D a h s 893). Doch ist immer zu prüfen, ob es (noch) etwas zu verdunkeln gibt. 14. Verdunkelungshandlungen. Der Haftgrund der Verdunkelungsgefahr besteht nur, wenn aufgrund bestimmter Tatsachen die Absicht erkennbar ist, der Beschuldigte werde eine der drei im Gesetz aufgeführten Verdunkelungshandlungen begehen, und wenn weiter durch diese Absicht die Gefahr droht, der Beschuldigte werde die Ermittlung der Wahrheit in dem Verfahren wegen derjenigen Straftat erschweren, deren er dringend verdächtig ist. Die Vermutung weiterer Straftaten, die sich noch nicht zu einem dringenden Tatverdacht verdichtet hat, hat außer Betracht zu bleiben ( S a u e r NJW 1960 351). Die Verdunkelungshandlungen müssen zu dem Zweck der Verdunkelung geeignet (KG JR 1956 192), der Zweck muß ein künftiger sein. Die Untersuchungshaft wegen Verdunkelungsgefahr ist keine Prozeßstrafe. Selbst wenn der Beschuldigte Beweismittel vernichtet und Zeugen beeinflußt hat, ist sie unzulässig, wenn keine durch Tatsachen begründete Absicht erwiesen ist, daß der Beschuldigte auch in Zukunft Verdunkelungshandlungen vornehmen werde, und daß deshalb die Gefahr drohe, er werde durch diese Handlungen (RG GA 60 89) die weitere Wahrheitsermittlung erschweren. Verdunkelungshandlungen sind im einzelnen: a) Das Vernichten, Beiseiteschaffen und Unterdrücken, das Verändern und Verfalschen von Beweismitteln. Ob der Beschuldigte berechtigt ist, über das Beweismittel zu verfügen (ein von ihm gefertigtes Tonband zu löschen, einen von ihm geschriebenen, aber noch nicht abgesandten Brief zu verbrennen; die in seinem Eigentum stehende Mordwaffe zu vernichten; eine in der Natur gesetzte Spur zu verwischen), ist gleichgültig. Wer die Absicht erkennen läßt, Beweismittel anzugreifen, setzt sich der Verhaftung aus, gleichviel ob sein Verhalten „anstößig" ist ( K l e i n k n e c h t JZ 1965 116; Kl 6 Ab) oder edel (etwa um eine an der Tat unbeteiligte Frau nicht zu kompromittieren). Das Merkmal „unlauter" des Buchstaben b) darf nicht auf den Fall des Buchstaben a) übertragen werden. Zu den Beweismitteln zählen auch die bisher besonders genannten Spuren der Tat. Beiseiteschaffen ist auch jede Veräußerung, wenn sie bewirkt, daß das Beweismittel nicht mehr jederzeit unverändert zur Verfügung steht. Das Verändern umfaßt auch das Unbrauchbarmachen, etwa das Löschen eines Tonträgers. Dagegen verändert ein Beweismittel nicht, wer sich einer Blutalkoholuntersuchung entzieht (9 zu § 81a; III 3 Fußn. 26 zu § 127); er verhindert nur, daß von einem sich verändernden und vergehenden Beweismittel Gebrauch gemacht werden kann. b) Die Einwirkung auf Mitbeschuldigte, Zeugen und Sachverständige, jedoch nur, wenn sie in unlauterer Weise vorgenommen wird. Das ist immer der Fall, wenn der Mitbeschuldigte oder Zeuge beeinflußt wird, die Unwahrheit zu sagen, oder der Sachverständige, ein falsches Gutachten abzulegen oder Befundtatsachen (vgl. BGHSt. 18 108) falsch zu bekunden. Dagegen ist die bloße Besprechung mit Verfahrenszeugen (OLG Köln NJW 1959 544), die Frage, wie sich ein Hergang ereignet oder ob sie sich an einen bestimmten Umstand erinnerten, nicht unlauter; sie wird es aber, wenn ihnen eine Erinnerung, die sie nicht haben — auch wenn sie sie haben können —, suggeriert wird. Es ist auch nicht unlauter, daß der Beschuldigte Zeugen bittet, von ihrem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch zu machen 673

§ 112 Anm. 15

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

(OLG Bremen MDR 1951 55). Denn zu seinen Gunsten ist es dem Zeugen eingeräumt, und der Beschuldigte kann ihm wohl die Folgen einer Aussage vorstellen 18 . c) Die Veranlassung eines anderen, die vorgenannten Verdunkelungshandlungen vorzunehmen. Der Beschuldigte muß den Anlaß geben, daß der andere handelt, gleichviel ob der andere weiß, welchem Ziel seine Handlungen dienen. Auf der Seite des Beschuldigten genügt nicht jede, auch eine fahrlässige Veranlassung, vielmehr nur eine, die von der Absicht des Beschuldigten getragen ist, das Handeln des anderen herbeizuführen. 15. Sittlichkeitsverbrechen (Absatz 3). a) Inhalt. Der Gesetzgeber hat richtig erkannt, daß Wiederholungstäter von weiteren Taten nicht dadurch abgehalten werden können, daß ein Strafverfahren gegen sie eingeleitet wird, sondern allenfalls durch die Vollstreckung der Strafe. Wie die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis (§ l i l a ) die Vollstreckung der endgültigen Entziehung (§ 42m StGB), wie die einstweilige Unterbringung (§ 126 a) den Vollzug der Unterbringung in einer Heil- oder Pflegeanstalt (§ 42 b StGB) vorwegnimmt, so wird hier die zu erwartende Strafe vollzogen, damit sie alsbald ihre die Öffentlichkeit sichernde und den Beschuldigten abschreckende Wirkung entfalten kann (BVerfGE 19 349 = NJW 1966 244). Mit Untersuchungshaft hat diese Verwahrung — mag sie auch deren Rolle zuweilen mit übernehmen — allerdings nichts zu tun. Denn der Untersuchungszweck kann nur erfordern, daß der Beschuldigte zur Hauptverhandlung zur Stelle ist, und daß die Beweismittel nicht angetastet werden. Obwohl das Wort „Untersuchungshaft" gebraucht wird, handelt es sich der Sache nach um eine vorbeugende Verwahrung für Sittlichkeitsverbrecher, von denen weitere Sittlichkeitsverbrechen zu erwarten sind (vgl. BTProt. IV 6438, Bundesjustizminister Dr. Bucher: „Sicherungshaft"; ebenso S c h m i t t 194). Warum das Institut auf diesen Verbrechenskreis beschränkt worden ist, liegt nicht auf der Hand; in der Praxis spielen Serieneinbrecher und reisende Rückfallbetrüger eine größere Rolle, und im Bundestag war auch versucht worden, den Haftgrund der Wiederholungsgefahr, wenn auch unter strengen Voraussetzungen, zu erweitern (BTProt. IV 6437ff., 6504). Die Einschränkung ist wohl mit den Erwägungen zu begründen, daß es besonders unerträglich ist, mit großer Wahrscheinlichkeit einem neuen Sittlichkeitsverbrechen entgegenzusehen, und daß die in der Literatur ( B a u m a n n 693) angegriffene Maßnahme einer vorbeugenden Verwahrung mit Zurückhaltung eingesetzt und namentlich für Verletzung bloßer Vermögensinteressen ausgeschlossen worden ist (vgl. BTProt. IV 6443 A, Abg. Jahn: „ . . haben wir es für notwendig gehalten, diesen Haftgrund auf das äußerste Mindestmaß zu beschränken"). Es ist bedauerlich, daß der Gesetzgeber die Vorschrift nicht mit § l i l a und § 126a zu einem besonderen Abschnit über vorbeugende Maßnahme^ vor dem Urteil zusammengefaßt hat. Die Notwendigkeit, von den Regeln der Untersuchungshaft mehrfach abzuweichen, hätte das geboten (vgl. BTProt. IV 6445 A). Die Erkenntnis ihres Charakters sollte dazu führen, wenn der Haftbefehl allein auf Absatz 3 beruht, nie von § 60 Abs. 1 Satz 2 StGB Gebrauch zu machen (vgl. fürs alte Recht S c h m i t t 196 sowie für die Sicherungshaft des Jugendstrafrechts § 61 Abs. 2 Satz 1 JGG) und den Beschuldigten stets dann zu entlassen, wenn die Haft die Höhe der zu erwartenden Strafe erreicht hat. b) Voraussetzungen. Voraussetzung der Untersuchungshaft nach Absatz 3 ist, daß der Beschuldigte dringend verdächtig ist einer Straftat wider die Sittlichkeit nach § 173 Abs. 1 StGB (Blutschande zwischen Verwandten auf- und absteigender Linie, begangen von Verwandten aufsteigender Linie); § 174 StGB (Unzucht mit Abhängigen); § 175 Abs. 1 Nr. 2, 3 StGB (Unzucht mit einem abhängigen Mann; gewerbsmäßige Homosexualität); § 176 StGB (erzwungene Vornahme unzüchtiger Handlungen an einer Frau; Mißbrauch einer Willensunfreien zum außerehelichen Beischlaf; Unzucht mit Kindern unter vierzehn Jahren); 18

Zust. E b S c h m i d t , Nachtr. 20; einschränkend — Verdunkelung bei Ausnutzung eines Autoritätsverhältnisses — M ü l l e r - S a x 4 a (2).

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Neunter Abschnitt. Verhaftung und vorläufige Festnahme (Dünnebier)

§ 112 Anm. 15

§ 177 StGB (Notzucht). Versuch, Anstiftung und Beihilfe zu den genannten Verbrechen sind nach dem Sprachgebrauch des Strafgesetzbuchs unter dem Begriff des Verbrechens mit zu verstehen 19 . Das gleiche wird für die versuchte Anstiftung und die Verabredung zu einem jener Verbrechen anzunehmen sein 20 . Weitere Voraussetzung ist, daß bestimmte Tatsachen die Gefahr begründen, der Beschuldigte werde ein weiteres Verbrechen der bezeichneten Art begehen, bevor er in der Sache rechtskräftig abgeurteilt ist, wo die Untersuchungshaft angeordnet wird. Das Verbrechen, das befürchtet wird, braucht nicht den gleichen Tatbestand zu erfüllen wie das verübte, es muß nur zu dem Katalog des Absatzes 3 gehören. Die Vorschrift zeigt klar, daß der Begriff „Tatsache" in § 112 nicht einheitlich verwendet worden ist. Nach dem Zweck der Vorschrift können die Tatsachen nicht darin erblickt werden, daß der Beschuldigte sich anschickt, ein neues Sittlichkeitsverbrechen zu begehen; denn daran soll er gerade gehindert werden. Die Tatsachen liegen also in der Vergangenheit; sie sind die Vortaten und alle Lebensverhältnisse des Beschuldigten, die eine Prognose zulassen, ob er künftig neue Taten begehen werde (8). Liegen alle diese Voraussetzungen vor, dann ist die „Untersuchungshaft" gleichwohl nur zulässig, wenn sie erforderlich ist, die drohende Gefahr abzuwenden. Sind also andere Möglichkeiten gegeben, eine neue Tat zu verhindern, so sind diese zu wählen. Dafür kommen etwa in Betracht die Vollstreckung einer Reststrafe, die freiwillige Verbringung eines gefährdeten Kindes in ein Heim, der freiwillige Eintritt des Beschuldigten in eine Nervenheilanstalt und ähnliche. c) Volltrunkenheit. Das Oberlandesgericht Frankfurt (NJW 1965 1728) 21 will die Haft nach Absatz 3 auch bei Beschuldigten zulassen, die der Volltrunkenheit (§ 330a StGB) dringend verdächtig sind, wenn dabei als Bedingung der Strafbarkeit eine der in Absatz 3 bezeichneten Taten in Betracht kommt. Es begründet seine Ansicht im wesentlichen mit folgenden Erwägungen: Sinn des Haftgrundes der Wiederholungsgefahr sei, die Allgemeinheit vor Hangtätern zu schützen, die zu Sittlichkeitsverbrechen neigen. Es sei kein Grund ersichtlich, warum der Haftgrund ausscheiden solle, wenn der Täter möglicherweise infolge eines Rauschzustandes unzurechnungsfähig gewesen sei. Die Ausdehnung des Haftgrundes auf Sittlichkeitsdelikte, die im Vollrausch begangen sind, werde dem Präventivcharakter der Vorschrift gerecht. — Ob die Argumente dem Gesetzgeber hätten Anlaß geben können, den in Absatz 3 genannten Straftaten die der Volltrunkenheit an die Seite zu stellen, das sich auf eine der mit Strafe bedrohten Handlungen nach § 173 Abs. 1, nach §§ 174, 175 Abs. 1 Nr. 2, 3, § 176 oder nach § 177 StGB bezieht, kann zweifelhaft sein, braucht aber nicht erörtert zu werden. Denn der Gesetzgeber hat jenen Schritt nicht getan, und der Rechtsprechung ist nicht erlaubt, ihn zu korrigieren. Sie könnte es, wenn der Gesetzgeber den Vollrauschfall hätte einbeziehen wollen, das aber bei der Redaktion versehentlich unterlassen hätte. Sie könnte es wohl auch (wenn das auch nicht unbestritten ist), wenn der Gesetzgeber (irrtümlich) angenommen hätte, der Fall der Volltrunkenheit sei selbstverständlich einbezogen. Für beide Voraussetzungen bietet die Entstehungsgeschichte keinen Anhalt. Wenige Wochen vor Erlaß des § 112 Abs. 3 ist dem Strafgesetzbuch § 42 m Abs. 2 StGB eingefügt worden. Dort wird die Vermutung aufgestellt, ein Täter sei ungeeignet, Kraftfahrzeuge zu führen, wenn er bestimmte Delikte begangen habe, und als letztes dieser Delikte ist die Volltrunkenheit genannt, die sich auf eine der mit Strafe bedrohten Handlungen nach den vorher genannten Strafbestimmungen bezieht. Angesichts dieses Vorbilds, das in frischer Erinnerung war, ist es unzulässig anzunehmen, der Gesetzgeber habe geglaubt, der Fall der Volltrunkenheit sei als selbstverständlich einbezogen, auch wenn § 330 a StGB nicht genannt werde. Auch ein Redaktionsversehen liegt nicht nahe. Es könnte nur angenommen werden, 19 20 21

Vgl. RGSt. 31 4 0 , 6 8 169; BGHSt. 2 361. Vgl. BGHSt. 2 360, 6 213. Zust. M ü l l e r - S a x 5; Kl 7; E b S c h m i d t , Nachtr. 26.

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§112

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Anm. 16 wenn die klare Absicht des Gesetzgebers im Gesetzestext nicht zum Ausdruck gekommen ist — ein Fall, der ausscheidet — oder wenn zwar die Absicht des Gesetzgebers unbekannt geblieben ist, seine Regelung aber sinnlos wäre, wenn man sie nicht nach einer Absicht ergänzte, auf die deshalb zu schließen ist, weil jede andere Regelung — und darunter die des Gesetzestextes — sinnlos wäre. D a v o n kann keine Rede sein. Die Mehrheit des Bundestages hat den Tatbestand der Wiederholungsgefahr stark eingeschränkt und dabei nicht unberechtigte kriminalpolitische Wünsche abgelehnt. Es ist sowohl denkbar, daß sie zunächst vorsichtig vorangehen wollte, als auch — und das wird ausschlaggebend gewesen sein — daß sie nicht allein auf den Schutzzweck abstellen, sondern von den Tätern, wie schon die Auswahl zeigt, nur die besonders gefährlichen treffen wollte. Dann wäre es verständlich, daß das Vergehen des Vollrausches nicht als ausreichend befunden worden ist. D a sohin beachtliche Gründe maßgebend gewesen sein können, die Voraussetzungen der Haft des Absatzes 3 zu beschränken, ist es unzulässig, die gesetzliche Beschränkung im Wege der Auslegung wieder aufzugeben. 16. Verbrechen wider das Leben (Absatz 4). a) Gesetzesinhalt. Die Untersuchungshaft bei Verbrechen wider das Leben schließt sich, anders als der soeben behandelte Haftgrund, wieder den klassischen Haftgründen an, wenn auch die Grundlagen des neuen Instituts nicht ganz klar zutage liegen. Voraussetzung der Untersuchungshaft ist nach dem Wortlaut allein der dringende Verdacht eines Verbrechens nach § 211 StGB (Mord), § 212 StGB (Totschlag) oder § 2 2 0 a Abs. 1 Nr. 1 StGB (Völkermord), doch findet, wie noch darzulegen, eine scharfe Typenkorrektur statt. Für Versuch, Anstiftung und Beihilfe ( O L G Hamm N J W 1965 1729; O L G Düsseldorf N J W 1965 2119), für die mißlungene Anstiftung und die Verabredung (§ 49 a StGB) sowie für die Volltrunkenheit (§ 330 a StGB), die sich auf eine mit Strafe bedrohte Handlung nach den vorher genannten Bestimmungen bezieht, gilt das 15 b Abs. 2, 15 c Ausgeführte entsprechend (a. A. für Versuch und mißlungene Anstiftung K a n k a 430). Absatz 4 findet nach der Tatbestandstechnik keine Anwendung, wenn zu erwarten ist, daß die Strafe den §§ 213, 216 und 217 StGB zu entnehmen sein wird 22 . Die Vorschrift ist ferner nicht anzuwenden — wodurch viele Fälle des Versuchs und der Beihilfe ausscheiden —, wenn der „unausgesprochene Haftgrund" des Absatzes 4 nicht gegeben ist. Dieser ist nach der N J W 1966 232 mitgeteilten Entstehungsgeschichte in der Unerträglichkeit 23 zu sehen, einen Beschuldigten in Freiheit zu lassen, der dringend verdächtig ist, eine der in Absatz 4 genannten Straftaten begangen zu haben u n d dem Typus des „brutalen Mörders" zu entsprechen. Fehlt dieser Haftgrund, kann gleichwohl ein Haftbefehl ergehen, wenn einer der Haftgründe der Absätze 2 oder 3 vorliegt (OLG Oldenburg NJW 1965 1613; O L G Hamm N J W 1965 2117) 2 4 . b) D a s Bundesverfassungsgericht (BVerfGE 19 342 = N J W 1966 243) hält Absatz 4 für unvereinbar mit dem Grundgesetz, wenn er dahin ausgelegt wird, daß bei dringendem Verdacht der genannten Verbrechen die Untersuchungshaft ohne weiteres verhängt werden dürfte. Es läßt „weder die Schwere des Verbrechens . . . noch die Schwere der (noch 22

23 24

D ü n n e b i e r 231; K a n k a 430; H e n g s b e r g e r 211; OLG Düsseldorf NJW 1965 2119; K l 8; für § 213 a. A. C r e i f e l d s NJW 1965 950; G r a u h a n NJW 1965 1363; W a l d s c h m i d t NJW 1965 1576. Ebenso D a h s NJW 1966 763; S c h m i t t 195. Ebenso W a l d s c h m i d t NJW 1965 2117; a. A. - Haftbefehl, der sich auf Mord und Totschlag bezieht, darf nur nach Absatz 4 erlassen werden — OLG Düsseldorf NJW 1965 2119 K a n k a (429) will bei Absatz 4 von keinem Haftgrund sprechen, die Vorschrift aber auch nicht auf alle, sondern nur auf besonders gelagerte Fälle der drei genannten Verbrechen angewendet wissen. Ob solche Fälle vorliegen, sollen die Gerichte von Fall zu Fall entscheiden auf Grund der „Bestimmung, daß in diesen Fällen der Haftbefehl erlassen werden d a r f ' . Das Wort „ d a r f , das im übrigen für alle Haftgründe gilt, kann indessen nicht die Grundlage der von K a n k a angenommenen Freiheit bieten (19). Vor allem ist ihm keine Richtlinie für eine Typenkorrektur des lakonischen Tatbestandes des Absatzes 4, die doch auch K a n k a für erforderlich hält, zu entnehmen. Diese ist nur dadurch zu gewinnen, daß man aus der Entstehungsgeschichte den verborgenen Haftgrund des Absatzes 4 erkennt; ein technischer Haftgrund i. S. der Absätze 2 und 3 ist er freilich nicht.

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Neunter Abschnitt. § 112 Verhaftung und vorläufige Festnahme (Dünnebier) Anm. 16 nicht festgestellten) Schuld", noch weniger die „Rücksicht auf eine mehr oder minder deutlich feststellbare ,Erregung der Bevölkerung'..., die es unerträglich finde, wenn ein ,Mörder' frei umhergehe", für sich allein als Grundlage der Verhaftung genügen. Dagegen hält es Absatz 4 für vereinbar mit dem Grundgesetz bei folgender Auslegung: „Es müssen . . . Umstände vorliegen, die die Gefahr begründen, daß ohne Festnahme des Beschuldigten die alsbaldige Aufklärung und Ahndung der Tat gefährdet sein könnte. Der zwar nicht mit gestimmten Tatsachen' belegbare, aber nach den Umständen des Falles doch nicht auszuschließende Flucht- oder Verdunkelungsverdacht kann u. Ü. bereits ausreichen 25 . Ebenso könnte die ernstliche Befürchtung, daß der Beschuldigte weitere Verbrechen ähnlicher Art begeht, für den Erlaß eines Haftbefehls genügen." Diese Auslegung enthält „mit Rücksicht auf die Schwere der hier bezeichneten Straftaten" eine Lockerung der „strengen Voraussetzungen der Haftgründe des Absatzes 2 . . . , um die Gefahr auszuschließen, daß gerade besonders gefahrliche Täter sich der Bestrafung entziehen". Darüber hinaus wird für Verbrechen wider das Leben ein Haftgrund der Wiederholungsgefahr geschaffen, für den ebenfalls weniger strenge Voraussetzungen gelten als für Absatz 3. Da aber Flucht-, Verdunkelungsund Wiederholungsgefahr vorliegen müssen, läuft die Auslegung auf eine Vermutung der Haftgründe, wenn nur gewisse Anhaltspunkte für sie vorliegen, und damit letztlich auf eine Begründungserleichterung hinaus. Der Gesetzgeber hat indessen weder das gewollt, was das Bundesverfassungsgericht als mit dem Grundgesetz unvereinbare Auslegung erwägt, noch was es als verfassungskonforme Auslegung zuläßt. Wie an anderer Stelle dargelegt (NJW 1966 231), ergibt sich aus der Entstehungsgeschichte (S. 232 IIa, b) und der Auslegung des Gesetzestextes (IIc), daß die Schwere des Unrechts und der Schuld allein den unbenannten Haftgrund des Absatzes 4 nicht ausmacht 26 . Auf die „Erregung der Bevölkerung", die das Bundesverfassungsgericht ins Auge faßt, hat die Mehrheit des Bundestags gewiß nicht abgestellt ( K a n k a 429). Auch sollte im Falle des Absatzes 4 die Untersuchungshaft nicht — wie die Praxis nach den von S c h m i d t L e i c h n e r mitgeteilten Beispielen (427) zuweilen angenommen zu haben scheint — „ohne weiteres" verhängt werden dürfen, sondern nur, wenn die Unerträglichkeit objektiv empfunden wird, einen Menschen in Freiheit zu lassen, der dringend verdächtig ist, einen Mord begangen zu haben, u n d dem Typus des „brutalen Mörders" zu entsprechen (aaO 233 Ild). Andererseits darf man ausschließen, daß der Gesetzgeber das gewollt hat, was das Bundesverfassungsgericht als verfassungskonforme Auslegung zugesteht. Die Auffassung, daß bei schweren Verbrechen die Haftvoraussetzungen gelockert werden dürften (OLG Hamm NJW 1965 1729; ähnlich K l e i n k n e c h t MDR 1965 782) - die oben 11 abgelehnt worden ist27—, dürfte gewiß den Gesetzgeber nicht geleitet haben, der ausdrücklich das Ziel verfolgt hat, die „apokryphen Haftgründe" abzuschaffen, d. h. der Neigung entgegenzuwirken, „einen der . . . Haftgründe, obwohl er bei strenger Anwendung des Gesetzes nicht gegeben ist, in solchen Fällen dennoch als gegeben anzusehen, in denen es aus anderen besonders triftigen Gründen angebracht erscheint, über den dringend verdächtigen Beschuldigten die Untersuchungshaft zu verhängen" (Abg. K a n k a zu BTDrucks. IV 1020, S 2). Auch ist es undenkbar, daß der Gesetzgeber eine erkennbare Begründungserleichterung (§112 Abs. 2 Satz 2 a. F.) abschafft und im gleichen Augenblick eine viel weitergehende verdeckte einführt. Auch die verfassungskonforme Auslegung ist nicht frei. Sie kann wohl den Willen des Gesetzgebers und des Gesetzes verkürzen, soweit er dem Grundgesetz zuwiderläuft. Sie kann aber dem Gesetz nicht einen Sinn unterlegen, den es nach dem erkennbaren Willen des Gesetzgebers gerade nicht haben soll. Wenn daher zufolge des Beschlusses des Bundesverfassungsgerichts als verfassungswidrig das nicht erlaubt ist, was der Gesetzgeber gewollt 25

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Beispiel OLG Hamm NJW 1966 2075: Möglichkeit, daß der Angeklagte zwar nicht für immer dem Verfahren, aber vorübergehend den quälenden Eindrücken der Hauptverhandlung entfliehen werde. Vgl. Abg. Dr. h. c. G ü d e , BTRAusschußProt. 37, 11; Abg. Dr. K a n k a , BTProt. IV 6439 A; abgedruckt aaO. 232; OLG Hamburg NJW 1965 2116; OLG Stuttgart Justiz 1965 359; O p p e NJW 1966 94. Ebenso D a h s NJW 1961 1881; E b S c h m i d t JR 1962 28; S c h m i d t - L e i c h n e r 428.

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§ 112 Anm. 17

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hat, der Gesetzgeber aber das nicht gewollt hat, was das Bundesverfassungsgericht als verfassungsgemäß zugesteht, dann ist für eine verfassungskonforme Auslegung kein Raum; vielmehr ist Absatz 4, weil verfassungswidrig, ungültig2*. Die Praxis scheint bei Mordfällen die allgemeinen Vorschriften (§112 Abs. 2) anzuwenden, dazu § 112 Abs. 3 entsprechend (OLG Köln JMB1NRW 1968 235), zum Teil mit schwächeren Anforderungen (OLG Hamm NJW 1966 2075). 17. Verhältnismäßigkeit (Absatz 1 Satz 2). Mit der Untersuchungshaft wird in das Grundrecht des Beschuldigten auf persönliche Freiheit (Art. 2 Abs. 2 und Art. 104 GG) eingegriffen. Dem Anspruch, das Grundrecht erhalten zu sehen, steht das Bedürfnis der Gesellschaft gegenüber, das Verbrechen wirksam zu bekämpfen. Diese Spannung ist dadurch auszugleichen, daß der für die Strafverfolgung erforderlichen Freiheitsbeschränkung der grundrechtlich verbürgte Freiheitsanspruch des als unschuldig geltenden (Art. 6 Abs. 2 MenschRKonv.) Beschuldigten als Korrektiv entgegengehalten wird. Danach ist der Eingriff in die Freiheit nur hinzunehmen, wenn und soweit dem Anspruch der Gesellschaft, die Tat vollständig aufzuklären und den Täter rasch zu bestrafen, nur durch die Untersuchungshaft Genüge getan werden kann (BVerfGE 19 3 4 2 = NJW 1966 244; BVerfGE 20 4 9 = NJW 1966 1259; BVerfGE 20 1 4 7 = NJW 1966 1703). Dieser verfassungsmäßige Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gilt nicht nur für die Anordnung der Untersuchungshalt, sondern auch für die Aufhebung des Haftbefehls und ist daher in § 120 Abs. 1 Satz 1, 2. Halbsatz nochmals wiederholt; er hat die Ausformung erhalten, daß die Untersuchungshaft weder angeordnet noch aufrechterhalten werden darf, wenn sie zu der Bedeutung der Sache und zu der zu erwartenden Strafe oder Maßregel der Sicherung und Besserung außer Verhältnis steht. Er ist einer der bedeutendsten Sicherungen gegen eine zu großzügige Verwendung der Untersuchungshaft. Der Grundsatz berührt sich mit der Anordnung in Art. 5 MenschRKonv., daß jedermann Anspruch auf Hauptverhandlung innerhalb angemessener Frist oder auf Entlassung gegen Sicherheitsleistung hat — ein Anspruch, der jetzt in § 121 seine nationale Ausformung erhalten hat. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit kommt in der negativen Form zum Ausdruck, daß die Untersuchungshaft nicht angeordnet werden darf, wenn sie zu der Sanktion außer Verhältnis steht 29 . Sinn hat diese Fassung nur, wenn damit der Grundsatz in dubio pro reo ausgeschlossen werden soll (vgl. K l 3B). Ihr liegt also die Auffassung zugrunde, daß dieser Grundsatz auch bei Wertungen selbst anzuwenden ist (Kl 8C zu § 261), und nicht nur für die den Wertungen zugrunde liegenden Tatsachen. Ist man dagegen der Ansicht, daß die Regel in dubio pro reo sich nur auf die Tatsachenfeststellung bezieht ( H e n k e l § 91 III 1), dann kommt der negativen Fassung keine Bedeutung zu; sie zwingt nicht zu der Theorie, der sie entsprungen ist. Die Feststellung, daß die Haft zur Sanktion nicht außer Verhältnis stehe, kann dann zu keinem anderen Ergebnis fuhren, als daß die Haft zur Sanktion in einem (angemessenen) Verhältnis stehe. Hätte das Gesetz diese Fassung erhalten, wäre es einfacher geworden: die Verhältnismäßigkeit wäre als Haftvoraussetzung herausgestellt, was sie nach überwiegender Auffassung auch ist; damit hätte die umständliche Fassung des § 120 Abs. 1 Salz 1 vermieden werden können. Immerhin hat die Fassung die Bedeutung, den Richter darauf hinzuweisen, daß er nach Lage der Akten zu entscheiden hat und keine Ermittlungen anzustellen braucht, um die Tatfolgen zu klären (Begrdg. BTDrucks. IV 178, S. 22), die vielleicht erst ein sicheres Urteil über die Verhältnismäßigkeit zulassen. Aber das ist selbstverständlich; im Haftverfahren sind alle Beurteilungen vorläufiger Art auf der Grundlage eines Tatsachenmaterials, das dauernder Veränderung unterworfen ist. Nach Absatz 1 Satz 2 darf die „erlittene" (§ 60 StGB) Untersuchungshaft dem Grundsatze nach nicht schwerer wiegen als das durch die Haft gesicherte Verfahrensziel, die Strafe 28

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Ebenso B o g s , Die verfassungskonforme Auslegung von Gesetzen, Stuttgart 1966 S. 72; P e t e r s § 47 A IV; D a h s NJW 1966 761 und, wenn auch aus anderen Erwägungen, S c h m i d t L e i c h n e r 4 2 8 ; zust. E b S c h m i d t , Nachtr. 28e. Unrichtig OLG Stuttgart, das entgegen dem Wortlaut des Gesetzes nicht nur auf die zu erwartende Sanktion, sondern schon bei der Prüfung der Verhältnismäßigkeit auch auf das Verhältnis zwischen dem Zeitraum, in dem der Angeklagte in Untersuchungshaft ist und der Tätigkeit der Staatsanwaltschaft und des Gerichts, das Verfahren zu fördern und abzuschließen (§ 121), abstellt ( M D R 1970 346). Diese Frage ist erst im Verfahren nach §§ 121, 122 zu prüfen (1 zu § 121).

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Neunter Abschnitt. Verhaftung und vorläufige Festnahme (Dünnebier)

§ 112 Anm. 18, 19

oder die Maßregel der Sicherung und Besserung. Dazu ist abzuschätzen, welche Freiheitsstrafe der Beschuldigte zu erwarten hat. Weiter ist zu prüfen ( S c h u l t z JR 1963 297), ob sie vielleicht ganz (§ 23 StGB) oder teilweise (§ 26 StGB) auszusetzen ist, oder ob nicht nur eine Geldstrafe oder eine nicht freiheitsentziehende Maßregel zu erwarten ist. In diesen Fällen, die nach der Statistik ein Sechstel aller Untersuchungshaftfalle ausmachen, wird in der Regel schon Fluchtgefahr, grundsätzlich aber die Verhältnismäßigkeit zu verneinen sein. Im Einzelfall kann jedoch, namentlich wenn der Beschuldigte flüchtig ist, die Verurteilung als solche bedeutungsvoll genug sein, die Untersuchungshaft zu verhängen ( M ü l l e r S a x 8b). Da indessen die Untersuchungshaft ein schwerer Eingriff in die Freiheit einer Person ist, deren Schuld erst festgestellt werden muß (Nr. 37 Satz 1 RiStBV), ist sie als eine Ausnahme anzusehen, die nur angewendet werden darf, wenn sie unbedingt notwendig ist. Bei Abwägung werden die Art des verletzten Rechtsgutes und die Schuld des Täters, in geringerem Umfange auch das Unrecht der Tat, Berücksichtigung erheischen 30 . 18. Subsidiarität. Sind alle vorher genannten Voraussetzungen erfüllt, so darf die Untersuchungshaft gleichwohl nicht verhängt werden, wenn der Beschuldigte freiwillig Pflichten übernimmt oder sich freiwillig Beschränkungen unterwirft, durch welche die erstrebte Wirkung auch ohne Verhaftung erreicht wird (OLG Frankfurt JR 1951 92). § 116 sieht bei Maßnahmen, welche die Fluchtgefahr erheblich vermindern, die Aussetzung des Vollzugs eines Haftbefehls vor. Ist es indessen nicht notwendig, dem Beschuldigten Pflichten und Beschränkungen aufzuerlegen, wird vielmehr der Haftgrund schon dadurch ausgeschlossen, daß er sie freiwillig übernimmt, dann entfallen damit die Haftvoraussetzungen. Das kann auch bei Verdunkelungsgefahr der Fall sein, etwa wenn ein kindlicher Zeuge in ein Heim verbracht und sichergestellt wird, daß der Beschuldigte dort mit ihm nicht in Verbindung treten kann. In der Regel wird es allerdings die Fluchtgefahr sein, die durch Übernahme von Pflichten ausgeschlossen wird. So kann z. B. bei Vermögenslosen die Abgabe des Reisepasses die Fluchtgefahr beseitigen, weil ohne einen Paß im Ausland keine Arbeitsgenehmigung erteilt zu werden pflegt. Der Beschuldigte kann jederzeit verlangen, daß freiwillig übernommene Beschränkungen, deren Zulässigkeit K a s t e n d i e c k leugnet (S. 219), alsbald aufgehoben werden. Daher macht die freiwillige Übernahme von Pflichten und Beschränkungen die Untersuchungshaft nur entbehrlich, wenn eine große Sicherheit dafür gegeben ist, daß sie auch innegehalten werden, und wenn weder behördliche Überwachung notwendig ist, noch andere Sanktionen als der Erlaß eines Haftbefehls geboten sind. Ist dagegen die stärkere Drohung erforderlich, es werde alsbald ein bereits erlassener Haftbefehl vollstreckt werden, dann ist der Weg des § 116 zu wählen. Er ist allein zulässig bei einer Sicherheitsleistung, weil bei formloser Sicherheitsbestellung § 122 (Verfall) keine Anwendung finden kann. In Jugendsachen ist das dem allgemeinen Haftrecht angehörende Subsidiaritätsprinzip in § 72 Abs. 1 J G G ausdrücklich festgelegt. Nach dieser Bestimmung darf Untersuchungshaft nur verhängt werden, wenn ihr Zweck nicht durch eine vorläufige Anordnung über die Erziehung oder durch andere Maßnahmen erreicht werden kann. Als solche kommen in Betracht Weisungen über den Aufenthalt, den Arbeitsplatz, Meldepflichten und ähnl. ( D a l l i n g e r - L a c k n e r 8 zu § 71), jedoch ist es unzulässig, die vorläufige Fürsorgeerziehung anzuordnen (§ 71 Abs. 1 Satz 2 JGG). 19. Gesamtwürdigung. Ist unter Berücksichtigung aller dieser Umstände die Untersuchungshaft zulässig, so sollte — scheint es — ein Zwang (so S i e g e r t JW 1925 929) bestehen, sie zu verhängen. Denn wenn das Mittel der Untersuchungshaft einem bestimmten Verfahrenszweck dient, so scheint der Richter, weil er diesen Zweck nicht nach Belieben preisgeben kann, dieses Mittel, wenn es zulässig ist, auch anwenden zu müssen. Das Gesetz verordnet aber ausdrücklich, daß die Untersuchungshaft, wenn bestimmte Voraussetzungen vorliegen, verhängt werden darf, nicht daß sie alsdann zu verhängen ist. Darin liegt die Erkenntnis, daß sich die Haftvoraussetzungen niemals mathematisch berechnen lassen. Der Richter muß nicht nur abwägen, was etwa für und gegen eine Flucht spricht, sondern auch, ob die Fluchtgefahr mehr oder weniger dringend ist, und ob bei Abwägung dieser 30

A. A. Baumann (652), der die Tatschwere nur im Sinne der zu erwartenden Strafhöhe bedeutsam sein läßt. 679

Strafprozeßordnung. Erstes Buch § 112 Anm. 20 Umstände die Nachteile der Haft, etwa für Gesundheit, Beruf und Familie, im rechten Verhältnis zu der zu erwartenden Strafe stehen ( M a u n z - D ü r i g 54 zu Art. 2 Abs. 2). Die Erwägungen greifen oft ineinander und betreffen verschiedene Haftvoraussetzungen. Wenn sich der Haftrichter auch über jede einzelne von ihnen Rechenschaft zu geben hat, so muß er zuletzt doch auf Grund einer Gesamtwürdigung entscheiden, ob der Zweck des Verfahrens das Mittel der Untersuchungshaft erfordert. Bejaht er das, dann muß er allerdings die Haft verhängen und kann nicht in einer Art Gnadenentscheidung willkürlich in dem einen Fall von der Verhaftung absehen, sie in einem anderen Fall aber anordnen. 20. Haftunfähigkeit. § 455 enthält zwei Gründe, die der Vollstreckung einer Freiheitsstrafe entgegenstehen: wenn der Verurteilte in Geisteskrankheit verfallt: wenn von der Vollstreckung wegen anderer Krankheiten eine nahe Lebensgefahr für den Verurteilten zu besorgen ist. Weiter kann die Strafvollstreckung aufgeschoben werden, wenn sich der Verurteilte in einem körperlichen Zustand befindet, bei dem eine sofortige Vollstreckung mit der Einrichtung der Strafanstalt unverträglich ist. Die Vorschrift bezieht sich nach ihrem Wortlaut nicht auf die Untersuchungshaft, ist aber doch teilweise auf sie entsprechend anzuwenden. a) Geisteskrankheit. Der erste dieser Gründe schließt schon seiner Natur nach die Untersuchungshaft regelmäßig aus: Gegen einen Geisteskranken kann, weil er nicht verhandlungsfahig ist, kein Verfahren und nach § 455 Abs. 1 Satz 1 keine Vollstreckung stattfinden. Demzufolge ist auch die Untersuchungshaft, weil sie der Sicherung des Verfahrens und einer künftigen Vollstreckung dient, unzulässig. Das gilt immer, wenn ein Ende der Geisteskrankheit nicht abzusehen ist. Ist das nach ärztlichem Gutachten ausnahmsweise der Fall, kann wohl ein Haftbefehl ergehen, doch kann er erst nach Beendigung der Geisteskrankheit vollstreckt werden. Denn vorher ist wegen Verhandlungsunfähigkeit das Haftverfahren (§ 114 b Abs. 2 und 3, § 114d Abs. 1, § 115a Abs. 4) nicht durchführbar. Hat die Geisteskrankheit schon bei der Tat vorgelegen, ist einstweilige Unterbringung nach § 126 a zulässig. b) Lebensgefährdung durch den Vollzug der Untersuchungshaft schließt diese in der Regel ebenfalls aus. Wenn diese Gefahrdung den Staat zu dem Verzicht veranlaßt, einen Schuldigen einzusperren (§ 455 Abs. 2), so ist diesem Umstand der Wille des Gesetzgebers zu entnehmen, auch auf die Inhaftierung eines Beschuldigten zu verzichten, der noch als unschuldig gilt (Art. 6 Abs. 2 MenschRKonv.) und es vielleicht sogar ist. Das Ergebnis folgt aus den oben dargestellten Grundsätzen der Verhältnismäßigkeit und der Gesamtwürdigung 31 . Das Leben des Beschuldigten steht höher als der Untersuchungszweck ( E b e r m a y e r 1455); ihm ein Menschenleben zu opfern, hat der Staat nicht das Recht (v. L i l i e n t h a l 1448). Aus den Grundsätzen der Verhältnismäßigkeit und der Gesamtwürdigung, aus denen das Ergebnis gewonnen ist, ergibt sich auch die Ausnahme von ihm: Ein wegen schwerster Taten dringend Verdächtiger, der höchste Strafen und bei deren Verbüßung den Tod im Vollzug zu erwarten hat, muß wegen des hohen Sühneverlangens auch der Lebensgefahr bei Verhaftung ausgesetzt werden 32 , wenn — was in der Regel nicht der Fall sein wird — die Fluchtgefahr sehr dringend ist. Das wird zu bejahen sein, wenn Angehörige Anstalten treffen, den Beschuldigten in ein Gebiet zu verbringen, aus dem er nicht ausgeliefert werden wird. Steht allerdings mit Sicherheit zu erwarten, daß der Beschuldigte die Hauptverhandlung nicht erleben wird, dann ist die Untersuchungshaft, weil für das Verfahren sinnlos, unzulässig. c) Sonstige Krankheiten stehen der Anordnung der Untersuchungshaft nicht entgegen. Der Gedanke des § 455 Abs. 2 („Die Strafvollstreckung kann aufgeschoben werden, wenn sich der Verurteilte in einem körperlichen Zustand befindet, bei dem eine sofortige Vollstreckung mit der Einrichtung der Strafanstalt unverträglich ist") kann ggf. die Vollstreckung 31

B e l i n g § 102 II 7 b Abs. 3; H ä r t u n g 930; K o h l r a u s c h 1440; OLG Frankfurt NJW 1968 2303; L ö w e n s t e i n JW 1925 1458. " K l e f i s c h 1450; S t r a s s m a n n JW 1925 1453; a. A. - bei Lebensgefahrdung d a r f a u c h gegen Mörder kein Haftbefehl ergehen - ,Judex" JR 1925 918.

680

Neunter Abschnitt. § 1 1 2 Anm. 21,22 Verhaftung und vorläufige Festnahme (Dünnebier) § 113 der Untersuchungshaft gegen einen Seuchenkranken unmöglich machen. Doch wird dabei auf Anstaltszwecke abgestellt, die mit den Haftvoraussetzungen nichts zu tun haben. Die Gefahr der Verschlimmerung einer Krankheit, meist zufolge der seelischen Belastung der Untersuchungshaft, ist bei der Prüfung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit und bei der Gesamtwürdigung zu berücksichtigen, kann aber für sich allein die Anordnung der Untersuchungshaft nicht hindern. Die entwickelten Gedanken gelten auch für die Schwangerschaft. Doch wird der Erwägung, daß durch die Ungewißheit der Haft seelische Belastungen entstehen und dadurch Komplikationen hervorgerufen werden können, in den letzten Schwangerschaftsmonaten besonderes Gewicht beizumessen sein. 21. Haft in anderer Sache. Strafhaft oder Untersuchungshaft in anderer Sache ist vom Richter beim Erlaß des Haftbefehls nicht zu berücksichtigen, weil sie, in der Regel ohne seinen Einfluß, jederzeit beendet werden kann, sei es — abgesehen vom Falle des § 26 StGB - durch einen Gnadenerweis, sei es nach § 360 Abs. 2 (OLG Koblenz MDR 1969 950). Dagegen spielt die Haft in anderer Sache beim Vollzug des Haftbefehls eine Rolle (12 bis 14 zu § 114). 22. Haftprüfung. Die Untersuchungshaft ist nur zulässig, wenn die Voraussetzungen der §§ 112, 113, einschließlich der Verhältnismäßgkeit, gegeben sind. Daraus folgt, daß sie unzulässig ist, wenn diese Voraussetzungen nicht bestehen und weiter, daß sie unzulässig wird, sobald sie weggefallen sind. Deshalb ist der Haftbefehl aufzuheben, „sobald" die Voraussetzungen der Untersuchungshaft nicht mehr vorliegen (§ 120 Abs. 1 Satz 1), d. h. in dem Augenblick, in dem sie entfallen sind. Um diesem Befehl des Gesetzes zu gehorchen, muß der Richter unabhängig von Anträgen jederzeit prüfen, ob die Voraussetzungen des Haftbefehls noch bestehen oder ob der Haftbefehl aufzuheben oder wenigstens sein Vollzug nach § 116 auszusetzen ist. Die gleiche Pflicht trifft den Staatsanwalt (Nr. 46 Abs. 1 RiStBV), gleichviel ob das Ermittlungsverfahren noch läuft oder ob öffentliche Klage erhoben ist. Zu diesem Zweck wird der Staatsanwalt während des Ermittlungsverfahrens die Sachakten regelmäßig nicht aus der Hand geben. Muß er das ausnahmsweise tun, wird er die Haftsache anhand von Hilfsakten fortlaufend weiter bearbeiten (Nr. 46 Abs. 3 Satz 2 RiStBV) und dabei dauernd die Haftfrage prüfen. Auch wenn Anklage erhoben ist, bleibt der Staatsanwalt dafür verantwortlich, daß nach den §§ 116, 120 verfahren wird, sobald das irgend möglich ist. Er hat daher die Haftsachen weiterhin anhand der Handakten im Auge zu behalten und namentlich darauf zu achten, ob die weitere Untersuchungshaft zu der zu erwartenden Strafe noch in einem angemessenen Verhältnis steht.

§ 113 (1) Ist die Tat nur mit Freiheitsstrafe bis zu sechs Monaten oder mit Geldstrafe, allein oder nebeneinander, bedroht, so darf die Untersuchungshaft wegen Verdunkelungsgefahr nicht angeordnet werden. (2) In diesen Fällen darf die Untersuchungshaft wegen Fluchtgefahr nur angeordnet werden, wenn der Beschuldigte 1. sich dem Verfahren bereits einmal entzogen hatte oder Anstalten zur Flucht getroffen hat, 2. im Geltungsbereich dieses Gesetzes keinen festen Wohnsitz oder Aufenthalt hat oder 3. sich über seine Person nicht ausweisen kann. Entstehungsgeschichte: Die Einschränkung der Untersuchungshaft fand früher bei Taten statt, die nur mit Haft oder Geldstrafe bedroht waren. Eine Ausnahme war zunächst vorgesehen für Übertretungen, bei denen Überweisung an die Landespolizeibehörde angeordnet werden konnte. Durch Art. 2 Nr. 5 des Gesetzes vom 24. 11. 1933 wurde dafür die Anordnung der Unterbringung in einem Arbeitshaus eingesetzt. Die Ausnahme wurde durch Art. 9 Nr. 6 Buchst.b des 1. StrRG beseitigt. Ihre jetzige Fassung, die namentlich mit dem weiteren Strafrahmen die Einschränkung erweitert, hat die Vorschrift erhalten durch Art. 1 Nr. 1 StPÄG und Art. 9 Nr. 6 Buchst, a des 1. StrRG. 681

§ 113 Anm. I, 2

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

1. Bagatelldelikte. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (§ 112 Abs. 1 Satz 2, § 120 Abs. 1 Satz 1, 2. Halbsatz) ist auch in den Fällen des § 113 anzuwenden (2 Abs. 1), so daß in jedem Einzelfall zu prüfen ist, ob die Untersuchungshaft zu der zu erwartenden Sanktion in einem angemessenen Verhältnis steht. Das schränkt die Untersuchungshaft bei Bagatelldelikten erheblich ein, namentlich wenn Geldstrafe zu erwarten ist. A l l g e m e i n zieht der Gesetzgeber aus dem Grundsatz selbst die Folgerung, daß er bei Straftaten, die nur mit geringer Strafe bedroht sind, die Untersuchungshaft nur sehr eingeschränkt zuläßt: Nur bei Flucht (§112 Abs. 2 Nr. 1) bleibt die Untersuchungshaft ohne weitere einschränkende Voraussetzungen als die Verhältnismäßigkeit zulässig. Dagegen darf sie wegen Verdunkelungsgefahr ( § 1 1 2 Abs. 1 Nr. 3) überhaupt nicht angeordnet werden und wegen Fluchtgefahr (§ 112 Abs. 1 Nr. 2) nur, wenn diese besonders naheliegt. Als Strafrahmengrenze werden bezeichnet Freiheitsstrafe bis zu sechs Monaten oder Geldstrafe, allein oder nebeneinander, gleichgültig, ob neben der Hauptstrafe auch auf Nebenstrafen, z. B. auf Einziehung erkannt werden kann oder muß. Darunter fallen alle Übertretungen (§ 1 Abs. 3 StGB) und eine nicht unbedeutende Zahl von Vergehen, die freilich in der Haftpraxis keine große Rolle spielen, z. B. Parlamentsbannmeilenbruch (§ 106a Abs. 1 StGB), Hausfriedensbruch (§ 123 Abs. 1 StGB), Verletzung amtlicher Anschläge (§ 134 StGB), Siegelbruch (§ 136 StGB), Verleitung zur Abgabe einer falschen Versicherung an Eides Statt oder einer falschen uneidlichen Aussage (§ 160 Abs. 1, 2. Halbsatz StGB), Verkauf schamloser Schriften an Jugendliche (§ 184 a StGB), Bedrohung (§ 241 StGB), Beteiligung am Glücksspiel (§ 284 a StGB), unbefugtes Fischen in deutschen Küstengewässern (§ 296 a Abs. 1 StGB), Verletzung des Briefgeheimnisses (§ 299 Abs. 1 StGB), Bruch des Berufsgeheimnisses (§ 300 Abs. 1 StGB), Ausbeutung Minderjähriger (§ 301 Abs. 1 StGB), Kreditwucher (§ 302 a Abs. 1 StGB), Nachwucher (§ 302c in Vbdg. mit § 302 a StGB), Bestechlichkeit (§ 331 StGB), Mißbrauch dei Disziplinarstrafgewalt in besonders leichten Fällen ( § 3 9 Abs. 2 WStG). Die Ungehorsamshaft (§ 230 Abs. 2, § 236) wird von § 113 nicht berührt. 2. Fluchtgefahr. Während bei Delikten dieser Gruppe Untersuchungshaft wegen Verdunkelungsgefahr in keinem Fall angeordnet werden darf, ist sie wegen Fluchtgefahr nur zulässig, wenn besondere Voraussetzungen vorliegen. Sie werden in der Regel Fluchtgefahr begründen, brauchen das aber nicht immer. Sie brauchen auf der anderen Seite nicht die Tatsachen zu sein, aus denen sich die Fluchtgefahr ergibt. Daraus und weil § 113 den § 112 einschränkt, folgt, daß bei Bagatelldelikten sowohl die Voraussetzungen des § 112 als auch diejenigen des § 113 Abs. 2 festgestellt werden müssen 1 . Die besonderen Voraussetzungen sind gegeben, wenn der Beschuldigte sich dem Verfahren bereits einmal, z. B. durch Flucht oder Verbergen, entzogen hatte, oder wenn er Anstalten zur Flucht getroffen hat. Das kommt in Betracht, wenn er nach einer Straftat, namentlich aber nachdem ihm die Strafverfolgung bekannt geworden ist, Geld flüssig macht, sich Fahrkarten besorgt, einen Reisepaß erteilen läßt, und wenn kein Anlaß (Geschäftsreise, Verwandtenbesuch) zu der Reise ersichtlich ist; in der Bundesrepublik und in Berlin-West keinen festen Wohnsitz oder Aufenthalt hat. Wegen des Begriffs des Wohnsitzes s. 1 zu § 8. Da der Wohnsitz zwar regelmäßig (§ 7 Abs. 1 BGB), aber nicht stets mit dem tatsächlichen Lebensmittelpunkt übereinstimmt, verlangt die Vorschrift einen „festen" Wohnsitz, d. h. die tatsächliche Niederlassung, nicht die bloße polizeiliche Anmeldung, für eine auf eine gewisse Dauer berechnete Zeit. Damit nähert sich der Begriff dem in § 116a Abs. 3 gebrauchten des Wohnens. Der Aufenthalt braucht nicht der gewöhnliche Aufenthalt (2 zu § 8), muß aber ebenfalls ein „fester" sein, d. h. ein tatsächlicher Aufenthalt für eine gewisse Dauer, an dem der Beschuldigte wenigstens für eine bestimmt angegebene Zeit erreichbar ist (Beispiel: längerer Landaufenthalt). Wohnsitz im Ausland, in der D D R und in Ost-Berlin reicht nicht aus; sich über seine Person nicht ausweisen kann. Solchen Personen ist gleichzustellen, wer sich nicht ausweisen will; wer seinen Namen verschweigt; oder wer ihn falsch angibt (OLG Hamburg GA 72 275). Im übrigen kommt es auf den guten oder bösen Willen nicht an: Die Tatsache, daß sich jemand nicht ausweisen kann, ist entscheidend; die Gründe hierfür ' K l e i n k n e c h t MDR 1965 782; a. A. — Haftgründe des § 1 1 2 brauchen nicht vorzuliegen — D r e v e s DRiZ 1965 112.

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Neunter Abschnitt. Verhaftung und vorläufige Festnahme (Dünnebier)

§ 114 Anm. 1

spielen keine Rolle, können aber zu dringlichen ggf. telefonischen, Ermittlungen nötigen. Die Vorschrift findet keine Anwendung, wenn der Beschuldigte, der sich nicht ausweisen kann, bekannt ist (F e i s e n b e r g e r 7).

§ 114 (1) Die Untersuchungshaft wird durch schriftlichen Haftbefehl des Richters angeordnet. (2) In dem Haftbefehl sind anzuführen 1. der Beschuldigte, 2. die Tat, deren er dringend verdächtig ist, Zeit und Ort ihrer Begehung, die gesetzlichen Merkmale der strafbaren Handlung und die anzuwendenden Strafvorschriften, 3. der Haftgrund sowie 4. die Tatsachen, aus denen sich der dringende Tatverdacht und der Haftgrund ergibt, soweit nicht dadurch die Staatssicherheit gefährdet wird. (3) Wenn die Anwendung des § 112 Abs. 1 Satz 2 naheliegt oder der Beschuldigte sich auf diese Vorschrift beruft, sind die Gründe dafür anzugeben, daß sie nicht angewandt wurde. Entstehungsgeschichte: § 114 Abs. 1 und 2 lautete früher: „Die Verhaftung erfolgt auf Grund eines schriftlichen Haftbefehls des Richters. In dem Haftbefehl ist der Angeschuldigte genau zu bezeichnen und die ihm zur Last gelegte Handlung sowie der Grund der Verhaftung anzugeben." Die gegenwärtige Fassung beruht auf Art. 1 Nr. 1 StPÄG. Neu sind Absatz 2 Nr. 3 und Absatz 3. Der frühere Absatz 3 (Bekanntmachung des Haftbefehls) hat jetzt als § 114a eine selbständige Stellung erhalten. Schrifttum: C r e i f e l d s , Die Begründung des Haftbefehls nach dem Strafprozeß-Änderungsgesetz, NJW 1965 946; D ü n n e b i e r , Beschwerdeentscheidungen über Haftbefehle bezirksfremder Amtsrichter, MDR 1968 185. 1. Haftbefehl. Die §§112 und 113 enthalten die sachlichen Voraussetzungen des Haftbefehls, § 114 Abs. 2 und 3 trifft — abschließend — Bestimmungen über seinen Inhalt. Absatz 1 behält die Anordnung der Untersuchungshaft in Ausführung von Art. 104 Abs. 1 Satz 2 G G dem Richter vor. Die Vorschrift wird ergänzt durch § 125; dort wird bestimmt, welcher Richter in den verschiedenen Verfahrensabschnitten zuständig ist, den Haftbefehl zu erlassen. Die alleinige Zuständigkeit des Richters, die Untersuchungshaft anzuordnen, erleidet keine Ausnahme. Zwar ist in § 127 Abs. 1 und 2 für genau abgegrenzte Fälle die Verhaftung ohne Haftbefehl zugelassen; die Anordnung der Untersuchungshaft, d. i. die Entscheidung über die Zulässigkeit einer Freiheitsentziehung i. S. des Art. 104 Abs. 2 Satz 1 und 2 G G ist aber auch dort dem Richter vorbehalten (§ 128 Abs. 2 Satz 1). Haftbefehl ist nach der Definition des Absatzes 1 die gerichtliche Entscheidung, daß gegen den Beschuldigten die Untersuchungshaft angeordnet wird. Diese Anordnung („Gegen den Beschuldigten wird die Untersuchungshaft angeordnet"; „der Beschuldigte ist zur Untersuchungshaft zu bringen") ist notwendiger Inhalt des Haftbefehls. Fehlt ein die Untersuchungshaft anordnender Satz, dann liegt kein Haftbefehl vor; die Bezeichnung als Haftbefehl ersetzt die ausdrückliche Anordnung nicht. Der Mangel kann jederzeit, auch vom Beschwerdegericht, geheilt werden, kann aber die Festnahme rechtswidrig machen, wenn nicht bei ihr die Voraussetzungen dafür vorliegen, den Beschuldigten auch ohne Haftbefehl festzunehmen (§ 127 Abs. 2). Die Untersuchungshaft kann nur schriftlich angeordnet werden, doch ist der Schriftform genügt, wenn der Haftbefehl in ein Protokoll aufgenommen ist 1 . Die Angaben des Absatzes2, und ggf. des Absatzes 3, müssen dann ebenfalls im Protokoll enthalten sein; die Personalangaben (3) können dem Protokolleingang entnommen werden 2 , die Unterschrift kann der Richter bei Abschluß des Protokolls anfügen. Ein solches Verfahren ist ' E b S c h m i d t , Nachtr. 4 ; M ü l l e r - S a x 1; Kl 1. A. A. — auch die Personalangaben müssen wiederholt werden — M ü l l e r - S a x 1.

2

683

§114 Anm. 2, 3

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

aber schon deshalb nicht zu empfehlen, weil der Beschuldigte bei seiner Verhaftung eine Abschrift des Haftbefehls zu erhalten hat; sie ist leichter nach dem amtlichen Vordruck als aus dem Protokoll anzufertigen. Es wird daher grundsätzlich ein Haftbefehl nach dem amtlichen Vordruck auszustellen, zu unterschreiben und dem Protokoll als Anlage beizufügen sein. Auf den Haftbefehl nach § 61 Abs. I JGG ist § 114 sinngemäß anzuwenden. Da der Jugendliche schon verurteilt ist, können die Tat, deren er dringend verdächtig ist, und die Tatsachen, die den Verdacht rechtfertigen, nicht eingesetzt werden. Dafür ist das Urteil unter Angabe der Strafe aufzuführen; die Straftat braucht nur kurz (wegen Diebstahls) bezeichnet zu werden. Als Haftgrund ist die Notwendigkeit anzugeben, den Widerruf der Aussetzung zu prüfen. 2. Prozeßvoraussetzungen. Ein Haftbefehl darf nicht erlassen werden, wenn Prozeßhindernisse (z. B. Verjährung) der Bestrafung entgegenstehen oder Prozeßvoraussetzungen fehlen 3 , auch wenn die Hindernisse beseitigt oder die Voraussetzungen noch geschaffen werden können 4 . Daher darf, soweit die Strafverfolgung von der Genehmigung des Parlaments abhängt (Art. 46 Abs. 2 GG), ein Haftbefehl erst ergehen, nachdem die Verhaftung genehmigt worden ist, es sei denn, daß der Abgeordnete bei Begehung der Tat oder im Laufe des folgenden Tags festgenommen worden ist. Im letzteren Fall bedarf weder die Strafverfolgung im allgemeinen noch die Verhaftung im besonderen der parlamentarischen Genehmigung. Soweit der Abgeordnete nicht verfolgbar ist (Art. 46 Abs. 1 GG), darf gegen ihn auch kein Haftbefehl ergehen. Ausnahmsweise wird die Anordnung der Untersuchungshaft nicht ausgeschlossen (vgl. §127 Abs. 3; § 130 Satz 1) durch das noch behebbare Fehlen eines Strafantrags (§ 61 StGB), der noch gestellt werden kann, einer Ermächtigung (§ 90 Abs. 4, § 90 b Abs. 2, § 97 Abs. 3, § 104a, § 197 Satz 2, § 353a Abs. 2, § 353b Abs. 4, § 353c Abs. 4 StGB), eines Strafverlangens (§ 104 a StGB) oder eines Behördenantrags (z. B. § 122 b Abs. 3 StGB). Da indessen die Klage nicht erhoben werden kann, solange kein Strafantrag gestellt oder keine Ermächtigung usw. erteilt ist, kommt dem Erlaß eines Haftbefehls ohne Strafantrag usw. nur für das staatsanwaltschaftliche Ermittlungsverfahren Bedeutung zu. Die Vorschriften des § 127 Abs. 3, § 130 Satz 1 sind Ausnahmevorschriften. Ihnen kann kein allgemeiner Gedanke entnommen werden, daß dringende Prozeßhandlungen nicht anstehen dürfen, bis Prozeßvoraussetzungen, die noch geschaffen werden können, erfüllt worden sind, so daß etwa ein Abgeordneter schon vor der Genehmigung des Parlaments verhaftet werden dürfte. Es ist auch unmöglich, aus ihnen zu folgern, daß die Prozeßvoraussetzungen vor dringenden Zwangsmaßnahmen nicht geprüft zu werden brauchten ( S t r a t e n w e r t h JZ 1957 302). Denn der Grundsatz, daß Prozeßhandlungen untersagt sind, wenn ihnen Prozeßhindernisse entgegenstehen oder Prozeßvoraussetzungen für sie fehlen, ist so bedeutsam, daß er nur durch ausdrückliche Gesetzesvorschriften beeinträchtigt werden kann. Ein Prozeßhindernis ist auch das Fehlen deutscher Gerichtsbarkeit. Daher ist kein Haftbefehl zulässig gegen Exterritoriale, d. s. die Missionschefs (Botschafter, Legaten und Nuntien, Gesandte, außerordentliche Gesandte und Geschäftsträger), ihre Familien und ihr nichtdeutsches Personal 5 . Der Haftbefehl ist auch dann nicht zulässig, wenn die Möglichkeit besteht, durch Vereinbarung den Ausschluß der deutschen Gerichtsbarkeit zu beseitigen; vielmehr muß gewartet werden, bis die deutsche Gerichtsbarkeit durch eine solche Vereinbarung begründet worden ist (OLG Karlsruhe JZ 1967 418). 3. Personalangaben (Absatz 2 Nr. 1). In der alten Fassung des § 114 Abs. 2 war angeordnet, daß der Beschuldigte im Haftbefehl „genau" zu bezeichnen sei. Obwohl dieses 3 4

5

L o b e - A l s b e r g 12; B e l i n g § 102 II 2 b. A. A. — Haftbefehl zulässig, wenn die fehlende Prozeßvoraussetzung beschafft werden kann und zu erwarten ist, daß das bald geschieht — P e t e r s § 47 A II 4; — Erlaß eines Haftbefehls setzt nicht voraus, daß alle Prozeßvoraussetzungen vorliegen — E b S c h m i d t , Nachtr. 30. §§ 18, 19 GVG; D a h m , Völkerrecht I 315, 325, 341. Konsularbeamte unterliegen keiner Untersuchungshaft, es sei denn wegen einer schweren strafbaren Handlung (Art. 41 Abs. 1 des Wiener Abkommens; vgl. Gesetz zu dem Wiener Übereinkommen vom 24.4. 1963 über konsularische Beziehungen vom 26. 8. 1969 - BGBl. II 1585 - ) .

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Neunter Abschnitt. Verhaftung und vorläufige Festnahme (Dünnebier)

§ 114 Anm. 4, 5

Wort jetzt fehlt, ist der Anordnung, daß der Beschuldigte „anzuführen" ist, keine Abschwächung zu entnehmen. Denn der Haftbefehl, der oft weit entfernt vom Orte des Erlasses vollstreckt wird, muß den Beschuldigten eindeutig angeben. Die Bezeichnung muß so genau sein, daß die Identität derjenigen Person, über die der Richter die Untersuchungshaft verhängt hat, mit derjenigen, gegen die der Haftbefehl vollstreckt werden soll, außer Zweifel steht. Dazu sind Vor- und Familiennamen, Geburtstag und -ort erforderlich, soweit die Geburtsdaten nicht ausnahmsweise unbekannt sind. Auch die Wohnung zur Zeit der Verhaftung ist, wenn irgend möglich, beizufügen. Eine Personalbeschreibung (§ 131 Abs. 3 Satz 1) ist in der Regel entbehrlich, aber erforderlich, wenn der Beschuldigte nur mit Spitz- oder Decknamen bezeichnet werden kann. Bei Ausländern sollte die Staatsangehörigkeit angegeben werden. Soll auf Gund des Haftbefehls beantragt werden, den Beschuldigten aus dem Ausland nach Deutschland einzuliefern, dann muß der Beschuldigte im Haftbefehl genau beschrieben werden (Nr. 117 Buchst, a RiVASt.). 4. Straftat (Absatz 2 Nr. 2). Der strafrechtliche Vorwurf, der die Untersuchungshaft rechtfertigen soll, ist in ähnlicher Weise wie in der Anklageschrift (§ 200 Abs. 1 Satz 1) zu bezeichnen (OLG H a m m HESt. 3 21). Es sind also anzugeben die Tat, deren der Beschuldigte dringend verdächtig ist. Dazu ist der historische Vorgang so genau anzugeben, daß der Beschuldigte den Vorwurf und seine Begrenzung genau erkennen kann; der Ort der Tat und die Zeit, zu der sie begangen sein soll, zumindest nach dem Jahre (nicht: in nicht rechts verjährter Zeit) und wenn die Tat der Zeit nach verjährt ist, die Handlungen, die die Verjährung unterbrochen haben; die strafbare Handlung, welche die Tat darstellt, nach ihren gesetzlichen Merkmalen, und die anzuwendenden Strafvorschriften. Die Tatbeschreibung und die Angabe der gesetzlichen Merkmale können ineinander verflochten werden. Dabei können die Handlungsangaben die Tatmerkmale in einfachen Fällen ersetzen („eine Geldkassette, Eigentum des Gastwirts Müller, diesem in der Absicht weggenommen zu haben, sie sich rechtswidrig zuzueignen"). Die Untersuchungshaft braucht nicht wegen sämtlicher Taten angeordnet zu werden, wegen deren die Untersuchung geführt wird; oft ist es zweckmäßig, sie auf „sichere Fälle" zu beschränken. Ideell konkurrierende Strafvorschriften können wegbleiben 6 . Denn der Haftbefehl dient nicht dazu, den Beschuldigten über den Verfahrensgegenstand zu unterrichten, sondern allein die Grundlage der Haft anzugeben. Soll eine Einlieferung aus dem Auslande nach Deutschland beantragt werden, dann bedarf die Tatdarstellung besonderer Angaben, die den ausländischen Behörden die Prüfung ermöglichen, ob die Tat auch dort mit Strafe bedroht und verfolgbar ist (Nr. 117 Buchst, b RiVASt.). 5. Haftgründe (Absatz 2 Nr. 3). Nach Absatz 2 Nr. 3 ist im Haftbefehl der Haftgrund aufzuführen. Haftgründe sind nach § 112 Abs. 2 und 3 Flucht, Fluchtgefahr, Verdunkelungsgefahr und Wiederholungsgefahr bei Sittlichkeitsverbrechern. Nach § 1 1 2 Abs. 4 ist Untersuchungshaft bei bestimmten Verbrechen wider das Leben zulässig, doch spricht das Gesetz dabei nicht von einem Haftgrund. Demzufolge ist im Haftbefehl anzugeben, ob der Beschuldigte wegen Flucht ( § 1 1 2 Abs. 2 Nr. 1), wegen Fluchtgefahr ( § 1 1 2 Abs. 2 Nr. 2), wegen Verdunkelungsgefahr ( § 1 1 2 Abs. 2 Nr. 3) oder wegen Wiederholungsgefahr eines Sittlichkeitsverbrechens ( § 1 1 2 Abs. 3) oder aus mehreren Gründen in Untersuchungshaft genommen wird. Wird der Haftbefehl auf § 112 Abs. 4 gestützt — sofern die Vorschrift für anwendbar gehalten wird (16 zu § 112)—, sollte das zum Ausdruck kommen ( „ . . . wird die Untersuchungshaft nach § 112 Abs. 4 StPO angeordnet"), doch ist es, da sich aus dem Haftbefehl ergibt, daß der Beschuldigte eines Verbrechens nach den §§ 211, 212 oder 220a Abs. 1 Nr. 1 StGB dringend verdächtig ist (§ 114 Abs. 1 Nr. 2), unschädlich, wenn die Worte „nach § 112 Abs. 4 StPO" wegbleiben. — Bei Haftbefehlen nach § 230 Abs. 2, § 236 ist anzugeben, aus welchem 6

A. A. C r e i f e l d s 947, gegen dessen Ansicht schon § 1 5 4 a A b s . 1 spricht.

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§ 114 Anm. 6—8

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

Grunde (unentschuldigtes Ausbleiben, ggf. trotz der Aufforderung, persönlich zu erscheinen) die Verhaftung angeordnet wird. Liegen mehrere Haftgründe vor, braucht der Haftbefehl nicht auf alle gestützt zu werden. Oft empfiehlt es sich, allein den Haftgrund anzugeben, der keinem Angriff ausgesetzt ist. 6. Begründung (Absatz 2 Nr. 4). Während der bisherige Text eine Einschränkung des in § 34 verordneten Begründungszwanges enthielt, geht jetzt Absatz 1 Nr. 4 als Spezialvorschrift eher über § 34 hinaus. Die Bestimmung fordert ausdrücklich als Begründung die Angabe der Tatsachen, aus denen sich der dringende Tatverdacht und der Haftgrund ergeben. Die schriftliche Begründung dient einmal der Selbstkontrolle des Richters, zum anderen der Nachprüfung durch den Beschuldigten und seinen Verteidiger sowie durch das Beschwerdegericht (OLG Frankfurt NJW 1965 1342). Bei der Raschheit, mit der in Haftsachen oft gearbeitet werden muß, kann die Tatsachenangabe allerdings nur in knapper Form gefordert werden, doch sind alle (wesentlichen) Tatsachen aufzuführen ( C r e i f e l d s 947). Auch werden die Beweismittel („nach der Angabe seines Arbeitgebers"; „aufgrund seines Briefes v o m . . . an seinen Tatgenossen . . . " ) stets kurz anzugeben sein, damit der Beschuldigte in die Lage versetzt wird, sie zu entkräften, den Haftbefehl sachgemäß im Haftprüfungsverfahren oder mit der Beschwerde anzugreifen, Material zu seiner Verteidigung herbeizubringen, oder das Verfahren durch ein Geständnis abzukürzen. Größere Ausführlichkeit, wenn auch bei Knappheit im Ausdruck, wird den Haftgründen zu widmen sein, damit jede Routine vermieden wird. Begründung ist auch erforderlich, wenn der Haftbefehl — falls das für möglich erachtet wird (16 zu § 112) — auf § 112 Abs. 4 (Verbrechen wider das Leben) gestützt wird. Dann sind die Umstände anzugeben, die im Beschluß des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE 19 3 5 0 = NJW 1966 244) aufgeführt sind 7 . Die Tatsachen sind nicht anzuführen, wenn „dadurch" die Staatssicherheit gefährdet würde. Die Gefährdung kann nur auf die schriftliche Niederlegung bezogen werden. Die Tatsachen, die den dringenden Tatverdacht und den Haftgrund rechtfertigen, dürfen dem Beschuldigten nicht vorenthalten werden. Sie sind ihm, wenn er nach dem Ergreifen gehört wird (§115 Abs. 3) mündlich zu eröffnen und darüber hinaus dem Verteidiger unter Geheimschutz entweder mündlich oder durch Akteneinsicht bekannt zu machen. 7. Begründung der Verhältnismäßigkeit (Absatz 3). Nach § 112 Abs. 1 Satz 2 darf die Untersuchungshaft nicht angeordnet werden, wenn sie zu der Bedeutung der Sache und zu der zu erwartenden Strafe oder Maßregel der Sicherung und Besserung außer Verhältnis steht. Absatz 3 verlangt, daß der Haftbefehl sich darüber verhält, warum diese Vorschrift nicht angewendet worden ist, in zwei Fällen: einmal wenn ihre Anwendung naheliegt, zum anderen, wenn der Beschuldigte sich auf diese Vorschrift beruft. Der letzte Fall wird selten eintreten, weil Haftbefehle in der Regel ohne Gehör des Beschuldigten ergehen und dieser daher vor der Anordnung kaum die Unverhältnismäßigkeit geltend machen kann. Tut er es nach der Verhaftung, besteht keine Verpflichtung, den Haftbefehl zu ergänzen; das Gericht lehnt, wenn es den Haftbefehl nicht aufhebt, die Anwendung von § 112 Abs. 1 Satz 2 vielmehr in dem Beschluß ab, mit dem es einen auf diese Vorschrift gestützten Haftentlassungsantrag verwirft. Die Regel des ersten Falls (wenn die Anwendung des § 112 Abs. 1 Satz 2 naheliegt) ist keine glückliche Vorschrift; sie wird in der Praxis nur geringe Bedeutung erlangen. Die Verhältnismäßigkeit zu prüfen, ist die notwendige Gedankenarbeit jedes Haftrichters. Ihre Erörterung wird im Beschwerdeverfahren eine große Rolle spielen; der Haftrichter dagegen, der einen Haftbefehl erläßt, wird kaum einräumen, daß es nahelag, von der Verhaftung abzusehen, und er wird schwer erklären können, warum die Nähe der Anwendbarkeit der Klausel eben doch noch nicht die Anwendungsnotwendigkeit selbst war. Die Begründung nach Absatz 3 wird z. B. dann zu geben sein, wenn eine Geldstrafe oder eine auszusetzende Freiheitsstrafe zu erwarten ist, der Beschuldigte aber gleichwohl verhaftet werden muß, etwa weil er geflohen war und nicht darauf verzichtet werden kann, das Verfahren durchzuführen. 8. Grundlage der Entscheidung sind die Akten und im Falle des § 128 die Angaben, die der Beschuldigte etwa gemacht hat. Ist der Verdacht nicht dringend, darf auch dann 7

A. A. K l e i n k n e c h t M D R 1965 784.

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§114 Anm. 9— 11

kein Haftbefehl ergehen, wenn die Tat nicht abschließend (etwa als Rückfallstal) beurteilt werden kann 8 , z. B. weil ein Strafregisterauszug fehlt. Es ist Sache der Polizei und der Staatsanwaltschaft, vor der Vorführung — ggf. fernschriftlich — die notwendigen Unterlagen zu beschaffen ( D e n c k e r NJW 1969 305). Dagegen ist es unzulässig, bis zur genauen Klärung erst einmal einen Haftbefehl zu erlassen, auch wenn er — wozu das Gesetz keine Handhabe bietet — zeitlich beschränkt erlassen würde. Der dahingehende Vorschlag C o r d i e r s (NJW 1968 1716) würde dazu führen, daß unzulässigerweise an Vermutungen, statt an den dringenden Tatverdacht angeknüpft würde. Die Folge, daß ein Beschuldigter zu Unrecht in Untersuchungshaft kommen könnte, die C o r d i e r selbst sieht, kann nicht deshalb hingenommen werden, weil die korrekte Gesetzesanwendung dazu führt, daß Beschuldigte zunächst nicht verhaftet werden, obwohl später Haftgründe erkennbar werden. 9. Beteiligung der Staatsanwaltschaft. Wegen der Veranlassung der Entscheidung (auf Antrag der Staatsanwaltschaft oder von Amts wegen) s. 2 Abs. 1 zu § 125. Die Staatsanwaltschaft ist vor Anordnung der Untersuchungshaft zu hören, gleichviel ob die Entscheidung im Laufe einer Hauptverhandlung (§ 33 Abs. 1) oder außerhalb einer solchen (§ 33 Abs. 2) ergeht. Der Pflicht zur Anhörung ist genügt, wenn das Gericht auf einen Antrag der Staatsanwaltschaft entscheidet, gleichgültig, ob es ihm entspricht oder ob es ihn ablehnt. Bei Gefahr im Verzug (§ 165, § 125 Abs. 1; wegen des Begriffs s. 2 Abs. 2 zu § 125) braucht die Staatsanwaltschaft nicht gehört zu werden. Die Staatsanwaltschaft hat alsdann (§ 167) alsbald nach Anordnung der Untersuchungshaft zu prüfen, ob auch sie den Haftbefehl für erforderlich hält; das Ergebnis der Prüfung wird sie zu den Akten vermerken. Verneint sie die Notwendigkeit eines Haftbefehls, hat sie nach § 120 Abs. 3 Satz 1 zu verfahren. Hält sie zwar den Haftbefehl, nicht aber die Vollstreckung für notwendig, wird sie beantragen, den Vollzug des Haftbefehls auszusetzen. Es entspricht nicht der Amtspflicht der Staatsanwaltschaft, wenn sie die Entlassung unterläßt, weil der Beschuldigte, in Erwartung, daß die Untersuchungshaft angerechnet werde, selbst keinen Antrag stellt. 10. Gehör des Beschuldigten. Ergeht der Haftbefehl im Laufe einer Hauptverhandlung, so ist der Angeklagte vorher zu hören (§ 33 Abs. 1). Das Gericht wird beim Anhören einen schriftlichen Haftbefehl bereithalten, diesen nach Anhören durch stillschweigende Verständigung beschließen und während dieses Vorganges Sicherungen treffen, um den Beschuldigten alsbald festnehmen zu können. Wird die Untersuchungshaft außerhalb der Hauptverhandlung angeordnet, gilt grundsätzlich § 33 Abs. 3. Danach ist der Beschuldigte zu hören, bevor zu seinem Nachteil Tatsachen oder Beweisergebnisse verwertet werden, zu denen er noch nicht gehört worden ist. Das wird regelmäßig wenigstens in bezug auf die Tatsachen der Fall sein, die den Haftgrund rechtfertigen. Indessen würde durch das vorherige Gehör oftmals die Verhaftung unmöglich werden, es sei denn, daß ein Vorführungsbefehl zum Zwecke der Anhörung erginge. Das würde das Problem aber nicht lösen, sondern nur verschieben, weil § 33 Abs. 3, wenn er ohne Ausnahme gälte, auch auf den Vorführungsbefehl Anwendung finden müßte. Weil es meist notwendig ist, den Beschuldigten zu überraschen, ist daher — in Ubereinstimmung mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE 9 89 = NJW 1959 427) — in § 33 Abs. 4 bestimmt, daß bei Anordnung der Untersuchungshaft außerhalb der Hauptverhandlung vom vorherigen Gehör des Beschuldigten abzusehen ist, wenn es den Zweck der Anordnung, den Beschuldigten zur Haft zu bringen, gefährden würde. Das wird bei einem nicht vorläufig festgenommenen Beschuldigten regelmäßig der Fall sein. Für den Fall der vorläufigen Festnahme ist das Gehör in § 128 Abs. 1 Satz 2 ausdrücklich vorgeschrieben. Der nicht vorher gehörte Beschuldigte ist nach seiner Verhaftung zu hören (§ 115 Abs. 2 und 3). 11. Vollstreckung. Der Haftbefehl wird vollstreckt durch die Verhaftung. Verhaftung ist der Akt, durch den sich der Staat auf Grund des Haftbefehls des Beschuldigten tatsächlich bemächtigt. Sie ist nach § 36 Sache der Staatsanwaltschaft, die sich dazu ihrer Hilfsbeamten (§ 152 GVG) und der sonstigen Behörden und Beamten des Polizeidienstes (§ 161) 8

S c h m i d t - L e i c h n e r N J W 1959 842; E b S c h m i d t , Nachtr. 5.

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§114 Anm. 12,13

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bedient, ohne Rücksicht darauf, in welchem Lande der Bundesrepublik die Verhaftung vorzunehmen ist (§ 160 GVG). Wegen der Mittel der Vollstreckung vgl. § 131 (Steckbrief), §§ 102 bis 104 (Durchsuchung), § 167 GVG (Nacheile). Bei Abgeordneten bedarf die Verhaftung der Genehmigung des Bundestags, es sei denn, daß der Abgeordnete bei Begehung der Tat oder im Laufe des folgenden Tages festgenommen wird (Art. 46 Abs. 2 GG). Wird ein Abgeordneter im Bundestag verhaftet, so ist dazu die Genehmigung des Präsidenten erforderlich. Denn zum Zwecke der Verhaftung muß der Bundestag durchsucht werden (§ 103 Abs. 1), und die Durchsuchung darf nicht ohne Genehmigung des Präsidenten stattfinden (Art. 40 Abs. 2 Satz 2 GG). — Dasselbe gilt nach den Landesverfassungen für die Abgeordneten der Länder. Soll in deutschen Hoheitsgewässern, namentlich in einem deutschen Seehafen an Bord eines ausländischen Handelsschiffes oder seiner Hilfsfahrzeuge eine Verhaftung vorgenommen werden, so ist, wenn nicht Gefahr im Verzug vorliegt, die konsularische Vertretung, die zur Wahrnehmung der Interessen des Flaggenstaates zugelassen ist, vorher zu benachrichtigen (GV vom 18. 12. 1936 - RMB1. 1936 519). Zur Nachtzeit kann ohne Beschränkung verhaftet werden (RGSt. 40 67), wenn der zu Verhaftende außerhalb einer Wohnung, eines Geschäftsraumes oder eines befriedeten Besitztums betroffen wird oder diese Örtlichkeiten auf Aufforderung freiwillig verläßt. Tut er das nicht und muß eine Wohnung usw. zum Zwecke der Verhaftung betreten werden, dann liegt darin eine Durchsuchung, die nur unter den Voraussetzungen des § 104 zulässig ist (RGSt. 31 307). 12. Überhaft. Wird ein Haftbefehl erlassen, der erst nach Ablauf von Untersuchungshaft in anderer Sache oder von Strafhaft vollstreckt werden soll (Überhaft), so ist er dem Beschuldigten bekanntzumachen (§ 35), damit dieser gegen ihn mit der Beschwerde angehen kann. Die Vorschriften der §§ 114b bis 115a, 117 bis 118b finden jedoch erst Anwendung, wenn der Haftbefehl vollzogen wird (OLG Königsberg JW 1932 965; a. A. K u n t DStRZ 1920 46). Dagegen ist alsbald Beschwerde gegeben und sind die §§ 116, 116a anwendbar. Der Haftbefehl ist der Haftanstalt mitzuteilen (Nr. 7 Satz 2 UVollzO). Diese notiert Überhaft und vollzieht den Haftbefehl ohne weitere Anordnung von dem Augenblick an, in dem der zunächst vollstreckte Haftbefehl aufgehoben, sein Vollzug ausgesetzt oder eine Strafvollstreckung beendet oder unterbrochen wird. Es ist Sache der zuständigen Gerichte, für das Verfahren nach § 115 besorgt zu sein. Die Staatsanwaltschaft hat hierzu Anträge zu stellen. 13. Doppelhaft. Sitzt der Beschuldigte in einer Sache in Untersuchungshaft und ist für eine weitere Überhaft notiert, dann wird in der Regel in beiden Fällen Fluchtgefahr Haftgrund sein und, weil der Fluchtgefahr schon dadurch wirksam begegnet wird, daß ein Haftbefehl vollzogen wird, kein Anlaß bestehen, auch noch den Haftbefehl in der zweiten Sache zu vollziehen. Ausnahmsweise kann das aber geboten sein, z. B. wenn der erste Haftbefehl nach § 112 Abs. 3 und der zweite wegen Verdunkelungsgefahr ergangen ist. Dann wird es angebracht sein, die Untersuchungshaft in der ersten Sache zu unterbrechen (14) und den Haftbefehl in der zweiten Sache zu vollziehen. In sehr seltenen Fällen kann es aber unabweislich sein, die Haftbefehle in beiden Sachen zu vollziehen, z. B. wenn zwei Richter zuständig sind, und keiner darauf verzichten kann, den Verkehr des Beschuldigten mit der Außenwelt zu überwachen. Es wäre unzulässig (und zuweilen auch nicht ausreichend), an Stelle der (Mit-)Vollziehung des zweiten Haftbefehls dem Beschuldigten in der Sache, in der er bereits Untersuchungshaft erleidet, (zusätzlich) Beschränkungen aufzuerlegen, um damit 9 den Untersuchungszweck in der neuen Sache zu sichern. Diese Sicherung scheitert für den ersten Richter daran, daß er in der zweiten Sache nicht zuständig ist, und für den zweiten Richter, daß der Beschuldigte in seiner Sache nicht verhaftet ist, die Verhaftung aber Voraussetzung von Beschränkungen ist (§119 Abs. 3). Man könnte erwägen, daß der Richter, für dessen Haftbefehl Überhaft notiert ist, dem Richter, der für die vollzogene Untersuchungshaft zuständig ist, die Zuständigkeit für die 9

So EbSchmidt, Nachtr. 38.

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nach § 119 erforderlichen Maßnahmen überträgt. Dafür fehlt es indessen an einer gesetzlichen Grundlage. Das Gesetz kennt nur — und allein im Vorverfahren — die Übertragung der gesamten Zuständigkeit (§ 122 Abs. 3 Satz 3). Weil dem Gesetz die Übertragung von Teilzuständigkeiten fremd ist, wäre der Empfanger einer solchen, gleichwohl vorgenommenen Übertragung nicht der zuständige Richter. Wohl aber kann der in der Überhaftsache zuständige Richter dem die Haft vollziehenden Richter — wenn dieser zustimmt und wenn das ausreicht, den Haftzweck zu sichern — Kontrollbefugnisse in gleicher Weise übertragen wie dem Staatsanwalt (VI 2 zu § 119) oder dem Berichterstatter (VI 1 Abs. 1 zu § 119). Das macht aber den Vollzug des zweiten Haftbefehls nicht entbehrlich. Denn Entscheidungen, die zufolge der Kontrolle notwendig werden, muß der Richter, der die Kontrolle übertragen hat, selbst treffen. Das kann er nur, wenn der Beschuldigte in seiner Sache verhaftet ist (§119 Abs. 3). In einzelnen Fällen kann nach § 126 Abs. 1 Satz 3 verfahren werden. Dann geht die gesamte Zuständigkeit über; der Vollzug der mehreren Haftbefehle vereinigt sich in einer Hand, und die untersuchten Fragen erledigen sich von selbst. Wenn mehrere Haftbefehle gleichzeitig vollzogen werden, entstehen durch die doppelte Kontrolle Umständlichkeiten; auch kann die Zuständigkeit zweier Haftrichter Anlaß zu widersprechenden Anordnungen sein. Das läßt sich meist vermeiden, wenn die Richter sich verständigen; gelingt das nicht, hat die Anstalt die Beschränkung zu beachten, die am weitesten geht. Auch bei der Anrechnung der Untersuchungshaft können sich Schwierigkeiten ergeben. Deshalb sollte der Doppelvollzug, wenn es irgend geht, vermieden werden. Daß er unzulässig wäre 10 , trifft nicht zu (OLG Schleswig Rpfleger 1966 109; E l l e n d t GA 39 272). Die Ansicht P o h l m a n n s (Rpfleger 1966 109), der Satz, daß der gleichzeitige Vollzug mehrerer Freiheitsentziehungen dem deutschen Strafrecht fremd sei, gelte auch für den Vollzug mehrerer Haftbefehle, ist unschlüssig. Was für Strafen richtig ist, braucht für die Untersuchungshaft nicht zuzutreffen. O l b r i c h t ( G A 4 8 399) hält es für „unmöglich", gegen dieselbe Person mehrere Haftbefehle gleichzeitig zu vollziehen mit der Begründung: Wer schon eingesperrt sei, könne nicht noch mal eingesperrt werden; zudem „erleide" er für den zweiten Haftbefehl nicht die Untersuchungshaft. Das zweite Argument ist abwegig: daß der Beschuldigte die Untersuchungshaft „erleidet", ist zwar regelmäßig die Folge des Vollzugs, aber nicht sein Zweck oder Ziel. Das erste Argument beruht auf einer Verwechslung der Begriffe „Einsperrung" und Verwahrung. Zwar beginnt die Untersuchungshaft meist mit der Einsperrung, aber nicht notwendigerweise. Der Beschuldigte kann schon als Gefangener in anderer Sache eingesperrt worden sein, wenn die Untersuchungshaft anfangt; endet sie, wird er nicht freigelassen und aufs neue eingesperrt; vorherige Verhaftung führt nicht zur Freilassung, vielmehr wird die bestehende Verwahrung auf einer neuen Grundlage fortgesetzt. Gegen die Verwahrung derselben Person für die Untersuchung mehrerer Strafverfahren gibt es zwar praktische Bedenken, aber keine logischen Einwendungen. O l b r i e h t s Ansicht entstammt der älteren Rechtsprechung. Diese sollte nicht überbewertet werden, weil sie sich mit einer anderen Fragestellung befaßte. Sie bekämpfte mit Recht die Auffassung 11 , daß die Notierung von Überhaft („Superarrest") schon Vollzug des neuen Haftbefehls sei. Die dabei gebrauchte Begründung, sei ein Beschuldigter in einer Sache verhaftet, dann sei eine weitere Verhaftung undenkbar (RG DJ 1939 661), war für die Beantwortung der Frage, was Notierung von Überhaft bedeute, entbehrlich und daher wohl nicht bis ins Letzte geprüft. Sie ist auch falsch, weil der Vollzug des Haftbefehls sich nicht auf die Verhaftung beschränkt, ja diese in einzelnen Fällen, wie dargelegt, nicht in sich begreift. 14. Unterbrechung. Wenn solche seltenen Ausnahmefälle nicht vorliegen und die besondere Notwendigkeit besteht, einen späteren Haftbefehl alsbald zu vollstrecken, kann die Untersuchungshaft in der ersten Sache unterbrochen werden, um die später angeordnete Untersuchungshaft zu vollstrecken. Für die erste Untersuchungshaft wird dann Überhaft notiert. Ebenso kann die Untersuchungshaft unterbrochen werden, um Strafhaft zu vollstrecken 10 11

So - ohne Begründung - P e t e r s § 47 A II 5 Abs. 8; G r u n a u zu Nr. 15 Abs. 2 UVollzO. Z. B. RGRspr. 4 850; R G JW 1939 31.

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Anm. 15 (Nr. 92 Abs. 1 Satz 1 UVollzO). Davon sollte Gebrauch gemacht werden, wenn die Strafe in einer festen Anstalt zu vollstrecken ist und die Untersuchungshaft nicht wegen Verdunkelungsgefahr verhängt ist. Jedoch darf die Anstalt keine Aufgaben ausüben, die Sache des Haftrichters sind und darf der Strafvollzug nicht wegen einer schwebenden Untersuchung modifiziert werden, ein gebotener gelockerter Vollzug also nicht zu dem Zwecke unterbleiben, daß die Strafhaft die Zwecke der Untersuchungshaft mit übernimmt 12 . Die Unterbrechung hat der Richter zu bewilligen, der für die Entscheidungen zuständig ist, die sich auf die zu unterbrechende Untersuchungshaft beziehen. Mit der Unterbrechung der Untersuchungshaft enden die Befugnisse des Haftrichters, Maßnahmen nach § 119 Abs. 6 anzuordnen. Daher kann er solche auch nicht auf andere Stellen, gar die Strafanstalt, übertragen 13 . Er darf auch, entgegen Nr. 92 Abs. 3 UVollzO, seine Zustimmung zur Unterbrechung nicht davon abhängig machen, daß ihm der Briefverkehr zur Mitprüfung vorgelegt oder vor der Zulassung von Besuchen seine Zustimmung eingeholt wird. Wenn es auch grundsätzlich zu vermeiden sein wird, die Strafhaft zu unterbrechen, um Untersuchungshaft zu vollstrecken, so ist die Unterbrechung doch rechtlich möglich und in seltenen Fällen nicht zu umgehen, etwa wenn sich der Verurteilte im gelockerten Vollzug in einer halboffenen Anstalt befindet oder wenn bei Verdunkelungsgefahr die Überwachung im Strafvollzug nicht gewährleistet ist (Nr. 93 Abs. 1 UVollzO; O L G Düsseldorf JMB1NRW 1957 108). Zuständig, die Strafvollstreckung zu unterbrechen, ist die Staatsanwaltschaft, welche die Strafe vollstreckt. 15. Beschwerdeberechtigte. a) Beschuldigter. Dem Beschuldigten steht gegen den Haftbefehl und gegen ihn ändernde Beschlüsse, soweit diese Entscheidungen nicht von einem Strafsenat als Rechtsmittelgericht erlassen sind (§ 304 Abs. 4), das Recht der Beschwerde zu (§ 304 Abs. 1), auch wenn der Haftbefehl vom erkennenden Gericht erlassen worden ist (§ 305 Satz 2). Die Beschwerde ist auch dann statthaft, wenn der Haftbefehl nicht alsbald vollstreckt, sondern Überhaft notiert wird. Gegen die Unterbrechung der Untersuchungshaft und der Strafhaft (14) hat der Beschuldigte kein Rechtsmittel, weil er im Rechtssinne nicht beschwert ist, wenn eine Untersuchungshaft oder eine Strafe nicht vollstreckt wird, mag ihm auch im letzteren Falle die Strafunterbrechung unerwünscht sein. Wegen des Verteidigers und des gesetzlichen Vertreters s. §§ 297,298; wegen des Antrags auf Haftprüfung, der die Beschwerde unzulässig macht, 4 zu § 117. Beschwerdeentscheidungen des Landgerichts und des erstinstanzlich entscheidenden Oberlandesgerichts können mit der weiteren Beschwerde angefochten werden ( § 3 1 0 Abs. I) 14 . Für den Haftbefehl des § 61 J G G wird zuweilen die Zulässigkeit der weiteren Beschwerde geleugnet 15 mit der Begründung, daß jener Haftbefehl eine dem Jugendrecht entsprechende Ergänzung des § 457 sei. Das trifft nicht zu. Der Haftbefehl des § 61 J G G beruht nicht wie der des § 457 auf der Verurteilung zu einer zu vollstreckenden Strafe oder auf einem Beschluß, mit dem eine Aussetzung widerrufen worden ist, soll vielmehr eine künftige Vollstreckung für den Fall sichern, daß die Strafaussetzung widerrufen werde. Daher dient er der Sicherung eines zu einem Teil (der alsbaldigen Vollstreckbarkeit des Strafausspruchs) noch nicht rechtskräftigen Verfahrens und ist deshalb Untersuchungshaft. Demzufolge ist auch bei Haftbefehlen nach § 61 Abs. 1 J G G weitere Beschwerde statthaft. b) Die Staatsanwaltschaft hat die gleichen Rechtsmittel, sowohl wenn sie zugunsten des Beschuldigten (§ 296 Abs. 2) als auch, wenn sie zu seinen Ungunsten Beschwerde ein12

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A. A . — der Gefangene ist von der Außenarbeit auszuschließen und von anderen Gefangenen getrennt zu halten - Nr. 92 Abs. 2 Satz 3 und 4 UVollzO. A. A. — die Vollzugsanstalt darf den Brief- und Besuchsverkehr zum Zwecke der Sicherung des neuen Strafverfahrens beschränken, wenn der Richter des neuen Strafverfahrens das angeordnet hat - OLG Hamburg NJW 1968 1641. Beschwerdegericht über landgerichtliche Entscheidungen in Haftsachen ist auch in Bayern das Oberlandesgericht, nicht das Bayerische Oberste Landesgericht (vgl. BayObLGSt. 1954 119 = NJW 1955 233). OLG Düsseldorf NJW 1964 69; OLG Hamburg NJW 1964 605; D a l l i n g e r - L a c k n e r , JGG 7; G r e t h l e i n 2 b Fußn. 3, beide zu § 61; Kl 2 zu § 310.

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legt. Zwar ist die weitere Beschwerde ( § 3 1 0 Abs. 1) zugunsten des Beschuldigten geschaffen worden, weil die Verhaftung empfindlich in sein Leben eingreift. D a s gesetzgeberische Motiv hat aber im Gesetzestext keinen Ausdruck gefunden. Denn § 310 Abs. 1 spricht nicht von Entscheidungen, die die Verhaftung anordnen, sondern von solchen, die die Verhaftung betreffen. D a s ist auch dann der Fall, wenn die begehrte Verhaftung abgelehnt worden ist. Demzufolge steht die weitere Beschwerde in Haftsachen auch der Staatsanwaltschaft zu ( O L G Stuttgart JR 1967 431) 1 6 . Die staatsanwaltschaftliche Beschwerde zuungunsten des Beschuldigten kommt in Betracht, wenn das Gericht es ablehnt, einen beantragten Haftbefehl überhaupt oder in dem beantragten Umfang zu erlassen. Die der Staatsanwaltschaft zustehenden Rechtsmittel hat auch der Nebenkläger (§ 401 Abs. 1), wenn dem auch, weil er sich dem Verfahren erst nach erhobener öffentlicher Klage anschließen kann (§ 395 Abs. 1 Satz 1), im wesentlichen nur für die Voruntersuchung größere praktische Bedeutung zukommt. Er kann indessen nicht zugunsten des Beschuldigten Beschwerde einlegen n , weil sich dieses Recht und die mit ihm verbundene Pflicht, von der Rechtsmittelbefugnis auch Gebrauch zu machen, aus der Stellung der Staatsanwaltschaft ableiten, die nicht nur in § 296 Abs. 2, sondern auch in § 160 Abs. 2 zum Ausdruck kommt. Diese öffentlich-rechtliche Stellung können der Privatkläger und der Nebenkläger nicht einnehmen. 16. Beschwerdeverfahren. Es gelten die allgemeinen Vorschriften. Danach kann das Beschwerdegericht Ermittlungen anordnen oder selbst vornehmen (§ 308 Abs. 2). D a s kann geboten sein, wenn zu erwarten ist, daß der Beschuldigte entlassen und der Haftbefehl aufgehoben (§ 120) oder sein Vollzug ausgesetzt (§ 116; § 72 Abs. 1 J G G ) wird. Dagegen sind keine Ermittlungen zulässig, die einen aufhebungsreifen Haftbefehl vielleicht stützen könnten. D a s Beschwerdegericht hat zu entscheiden, ob in dem Augenblick, wo ihm die Sache zur Entscheidung vorgelegt wird, der Tatverdacht dringend und ein gesetzlicher Haftgrund gegeben ist. Muß es das verneinen, dann ist es nicht berechtigt, den alsdann zu Unrecht einsitzenden Gefangenen länger festzuhalten ( O L G Bremen N J W 1951 46). Z u m Zwecke seiner Entscheidung kann das Beschwerdegericht auf Antrag des Beschuldigten oder von Amts wegen mündliche Verhandlung anordnen ( § 1 1 8 Abs. 2). Wegen der Anhörung der Beteiligten gilt nach § 308 Abs. 1 Satz 2 dasselbe, wie unter 10 für die Anordnung der Untersuchungshaft ausgeführt. Hat der erste Richter einen Antrag der Staatsanwaltschaft, einen Haftbefehl zu erlassen, ohne Gehör des Beschuldigten zurückgewiesen, so braucht das von der Staatsanwaltschaft angegangene Beschwerdegericht, das der Beschwerde stattgeben will, den Beschuldigten — entgegen § 308 Abs. 1 Satz 1 — nicht zu hören, wenn durch vorgängiges Anhören das mit der Untersuchungshaft verfolgte Ziel gefährdet würde. Der Beschuldigte kann seine Einwendungen mit weiterer Beschwerde vorbringen. Ist das Beschwerdegericht ein Oberlandesgericht oder der Bundesgerichtshof, so muß es den Verhafteten auf Antrag nachträglich hören (§ 311a Abs. 1 Satz 1). Die Anhörung ist auch ohne Antrag zulässig. Sie ist geboten, wenn wesentliche neue Tatsachen die Entscheidung tragen und der Beschuldigte, der aus Ungeschicklichkeit keinen Antrag stellt, erkennen läßt, daß er die verwendeten Tatsachen leugnet und sich gegen sie verteidigen möchte. Zufolge des Gehörs kann das Gericht den Vollzug des Haftbefehls aussetzen (§ 3 1 1 a Abs. 2 in Vbdg. mit § 307 Abs. 2) — was in der Regel unangebracht sein wird — und Ermittlungen anstellen (§ 3 1 1 a Abs. 2 in Vbdg. mit § 308 Abs. 2). Auf Grund der Einlassung des Beschuldigten und etwaiger Ermittlungen hat es seine Entscheidung zu prüfen und auf Antrag des Beschuldigten zu ändern oder aufzuheben (§ 311a Abs. 1 Satz 1). D a s kann es auch ohne Antrag tun (§ 311a Abs. 1 Satz 2). Die Notwendigkeit, auch ohne Antrag zu entscheiden, ergibt sich aus der Verpflichtung des jeweils mit der Sache befaßten Gerichts, alsbald den Haftbefehl aufzuheben, wenn der dringende Tatverdacht oder die Haftgründe 16

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A. A. — keine weitere Beschwerde der Staatsanwaltschaft, wenn sowohl das Amts- als auch das Landgericht die Anordnung der Untersuchungshaft abgelehnt haben — OLG Braunschweig NJW 1965 1288; wie hier K l e i n k n e c h t JR 1965 475. A. A. S a r s t e d t 4 zu § 401. Für Behörden als Nebenkläger machte die herrschende Ansicht eine Ausnahme, auf die nicht mehr eingegangen zu werden braucht, nachdem das Institut der behördlichen Nebenklage beseitigt worden ist.

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§114 Anm. 17, 18

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entfallen sind, oder eine Entscheidung nach § 116 zu treffen, wenn dessen Voraussetzungen vorliegen. Die Entscheidung des Beschwerdegerichts ist für das Gericht, dessen Entscheidung angefochten war — nicht auch für eines, an das es im Prozeßverlaufe gelangt —, bindend. Es bleibt aber befugt und verpflichtet, eine abweichende Entscheidung zu treffen, wenn die Veränderung der Sachlage eine solche gebietet. 17. Zuständigkeit. Zur Entscheidung über die Beschwerde ist das Gericht zuständig, das als nächsthöheres im Instanzenzug demjenigen Gericht übergeordnet ist, dessen Entscheidung angefochten wird. Tritt ein Wechsel in der Zuständigkeit ein, nachdem die dann später angefochtene Entscheidung erlassen war — sei es weil die Sache einem anderen Amtsrichter übertragen wird (§ 126 Abs. 1 Satz 2), sei es weil sie im Prozeßgange an ein anderes Gericht gelangt —, dann sind die Entscheidungen des Gerichts, das die Zuständigkeit verloren hat, wie solche des Gerichts zu behandeln, auf das die Zuständigkeit übergegangen ist (2 Abs. 7 zu § 126). Demzufolge entscheidet das Beschwerdegericht, das dem Gericht übergeordnet ist, welches die Zuständigkeit erlangt hat (BGHSt. 14 180; OLG München NJW 1956 760), und zwar auch dann, wenn die Beschwerde beim alten Landgericht eingelegt war, bevor der erste Richter die Sache abgegeben hatte (OLG Hamburg NJW 1966 606; D ü n n e b i e r MDR 1968 185)18. Mit der Rechtskraft des Urteils verwandelt sich die Untersuchungshaft in Strafhaft (4 zu § 112). Unerledigte Beschwerden werden damit gegenstandslos. Das kann das Beschwerdegericht feststellen. Wegen der Aufhebung des Haftbefehls nach Rechtskraft s. II 10 zu § 120. 18. Änderung. Der Haftbefehl kann jederzeit in der Weise geändert werden, daß er für die Zukunft auf anderen Haftvoraussetzungen beruht, d. h. daß sich der dringende Tatverdacht zusätzlich oder allein auf eine andere als die bisher angenommene Tat erstreckt oder daß neben oder an Stelle von Fluchtgefahr nunmehr Verdunkelungsgefahr oder ein anderer Haftgrund eingesetzt wird und umgekehrt. War der Haftbefehl z. B. aus Gründen der Vereinfachung nur auf Landstreicherei gestützt, so kann er, wenn der Tatverdacht deshalb nicht mehr dringend ist, nunmehr auf einen weiterhin begangenen Betrug umgestellt werden. War er wegen Verdunkelungsgefahr ergangen und ist diese weggefallen, so kann er auf eine gleichfalls bestehende Fluchtgefahr gestützt werden. Ein nach § 230 Abs. 2 erlassener Haftbefehl kann in einen nach § 112 umgestellt werden (OLG Celle NdsRpfl. 1964 238). In allen diesen Fällen muß der Haftrichter einen den Haftbefehl ergänzenden Beschluß erlassen; das Beschwerdegericht kann die Änderung in den Gründen seiner Beschwerdeentscheidung vornehmen. Der Text des Haftbefehls braucht nicht geändert zu werden, doch empfiehlt es sich, das in jedem Falle zu tun. Eine jede solche Änderung ist wie ein neuer Haftbefehl zu behandeln, d. h. sie löst alle in den §§ 114a ff. geregelten Folgen und Verpflichtungen aus, wie es ein neuer Haftbefehl nach Aufhebung des alten tun würde (OLG Hamm NJW 1960 587) und eröffnet — als selbständige Entscheidung — die Beschwerde, auch wenn sie nur dagegen eingelegt wird, daß dem einen Haftgrund ein weiterer angefügt wird (OLG Nürnberg MDR 1964 943). Wegen der Berechnung der Sechsmonatsfrist in § 121 Abs. 1 s. 2 zu § 121. Bevor der Haftbefehl geändert wird, ist der Beschuldigte zu hören, wenn zu seinem Nachteil Tatsachen oder Beweisergebnisse verwertet werden sollen, zu denen er noch nicht gehört worden ist (§ 33 Abs. 3). Die Vorschrift des § 33 Abs. 4, nach der bei Anordnung der Untersuchungshaft unter Umständen vom Gehör des Beschuldigten abgesehen werden kann, findet keine Anwendung. Denn der Beschuldigte ist in Haft; wird er vorher gehört, kann das den Zweck nicht gefährden, der mit der Umstellung des Haftbefehls verfolgt wird. Im Beschwerdeverfahren gilt das gleiche nach § 308 Abs. 1 Satz 1. Die Bestimmung des § 33 Abs. 2 (Gehör der Staatsanwaltschaft) gilt nach § 309 Abs. 1 nicht uneingeschränkt, obwohl die meisten Beschwerdegerichte sie regelmäßig anwenden. Auch wo das nicht geschieht, sollte vor 18

A. A. — Zuständigkeit des alten Landgerichts bleibt solange bestehen, bis der Richter, der zuständig geworden ist, neu entschieden hat — M ü l l e r - S a x 5 zu § 125, 3 zu § 126; — laufende Beschwerden erledigen sich, wenn das Verfahren in ein neues Stadium übergeht — OLG Oldenburg NJW 1957 233.

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Neunter Abschnitt. Verhaftung und vorläufige Festnahme (Dünnebier)

§ 114 a Anm. 1—3

Umstellung von Haftbefehlen die Staatsanwaltschaft jedenfalls dann stets gehört werden, wenn sie die öffentliche Klage noch nicht erhoben hat. Denn dann liegt es in ihrer Hand, ob sie die Umstellung hinnehmen oder die Entlassung des Gefangenen verfügen und die Aufhebung des Haftbefehls beantragen will (§ 120 Abs. 3 Satz 1; III 2 zu § 120). Das Beschwerdegericht sollte es aber vermeiden, daß die Gerichte in die Lage geraten, einen ohne Zustimmung der Staatsanwaltschaft umgestellten Haftbefehl auf deren Antrag aufheben zu müssen. Die Grundsätze gelten auch, wenn ein Haftbefehl deshalb aufgehoben wird, weil der Täter zur Tatzeit geisteskrank war, und gleichzeitig ein Unterbringungsbefehl nach § 126a ergeht.

§ 114a (1) Der Haftbefehl ist dem Beschuldigten bei der Verhaftung bekanntzugeben. Ist dies nicht möglich, so ist ihm vorläufig mitzuteilen, welcher Tat er verdächtig ist. Die Bekanntgabe des Haftbefehls ist in diesem Fall unverzüglich nachzuholen. (2) Der Beschuldigte erhält eine Abschrift des Haftbefehls. Entstehungsgeschichte: Die Vorschrift ging ursprünglich dahin, daß dem Beschuldigten der Haftbefehl bei der Verhaftung, spätestens am Tage nach seiner Einlieferung ins Gefängnis bekanntzumachen sei. Durch A Nr. 2 des Gesetzes zur Abänderung der Strafprozeßordnung vom 27. 12. 1926 (RGBl. I 529) wurde bestimmt, daß der Beschuldigte darauf hinzuweisen sei, er könne, wenn der Haftbefehl durch Verkünden bekanntgemacht werde, eine Abschrift verlangen. Auch wurden die jetzigen Sätze 2 und 3 eingefügt. Die derzeitige Fassung stammt aus Art. 1 Nr. 1 StPÄG. Neu an ihr ist die Anordnung des Absatzes 2. 1. Inhalt. Grundsätzlich sind Entscheidungen dem Betroffenen bekanntzumachen, bevor sie vollstreckt werden (§ 35). Beim Haftbefehl ist das in der Regel entweder nicht möglich (z. B. wenn der Beschuldigte flüchtig ist oder sich verborgen hält) oder aber unangebracht, weil der Erfolg der Haft, z. B. Flucht oder Verdunkelung zu verhindern, vereitelt werden könnte, wenn dem Beschuldigten der Haftbefehl vor dem Zugriff bekannt würde. Deshalb befreit § 33 Abs. 4 schon von der Pflicht, den Beschuldigten, ehe der Haftbefehl erlassen wird, zu hören, wenn sonst dessen Zweck gefährdet würde. § 114a Abs. 1 Satz 1 schiebt aus dem gleichen Grunde die Pflicht, den Haftbefehl bekanntzugeben, bis zur Vollstreckung hinaus. 2. Bekanntmachung. Die Form der Bekanntmachung ist § 35 zu entnehmen. Danach ist der Haftbefehl zu verkünden, wenn er in Anwesenheit des Beschuldigten erlassen worden ist (§ 35 Abs. 1; 3 zu § 35). Ist er in seiner Abwesenheit ergangen, so genügt, da durch seine Bekanntmachung keine Frist in Lauf gesetzt wird, daß er dem Beschuldigten formlos mitgeteilt wird ( § 3 5 Abs. 2 Satz 2); ihn zuzustellen, wird in der Regel nicht geboten sein. Die formlose Mitteilung besteht darin, daß dem Beschuldigten eine Ausfertigung oder Abschrift des Haftbefehls ausgehändigt oder sein Inhalt schriftlich mitgeteilt wird. Da die Mitteilung formlos ist, kann sie auch in der Weise ausgeführt werden, daß der Haftbefehl, namentlich im Vorführungstermin (§ 115), verkündet wird (ebenso M ü l l e r - S a x 1 a), und zwar auch durch einen anderen Richter als den, der die Untersuchungshaft angeordnet hat (9 zu § 35). 3. Vorläufige Mitteilung. Dem mit der Verhaftung beauftragten Polizeibeamten wird, damit er den Haftbefehl bekanntmachen kann, eine Ausfertigung oder Abschrift des Haftbefehls mitzugeben sein. Doch werden die Umstände (Gegenwehr — RGRspr. 8 424 —, Anwesenheit Unbeteiligter) die Bekanntmachung nicht immer gestatten. Auch liegt keine Abschrift bereit, wenn der Beschuldigte auf Grund eines Steckbriefs (§ 131) oder sonst auf Grund einer Ausschreibung in Fahndungsblättern festgenommen wird. Alsdann hat ihm der Festnehmende mitzuteilen, welcher strafbaren Handlung er verdächtig ist; den Haftgrund braucht er ihm nicht zu eröffnen. Der Haftbefehl ist dann unverzüglich bekanntzugeben, sobald das möglich ist, in der Regel vom Richter, wenn der Beschuldigte ihm vorgeführt wird (§ 115). Wegen des Begriffs unverzüglich s. 4 Abs. 2 zu § 115. 693

§ 1 1 4 a Anm. 4 § 1 1 4 b Anm. 1

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4. Abschrift des Haftbefehls. Welche F o r m der Bekanntmachung auch immer gewählt wird, auf jeden Fall hat der Beschuldigte eine Abschrift des Haftbefehls zu erhalten. Die Abschrift ist, wie im Behördenverkehr selbstverständlich, zu beglaubigen. Es ist unschädlich, wenn dem Beschuldigten statt der beglaubigten Abschrift eine Ausfertigung des Haftbefehls erteilt wird. Die Abschrift erhält er als Verteidigungsunterlage von Amts wegen, doch ist dieser Akt keine Voraussetzung des weiteren Verfahrens. Demzufolge kann der Beschuldigte auf die Abschrift verzichten. Ihm einen Verzicht nahezulegen, widerspräche jedoch der Absicht des Gesetzgebers. Absatz 2 enthält keine Zeitangabe, ist aber nach dem Zweck der Vorschrift dahin zu verstehen, daß der Beschuldigte die Abschrift bei der Verhaftung erhält. Dazu ist dem mit der Verhaftung beauftragten Beamten eine Abschrift mitzugeben. Ist das ausnahmsweise nicht möglich, z. B. weil der Haftbefehl fernschriftlich übermittelt wird und daher keine beglaubigte Abschrift erstellt werden kann, ist die Aushändigung auf dem schnellsten Wege nachzuholen. Auf jeden Fall muß der Beschuldigte die Abschrift in seiner H a n d haben, bevor er vom zuständigen Richter nach § 115 vernommen wird. Vor der Vernehmung durch den nächsten Richter (§ 115 a) sollte stets versucht werden, wenigstens eine unbeglaubigte Abschrift an H a n d des Fernschreibens anzufertigen. Abschrift ist auch von Beschlüssen, sei es des Haftrichters, sei es des Beschwerdegerichts, zu erteilen, mit denen ein Haftbefehl geändert oder ergänzt wird (18 zu § 114), doch werden diese Beschlüsse ohnehin in der Regel dadurch bekanntgemacht, daß dem Beschuldigten eine Abschrift zugesandt oder zugestellt wird.

§ 114b (1) Von der Verhaftung und jeder weiteren Entscheidung über die Fortdauer der Haft wird ein Angehöriger des Verhafteten oder eine Person seines Vertrauens unverzüglich benachrichtigt. Für die Anordnung ist der Richter zuständig. (2) Außerdem ist dem Verhafteten selbst Gelegenheit zu geben, einen Angehörigen oder eine Person seines Vertrauens von der Verhaftung zu benachrichtigen, sofern der Zweck der Untersuchung dadurch nicht gefährdet wird. Entstehungsgeschichte: Durch A Nr. 2 des Gesetzes zur Abänderung der Strafprozeßordnung vom 27. 12. 1926 (RGBl. I 529) wurde als § 114a eine dem jetzigen § 114a Abs. 2 entsprechende Bestimmung eingefügt. Statt „Person seines Vertrauens" war von „anderen Personen" die Rede. Die Benachrichtigung war auf Verlangen des Verhafteten von Amts wegen zu bewirken. Absatz 1 ist durch Art. 3 Nr. 45 VereinhG eingefügt worden mit dem Ziele, § 114a an Art. 104 Abs. 4 G G anzugleichen. Absatz 1 Satz 2 ist eingefügt durch Art. 1 Nr. 1 S t P A G ; die Einfügung soll lediglich der Klarstellung (Begrdg. BTDrucks. III 2037, S. 21) einer schon bestehenden Rechtslage (BVerfGE 16 123 = N J W 1963 1821) dienen. Materialien: Anl. II zu BTDrucks. I 530, S. 15; Vhdlgen des BTRAussch. über das VereinhG, S. 56, 65. Bezeichnung bis 1950: § 114 a. Schrifttum: H ä n d e l , Grundrechte im Widerstreit — Z u m Verzicht des Inhaftierten auf Benachrichtigung von Angehörigen oder Vertrauenspersonen, Festschrift für K r e b s , S. 149; K o h l h a a s , Benachrichtigungspflicht bei Verhaftungen, N J W 1951 262; L o r e n z e n , Die Nachricht von der Verhaftung, SchlHA 1959 163; W a g n e r und D ü n n e b i e r , Die Benachrichtigung gemäß Art. 104 Abs. 4 G G , § 114 a StPO, J Z 1963 689, 693. 1. Sinn der Vorschrift. Absatz 1 führt das Gebot des Art. 104 Abs. 4 G G für den Strafprozeß durch. Durch die Benachrichtigung soll verhindert werden, daß die öffentliche Gewalt einen Staatsbürger, mag seine Verhaftung selbst auch gerechtfertigt sein, spurlos verschwinden lassen könne (v. M a n g o l d t , G G , 1. Aufl., 2 zu Art. 104). Die Vorschrift dient letztlich dem Beschuldigten: Er soll nicht hilflos und verlassen, in seiner Handlungsfähigkeit durch die Haft beschränkt, dem Verfahren ausgesetzt sein. Sie ist indessen keine Schutzvorschrift für den einzelnen Beschuldigten. Nach Zweck und Entstehungsgeschichte steht vielmehr das öffentliche Interesse im Vordergrund (5). Sinn der Vorschrift ist, sicherzustellen, daß jedermann gewiß ist, niemand kann in H a f t sein, ohne daß das ein Angehöri-

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Neunter Abschnitt. Verhaftung und vorläufige Festnahme (Dünnebier)

§ 114b Anm. 2—4

ger oder Vertrauter weiß. Für den Verhafteten selbst hat die Vorschrift einen doppelten Inhalt: Auf der einen Seite garantiert sie ihm, daß er Beistand von außen erbitten kann. Auf der anderen Seite beschränkt sie seine Befugnis, die Haft geheimzuhalten. Daher kann er nicht darauf verzichten, daß ihr genügt wird. Freilich ist das Opfer, das von ihm verlangt wird, nicht viel größer als das, was jeder Angeklagte erbringt, wenn er sich in öffentlicher Hauptverhandlung verteidigen muß. Durch die Möglichkeit, eine Vertrauensperson zu benennen, wird seinen Interessen soweit als möglich Rechnung getragen. Aber seine Interessen sind nicht ausschlaggebend. Letztlich besagt die Norm, daß es kein Geheimverfahren gibt, sobald der Beschuldigte vernommen worden ist. Sie dient, wie der Grundsatz der Öffentlichkeit (§ 169 GVG), in deren Kreis sie gehört ( L o r e n z e n 167), dem Vertrauen in die Rechtspflege. Alsdann ist sie, wenn auch mit dem Ziel, individuelle Interessen zu schützen, eine verfassungsrechtliche Schutzvorschrift zugunsten der Allgemeinheit1. Ausgestaltet ist sie als Befehl an den Richter; zugleich verleiht sie dem Gefangenen ein subjektives Recht darauf, daß sie beachtet wird (BVerfGE 16 122 = NJW 1963 1820). 2. Verhaftung ist jede in der Strafprozeßordnung geregelte Festnahme zu dem Zwecke, eine Person für das Strafverfahren festzuhalten. Außer der Untersuchungshaft (§ 114) zählen hierher die Ungehorsamshaft (§ 230 Abs. 2, § 236) — nicht aber die in den genannten Vorschriften geregelte bloße Vorführung — und die Sicherungshaft nach § 61 J G G zufolge der ausdrücklichen Anordnung in § 61 Abs. 2 JGG. Verhaftung ist auch der Haftbeginn in einer Sache, für die bisher Uberhaft notiert war, nach Beendigung der alten Haft (12 zu § 114). Die vorläufige Festnahme (§ 127) ist nur eine einstweilige Maßnahme, die alsbald ihr Ende finden oder in Untersuchungshaft übergehen muß. Sie löst die Benachrichtigungspflicht noch nicht aus 2 . Nach dem Standort bezieht sich die Vorschrift nicht auf die Strafhaft (§ 457) sowie auf die Erzwingungshaft (§ 70 Abs. 1 und 2), die Haft der Ordnungsstrafe (§ 178 GVG) und der Sitzungspolizei (§ 164; § 177 GVG). Ob bei diesen Haftarten Art. 104 Abs. 4 G G unmittelbar anzuwenden ist, ist hier nicht zu untersuchen. 3. Weitere Entscheidungen über die Fortdauer der Haft sind solche, mit denen die Fortdauer ausdrücklich beschlossen (§ 207 Abs. 4, § 268 b), der Haftbefehl aufrechterhalten ( § 1 1 5 Abs. 4, § 117, § 118 Abs. 1, § 118 a Abs. 4, § 122 Abs. 3) oder die Beschwerde (§ 304 Abs. 1; BVerfGE 16 123= NJW 1963 1820) oder weitere Beschwerde (§ 310 Abs. 1) gegen einen Haftbefehl oder gegen eine der vorgenannten Entscheidungen verworfen wird (§ 309 Abs. 1, § 310). Entscheidungen, die die Haft endgültig (§ 120) oder vorläufig (§ 116) beenden, fallen nach Wortlaut und Sinn der Vorschrift nicht unter Absatz 1 3 . Denn § 114 b soll nicht den Aufenthalt des Beschuldigten nachweisen, sondern sicherstellen, daß die Verhaftung, die Haft und ihre Fortdauer einem Angehörigen oder einer Vertrauensperson bekannt werden. Doch dürfen die Entlassung und in der Regel auch die Entlassungsanschrift dem benachrichtigten Angehörigen mitgeteilt werden, wenn er darum nachsucht. Denn das Dienstgeheimnis verbietet, da ihm durch die Nachricht von der Verhaftung die Haft bekannt ist, es nicht, ihm auch ihr Ende mitzuteilen. In seltenen Fällen kann aber der Wille des Entlassenen erkennbar sein, daß er seine Anschrift nur den Behörden anvertrauen will. 4. Angehöriger oder Vertrauter. Der Begriff Angehöriger ist, da das Gesetz keine Begriffsbestimmung gibt, durch Auslegung zu bestimmen; § 52 Abs. 2 StGB kann, weil er in einem der hier geregelten Materie fremden Zusammenhang steht, nicht angewendet werden. Nach dem Zweck der Vorschrift und wegen der Zusammenstellung mit dem Wort „Vertrauensperson" ist der Begriff im weitesten Sinne zu verstehen. Demnach sind selbst Personen, die nur in einem entfernten Grade oder auch gar nicht mit dem Betroffenen verwandt oder verschwägert sind, Angehörige im Sinne von § 114 b Abs. 1. Namentlich zählen hierzu der Ehegatte sowie Adoptiv- und Pflegeeltern. 1

D a l i i n g e r SJZ 1950 738; L o r e n z e n 167; a. A. — im Vordergrund steht das Interesse des Festgehaltenen — M a u n z - D ü r i g 43 zu Art. 104; W a g n e r 691. 2 K o h l h a a s 262; a. A. L a n g DJZ 1927 782. 3 M ü l l e r - S a x 1; K l 2; D a l c k e - F u h r m a n n 1; a. A. — Nachricht auch von der Entlassung — E b S c h m i d t , Nachtr. 6.

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§ 114 b

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Anm. 5 , 6 Personen des Vertrauens sind u. a. Freunde, Vereins- und Parteimitglieder, Berufskollegen, Seelsorger, u. U. auch berufliche Vorgesetzte, bei Ausländern der zuständige Konsul. Der Wahlverteidiger ist stets als Vertrauensperson anzusehen, der Pflichtverteidiger dann, wenn der Beschuldigte sich ihn selbst als Pflichtverteidiger gewünscht hat, oder wenn er ihn als Vertrauensperson bezeichnet (BVerfGE 16 124 = N J W 1963 1821). Bei Flüchtlingen kann u. U. auch die Benachrichtigung einer Organisation als Vertrauensperson in Betracht kommen. Die Vertrauensperson entscheidet aus eigener Entschließung, ob sie Angehörige benachrichtigt, wann und welche von ihnen. Sie hat die Wünsche des Beschuldigten zu beachten, ist aber unabhängig von ihnen und von der Auffassung des Gerichts. 5. Benachrichtigungspflicht. Nach dem Sinn der Vorschrift ist die Pflicht zur Benachrichtigung zwingend; sie unterliegt nicht d e m Verzicht des Beschuldigten 4 . Die Gegenmeinung, die Ausnahmen zugesteht, insbesondere einen Widerspruch des Beschuldigten beachtet wissen will 5 , geht von der Auffassung aus, als Gesetzeszweck stehe im Vordergrund das Interesse des Festgehaltenen. Diese Ansicht wird indessen durch den Zweck der Vorschrift, nach dem System der beiden Vorschriften über die Haftbenachrichtigung und aus der Entstehungsgeschichte des Art. 104 Abs. 4 G G widerlegt 6 . Technische Schwierigkeiten, denen zuweilen Gewicht beigemessen wird, müssen, um dem Verfassungsbefehl zu genügen, überwunden werden (7 Abs. 1). Angehörige werden täglich von der Polizei ermittelt; dem Richter ist es alsdann, wenn der Beschuldigte einmal schweigen sollte, auch möglich. Die Benachrichtigung darf namentlich nicht unterbleiben oder aufgeschoben werden, wenn durch sie der Untersuchungszweck gefährdet wird, wie ein Vergleich der Absätze 1 und 2 zweifelsfrei ergibt 7 , doch kann die Gefährdung durch die Bestimmung des Mitteilungsempfängers (7 Abs. 2) gemildert werden. 6. Ausnahmen. Art. 104 Abs. 4 G G gehört zu der wertgebundenen Ordnung des Grundgesetzes. Dieses bestimmt selbst, inwieweit wegen des mit Art. 104 Abs. 4 G G erstrebten Zwecks die Freiheit des Individuums zurückzutreten habe. Daher muß man es ablehnen, das Grundgesetz aus Erwägungen einzuschränken, die dem Grundgesetzgeber bekannt gewesen sind. Damit scheiden Rücksichten auf Ruf, Fortkommen, Familienwohl und Ähnliches aus. Dagegen war, als das Grundgesetz erlassen wurde, nicht vorauszusehen, ein Angehöriger könne in seiner Freiheit und Menschenwürde durch die Benachrichtigung gefährdet werden. Z u m Schutze dieser Rechtsgüter ist daher, wenn die Nachricht die Rechte anderer ernstlich gefährden könnte, im Einzelfall abzuwägen, ob die Benachrichtigung unterbleiben kann. Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, daß ein Beschuldigter für seine Angehörigen „spurlos verschwinden" kann, wenn man die Mitteilung unterläßt. D a der Sicherheit, daß der grundgesetzliche Auftrag verfehlt wird, immer nur die Möglichkeit einer Gefahrdung gegenübersteht, kann nur eine naheliegende schwere Gefahr für Dritte es zulassen, von der Benachrichtigung abzusehen. Eine weitere Ausnahme ist zuzugestehen, wenn zu befürchten ist, die Sicherheit des Staates werde gefährdet. D a ß eine solche Gefahrdung eintreten kann, wenn die Benachrichtigung in die H a n d eines fremden Nachrichtendienstes fallt, wird — wenn auch nur für wenige Fälle — zu bejahen sein. Freilich ist der Verlust möglicher nachrichtendienstlicher Gewinne, die einzuholen wären, wenn die Haft unbekannt bliebe, keine Staatsgefahrdung. Eine solche läge aber etwa vor, wenn mit der Festnahme eigener Agenten zu rechnen wäre, falls sie nicht zurückgerufen werden könnten, bevor die Verhaftung des Beschuldigten bekannt würde. 4

LG Frankfurt NJW 1959 61; H e n k e l § 67 A III 3, Fußn. 14; P e t e r s § 47 A V c; E b S c h m i d t , Nachtr. 5; K e r n - R o x i n § 31 C II 2 a ; Kl I B; D a l c k e F u h r m a n n 4; D a l i i n g e r SJZ 1950 738; K o h l h a a s 262; E r d s i e k NJW 1959 232; L o r e n z e n 163; S c h m i d 97; eingeschränkt - Benachrichtigung ist auch bei Widerspruch „grundsätzlich" durchzuführen — M ü l l e r - S a x 2a. ' H ä n d e l 161 und NJW 1959 544; E c k e l s NJW 1959 1908; O d e r s k y M D R 1958 832; W a g n e r 690; teilweise auch M a u n z - D ü r i g , G G 4 2 , 2 c zu Art. 104; M ü l l e r - S a x — Erwartung erheblichen Schadens für den Beschuldigten berechtigt, von der Nachricht abzusehen — 2 a. 6 D ü n n e b i e r 694. 7 N ü s e JR 1950 554; L o e s d a u M D R 1962 774.

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Neunter Abschnitt. Verhaftung und vorläufige Festnahme (Dünnebier)

§ 114 b Anm. 7, 8

Nicht jede Gefährdung der Staatssicherheit berechtigt aber, von der Benachrichtigung abzusehen. Der Verfassungsgesetzgeber hat sein Gebot unbeschränkt aufgestellt. Mit Überlegungen, die er selbst anstellen konnte, kann man es alsdann nicht einengen. Mit Sicherheit aber hat der Parlamentarische Rat, als er den Verfassungsbefehl des Art. 104 Abs. 4 G G aufstellte, auch an Personen gedacht, die aus Interessen des Staatsschutzes festgenommen werden. Nach den traurigen und schmerzlichen Erfahrungen, die in der nationalsozialistischen Zeit gemacht worden sind, wollte man zusätzliche Sicherungen schaffen. Wenn man daher aus Gründen der Staatssicherheit von einer Benachrichtigung — sei es ganz, sei es vorübergehend — absehen will, dann kann man nicht wie bei der Frage der Gefährdung davon ausgehen, daß der Tatbestand für den Gesetzgeber nicht voraussehbar war. Wer Art. 104 Abs. 4 G G in Staatsschutzsachen einschränken will, kann sich vielmehr nur darauf berufen, daß seit 1949 Möglichkeiten der Gefahrdung erwachsen sind, die sich der Verfassungsgeber nicht vorstellen konnte. Man wird das bejahen müssen und darf für diese Fälle neuer Gefahren im einzelnen Fall abwägen, ob die Benachrichtigung zurückgestellt werden oder ganz unterbleiben kann, um einer erheblichen konkreten durch die Benachrichtigung drohenden Gefahr entgegenzutreten. Bei der Abwägung muß klar erkannt werden, daß die Benachrichtigung vornehmlich im Interesse der Allgemeinheit liegt. Es steht nicht allein ein Einzelinteresse dem Allgemeininteresse gegenüber; vielmehr ist hauptsächlich zwischen zwei Grundsätzen abzuwägen, die gleicherweise dem Interesse der Allgemeinheit dienen. Dabei ist zu beachten, d a ß der Verfassungsgesetzgeber grundsätzlich die Abwägung selbst getroffen hat, indem er davon abgesehen hat, den Tatbestand einzuschränken oder mit einem — an sich naheliegenden — Gesetzesvorbehalt zu versehen. Daher bleibt nur R a u m für Fälle bedeutender Schädigungen. 7. Verfahren. Die Benachrichtigung ist ohne eine nicht durch die Sachlage begründete Verzögerung zu geben, also so bald als möglich. Der Richter hat ggf. — nicht in den Sachakten, sondern in einem besonderen Vorgang — Ermittlungen nach Angehörigen anzustellen. Er kann sie unterlassen, wenn der Beschuldigte keinen Namen benennt und auch sonst keine Anhaltspunkte gegeben sind. Das wird jedoch selten der Fall sein. Anhaltspunkte können bei Vorbestraften dem Strafregisterauszug, den Vor- und Anstaltsakten, bei Erstbestraften Vorgängen des Jugendrichters zu entnehmen sein. Die besonderen Vorgänge werden nach Erledigung zu den Sachakten gegeben. Den Empfänger der Benachrichtigung bestimmt der Richter. Er wird dem Wunsche des Beschuldigten weitgehend Rechnung tragen, ist aber nicht an ihn gebunden. Er kann dem Beschuldigten zwar keine Vertrauensperson aufzwingen, ist aber frei, ob er eine solche oder einen Angehörigen benachrichtigt, auch wenn der Beschuldigte die Nachricht gerade an einen Vertrauten wünscht 8 . Namentlich braucht er nicht etwa einem der Mittäterschaft Verdächtigen die Nachricht zukommen zu lassen 9 . Auf diese Weise hat er Gelegenheit, Verfahrensgefährdungen zu verringern. Mittel der Benachrichtigung ist zweckmäßig eine schriftliche Mitteilung, doch kann u. U. eine mündliche Benachrichtigung — etwa an den Verteidiger — geboten sein. Die Mitteilung beschränkt sich auf die Tatsache, daß der Beschuldigte verhaftet, eine Haftbeschwerde verworfen sei usw.; die Gründe dafür werden schon mit Rücksicht auf das Dienstgeheimnis nicht mitgeteilt. 8. Zuständigkeit (Satz 2). Der Richter ist zuständig, die Benachrichtigung anzuordnen, d. h. den Empfanger und das Benachrichtigungsmittel zu bestimmen. Die erste Nachricht erläßt der Richter, dem der ergriffene Beschuldigte gemäß § 115 Abs. 1 nach der Verhaftung zugeführt wird. Wird der Beschuldigte nicht vor den zuständigen, sondern vor den nächsten Richter gebracht (§ 115 a Abs. 1), dann gibt dieser die Nachricht, wenn er das alsbald tun kann. Sind dazu Ermittlungen erforderlich, kann er diese und die Benachrichtigung dem zuständigen Richter überlassen. Welcher Richter in den einzelnen Verfahrensabschnitten zuständig ist, bestimmt § 126; werden Haftbeschwerden verworfen, ist es das Beschwerdegericht (BVerfGE 16 1 2 3 = N J W 1963 1821). 8 9

A. A. K o h l h a a s 262; M ü l l e r - S a x 2 a . K e r n M D R 1950 585; M ü l l e r - S a x a a O .

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§ 114b Anm. 9, 10

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

Behält sich der Richter die Benachrichtigung nicht selbst vor, dann führt sie die Geschäftsstelle aus. Polizei und Staatsanwaltschaft haben keine Zuständigkeit, zu benachrichtigen. Der Staatsanwalt wird aber die Benachrichtigung beantragen, wenn der Richter sie unterlassen hat, damit er sie ggf. durch Beschwerde erzwingen kann. Auch die dazu ergehenden Vorgänge sollten zunächst getrennt von den Hauptakten geführt werden, damit die Akten nicht dem Verfahren entzogen werden (7 Abs. 1). 9. Zugangsbrief (Absatz 2). Die Vorschrift war sinnvoll, solange der Beschuldigte verlangen konnte, daß an seiner Stelle der Richter die Angehörigen benachrichtige. Seitdem diese Benachrichtigung durch Einfügung des Absatzes 1 zu einer selbständigen, vom Willen des Beschuldigten unabhängigen richterlichen Pflicht erhoben worden ist, hat Absatz 2 nur noch einen recht beschränkten Inhalt. Denn der Gefangene kann jederzeit schreiben. Zwar ist es in sehr engen Grenzen zulässig, den Briefverkehr zu beschränken (IV 1 zu § 119), doch ist es unzulässig, Mitteilungen abzuschneiden, mit denen der Beschuldigte seine Beziehungen zur Außenwelt sichern will. Man mag daher den Sinn der veralteten Vorschrift darin sehen, daß von Gesetzes wegen etwa zulässige Beschränkungen des Briefverkehrs auf den Zugangsbrief keine Anwendung finden, soweit § 114b Abs. 2 nicht selbst welche zuläßt, und daß der Staat Papier zu geben und das Porto zu tragen hat, wenn es dem Beschuldigten daran mangelt. Allerdings ist sie auch für die Auslegung des Absatzes 1 von Bedeutung ( D ü n n e b i e r 694). Absatz 2 will dem Verhafteten die Möglichkeit geben, seine Angehörigen oder Vertrauten zu beruhigen, sie um Beistand zu bitten und Vorsorge für seine persönlichen Angelegenheiten (Miete, Vieh, Arbeitsplatz) zu treffen. Damit dient Absatz 2 den Interessen des Gefangenen. Wegen dieses Zwecks steht er völlig selbständig neben Absatz 1, der öffentliche Interessen sicherstellt. Aus dieser Selbständigkeit folgt: Weder kann der Richter von der Benachrichtigung nach Absatz 1 absehen, weil der Beschuldigte ihm seine eigene zur Postkontrolle und Beförderung übergibt, noch kann dem Beschuldigten seine Benachrichtigung nach Absatz 2, der sog. Zugangsbrief, mit der Begründung versagt werden, daß schon amtliche Nachricht ergangen sei. Während nach Absatz 1 eine dauernde Benachrichtigungspflicht bei allen Entscheidungen über die Fortdauer der Untersuchungshaft besteht, ist das Recht auf den Zugangsbrief einmalig und auf den Zeitpunkt der Verhaftung beschränkt. Dem Beschuldigten ist Gelegenheit zu geben, sein Recht auszuüben; dazu ist ihm Briefpapier und, wenn er mittellos ist, Porto zur Verfügung zu stellen (Nr. 29 Abs. 2 UVollzO). Auf eigene Kosten kann er sich auch des Fernsprechers oder des Telegrafen bedienen, wenn er dringende Anordnungen zu treffen hat. Der Untersuchungszweck darf der Benachrichtigung nicht entgegenstehen. Daher darf der Beschuldigte nicht an Tatgenossen schreiben. Erfordert es der Untersuchungszweck, die Verhaftung geheimzuhalten (eine Bande soll unsicher werden und auffliegen), so kann dieser Zweck nur dadurch berücksichtigt werden, daß die Auswahl der Empfanger beschränkt wird. Beseitigt werden darf das Recht des Gefangenen auf den Zugangsbrief mit dieser Begründung aber nicht. Denn Absatz 1 schließt die Geheimhaltung der Verhaftung aus und äußert insoweit seine Wirkung auch auf Absatz 2. 10. Beschwerde. Gegen die Entscheidung, daß keine Benachrichtigung gegeben werde, und gegen die Ablehnung, einen Zugangsbrief zu befördern, ist, wenn die Entscheidung nicht von einem — auch einem erstinstanzlich entscheidenden — Strafsenat ergeht (§ 304 Abs. 4), Beschwerde der Staatsanwaltschaft und des Beschuldigten statthaft. Die Beschwerde ist auch gegen Entscheidungen des erkennenden Gerichts (§ 305) gegeben, weil diese nicht der Urteilsvorbereitung dienen. Weitere Beschwerde ist unstatthaft, weil die Entscheidungen nicht die Verhaftung selbst betreffen 10 . Da Absatz 1 auf dem Grundgesetz beruht (Art. 104 Abs. 4), wird die Staatsanwaltschaft Beschwerde einzulegen haben, wenn das Gericht es unterläßt, die Benachrichtigung von Amts wegen zu geben. Dem Nebenkläger steht keine Beschwerde zu; er ist nicht beschwert. Auch übergangene Angehörige oder Vertrauenspersonen haben kein Beschwerderecht; sie sind, da der einzelne aus dem 10

§ 310; M ü l l e r - S a x Nachtr. 13.

698

6 b zu § 1 1 5 ; a. A. -

weitere Beschwerde statthaft -

EbSchmidt,

Neunter Abschnitt. Verhaftung und vorläufige Festnahme (Dünnebier)

§ 1 1 4 b Anm. 11 § 115 Anm. 1

Kreise der möglichen Nachrichtenempfanger kein Recht hat, daß gerade er benachrichtigt werde, nicht betroffen i. S. des § 304 Abs. 2. Die Beschwerde ist im Falle des Absatzes 1 nicht nur zulässig, wenn das Gericht es ausdrücklich ablehnt, Benachrichtigung zu geben, sondern auch, wenn es die vorgeschriebene Benachrichtigung unterläßt. Denn das Gericht bringt, wenn es von dem Verfassungsbefehl abweicht, eine ablehnende Verfügung deutlich zum Ausdruck. Der Staatsanwaltschaft, die in solchen Fällen in erster Linie zur Beschwerde verpflichtet ist, steht es indessen, ebenso wie dem Gefangenen, frei, eine ausdrückliche Entscheidung nachzusuchen. 11. Weitere Mitteilungen. Die Verhaftung eines Jugendlichen und Heranwachsenden ist nach Nr. 35 Abs. 2 Buchst, b MiStra. dem Erziehungsberechtigten und dem gesetzlichen Vertreter mitzuteilen. Zu den Aufgaben der diplomatischen oder konsularischen Vertretungen gehört es, den Angehörigen des von ihnen vertretenen Staates und ihren sonstigen Schutzbefohlenen Rat und Beistand zu gewähren. Einem Ausländer, der in Haft genommen wird, ist daher zu gestatten, die Vertretung seines Landes schriftlich oder telegrafisch von der Verhaftung und von seinem Aufenthaltsort zu benachrichtigen, sofern der Zweck der Untersuchung dadurch nicht gefährdet wird (Nr. 183 Abs. 1 RiVASt.). Gegenüber einzelnen Staaten besteht eine vertragliche Verpflichtung, die konsularische Vertretung von Amts wegen zu benachrichtigen. Nach Art. 36 Abs. 1 Buchst, b des Wiener Übereinkommens vom 24. April 1963 über konsularische Beziehungen (BGBl. 1969 II 1585) ist die konsularische Vertretung auf Verlangen des Verhafteten unverzüglich zu unterrichten. Da das Abkommen zwischen zahlreichen Staaten bereits in Kraft ist, wird es im Verhältnis zu diesen Staaten in der Praxis schon jetzt angewendet, obwohl es für die Bundesrepublik noch nicht in Kraft getreten ist.

§ 115 (1)Wird der Beschuldigte auf Grund des Haftbefehls ergriffen, so ist er unverzüglich dem zuständigen Richter vorzuführen. (2) Der Richter hat den Beschuldigten unverzüglich nach der Vorführung, spätestens am nächsten Tage, über den Gegenstand der Beschuldigung zu vernehmen. (3) Bei der Vernehmung ist der Beschuldigte auf die ihn belastenden Umstände und sein Recht hinzuweisen, sich zur Beschuldigung zu äußern oder nicht zur Sache auszusagen. Ihm ist Gelegenheit zu geben, die Verdachts- und Haftgründe zu entkräften und die Tatsachen geltend zu machen, die zu seinen Gunsten sprechen. (4) Wird die Haft aufrechterhalten, so ist der Beschuldigte über das Recht der Beschwerde und die anderen Rechtsbehelfe (§117 Abs. 1, 2, § 118 Abs. 1, 2) zu belehren. Entstehungsgeschichte. Durch Art. 1 Nr. 1 StPÄG ist Absatz 3 in Übereinstimmung mit § 136 Abs. 1 gebracht und Absatz 4 angefügt worden. Die Rechtsmittelbelehrung war früher in § 115 für den Zeitpunkt der Bekanntmachung des Haftbefehls vorgesehen. 1. Inhalt. Die Vorschrift beruht, wie auch die des § 115a, auf Art. 114 Abs. 2 WeimVerf. Danach war Personen, denen die Freiheit entzogen worden ist, unverzüglich Gelegenheit zu geben, Einwendungen gegen ihre Freiheitsentziehung vorzubringen. Daß sie dazu einem Richter vorzuführen waren, war nicht bestimmt, folgte aber jedenfalls für den Strafprozeß aus der Tatsache, daß dort Verhaftungen, soweit sie nicht auf einem Strafurteil beruhen, nur ein Richter anordnen kann. Ausdrücklich angeordnet wird die unverzügliche Vorführung vor einen Richter („oder einen anderen, gesetzlich zur Ausübung richterlicher Funktionen ermächtigten Beamten") in Art. 5 Abs. 3 MenschRKonv. Dagegen bezieht sich Art. 104 Abs. 3 G G nur auf vorläufig Festgenommene; ihm entspricht § 128. Doch ist jener Verfassungsvorschrift der allgemeine Gedanke zu entnehmen, daß ein Verhafteter alsbald nach seiner Verhaftung Anspruch auf richterliches Gehör hat ( E b S c h m i d t , Nachtr. 7). Dieser Anspruch kann sinnvoll nur so erfüllt werden, daß der Beschuldigte dem Richter vorgeführt wird, der dessen Strafsache kennt, und der zuständig ist, den Vollzug des Haftbefehls auszusetzen (§ 116), den Haftbefehl aufzuheben (§ 120) und die Entscheidungen

699

§ 115

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

Anm. 2—4 zu treffen, die sich auf die Untersuchungshaft beziehen (§ 126). Demzufolge ist der Verhaftete grundsätzlich dem zuständigen Richter vorzuführen und nur hilfsweise (§ 115a Abs. 1) dem nächsten Amtsrichter. 2. Haftbefehl. D a s Verfahren findet Anwendung, wenn der Beschuldigte auf G r u n d eines Haftbefehls ergriffen wird. Es ist gleichgültig, ob der Haftbefehl vor (§ 125 Abs. 1) oder nach (§ 125 Abs. 2 und 3) Erhebung der öffentlichen Klage erlassen worden ist oder vollstreckt wird, solange nur noch die Untersuchung andauert, d. h. noch kein rechtskräftiges Urteil vorliegt. Denn mit der Rechtskraft des Urteils erlischt die Möglichkeit, einen Haftbefehl sowohl zu erlassen, als auch zu vollstrecken (4 zu § 112), wenn man von dem nicht mehr der Untersuchung, sondern der Vollstreckung dienenden Haftbefehl des § 457 Abs. 1 absieht. Für diesen gelten, weil er nach beendeter Untersuchung ergeht, die §§ 115, 115a nicht ( O L G Königsberg D R i Z 1931 782). Sie beziehen sich auf die in § 114 Abs. 1, § 128 Abs. 2, § 230 Abs. 2, § 236; § 61 Abs. 1 J G G bezeichneten Haftbefehle. Die Vorführung eines ohne Haftbefehl Festgenommenen ( § 1 2 7 Abs. 1 und 2) zum Richter ist für Festnahmen vor Klageerhebung in § 128 Abs. 1 und für solche nach Klageerhebung in § 129 geregelt. Unter Ergreifung ist die Festnahme des Beschuldigten durch die öffentliche Gewalt zum Zwecke der Vollstreckung des Haftbefehls zu verstehen (11 zu § 114). 3. Vorführung. Das Wort „vorführen" k a n n 1 nicht wörtlich genommen werden. Denn der Vorführende kann nicht über die Zeit des Richters verfügen; bei größeren Gerichten hat er in der Regel gar nicht die Möglichkeit, mit dem Gefangenen selbst zum Richter zu gehen. W o er es kann, ist es oft unangebracht, das zu tun, weil der Vorführ- und Überwachungsdienst auf die dienstlichen Bedürfnisse des Richters und des Gerichtspersonals abgestimmt und keinen Eingriffen zugänglich ist. Vorführen bedeutet daher, den Festgenommenen in den Machtbereich des Richters zu bringen ( E b S c h m i d t , Nachtr. 5), ihn dem Richter so zu überantworten, daß dieser die Möglichkeit erhält, über die Person des Gefangenen zu verfugen, d. h. ihn durch das Personal des Gerichts oder der Haftanstalt körperlich vor sich bringen zu lassen. Dazu ist der Festgenommene in der Regel in die für den Richter zuständige Untersuchungshaftanstalt einzuliefern ( M ü l l e r - S a x l b ) und dem Richter die Möglichkeit zu verschaffen, von dem Beginn der Untersuchungshaft Kenntnis zu nehmen. Ob er das tut, ist für die weitere Frist des Absatzes 2 gleichgültig; der Richter hat dafür Sorge zu tragen, daß er sie innehält. Wenn die Polizei nach Dienstschluß keinen Notdienst vorfindet und die Akten mit der Nachricht, daß der Beschuldigte in die Untersuchungshaftanstalt eingeliefert sei, in den Briefkasten einwirft, ist der Beschuldigte vorgeführt. Es ist Sache des Richters, den Vorführungsdienst so zu regeln, daß er von den Vorführungsakten unverzüglich Kenntnis erhält. K a n n ein vorläufig Festgenommener nicht in den dienstlichen Machtbereich des Richters gebracht werden, etwa weil er im Anstaltslazarett oder in einer Heil- und Pflegeanstalt liegt, dann sind die Akten gleichwohl unverzüglich dem Richter vorzulegen (sog. „symbolische Vorführung"; Nr. 43 RiStBV). Zur Vorführung gehört die Übermittlung etwaiger Akten oder Vorgänge, die in der Hand des vorführenden Beamten oder der Behörde sind, der er angehört. Befindet sich a m Sitze des Gerichts eine Staatsanwaltschaft, dann werden die Akten, wenn die Zeit es zuläßt, dort vorzulegen sein, damit durch die Anhörung (§ 33) keine weitere Zeit verlorengeht. D a s ist namentlich geboten, wenn die öffentliche Klage noch nicht erhoben ist, weil sich dann die Vorgänge bei der Staatsanwaltschaft befinden, diese auch ggf. nach § 120 Abs. 3 verfahren kann. 4. Vorführungsfrist. Der ergriffene Beschuldigte ist nach Absatz 1 unverzüglich dem zuständigen Richter vorzuführen. In der früheren Fassung (§ 114b) war die Vorführung „unverzüglich, spätestens am Tage der Ergreifung" angeordnet, doch galt zugleich der mit dem jetzigen § 115a Abs. 1 übereinstimmende § 114c Abs. 1. D a n a c h war — und ist — der Beschuldigte spätestens am Tage nach der Ergreifung dem nächsten Amtsrichter vorzuführen, wenn er in dieser Frist nicht dem zuständigen Richter vorgeführt werden kann. 1

entgegen der Ansicht von M a u n z - D ü r i g 42 Nr. 1 Anm. 1 zu Art. 104.

700

Neunter Abschnitt. Verhaftung und vorläufige F e s t n a h m e (Dünnebier)

§ 115 A n m . 5, 6

Mit der neuen F a s s u n g von § 115 Abs. 1 soll das Verhältnis beider Vorschriften klarer dargestellt werden: D e r Beschuldigte ist auf jeden Fall spätestens am Tage nach der Ergreifung dem Richter vorzuführen, und zwar entweder d e m zuständigen Richter oder d e m nächsten Amtsrichter 2 . Die beiden Richter stehen dem vorführenden Beamten aber nicht zur W a h l (2 zu § 115a). Die V o r f ü h r u n g ist unverzüglich nach der F e s t n a h m e , spätestens a m T a g e n a c h ihr, zu bewirken. T a g ist jeder Kalendertag, so d a ß die V o r f ü h r u n g auch an W e r k t a g e n , an denen nicht gearbeitet wird, namentlich an Sonnabenden, u n d an Sonn- und Feiertagen d u r c h z u f ü h r e n und die Möglichkeit d a z u durch die Dienstgestaltung sicherzustellen ist. Unverzüglich bedeutet: ohne eine durch die Lage der Sache nicht gerechtfertigte Verzögerung oder positiv ausgedrückt: mit der nach Lage der S a c h e und unter Berücksichtigung der Geschäftsverhältnisse der beteiligten Behörden notwendigen Beschleunigung. Weitere Ermittlungen zur S a c h a u f k l ä r u n g rechtfertigen eine Verzögerung nicht ( E b S c h m i d t , N a c h t r . 7), doch darf der Beamte ein Protokoll a u f n e h m e n und einen Festnahmebericht fertigen. Der V o r f ü h r e n d e darf die Frist nicht „ a u s n u t z e n " , wenn irgend möglich, m u ß er den Gefangenen f r ü h e r als a m Tage nach der Ergreifung einliefern ( O L G F r a n k f u r t H E S t . 2 350). Die Frist gestattet im G r u n d s a t z keinerlei Verlängerung. Sie kann nur in Fällen höherer Gewalt (Krieg, Seuchen, Streik) überschritten werden. 5. V o r f ü h r u n g z u m zuständigen Richter. Den Gefangenen innerhalb der Vorführungsfrist d e m zuständigen Richter vorzuführen, m u ß das Ziel der mit der V o r f ü h r u n g befaßten Beamten sein. Sie und ihre Dienststellen sind d a f ü r verantwortlich, d a ß d e m Gesetz genügt wird, soweit das irgend möglich ist. Z u r Ü b e r f ü h r u n g ist ein Einzeltransport zu wählen, wenn d a d u r c h der zuständige Richter noch rechtzeitig erreicht werden kann. D e r U m s t a n d , d a ß das bei einem Sammeltransport nicht möglich ist, berechtigt nur d a n n , von der V o r f ü h r u n g z u m zuständigen Richter abzusehen und die z u m nächsten Amtsrichter zu wählen, wenn Sicherheitsgründe dem Einzeltransport entgegenstehen. Ein Verzicht auf die innerhalb der Frist mögliche V o r f ü h r u n g z u m zuständigen Richter ist o h n e Wirkung. D a s gilt auch f ü r die Unverzüglichkeit ( E b S c h m i d t , N a c h t r . 10). Die Einwilligung des Beschuldigten, später vorgeführt zu werden, damit z u n ä c h s t Zeugen v e r n o m m e n und dem Beschuldigten gegenübergestellt werden, ist wirkungslos; sie ist bei einem der Freiheit Beraubten niemals mit Sicherheit völlig frei. D e r zuständige Richter ist in der Regel derjenige, der den Haftbefehl erlassen hat. In Ausnahmefallen ist ein Zuständigkeitswechsel d e n k b a r ; der zuständige Richter ist dann nach § 126 zu ermitteln. E r wird der Staatsanwaltschaft, die die Vollstreckung des H a f t befehls angeordnet hat (§ 36 Abs. 1 Satz 1) bekannt sein; diese wird den festnehmenden Beamten benachrichtigen. Liegen die Akten — etwa zufolge der Beschwerde des Verteidigers eines flüchtigen und dann wieder ergriffenen Gefangenen — beim Beschwerdegericht, so ist nicht dieses, sondern vor Klageerhebung der Amtsrichter zuständig, der den Haftbefehl erlassen hat, und nach diesem Zeitpunkt das mit der Sache selbst befaßte Gericht. 6. Zeitpunkt der Vernehmung. Der zuständige Richter — wie auch der nächste — hat den Beschuldigten unverzüglich nach der Vorführung, spätestens a m Tage nach ihr, zu vernehmen. F ü r die Begriffe „unverzüglich" und „ T a g " gilt das 4 Abs. 2 Ausgeführte. Die Notwendigkeit, die Sache durchzuarbeiten, und die „sachlichen Gegebenheiten des Dienstbetriebs" ( L G Düsseldorf D R i Z 1967 308) rechtfertigen einen A u f s c h u b , der seine äußerste G r e n z e a m E n d e des Tages nach der V o r f ü h r u n g findet. D a die V o r f ü h r u n g in der Bereitstellung für den Richter liegt, k o m m t es nicht d a r a u f an, w a n n diesem die Akten vorgelegt werden. Ist der Gefangene a m S o n n a b e n d n a c h m i t t a g eingeliefert worden, und sind die Akten in den Briefkasten des unbesetzten Gerichts eingelegt worden, d a n n läuft die Vernehmungsfrist a m Sonntag ab, auch wenn der Richter erst an diesem T a g e Kenntnis von der Einlieferung und von den Akten erhält. Es ist seine Amtspflicht, die technischen Voraussetzungen zu schaffen, d a ß ihm Vorführungen rechtzeitig zur Kenntnis gebracht werden, und d a ß er die Vernehmung auch an Sonnabenden, Sonn- und Festtagen und, wenn die Frist abzulaufen droht, auch sonst a u ß e r h a l b der Dienststunden d u r c h f ü h r e n kann. 2

Begrdg. BTDrucks. IV 178, S. 23.

701

§115 Anm. 7, 8

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

Die Vernehmungsfrist des § 115 Abs. 2 kann ebenso wie die Vorführungsfrist grundsätzlich nicht verlängert werden, jedoch gestattet höhere Gewalt (Krieg, Seuchen, Streik) Ausnahmen. Eine weitere Ausnahme ergibt sich aus dem Zustande des Beschuldigten: Ist ein Verhafteter nicht in den Machtbereich des Richters gebracht worden (3 Abs. 2), dann ist es dessen Pflicht, sich zur Vernehmung an den Verwahrungsort zu begeben. Die Verpflichtung ruht indessen, solange der Beschuldigte nicht vernehmungsfähig ist, etwa weil er operiert werden mußte oder weil er einen Selbstmordversuch unternommen hatte. Die Vernehmungsunfähigkeit muß, jedenfalls bei einem Zeitraum von mehreren Tagen, amtsärztlich festgestellt werden; es ist fortlaufend zu prüfen, ob sie behoben ist. 7. Form der Vernehmung. Der zuständige Richter, wie auch der nächste Amtsrichter, hat einen Urkundsbeamten zuzuziehen. Uber die Vernehmung ist ein Protokoll aufzunehmen; es ist vom Beschuldigten zu unterschreiben, oder es ist darin anzugeben, weshalb die Unterschrift unterblieben ist (§§ 168, 187, 188). Ist zuständiges Gericht ein Kollegialgericht, kann es den Beschuldigten in Beschlußbesetzung vernehmen, die Vernehmung aber auch einem beauftragten Richter übertragen (5 zu § 126). Von diesem Fall des Kollegialgerichts abgesehen, ist es unzulässig, daß der zuständige Richter die Vernehmung nicht selbst vornimmt, sondern im Wege der Rechtshilfe den nächsten oder einen anderen Amtsrichter darum ersucht (OLG Köln JMB1NRW 1968 129). Das ergibt sich aus der gesetzlichen Regelung, die zwei Richter, den zuständigen und den nächsten, ausschließlich zuständig macht. Das in § 115a Abs. 3 Satz 1 dem Beschuldigten eingeräumte Recht, die Vorführung zum zuständigen Richter zu verlangen, wäre wertlos, wenn der zuständige Richter seine Vernehmungsaufgabe auf einen anderen Richter übertragen könnte. Die Vernehmung zur Tatfrage kann unterbleiben, wenn der Haftbefehl ergeht, nachdem der Angeklagte in der Hauptverhandlung vernommen worden ist; namentlich wenn der Haftbefehl im Anschluß an die Vernehmung oder unmittelbar nach der Urteilsverkündung erlassen wird; sie wäre dann eine leere Formalität. Dagegen muß der Angeklagte stets, also auch in den genannten Fällen, zu den Haftgründen vernommen werden. Findet die Hauptverhandlung am Tage der Vorführung, oder wenn der Beschuldigte erst am Tage nach der Ergreifung vernommen werden kann, an diesem Tage statt, dann kann die Vernehmung mit der nach § 243 Abs. 2 verbunden werden; sie muß dann aber auf den besonderen Inhalt des Absatzes 3 (8) erstreckt werden. An der Vernehmung können Staatsanwalt und Verteidiger teilnehmen (§ 169 Abs. 1, § 192 Abs. 2 Satz 1). Sie sind von dem Termin zu benachrichtigen, soweit das ohne besondere Verzögerung möglich ist. Terminsverlegung können sie nicht beanspruchen. Die Benachrichtigung der Staatsanwaltschaft (fernmündlich von Kanzlei zu Kanzlei) bietet keine Schwierigkeit. Daß der Beschuldigte einen Verteidiger hat, wird der Richter oft nicht wissen; meist wird der Beschuldigte noch keinen gewählt haben. Wünscht der Beschuldigte einen Verteidiger zu bestellen und zuzuziehen, ist ihm Gelegenheit zu geben, das — in der Regel fernmündlich — zu tun. Der Richter wird dann (trotz § 192 Abs. 2 Satz 3) die Vernehmung um einige Stunden zurückstellen, doch darf er die Fristen des § 115 Abs. 2 und des § 115a Abs. 2 Satz 1 nicht überschreiten. 8. Inhalt der Vernehmung. Der Beschuldigte ist über den Gegenstand der Beschuldigung zu vernehmen (§115 Abs. 2). Dabei sind mit ihm die belastenden Umstände und die Verdachts- und Haftgründe zu erörtern. Die Erwähnung der Gründe für den (dringenden) Verdacht weist auf die Notwendigkeit hin, dem Beschuldigten die Beweisgrundlage mitzuteilen. Ihm soll Gelegenheit gegeben werden, die Verdachts- und Haftgründe zu entkräften und die Tatsachen geltend zu machen, die zu seinen Gunsten sprechen. Daher darf der Richter nicht warten, ob der Beschuldigte Erklärungen abgeben will; er hat ihn vielmehr ausdrücklich auf die Möglichkeit hinzuweisen, daß er das tun kann. Haftgründe sind — wie in § 114 Abs. 2 Nr. 3 (1 zu § 112; 5 zu § 114) - sowohl die in § 112 Abs. 2 aufgeführten (Flucht, Fluchtgefahr, Verdunkelungsgefahr) als auch die Wiederholungsgefahr bei Sittlichkeitsverbrechern (§112 Abs. 3). Im Falle der Verhaftung wegen eines Verbrechens wider das Leben (§ 112 Abs. 4) sind, wenn man die Vorschrift überhaupt für anwendbar hält (16b Abs. 5 zu § 112), die Umstände zu erörtern, die der Verhaftung nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zugrunde liegen (16b Abs. 1 zu § 112).

702

Neunter Abschnitt. Verhaftung und vorläufige Festnahme (Dünnebier)

§ 115 Anm. 9, 10

Die Vorschriften enthalten eine Verstärkung der richterlichen Verpflichtung gegenüber sonstigen Vernehmungen. Sie ist in der Notwendigkeit der Fürsorge für den von der Außenwelt abgeschnittenen Gefangenen begründet. Das rechtfertigt die Erweiterung gegenüber § 136, der indessen zusätzlich zu beachten ist. Diese Vorschrift gilt für jede erste Vernehmung 3 , also auch für die nach § 115. Nach § 136 Abs. 1, dessen Inhalt nur teilweise in §115 Abs. 3 wiederholt wird, ist der Beschuldigte darauf hinzuweisen, daß es ihm freistehe, sich zu der Beschuldigung zu äußern oder nicht zur Sache auszusagen; daß er jederzeit, auch schon vor seiner Vernehmung, einen von ihm zu wählenden Verteidiger befragen darf; in geeigneten Fällen auch, daß er sich schriftlich äußern kann. Verweigert der Beschuldigte seine Einlassung, so dürfen daraus keine Schlüsse zu seinem Nachteil gezogen werden 4 . Veranlaßt die Vernehmung zu einer der angeführten Voraussetzungen den Richter, den Haftbefehl aufzuheben (§ 120), den Vollzug des Haftbefehls auszusetzen (§ 116) oder bei einem Jugendlichen von der Vollstreckung des Haftbefehls abzusehen (§ 72 Abs. 1 JGG), dann wird er die Vernehmung nur dann auf weitere Voraussetzungen zu erstrecken brauchen, wenn er — bei zweifelhafter Sachlage — mit einer Beschwerde der Staatsanwaltschaft rechnen muß 3 . 9. Entscheidung. Der zuständige Richter hat in vollem Umfang sämtliche Haftvoraussetzungen nachzuprüfen und daraufhin zu entscheiden, ob der Haftbefehl aufrechtzuerhalten oder aufzuheben (§ 120), der Vollzug (§116 Abs. 1 bis 3) oder bei einem Jugendlichen die Vollstreckung des Haftbefehls auszusetzen ist (§ 72 Abs. 1 JGG). Beweisanträgen des Beschuldigten, die auf eine Freilassung zielen, hat er dazu nachzukommen (§ 166 Abs. 1). 10. Rechtsmittelbelehrung. Hält der zuständige Richter die Haft aufrecht, dann hat er den Beschuldigten über das Recht der Beschwerde (§ 304 Abs. 1) und über die Rechtsbehelfe der Haftprüfung (§117 Abs. 1) sowie der mündlichen Verhandlung im Haftprüfungsverfahren (§ 118 Abs. 1) und im Beschwerdeverfahren (§ 118 Abs. 2) zu belehren (§ 115 Abs. 4) und ihn darauf hinzuweisen, daß durch den Antrag auf Haftprüfung die Beschwerde ausgeschlossen wird ( § 1 1 7 Abs. 2). Im Falle des § 115 a Abs. 3 wird dagegen die Wendung gebraucht: wenn er den Beschuldigten nicht freiläßt. Bei dieser Abweichung könnten Zweifel bestehen, ob in § 115 Abs. 4 („die Haft aufrechterhalten") der Vollzug oder die Anordnung der Haft gemeint ist, zumal da die Haftbeschwerde zulässig bleibt, auch wenn der Vollzug des Haftbefehls ausgesetzt wird. Da aber Haftprüfung und mündliche Verhandlung bei ihr nur zulässig sind, wenn die Untersuchungshaft vollzogen wird (2 b zu § 117), wäre eine Anordnung sinnlos, die eine Belehrung auch bei einem nicht vollzogenen Haftbefehl vorschriebe. Demzufolge kann sich das Wort „Haft" in § 115 Abs. 4 nur auf den Vollzug der Haft, nicht aber auf ihre Anordnung beziehen. Der Wortlaut bedeutet in § 115 Abs. 4 dasselbe wie in § 115a Abs. 3: Die Belehrung ist nur zu erteilen, wenn der Beschuldigte in Haft verbleibt; sie entfallt, wenn der Vollzug der Haft nicht aufrechterhalten, d. h. der Beschuldigte freigelassen wird, mag auch die Anordnung der Untersuchungshaft, der Haftbefehl, selbst bestehen bleiben, wie das bei der Aussetzung des Vollzugs der Untersuchungshaft nach § 116 oder nach § 72 Abs. 1 J G G der Fall ist. Die Belehrung hat das zuständige Gericht stets zu geben, es sei denn, daß der Haftbefehl von einem Strafsenat als Rechtsmittelgericht erlassen worden ist (§ 304 Abs. 4). Dagegen ist über die Möglichkeit der weiteren Beschwerde (§310 Abs. 1) nicht zu belehren. Erläßt das Oberlandesgericht oder der Bundesgerichtshof einen in der unteren Instanz abgelehnten oder aufgehobenen Haftbefehl auf Beschwerde der Staatsanwaltschaft, ohne den Beschuldigten vorher zu hören (§33 Abs. 4), so hat es den Beschuldigten auf seinen Antrag oder, wenn er einen solchen nicht stellt, von Amts wegen nachträglich zu hören (§ 311 a Abs. 1). 3

A. A. D r e v e s DRiZ 1965 113; G e g e n f u r t n e r DRiZ 1965 334. " S e i b e r t NJW 1965 1706; S c h m i d t - L e i c h n e r NJW 1966 189; A r n d t NJW 1966 8,71; S t r e e JZ 1966 597; W e s s e l JuS 1966 169 mit weiteren Nachweisen. 5 L o b e - A l s b e r g I I 2 a z u § 114b.

703

§ 1 1 5 A n m . 11

Strafprozeßordnung. Erstes B u c h

§ 1 1 5 a Anm. 1 Finc B e l e h r u n g des gesetzlichen Vertreters ben und in der Regel nicht angebracht.

(§ 1 1 8 b , § 2 9 8 A b s . 1) ist nicht vorgeschrie-

11. Mehrere Haftbefehle. Liegen mehrere Haftbefehle vor, s o ist der Verfolgte allen zuständigen Richtern nacheinander vorzuführen, d o c h wird in der Regel feststehen, d a ß er nicht allen a m T a g e n a c h der Ergreifung vorgeführt werden kann. D e r vorführende B e a m t e m u ß daher z u n ä c h s t die Vorführungen soweit bewirken, als d a s bis z u m T a g e nach der Festn a h m e möglich ist. K a n n er mehrere Richter erreichen, hat er den nächsten v o n ihnen auszuwählen, d o c h ist es gerechtfertigt, w e n n er den Beschuldigten z u d e m Gericht vorführt, das den Haftbefehl w e g e n des schwersten Delikts erlassen hat. N a c h d e m der Beschuldigte v o n diesem v e r n o m m e n w o r d e n ist, ist er den nächsten weiter zuständigen Richtern vorzuführen, w e n n das n o c h a m T a g e n a c h der F e s t n a h m e g e s c h e h e n kann. Wird ein Haftbefehl nicht vollzogen, sondern nur Ü b e r h a f t notiert, dann finden §§ 115, 1 1 5 a erst A n w e n d u n g , w e n n die Ü b e r h a f t vollstreckt wird ( O L G K ö n i g s b e r g J W 1 9 3 2 9 6 5 ; a. A . K u n t D S t R Z 1 9 2 0 46). A l s d a n n ist — w o f ü r Gericht und Staatsanwaltschaft durch Fristnotierung Sorge zu tragen haben — das Verfahren durchzuführen, d o c h ist es nicht unzulässig, das s c h o n vorher zu tun.

§ 115a ( l ) K a n n der Beschuldigte nicht spätestens a m T a g e n a c h der Ergreifung v o r den zuständigen Richter gestellt werden, s o ist er unverzüglich, spätestens a m T a g e n a c h der Ergreifung, d e m n ä c h s t e n Amtsrichter vorzuführen. (2) D e r Amtsrichter hat den Beschuldigten unverzüglich n a c h der Vorführung, spätestens a m nächsten T a g e , z u vernehmen. Bei der V e r n e h m u n g wird, soweit möglich, § 115 A b s . 3 angewandt. Ergibt sich bei der Vernehmung, d a ß der Haftbefehl a u f g e h o b e n oder der Ergriffene nicht die in d e m Haftbefehl bezeichnete P e r s o n ist, s o ist der Ergriffene freizulassen. Erhebt dieser s o n s t g e g e n den Haftbefehl oder dessen Vollzug Einw e n d u n g e n , die nicht offensichtlich unbegründet sind, o d e r hat der Amtsrichter B e d e n k e n g e g e n die Aufrechterhaltung der H a f t , s o teilt er sie d e m z u s t ä n d i g e n Richter unverzüglich und a u f d e m n a c h den U m s t ä n d e n angezeigten schnellsten W e g e mit. (3) Wird der Beschuldigte nicht freigelassen, s o ist er a u f sein Verlangen d e m zuständigen Richter zur V e r n e h m u n g n a c h § 115 vorzuführen. D e r Beschuldigte ist a u f dieses R e c h t hinzuweisen und g e m ä ß § 115 A b s . 4 z u belehren. Entstehungsgeschichte: D i e Vorschrift ist durch Art. 1 Nr. 1 S t P Ä G in dreifacher Hinsicht geändert w o r d e n : Einmal ist in A b s a t z 1 die Vorführung, die bisher nur auf Verlangen des Beschuldigten zu bewirken war, obligatorisch g e m a c h t worden. Z u m anderen ist Satz 4 des A b s a t z e s 2 angefügt worden. Endlich ist in A b s a t z 3 b e s t i m m t w o r d e n , d a ß der nicht freigelassene U n t e r s u c h u n g s g e f a n g e n e nur auf sein Verlangen d e m zuständigen Richter vorzuführen ist. 1. N ä c h s t e r Amtsrichter ist nicht der räumlich nächste, sondern derjenige, der im Hinblick auf die Verkehrsmittel a m raschesten erreicht werden kann. Er braucht seinen Sitz nicht in dem Bezirke zu haben, in d e m der Beschuldigte verhaftet w o r d e n ist. O b der A m t s richter für die Bearbeitung v o n Straf- oder H a f t s a c h e n zuständig ist, w e n n die Landesjustizverwaltung v o n der Z u w e i s u n g v o n Strafsachen an b e s t i m m t e A m t s g e r i c h t e (§ 5 8 A b s . 1 G V G ) G e b r a u c h g e m a c h t hat, ist n a c h Wortlaut und Z w e c k des G e s e t z e s gleichgültig. D e r vorführende B e a m t e hat j e d o c h auf solche Z u w e i s u n g e n , wie auch darauf, o b sich a m Gerichtsort H a f t r ä u m e befinden, B e d a c h t z u n e h m e n und kann d a z u durch allgemeine A n w e i s u n g e n angehalten werden. D i e Verzögerung, die eintritt, weil er s o l c h e U m s t ä n d e beachtet, ist n a c h der S a c h l a g e gerechtfertigt. Wird j e d o c h die Frist — T a g n a c h der Ergreifung — in F r a g e gestellt, dann hat der vorführende B e a m t e alle anderen E r w ä g u n g e n beiseitezustellen und den G e f a n g e n e n d e m nächsten Amtsrichter vorzuführen, den er erreichen kann. D e n n nur beim Richter kann sich der G e f a n g e n e mit Sicherheit gegen unzulässige, etwa z u lang ausgedehnte, V e r n e h m u n g e n wehren und die Pflicht auslösen, A n g e h ö r i g e zu benachrichtigen.

704

Neunter Abschnitt. Verhaftung und vorläufige Festnahme (Dünnebier)

§ 115 a Anm. 2—4

2. Vorführung. Der Wortlaut ( „ k a n n der Beschuldigte n i c h t . . . vor den zuständigen Richter gestellt werden") scheint die objektive Unmöglichkeit des Verfahrens nach § 115 als Bedingung desjenigen nach § 115a aufzustellen. Das kann jedoch nicht der Sinn der Bestimmung sein. Denn dann fände überhaupt keine Vorführung, auch nicht vor den nächsten Richter statt, wenn die vor den zuständigen möglich war, aber versäumt worden oder die Möglichkeit (Einzeltransport) verkannt worden ist. Der Beschuldigte ist aber auch in diesen Fällen dem nächsten Richter vorzuführen. Mit der Fassung soll nur nochmals darauf hingewiesen werden, daß § 115a gegenüber § 115 nur hilfsweise anzuwenden ist. Keineswegs darf der Beschuldigte dem nächsten Amtsrichter nur aus Bequemlichkeit oder Routine vorgeführt werden. D a s Verfahren ist nur zulässig, wenn der Gefangene nicht bis zum Ende des Tages nach seiner Ergreifung vor den zuständigen Richter gebracht werden kann ( A G Krefeld M D R 1966 691). In diesem Falle aber ist es unerläßlich; die Vorführung zum nächsten Amtsrichter darf nicht etwa deshalb aufgeschoben werden, weil der Beschuldigte damit einverstanden ist, unter Fristversäumnis vor den zuständigen Richter gebracht zu werden. Denn die Gewalt über den Gefangenen soll am Tage nach der Verhaftung von der Polizei auf den unabhängigen Richter übergehen. Diese Kontrolle der Freiheitsentziehung liegt im öffentlichen Interesse und kann nicht der Verfügung des Beschuldigten überlassen bleiben. D a s folgt auch aus dem System der §§ 115, 115 a. Diesem ist ein doppelter Zweck zu entnehmen: Einmal soll der Gefangene in richterliche Obhut gelangen, zum anderen soll die Möglichkeit geboten werden, die Untersuchung zu fördern. Indem die neue Fassung des § 115a Abs. 3 es dem zum nächsten Amtsrichter gebrachten Gefangenen überläßt, ob er es dabei bewenden lassen oder seine Vorführung zum zuständigen Richter verlangen will, wird der Gesichtspunkt der Sachförderung zurückgesetzt und der Initiative des Richters, des Staatsanwalts oder des Beschuldigten größere Bedeutung eingeräumt. Damit wird zugleich das Gewicht der Vorschrift mehr auf ihren ersten Zweck verlagert, die alleinige Gewalt des unabhängigen Richters über den der Freiheit beraubten Gefangenen sicherzustellen. 3. Wegen der Vorführungsfrist und des Begriffs unverzüglich s. 4 zu § 115. Liegen mehrere Haftbefehle vor, und ist es nicht möglich, den Beschuldigten allen zuständigen Richtern spätestens am Tage nach der Ergreifung vorzuführen (11 zu § 115), dann ist der Beschuldigte dem nächsten Amtsrichter wegen aller noch unerledigten Haftbefehle vorzuführen. Ist einer der zuständigen Richter, denen der Beschuldigte bis zum Tage nach der Festnahme vorgeführt wird, ein Amtsrichter, so ist er zugleich der nächste Amtsrichter für alle Haftbefehle, wegen deren der Beschuldigte nicht mehr bis zum Tage nach der Ergreifung dem zuständigen Gericht vorgeführt werden kann. Ein Kollegialgericht dagegen hat keine Zuständigkeit, die Geschäfte des nächsten Amtsrichters zu übernehmen Nach der Vernehmung durch den nächsten Amtsrichter ist der Beschuldigte nacheinander denjenigen zuständigen Richtern, die ihn noch nicht vernommen haben, vorzuführen, zu denen er die Vorführung verlangt. Diese Umständlichkeit wird sich vermeiden lassen, wenn die beteiligten Richter unter sich Fühlung nehmen und vereinbaren, daß nur einer der Haftbefehle vollstreckt, für die anderen aber Uberhaft vermerkt wird. 4. Vernehmung. Der nächste Amtsrichter hat seine Vernehmung, soweit möglich, ebenso zu gestalten wie der zuständige Richter (7, 8 zu § 115). Die Möglichkeit besteht immer für die in § 115 Abs. 3 und in § 136 Abs. 1 aufgeführten Hinweise auf die Rechte des Beschuldigten. Im übrigen muß die Vernehmung in der Regel notwendigerweise von der des zuständigen Richters abweichen. Der Hinweis auf die belastenden Umstände ( § 1 1 5 Abs. 3) setzt ebenso Aktenkenntnis voraus, wie das Einräumen von Gelegenheit, den dringenden Tatverdacht und die Haftgründe zu entkräften. Diese Kenntnis fehlt dem nächsten Amtsrichter. Gleichwohl muß er versuchen, seiner Verpflichtung nachzukommen; die Erfahrung in der Bearbeitung von Haftsachen wird ihm dabei Hilfe leisten, mehr zu tun, als den Haftbefehl zu erläutern und Erklärungen entgegenzunehmen. Ggf. hat er sich mit dem zuständigen Richter ins Benehmen zu setzen (Absatz 2 Satz 3). 1

A. A. E b S c h m i d t 20 zu § 114b.

705

§ 115 a Anm. 5 , 6

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

5. Entscheidung. Hinsichtlich der Entscheidung hat der nächste Amtsrichter weit geringere Befugnisse als der zuständige Richter. Ihm ist, da er immer nur beschränkt unterrichtet sein kann, zu Recht nicht die Macht erteilt worden, über den Haftbefehl zu verfügen. Daher darf er aus eigenem Recht weder den Haftbefehl aufheben noch dessen Vollzug nach § 116 oder bis zur Entscheidung des zuständigen Richters vorläufig aussetzen 2 . Seiner Prüfung unterliegen nur die Fragen, ob ein wirksamer Haftbefehl besteht, d. h. ob ein Haftbefehl von einem Gericht erlassen (1 zu § 114) und, wenn dies geschehen, nicht wieder aufgehoben ist, sowie ob der Ergriffene und der Verfolgte personengleich sind. Muß der nächste Amtsrichter diese Fragen verneinen, hat er den Beschuldigten freizulassen. Dagegen darf er die Wirksamkeit des Haftbefehls nicht verneinen, weil die beigefügte Begründung fehlerhaft ist3. Denn ihm fehlen die Unterlagen, aus denen sich durchaus ergeben kann, daß der Haftrichter bei einem guten Haftgrund eine schlechte Begründung gegeben hat. Ebenso darf er einen Haftbefehl nicht deshalb aufheben (so D r e v e s DRiZ 1965 113), weil Verjährung oder Amnestie vorliegen kann; weil der Haftbefehl schwere Mängel hat; weil die rechtskräftige Erledigung der Sache oder die Unschuld urkundlich erwiesen ist. Der letzte Punkt bedarf keiner Widerlegung. Die Verjährung kann unterbrochen, die Angabe der unterbrechenden Akte im Haftbefehl (4 zu § 114) übersehen worden sein. Amnestievoraussetzungen sind nicht immer eindeutig; meist kommt es auf die Strafe an, die der Täter zu erwarten hat, oft gibt es Amnestiehindernisse und regelmäßig können weitere Taten die Einstellung ausschließen 4 . Das alles kann der nächste Richter nicht beurteilen. Die Frage der anderweiten Verurteilung ist stets schwierig und ohne Akten nicht zu entscheiden. Mängel in der Begründung des Haftbefehls können jederzeit behoben werden; sie rechtfertigen die Entlassung nicht. Der Text des § 115a ist eindeutig. Die Vorschrift hat zwar nur einen beschränkten Zweck; sie ist aber nicht, wie D r e v e s meint, sinnlos, wenn man die Befugnis des nächsten Richters verneint, in weiteren Fällen als in Absatz 2 Satz 2 angegeben, den Haftbefehl aufzuheben. Schon die Frage nach dem Bestand eines Haftbefehls wird sich nicht immer allein aus der Vernehmung und aus den Ausschreibungsunterlagen ergeben, sondern ggf. durch Rückfragen beim zuständigen Richter geklärt werden müssen. Die Verpflichtung, mit diesem ins Benehmen zu treten, wird in Absatz 2 Satz 3 dem nächsten Amtsrichter auferlegt, wenn der Beschuldigte Einwendungen gegen den Haftbefehl oder dessen Vollzug erhebt, die nicht offensichtlich unbegründet sind, oder wenn der Amtsrichter selbst Bedenken trägt, die Haft aufrechtzuerhalten. In diesen Fällen hat er die Einwendungen oder Bedenken dem zuständigen Richter fernmündlich (wegen weiterer Rückfragen besser als fernschriftlich) mitzuteilen, dessen Entscheidung herbeizuführen und diese, wenn sie in einer Freilassung besteht, im Wege der Rechtshilfe durchzuführen. Die Einwendungen des Beschuldigten können sich gegen den Tatverdacht oder gegen den Haftgrund richten. Sie können aber auch — unter Berufung auf § 116 oder auf § 72 Abs. 1 J G G — allein gegen den Vollzug des Haftbefehls erhoben werden. Offensichtlich unbegründet sind Einwendungen, bei denen auf der Hand liegt, daß sie entweder unglaubhaft sind, oder daß sie keinerlei Einfluß auf die Entscheidung haben können. Bedenken des Amtsrichters, die Haft aufrechtzuerhalten, werden z. B. entstehen, wenn er Verjährung oder Amnestie annehmen kann, oder wenn er nach den ihm bekannten Umständen erkennt, daß der zuständige Richter irrigerweise Fluchtgefahr angenommen hatte, oder daß eine früher zu Recht angenommene inzwischen weggefallen ist. 6. Vorführung zum zuständigen Gericht. Hat der nächste Amtsrichter den Beschuldigten nicht freigelassen, dann kann dieser verlangen, daß er dem zuständigen Richter vorgeführt werde. Der nächste Amtsrichter hat ihn über dieses Recht zu belehren (§ 115 a Abs. 3 Satz 2). Er wird ihm den Antrag nahelegen, wenn er bei seiner Vernehmung den Eindruck gewonnen hat, daß der zuständige Richter, weil diesem die Akten vorliegen, 2 3

4

So L a n g DJZ 1927 780. So E n z i a n NJW 1956 1786. Beispiel: Annahme von Verdunkelungsgefahr, „weil die Ermittlungen noch nicht abgeschlossen sind". Wegen der Amnestiehindernisse s. z. B. § 9 Abs 2; wegen Ausschluß der Amnestie § 11 StFG 1954; § 5 StFG 1970.

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Neunter Abschnitt. Verhaftung und vorläufige Festnahme (Dünnebier)

§ 116

den Beschuldigten besser vernehmen und entweder zu einer dem Beschuldigten günstigeren Beurteilung der Haftfrage gelangen könnte oder Aussagen erzielen werde, die das Verfahren fördern könnten. Verlangt der Beschuldigte die Vorführung zum zuständigen Richter, dann ist sie unverzüglich durchzuführen. Das Gesetz sagt das zwar nicht, es ist ihm aber zu entnehmen. Denn die Vorführung zum nächsten Richter ist nur ein Behelf. Der Beschuldigte kann sämtliche Möglichkeiten, die Freilassung zu erzielen, nur dadurch ausschöpfen, daß der zuständige Richter ihn vernimmt und dann entscheidet. Daher kann allein die unverzügliche Vorführung zum zuständigen Richter im Sinne des Vorführungssystems liegen. Auch für sie ist grundsätzlich der Einzeltransport zu wählen. Auch wenn der Gefangene nicht verlangt, dem zuständigen Richter vorgeführt zu werden, ist dafür Sorge zu tragen, daß er in dessen Bezirk verbracht wird, weil er nur dort seine weiteren Rechte auf Haftprüfung und auf mündliche Verhandlung sinnvoll wahrnehmen kann. Im allgemeinen wird die Verschubung von der Staatsanwaltschaft beim zuständigen Gericht, vom Untersuchungsrichter oder nach Rechtshängigkeit auch vom Vorsitzenden des zuständigen Gerichts veranlaßt werden. Doch hat auch der nächste Amtsrichter dafür Sorge zu tragen, daß der Gefangene nicht ohne Not länger als erforderlich bei einem unzuständigen Gericht einsitzt.

§ 116 (1) Der Richter setzt den Vollzug eines Haftbefehls, der lediglich wegen Fluchtgefahr gerechtfertigt ist, aus, wenn weniger einschneidende Maßnahmen die Erwartung hinreichend begründen, daß der Zweck der Untersuchungshaft auch durch sie erreicht werden kann. In Betracht kommen namentlich 1. die Anweisung, sich zu bestimmten Zeiten bei dem Richter, der Strafverfolgungsbehörde oder einer von ihnen bestimmten Dienststelle zu melden, 2. die Anweisung, den Wohn- oder Aufenthaltsort oder einen bestimmten Bereich nicht ohne Erlaubnis des Richters oder der Strafverfolgungsbehörde zu verlassen, 3. die Anweisung, die Wohnung nur unter Aufsicht einer bestimmten Person zu verlassen, 4. die Leistung einer angemessenen Sicherheit durch den Beschuldigten oder einen anderen. (2) Der Richter kann auch den Vollzug eines Haftbefehls, der wegen Verdunkelungsgefahr gerechtfertigt ist, aussetzen, wenn weniger einschneidende Maßnahmen die Erwartung hinreichend begründen, daß sie die Verdunkelungsgefahr erheblich vermindern werden. In Betracht kommt namentlich die Anweisung, mit Mitbeschuldigten, Zeugen oder Sachverständigen keine Verbindung aufzunehmen. (3) Der Richter kann auch den Vollzug eines Haftbefehls, der nach § 112 Abs. 3 erlassen worden ist, unter der Bedingung aussetzen, daß der Beschuldigte bestimmte Anweisungen befolgt. (4) Der Richter ordnet in den Fällen der Absätze 1 bis 3 den Vollzug des Haftbefehls an, wenn 1. der Beschuldigte den ihm auferlegten Pflichten oder Beschränkungen gröblich zuwiderhandelt, 2. der Beschuldigte Anstalten zur Flucht trifft, auf ordnungsmäßige Ladung ohne genügende Entschuldigung ausbleibt oder sich auf andere Weise zeigt, daß das in ihn gesetzte Vertrauen nicht gerechtfertigt war, oder 3. neu hervorgetretene Umstände die Verhaftung erforderlich machen. Entstehungsgeschichte: Die Strafprozeßordnung hatte ursprünglich (in § 117) die Verschonung des Beschuldigten mit dem Vollzug der Untersuchungshaft nur für den Fall vorgesehen, daß sie allein wegen Fluchtverdachts gerechtfertigt war. Einziges Mittel zur Abwendung des Haftvollzugs war zunächst die Sicherheitsleistung. Durch Art. 4 Nr. 16 des 3. StRAndG wurde die Verschonung allgemein auf Grund von Maßnahmen zugelassen, welche die Fluchtgefahr erheblich zu vermindern geeignet waren. Ihre jetzige Fassung hat die Bestimmung erhalten durch Art. 1 Nr. 1 StPÄG. Danach sind namentlich eingefügt der Katalog des Absatzes 1, die Möglichkeit, den Vollzug des Haftbefehls bei sämtlichen Haftgründen auszusetzen, und die Regelung des Widerrufs der Aussetzung durch Absatz 4. 707

§ 116

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

Anm. 1—3 1. Inhalt. Das Haftrecht wird, wie § 112 Abs. 1 Satz 2, § 120 Abs. 1 Satz 1, 2. Halbsatz, aber auch § 121 Abs. 1, dartun, besonders eindeutig von dem Grundsatze beherrscht, daß das angewendete Mittel zu dem erstrebten Zweck in einem angemessenen Verhältnis stehen muß (Grundsatz der Verhältnismäßigkeit). Auch die Bestimmung des § 116 ist eine Ausprägung dieser Maxime. Sie verlangt, wenn schon auf einen Eingriff in die Freiheit des Beschuldigten nicht verzichtet werden kann, daß dann auf jeden Fall die am wenigsten einschneidende M a ß n a h m e auszuwählen ist. D a kein Mittel angewendet werden darf, das vom Zweck nicht gefordert wird, sind grundsätzlich keine Ausnahmen gerechtfertigt. D a s Gesetz sieht sie in zwei Fällen vor: Bei dem Haftgrund der Flucht (§ 112 Abs. 2 Nr. 1) und bei Haftbefehlen wegen Verbrechens wider das Leben ( § 1 1 2 Abs. 4). Wegen des letzten Falles s. 8. Im ersten Falle kann der Vollzug nicht ausgesetzt werden, weil der Haftbefehl erlassen wird, um den Beschuldigten zu ergreifen. Im übrigen kann der Vollzug des Haftbefehls bei jedem Haftgrund ausgesetzt werden. D a s frühere Recht ließ das nur bei Fluchtgefahr zu (§117a.F.), und die Anknüpfung an den Wortlaut des alten Rechts dürfte der Grund für den umständlichen Aufbau der Vorschrift sein. Allerdings kommt auch den Fällen des Absatzes 1 die größte Bedeutung zu. Denn wenn der Haftvollzug auch bei Flucht-, Verdunkelungs- und Wiederholungsgefahr gleicherweise ausgesetzt werden kann, so gibt es doch weniger Maßnahmen, die Verdunkelungs- oder Wiederholungsgefahr vermindern, als solche, die die Fluchtgefahr herabsetzen. 2. Anwendungsbereich. § 116 dient dem Zweck, den Vollzug der Untersuchungshaft soweit als möglich einzuschränken. Daher ist er anzuwenden, wenn ein Haftbefehl erlassen wird, und dann solange, als ein erlassener nicht aufgehoben (§ 120) oder durch Rechtskraft erledigt ist. Seine Anwendung ist bei der Anordnung der Haft, bei jeder Haftprüfung und bei jeder Beschwerdeentscheidung von Amts wegen zu erwägen. Dabei kommt es nach dem Wortlaut von Absatz 3 auf den im Haftbefehl angegebenen Haftgrund an, während bei den Absätzen 1 und 2 bei der Entscheidung geprüft werden muß, aus welchem Grunde die Untersuchungshaft gerechtfertigt ist. In Wirklichkeit ist auch bei den Fällen des Absatzes 3 die Prüfung unentbehrlich, ob nicht auch Flucht- oder Verdunkelungsgefahr vorliegt, im Falle des Absatzes 2, ob auch Fluchtgefahr, und im Falle des Absatzes 1, ob auch Verdunkelungsgefahr gegeben ist. Nur darf in den Fällen der Absätze 1 und 2 nicht untersucht werden, ob die H a f t nicht auch nach § 112 Abs. 3 gerechtfertigt ist; denn für diesen Fall ist der im Haftbefehl angegebene Haftgrund maßgebend (Absatz 3). D a der Richter aber auch im Falle des Absatzes 3 nicht gehindert ist, den Haftbefehl auf einen der beiden genannten Gründe umzustellen oder zu erweitern (18 zu § 114), ist nach alledem nur bedeutsam, daß die obligatorische Aussetzung des Absatzes 1 nur geboten ist, wenn der Haftbefehl lediglich wegen Fluchtgefahr gerechtfertigt ist; liegt außerdem noch Verdunkelungsgefahr vor, dann müssen zugleich auch die Voraussetzungen des Absatzes 2 erfüllt sein, und steht die Aussetzung im — freilich beschränkten (3 Abs. 3) — Ermessen des Gerichts. Aus der unbeschränkten Wirksamkeit des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit folgt trotz des Wortlauts des § 116 Abs. 1, daß die Vorschrift auch bei der sog. Ungehorsamshaft (§ 230 Abs. 2, § 236) anzuwenden ist. Denn der Ungehorsamshaftbefehl der genannten Vorschriften will der Entziehung von e i n e m Termin entgegenwirken (2 zu § 112). Für sie muß also erst recht gelten, was geboten ist, wenn sich der Beschuldigte dem ganzen Verfahren entziehen will. Dagegen erfaßt § 116 nicht die Vorführung (§ 134; § 230 Abs. 2, § 236, je erste Alternative), weil sie zu keinem längeren Festhalten führen kann, sowie die sitzungspolizeiliche (§ 177 G V G ) und die Ordnungsstrafhaft (§ 178 GVG), weil sie keine Untersuchungshaft sind. § 116 findet nach § 61 Abs. 2 J G G auf die Sicherungshaft des § 61 Abs. 1 J G G nicht ausdrücklich Anwendung. Der Sache nach gilt er aber auch. Denn nach § 61 Abs. 1 J G G hat der Richter vorläufige Maßnahmen zu treffen, „notfalls" einen Haftbefehl zu erlassen. Unter diese Befugnis fallen auch die Anordnung der Sicherungshaft und die Aussetzung ihres Vollzugs. 3. Aussetzung des Vollzugs. Mit der Wortfassung, daß der Vollzug des Haftbefehls ausgesetzt wird, trägt das Gesetz dem Umstand Rechnung, daß der Haftbefehl bestehen bleibt.

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Neunter Abschnitt. Verhaftung und vorläufige Festnahme (Dünnebier)

§116 Anm. 4

Bestehen bleiben kann der Haftbefehl nur, wenn die Haftgründe ebenfalls fortbestehen. Da die Haftgründe nur bei einer durch Tatsachen belegten konkreten Gefahr gegeben sind, ist auch die den Fortbestand des Haftbefehls rechtfertigende fortbestehende Gefahr nicht nur eine theoretische, sondern eine konkrete, wenn auch eine gegenüber dem nicht durch Maßnahmen gesicherten Zustand erheblich herabgesetzte. Das Gesetz nimmt also ein gewisses Risiko in Kauf. Diese gesetzgeberische Entscheidung ist bei der Auswahl und Bewertung der Maßnahmen zu berücksichtigen. Wird durch die Übernahme von Pflichten oder von Beschränkungen, etwa bei einem Sittlichkeitsverbrecher durch den Eintritt in eine Heilanstalt, der Haftgrund nicht nur abgeschwächt, sondern ganz beseitigt, darf kein Haftbefehl erlassen und muß ein erlassener aufgehoben werden. Aus dem Umstand, daß der Haftbefehl, wenn sein Vollzug ausgesetzt wird, bestehen bleibt, folgt, daß die Aussetzung unzulässig ist, wenn er aufzuheben ist. Ob das geboten ist (§ 120 Abs. 1), muß daher geprüft werden, bevor eine Entscheidung nach § 116 getroffen wird. Dagegen hat der Haftrichter nicht zu erwägen, ob der Haftbefehl etwa nach § 121 Abs. 1 aufzuheben sein wird (I 4 Abs. 4 zu § 122). Wegen des Oberlandesgerichts s. II 5 zu § 122. Liegen die Voraussetzungen des § 116 vor, ist im Falle des Absatzes 1 der Vollzug des Haftbefehls auszusetzen (der Richter „ s e t z t . . . aus"). Für die Absätze 2 und 3 gibt das Gesetz dem Richter eine größere Freiheit (der Richter „kann . . . aussetzen"). Er ist aber gleichwohl gebunden durch den Grundsatz, daß stets die am wenigsten einschneidende Maßnahme zu wählen ist. Wird der Zweck der Untersuchungshaft durch solche Maßnahmen erreicht, so ist der Vollzug des Haftbefehls auszusetzen (BVerfGE 19 3 4 2 = NJW 1966 244). Das in beiden Absätzen gebrauchte Wort „kann" stellt ihn daher nicht in der Entscheidung frei, sondern nur, weil bei der Anwendung unbestimmter Rechtsbegriffe die ausschlaggebenden Erwägungen und Abwägungen nicht stets deutlich in Worte zu fassen sind, in der Begründung. Der früher zur Haftverschonung gegen Sicherheitsleistung geführte Streit, ob der Beschuldigte, wenn die Voraussetzungen der Absätze 2 und 3 vorliegen, ein Recht darauf habe, daß der Vollzug ausgesetzt werde, ist müßig. Der Frage käme nur Bedeutung zu, wenn das Ermessen nicht oder nur beschränkt nachprüfbar wäre. Das ist aber nicht der Fall. Denn im Beschwerdeverfahren spielt die Unterscheidung zwischen Rechts- und Ermessensentscheidung keine Rolle. Das Beschwerdegericht hat, wenn ein Ermessen obwalten darf, seines an die Stelle desjenigen des Vorderrichters zu setzen. Der Richter kann den Vollzug der Untersuchungshaft auch nur auf eine bestimmte Zeit aussetzen, etwa zu wichtigen Geschäftsverhandlungen. Dabei wird meist die Leistung einer angemessenen Sicherheit (Nr. 4), aber auch die Aufsicht einer bestimmten Person (Nr. 3), zu verlangen sein. 4. Voraussetzungen. Nach § 72 Abs. 1 JGG darf Untersuchungshaft nur verhängt und vollstreckt werden, wenn ihr Zweck nicht durch eine vorläufige Anordnung über die Erziehung oder durch andere Maßnahmen erreicht werden kann. In der Terminologie des § 116 heißt das, daß der Jugendrichter den Vollzug des Haftbefehls gegen einen Jugendlichen aussetzt, wenn der Zweck der Untersuchungshaft auch durch weniger einschneidende Maßnahmen erreicht werden kann. Das stimmt nahezu überein mit der Fassung von Absatz l (Aussetzung bei Fluchtgefahr), nur wird dort das Unsicherheitsmoment, das notwendigerweise bei der Abschätzung der Wirkung einer Maßnahme auftritt, betont durch die Worte, daß weniger einschneidende Maßnahmen die Erwartung „hinreichend" begründen, der Haftzweck werde durch sie erreicht werden „können". Da die Aussetzung des Vollzugs stets, also auch im Jugendrecht, ein Risiko in sich birgt, ist der Unterschied in der Fassung nicht erheblich, doch macht § 116 Abs. 1 ganz deutlich, daß der Richter keine Sicherheit anstreben, keine fest bestimmten Erwartungen hegen darf, sondern eine hinreichend begründete Erwartung ausreichen lassen muß. Hinreichend begründet ist die Erwartung, wenn die Maßnahme zwar keinen sicheren Erfolg, aber bei Übernahme eines gewissen Risikos die große Wahrscheinlichkeit des Erfolges begründet, der Beschuldigte werde sich nicht dem Strafverfahren entziehen. Auch in Absatz 2 (Aussetzung bei Verdunkelungsgefahr) kehrt die Verbindung der weniger einschneidenden Maßnahmen mit einer hinreichend begründeten Erwartung wieder. Hier geht die Erwartung aber nicht dahin, daß der Haftzweck erreicht werden könne, son-

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§116 Anm. 5

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

dem daß die Verdunkelungsgefahr erheblich vermindert werde. Es wird also weniger verlangt als in Absatz 1; die Fassung ähnelt der des alten § 117, wo Verschonung möglich war auf Grund von Maßnahmen, welche die Fluchtgefahr erheblich zu vermindern geeignet sind. Die mindere Anforderung wird ausgeglichen durch eine freiere Stellung des Richters, der hier nicht (wie in Absatz 1 und im Jugendrecht) auszusetzen hat, sondern aussetzen kann 1 . In Absatz 3 (Wiederholungsgefahr bei Sittlichkeitsverbrechern) ist wiederum die gleiche Fassung „kann" gewählt, doch werden hier gar keine Voraussetzungen mehr aufgestellt. Gleichwohl ist der Richter nicht frei. Nach dem System der Vorschrift kann er vielmehr sinnvollerweise den Vollzug auch hier nur aussetzen, wenn durch die von ihm gestellten Bedingungen der Haftzweck erreicht, d. h. also die Wiederholungsgefahr, die von dem Sittlichkeitsverbrecher ausgeht, gebannt wird. Es ist nicht zu leugnen, daß alle Fassungen in Nuancen voneinander abweichen. Die Praxis wird wohl nur in der Lage sein, zwischen der strengeren Anforderung des Absatzes 1 verbunden mit der obligatorischen Aussetzung und den weniger strengen Anforderungen der Absätze 2 und 3 verbunden mit fakultativer Aussetzung zu unterscheiden. Die übrigen Unterschiede wird sie kaum beachten oder gar die Beachtung begründen können. Sie wird in diesen Fällen fragen, ob durch weniger einschneidende Maßnahmen die Gefahr, der mit der Verhaftung begegnet werden soll, so erheblich vermindert wird, daß, wenn man ein gewisses Risiko in Kauf nimmt, erwartet werden kann, der Haftzweck werde auch ohne Haftvollzug erreicht werden. Es wäre erwünscht, daß bei einer Reform die Voraussetzungen für die Aussetzung des Vollzugs des Haftbefehls handlicher, einfacher und weniger nuancenreich gefaßt würden. 5. Grundsatz. Die Absätze 1 und 2 lassen die Aussetzung des Vollzugs des Haftbefehls gegen Maßnahmen zu, die weniger einschneidend sind als die Haft, und die geeignet sein müssen, die zu 4 angegebenen Erwartungen zu begründen. Die Maßnahmen werden meist in der Auferlegung von Pflichten und Beschränkungen (§116 Abs. 3 Nr. 1) bestehen, können aber auch einen anderen Inhalt haben, selbst Handlungen eines Dritten sein, wie sich aus § 116 a ergibt. Absatz 3 spricht von der Bedingung, daß der Beschuldigte bestimmte Weisungen befolgt, doch sagt das, da man Pflichten und Beschränkungen durch Weisungen auferlegen kann, nichts anderes. In den Absätzen 1 und 2 sind Beispielsfälle angegeben, in Absatz 3 und in § 72 Abs. 1 JGG nicht. Die Beispiele beziehen sich zwar auf den jeweils geregelten Fall; sie können aber auch in anderen Fällen als Beispiel dienen, wenn das sinnvoll ist. Die Sicherheitsleistung wird dabei grundsätzlich nur verwendet werden können, um Fluchtgefahr abzuwenden, weil sie nicht nur den Zweck hat, den ungestörten Gang der Untersuchung zu gewährleisten, sondern darüber hinaus sicherstellen soll, daß der zu Freiheitsstrafe oder zu einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung und Besserung Verurteilte diese auch antritt (§ 124 Abs. 1), ein Zweck, der nicht verfolgt wird, wenn die Sicherheitsleistung einen anderen Haftgrund abschwächen soll. Gesetzlich ausgeschlossen ist sie aber als sonstige Maßnahme des Absatzes 2 (OLG Hamburg NJW 1966 1329) oder als Inhalt einer Weisung nach Absatz 3 nicht 2 , wenn sie in den letzten Fällen auch die Verdunkelungsgefahr zu mindern regelmäßig ungeeignet sein wird. Dabei sollte auch ins Auge gefaßt werden, daß Verdunkelung regelmäßig nicht so klar zutage tritt wie Flucht und daher bei der Entscheidung, ob die Sicherheit verfallen sei, leicht Schwierigkeiten auftreten werden, zudem § 124 Abs. 1 nur gilt, wenn die Sicherheit bei Fluchtgefahr angeordnet worden ist. Aus diesem Grunde muß, wenn die Sicherheitsleistung für die Fälle der Absätze 2 und 3 bestellt werden soll, der Auflagenbeschluß genau regeln, wann die Sicherheit verfallt. Die Sicherheitsleistung kann auch der Sicherung in bezug auf mehrere Haftgründe dienen (OLG Hamburg a. a. O.), doch wird, weil die gesetzliche Regelung unzulänglich ist, größte Zurückhaltung am Platze sein.

1 2

Begrdg. BTDrucks. IV 178, S. 23; o. 3 Abs. 3. A. A. E b S c h m i d t 13; zweifelnd K l 6 D.

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Neunter Abschnitt. Verhaftung und vorläufige Festnahme (Dünnebier)

§ 116 Anm. 6

6. Die Beispielfalle a) Absatz 1. Nr. 1: Die Anweisung wird in der Regel die Meldung auf einem bestimmten Polizeirevier zum Inhalt haben, deren Beamte dazu gewohnheitsrechtlich zur Verfügung stehen. Die Anweisung, der Beschuldigte solle sich bei der Strafverfolgungsbehörde melden, setzt, da das Gericht über deren Personal nicht verfügen kann, das Einverständnis dieser Behörde voraus. Nr. 2: O b der Beschuldigte die Anweisung befolgt, einen bestimmten Ort nicht unerlaubt zu verlassen, ist nicht kontrollierbar. Die Aussetzung des Vollzugs kommt daher einer Entlassung auf Ehrenwort nahe; sie setzt ein Vertrauen des Richters in den Beschuldigten voraus. Verspricht der Beschuldigte, der Anweisung nachzukommen, so kann darin bei ehrenhaften Menschen eine größere Sicherung liegen, als sie etwa mit der Meldeauflage zu erzielen ist. Nr. 3: Der Anweisung, die Wohnung nur unter Aufsicht zu verlassen, wird namentlich bei Jugendlichen Bedeutung zukommen. Bei Erwachsenen wird es einer sehr sorgfaltigen Auswahl der Aufsichtsperson bedürfen, damit die Aufsicht nicht zur Demütigung wird. Die Aufsichtsperson muß zudem in der Lage sein, die Kontrolle zu übernehmen, daß der Beschuldigte nicht ohne seine Aufsicht handelt. Die Aufsicht braucht nicht in steter Begleitung zu bestehen. Es kann u. U. genügen, daß der Beschuldigte sich auf dem Wege zur Arbeit und von ihr bei der Aufsichtsperson meldet, wenn diese zugleich die Gelegenheit hat, durch Stichproben festzustellen, daß der Beschuldigte auch wirklich zur Arbeit geht. Der Katalog der Maßnahmen ist nicht abschließend. Die Umstände des Einzelfalles lassen dem Richter R a u m zu sonstigen Maßnahmen, die durchaus einen freiwilligen Verzicht auf die Ausübung von Grundrechten bewirken können, ihre Grenze aber in der Achtung der Menschenwürde finden (vgl. § 305a Abs. 1 Satz 2; K l e i n k n e c h t M D R 1965 784 mit Beispielen). Danach ist z. B. die Entlassung auf Ehrenwort zulässig, aber kaum empfehlenswert, weil sie zu Berufungen führt, denen nur mit peinlicher Begründung begegnet werden kann. Als weitere M a ß n a h m e kommt die Verpflichtung in Betracht, den Reisepaß abzuliefern. Zwar hindert das nicht die Flucht ins Ausland, erschwert es dem Beschuldigten aber, dort Arbeit aufzunehmen. Damit wird bei einem auf Verdienst angewiesenen Beschuldigten die Fluchtgefahr dann erheblich vermindert, wenn er eine ordentliche Lebensführung gewöhnt ist. Will das Gericht dem Beschuldigten einen Auslandsaufenthalt gestatten, so kann es anordnen, daß er einen Zustellungsbevollmächtigten zu bestellen hat. Alle M a ß n a h m e n können einzeln oder mit anderen verbunden angeordnet werden. Die Handlungen und Unterlassungen müssen, auch wenn sie auf einer Anweisung beruhen, stets freiwillig erbracht werden, wenn auch unter dem Druck, daß sonst die Haft fortbestehen werde. Die „Beschlagnahme" des Passes ist unzulässig. Die Auflage, den Personalausweis abzugeben, kann dem Beschuldigten nicht erteilt werden, weil er dadurch die Möglichkeit verlieren würde, sich auszuweisen. Diesem Zweck soll der Ausweis aber gerade dienen 3 . Zwar könnte sich der Beschuldigte bei Behörden und Beamten darauf berufen, daß er seinen Ausweis bei einer Behörde hinterlegt habe, doch könnten schon dabei (Kontrolle auf der Straße) Mißhelligkeiten eintreten. Mit dem Zweck der Auflage wären aber die Schwierigkeiten nicht mehr zu vereinbaren, die dem Beschuldigten bei Abgabe seines Ausweises erwachsen würden, wenn er ihn benötigt, um ein Arbeitsverhältnis einzugehen, Kredit aufzunehmen und ähnl. Der Praxis wäre Abhilfe erwünscht. Sie könnte aber nur der Gesetzgeber schaffen, indem er die Möglichkeit einführte, die Gültigkeit von Ausweisen oder Ersatzausweisen auf das Inland zu beschränken 4 . Die Sicherheitsleistung (Nr. 4) ist bei § 116 a behandelt. b) Absatz 2: Die Anweisung, mit Mitbeschuldigten, Zeugen oder Sachverständigen keine Verbindung aufzunehmen, kann mit der nach Absatz 1 Nr. 2 gekoppelt werden, namentlich wenn der Beschuldigte kein Telefon hat. Mit der genannten Maßregel hat sie gemeinsam, daß sie ein Vertrauen des Richters voraussetzt. Auch die Anweisung nach Absatz 1 Nr. 3 kann in Betracht kommen, die unter Nr. 1 nur in Ausnahmefällen, nämlich 3 4

§ 1 Abs. 1 des Gesetzes über Personalausweise vom 19. 12. 1950 - BGBl. III 210 - 1. Zu der Streitfrage vgl. O s ke und F uh r m a n n JR 1964 454; K1 4 B.

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§ 116 Anm. 7 , 8

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

wenn dadurch die persönliche Verbindung mit weit entfernt wohnenden Zeugen unterbunden würde und eine sonstige Verbindung (schriftlich oder durch Mittelsmänner) als Verdunkelungsmöglichkeit ausschiede. Auch das Verbot, mit Personen zu verkehren, die als Mittelsmänner einer Verdunkelung in Betracht kommen, ist zulässig; aber je weiter man den Kreis zieht, um so weniger kann überwacht werden, ob die Anweisung beachtet wird. Der Verkehr mit dem Verteidiger darf nicht verboten werden, wohl aber kann ein Verteidiger, der als Mitbeschuldigter hinreichend verdächtig ist, ausgeschlossen werden. Der Ausschluß darf aber nicht durch ein Verbot des Verkehrs ersetzt werden (III 13 Abs. 2 zu § 138). c) In den Fällen des Absatzes 3 kann bei einem Sittlichkeitsverbrecher, der sich an seinen Töchtern vergangen hat, die Weisung, auswärts Wohnung und Arbeit zu nehmen, bei Verbrechern mit gesteigertem Geschlechtstrieb diejenige, sich in eine Anstalt zu begeben oder sich einer ärztlichen Behandlung zu unterziehen, den Haftzweck sichern. d) Bei Jugendlichen kommt als vorläufige Anordnung über die Erziehung namentlich die Unterbringung in einem Erziehungsheim in Betracht (§ 71 Abs. 2 JGG), das geeignet ist, den Jugendlichen an der Flucht oder Verdunkelung zu hindern. Eine solche Unterbringung ist während des Strafverfahrens gegen einen Jugendlichen auch zulässig, um einem Mißbrauch der Freiheit zu neuen Straftaten entgegenzuwirken oder um den Jugendlichen vor einer weiteren Gefährdung seiner Entwicklung zu bewahren. Diese Gründe rechtfertigen aber auf der anderen Seite in keinem Fall, die Untersuchungshaft gegen einen Jugendlichen anzuordnen. In den Fällen von Absatz 3 (Wiederholungsgefahr bei Sittlichkeitsverbrechern) wird regelmäßig die Unterbringung in einem Erziehungsheim die einzige Maßnahme zur Aussetzung der Haftvollstreckung sein, die sinnvoll angewendet werden kann. 7. Wirkung der Aussetzung. Nach dem Wortlaut des Gesetzes wird der Vollzug des Haftbefehls, also die Verwahrung des Beschuldigten in der Untersuchungshaftanstalt, ausgesetzt. Demgegenüber stellt der Wortlaut des § 72 Abs. 1 J G G auf ein Absehen von der Vollstreckung ab. Beides besagt dasselbe: Der Inhalt des Haftbefehls, die Anordnung der Untersuchungshaft (§ 114 Abs. 1), wird nicht mehr vollstreckt. Vollstreckt, etwa durch das Überwachen von Meldeterminen, wird der Aussetzungsbeschluß. Der Haftbefehl bleibt, wie durch den Wortlaut eindeutig klargestellt, bestehen. Die Wirkung der Aussetzung tritt im allgemeinen mit der Entscheidung ein, doch gelten für die Sicherheitsleistung Besonderheiten (6 zu § 116a). Auch sonst kann das Gericht die Entlassung aus der Haft von dem Eintritt eines Ereignisses abhängig machen, so z. B. von der Zusage einer Anstalt, einen Beschuldigten aufzunehmen. 8. Beim Haftbefehl nach § 112 Abs. 4 ist im Gesetz keine Aussetzung des Vollzugs vorgesehen. Das war bei einem Haftbefehl sinnvoll, der bei äußerster Beschränkung der Zulässigkeit nur dann ergehen durfte, wenn es unerträglich war, den Beschuldigten in Freiheit zu lassen. Denn wenn das Freisein verhütet werden sollte, konnte es nicht über § 116 gewährt werden 5 . Das Bundesverfassungsgericht hat jedoch bindend (§ 31 Abs. 1 BVerfGG) entschieden, daß nach dem verfassungsrechtlichen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit auch bei einem auf § 112 Abs. 4 gestützten Haftbefehl eine Haftverschonung in entsprechender Anwendung des § 116 möglich ist (BVerfGE 19 342 = NJW 1966 243). Das ist wiederum folgerichtig; denn der Beschluß des Bundesverfassungsgerichts führt im Ergebnis die durch das Strafprozeßänderungsgesetz abgeschafften apokryphen Haftgründe wieder ein. Es verlangt für einen Haftbefehl nach § 112 Abs. 4 geringere Voraussetzungen als für solche nach § 112 Abs. 2 und 3, und muß daher den für diese Fälle geltenden § 116 auch auf den Fall des § 112 Abs. 4 anwenden. Da das Gericht von der „möglichen" Haftverschonung spricht, dürfte es die entsprechende Anwendung des Absatzes 3 ins Auge gefaßt haben (der Richter „kann" . . aussetzen). Doch ist der Unterschied zu Absatz 1 (der Richter „setzt.. aus") nur gering (3 Abs. 3). Wegen der verfassungsrechtlichen Gültigkeit des § 112 Abs. 4 s. 16 b zu § 112. 3

Vgl. P e t e r s § 47 A IV, und zu den zu § 112 Abs. 4, § 116 entstandenen, für § 116 inzwischen erledigten Streitfragen D ü n n e b i e r NJW 1966 231 und die dort angegebene Literatur und Rechtsprechung; S c h m i d t - L e i c h n e r NJW 1966 425.

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Neunter Abschnitt. Verhaftung und vorläufige Festnahme (Dünnebier)

§116 Anm. 9, 10

9. Widerruf (Absatz 4). Das Gericht ist an seine Beurteilung der Umstände, auf denen die Vollzugsaussetzung beruht, gebunden. Es kann sie nicht, etwa in neuer Besetzung, bei gleichbleibenden Umständen ändern und den Vollzug der Untersuchungshaft anordnen, weil es inzwischen den Erfolg der getroffenen Maßnahmen weniger günstig beurteilt als zur Zeit ihrer Anordnung. Andern sich indessen die Verhältnisse, dann hat das Gericht die Frage der Vollzugsaussetzung erneut zu prüfen. Ist durch die Veränderung der Haftgrund beseitigt, etwa durch Heirat die Fluchtgefahr oder durch Sachaufklärung die Verdunkelungsgefahr, dann hat das Gericht den Haftbefehl und die bei der Vollzugsaussetzung getroffenen Maßnahmen aufzuheben (§ 123 Abs. 1 Nr. 1). Hat sich dagegen die Lage verschlechtert, kann der Richter die ursprünglich angeordneten Maßnahmen ändern, namentlich verschärfen, z. B. die Sicherheit erhöhen. Begründen neu hervorgetretene Umstände die Befürchtung, der Beschuldigte werde sich dem Verfahren entziehen, er werde auf Zeugen einwirken, er werde, wenn er als Sittlichkeitsverbrecher verfolgt wird, weitere Sittlichkeitsverbrechen begehen, dann hat das Gericht den Vollzug oder den Wiedervollzug des Haftbefehls anzuordnen. Nach Vollzug des Haftbefehls hat es die zur Abwendung der Haft getroffenen Maßnahmen aufzuheben (§ 123 Abs. 1 Nr. 2), doch bestehen keine Bedenken, wenn es das in geeigneten Fällen gleichzeitig tut. Eine solche Verbindung wird sich empfehlen, wenn mit Sicherheit feststeht, daß der Haftbefehl ohne Schwierigkeit vollzogen werden kann, aber auch dann, wenn ohnehin nicht mehr zu erwarten ist, daß der Beschuldigte den Anweisungen nachkommt. Über die Sicherheit ist stets gesondert nach den §§ 123, 124 zu entscheiden. — Die Maßnahmen sind auch dann aufzuheben, wenn eine in dem Verfahren erkannte Freiheitsstrafe oder Maßregel der Sicherung und Besserung vollzogen wird (§ 123 Abs. 1 Nr. 2). 10. Widerrufsumstände. Die soeben erwähnten neu hervorgetretenen Umstände können sich nicht auf den Tatverdacht beziehen. Dieser mußte dringend gewesen sein, als der Haftvollzug ausgesetzt wurde — sonst hätte der Haftbefehl aufgehoben werden müssen —, und dringender kann er nicht werden. Wohl aber kann es ein neuer Umstand sein, wenn neue Taten (OLG Karlsruhe Amtsbl. Baden-Württemberg 1963 63) oder Einzelakte einer fortgesetzten Handlung aufgedeckt werden. Meist werden die Umstände jedoch die Haftgründe berühren: Tritt zur Fluchtgefahr auch noch Verdunkelungsgefahr, dann können sich die getroffenen Maßnahmen als unzulänglich erweisen. Verschärft sich die Fluchtgefahr, dann können die bisher bestehenden Maßnahmen unwirksam sein, den Zweck der Untersuchungshaft auch jetzt noch zu erreichen. Eine solche Verschärfung liegt auf jeden Fall vor (Nr. 2), wenn der Beschuldigte Anstalten zur Flucht trifft, d. h. eine Veränderung seiner Umstände in die Wege leitet, die es den Strafverfolgungsbehörden unmöglich machen soll, seiner habhaft zu werden. Es ist selbstverständlich, daß es den Fluchtveranstaltungen gleichsteht, wenn der Beschuldigte tatsächlich geflohen ist oder sich verborgen hat; wenn der Beschuldigte auf Ladungen ausbleibt, ohne sich genügend zu entschuldigen. Unter Ladungen sind dabei solche zu gerichtlichen Terminen zu verstehen, zu denen der Beschuldigte erscheinen muß, gleichviel ob sie an den Beschuldigten oder an seinen Zustellungsbevollmächtigten (§ 116a Abs. 3) gerichtet waren. Bei den beiden ebengenannten Widerrufsgründen muß zwingend der Vollzug des Haftbefehls angeordnet werden. L o b e - A l s b e r g (III zu § 120) sprechen deshalb von einer gesetzlichen Vermutung, doch enthalten die Merkmale „Anstalten . . . trifft" und „ohne genügende Entschuldigung" hinreichend Raum für eine richterliche Wertung, die indessen immer nur in der Richtung angestellt werden kann, ob die „gesetzliche Vermutung", der Zweck der Untersuchungshaft könne nunmehr ohne Vollzug des Haftbefehls nicht mehr erreicht werden, im Einzelfalle auch tatsächlich zutrifft. Die Anordnung des Vollzugs ist keine Prozeßstrafe für enttäuschtes Vertrauen, sondern Sicherung des Zweckes der Untersuchungshaft. Sie ist daher nicht zulässig, wenn zwar der Beschuldigte den ihm auferlegten Pflichten gröblich zuwiderhandelt (Nr. 1), aber der Haftgrund inzwischen weggefallen ist. Auch sonst ist besonders sorgfaltige Wertung erforderlich, wenn die Frage zu beurteilen ist, ob der Beschuldigte den ihm auferlegten Verpflichtungen und Beschränkungen in gröblicher Weise zuwidergehandelt hat (Nr. 1). Dabei wird mehr gefordert als ein Verstoß aus Versehen, Unmut oder Verzweiflung, wenn es auch nicht auf böse Gesinnung ankommt; dauernde Schlamperei kann durchaus als gröbliche Zuwiderhandlung gewertet werden. 713

§ 1 1 6 Anm. 11,12 § 116a

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

Die Nummer 3 umfaßt die Nrn. 1 und 2, weil die dort aufgeführten Handlungen neu hervorgetretene Umstände sind, und gibt im übrigen Raum, alle Veränderungen der Tatsachengrundlage für die Aussetzung zu berücksichtigen. Dabei ist nochmals zu betonen, daß neu hervorgetretene Umstände es nicht stets erforderlich machen, den Beschuldigten zu verhaften. Es kann ausreichen, die Beschränkungen zu verschärfen; es kann aber auch notwendig werden, den Haftbefehl aufzuheben. 11. Verfahren. Das Gericht entscheidet über die Aussetzung des Vollzugs auf Antrag des Beschuldigten, der Staatsanwaltschaft oder von Amts wegen, über die Anordnung des Vollzugs auf Antrag der Staatsanwaltschaft oder von Amts wegen. Es hat die Frage der Aussetzung, bei Jugendlichen des Absehens von der Vollstreckung, bei jeder Haftentscheidung zu prüfen. Vor der Entscheidung ist die Staatsanwaltschaft zu hören (§ 33), der Beschuldigte dann, wenn nicht — was der Regelfall sein wird — anzunehmen ist, daß er einer in Aussicht genommenen Maßnahme nachkommen wird. Die Entscheidung ergeht als Beschluß. Der Beschluß ist zu begründen (§ 34), doch können längere Ausführungen weder bei der Ablehnung noch bei der Bewilligung gemacht werden, weil letztlich eine schwer in Worte zu fassende Abwägung ausschlaggebend ist. Jedoch wird die Begründung bei der Anordnung des Vollzugs ausführlicher sein (KG JR 1956 192). Der Aussetzungsbeschluß kann, da durch seine Bekanntmachung keine Frist in Lauf gesetzt wird, formlos mitgeteilt werden (§35 Abs. 2). Im Hinblick auf die Folgen, welche die Zuwiderhandlung gegen auferlegte Pflichten oder Beschränkungen nach sich zieht, ist jedoch bei Beschlüssen, die auf Aussetzung des Vollzugs oder bei Jugendlichen auf Absehen von der Vollstreckung lauten, in der Regel die förmliche Zustellung vorzuziehen. Wegen der Zuständigkeit s. § 126. Zuständig ist auch das zur Entscheidung über eine Beschwerde angegangene Beschwerdegericht. Gegen die Entscheidungen ist, wenn sie nicht von einem Strafsenat als Rechtsmittelgericht erlassen werden (§ 304 Abs. 4), Beschwerde zulässig, auch wenn sie solche eines erkennenden Gerichts sind (§ 304 Abs. 1, § 305 Satz 2). Gegen Beschwerdeentscheidungen des Landgerichts und des erstinstanzlich entscheidenden Oberlandesgerichts ist die weitere Beschwerde zulässig (§ 310 Abs. 1). Denn Entscheidungen nach § 116 haben die Vollstreckung eines Haftbefehls zum Gegenstand (OLG Nürnberg GA 1961 157). Sie sind damit Entscheidungen über die Verhaftung (§ 305 Satz 2); Beschlüsse des Landgerichts darüber betreffen die Verhaftung (§ 310 Abs. 1). Im Falle der Anordnung des Vollzugs ist der Haftbefehl wieder zu vollstrecken. Schon vor dem Widerruf ist bei Gefahr im Verzug vorläufige Festnahme statthaft. Das Verfahren der §§ 114 b ff. beginnt. War der Beschuldigte schon in Haft, so beginnt es von neuem. 12. Mehrere Haftbefehle. Die Aussetzung des Vollzugs und bei Jugendlichen des Absehens von der Vollstreckung haben Wirkung nur in dem Verfahren, in dem sie bewilligt worden sind. Sie haben daher, wenn in mehreren Verfahren Haftbefehle ergangen oder zu erwarten sind, für den Beschuldigten in der Regel nur dann Bedeutung, wenn er in allen Verfahren Haftverschonung erfahrt. Dazu wird er entsprechende Anträge zu stellen haben. Wenn auch, anders als bei der Gewährung sicheren Geleits (6 Abs. 4 zu § 295), kein amtliches Interesse daran besteht, daß sich die beteiligten Gerichte von Amts wegen verständigen, so kann das doch durch die Fürsorgepflicht für den Beschuldigten, aber auch aus Gründen der Zweckmäßigkeit, jedenfalls dann geboten sein, wenn eine Bewilligung sämtlicher Anträge zu erwarten ist.

§ 116a (1) Die Sicherheit ist durch Hinterlegung in barem Geld, in Wertpapieren, durch Pfandbestellung oder durch Bürgschaft geeigneter Personen zu leisten. (2) Der Richter setzt Höhe und Art der Sicherheit nach freiem Ermessen fest. (3) Der Beschuldigte, der die Aussetzung des Vollzugs des Haftbefehls gegen Sicherheitsleistung beantragt und nicht im Geltungsbereich dieses Gesetzes wohnt, ist verpflichtet, eine im Bezirk des zuständigen Gerichts wohnende Person zum Empfang von Zustellungen zu bevollmächtigen. 714

Neunter Abschnitt. Verhaftung und vorläufige Festnahme (Dünnebier)

§ 116 a Anm. 1, 2

Entstehungsgeschichte: Die Absätze 1 und 2 sind inhaltlich unverändert, sprachlich geringfügig geändert durch Art. 1 Nr. 1 StPÄG. Durch dieselbe Vorschrift sind die Worte „Geltungsbereich dieses Gesetzes" an die Stelle der früheren Fassung „Inland" gesetzt worden. Bezeichnung bis 1964: § 118. 1. Zweck. Nach § 116 Abs. 1 muß der Richter den Vollzug eines Haftbefehls, der lediglich wegen Fluchtgefahr gerechtfertigt ist, aussetzen, wenn Maßnahmen, die weniger einschneidend sind als die Untersuchungshaft, die Erwartung hinreichend begründen, daß der Haftzweck auch durch sie erreicht werden kann. Als Beispielsfall ist in Nr. 4 die Leistung einer angemessenen Sicherheit durch den Beschuldigten oder einen anderen genannt. Während die sonstigen Maßnahmen dem Zweck dienen, die Anwesenheit des Beschuldigten während der Untersuchung sicherzustellen, soll durch die Sicherheitsleistung darüber hinaus auch der Antritt einer erkannten Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung oder Besserung unmittelbar sichergestellt werden (§ 124 Abs. 1), ein Ziel, dem andere Maßnahmen nur mittelbar förderlich sind. Weitere Zwecke verfolgt sie indessen nicht. Sie verfallt insbesondere nicht — wie der Wortlaut des § 125 Abs. 1 eindeutig besagt —, wenn der Verurteilte eine Geldstrafe nicht bezahlt oder eine Ersatzfreiheitsstrafe nicht antritt (II 2 und 4 zu § 124) oder die Gerichtskosten nicht begleicht (BayObLGSt. 7 330). Während in den anderen Fällen des § 116 (Absatz 1 Nr. 1 bis 3) der Vollzug des Haftbefehls von Amts wegen ausgesetzt werden kann und dem Beschuldigten Pflichten und Beschränkungen durch Anweisungen auferlegt werden können, darf der Haftvollzug gegen Sicherheitsleistung nur auf Antrag (Absatz 3) ausgesetzt werden. Der Beschuldigte kann nicht zur Sicherheitsleistung gezwungen werden. Es darf auch nicht eine Sicherheit festgesetzt und dem Beschuldigten die Wahl zwischen Sicherheit und Haft gelassen werden, wie das Art. 5 Abs. 3 Satz 3 MenschRKonv. zuläßt. Es steht vielmehr allein im Belieben des Beschuldigten, ob er gegen Sicherheitsleistung aus der Haft entlassen werden will. K l e i n k n e c h t folgert aus dem Wortlaut des § 116, daß es für die Aussetzungsanordnung nicht auf das Einverständnis oder den Antrag des Beschuldigten ankomme (Kl 4D). Daß der Antrag erforderlich ist, ergibt sich indessen eindeutig aus dem klaren Wortlaut des Absatzes 3, der zugleich mit § 116 erlassen worden ist und als späteres Gesetz auch der Menschenrechtskonvention für die nationale Rechts an Wendung vorgeht (8 vor § 112). Ohne Einverständnis des Beschuldigten kann die Auflage einer Sicherheitsleistung auch nicht wirksam gemacht werden. Die gelegentlich immer wieder aufgeworfene Frage, ob die Haftverschonung gegen Sicherheitsleistung deshalb gegen den Gleichheitsgrundsatz verstoße, weil sie dem Vermögenden vor dem Vermögenslosen (wegen der Bemessung bei geringem Vermögen s. 3 Abs. 1) einen Vorzug einräume, ist zu verneinen (OLG Bamberg MDR 1958 788). Zwar liegt die Ungleichheit auf der Hand. Das Grundgesetz geht aber von der bestehenden Wirtschaftsordnung aus, die wirtschaftliche Ungleichheiten kennt. Daher muß die Rechtsordnung zwar die Ausübung von Rechten von der Wirtschaftslage unabhängig stellen, kann aber dem Vermögenden nicht Aushilfen nur deshalb versagen, weil der Vermögenslose sich ihrer nicht bedienen kann ( T i e d e m a n n GA 1964 373). 2. Als Arten der Sicherheitsleistung führt das Gesetz abschließend auf: Hinterlegung von barem Geld oder von Wertpapieren, ohne daß es auf Mündelsicherheit ankäme, in beiden Fällen des In- oder Auslands, regelmäßig nach der Hinterlegungsordnung, aber auch bei einem Treuhänder, z. B. einer Bank; Pfandbestellung. Der Ausdruck ist nicht im bürgerlich-rechtlichen Sinne zu verstehen, umfaßt vielmehr jede Art der Sicherung an beweglichen (Pfand, Sicherungsübereignung) und unbeweglichen Sachen (Grundschulden) sowie an Vermögenswerten (Sicherungsabtretung); Bürgschaft geeigneter Personen. Die Bürgschaft ist, schon weil eine Schuld des Beschuldigten fehlt, nicht nach bürgerlichem Recht zu beurteilen. Daher bedarf sie nicht der Schriftform (a. A. OLG Celle GA 60 480) und hat der Bürge nicht die Einrede der Vorausklage. Sie kann als aufschiebend bedingtes selbstschuldnerisches Zahlungsversprechen abgegeben werden. In der Regel wird die „Bürgschaft" aber darin bestehen, daß der Dritte Geld oder Wertpapiere bei einer Bank hinterlegt und ihr gegenüber den Staat ermächtigt, die Herausgabe 715

§ 116a Anm. 3 , 4

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

zu verlangen. Der Staat kann von dieser Ermächtigung erst nach Verfall der Sicherheit (§ 124) Gebrauch machen. In dem zuletzt genannten Falle haftet der Dritte nur mit der hinterlegten Sache, im ersten mit seinem gesamten Vermögen. Der darin liegende Vorteil wird durch den Nachteil aufgehoben, daß eine besondere Vollstreckung notwendig ist. Die Bürgschaft darf nur angenommen werden, wenn sich der Beschuldigte mit ihr einverstanden erklärt, d. h. den nach Absatz 3 erforderlichen Antrag stellt. Denn nur, wenn der Beschuldigte einwilligt, kann von der Bürgschaft die seelische Einwirkung auf das Verhalten des Beschuldigten ausgehen, die den Sinn der Sicherheitsleistung bildet ( L o b e - A l s b e r g 4 zu § 118). Die verschiedenen Arten der Sicherheit stehen dem Gericht zur Wahl, nicht dem Beschuldigten. Das Gericht kann sie nebeneinander anordnen und kann sich auch von dem Beschuldigten und einem Dritten nebeneinander Sicherheiten bestellen lassen. 3. Bemessung. Die Sicherheit des Beschuldigten ist nach Art und Höhe so zu bemessen, daß anzunehmen ist, dieser werde lieber das Verfahren und die Strafe als den Verlust der Vermögenswerte hinnehmen. Dazu muß der Verlust empfindlich sein. Zu diesem Zwecke ist die Sicherheit nach dem Vermögen des Beschuldigten zu bemessen. Ist das Vermögen gering (Sparkassenbuch), kann auch eine niedrige Sicherheitsleistung den Beschuldigten von der Flucht abhalten. Es wäre verfehlt, nur absolut beträchtliche Summen als Sicherheitsleistung zuzulassen Die Sicherheit Dritter wird nur zuzulassen sein, wenn nach der Persönlichkeit des Beschuldigten und nach seinen Beziehungen zu dem Dritten zu erwarten ist, er werde diesen nicht durch Verlust der Sicherheit zu Schaden kommen lassen. Dazu muß, damit der Dritte die Sicherheit nicht als ein Freundschaftsgeschenk ansehen kann, die Bürgschaftssumme nach dem Vermögen des Leistenden festgesetzt werden. In bezug auf den Beschuldigten, der kein Vermögen, sondern seine Ehre aufs Spiel setzt, verlangt die Form der Bürgschaft geeigneter Personen ein gewisses Vertrauen. Bei der Bemessung der Sicherheit ist lediglich der Wunsch des Beschuldigten, die verstrickten Vermögenswerte sich oder dem Bürgen zu erhalten, dem Verlangen des Beschuldigten gegenüberzustellen, sich einer Bestrafung zu entziehen. Diese Abwägung ist nicht begründbar; daher gesteht das Gesetz dem Richter für die Festsetzung von Art und Höhe der Sicherheitsleistung freies Ermessen zu. Indessen ist auch das „freie" Ermessen nicht ohne Bindung auszuüben. So dürfen keine übermäßigen Sicherheiten verlangt werden; insoweit hat auch die zu erwartende Strafe einen Einfluß auf die Höhe der Sicherheit. Dagegen ist die bloße Angleichung der Sicherheit an die Höhe einer etwa zu erwartenden Geldstrafe — ohne die im ersten Satze geforderte Abwägung — oder die Rücksicht auf Gerichtskosten und Ersatzansprüche des Verletzten nicht zulässig. 4. Zustellungsvollmacht (Absatz 3). Für die prozessuale Last, einen Zustellungsbevollmächtigten zu bestellen, stellt das Gesetz zwei Voraussetzungen auf. Die erste ist ein Antrag des Beschuldigten auf Aussetzung des Vollzugs des Haftbefehls gegen Sicherheitsleistung. Grundsätzlich ist mit dem Antrag sowohl ein Bevollmächtigter zu benennen als auch die Annahme des Mandats nachzuweisen. Die Bestellung eines Zustellungsbevollmächtigten ist indessen nicht 2 eine Verfahrensvoraussetzung, sondern eine im Gesetz besonders genannte Maßnahme (§ 116). Demzufolge kann das Gericht einen Antrag, dem es nachkommen möchte, zwar zurückweisen, wenn in ihm kein Zustellungsempfanger und dessen Mandatsannahme nachgewiesen sind; es braucht das aber nicht. Statt dessen kann es dem Beschuldigten Gelegenheit geben, die Benennung nachzuholen, kann aber auch dem Antrag alsbald stattgeben und dem Beschuldigten in dem Aussetzungsbeschluß auferlegen, einen Zustel1

T i e d e m a n n ( G A 1964 374) behauptet eine — gegen Art. 3 Abs. 1 G G verstoßende — Praxis, von einer niedrigen Sicherheitsleistung so gut wie keinen Gebrauch zu machen. Die Behauptung ist nicht nachprüfbar, doch darf nicht übersehen werden, daß die Entlassung gegen Sicherheitsleistung von einem Antrag des Gefangenen abhängt, der ihm freilich nahegelegt werden kann. Gerichtliche Entscheidungen, die eine niedrige Sicherheit allein wegen ihrer absoluten Geringfügigkeit ablehnen, obwohl ihr Verlust den Beschuldigten empfindlich treffen würde, sind nicht bekannt geworden.

2

So L o b e - A l s b e r g II; E b S c h m i d t 4, beide zu § 119.

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§ 116 a Anm. 5—7

lungsbevollmächtigten zu bestellen. Die Freilassung hängt dann davon ab, daß der Beschuldigte diese Pflicht erfüllt hat ( H ä r t u n g 1, 3 zu § 119). Die zweite Voraussetzung ist, daß der Beschuldigte nicht im Geltungsbereich der Strafprozeßordnung, d. h. in der Bundesrepublik oder in Berlin-West wohnt. Es kommt nicht auf den Wohnsitz an, söndern darauf, daß der Beschuldigte tatsächlich für eine auf eine gewisse Dauer berechnete Zeit außerhalb des Geltungsbereichs der Strafprozeßordnung seinen Aufenthalt genommen hat. Der Zweck der Regelung ist, die oft nicht unerheblichen Erschwernisse einer Zustellung im Auslande sowie in der D D R und in Berlin-Ost zu vermeiden, wenn dem fluchtverdächtigen Beschuldigten schon der Vollzug der Untersuchungshaft erspart und der weitere Aufenthalt außerhalb der Bundesrepublik nachgelassen wird. 5. Zustellungsbevollmächtigter (6a zu § 37) ist eine verhandlungsfahige Person, meist ein Rechtsanwalt, die der Vollmachtgeber ermächtigt hat, Zustellungen für ihn in Empfang zu nehmen, und die bereit ist, solche Zustellungen entgegenzunehmen. Dem Zweck der Vorschrift, einen außerhalb der Bundesrepublik und Berlin-West wohnenden Beschuldigten für die Zustellung so zu behandeln, als ob er dort wohnte, hätte es — zumal im Hinblick auf die Freiheit der Anwaltswahl — entsprochen, das Wohnen des Zustellungsbevollmächtigten im Geltungsbereich der Strafprozeßordnung zu verlangen. Das Gesetz geht aber weiter und verlangt aus Gründen der Geschäftserleichterung, daß der Bevollmächtigte im Bezirk des zuständigen Gerichts wohnt. Hat indessen das Gericht seinen Sitz selbst außerhalb seines Bezirks, wie das Landgericht München II, so muß auch eine Wohnung am Gerichtssitz für ausreichend erachtet werden. Auch sonst kann das Gericht einen außerhalb seines Bezirks wohnenden Bevollmächtigten zulassen. Zwar ist der Beschuldigte verpflichtet, wenn das Gericht das verlangt, sich auf die Wahl eines im Gerichtsbezirk ansässigen Bevollmächtigten zu beschränken. Dem Gericht schreibt das Gesetz keine gleiche Beschränkung vor. Indem das Gesetz von Wohnen und nicht vom Wohnsitz spricht, verlangt es über die Wohnungsanmeldung hinaus einen tatsächlichen, wenn auch nicht ununterbrochenen Aufenthalt an einem Ort des Gerichtsbezirks. Die Bevollmächtigung hat Wirksamkeit, bis die Sicherheit frei wird (§ 123 Abs. 2) oder verfallt (§ 124) oder bis das Strafverfahren durch den Tod des Beschuldigten endet (BayObLGSt. 21 100) in der Weise, daß alle für den Beschuldigten bestimmten Zustellungen an den Zustellungsbevollmächtigten bewirkt werden können. Er tritt, soweit Zustellungen in Betracht kommen, an die Stelle des Angeklagten (RGSt. 77 214). Dabei besteht kein Unterschied nach der Art oder dem Inhalt des Zustellungsstücks; dem Zustellungsbevollmächtigten können danach auch Ladungen (BGHSt. 10 63) und Urteile (RGSt. 77 212) zugestellt werden, § 145a Abs. 3 Satz 1 gilt nicht (§ 145a Abs. 1 Satz 2). Alle Zustellungen an den Zustellungsbevollmächtigten haben die Folge, als ob sie an den Beschuldigten selbst bewirkt worden wären. Diesem kann selbstverständlich jederzeit auch selbst zugestellt werden. Ersatzzustellung an den Zustellungsbevollmächtigten ist zulässig. 6. Die Wirkung der Sicherheitsleistung, nämlich die Aussetzung des Vollzugs, tritt ein, wenn die Sicherheitsleistung erbracht, ein Zustellungsbevollmächtigter ernannt, und nachgewiesen ist, daß er das Mandat angenommen hat. Im vorbereitenden Verfahren kann die Staatsanwaltschaft den Beschuldigten alsdann ohne weitere gerichtliche Entscheidung freilassen. Ist die öffentliche Klage erhoben, muß das Gericht die Entlassung anordnen und veranlassen 3 . Das Gericht hat das auch vor Klageerhebung zu tun, wenn die Staatsanwaltschaft sich der Entlassung enthält, weil sie Zweifel hat, ob die erbrachte Sicherheit die auferlegte ist oder weil das Gericht einen erst nachträglich benannten Zustellungsbevollmächtigten nocht nicht zugelassen hat. 7. Die Änderung der Verhältnisse kann auch zu einer Änderung der Maßnahmen führen (9 zu § 116). So können Kursänderungen von Wertpapieren oder ausländischen Geldsorten Anlaß bieten, die Sicherheit nominell zu verstärken, um sie ihrem Werte nach auf der ursprünglichen Höhe zu belassen. Dabei ist jedoch zu beachten, daß eine Sicherheit ihren 3

Wegen des Vollzugs der Entlassungsanordnung s. II 6 Abs. 3 zu § 120.

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§ 1 1 6 a Anm. 8

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

§ 117 Wert nicht nur aus ihrer absoluten Höhe erhält, sondern weitgehend aus ihrem Verhältnis zum Gesamtvermögen des Leistenden. Daher kann auch der Tod des Bürgen ein Anlaß sein, die Sicherheit in ihrer Höhe zu verändern, weil nunmehr auf die Vermögensverhältnisse des Erben abzustellen ist. Der Tod des Bürgen kann auch nötigen, den Haftbefehl zu vollziehen ( § 1 1 6 Abs. 4), wenn das besondere Vertrauensverhältnis zwischen Bürgen und Beschuldigtem, das den Beschuldigten zwingt, lieber seine Freiheit als seine Ehre zu verlieren, zu dem Erben nicht besteht. Wenn auch Ersatzzustellungen an den Zustellungsbevollmächtigten zulässig und wirksam sind, so braucht das Gericht sich auf Erschwerungen und Unsicherheiten bei der Zustellung nicht einzulassen. Es kann daher den Zustellungsbevollmächtigten als weggefallen ansehen, wenn er seine Bereitschaft, Zustellungen entgegenzunehmen, widerruft; wenn er ohne einen solchen Widerruf die Zustellung durch Verweigerung der Annahme erschwert; oder wenn er, ohne die Annahme zu verweigern, Zustellungen durch Abwesenheit in ihrer Wirkung unsicher (§ 44) macht. Dagegen muß, wenn das Verfahren auf das Gericht eines anderen Bezirks übergeht, der Bevollmächtigte nicht etwa deshalb abberufen werden, weil er nunmehr nicht mehr im Bezirk des zuständigen Gerichts wohnt; denn das Gericht ist in der Zulassung des Bevollmächtigten nicht beschränkt (5). Es ist aber, da die Vorschrift auf die Zweckmäßigkeit für das zuständige Gericht abstellt, berechtigt, einen Wechsel zu verlangen. 8. Widerruf. Die allgemeine Vorschrift, daß der Richter den Vollzug des Haftbefehls anordnet ( § 1 1 6 Abs. 4) und die getroffenen Maßnahmen aufhebt (§ 123 Abs. 1 Nr. 2), wenn die besonderen Umstände des § 116 Abs. 4 vorliegen, gilt zwar auch für die Aussetzung des Vollzugs gegen Sicherheitsleistung, jedoch mit der Besonderheit, daß nach den §§ 123, 124 entschieden wird, ob die Sicherheit freigeworden oder verfallen ist. Der Beschuldigte kann auch selbst bewirken, daß die Sicherheit frei wird. Zwar ist sie unkündbar, gleichviel ob der Beschuldigte oder ein Dritter sie bestellt hat 4 , doch können der Beschuldigte und der Dritte, dieser allerdings nur im Einverständnis mit dem Beschuldigten, sie freimachen: Traut der Beschuldigte sich nicht mehr die Kraft zu, seinem Fluchtbegehren zu widerstehen, oder benötigt er die Sicherheit zu anderen Zwecken, so muß er sich in die Haft begeben; vertraut ihm der Dritte nicht mehr oder will er über sein Vermögen anderweit verfügen, so muß er bewirken, daß der Beschuldigte sich stellt (3 zu § 123). Die Zustellungsvollmacht kann der Beschuldigte nicht zurücknehmen, der Bevollmächtigte kann die dem Beschuldigten und dem Gericht gegenüber übernommene Verpflichtung, Zustellungen entgegenzunehmen, nicht durch Vertrag mit dem Beschuldigten kündigen oder dem Gericht gegenüber einseitig aufgeben. Tritt indessen ein solcher Fall ein, dann handelt der Beschuldigte der Pflicht, einen empfangsbereiten Zustellungsbevollmächtigten zur Verfügung zu halten, zuwider. Die Zuwiderhandlung ist gröblich, wenn er nicht alsbald einen neuen, dem Gericht genehmen Bevollmächtigten benennt. Alsdann ist der Vollzug des Haftbefehls anzuordnen ( § 1 1 6 Abs. 4 Nr. 1).

§ 117 (1) Solange der Beschuldigte in Untersuchungshaft ist, kann er jederzeit die gerichtliche Prüfung beantragen, ob der Haftbefehl aufzuheben oder dessen Vollzug nach § 116 auszusetzen ist (Haftprüfung). (2) Neben dem Antrag auf Haftprüfung ist die Beschwerde unzulässig. Das Recht der Beschwerde gegen die Entscheidung, die auf den Antrag ergeht, wird dadurch nicht berührt. (3) Der Richter kann einzelne Ermittlungen anordnen, die für die künftige Entscheidung über die Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft von Bedeutung sind, und nach Durchführung dieser Ermittlungen eine neue Prüfung vornehmen. (4) Hat der Beschuldigte noch keinen Verteidiger, so wird ihm ein Verteidiger für die Dauer der Untersuchungshaft bestellt, wenn deren Vollzug mindestens drei Monate gedauert hat und die Staatsanwaltschaft oder der Beschuldigte oder sein gesetzlicher Vertreter es 4

A. A. — R ü c k n a h m e der Sicherheitsleistung statthaft — E b S c h m i d t 4 z u § 118.

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Neunter Abschnitt. Verhaftung und vorläufige Festnahme (Dünnebier)

§ 117 Anm. 1

beantragt. Über das Antragsrecht ist der Beschuldigte zu belehren. Die §§ 142, 143 und 145 gelten entsprechend. (5) Hat die Untersuchungshaft drei Monate gedauert, ohne daß der Beschuldigte die Haftprüfung beantragt oder Haftbeschwerde eingelegt hat, so findet die Haftprüfung von Amts wegen statt, es sei denn, daß der Beschuldigte einen Verteidiger hat. Entstehungsgeschichte: Die Vorschrift ist eingefügt durch Art. 1 Nr. 1 StPAG. Sie enthält Bruchstücke aus früheren Bestimmungen, die sich aber zumeist auf die mündliche Verhandlung bezogen. So stammt Absatz 2 aus § 115 e a. F., Absatz 4 aus § 115 d Abs. 4 a. F. Insgesamt aber ist die Vorschrift neu: Bisher hatte das Gericht von Amts wegen periodische Haftprüfungen anzustellen (§ 115a Abs. 1 bis 3), jetzt findet die Haftprüfung nur auf Antrag statt. Nach früherem Recht war bei dreimonatiger Untersuchungshaft bei mündlicher Verhandlung ein Verteidiger zuzuziehen und dazu dem Beschuldigten zu bestellen (§ 115 d Abs. 3 und 4), jetzt geschieht das für die Dauer der Untersuchungshaft. Materialien: BTDrucks. zu IV 1020, S. 2; BTProt. IV. 3109 A). Übersicht 1. Inhalt 2. Voraussetzungen (Absatz 1) a) Haftbefehl b) Haftvollzug 3. Antrag a) Antragsberechtigte b) Form 4. Ausschluß der Beschwerde (Absatz 2) a) Inhalt b) Unzulässigkeit 5. Gehör

6. 7. 8. 9.

10.

a) Staatsanwalt und Beschuldigter b) Verteidiger c) Kein Absehen vom Gehör Entscheidung Neue Prüfung (Absatz 3) Beschwerde Verteidiger (Absatz 4) a) § 140 Abs. 1 Nr. 5 b)§117Abs. 4 c) Verfahren Haftprüfung von Amts wegen (Absätz 5)

1. Inhalt. Der Prozeß ist ein Fortschreiten der Untersuchung, die zur Verurteilung des Angeklagten, zu seinem Freispruch oder zur Einstellung des Verfahrens führen kann. Demzufolge kann der dringende Tatverdacht sich entweder bestätigen oder abschwächen, oder es können Prozeßhindernisse entstehen oder bekanntwerden. Namentlich die Haftgründe sind im Verlaufe des Prozesses der Veränderung unterworfen: Die Fluchtgefahr kann durch eine Veränderung der Verhältnisse oder deshalb schwinden, weil die Untersuchungshaft im Verhältnis zu der zu erwartenden Strafe nur noch gering ist; die Verdunklungsgefahr kann durch Sachaufklärung gebannt sein. Deshalb haben Gericht und Staatsanwaltschaft gleicherweise in jeder Lage des Verfahrens ohne Anträge der Beteiligten und unabhängig vom Haftprüfungsverfahren von Amts wegen zu prüfen, ob der Haftbefehl aufgehoben (§ 120) oder sein Vollzug ausgesetzt werden kann (§ 116; § 72 Abs. 1 J G G ; Nr. 46 Abs. 1 RiStBV). Der Staatsanwalt darf deshalb in der Regel die Akten nicht aus der Hand geben; muß er es ausnahmsweise doch tun — etwa wenn sie ans Gericht oder zum Sachverständigen gehen müssen—, wird er die Ermittlungen an Hand von Hilfsakten fortsetzen und die Haftfrage stets im Auge behalten. Dieser dauernden stillschweigenden Haftprüfung wird in § 117 ein förmliches Haftprüfungsverfahren gegenübergestellt. In diesem wird der Richter, regelmäßig durch einen Antrag des Beschuldigten, zum rechtlichen Gehör (§33 Abs. 3), auf Antrag des Beschuldigten zur mündlichen Verhandlung (§ 118 Abs. 1), und zur ausdrücklichen Entscheidung gezwungen. Die Vorschrift würde falsch verstanden, wenn man sie dahin auslegte, daß die gesamte Haftprüfung — vom Falle des Absatzes 5 abgesehen — von der Initiative des Beschuldigten abhängig wäre. Nach wie vor ist es Pflicht des Richters und Staatsanwalts, dauernd die Haftfrage von Amts wegen zu prüfen. Der Inhalt des Absatzes 1 wäre entbehrlich. Denn es versteht sich von selbst, daß der Beschuldigte jederzeit eine richterliche Prüfung der Haftfrage verlangen kann, solange das Gesetz nicht, wie dies für die mündliche Verhandlung in § 118 Abs. 3 und 4 geschehen ist, Beschränkungen verordnet. Erst durch das rechtliche Gehör (§ 33 Abs. 3), durch die Ver719

§ 117 Anm. 2, 3

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bindung mit der mündlichen Verhandlung (§ 118) sowie durch die Vorschriften über die Verteidigerbestellung (Absatz 4) und über die Haftprüfung von Amts wegen (Absatz 5) gewinnt § 117 seinen eigentlichen Inhalt. 2. Voraussetzungen (Absatz 1). a) Haftbefehl. Nach dem Zweck der Vorschrift, die Rechtsmäßigkeit der Untersuchungshaft zu prüfen, kommt das Verfahren zur Anwendung bei einem Haftbefehl nach § 114. Ob der Haftbefehl vor (§ 125 Abs. 1) oder nach Erhebung der öffentlichen Klage (§ 125 Abs. 2 und 3) erlassen ist oder vollstreckt wird, ist gleichgültig. Im weiteren Sinne zählt zur Untersuchungshaft auch die den Zwecken der Untersuchung dienende Ungehorsamshaft (§ 230 Abs. 2, § 236). Dagegen ist die Sicherungshaft des § 61 Abs. 1 J G G nach § 61 Abs. 2 Satz 2 J G G von der Haftprüfung ausdrücklich ausgenommen. Der Gesetzgeber geht davon aus, daß ein verurteilendes Erkenntnis — wenn auch mit noch ausgesetzter Strafe — vorliegt und wohl auch, daß die Sicherungshaft in aller Regel sehr rasch in Strafhaft übergeht. Aus diesen Gründen wird der gesetzgeberischen Entscheidung zuzustimmen sein. Die Haftprüfung findet ferner nicht statt bei der Vorführung (§ 134), bei der sitzungspolizeilichen Haft (§ 177 GVG) und der Ordnungsstrafhaft (§ 178 GVG) sowie bei einem Haftbefehl zur Strafvollstreckung (§ 457 Abs. 1). Das Haftprüfungsverfahren ist während der gesamten Dauer des Verfahrens statthaft, solange der Beschuldigte in Untersuchungshaft ist. Die Untersuchungshaft beginnt, sobald der Beschuldigte auf Grund eines Haftbefehls ergriffen worden ist 1 oder sobald der Richter gegen den vorläufig Festgenommenen (§ 127 Abs. 1 und 2) Haftbefehl erlassen hat (§ 128 Abs. 2). Wird der Beschuldigte im Ausland festgenommen, so fangt die Untersuchungshaft mit der Übergabe an eine deutsche Behörde an. Die Untersuchungshaft endet mit der Aufhebung des Haftbefehls (§ 120) sowie mit der Rechtskraft eines zu Freiheitsstrafe verurteilenden Erkenntnisses (II 10 zu § 120). b) Haftvollzug. Da die Vorschrift dem Verhafteten Schutz gewähren soll, ist sie nach ihrem ausdrücklichen Wortlaut nur anwendbar, wenn sich der Beschuldigte tatsächlich in Untersuchungshaft befindet, und zwar auf Grund desjenigen Haftbefehls, zu dessen Überprüfung das Haftprüfungsverfahren dienen soll. Der Haftvollzug ist Antragsvoraussetzung. Demzufolge ist der Antrag unzulässig, wenn bei bestehendem Haftbefehl der Vollzug eines Haftbefehls ausgesetzt ist (§ 116); der Haftbefehl gegen einen Jugendlichen nicht vollstreckt wird (§ 72 Abs. 1 JGG); der Beschuldigte flüchtig ist oder sich verborgen hält. Sicheres Geleit (§ 295) zur mündlichen Verhandlung bei der Haftprüfung (§118 Abs. 1 und 2) findet nicht statt; nur Überhaft notiert ist. Daß sich der Beschuldigte in anderer Sache in Untersuchungshaft (OLG Bremen NJW 1951 45) oder in Strafhaft (OLG Hamburg JR 1933 177) befindet, ist gleichgültig. Der Haftvollzug ist aber auch Voraussetzung der Entscheidung; wenn sie ergeht, muß er noch andauern. Deshalb wird ein zulässiger Antrag unzulässig, wenn nach Antragstellung aber vor der Entscheidung des Gerichts einer der vorgenannten Hinderungsgründe eintritt oder wenn der Haftbefehl aufgehoben wird. Fällt der Hinderungsgrund später wieder weg, wird etwa eine durch Strafhaft unterbrochene Untersuchungshaft wieder vollzogen, so lebt der frühere Antrag nicht wieder auf; er ist neu zu stellen. 3. Antrag. a) Antragsberechtigte. Der förmlichen Haftprüfung hat sich das Gericht nur auf Antrag zu unterziehen. Über das Antragsrecht hat der Richter den Beschuldigten zu belehren, wenn er ihn nach der Vorführung vernimmt (§115 Abs. 4); die sonst Antragsberechtigten erhalten keine Belehrung. Antragsberechtigt sind der Verhaftete sowie (§ 118b) sein Verteidiger, jedoch nicht gegen den ausdrücklichen Willen des Beschuldigten (§ 297), und sein gesetzlicher Vertreter (2 zu § 118b). Wer den Antrag gestellt hat, kann ihn auch zurück1

A. A. — Beginn mit Vorführung — L o b e - A l s b e r g III 1 a zu § 115a.

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§ 117 Anm. 4

nehmen, der Verteidiger freilich nur mit ausdrücklicher Ermächtigung des Beschuldigten (§ 118b, § 302 Abs. 2). Der Richter hat zwar die Haftfrage jederzeit zu prüfen; das förmliche Haftprüfungsverfahren kann er aber nicht von Amts wegen durchführen.-Diese Beschränkung ist begründet, weil bei der Haftprüfung von Amts wegen nach mündlicher Verhandlung entschieden werden kann (§118 Abs. 1) und dann eine Befristung weiterer Anträge auf mündliche Verhandlung eintritt (§118 Abs. 3). Würde das Haftprüfungsverfahren gegen den Willen des Beschuldigten oder des für ihn handelnden gesetzlichen Vertreters betrieben, dann könnte es zu einem Zeitpunkt stattfinden, in dem er seine Verteidigungsmittel nicht bereit hat; und er wäre, wenn sie ihm später zur Verfügung stehen, für die Dauer von drei Monaten an einem neuen Antrag auf mündliche Verhandlung gehindert, falls in einem von Amts wegen durchgeführten Verfahren nach mündlicher Verhandlung entschieden worden ist. Diese Uberlegungen lassen erkennen, daß das Antragsrecht dem Beschuldigten (und dem für ihn handelnden gesetzlichen Vertreter) persönlich zusteht. Demzufolge können die Staatsanwaltschaft und der Nebenkläger den Antrag nicht stellen; sie sind nicht in der Lage, die Verteidigungsbereitschaft des Beschuldigten zu beurteilen und dürfen in sein Recht, sich vorzubereiten, nicht eingreifen. Von dem Grundsatz, daß der Beschuldigte bestimmt, wann das förmliche Haftprüfungsverfahren stattfindet, macht das Gesetz zwei Ausnahmen (Absatz 3 und Absatz 5). Sie liegen zwar in seinem Interesse, sind aber, zumal im Falle des Absatzes 3, nicht ohne Bedenken, weil das Recht des Beschuldigten auf mündliche Verhandlung (§118 Abs. 1) eingeschränkt wird (§118 Abs. 3), wenn bei der von Amts wegen angestellten Haftprüfung von Amts wegen nach mündlicher Verhandlung entschieden worden ist. Die beiden Ausnahmen sind daher eng auszulegen. b) Form. Für den Rechtsbehelf (§115 Abs. 4) des Antrags sind wesentliche Vorschriften für Rechtsmittel für anwendbar erklärt (§ 118b), doch schweigt das Gesetz über Form und Adresse. Aus allgemeinen Grundsätzen ist dafür das Folgende herzuleiten. Der Antrag ist formfrei und an keine Frist gebunden. Er ist bei dem zuständigen Gericht zu stellen. Anzubringen ist er schriftlich oder zu Protokoll des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle des angerufenen Gerichts oder des Amtsgerichts, in dessen Bezirk die Urtersuchungshaftanstalt liegt (§ 118b, § 299 Abs. 1). Wird der Beschuldigte am Sitz eines zuständigen höheren Gerichts (Strafkammer, Strafsenat) verwahrt, dann stehen ihm die Geschäftsstellen dieses Gerichts und des Amtsgerichts zu seiner Wahl (OLG Bremen Rpfleger 1956 290). Der Antrag kann auch mündlich gestellt werden ( L o b e - A l s b e r g I 3b zu § 114d), etwa anläßlich der Vernehmung vor dem nächsten Amtsrichter (§ 115a Abs. 2). Geht er bei einer unzuständigen Stelle ein, hat diese ihn in der Regel unverzüglich dem zuständigen Gericht weiterzuleiten, das ihn als bei sich eingegangen zu behandeln hat 2 . Läßt der Beschuldigte indessen erkennen, daß er ausdrücklich die Entscheidung des von ihm angerufenen Gerichts wünscht — etwa des Oberlandesgerichts oder des Nachbargerichts, weil er das zuständige Gericht für befangen ansieht —, dann hat dieses den Antrag als unzulässig zu verwerfen. Der Antrag muß das Begehren zum Ausdruck bringen, die Haftfrage gerichtlich zu prüfen. Einen Antrag, den Haftbefehl aufzuheben oder dessen Vollzug auszusetzen, braucht er nicht zu enthalten, doch ist andererseits ein solcher bestimmter Antrag stets ein Antrag auf Haftprüfung. Ein Irrtum in der Bezeichnung des Antrags ist unschädlich (§ 118b; § 300). So ist ein Antrag auf mündliche Verhandlung einer auf Haftprüfung ( § 1 1 7 Abs. 1), verbunden mit dem weiteren, nach mündlicher Verhandlung zu entscheiden ( § 1 1 8 Abs. 1). 4. Ausschluß der Beschwerde (Absatz 2). a) Inhalt. Die Vorschrift schränkt § 304 Abs. 1 ein, indem neben dem Antrag auf mündliche Verhandlung, nicht nach ihm (Satz 2), die Beschwerde in der gleichen Sache ausgeschlossen wird. Die Haftprüfung von Amts wegen (Absatz 5) hat keinen Einfluß auf das Beschwerderecht; dieses wird nur durch einen Antrag auf Haftprüfung, nicht durch 2

A. A . — bei unzuständigem Gericht angebrachter Antrag wird als unzulässig verworfen — F e i s e n b e r g e r DRiZ 1927 5.

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diese selbst eingeschränkt. Es ist selbstverständlich, daß eine laufende Beschwerde einen Antrag auf mündliche Verhandlung nicht hindert ( R G J W 1931 3560), vielmehr macht, wie unter b auszuführen sein wird, der Antrag die Beschwerde unzulässig. Unter Beschwerde ist sowohl die erste (§ 304 Abs. 1) wie auch die weitere (§ 310 Abs. 1) zu verstehen. Der Beschwerde über den Haftbefehl stehen Beschwerden gegen Entscheidungen gleich, mit denen die Fortdauer der Untersuchungshaft angeordnet (§ 207 Abs. 2, § 268 b) oder der Haftbefehl aufrechterhalten (§ 115 Abs. 4, § 117, § 118 Abs. 3) wird. Denn auch sie sind ihrem Inhalte nach Beschwerden gegen den Haftbefehl. Für die bloße schriftliche Haftprüfung ist die Vorschrift von untergeordneter Bedeutung. Denn es ist schwer einzusehen, warum ein Beschuldigter, den eine Entscheidung des Haftrichters nicht befriedigt, statt gegen sie Beschwerde einzulegen, nochmals dessen Entscheidung nachsuchen sollte. Hier wird sie nur Bedeutung gewinnen, wenn der Beschuldigte Ermittlungen nach Absatz 3 anregen will, oder wenn inzwischen die Dreimonatsfrist des Absatzes 4 abgelaufen ist, und der Beschuldigte sich zufolge der Mitwirkung des Verteidigers eine Änderung der bisherigen Ansicht des Haftrichters verspricht. Ihre eigentliche Bedeutung gewinnt die Wahl zwischen Haftprüfung und Beschwerde, wenn der Beschuldigte beantragt, nach mündlicher Verhandlung zu entscheiden ( § 1 1 8 Abs. 1). Dann hat der Beschuldigte, dessen Initiative im Interesse der Verfahrensbeschleunigung beschränkt werden muß, die sinnvolle Wahl, ob er die größere Freiheit der Äußerung und die Möglichkeit besserer Aufklärung in mündlicher Verhandlung vor dem zuständigen Gericht suchen oder lieber die Entscheidung eines höheren Gerichts begehren soll, bei dem er sich, weil er dort die mündliche Verhandlung nicht erzwingen kann ( § 1 1 8 Abs. 2), ggf. mit schriftlichen Ausführungen begnügen muß. b) Unzulässigkeit. Wenn die Beschwerde „neben" dem Antrag unzulässig ist, dann bedeutet das zunächst, daß keine Beschwerde angebracht werden kann, sobald ein Antrag auf Haftprüfung eingegangen ist, und so lange, bis das Gericht über ihn entschieden hat. Dem Zweck der Vorschrift, das Nebeneinander von Haftprüfung und Beschwerdeverfahren auszuschließen, ist aber damit, daß neue Beschwerden nach Eingang des Antrags ausgeschlossen werden, noch nicht Genüge getan. Ihrem Sinn wird nur die Auslegung gerecht, daß nicht nur eine nach dem Antrag angebrachte Beschwerde unzulässig ist, sondern auch eine bereits laufende Beschwerde, sei es des Beschuldigten, sei es des gesetzlichen Vertreters (§ 298), unzulässig wird, sobald der Beschuldigte die Haftprüfung beantragt. Hat er sich entschlossen, sein Glück beim zuständigen Gericht zu suchen, dann muß er abwarten, wie dieses entscheidet, ehe er, was ihm Satz 2 ausdrücklich vorbehält, das Beschwerdegericht mit der Sache dadurch befaßt, daß er nunmehr die im Haftprüfungsverfahren ergangene Entscheidung angreift. Das alte Beschwerdeverfahren wird völlig hinfällig, so daß auch nicht nach Abschluß des Haftprüfungsverfahren weitere Beschwerde gegen eine vor diesem Verfahren ergangene Beschwerdeentscheidung zulässig ist (OLG Düsseldorf M D R 1969 779). Die Ergebnisse gelten auch, wenn der gesetzliche Vertreter (§ 118b, § 298) — der Verteidiger (§ 297) kann nicht gegen den Willen des Beschuldigten handeln — die Haftprüfung beantragt. Zwar kann er auf diese Weise dem Beschuldigten die Entscheidung auf eine weitere Beschwerde abschneiden, doch erkennt das Gesetz den übergeordneten Willen des gesetzlichen Vertreters an (2 zu § 118 b). Da die Unzulässigkeit, die durch den Antrag eingetreten ist, nicht wieder beseitigt werden kann, wird eine Beschwerde nicht wieder zulässig, wenn der Beschuldigte oder sein gesetzlicher Vertreter den Antrag wieder zurücknimmt. Das ist nicht unbillig; denn wer den Antrag zurücknimmt, kann damit mit wenigen Worten eine neue Beschwerde verbinden, freilich nur eine erste. Liegt, wenn ein Antrag auf gerichtliche Entscheidung eingeht, beim zuständigen Gericht noch eine Beschwerde vor, dann weist dieses den Beschuldigten beim rechtlichen Gehör darauf hin, daß seine Beschwerde unzulässig geworden ist. Nimmt er sie alsdann nicht zurück, sind die Akten dem Beschwerdegericht vorzulegen; dieses hat die Beschwerde als unzulässig zu verwerfen. Das hat es auch zu tun, wenn sich die Akten auf eine Beschwerde bei ihm befinden und der Beschuldigte der Entscheidung mit einem Antrag auf Haftprüfung zuvorkommt. Hat das Beschwerdegericht nach dem Antrag auf Haftprüfung, aber vor der Entscheidung des zuständigen Gerichts in Unkenntnis eines Haft722

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§ 117 Anm. 5 , 6

prüfungsantrags noch sachlich über die unzulässig gewordene Beschwerde entschieden, dann ist seine Entscheidung wirksam, aber auf weitere Beschwerde aufzuheben; für die Staatsanwaltschaft wird sich eine solche weitere Beschwerde kaum empfehlen. Hat das Beschwerdegericht den Haftbefehl aufgehoben, dann entfallt die Haftprüfung, nicht dagegen, wenn es ihn ausgesetzt (§ 116) oder bei einem Jugendlichen von der Vollstreckung des Haftbefehls abgesehen hat (§ 72 Abs. 1 JGG), und — was selbstverständlich ist — wenn es eine Beschwerde des Beschuldigten als unbegründet zurückgewiesen hat. Ergehen, was vermeidbar ist, in Unkenntnis der Verfahren gleichzeitig oder kurz.nacheinander Entscheidungen sowohl des zuständigen als auch des Beschwerdegerichts, so geht die dem Beschuldigten günstigere vor, auch wenn sie vor der ihm nachteiligeren ergangen ist. 5. Gehör. a) Staatsanwalt und Beschuldigter. Die Entscheidung wird erlassen, nachdem sich die Staatsanwaltschaft mündlich oder — was die Regel ist — schriftlich erklärt hat (§33 Abs. 2). Der Beschuldigte ist zu hören, bevor zu seinem Nachteil Tatsachen oder Beweisergebnisse verwertet werden, zu denen er nicht schon gehört ist (§ 33 Abs. 3). Dieses frühere Gehör braucht kein richterliches zu sein; es genügt, wenn die Staatsanwaltschaft oder die Polizei dem Beschuldigten die Aussagen von Zeugen vorgehalten hat. Auch das Gehör nach § 33 Abs. 3 muß der Richter nicht stets selbst und mündlich vornehmen. Er kann das schriftlich tun, etwa dadurch, daß er dem Beschuldigten Abschriften der Protokolle über die Vernehmung von Zeugen und Sachverständigen übersendet und ihm Gelegenheit gibt, sich zu äußern. Auch kann er sich der Geschäftsstelle bedienen, um dem Beschuldigten Tatsachen und Beweisergebnisse bekanntzugeben und seine Erklärungen entgegenzunehmen. Er wird jedoch stets zu prüfen haben, ob der Zweck des Gehörs, dem Beschuldigten die Verteidigung zu erleichtern, nicht richterliches Gehör erfordert. Ist das der Fall, wird oft Entscheidung nach mündlicher Verhandlung (§118 Abs. 1) zweckmäßig sein. b) Verteidiger. Ein gesondertes Gehör des Verteidigers, wie es früher in § 115a Abs. 4 Satz 2 und in § 115b Satz 2 a. F. vorgeschrieben war, wird nicht mehr gefordert. Es ist Sache des Beschuldigten, den Verteidiger zu unterrichten. Der Beschuldigte kann aber verlangen, daß der Verteidiger, dessen Beistand er sich in jeder Lage des Verfahrens bedienen kann (§ 137 Abs. 1), zu dem Gehör nach § 33 Abs. 3 dann zugezogen wird, wenn es mündlich stattfindet. Damit keine Vertagung notwendig wird, empfiehlt es sich, den Verteidiger zu einem Gehörstermin zu laden. Das wird in der Regel zu einer mündlichen Verhandlung (§118 Abs.l) führen. Sowohl eine mündliche Verhandlung als auch mündliches Gehör werden oft dadurch erspart werden können, daß der Richter dem Verteidiger Akteneinsicht gewährt und eine Stellungnahme anheim gibt. Damit ist den Erfordernissen des § 33 Abs. 3 meist am sachdienlichsten Genüge getan. c) Kein Absehen vom Gehör. Es ist nicht statthaft, von dem Gehör des Beschuldigten auf Grund von § 33 Abs. 4 abzusehen. Einmal besteht diese Befugnis nur bei Anordnung der Untersuchungshaft, der Beschlagnahme oder anderer Maßnahmen (wie etwa der Durchsuchung), nicht aber, wenn eine bereits erlassene Anordnung später überprüft und bestätigt wird. Zum anderen kann die Anhörung nur unterbleiben, wenn sie den Zweck der Anordnung gefährden würde. Der Zweck der Anordnung besteht in der Verhinderung der Flucht, der Verdunkelung, der Wiederholung von Sittlichkeitsverbrechen und in der Sicherung der Aburteilung von Verbrechen wider das Leben. Dieser Zweck wird durch die Untersuchungshaft gesichert; solange diese besteht, kann er durch das rechtliche Gehör nicht mehr gefährdet werden. Ausnahmsweise könnte man eine solche Gefährdung bei Untersuchungshaft wegen Verdunkelungsgefahr annehmen, wenn man dem Verteidiger zutraute, daß er für den Verhafteten Verdunkelungshandlungen (§112 Abs. 2 Nr. 3) vornehmen werde. Eine solche Annahme ist nicht mehr erlaubt, nachdem der alte § 148 Abs. 2 durch Art. 3 Nr. 5 StPAG gestrichen worden ist. Liegt der hinreichende Verdacht einer Begünstigung vor, kann der Verteidiger von der Verteidigung ausgeschlossen werden (III 7 a zu § 138). 6. Entscheidung. Findet keine mündliche Verhandlung nach § 118 Abs. 1 statt, so entscheidet das Gericht nach Gehör (5) im schriftlichen Verfahren. Dabei prüft es den dringen723

§ 117

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Anm. 7 den Tatverdacht und die Haftgründe ( § 1 1 2 Abs. 1 Satz 1) sowie die Verhältnismäßigkeit der Haft zu der Sanktion, die zu erwarten ist ( § 1 1 2 Abs. 1 Satz 2, § 120 Abs. 1 Satz 1, 2. Halbsatz). Dabei ist es nicht auf die im Haftbefehl angegebenen Taten und Haftgründe beschränkt, hat vielmehr den gesamten Inhalt der Akten zu berücksichtigen. Ist im Haftbefehl angenommene Verdunkelungsgefahr weggefallen, aber inzwischen Fluchtgefahr begründet worden, kann es die Untersuchungshaft mit dem neuen Haftgrund aufrechterhalten. Auf Grund der Prüfung hat das Gericht zu entscheiden, ob der Haftbefehl aufrechtzuerhalten, aufzuheben (§ 120), der Vollzug des Haftbefehls auszusetzen (§ 116) oder bei einem Jugendlichen die Vollstreckung auszusetzen ist (§ 72 Abs. 1 JGG). Auch kann der Haftbefehl wegen neuer Taten erweitert oder ergänzt werden (18 zu § 114). In diesem Falle hat sich sofort das Verfahren nach §§ 114a, 115 Abs. 2 und 3 anzuschließen. Müßte die Haft aufrechterhalten werden, ergibt sich aber ein Anhaltspunkt, daß weiteres entlastendes Material beigebracht werden könnte, kann das erkennende Gericht vor seiner Entscheidung die erforderlichen Beweise erheben oder durch einen beauftragten oder ersuchten Richter aufnehmen lassen. Die Staatsanwaltschaft kann angegangen werden, wenn Maßnahmen durchzuführen sind, für die es den Gerichten an einer besonderen gesetzlichen Grundlage fehlt, während sie für die Staatsanwaltschaft gegeben ist (OLG Celle G A 59 366). Das ist bei polizeilichen Ermittlungen der Fall. Bei diesen ist das Gericht auf die allgemeine Rechtshilfe angewiesen, die Staatsanwaltschaft hat dagegen ein Anordnungs(§ 152 Abs. 1 GVG) und Auftragsrecht ( § 1 6 1 Satz 2). Demzufolge kann das Gericht die Staatsanwaltschaft um Vornahme polizeilicher Ermittlungen ersuchen. Der Untersuchungsrichter darf das nicht, weil er die Polizei selbst beauftragen kann (§ 189). Prüft der Amtsrichter im Vorverfahren, darf er den ihm in § 166 gesteckten Rahmen nicht überschreiten. Dagegen ist es unzulässig, eine nach der Aktenlage gebotene Aufhebung des Haftbefehls deshalb zu unterlassen, weil weitere Ermittlungen vielleicht noch Belastungsmaterial erbringen könnten. Denn der Haftbefehl ist aufzuheben, s o b a l d die Voraussetzungen der Untersuchungshaft nicht mehr vorliegen (§ 120 Abs. 1 Satz 1, 2. Halbsatz); die Aufhebung darf daher nicht unterbleiben, weil die Voraussetzungen vielleicht wieder entstehen könnten. Die Entscheidung ergeht als Beschluß, der mit Gründen zu versehen ist (§ 34). Die Gründe müssen dem Beschuldigten seine weitere Verteidigung möglich machen und dem Beschwerdegericht die Nachprüfung der ergangenen Entscheidung gestatten. Sie haben sich daher mit neuen Tatsachen und Beweismitteln zu befassen, die seit Erlaß des Haftbefehls oder seit der letzten Entscheidung beigebracht worden sind. Ist der Sachstand, namentlich bei späteren Entscheidungen, unverändert, kann es genügen, auf die Gründe des Haftbefehls oder einer früheren Entscheidung zu verweisen. Im Falle der Freilassung sind die Gründe hierfür anzugeben. Hatte die Staatsanwaltschaft die Freilassung beantragt, wird die Begründung in der Regel sehr kurz sein. Die Entscheidung wird dem Beschuldigten und der Staatsanwaltschaft bekanntgemacht. Formlose Mitteilung genügt, weil durch die Bekanntmachung der Entscheidung keine Frist in Lauf gesetzt wird (§ 35 Abs. 2). 7. Neue Prüfung (Absatz 3). Nach Absatz 3 kann der Richter „einzelne Ermittlungen anordnen, die für die künftige Entscheidung über die Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft von Bedeutung sind, und nach Durchführung dieser Ermittlungen eine neue Prüfung vornehmen". Die Vorschrift, über deren Sinn den Materialien nichts zu entnehmen ist, gibt zu mehrfachen Zweifeln Anlaß. Da das Gesetz von einer neuen Prüfung spricht, findet das Verfahren nicht statt, um die in Gang gesetzte Prüfung vorzubereiten, sondern n a c h dieser Prüfung, um sie zu ergänzen. Demzufolge muß jene Prüfung mit der Anordnung abgeschlossen worden sein, daß die Untersuchungshaft und ihr Vollzug fortzudauern haben ( K l e i n k n e c h t JZ 1965 120). Dem Sinn des Gesetzes ist zu entnehmen, daß das Verfahren nicht angewendet wird, wenn zu erwarten ist, daß die Untersuchungshaft auch nach Abschluß der Ermittlungen aufrechterhalten werde, sondern nur, wenn damit zu rechnen ist, daß der Haftbefehl aufgehoben oder dessen Vollzug nach § 116 ausgesetzt werden könnte. Unklar ist, an wen der Richter seine Anordnung richten kann. Nach Anklageerhebung ist das Verfahren ein gerichtliches, und das Gericht kann Beweise durch einen beauftragten oder ersuchten Richter erheben lassen und, wenn polizeiliche Ermittlungen veranlaßt sind,

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Neunter Abschnitt. Verhaftung und vorläufige Festnahme (Dünnebier)

§ 117 Anm. 8 , 9

die Staatsanwaltschaft um Vornahme polizeilicher Ermittlungen ersuchen (6 Abs. 2). In der Mehrzahl der Fälle sind die Entscheidungen aber im Vorverfahren vom Amtsrichter zu treffen, der dabei nur sehr beschränkte Befugnisse hat (§ 166) und von Amts wegen allein bei Gefahr im Verzug tätig werden kann (§ 165), die in der Regel, da ein Staatsanwalt fast stets zu erreichen ist, nicht vorliegen wird. Zu Anordnungen an die Staatsanwaltschaft ist der Richter nicht befugt. Im Hinblick auf § 150 GVG und das ganze System der Strafprozeßordnung ist die Annahme K l e i n k n e c h t s (MDR 1965 786; Kl 3D) auszuschließen, daß dem Amtsrichter durch Absatz 3 diese Befugnis verliehen worden sein sollte. Einen so grundlegenden Bruch mit dem System des Strafprozesses und der Gerichtsverfassung hätte der Bundestag nicht ohne Debatte, ja ohne jede Bemerkung, beschlossen. Absatz 3, der in den Worten „Ermittlungen anordnen" mit § 173 Abs. 3 übereinstimmt, ist daher nicht anders zu lesen als dort, und damit eine Vorschrift, die in diesem Punkt im wesentlichen (Ausnahme: § 166 Abs. 2) erst nach der Anklage bei einem Kollegialgericht Bedeutung erlangt. Im übrigen ist von Bedeutung, daß der Richter von Amts wegen eine neue Prüfung vornehmen kann. Dabei kann der Amtsrichter der Staatsanwaltschaft die Punkte bezeichnen, deren Aufklärung er für eine Entlassung des Beschuldigten als bedeutungsvoll erachtet. Angesichts der Verantwortung, die der Haftrichter für die Haftfrage trägt, wird die Staatsanwaltschaft seine Vorstellung sorgsam beachten; Anordnungen des Haftrichters an sie werden durch Absatz 3 nicht gerechtfertigt. 8. Beschwerde. Gegen die Entscheidung im Haftprüfungsverfahren ist, soweit sie nicht von einem Strafsenat als Rechtsmittelgericht erlassen ist (§ 304 Abs. 4), Beschwerde zulässig (§ 304 Absatz 1), auch wenn sie die eines erkennenden Gerichts ist (§ 305 Satz 2). Gegen Beschwerdeentscheidungen des Landgerichts und des erstinstanzlich entscheidenden Oberlandesgerichts ist die weitere Beschwerde gegeben (§ 310 Abs. 1). Der Beschuldigte kann Beschwerde einlegen, wenn der Haftbefehl entgegen seinem Antrag aufrechterhalten wird. Hatte er jedoch nur beantragt, den Vollzug des Haftbefehls auszusetzen (§ 116), dann hat er, wenn das Gericht dem Antrag nachgekommen ist, mangels Beschwer kein Beschwerderecht. Es steht ihm aber frei, Beschwerde gegen den bestehen gebliebenen Haftbefehl anzubringen. Wenn der Beschuldigte beschwert ist, können auch sein Verteidiger, jedoch nicht gegen den ausdrücklichen Willen des Beschuldigten (§ 297), und sein gesetzlicher Vertreter (§ 298 Abs. 1) Beschwerde einlegen. Die Beschwerde steht auch der Staatsanwaltschaft zu. Sie hat zugunsten oder zuungunsten des Beschuldigten auch die weitere Beschwerde (15 b zu § 114). Wegen des Verfahrens gilt das 16 zu § 114 Gesagte entsprechend, namentlich auch wegen der Anhörung, falls das zuständige Gericht den Beschuldigten freigelassen und die Staatsanwaltschaft dagegen Beschwerde eingelegt hat. Wegen der Zuständigkeit s. 17 zu § 114, wegen der bindenden Wirkung 16 Abs. 3 zu § 114. 9. Verteidiger (Absatz 4). a) § 140 Abs. 1 Nr. 5. Hat sich der Beschuldigte mindestens drei Monate in derselben (oder in einer anderen) Sache in Untersuchungshaft befunden, dann ist die Verteidigung notwendig, wenn der Beschuldigte nicht mindestens zwei Wochen vor Beginn der Hauptverhandlung aus der Untersuchungshaft entlassen wird (§ 140 Abs. 1 Nr. 5). Wegen dieser Bedingung wird der Verteidiger grundsätzlich erst bestellt, sobald der Beschuldigte zur Erklärung über die Anklageschrift aufgefordert worden ist (§141 Abs. 1), doch kann er auch schon im Vorverfahren beigeordnet werden (§141 Abs. 3). Geschieht dies, dann hat Absatz 4 keine selbständige Bedeutung. Der Bestellung im Vorverfahren kommt nach dem neuen Rechtszustand größere Bedeutung zu als früher. Denn die Staatsanwaltschaft soll nach dem Abschluß der Ermittlungen (§ 169a Abs. 1) die Bestellung beantragen, wenn die Verteidigung im gerichtlichen Verfahren notwendig sein wird; einem solchen Antrage der Staatsanwaltschaft hat das Gericht — das allerdings ein anderes als das nach § 126 zuständige sein kann (§ 141 Abs. 4) — stattzugeben (§ 141 Abs. 3). b) § 117 Abs. 4. Trotz dieser Regelung wird es auch weiterhin Beschuldigte geben, die in der Sache, in der sie einsitzen, drei Monate Untersuchungshaft erlitten haben, aber 725

§ 117

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

Anra. 10 noch ohne Verteidiger sind. Solchen Beschuldigten ist nach Absatz 4 ein Verteidiger zu bestellen. Die Vorschrift ist zwar in die Bestimmungen über die Haftprüfung eingebaut (weil Absatz 5 auf die Verteidigung Bezug nimmt), hat aber selbständig Bedeutung. Sie will demjenigen Beschuldigten den Beistand eines Verteidigers sichern, der durch lange Freiheitsentziehung in seiner Verteidigung behindert ist. Daher ist es gleichgültig, ob der Beschuldigte ununterbrochen in Untersuchungshaft eingesessen hat, oder ob diese unterbrochen war durch Verbüßung von Strafhaft oder Untersuchungshaft in anderer Sache, durch Aussetzung des Vollzugs (§ 116), durch Absehen von der Vollstreckung des Haftbefehls bei einem Jugendlichen (§ 72 Abs. 1 JGG) oder durch Entlassung mit nachfolgendem neuen Haftbefehl in der gleichen Sache 3 , selbst wegen einer anderen, aber zum gleichen Verfahren gehörenden Straftat. In solchen Fällen sind die einzelnen Zeiten der Untersuchungshaft in dieser Sache zusammenzuzählen. Entgegen dem früheren, allerdings auf die mündliche Verhandlung bezogenen Zustand (§ 11.5 d Abs. 4 a. F.), wird der Verteidiger nur auf Antrag bestellt, doch ist der Beschuldigte über sein Antragsrecht zu belehren. Auch kann der gesetzliche Vertreter oder der Staatsanwalt den Antrag stellen. Die Staatsanwaltschaft sollte das stets tun, wenn zu erwarten ist, die Verteidigung werde im gerichtlichen Verfahren deshalb notwendig sein, weil der Beschuldigte nicht zwei Wochen vor der Hauptverhandlung entlassen werden wird (§ 140 Abs. 1 Nr. 5). c) Verfahren. Der Verteidiger wird vom zuständigen Gericht bestellt, wenn dieses ein Kollegialgericht ist, vom Vorsitzenden (§117 Abs. 4 Satz 3, § 142 Abs. 1). Die Bestellung ist eine richterliche Entscheidung, die sich auf die Untersuchungshaft bezieht. Daher richtet sich die Zuständigkeit nach § 126. § 141 Abs. 4, der eine von § 126 abweichende Regelung vorsieht, ist in § 117 Abs. 4 Satz 3 ausdrücklich nicht angezogen. Nach § 126 ist zuständig im Ermittlungsverfahren der Amtsrichter (§ 126 Abs. 1), in der Voruntersuchung der Untersuchungsrichter (§ 126 Abs. 4), sonst das mit der Sache befaßte Gericht (§ 126 Abs. 2). Bei diesem ist zuständig der Vorsitzende, sowohl nach § 126 Abs. 2 Satz 3 (4 a zu § 126) als auch nach § 142 Abs. 1 zufolge der Verweisung in § 117 Abs. 4 Satz 3. Die Bestellung eines Verteidigers unterbleibt, wenn der Beschuldigte einen Wahlverteidiger hat. Solange keine Verteidigerwahl zu den Akten angezeigt ist, wird das Gericht davon ausgehen, daß kein Verteidiger gewählt ist. Der Verteidiger wird für die Dauer der Untersuchungshaft bestellt bis zur Zustellung einer Anklageschrift. Denn dann ist nach § 141 Abs. 1 in Vbdg. mit § 140 Abs. 1 Nr. 5 vom Vorsitzenden des mit Anklage angegangenen Gerichts ein neuer Verteidiger zu bestellen. Doch bleibt die Bestellung, wenn die Untersuchungshaft andauert, auch für die Hauptverhandlung wirksam, falls nicht ein anderer Verteidiger bestellt wird (§ 140 Abs. 3). Die Bestellung ist zurückzunehmen, wenn der Beschuldigte oder sein gesetzlicher Vertreter (§137 Abs. 2) einen Verteidiger gewählt und dieser die Wahl angenommen hat (§ 143). 10. Haftprüfung von Amts wegen (Absatz 5). Nach den Ausführungen zu 9 a und b wird in einigen Fällen ein Beschuldigter nach drei Monaten Untersuchungshaft noch keinen Verteidiger haben. Für diese wenigen Fälle ist die Haftprüfung von Amts wegen vorgeschrieben, aber auch nur, wenn der Beschuldigte oder sein gesetzlicher Vertreter (§ 118b, § 298 Abs. 1) weder die Haftprüfung beantragt, noch Beschwerde eingelegt hat. Es dürfte sich um seltene Ausnahmen handeln. Betroffen werden namentlich diejenigen Dauerrückfalligen sein, die sich ins Anstaltsleben ergeben haben und keine Anträge stellen. Die Haftprüfung findet statt, wenn die Untersuchungshaft drei Monate gedauert hat. Die Vorschrift will zusammen mit § 121, § 122 Abs. 4 sicherstellen, daß die Haftfrage auch unabhängig von Anträgen und Beschwerden des Beschuldigten alle drei Monate gerichtlich förmlich überprüft wird. Da bei jeder Wiederverhaftung nach einer Freilassung über die Haftfrage nach § 115 neu entschieden wird, zählen — anders als im Falle des Absatzes 4 — Zeiten, die vor einer Entlassung (§ 120) oder vor einer Freilassung bei Aussetzung des Vollzugs eines Haftbefehls (§ 116; § 72 Abs. 1 JGG) liegen, bei der Berechnung der Frist nicht mit; die Dreimonatsfrist des Absatzes 5 beginnt bei einer neuen Verhaftung neu. Wird 3

M ü l l e r - S a x 5, 3a; a. A. — Zusammenrechnung nur, wenn die mehrfache Vollstreckung auf Grund desselben Haftbefehls vorgenommen wird — L o b e - A l s b e r g I d 4 bb zu § 115 d.

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s Neunter Abschnitt. Verhaftung und vorläufige Festnahme (Dünnebier) dagegen die Untersuchungshaft unterbrochen, ohne daß der Beschuldigte freigelassen wird, z. B. bei Verbüßung von Strafhaft oder von Untersuchungshaft in anderer Sache, dann beginnt nach dem Ende der Unterbrechung keine neue Frist zu laufen. Die Unterbrechungszeiten zählen nicht mit; die Zeiten vor der Unterbrechung und die nach ihr werden zusammengezählt. Die Frist zur Prüfung von Amts wegen beträgt drei Monate, genauer („hat die Untersuchungshaft drei Monate gedauert") drei Monate und einen Tag; sie beginnt mit dem Anfang der Untersuchungshaft (2 a Abs. 2). Ihr Ende ist in Absatz 5 selbst festgelegt, so daß § 43 Abs. 1 keine Anwendung findet, doch läuft die Regelung auf dasselbe hinaus, als wenn das Gesetz von einer Frist von drei Monaten spräche: Hat die Untersuchungshaft am 1. Februar begonnen, so findet die Prüfung am 1. Mai statt. § 43 Abs. 2 gilt. Danach endet die Frist, wenn das Ende auf einen Sonnabend, einen Sonntag oder allgemeinen Feiertag fallt, mit Ablauf des nächstfolgenden Werktags. Die Haftprüfung ist wegen des rechtlichen Gehörs ( § 3 3 Abs. 3) und ggf. der mündlichen Verhandlung (§ 118 Abs. 1) ein Haftprüfungsverfahren. Mit diesem Verfahren muß das Gericht an dem errechneten Tage beginnen. Das Gericht darf die Frist, etwa weil noch eine wichtige Vernehmung abgewartet werden soll, selbst bei Zustimmung des Beschuldigten nicht überschreiten. Da es außer im Falle des Absatzes 5 die Haftprüfung nicht von Amts wegen vornehmen darf (3 a), darf es die Frist des Absatzes 5 nicht verkürzen; denn das liefe auf eine frühere Haftprüfung von Amts wegen hinaus. Daraus folgt zugleich, daß die früher teilweise gelehrte Ansicht, die Prüfung müsse innerhalb der Frist nicht nur begonnen, sondern auch beendet sein 4 , für § 117 nicht vertretbar ist. Schon das rechtliche Gehör kann das Verfahren verzögern, so daß es nicht innerhalb der Frist abzuschließen ist. Weitere Verzögerungen ergeben sich, wenn die Entscheidung in mündlicher Verhandlung ergeht (§ 118), weil dann Termin anzuberaumen ist, und Staatsanwalt und Verteidiger benachrichtigt werden müssen (§ 118a Abs. 1). Die Haftprüfung nach Absatz 5 ist ein einmaliges Verfahren, doch ist durch die §§ 121, 122 Abs. 4 Satz 2 sichergestellt, daß die Haftfrage bis zu einem verurteilenden Erkenntnis alle drei Monate von Amts wegen geprüft wird, solange nicht die Hauptverhandlung läuft.

§ 118 (1) Bei der Haftprüfung wird auf Antrag des Beschuldigten oder nach dem Ermessen des Gerichts von Amts wegen nach mündlicher Verhandlung entschieden. (2) Ist gegen den Haftbefehl Beschwerde eingelegt, so kann auch im Beschwerdeverfahren auf Antrag des Beschuldigten oder von Amts wegen nach mündlicher Verhandlung entschieden werden. (3) Ist die Untersuchungshaft nach mündlicher Verhandlung aufrechterhalten worden, so hat der Beschuldigte einen Anspruch auf eine weitere mündliche Verhandlung nur, wenn die Untersuchungshaft mindestens drei Monate und seit der letzten mündlichen Verhandlung mindestens zwei Monate gedauert hat. (4) Ein Anspruch auf mündliche Verhandlung besteht nicht, solange die Hauptverhandlung andauert oder wenn ein Urteil ergangen ist, das auf eine Freiheitsstrafe oder eine freiheitsentziehende Maßregel der Sicherung und Besserung erkennt. (5) Die mündliche Verhandlung ist unverzüglich durchzuführen; sie darf ohne Zustimmung des Beschuldigten nicht über zwei Wochen nach dem Eingang des Antrags anberaumt werden. Entstehungsgeschichte: Die Vorschrift ist eingefügt durch Art. 1 Nr. 1 StPÄG. Absatz 1 stammt von § 115a Abs. 4 Satz 1 a. F., Absatz 5 von § 114d Abs. 2 a. F., Absatz 4 ist eine Abwandlung von § 115 b Satz 1 a. F., wonach nach Eröffnung des Hauptverfahrens keine mündliche Verhandlung über den Haftbefehl mehr stattfinden durfte. Absatz 3 verwertet Gedanken aus § 115a Abs. 3 a. F. Gänzlich neu ist Absatz 2; er enthält eine wesentliche Ausnahme von § 309 Abs. 1, erstem Halbsatz. 4

S o H a r t u n g 7 ; K l e i n k n e c h t - M ü l l e r 2 d , beide zu § 115a. 727

§ 118

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

Anm. 1—3 1. Inhalt. Das Recht auf mündliche Verhandlung über den Haftbefehl, Bestandteil unseres Haftrechts seit 1926, verwirklicht die alte Reformforderung 1 , daß der Verhaftete Anspruch auf mündliche Verhandlung vor dem zuständigen Gericht haben müsse. Die Vorschriften über die mündliche Verhandlung sind als das Kernstück der Schutzvorschriften für den verhafteten Beschuldigten bezeichnet worden ( F e i s e n b e r g e r DRiZ 1927 4), und eine gut vorbereitete und durchgeführte mündliche Verhandlung am Anfang der Untersuchungshaft ist ein wirksames Mittel, das Verfahren zu konzentrieren und die Haft abzukürzen ( A l s b e r g JW 1925 1437). Das Strafprozeßänderungsgesetz hat die etwas unübersichtlichen Vorschriften über Haftprüfung und mündliche Verhandlung vereinfacht: Die mündliche Verhandlung ist eine Form der Haftprüfung. Dieser Form muß sich das Gericht (Ausnahmen in Absatz 3 und 4) auf Antrag des Beschuldigten bedienen; es kann sie nach seinem Ermessen auch von Amts wegen wählen. Danach kann jede Haftprüfung nach mündlicher Verhandlung durchgeführt werden. Ob aber überhaupt eine Haftprüfung stattfindet, liegt allein in der Hand des Beschuldigten (oder seines gesetzlichen Vertreters). Dieser wiederum kann zwar jederzeit die Haftprüfung erzwingen, die mündliche Verhandlung aber nur in angemessenen Fristen (Absatz 3) und nach einem freiheitsentziehenden Urteil überhaupt nicht mehr (Absatz 4). Auf diese Weise werden weitgehend bloß routinemäßige mündliche Verhandlungen ausgeschaltet. Damit wird der Weg frei, dem etwas verkümmerten Kernstück des Haftschutzes die ihm zukommende Bedeutung in der Praxis zu verschaffen. Wie der Beschuldigte können auch sein Verteidiger, jedoch nicht gegen den Willen des Beschuldigten (§ 118b; § 297), und sein gesetzlicher Vertreter Antrag auf Entscheidung in mündlicher Verhandlung stellen (§ 118b; § 298) mit der gleichen Wirkung, als ob der Beschuldigte den Antrag gestellt hätte (2 zu § 118 b). Auch die Staatsanwaltschaft kann auf mündliche Verhandlung antragen, doch kommt ihrem Antrag nicht, wie dem des Beschuldigten, zwingende Wirkung zu. Wer den Antrag gestellt hat, kann ihn auch wieder zurücknehmen. 2. Mündliche Verhandlung im Beschwerdeverfahren (Absatz 2). § 309 Abs. 1,1. Halbsatz verbietet die mündliche Verhandlung im Beschwerdeverfahren. Das Verbot ist nicht immer praktisch und für das Verfahren bei Verfall einer Sicherheit bereits durchbrochen (§ 124 Abs. 2 Satz 2). Auch im Haftbeschwerdeverfahren kann es erwünscht sein, den Beschuldigten zu sehen, seine mündliche Einlassung zu hören und ihm Zeugen gegenüberzustellen. Daher wird dem Gericht die Befugnis eingeräumt, über Haftbeschwerden nach mündlicher Verhandlung zu entscheiden. Der Beschuldigte, wie auch die Staatsanwaltschaft, können das beantragen, doch entscheidet allein das Ermessen des Gerichts, ob eine mündliche Verhandlung stattfindet (OLG Celle NdsRpfl. 1965 255). Damit wird das Verfahren auf Fälle beschränkt, in denen es angebracht ist. Das werden nicht sehr viele sein, doch sollte das Beschwerdegericht von der mündlichen Verhandlung Gebrauch machen, wenn sie Nutzen verspricht. Das ist der Fall, wenn bei zweifelhafter Sachlage erwartet werden kann, daß sich zufolge der mündlichen Erörterung des Materials bei persönlicher Gegenwart des Beschuldigten, seines Verteidigers und ggf. von Zeugen Unklarheiten beseitigen lassen und der dringende Tatverdacht sowie die Haftgründe sicherer als im schriftlichen Verfahren beurteilt werden können. 3. Weitere mündliche Verhandlung (Absatz 3). a) Beschränkung. Nach § 117 Abs. 1 kann der Beschuldigte während der ganzen Dauer der Untersuchungshaft ohne jede Beschränkung die förmliche Haftprüfung beantragen; bei dieser ist gemäß § 118 Abs. 1 auf seinen Antrag nach mündlicher Verhandlung zu entscheiden. Gälte die letzte Vorschrift ohne Einschränkung, könnte das Gericht zu einer dauernden Wiederholung der mündlichen Verhandlung auch dann gezwungen werden, wenn seit der letzten kein Material beigebracht worden ist, das den dringenden Tatverdacht oder die Haftgründe in Frage zu stellen geeignet wäre. Die mündliche Verhandlung würde dann zu einer lästigen Formalität, und diese Bewertung könnte sich auf das ganze Institut übertragen 1

Verhandlungen des 16. Anwaltstages 52; Mitteilungen der J K V 11 684, 694, 809, 818, 844; 12 288, 302; G n e i s t , Vier Fragen zur deutschen Strafprozeßordnung 74; v o n L i s t , Reform des Strafverfahrens 45.

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Neunter Abschnitt. Verhaftung und vorläufige Festnahme (Dünnebier)

§ 118 Anm. 4

und das Verfahren auch dort zur Routine werden lassen, wo eine sorgfaltige Verhandlung das Verfahren und die Haft abkürzen könnte. Deshalb schränkt Absatz 3 die Wirkung des nach Absatz 1 zulässigen Antrags dahin ein, daß unter bestimmten Voraussetzungen kein Anspruch auf mündliche Verhandlung besteht. Die Zulässigkeit des Antrags selbst bleibt unberührt; er hat nur nicht die zwingende Wirkung, die er ohne die Einschränkung des Absatzes 3 zufolge des Wortlauts von Absatz 1 hätte. Die Befugnis des Gerichts, nach seinem Ermessen von Amts wegen nach mündlicher Verhandlung zu entscheiden (Absatz 1), bleibt unberührt. Die Beschränkung, die für die Wirkung des Antrags des Beschuldigten eintritt, wird gesetzgeberisch so ausgedrückt, daß zwei Fristen (Gesamtdauer der Untersuchungshaft: drei Monate; Dauer seit der letzten mündlichen Verhandlung: zwei Monate) angegeben werden, nach deren Ablauf der Antrag wieder seine zwingende Wirkung erhält. Daraus folgt, daß ein Antrag, der vor Ablauf der Fristen gestellt und daher zunächst wirkungslos ist, nachträglich wirksam wird, wenn vor der Entscheidung die Fristen von drei und zwei Monaten beide noch ablaufen. nach b) Voraussetzungen. Die Beschränkung tritt ein, wenn die Untersuchungshaft mündlicher Verhandlung — auch im Beschwerdeverfahren — aufrechterhalten worden ist. Das Gesetz macht auch für den Fall keine Ausnahme, daß die mündliche Verhandlung von Amts wegen in einem Haftprüfungsverfahren gewählt worden ist, das ebenfalls von Amts wegen stattgefunden hat (7 und 10 zu § 117). Eine solche Ausnahme wäre gerechtfertigt, kann aber nicht gegen den Gesetzeswortlaut im Wege der Auslegung gewonnen werden. Für die Beschränkung des Anspruchs auf mündliche Verhandlung kommt es nach dem Wortlaut, der dem Sinn der Bestimmung entspricht, nicht darauf an, daß der Haftbefehl, sondern darauf, daß die Untersuchungshaft aufrechterhalten worden ist. War der Vollzug der Untersuchungshaft ausgesetzt worden (§ 116; § 72 Abs. 1 JGG), dann findet ebenso wie bei der Aufhebung des Haftbefehls (§ 120) § 118 Abs. 3 keine Anwendung, vielmehr beginnt das Verfahren der §§ 114aff. erneut (11 zu § 116). Die Dreimonatsfrist und die Zweimonatsfrist sind daher ebenso wie im Falle des § 117 Abs. 5 zu berechnen: Zeiten, die vor einer Entlassung (§ 120) oder vor einer Freilassung bei Aussetzung des Vollzugs eines Haftbefehls (§ 116; § 72 Abs. 1 JGG) liegen, scheiden für die Dauer der beiden Fristen aus. Wird dagegen die Untersuchungshaft unterbrochen, ohne daß der Beschuldigte freigelassen wird, z. B. bei Verbüßung von Strafhaft oder von Untersuchungshaft in anderer Sache, dann zählen die Zeiten vor der Unterbrechung mit; die Zeiten vor und nach der Unterbrechung werden zusammengerechnet (9 b zu § 117). 4. Hauptverhandlung (Absatz 4). Stellt Absatz 3 für die Beschränkung des Rechts auf mündliche Verhandlung auf die Dauer der Untersuchungshaft ab, so bringt Absatz 4 eine Beschränkung für bestimmte Verfahrensabschnitte. Der Beschuldigte hat keinen Anspruch auf mündliche Verhandlung, „solange die Hauptverhandlung andauert". Die Hauptverhandlung beginnt mit dem Aufruf der Sache (§ 243 Abs. 1 Satz 1); sie schließt grundsätzlich mit der Verkündung des Urteils (§ 260 Abs. 1 Satz 1), aber auch mit einer Verweisung an das zuständige Gericht (§ 270 Abs. 1) oder mit Aussetzung der Hauptverhandlung (§ 228 Abs. 1 Satz 1, § 145 Abs. 1 bis 3, § 246 Abs. 2, § 265 Abs. 2, 3 und 4). Dagegen beendet eine Unterbrechung die Hauptverhandlung nicht; denn es ist dieselbe Hauptverhandlung, die spätestens am elften Tage nach der Unterbrechung „fortgesetzt" werden muß (§ 229). Nach dem Sinn der Vorschrift und nach ihrem Wortlaut („andauert") kann aber nicht auf das Ende der Hauptverhandlung abgestellt werden, sondern vielmehr auf das Andauern des wirklichen Verhandeins. Denn die Verneinung des Anspruchs auf mündliche Verhandlung während der Hauptverhandlung rechtfertigt sich aus zwei Gründen: einmal ist das Gericht mit der Sache besonders nachdrücklich befaßt und daher mit dem gleichen gesteigerten Nachdruck zur Prüfung der Haftfrage verpflichtet. Zum anderen wäre der Anspruch auf mündliche Verhandlung wenig sinnvoll, da ja das Gericht schon mündlich verhandelt, dabei den Angeklagten hört, die Tatsachen erörtert, die den dringenden Tatverdacht begründen, und jederzeit auch in die Prüfung der Haftgründe und der Verhältnismäßigkeit eintreten kann. Während einer Unterbrechung entfällt der zweite Grund und verliert der erste an Gewicht. Zwar kann die Unterbrechung gerade deshalb notwendig werden, weil das Gericht außerhalb des Sitzungssaals einen umfangreichen Stoff sichten und ordnen muß, wobei es ebenso 729

§ 118

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Anm. 5 intensiv wie in der Hauptverhandlung selbst mit der Sache befaßt ist. Es können aber auch ganz andere Gründe (Verteidigerwechsel, § 145 Abs. 3; Nachladung von Zeugen und Sachverständigen, Krankheit von Prozeßbeteiligten, Feiertagszeit) die Unterbrechung notwendig machen und die Haftfrage aus der gerichtlichen Betrachtung rücken. Daher dauert die Hauptverhandlung während einer Unterbrechung nicht an. Hauptverhandlung ist diejenige erster Instanz (§ 226) und die in der Berufungsinstanz (§ 324) nach einem freisprechenden Urteil (II 9 zu § 120). Die Hauptverhandlung in der Revisionsinstanz beseitigt den Anspruch auf Haftprüfung nicht. Denn nach Einlegung der Revision ist für die Haftprüfung das Gericht zuständig, dessen Urteil angefochten ist (§ 126 Abs. 2 Satz 2). Die Gründe, die den Ausschluß der mündlichen Verhandlung während der Hauptverhandlung vor den Instanzgerichten rechtfertigen, können daher während der Revisionshauptverhandlung nicht vorliegen. War der Antrag vor Beginn der Hauptverhandlung angebracht, konnte aber bis zu deren Beginn noch nicht in der Sache entschieden werden, so entfallt mit dem Beginn der Hauptverhandlung nachträglich der Anspruch auf mündliche Verhandlung. 5. Freiheitsentziehendes Urteil (Absatz 4). Dem Antrag auf mündliche Verhandlung wird seine zwingende Wirkung weiter für den Fall genommen, daß ein Urteil ergangen ist, in dem gegen den Gefangenen auf Freiheitsstrafe oder auf eine freiheitsentziehende Maßregel der Sicherung und Besserung erkannt worden ist. Es kommt jede Freiheitsstrafe in Betracht: die Freiheitsstrafe (§§ 18 bis 20 StGB), die Jugendstrafe (§§ 18, 19 J G G ) und der Strafarrest (§ 9 WStG). Der Jugendarrest (§ 16 J G G ) ist ein Zuchtmittel (§ 13 Abs. 2 Nr. 3 JGG), aber hier ist er nach dem Sinn der Vorschrift, das Recht auf mündliche Verhandlung auszuschließen, wenn durch Urteil auf Freiheitsentziehung erkannt wird, den Freiheitsstrafen und freiheitsentziehenden Maßregeln gleichzuachten. Die Freiheitsstrafe muß selbst als Strafe ausgesprochen sein; die Verurteilung zu einer Ersatzfreiheitsstrafe (§ 29 StGB) schließt das Recht auf mündliche Verhandlung nicht aus. Dagegen spielt es für den Ausschluß dieses Rechts keine Rolle, wenn die Freiheitsstrafe zur Bewährung ausgesetzt worden ist (§ 23 Abs. 1 StGB) oder wenn eine erlittene Untersuchungshaft oder einstweilige Unterbringung auf sie ganz angerechnet worden ist (§ 60 StGB); allerdings wird in diesen Fällen regelmäßig der Haftbefehl aufzuheben sein (II 2 zu § 120). Als freiheitsentziehende Maßregeln der Sicherung und Besserung kommen nur die Unterbringung in einer Heil- oder Pflegeanstalt (§ 42 b Abs. 2 StGB) und in einer Trinkerheilanstalt in Betracht. Denn auf sie kann auch neben einer Geldstrafe erkannt werden. Dagegen ist die Sicherungsverwahrung (§ 42 e StGB) nur neben Freiheitsstrafe zulässig, so daß der Anspruch auf mündliche Verhandlung schon wegen der Verurteilung zu Freiheitsstrafe endet. Der Anspruch auf mündliche Verhandlung endet, wenn ein freiheitsentziehendes Urteil ergangen ist. Es wird nicht auf die Verurteilung abgestellt, sondern, auf das Ergehen des Urteils. Danach kommt es — wie bei der ähnlichen Formulierung der Rücknahme des Strafantrags (§ 64 StGB; RGSt. 2 420) — nicht auf den Bestand der Verurteilung an; maßgebend ist lediglich der Akt des Urteilserlasses. Daraus folgt, daß der Anspruch auf mündliche Verhandlung nicht wieder auflebt, wenn das Urteil durch das Berufungs- oder Revisionsgericht aufgehoben wird. Denn die Aufhebung beseitigt zwar die Verurteilung, schafft aber die Tatsache nicht aus der Welt, daß ein Urteil ergangen ist, in dem auf Freiheitsstrafe oder auf eine freiheitsentziehende Maßregel der Sicherung und Besserung erkannt worden ist. Die Entscheidung des Gesetzgebers entbehrt auch nicht des Sinns; in der Hauptverhandlung ist über den dringenden Tatverdacht umfassend verhandelt worden; dazu kann eine spätere mündliche Verhandlung nichts mehr erbringen, auch wenn das verurteilende Erkenntnis vom Revisionsgericht aufgehoben wird, ohne daß es zum Freispruch des Angeklagten kommt, bei dem der Haftbefehl aufzuheben ist (§ 120 Abs. 1 Satz 2; § 126 Abs. 3). Die Haftgründe werden sich nach der Hauptverhandlung nur selten ändern, so daß die gesetzgeberische Entscheidung, für den Regelfall 2 auf die mündliche Verhandlung zu verzichten, nicht unbegründet ist.

2

Von Amts wegen kann immer nach mündlicher Verhandlung entschieden werden.

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§ 118Anm.6 § 1 1 8 a Anm. 1

6. Terminfrist (Absatz 5). Das Verfahren ist in § 118 a geregelt, doch ist hier die Bestimmung vorweggenommen, daß die mündliche Verhandlung unverzüglich durchzuführen ist. Wegen des Begriffs unverzüglich s. 4 zu § 115. Als äußerste Frist für den Termin zur mündlichen Verhandlung werden zwei Wochen nach dem Eingang des Antrags festgesetzt. Es kommt auf den Tag des Eingangs bei dem zuständigen Gericht an. Ist jedoch der Antrag nach § 118 b in Vbdg. mit § 299 zu Protokoll der Geschäftsstelle des Amtsgerichts angebracht, in dessen Bezirk die Untersuchungshaftanstalt liegt, dann rechnet die Frist von dem Tage an, an dem das Protokoll aufgenommen worden ist. Für die Frist gilt § 43: Geht der Antrag dienstags ein, so muß die mündliche Verhandlung spätestens am übernächsten Dienstag stattfinden. Fällt das Ende der Frist auf einen Sonnabend, einen Sonntag oder einen allgemeinen Feiertag, dann endet die Frist mit Ablauf des nächsten Werktags. Die Frist wird nicht dadurch verlängert, daß nach dem Antrag ein Wechsel der Zuständigkeit, etwa durch Anklage, eintritt. Da die mündliche Verhandlung von einem — rücknehmbaren — Antrag des Beschuldigten abhängt, kann er auch einer Verlängerung der vom Gesetzgeber zu seinen Gunsten bestimmten Frist zustimmen. Doch wird die Zustimmung nur zu erfragen sein, wenn Beweiserhebungen laufen, die zu einer dem Beschuldigten günstigen Haftentscheidung führen können, nicht dagegen wegen der Geschäftslage. Die Zustimmung muß sich nicht nur auf die Überschreitung, sondern auch auf deren Ausmaß erstrecken. Ist der Antrag nicht vom Beschuldigten, sondern vom Verteidiger oder vom gesetzlichen Vertreter gestellt (§ 118b, §§ 297, 298 Abs. 1), so ist für die Fristverlängerung dessen Zustimmung erforderlich, nicht auch diejenige des Beschuldigten, doch bedarf der Verteidiger in entsprechender Anwendung von § 302 Abs. 2 in Vbdg. mit § 118b der ausdrücklichen Ermächtigung des Beschuldigten.

§ 118a (1) Von Ort und Zeit der mündlichen Verhandlung sind die Staatsanwaltschaft sowie der Beschuldigte und der Verteidiger zu benachrichtigen. (2) Der Beschuldigte ist zu der Verhandlung vorzuführen, es sei denn, daß er auf die Anwesenheit in der Verhandlung verzichtet hat oder daß der Vorführung weite Entfernung oder Krankheit des Beschuldigten oder andere nicht zu beseitigende Hindernisse entgegenstehen. Wird der Beschuldigte zur mündlichen Verhandlung nicht vorgeführt, so muß ein Verteidiger seine Rechte in der Verhandlung wahrnehmen. In diesem Falle ist ihm für die mündliche Verhandlung ein Verteidiger zu bestellen, wenn er noch keinen Verteidiger hat. Die §§ 142,143 und 145 gelten entsprechend. (3) In der mündlichen Verhandlung sind die anwesenden Beteiligten zu hören. Art und Umfang der Beweisaufnahme bestimmt das Gericht. Über die Verhandlung ist eine Niederschrift aufzunehmen; die §§ 271 bis 273 gelten entsprechend. (4) Die Entscheidung ist am Schluß der mündlichen Verhandlung zu verkünden. Ist dies nicht möglich, so ist die Entscheidung spätestens binnen einer Woche zu erlassen. Entstehungsgeschichte: Eingefügt durch das Gesetz vom 27. 12. 1926. Die derzeitige Fassung hat die Bestimmung erhalten durch Art. 1 Nr. 1 StPÄG. Bezeichnung bis 1964: § 115d. 1. Zweck» Es ist ein Nachteil unseres Strafprozesses, daß er zu lange schriftlich und geheim vorbereitet wird. Das geheime Verfahren vermindert wohl die Möglichkeit der Verdunkelung, ist aber zugleich einer frühzeitigen wirksamen Verteidigung hinderlich. Das schriftliche Verfahren fordert zwar die Gründlichkeit der Ermittlungen; ihrer Zielstrebigkeit, Konzentration und Schnelligkeit kann es jedoch oft im Wege stehen. Da allein die Hauptverhandlung für das endliche Erkenntnis maßgebend ist (§ 261), ihr Ablauf aber nicht voll vorausgesehen werden kann, wird im Ermittlungsverfahren in der Regel vorsichtshalber der Schnelligkeit eine Gründlichkeit vorgezogen, die — vom Verhalten des Beschuldigten in der Hauptverhandlung aus rückblickend betrachtet — zuweilen nicht notwendig gewesen wäre. Deshalb ist die mündliche Verhandlung in Haftsachen ein wünschenswerter Einbruch 731

§ 118 a Anm. 2

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der Mündlichkeit ins Vorverfahren. Das gilt namentlich für die erste. Die erste mündliche Verhandlung, das eigentliche habeas-corpus-Verfahren, bringt den Beschuldigten und seinen Verteidiger mit Gericht und Staatsanwaltschaft zusammen und gibt ihm, nachdem er bei der Verhaftung die Beschuldigung kennengelernt hat ( § 1 1 5 Abs. 2 und 3, § 1 1 5 a Abs. 2), Gelegenheit, sich verteidigend in das Verfahren einzuschalten und selbst, indem er Beweismittel benennt und Handlungen eingesteht, zu seiner Abkürzung beizutragen. Staatsanwalt und Untersuchungsrichter aber können ihrerseits, auf der Einlassung, namentlich auf einem etwaigen Teilgeständnis aufbauend, den Gang der Ermittlungen festlegen, das Verfahren konzentrieren und abkürzen, seinen Abschluß beschleunigen und damit die Untersuchungshaft, den schwersten Eingriff in die Rechte des als unschuldig geltenden nicht Verurteilten (Art. 6 Abs. 2 MenschRKonv.), wirksam einschränken. D e m ist bei Vorbereitung und Durchführung der Verhandlungen Rechnung zu tragen. Die erste Verhandlung sollte, wenn ihre Nutzlosigkeit nicht auf der H a n d liegt, keine Routine sein. Findet sie im Vorverfahren oder in der Voruntersuchung statt, dann kann sie die Weichenstellung für die weitere Behandlung der Haftsache ergeben. D a z u sollten die wichtigsten Zeugen Aug' in Auge mit dem Beschuldigten vernommen, seine Beweisanträge entgegengenommen und, wenn nötig nach kurzer Vertagung, erledigt werden. Allerdings darf die mündliche Verhandlung nicht über ihr Ziel, neben den Haftgründen den dringenden Tatverdacht zu prüfen, hinausgehen; die Sicherheit von Schuldfeststellungen darf sie nicht anstreben. In späteren Verhandlungen wird nur in großen Sachen ein Gewinn an Erkenntnissen in bezug auf den dringenden Tatverdacht gegenüber der schriftlichen Prüfung zu erzielen sein. Aber auch in bezug auf die Haftgründe kann sie in der Regel nicht viel erbringen. In den wenigen Fällen der Verhaftung wegen Verdunkelungsgefahr wird ohnehin laufend, spätestens bei der Eröffnung des Hauptverfahrens (§ 207 Abs. 2) geprüft, ob der Fortgang oder Abschluß der Ermittlungen nicht wirksam eine weitere Verdunkelung schon deshalb ausschließt, weil es, wenigstens praktisch, nichts mehr zu verdunkeln gibt. Die Umstände, die die Fluchtgefahr begründen, werden sich im Laufe des Verfahrens, abgesehen von dem Verhältnis der Haft zu der zu erwartenden Strafe, selten verändern. Die Gründe von § 112 Abs. 3 (Wiederholungsgefahr bei Sittlichkeitsverbrechern) und § 112 Abs. 4 (Verbrechen wider das Leben) werden kaum eine Veränderung erfahren. Auch sonst wird in manchen Fällen eine vom Beschuldigten erzwungene mündliche Verhandlung, auch eine erste, das Verfahren nicht fordern können, weil die Verteidigung bekannt und alles Sachdienliche schon veranlaßt ist. D a s wird in Voruntersuchungssachen die Regel sein, aber auch in staatsanwaltlichen Ermittlungsverfahren, wenn der Staatsanwalt frühzeitig den Beschuldigten und seinen Verteidiger gehört hat. W o aber die Möglichkeit einer Sachforderung besteht, würde der Zweck der mündlichen Verhandlung, jedenfalls einer ersten, verfehlt, wenn sie routinemäßig ohne Anwesenheit der Staatsanwaltschaft und eines Verteidigers dadurch abgewickelt würde, daß der Beschuldigte gehört wird und Gelegenheit erhält, zu einigen vorgehaltenen oder vorgelesenen Zeugenaussagen Stellung zu nehmen. 2. Verhandlungen außerhalb des förmlichen Haftprüfungsverfahrens. Die mündliche Verhandlung ist Teil des förmlichen Haftprüfungsverfahrens ( § 1 1 8 Abs. 1). Dieses Verfahren findet nur auf Antrag des Beschuldigten statt ( § 1 1 7 Abs. 1), nicht von Amts wegen. Das ist notwendig, damit der Beschuldigte wegen der Folgen ( § 1 1 8 Abs. 1 und 3) den Zeitpunkt der Haftprüfung danach einrichten kann, wann er verteidigungsbereit ist. Das besagt aber nicht, daß das Gericht nicht jederzeit auch außerhalb eines förmlichen Haftprüfungsverfahrens mündlich verhandeln könnte, wenn ihm dies geboten erscheint. Namentlich kann die Vernehmung nach § 115 Abs. 2 in die F o r m einer mündlichen Verhandlung gekleidet und auch beim Kollegialgericht vor diesem (1, 5 zu § 126) durchgeführt werden. Wird im beschleunigten Verfahren ( § § 2 1 2 ä f f . ) die Aburteilung in dieser Verfahrensart abgelehnt (§ 212 b), kann der Termin, wenn die Zuständigkeitsverhältnisse es gestatten, als mündliche Verhandlung zur Haftprüfung ausgestaltet werden. Solche Verhandlungen haben nicht die Folge des § 118 Abs. 3, wenn nicht der Beschuldigte förmliche Haftprüfung beantragt ( § 1 1 7 Abs. 1) und damit dem Gericht die Möglichkeit eröffnet, nach § 118 Abs. 1 von Amts wegen in mündlicher Verhandlung zu entscheiden. Auf der anderen Seite kann die mündliche Verhandlung des § 118a, wenn der für die Haftsache zuständige Richter auch für das beschleunigte Verfahren zuständig ist, in dieses 732

Neunter Abschnitt. Verhaftung und vorläufige Festnahme (Dünnebier)

§ 118 a Anm. 3—5

übergeführt werden. Davon sollte regelmäßig Gebrauch gemacht werden, wenn der Sachverhalt klar ist, und stets, wenn der Beschuldigte es beantragt. Das beschleunigte Verfahren wiederum kann einer beantragten mündlichen Verhandlung im Haftprüfungsverfahren zuvorkommen und sie unnötig machen, wenn es mit einem Urteil endet. 3. Vorbereitung der Beweisaufnahme. Nach Absatz 3 Satz 2 bestimmt das Gericht Art und Umfang der Beweisaufnahme. Die Vorschrift gilt für die Verhandlung, hat aber auch Bedeutung für ihre Vorbereitung. Wenn der Beschuldigte in seinem Antrag nicht eindeutig zum Ausdruck bringt, wogegen er sich wenden will, wird der Vorsitzende oder ein beauftragter Richter festzustellen haben, ob der Beschuldigte den Tatverdacht, dessen Dringlichkeit oder den Haftgrund angreifen will und was er dazu vorzubringen hat. Alsdann muß das Gericht in einer Vorberatung, in der Regel nach Fühlungnahme mit der Staatsanwaltschaft, die ggf. Anträge zu stellen hat, und dem Verteidiger bestimmen, welche Beweismittel in der Verhandlung benötigt werden, namentlich welche Zeugen geladen werden sollen. Wenn auf der Hand liegt, welche Beweismittel für die mündliche Verhandlung in Betracht kommen, bedarf es des soeben dargelegten Verfahrens nicht; dann veranlaßt der Vorsitzende, daß die Beweismittel herbeigeschafft und die Zeugen geladen werden. 4. Terminsbenachrichtigung (Absatz 1). Benachrichtigung von Ort und Zeit der mündlichen Verhandlung erhalten der Beschuldigte; sein Verteidiger, gleichgültig ob es ein Pflicht- oder ein Wahlverteidiger ist; die Staatsanwaltschaft; der Nebenkläger (§ 397, § 385 Abs. 1 Satz 1). Der Verpflichtung, ihn zu benachrichtigen, kommt jedoch außer in Voruntersuchungssachen nur geringe Bedeutung zu, nämlich erst von Erhebung der öffentlichen Klage an (§ 395 Abs. 1). Der Einziehungsbeteiligte erhält keine Nachricht. Bei Jugendlichen sollen der Erziehungsberechtigte und der gesetzliche Vertreter benachrichtigt werden (§ 67 Abs. 2 JGG), doch darf, wenn sie unbekannt sind, die Terminsfrist nicht überschritten werden, um sie zu ermitteln. Für den Beistand eines Jugendlichen (§ 69 Abs. 1 JGG) sieht § 69 Abs. 3 JGG Rechte nur in der Hauptverhandlung vor, doch wird ihn der Jugendrichter, wenn er ihn schon im Vorverfahren bestellt hat, auch von der mündlichen Verhandlung über den Haftbefehl benachrichtigen. Zeugen und Sachverständige, sowohl für die Frage des dringenden Tatverdachts, als auch für die Flucht- oder Verdunkelungsgefahr, sind zu laden, ihre Namen sind dem Beschuldigten in seiner Benachrichtigung bekanntzugeben. Der Beschuldigte kann die Ladung weiterer Zeugen beantragen oder sie auch selbst laden. Da der Beschuldigte vorgeführt wird, ist er nicht zu laden. Auch bei den anderen Beteiligten, mit Ausnahme des Verteidigers und bei Zeugen und Sachverständigen, scheidet, da sie zum Erscheinen nicht verpflichtet sind, die Form der Ladung aus. Ihnen ist der Termin vielmehr formlos mitzuteilen. Wegen der kurzen Frist ist auch fernmündliche Benachrichtigung zulässig (OLG Hamm Rpfleger 1949 85). Da die Benachrichtigung weder eine Ladung ist (§ 214) noch der Zustellung bedarf (§ 36), ist sie Sache des Gerichts und nicht der Staatsanwaltschaft (a. A. H ä r t u n g 4 Abs. 7 zu § 115 d). Ist zu der mündlichen Verhandlung ein Verteidiger zuzuziehen (Absatz 2 Satz 2), so kann im Hinblick auf den entsprechend anzuwendenden (Absatz 2 Satz 3) § 145 Abs. 4 (Verurteilung in die Kosten der Aussetzung, wenn der Verteidiger sie durch sein Ausbleiben verschuldet hat) eine Ladung in Betracht kommen, doch wird in der Regel von ihr abgesehen werden. Wird sie angeordnet, so ist sie, ebenso wie diejenige von Zeugen, von der Staatsanwaltschaft auszuführen (§ 36 Abs. 1 Satz 1), doch wird es sich wegen der kurzen Frist in der Regel empfehlen, daß der Vorsitzende oder der Untersuchungsrichter sie selbst veranlaßt (§ 36 Abs. 2). 5. Vorführung (Absatz 2). Gegenüber der schlichten Haftprüfung liegt der Sinn der mündlichen Verhandlung darin, daß der Sachverhalt und die Haftgründe mit dem Beschuldigten mündlich erörtert werden, damit dieser Gelegenheit erhält, sich in Rede und Gegenrede gegen die Vorwürfe zu verteidigen, er sei einer Tat verdächtig, dieser Verdacht sei 733

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Anm. 6 dringend, es bestehe die Gefahr, daß er fliehe oder verdunkele, oder es liege einer der in § 112 Abs. 3 und 4 genannten Haftgründe vor. Diese Verteidigung kann er sinnvoll nur führen, wenn er in der mündlichen Verhandlung anwesend ist. Dazu ist er vorzuführen. Verzichtet der Beschuldigte auf die Vorführung, dann kann sie unterbleiben, doch kommt diesem Befreiungsgrund wenig Bedeutung zu, weil der Beschuldigte, wenn er schon mündliche Verhandlung beantragt hat, im allgemeinen keinen Anlaß haben wird, einen Verzicht zu erklären. Noch weniger wird er dazu Veranlassung finden, wenn das Gericht die mündliche Verhandlung von Amts wegen anberaumt und dadurch den Wunsch zu erkennen gegeben hat, die Sach- und Haftfrage mit dem Beschuldigten zu erörtern. Nicht nur in diesem Falle, sondern auch bei einer Verhandlung auf Antrag des Beschuldigten wird es sich, da der Staat an einer wirksamen Haftkontrolle selbst Interesse hat, auch nicht empfehlen, dem Beschuldigten nahezulegen, auf die Vorführung zu verzichten. Daraus wäre bei weiter, aber der Teilnahme nicht hinderlichen Entfernung auch kein Gewinn zu erzielen, weil ein Verteidiger zu bestellen und diesem eine Reise zum Beschuldigten zu bezahlen wäre; schriftliche Information wird für die Zwecke der mündlichen Verhandlung regelmäßig kaum genügen. Allenfalls könnte der Verzicht einem Beschuldigten empfohlen werden, der zwar nicht so krank ist, daß er an der Verhandlung nicht teilnehmen kann, bei dem aber, etwa wegen der Aufregung als Folge der Teilnahme, eine wesentliche Verschlimmerung der Krankheit zu erwarten ist. Der Verzicht ist widerruflich, doch kommt dem Widerruf nur insoweit Bedeutung zu, als er noch berücksichtigt werden kann. Eine Verlegung des Termins kann der widerrufende Beschuldigte nicht verlangen. Die Vorführung kann ferner unterbleiben, wenn ihr Hindernisse entgegenstehen, die nicht zu beseitigen sind. Als Beispiele nennt das Gesetz weite Entfernung und Krankheit. Wegen des Zwecks der mündlichen Verhandlung müssen die Hinderungsgründe eng ausgelegt und die Hindernisse nach Möglichkeit beseitigt werden. Stehen sie nicht der Vorführung, sondern der Innehaltung der Frist entgegen, so ist, ehe ohne den Beschuldigten verhandelt wird, dieser zunächst zu befragen, ob er einer Verlängerung der Frist (6 Abs. 2 zu § 118) zustimmt. Ein Hindernis kann auch dadurch beseitigt werden, daß die Art der Vorführung verändert, mit einem erkrankten Gefangenen also nicht im Gericht, sondern in der Vorführzelle des Gefängnisses oder seines Lazaretts, ggf. auch unmittelbar am Krankenbett, die mündliche Verhandlung durchgeführt wird. Weite Entfernung braucht nicht stets ein Hinderungsgrund zu sein. Jedenfalls bei der ersten mündlichen Verhandlung wird die Vorführung mittels Transports dem Sinn des Gesetzes entsprechen. Die Transportzeit kann dazu führen, die Zustimmung zu einer Fristverlängerung herbeizuführen. Fluchtgefahr bei einem notorischen Ausbrecher ist ein Hinderungsgrund, wenn der Gefangene von einem anderen Ort zur Verhandlung transportiert werden muß. Sitzt er am Gerichtsort ein, kann die Vernehmung in der Anstalt stattfinden. Dagegen ist die Gefahr des Ein- oder Ausschleppens von Seuchen ein Hinderungsgrund, der in aller Regel auch durch Zustimmung zur Fristverlängerung nicht zu beseitigen ist. 6. Verteidiger (Absatz 2). Kann der Beschuldigte ausnahmsweise nicht vorgeführt werden, so muß ein Verteidiger seine Rechte wahrnehmen. Hat er noch keinen, sei es zufolge Wahl, sei es zufolge Bestellung, ist ihm einer beizuordnen. Es genügt aber nicht, daß er einen hat, vielmehr muß der Verteidiger die Rechte des Beschuldigten in der Verhandlung wahrnehmen. Erscheint er nicht, etwa weil er entgegen der Ansicht des Gerichts die mündliche Verhandlung für nutzlos hält, ist dem Beschuldigten von Amts wegen ein Verteidiger zu bestellen. Da die mündliche Verhandlung bei Abwesenheit des Beschuldigten genau so wie eine Hauptverhandlung bei notwendiger Verteidigung nur stattfinden kann, wenn ein Verteidiger anwesend ist, findet § 145 entsprechende Anwendung (Satz 3). Hat der Beschuldigte noch keinen Verteidiger, so hat ihm der Vorsitzende des zuständigen Gerichts (9 c zu § 117) einen zu bestellen. Die Bestellung erstreckt sich nur auf die Verhandlung; doch stehen dem Verteidiger auch außerhalb der Verhandlung diejenigen Rechte zu, deren er bedarf, um sich auf sie vorzubereiten, namentlich das Recht auf Akteneinsicht (§ 147) und auf Verkehr mit dem Beschuldigten (§ 148). Damit er diese Rechte ausüben kann, ist er so frühzeitig wie möglich zu bestellen, alsbald nachdem das Bedürfnis hervorgetreten ist. Die Bestellung erlischt mit dem Ende der mündlichen Verhandlung, doch kann nach § 141 Abs. 3 Satz 1 — allerdings in der Regel von einem anderen Gericht ( § 1 4 1 734

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§ 118 a Anm. 7—9

Abs. 4) — der Verteidiger auch schon im Vorverfahren für das ganze Verfahren, also auch die künftige Hauptverhandlung, bestellt werden. Die Bestellung ist zurückzunehmen, wenn der Beschuldigte oder sein gesetzlicher Vertreter (§137 Abs. 2) einen Verteidiger gewählt und dieser die Wahl angenommen hat (§ 143). 7. Verhandelndes Gericht. Wegen der Zuständigkeit s. § 126. Das Gericht verhandelt und entscheidet in Beschlußbesetzung in nichtöffentlicher Sitzung. Die Übertragung der Verhandlung auf ein anderes Gericht oder auf einen beauftragten oder ersuchten Richter ist unzulässig, weil die Überzeugung des gesamten zuständigen Gerichts in der mündlichen Verhandlung unmittelbar gebildet werden muß (OLG München MDR 1958 181; K G JR 1964 267). Die mündliche Verhandlung kann — wenn der Beschuldigte dann auch keinen Anspruch auf sie hat — auch während der Hauptverhandlung stattfinden. Mit der Sache befaßt (§ 126 Abs. 2 Satz 1) ist dann das erkennende Gericht, das in Spruchbesetzung (z. B. § 76 Abs. 2 GVG) verhandelt und entscheidet. 8. Beteiligte. An der Verhandlung müssen das Gericht mit einem Urkundsbeamten und der Beschuldigte teilnehmen. Gegen mehrere Beschuldigte kann die mündliche Verhandlung gleichzeitig durchgeführt werden, wenn sie gleichzeitig Anträge gestellt haben. Einen Anspruch auf gleichzeitige Verhandlung haben sie nicht. Sie unterbleibt, wenn ihr die Gefahr der Verdunkelung entgegensteht. Liegen für den Beschuldigten die Ausnahmegründe von Absatz 2 Satz 1 vor, dann muß auch der Verteidiger, von mehreren einer, an der gesamten Verhandlung teilnehmen, wie sich namentlich aus dem Zitat von § 145 ergibt. Dieser ist zu vergleichen für die Fälle, daß der Verteidiger ausbleibt, sich entfernt, sich weigert, die Verteidigung zu führen, oder daß ein Verteidiger erst in der Hauptverhandlung bestellt wird. Ist der Antragsteller nicht der Beschuldigte, so braucht er an der Verhandlung nicht teilzunehmen. Die Teilnahme der Staatsanwaltschaft ist für die Hauptverhandlung in § 226 vorgeschrieben. Hätte der Gesetzgeber gewollt, daß diese Vorschrift für die mündliche Verhandlung entsprechend anzuwenden sei, hätte er das — bei aller Dürftigkeit der Vorschrift — in § 118a anordnen müssen. Da er das nicht getan hat, ist die Folgerung geboten, daß der Staatsanwaltschaft nach dem Willen des Gesetzgebers die Teilnahme an der mündlichen Verhandlung freistehen soll1. Der gesetzgeberischen Entscheidung ist nicht entgegenzutreten für wiederholte Verhandlungen, die oft ohne Aussicht auf Sachförderung beantragt werden; bei ihnen mag die Staatsanwaltschaft, wenn ihre dienstlichen Verhältnisse die Teilnahme erschweren, sich für oder gegen sie an Hand der Akten entscheiden. Die erste Verhandlung indessen, die in der Regel ins Vorverfahren fällt, dürfte nicht ohne die Staatsanwaltschaft stattfinden, die im Vorverfahren am besten unterrichtet ist und zudem nach § 120 Abs. 3 über den Bestand des Haftbefehls verfügen kann. Daher sollte die Staatsanwaltschaft es als ihre Pflicht ansehen, an einer ersten mündlichen Verhandlung stets teilzunehmen. 9. Verhandlung (Absatz 3). Die anwesenden Beteiligten sind zu hören, in erster Linie und regelmäßig als erster der Beschuldigte. Da Absatz 3 Satz 1 neben § 33 Abs. 3 gilt, besagt die Vorschrift, daß der gesamte Tatsachenstoff auszubreiten ist, auch wenn der Beschuldigte zu ihm schon früher, etwa von der Polizei, gehört worden ist. Das Gehör geht also weiter als im Falle des § 117 (5 a zu § 117). § 33 Abs. 4 ist nicht anwendbar (5 c zu § 117). Bei dem Gehör ist der Beschuldigte auf die belastenden Umstände hinzuweisen. Ihm ist Gelegenheit zu geben, die Verdachtsgründe zu beseitigen und die Tatsachen geltend zu machen, die zu seinen Gunsten sprechen (§ 115 Abs. 3). § 136 Abs. 1 ist zu beachten. Ist der Beschuldigte nicht anwesend, ist für ihn der Verteidiger zu hören. Wenn anwesend, sind auch die sonstigen Beteiligten zu hören, namentlich der Staatsanwalt, der Gelegenheit nehmen wird, auch die zur Entlastung dienenden Umstände zu ermitteln (§ 160 Abs. 2) und auf sie hinzuweisen. Das Gericht ist frei, Art und Umfang der Beweisaufnahme zu bestimmen; die §§ 244, 245 gelten nicht. Es kann, statt Zeugen zu vernehmen, gerichtliche und polizeiliche Protokolle verlesen oder auch nur vortragen. Die Rücksicht auf den Untersuchungszweck kann 1

A. A. Mit beachtlichen Gründen L o b e - A l s b e r g I 4 b zu § 115 d.

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dem Vortrag noch nicht abgeschlossener Beweiserhebungen entgegenstehen, doch sollte das belastende Material soweit als irgend möglich Gegenstand der Verhandlung sein. Die Erfahrung, daß Zeugen Aug' in Auge mit dem Beschuldigten und in Rede und Gegenrede mit ihm oftmals anders aussagen als vor der Polizei, sollte zur Vernehmung der wichtigsten Zeugen in der ersten Verhandlung führen. Bei wiederholten Verhandlungen wird das Verfahren dagegen in der Regel einfacher ablaufen. Beweisverbote sind zu beachten, namentlich findet § 252 Anwendung. Das Gericht braucht Zeugen nicht zu vereidigen, es kann sich mit uneidlicher Aussage oder mit Glaubhaftmachung begnügen. Findet die mündliche Verhandlung, wie in der Regel, im Vorverfahren oder während der Voruntersuchung statt, dann dürfen Zeugen und Sachverständige nur unter den Voraussetzungen der §§ 65, 66, 72 vereidigt werden. 10. Protokoll. Die wesentlichen Vorschriften für das Protokoll sind für anwendbar erklärt, doch ist zu beachten, daß sie nur entsprechend gelten. So entfallt die Angabe der Schöffen und Geschworenen ebenso wie die, daß öffentlich verhandelt ist, schon wegen der anderen Verfahrensart. Auch ist § 273 nach dem Zweck der Verhandlung zu modifizieren. Zwar sind regelmäßig die wesentlichen Ergebnisse der Vernehmungen in das Protokoll aufzunehmen (§ 273 Abs. 2). Denn die Ergebnisse dienen stets zugleich dem weiteren Verfahren. Ist die Einlassung des Beschuldigten jedoch nichtssagend, muß der Hinweis genügen, daß er gehört worden ist. Wiederholt er nur, was er bereits früher gesagt hat, sind Verweisungen auf frühere, auch polizeiliche Protokolle erlaubt. Auf jeden Fall muß das Protokoll, wenn gegen die ergehende Entscheidung (Absatz 4) Beschwerde zulässig ist, so abgefaßt sein, daß das Beschwerdegericht die Entscheidungsgrundlagen nachprüfen kann. § 274 hat nur für die Hauptverhandlung Sinn. Die Verweisung nimmt ihn daher zu Recht von den Vorschriften aus, die entsprechend anzuwenden sind. 11. Entscheidung (Absatz 4). Das Gericht stellt dieselbe Prüfung an und hat dieselben Entscheidungsmöglichkeiten wie im schriftlichen Verfahren (6 zu § 117). Im Gegensatz zu diesem beruht die Entscheidung in der mündlichen Verhandlung aber nicht auf den Akten, sondern — und zwar allein — auf dem Inhalt der mündlichen Verhandlung, zu der allerdings der Vortrag der entscheidungserheblichen Teile der Akten gehört. Die Entscheidung ergeht — wenn die Staatsanwaltschaft nicht anwesend ist, nach ihrer schriftlichen Erklärung (§ 33) — als Beschluß, der mit Gründen zu versehen ist (§ 34). Die Gründe müssen es dem Beschwerdegericht ermöglichen, die ergangene Entscheidung zu überprüfen. Daher müssen sie, wenn der Haftbefehl aufrechterhalten wird, die Tatsachen angeben, aus denen der dringende Verdacht einer bestimmten strafbaren Handlung begründet ist. Eine Verweisung auf den Haftbefehl oder eine frühere Entscheidung ist zulässig, reicht aber nur aus, wenn seitdem keine neuen Umstände zutage getreten sind, die eine Auseinandersetzung erfordern. Die Begründung muß ferner die Tatsachen angeben, aus denen sich der Haftgrund ergibt. Hatten die bei der Entscheidung angenommenen Haftgründe auch schon dem Haftbefehl oder einer früheren Entscheidung zugrunde gelegen und sind sie unverändert, kann hierauf verwiesen werden. Die gleichen Angaben müssen gemacht werden, wenn der Vollzug des Haftbefehls ausgesetzt wird (§ 116; § 72 Abs. 1 JGG). Denn bei dieser Entscheidung bleibt der Haftbefehl unberührt und bedarf der Begründung. Zusätzlich sind auch die tragenden Gründe für die Aussetzung anzugeben. Wird der Haftbefehl aufgehoben, braucht das Gericht nur die Verneinung entweder des Tatverdachts oder des Haftgrundes zu begründen. 12. Bekanntmachung. Die Entscheidung ist grundsätzlich am Schluß der mündlichen Verhandlung vom Vorsitzenden in Gegenwart des Beschuldigten oder, wenn dieser nicht vorgeführt worden ist, in Gegenwart des Verteidigers zu verkünden. Sonst Teilnahmeberechtigten, die am Schluß der mündlichen Verhandlung nicht anwesend sind, ist der Beschluß mitzuteilen. Die formlose Mitteilung genügt, weil durch die Bekanntmachung der Entscheidung keine Frist in Lauf gesetzt wird ( § 3 5 Abs. 2). Auch dem Beschuldigten oder seinem Verteidiger ist die Entscheidung mitzuteilen, wenn sie nicht am Schluß der mündlichen Verhandlung ergehen konnte, etwa weil eine längere Beratung erforderlich war. Wird die Entscheidung nicht am Verhandlungsschluß verkündet, so ist sie möglichst rasch, spätestens binnen einer Woche, zu erlassen und umgehend bekanntzumachen. Neue Tat736

Neunter Abschnitt. Verhaftung und vorläufige Festnahme (Dünnebier)

§ 1 1 8 a Anrn. 13 § 1 1 8 b Anm. 1, 2

Sachen, die nach Schluß der mündlichen Verhandlung bekannt werden, dürfen nicht verwertet werden, doch kann das Gericht die Verhandlung wieder eröffnen, solange die Entscheidung noch nicht ergangen (I 3 zu § 33) ist. 13. Beschwerde. Gegen die Entscheidung ist, wenn sie nicht von einem Strafsenat als Rechtsmittelgericht ergeht (§ 304 Abs. 4), Beschwerde zulässig, selbst wenn die Entscheidung die eines erkennenden Gerichts ist (§ 305 Satz 2). Hat die Beschwerdeentscheidung das Landgericht oder das erstinstanzlich entscheidende Oberlandesgericht getroffen, ist weitere Beschwerde zulässig (§ 310 Abs. 1). Beschwerdeberechtigt sind die Teilnahmeberechtigten (8), die Staatsanwaltschaft stets, die übrigen, auch der Nebenkläger (15b Abs. 2 zu § 114), soweit sie beschwert sind. Die Beschwerdeentscheidung ergeht nach Lage der Akten, so daß auch zu berücksichtigen ist, was nach Schluß der mündlichen Verhandlung zu den Akten gebracht worden ist. Mit der Beschwerde kann auch die Verletzung von Formvorschriften geltend gemacht werden, etwa daß die Verhandlung statt vor dem Gericht nur vor dem Vorsitzenden oder einem beauftragten Richter oder in Abwesenheit eines Verteidigers stattgefunden habe, obwohl einer mitwirken mußte. Das Protokoll hat hierfür, da § 274 in Absatz 5 nicht angezogen ist, keine Beweiskraft. Sind Formvorschriften verletzt, so kann das Beschwerdegericht die in der Sache erforderliche Entscheidung, weil diese eine mündliche Verhandlung voraussetzt, nur erlassen, wenn es nach § 118 Abs. 3 in mündlicher Verhandlung entscheidet; andernfalls muß es die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das zuständige Gericht zurückverweisen (OLG H a m m Rpfleger 1949 519; BayObLGSt. 1953 2 0 2 = N J W 1954 204). Im übrigen gilt das 8 zu § 117 und 16 zu § 114 Ausgeführte entsprechend.

§ 118 b Für den Antrag auf Haftprüfung ( § 1 1 7 Abs. 1) und den Antrag auf mündliche Verhandlung gelten die §§ 297 bis 300 und 302 Abs. 2 entsprechend. Entstehungsgeschichte: Eingefügt durch das Gesetz vom 27. 12. 1926. Dessen Absatz 2 ist durch Art. 1 Nr. 1 StPÄG entfallen. Bezeichnung bis 1964: § 115 c. 1. Inhalt der Verweisung. Der Antrag auf Haftprüfung ( § 1 1 7 Abs. 1) ist ein Rechtsbehelf, der Antrag auf mündliche Verhandlung ( § 1 1 8 Abs. 1) ist eine Modifizierung des Rechtsbehelfs und daher selbst als solcher anzusehen. Für diese Rechtsbehelfe werden wesentliche Vorschriften für die Rechtsmittel für anwendbar erklärt: Die Anträge kann für den Beschuldigten dessen Verteidiger stellen, jedoch nicht gegen dessen ausdrücklichen Willen (§ 297). Für die Rücknahme des Antrags bedarf es einer ausdrücklichen Ermächtigung (§ 302 Abs. 2). Auch der gesetzliche Vertreter kann die Anträge anbringen (§ 298). Der nicht auf freiem Fuß befindliche Beschuldigte hat Vergünstigungen für das Anbringen der Anträge (§ 299; 3 b zu § 117). Ein Irrtum in der Bezeichnung des Antrags ist unschädlich (§ 300). 2. Gesetzlicher Vertreter. § 298 verleiht dem gesetzlichen Vertreter des Beschuldigten (wegen des Begriffs s. 8 vor § 137) die Befugnis, Rechtsmittel selbständig einzulegen. Wegen des Verbots der reformatio in pejus ( § 3 3 1 Abs. 1, § 358 Abs. 2) können Rechtsmittel dem Angeklagten grundsätzlich — setzt man die Kostenfrage und die Möglichkeit der Änderung des Schuldspruchs beiseite — nur nützen. Die „entsprechende" Anwendung des § 298, die § 118 b vorschreibt, könnte daher zu der Auslegung führen, daß dem gesetzlichen Vertreter der Gebrauch des Antrags auf Haftprüfung und auf mündliche Verhandlung untersagt ist, wenn damit das Recht des Beschuldigten gefährdet wird, sich zu der Zeit zu verteidigen, die er für geeignet hält. D a diese Gefahrdung aber wegen der Befugnis des Gerichts, von Amts wegen nach mündlicher Verhandlung zu entscheiden ( § 1 1 8 Abs. 1), und dadurch weitere Anträge auf mündliche Verhandlung zu begrenzen ( § 1 1 8 Abs. 3), mit jedem Antrag auf Haftprüfung eintritt, bliebe bei dieser Auslegung für die entsprechende Anwendung von § 298 kein Raum. D a der Gesetzgeber sie aber verordnet hat, bringt er 737

§ 119

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damit zum Ausdruck, daß der Ausdruck „entsprechend" nicht die Forderung enthält, der Rechtsbehelf müsse dem Beschuldigten wie das Rechtsmittel grundsätzlich nur nützlich sein. Trotz der Selbständigkeit des Antrags des gesetzlichen Vertreters und trotz der Freiheit des Beschuldigten, sich selbst des Rechtsbehelfs zu bedienen, wirkt hier der Wille des gesetzlichen Vertreters auf die Rechte des Vertretenen ein, wie das im Zivilrecht die Regel, im Strafprozeß aber eine seltene Ausnahme ist. Bei einer Reform wird indessen zu prüfen sein, ob Handlungen des Vertreters, die dem Vertretenen nicht nur nützlich sein können, auch weiterhin zugelassen werden sollen.

§ 119 (1) Der Verhaftete darf nicht mit anderen Gefangenen in demselben Raum untergebracht werden. Er ist auch sonst von Strafgefangenen, soweit möglich, getrennt zu halten. (2) Mit anderen Untersuchungsgefangenen darf er in demselben Raum untergebracht werden, wenn er es ausdrücklich schriftlich beantragt. Der Antrag kann jederzeit in gleicher Weise zurückgenommen werden. Der Verhaftete darf auch dann mit anderen Gefangenen in demselben Raum untergebracht werden, wenn sein körperlicher oder geistiger Zustand es erfordert. (3) Dem Verhafteten dürfen nur solche Beschränkungen auferlegt werden, die der Zweck der Untersuchungshaft oder die Ordnung in der Vollzugsanstalt erfordert. (4) Bequemlichkeiten und Beschäftigungen darf er sich auf seine Kosten verschaffen, soweit sie mit dem Zweck der Haft vereinbar sind und nicht die Ordnung in der Vollzugsanstalt stören. (5) Der Verhaftete darf gefesselt werden, wenn 1. die Gefahr besteht, daß er Gewalt gegen Personen oder Sachen anwendet, oder wenn er Widerstand leistet, 2. er zu fliehen versucht oder wenn bei Würdigung der Umstände des Einzelfalles, namentlich der Verhältnisse des Beschuldigten und der Umstände, die einer Flucht entgegenstehen, die Gefahr besteht, daß er sich aus dem Gewahrsam befreien wird, 3. die Gefahr des Selbstmordes oder der Selbstbeschädigung besteht und wenn die Gefahr durch keine andere, weniger einschneidende Maßnahme abgewendet werden kann. Bei der Hauptverhandlung soll er ungefesselt sein. (6) Die nach diesen Vorschriften erforderlichen Maßnahmen ordnet der Richter an. In dringenden Fällen kann der Staatsanwalt, der Anstaltsleiter oder ein anderer Beamter, unter dessen Aufsicht der Verhaftete steht, vorläufige Maßnahmen treffen. Sie bedürfen der Genehmigung des Richters. Entstehungsgeschichte: Nachdem der Untersuchungsgefangene durch die AV des Reichsjustizministers vom 23.3. 1938 (DJ 447) für „grundsätzlich arbeitspflichtig" erklärt worden war, erhielt § 116 durch Art. 9 § 3 der VO zur weiteren Vereinfachung der Strafrechtspflege vom 13. 8. 1942 (RGBl. I 508) folgende Fassung: (1) Dem Verhafteten dürfen die Beschränkungen auferlegt werden, die der Zweck der Untersuchungshaft, die Ordnung in der Anstalt oder die Sicherheit erfordern. Er kann zur Arbeit angehalten werden. (2) Der Verhaftete soll in Einzelhaft untergebracht werden; das muß geschehen, wenn es der Zweck des Verfahrens erfordert. (3) Über Maßnahmen zur Sicherung des Strafverfahrens entscheidet im Vorverfahren der Amtsrichter oder der Staatsanwalt, in der Voruntersuchung der Untersuchungsrichter und im Hauptverfahren der Vorsitzer des Gerichts. In dringenden Fällen kann der Anstaltsleiter vorläufige Anordnungen treffen; sie bedürfen der Bestätigung durch den Richter oder Staatsanwalt. (4) Die näheren Rechts- und Verwaltungsvorschriften über den Vollzug der Untersuchungshaft erläßt der Reichsminister der Justiz. Mit Art. 3 Nr. 47 VereinhG wurde § 116 (jetzt 119) wieder mit geringen Abweichungen auf seinen ursprünglichen Inhalt zurückgeführt. Die jetzige Fassung und Paragraphenbezeichnung ist eingeführt durch Art. 1 Nr. 1 StPÄG. Durch diese Vorschrift ist der bisherige Absatz 1, um den Trennungsgrundsatz schärfer zum Ausdruck zu bringen, in zwei Absätze aufgeteilt worden. Absatz 5 ist ausführlicher gehalten. Im übrigen hat die Vorschrift etwa den ursprünglichen Inhalt. Bezeichnung bis 1964: § 116. 738

Neunter Abschnitt. Verhaftung und vorläufige Festnahme (Dünnebier)

§ 119 Anm. I 1

Schrifttum: A c h t e r , Die Hausstrafe in der Untersuchungshaft, NJW 1970 268; B a u m a n n , Der Briefverkehr des Untersuchungsgefangenen, DRiZ 1959 379; B i r m a n n s , Beweisverbot für Briefe Untersuchungsgefangener, NJW 1967 1358; D r i e w e r , Die verfassungsrechtliche Bindung bei der Beschränkung des Postverkehrs von Straf- und Untersuchungsgefangenen, Diss. Bochum 1969; E n g e l b r e c h t e n , Zensur, Beanstandung und Beschlagnahme von Postsendungen der Untersuchungsgefangenen, DRiZ 1959 238; F r a n z , Rechtliches Gehör und die Briefkontrolle des Untersuchungsgefangenen, NJW 1965 855; G r u n a u , Untersuchungshaft-Vollzugsordnung, 1966; H e n n e r k e s , Die Grundrechte des Untersuchungsgefangenen, Diss. Freiburg 1966; K l e e , Der Vollzug der Untersuchungshaft, GA 55 257; K l e i n k n e c h t , Der Vollzug der Untersuchungshaft, JZ 1953 531; K r e u z e r , Die Briefkontrolle in der Untersuchungshaft, GA 1968 236; L ö f f l e r , Die Meinungs- und Pressefreiheit im Abhängigkeitsverhältnis, NJW 1964 1103; v . O l s h a u s e n , Briefkontrolle und Richterfunktion im Vollzug der Untersuchungshaft, JZ 1969 463; R ö h l , Der Rechtsschutz des Gefangenen, JZ 1954 65; S c h o r n , Die Rechtsstellung des Untersuchungsgefangenen, JR 1967 448; S c h m i t t , Die Verbindung des Untersuchungsgefangenen zur Außenwelt, SchlHA 1964 274; W a g n e r , Der mündliche und schriftliche Verkehr des Untersuchungsgefangenen, JW 1928 2962; W a i s , Die Verwertbarkeit von Briefen Untersuchungsgefangener als Beweismittel, NJW 1967 2047. Übersicht I. Vorbemerkungen 1. Inhalt und Grenzen 2. Untersuchungshaftvollzugsordnung 3. Sachlicher Geltungsbereich II. Trennungsgrundsatz (Absätze 1 und 2) 1. Inhalt 2. Trennung von Strafgefangenen 3. Einzelhaft 4. Sonderung 5. Übergangsrecht III. Beschränkungen (Absatz 3) 1. Inhalt 2. Zweck der Haft 3. Ordnung in der Vollzugsanstalt 4. Besuche 5. Pakete 6. Hausstrafen 7. Arten der Hausstrafen 8. Hausstrafverfahren 9. Fesseln (Absatz 5) IV. Schriftverkehr (Absatz 3) 1. Allgemeine Beschränkung 2. Beschränkung im Einzelfall a) Ausgehende Briefe b) Eingehende Briefe 3. Inhaltskontrolle 4. Beleidigende Briefe 5. Kontrollverfahren

6. Zurückhaltung, Beschlagnahme V. Freiheiten (Absatz 4) 1. Grundsatz 2. Ausführungen 3. Arbeit 4. Selbstbeschäftigung 5. Rundfunkempfang 6. Selbstbeköstigung 7. Arztwahl 8. ZwangseingrifTe 9. Seelsorge VI. Zuständigkeit (Absatz 6) 1. Gericht 2. Staatsanwalt a) Grundsatz b) Voraussetzungen 3. Dringende Fälle 4. Genehmigung 5. Meinungsverschiedenheiten 6. Dauer VII. Rechtsbehelfe und Rechtsmittel 1. Dienstaufsichtsbeschwerde 2. Antrag auf richterliche Entscheidung 3. Beschwerde 4. Nach der Untersuchungshaft 5. Weitere Beschwerde 6. Antrag nach § 23 Abs. 1 E G G V G 7. Revision

I. Vorbemerkungen. 1. Inhalt und Grenzen. Die Vorschrift bringt außer dem Trennungsgrundsatz (Absätze 1 und 2) zwei Prinzipien zum Ausdruck: Der Verhaftete ist von allen Beschränkungen frei, die nicht notwendig sind, um den Haftzweck und die Ordnung in der Vollzugsanstalt zu 739

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sichern (Absätze 3 und 4). Wie sich danach der Haftvollzug gestaltet, bestimmt allein der Richter (Absatz 6). Beide Grundsätze unterliegen jedoch Einschränkungen. Die meisten Untersuchungsgefangenen werden festgehalten, um ihre Flucht zu verhindern. Diesem Zweck würde, wären die Untersuchungshaftanstalten zweckentsprechend gebaut, und wäre reichliche Bewachung vorhanden, die Verwahrung allein und ohne weitere Beschränkungen genügen. Auch für Bequemlichkeiten und private Beschäftigungen ließen sich Voraussetzungen schaffen, die dem Gefangenen gestatten würden, sein privates Leben weitgehend ungestört fortzusetzen. Da indessen die Staatsausgaben notwendigerweise beschränkt sein müssen, kann es nicht allein der Anstaltsmauer überlassen bleiben, den Haftzweck zu sichern; vielmehr müssen Beschränkungen im Verkehr mit der Außenwelt zusätzlich Sicherungen bieten. Auch die Ordnung in der Anstalt ist ein Begriff, der sich aus der tatsächlichen Einrichtung ergibt und starke Eingriffe in die Lebensführung der Gefangenen erheischt. Hotels, die jede Freiheit in der Lebensführung ermöglichen, sind nicht ohne Ordnung; aber ihre unauffällige und dem einzelnen Reisenden angepaßte Ordnung ist teuer. Die Ordnung in der Anstalt muß mit beschränkten sachlichen Mitteln und mit einem eben ausreichenden Personal aufrechterhalten werden. Deshalb verlangt sie Verzicht und Einordnung. Die Untersuchungshaft führt nicht zu einer äußeren Gleichheit der Lebensführung aller Gefangenen: Der eine läßt sich Arbeit geben, der andere beschäftigt sich nach seinem Belieben (Nr. 42 bis 44 UVollzO); die meisten nehmen an der Anstaltsverpflegung teil, aber jedem steht es frei, sein Essen von einer Speisewirtschaft kommen zu lassen (Nr. 50 UVollzO); wer sich nicht mit Kleidung und Wäsche versorgen kann, trägt Anstaltskleidung (Nr. 52 UVollzO). Aber Sicherheit und Ordnung setzen auch der Individualisierung der Untersuchungshaft, die nach dem Wortlaut von Absatz 6 sehr weit gehen könnte, Grenzen. Die Ordnung in der Anstalt darf auch der Richter nicht aufheben. Was sie zuläßt, bestimmt sich weitgehend nicht nach seinen Vorstellungen, sondern nach Menge und Ausstattung der Zellen, der Arbeitsstätten und sonstigen Räume sowie nach Zahl und Güte des Aufsichtspersonals. Auch hindert die Fülle der Dienstgeschäfte den Richter daran, für jeden einzelnen Gefangenen Beschränkungen und Freiheiten individuell festzulegen. Endlich steht der Grundsatz der Gleichheit vor dem Gesetz einer zu weitgehenden Verschiedenheit entgegen. Eine solche wäre aber ohne einen Kanon schon deshalb zu erwarten, weil Haftentscheidungen täglich von Hunderten von Richtern getroffen werden, die, wenn sie Amtsrichter sind, das Amt des Haftrichters in der Regel nicht jahrelang behalten. 2. Untersuchungshaftvollzugsordnung. Aus diesen Gründen stellen die Landesjustizverwaltungen Untersuchungshaftvollzugsordnungen zur Verfügung, die bundeseinheitlich am 12. 2. 1953 beschlossen worden sind (letzte Änderung vom 1. 12. 1970). Soweit sie sich an die Staatsanwaltschaft und an das Anstaltspersonal wenden, sind sie hier nicht zu erörtern. Im Verhältnis zum Richter sind sie unverbindlich (BVerfGE 15 2 8 8 = NJW 1963 756) 1 und — dem Grundsatz nach — ein ihm zum Gebrauch bereitgestelltes Modell oder Muster ( K l e i n k n e c h t 532), dessen er sich bedienen kann, um sich zu ersparen, Beschränkungen und Freiheiten für jeden einzelnen Gefangenen festzusetzen (Nr. 2 Abs. 1 und 2 UVollzO). Mit der „Anordnung für den Vollzug der Untersuchungshaft" transformiert der Richter das Muster in eine richterliche Anordnung nach Absatz 6 Satz 1. Weil er dabei nur selten, und dann meist nicht von Amts wegen, sondern erst auf Anträge oder Beschwerden, abweichende Anordnungen trifft, wird von geringen Ausnahmen abgesehen das Leben, das der Gefangene in der Untersuchungshaft führt, durch die Untersuchungshaftvollzugsordnung bestimmt. Daher darf diese dem Untersuchungsgefangenen, damit er sich über seine Rechte unterrichten kann, nicht vorenthalten werden (OLG Bremen NJW 1956 922; OLG Saarbrücken StVollzK. 1966 Nr. 6, S. 16). Die Praxis der Richter, sich an die Vollzugsordnung zu halten, ist — wenn man zunächst Bedenken gegen einige ihrer Bestimmungen beiseite setzt — durchaus gerechtfertigt. Sie beruht auf der Anerkennung einer weitgehend wohlabgewogenen Regelung2, die der Nieder' O L G Celle N J W 1951 676; O L G Köln M D R 1953 570; O L G H a m b u r g J Z 1963 375; O L G F r a n k f u r t M D R 1965 1011; N J W 1967 166. 2 Die allerdings auch erschreckende Fehlbeurteilungen der Untersuchungshaft enthielt; Beispiel: Nr. 28 Abs. 1 Satz 3 UVollzO a. F.: Beschränkung der Schreiberlaubnis auf einen (!) Brief in der

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schlag jahrzehntelanger Erfahrung ist, und wirkt zu weitgehenden Unterschieden in der Behandlung der Untersuchungsgefangenen entgegen. Der Richter sollte daher nur aus besonderen Gründen abweichende Anordnungen treffen (OLG Köln MDR 1953 570). Gründe für abweichende Anordnungen können im Haftgrund, in der Persönlichkeit des Gefangenen, aber auch im Charakter seiner Straftat wie auch in der Dauer der Haft (OLG Hamburg NJW 1962 1633) und in der Art und Weise liegen, wie er sich in die Anstaltsordnung einpaßt. In wenigen Fällen sind sie durch den Inhalt der Vollzugsordnung geboten. Zwar sind deren Bestimmungen in der Regel dem Zweck der Untersuchungshaft, der Ordnung in der Vollzugsanstalt und der Forderung, die Grundrechte so schonend wie möglich anzutasten, schon weitgehend angepaßt. In mehreren Bestimmungen trägt sie aber, da bei ihrer Entstehung doch die ausgleichenden Kräfte gefehlt haben, die allein der Gang der Gesetzgebung sichern kann, den Anforderungen des Vollzugs stärker Rechnung, als dessen Notwendigkeiten das erfordern. Ist die Untersuchungshaftvollzugsordnung auch in ihrem größeren Teil als abgewogener Niederschlag langjähriger Erfahrung anzuerkennen, so ist gleichwohl dringend zu fordern, den Vollzug der Untersuchungshaft bald gesetzlich zu regeln. Das Richtergesetz schließt Empfehlungen an den Richter aus; aber es ist nicht zu leugnen, daß die Untersuchungshaftvollzugsordnung den Haftrichtern, die an ihrem Erlaß kaum beteiligt gewesen sind, mehr ist als nur Modell und Muster. Notwendigerweise muß sie das auch sein. Denn ein Haftrecht, das auf täglich neuen Entschließungen der Haftrichter beruhte, wäre für diese, für die Gefangenen und für den Vollzug untragbar. Endlich gibt es auch Notwendigkeiten des Haftvollzugs, in die durch richterliche Anordnungen nicht eingegriffen werden kann, ohne daß, wenn dies geschieht, stets die Ordnung in der Anstalt gestört wird. Hierzu gehören die Regelung des Tagesablaufs, der wegen des sinnvollen Einsatzes von Personal im wesentlichen notwendigerweise für alle Gefangenen gleich sein muß. Dazu zählen die Beköstigung, die Benutzung der Duschräume und Bäder, die Zeiten der Freistunden, die Gestellung von Ärzten und die Einrichtungen der Krankenversorgung, ferner im allgemeinen auch die Belegung der Hafträume, die Festsetzung der Beleuchtungszeiten und die Bemessung der Freistunden, wenn hierzu auch richterliche Anordnungen denkbar sind. Der Richter kann aber nicht wirksam anordnen, daß Eheleute in einem und demselben Haftraum untergebracht werden. Er kann keine Besuchsräume einrichten, in denen Ehegatten übernachten dürfen. Er darf regelmäßig nicht anordnen, daß Hafträume statt mit einem oder mit drei Mann mit zwei belegt werden. Er kann keinen Einfluß auf die Verpflegungssätze nehmen, den ärztlichen Dienst bestimmen, den Gottesdienst regeln oder die Arbeit in der Anstalt verteilen (OLG Hamm GA 1970 287). Die hierzu notwendige Abgrenzung der Rechte des Richters von denen des Anstaltsleiters muß bei einer Reform in einem Gesetz geregelt werden. 3. Sachlicher Geltungsbereich. § 119 gilt für die Untersuchungshaft (§ 112; § 72 Abs. 1 JGG), die einstweilige Unterbringung (§ 126 a Abs. 2 Satz 1) und die Sicherungshaft ( § 6 1 Abs. 1 JGG). Darüber hinaus ist er für jede Festhaltung auf Grund der Strafprozeßordnung anzuwenden, also bei vorläufiger Festnahme (§§ 127, 128) und in den Fällen von § 230 Abs.2 und von § 236, gleichviel ob Haftbefehl oder Vorführungsbefehl ergangen ist. Denn auch bei der Vorführung kann es erforderlich sein, den Beschuldigten in einem Haftraum für den Termin bereitzustellen. Während dieser Zeit sowie auf dem Transport können Beschränkungen notwendig werden. In der Hauptverhandlung selbst gilt § 238 Abs. 1. Für Jugendliche besteht der besondere Grundsatz, daß der Vollzug der Untersuchungshaft erzieherisch gestaltet werden soll (§ 93 Abs. 2 JGG). II. Trennungsgrundsatz (Absätze 1 und 2). 1. Inhalt. Absatz 1 enthält zwei Bestimmungen, in Satz 1 den Grundsatz der Einzelhaft und in Satz 2 den der Trennung der Untersuchungs- von den Strafgefangenen. Der erste Grundsatz wird durch Absatz 2 eingeschränkt. Dabei ist die in Satz 3 eingeräumte AufheWoche. Seit dem 1. 3. 1971 ist der Briefverkehr des Untersuchungsgefangenen grundsätzlich zeitlich unbeschränkt. — Trotz der begrüßenswerten Verbesserungen durch die Änderungen vom 1. 12. 1970 sind, wie im einzelnen aufgezeigt werden wird, noch bedenkliche, ja unanwendbare Vorschläge erhalten geblieben. 741

§119 Anm. II 2, 3

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bung des Trennungsgrundsatzes schlechthin gegeben; die in Satz 1 zugelassene kann nur durch die Willenserklärung des Gefangenen herbeigeführt werden. Der Grundsatz der Trennung der Untersuchungs- von den Strafgefangenen gilt außerhalb des Haftraums nur „soweit möglich". Der Möglichkeit steht die Unmöglichkeit entgegen. Der Untersuchungsgefangene darf also nur dann mit Strafgefangenen zusammen untergebracht werden, wenn die Trennung unmöglich ist. Einen Fall der Unmöglichkeit, der sogar die Unterbringung von Straf- und Untersuchungsgefangenen im gleichen Raum zuläßt, führt Absatz 2 Satz 3 auf. Daraus ergibt sich, da es an sich nicht unmöglich ist, für kranke Untersuchungsgefangene besondere Krankenräume, Behandlung und Bewachung bereitzustellen, daß auf die finanziellen Verhältnisse Rücksicht zu nehmen ist: Für Strafanstalten und Untersuchungshaftanstalten darf wegen der hohen Kosten ein gemeinsames Krankenhaus (Lazarett) unterhalten werden. Dagegen bietet die Vorschrift keinen Anhalt dafür, daß in der Untersuchungshaftanstalt Strafgefangene nur deshalb mit Untersuchungsgefangenen zusammenkommen dürften, weil anstelle von Handwerkern, Köchen und sonstigem Personal aus Gründen der Ersparnis Strafgefangene verwendet werden. 2. Die Trennung von Strafgefangenen ist eine Grundforderung, die sich aus der Notwendigkeit ergibt, den Charakter der Untersuchungshaft als einer prozessualen Sicherungsmaßnahme gegen den als unschuldig Geltenden (Art. 6 Abs. 2 MenschRKonv.) von der Vollstreckung der Strafe an einen Schuldigen eindeutig abzugrenzen. Der Forderung wird nur durch selbständige Untersuchungshaftanstalten voll genügt ( K l e e 261). Diese fordert auch die Untersuchungshaftvollzugsordnung in erster Linie (Nr. 11 Abs. 1); besondere Abteilungen von Strafanstalten werden nur hilfsweise zugestanden (Nr. 11 Abs. 2 UVollzO). Daher dürfen Untersuchungsgefangene grundsätzlich mit Strafgefangenen nicht im gleichen Raum (Haftraum, Schlafsaal) untergebracht sein (Absatz 1 Satz 1), es sei denn, daß es ihr körperlicher oder geistiger Zustand erfordere (Absatz 2 Satz 3). Ist das der Fall, dürfen im Lazarett oder in der Krankenabteilung Untersuchungsgefangene mit Strafgefangenen im gleichen Saal oder im gleichen Haftraum zusammenliegen, notfalls auch außerhalb des Lazaretts. Sonst, etwa bei der Arbeit und in der Freizeit, sind sie (Absatz 1 Satz 2) von Strafgefangenen getrennt zu halten, soweit das nach den Anstaltsverhältnissen möglich ist. Daher sollen Untersuchungsgefangene grundsätzlich im Haftraum arbeiten (Nr. 43 Abs. 2 UVollzO). Für Arbeiten, die sie mit anderen Gefangenen zusammenbringt, ist die Zustimmung des Richters erforderlich. Soweit die anderen Gefangenen Strafgefangene sind, wird sie nur zu erteilen sein, wenn der Untersuchungsgefangene gerade solche Arbeit begehrt, die er nur gemeinschaftlich mit Strafgefangenen ausüben kann (Nr. 22 Abs. 1 Satz 2 UVollzO), und wenn wegen der dabei zu befürchtenden Einflüsse keine Bedenken gegen die gemeinschaftliche Beschäftigung bestehen, wie etwa bei Rückfälligen, die die Untersuchungshaft ohnehin meist als vorweggenommene Strafhaft empfinden. Die Trennung der Untersuchungsgefangenen von den Strafgefangenen ist auch auf Transporten ( K l e e 262), in der Freizeit und, soweit nicht die oben dargestellten Ausnahmen vorliegen, bei der Arbeit erforderlich (Nr. 22 Abs. 1 Satz 2 UVollzO). 3. Einzelhaft. Innerhalb der Untersuchungshaftanstalt soll der Untersuchungsgefangene grundsetzlich getrennt von seinen Schicksalsgenossen untergebracht sein (Absatz 1 Satz 1), doch wird die Trennung der einzelnen Gefangenen nicht mit der gleichen Schärfe gefordert, wie diejenige der Untersuchungs- von den Strafgefangenen. Schicksal und Herkunft einer breiten Gruppe von Untersuchungsgefangenen, der Rückfalligen, sind gleich. Die Einzelhaft dient daher, von Ausnahmefällen abgesehen, dem Interesse des Beschuldigten. Mit ihrer Einrichtung soll sichergestellt werden, daß ein erstmalig Straffälliger (oder gar ein Unschuldiger) nicht in die Gemeinschaft mit Kriminellen gezwungen werden kann (Nr. 22 Abs. 5 UVollzO); sie soll es dem Untersuchungsgefangenen möglich machen, sich der Bequemlichkeiten zu erfreuen und die Beschäftigungen auszuüben, die Absatz 4 ihm freistellt. Legt er hierauf keinen Wert, dann kann er sich auf seinen ausdrücklichen schriftlichen Antrag in Gemeinschaft unterbringen lassen (Absatz 2 Satz 1). Einem Verlangen auf Unterbringung in Gemeinschaft wird zu entsprechen sein 3 , wenn nicht besondere Gründe (Unverträglich3

Enger OLG Hamburg NJW 1963 1840.

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Neunter Abschnitt. Verhaftung und vorläufige Festnahme (Dünnebier)

§ 119 Anm. II 4, 5; III 1

keit, Durchstechereien, Gefährlichkeit) erfordern, daß der Richter Einzelhaft anordnet (§ 23 Abs. 1 Satz 2 UVollzO). Tut er das, obwohl der Gefangene in die Gemeinschaftshaft eingewilligt hatte, so liegt darin die Zuriickführung auf den Grundsatz, so daß der Maßnahme kein Strafcharakter innewohnt (OLG Oldenburg NJW 1953 235). Der Beschwerde bleibt die Anordnung gleichwohl zugänglich. Den Antrag auf Zusammenlegung kann der Gefangene jederzeit schriftlich zurücknehmen (Absatz 2 Satz 2); doch wird er in der Regel nicht sofort, sondern nur zu bestimmten Tageszeiten in einen Einzelhaftraum verlegt werden. Außerhalb des Haftraums darf er jederzeit mit anderen Untersuchungsgefangenen — nicht aber mit Strafgefangenen — zusammengebracht werden, etwa zur Arbeit, zum Gottesdienst oder zu Gemeinschaftsveranstaltungen. 4. Sonderung. Dem öffentlichen Interesse, einen erstmalig Bestraften wider seinen Wunsch nicht der Ansteckung durch Kriminelle auszusetzen, kann auch ohne Einzelhaft dadurch genügt werden, daß Untersuchungshäftlinge nach Gruppen untereinander gesondert werden. Das ist weitgehend anzustreben. Eine Scheidung der Männer von den Frauen ist selbstverständlich (Nr. 12, Nr. 22 Abs. 3 UVollzO), die der Jugendlichen von den Erwachsenen in § 93 J G G für den Regelfall vorgeschrieben (Nr. 13 UVollzO). Eine Sonderung der Vorbestraften von den Erstbestraften, wie sie im Strafvollzug durchgeführt wird, ist auch in der Untersuchungshaftanstalt Pflicht (Nr. 22 Abs. 5 UVollzO). Darüber hinaus ist darauf Bedacht zu nehmen, daß die Untersuchungsgefangenen nach Lebensalter und Vorleben sowie nach der Art der vorgeworfenen Straftat getrennt verwahrt (Nr. 23 Abs. 3 UVollzO), namentlich Konfliktstäter von Hangtätern getrennt werden. Der Richter kann dazu Abweichungen vom Einweisungsplan anordnen (Nr. 14 Abs. 3 UVollzO). 5. Übergangsrecht. § 119 ist zwar mit dem gesamten Strafprozeßänderungsgesetz am 1. 4. 1965 in Kraft getreten. Nach Art. 14 Abs. 3 StPÄG darf jedoch bis zum 31. 3. 1973 von dem Grundsatz des Absatzes 1 Satz 1 abgewichen werden, solange und soweit die räumlichen Verhältnisse dazu zwingen. Da § 119 Abs. 2 alsbald gilt, ist ein schriftlicher Antrag schon jetzt grundsätzlich die Voraussetzung dafür, einen Untersuchungsgefangenen mit anderen Untersuchungsgefangenen in demselben Raum unterzubringen. Da solche Anträge vielfach gestellt werden und ihnen auch meist stattgegeben werden kann, werden die meisten Hafträume mit mehreren Gefangenen belegt. Nur wenn auch dann der Raum nicht ausreicht, darf der Untersuchungsgefangene bis zum 31. 3. 1973 auch ohne seinen schriftlichen Antrag mit anderen Untersuchungsgefangenen zusammengelegt werden. Das ist selbst gegen seinen Willen zulässig, doch sollte einem ausdrücklichen Antrag auf Einzelhaft solange entsprochen werden, als es irgend angeht. Zunächst sind also, wenn der Raum nicht ausreicht, um jedem einen Einzelhaftraum zu geben, solche Untersuchungsgefangenen zusammenzulegen, die das zwar nicht schriftlich beantragen, aber doch nicht ausdrücklich Einzelhaft verlangen. III. Beschränkungen (Absatz 3). 1. Inhalt. Absatz 3 ist die magna Charta des Untersuchungsgefangenen ( W a g n e r 2963; D a l i i n g e r MDR 1951 120). Sie besagt, daß der als unschuldig geltende (Art. 6 Abs. 2 MenschRKonv.) Beschuldigte über seine Bewegungsfreiheit hinaus in seiner Freiheit nur aus zwei Gründen beschränkt werden darf, wegen des Haftzwecks und wegen der Ordnung in der Anstalt. Daraus folgt, daß die Persönlichkeit des Gefangenen zu achten und sein Ehrgefühl zu schonen ist; daß er würdig und menschlich zu behandeln ist (Nr. 18 Abs. 1 UVollzO); daß der Vollzug der Haft auf seine bisherige Lebensweise Rücksicht zu nehmen hat ( K l e e 259) und daß Schäden durch die Haft von ihm fernzuhalten sind (Nr. 1 Abs. 3 UVollzO). Bei der nach diesen Grundsätzen auszugestaltenden Untersuchungshaft sind die durch das Grundgesetz gewährleisteten Grundrechte zu achten. Die Untersuchungshaft schafft kein die Grundrechte umfassend verdrängendes Gewaltverhältnis, wenn einzelne Grundrechte auch, je nach ihrem Inhalt verschieden stark, Beschränkungen unterworfen werden (BVerfGE 15 293 = NJW 1963 755). Am Grundgesetz und an dem Grundsatz des § 119 Abs. 2 ist jeder einzelne Vorschlag der Untersuchungshaftvollzugsordnung zu messen 743

§119 Anm. III 2, 3

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

und zu prüfen. Ist er mit ihnen unvereinbar, darf der Richter ihn sich nicht zu eigen machen 4 . Zwar kann der Richter in der Anordnung für den Vollzug der Untersuchungshaft (Nr. II des Aufnahmeersuchens des Richters; Nr. 15 Abs. 1 UVollzO) ein für den Regelfall angemessenes Verbot der Ausübung von Grundrechten mit Erlaubnisvorbehalt aussprechen. Jedoch hat der Gefangene einen grundrechtlich geschützten Rechtsanspruch auf die Genehmigung, seine Grundrechte dann auszuüben, wenn eine Gefahrdung der in § 119 Abs. 2 bezeichneten Interessen im konkreten Fall nicht eintreten kann. Lästigkeiten der Überwachung sind dabei hinzunehmen; denn die Grundrechte bestehen nicht nur nach Maßgabe dessen, was an Verwaltungseinrichtungen üblicherweise vorhanden ist (BVerfGE 15 296 = NJW 1963 755). Jene Prüfung und die damit verbundene Abwägung führt bei den einzelnen Grundrechten freilich zu verschiedenen Ergebnissen: Während z. B. Versammlungsfreiheit (Art. 8 Abs. 1 GG) und Freizügigkeit (Art. 11 Abs. 1 GG) ausgeschaltet werden, müssen die Freiheit der Religionsausübung (Art. 4 Abs. 2 GG) und diejenige der ungehinderten Unterrichtung (Art. 5 Abs. 1 GG) möglichst vollständig aufrechterhalten werden. 2. Zweck der Haft. Mit beachtlichen Gründen vertreten L o b e - A l s b e r g (I 1 zu § 116) und K l e e (278) die Ansicht, daß es keinen allgemeinen Haftzweck gebe, daß Zweck der Haft vielmehr jeweils der konkrete Haftzweck sei, der der Anordnung der Untersuchungshaft zugrunde liege. Daraus folgern sie, daß z. B. eine Briefkontrolle nur zulässig sei, wenn das Gericht die Untersuchungshaft wegen Verdunkelungsgefahr verhängt habe. Der Ansicht, daß unter Zweck der Haft der konkrete Haftanlaß zu verstehen sei, ist zuzustimmen (vgl. auch Nr. 1 Abs. 1 und 2 UVollzO). Doch kommt es hierauf nicht an, weil der Folgerung nicht beizutreten ist. Auch bei Fluchtgefahr muß der Verkehr mit Personen außerhalb der Anstalt, auch der briefliche, überwacht werden, damit der Beschuldigte keine Fluchtanstalten treffen kann. Kommen dabei Briefe zur Kontrolle, mit denen er verdunkeln will,_ so darf der Richter vor dieser Tatsache die Augen nicht deshalb verschließen, weil er die Überwachung zu dem Zwecke angeordnet hatte, Fluchtmaßnahmen zu verhindern. Für eine Beanstandung kommt es dann nur darauf an, daß die wegen Fluchtgefahr angedrohte Haft im Zeitpunkt der Entscheidung nicht mehr lediglich aus diesem Haftgrund gerechtfertigt ist 5 . Der Richter ist aber nicht gehindert, Freiheiten, z. B. unkontrollierten Briefverkehr, ganz oder teilweise, etwa mit Ehegatten (IV 2 b) zuzulassen, wenn er Einschränkungen im Hinblick auf den konkreten Haftzweck für entbehrlich hält. 3. Ordnung in der Vollzugsanstalt. Zulässig sind Beschränkungen zur Sicherung des tatsächlichen geordneten Zustandes in der Vollzugsanstalt, nicht etwa einer von der Verwaltung erlassenen schriftlichen Anstaltsordnung 6 . Ist die Notwendigkeit, die Ordnung aufrechtzuerhalten, auf der einen Seite eine Voraussetzung dafür, dem Gefangenen Beschränkungen aufzuerlegen, so setzt sie auf der anderen Seite dem Richter die Grenze, wieweit er Freiheiten zugestehen und Beschränkungen unterlassen darf. Auch ihn bindet die Ordnung in der Anstalt. Daher darf er sich bei seinen Anordnungen nicht allein von dem Interesse des einzelnen Gefangenen leiten lassen. Er hat vielmehr auch die Interessen der anderen Untersuchungsgefangenen, die zur Verfügung stehenden Räumlichkeiten sowie die Zahl der Aufsichtsbeamten zu berücksichtigen. Diese Rücksicht wird allerdings wieder durch den Umstand beschränkt, daß Nichtverurteilte verwahrt werden, deren Grundrechte soweit als möglich zu erhalten sind, und denen das Gesetz nicht nur Freiheiten, sondern auch Bequemlichkeiten garantiert, die nur versagt werden können, wenn konkrete Anhaltspunkte vorhanden sind, daß sie mißbraucht werden würden, nicht aber schon dann, wenn theoretisch die Möglichkeit dazu besteht ( M ü l l e r - D i e t z VoIlzD 1967 Nr. 3). 4

5

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RGSt. 31 129; OLG Bremen MDR 1951 120; M D R 1962 235; NJW 1962 649; OLG Celle NJW 1951 676; OLG Hamburg NJW 1959903; 1962 1633; D a l l i n g e r MDR 1951 120; K l e i n k n e c h t 531; R ö h l 65. D a l l i n g e r M D R 1951 121, OLG Bremen NJW 1962 649; OLG Hamburg HambJVBl. 1963 50; 1967 84. H a h n Mat. 1 858; J o h n 856; RGSt. 3 1 1 2 9 ; OLG Köln M D R 1953 570; OLG Hamburg NJW 1962 1633.

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§ 119 Anm. III 4—6

4. Besuche sind zulässig, unterliegen aber der Kontrolle, so daß der Richter Besuche, durch die der Haftzweck oder die Ordnung in der Anstalt gefährdet wird, ablehnen kann 7 . Bei Verdunkelungsgefahr sind die Besuche besonders sorgfältig zu überwachen. Die Überwachung ist aber auch bei Fluchtgefahr statthaft (2), doch kann der Richter auch unbewachte Besuche genehmigen, wenn der Haftzweck, die Persönlichkeit der Beteiligten und die Ordnung in der Anstalt es zulassen. Sind zwei Untersuchungsgefangene in derselben Anstalt untergebracht, von denen keiner verdächtig ist, an der dem anderen vorgeworfenen Tat beteiligt zu sein, dann können sie sich unter denselben Voraussetzungen besuchen, unter denen sie es könnten, wenn einer in Freiheit wäre (OLG Hamburg NJW 1965 364). „Unzuträglichkeiten" in der Anstalt sind kein Grund, Genehmigung und Vorführung zu versagen. Der begrenzte Personalbestand macht es aber erforderlich, die Zahl der Besuche (Nr. 25 UVollzO) und die Besuchszeiten (Nr. 24 Abs. 1 Satz 3 UVollzO) zu beschränken, doch darf die vorgesehene Zeit von 15 Minuten nicht zur Regel werden ( H e n n e r k e s 120). Die Notwendigkeit, die Besuche zu überwachen, macht es erforderlich, daß die Zahl der Personen, die gleichzeitig einen Besuch abstatten, gering gehalten wird (Nr. 26 UVollzO). Es ist Sache des Richters, die Interessen des Anstaltsbetriebs mit denen des Gefangenen abzuwägen. Dabei wird er auch die Persönlichkeit des Gefangenen und die Länge einer schon verflossenen Haftzeit berücksichtigen. 5. Pakete. Die Untersuchungshaftvollzugsordnung gestattet dem Gefangenen nur, Wäschepakete zu empfangen, untersagt den Paketempfang sonst grundsätzlich und gesteht dem Anstaltsleiter zu, Ausnahmen zu bewilligen (Nr. 39 Abs. 1 und 2 UVollzO). Gegen diesen Vorschlag bestehen Bedenken 8 . Zwar ist einzuräumen, daß der Paketverkehr Gelegenheit gibt, dem Gefangenen Fluchtgeräte zuzustecken. Dem kann aber durch Durchsicht begegnet werden. Der dazu erforderliche Personalaufwand kann durch Begrenzen des Paketempfangs gemindert, muß aber im übrigen erbracht werden, weil die Paketkontrolle zum ordnungsmäßigen Vollzug der Untersuchungshaft gehört. Das Oberlandesgericht Celle hat in einem anderen Zusammenhang (Bücherverbot) ausgeführt: „Die zur Aufrechterhaltung der Ordnung im Gefängnis angeordneten Beschränkungen müssen in angemessenem Verhältnis zu diesem Zweck stehen. Das Verbot. . ist unzulässig, wenn sich der erstrebte Zweck durch eine sachgemäße Handhabung der Überwachung.. erreichen läßt" (NJW 1951 676). Dieser Grundsatz erfordert beim Paketempfang besondere Beachtung; denn die Verbindung zur Familie wird durch ein liebevoll gepacktes Paket oft inniger aufrechterhalten als durch Briefe. Die Verbindung zur Familie zu fordern, muß angesichts des Grundsatzes, den Untersuchungsgefangenen menschlich zu behandeln (Nr. 18 Abs. 1 UVollzO), als eine dringliche Fürsorgemaßnahme angesehen werden. Daher ist der Empfang von Paketen, wenn auch in beschränktem Umfang, grundsätzlich zuzulassen (OLG Frankfurt NJW 1967 166)9. Weil er nicht nur einen materiellen, sondern auch einen ideellen Zweck verfolgt, kann er nicht mit der Begründung untersagt werden, der Gefangene habe die — zudem beschränkte — Möglichkeit, in der Vollzugsanstalt einzukaufen. Das empfangene Paket unterliegt der Kontrolle. Dabei können einzelne Gegenstände zurückgewiesen oder zur Habe des Gefangenen genommen werden (Nr. 39 Abs. 3 UVollzO); Beispiel: Kugelschreiberminen, in denen Nachrichten oder Flüssigkeiten verborgen sein können, deren Untersuchung aber ohne Zerstörung nicht möglich ist (OLG Oldenburg NJW 1964 215). 6. Hausstrafen. Die Ordnung in der Vollzugsanstalt kann nicht ohne eine Hausstrafgewalt aufrechterhalten werden. Wenn auch für die Hausstrafe der Mangel einer detaillierten gesetzlichen Regelung am empfindlichsten zutage tritt, so läßt sich die Hausstrafgewalt als 7

N r . 24 Abs. 1 Satz 1 UVollzO drückt das ungeschickt ( H e n n e r k e s 119: Diese Regelung geht von einem falschen Ansatzpunkt aus) dahin aus, daß der Untersuchungsgefangene mit Zustimmung des Richters Besuche empfangen darf. Richtig: der Gefangene hat das R e c h t , Besuche zu empfangen; der Richter kann es nach Absatz 3 beschränken. 8 Schärfer — Verbot ist rechtswidrig — H e n n e r k e s 127. ' E b e n s o W a g n e r 2965; H e n n e r k e s 127; a. A. OLG Köln JMB1NRW 1969 104; O L G Karls ruhe NJW 1970 290. — Für Strafgefangene ist der Empfang von Paketen grundsätzlich zugelassen, freilich „nach Maßgabe der dafür getroffenen Regelung" (Nr. 62 Abs. 1 Nr. 6 DVollzO), die aber den Grundsatz nicht antasten darf.

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Strafprozeßordnung. Erstes Buch § 119 Anm. III 7 solche, wenn auch mit sehr großen Bedenken, wohl eben noch gerade hinreichend aus dem Grundsatz des Absatzes 3 ableiten 10 . Freilich ist aufs dringendste zu fordern, daß die Haus(Disziplinar-)strafgewalt eine einwandfreie gesetzliche Grundlage schon vor einer allgemeinen Reform sobald als irgend möglich erhält, daß dabei ihre Grenzen neu bestimmt und der „Strafen"katalog eingeschränkt wird (7 Abs. 2). Die Hausstrafe ist ein bloßes Ordnungsmittel. Daher wohnt ihr im Gegensatz zur Kriminalstrafe kein Vergeltungszweck inne. Demzufolge sind für ihre Verhängung ausschließlich Gesichtspunkte der General- und Spezialprävention maßgebend (OLG Bremen NJW 1957 275). Die Bestrafung soll dem störenden Gefangenen und seinen Mitgefangenen dartun, daß die Ordnung in der Anstalt, wenn es nottut auch mit Gewalt, aufrechterhalten wird (OLG Hamm GA 1969 251). Kann sie diese Wirkung nicht erfüllen, etwa weil der Beschuldigte in Strafhaft überführt ist, oder weil die Hausstrafe dem Verstoß nicht auf dem Fuße folgt, so sind Verhängung und Vollstreckung unzulässig 11 . Der Wegfall der Wirkung auf den störenden Gefangenen allein macht jedoch die Strafe nicht unzulässig, wenn sie ihrer generalprävenierenden Wirkung wegen noch erforderlich ist, um die Ordnung in der Anstalt aufrechtzuerhalten. Voraussetzung der Hausstrafe ist, daß der Gefangene der Ordnung in der Vollzugsanstalt zuwiderhandelt (Nr. 67 Abs. 1 UVollzO). Die Untersuchungshaftvollzugsordnung läßt eine Strafe auch zu, wenn der Beschuldigte den Haftzweck — etwa durch einen Fluchtversuch — gefährdet oder vereitelt. Wenn auch gewisse Bedenken nicht unterdrückt werden können, nicht nur die Ordnung, sondern auch den Haftzweck durch Hausstrafen zu sichern 12 , so steht die Bestimmung doch im Einklang mit Absatz 3. Zu den dort aufgeführten Beschränkungen gehört als äußerste auch eine Hausstrafe. Sie ist daher auch bei einem Fluchtversuch als zulässig anzusehen (OLG Hamburg NJW 1965 1544; OLG Celle NJW 1969 673 — für Strafgefangene — ). Dagegen ist es unzulässig, einem Untersuchungsgefangenen eine Hausstrafe deshalb aufzuerlegen, weil er es unterlassen habe, Ausbruchs Vorbereitungen Mitgefangener zu melden (OLG Düsseldorf NJW 1968 1343) 13 . Der Begriff „in" der Anstalt umfaßt die ganze Gefangenhaltung. Daher kann auch eine außerhalb der Vollzugsanstalt begangene Handlung gegen die Ordnung in der Anstalt verstoßen (OLG Düsseldorf JMB1NRW 1955 9). 7. Arten der Hausstrafen. Da die Hausstrafe Ordnungsmittel ist, kommen alle Hafterschwerungen als Hausstrafen in Betracht, die geeignet sind, Ordnungsfunktionen zu entfalten. Es braucht kaum hervorgehoben zu werden, daß grausame und herabwürdigende Strafen verboten sind. Wegen des Gleichheitsgrundsatzes ist es erforderlich, bei gleichen Umständen gleiche Ordnungsmittel anzuwenden. Daher empfiehlt es sich, trotz starker Bedenken, den Katalog der Untersuchungshaftvollzugsordnung zu benutzen, der bei einzelnen Hausstrafarten allerdings sehr bedenklich ist. Bei der Verhängung (wie auch beim Vollzug) der Hausstrafe ist darauf zu achten, daß die Verteidigung und die Verhandlungsfähigkeit des Gefangenen nicht beeinträchtigt werden (Nr. 69 Abs. 3 UVollzO). Nr. 68 UVollzO

lautet:

Arten der Hausstrafen (1) Als Hausstrafen kommen in Betracht: 1. Verweis; 10

11 12 13

OLG Hamburg GA 71 74; BayObLG JW 1927 2059; OLG Celle NJW 1951 676; O L G Braunschweig M D R 1965 1007; S c h m i d t - L e i c h n e r NJW 1951 676; a. A. A c h t e r 269 mit beachtlichen Argumenten: Hausstrafe entbehrt der gesetzlichen Grundlage; Arreststrafe ist unzulässig. Beispiele: OLG Braunschweig MDR 1966 348; OLG Bremen NJW 1956 72; 1957 275. K l e e 270; H e n n e r k e s 148. Eine solche Meldepflicht darf nicht etwa Nr. 76 UVollzO in Vbdg. mit Nr. 79 Abs. 2 DVollzO entnommen werden. Es ist schon fraglich, ob die in Nr. 79 Abs. 2 DVollzO angeordnete Fluchtanzeige dem Strafgefangenen auferlegt werden darf; für den Untersuchungsgefangenen läßt sie sich aus § 119 Abs. 3 nicht herleiten.

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Neunter Abschnitt. Verhaftung und vorläufige Festnahme (Dünnebier)

§119 Anm. III 8

2. Beschränkung oder Entziehung der dem Untersuchungsgefangenen nach Nr. 18 Abs. 3 allgemein oder nach den Nummern 44 (Selbstbeschäftigung), 45 (Lesestoff), 46 (Teilnahme an gemeinsamen Veranstaltungen), 50 Abs. 2 (Selbstbeköstigung), 51 (Beschaffung von Zusatznahrungs- und Genußmitteln und Gegenständen des persönlichen Bedarfs), 53 Abs. 1 (Überlassung von Stücken aus der Habe) oder 54 Abs. 3 (verlängerte Zellenbeleuchtung) zustehenden Rechte oder erteilten Erlaubnisse bis zu vier Wochen; 3. Beschränkungen des Verkehrs mit der Außenwelt auf dringende Fälle bis zu vier Wochen; bei Beschränkung des Briefverkehrs darf der Gefangene einer der Personen, mit denen er in Briefwechsel steht, Mitteilung machen; 4. Beschränkung oder Entziehung der Bewegung im Freien bis zu einer Woche; 5. Schmälerung der Kost bis zu einer Woche; 6. hartes Lager bis zu einer Woche; 7. Arrest bis zu zwei Wochen. (2) Mehrere Arten von Hausstrafen dürfen nebeneinander verhängt werden. Dies gilt nicht für Arrest. Nr. 71 Abs. 2 bleibt unberührt. (3) Bei der Wahl der Hausstrafe sind Grund und Zweck der Haft sowie die seelischen Wirkungen der Untersuchungshaft und des Strafverfahrens zu berücksichtigen.

Die in Nr. 68 Abs. 2 Satz 3 erwähnte Nr. 71 Abs. 2 handelt von der Verschärfung des Arrests durch Entziehung der Arbeit, des Bettlagers, Schmälerung der Kost und Ausschluß von der Bewegung im Freien. H e n n e r k e s (149, 150) hält die Beschränkung des Briefverkehrs, der Bewegung im Freien und die in Nr. 68 Abs. 1 Nr. 5 bis 7 vorgesehenen Maßnahmen für unzulässig. Dem ist für die Beschränkung des Briefverkehrs — selbst bei der Begrenzung durch die Klausel der „dringenden Fälle" — zuzustimmen. Auch dürfen, um die Gesundheit und damit die Verteidigungsfähigkeit zu erhalten, keineswegs ohne Unterbrechung bis zu einer Woche die Bewegung im Freien beschränkt, die Kost geschmälert und hartes Lager angeordnet werden. Dafür ist durch die sog. „guten Tage" (jeder dritte Tag) gesorgt. Deshalb gehen die Bedenken vielleicht etwas zu weit, doch wird der Katalog unter Berücksichtigung des Charakters der Untersuchungshaft und der besonderen Lage des Untersuchungsgefangenen bei einer gesetzlichen Regelung starke Änderungen erfahren müssen. Dabei müssen die in § 68 Abs. 1 Nr. 4 bis 6 vorgesehenen „Strafen" entfallen. Solange eine gesetzliche Regelung fehlt, ist § 119 Abs. 3 eine überaus schwache Grundlage, die die weitgehende Differenzierung kaum trägt. Das Oberlandesgericht Hamm (GA 1969 250) will die Grundsätze über die Bildung einer Gesamtstrafe nicht anwenden. Für die nachträgliche Bildung einer Gesamtstrafe ist dem zuzustimmen. Sonst aber entspricht es dem Wesen einer Disziplinarmaßnahme, daß einzelne Verstöße nicht getrennt betrachtet und zum Gegenstand einer Hausstrafe gemacht, sondern daß den gesamten bei Verhängung einer Hausstrafe bekannten Zuwiderhandlungen mit einer einzigen Hausstrafe begegnet wird. 8. Hausstrafverfahren. Hausstrafen kann nur der Richter verhängen (Nr. 67 Abs. 1 UVollzO). Der Anstaltsleiter klärt den Sachverhalt und legt seine Ermittlungen dem Richter vor mit dem Antrage, eine bestimmte Hausstrafe festzusetzen. Der Richter kann weitere Ermittlungen veranlassen (Nr. 69 Abs. 1 UVollzO). Der Gefangene ist vor Verhängung der Hausstrafe zu hören. Daß dies der Richter selbst 14 und nur mündlich tut 15 , ist nicht erforderlich (OLG Hamm NJW 1953 356) 16 , da selbst bei der Strafverfügung das Gehör durch eine nichtrichterliche Stelle genügt ( § 4 1 3 Abs. 1 Satz 1). Dem Argument, daß der Anstaltsleiter, der die Strafe beantragt, nicht zugleich die Stelle sein soll, wo der Beschuldigte sich rechtfertigen kann 17 , kommt insofern Bedeutung zu, als der Richter einem Wunsch des Beschuldigten, ihn persönlich zu hören, grundsätzlich nachkommen sollte; ein Verbot, den Gefangenen auf andere Weise zu hören als mündlich durch den Richter selbst, trägt es nicht. 14 13 16 17

So E b S c h m i d t Nachtr. 42; H e n n e r k e s 153. So OLG Frankfurt NJW 1952 799; 1953 118. Ebenso G o t t w a l d t NJW 1952 799; K l e i n k n e c h t 534. S c h m i d t - L e i c h n e r NJW 1952 799.

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§119 Anm. III 9

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

Die Hausstrafe ist eine prozessuale Maßnahme. Sie wird daher durch schriftlich begründeten (§ 34) Beschluß nach Anhören der Staatsanwaltschaft (§ 33) erlassen. Für die Bekanntmachung des Beschlusses genügt formlose Mitteilung (§ 35 Abs. 2 Satz 2; Nr. 69 Abs. 2 Satz 2 UVollzO). Sie wird in der Regel in der Weise vorzunehmen sein, daß ein Anstaltsbeamter dem Gefangenen den Hausstrafenbeschluß mündlich eröffnet. Zum rechtlichen Gehör gehört, daß dem Gefangenen die Ergebnisse der Ermittlungen bekanntgegeben werden (OLG Frankfurt StVollzK 1965 Nr. 2, S. 9 für Strafgefangene), grundsätzlich auch die Namen der Zeugen, die ihn belastet haben. Denn wer für seine Aussage nicht einzustehen braucht, weil der durch ihn Belastete ihn nicht kennt und daher nicht verfolgen kann, verliert die notwendige Zurückhaltung. Er kann nicht durch das Vorhalten von Tatsachen, die nur der Belastete kennt, veranlaßt werden, eine voreilige Aussage zu korrigieren. Im Gefangenenmilieu muß sogar damit gerechnet werden, daß Gefangene, wenn sie wissen, daß ihr Name nicht bekannt gegeben wird, einen anderen Gefangenen vorsätzlich zu Unrecht belasten. In Zweifelsfallen wird daher auch eine Gegenüberstellung notwendig sein, die stets der Richter selbst vornehmen sollte. Das Bundesverfassungsgericht hat offen gelassen, ob Einschränkungen des rechtlichen Gehörs zulässig sind, wenn sonst eine Gefahr für Leib und Leben des Anstaltspersonals bestünde 18 . Man wird das bejahen und eine Einschränkung auch dann zugestehen müssen, wenn sonst Leib und Leben Mitgefangener gefährdet würden. Demzufolge wird man die Namen (nicht die Aussagen) gefangener Belastungszeugen einem solchen Gefangenen vorenthalten dürfen, von dem ernste Repressalien gegenüber den ihn belastenden Mitgefangenen zu erwarten und auch möglich sind. Die Gefahr solcher Repressalien muß jedoch durch konkrete Anhaltspunkte dargetan sein; bloße Vermutungen und Befürchtungen genügen nicht. Zur Verhängung einer Hausstrafe genügt eine solche Aussage „hinter dem Rücken" des Belasteten nur, wenn völlig ausgeschlossen ist, daß sie durch Vorhalte des belasteten Gefangenen geändert werden könnten. 9. Fesseln (Absatz 5). Die Fesselung als der stärkste Eingriff in die Bewegungsfreiheit ist an besonders strenge Voraussetzungen geknüpft, die in Absatz 5 abschließend aufgeführt sind. Sie ist danach nur zulässig a)bei einer bestimmten Gefährlichkeit für Personen, namentlich Vollzugsbedienstete, und Sachen (Nr. 1). Nach dem Grundsatze der Verhältnismäßigkeit (Absatz 5 Satz 1 letzter Halbsatz) dürfen die gefährdeten Sachwerte aber nicht geringfügig sein. Der Gefangene, der androht, die in der Zelle hängenden Verhaltensvorschriften zu zerreißen, darf deshalb nicht gefesselt werden; b) bei Fluchtversuch oder bei Ausbruchsgefahr (Nr. 2) und c) bei Selbstmordgefahr und Gefahr der Selbstbeschädigung (Nr. 3). Die Fesselung bei Selbstmordgefahr beanstandet K l e e (269) als eine „Überspannung des Gedankens der Durchführung des staatlichen jus puniendi um jeden Preis". Man wird dem nicht zustimmen können (so auch H e n n e r k e s 89) und wird auch die Fesselung bei der ernstlichen Gefahr nicht unbedeutender Selbstbeschädigung billigen müssen, weil der Gefangene mit einer solchen nicht selten eine Flucht aus dem Lazarett vorbereiten will. Die Fesselung kann auch außerhalb der Anstalt, etwa bei Überführungen (OLG Bremen NJW 1959 1982), Platz greifen, hier aber in der Regel nur in der Form der Handfessel, des sog. Knebels. Das Fesseln ist nur soweit statthaft und darf nur solange aufrechterhalten werden, als der Gefahrenzustand es erfordert (Nr. 65 UVollzO) und durch keine andere, weniger einschneidende Maßnahme abgewendet werden kann. Demnach muß es ggf. auf die Nachtzeit beschränkt werden (OLG München A l s b . E 1 310), wenn am Tage Bewachung noch ausreicht. Auch darf bei Transporten keinesfalls routinemäßig jeder Gefangene außerhalb des Transportmittels gefesselt werden. Die Örtlichkeit allein begründet die Ausbruchsgefahr noch nicht. Die Anordnung in Satz 2, daß der Gefangene in der Hauptverhandlung ungefesselt sein soll, gehört streng genommen nicht hierher. Ordnet der Vorsitzende an, daß der Angeklagte während der Hauptverhandlung gefesselt bleibe, so handelt es sich um eine Maßnahme der äußeren Verhandlungsleitung (§ 238 Abs. 1; BGH NJW 1957 271), nicht dagegen um eine Verfügung nach § 119. 18

BVerfGE 17 143= NJW 1964 293.

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Neunter Abschnitt. Verhaftung und vorläufige Festnahme (Dünnebier)

§ 119 Anm. IV 1,2

IV. Schriftverkehr (Absatz 3). 1. Grundsatz. Der Schriftverkehr ist unbeschränkt (Nr. 28 Abs. 1, Nr. 30 UVollzO); der Untersuchungsgefangene kann soviel Briefe absenden und empfangen, wie er will. Der Briefverkehr kann nur im Einzelfall beschränkt werden, aber allein dann, wenn es der Haftzweck oder die Ordnung in der Anstalt erfordern. Das wird nur äußerst selten der Fall sein. Ist die Beschränkung geboten, dann ist sie mit Art. 2 Abs. 1 G G vereinbar (KG JR 1967 429), wenn dabei allein auf das Verhalten des einzelnen Gefangenen abgestellt wird. Die Beschränkung kann sich im allgemeinen nur auf einzelne Briefe, in seltenen Fällen auf den Briefverkehr mit einer bestimmten Person (Tatgenossen, Verdunkelungshelfer) beziehen, muß aber sonst die Freiheit des Schriftverkehrs unangetastet lassen. Der Gefangene hat keinen Anspruch, seinen Verkehr mit der Außenwelt durch Fernsprecher aufrechtzuerhalten, auch nicht, wenn er mit seinem Verteidiger sprechen will (OLG Oldenburg NJW 1964 215). Im Einzelfall 19 kann es freilich angemessen und in seltenen Fällen geboten sein, Fernsprechverkehr zuzulassen (Nr. 38 UVollzO); in der Regel wird dem die Ordnung in der Anstalt entgegenstehen. 2. Beschränkung im Einzelfall. a) Ausgehende Briefe. Zum Zwecke der Briefkontrolle kann die Post eingesehen werden. Insoweit werden das Recht der freien Meinungsäußerung (Art. 5 Abs. 1 GG; BVerfGE 15 293 = NJW 1963 755) und das Briefgeheimnis (Art. 10 Satz 1 GG; OLG Hamburg NJW 1967 1973) gesetzlich (Art. 5 Abs. 2, Art. 10 Satz 2 GG) eingeschränkt. Das Grundrecht des Art. 6 Abs. 1, das den Briefverkehr mit der Familie umfaßt, enthält die immanente Schranke, daß die zur verfassungsmäßigen Ordnung gehörige Strafrechtspflege auch für diesen Verkehr Einschränkungen zuläßt. Dabei ist allerdings größte Zurückhaltung geboten, so daß, wenn jeder Verdacht der Fluchtvorbereitung oder Verdunkelung ausgeräumt ist, unkontrollierter Verkehr zu gewähren ist; auf keinen Fall verletzt der Richter, der Familienbriefe unkontrolliert passieren läßt, eine Amtspflicht. Von der Einsicht ausgenommen ist die Verteidigerpost (2 zu § 148). Steht der Untersuchungsgefangene unter Bewährungsaufsicht oder ist über ihn der Bericht eines Gerichtshelfers angefordert, darf er mit dem Bewährungs- oder Gerichtshelfer ebenso frei wie mit dem Verteidiger verkehren (Nr. 37 a UVollzO). Briefe an Volksvertretungen in der Bundesrepublik und an ihre Ausschüsse sowie an die Europäische Kommission für Menschenrechte sind von der Überwachung ausgenommen (Nr. 31 Abs. 1 Satz 2 UVollzO). Nach verbreiteter Ansicht sind Briefe an sonstige Behörden nicht von der Überwachung ausgenommen, weil bei der Menge der Bediensteten, die sich Zugang zu den Eingängen verschaffen können, unzulässige Kontaktaufnahmen nicht völlig ausgeschlossen werden können 20 . Das ist 21 nicht „schlechterdings zu verneinen". Indessen ist die Gefahr des Mißbrauchs gering und regelmäßig keine konkrete ( K r e u z e r 244). Grundsätzlich können daher solche Briefe unüberwacht, d. h. in verschlossenem Umschlag, abgegeben werden. Wenn im Einzelfall eine konkrete Gefahr erweislich ist und, was wohl regelmäßig möglich sein wird, auch nicht abgestellt werden kann, hat die Kontrolle sich darauf zu beschränken, daß der Brief nicht etwa Nachrichten an andere Personen als den Empfänger enthält. Diesem gegenüber scheidet jede Befürchtung aus, der Brief könne den Zweck des Strafverfahrens oder die Ordnung in der Anstalt beeinträchtigen (OLG Dresden JW 1929 1074; OLG Bremen NJW 1950 395). Deshalb dürfen Briefe an Behörden auch nicht angehalten werden (Nr. 34 Abs. 2 UVollzO). G r u n a u (5 zu Nr. 34) verteidigt die Kontrolle der Behördenpost mit der Erwägung, der Richter habe zu prüfen, ob der Gefangene unter dem Deckmantel von Bitten und Beschwerden nicht Schikanen betriebe, Gründe für eine Richterablehnung schaffen wolle oder erdichtete Strafanzeigen versende. Die ersten zwei Gründe beeinträchtigen die Ordnung in der Anstalt nicht, der letzte kann es, ist aber nicht vom Kontrolleur zu beurteilen. Die Brief" Beispiel: OLG Frankfurt NJW 1967 1384= StVollzK 1968 Nr. 2, S. 8. OLG Schleswig StVollzK 1967 Nr. 1, S. 11; OLG Hamburg NJW 1967 1973; OLG Hamm 1969 126; K G JR 1967 348. 21 im Gegensatz zu der Auffassung K r e u z e r s (NJW 1967 2369). 20

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§119 Anm. IV 3

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

kontrolle ist nicht dazu eingeräumt, „anständiges Benehmen" zu erzwingen. Die angeschriebene Behörde bestimmt selbst, ob sie zuständig ist (OLG Bremen MDR 1967 1025 für Strafgefangene) und was sie auf die Eingabe zu veranlassen hat. b) Eingehende Briefe. Soweit die Briefkontrolle zulässig ist, sind von ihr betroffen sowohl Briefe, die der Untersuchungsgefangene schreibt (ausgehende Briefe), als auch solche, die an ihn gerichtet sind (eingehende Briefe). Für eingehende Briefe sind Zweifel erhoben worden ( F r a n z NJW 1965 25), die jedoch nicht durchschlagen. Mit der Aushändigung des Briefes an den Empfanger verliert der Absender die rechtliche Möglichkeit, über ihn zu verfügen, namentlich ihn zurückzufordern. Das ergab sich früher aus dem Wortlaut des § 35 Abs. 1 der Postordnung vom 30. 1. 1929 (RGBl. I 33), ist aber auch § 44 der Postordnung vom 16. 5. 1963 (BGBl. III 901—1—1) — als selbstverständlich — zu entnehmen (LG Krefeld NJW 1965 596). Ausgehändigt ist der Brief, wenn er bei der auf ihm bezeichneten Anschrift, d. h. im Außenbriefkasten oder Postfach der Anstalt, abgeliefert worden ist (§ 51 Abs. 2 Nr. 3 PostO). Von diesem Zeitpunkt an ist der Empfänger allein verfügungsberechtigt. Demzufolge sind auch Eingriffe in das Briefgeheimnis — ein Eingriff in das Postgeheimnis ist nicht mehr denkbar — allein nach seiner Person zu beurteilen. Sie sind aufgrund des Gesetzesvorbehalts in Art. 10 G G im Rahmen des § 119 Abs. 3 zulässig. Dem Gefangenen bleibt es aber unbenommen, zu erklären, daß er bestimmte Briefe — etwa die vor seiner Verhaftung abgesandten — nicht annehmen oder während der Haft nicht zur Kenntnis und in Eigenbesitz nehmen wolle. Briefe, die der Gefangene nicht zum Lesen erhält, können die Ordnung in der Anstalt nicht gefährden und dürfen daher nicht überwacht werden. Demzufolge bleiben in beiden Fällen die Briefe unkontrolliert; im ersten werden sie zurückgesandt, im zweiten zur Habe des Gefangenen genommen. 3. Die Inhaltskontrolle sollte großzügig sein. Der Richter muß sich bewußt bleiben, daß der Untersuchungsgefangene durch die Untersuchungshaft über deren Zweck hinaus in seinem Handeln frei ist; daß er nicht unter Vormundschaft des Gerichts steht oder von ihm erzogen werden soll; und daß er daher grundsätzlich das gleiche schreiben kann wie in der Freiheit (OLG Hamm JMB1NRW 1964 247; OLG Hamburg MDR 1966 168)22. Demzufolge darf der Briefwechsel nicht auf wichtige Mitteilungen beschränkt werden (OLG Hamburg A l s b . E 1 313); auch ist es nicht zulässig, unpassende und ungehörige Ausdrücke zu verhüten (OLG Hamburg A l s b . E 1 311). „Die Ordnung in der Haftanstalt ist nicht an moralischen Prinzipien . . . orientiert" ( H e n n e r k e s 96). „Unzüchtige" Briefe an die Verlobte lassen in der Regel keine Gefahrdung des Haftzwecks besorgen (OLG Düsseldorf JMB1NRW 1968 155). Auch ist es nicht gerechtfertigt, Schriftwechsel mit Behörden der D D R zu unterbinden 23 , wenn nicht im Einzelfall aus der Anfrage oder aus der Antwort eine konkrete Störung der Ordnung in der Anstalt zu erwarten ist. Der Richter des § 119 Abs. 6 Satz 1 darf auch nicht entscheiden, wer im Recht ist, wenn zwischen einem minderjährigen Gefangenen und seinen Eltern Streit besteht, ob der Gefangene an bestimmte Personen schreiben darf; er hat die Beförderung der Sendungen zuzulassen (OLG Hamburg JR 1965 110). Nach dem Zweck der Kontrolle sind anzuhalten Briefe, mit denen eine Flucht vorbereitet oder Verdunkelung betrieben wird, gleichviel aus welchem Grunde die Untersuchungshaft angeordnet ist (III 2). Indessen sollte der Richter sich vor Kleinlichkeit hüten und nicht jeden Brief beanstanden, in dem ein Gefangener seiner Frau versichert, er sei unschuldig. Lediglich deshalb, „weil sich der Brief mit der Strafhaft befaßt", darf er nicht angehalten werden 24 . Auch die „Beeinträchtigung des Strafverfahrens" (Nr. 34 Abs. 1 Nr. 2 UVollzO) ist kein Grund, einen Brief nicht zu befördern; der Begriff ist zu unbestimmt. Ein Brief ist vielmehr im Hinblick auf das laufende Strafverfahren nur dann zu beanstanden, wenn sein Inhalt entweder die Gefahr begründet, der Beschuldigte werde sich dem Strafverfahren entziehen oder die Ermittlung der Wahrheit erschweren (§ 112 Abs. 2; OLG Hamburg MDR 1966 168). Allerdings sind wirkliche Verdunkelungen in der Regel nicht zu erkennen; 22

Ebenso B a u m a n n 380; A r n d t NJW 1964 855. E v e r s , E r d s i e k NJW 1964 1118; S c h m i t t 277; H e n n e r k e s JZ 1964 428. 24 S c h m i t t 276; D r i é w e r 208; a. A. E n g e l b r e c h t e n 23. 23

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99; a. A. O L G

Celle

Neunter Abschnitt. Verhaftung und vorläufige Festnahme (Dünnebier)

° 1 " Anm. IV 4

Fluchtvorbereitungen werden nicht mit Gefangenenbriefen betrieben, sondern mit Kassibern. Die Ordnung in der Anstalt wird regelmäßig gefährdet sein durch Briefe mit bedeutsamen unrichtigen oder gröblich entstellenden Behauptungen über die Verhältnisse in der Anstalt (Nr. 34 Abs. 1 Nr. 4 UVollzO) und durch grobe Beleidigung von Richtern und Beamten, weil unkritischen Gefangenen Mut gemacht wird, sich gegen die Ordnung aufzulehnen, wenn solche Briefe unter den Gefangenen besprochen werden, wie dies erfahrungsgemäß geschieht (OLG Bremen MDR 1956 246; OLG Hamm NJW 1966 1722; K l e i n k n e c h t 533). Doch dürfen solche Briefe nicht angehalten werden, wenn sie an Gerichte, Justizbehörden und andere deutsche Behörden in der Bundesrepublik sowie an Rechtsanwälte und Notare in den den Gefangenen unmittelbar berührenden Rechtssachen gerichtet sind (Nr. 34 Abs. 2 UVollzO). Auch sonst sollten die Worte nicht auf die Goldwaage gelegt und darf nicht jedes Fehlgreifen im Ausdruck als Beleidigung empfunden werden, namentlich wenn offensichtlich ist, daß der Gefangene im Unmut unsachliche Äußerungen von sich gibt, die niemand ernst nimmt (OLG Hamburg JR 1965 394). Dagegen ist die Ordnung in der Anstalt beeinträchtigt, wenn Briefe durchgelassen werden, die schwerwiegende Straftaten zum Inhalt haben oder sie vorbereiten, wie Delikte gegen die Staatssicherheit, aber auch Personenstandsfälschung (OLG Bremen NJW 1958 472), Kredit- oder Heiratsschwindel und dgl. (enger S c h m i t t 277). Auch Briefe, deren Inhalt selbst strafbar ist (Nr. 34 Abs. 1 Nr. 3 UVollzO), wie eine Aufforderung zum Hochverrat, sind von der Beförderung auszuschließen. In diesen Fällen entnimmt der Gefangene, wenn auch zu Unrecht, der Beförderung eine Billigung. Er hält die Ordnung, die eine Auflehnung gegen sich zuläßt, für schwach; das wirkt auf die Ordnung in der Anstalt zurück. Wenn der Gefangene seine Heimatanschrift anstelle der Anstaltsanschrift benutzt, begründet das allein keinen Verdacht einer strafbaren Handlung und bietet daher keinen Anlaß, den Brief zu beanstanden. 4. Beleidigende Briefe sind in einem falsch verstandenen Ordnungsbedürfnis am meisten Gegenstand von Beanstandungen. Die Begründung, die für die Berechtigung zum Anhalten gegeben wird, ist verschieden. M e y e r (MDR 1964 724) meint: Aufgrund des besonderen Gewaltverhältnisses, wie es die Untersuchungshaft darstelle, könne der Gefangene darin beschränkt werden, Rechte anderer zu verletzen. Absatz 3 schütze den Gefangenen vor Einschränkung seiner Rechte; das Recht, Straftaten durch Beleidigungen zu begehen, habe er als freier Mann nicht gehabt und es wachse ihm in der Anstalt nicht zu. Zudem dürfe der Richter nicht Beihüfe zu Beleidigungen leisten; es gäbe keinen Rechtfertigungsgrund, der ihm das erlaube 25 . Das trifft nicht zu. Wenn der Richter den Brief nach seiner Amtspflicht befördern darf oder muß, ist er nicht strafbar. Der Beschuldigte hat als freier Mann zwar nicht das Recht, Straftaten zu begehen, aber die Freiheit dazu. Es gibt keinen Rechtssatz, daß gezwungen werden könnte, sich straffrei zu führen, wer sich in einem „besonderen Gewaltverhältnis" befindet. „Die Untersuchungshaftanstalt ist keine Ehrenschutzbehörde" ( B a u m a n n DRiZ 1959 380; zust. K r e u z e r NJW 1967 2369; K e r n - R o x i n § 31 D III 1). Die Untersuchungshaft hat zudem ihr eigenes Gesetz: Dem Gefangenen dürfen n u r solche Beschränkungen auferlegt werden, die der Haftzweck und die Ordnung in der Anstalt erfordern — und keine anderen (ebenso K r e u z e r NJW 1967 2370). Achtet der Richter die dem Gefangenen danach verbleibende Freiheit, auch wenn dieser einen unvernünftigen Gebrauch von ihr macht, dann räumt er ihm damit nicht, wie M e y e r (JR 1965 395) meint, ein „Recht" ein, andere zu beleidigen. P a w l i k (NJW 1967 168), G r u n a u (Anm. zu Nr. 34 Abs. 1 Nr. 3), K r e u z e r (241)und OLG Celle (NJW 1968 1342) verweisen auf das Nothilferecht und haben damit den Wortlaut des § 53 Abs. 2 StGB für sich, der in der Tat Notwehr und Nothilfe unter den gleichen Voraussetzungen gestattet. In Wirklichkeit aber ist die im Schrifttum meist nur stiefmütterlich behandelte, einem anderen geleistete Nothilfe in vielen Fällen von strengeren Voraussetzungen abhängig als die zum eigenen Schutz ausgeübte Notwehr im engeren Sinne. So hat der Bundesgerichtshof entschieden, daß in Gegenwart des Verletzten, der selbst handeln " Ä h n l i c h E b S c h m i d t , Nachtr. 28: Der Richter d a r f e i n e Beleidigung nicht durch Weiterleitung zulassen.

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§ 119 Anm. IV 5, 6

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

kann, Nothilfe unzulässig ist: Niemand darf einem anderen seine Hilfe aufdrängen (BGHSt. 5 248). Als weitere Einschränkung ist anerkannt, daß bei Bagatellen keine Nothilfe erlaubt ist. Man wird aber auch einen Unterschied machen müssen, ob der Nothelfer einen Angriff etwa auf das Eigentum, abwehren will, der sein Ziel noch nicht erreicht hat, oder ob er einer Ehrverletzung entgegentritt, die schon dadurch vollendet ist, daß er sie bei der Kontrolle zur Kenntnis genommen hat. Diese an weiterer Wirkung durch Nothilfe zu hindern, wird man nur gestatten dürfen, wenn dem Angegriffenen ein großer Schaden droht und wenn weiter anzunehmen ist, daß er den Angriff verfolgen werde. Beides ist für den Regelfall zu verneinen. Die meisten durch Gefangenenbriefe Beleidigten würden, von der Beleidigung in Kenntnis gesetzt, zur Tagesordnung übergehen und sich die Bevormundung durch Nothilfe 26 verbitten. Zudem wollen Kontrollierende, die Briefe beanstanden, in aller Regel nicht dem Angegriffenen helfen, sondern, die Notwehrvorschriften ausnutzend, dem Gefangenen seine Dreistigkeit nicht durchgehen lassen, so daß wegen dieser Willensrichtung die Anwendung der Notwehrvorschriften ausscheidet (zweifelnd, eher ablehnend, auch D r i e w e r 220). Danach dürfen Briefe beleidigenden Inhalts nicht stets (so Nr. 34 Abs. 1 Nr. 3 UVollzO; OLG Köln MDR 1953 570) angehalten werden, sondern nur, wenn sie die Ordnung in der Anstalt beeinträchtigen (OLG Bremen JZ 1961 265; OLG Hamm JMB1NRW 1964 247; OLG Hamburg MDR 1965 597; K G JR 1967 348), etwa wenn ihr Inhalt in der Vollzugsanstalt besprochen wird und andere Gefangene dadurch zu einem Verhalten veranlaßt werden, das die Ordnung in der Anstalt konkret gefährdet. Dafür muß ein greifbarer Anhalt vorhanden sein; Vermutungen genügen nicht. 5. KontroUverfahren. Eingehende (Nr. 33 Abs. 1 UVollzO) und abgehende (Nr. 32 Abs. 1 UVollzO) Briefe werden, um Art. 10 G G soweit als möglich gerecht zu werden, in verschlossenen Begleitumschlägen dem Richter zugeleitet, der diese Umschläge allein öffnen darf. Nach Durchsicht und Genehmigung gibt er eingehende Briefe in verschlossenem Begleitumschlag, auf dem er seine Genehmigung vermerkt, der Anstalt weiter, die sie im Begleitumschlag dem Gefangenen aushändigt. Ausgehende Briefe verschließt er, vermerkt die Genehmigung auf dem Begleitumschlag und leitet sie der Anstalt zur Absendung zu (Nr. 32, 33 UVollzO). Es bleibt dem Richter unbenommen, ausgehende Briefe selbst zur Post geben zu lassen. Wegen der Überlassung der Briefkontrolle an den Staatsanwalt (Nr. 31 Abs. 1 Satz 1 in Vbdg. mit Nr. 3 Abs. 1 UVollzO) s. VI 2 27 . 6. Zurückhaltung, Beschlagnahme. Wird der Inhalt beanstandet, werden ein- und ausgehende Briefe zur Habe des Gefangenen genommen; eingehende können auch dem Absender zurückgesandt werden (Nr. 34 Abs. 5 UVollzO), doch sollte der erste Weg gewählt werden, wenn der Gefangene sonst bloßgestellt würde. Kommt der Inhalt des beanstandeten Briefes als Beweismittel für die Untersuchung in der Sache, in der der Gefangene einsitzt, in Betracht, dann kann ihn der Richter nach § 94 Abs. 2 beschlagnahmen, soweit nicht, was bei Briefen Angehöriger regelmäßig der Fall sein wird, ein Beschlagnahmeverbot (§ 97) eingreift. Anstelle der Beschlagnahme darf nicht etwa nach § 94 Abs. 1 verfahren werden mit der Begründung, daß der Beschuldigte im Augenblick der Kontrolle keinen Gewahrsam an dem Briefe habe. Denn der Richter übt, solange er den Brief in Händen hält, Gewahrsam für den Gefangenen aus, auch bei ausgehenden Briefen, die der Gefangene nur unter der aufschiebenden Bedingung aus seinem Gewahrsam entläßt, daß die Beförderung genehmigt werde. Statt der Beschlagnahme kann angeordnet werden, daß eine Abschrift zu den Akten zu nehmen ist (OLG Hamburg NJW 1967 166), doch ist dabei das Beschlagnahmeverfahren (Gehör nach § 33 Abs. 3, schriftliche Anordnung nach § 98 Abs. 1, Bekanntmachung nach § 3 5 Abs. 2) innezuhalten. Es ist unzulässig, Briefe oder Abschriften von ihnen ohne Beschlagnahme oder eine sie ersetzende besondere, bekannt26 27

Vgl. K o h l r a u s c h - L a n g e , StGB, II zu § 53. Der Richter darf die Briefkontrolle nicht auf Vollzugsbeamte oder auf den Anstaltsarzt (vgl. BGH NJW 1961 2069) übertragen. Er darf der Anstaltsleitung keine Einsicht in den Schriftverkehr gewähren, muß sie aber über ihm daraus bekannt gewordene Möglichkeiten unterrichten, die die Einrichtung der Anstalt für Flucht und Verdunkelung allgemein bieten oder die der einzelne Gefangene sich oder anderen schaffen will (Nr. 34 Abs. 4 UVollzO).

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§ 119 Anm. V 1—3

gemachte Anordnung zu den Akten zu nehmen (BGH NJW 1961 2069; OLG Bremen MDR 1951 120; OLG Hamburg MDR 1966 168). Ob der Bundesgerichtshof demgegenüber neuerdings der Ansicht ist, Abschriften dürften, weil dem Beschuldigten die Überwachung des Briefverkehrs bekannt ist, auch ohne formliches Verfahren zu den Akten genommen werden, läßt sich dem Abdruck (GA 1967 282) nicht sicher entnehmen. Eine solche Ansicht wäre abzulehnen. B i r m a n n s (NJW 1969 1358) hält den Richter nicht für befugt, über die Feststellung hinaus, ob er den Brief beanstande oder freigebe, „von der Existenz des Briefes., weitere Kenntnis" zu nehmen. Dem tritt W a i s überzeugend unter Hinweis auf den Gedanken des § 108 entgegen (NJW 1967 2047). Kommt einem Brief Bedeutung für eine neue Sache (etwa wegen Verleitung zum Meineid, Betrugs, Beleidigung) zu, dann darf ihn der Richter der anhängigen Sache nicht beschlagnahmen (OLG Schleswig SchlHA 1960 29). Er kann aber den Brief vorläufig wegnehmen (I 2 zu § 98) und der Staatsanwaltschaft zuleiten, damit diese eine Beschlagnahme ausbringen oder den Brief zur Habe des Gefangenen oder zurückgeben kann (KG JR 1968 31). V. Freiheiten (Absatz 4). 1. Grundsatz. Absatz 4 ist von Absatz 3 nicht völlig abzuscheiden, weil das Versagen und der Entzug von Bequemlichkeiten Beschränkungen sind und weil nicht eindeutig festgestellt werden kann, was zur normalen Lebensführung gehört und was eine Bequemlichkeit darstellt. Indessen ist die Scheidung mehr äußerlich, weil Absatz 4 ebenso auf den Zweck der Haft und auf die Ordnung in der Anstalt abstellt wie Absatz 3. Aus diesem Grunde sind hier gewisse Beschränkungen (etwa Alkoholverbot) mit den entsprechenden Freiheiten (etwa Selbstbeköstigung) zusammen behandelt worden, um einheitliche Gebiete nicht zu zerreißen. 2. Ausführungen an Orte außerhalb der Anstalt sind zulässig, wenn wichtige und unaufschiebbare Angelegenheiten persönlicher (Beerdigung), geschäftlicher (Heraussuchen von Urkunden) oder rechtlicher Art (Gerichtstermine) die Anwesenheit des Gefangenen erforderlich machen (Nr. 41 Abs. 2 UVollzO). Ein Urlaub aus der Untersuchungshaft ist dagegen mit deren Zweck unvereinbar (RG JW 1915 721; Nr. 41 Abs. 3 UVollzO), doch kann der gleiche Erfolg durch die befristete Aussetzung des Vollzugs der Untersuchungshaft erreicht werden (3 Abs. 4 zu § 116), wenn deren Voraussetzungen vorliegen. Ausführungen sind, weil durch sie der Gewahrsam gelockert wird, auf solche Fälle zu beschränken, in denen auch bei strengen Maßstäben die Anwesenheit außerhalb der Anstalt dringend geboten ist (OLG Bremen MDR 1963 158). Ist der Untersuchungsgefangene Prozeßpartei, so hat er sich in der mündlichen Verhandlung und bei der Beweisaufnahme grundsätzlich vertreten zu lassen; ggf. muß er dazu das Armenrecht nachsuchen. Kommt es jedoch bei der Beweisaufnahme über einen komplizierten Sachverhalt, den nur der Zeuge und der Beschuldigte kennen, entscheidend auf persönliche Vorhalte an, so ist die Anwesenheit des Beschuldigten dringend geboten. Das Ausführen gehört zur Fürsorge für den Gefangenen. Der Staat muß dazu Personal zur Verfügung stellen. Demzufolge ist Mangel an Bewachungspersonal kein Grund, berechtigte Ausführungsanträge abzulehnen (KG JR 1959 308). Die grundsätzlich notwendige Prüfung, ob eine Ausführung unaufschiebbar ist, wird zu unterbleiben haben, wenn der Untersuchungsgefangene sich verheiraten will. Seine Motive zu erforschen, wird stets unangemessen sein. Die Zahl der Eheschließungen in der Untersuchungshaft ist auch so gering, daß Personalrücksichten keine Rolle spielen28. Zur Eheschließung selbst braucht der Gefangene keine Erlaubnis. Ihm ist die Gelegenheit zur Eheschließung zu geben (OLG Nürnberg FamRZ 1959 116 und B o s c h ebenda); dazu ist er grundsätzlich zum Standesamt vorzuführen. Bei Ausbrechern kann dem Gefangenen überlassen bleiben, beim Standesbeamten die Eheschließung in der Anstalt zu beantragen. 3. Arbeit. Auf Verlangen soll dem Untersuchungsgefangenen Gelegenheit gegeben werden, zu arbeiten (Nr. 43 Abs. 1 Satz 1 UVollzO). Er ist jedoch zur Arbeit nicht verpflichtet 28

Ebenso S c h ü l e r - S p r i n g o r u m 256; a. A. — Heirat nur unter ganz besonderen Umständen mit der Ordnung vereinbar — BayObLG DRiZ 1932 625.

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§ 119

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Anm. V 4 (Nr. 42 UVollzO). Nimmt er welche an, darf er nicht gezwungen werden, Tagespensen zu leisten ( M e h l i s s DStRZ 1917 213), auch ist keine Hausstrafe zulässig, wenn er der Arbeit nicht nachkommt ( K l e e 263) oder sie zur Unzeit niederlegt. Ihm kann jedoch die Arbeit entzogen werden. In seltenen Fällen kann bei unzeitiger Niederlegung Schadensersatz in Betracht kommen, wenn der Gefangene mit seiner Zustimmung dringliche Arbeiten erhalten hat, vorher auf die Folgen hingewiesen worden ist, die entstehen, wenn er sie ohne zwingenden Grund nicht zu Ende führt, und wenn durch sein Verhalten ein Schaden entstanden ist. Der Gefangene hat keinen Anspruch auf Arbeit; er muß sie daher wohl zu den Bedingungen annehmen, die der Staat ihm macht, d. h. unter Verzicht auf Entlohnung, aber mit der Aussicht, eine Arbeitsbelohnung zu erhalten, auf die er keinen Rechtsanspruch hat (Nr. 43 Abs. 4 Satz 1 und 2 UVollzO; O L G Frankfurt StVollzK 1965 Nr. 4, S. 14). Das ist für einen Untersuchungsgefangenen noch unbefriedigender als für einen Strafgefangenen, doch sollte nicht übersehen werden, daß Arbeit für Untersuchungsgefangene zu beschaffen besondere Schwierigkeiten macht. Nach Nr. 54 Abs. 2 Satz 1 UVollzO hat der Gefangene die Pflicht, den Haftraum zu reinigen. Die bisher hier vertretene Ansicht, das entspreche dem, was in Gemeinschaftsunterkünften üblich sei und könne nicht als Arbeitszwang gewertet werden (so E b S c h m i d t , Nachtr. 37), kann nicht aufrechterhalten werden. Dem Untersuchungsgefangenen wird mit der Einsperrung ein Sonderopfer auferlegt. Das darf nicht über den verfolgten Zweck hinausgehen. Mit dieser Begrenzung ist der Zwang, Arbeit zu leisten, sei sie auch geringfügiger Natur, nicht zu vereinbaren ( K l e e 2 6 6 ; H e n n e r k e s 117). 4. Selbstbeschäftigung. In den Grenzen, die sich aus Absatz 4 ergeben, kann sich der Untersuchungsgefangene selbst beschäftigen (Nr. 44 UVollzO). Er darf also in seiner Zelle zeichnen, malen oder modellieren, aber, weil das andere stört und die Kontrolle erschwert, keine Musik machen. Schriftstellerische Arbeiten (Prot, der StPKomm. I 117) sind stets erlaubt. Ihre Versendung darf grundsätzlich nicht beschränkt werden. Ist ausnahmweise Kontrolle erforderlich, kann die Versendung abgelehnt werden, wenn die Kontrolle unzumutbar ist, doch muß die Kontrollarbeit erbracht werden, wenn der Gefangene den Ertrag seiner Arbeit für seine Familie oder für sich benötigt. Zu schriftlichen Arbeiten ist ihm der Gebrauch einer eigenen Schreibmaschine zu erlauben, wenn kein Mißbrauch zu befürchten ist (OLG Schleswig SchlHA 1958 236; O L G Hamburg M D R 1965 1011) 29 . Die Hauptbeschäftigung der Untersuchungsgefangenen ist, wenn sie nicht arbeiten, das Lesen. Dazu dürfen sie auf eigene oder fremde Kosten aus Büchereien, vom Verlag, von der Post oder vom Buchhandel Bücher und Zeitungen beziehen, mit Genehmigung des Richters auch aus ihrer häuslichen Bibliothek (Nr. 45 UVollzO). Es ist selbstverständlich, daß Bücher pornographischen (nicht: erotischen) Inhalts ohne Kunstwert ( H e n n e r k e s 107) und staatsfeindliche Schriften ( W a g n e r 2964) nicht erlaubt sind, doch ist davon abgesehen keine Geschmacks- oder politische Zensur statthaft (Prot, der StPKomm. I 117). Die Lektüre von Oswalt Kolle kann dem in Einzelzelle einsitzenden Untersuchungsgefangenen nicht verboten werden (OLG Nürnberg M D R 1969 501). Wohl aber können Bücher und Zeitschriften angehalten werden, wenn durch ins einzelne gehende Berichte über das Vorgehen bei Ausbrüchen die Ordnung in der Anstalt beeinträchtigt werden könnte ( O L G Hamburg N J W 1965 2361'). Dazu 3 0 und zur Kontrolle nach versteckten Nachrichten dürfen die Schriften durchgesehen werden. Die Kontrolle kann Anstaltsbeamten übertragen werden ( O L G Oldenburg N J W 1964 215); das Anhalten selbst darf nur der Richter verfügen. Gerichtsberichte aus Tageszeitungen herauszutrennen, wird weder durch den Haftzweck noch durch die Ordnung in der Anstalt gerechtfertigt ( H e n n e r k e s 107; S c h m i d t - L e i c h n e r N J W 1952 1309; a. A. O L G Neustadt ebendort). Kein Rechtsgrund ist denkbar, aus dem es gestattet wäre, eine wissenschaftliche Zeitschrift anzuhalten, weil sie die Kritik einer den Gefangenen betreffenden Gerichtsentscheidung enthält 31 . Liegen mehrere Untersuchungsgefangene in einem Raum, so dürfen sie sich durch Spiele 29 30 31

Enger — Erlaubnis nur, wenn das Versagen Nachteile bringen würde — OLG Köln M D R 1953 570. A. A. S c h m i t t 278; D r i e w e r 207. Fall NJW 1964 1310, Umwelt und Recht Nr. 1.

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§ 119 Anm. V 5 , 6

(Brettspiele und sonstige Unterhaltungsspiele, auch Kartenspiele) unterhalten (OLG Bremen Rpfleger 1963 82). Das Spielen kann verboten werden, wenn es in Lärm ausartet. Glücksspiele sind unerlaubt. Die Selbstbeschäftigung gehört zu den sinnvollen, dem Gefangenen zustehenden Bequemlichkeiten. Das Kontrollpersonal muß zur Verfügung gestellt werden. Daher ist das Verbot, eigene Bücher zu benutzen, unzulässig, wenn Durchstechereien durch sachgemäße Überwachung begegnet werden kann (OLG Celle NJW 1951 676). Auch können Kartenspiele im Haftraum nicht mit der Begründung untersagt werden, daß Unterhaltungsräume und Personal für eine dauernde Überwachung nicht zur Verfügung ständen (OLG Bremen Rpfleger 1963 82). Endlich muß bei der Beleuchtung, namentlich auf Einzelzellen, der Lebensgewohnheit und Bequemlichkeit (Absatz 4) des Gefangenen Rechnung getragen werden. Die in Nr. 54 Abs. 3 vorgesehene Genehmigung des Anstaltsleiters, den Haftraum über die vorgeschriebene Zeit hinaus zu beleuchten, steht nicht in dessen Belieben32. Freilich findet die Überwachung auch ihre Grenzen! Die Beschäftigung mit Kostbarkeiten (Briefmarken, Münzen, Graphik) kann, so sinnvoll sie wäre, nicht zugelassen werden, weil keine dauernde Überwachung gewährleistet werden kann (OLG Hamm MDR 1969 780), der Gefangene auch, wenn er den Haftraum verläßt, sie jedesmal gegen Quittung bei der Verwahrstelle abgeben müßte (vgl. auch Nr. 53 Abs. 2 UVollzO). 5. Rundfunkempfang. Der Untersuchungsgefangene kann, soweit er nicht getrennt gehalten werden muß, am Gemeinschaftsrundfunk und Fernsehempfang teilnehmen (Nr. 40 Abs. 2 UVollzO). Einzelempfang durch eigenes Rundfunkgerät ist mit Genehmigung des Richters gestattet (Nr. 40 Abs. 1 UVollzO). Die Genehmigung ist nicht nur als Bequemlichkeit (Absatz 4), sondern als Ausfluß des Rechts auf Information dann zu erteilen, wenn die Ordnung in der Anstalt dadurch nicht gefährdet wird (BVerfGE 15 295 = NJW 1963 755; L ö f f l e r NJW 1964 1103; OLG Hamm MDR 1968 515). Eine solche Gefährdung scheidet aus, wenn der Gefangene in einem Einzelhaftraum liegt, sein Gerät nicht zur Schlafenszeit und lediglich leise oder mit Kopfhörer betreibt, und wenn sichergestellt ist, daß das Gerät nach seiner Bauart, ggf. nach besonderer Absicherung, nicht als Sender benutzt werden k a n n D i e Genehmigung darf nicht erteilt werden, wenn die konkrete Gefahr besteht, daß der Gefangene Nachrichten politischer Auftraggeber oder von Hintermännern erhält (LG Flensburg SchlHA 1963 192), doch ist im allgemeinen unwahrscheinlich, daß ein solcher Ausnahmefall gegeben sein werde. Die Genehmigung darf nicht deshalb versagt werden, weil der Untersuchungshäftling über eingebaute Lautsprecher ein Programm empfangen kann. Das Grundrecht aus Art. 5 G G umfaßt die Entscheidungsfreiheit, aus welcher Quelle sich der Gefangene unterrichten will ( H u c k o MDR 1969 531). Rein theoretisch mögliche Gefahrdungen (OLG Frankfurt MDR 1970 67) rechtfertigen es nicht, das Gerät zu verbieten. Aus diesen Gründen wird der Richter auch Nr. 40 Abs. 2 UVollzO nicht befolgen. Dieser Vorschlag sieht vor, dem Untersuchungsgefangenen Einzelempfang durch eigenes Fernsehgerät nicht zu gestatten. Doch gilt alles für den Hörfunk Gesagte in gleicher Weise für das Fernsehen (OLG Hamburg MDR 1969 328; a. A. - ohne Begründung - OLG Karlsruhe NJW 1970 291; — wegen Lebensgefahr durch Betriebsstrom und Gefährdung der Bediensteten — OLG Frankfurt MDR 1970 67). Der Untersuchungsgefangene ist frei, die Art seiner Information selbst zu bestimmen; bestimmte Kommentarsendungen liefert ihm nur das Fernsehen. 6. Selbstbeköstigung. Der Gefangene darf sich auf seine Kosten selbst verpflegen. Dazu hat er, weil auch der hierzu erforderliche Verkehr mit der Außenwelt grundsätzlich der Kontrolle unterliegen muß, die Vermittlung der Anstalt in Anspruch zu nehmen. Nach Nr. 50 Abs. 2 UVollzO soll die Anstalt die Speisewirtschaft, von der das Essen bezogen wird, bestimmen. Diese Einschränkung geht zu weit. Grundsätzlich steht es dem Gefangenen frei, woher er sich von außen — mit Büchern, Zeitschriften, Tabak und auch Verpflegung — 32 33

G r u n a u , Anm. zu Nr. 54 Abs. 3; H e n n e r k e s 137 mit weit. Nachweisen. A. A. — grundsätzlich nur Gemeinschaftsempfang, ausnahmsweise Empfang durch Einzelgerät mit Kopfhörer - OLG Hamburg NJW 1962 1633; anders M D R 1969 328.

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versorgt ( H e n n e r k e s 130). Ein Lieferant kann nur dann ausgeschlossen werden, wenn ein konkreter Anhalt dafür besteht, daß er sich an Flucht- oder Verdunkelungshandlungen beteiligt. Sonst kann der Bestimmung des Gefangenen nur entgegengetreten werden, wenn bei einer sehr großen Anzahl von Lieferanten die technische Abwicklung nicht durchgeführt werden könnte. Unzulässig ist die Erwägung, daß die Belieferung durch nur eine Speisewirtschaft am einfachsten ist. Gleichfalls durch Vermittlung der Anstalt kann der Beschuldigte Nahrungs- und Genußmittel kaufen (Nr. 51 Abs. 1 und 2 UVollzO), von den letzten namentlich Tabakwaren. Die in Nr. 51 Abs. 3 Satz 2 UVollzO vorgesehene Begrenzung des Verbrauchs durch die Hausordnung ist wirkungslos. Die Hausordnung ist kein Teil der UVollzO; sie wird daher nicht durch die richterliche Anordnung in dem Ersuchen um Aufnahme zum Vollzug Inhalt einer Beschränkung. Eine solche wäre ohnehin unzulässig ( H e n n e r k e s 130). Nicht nur in der Menge, auch in der Sorte der Tabakwaren darf der Gefangene nicht beschränkt werden; dazu kann er sich von seinem Tabakhändler beliefern lassen, soweit nicht die in bezug auf die Speisewirtschaft erwogenen Ausnahmen vorliegen34. Alkoholische Getränke und andere berauschende Mittel sind verboten (Nr. 51 Abs. 3 Satz 1 UVollzO). Gegen das Verbot bestehen keine Bedenken, für den Alkohol deshalb, weil er in Deutschland nicht zur täglichen Nahrung gehört, sein Genuß auch erfahrungsgemäß geeignet ist, zu Störungen im Anstaltsbereich zu fuhren 35 . Südländer, bei denen Wein zur täglichen Nahrung gehört, müssen nach ihren Sitten versorgt werden, Kranke nach Anordnung des Arztes. Die Einkaufsmöglichkeit darf vom Richter im Wege der Hausstrafe beschränkt werden (III 7), aber keinesfalls „zum Ausgleich" für einen Paketempfang und niemals durch den Anstaltsleiter (OLG Düsseldorf NJW 1969 150). Es ist nicht Sache der zuständigen Behörden, für einen „gerechten Ausgleich" der wirtschaftlichen Verhältnisse in der Untersuchungshaftanstalt zu sorgen. 7. Arztwahl. Der Untersuchungsgefangene hat ein Recht auf ärztliche Betreuung (OLG Frankfurt StVollzK 1966, Nr. 1, S. 11). Nach Nr. 56 UVollzO obliegt die ärztliche Betreuung dem Anstaltsarzt und ist dem Beschuldigten nur gestattet, einen beratenden Arzt hinzuzuziehen sowie sich von seinem eigenen Zahnarzt behandeln zu lassen. Der Vorschlag ist zu eng. Wenn es mit der Ordnung in der Anstalt vereinbar ist, die Behandlung durch den eigenen Zahnarzt zuzulassen, können auch der durch den eigenen Arzt keine Bedenken entgegenstehen, zumal da diese im Gegensatz zur zahnärztlichen Behandlung meist in der Vollzugsanstalt selbst wird durchgeführt werden können. Die Behandlung durch den Arzt des Vertrauens sollte daher stets zugelassen, dem Arzt sollte das gleiche Vertrauen wie dem Verteidiger entgegengebracht werden 36 . Das gilt namentlich, wenn ein Untersuchungsgefangener sich in rechtlich erlaubter Weise freiwillig entmannen lassen will (OLG Hamburg JZ 1963 374; BGHSt. 19 201). 8. Zwangseingriffe. Wegen des Zusammenhangs soll hier die Frage der Zwangseingriffe behandelt werden, obwohl sie nicht zu Absatz 4 gehört. Sie fallt aber auch nicht unter die Beschränkungen des Absatzes 3. Denn die Ansicht, daß Haftzweck auch sei, den Gefangenen bis zur Aburteilung am Leben zu halten ( D e l i u s LZ 1914 162), oder, wie das Kammergericht in einem anderen Zusammenhang ausgeführt hat, ihn „zur ungehinderten Durchführung der gerichtlichen Untersuchung" gesund zu erhalten (KG JR 1958 470), ist unzutreffend. Die Haftfähigkeit zu bewahren zu dem Zwecke, „Vergeltung" durch den Strafvollzug wirksam machen zu können, gehört nicht zu den Aufgaben der Untersuchungshaft. Die Zulässigkeit, den Gefangenen zwangsweise zu behandeln, ist vielmehr — abgesehen von dem noch zu behandelnden Fall der Seuchengefahr — allein aus dem Verhältnis herzuleiten, in das er mit der Festnahme gerät. Der Staat, der sich des Beschuldigten bemäch34

A. A. — Gefangener muß sich mit dem von der Anstalt bereitgehaltenen Sortiment begnügen — O L G Karlsruhe StVollzK 1967 Nr. 1, S. 9. Vgl. dagegen OLG Hamm NJW 1970 291: Freie Wahl, wo sich Strafgefangener Entlassungskleidung versorgen will. " K l e e 267; a. A. — nur Beschränkung auf täglich einen halben Liter Wein oder entsprechende Mengen anderer alkoholischer Getränke gestattet — H e n n e r k e s 131. 36 J u d e x JR 1925 920; W a g n e r 56; E b S c h m i d t Nachtr. 39; H e n n e r k e s 133.

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Neunter Abschnitt. § 119 Verhaftung und vorläufige Festnahme (Dünnebier) Anm. V 9; VI 1 tigt, ist verpflichtet, ihn, soweit irgend möglich, so wieder zu entlassen, wie er ihn gefangengenommen hat. Zu diesem Zweck hat er ihm Pflege und, wenn nötig, ärztliche Behandlung bereitzustellen (Nr. 57 Abs. 1 UVollzO). Wie jedermann kann auch die Anstalt einen Selbstmord verhindern; aufgrund des Gewahrsamsverhältnisses ist sie dazu verpflichtet. Demzufolge hat sie das Recht und die Pflicht, einen Gefangenen, der in den Hungerstreik getreten ist, zwangsweise zu ernähren 37 . Sie kann einen „Schlucker" operieren lassen, wenn er sonst in Todesgefahr käme. Dem Selbstmord entgegenzutreten, ist aber nicht die einzige Rechtfertigung, zwangsweise einzugreifen. Zwar ist die Staatsgewalt grundsätzlich nicht berechtigt, das Leben des Beschuldigten durch eine Operation aufs Spiel zu setzen ( K l e e DJZ 1925 654; F e i s e n b e r g e r 3 zu § 116). Mit Recht läßt die Untersuchungshaftvollzugsordnung aber auch noch die Zwangsbehandlung bei Seuchengefahr zu (Nr. 58 Abs. 1; LG München NJW 1968 2203). Eingriffe zu diesem Zweck, etwa Impfungen, rechtfertigen sich als Beschränkungen mit dem Ziele, die Ordnung in der Anstalt aufrechtzuerhalten. Denn bei dem Verkehr in der Anstalt durch wechselnden Zu- und Abgang kann allein durch Isolierung nicht mit Sicherheit verhindert werden, daß sich eine Seuche ausbreitet. Von diesen beiden Fällen abgesehen besteht keine Möglichkeit, einen Untersuchungsgefangenen zu einer Behandlung zu zwingen, selbst dann nicht, wenn die Krankheit lebensgefahrlich ist (LG München NJW 1968 2303). Es ist jedermanns Freiheit, eine Krankheit behandeln zu lassen oder an ihr zu sterben. Die Lebenserhaltungspflicht der Anstalt kann gegen den Willen des Gefangenen nicht durchgesetzt werden. Darin zeigt sich der Ausnahmecharakter des Selbstmordfalls, wo die Möglichkeit für jedermann, zur Rettung einzugreifen, auf einem Gewohnheitsrecht beruht, das keiner Ausdehnung fähig ist. 9. Seelsorge. Dem Verhafteten ist Gelegenheit zu geben, an gemeinschaftlichen Gottesdiensten und an anderen religiösen Veranstaltungen seines Bekenntnisses teilzunehmen. Auch wenn er aus der Kirche ausgetreten ist, kann ihm nicht verwehrt werden, sich an den Veranstaltungen seines früheren Bekenntnisses zu beteiligen (Nr. 47 Abs. 1 UVollzO). An Veranstaltungen eines ihm fremden Bekenntnisses darf er teilnehmen, wenn er erwägt, sich diesem zuzuwenden. Die Verwaltung hat Vorkehrungen zu treffen, daß Gottesdienste und andere übliche religiöse Veranstaltungen (z. B. Bibelstunden) in der Untersuchungshaftanstalt abgehalten werden, und daß für Einzelseelsorge Geistliche zur Verfügung stehen. Das gilt indessen nur für die Hauptbekenntnisse; religiöse Minderheiten und Sekten müssen selbst für die Betreuung ihrer Anhänger sorgen. Dazu ist ihnen Zutritt zur Untersuchungshaftanstalt zu gestatten (Nr. 48 UVollzO). Einem römisch-katholischen Untersuchungsgefangenen muß die Möglichkeit eingeräumt werden, ohne Überwachung zu beichten ( H e n n e r k e s 91). Auch während des Vollzugs einer Hausstrafe darf der Gefangene grundsätzlich nicht von der Teilnahme am Gottesdienst ausgeschlossen werden; ein solcher Ausschluß ist nur dann zulässig, wenn hinreichende Anhaltspunkte die Annahme rechtfertigen, der Gefangene werde die Ordnung in der Anstalt gerade während des Gottesdienstes stören (OLG Bremen VollzD 1963 Nr. 6, S. 22 in bezug auf Strafgefangene). VI. Zuständigkeit (Absatz 6). 1. Gericht. Die Anordnungen trifft grundsätzlich der Richter (Satz 1). Er ist stets ein Einzelrichter (4 b zu § 126), nämlich im Vorverfahren der Amtsrichter, der den Haftbefehl erlassen hat oder dem die Zuständigkeit übertragen worden ist (§ 126 Abs. 1), in der Voruntersuchung der Untersuchungsrichter (§ 126 Abs. 4 Satz 1) und sonst nach Erhebung der öffentlichen Klage der Vorsitzende des mit der Sache befaßten Gerichts, nach Einlegung der Revision desjenigen Gerichts, dessen Urteil angefochten ist (§ 126 Abs. 2 Satz 3 in Vbdg. mit Satz 1 und 2). Der Vorsitzende kann einzelne Maßnahmen, die den Gefangenen nicht beschweren, wie etwa die, Besuche zu genehmigen und unbeanstandete Briefe weiterzugeben, dem Berichterstatter überlassen, der dann auch für ihn die Briefkontrolle ausüben darf ( W a g n e r 2964). Wegen der Entscheidung durch das Gericht anstelle des Vorsitzenden s. 4 a zu § 126. 37

Nr. 58 Abs. 2 UVollzO; L o b e - A l s b e r g III 1 zu § 116 mit weit. Nachw.; K l e e DJZ 1925 564; F e i s e n b e r g e r 3 z u § 1 1 6 ; E b S c h m i d t Nachtr. 40; H e n n e r k e s 134.

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§ 119

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Anm. VI 2 Richterliche Anordnungen vor Erlaß des Haftbefehls werden kaum vorkommen, sind aber in Eilfallen in bezug auf einen vorläufig Festgenommenen (Fesselung) nicht undenkbar. Alsdann ist der Richter zuständig, dem der Gefangene nach §§ 128,129 vorgeführt wird. Für Jugendliche gelten grundsätzlich keine Besonderheiten, doch kann der zuständige Richter aus wichtigen Gründen die Entscheidungen, die die Untersuchungshaft betreffen, sämtlich oder zum Teil einem anderen Jugendrichter übertragen (§ 72 Abs. 5 JGG). Das kommt vor allem dann in Betracht, wenn die Haftanstalt außerhalb des Bezirks des zuständigen Jugendrichters liegt ( D a l l i n g e r - L a c k n e r 14 zu § 7 2 JGG). Der Jugendrichter am Orte des Vollzugs als Vollzugsleiter (§ 90 Abs. 2 JGG) ist ein anderer Jugendrichter selbst dann, wenn der zuständige Richter seinen Sitz ebenfalls am Vollzugsort hat. Die Übertragung auf den Vollzugsleiter kann wegen der erzieherischen Gestaltung der Untersuchungshaft (§ 93 Abs. 2 JGG) notwendig werden. Verbüßt ein Gefangener Strafhaft in Unterbrechung von Untersuchungshaft, so findet § 1 1 9 keine Anwendung; der Gefangene ist Strafgefangener und wird nach der Dienst- und Vollzugsordnung behandelt. Hausstrafen verhängt nicht der Richter der Sache, in der die Untersuchungshaft unterbrochen worden ist, sondern der Anstaltsleiter (Nr. 187 Abs. 1 DVollzO; OLG Hamburg MDR 1965 505). 2. Staatsanwalt. a) Grundsatz. Nach Nr. 3 Abs. 1 UVollzO kann der Richter, bis die öffentliche Klage erhoben ist, auf Antrag des Untersuchungsgefangenen dem Staatsanwalt überlassen, einzelne Maßnahmen, namentlich über den Verkehr mit der Außenwelt, anzuordnen, wenn sie den Gefangenen nicht beschweren. Voraussetzung dafür ist, daß dadurch das Verfahren beschleunigt, besonders vermieden wird, die Akten zu verschicken. Da die Behörden während der Untersuchungshaft mit jedem Tag geizen müssen, kommt dem Vorschlag erhebliche Bedeutung zu. Er ist auch mit § 119 Abs. 6 Satz 1 vereinbar 38 . K l e i n k n e c h t (352) folgert das aus § 120 Abs. 3: Da der Staatsanwalt im Vorverfahren den Beschuldigten freilassen könne, sei er auch befugt, solche Haftanordnungen zu treffen, die den Gefangenen nicht beschweren. Dem ist nicht zu folgen. Das Recht, von Untersuchungshaft abzusehen, verleiht nicht die Befugnis, Maßnahmen für deren Vollzug zu treffen, wie ja der Staatsanwalt den Beschuldigten auch nicht unter Anordnung vom Maßnahmen (§ 116) entlassen kann, sondern nur entweder vorbehaltslos oder aber gar nicht. Der Ansicht K l e i n k n e c h t s ist aber im Ergebnis aus anderen Erwägungen beizupflichten: Hat der Richter durch die Anordnung bei der Aufnahme (Nr. II des Aufnahmeersuchens) festgelegt, was dem Gefangenen erlaubt ist, dann ist es gleichgültig, wer feststellt, daß das grundsätzlich Erlaubte auch im Einzelfall unter die Erlaubnis fallt, wenn nur gesichert bleibt, daß die Entscheidung, etwas falle nicht darunter, oder es müsse nach ursprünglicher Erlaubnis nunmehr eine Beschränkung eintreten, dem Richter vorbehalten bleibt. Das Gericht könnte auch anderen Stellen, etwa der Anstalt, festzustellen überlassen, daß eine begehrte Handlung unter das von ihm Erlaubte falle. Wenn die Landesjustizverwaltungen ihm nicht diese, sondern nur die Staatsanwaltschaften zur Verfügung stellen, dann ist er an, diese Einschränkung gebunden, weil ihm keine Befehlsgewalt über die Anstaltsbeamten zusteht. Auf die Unverletzlichkeit des Briefgeheimnisses kann der Gefangene verzichten und tut es mit seinem Antrag, die Kontrolle dem Staatsanwalt zu überlassen. Freilich muß ihm klar bewußt gemacht werden, daß er freiwillig der Staatsanwaltschaft Geheimnisse offenlegen will. In der Regel wird er das tun, weil der Umweg über die richterliche Briefkontrolle die Postbeforderung verzögern kann. b) Voraussetzungen. Die Staatsanwaltschaft ist nicht verpflichtet, die Anordnungen zu erlassen. Denn dem Richter ist nicht das Recht eingeräumt, sie dem Staatsanwalt zu übertragen, sondern nur die mindere Befugnis, sie ihm zu überlassen. Überlassung setzt Bereitwilligkeit zur Übernahme voraus, ist also davon abhängig, daß die Staatsanwaltschaft zustimmt (LG Hannover NdsRpfl. 1962 143). Der Staatsanwalt kann die Zustimmung verweigern oder widerrufen 39 , etwa wenn er der Ansicht ist, das Verfahren werde durch das Überlassen nicht oder nicht mehr beschleunigt. 38 39

A . A . LG Braunschweig NJW 1951 85; H e n n e r k e s 113; v . O l s h a u s e n JZ 1969 465. A. A. — Kein Widerruf zulässig — LG Hannover aaO.

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Neunter Abschnitt. Verhaftung und vorläufige Festnahme (Dünnebier)

° " Anm. VI 3

Die Untersuchungshaftvollzugsordnung macht die Überlassung gewährender Entscheidungen auf die Staatsanwaltschaft von einem Antrag des Untersuchungsgefangenen abhängig (Nr. 3 Abs. 1 UVollzO). Nach den Ausführungen unter a wäre ein Antrag oder eine Einwilligung des Beschuldigten nicht erforderlich; Ausnahmen, etwa für eine nichtrichterliche Briefkontrolle, könnten sich aus anderen als den hier angestellten Erwägungen ergeben. Die Frage kann aber auf sich beruhen. Denn die Übertragung nicht beschwerender Anordnungen ist, da kein Zwang benötigt wird, keine Vollstreckung i. S. des § 36 (3 zu § 36). Alsdann hat der Richter keine Möglichkeit, die Staatsanwaltschaft in Anspruch zu nehmen, es sei denn, die Landesjustizverwaltung stellte sie ihm dazu zur Verfügung. Tut sie das, kann sie das Tätigwerden auch an Voraussetzungen knüpfen; an diese ist der Richter gebunden. Beantragt der Beschuldigte, daß der Staatsanwalt die Briefkontrolle ausübe (Nr. 31 Abs. 1 UVollzO), dann liegt darin zugleich die Einwilligung, daß der kontrollierende Beamte von dem Briefinhalt Kenntnis nehme. Die Überlassung ist davon abhängig, daß durch sie das Verfahren beschleunigt wird (Nr. 3 UVollzO). Das wird regelmäßig der Fall sein, wenn sich die Akten bei der Staatsanwaltschaft befinden. Besondere Bedeutung kommt dieser Voraussetzung nicht zu. Hat der Beschuldigte den Antrag gestellt und sind sich Richter und Staatsanwalt einig, dann besteht, da nichtbeschwerende Anordnungen nicht angefochten werden, keine Möglichkeit, die Frage der Beschleunigung zu prüfen. Einigen sie sich dagegen nicht, dann kommt es nicht zur Überlassung. Immerhin liegt eine den Staatsanwalt bindende Anordnung vor, die ihn ggf. zwingt, eine vom Gefangenen beantragte und ihm vom Gericht angebotene Überlassung abzulehnen, etwa in der Voruntersuchung oder nach Anklage. 3. Dringende Fälle. Für dringende Fälle werden der Staatsanwalt, der Anstaltsleiter und sonstige Beamte, unter deren Aufsicht der Gefangene steht, ermächtigt, vorläufig Maßnahmen zu treffen. Während in dem unter 2 beschriebenen Fall der Staatsanwalt vom Richter überlassene Befugnisse ausübt, handelt im Falle des Satzes 2 der Beamte aus eigenem Recht, in eigener Verantwortung und, soweit ein Ermessen stattfindet, nach seinem Ermessen. Da er nur hilfsweise zuständig ist, haben seine Verfügungen den Charakter nur vorläufiger Maßnahmen; sie können jedoch im Einzelfall zu endgültigen werden (Fesselung für die Dauer einer Stunde). Ein dringender Fall liegt vor, wenn eine Maßnahme erforderlich ist, um den Zweck der Haft oder die Ordnung in der Anstalt zu sichern, und wenn diese Ordnung oder der Haftzweck durch den Zeitverlust gefährdet wäre, der einträte, falls eine richterliche Entscheidung herbeigeführt würde. Da die Entschließung des Richters fernmündlich und u. U. auch außerhalb der Dienststunden eingeholt werden kann, wird für solche Anordnungen nur wenig Raum bleiben. Allgemeine Anordnungen, etwa Gefangene nur gefesselt vorzuführen, sind danach ausgeschlossen (OVG Münster JMB1NRW 1965 250). Dringende Fälle kommen namentlich in Betracht, wenn bei Meuterei und sonstigen Gewalttätigkeiten, bei Gefahr des Selbstmords oder der Selbstbeschädigung oder bei erhöhtem Fluchtverdacht besondere Sicherungsmaßnahmen (Nr. 62, 63 UVollzO) zu treffen sind. Ein dringender Fall ist nie denkbar in bezug auf Hausstrafen (OLG Celle NJW 1951 676; OLG München NJW 1956 316), wohl aber für vorläufige Sicherungsmaßnahmen, wie etwa das Verlegen in einen Einzelhaftraum. Der Ausdruck (andere) Beamte umfaßt die Beamten im staatsrechtlichen Sinne und Amtsträger, die damit betraut sind, Hoheitsaufgaben wahrzunehmen, gleichgültig ob sie auch im staatsrechtlichen Sinne Beamte sind. Hierzu zählen die Beamten des Vollzugsdienstes, u. U. aber auch der Arzt, selbst wenn er Vertragsarzt ist, Polizei- und Gerichtsbeamte bei Transporten und Ausführungen. Der Ausdruck Staatsanwalt bezeichnet die Bundesanwälte, Staatsanwälte und Amtsanwälte (§ 142 Abs. 1), die letzten nicht nur, soweit sie nach den Anordnungen der Landesjustizverwaltungen über Organisation und Dienstbetrieb der Staatsanwaltschaft (OrgStA) zuständig sind, sondern in allen Sachen, die zur Zuständigkeit des Amtsgerichts (§ 24 GVG) gehören (§ 142 Abs. 2). Der Amtsanwalt wird sich jedoch in Sachen, die ihm nicht zugewiesen sind, einer Anordnung zu enthalten haben, wenn der Fall nicht so dringend ist, daß nicht nur kein Richter sondern auch kein Staatsanwalt zu erlangen ist. 759

§119 Anm. VI 4 - 6

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

4. Genehmigung. Die Anordnungen der Beamten bedürfen der Genehmigung des Richters. Sie ist, dem Zweck der Bestimmung entsprechend, unverzüglich einzuholen. Nach dem Sinn der Vorschrift hat der Richter von Amts wegen nur solche Anordnungen zu genehmigen, die noch fortwirken, wenn er um die Genehmigung angegangen wird (Fesselung, Zwangsernährung). Diese Anordnungen macht er, indem er sie genehmigt, zu seinen eigenen. Ist dagegen der Vollzug der Anordnung abgeschlossen, ehe der Richter von ihr Kenntnis erlangt hat, dann kommt es auf seine Genehmigung nur an, wenn der Beschuldigte die richterliche Entscheidung nachsucht. Denn das Gesetz räumt dem Beamten für den Notfall ein Handlungsrecht ein. Hat er davon Gebrauch machen müssen, kann daran der Umstand, daß eine Genehmigung erteilt oder versagt wird, nichts mehr ändern. Die richterliche Entscheidung ist nur bedeutsam, wenn der Beschuldigte ein Interesse daran hat, daß die Unrechtmäßigkeit der Verfügung des Beamten nachträglich festgestellt werde. Demzufolge kann sie der Gefangene mit der Behauptung beantragen, die Anordnung eines Beamten sei rechtswidrig gewesen (VII 2). Dagegen ist für ein abstraktes Kontrollverfahren von Amts wegen kein Raum. Aus der Fassung von Satz 2 ist es nicht zwingend herzuleiten; dazu hätte es eingehender Vorschriften bedurft 40 . Da der Richter indessen den gesamten Vollzug der Untersuchungshaft, weil er für ihn verantwortlich ist, überblicken muß, sind ihm Anordnungen von Beamten auch dann zur Kenntnis zu bringen, wenn ihr Vollzug bereits abgeschlossen ist. Er nimmt sie dann lediglich zur Kenntnis 41 . Es bleibt ihm aber unbenommen, bei der Dienstaufsichtsbehörde des Beamten die Beanstandung des einzelnen Falles oder Richtlinien für künftige Fälle anzuregen. 5. Meinungsverschiedenheiten. Richter, Staatsanwalt und Anstaltsleiter verfolgen gemeinschaftlich das Ziel, die Untersuchungshaft ihrem Zweck entsprechend zu vollziehen und die Ordnung in der Anstalt zu wahren (Nr. 6 UVollzO). Gleichwohl sind Meinungsverschiedenheiten zwischen Richter und Anstaltsleiter nicht ausgeschlossen. Sie werden im allgemeinen dadurch verhütet, daß der Richter keine Maßnahmen anordnet, die in solche Gebiete des inneren Anstaltsbetriebs eingreifen, die sinnvollerweise der Anstaltsleiter allein regeln muß (I 2 am Ende). Befürchtet der Anstaltsleiter, daß eine richterliche Verfügung die Ordnung in der Anstalt gefährdet, so soll er sie erst durchführen, wenn der Richter trotz Gegenvorstellung darauf besteht. Auch kann der Anstaltsleiter bei der Staatsanwaltschaft anregen, Beschwerde einzulegen (Nr. 10 UVollzO). 6. Dauer. Die Zuständigkeit endet grundsätzlich mit der Untersuchungshaft (OLG Hamm NJW 1953 1933). Demzufolge kann, wenn der Untersuchungsgefangene aus der Untersuchungshaft entlassen wird, ohne daß sich eine andere Untersuchungshaft oder Strafhaft unmittelbar an die Entlassung anschließt, wegen einer vorher begangenen Unregelmäßigkeit eine Maßregel nicht mehr angeordnet (ein noch nicht abgesandter Brief angehalten, eine Hausstrafe verhängt) und eine bereits ausgesprochene nicht mehr vollstreckt (OLG Hamburg GA 1962 347) werden. Ausnahmen ergeben sich für das Beschwerdegericht und für den Fall der Überführung in Strafhaft (VII 3, 4). Mit dieser wird das besondere Gewaltverhältnis, wenn auch auf anderer Grundlage und in verschärfter Form, fortgesetzt. Das Gericht ist daher befugt, einen am letzten Tag der Untersuchungshaft abgegebenen Brief am ersten Tage der Strafhaft anzuhalten. Ebenso kann es wegen eines Verstoßes, den der Beschuldigte am Ende der Untersuchungshaft begangen hat, eine Hausstrafe auch dann noch verhängen, wenn der Gefangene inzwischen in Strafhaft überführt worden ist (BayObLGSt. 23 63; OLG München NJW 1956 316; OLG Bremen NJW 1958 472; K G JR 1964 310) 42 . Eine alsdann oder kurz vor Beendigung der Untersuchungshaft verhängte Hausstrafe kann auch in der Strafhaft noch vollstreckt werden 43 . Zuständig für die Entscheidung bleibt das zuletzt zuständige Haftgericht (OLG Hamburg, 1. StS, MDR 1970 40 41

42

43

Vgl. etwa für den Strafvollzug §§ 23 ff. E G G V G , namentlich § 28 Abs. 1 Satz 2 bis 4. A. A. — Richter muß von Amts wegen kontrollieren und (wem?) zum Ausdruck bringen, daß er die Maßnahme billige - K1 e i n k n e c h t 532. A. A. — nach Ende der Untersuchungshaft kann auch bei Überführung in Strafhaft keine Hausstrafe mehr verhängt werden - OLG Hamm NJW 1953 1933; OLG Hamburg, 2. StS, M D R 1970 163. O L G Hamm aaO; Nr. 70 Abs. 3 UVollzO.

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Neunter Abschnitt. Verhaftung und vorläufige Festnahme (Dünnebier)

§ 119 Anm. VII 1—3

163); der Leiter der Strafanstalt, in die der frühere Untersuchungsgefangene überführt worden ist, ist nicht befugt, nachträglich eine Hausstrafe wegen des Verhaltens in der Untersuchungshaftanstalt zu erlassen. Tut er es gleichwohl, ist seine Verfügung im Verfahren des § 23 EGGVG als rechtswidrig aufzuheben. Das zuletzt zuständige Haftgericht entscheidet nach § 119 Abs. 3 und 4, nicht etwa nach der Dienst- und Vollzugsordnung (OLG Bremen NJW 1958 472). Danach kommt es bei einer Hausstrafe darauf an, ob sie zur Aufrechterhaltung der Ordnung in der Untersuchungshaftanstalt erforderlich ist. Diese Notwendigkeit kann durch die Verlegung in die Strafanstalt entfallen sein, braucht es aber nicht 44 . Es ist selbstverständlich, daß wegen eines Verstoßes, der in Straflmft begangen ist, nur die Strafanstalt eine Hausstrafe verhängen kann. Zweifel können sich hierzu nur ergeben, wenn sich eine Untersuchungshaft zufolge Rechtskraft eines freiheitsentziehenden Urteils in Strafhaft verwandelt hat (II 10 zu § 120), der für die Untersuchungshaft zuständige Richter ohne Kenntnis davon geblieben ist und gegen den vermeintlichen Untersuchungsgefangenen eine Hausstrafe wegen eines in Wirklichkeit schon in der Strafhaft begangenen Verstoßes verhängt hat. Dazu ist er nicht zuständig. Daß er von der Beendigung der Untersuchungshaft nichts weiß, ist unerheblich; die Zuständigkeit knüpft lediglich an objektive Merkmale an (OLG Bremen MDR 1966 349). VII. Rechtsbehelfe und Rechtsmittel. 1. Diensaufsichtsbeschwerde. Gegen Maßnahmen und Verfügungen der Anstaltsbeamten ist die Dienstaufsichtsbeschwerde statthaft (Nr. 75 UVollzO). Bei der allumfassenden Zuständigkeit des Gerichts wird sie, wenn sie auch stets zulässig bleibt, in der Regel nur in Betracht kommen, wenn weder der Haftrichter und das Beschwerdegericht, noch auch das Oberlandesgericht nach §§ 23 ff. EGGVG entscheiden kann. Das ist z. B. der Fall, wenn sich die Beanstandung nicht gegen Verfügungen und Maßnahmen richtet, sondern dagegen, daß richterliche Verfügungen gar nicht (OLG Hamm NJW 1965 1544) oder unangemessen ausgeführt worden sind. 2. Antrag auf richterliche Entscheidung ist gegeben gegen Verfügungen und Maßnahmen, die Beamte (Staatsanwalt, Anstalts-, Polizei-, Gerichtsbeamte) in dringenden Fällen (VI 3) getroffen haben, oder die der Staatsanwalt als angeblich begünstigende kraft Überlassung (VI 2) vorgenommen hat. Es entscheidet der VI 1 genannte Richter, bei Kollegialgerichten der Vorsitzende. Dieser kann auch angerufen werden, wenn der Berichterstatter Entscheidungen kraft Überlassung als angeblich begünstigende getroffen hatte (VI 1 Abs. la.E.). Bei Entscheidungen des Vorsitzenden hat der Betroffene, da der Vorsitzende aus eigener Zuständigkeit und nicht für das Gericht entscheidet, nicht die Möglichkeit, das Gericht anzugehen, muß vielmehr unmittelbar das Beschwerdegericht anrufen (§ 304 Abs. 1). Wegen der Erledigung des Antrags gilt das bei der Beschwerde Ausgeführte. 3. Beschwerde. Den Beteiligten steht gegen die Verfügungen des Richters die Beschwerde zu (§ 304 Abs. I) 45 . Die Beschwerde ist auch statthaft, wenn die Verfügung von einem erkennenden Gericht (§ 305) ausgegangen ist, weil die auf die Untersuchungshaft bezüglichen Entscheidungen in keinem Zusammenhang mit der Urteilsfällung stehen. Die Beschwerde ist unstatthaft gegen Verfügungen der Strafsenate, auch wenn das Oberlandesgericht im ersten Rechtszug zuständig ist (§ 304 Abs. 4). Im letzten Fall ist die Beschwerde zwar zulässig gegen Verfügungen, die die Verhaftung betreffen (§ 304 Abs. 4 Nr. 1). Das ist aber bei Maßnahmen nach § 119 Abs. 6 nicht der Fall (5). Die Fesselung in der Hauptverhandlung fällt nicht unter § 119 (III 9). Beschwerdeberechtigt sind der Gefangene, sein Verteidiger, jedoch nicht gegen den ausdrücklichen Willen des Beschuldigten (§ 297), der gesetzliche Vertreter (§ 298 Abs. I) 46 und der Staatsanwalt (§ 296). Eine Beschwer des Nebenklägers (§ 397 in Vbdg. mit § 390 44 45

46

Beispiele: OLG Bremen NJW 1956 72; 1957 274. Wird die Entscheidung des Vorsitzenden einer Strafkammer angefochten, so entscheidet auch in Bayern das Oberlandesgericht, nicht das Bayerische Oberste Landesgericht (BayObLGSt. 1954 119= NJW 1955 233). A. A. — gesetzlicher Vertreter hat kein Beschwerderecht — E b S c h m i d t Nachtr. 46.

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§ 119

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Anm. V I I 4 - 6 Abs. 1 Satz 1) ist nicht denkbar. Dagegen kann ein Dritter (§ 304 Abs. 2), der etwa durch die Ablehnung des Besuchs- (BayObLGSt. 8 393) oder Schriftverkehrs (OLG Hamburg JVB1. 1969 11; OLG Hamm MDR 1969 161) betroffen wird, sich der Beschwerde bedienen. Hierunter fallt jedoch nicht der Anstaltsleiter. Er ist, da er von der Entscheidung nicht persönlich berührt wird, von ihr nicht betroffen 47 i. S. des § 304 Abs. 2 48. Freilich hat die Staatsanwaltschaft Anregungen des Anstaltsleiters, eine Beschwerde einzulegen, stets sorgfältig zu prüfen. 4. Nach der Untersuchungshaft. Endet die Untersuchungshaft, so wird eine Beschwerde grundsätzlich hinfällig (BVerfGE 9 161= NJW 1959 431). Sie bleibt jedoch wirksam, wenn die Entscheidung fortwirkt ( M ü l l e r - S a x 6a). Das ist der Fall, wenn der Untersuchungsgefangene anschließend an die Untersuchungshaft in Strafhaft genommen wird und eine Verfügung noch unerledigt, z. B. ein Brief noch angehalten, eine Hausstrafe noch nicht vollstreckt ist (VI 6). Alsdann ist über die Beschwerde noch zu entscheiden (OLG Hamm NJW 1953 1933; OLG München NJW 1956 317; KG JR 1964 310), und zwar nach § 119 Abs. 3 und 4 und nicht nach der Dienst- und Vollzugsordnung, so daß z. B. ein zu Unrecht zurückgehaltener Brief selbst dann abzusenden ist, wenn er nunmehr nach dieser beanstandet werden könnte (OLG Bremen NJW 1958 472). Außerdem ist über die Beschwerde nach Beendigung der Untersuchungshaft auch dann noch zu entscheiden, wenn der Beschuldigte an der Entscheidung noch ein rechtliches Interesse hat. Das kann z. B. darin liegen, daß er im Hinblick auf eine künftige Entlassung aus einer im Anschluß an die Untersuchungshaft vollstreckten Strafe (§ 26 StGB) nicht als disziplinarisch bestraft gelten möchte (vgl. § 28 Abs. 1 Satz 4 EGGVG). Alsdann steht der Entscheidung auch nicht entgegen, daß die Verfügung bereits vollstreckt, eine Hausstrafe etwa verbüßt ist (OLG Hamm HRR 1928 98; K l e i n k n e c h t 532; R ö h l 67). 5. Weitere Beschwerde findet nicht statt, weil die vom Beschwerdegericht erlassenen Beschlüsse nicht die Verhaftung betreffen, sondern die Art und Weise, wie die Untersuchungshaft vollzogen wird49. Der Grund der Ausnahmebestimmung des § 310 Abs. 1 ruht in der Bedeutung, welche der Entziehung der persönlichen Freiheit innewohnt ( H a h n 1 249; BayObLGSt. 26 178). Die Erwägung, daß die Untersuchungshaft ein tiefer Eingriff sei, rechtfertigt es nicht, daraus die Folgerung zu ziehen, daß auch Entscheidungen über die Art und Weise des Vollzugs der Haft entgegen dem Gesetzeswortlaut der weiteren Beschwerde zugänglich wären (OLG Hamburg GA 1966 187). 6. Antrag nach § 23 Abs. 1 EGGVG. Nach § 23 Abs. 1 Satz 2 EGGVG kann gegen Anordnungen, Verfügungen und sonstige Maßnahmen der Vollzugsbehörden im Vollzug der Untersuchungshaft Antrag auf gerichtliche Entscheidung (§ 24 Abs. 1 EGGVG) des Oberlandesgerichts (§ 26 Abs. 1 EGGVG) gestellt werden. Die Vorschriften der §§ 23 ff. EGGVG gelten jedoch nur subsidiär, wenn keine sonstige strafprozessuale Möglichkeit besteht, eine gerichtliche Entscheidung zu erlangen. Das ist bei Entscheidungen, die sich auf die Untersuchungshaft beziehen, fast stets 50 der Fall. Der Antrag auf gerichtliche Entscheidung kann daher nur in bezug auf Maßnahmen der Anstaltsleitung angebracht werden, die der Richter nicht abstellen kann, z. B. die Regelung finanzieller Ansprüche des Gefangenen an den Staat (OLG Hamburg NJW 1967 168); die Größe und Ausgestaltung der Zellen; Güte, Menge und Zubereitung der Anstaltsverpflegung; Zu- und Verteilung von Gefangenenarbeit (OLG Zweibrücken StVollzK 1967 Nr. 6 S. 10) und dgl. (I 2 Abs. 4 a. E.). Dazu gehört nicht die Durchführung der Trennungsvorschriften des § 119 Abs. 1 und 2 (OLG Frankfurt NJW 1967 693); dafür gilt Absatz 6. Der Antrag nach §§ 23ff. EGGVG steht dem Gefangenen auch dann nicht zur Verfügung, wenn die Anstalt ihn dem Arzt nicht vorführt oder von diesem angeordnete Maßnahmen nicht durchführt (wegen der Beilegung von Meinungsverschiedenheiten s. VI 5) oder dem Wunsch des Gefangenen, von einem 47 48 49

50

Vgl. zu diesem Begriff § 35 Abs. 1, § 98 Abs. 2. K l e e 273; S c h w e i c h l e r GA 55 282. BayObLG DRiZ 1929 450; OLG Nürnberg HESt. 2 87; K l 9; M ü l l e r - S a x 6c; R ö h l 67; a. A. E b S c h m i d t Nachtr. 47; P e t e r s § 47 A VI; S c h o r n JR 1967451 weitergehend R ö h l NJW 1960 416.

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Neunter Abschnitt. Verhaftung und vorläufige Festnahme (Dünnebier)

§

1 1 9

Anm. VII7 § 1 2 0 Anm. I

weiteren Arzt behandelt zu werden, nicht stattgibt (OLG Hamburg NJW 1962 1930 = VollzD 1962 Nr. 6, S. 19). Gewährt aber der Arzt keine oder eine vorgeblich falsche Behandlung, dann versagen die Möglichkeiten des Absatzes 6. Für diesen Fall steht dem Beschuldigten der Antrag nach § 23 EGGVG offen (OLG Hamburg NJW 1963 2388; OLG Frankfurt StVollzK 1966 Nr. 1, S. 11; M ü l l e r - D i e t z VollzD 1967 Nr. 3). 7. Die Revision kann auf eine Verletzung des § 119 in Vbdg. mit §§ 336, 337 gestützt werden. Sie wird jedoch regelmäßig erfolglos sein, weil der Angeklagte in der Hauptverhandlung die Rechte ausüben kann, an deren Gebrauch ihn Beschränkungen in der Untersuchungshaft gehindert haben. Ggf. ist die Hauptverhandlung dazu auszusetzen und dem Angeklagten ein Verteidiger zu bestellen, wenn er selbst wegen Verdunkelungsgefahr im Schriftwechsel beschränkt werden muß. Die Fesselung in der Hauptverhandlung ist nicht nach § 119 Abs. 5 Satz 2 zu beurteilen; sie ist eine Maßregel der äußeren Verhandlungsleitung nach § 231 Abs. 1 (BGH NJW 1957 271). Das Reichsgericht hatte eine Verletzung des § 116 Abs. 4 Satz 2 (jetzt § 119 Abs. 5 Satz 2) schon deshalb verneint, weil die Bestimmung nur eine Ordnungsvorschrift sei (RGSt. 54 206).

§ 120 (1)Der Haftbefehl ist aufzuheben, sobald die Voraussetzungen der Untersuchungshaft nicht mehr vorliegen oder sich ergibt, daß die weitere Untersuchungshaft zu der Bedeutung der Sache und der zu erwartenden Strafe oder Maßregel der Sicherung und Besserung außer Verhältnis stehen würde. Er ist namentlich aufzuheben, wenn der Beschuldigte freigesprochen oder außer Verfolgung gesetzt wird oder wenn das Verfahren nicht bloß vorläufig eingestellt wird. (2) Durch die Einlegung eines Rechtsmittels darf die Freilassung des Beschuldigten nicht aufgehalten werden. (3) Der Haftbefehl ist auch aufzuheben, wenn die Staatsanwaltschaft es vor Erhebung der öffentlichen Klage beantragt. Gleichzeitig mit dem Antrag kann die Staatsanwaltschaft die Freilassung des Beschuldigten anordnen. Entstehungsgeschichte: Durch Art. 7 Nr. 1 StPÄG sind die früheren §§ 123 und 126 zusammengefaßt worden. Dabei ist in Angleichung an § 112 Abs. 1 Satz 2 in Satz 1 die Bestimmung eingefügt worden, daß der Haftbefehl auch aufzuheben ist, wenn die weitere Untersuchungshaft zu der Bedeutung der Sache und zu der zu erwartenden Strafe oder Maßregel der Sicherung und Besserung außer Verhältnis steht. Bezeichnung bis 1964: § 126. Übersicht I. Vorbemerkung II. Aufhebung von Amts wegen (Absatz 1) 1. Wegfall der Haftvoraussetzungen 2. Fehlen der Verhältnismäßigkeit 3. Freispruch 4. Einstellung 5. Bagatelldelikte 6. Verfahren 7. Beschwerde (Absatz 2)

8. Entscheidung des Beschwerdegerichts 9. Neue Haftgründe 10. Rechtskraft III. Aufhebung auf Antrag der Staatsanwaltschaft (Absatz 3) 1. Inhalt 2. Zeitpunkt 3. Antrag 4. Freilassung

I. Vorbemerkung. Die Vorschrift stellt die Aufhebungsgründe zusammen, wird aber durch § 121 Abs. 1 ergänzt. Satz 1 — an sich selbstverständlich — ist bedeutungsvoll durch den an die Spitze gestellten Gesetzesbefehl, den Haftbefehl alsbald aufzuheben, sobald die Voraussetzungen der Untersuchungshaft nicht mehr vorliegen. Um ihn zu befolgen, ist ständige Prüfung notwendig. Demzufolge wird durch das Wort „sobald" eindeutig der 763

§120 Anm. II 1

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Grundsatz zum Ausdruck gebracht, daß die Haftfrage unabhängig vom Haftprüfungsverfahren und unabhängig von Anträgen jederzeit von Amts wegen zu prüfen ist (22 zu § 112; 1 zu § 117). Zufolge der besonderen Konstruktion des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit (17 Abs. 2 zu § 112) gehört die Verhältnismäßigkeit nicht zu den formellen Haftvoraussetzungen. Deshalb muß die „UnVerhältnismäßigkeit" nochmals besonders als Haftaufhebungsgrund aufgeführt werden. Zugleich wird damit der bedeutsame Grundsatz der Verhältnismäßigkeit der Staatsakte besonders hervorgehoben und in seiner Bedeutung unterstrichen. Der letzte Fall des Absatzes 1 (Freispruch usw.) ist wegen seiner gesetzlichen Vermutung, daß die Haftvoraussetzungen weggefallen seien, neben Absatz 2 der Hauptinhalt der Vorschrift. Der Fall des Absatzes 3 (Aufhebung im Vorverfahren auf Antrag der Staatsanwaltschaft) ist mit Recht von den anderen Aufhebungsfallen abgetrennt. Denn bei ihm prüft das Gericht nicht, öb die Voraussetzungen des Haftbefehls weggefallen sind. Die Bestimmung des § 120 bezieht sich sowohl auf die Untersuchungshaft nach den §§ 112, 113 als auch auf die Ungehorsamshaft nach § 230 Abs. 2, § 236. Bei dieser wird allerdings der Aufhebungsgrund des Absatzes 1 Satz 1,2. Möglichkeit (Unverhältnismäßigkeit) nur ganz ausnahmsweise Anwendung finden können; Absatz 3 ist für sie ohne Bedeutung. Für die einstweilige Unterbringung (§ 126a Abs. 1) gilt § 120 nicht (§ 126a Abs. 2); vielmehr ist in § 126 a Abs. 3 eine besondere Regelung getroffen. Sie stimmt im wesentlichen mit § 120 überein, muß aber auf die Entlassung wegen Unverhältnismäßigkeit verzichten, weil die der Sicherung dienende einstweilige Unterbringung im Verhältnis zu der ebenfalls der Sicherung dienenden endgültigen Unterbringung nicht wohl in einem unangemessenen Verhältnis stehen kann. Der Befehl, den Haftbefehl aufzuheben, sobald dessen Voraussetzungen nicht mehr vorliegen oder keine Verhältnismäßigkeit mehr gegeben ist, besteht unbedingt, also auch dann, wenn der Vollzug des Haftbefehls nach § 116 ausgesetzt ist: Wenn kein Haftbefehl mehr zulässig ist, dürfen auch keine Belastungen durch Maßnahmen, Anweisungen, Bedingungen, Pflichten oder Beschränkungen auferlegt werden. Ob der Haftbefehl aufgehoben werden muß, ist daher immer auch dann zu prüfen, wenn (nur) eine Maßnahme des § 116 beanstandet wird. II. Aufhebung von Amts wegen (Absatz 1). 1. Wegfall der Haftvoraussetzungen. Voraussetzungen der Untersuchungshaft sind nach § 112 Abs. 1 dringender Tatverdacht und in den Fällen des § 112 Abs. 2 und 3 ein Haftgrund (Flucht, Fluchtgefahr, Verdunkelungsgefahr und Wiederholungsgefahr bei Sittlichkeitsverbrechern); im Falle des § 112 Abs. 4 gewisse besondere Umstände (16 b zu § 112). Nach dem klaren Wortlaut der Vorschrift kommt es nicht auf den Wegfall der in dem Haftbefehl bezeichneten strafbaren Handlung und des dort angegebenen Haftgrundes an; der Haftbefehl ist vielmehr nur dann aufzuheben, wenn jeglicher Grund für die Untersuchungshaft (§112 Abs. 1 bis 4) weggefallen ist. Der Haftbefehl kann daher, wenn die in ihm angegebene Haftvoraussetzung weggefallen ist, auf eine andere umgestellt werden (18 zu § 114). Der Sache nach bedeutet das Aufhebung des Haftbefehls und Erlaß eines neuen, so daß es nicht zur Entlassung kommt. Wie bereits oben (22 zu § 112; 1 zu § 117) ausgeführt, ist die Haftfrage in jeder Lage des Verfahrens unabhängig von Anträgen der Beteiligten jederzeit von Amts wegen zu prüfen. Diese Verpflichtung ist an sich selbstverständlich; denn kein Eingriff in die grundgesetzlich garantierten Freiheitsrechte kann länger als notwendig bestehen bleiben. Die Pflicht wird aber wegen ihrer Wichtigkeit betont durch die ausdrückliche Anordnung, den Haftbefehl dann aufzuheben, sobald die Voraussetzungen der Untersuchungshaft nicht mehr vorliegen. Der Tatverdacht ist mit dem Fortschreiten der Ermittlungen immer kritischer zu prüfen. Genügen beim ersten Zugriff einzelne starke Indizien, so ist die Dringlichkeit des Verdachts alsbald zu verneinen, wenn feststeht, daß eine Indizienkette nicht geschlossen werden kann oder wenn nur noch geringe Wahrscheinlichkeit dafür gegeben ist, daß die weiteren Ermittlungen Material erbringen werden, um einzelne starke Indizien durch weitere Tatsachen lückenlos zu verbinden. Die Fluchtgefahr vermindert sich, wenn der Fluchtanreiz geringer wird. Liegt dieser nicht in der Furcht vor dem Bestraftwerden überhaupt, sondern vor der 764

Neunter Abschnitt. Verhaftung und vorläufige Festnahme (Dünnebier)

§ 120 Anm. II 2

Strafverbüßung, dann wird er um so schwächer, je länger der Beschuldigte Untersuchungshaft erleidet, mit deren Anrechnung auf die Strafe er stets rechnet und grundsätzlich auch rechnen darf. Die Verdunkelungsmöglichkeit und damit die Verdunkelungsgefahr nehmen mit dem Fortschreiten der Untersuchung in der Regel ab. Ist die Tat aufgeklärt und sind die Beweise gesichert, dann wird meist die Verdunkelungsgefahr entfallen, auch wenn der Beschuldigte vorher tatsächlich verdunkelt hatte. Allerdings sind im Einzelfall Einwirkungen auf Zeugen bis zur Rechtskraft des Schuldspruchs denkbar und auch durch eidliche Vernehmung von Zeugen (§ 65) nicht immer auszuschließen. Doch wird, wenn eidliche Aussagen von Zeugen und ein richterliches Geständnis des Beschuldigten vorliegen, Verdunkelungsgefahr nur in ganz besonderen Ausnahmefallen begründet bleiben. Daher ist ein lediglich wegen Verdunkelungsgefahr erlassener Haftbefehl regelmäßig nach der Hauptverhandlung in der letzten Tatsacheninstanz aufzuheben (OLG Celle N J W 1963 1264). Der Haftbefehl ist auch aufzuheben, wenn die Gesamtwürdigung (19 zu § 112), eingetretene Geisteskrankheit (20 a zu § 112), oder wenn nahe Lebensgefahr durch Fortsetzung der Untersuchungshaft (20 b zu § 112) dem Erlaß eines Haftbefehls entgegenstehen würde. Wird in anderer Sache ein Haftbefehl erlassen, dann gibt das regelmäßig keinen Anlaß, den bestehenden Haftbefehl aufzuheben. Das kann geboten sein, wenn in anderer Sache eine Strafe vollstreckt wird und für längere Zeit sicher mit der Fortsetzung der Strafvollstreckung zu rechnen ist; für den Regelfall ist das nicht anzunehmen 2. Fehlen der Verhältnismäßigkeit. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (17 zu § 112) bedarf als einer der Fundamentalgrundsätze für staatliches belastendes Handeln jederzeit besonderer Prüfung, weil das Verhältnis der Haft zu dem durch das Strafverfahren zu erwartenden Ergebnis sich schon durch Zeitablauf immer ändert. Freilich wird es nicht immer möglich sein, das Fehlen der Verhältnismäßigkeit von dem Wegfall eines anderen Haftgrundes zu trennen. So wird z. B. meist schon die Fluchtgefahr entfallen, wenn wegen der Länge der Untersuchungshaft im Hinblick auf die bei ihrer Anrechnung noch zu verbüßende Strafe der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht mehr gewahrt wäre. Aber auch wenn die Fluchtgefahr fortbesteht, kann fehlende Verhältnismäßigkeit nötigen, den Haftbefehl aufzuheben. D a ß sie fehlt, ist grundsätzlich anzunehmen, wenn ein Vergleich zwischen der Strafe, die der Täter zu erwarten, und der Untersuchungshaft, die er erlitten hat, erkennen läßt, daß diese die vermutliche Strafhöhe nahezu erreicht oder gar übersteigt 2 . Ob und in welcher Höhe Untersuchungshaft voraussichtlich angerechnet werden wird, hat dabei außer Betracht zu bleiben. Vielmehr ist, wenn nicht die Umstände des § 60 Abs. 1 Satz 2 StGB vorliegen, davon auszugehen, daß die gesamte Untersuchungshaft angerechnet werden wird. Dabei ist auch die Anwendung des § 26 StGB (BGHSt. 6 215) ins Auge zu fassen ( S c h u l t z JR 1963 297). Indessen kommt es nicht allein auf das Verhältnis der Untersuchungshaft zu der zu erwartenden Strafe oder Maßregel an, vielmehr ist auch auf die Bedeutung der Sache abzustellen. Daraus folgt: Auch wenn die erlittene Untersuchungshaft nicht mehr in angemessenem Verhältnis zu der zu erwartenden Sanktion steht, kann die Untersuchungshaft gleichwohl aufrechterhalten werden, wenn das durch die Bedeutung der Sache geboten ist. Das ist etwa der Fall, wenn anzunehmen ist, der Beschuldigte werde ungeachtet der Geringfügigkeit eines Strafrestes fliehen, wenn die Aburteilung aber, namentlich im Hinblick auf eine später mögliche Rückfallverschärfung, bedeutungsvoll ist. Auf der anderen Seite bedeutet das Gebot, bei fehlender Verhältnismäßigkeit den Haftbefehl aufzuheben, daß der Staat bei unbedeutenden Sachen notfalls einen Verzicht auf die Verurteilung in Kauf nimmt. Zur Prüfung, ob die Haftvoraussetzungen entfallen sind, ist namentlich in folgenden Fällen Anlaß gegeben: wenn durch ein Urteil von Strafe abgesehen wird, z. B.: §§ 83 a, 84 Abs. 4, § 129 Abs. 5, 6, § 139 Abs. 1,§ 157 Abs. 2, § 173 Abs. 4, §§ 311 b, 315 Abs. 6, § 316 a Abs. 2 StGB; wenn durch ein Urteil ein Angeklagter für straffrei erklärt wird (§§ 199,233 StGB); wenn die gesamte Strafe durch die Untersuchungshaft verbüßt ist (§ 60 StGB) oder angeordnet wird, daß wegen erlittener Untersuchungshaft Jugendarrest nicht zu vollstrecken ist 1 2

19 zu § 112; a . A . S c h u m a n n JR 1967 340. Vgl. OLG Bremen NJW 1960 1265; M a u n z - D ü r i g , G G , 71 zu Art. 1.

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§ 120

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

Anm. II 3 , 4 (§ 52 Abs. 1 JGG), und das Verfahren wegen keiner freiheitsentziehenden Maßregel anhängig bleibt (3 zu § 112); wenn im Urteil nur auf andere als freiheitsentziehende Strafen oder Maßregeln erkannt (OG Danzig G A 71 73) oder die Vollstreckung erkannter Freiheitsstrafen (§ 23 Abs. 1 StGB, § 20 J G G ) oder des Strafrests zur Bewährung bei Anrechnung der Untersuchungshaft (§ 26 Abs. 1 StGB; BGHSt. 6 215; S c h u l t z J R 1963 297) ausgesetzt wird. In den vorgenannten Fällen können Umstände denkbar sein, die die weitere Untersuchungshaft rechtfertigen. Das kann beispielsweise der Fall sein, wenn ein Angeklagter Berufung einlegt, der deshalb in Untersuchungshaft ist, weil er tatkräftig auf Zeugen eingewirkt hatte; wenn die Gefahr besteht, daß er das bei Freilassung weiterhin tun und dadurch, ungeachtet der Zeugenaussage in der ersten Instanz, die Ermittlung der Wahrheit erschweren werde; und wenn die Wichtigkeit der Verurteilung die Untersuchungshaft auch für den Fall rechtfertigt, daß feststeht, es werde auf keine zu vollstreckende Freiheitsstrafe erkannt werden. Dabei kann es sich nur um ungewöhnliche Ausnahmefälle handeln. Wegen der Aufhebung des Haftbefehls in den vorgenannten Fällen bei Eintritt der Rechtskraft s. 10 Abs. 3. 3. Freispruch. In Absatz 1 Satz 1 ist verordnet, daß der Haftbefehl aufzuheben ist, wenn die Haftvoraussetzungen weggefallen sind oder die Verhältnismäßigkeit der Haft zur Strafe und zur Sache nicht mehr besteht. Als Sonderfall hiervon („namentlich") wird in Satz 2 der Fall des Freispruchs — und einiger ähnlich liegender Fälle — behandelt. Die Bestimmung des Satzes 2 enthält indessen mehr als lediglich einen Sonderfall von Satz 1. D a es nämlich auf den Akt des Freispruchs und nicht auf dessen Richtigkeit oder Rechtskraft ankommt, liegt in der Behandlung von Satz 2 als Unterfall von Satz 1 die gesetzliche Vermutung (OLG H a m m N J W 1954 86), daß die Haftvoraussetzungen weggefallen seien oder daß wenigstens die Haft zu dem endlichen Ergebnis nicht mehr in einem angemessenen Verhältnis stehe. Der Haftbefehl ist in den Fällen von Satz 2 daher auch dann aufzuheben, wenn bei (erkannter) Fehlerhaftigkeit des Freispruchs die Voraussetzungen der Untersuchungshaft noch vorliegen ( K e r n - R o x i n § 31 F I 1 c). Das Gesetz knüpft die Verpflichtung, den Haftbefehl aufzuheben, an den Umstand, daß der Angeschuldigte freigesprochen oder außer Verfolgung gesetzt werde. Der Freispruch kann grundsätzlich nur durch Urteil ausgesprochen werden (§ 260 Abs. 1 Satz 2), ausnahmsweise in gewissen Wiederaufnahmefallen durch Beschluß ( § 3 7 1 Abs. 2; BGHSt. 8 383; 14 66). Der Freispruch muß die Tat betreffen, wegen der der Haftbefehl ergangen ist. Wird der Angeklagte, wenn er freigesprochen wird, gleichzeitig wegen anderer Taten verurteilt, so bleibt der Haftbefehl, wenn er auch wegen dieser Taten erlassen worden war, unberührt; war noch keiner erlassen, ist es zulässig, wegen dieser Taten die Untersuchungshaft anzuordnen. Doch wird dabei der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit besonders sorgfaltig zu beachten sein. Außer Verfolgung gesetzt wird der Angeschuldigte durch den Beschluß, mit dem das Gericht nach abgeschlossener Voruntersuchung erklärt, daß es das Hauptverfahren nicht eröffne (§ 204 Abs. 2). Auch hier ist Identität der im Haftbefehl angenommenen Tat mit derjenigen, die in dem Beschluß nach § 204 Abs. 2 behandelt wird, Voraussetzung der Aufhebung des Haftbefehls. 4. Einstellung. Als weiteren Grund, der zwingend verpflichtet, den Haftbefehl aufzuheben, nennt Satz 2 die Einstellung, wenn sie nicht bloß vorübergehend wirkt. Dafür kommen in Betracht das Urteil (§ 260 Abs. 1) sowie der Beschluß (§ 206 a), durch den das Verfahren wegen eines nicht mehr behebbaren Verfahrenshindernisses (Verjährung, Amnestie, fehlender Strafantrag bei abgelaufener Antragsfrist) mit der Wirkung eingestellt wird, daß es, wenn nicht neue Tatsachen oder Beweismittel bekannt werden, nicht wieder aufgenommen werden kann. Hierunter fällt, weil die letzte Voraussetzung fehlt, nicht die Einstellung wegen fehlenden Gerichtsstandes (I 5 zu § 12; K G G A 42 147) oder die vorläufige Einstellung (§ 205 Abs. 1). Freilich kommt es nicht darauf an, wie das Gericht die Einstellung benennt: wird das Verfahren „vorläufig" eingestellt, weil die deutsche Gerichtsbarkeit zwar fehlt, aber vielleicht noch begründet werden kann, so handelt es sich in Wirklichkeit um eine wegen eines Prozeßhindernisses gebotene Einstellung ( O L G Karlsruhe 766

Neunter Abschnitt. Verhaftung und vorläufige Festnahme (Dünnebier)

§ 120 Anm. II 5, 6

JZ 1967 418), und es muß gleichgültig bleiben, ob vielleicht einmal die Prozeßvoraussetzung der deutschen Gerichtsbarkeit geschaffen werden kann. Eine nicht bloß vorläufige Einstellung des Verfahrens wird auch durch den Beschluß bewirkt, durch den das Hauptverfahren nicht eröffnet (§ 204 Abs. 1) oder — in anderer Fassung — die Eröffnung des Hauptverfahrens abgelehnt wird (§210 Abs. 2). Auch in diesem Falle kann die Klage nur aufgrund neuer Tatsachen oder Beweismittel wieder aufgenommen werden (§211). Dagegen ist nicht anzunehmen, daß das Gesetz auch die staatsanwaltschaftliche Einstellung (§ 170 Abs. 2) im Auge hat. Denn ihr kommt — anders als der Ablehnung der Eröffnung des Hauptverfahrens — keine beschränkte Rechtskraftwirkung zu. Auch sind die anderen Akte, mit denen die Aufhebung des Haftbefehls zu verbinden ist, gerichtliche, so daß das Gericht aus seiner eigenen Entscheidung eine vom Gesetz vorgeschriebene Folgerung ziehen muß. Bei diesen Verschiedenheiten kann dem Gesetz nicht die Anordnung entnommen werden, das Gericht müsse den Haftbefehl aufheben, wenn die Staatsanwaltschaft das Verfahren eingestellt hat. Gleichwohl wird es regelmäßig dazu kommen. Denn mit der Einstellung verneint die Staatsanwaltschaft den hinreichenden und damit erst recht den dringenden Tatverdacht. Alsdann muß sie die Aufhebung des Haftbefehls beantragen, und das Gericht muß diesem Antrag entsprechen (§ 120 Abs. 3 Satz 1). Es ist nahezu ausgeschlossen, daß die Staatsanwaltschaft bei einer Einstellung nicht die Aufhebung des Haftbefehls beantragt. Sollte es doch einmal regelwidrig der Fall sein 3 , hat das Gericht über einen Antrag des Beschuldigten auf Aufhebung des Haftbefehls nach allgemeinen Grundsätzen zu entscheiden; ein Fall des § 120 Abs. 1 liegt nicht vor. 5. Bagatelldelikte. So wie bei Freispruch der Wegfall des dringenden Tatverdachts schlechthin vermutet wird, muß bei Verurteilung wegen einer Tat, die nur mit Freiheitsstrafe bis zu sechs Monaten oder mit Geldstrafe, allein oder nebeneinander, bedroht ist (§113 Abs. 1; Beisp.: Anklage wegen Nötigung, Verurteilung nur wegen Bedrohung), der dringende Tatverdacht wegen einer anderen strafbaren Handlung kraft gesetzlicher Vermutung ausgeschlossen werden. Die Untersuchungshaft darf alsdann lediglich wegen Fluchtgefahr und nur dann fortdauern, wenn — sofern nicht der Ausnahmefall von § 113 Abs. 3 gegeben ist — die Voraussetzungen des § 113 Abs. 2 vorliegen. Sind sie nicht gegeben, ist der Haftbefehl aufzuheben. Dasselbe gilt, wenn das Hauptverfahren abweichend von dem Antrage des Staatsanwalts (§ 206, § 210 Abs. 2) nur wegen einer in § 113 Abs. 1 aufgeführten Tat eröffnet wird. 6. Verfahren. In jedem Zeitpunkt des Verfahrens haben Richter und Staatsanwalt, der letztere auch dann, wenn die Verfahrensherrschaft aufs Gericht übergegangen ist, zu prüfen, ob die Untersuchungshaft noch aufrechterhalten werden muß. Einen Zwang hierzu kann der Beschuldigte durch das Haftprüfungsverfahren (§ 117) ausüben, doch ist stets auch unabhängig von diesem von Amts wegen darauf zu achten, ob die Fortdauer der Untersuchungshaft noch nötig ist (Nr. 46 Abs. 1 RiStBV). Ist das nicht der Fall, hat die Staatsanwaltschaft die Aufhebung des Haftbefehls zu beantragen. Das Gericht hat die Haftfrage aber auch von Amts wegen zu prüfen und bei Wegfall der Haftvoraussetzungen nach Anhörung der Staatsanwaltschaft (§ 33) den Haftbefehl durch Beschluß aufzuheben. Der Beschluß ist zu begründen (§ 34). Wegen der Zuständigkeit s. § 126. Der den Haftbefehl aufhebende Beschluß ist durch Entlassung zu vollziehen. Einer Vollstreckung (§ 36 Abs. 1 Satz 1) bedarf die Entscheidung nicht, weil zu ihrer Durchführung keine Anwendung von Gewalt erforderlich ist (3 zu § 36). Da die Entscheidung auch nicht der Zustellung bedarf (§ 35 Abs. 2 Satz 2), findet § 36 keine Anwendung. Das Gericht hat vielmehr, ggf. durch seine Geschäftsstelle, die Entlassung selbst zu veranlassen und den Beschluß dem Beschuldigten formlos und der Staatsanwaltschaft durch Aktenübersendung mitzuteilen. Die Anstalt hat den Gefangenen unverzüglich zu entlassen. Sie kann ihn für den Zeitraum zurückhalten, der erforderlich ist, ihm Sachen auzuhändigen, ihn darüber quittieren zu lassen usw. Macht sich eine Gesundheitsuntersuchung erforderlich, so kann sie durch3

Beispiel: Einstellung eines Mordverfahrens wegen eines zweifelhaften Rechtfertigungsgrundes und alsbaldige Beschwerde des Verletzten mit dem Ziele der Anklageerzwingung.

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§120 Anm. II 7, 8

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

geführt werden, wenn das sofort möglich ist. Der Entlassene darf aber nicht zurückgehalten werden, weil der Arzt etwa erst später oder nur zu einer besonderen Stunde zur Verfügung steht. Bei den Entlassungsformalitäten ist der Entlassene als freier Mann zu behandeln und anzureden. Er muß sich in den Anstaltsbetrieb einordnen, kann aber nicht mehr mit Hausstrafen belegt werden. Befindet er sich zur Zeit der Entlassung außerhalb des Anstaltsgeländes, namentlich im Gerichtssaal, so darf er, wenn er Zivilkleidung trägt, nicht gegen seinen Willen mit Gewalt in die Anstalt zurückgeführt werden. Es steht ihm frei, seine Sachen am Eingang der Untersuchungshaftanstalt in Empfang zu nehmen (Merz NJW 1961 1852). Ist der Untersuchungsgefangene am Abend zu entlassen und hat er keine Bleibe und auch kein Geld, eine Übernachtung zu bezahlen, dann ist die Anstalt befugt, ihn auf seinen Wunsch bis zum anderen Morgen zu beherbergen. Auch er ist freier Mann, und zwar der Anstaltsordnung nicht aber der Anstaltsgewalt unterworfen; notfalls muß er auf die Straße gesetzt werden. 7. Beschwerde (Absatz 2). Gegen den den Haftbefehl aufhebenden Beschluß ist, sofern er nicht von einem Strafsenat als Rechtsmittelgericht ergeht (§ 304 Abs. 4), Beschwerde zulässig, auch — weil er eine Entscheidung über die Verhaftung darstellt — wenn er der Beschluß eines erkennenden Gerichts ist (§ 305 Satz 2). Gegen den einen Haftbefehl aufhebenden Beschluß des Landgerichts oder des erstinstanzlich entscheidenden Oberlandesgerichts findet, weil er die Verhaftung betrifft (§ 310 Abs. 1), weitere Beschwerde statt. Zwar hat die weitere Beschwerde ihren Grund im Schutze des Beschuldigten. Aus diesem Gesetzeszweck könnte man schließen, daß der Staatsanwaltschaft die weitere Beschwerde nicht zustehe. Indessen ist der Wortlaut nicht auf eine Beschwerde des Beschuldigten beschränkt. Da er eindeutig ist, bleibt für eine einschränkende Auslegung kein Raum. Daher sind die Staatsanwaltschaft und der Nebenkläger (§ 401 Abs. 1 Satz 1) beschwerdeberechtigt (15 b zu § 114). Der Beschuldigte hat mangels Beschwer kein Beschwerderecht. Für die Beschwerde gegen die Ablehnung, einen Haftbefehl aufzuheben, ergeben sich keine Besonderheiten. Die Beschwerde hat keine aufschiebende Wirkung (§ 307 Abs. 1). Die nach den allgemeinen Vorschriften gegebene Befugnis des Gerichts, den Vollzug der angefochtenen Entscheidung auszusetzen (§ 307 Abs. 2), ist durch Absatz 2 ausdrücklich ausgeschlossen, gleichgültig ob die Beschwerde allein eingelegt oder ob sie mit einer Anfechtung der 3 und 4 aufgeführten Entscheidungen verbunden wird. Absatz 2 gilt für alle Fälle, in denen ein Haftbefehl aufgehoben wird, nicht nur für die Aufhebung beim Freispruch und bei ihm gleichstehenden Entscheidungen. Die Bestimmung ist nicht unbedenklich (vgl. die andersartige Regelung in § 454 Abs. 2 Satz 2) und für die Fälle von Absatz 1 Satz 1 auch zuweilen mißlich. Für den Freispruch und die ihm gleichstehenden Entscheidungen ist sie eher hinzunehmen, namentlich wenn man im Auge behält, daß manche Rechtsordnungen Rechtsmittel gegen freisprechende Entscheidungen schlechthin ausschließen. 8. Entscheidung des Beschwerdegerichts. Das Beschwerdegericht überprüft die Entscheidung vollständig und hat dabei seine Erwägungen an die Stelle derjenigen des Vorderrichters zu setzen. Bei seiner Entscheidung hat es auch neu bekanntgewordene Tatsachen zu berücksichtigen. Den Freispruch oder die ihm gleichstehenden Entscheidungen kann es jedoch nicht überprüfen; es ist vielmehr an die gesetzliche Vermutung gebunden, daß der dringende Tatverdacht entfallen ist (OLG Hamm NJW 1954 86). In den 3 und 4 aufgeführten Fällen muß daher eine Beschwerde grundsätzlich wirkungslos bleiben (Ausnahmen s. 9). War dagegen der Haftbefehl aus sonstigen Gründen aufgehoben, dann kann das Beschwerdegericht den aufhebenden Beschluß des Vorderrichters seinerseits aufheben und damit dem Haftbefehl wieder Wirksamkeit verleihen. Dabei kann es den Haftbefehl auch umstellen, indem es etwa an die Stelle eines vom Vorderrichter zu Recht verneinten Betrugsverdachts den von diesem übersehenen Verdacht einer Urkundenfälschung setzt, oder indem es anstelle zu Recht als weggefallen angesehener Verdunkelungsgefahr entgegen der Ansicht des Vorderrichters Fluchtgefahr annimmt (18 zu § 114). 768

Neunter Abschnitt. Verhaftung und vorläufige Festnahme (Dünnebier)

§ 120 Anm. II 9 , 1 0

9. Neue Haftgründe. Durch den Freispruch und die ihm gleichstehenden gerichtlichen Entscheidungen wird die gesetzliche Vermutung begründet, die Haftvoraussetzungen seien entfallen oder die Untersuchungshaft stehe auf jeden Fall zu der zu erwartenden Sanktion nicht mehr in einem angemessenen Verhältnis. Die Vermutung kann durch neue Tatsachen oder durch neue Beweismittel widerlegt werden (OLG München H R R 1940 86). Werden sie alsbald nach Freispruch usw. bekannt (Geständnis nach Urteilsverkündung), dann ist trotz des Freispruchs der Aufhebungsgrund des § 120 Abs. 1 Satz 2 nicht gegeben. Ergeben sie sich, nachdem der Haftbefehl aufgehoben worden ist, dann kann das Beschwerdegericht die aufhebende Entscheidung des Vorderrichters beseitigen oder dieser einer Beschwerde der Staatsanwaltschaft abhelfen. In der Regel werden neue Tatsachen oder neue Beweismittel erst nach einiger Zeit hervortreten. Auch dann kann die Staatsanwaltschaft, weil das Beschwerdegericht die neuen Umstände berücksichtigen muß, noch den Weg der Beschwerde wählen; doch wird es in der Regel angemessener sein, einen neuen Haftbefehl zu beantragen. Dagegen kann die Vermutung, die Haftvoraussetzungen seien weggefallen, nicht dadurch ausgeräumt werden, daß das gleiche oder ein höheres Gericht unveränderte Tatsachen anders würdigt oder die Rechtslage anders beurteilt, als es das freisprechende Gericht beim Freispruch oder den ihm gleichstehenden Entscheidungen getan hatte (OLG München H R R 1940 837; OLG Hamm NJW 1954 86), selbst wenn die neue Beurteilung zur Aufhebung des freisprechenden Urteils führt ( L o b e - A l s b e r g III 1 zu § 123). Die gegenteilige Ansicht, der Angeschuldigte sei nicht mehr freigesprochen, wenn das freisprechende Urteil aufgehoben worden sei 4 , übersieht, daß der Gesetzgeber das Aufhebungsgebot an die Tatsache eines freisprechenden Urteils knüpft. Mag auch das freisprechende Urteil aufgehoben werden, so bleibt doch der Umstand, daß der Angeklagte einmal freigesprochen worden ist, immerdar bestehen, und mit ihm der Grund für die gesetzgeberische Entscheidung, daß ohne neue Tatsachen oder Beweismittel niemand für dringend verdächtig gehalten werden könne, dem in einem solennen Verfahren — wenn auch möglichenfalls zu Unrecht — bescheinigt worden ist, er sei nicht zu überführen. Im Wiederaufnahmeverfahren besteht dieser Grund nicht, wenn es zu Ungunsten des Verurteilten auf Grund neuer Tatsachen oder Beweismittel betrieben wird (§ 362 Nr. 1,2,4). Dieses Verfahren ist vom Zulassungsbeschluß (§ 369) an ein neues Ermittlungsverfahren, so daß auf Grund neuer Tatsachen oder Beweismittel ein neuer Haftbefehl ergehen kann (5 zu § 112). 10. Die Rechtskraft beendet die Untersuchung und damit die Untersuchungshaft (4 zu § 112; OLG Celle NJW 1963 2240). Ist der Beschuldigte bei Rechtskraft in Untersuchungshaft, so geht diese aufgrund eines zu Freiheitsstrafe oder zu freiheitsentziehenden Maßregeln verurteilenden Erkenntnisses in Strafhaft oder in den Vollzug der freiheitsentziehenden Maßregel über 5 . Der Haftbefehl erledigt sich damit von selbst (BVerfGE 9 161 = NJW 1959 431), er braucht nicht aufgehoben zu werden 6 . Das Gericht ist zwar nicht gehindert, den Haftbefehl aufzuheben 7 . Wenn es darüber hinaus aber die Entlassung aus der Untersuchungshaft anordnet, geht die Anordnung ins Leere; die Anstalt darf den Verurteilten aufgrund dieser Verfügung nicht aus der Strafhaft entlassen 8 . Dem erkennenden Gericht bleibt, wenn es der Ansicht ist, die Untersuchungshaft verwandle sich nicht zufolge der Rechtskraft in Strafhaft 9 , die Möglichkeit, nach § 458 Abs. 1 die Unzulässigkeit der Strafvollstreckung festzustellen, wenn Einwendungen " O L G Karlsruhe NJW 1970 439; M ü l l e r - S a x 2 a ( 2 ) ; S c h w a r z , 22. Aufl. 1 B zu § 123. 5 O L G Nürnberg SJZ 1950 141; OLG München Rpfleger 1964 370; OLG Bremen M D R 1966 349; OLG Köln NJW 1966 1829; M ü l l e r - S a x l a zu § 4 5 0 ; D a l c k e - F u h r m a n n 4 zu § 4 5 0 ; a. A. P o h l m a n n I 3 c zu § 38 StVollstrO; weitere Nachweise BGHSt. 20 65. 6 H ä r t u n g 5 zu § 123; a. A. - Haftbefehl bleibt Grundlage der Vollstreckungshaft - O L G Celle N J W 1963 2240. 7 Verneinend BayObLGSt. 32 147; OLG Nürnberg SJZ 1950 141, zust. K l e i n k n e c h t . ' Vgl. OLG Celle NJW 1963 2240: Das Prozeßgericht darf keine Entscheidungen erlassen, die die Vollstreckungshaft betreffen. Die Entscheidung des Oberlandesgerichts Celle zeigt, wie selbst bei unterschiedlichen Auffassungen Mißhelligkeiten vermieden werden können. 9 O L G Frankfurt HESt. 1 163; OLG Braunschweig M D R 1950 755.

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§120 Anm. III 1,2

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

gegen die Strafvollstreckung erhoben werden. Die Staatsanwaltschaft wird dem Gericht die Entscheidung dadurch abzunehmen haben, daß sie die Strafvollstreckung einleitet. Wird ein Urteil rechtskräftig, in dem nicht auf freiheitsentziehende Strafen oder Maßregeln erkannt oder in dem die Vollstreckung einer erkannten Freiheitsstrafe ausgesetzt wird, dann kann sich die Untersuchungshaft nicht in Strafhaft fortsetzen. Die Untersuchungshaft kann aber auch nicht fortbestehen, weil sie ihr Ziel, die Untersuchung zu sichern, erreicht hat. Der Verurteilte befindet sich damit ohne Rechtsgrund in Haft. Demzufolge ist der Haftbefehl alsbald aufzuheben, auch wenn sein Vollzug gegen Sicherheitsleistung ausgesetzt war. III. Aufhebung auf Antrag der Staatsanwaltschaft (Absatz 3). 1. Inhalt. Im Ermittlungsverfahren ist die Staatsanwaltschaft besser als das nur gelegentlich (§ 162) beteiligte Gericht über das Verfahren und seine Aussichten unterrichtet und daher am ehesten in der Lage, zu beurteilen, ob die Untersuchungshaft noch notwendig ist oder ob sie entbehrt werden kann. Die Verfahrenskenntnis gäbe allerdings keine Grundlage, den Amtsrichter an einen Aufhebungsantrag der Staatsanwaltschaft zu binden, wie das in Absatz 3 Satz 1 geschieht. Die dort verordnete Bindung beruht vielmehr auf der Verfahrensherrschaft, die im Ermittlungsverfahren dem Staatsanwalt zusteht. Zwar kann diese Herrschaft nicht ausreichen, dem Staatsanwalt die Befugnis zu verleihen, selbst Anordnungen zu treffen, die den Beschuldigten belasten (Haftbefehl, Beschlagnahme); solche Entscheidungen müssen dem Richter vorbehalten bleiben. Die Verfahrensherrschaft rechtfertigt es aber, es vom Ermessen des Staatsanwalts abhängig zu machen, ob solche Anordnungen ergehen sollen, welchen Umfang sie haben können und wie lange sie bestehen dürfen. § 120 Abs. 3 ist nur eine der vielfaltigen Auswirkungen dieses Grundsatzes. Die Vorschrift gewinnt namentlich Bedeutung, wenn die Polizei einen Verhafteten, damit die Frist gewahrt werde, dem Amtsrichter unmittelbar zufuhrt und dieser, weil kein Staatsanwalt erreichbar ist, von Amts wegen einen Haftbefehl erlassen hat (§ 128 Abs. 2 Satz 2). Die Bindungswirkung bezieht sich nur auf einen Antrag, den Haftbefehl aufzuheben. Das Aussetzen des Vollzugs eines Haftbefehls (§ 116) ist gegenüber seiner Aufhebung das Mindere. Gleichwohl ist ein Antrag der Staatsanwaltschaft, den Vollzug des Haftbefehls auszusetzen, dem Antrage, den Haftbefehl aufzuheben, in der Bindungswirkung nicht gleichgestellt. Diese klare gesetzgeberische Entscheidung kann durch Auslegung nicht geändert werden. Durch Absatz 3 werden die Befugnis und die Verpflichtung des Amtsrichters nicht berührt, einen Haftbefehl auch entgegen einem Antrag des Staatsanwalts von Amts wegen aufzuheben, wenn die Voraussetzungen der Untersuchungshaft weggefallen sind. 2. Zeitpunkt. Der Haftbefehl ist aufzuheben, wenn die Staatsanwaltschaft es beantragt, solange ihr die Verfahrensherrschaft zusteht, d. h. bis zur Erhebung der öffentlichen Klage. Erhebung der öffentlichen Klage (§ 170 Abs. 1) sind der Antrag auf gerichtliche Voruntersuchung (§ 179), die schriftliche Anklage (§ 199 Abs. 2, §200), die Nachtragsanklage (§ 266 Abs. 2), der Antrag auf Erlaß eines Strafbefehls (§ 408 Abs. 1) und - die Klage ersetzend — der polizeiliche Antrag auf Erlaß einer amtsrichterlichen Strafverfügung ( § 4 1 3 Abs. 1). Im beschleunigten Verfahren wird die Anklage entweder durch Einreichen einer Anklageschrift oder in der Hauptverhandlung mündlich erhoben (§ 212a Abs. 2). Die bindende Wirkung des staatsanwaltschaftlichen Antrags endet mit der Klageerhebung. Daher kann der Antrag nur an den Amtsrichter, den Ermittlungsrichter des Bundesgerichtshofs oder des Oberlandesgerichts (§ 168 a) oder an die diesen Richtern übergeordneten Beschwerdegerichte (§ 73 Abs. 1, § 120 Abs. 3, § 135 Abs. 3 Satz 2 GVG) gerichtet werden. Aus diesem Grunde kann ein mit der Anklage verbundener Antrag, den Haftbefehl aufzuheben, das mit der Anklage angerufene Gericht nicht binden. Wird allerdings Klage bei dem Amtsrichter erhoben, der zugleich Haftrichter (§ 126 Abs. 1) ist, dann ist der mit ihr verbundene Antrag, den Haftbefehl aufzuheben, für den Amtsrichter noch bindend. Denn die Gesetze sind sinnvoll auszulegen, und es kann nicht verlangt werden, daß der Staatsanwalt zwei getrennte Schriftstücke in Minutenabstand abgibt10. 10

A . A. — mit Anklage verbundener Aufhebungsantrag stets bindend — L o b e - A l s b e r g zu § 126; - nie bindend - E b S c h m i d t Nachtr. 2 5 ; M ü l l e r - S a x 3 (b) 1.

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2

Neunter Abschnitt. § Verhaftung und vorläufige Festnahme (Dünnebier)

1 2 0 Anm

- HI 3 , 4 § 121

3. Antrag. Den Antrag, den Haftbefehl aufzuheben, braucht die Staatsanwaltschaft nicht zu begründen; sie wird das nur tun, wenn ihre Gründe für die weitere Bearbeitung bedeutsam sind oder wenn aus anderen Gründen erwünscht ist, daß sie aktenkundig bleiben. Der Antrag wird in der Regel beim Amtsrichter gestellt werden, doch ist auch ein im Verfahren des § 122 ans Oberlandesgericht oder im Beschwerdeverfahren an das Beschwerdegericht gerichteter Antrag bindend. Er kommt z. B. in Betracht, wenn der Amtsrichter § 1 2 0 Abs. 3 übersehen hat; wenn eine Haftsache auf weitere Beschwerde des Beschuldigten ans Oberlandesgericht gelangt, und der Generalstaatsanwalt ihr beitritt; oder wenn das Beschwerdegericht einen Haftbefehl ohne Gehör der Staatsanwaltschaft umgestellt hat (18 zu § 114), und die Staatsanwaltschaft der Umstellung nicht zustimmt, sondern die Entlassung des Gefangenen für geboten erachtet. Der letzte Fall ist unerwünscht; die Gerichtspraxis kann ihn durch Gehör der Staatsanwaltschaft vermeiden. Die gerichtliche Entscheidung ist ein Formalakt ohne Sachprüfung. Sie ist, wenn auch die Ansicht der Staatsanwaltschaft bindend ist, erforderlich, weil dieser keine Verfügung über den gerichtlichen Haftbefehl eingeräumt werden kann. Die gerichtliche Prüfung beschränkt sich darauf, daß die öffentliche Klage nicht erhoben ist und daß ein Antrag der Staatsanwaltschaft vorliegt, den Haftbefehl aufzuheben. Zur Begründung (§ 34) genügen alsdann die Worte „auf Antrag der Staatsanwaltschaft". Der Antrag wirkt bei gleicher Sachlage fort, bis die Staatsanwaltschaft die öffentliche Klage erhoben oder einen neuen Antrag, die Untersuchungshaft anzuordnen, gestellt hat ( L o b e - A l s b e r g l b z u § 126). Auch wenn kein Staatsanwalt zu erreichen ist (§ 125 Abs. 1), darf dann der Amtsrichter, der die (unveränderte) Sachlage anders als der Staatsanwalt beurteilt, keinen neuen Haftbefehl erlassen. Dagegen ist er nicht gehindert, w e n n ein Staatsanwalt nicht erreichbar u n d Gefahr im Verzug ist, einen neuen Haftbefehl von Amts wegen zu erlassen, nachdem ihm neue Tatsachen (Fluchtvorbereitungen) bekannt geworden sind 11 . 4. Freilassung. Stellt die Staatsanwaltschaft den Antrag nach Satz 1, also vor Erhebung der öffentlichen Klage (zu dem Begriff s. 2 Abs. 1), den Haftbefehl aufzuheben, dann ist sie der Ansicht, der Beschuldigte sei zu Unrecht in Haft. Im Hinblick auf ihre Verfahrensherrschaft muß ihr alsdann die Befugnis zustehen, den Beschuldigten alsbald zu entlassen. Dazu räumt ihr Satz 2 die Fähigkeit ein, gleichzeitig mit ihrem Antrag die Freilassung des Beschuldigten anzuordnen. Da die Entscheidung des Gerichts wegen der Bindungswirkung nicht zweifelhaft sein kann, hat die Staatsanwaltschaft die Anordnung stets zu treffen. Das Wort „kann" will nur die gesetzliche Befugnis der Staatsanwaltschaft zu dem Eingriff in die richterlich angeordnete Haft klarstellen, hat aber nicht den Inhalt, daß die Staatsanwaltschaft mit der Entlassung bis zur gerichtlichen Entscheidung zuwarten dürfe 12 . Daß sich Satz 2 nur auf den Antrag nach Satz 1 bezieht, also nicht gilt, wenn die Staatsanwaltschaft öffentliche Klage erhoben hat, ist nach dem Zusammenhang zweifellos13.

§ 121 (1) Solange kein Urteil ergangen ist, das auf Freiheitsstrafe oder eine freiheitsentziehende Maßregel der Sicherung und Besserung erkennt, darf der Vollzug der Untersuchungshaft wegen derselben Tat über sechs Monate hinaus nur aufrechterhalten werden, wenn die besondere Schwierigkeit oder der besondere Umfang der Ermittlungen oder ein anderer wichtiger Grund das Urteil noch nicht zulassen und die Fortdauer der Haft rechtfertigen. (2) In den Fällen des Absatzes 1 ist der Haftbefehl nach Ablauf der sechs Monate aufzuheben, wenn nicht der Vollzug des Haftbefehls nach § 116 ausgesetzt wird oder das Oberlandesgericht die Fortdauer der Untersuchungshaft anordnet. u 12

13

Diesen Fall hat wohl auch E b S c h m i d t (3 zu § 126) im Auge. A. A. — Staatsanwaltschaft ist zur Entlassung nur verpflichtet, wenn zwischen Antrag und Entscheidung voraussichtlich ein längerer Zeitraum liegen wird — M ü l l e r - S a x 4 ; wie hier K 1 4 . Ebenso mit Hinweis auf die Entstehungsgeschichte P e t e r s § 47 A V 1 Abs. 3.

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§ 121

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

Anm. 1 (3) Werden die Akten dem Oberlandesgericht vor Ablauf der in Absatz 2 bezeichneten Frist vorgelegt, so ruht der Fristenlauf bis zu dessen Entscheidung. Hat die Hauptverhandlung begonnen, bevor die Frist abgelaufen ist, so ruht der Fristenlauf auch bis zur Verkündung des Urteils. Wird die Hauptverhandlung ausgesetzt und werden die Akten unverzüglich nach der Aussetzung dem Oberlandesgericht vorgelegt, so ruht der Fristenlauf ebenfalls bis zu dessen Entscheidung. (4) In den Sachen, in denen eine Strafkammer nach § 74 a des Gerichtsverfassungsgesetzes zuständig ist, entscheidet das nach § 120 des Gerichtsverfassungsgesetzes zuständige Oberlandesgericht. In den Sachen, in denen ein Oberlandesgericht nach § 120 des Gerichtsverfassungsgesetzes zuständig ist, tritt an dessen Stelle der Bundesgerichtshof. Entstehungsgeschichte: Die Vorschrift ist eingefügt durch Art. 1 StPÄG, um damit der Forderung in Art. 5 Abs. 2 Satz 2 MenschRKonv. zu genügen (Begrdg., BTDrucks. IV 178, S. 25). In der Regierungsvorlage hatte der Bedingungssatz am Schluß des ersten Absatzes folgenden Wortlaut: „wenn . . . die Schwierigkeit der Untersuchung oder wichtige Belange der Strafrechtspflege die Fortdauer der Haft erfordern". Dadurch kam der Grundsatz zum Ausdruck, daß die Untersuchungshaft nicht mehr vollzogen werden dürfe, wenn es möglich gewesen wäre, innerhalb von sechs Monaten zur Hauptverhandlung zu kommen, und die A usnahme, daß auf den Haftvollzug gleichwohl nicht verzichtet werden sollte, wenn wichtige Belange der Strafrechtspflege den weiteren Vollzug erfordern, z. B. wenn das Verfahren gegen einen Schwerverbrecher falsch behandelt worden war. Die Ausnahme ist in den Beratungen des Rechtsausschusses gefallen. Dort hat die Vorschrift auch die jetzige Fassung erhalten. Absatz 4 ist neu gefaßt worden durch Art. 2 Nr. 1 des Gesetzes zur allgemeinen Einführung eines zweiten Rechtszuges in Staatsschutz-Strafsachen vom 1.9.1969 (BGBl. I 1582). Schrifttum: D ü n n e b i e r , Bemerkungen zum Verfahren des Oberlandesgerichts nach §§ 121, 122 StPO, JZ 1966 251; F r a n z h e i m , Der Begriff „dieselbe Tat" in § 121 Abs. 1 StPO, NJW 1967 1597; E. K a i s e r , Die Bedeutung des oberlandesgerichtlichen Prüfungsrechts gemäß § 121 StPO, NJW 1966 435; M e h l i n g , Die Sechsmonatsfrist in § 121 StPO, NJW 1966 142; R e b m a n n , Der Begriff „dieselbe Tat" in § 121 Abs. 1 StPO, NJW 1965 1752; E b . S c h m i d t , Die oberlandesgerichtliche Kontrolle der Dauer der Untersuchungshaft, NJW 1968 2209; G e r h a r d S c h m i d t , Die Untersuchungshaft im schwedischen Strafprozeß, ZStW 74 623. 1. Inhalt. Nach Art. 5 Abs. 3 Satz 2 und 3 MenschRKonv. hat der Beschuldigte Anspruch, innerhalb angemessener Frist abgeurteilt oder gegen Sicherheitsleistung aus der Untersuchungshaft entlassen zu werden. Dieses Recht erfahrt seine nationale Ausgestaltung in den §§ 121, 122 in der Weise, daß die Dauer des Vollzugs der Untersuchungshaft grundsätzlich auf sechs Monate begrenzt und ihre Verlängerung nur unter besonderen Umständen und nach Prüfung durch das Oberlandesgericht zugelassen wird. Die Dauer der Untersuchungshaft wird nicht wie in § 112 Abs. 1 Satz 2 und in § 120 Abs. 1, 2. Halbsatz in ein Verhältnis zu der Bedeutung der Sache und der zu erwartenden Strafe oder Maßregel der Sicherung oder Besserung gesetzt, sondern in eines zu der Erledigungsschwierigkeit und zu anderen wichtigen Gründen. Damit kommt zum Ausdruck, daß der verfassungsrechtliche Grundsatz der Verhältnismäßigkeit der Dauer der Untersuchungshaft als einer vorläufigen Maßnahme schlechthin Grenzen setzt, auch unabhängig von der zu erwartenden Sanktion (BVerfGE 20 4 9 = NJW 1966 1259; BVerfGE 20 1 4 7 = NJW 1966 1703). Jene wichtigen Gründe müssen nicht nur dem Urteil entgegenstehen (7, 8), sondern auch die Haftfortdauer rechtfertigen (9). Bei dieser Verbindung der beiden Voraussetzungen bietet die Gegenwartsform der Auslegung kein Hindernis: Die Schwierigkeiten usw. müssen im Zeitpunkt der Prüfung bestehen oder wenigstens bis zu einem Zeitpunkt bestanden haben, der soviel Zeit vor der Prüfung liegt, als notwendig ist, nahezu zum Urteil zu kommen. In beiden Fällen lassen sie das Urteil zur Prüfungszeit noch nicht zu. Die gleichen Schwierigkeiten usw. müssen aber auch unabwendbar gewesen sein (9). Damit kommt es auf die Vergangenheit an. 772

Neunter Abschnitt. Verhaftung und vorläufige Festnahme (Dünnebier)

§ 121 Anm. 1

Die Regelung ist keine Straf- oder Erziehungsmaßnahme, sondern eine Folgerung aus dem Charakter der Untersuchungshaft. Diese ist, an einem als unschuldig Geltenden vollzogen, keine vorweggenommene Strafe, sondern ein im Interesse der Strafrechtspflege gefordertes Opfer, für das — wie für jedes Opfer — grundsätzlich das Übermaßverbot und der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gelten. Daraus folgt: Die Untersuchungshaft darf regelmäßig nur solange vollzogen werden, als es unerläßlich ist, das Urteil zu erreichen. Demzufolge müssen die Strafverfolgungsbehörden „nachweisen können, daß sie alles in ihrer Macht Stehende getan haben, um die Ermittlungen so schnell wie möglich abzuschließen und die gerichtliche Entscheidung über die dem Beschuldigten vorgeworfenen Taten herbeizuführen" (BVerfGE 21 2 2 2 = NJW 1967 871). Die Vorschrift ist bei jedem Haftbefehl anzuwenden, auch bei dem Haftbefehl — nicht dem Vorführungsbefehl — nach § 230 Abs. 2 und nach § 236, wenn sie bei letzterem auch selten von Bedeutung werden wird. Bei dem Haftbefehl nach § 114 ist es gleichgültig, auf welchem Haftgrund er beruht (§112 Abs. 2 und 3), der Haftbefehl ist also auch dann aufzuheben, wenn sicher ist, daß der Beschuldigte fliehen werde 1 . Es gibt auch keine Ausnahme für den Haftbefehl gegen einen Beschuldigten, der eines Verbrechens wider das Leben dringend verdächtig ist (§ 112 Abs. 4). Die Fassung der Regierungsvorlage (s. Entstehungsgeschichte), die im letzten Falle regelmäßig zugelassen haben würde, den Haftvollzug zu verlängern, hat der Bundestag ausdrücklich verworfen. Für die Untersuchungshaft bei Wiederholungsgefahr eines Sittlichkeitsverbrechens, die ihrer Natur nach eine vorbeugende Sicherungsmaßnahme ist (15 a zu § 112), paßt die Haftbegrenzung am wenigsten. Nach dem Willen des Gesetzgebers findet sie gleichwohl statt. Dagegen sind die §§ 121, 122 nicht anzuwenden bei der einstweiligen Unterbringung von Erwachsenen (§ 126a Abs. 2 Satz 1) und von Jugendlichen (§ 71 Abs. 2 Satz 2 J G G ; OLG Celle NJW 1965 2069), bei der Sicherungshaft vor dem Widerruf der Aussetzung einer Jugendstrafe ( § 6 1 Abs. 2 Satz 2 JGG) und bei der Auslieferungshaft und der vorläufigen Auslieferungshaft (§ 16 Abs. 3 DAG). Mit der Haftbegrenzung wird ein starker Zwang auf Polizei, Staatsanwaltschaft und Gericht ausgeübt, zielstrebig, konzentriert, rasch und sachgemäß zu ermitteln und zum Urteil zu kommen. Da auch selbst frühere Flucht und die Vorbereitung einer Flucht, sei es eine frühere, sei es eine aus der Haft, nicht als Ausnahmegrund aufgenommen und keine Ausnahme für § 230 Abs. 2, § 236 gemacht worden ist, muß daraus der Wille des Gesetzgebers gefolgert werden, unter Umständen in Kauf zu nehmen, daß ein verschlepptes Strafverfahren nicht zum Abschluß gebracht werden kann. In geeigneten Fällen wird die Verschonung mit dem Haftvollzug nach § 116 helfen, doch kann, anders als im anglo-amerikanischen Recht, aus dem der Gedanke des Art. 5 Abs. 3 Satz 2 und 3 MenschRKonv. entnommen ist, im deutschen Recht dem Beschuldigten nicht die Wahl zwischen Haft und Sicherheitsleistung gelassen werden. Denn die Sicherheitsleistung darf nur auf Antrag zugelassen werden (§ 116 a Abs. 3). Die Haftbegrenzung und die festumschriebenen Ausnahmen sind zu billigen. Auch die Folge ist anzuerkennen, daß ein fluchtverdächtiger Betrüger entlassen wird, wenn das Urteil in sechs Monaten nicht ergeht, obwohl das möglich gewesen wäre 2 . Dagegen ist das Gesetz abzulehnen, soweit es von diesem Grundsatz auch bei schwersten Verbrechen keine Ausnahme macht. Für Kapitalverbrechen ist das nicht erträglich. K l e i n k n e c h t will der untragbaren Konsequenz dadurch entgehen, daß er den Konditionalsatz in zwei Teile zerlegt und sie als an verschiedene Normadressaten gerichtet ansieht. Der erste Teil soll sich an die das Verfahren betreibenden Justizorgane richten (Vorlegungsvoraussetzungen), der zweite an die Justizorgane, die zur Frage der Haftverlängerung Stellung nehmen oder über sie entscheiden müssen (Verlängerungsvoraussetzungen) 3 . Das Gesetz enthält indessen eindeutig nur Verlängerungsvoraussetzungen und versteht darunter Umstände, die das Urteil (objektiv) noch nicht zulassen u n d zugleich — zufolge ihrer Unabwendbarkeit — die Fortdauer der Haft rechtfertigen. — M ü l l er 1

2 3

BGHZ 45 4 2 = NJW 1966 928; H e r z o g JZ 1966 689; a. A. LG Köln NJW 1964 1817; alle zu Art. 5 MenschRKonv. Vgl. M a h l e r NJW 1969 354. M D R 1965 788; JZ 1965 119; Kl 2, 3;zust. OLG Hamburg MDR 1967 1029.

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§ 121 Anm. 2 , 3

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

S a x ( l c ) wollen zwischen dem Schutzbedürfnis des Beschuldigten vor überlanger Haft und den Notwendigkeiten der Verfahrenssicherung abwägen. Das wäre bei der Fassung des Regierungsentwurfs geboten gewesen; der Gesetz gewordene Text gestattet es nicht. Die Vorschrift setzt die Frist, gibt Bestimmungen über ihre Verlängerung und räumt dem Oberlandesgericht die alleinige Zuständigkeit ein, über die Fortdauer des Vollzugs der Untersuchungshaft zu entscheiden. Das Verfahren, wie das Oberlandesgericht entscheidet, und wie seine Entscheidung herbeigeführt wird, ist in § 122 geregelt. 2. Frist. Die Untersuchungshaft darf grundsätzlich nicht über sechs Monate hinaus vollzogen werden. Diese Grenze betrifft nur die Freiheitsentziehung; der Haftbefehl selbst und Maßnahmen nach § 116 Abs. 1 bis 3, selbst freiheitsbeschränkende, können auch über die sechs Monate hinaus aufrechterhalten werden, wie sich aus Absatz 2 eindeutig ergibt. Die Vorschrift will den Beschuldigten nicht nur vor einer ununterbrochenen Untersuchungshaft von längerer Dauer als sechs Monate bewahren, sondern vor dem Vollzug auf eine solche Zeitdauer überhaupt. Es ist auch nicht auf die Vollstreckung eines (und desselben) Haftbefehls abgestellt, sondern auf den Vollzug der Untersuchungshaft wegen derselben Tat. Nach diesen Voraussetzungen ist es für die Berechnung der sechs Monate gleichgültig, ob der Beschuldigte ununterbrochen in Untersuchungshaft eingesessen hat; ob diese unterbrochen war, weil der Beschuldigte Strafhaft oder Untersuchungshaft in anderer Sache verbüßt hat; weil der Vollzug des Haftbefehls ausgesetzt war (§ 116); oder weil bei einem Jugendlichen von der Vollstreckung des Haftbefehls abgesehen worden ist (§ 72 Abs. 1 JGG); oder endlich, ob der Beschuldigte aus der Untersuchungshaft entlassen worden und anschließend wegen der gleichen Straftat aufgrund eines neuen Haftbefehls wieder in Untersuchungshaft gekommen ist, selbst wegen eines anderen Ereignisses, wenn es nur zu dem gleichen historischen Vorgang gehört, das Gegenstand des ersten Haftbefehls war. In allen Fällen der Unterbrechung sind die einzelnen Haftzeiten zusammenzuzählen. Nur diese Vollzugszeiten sind für die Fristberechnung maßgebend; wie lange der Haftbefehl besteht, spielt dagegen keine Rolle. Der Vollzug der Untersuchungshaft wird dadurch nicht unterbrochen, daß der Beschuldigte, ohne aus der Untersuchungshaft entlassen zu werden, sich außerhalb der Untersuchungshaftanstalt in geschlossenen Einrichtungen weiter unter richterlicher Überwachung aufhält, z. B. in einer öffentlichen Krankenanstalt 4 , in einem Entbindungsheim oder in einer Heil- oder Pflegeanstalt, in der letzten auch, wenn er dorthin, ohne daß die Untersuchungshaft unterbrochen worden ist, nach § 81 verbracht worden ist (OLG Braunschweig NdsRpfl. 1966 179). Wird der Haftbefehl auf einen Unterbringungsbefehl (§ 126a Abs. 1) umgestellt (9 zu § 126 a), dann endet das Verfahren der §§ 121, 122 (§ 126 a Abs. 2). Stellt sich aber heraus, daß der Beschuldigte die Tat weder im Zustande der Zurechnungsunfähigkeit noch in dem der verminderten Zurechnungsfahigkeit begangen hat, und wird alsdann der Unterbringungsbefehl wieder auf einen Haftbefehl umgestellt, dann ist die Unterbringungszeit in die Zeit des Vollzugs der Untersuchungshaft einzurechnen (OLG Köln NJW 1966 1087). Denn der Sache nach war dann die einstweilige Unterbringung Untersuchungshaft, die nur wegen Unsicherheit der Prognose in der Heil- oder Pflegeanstalt vollzogen worden ist. Die Frist beginnt, sobald der Beschuldigte aufgrund eines Haftbefehls ergriffen worden ist, oder sobald der Richter gegen den vorläufig Festgenommenen Haftbefehl erlassen hat (2a Abs. 2 zu § 117; OLG Braunschweig NJW 1966 117). In Einlieferungssachen beginnt die Frist, sobald der Ausgelieferte aufgrund des deutschen Haftbefehls den deutschen Behörden übergeben worden ist. Die im Ausland vollzogene Auslieferungshaft zählt nicht mit. Sie beruht auf ausländischem Recht; auf ihre Dauer haben die deutschen Behörden keinen ausschlaggebenden Einfluß (OLG Nürnberg GA 1966 90; OLG Hamm NJW 1966 314). 3. Tat. Die Beschränkung der Untersuchungshaft findet nur wegen „derselben Tat" statt. Ist der Beschuldigte wegen Betruges in Untersuchungshaft, ergeht nach drei Monaten neuer Haftbefehl wegen einer in der Untersuchungshaft begangenen schweren Gefangenenmeuterei, und wird die Untersuchungshaft nur aus dem zweiten Haftbefehl vollzogen, dann bleibt der Vollzug aus dem ersten Haftbefehl für die Berechnung der Frist außer Betracht. 4

Nr. 49 Abs. 1 und 4 RiStBV; Nr. 42 Abs. 1 VGO; Nr. 57 UVollzO.

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Neunter Abschnitt. Verhaftung und vorläufige Festnahme (Dünnebier)

§ 121 Anm. 4

Der gleiche Fall liegt vor, wenn der Beschuldigte mit dem Vollzug der Untersuchungshaft verschont wird, nach der Entlassung eine neue Straftat begeht und wegen dieser erneut in Untersuchungshaft genommen wird (KG JR 1967 231; O L G Oldenburg N J W 1967 2371; OLG Celle NJW 1969 1866). Das gleiche muß aber auch gelten, wenn während der Untersuchungshaft ein vor dem Betrug begangener Mord bekannt wird, deswegen die Untersuchungshaft angeordnet und nunmehr allein vollzogen wird. Denn die sechs Monate stehen zur Verfügung, Um die Ermittlungen durchzuführen und die Hauptverhandlung vorzubereiten. Für eine andere als dieselbe Tat muß daher mit dem Zeitpunkt, wo wegen dieser ein Haftbefehl ergehen kann (ein Aufsparen des zweiten Haftbefehls für einen späteren Zeitpunkt, um erst einmal die sechs Monate des ersten voll zu nutzen, ist allerdings unzulässig), eine neue Frist auch dann beginnen, wenn die Tat, f a l l s sie früher bekannt gewesen wäre, ( t h e o r e t i s c h ) in den ersten Haftbefehl als eine weitere Tat mit hätte aufgenommen werden können. Auch wenn die Verfahren später verbunden werden, sind die Haftzeiten nicht zusammenzuzählen 5 . Anders ist es bei derselben Tat. Die Ermittlungszeit ist zu dem Zwecke eingeräumt, in ihr die Tat — wenn mehrere Taten Gegenstand des Haftbefehls sind, die mehreren — aufzuklären. Daher kann es darauf, daß Teile der Tat, etwa einer fortgesetzten Handlung, erst im Laufe der Ermittlungen hervortreten, nicht ankommen ( E b S c h m i d t JZ 1968 2211). Werden Teile erst nach und nach bekannt, so ist das ein Umstand, der es ggf. rechtfertigt, die Untersuchungshaft über sechs Monate hinaus aufrechtzuerhalten; neue Taten, für die bei neuem Haftbefehl eine neue Frist begönne, sind solche Tatteile dagegen nicht. Auf den Inhalt des Haftbefehls kommt es nicht an, da der Haftbefehl auf einen Teil der Tat beschränkt werden kann (5 Abs. 3 zu § 114). D a der Haftbefehl erst recht auf eine von mehreren Taten beschränkt werden kann, und da es nicht in der Hand der Staatsanwaltschaft und Gerichte liegen kann, eine Tat für einen späteren Haftbefehl zu dem Zwecke aufzusparen, um damit eine neue Sechsmonatsfrist zu eröffnen, muß der Tatbegriff eine Erweiterung in dem Sinne erfahren, daß zur „Tat" alle Taten von dem Zeitpunkt an gehören, in dem sie als bekannte (tatsächlich) in den Haftbefehl hätten aufgenommen werden können 6 . Insofern weicht der Begriff der Tat i. S. des Absatzes 1 von dem des § 264 in doppelter Hinsicht ab: einmal kann er mehrere Taten umfassen, auch wenn nur eine von ihnen im Haftbefehl aufgeführt ist (OLG Celle NJW 1966 1574; O L G Braunschweig N J W 1967 363 7 ); zum anderen kann es auf den Verfolgungswillen der Staatsanwaltschaft 8 in bezug auf Tatteile, die ihr unbekannt waren, als die Untersuchungshaft angeordnet wurde, nicht ankommen. Im übrigen ist Tat i. S. des § 264 zu verstehen; sie umfaßt den geschichtlichen Vorgang, der dem Beschuldigten vorgeworfen wird, in seiner Gesamtheit, nämlich insoweit, als er nach der natürlichen Auffassung des Lebens eine Einheit bildet, gleichgültig ob sich bei der rechtlichen Würdigung dieses Geschehens eine oder mehrere selbständige Handlungen im Sinne des sachlichen Strafrechts ergeben (2 zu § 264). 4. Ruhen der Frist nach Vorlage (Absatz 3 Satz 1). Den Vollzug der Untersuchungshaft über sechs Monate hinaus darf nur das Oberlandesgericht aufrechterhalten (Absatz 2; § 1 2 2 Abs. 4 Satz 1; wegen des Bundesgerichtshofes s. u. 11). Da es vor Ablauf der Frist entschieden haben soll, wäre, wenn das Verfahren nicht bei ihm anhängig ist, dem Zufall, der die Entscheidung verzögern könnte, Raum gegeben. Demzufolge wird, obwohl die Fristversäumung nur eine geringfügige technische Bedeutung hat (II 3 Abs. 5 zu § 122), in Absatz 3 angeordnet, daß der Fristablauf von der Aktenvorlage an solange ruht, bis das Oberlandesgericht entschieden hat, wenn ihm die Akten nur rechtzeitig, bevor die Frist abgelaufen ist, vorgelegt werden. Dazu kommt es, wie das Gesetz eindeutig besagt, auf den 5 6 7

8

A. A. Kl IC; OLG Celle NJW 1969 246, die Tat mit Verfahren gleichsetzen. R e b m a n n 1753; E b S c h m i d t JZ 1968 2111; a. A. - Zeitpunkt, in dem der Haftbefehl hätte erweitert werden können, ist gleichgültig — F r a n z h e i m 1598. Im Ergebnis auch OLG Köln JMB1NRW 1967 259; a. A. - Beschränkung des § 121 Abs. 1 bezieht sich nur auf die Untersuchungshaft, deren Gegenstand durch den Haftbefehl begrenzt wird — OLG Karlsruhe NJW 1966 464; vgl. zu der Frage auch E . K a i s e r 435; H e n g s b e r g e r JZ 1966 213. Vgl. BGH LM § 264 Nr. 19. Die Entscheidung ist ohnehin sehr aufmerksam zu lesen: BGHSt. 16 202; 23 22.

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§121 Anm. 5, 6

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

Tag des Eingangs beim Oberlandesgericht an Denn die Akten sind dem Oberlandesgericht nur dann vorgelegt, wenn sie bei diesem eingegangen sind. Der Eingang bei der Staatsanwaltschaft, durch deren Vermittlung die Akten vorgelegt werden (§ 122 Abs. 1), oder gar die Anordnung, die Akten abzusenden 10 , genügt nicht 11 . Der Fristablauf ruht also nicht, wenn die Akten von einer unzuständigen Stelle (I 2 zu § 122) oder wenn sie von der zuständigen Stelle verspätet vorgelegt werden. Das hat zur Folge, daß das Oberlandesgericht, wenn es feststellt, daß die Voraussetzungen des § 121 Abs. 1 nicht vorliegen, es nicht dem zuständigen Richter überlassen kann, den Haftbefehl aufzuheben (II 3 Abs. 3 zu § 122), vielmehr diese Anordnung selbst treffen muß (II 3 Abs. 5 zu § 122)12; weitere Folgen sind mit der Versäumung der Vorlagefrist nicht verbunden. 5. Ruhen der Frist während der Hauptverhandlung (Absatz 3 Satz 2). Die Beschränkung des Haftvollzugs endet, wenn ein die Freiheit entziehendes Urteil ergangen ist (Absatz 1, erster Halbsatz). Das Urteil ergeht am Schluß der Hauptverhandlung (§ 260 Absatz 1 Satz 1). Die Hauptverhandlung verträgt schwer die Unterbrechung, die mit einer Aktenversendung ans Oberlandesgericht verbunden wäre. Da zudem, wenn die Hauptverhandlung läuft, das Urteil regelmäßig alsbald zu erwarten ist, wird verordnet, daß der Fristablauf nach begonnener Hauptverhandlung bis zur Verkündung des Urteils ruht. Kürzere Unterbrechungen der Hauptverhandlung (§ 228 Abs. 1 Satz 2) heben das Ruhen für die Zeit der Unterbrechung nicht auf. Absatz 3 Satz 2 gilt auch für Verfahren, bei denen das Oberlandesgericht erkennendes Gericht ist. Ergeht ein freiheitsentziehendes Urteil (5 Abs. 1 und 2 zu § 118), dann endet die Beschränkung (6). Wird der Angeklagte freigesprochen oder das Verfahren nicht bloß vorläufig eingestellt, ist der Haftbefehl aufzuheben (§ 120 Abs. 1 Satz 2). Wird nur auf Geldstrafe erkannt, wird der Haftbefehl regelmäßig aufzuheben sein (II 2 zu § 120). Ist das ausnahmsweise nicht der Fall, hat das erkennende Gericht die Akten unverzüglich dem Oberlandesgericht vorzulegen. Kommt es jedoch regelwidrig nicht zum Urteil, sondern wird die Hauptverhandlung ausgesetzt (§ 228 Abs. 1 Satz 1, § 145 Abs. 3, § 217 Abs. 2, § 246 Abs. 2, § 265 Abs. 3 und 4) mit der Folge, daß sie neu durchgeführt werden muß, so läuft die Frist von der Aussetzung an weiter. Werden die Akten jedoch unverzüglich nach der Aussetzung dem Oberlandesgericht vorgelegt, so ruht der Fristablauf, bis dieses Gericht entschieden hat (Absatz 3 Satz 3). 6. Ende der Beschränkung. Die §§ 121, 122 sind nicht mehr anzuwenden, sobald ein Urteil ergeht, in dem auf Freiheitsstrafe oder auf eine freiheitsentziehende Maßregel der Sicherung und Besserung erkannt wird. Die Zuständigkeit des Oberlandesgerichts, über die Fortdauer der Untersuchungshaft zu entscheiden, endet. Das ist auch dann der Fall, wenn das Oberlandesgericht früher über die Haftverlängerung hätte entscheiden müssen, das mit der Sache befaßte Gericht aber die Akten nicht vorgelegt hatte (KG JR 1967 266). Die Ansicht des Oberlandesgerichts Köln (NJW 1966 1829), das Oberlandesgericht habe im Verfahren der §§ 121, 122 auch die Rechtmäßigkeit vergangener Untersuchungshaft zu prüfen, ist zwar richtig (9 Abs. 1). Sie trägt aber die Folgerung nicht, daß eine unterbliebene Prüfung selbst dann nachgeholt werden müsse, wenn inzwischen ein freiheitsentziehendes Urteil ergangen ist. Die Antwort auf die Frage, worauf sich eine Prüfung, wenn sie stattfindet, erstreckt, ist ohne Bedeutung für die andere Frage, wann die Prüfung zulässig ist. Dazu ergibt sich klar aus § 122 („in den Fällen des § 121") in Vbdg. mit § 121 („solange kein Urteil ergangen ist"), daß das Prüfungsverfahren unzulässig ist, sobald ein freiheitsentziehendes Urteil ergangen ist; auf dessen Rechtskraft kommt es nicht an. Urteil i. S. des Absatzes 1 ist allerdings nur ein solches, welches die Tat (3) ganz aburteilt. Wird wegen eines unerledigt und anhängig gebliebenen Teils die Untersuchungshaft weiter vollzogen, ' M ü l l e r - S a x 2c; S c h o r n JR 1 9 6 6 4 5 4 . So OLG Frankfurt NJW 1965 1730. 11 E b S c h m i d t Nachtr. 7; Kl 5; M ü l l e r - S a x 2 c (2); H e n g s b e r g e r 213. 12 A. A. — das Verfahren vor dem Oberlandesgericht ist das gleiche wie bei rechtzeitiger Aktenvorlage — H e n g s b e r g e r 213. 10

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Neunter Abschnitt. Verhaftung und vorläufige Festnahme (Dünnebier)

§ 121 Anm. 7

dann findet wegen dieses Teils das Verfahren nach §§ 121,122 weiterhin statt (OLG Frankfurt NJW 1966 2433). Wegen der Begriffe Freiheitsstrafe und freiheitsentziehende Maßregeln s. 5 zu § 118. Wie im Falle des § 118 ist auch hier der Jugendarrest den Freiheitsstrafen und den freiheitsentziehenden Maßregeln gleichzuachten. Allerdings kann der Fall, daß ein Jugendlicher sechs Monate in Untersuchungshaft sitzt und dann vier Wochen Dauerarrest erhält, kaum je in Betracht kommen, wenn § 120 Abs. 1 Satz 1 beachtet wird. Tritt er ausnahmsweise ein, etwa weil eine Jugendstrafe zu erwarten war, wegen der besonderen Gestaltung des Falles in der Hauptverhandlung dann aber nur auf Jugendarrest erkannt worden ist, dann wird der Haftbefehl alsbald aufzuheben sein. Die Beschränkung der Untersuchungshaft endet, sobald ein freiheitsentziehendes Urteil ergangen ist. Der Text von Absatz 1 stimmt insoweit mit dem des § 118 Abs. 4 überein. Wie dort ist auch hier nach dem eindeutigen Wortlaut des Gesetzes nur die Auslegung zulässig, daß die einmal eingetretene Prozeßlage sich nicht wieder ändert, die Beschränkung des Haftvollzugs also nicht wieder eintritt, wenn das verurteilende Erkenntnis vom übergeordneten Gericht aufgehoben wird 13 . Hätte der Gesetzgeber gewollt, daß die Vorschriften der §§ 121, 122 wieder Anwendung finden, wenn ein freiheitsentziehendes Urteil wieder aufgehoben wird, dann hätte das, auch für Absatz 3, einer eingehenden Regelung bedurft. Sie kann bei dem klaren Wortlaut des Gesetzes nicht durch Analogien gewonnen werden (s. auch II 6 Abs. 2 zu § 122). Dagegen endet die Beschränkung nicht, wenn nur einige mehrerer Straftaten, die zur selben Tat gehören (3 Abs. 3), abgeurteilt werden und durch Anrechnung der Untersuchungshaft (§ 60 Abs. 1 StGB) verbüßt sind. Für den unerledigt gebliebenen Teil gelten §§ 121, 122 weiter. Der Grund für die gesetzgeberische Entscheidung, mit dem ersten freiheitsentziehenden Urteil die Begrenzung der Untersuchungshaft entfallen zu lassen, kann nur darin liegen, daß gleichsam vermutet wird, die Durchführung einer etwaigen neuen Verhandlung sei stets ein wichtiger Grund, der das neue Urteil noch nicht zulasse und die Fortdauer der Haft rechtfertige. Für die Regel wird das richtig sein; und der Angeklagte kann darauf verwiesen werden, daß der Haftbefehl aufzuheben ist, wenn die weitere Haft zu der Bedeutung der Sache und der zu erwartenden Strafe oder Maßregel der Sicherung und Besserung außer Verhältnis stehen würde (§ 120 Abs. 1). Doch sind Fälle nicht undenkbar, in denen eine Sache, nachdem sie zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen ist, verzögerlich behandelt wird. Mit dem Mittel der Haftbeschränkung wird diesen — hoffentlich seltenen — Fällen nicht entgegengewirkt, doch kann ggf. Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MenschRKonv. helfen (8 vor § 112, Fußn. 35). 7. Schwierigkeiten und Umfang der Ermittlungen. Die Dauer des Vollzugs der Untersuchungshaft kann nur unter bestimmten Voraussetzungen über sechs Monate hinaus verlängert werden. Vom Gesetz wird, weil selbstverständlich, nicht erwähnt, daß die allgemeinen Voraussetzungen der Untersuchungshaft (§§ 112, 113) fortbestehen müssen. Besondere Voraussetzungen der weiteren Haft sind, daß die besondere Schwierigkeit oder der besondere Umfang der Ermittlungen oder ein anderer wichtiger Grund das Urteil noch nicht zulassen u n d die Fortdauer der Haft rechtfertigen. Das zusätzliche Erfordernis der Rechtfertigung läßt nur die Deutung zu, daß es für die Schwierigkeiten und den Umfang der Ermittlungen lediglich darauf ankommt, ob sie vorhanden sind. Dagegen ist es zunächst gleichgültig, ob sich ihre Existenz aus der Natur der Strafsache ergibt oder ob sie durch Fehlgriffe entstanden sind. Doch werden diese Umstände das Urteil darüber beeinflussen, ob die weitere Haft gerechtfertigt ist (9). Bei den Schwierigkeiten und dem Umfang sind namentlich in Rechnung zu stellen die Zahl der Beschuldigten, der Zeugen und Sachverständigen; die Zeit, die Zeugen, wenn sie aus dem Ausland anreisen müssen, benötigen, um die Reise zu machen und sich auf sie vorzubereiten, und diejenige, die Sachverständigen eingeräumt werden muß, damit sie schriftliche Gutachten erstellen und mündliche vorbereiten können; die Erreichbarkeit von Mitbeschuldigten und Zeugen; sowie die Art ihrer Äußerung und die Notwendigkeit, Zweifel zu klären, die durch diese entstanden sind. 13

OLG Hamm NJW 1965 1818; OLG Oldenburg NJW 1965 1819; OLG Karlsruhe JZ 1965 587; O L G Celle NJW 1965 2121; S c h o r n JR 1966 453; Kl 1 A.

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§121 Anm. 8 , 9

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

Das Gesetz spricht nur von der Schwierigkeit der Ermittlungen; sonstige Schwierigkeiten des Verfahrens fallen nicht unter diesen Begriff. Daher sind die Verhandlungsmöglichkeiten des Gerichts und das Verhalten des Beschuldigten in bezug auf andere Punkte als die Ermittlungen (z. B. Beschwerden) bei den anderen wichtigen Gründen (8) zu untersuchen. Dagegen kann es durchaus die besondere Schwierigkeit der Ermittlungen begründen, wenn der Beschuldigte sich nicht einläßt. 8. Wichtiger Grund. Der Vollzug der Untersuchungshaft darf auch aufrechterhalten werden, wenn ein (anderer) wichtiger Grund das Urteil noch nicht zuläßt. Viele wichtige Gründe sind neben Schwierigkeit und Umfang der Ermittlungen nicht denkbar. Selbstverständlich fällt hierunter Stillstand der Rechtspflege, doch ist das ein mehr theoretisches Beispiel. Dagegen können als wichtige Gründe in Betracht kommen, daß Beamte während der Ermittlungen ausfallen oder daß die Strafkammer mangelhaft besetzt ist, und dieser Umstand rechtzeitiger Terminierung entgegensteht. Weitere wichtige Gründe sind Erkrankung von Zeugen und Sachverständigten, des Beschuldigten, seines Verteidigers, des Vorsitzenden und des Berichterstatters, in umfangreichen Sachen auch des allein eingearbeiteten Staatsanwalts. Ebenso kann es ein wichtiger Grund sein, wenn der Beschuldigte durch sein Verhalten (dauernde Beschwerden und Eingaben) das Urteil verzögert. Freilich wird in diesen Fällen die Rechtfertigung der weiteren Haft besonders sorgsam zu prüfen sein. 9. Rechtfertigung der Haftfortdauer. Wenn die besondere Schwierigkeit oder der besondere Umfang der Ermittlungen oder ein anderer wichtiger Grund das Urteil noch nicht zulassen, gibt das allein noch keine Berechtigung, den Vollzug der Untersuchungshaft über sechs Monate hinaus aufrechtzuerhalten. Das Gesetz fordert vielmehr als weitere Voraussetzung, daß die gleichen Umstände, die das Urteil noch nicht zulassen, auch die Fortdauer der Haft rechtfertigen. Da die Untersuchungshaft grundsätzlich nur solange vollzogen werden darf, als das unerläßlich ist, um das Urteil zu erreichen, ist die Haftverlängerung nur gerechtfertigt, wenn die Schwierigkeiten usw. unabwendbar sind und unabwendbar gewesen sind. Das ist nicht der Fall, wenn den Umständen, die das Urteil noch nicht zulassen, entgegengewirkt werden konnte, auch während der Zeit einer Haft in anderer Sache (OLG Stuttgart MDR 1970 346). Zu diesem Zweck muß ggf. der UrteilsstofT begrenzt werden. Zwar kann es in einzelnen Fällen unerläßlich sein, alle Vorwürfe gegen den Beschuldigten, in seltenen Fällen auch gegen mehrere Beschuldigte, gleichzeitig abzuurteilen, wenn nur auf diese Weise eine gerechte Rechtsfindung und Strafzumessung sichergestellt werden kann (OLG Hamm JZ 1965 545); eine umfassende Aufklärung nur zu erlangen ist; oder wenn ganze Komplexe zentral, sei es auch von mehreren Staatsanwälten, bearbeitet werden müssen (BVerfGE 21 222 = NJW 1967 871; BVerfGE 21 226 = NJW 1967 1019; OLG Hamburg NJW 1967 64 — mit teilweise bedenklichen Formulierungen —). Doch ist in solchen Fällen die Haftfortdauer nur gerechtfertigt, wenn ein weiterer Mitarbeiter rechtzeitig herangezogen worden ist (OLG Hamburg MDR 1967 1029). Abgesehen von solchen Großverfahren ist es in vielen Fällen zwar erwünscht, das gesamte Tatgeschehen geschlossen aufzuklären und abzuurteilen; es ist aber meist nicht unerläßlich. Dann ist, um die Untersuchungshaft auf die unbedingt notwendige Zeit zu beschränken, auf den Vorteil zu verzichten, denselben Beschuldigten wegen mehrerer Taten gleichzeitig zu belangen, oder gegen mehrere Beschuldigte gleichzeitig zu verhandeln. Vielmehr sind Anklage und Verhandlung auf die zuerst verhandlungsreife Tat gegen den inhaftierten Beschuldigten zu beschränken; die endgültige Strafe muß der Gesamtstrafenbildung in einer späteren Verhandlung (meist während der Strafhaft) vorbehalten bleiben. Die weitere Haft wird im allgemeinen nicht deshalb gerechtfertigt sein, weil der Terminkalender des Gerichts überfüllt ist. Die Ausnahmetatbestände des § 121 Abs. 1 sind eng auszulegen. Schwierigkeiten bei der Besetzung der Richterbank wegen Krankheit und Urlaub sind kein wichtiger Grund, der die Haftfortdauer rechtfertigt (OLG Bremen NJW 1965 2361). Das gleiche gilt für Überlastung von Staatsanwaltschaft und Gericht mit anderen Strafsachen und für unzureichende Besetzung des Gerichts (OLG Braunschweig NJW 1967 1290; OLG Oldenburg NJW 1968 808; OLG Hamm NJW 1968 1203). Andere Sachen sind hinter die Haftsachen zurückzustellen, selbst wenn dafür angesetzte Termine wieder aufgehoben werden müssen. Doch sind Ausnahmen anzuerkennen, wenn sich 778

Neunter Abschnitt. Verhaftung und vorläufige Festnahme (Dünnebier)

§ 121 Anm. 10

umfangreiche Haftsachen häufen. Personalmangel" ist nach einer im Rechtsausschuß vertretenen Auffassung kein Grund, der es rechtfertigt, die Untersuchungshaft zu verlängern 14 . Allgemein ist diese Ansicht indessen kaum richtig. Der entgegengesetzten Ansicht des Oberlandesgerichts Hamburg (NJW 1965 1777), daß eine Verzögerung, die sich „zwangsläufig" aus der Geschäftslage der Gerichte und der Strafverfolgungsbehörden ergibt, ein wichtiger Grund für die Haftfortdauer sein könne, ist eher zuzustimmen, wenn das Wort „zwangsläufig" richtig angewendet wird 15 . Jedenfalls darf nicht auf die Geschäftslage der zuständigen Kammer abgestellt werden, wenn Hilfe innerhalb des Gerichts (§ 69 Abs. 2, 2. Halbsatz GVG) möglich ist; auch müssen den Behörden ausreichend Kräfte zur Verfügung gestellt werden, damit der Gesetzesbefehl erfüllt werden kann (OLG Oldenburg NJW 1968 808), so daß Personalmangel nur dann als wichtiger Grund anerkannt werden darf, wenn ihm auf keine Weise, also auch nicht durch Neueinstellungen abgeholfen werden kann. Kann es nicht zum Urteil kommen, weil der Beschuldigte das Verfahren durch dauernde Eingaben und Beschwerden außiält, so ist das zwar ein wichtiger Grund, der dem Urteil entgegensteht, aber in der Regel keiner, der es rechtfertigt, die Haft fortdauern zu lassen. Denn in der Mehrzahl der Fälle wäre es möglich gewesen, der Verzögerung durch technische Mittel entgegenzuwirken. Dafür kommen Hilfsakten mit Durchschlägen der wichtigsten Schriftstücke in Betracht. Durch sie kann der Staatsanwalt sicherstellen, daß er die Ermittlungen auch dann fortsetzen kann, wenn er die Akten versenden muß (Nr. 14 RiStBV). Indessen werden in einzelnen Fällen Schwierigkeiten bestehen, mit Abschriften und Hilfsakten das Verfahren zügig zu fordern, weil es etwa erst weit nach Beginn der Untersuchung zur Haft gekommen und die Sache umfangreich und verwickelt ist. Wird das Urteil dann verzögert, weil die Sachakten wegen dauernder Beschwerden und Eingaben immer wieder versandt werden müssen, so ist das Verhalten des Beschuldigten ein wichtiger Grund, der die Fortdauer der Haft rechtfertigt. Schwierigkeiten und Umfang der Ermittlungen rechtfertigen die Fortdauer der Haft grundsätzlich nicht, wenn sie nicht in der Natur der Sache begründet, sondern durch grobe Fehler und Versäumnisse entstanden sind. Für die Beurteilung dieser Frage ist die Bearbeitungsweise normaler Kriminalbeamten, Staatsanwälte und Richter zugrunde zu legen; Meisterleistungen sind kein Maßstab. Danach ist die Fortdauer der Haft nicht gerechtfertigt, wenn die Anklage zunächst bei einem unzuständigen Gericht erhoben und nach weiterer Verzögerung zurückgenommen worden ist (OLG Bremen M D R 1968 862); wenn die Geschäftsstelle trotz Anordnung des Richters die Anklage nicht zugestellt hat und deshalb die Hauptverhandlung vertagt werden muß (OLG Hamburg MDR 1968 603) 16 ; oder wenn der Richter durch kommissarische Vernehmungen, die über Monate laufen, das Verfahren verzögert (OLG Koblenz MDR 1968 603). Die Fortdauer der Haft müßte auch bei verschuldeter Schwierigkeit ausnahmsweise gestattet sein, wenn im konkreten Falle das öffentliche Interesse auf Sicherung des Verfahrens gegenüber dem Interesse des Beschuldigten, entweder rasch abgeurteilt oder aber entlassen zu werden, wegen der besonderen Schwere der Straftat eindeutig das Übergewicht hat. Die Fassung der Regierungsvorlage hätte das sichergestellt. Die vom Bundestag beschlossene Gesetzesfassung läßt eine Haftverlängerung allein wegen der Schwere der verfolgten Straftat nicht zu. Eine Reform des Gesetzes ist notwendig. 10. Entscheidung nach Fristablauf (Absatz 2). Alsbald nach sechs Monaten Vollzug der Untersuchungshaft zuzüglich der Zeiten, in denen der Fristablauf nach Absatz 2 geruht hat, ist der Haftbefehl aufzuheben. Das kann nur unterbleiben, wenn er vom zuständigen Gericht oder vom Oberlandesgericht ausgesetzt worden ist, oder wenn das Oberlandesgericht, das dafür allein zuständig ist, die Fortdauer der Untersuchungshaft angeordnet hat. Absatz 2 kann — wenn nicht der Vollzug ausgesetzt wird — als absoluter Haftaufhebungsgrund mißverstanden werden 17 . Die Ansicht liegt nahe, weil es nicht recht über14 15

16

RAusschußProt. 11/7. Für den entschiedenen Fall (gegen den vor dem 13. 7. Angeklagten konnte nach der Geschäftslage der Strafkammer nicht vor Ende September verhandelt werden) erscheint das zweifelhaft. Mit abwegiger Anmerkung von K.-H. M e y e r JR 1968 471.

779

§ 121

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

Anm. 11 zeugend ist, daß die Anordnung der Sechsmonatsfrist nur eine Ordnungsvorschrift sein soll. Denn als Ordnungsvorschrift hat sie nicht viel Bedeutung: wird die Frist versäumt, hat das nur auf deren Ruhen Einfluß (4), und die Folge, wenn sie nicht ruht, ist gering (II 3 Abs. 5 zu § 122). Gleichwohl ist dem Wortlaut der Vorschrift zu entnehmen, daß die (negative) Entscheidung des Oberlandesgerichts Voraussetzung dafür ist, den Haftbefehl aufzuheben. Denn die Bestimmung lautet nicht (der Haftbefehl ist aufzuheben) „falls nicht das Oberlandesgericht die Fortdauer der Untersuchungshaft angeordnet hat", sondern „wenn nicht das Oberlandesgericht die Fortdauer . . . anordnet." Demzufolge darf der Haftbefehl nicht allein deshalb aufgehoben werden, weil versäumt worden ist, die Akten vor Ablauf der sechs Monate dem Oberlandesgericht vorzulegen; vielmehr ist die (negative) Entscheidung des Oberlandesgerichts Voraussetzung, die Untersuchungshaft aufzuheben 1 8 . Für dessen Entscheidung ist ohnehin keine Frist vorgeschrieben. Es kann daher die Fortdauer der Haft auch dann anordnen, wenn ihm die Akten erst nach Ablauf der Sechsmonatsfrist vorgelegt werden. Der Fall kann beispielsweise eintreten, wenn ein zuständiges Gericht — etwa weil es sich über die Berechnung der Frist (2) oder über den Begriff derselben Tat (3) geirrt hatte — die Vorlage versäumt, nach Ablauf von sechs Monaten den Haftbefehl aufgehoben, ihn aber später wegen veränderter Umstände neu erlassen hat. Dazu ist es befugt. Denn das zuständige Gericht kann, weil die (negative) Entscheidung des Oberlandesgerichts Voraussetzung der Haftaufhebung ist, einen Haftbefehl erlassen oder den ausgesetzten Vollzug wieder anordnen, auch wenn zur Zeit der Anordnung sechs Monate verstrichen sind (OLG H a m m N J W 1965 1730), wenn nur noch keine Entscheidung des Oberlandesgerichts ergangen ist. Das kommt etwa in Betracht, wenn das zuständige Gericht den Haftbefehl nach § 120 Abs. 1 Satz 1 oder Absatz 3 gerade bei Ablauf der sechs Monate aufgehoben hatte. Das zuständige Gericht hat dann alsbald das Verfahren der §§ 121, 122 durchzuführen. Dagegen darf das zuständige Gericht keinen Haftbefehl erlassen — weil es ihn alsbald nach § 121 Abs. 2 wieder aufheben müßte —, wenn der Beschuldigte in der gleichen Sache sechs Monate Untersuchungshaft verbüßt hat u n d das Oberlandesgericht schon die Fortdauer der Haft abgelehnt hatte. Es ist schwer abzusehen, wann das der Fall sein könnte. Die Begründung hat den Fall im Auge, daß ein Beschuldigter wegen derselben Tat neu verhaftet werden solle, nachdem das Oberlandesgericht den Haftbefehl nach § 121 aufgehoben hatte 19 . Dieser Fall ist indessen nicht denkbar: ist der Haftbefehl nach § 121 Abs. 1 aufgehoben, dann ist das endgültig (II 6 zu § 122 20). Dem Gericht ist aber nicht verwehrt, einen Vorführungsbefehl (§ 230 Abs. 2) zu erlassen und den Angeklagten während der Hauptverhandlung mit den Maßregeln des § 231 Abs. 1 an der Entfernung zu verhindern. Haftbefehl nach § 230 Abs. 2 ist dagegen unzulässig. 11. Besondere Zuständigkeiten (Absatz 4). In landgerichtlichen Staatsschutzsachen (§ 74 a GVG) ist das Oberlandesgericht, in dessen Bezirk die Landesregierung ihren Sitz hat (§ 120 GVG), zuständig. In Staatsschutzsachen, in denen das Oberlandesgericht erstinstanzlich entscheidet (§ 120 GVG), tritt der Bundesgerichtshof an die Stelle des Oberlandesgerichts. Damit verschiebt sich das vorlegende Gericht, sonst ergeben sich keine Besonderheiten. 17

So OLG Frankfurt NJW 1965 1731 - aufgegeben 1 Hs 165/68 - ; NJW 1966 2076; O L G Schleswig NJW 1965 2120; P e t e r s § 47 A V Abs. 7; M e h l i n g 142. 18 OLG Celle NJW 1965 2068; OLG Hamm NJW 1965 2312; OLG Stuttgart NJW 1967 66; O L G Braunschweig NJW 1966 790; OLG Köln JMB1NRW 1967 104; K G JR 1967 267; OLG Frankfurt NJW 1967 2170; D ü n n e b i e r 253; K l e i n k n e c h t JZ 1965 119; M D R 1965 787; Kl 4; M ü l l e r S a x 2 c 2; H e n g s b e r g e r 214; E b S c h m i d t JZ 1968 2216. " BTDrucks. IV 178, S. 25. 20 Das Oberlandesgericht Stuttgart (NJW 1967 66) hält sowohl — und insoweit ohne Begründung — einen neuen Haftbefehl für zulässig, nachdem das Oberlandesgericht einen früheren deshalb aufgehoben hatte, weil die Voraussetzungen des § 121 Abs. 1 nicht vorlagen, als auch dafür die Zuständigkeit des zuständigen Richters gegeben. Dieser würde damit eine Aufgabe an sich ziehen, die das Gesetz allein (I 4 Abs. 4 zu § 122) dem Oberlandesgericht zuweist. D a s ist mit Sinn und System der Vorschriften unvereinbar.

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Neunter Abschnitt. Verhaftung und vorläufige Festnahme (Dünnebier)

§ 122 Anm. I 1

§ 122 (1)In den Fällen des § 121 legt das zuständige Gericht die Akten durch Vermittlung der Staatsanwaltschaft dem Oberlandesgericht zur Entscheidung vor, wenn er die Fortdauer der Untersuchungshaft für erforderlich hält oder die Staatsanwaltschaft es beantragt. (2) Vor der Entscheidung sind der Beschuldigte und der Verteidiger zu hören. Das Oberlandesgericht kann über die Fortdauer der Untersuchungshaft nach mündlicher Verhandlung entscheiden; geschieht dies, so gilt § 118a entsprechend. (3) Ordnet das Oberlandesgericht die Fortdauer der Untersuchungshaft an, so gilt § 114 Abs. 2 Nr. 4 entsprechend. Für die weitere Haftprüfung (§117 Abs. 1) ist das Oberlandesgericht zuständig, bis ein Urteil ergeht, das auf Freiheitsstrafe oder eine freiheitsentziehende Maßregel der Sicherung und Besserung erkennt. Es kann die Haftpriifung dem Gericht, das nach den allgemeinen Vorschriften dafür zuständig ist, für die Zeit von jeweils höchstens drei Monaten übertragen. In den Fällen des § 118 Abs. 1 entscheidet das Oberlandesgericht über einen Antrag auf mündliche Verhandlung nach seinem Ermessen. (4) Die Prüfung der Voraussetzungen nach § 121 Abs. 1 ist auch im weiteren Verfahren dem Oberlandesgericht vorbehalten. Die Prüfung muß jeweils spätestens nach drei Monaten wiederholt werden. (5) Das Oberlandesgericht kann den Vollzug des Haftbefehls nach § 116 aussetzen. (6) Sind in derselben Sache mehrere Beschuldigte in Untersuchungshaft, so kann das Oberlandesgericht über die Fortdauer der Untersuchungshaft auch solcher Beschuldigter entscheiden, für die es nach § 121 und den vorstehenden Vorschriften noch nicht zuständig wäre. (7) Ist der Bundesgerichtshof zur Entscheidung zuständig, so tritt dieser an die Stelle des Oberlandesgerichts. Entstehungsgeschichte: Eingefugt durch Art. durch Art. 2 Nr. 2 des Gesetzes zur allgemeinen Staatsschutz-Strafsachen vom 8. 9. 1969 (BGBl. I (Absatz 1, 2. Halbsatz, 2. Wort) (die Fortdauer warten.

1 StPÄG und zur Anpassung geändert Einführung eines zweiten Rechtszugs in 1582). Eine Berichtigung des Wortes „er" . . für erforderlich hält) in „es" ist zu er-

Schrifttum: P u s i n e l l i , Die weitere Prüfung der Fortdauer der Untersuchungshaft nach § 121 Abs. 1 StPO, NJW 1965 96. Übersicht I. Vorlage (Absatz 1) 1. Haft Vollzug 2. Zuständiges Gericht 3. Revisionssachen 4. Vorlegungsverfahren 5. Antrag der Staatsanwaltschaft 6. Staatsanwaltschaft II. Verfahren des Oberlandesgerichts 1. Rechtliches Gehör (Absatz 2 Satz 1) 2. Mündliche Verhandlung (Absatz 2 Satz 2) 3. Entscheidung des Oberlandesgerichts 4. Begründung (Absatz 3 Satz 1)

5. Aussetzung des Vollzugs (Absatz 5) 6. Wirkung einer die Fortdauer der Untersuchungshaft verneinenden Entscheidung 7. Mitbeschuldigte (Absatz 6) 8. Bundesgerichtshof (Absatz 7) III. Weiteres Verfahren 1. Allgemeine Haftprüfung (Absatz 3 Satz 2 bis 4) 2. Verfahren des zuständigen Gerichts 3. Weitere Prüfung der besonderen Voraussetzungen (Absatz 4)

I. Vorlage (Absatz 1). 1. HaftVollzug. Der zuständige Richter legt die Akten „in den Fällen des § 121" vor. Dort ist vom Vollzug der Untersuchungshaft die Rede. Voraussetzung des Verfahrens des § 122 ist daher, daß bei der Vorlage, bei der Prüfung (OLG Hamm NJW 1965 1730; JMB1NRW 1969 48) und bei der Entscheidung des Oberlandesgerichts ( H e n g s b e r g e r JZ 1966 214) Untersuchungshaft vollzogen wird. Das Verfahren findet daher nicht statt, 781

§122 Anm. I 2, 3

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

wenn der Vollzug des Haftbefehls nach § 116 ausgesetzt oder wenn nach § 72 Abs. 1 J G G von der Vollstreckung des Haftbefehls abgesehen wird. Keine Ausnahme von der Vorlagepflicht ist gegeben, wenn das zuständige Gericht keinen wichtigen Grund für die Fortdauer der Untersuchungshaft gegeben hält (4 Abs. 4). 2. Zuständiges Gericht. Werden die Akten dem Oberlandesgericht vorgelegt, bevor sechs Monate Untersuchungshaft vollzogen worden sind (§121 Abs. 2), dann bewirkt diese Vorlage, daß die Sechsmonatsfrist ruht (§121 Abs. 3). Vorlage i. S. des § 121 Abs. 3 ist die in Absatz 1 angeordnete Vorlage durch das zuständige Gericht. Legt die Staatsanwaltschaft oder ein unzuständiger Richter, der etwa zufolge eines Ersuchens vorübergehend mit der Sache befaßt ist, die Akten vor, dann tritt diese Folge nicht ein. Von der Frage des Ruhens der Frist abgesehen ist es jedoch gleichgültig, wie die Sache ans Oberlandesgericht gelangt ist, wenn dieses nur nach der Prozeßlage zuständig ist, über die Haftfrage zu entscheiden; die Vorlage durch das zuständige Gericht ist keine Entscheidungsvoraussetzung. Das Oberlandesgericht kann also auch entscheiden, wenn es durch weitere Beschwerde mit der Sache befaßt ist. Es kann die Akten aber nicht von sich aus anfordern und von Amts wegen die Fortdauer der Untersuchungshaft anordnen. Wegen der Entscheidung über die Haft eines Mitbeschuldigten vgl. Absatz 6 (II 7). Welches Gericht zuständig ist, ergibt sich aus § 126: Der Amtsrichter im vorbereitenden Verfahren, nach Anklage das mit der Sache befaßte Gericht, aber nicht das Revisionsgericht, und in der Voruntersuchung der Untersuchungsrichter. Ist die Sache nach § 126 Abs. 1 Satz 3 einem anderen Amtsrichter übertragen worden, so legt dieser die Akten vor; der Richter, der den Haftbefehl erlassen hat, ist nach der Abgabe mit der Sache nicht mehr befaßt. Aus der (örtlichen) Zuständigkeit des vorlegenden Gerichts folgt diejenige des zur Entscheidung berufenen Oberlandesgerichts: ausschließlich zuständig ist das dem (richtigerweise) vorlegenden Gericht im Instanzenzuge übergeordnete Oberlandesgericht; die örtliche Zuständigkeit des Amtsrichters, der zwar den Haftbefehl erlassen, dann aber die Sache nach § 126 Abs. 1 Satz 3 an einen anderen Amtsrichter abgegeben hat, ist für die Zuständigkeit des Oberlandesgerichts ohne Bedeutung (OLG Köln JMB1NRW 1966 288); sie ist mit der Abgabe der Zuständigkeit erloschen (2 Abs. 7 zu § 126). Als zuständig muß über die allgemeine Regel des § 126 hinaus auch die Beschwerdekammer angesehen werden. Die Vorlage durch das zuständige Gericht — und nicht etwa im Ermittlungsverfahren durch den Staatsanwalt — ist angeordnet, damit der Richter vorher prüfen kann, ob er den Haftbefehl aufhebt oder den Vollzug des Haftbefehls nach § 116 aussetzt und damit das Vorlageverfahren überflüssig macht. Ist Beschwerde eingelegt, hat das Beschwerdegericht die Haftfrage umfassend zu prüfen und nimmt damit in diesem Punkte die Aufgabe des nach § 126 zuständigen Richters wahr. Daher ist es berechtigt und, wenn sonst die Vorlage zu spät käme, verpflichtet, die Akten dem Oberlandesgericht nach Absatz 1 vorzulegen. 3. Revisionssachen. Für das Revisionsgericht ist die Zuständigkeit in Haftsachen besonders geregelt (§ 126 Abs. 2 Satz 2, Abs. 3), doch kann der Fall des § 121, wenn die Akten in die Revision gehen, in der Regel nicht eintreten. Meistens ist dann ein Urteil ergangen, das auf Freiheitsstrafe oder auf eine freiheitsentziehende Maßregel der Sicherung und Besserung lautet. Dann findet das Verfahren des § 122 nach § 121 Abs. 1 keine Anwendung. Ist der Angeklagte freigesprochen oder ist das Verfahren nicht bloß vorläufig eingestellt worden, dann ist der Haftbefehl aufgehoben worden (§ 120 Abs. 1 Satz 2). Ist nur auf Geldstrafe oder auf eine nicht freiheitsentziehende Maßregel (Verbot der Berufsausübung, § 42 1 StGB; Entziehung der Fahrerlaubnis, § 42 m StGB) oder auf Einziehung, Verfall, Unbrauchbarmachung usw. (III 2 zu § 94) erkannt worden, wird in aller Regel der Haftbefehl aufgehoben worden sein (II 2 zu § 120). Ist das ausnahmsweise nicht der Fall, hat der letzte Tatrichter eine Frist zu notieren, die Akten rechtzeitig zurückzufordern, die Haftfrage zu prüfen (4 Abs. 3) und die Akten dem Oberlandesgericht vorzulegen. V o r dem Urteil kann das Revisionsgericht, wenn ihm die Sache nicht mit weiterer Haftbeschwerde (§ 310) zugegangen ist, nicht ohne Vorlage des zuständigen Gerichts über die Haftfrage entscheiden (§ 126 Abs. 2 Satz 2), gleichzeitig mit Erlaß des Urteils nur in der Weise, daß es den Haftbefehl aufhebt (§ 126 Abs. 3). Es ist daher, obwohl mit der Sache 782

Neunter Abschnitt. Verhaftung und vorläufige Festnahme (Dünnebier)

§ 122 Anm. I 4

befaßt (vgl. § 126 Abs. 2 Satz 1), nicht zur Entscheidung über die Haftfrage zuständig. Demgemäß müssen ihm die Akten zur Entscheidung vorgelegt werden. Die Vorlage führt auch allein die Folge des § 121 Abs. 3 herbei. Sie braucht aber nicht in der Weise bewirkt zu werden, daß der zuständige Richter die Akten vom Oberlandesgericht zurückfordert und sie ihm nach Prüfung der Haftfrage (4 Abs. 3) wieder vorlegt. Sie kann vielmehr in einem Schreiben des zuständigen Richters bestehen, daß die mit Revision von der Staatsanwaltschaft übersandten Akten (§ 347 Abs. 2) nunmehr dem Oberlandesgericht nach § 122 Abs. 1 vorgelegt werden. Das Schreiben hat eine fristhemmende Wirkung (§121 Abs. 3) jedoch nur, wenn sich bei seinem Eingang die Akten beim Revisionsgericht befinden. Das wird das Gericht fernmündlich feststellen, ehe es das die Vorlage bewirkende Schreiben absendet. Steht fest, daß während der Zeit, in der sich die Akten auf Revision beim Oberlandesgericht befinden, die Frist des § 121 Abs. 1 ablaufen wird, und kann das nach § 126 zuständige Gericht mit Sicherheit voraussehen, daß für diesen Zeitpunkt die Fortdauer der Untersuchungshaft erforderlich ist, kann es die Akten dem Oberlandesgericht schon vorlegen, wenn es diese nach Nr. 161 Abs. 4 RiStBV der Staatsanwaltschaft zuleitet. 4. Vorlegungsverfahren. So rechtzeitig vor Ablauf von sechs Monaten Vollzugs der Untersuchungshaft, daß die Akten spätestens am letzten Tage der Frist beim Oberlandesgericht eingegangen sind (§ 121 Abs. 3 Satz 1), hat sie das zuständige Gericht dem Oberlandesgericht vorzulegen. Akten sind die Originalakten der Staatsanwaltschaft oder des Gerichts mit allen Eingängen — auch unbearbeiteten —, die im Augenblick der Aktenversendung vorliegen. Die Handakten der Staatsanwaltschaft sind, weil sie nur interne Vorgänge dieser Behörde enthalten, nicht vorzulegen. Es ist unzulässig, Teile der Ermittlungsvorgänge zu den Handakten zu nehmen. Geschieht das doch, bleiben sie Teile der Sachakten, so daß sich die Vorlagepflicht auch auf sie erstreckt. Statt der Originalakten können, wenn das Gericht zustimmt (was ein für allemal erklärt werden kann), Hilfsakten vorgelegt werden, die aber auch bezüglich noch nicht bearbeiteter Eingänge mit Sicherheit vollständig sein müssen. Unvollständige Hilfsakten reichen nicht aus (OLG Frankfurt NJW 1926 2076). Wenn keine Untersuchungshaft vollzogen wird, findet das Vorlegungsverfahren nicht statt (1). Vor der Vorlage ist die Staatsanwaltschaft beim Landgericht zu hören. Diese hat sich, wenn die öffentliche Klage noch nicht erhoben ist, zu entscheiden, ob sie beantragen will, den Haftbefehl aufzuheben (§ 120 Abs. 3 Satz 1). Stellt sie diesen Antrag nicht, hat sie zu prüfen, ob sie die Vorlegung beantragen soll (5). Das Gericht hat die Akten dann durch Vermittlung der Staatsanwaltschaft dem Oberlandesgericht vorzulegen. Diese kann noch die Aufhebung des Haftbefehls nach § 120 Abs. 3 Satz 1 herbeiführen. Sonst gibt sie ihre Erklärung nach § 33 Abs. 2 ab. Könnte, wenn der Weg über die Staatsanwaltschaft befolgt wird, die Frist von sechs Monaten nicht innegehalten werden, sind die Akten dem Oberlandesgericht unmittelbar vorzulegen; dieses hört seine Staatsanwaltschaft dann nach § 33 Abs. 2. Bevor das Gericht die Akten vorlegt, hat es zu prüfen, ob es die Fortdauer der Untersuchungshaft (nach den allgemeinen Vorschriften; die Prüfung der Voraussetzungen des § 121 Abs. 1 ist dem Oberlandesgericht vorbehalten) für erforderlich hält, oder ob der Haftbefehl nach § 120 aufzuheben ist. Verneint es das letzte, entscheidet es, ob der Vollzug des Haftbefehls nach § 116 Abs. 1 bis 3 ausgesetzt werden kann. Die Befugnis dazu ergibt sich aus folgenden Erwägungen: Liegen die Voraussetzungen des § 121 Abs. 1 vor, ist nach § 121 Abs. 2 der Haftbefehl aufzuheben, wenn nicht entweder der Vollzug des Haftbefehls nach § 116 ausgesetzt wird, oder aber das Oberlandesgericht die Fortdauer der Untersuchungshaft anordnet. Aus dieser Gegenüberstellung ergibt sich, daß schon das zuständige Gericht den Vollzug des Haftbefehls aussetzen kann, und daß diese Aussetzung das Vorlegungsverfahren überflüssig macht Verneint das zuständige Gericht die Voraussetzungen sowohl des § 120 Abs. 1 als auch des § 116 und bringt es damit zum Ausdruck, daß es für erforderlich hält, die Untersuchungshaft weiter zu vollziehen, hat es die Akten dem Oberlandesgericht vorzulegen. Es darf davon nicht absehen, weil es voraussieht, daß die Voraussetzungen des § 121 Abs. 1 1

In diesem Sinne heißt es in der Begründung: „In Absatz 1 wird dem zuständigen Richter . . f a l l s er den Vollzug des Haftbefehls nicht nach § 116 aussetzen will, die Einholung der Entscheidung des Oberlandesgericht zur Pflicht g e m a c h t . . . " (BT-Drucks. IV 178, S. 26 ).

783

§122 Anm. I 5 , 6

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

nicht gegeben sein werden, die Fortdauer der Untersuchungshaft also zwar erforderlich ist, aber nicht zulässig sein werde 2 . Die abweichenden Ansichten können vielleicht aus praktischen Gründen annehmbar erscheinen. Wenn das zuständige Gericht und der Staatsanwalt darin übereinstimmen, daß die Untersuchungshaft nicht mehr vollzogen werden darf, könnte es für entbehrlich angesehen werden, die Entscheidung des Oberlandesgerichts herbeizuführen. Diese Erwägungen brauchen aber nicht mit Gegengründen abgewogen zu werden. Denn in dem Satz in § 122 Abs. 4: „die Prüfung der Voraussetzungen nach § 121 Abs. 1 ist a u c h im weiteren Verfahren dem Oberlandesgericht vorbehalten", ist die gesetzgeberische Entscheidung enthalten, daß jene Prüfung auch im e r s t e n Verfahren allein dem Oberlandesgericht zukommt. Diese Regelung, die für sich geltend machen kann, daß allein das Oberlandesgericht die umfassende Prüfungspraxis hat, darf nicht durch eine Auslegung beiseite geschoben werden, die bloß auf Praktikabilität bedacht ist. Für die Staatsanwaltschaft ist die Gesetzeslage einfacher. Sie kann, wenn die öffentliche Klage noch nicht erhoben ist, einen Antrag nach § 120 Abs. 3 auch deshalb stellen, weil sie das Verfahren nach § 122 für aussichtslos hält. Denn ihr bloßer Antrag nötigt, den Haftbefehl aufzuheben; die Begründung ist entbehrlich und wenn gleichwohl eine gegeben wird, für das Gericht bedeutungslos. Die Staatsanwaltschaft kann den Antrag nicht mehr zurücknehmen, wenn der zuständige Richter die Akten vorgelegt hat 3 . Denn durch den Antrag ist eine Prozeßlage gestaltet worden, die nicht mehr rückgängig gemacht werden kann. Teilt der Generalstaatsanwalt die Auffassung der Staatsanwaltschaft beim Landgericht nicht, dann ist er auf Anträge beim Oberlandesgericht angewiesen; im Falle des § 120 Abs. 3 ist sein Antrag bindend (III 3 zu § 120). 5. Antrag der Staatsanwaltschaft. Nach dem letzten Hälbsatz des Absatzes 1 muß das Gericht die Akten dem Oberlandesgericht vorlegen, wenn die Staatsanwaltschaft es beantragt. Damit werden das Recht und die Pflicht des Gerichts ausgeschaltet, den Haftbefehl nach § 120 Abs. 1 Satz 1 aufzuheben, seinen Vollzug nach § 116 auszusetzen oder bei einem Jugendlichen von der Vollstreckung des Haftbefehls abzusehen (§ 72 Abs. 1 JGG), wenn die Voraussetzungen des § 121 Abs. 1 vorliegen und die Staatsanwaltschaft die Vorlage zum Oberlandesgericht beantragt. Dadurch wird der Weg zum Oberlandesgericht abgekürzt, den die Staatsanwaltschaft, wenn das zuständige Gericht nach § 120 Abs. 1 Satz 1 oder nach § 116 Abs. 1 bis 3 entschiede, durch Beschwerde und weitere Beschwerde ohnehin erzwingen könnte. 6. Staatsanwaltschaft. Die Vorlage bewirkt der Richter, auch wenn er im Ermittlungsverfahren mit der Sache nicht befaßt ist. Sobald ein Gericht einen Haftbefehl erlassen hat, wird es daher eine Frist zu notieren und nach deren Ablauf festzustellen haben, ob der Haftbefehl vollzogen wird und wo sich die Akten befinden. Wenn die Zuständigkeit nicht gewechselt hat, wird es, falls die Voraussetzungen des § 121 Abs. 1 vorliegen, die Akten beizuziehen und das Verfahren des Absatzes 1 durchzuführen haben. Die Frist wird nach den örtlichen Verhältnissen verschieden lang ausfallen. Sie sollte nicht kürzer als fünf Monate sein, wird aber, auch wenn sich das Oberlandesgericht am Sitze des zuständigen Gerichts befindet, so zu bemessen sein, daß zehn Tage für das Verfahren zur Verfügung stehen. Die Staatsanwaltschaft trifft die gleiche Verantwortung wie das Gericht. Ihr ist zudem in Absatz 1 ein besonderes Antragsrecht eingeräumt worden, das die Entscheidungsmöglichkeit des zuständigen Gerichts einschränkt (5). Außerdem ist sie verpflichtet, dauernd darauf zu achten, ob die Untersuchungshaft noch nötig ist (Nr. 46 Abs. 1 RiStBV). Daher hat auch die Staatsanwaltschaft Fristen zu notieren und dafür besorgt zu sein, daß das zuständige Gericht rechtzeitig im Besitz der Akten ist, um sie dem Oberlandesgericht vorzulegen 2

3

A. A. — keine Vorlage, wenn nach übereinstimmender Auffassung des zuständigen Richters und der Staatsanwaltschaft kein wichtiger Grund für die Fortdauer der Untersuchungshaft gegeben ist — P u s i n e l l i 96; so wohl auch E b S c h m i d t J Z 1968 2218; — Zuständigkeit des Oberlandesgerichts hängt davon ab, daß entweder der zuständige Richter oder die Staatsanwaltschaft einen wichtigen Grund i. S. des § 121 für gegeben hält - OLG Stuttgart NJW 1967 66; M ü l l e r - S a x 1; - Haftrichter muß Haftbefehl aufheben oder Vollzug aussetzen, wenn er die Voraussetzungen des § 121 Abs. 1 nicht für gegeben erachtet — OLG Braunschweig NJW 1966 790. A. A. K l 1 A; Generalstaatsanwalt kann Antrag der Staatsanwaltschaft zurücknehmen oder diese zur Rücknahme veranlassen.

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Neunter Abschnitt. Verhaftung und vorläufige Festnahme (Dünnebier)

§ 122 Anm. II 1—3

(Nr. 47 Abs. 1 RiStBV). Hält sie den Haftvollzug weiter für erforderlich, wird sie den Antrag nach Absatz 1 stellen, sonst aber beantragen, den Haftbefehl aufzuheben, seinen Vollzug auszusetzen oder bei einem Jugendlichen von der Vollstreckung abzusehen. Ihre Verpflichtung endet nicht, wenn sie die öffentliche Klage erhebt; sie dauert fort, bis der Haftbefehl erledigt ist. II. Verfahren des Oberlandesgerichts. 1. Rechtliches Gehör (Absatz 2 Satz 1). Nach § 33 Abs. 3 müßte der Beschuldigte nur gehört werden, bevor zu seinem Nachteil Tatsachen oder Beweisergebnisse verwertet werden, zu denen er noch nicht gehört worden ist. Diese Voraussetzung wird zwar regelmäßig zutreffen, weil Schwierigkeit und Umfang der Ermittlungen wie auch ein sonstiger wichtiger Grund auf Tatsachen beruhen, die mit dem Beschuldigten nicht erörtert worden sind; im Einzelfall könnte es aber zweifelhaft sein. Deshalb wird das Gehör des Beschuldigten, und zusätzlich seines Verteidigers, ausdrücklich angeordnet. Zufolge dieser Sonderbestimmung ist das Gehör auch umfassender ausgestaltet als das nach § 33 Abs. 3. Es hat sich auf alle nach § 121 Abs. 1 für die Verlängerung erforderlichen Voraussetzungen zu erstrecken; der Beschuldigte und sein Verteidiger müssen daher Gelegenheit erhalten, sich auch zu den wertenden Erwägungen („besonders", „wichtig", „rechtfertigen") zu äußern. Das Gehör braucht das Oberlandesgericht nicht selbst durchzuführen, wenn nur klargestellt wird, daß dem Beschuldigten Gelegenheit gegeben wird, sich vor seiner Entscheidung zu äußern (III 4 zu § 33). Daher ist es zulässig, daß der die Akten vorlegende Richter das Gehör veranlaßt. Das hat den Vorteil, daß der örtliche Anwalt die Akten einsehen kann, ehe sie versandt werden, und daß seine Äußerung vorliegen wird, wenn das Oberlandesgericht zur Entscheidung kommt. Auf der anderen Seite wird der vorlegende Richter nicht immer die gleichen Gesichtspunkte ins Auge fassen, die das Oberlandesgericht als Entscheidungsgrundlage erwägt. Von diesem Gesichtspunkt aus ist es am sichersten, wenn es das Gehör selbst veranlaßt. Das ist am einfachsten in der Weise durchzuführen, daß es dem Verteidiger die Stellungnahme des Generalstaatsanwalts mitteilt, wobei es, falls erforderlich, auf zusätzliche Punkte hinweisen kann. Erübrigt sich das in der Regel, kann auch der Generalstaatsanwalt seine Stellungnahme dem Verteidiger mitteilen und ihm eröffnen, daß das Oberlandesgericht nach einer bestimmten Frist entscheiden werde (vgl. § 349 Abs. 3). Welches Verfahren am einfachsten und raschesten zum Ziele führt, wird nach den örtlichen Verhältnissen zu entscheiden sein. Der Verteidiger ist nur zu hören, wenn der Beschuldigte einen hat. Das wird in der Regel der Fall sein (9 zu § 117), doch ist es in vereinzelten Fällen möglich, daß der Beschuldigte auch nach fünf oder mehr Monaten ohne Verteidiger ist (10 zu § 117). Aus der Anordnung, den Verteidiger zu hören, ist nicht zu entnehmen, daß dem Beschuldigten einer beigeordnet werden müßte. Doch sollte die Staatsanwaltschaft regelmäßig einen Antrag nach § 117 Abs. 4 stellen. 2. Mündliche Verhandlung (Absatz 2 Satz 2). Das Gehör des Beschuldigten und des Verteidigers wird sich manchmal am zweckmäßigsten und schnellsten in einer mündlichen Verhandlung durchfuhren lassen. Aus diesem Grunde wird dem Oberlandesgericht freigestellt, wie im Beschwerdeverfahren (§118 Abs. 2), nach mündlicher Verhandlung zu entscheiden. Der Beschuldigte, sein Verteidiger, wie auch die Staatsanwaltschaft, können das beantragen, doch gibt allein das Ermessen des Gerichts den Ausschlag, ob mündlich verhandelt werden soll. Das Oberlandesgericht wird das anordnen, wenn seine Entscheidung zweifelhaft sein könnte, und wenn erwartet werden kann, daß sich die Fragen, ob die besondere Schwierigkeit oder der besondere Umfang der Ermittlungen oder ein anderer wichtiger Grund das Urteil noch nicht zulassen und die Fortdauer der Haft rechtfertigen, schneller oder sicherer als im schriftlichen Verfahren beurteilen lassen, wenn das Material in persönlicher Gegenwart des Beschuldigten, seines Verteidigers und des Staatsanwalts mündlich erörtert wird. Für die mündliche Verhandlung gilt § 118 a entsprechend. 3. Entscheidung des Oberlandesgerichts. Das Oberlandesgericht hat zunächst nach § 120 Abs. 1 Satz 1 zu prüfen, ob etwa der Haftbefehl aufzuheben ist. Denn es kann die Fort785

§ 122 Anm. II 3

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

dauer der Untersuchungshaft nur anordnen, wenn deren allgemeine Voraussetzungen bestehen und sich nicht ergibt, daß die weitere Untersuchungshaft zu der Bedeutung der Sache und der zu erwartenden Strafe oder Maßregel der Sicherung und Besserung außer Verhältnis stehen würde (OLG Celle NJW 1969 246) 4 . Bejaht es im Gegensatz zu den Vorinstanzen, daß der Fall des § 120 Abs. 1 Satz 1 vorliegt, hebt es den Haftbefehl auf. Das kann es auch schon vor Gehör des Beschuldigten und seines Verteidigers tun, allerdings erst, nachdem die Staatsanwaltschaft sich geäußert hat. Dann findet das besondere Verfahren des Absatzes 2 nicht statt. Das Oberlandesgericht kann aber auch erst im Laufe des Prüfungsverfahrens zu der Erkenntnis gelangen, daß es den Haftbefehl aufheben muß. Verfährt das Oberlandesgericht nicht nach § 120 Abs. 1 Satz 1, hat es die Prüfung nach § 116 anzustellen (5). Lehnt es ab, den Vollzug des Haftbefehls auszusetzen, prüft es die Voraussetzungen des § 121 Abs. 1. Stellt es fest, daß ein Urteil ergangen ist, erklärt es das Prüfungsverfahren für unzulässig. Allerdings werden ihm die Akten bei einem solchen Verfahrensstand regelmäßig nicht vorgelegt werden. Das Gericht hat dann weiter zu prüfen, ob die weiteren Voraussetzungen des § 121 Abs. 1 (7 bis 9 zu § 121) erfüllt sind. Ist das der Fall, ordnet es die Fortdauer der Untersuchungshaft an. Ist es nicht der Fall, „ist der Haftbefehl nach Ablauf der sechs Monate aufzuheben" ( § 1 2 1 Abs. 2, erster Halbsatz). Bei der Berechnung der sechs Monate hat die Bearbeitungszeit beim Oberlandesgericht außer Ansatz zu bleiben (§ 121 Abs. 3 Satz 1). Von wem der Haftbefehl aufzuheben ist, wird weder in § 121 noch in § 122 gesagt. D a in § 121 Abs. 2 die Anordnung, die Untersuchungshaft habe fortzudauern, dem Oberlandesgericht zugewiesen, die Zuständigkeit, den Haftbefehl aufzuheben, aber offen gelassen wird, muß gefolgert werden, daß das Oberlandesgericht dazu jedenfalls nicht verpflichtet ist. Hätte der Gesetzgeber das gewollt, wäre es ein Leichtes gewesen, die Vorschrift zu f a s s e n : . . hebt das Oberlandesgericht.. auf, wenn es n i c h t . . aussetzt oder die F o r t d a u e r . . anordnet. Demzufolge kann das Oberlandesgericht, wenn es die Fortdauer der Untersuchungshaft ablehnt, die Akten dem zuständigen Gericht zurückgeben, damit dieses nach Ablauf der Frist (sechs Monate zuzüglich Bearbeitungszeit) den Haftbefehl aufhebt. Das zuständige Gericht ist dazu am Tage des Fristablaufs verpflichtet, es sei denn, daß inzwischen vor Fristablauf die Hauptverhandlung begonnen hat. D a das Gesetz die Aufhebung des Haftbefehls aber auch nicht ausdrücklich dem zuständigen Gericht vorbehält, ist auch das Oberlandesgericht befugt, ihn aufzuheben 5 . Es wäre eine unnötige Förmlichkeit, wollte man das Oberlandesgericht für verpflichtet halten, dem zuständigen Gericht eine Entscheidung zu überlassen, die es in wenigen Tagen erlassen muß, ohne daß ihm eine Entscheidungsfreiheit zusteht. Verwehrt ist dem Oberlandesgericht ein solches Verfahren freilich nicht. Die Entscheidung des Oberlandesgerichts wird dahin ergehen, daß der Haftbefehl zu dem im Beschluß zu bezeichnenden Tage des Fristablaufs aufgehoben wird. Diese Form scheidet allerdings aus, wenn die Möglichkeit besteht, daß noch während der Frist mit der Hauptverhandlung begonnen wird; denn dann verlängert sich die Frist weiter (§ 121 Abs. 3 Satz 2). Besteht diese Möglichkeit nicht, wird man dem Oberlandesgericht, da es in der Regel kurze Zeit vor Fristablauf entscheiden wird, die Befugnis einräumen dürfen, den Haftbefehl auch schon kurz vor Ablauf der (um die Ruhezeiten verlängerten) sechs Monate alsbald aufzuheben. Das Oberlandesgericht Hamburg nimmt dagegen die Befugnis in Anspruch, den Haftbefehl auch schon längere Zeit vor Ablauf der sechs Monate aufzuheben, wenn ihm nur die Sache nach § 122 vorgelegt worden ist und ausgeschlossen werden kann, daß die Hauptverhandlung noch vor Ablauf der Sechsmonatsfrist beginnt (NJW 1968 1535). Bedeutung wird das, da die Sachen regelmäßig gegen Ende der Frist vorgelegt werden, namentlich im Falle des Absatzes 6 erlangen. Die Entscheidung verkennt den Ausnahmecharakter des § 1 2 1 und sein Verhältnis zu den allgemeinen Haftvorschriften: Die Voraussetzungen des § 121 können nur geprüft werden, wenn feststeht, daß Untersuchungshaft zulässig und notwendig ist. Ist aber Untersuchungshaft notwendig, dann kann das Gericht nicht von der Haft 4

5

A. A. — Oberlandesgericht darf nur nach § 121 prüfen und muß davon ausgehen, daß die Voraussetzungen des § 112 vorliegen - E b S c h m i d t NJW 1968 2216. A . A . - Oberlandesgericht hat keine Zuständigkeit, den Haftbefehl aufzuheben - E b S c h m i d t JZ 1968 2216.

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Neunter Abschnitt. Verhaftung und vorläufige Festnahme (Dünnebier)

§ 122 Anm. II 4, 5

absehen (19 zu § 112), wenn es nicht durch eine besondere Vorschrift dazu ermächtigt oder gezwungen wird. Dann aber müssen deren Voraussetzungen gegeben sein. Im Falle des § 121 geht die gesetzgeberische Entscheidung klar dahin, daß die Untersuchungshaft über sechs Monate hinaus nicht mehr vollzogen werden darf, wenn nicht besondere Gründe vorliegen (§ 121 Abs. 1) und daß beim Fehlen dieser Gründe der Haftbefehl n a c h Ablauf der sechs Monate aufgehoben werden muß (§ 121 Abs. 2), auch wenn die Untersuchungshaft noch notwendig ist. Eine Ermächtigung, die notwendige Haft schon vorher aufzuheben, weil feststeht, daß sie nach einiger Zeit unzulässig sein werde, enthält das Gesetz nicht. Für einige Tage wird man dem Richter Freiheit geben können, um unpraktikable Ergebnisse zu vermeiden; eine Entlassung längere Zeit vor Ablauf der sechs Monate aus dem einzigen Grunde, daß bei Ablauf der sechs Monate kein Verlängerungsgrund vorliegen werde, widerspricht der Entscheidung des Gesetzgebers 6 . Sind die Akten verspätet vorgelegt worden, so ruht die Frist bis zur Entscheidung des Oberlandesgerichts nicht (4 zu § 121). Wenn in einem solchen Falle das Oberlandesgericht die Fortdauer der Haft nicht anordnet, muß es den Haftbefehl stets selbst aufheben, weil der Beschuldigte sonst bis zur Entscheidung des zuständigen Gerichts entgegen § 121 Abs. 2 ungesetzlich in Haft wäre. 4. Begründung (Absatz 3 Satz 1). Die Anordnung ergeht als Beschluß. In ihm ist der nächste Prüfungstermin jedenfalls dann zu bestimmen, wenn die Dreimonatsfrist des Absatzes 4 Satz 2 unterschritten werden soll. Das ist immer dann veranlaßt, wenn abzusehen ist, daß ein wichtiger Grund, der das Urteil nicht zuläßt, schon zu einem früheren Zeitpunkt nicht mehr bestehen wird. Ist das nicht der Fall, ergibt sich die Frist aus dem Gesetz, doch sollte sie zweckmäßigerweise auch dann in den Beschluß aufgenommen werden. Der Beschluß ist formlos bekanntzumachen (§ 35 Abs. 2 Satz 2). Ergeht er auf mündliche Verhandlung, ist er an deren Schluß zu verkünden oder, wenn er erst später erlassen wird, ebenfalls formlos bekanntzumachen (§ 118 a Abs. 4; Absatz 2 Satz 2). Beschwerde findet nicht statt (§ 304 Abs. 4). Nach § 34 braucht der Beschluß, da er nicht durch Rechtsmittel anfechtbar ist, nur dann begründet zu werden, wenn der Beschuldigte, etwa bei dem Gehör nach Absatz 2 Satz 1, beantragt, den Haftbefehl aufzuheben. Das Gesetz will aber auf jeden Fall eine Begründung und bringt diesen Willen in der gesetzestechnisch wenig begrüßenswerten Form durch die Anordnung zum Ausdruck, daß § 114 Abs. 2 Nr. 4 entsprechend zu gelten habe. Dort wird angeordnet, im Haftbefehl die Tatsachen anzuführen, aus denen sich der dringende Tatverdacht und der Haftgrund ergeben, soweit dadurch nicht die Staatssicherheit gefährdet wird. Da die Vorschrift entsprechend gilt, werden keine Bedenken bestehen, auf vorangegangene Beschlüsse oder auf den Haftbefehl zu verweisen, wenn zum dringenden Tatverdacht und zum Haftgrund nichts Neues zu sagen ist. Auf der anderen Seite bedeutet die dem Zweck des § 122 entsprechende Anwendung, daß die Begründung des Beschlusses weiterzugehen hat als die des Haftbefehls. Denn der Beschluß beruht auf § 121 Abs. 1 und muß sich daher in erster Linie mit den Verlängerungsgründen befassen. Demzufolge sind neben dem Inhalt des § 114 Abs. 2 Nr. 4, der sogar etwas zurücktreten kann, in erster Linie die Tatsachen aufzuführen, aus denen sich die besondere Schwierigkeit oder der besondere Umfang der Ermittlungen oder ein anderer wichtiger Grund ergibt, der das Urteil noch nicht zuläßt und die Fortdauer der Haft rechtfertigt. Auch wird eine Würdigung der Tatsachen zu erwarten sein.'Da die Oberlandesgerichte ihre Beschlüsse stets voll zu begründen pflegen, wird der Beschluß auch Ausführungen zu der Verhältnismäßigkeit (§112 Abs. 1 Satz 2, § 120 Abs. 1, zweiter Halbsatz) enthalten. Wegen der Gefahrdung der Staatssicherheit s. 6 Abs. 2 zu § 114. 5. Aussetzung des Vollzugs (Absatz 5). Wenn das zuständige Gericht das Vorlegungsverfahren dadurch überflüssig machen kann, daß es den Vollzug des Haftbefehls nach § 116 aussetzt (I 4 Abs. 3), so muß dem Oberlandesgericht die Befugnis zustehen, auf dem gleichen Wege sein Entscheidungsverfahren zu erledigen. Denn dieses setzt voraus, daß Untersu6

Ebenso M e y e r J R 1969 69. - Dagegen ist es bei klaren Fällen nicht unzulässig, die H a f t f o r t d a u e r auch schon einige Zeit (ein Monat) vor Fristablauf anzuordnen, wenn klar ersichtlich ist, daß später auch nur die gleiche Entscheidung ergehen könnte ( O L G H a m m M D R 1970 437).

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§ 122 Anm. II 6

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

chungshaft vollzogen wird (I 1). Daher ist zunächst nach den allgemeinen Vorschriften zu prüfen, ob der Vollzug überhaupt stattfinden darf, wozu auch die Prüfung gehört, ob der Haftbefehl nach § 116 auszusetzen ist. Setzt das Oberlandesgericht den Vollzug nach dieser Vorschrift aus, ohne die Fortdauer der Untersuchungshaft anzuordnen, dann ist das Verfahren der §§ 121, 122 zu wiederholen, wenn der Vollzug des Haftbefehls nach § 116 Abs. 4 wieder angeordnet wird (OLG Hamburg M D R 1969 72). Indessen ist diese logisch gebotene Reihenfolge für das Oberlandesgericht, wie sich aus Absatz 5 ergibt, nicht zwingend und nicht immer zu empfehlen. Setzt es nämlich den Vollzug des Haftbefehls aus, ohne die Fortdauer der Haft anzuordnen, dann können sich Mißhelligkeiten ergeben, wenn nach § 116 Abs. 4 der Vollzug des Haftbefehls angeordnet werden muß. Die Zeit bis zum Ablauf der Sechsmonatsfrist kann dann so kurz sein, daß die rechtzeitige Vorlage gefährdet sein könnte. Um solchen Nachteilen zu begegnen, gibt Absatz 5 dem Oberlandesgericht die Befugnis, nicht nur v o r seiner Entscheidung, sondern auch zugleich m i t der Anordnung, daß die Untersuchungshaft fortzudauern habe (genauer: alsbald, wenn auch uno actu, n a c h der Anordnung), den Vollzug des Haftbefehls auszusetzen. Auf diese Weise entstehen keine Schwierigkeiten, wenn das zuständige Gericht den Vollzug nach § 116 Abs. 4 anordnet. Es braucht die Akten dann nicht alsbald nach Wiederverhaftung vorzulegen, sondern erst so rechtzeitig, daß das Oberlandesgericht nach drei Monaten (Absatz 4 Satz 2) entscheiden kann 7 . Das Oberlandesgericht sollte aber dann nicht nach § 116 verfahren, wenn der Haftbefehl deswegen aufgehoben werden muß, weil die Voraussetzungen des § 121 Abs. 1 nicht gegeben sind. Zwar bestehen, wenn die Sechsmonatsfrist noch nicht abgelaufen ist, gegen die Anwendung des § 116 keine rechtlichen Bedenken (3 Abs. 2 zu § 116), doch ist es wenig angemessen, eine Entscheidung zu treffen, die hinfallig wird, wenn der Vollzug des Haftbefehls nach §116 Abs. 4 angeordnet werden muß, aber bei dem dann alsbald einzuleitenden neuen Verfahren nicht aufrechterhalten werden darf (OLG Braunschweig NJW 1967 1290). Muß das Oberlandesgericht den Haftbefehl selbst aufheben, weil die Sechsmonatsfrist zufolge verspäteter Vorlage im Zeitpunkt der Entscheidung des Oberlandesgerichts abgelaufen ist (4 zu § 121), dann darf es nicht nach § 116 verfahren; denn der Vollzug eines aufgehobenen Haftbefehls kann nicht ausgesetzt werden. 6. Wirkung einer die Fortdauer der Untersuchungshaft verneinenden Entscheidung. Hat das Oberlandesgericht abgelehnt, die Fortdauer der Untersuchungshaft anzuordnen, dann kann es diese Entscheidung nicht wieder ändern. Ausgeschlossen ist die Änderung, wenn der Senat, etwa in anderer Besetzung, von seiner bisherigen rechtlichen Beurteilung abweicht. Sie wäre möglich, wenn sich die tatsächlichen Verhältnisse änderten. Aber das ist nicht denkbar. Denn die Beurteilung der tatsächlichen Umstände, aus denen die besondere Schwierigkeit oder der besondere Umfang der Ermittlungen oder ein anderer wichtiger Grund das Urteil noch nicht zulassen und die Fortdauer der Haft rechtfertigen, war gerade Gegenstand der Entscheidung. Es ist keine Änderung der Tatsachengrundlage der Entscheidung, wenn nachträglich Umstände aufgedeckt werden, die bei der Entscheidung vorhanden waren, aber übersehen worden sind. Was sich nach Ablauf der sechs Monate neu ereignet, etwa die Erkrankung eines Sachverständigen, ist kein Umstand, der auf die Verlängerung des Haftvollzugs über sechs Monate hinaus Einfluß haben kann 8 . Denn für diese Entscheidung darf nur berücksichtigt werden, was sich bis zum Ablauf von sechs Monaten Haftvollzug ereignet hat. Der Sinn des Prüfungsverfahrens, eine überlange Haft zu beenden, schließt es aus, eine als unzulässig befundene und daher beendete Untersuchungshaft wieder zu vollziehen, wenn sich allgemeine Haftgründe (etwa Fluchtgefahr) ergeben, die bei der Entscheidung nach §§ 121, 122 stets Voraussetzung sind, für die Frage des weiteren Vollzugs aber außer Betracht zu bleiben haben (1 zu § 121)'. ' E i n e bloße „Erörterung" der Voraussetzungen des § 121 Abs. 1 (so OLG Hamburg M D R 1969 72) eröffnet diese Erleichterung freilich nicht. 8 A. A. — aufgrund neuer Erschwerungen, die zusammen mit früher geltend gemachten Gründen Verlängerung der Untersuchungshaft rechtfertigen, kann Haftbefehl neu erlassen werden — K l 3. 9 Deshalb ist der Beschluß des Oberlandesgerichts Stuttgart (NJW 1967 66) abzulehnen, der — insoweit ohne jede Begründung — eine neue Haftentscheidung (mit Rücksicht auf die nahe bevorstehende Hauptverhandlung) für zulässig erachtet. D a ß die Untersuchungshaft in einem solchen Fall ver-

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Neunter Abschnitt. Verhaftung und vorläufige Festnahme (Dünnebier)

§ 122 Anm. II 7, 8; III 1

Die Wirkung der negativen Entscheidung endet mit einem Urteil, das auf Freiheitsstrafe oder eine freiheitsentziehende Maßregel der Besserung und Sicherung erkennt. Denn nur auf den Verfahrensabschnitt bis zu diesem Zeitpunkt bezieht sich das ganze Verfahren der §§ 121, 122. Nach diesem Zeitpunkt kann das zuständige Gericht nach den allgemeinen Vorschriften Untersuchungshaft anordnen, aber nicht mehr, wenn das Verfahren wegen Verzögerung nach Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MenschRKonv. unzulässig geworden ist (8 vor § 112 Anm. 35). 7. Mitbeschuldigte (Absatz 6). Sind im gleichen Verfahren mehrere Beschuldigte in Haft, dann können sich die Vorlagen häufen. Bei vielen Beschuldigten könnte der Ablauf des Verfahrens gestört werden, selbst wenn der Staatsanwalt durch Hilfsakten (Nr. 14 RiStBV) Vorsorge getroffen hat, daß er die Ermittlungen auch während des Vorlegungsverfahrens fortsetzen kann. Fallen die Sechsmonatsfristen oder spätere Dreimonatsfristen (Absatz 4 Satz 2) eng zusammen, dann könnte die rechtzeitige Vorlage der später vorzulegenden Sache gefährdet sein. Aus diesen Gründen gibt Absatz 6 dem Oberlandesgericht die Zuständigkeit, wenn ihm die Akten wegen eines Beschuldigten vorgelegt werden, zugleich auch über die Fortdauer der Untersuchungshaft von Beschuldigten zu entscheiden, für die es noch nicht zuständig wäre. Liegen die Vorlegungszeiten nur wenig, etwa bis zu drei Wochen, auseinander, muß man das zuständige Gericht für berechtigt erachten, die Akten auch für den Beschuldigten vorzulegen, bei dem das Prüfungsverfahren noch Zeit hat. In diesem Falle bewirkt die Vorlage, daß der Fristablauf bis zur Entscheidung des Oberlandesgerichts ruht ( § 1 2 1 Abs. 2 Satz 1). Dagegen ruht der Fristablauf nicht, wenn das Oberlandesgericht über die Fortdauer der Untersuchungshaft eines Beschuldigten, für den es an sich noch nicht zuständig wäre, von Amts wegen entscheidet. Denn in bezug auf diesen Beschuldigten werden dem Oberlandesgericht die Akten nicht im Sinne des § 121 Abs. 3 Satz 1 vorgelegt. Wohl aber kann das zuständige Gericht, wenn sich die Entscheidung beim Oberlandesgericht verzögert, diesem die Akten nachträglich auch für den Mitbeschuldigten in der Weise vorlegen, daß es dem Oberlandesgericht mitteilt, die für den Beschuldigten A vorgelegten Akten würden nunmehr auch für den Beschuldigten B vorgelegt (I 3 Abs. 2). Die Zusammenfassung der Entscheidungen ist nur zulässig, wenn für den Mitbeschuldigten schon zu dem früheren Termin entschieden werden kann, ob bei dem zu erwartenden Ablauf der Sechsmonatsfrist eine der zusätzlichen Haftvoraussetzungen des § 121 Abs. 1 vorliegen wird 10 . Denn verkürzt wird nur die Frist des § 121 Abs. 3, Abs. 2, § 122 Abs. I; die Sechsmonatsfrist des § 121 Abs. 1, 2 bleibt bestehen. Daher darf, wenn das Oberlandesgericht die Fortdauer der Untersuchungshaft nicht anordnet, der Haftbefehl nicht alsbald, sondern erst mit Ablauf der Sechsmonatsfrist aufgehoben werden. Denn die Voraussetzungen der Untersuchungshaft bestehen fort, und das Verbot, den Haftbefehl über sechs Monate aufrechtzuerhalten ( § 1 2 1 Abs. 1) wird erst „nach Ablauf der sechs Monate" wirksam (§ 121 Abs. 2). 8. Bundesgerichtshof (Absatz 7). In der Vorschrift ist überall nur vom Oberlandesgericht die Rede. D a nach § 121 Abs. 4 Satz 2 indessen auch der Bundesgerichtshof zur Entscheidung berufen sein kann, bestimmt Absatz 7, um nicht allenthalben auch den Bundesgerichtshof einfügen zu müssen, daß der Bundesgerichtshof an die Stelle des Oberlandesgerichts tritt, wenn er nach § 121 Abs. 4 Satz 2 zu entscheiden hat. III. Weiteres Verfahren. 1. Allgemeine Haftpriifung (Absatz 3 Satz 2 bis 4). Nachdem das Oberlandesgericht die Fortdauer der Untersuchungshaft angeordnet hat, weil es die allgemeinen Voraussetzungen der Untersuchungshaft (§ 120 Abs. 1 Satz 1) und die besonderen des § 121 Abs. 1 bejaht hat, können beide Voraussetzungen sich ändern. Sie sind daher beide weiter zu prüfen.

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fassungsrechtlich zulässig sein kann (BVerfGE 21 1 8 9 = M D R 1967 463), besagt nicht, daß sie es auch nach der in § 121 normierten Ausformung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit sein müßte. Begrdg. BTDrucks. III 2037, S. 25.

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§ 122 Anm. III 2, 3

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

Für die Prüfung der besonderen Voraussetzungen ist ein besonderes Verfahren angeordnet (3). Die allgemeinen Voraussetzungen sind fortlaufend (22 zu § 112), bei jedem Antrag, den Haftbefehl aufzuheben, und bei jeder Beschwerde sowie in dem Verfahren des § 117 zu prüfen. Die laufende Prüfung ist Sache des zuständigen Gerichts. Dieses kann, ebenso wie das Beschwerdegericht, jederzeit einen Haftbefehl aufheben oder seinen Vollzug aussetzen, auch wenn das Oberlandesgericht nach Absatz 3 Satz 1 die Fortdauer der Haft angeordnet hatte. Lediglich die Haftprüfung nach § 117 Abs. 1 überträgt das Gesetz dem Oberlandesgericht. Das war nach dem Regierungsentwurf sinnvoll, weil dort für die Haftprüfung nach § 117 Fristen vorgesehen waren 11 und der Beschuldigte außerhalb dieser Fristen keine Haftprüfung verlangen konnte. Die Haftprüfung des § 117 mit der des § 121 zu einer einzigen zu vereinigen, bedeutete Arbeitsersparnis und belastete das Oberlandesgericht nicht, weil es beide Fristen gleich ansetzen konnte. Im Bundestag ist die automatische Haftprüfung gefallen. Nur der Anspruch auf mündliche Verhandlung ist von Fristen abhängig (§118 Abs. 3), die Haftprüfung nicht. Sie findet nur noch auf Antrag des Beschuldigten statt, dafür aber jederzeit 12 . Beantragt der Beschuldigte sie oft, so werden die Akten durch die Vorlage ans Oberlandesgericht zu lange dem Verfahren entzogen. Da es nach dieser Änderung nicht mehr möglich ist, die Prüfungen nach § 117 Abs. 1 und nach § 122 Abs. 4 zu einer einzigen zu vereinigen, wird es in der Regel angemessen sein, die Haftprüfung (für den Fall, daß sie beantragt werde), dem zuständigen Gericht zu übertragen. Das wird in Absatz 3 Satz 3 ausdrücklich für zulässig erklärt, jedoch nur jeweils für einen bestimmten Zeitraum — höchstens drei Monate —, der mit der nach Absatz 4 zu wählenden Frist übereinstimmend bestimmt werden sollte. Spricht das Oberlandesgericht diese Übertragung nicht aus, muß es selbst nach § 117 entscheiden. Findet das Verfahren des § 117 vor dem Oberlandesgericht statt, kann der Beschuldigte die mündliche Verhandlung (§ 118) nicht erzwingen; es entscheidet das Ermessen des Oberlandesgerichts. Die Zuständigkeit des Oberlandesgerichts zur Haftprüfung nach § 117 Abs. 1 endet zu dem gleichen Zeitpunkt, in dem auch die nach § 122 Abs. 4 aufhört, nämlich sobald ein Urteil ergangen ist, das auf Freiheitsstrafe oder auf eine freiheitsentziehende Maßregel der Sicherung und Besserung (5 zu § 118) erkannt hat. 2. Verfahren des zuständigen Gerichts. Behält das Oberlandesgericht sich die Haftpriifung nach § 117 Abs. 1 vor, dann findet die Vorschrift des § 117 mit der Maßgabe Anwendung, daß ein Antrag auf Haftprüfung, wenn er nicht beim Oberlandesgericht eingeht, diesem vom zuständigen Gericht über die Staatsanwaltschaft vorzulegen ist. Das zuständige Gericht kann die Haftprüfung dadurch entbehrlich machen, daß es den Haftbefehl aufhebt, falls die Voraussetzungen der Untersuchungshaft nicht mehr vorliegen (§ 120 Abs. 1 Satz 1). Die Staatsanwaltschaft kann, wenn noch keine öffentliche Klage erhoben ist, die Aufhebung des Haftbefehls nach § 120 Abs. 3 bewirken. Dagegen wird die Entscheidung des Oberlandesgerichts im Verfahren nach § 117 Abs. 1 nicht dadurch überflüssig, daß das zuständige Gericht den Vollzug der Untersuchungshaft nach § 116 aussetzt oder bei einem Jugendlichen nach § 72 Abs. 1 JGG von der Vollstreckung des Haftbefehls absieht. Denn Ziel des Haftprüfungsantrags ist in erster Linie die Prüfung, ob der Haftbefehl aufzuheben ist. Nur wenn der Antragsteller sich darauf beschränkt, die Aussetzung des Vollzugs zu beantragen, macht die dem Antrag entsprechende Entscheidung des zuständigen Richters die Vorlage ans Oberlandesgericht hinfallig. Hat das Oberlandesgericht dem zuständigen Richter die Haftprüfung übertragen, dann ergeben sich für das Verfahren nach §§ 117, 118 keine Besonderheiten. 3. Weitere Prüfung der besonderen Voraussetzungen (Absatz 4). Ob die Voraussetzungen des § 121 Abs. 1 vorliegen, darf allein das Oberlandesgericht prüfen und entscheiden. Das sonst für Haftentscheidungen zuständige Gericht darf die Frage weder bejahen noch auch verneinen 13 . Das ergibt sich aus § 121 Abs. 2, § 122 Abs. 1, wie auch aus dem ganzen System der §§ 121, 122 Abs. 1 bis 3, wird aber in Absatz 4 für das Verfahren nach der 11 12 13

BTDrucks. IV 178; § 117 Abs. 1, Abs. 4. BTDrucks. IV 2378; § 117 Abs. 1. Begrdg. BTDrucks. IV 178, S. 26.

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Neunter Abschnitt. V e r h a f t u n g u n d vorläufige F e s t n a h m e ( D ü n n e b i e r )

Anm. 1

ersten Entscheidung des Oberlandesgerichts ausdrücklich noch einmal ausgesprochen. Zugleich wird durch das Wort „auch" (im weiteren Verfahren) das Prinzip nochmals deutlich wiederholt u . In der Entscheidung nach Absatz 3 Satz 1 bestimmt das Oberlandesgericht den ersten Prüfungstermin, wenn die Frist von drei Monaten unterschritten werden soll. Ist kein neuer Termin bestimmt worden, findet die Prüfung nach drei Monaten statt. Da die Prüfung eine Wiederholung der ersten Prüfung ist, gelten für das Verfahren alle Bestimmungen, die für die erste Prüfung gegeben sind, d. h. für das Ruhen der Frist § 121 Abs. 3 (OLG Oldenburg JZ 1965 770), für das Vorlegungsverfahren Absatz 1, für das Verfahren des Oberlandesgerichts Absatz 2 und Absatz 3 Satz 1. Daraus folgt, daß das Oberlandesgericht die Sache nicht unter Kontrolle behält, die Akten anfordert und von Amts wegen entscheidet, daß es vielmehr, wie bei der ersten Prüfung (I 1), regelmäßig (I 2) zufolge der Vorlage durch das zuständige Gericht mit der Sache befaßt wird 15 . Die Prüfung ist solange wenigstens alle drei Monate zu wiederholen, bis ein Urteil ergeht, das auf Freiheitsstrafe oder auf eine freiheitsentziehende Maßregel der Sicherung und Besserung (5 zu § 118) erkennt (§121 Abs. 1), bis der Haftbefehl nach § 120 Abs. 1 oder 3 aufgehoben oder sein Vollzug nach § 116 ausgesetzt oder bei einem Jugendlichen nach § 72 Abs. 1 J G G von der Vollstreckung des Haftbefehls abgesehen wird. Tritt einer dieser Fälle ein, wird ein vom Oberlandesgericht bestimmter oder der im Gesetz (Absatz 4 Satz 2) vorgesehene neue Prüfungstermin gegenstandslos; er wird nicht ausdrücklich aufgehoben.

§ 123 (1) Eine Maßnahme, die der Aussetzung des Haftvollzugs dient (§ 116), ist aufzuheben, wenn 1. der Haftbefehl aufgehoben wird oder 2. die Untersuchungshaft oder die erkannte Freiheitsstrafe oder freiheitsentziehende Maßregel der Sicherung und Besserung vollzogen wird. (2) Unter denselben Voraussetzungen wird eine noch nicht verfallene Sicherheit frei. (3) Wer für den Beschuldigten Sicherheit geleistet hat, kann deren Freigabe dadurch erlangen, daß er entweder binnen einer vom Gericht zu bestimmenden Frist die Gestellung des Beschuldigten bewirkt oder die Tatsachen, die den Verdacht einer vom Beschuldigten beabsichtigten Flucht begründen, so rechtzeitig mitteilt, daß der Beschuldigte verhaftet werden kann. Entstehungsgeschichte: Die Vorschrift bezog sich früher nur auf das Freiwerden einer Sicherheit. Die jetzige allgemeine Fassung hat sie erhalten durch Art. 1 Nr. 1 StPAG. Bezeichnung bis 1965: § 121. 1. Aufheben und Freiwerden. Der Vollzug eines Haftbefehls wird unter bestimmten Voraussetzungen nach § 116 ausgesetzt. Dabei werden regelmäßig Maßnahmen angeordnet, die in Anweisungen an den Beschuldigten oder in der Leistung einer Sicherheit bestehen. Die Vorschrift verordnet, wann diese Maßnahmen aufzuheben sind. Die Aufhebungsgründe zerfallen in zwei Gruppen: Wird der Haftbefehl aufgehoben (Nr. 1), dann ist der Anlaß zur Haft entfallen; wird die Untersuchungshaft, Strafhaft oder eine Maßregel der Sicherung und Besserung vollzogen (Nr. 2), dann entfallt der Anlaß zu den Maßnahmen oder zur Sicherheitsleistung. In beiden Fallgruppen müssen daher die Maßnahmen aufgehoben werden. Unter denselben Voraussetzungen, unter denen Maßnahmen aufzuheben sind, wird auch eine Sicherheit frei (Absatz 2), wenn sie — was selbstverständlich ist — nicht schon vorher 14

15

A. A. — Entscheidungsmonopol des Oberlandesgerichts besteht „nur in positiver Hinsicht" — P u s i n e l l i 97; — zuständiger Richter kann „negative Entscheidung" treffen — H e n g s b e r g e r 214; M ü l l e r - S a x 4 (2); wie hier — Entscheidungsmonopol in positiver und negativer Hinsicht — K l 5. Weitergehend — Oberlandesgericht entscheidet „nur und erst" nach Vorlage der Akten durch den zuständigen Richter — P u s i n e 11 i 97.

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§ 123

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

Anm. 2 verfallen war. Absatz 2 bezieht sich sowohl auf Sicherheiten, die der Beschuldigte, als auch auf solche, die ein Dritter geleistet hat, Absatz 3 nur auf letztere. Die Pflichten und Beschränkungen (§116 Abs. 3 Nr. 1) entfallen, wenn die Voraussetzungen des Absatzes 1 eintreten, nicht von selbst, vielmehr sind die Maßnahmen, mit denen jene Lasten auferlegt worden sind, ausdrücklich aufzuheben, obwohl es dem Beschuldigten keine Nachteile mehr bringen kann, wenn er Pflichten nicht mehr erfüllt und sich Beschränkungen nicht mehr unterwirft; im Falle des Vollzugs kann er das ohnehin nicht tun. Die Sicherheit dagegen wird eo ipso frei, sobald der Haftbefehl aufgehoben oder Haft vollzogen wird. Zwar nützt das Freiwerden dem Beschuldigten ohne weitere behördliche Akte nichts, doch wird durch die Bestimmung, die Sicherheit werde kraft Gesetzes frei, die Unverrückbarkeit der Rechtslage betont: die frei gewordene Sicherheit kann nicht mehr in Anspruch genommen werden, auch wenn der Haftbefehl irrtümlich aufgehoben worden ist; sie bleibt auch dann frei, wenn nachträglich ein Ereignis eintritt, durch das, wenn es sich früher ereignet hätte, die Sicherheit verfallen wäre. Beisp.: Der Verurteilte tritt die Strafe an und flieht am ersten Tage, ehe der Beschluß ergangen ist, daß die Sicherheit frei geworden sei. Die Sicherheit wird nur frei, wenn sie nicht schon verfallen war. Ob dieser Umstand eingetreten ist, hat das Gericht nach § 124 Abs. 1 zu prüfen und ggf. nach § 124 Abs. 2 festzustellen. Der Verfall ist bei keinem der Befreiungsgründe ausgeschlossen, auch nicht, wenn der Haftbefehl aufgehoben wird. Denn das kann der Fall sein, obwohl der Beschuldigte sich vorher — etwa durch Flucht — der Untersuchung entzogen hatte (§ 124 Abs. 1), etwa weil er freiwillig zurückgekehrt und in Krankheit verfallen ist. In der Regel indessen wird, anders als bei den beiden anderen Befreiungsgründen, der vorherige Verfall der Sicherheit keine Rolle spielen, wenn der Haftbefehl aufgehoben wird. 2. Aufhebung des Haftbefehls. Der erste Grund, der das Gericht nötigt, Maßnahmen aufzuheben, und der die Sicherheit frei macht, ist die Aufhebung des Haftbefehls. Alle Gründe, die zur Einstellung des Verfahrens führen (Verjährung, Rücknahme des Strafantrags, Amnestie usw.), zwingen, weil sie die Untersuchung beenden, den Haftbefehl aufzuheben. Zufolge der Aufhebung setzen sie den Maßnahmen des § 116 ein Ende (Absatz 1 Nr. 1). Aber ohne daß der Haftbefehl aufgehoben wird, erledigen sich die Maßnahmen nicht von selbst. Auch die Sicherheit wird in keinem Falle ohne diesen Akt frei. Selbst wenn bei Freispruch und ihm gleichstehenden Entscheidungen der Haftbefehl ohne weitere Prüfung aufgehoben werden muß (§ 120 Abs. 1 Satz 2; II 3 und 4 zu § 120), macht erst die Aufhebung die Sicherheit frei 1 , nicht 2 schon die Freisprechung usw. selbst. Denn neue Tatsachen oder Beweismittel, die unmittelbar nach dem Freispruch bekannt werden, können trotz Freispruchs der Aufhebung des Haftbefehls entgegenstehen (II 9 zu § 120). Die Ansicht endlich, daß es bei Ereignissen, die notwendigerweise die Einstellung herbeiführen (Verjährung, Amnestie), keiner Aufhebung des Haftbefehls bedürfe 3 , wird schon durch die Überlegung widerlegt, daß bei vollzogenem Haftbefehl der Beschuldigte erst dann aus der Haft entlassen werden kann, wenn der Haftbefehl aufgehoben worden ist. Dann kann, wenn der Vollzug des Haftbefehls nur ausgesetzt worden ist, die Sicherheit erst recht nicht ohne diesen Akt frei werden. Darin liegt auch keine Ungerechtigkeit, weil die Sicherheit dann nicht mehr verfallen kann. Denn sobald Prozeßhindernisse eingetreten sind, können keine Prozeßhandlungen mehr erforderlich werden, denen sich der Beschuldigte entziehen könnte. Bei der Aufhebung des Haftbefehls ist der Grund dafür gleichgültig mit einer Ausnahme: Die Rechtskraft beendet die Untersuchung und damit die Untersuchungshaft. Der Haftbefehl erledigt sich mit der Rechtskraft von selbst. Das Gericht braucht ihn nicht aufzuheben, kann das aber tun (II 10 zu § 120). Hebt es in einem solchen Falle den Haftbefehl auf, dann besagt das nur, daß die Untersuchung beendet ist, nicht aber, daß die Haftgründe entfallen sind. Da die Sicherheit auch dazu dient, den Antritt einer Freiheitsstrafe zu erzwingen (1 zu § 116 a), kann der Umstand, daß der Haftbefehl allein wegen des Endes der Untersuchung aufgehoben wird, nicht bewirken, daß die Sicherheit frei wird (OLG Bremen NJW 1963 1024). 1 2 3

E b S c h m i d t 4; M ü l l e r - S a x 2a. So H ä r t u n g 4 zu § 121. L o b e - A l s b e r g II 5 zu § 121.

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Neunter Abschnitt. Verhaftung und vorläufige Festnahme (Dünnebier)

§ 123 Anm. 3 , 4

Allein der Tod des Beschuldigten beendet das Verfahren von selbst und macht den Haftbefehl hinfallig, ohne daß er aufgehoben zu werden braucht; denn es ist niemand mehr vorhanden, der von ihm betroffen wäre. Dabei spielt es keine Rolle, wenn der Beschuldigte den Tod durch Selbstmord herbeigeführt hat (II 6 zu § 124). Daß der Verfahrensbeendigung durch Tod keine befreiende Wirkung mehr zukommen kann, wenn die Sicherheit schon vorher durch Flucht verfallen war (OLG Colmar A l s b . E 1 294), ist selbstverständlich. 3. Antritt der Untersuchungshaft. Die nach § 116 angeordneten Maßnahmen sind ferner aufzuheben und die Sicherheit wird weiterhin frei, wenn gegen den Beschuldigten in der Sache, in der der Vollzug des Haftbefehls ausgesetzt worden ist, Untersuchungshaft vollzogen wird. Nach dieser Wortfassung reicht weder die vorläufige Festnahme (§ 127 Abs. 2) noch die Verhaftung (§ 114a Abs. 1) aus. Maßgeblich ist vielmehr der Beginn des Vollzugs. Dazu ist es erforderlich, daß der Beschuldigte in die zuständige Haftanstalt gebracht wird; eine Sicherheit verfallt, wenn er auf dem Transport vom Festnahmeort nach der Anstalt flieht ( G e r d i n g 11). Da die Vorschrift den Vollzug der Untersuchungshaft zur Voraussetzung der Aufhebung und des Freiwerdens macht, kommt es auf die Einlieferung in die zuständige Anstalt an. Ist der Beschuldigte nach der Verhaftung zunächst in eine fremde Haftanstalt eingeliefert worden, hat damit der Vollzug der Untersuchungshaft noch nicht begonnen. Flieht der Beschuldigte auf dem Transport zur zuständigen Anstalt, so wird die Sicherheit nicht frei. Das gleiche ist der Fall, wenn der Beschuldigte in anderer Sache in Untersuchungshaft kommt, selbst wenn Überhaft (12 zu § 114) erklärt wird. Denn auch während dieser Haft kann er sich noch in der (anderen) Sache, in der Sicherheit geleistet worden ist, der Untersuchung oder dem Strafantritt entziehen. Freilich kann die Verhaftung Veranlassung geben, den Haftbefehl aufzuheben. Geschieht das nicht, erklärt der Beschuldigte aber, daß er sich nunmehr auch in der Sache der Untersuchungshaft unterwerfe, in der die Sicherheit geleistet worden ist, dann wird die Sicherheit frei, weil der Beschuldigte nunmehr (auch) in dieser Sache in Untersuchungshaft ist. Wegen der Folgen s. 13 zu § 114. Denn wie es zum Vollzug des Haftbefehls kommt, ist gleichgültig. Die Folgen treten auch ein, wenn sich der Beschuldigte freiwillig — wenn auch vielleicht auf Veranlassung dessen, der Sicherheit geleistet hat — in den Vollzug begibt und das Gericht daraufhin die Vollstreckung aufnimmt. Das Gericht ist dazu verpflichtet. Die Aussetzung des Vollzugs eines Haftbefehls gegen Maßnahmen oder gegen Sicherheitsleistung ist eine Erleichterung für den Beschuldigten, nicht für den Staat. Dieser kann weder erzwingen, daß der Beschuldigte Weisungen befolgt, noch daß eine Sicherheit geleistet wird. Daher kann der Beschuldigte, wenn er die Sicherheitsleistung auch nicht zurücknehmen kann (8 zu § 116 a), doch auf die Aussetzung in der Weise Verzicht leisten, daß er sich in den Haftvollzug begibt. Damit kann er die Sicherheit frei machen oder Beschränkungen abwerfen, die ihm lästiger geworden sind als die Untersuchungshaft. 4. Antritt der Strafhaft und des Maßregelvollzugs. Endlich sind die Maßnahmen aufzuheben und wird die Sicherheit frei, wenn die erkannte Freiheitsstrafe oder freiheitsentziehende Maßregel in der Sache vollzogen wird, in der der Vollzug des Haftbefehls ausgesetzt war. Maßgebend ist nicht die Verhaftung (§ 457 Abs. 1), sondern die Aufnahme in die von der Vollstreckungsbehörde bestimmte Anstalt. Strafhaft in anderer Sache führt nicht zur Aufhebung der Maßnahmen, weil der zuständige Richter keinen Einfluß auf ihr Ende hat. Doch kann längere Strafhaft in anderer Sache, wenn die Möglichkeit einer Entlassung (§ 26 StGB) oder einer Begnadigung vor Abschluß der Untersuchung ausscheidet, zur Folge haben, daß der Haftbefehl und auf diese Weise auch Maßnahmen aufgehoben werden oder eine Sicherheit frei wird. Wie es zum Strafantritt kommt, ob der Verurteilte sich freiwillig stellt oder ob er verhaftet wird, ist gleichgültig, doch wird im letzteren Falle oft, nicht regelmäßig (II 6 zu § 124), die Sicherheit verfallen sein, weil sich der Verurteilte dem Strafantritt entzogen hatte. Dieselbe Wirkung wie der Vollzug der Freiheitsstrafe hat der Vollzug einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung oder Besserung. Es kommen alle von ihnen (vgl.§ 42 a Nr. 1, 2, 4 StGB) in Betracht, wenn die Freiheitsstrafe, neben der sie verhängt sind, bedingt ausgesetzt worden ist (§ 456 b Satz 1) — ein Fall, der für die Sicherungsverwahrung (§ 42 e StGB) praktisch ausscheidet —, oder wenn die Unterbringung in einer Heil- oder Pflege793

§ 123 Strafprozeßordnung. Erstes Buch Anm. 5 , 6 anstatt (§ 42 b StGB) sowie in einer Trinkerheil- oder Entziehungsanstalt (§ 42 c StGB) vor der Freiheitsstrafe vollzogen wird (§ 456 b Satz 2). Bei der Unterbringung in einer Heiloder Pflegeanstalt kann das nur bedeutsam werden, wenn sie angeordnet wird, weil der Angeklagte die Tat im Zustande der verminderten Zurechnungsfahigkeit ( § 5 1 Abs. 2 StGB) begangen hatte. Denn wenn er zurechnungsunfähig ( § 5 1 Abs. 1 StGB) war, durfte mangels dringenden Tatverdachts kein Haftbefehl ergehen, die Vollstreckung eines ergangenen Unterbringungsbefehls aber nicht ausgesetzt werden (§ 126a Abs. 2 Satz 1). Wird im Urteil auf eine Geldstrafe erkannt, so wird zwar der Haftbefehl in der Regel aufgehoben werden, aber doch nicht in jedem Fall (II 2 zu § 120). Tritt indessen die Rechtskraft eines solchen Urteils ein, dann ist der Haftbefehl stets aufzuheben (II 10 Abs. 3 zu § 120). Als Folge sind nach § 116 angeordnete Maßnahmen außer Kraft zu setzen und wird eine Sicherheit frei. Sie darf weder für die Geldstrafe in Anspruch genommen werden (LG Hamburg MDR 1948 429), noch kann sie verfallen, wenn der Verurteilte die Geldstrafe nicht bezahlt und sich dem Antritt der Ersatzfreiheitsstrafe entzieht 4 . 5. Bürgenbefreiung (Absatz 3). Die Sicherheitsleistung durch Dritte erlangt für das Gericht ihren Wert nicht allein durch die Höhe der Sicherheit, sondern namentlich durch die Bedeutung, die ihr Verlust für den Leistenden und dessen Schaden für den Beschuldigten haben würden. Daher hat das Schicksal der Sicherheitsleistung (Abtretung, Pfändung) dem Gericht gleichgültig zu bleiben. Es muß durch den Verfall der Sicherheit dem ein Übel zufügen, dem es vertraut hat. Demzufolge ist unter demjenigen, der für den Beschuldigten Sicherheit geleistet hat, nur zu verstehen, wer sie zu dessen Gunsten im eigenen Namen erbracht hat, d. h. die Person, die „Bürgschaft" geleistet hat, der „Bürge" i. S. von § 116a Abs. 1, gleichviel ob die Sicherheit aus seinem oder aus einem anderen Vermögen stammt (OLG Hamburg Rpfleger 1962 220). Dagegen kann die Befugnisse des Absatzes 2 nicht ausüben, wer dem Beschuldigten oder dem „Bürgen" Vermögensstücke überlassen hat, die diese dann als Sicherheit hinterlegt haben, oder wer eine Sicherheit oder den Anspruch auf ihre Herausgabe rechtsgeschäftlich oder im Wege der Zwangsvollstreckung erworben hat (im Ergebnis ebenso BayObLGSt. 10 381). Wohl aber hat der Erbe des Bürgen dessen Rechte. 6. Fluchtanzeige. Die Sicherheit wird auch frei, wenn der Bürge rechtzeitig Tatsachen anzeigt, die den Verdacht begründen, daß der Beschuldigte zu fliehen beabsichtige. Wieweit die Tatsachen glaubhaft gemacht sein müssen und an wen die Anzeige zu richten ist, sagt das Gesetz nicht. Beides ist zu untersuchen, wenn im Falle einer erfolglosen Anzeige geprüft wird, ob die Anzeige rechtzeitig war. Rechtzeitig ist die Anzeige, die dazu führt, daß der Beschuldigte an der Flucht gehindert werden kann, wenn die beteiligten Behörden unverzüglich und sachgemäß handeln. Unverzüglich heißt auch hier (vgl. 4 Abs. 2 zu § 115): ohne eine in der Sache nicht gerechtfertigte Verzögerung. Da der Richter einen von der Haft freigestellten Beschuldigten nur verhaften kann, wenn ihm der Verdacht der Flucht mit einem hohen Grade wahrscheinlich (9 zu § 112) ist, gehen die Zeiten zu Lasten des Bürgen, die der Richter braucht, um durch Rückfragen, ggf. polizeiliche Ermittlungen, jene Wahrscheinlichkeit zu erlangen. Zu Lasten des Bürgen ist auch die Zeit zu rechnen, die, wenn eine unzuständige Stelle angegangen wird, benötigt wird, die zuständige zu ermitteln und dieser die Anzeige zuzuleiten. Ziel der Anzeige ist die Anordnung der Verhaftung nach § 116 Abs. 4 Nr. 2 oder 3. Der dafür zuständige Richter ergibt sich aus § 126. Wenn der Beschuldigte ihn angeht, ist seine Anzeige in bezug auf die Auswahl des Adressaten rechtzeitig. Sie ist es, da der Bürge den Stand des Verfahrens und die wechselnden Zuständigkeiten nicht immer kennen wird, auch dann, wenn er den Richter benachrichtigt, bei dem er die Sicherheit geleistet hat. Auch in bezug auf die Möglichkeit, den Beschuldigten zu ergreifen, bevor er geflohen ist, muß die Anzeige so rechtzeitig sein, daß eine unverzüglich und sachgemäß arbeitende Behörde Erfolg erzielen kann. Zufälligkeiten, die die Verhaftung verhindern, wirken gegen den Bürgen, sie zeigen, daß dessen Anzeige nicht rechtzeitig war. 4

A . A . — Sicherheitsleistung haftet für Geldstrafe — L o b e - A l s b e r g II 4 zu § 121; — Sicherheitsleistung verfallt, wenn der Verurteilte sich der Zahlung der Geldstrafe entzieht — E b S c h m i d t 5 zu § 122; vgl. weiter II 4 zu § 124.

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Neunter Abschnitt. Verhaftung und vorläufige Festnahme (Dünnebier)

§ 123 Anm. 7, 8

Bei der Anzeige einer beabsichtigten Flucht wird das Freiwerden der Sicherheit allein in die Initiative des Bürgen gestellt. Er ist nicht darauf angewiesen, daß der Beschuldigte, der ihm gegenüber untreu zu werden droht, ihn unterstütze. Hat der Beschuldigte sich der Untersuchung oder dem Antritt einer Freiheitsstrafe schon entzogen, dann ist damit freilich die Sicherheit schon verfallen (§ 122 Abs. 1), und es kann allenfalls der in der nächsten Anmerkung behandelte Weg zur Befreiung des Bürgen führen. Ist aber die Anzeige vor einer beabsichtigten Flucht geeignet, die Verhaftung herbeizuführen, dann wird die Sicherheit durch die Anzeige auch dann frei, wenn der Beschuldigte wegen Saumseligkeit der Behörden seine Flucht doch noch bewerkstelligen kann (OLG Dresden J W 1923 420) oder wenn er trotz einer Flucht nicht verhaftet wird, nachdem er reuig zurückgekehrt ist. Hat der Bürge das Seine getan, braucht er ein erhöhtes Risiko nicht mehr zu tragen. 7. Gestellung. Der Bürge kann die Freigabe der Sicherheit dadurch erlangen, daß er innerhalb einer vom Gericht bestimmten Frist den Beschuldigten bewegt, sich dem Gericht zu stellen. Im Gegensatz zur Fluchtanzeige muß bei diesem Befreiungsgrund der Bürge mit dem Beschuldigten zusammenwirken. Die Vorschrift wird im allgemeinen so ausgelegt, daß die Fristsetzung — weil sich der Beschuldigte jederzeit stellen kann — überflüssig sei, und daß sie auf Verfall oder Freiwerden der Sicherheit nicht einwirke (OLG Hamburg G A 37 225). Da weiter Übereinstimmung besteht, daß die Bestimmung dem Bürgen kein Recht gibt, den Beschuldigten gewaltsam vorzuführen oder die staatliche Gewalt dazu in Anspruch zu nehmen, ist es kaum geboten, die Grundlage des Freiwerdens in Absatz 1 zu suchen, wenn der Beschuldigte sich selbst zur Gestellung entschlossen hat, sie aber 5 in Absatz 2 zu finden, wenn der Bürge seinen Entschluß herbeigeführt hat. Die Ansicht, auch für den hier behandelten Fall werde vorausgesetzt, daß die Sicherheit noch nicht verfallen sei 6 , ist nicht überzeugend. In den Kommissions Verhandlungen hat der Regierungsvertreter ausgeführt: Die Vorschrift behandle den Fall, daß der Beschuldigte bereits aufgefordert worden sei, sich wieder einzufinden, dieser Aufforderung aber keine Folge geleistet habe. Solchenfalls wäre eigentlich, streng genommen, die Sicherheit bereits verfallen. Aus besonderer Rücksicht gegen den Bürgen werde ihm aber noch-eine Frist gesetzt, innerhalb deren er die Gestellung bewirken könne ( H a h n Mat. 1 678). In der Tat kann der Fall, daß der Bürge die Gestellung des Beschuldigten bewirkt, nachdem ihm das Gericht dazu eine Frist gesetzt hat, nicht anders ausgelegt werden, als daß der bereits eingetretene Verfall der Bürgensicherheit nachträglich wieder aufgehoben wird. Bei der jetzt meist gewählten Auslegung ist die Fristsetzung sinnlos und die ganze Bestimmung ohne Inhalt, weil der Fall der Gestellung schon von Absatz 1 erfaßt wird. Sinnlose Vorschriften sind dem Gesetzgeber aber nicht zu unterstellen. Das Gemeinte, daß eine („eigentlich", „streng genommen") bereits verfallene Sicherheit nachträglich doch wieder frei „gegeben" wird („kann die Freigabe . . . erlangen"), ist dem Gesetzestext auch zu entnehmen, zumal wenn man den verschiedenen Wortlaut der beiden Absätze (Die Sicherheit wird frei — Wer Sicherheit geleistet hat, kann deren Freigabe erlangen) berücksichtigt. In der hier getroffenen Auslegung 7 ist die Vorschrift auch allein sinnvoll: Der Beschuldigte ist dem Bürgen durch seine Ehre verpflichtet. Ist er der Versuchung erlegen, die Freiheit über die Ehre zu stellen, dann kann der Appell dessen, der ihm vertraut hat. noch am ehesten seine Umkehr bewirken. Dieses Verhältnis zwischen Bürgen und Beschuldigten benutzt der Staat, um Gewalt über den Beschuldigten zu erlangen, und er opfert dafür die bereits verfallene Sicherheit. Denn nicht an dieser, sondern nur an dem Beschuldigten selbst ist ihm gelegen (zust. M ü l l e r - S a x 3 a ) . 8. Verfahren. a) Maßnahmen. Die Entscheidung über die Aufhebung der Maßnahmen ergeht, sobald die Voraussetzungen dafür eingetreten sind, von Amts wegen oder — und das wird im Vorverfahren die Regel sein — auf Antrag der Staatsanwaltschaft. Auch der Beschuldigte ist 5 6 7

So L o b e - A l s b e r g III 2a zu § 121. So E b S c h m i d t Nachtr. 15, 16. Die mit der J o h n s (II 2 zu §§ 120 bis 122) und G e r d i n g s (S. 18, dort auch Übersicht über die Meinungen der älteren Literatur) übereinstimmt.

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§ 123 Anm. 9

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

antragsberechtigt, wenn er auch in der Regel wenig Interesse an der Aufhebung haben wird. Denn wenn er den Pflichten nicht nachkommt und sich den Beschränkungen nicht fügt, kann das für ihn keine nachteiligen Folgen haben. Nur im Falle des § 116 Abs. 3 (Verlassen der Wohnung nur unter der Aufsicht eines anderen) oder von ähnlichen Maßnahmen wird er, wenn der Haftbefehl aufgehoben ist, Anträge stellen. Auf die Aufhebung der Maßnahmen ist von Gericht und Staatsanwaltschaft besonders dann zu achten, wenn Polizeidienststellen mit Kontrollmaßnahmen beauftragt worden sind. b) Sicherheitsleistung. Mit dem Ereignis, das die Sicherheit frei macht, tritt die Folge, das Freiwerden, kraft Gesetzes ein (OLG Hamburg GA 37 224; BayObLGSt. 7 330). Die Sicherheit wird endgültig frei. Später eintretende Verfallgründe (§ 124 Abs. 1) heben die Freiheit selbst dann nicht wieder auf, wenn die frei gewordene Sicherheit noch nicht herausgegeben ist. Wird auch die Sicherheit von Rechts wegen frei, so ist damit dem Beschuldigten oder dem Bürgen noch nicht gedient. Daher muß das Freiwerden in der Regel durch eine Entscheidung festgestellt werden. Die Entscheidungen ergehen in der Regel von Amts wegen, bei Anzeige des Bürgen (Absatz 3) grundsätzlich auf Antrag. In diesem hat der Bürge darzulegen, daß der begründete Verdacht der Fluchtabsicht bestanden hatte. Das Gericht hat das und die Rechtzeitigkeit der Anzeige nachzuprüfen. In diesem Falle kann das Gericht dahin entscheiden, daß die Sicherheit nicht frei geworden sei, ohne daß es gleichzeitig die Sicherheit für verfallen erklärt. Das ist der Fall, wenn das Gericht verneint, daß ein begründeter Fluchtverdacht vorgelegen habe. In allen anderen Fällen kann das Gericht nur entweder das Freiwerden der Sicherheit feststellen oder, wenn es den Ausspruch des Verfalls erwägt, das Verfahren nach § 124 Abs. 2 einleiten. Das muß es tun, wenn die Staatsanwaltschaft beantragt, die Sicherheit für verfallen zu erklären. Wegen der Zuständigkeit des Gerichts s. § 126. Als Folge des Freiwerdens muß die Stelle, der die Verfahrensherrschaft zusteht, die Verwahrung oder sonstige Verstrickung lösen, auf Empfangsbefugnisse (2 zu § 116a) verzichten, die Löschung einer Grundschuld bewilligen usw. Die Sicherheit ist dem zurückzugeben oder zurückzuübertragen, der sie bestellt hat, doch sind inzwischen begründete Rechte Dritter zu beachten. Erkennt sie der Hinterleger nicht an und liegt kein Uberweisungsbeschluß vor, ist dem, der einen Anspruch glaubhaft macht, eine Frist zu stellen, damit er eine gerichtliche Entscheidung darüber herbeiführen kann, daß er zum Empfang der Sicherheit befugt ist. Tut er das nicht, erhält die Sicherheit, wer sie geleistet hat. Als Rechte Dritter könnenauch solche der Gerichtskasse in Betracht kommen; in diesem Fall wird regelmäßig ein Uberweisungsbeschluß vorliegen. Steht dem Gericht die Verfahrensherrschaft zu, dann hat es zugleich mit der Feststellung, daß die Sicherheit freigeworden ist, deren Freigabe anzuordnen. Es kann sich auch ohne die deklaratorische Feststellung des Freiwerdens damit begnügen, sie freizugeben. Steht die Verfahrensherrschaft der Staatsanwaltschaft zu, muß sich das Gericht umgekehrt auf den Ausspruch beschränken, daß die Sicherheit freigeworden ist. Die Freigabe ist alsdann Sache der Staatsanwaltschaft. Diese braucht, da die Sicherheit kraft Gesetzes freigeworden ist, zur Freigabe keine — deklaratorische — gerichtliche Entscheidung herbeizuführen 8 . Kommt es auf eine Handlung des Bürgen an (Absatz 3), so macht diese nur die Sicherheit des Handelnden frei, nicht auch die eines weiteren Bürgen oder Beschuldigten. 9. Beschwerde. Gegen die gerichtliche Entscheidung, daß eine Maßnahme aufgehoben oder eine Sicherheit freigeworden ist, steht der Staatsanwaltschaft, gegen eine verneinende Entscheidung der Staatsanwaltschaft, dem Beschuldigten und ggf. dem Bürgen, sofern die Entscheidung nicht von einem, auch einem erstinstanzlich entscheidenden, Strafsenat ergangen ist (§ 304 Abs. 4), die Beschwerde zu (§ 304 Abs. 1), auch wenn ein erkennendes Gericht die Entscheidung erlassen hat (§ 305 Satz 2). Hatte die Staatsanwaltschaft indessen beantragt, eine Sicherheit für verfallen zu erklären oder hatte das Gericht den Ausspruch des Verfalls erwogen, so richten sich das Verfahren und die (sofortige) Beschwerde nach § 124 Abs. 2. Weitere Beschwerde (§ 310 Abs. 1) der bei Aufhebung von Maßnahmen und Freigabe einer Sicherheit allein beschwerten Staatsanwaltschaft ist unstatthaft (a. A. E b S c h m i d t 8

A. A. M ü l l e r - S a x 4; K l 4: Deklamatorischer Gerichtsbeschluß notwendig.

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Neunter Abschnitt. Verhaftung und vorläufige Festnahme (Dünnebier)

§ 124 Anm. I; II 1

Nachtr. 22), weil die in Rede stehenden Entscheidungen nicht die Verhaftung, die Freiheitsentziehung selbst, betreffen. Wegen des Ausschlusses der weiteren Beschwerde bei Verfall der Sicherheitsleistung s. V 4 zu § 124.

§ 124 (1) Eine noch nicht frei gewordene Sicherheit verfällt der Staatskasse, wenn der Beschuldigte sich der Untersuchung oder dem Antritt der erkannten Freiheitsstrafe oder freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung und Besserung entzieht. (2) Vor der Entscheidung sind der Beschuldigte sowie derjenige, welcher für den Beschuldigten Sicherheit geleistet hat, zu einer Erklärung aufzufordern. Gegen die Entscheidung steht ihnen nur die sofortige Beschwerde zu. Vor der Entscheidung über die Beschwerde ist ihnen und der Staatsanwaltschaft Gelegenheit zur mündlichen Begründung ihrer Anträge sowie zur Erörterung über durchgeführte Ermittlungen zu geben. (3) Die den Verfall aussprechende Entscheidung hat gegen denjenigen, welcher für den Beschuldigten Sicherheit geleistet hat, die Wirkungen eines von dem Zivilrichter erlassenen, für vorläufig vollstreckbar erklärten Endurteils und nach Ablauf der Beschwerdefrist die Wirkungen eines rechtskräftigen Zivilendurteils. Entstehungsgeschichte: Die jetzige Fassung ist durch Art. 1 Nr. 1 StPÄG herbeigeführt worden. Sie stimmt inhaltlich mit dem bisherigen § 122 überein mit der Änderung, daß die Sicherheit jetzt auch verfällt, wenn der Beschuldigte sich dem Antritt einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung und Besserung entzieht. Bezeichnung bis 1965: § 122. Schrifttum: G e r d i n g , Der Verfall einer noch nicht freigewordenen Sicherheit im deutschen Strafprozeß, Diss. Jena 1907. Übersicht I. Freiwerden II. Verfall (Absatz I) 1. Untersuchung 2. Freiheitsstrafen 3. Freiheitsentziehende Maßregeln der Sicherung und Besserung 4. Geldstrafe 5. Entziehen 6. Einzelfälle 7. Folge III. Verfahren (Absatz 2) 1. Gegenstand der Entscheidung 2. Verteidiger

IV. Erste Instanz 1. Voraussetzungen 2. Zustellungsbevollmächtigter 3. Entscheidung 4. Beschwerde V. Zweite Instanz 1. Mündliche Verhandlung 2. Beteiligte 3. Termin 4. Weitere Beschwerde VI. Wirkung (Absatz 3)

I. Freiwerden. Die Sicherheit kann nur dann (noch) verfallen, wenn sie nicht schon freigeworden ist (OLG Hamburg DRiZ 1928 975). Ob das der Fall ist, hat das Gericht nach § 123 zu prüfen. Da keiner der Verfallgründe denkgesetzlich den Vorrang vor den Befreiungsgründen hat, sind für die Frage nach dem Schicksal der Sicherheit alle Umstände zu prüfen, die dazu führen können, daß sie frei wird oder daß sie verfallt. Die Entscheidung ist dann nach dem für die §§ 123, 124 erheblichen Ereignis zu treffen, das am frühesten eingetreten ist. Sowohl die Worte „noch nicht verfallen" in § 123 Abs. 1 als auch die „noch nicht freigeworden" in § 124 Abs. 1 sind, weil selbstverständlich, entbehrlich ( J o h n 883). II. Verfall (Absatz 1). 1. Untersuchung. Nach dem ersten der beiden angegebenen Gründe verfallt die Sicherheit, wenn der Beschuldigte sich der Untersuchung entzieht. Untersuchung ist das gesamte Straf797

§ 124

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Anm. II 2 - 4 verfahren vom ersten (in der Regel polizeilichen; § 163 Abs. 1) Angriff bis zur Einstellung (§ 170 Abs. 2), zur rechtskräftigen Ablehnung der Eröffnung des Hauptverfahrens (§ 204 Abs. 1), zur Außerverfolgungsetzung (§ 204 Abs. 2) oder bis zu einem rechtskräftigen Urteil, das auf Freispruch, Verurteilung, Anordnung einer Maßregel der Besserung oder Sicherung (§ 260 Abs. 1) erkennt, oder bis zu einem auf Einstellung lautenden Urteil (§ 260 Abs. 1), wenn der Einstellungsgrund nicht alsbald behebbar ist (Mangel der Anklage oder des Eröffnungsbeschlusses) und behoben wird. Im übrigen beendet das Einstellungsurteil wie auch die staatsanwaltschaftliche Einstellung die Untersuchung; sie beginnt wieder, wenn das Verfahren erneut fortgesetzt wird. Auch das Wiederaufnahmeverfahren und seine Vorbereitung gehören zur Untersuchung, jedoch nicht die Strafvollstreckung. Ist die Sicherheit in bezug auf andere Haftgründe als Fluchtgefahr bestellt worden, dann verfallt sie, wenn der Beschuldigte der im Auflagenbeschluß angegebenen Auflage, deren Verletzung in dem Beschluß ausdrücklich mit dem Verfall bedroht ist, zuwidergehandelt hat (5 Abs. 2 zu § 116). Wenn die Sicherheit nicht ausdrücklich auch wegen Fluchtgefahr bestellt worden ist, gilt Absatz 1 nicht. 2. Freiheitsstrafen. Die Sicherheit verfällt weiter, wenn der Beschuldigte sich dem Antritt der erkannten Freiheitsstrafe entzieht. Freiheitsstrafe ist die allgemeine Freiheitsstrafe ( § § 1 8 bis 20 StGB), die Jugendstrafe (§ 17 J G G ) und der Strafarrest (§ 8 WStG), auf die in der Sache erkannt worden ist, in der der Vollzug der Untersuchungshaft gegen den Beschuldigten ausgesetzt worden ist (§116). Jugendarrest, auch in der Form des Dauerarrestes (§ 16 JGG), ist ein Zuchtmittel (§ 13 Abs. 2 J G G ) und keine Strafe. Wenn es auch zuweilen möglich oder geboten ist, den Jugendarrest wie Strafe zu behandeln, so schließt der mit dem Jugendarrest verfolgte erzieherische Zweck es aus, seinen Vollzug durch Sicherheitsleistung zu sichern. Die Ersatzfreiheitsstrafe (§ 29 Abs. 1 StGB) ist keine Freiheitsstrafe i. S. des § 124 Abs. 1 D a die Ersatzfreiheitsstrafe an die Stelle einer Geldstrafe tritt, könnte der Begriff Freiheitsstrafe die Ersatzfreiheitsstrafe nur dann umfassen, wenn eine noch nicht freigewordene Sicherheitsleistung auch unter der Voraussetzung verfiele, daß sich der Beschuldigte der Vollstreckung einer Geldstrafe entzöge. Das ist indessen nicht der Fall (4). 3. Freiheitsentziehende Maßregeln der Sicherung und Besserung sind die Unterbringung in einer Heil- oder Pflegeanstalt, in einer Trinkerheilanstalt oder einer Entziehungsanstalt und die Sicherungsverwahrung (§ 4 2 a Nr. 1, 2, 4 StGB). Der Sicherungsverwahrung kann jedoch für den Verfall kaum Bedeutung zukommen. Denn sie kann nur neben einer Freiheitsstrafe verhängt (§ 42 e StGB) und erst vollzogen werden, wenn die Freiheitsstrafe verbüßt, bedingt ausgesetzt oder erlassen ist (§ 456b). Daher wird regelmäßig die Sicherheitsleistung durch den vorherigen Vollzug der Freiheitsstrafe freigeworden (§ 123 Abs. 1 Nr. 2) oder deshalb verfallen sein, weil sich der Beschuldigte dem Vollzug der Freiheitsstrafe entzogen hatte. 4. Die Geldstrafe fallt nicht unter § 124 Abs. I 2 . Wenn man § 124 zunächst beiseite läßt, ergibt sich aus § 112 als Zweck der Untersuchungshaft die Sicherung des Strafverfahrens. Das Verfahren endet, wenn das Urteil rechtskräftig wird. Von diesem Zeitpunkt an gibt es keine Untersuchungshaft mehr; Untersuchungshaft, die in diesem Zeitpunkt noch andauert, verwandelt sich, wenn im Urteil auf Freiheitsstrafe erkannt wird, in Strafhaft (II 10 Abs. 1 zu § 120). Wird nur eine Geldstrafe ausgeworfen, ist der Haftbefehl aufzuheben (II 10 Abs. 3 zu § 120). Wenn die Untersuchungshaft mit Rechtskraft des Urteils endet, das das Verfahren abschließt, kann der Vollzug des Haftbefehls von diesem Zeitpunkt an nicht mehr ausgesetzt werden, um mit weniger einschneidenden Maßnahmen den Zweck der — nicht mehr bestehenden — Untersuchungshaft zu erreichen ( § 1 1 6 Abs. 1 Satz 1). Kann er nicht ausgesetzt werden, dann können auch eine frühere Aussetzung und ihre ' J o h n l b zu § 117; M ü l l e r - S a x 2b; E b S c h m i d t 10 zu § 116; a. A. L o b e - A l s b e r g 114 zu § 121; G e r d i n g 35. 2 G e r d i n g 32; M ü l l e r - S a x 2 b ; K l 2 zu § 123; E b S c h m i d t Nachtr. 10 zu § 116; a. A. L o b e A l s b e r g II 4 zu § 121.

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Neunter Abschnitt. Verhaftung und vorläufige Festnahme (Dünnebier)

§ 124 Anm. II 5 , 6

Folgen nicht bestehenbleiben. Demzufolge müßte ohne § 124 Abs. 1 mit Rechtskraft des Urteils, d. h. mit dem Ende der Untersuchung, die Sicherheitsleistung als Surrogat der nicht mehr zulässigen Untersuchungshaft freiwerden. Die Anordnung in § 124 Abs. 1, daß die Sicherheitsleistung bis zum Antritt einer in dem Verfahren erkannten Freiheitsstrafe oder freiheitsentziehenden Maßregel haftet, ist eine Ausnahmevorschrift. Daß § 113 für Geldstrafendelikte die Untersuchungshaft als Verfahrenssicherung zuläßt, ist kein ausreichendes Argument dafür, § 124 Abs. 1 entgegen seinem Wortlaut dahin auszulegen, die Sicherheitsleistung hafte auch für die Vollstreckung von Geldstrafen. Hätte der Gesetzgeber das gewollt, dann hätte er von Strafen und Maßregeln gesprochen, nicht aber ausdrücklich von Freiheitsstrafen und freiheitsentziehenden Maßregeln. 5. Entziehen. Die Sicherheitsleistung ersetzt die Untersuchungshaft, sie soll dem Gericht die Lage sichern, die bei Untersuchungshaft bestände. Da die Untersuchungshaft der Verhinderung von Flucht und nicht der Bequemlichkeit des Gerichts dient, sind für den Zweck der Sicherheitsleistung die — zufalligen — Vorteile außer Betracht zu lassen, die sich durch die stete Anwesenheit eines verhafteten Beschuldigten ergeben. Danach sichert die Sicherheitsleistung das Verhalten eines Beschuldigten, der sich, ohne Fluchtabsichten zu hegen, für Gericht und Staatsanwaltschaft zur Verfügung hält, um Ladungen entgegenzunehmen und gerichtliche Gewalt zu dulden. Nur wer diese Lage für das Gericht verschlechtert, entzieht sich der Untersuchung, nicht aber, wer — wie dies auch sonst ein Beschuldigter tun kann — die nach den Prozeßvorschriften gebotene Mitwirkung verweigert und es auf gerichtlichen Zwang ankommen läßt, solange er nur diesem Zwang sich zur Verfügung hält. Danach ist Entziehen das von dem Beschuldigten oder mit seinem Wissen von anderen vorgenommene Verhalten, das den vom Beschuldigten beabsichtigten, erkannten oder in Kauf genommenen Erfolg hat, den Fortgang des Verfahrens oder den Antritt der erkannten Freiheitsstrafe oder der freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung und Besserung dauernd oder vorübergehend durch Aufheben der Bereitschaft zu verhindern, für Ladungen, Vollzugs- und Vollstreckungsmaßnahmen zur Verfügung zu stehen. Dagegen wird der Begriff nicht erfüllt durch bloßen Ungehorsam (Ausnahme: 6 Abs. 2), durch das Unterlassen, gemäß den Verfahrensvorschriften als Beschuldigter am Strafverfahren mitzuwirken (OLG Celle GA 60 483; K G GA 42 147; OLG München NJW 1947/48 704). Der Freiheitsstrafe oder der freiheitsentziehenden Maßregel kann sich der Beschuldigte erst entziehen, wenn auf sie erkannt worden ist. Wer jedoch vor dem Urteil flieht, um sich der Vollstreckung einer erst zu erkennenden Strafe zu entziehen, hat regelmäßig das Bewußtsein, sich zugleich dem Verfahren zu entziehen (OLG Celle NJW 1957 1203). Voraussetzung des Verfalls ist, daß sich der Beschuldigte der Untersuchung oder dem Antritt der Freiheitsstrafe oder freiheitsentziehenden Maßregel entzieht. Deshalb reicht der Versuch, also die erfolglose Betätigung des Willens mit dem vorgestellten Zweck, nicht aus, den Verfall herbeizuführen 3 . Der Erfolg ist indessen nicht erst eingetreten, wenn der Beschuldigte tatsächlich vom Richter benötigt worden ist, sondern schon, wenn er für einen möglicherweise notwendig werdenden Zwang nicht zur Verfügung steht. Darauf, ob ein solcher notwendig wird, kommt es nicht an (OLG Braunschweig NJW 1964 1485). 6. Einzelfälle. Anstalten zur Flucht (§ 116 Abs. 3 Nr. 2) sind kein Entziehen 4 . Dasselbe gilt für das Ausbleiben auf Ladung (§116 Abs. 3 Nr. 2), wenn es nur möglich bleibt, den Beschuldigten vorzuführen oder zu verhaften (OLG München A l s b . E 1 291; OLG Hamburg DRiZ 1928 975) 5 . In jenen Fällen ist zwar anzuordnen, daß der Haftbefehl zu vollziehen ist (§116 Abs. 3). Aber die Sicherheit verfallt nicht, sie wird vielmehr durch die Inhaftierung frei (§ 123 Abs. 2 in Vbdg. mit Absatz 1 Nr. 2); das Gesetz geht keinen Schritt weiter, als die Verfahrenssicherung gebietet. Demzufolge ist es auch kein Entziehen, wenn der Beschuldigte bei bekannter Anschrift eine Meldepflicht verletzt (OLG München NJW 1947/48 704). Er entzieht sich jedoch, wenn er sich verbirgt, wenn er ohne Aufenthalts3

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Beispiel: Der Beschuldigte veranlaßt, obwohl er seinen Wohnort nicht verläßt, die Post, seine Briefe an eine auswärtige Anschrift nachzusenden, kann aber gleichwohl ohne Schwierigkeiten zu einer Hauptverhandlung vorgeführt werden. M ü l l e r - S a x 2a zu § 122. Ebenso L o b e - A l s b e r g III 1 zu § 122; G e r d i n g 28.

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§124 Anm. II 7

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angabe verreist usw., und es dadurch unmöglich wird, die Gestellung zu erzwingen (OLG München A l s b . E 1 291; K G GA 42 147; OLG Celle GA 60 482); wenn er während eines Strafaufschubs flieht, in der Absicht, nach dessen Ablauf nicht zurückzukehren (OLG Colmar GA 39 185); wenn er während der Hauptverhandlung entweicht, so daß nach § 231 Abs. 2 verfahren werden muß (OLG Celle NJW 1957 1203). Selbstmordgefahr begründet keinen Haftgrund nach § 112 Abs. 2 Nr. 2 (11 Abs. 4 zu § 112). Demzufolge kann eine wegen dieses Haftgrundes geleistete Sicherheit nicht durch Selbstmord verfallen (OLG Hamburg GA 44 176). Zudem fallt beim erfolgreichen Selbstmord — der erfolglose ist als bloßer Versuch der Entziehung ohne Bedeutung (5 Abs. 3) — die Entziehungshandlung mit der Beendigung des Verfahrens so zusammen, daß ihr keine selbständige Bedeutung zukommt (OLG Dresden A l s b . E 1 293). Ist die Sicherheit zur Abwendung der Ungehorsamshaft (§ 230 Abs. 2, § 236) angeordnet worden, dann liegt das Sichentziehen in dem Ungehorsam gegen eine Ladung, weil der Zweck der Sicherheit in diesem Falle ist, weiteren Ungehorsam zu verhindern. 7. Folge. Tritt einer der vorgenannten Verfallgründe ein, dann verfallt die Sicherheit von Rechts wegen; die Entscheidung nach Absatz 2 stellt den Verfall nur fest (OLG Hamburg GA 37 224; BayObLGSt. 13 356; OLG Celle GA 60 482). Mit dem Verfall wird eine verpfändete Sache Eigentum des Landes, tritt die Wirkung eines aufschiebend bedingten selbstschuldnerischen ZahlungsVersprechens ein usw. Mit Rücksicht auf die rechtsgeschäftliche Bestellung der Sicherheit beantwortet sich die Frage, inwieweit das Land auch Eigentum an Gegenständen erwerben kann, die dem Beschuldigten oder dem „Bürgen" nicht gehören, nach den Bestimmungen des bürgerlichen Rechts über den Erwerb des Eigentums von Nichtberechtigten 6 . Die Sache verfällt dem Land, dessen Gerichte zur Zeit des Verfalls die Herrschaft über das Verfahren haben 7 , auch wenn der Haftbefehl von dem Gericht eines anderen Landes erlassen worden ist. Denn mit der Übernahme ist das gesamte Verfahren mit seinen prozessualen Folgen auf das neue Gericht übergegangen. Der Verfall ist endgültig. Er bleibt daher bestehen, wenn der Beschuldigte sich später stellt (OLG Colmar GA 39 185; OLG Celle NJW 1957 1203), oder wenn er verhaftet, freigesprochen, außer Verfolgung gesetzt oder nur zu einer Geldstrafe verurteilt wird. Die einzige A usnahme von der Endgültigkeit des Verfalls bildet die nachträgliche Freigabe nach der vom Bürgen bewirkten Gestellung eines Beschuldigten, der sich dem Verfahren oder der Strafverfolgung entzogen und damit den Verfall der Sicherheit herbeigeführt hatte (7 zu § 123). Die zuständige oberste Behörde der Justizverwaltung kann aus Billigkeitsgründen die Sicherheit ganz oder teilweise erstatten. Grundsätzlich wird dazu kein Anlaß bestehen. Denn die Entlassung gegen Sicherheitsleistung ist ein Vertrauensbeweis, der nicht allein auf die Furcht vor dem Vermögensverlust, sondern auch auf die Ehre des Beschuldigten abstellt (3 zu § 116 a). Stellt dieser die Freiheit über Vermögen und Ehre, dann kann nicht nachträglich über den Anteil gehandelt werden, zu dem das staatliche Vertrauen nicht auf der Sicherheitsleistung, sondern auf dem Versprechen eines Ehrenmannes beruht hat. Nur wenn die Sicherheitsleistung ersichtlich außer jedem Verhältnis zu dem Fluchtreiz — der auch von der Höhe der zu erwartenden Strafe abhängt — gestanden hat, oder wenn außergewöhnliche Umstände (z. B. die Notwendigkeit, der im Auslande in Not geratenen Familie dort tätig zu helfen, wenn vom Inlande aus keine Möglichkeit dazu besteht) der nicht verwerfliche Antrieb zur Flucht gewesen sind, kann erwogen werden, die verfallene Sicherheit — und auch dann meist nur teilweise — zu erstatten. Voraussetzung wird dazu allerdings stets sein, daß sich der Geflohene wieder gestellt hat und daß ohne Beweisverlust das Urteil herbeigeführt werden konnte. 6

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A. A. — originärer Erwerb ohne Rücksicht, wer Eigentümer war — L o b e - A l s b e r g II Abs. 2 zu § 122. A. A. — Land, dessen Gericht den Haftbefehl erlassen hat — L o b e - A l s b e r g II Abs. 2 zu § 122; E b S c h m i d t , Nachtr. 3.

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Neunter Abschnitt. § 124 Verhaftung und vorläufige Festnahme (Dünnebier) Anm. III 1, 2; IV 1,2 III. Verfahren (Absatz 2). 1. Gegenstand der Entscheidung. Das Gericht entscheidet über den Verfall der bestellten Sicherheit. Dabei ist der Umstand seiner Prüfung entzogen, ob die Voraussetzungen der Untersuchungshaft bestanden hatten, als der Vollzug des Haftbefehls gegen Sicherheitsleistung ausgesetzt worden ist. Dagegen hat das Gericht zu prüfen, ob die Sicherheit wirksam bestellt worden ist. Alsdann hat es festzustellen, ob sich der Beschuldigte der Untersuchung, dem Strafantritt oder dem Antritt einer freiheitsentziehenden Maßregel entzogen hat, und ob nicht vorher die Sicherung schon freigeworden war, oder ob der Bürge nachträglich Befreiung erlangt hat (7 zu § 123). Haben verschiedene Personen Sicherheit geleistet, dann kann die Entscheidung für jede von ihnen verschieden lauten, weil die Gründe des § 123 Abs. 2 nur dem zugutekommen, der im Sinne dieser Vorschrift gehandelt hat (8b Abs. 4 zu § 123). Die Zuständigkeit des zur Entscheidung berufenen Gerichts ergibt sich aus § 126. Bei welchem Gericht die Sicherheit bestellt worden ist, bleibt ohne Bedeutung. Wegen der Zuständigkeit für Entscheidungen, die nach Rechtskraft des Strafurteils ergehen, s. 8 Abs. 3 zu § 1268. 2. Verteidiger. Dem Beschuldigten kann nach § 140 Abs. 2 vom Vorsitzenden wegen der Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage ein Verteidiger bestellt werden. Bei der Dürftigkeit der ganzen Regelung kann es nicht überraschen, daß für den Bürgen Vorschriften wegen des Armenrechts fehlen. Da die den Verfall aussprechende Entscheidung die Wirkungen eines Zivilurteils hat (Absatz 3), muß dem Bürgen auch der gleiche Schutz gewährt werden, auf den er in einem Zivilverfahren Anspruch hätte. Für das Armenrecht gelten daher dieselben Vorschriften wie in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten. IV. Erste Instanz. 1. Voraussetzungen. Die Entscheidung darf nur ergehen, nachdem der Beschuldigte und der Bürge zu einer Erklärung aufgefordert worden sind. Bürge ist nur, wer selbst Sicherheit geleistet hat, nicht wer dem Beschuldigten Vermögensstücke zur Verfügung gestellt hat, damit dieser Sicherheit leiste. Pfandgläubiger oder sonst Berechtigte sind nicht zu hören (BayObLGSt. 10 21; 34 27). Ist der Beschuldigte, der selbst Sicherheit geleistet hatte, oder der Bürge verstorben, so ist der Erbe zur Erklärung aufzufordern; einem etwaigen Zustellungsbevollmächtigten des Verstorbenen kann die Aufforderung nicht zugestellt werden, weil seine Vollmacht mit dem Tode des Vollmachtgebers erloschen ist (BayObLGSt. 21 100). In der Aufforderung ist zweckmäßigerweise eine Erklärungsfrist zu setzen. Sie ist durch Zustellung bekanntzumachen (§ 35 Abs. 2 Satz 1); formlose Mitteilung (§ 35 Abs. 2 Satz 2) genügt nicht. Ist der Aufenthalt des Beschuldigten unbekannt, so kann die Aufforderung einem Zustellungsbevollmächtigten zugestellt werden (2). Kann die Aufforderung weder dem Beschuldigten noch einem Zustellungsbevollmächtigten in der nach § 37 vorgeschriebenen Weise im Inlande zugestellt werden, und erscheint eine Zustellung im Auslande unausführbar oder erfolglos, so ist nach § 40 zu verfahren. Die vorgenannten Aufforderungen sind Entscheidungsvoraussetzungen. Zusätzlich ist nach § 33 Abs. 2 die Staatsanwaltschaft zu hören. Die Erklärungen können schriftlich oder zu Protokoll der Geschäftsstelle des zuständigen oder jedes Gerichts abgegeben werden. Das Gericht muß bis zum Fristablauf warten, ehe es entscheidet. Es hat auch nach diesem Zeitpunkt aber vor der Entscheidung eingegangene Erklärungen zu berücksichtigen, kann aber entscheiden, auch wenn bis zu einer nach Fristablauf ergehenden Entscheidung keine Erklärungen eingegangen sind, oder wenn, falls keine Frist bestimmt war, eine angemessene Zeit verstrichen ist, ohne daß der Beteiligte eine Erklärung abgegeben hat. 2. Zustellungsbevollmächtigter. Für die Zustellung an einen Zustellungsbevollmächtigten ist es gleichgültig, ob er nach § 116 a Abs. 3 oder zwar ohne die Verpflichtung dieser Vorschrift, aber doch ausdrücklich als Zustellungsempfanger bestellt worden ist (6 a 8

Wenn in Beschwerdesachen die Oberlandesgerichte zuständig sind, entscheiden auch in Bayern diese und nicht das Bayerische Oberste Landesgericht (BayObLGSt. 1954 119= NJW 1955 233).

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zu § 37). Im letzten Falle ist es Sache des Zustellungsbevollmächtigten, seine Vollmacht niederzulegen, wenn er den Aufenthalt des Beschuldigten nicht kennt und keine Information für die Erklärung nach § 124 Abs. 2 Satz 2 erhalten hat. Daher reicht es für Zustellungen an den abwesenden Beschuldigten nicht aus, daß ein Verteidiger nach § 145 a Abs. 1 als ermächtigt gilt, Zustellungen für ihn in Empfang zu nehmen. Denn er kann sich der Zustellungsvollmacht nicht entledigen. Die Auffassung des Oberlandesgerichts Hamburg (NJW 1962 2363), eine allgemeine Zustellungsvollmacht genüge nicht, vielmehr sei stets eine nach § 116 a Abs. 3 erteilte (besondere) Vollmacht erforderlich, entbehrt der gesetzlichen Grundlage. Für die abgelehnte Ansicht könnte allerdings sprechen, daß nach § 116 a Abs. 3 nur dann ein Zustellungsbevollmächtigter bestellt werden muß, wenn der Haftvollzug gegen Sicherheitsleistung ausgesetzt wird, nicht aber in den sonstigen Fällen des § 116 Abs. 1, obwohl es auch dort, wenn auch in wenigen Fällen, ebenso dringend sein kann, die Zustellungsmöglichkeit sicherzustellen, wie im Falle des § 116 Abs. 1 Nr. 4. Der Gesetzesstand ist indessen historisch zu erklären: Bis zum 3. Strafrechtsänderungsgesetz konnte der Beschuldigte mit dem Vollzug der Untersuchungshaft nur gegen Sicherheitsleistung verschont werden. Als § 117 (jetzt 116) später erweitert wurde, ist § 119 (jetzt 116a Abs. 3) — wohl versehentlich — nicht ausdrücklich angepaßt worden; doch ist die Anweisung, einen Zustellungsbevollmächtigten zu bestellen, nach § 116 Abs. 1 Satz 1 jederzeit möglich. Der Sinn der Forderung, wer nicht im Inland wohne, müsse einen Zustellungsbevollmächtigten bestellen, ist von jeher in erster Linie gewesen, daß sich der Beschuldigte nicht Ladungen entziehen und das Verfahren verschleppen dürfe, und erst in zweiter Linie die Sorge, er könne sonst „durch scheinbar berechtigte Vorwände den Verfall d e r . . Sicherheit.. hintertreiben" (Mot. H a h n 1 134), wobei ohnehin nicht einzusehen ist, wie diese Sorge vermindert wird, wenn ein Bevollmächtigter Zustellungen entgegennimmt. Die flüchtige Redaktion kann nicht zu der Auffassung führen, die Zustellungsvollmacht des § 116 a Abs. 3 solle nicht allgemein die Zustellung sichern, sondern werde, wie das Oberlandesgericht Hamburg meint, gerade im Hinblick auf die Vorschriften über die Sicherheitsleistung erteilt. Vielmehr enthält § 116 a Abs. 3 nicht mehr als die prozessuale Last, die dauernde Möglichkeit für Zustellungen zu schaffen; einen besonderen Inhalt, der es rechtfertigte, im Verfallverfahren nur die Zustellung an den nach § 116 a Abs. 3 Ermächtigten als wirksam anzusehen, hat die Zustellungsvollmacht auf Grund jener Vorschrift nicht. Ihr Unterschied zu einer sonstigen Zustellungsvollmacht liegt allein darin, daß sie unkündbar ist (8 Abs. 3 zu § 116 a). 3. Die Entscheidung ergeht als Beschluß im schriftlichen Verfahren, doch ist es zulässig, die Beteiligten mündlich zu hören. Der Beschluß ist, wenn er nicht von einem Strafsenat erlassen wird, mit Rechtsmittelbelehrung (§ 35a) zu versehen und durch Zustellung (§ 35 Abs. 2 Satz 1) bekanntzumachen. Bei der Entscheidung eines Strafsenats genügt die formlose Mitteilung (§ 35 Abs. 2 Satz 2). Die Entscheidung lautet dahin, daß die Sicherheit der Staatskasse verfallen ist; daß die Sicherheit freigeworden ist; oder daß der Antrag der Staatsanwaltschaft, die Sicherheit für verfallen zu erklären, oder derjenige des Beschuldigten oder des Bürgen, ihr Freiwerden festzustellen, als unbegründet zurückgewiesen wird. Zu den letzteren Entscheidungen kommt es, wenn weder ein Entziehen noch ein Freiwerden fesgestellt ist. In der Regel wird allerdings die Sicherheit entweder verfallen oder aber, wenn dies nicht der Fall ist, wegen Inhaftierung freigeworden sein. Wegen des Überganges des Eigentums und der Nutzungen ist der Tag des Verfalls anzugeben; wenn er nicht feststellbar ist, der Tag, an dem der Verfall frühestens eingetreten ist. Doch genügt es, wenn das Datum des Verfalls den Gründen zu entnehmen ist. In diesen (§ 34) ist auch der Grund des Verfalls mitzuteilen. 4. Beschwerde. Gegen die Entscheidung ist die Berufung auf den Rechtsweg, wie etwa in § 6 Abs. 3 EntschG geregelt, nicht statthaft. Den Beteiligten steht vielmehr nur die sofortige Beschwerde zu. Ist die Entscheidung von einem Strafsenat, auch von einem erstinstanzlich entscheidenden, erlassen worden, so ist sie unanfechtbar (§ 304 Abs. 4). Die Beteiligten sind in Absatz 2 abschließend aufgeführt: der Beschuldigte sowie die, die für ihn Sicherheit geleistet haben (1 Abs. I). Dazu kommt noch die Staatsanwaltschaft (§ 296). Daß die allein zugelassene Beschwerde eine sofortige (§ 311) ist, sagt das Gesetz nur für den Beschuldigten und den Bürgen. Die hieraus hergeleitete Ansicht, daß die Staats-

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§ 124 Anm. V 1, 2

anwaltschaft kein Beschwerderecht habe (OLG Königsberg A l s b . E 1 296), ist unhaltbar (OLG Celle GA 48 151). Es ist aber auch undenkbar, daß der Staatsanwaltschaft nur die einfache Beschwerde zustehen sollte, weil sonst der Sinn der sofortigen Beschwerde, rasch zu einer abschließenden Regelung zu kommen, wieder aufgehoben würde. Daher ist auch die Beschwerde der Staatsanwaltschaft (§ 296) eine sofortige 9 . Die der Staatsanwaltschaft zustehende Beschwerde hat auch der Nebenkläger (§§ 397, 390 Abs. 1 Satz 1). Der P r i v a t k l ä g e r scheidet als Beschwerdeführer aus; denn in Privatklagesachen ist die Untersuchungshaft und damit die Sicherheitsleistung unstatthaft (4 vor § 112). Hat das erste Gericht nicht in der Sache entschieden, sondern eine Entscheidung mangels Zuständigkeit abgelehnt, dann ist, weil die Entscheidung nicht den Verfall oder Nichtverfall der Sicherheit ausspricht, nicht die sofortige, sondern die einfache Beschwerde gegeben (BayObLGSt. 28 184). V. Zweite Instanz. 1. Mündliche Verhandlung. Das Verfahren in der Beschwerdeinstanz ist eine mündliche Verhandlung der Art, wie sie jetzt in § 118a geregelt ist. Wenn entgegen der ursprünglichen Absicht (Mot. H a h n 2 1261, 1263) nicht von Verhandlung gesprochen worden ist, so sollte damit nur vermieden werden, die Bestimmungen über die Hauptverhandlung, namentlich über die Anwesenheitspflicht, zu übernehmen (Mot. H a h n 2 1484). Zweck der Regelung soll sein, daß die Beteiligten und der Staatsanwalt gemeinschaftlich vorgeladen werden sollen, damit sie Gelegenheit haben, miteinander und mit dem Gericht die Sach- und Rechtslage, auch das Ergebnis etwaiger Ermittlungen, zu erörtern. Der Beschuldigte wird mündlich gehört zu dem Zweck, die Sache mit ihm zu erörtern. Kann dieser Zweck deshalb nicht erfüllt werden, weil der Beschwerdeführer die Beschwerdefrist versäumt hat und seine Beschwerde daher als unzulässig verworfen werden muß, dann hat die mündliche Verhandlung zur Sache keinen Sinn; sie entfällt (OLG Neustadt JZ 1952 663) 10 . Hängt die Zulässigkeit aber davon ab, ob der Beschwerdeführer Bürge oder nur Hintermann ist, dann steht die Erörterung dieser Zulässigkeitsfrage einer Sacherörterung gleich, so daß darüber nur entschieden werden darf, nachdem mündlich verhandelt worden ist oder die Beteiligten die ihnen dazu gegebene Gelegenheit nicht wahrgenommen haben. Nähere Vorschriften über die mündliche Verhandlung fehlen. Danach ist es weitgehend dem Gericht überlassen, wie es die Verhandlung ausgestalten will. Es hat dabei indessen gewisse allgemeine Grundsätze zu beachten; diese sind der Strafprozeßordnung, namentlich den Vorschriften über die Hauptverhandlung und dem § 118a zu entnehmen. Nach diesen Grundsätzen wird sich die mündliche Verhandlung im allgemeinen folgendermaßen abwickeln: 2. Beteiligte. Das Gericht stellt, soweit das Aktenmaterial nicht ausreicht, Ermittlungen an. Der Vorsitzende bestimmt den Termin zur mündlichen Verhandlung und benachrichtigt hiervon den Beschuldigten, seinen Verteidiger, den Bürgen und die Staatsanwaltschaft, gleichviel wer von ihnen Beschwerde eingelegt hat. Da die Beteiligten nicht zum Erscheinen verpflichtet sind, scheidet die Form der Ladung (§ 214) aus, doch ist die Zustellung (§ 35 Abs. 2 Satz 1) angebracht. Formlose Mitteilung (§ 35 Abs. 2 Satz 2) genügt in der Regel nicht, weil das Gelegenheitgeben zum mündlichen Vortrag Sachentscheidungsvoraussetzung ist und daher in der mündlichen Verhandlung nachweisbar sein muß. Befindet sich der Beschuldigte nicht auf freiem Fuß (11 zu § 35), so ist er, auch wenn er sich auswärts in Haft befindet, vorzuführen, wenn er nicht darauf verzichtet. Nur so kann er sein Recht wahrnehmen, seine Anträge mündlich zu begründen 11 . Weder § 350 Abs. 2 noch § 193 Abs. 4 regelt vergleichbare Verhältnisse, so daß die Vorschriften nicht entsprechend angewendet werden können. Weniger Bedenken bestehen, § 118 a Abs. 2 entsprechend anzuwenden ( E b S c h m i d t 12 zu § 122); denn dadurch würde erzielt, daß die Rechte des abwesenden Beschuldigten ein Verteidiger wahrnimmt ( § 1 1 8 Abs. 2 Satz 2). Es 9 10 11

G e r d i n g 59; Eb S c h m i d t , Nachtr. 14; M ü l l e r - S a x 3 (3 c) zu § 122; Kl 3. Ebenso M ü l l e r - S a x 4 a zu § 122; a. A. N i e t h a m m e r JZ 1952 663. G e r d i n g 69; F e i s e n b e r g e r 6 zu § 122: M ü l l e r - S a x 4 a : a. A. — kein Recht auf Vorführung zum Termin — H ä r t u n g 9 zu § 122. zweifelnd, aber eher zustimmend K l 3.

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erscheint indessen unzulässig, den Fall einer notwendigen Verteidigung ohne gesetzliche Anordnung allein im Wege der Auslegung zu schaffen. 3. Termin. Das Gericht verhandelt in nichtöffentlicher Sitzung in Beschlußbesetzung. Die Verhandlung findet statt, gleichviel ob die Beteiligten sich erklärt haben und erschienen sind oder ob sie Erklärungen unterlassen haben und ausgeblieben sind. Da sie nicht zu erscheinen brauchen, können sie sich vertreten lassen, der Beschuldigte durch einen Verteidiger (vgl. RGSt. 9 80), der Bürge durch einen Rechtsanwalt. Die Staatsanwaltschaft braucht sich nicht zu beteiligen, sollte es aber tun, weil sie nur auf Grund der mündlichen Verhandlung, deren Verlauf sie nicht sicher voraussehen kann, in der Lage ist, sachgemäße Anträge zu stellen. Das Gericht kann Zeugen und Sachverständige vernehmen. § 250 gilt indessen nicht; das Gericht kann vielmehr den Akteninhalt vortragen. Werden weitere Ermittlungen erforderlich, so ist nach deren Abschluß erneut mündlich zu verhandeln; die Beteiligten müssen stets Gelegenheit haben, ihr Ergebnis mündlich zu erörtern ( G e r d i n g 67). An der mündlichen Verhandlung nimmt ein Urkundsbeamter der Geschäftsstelle teil. Er führt über sie ein Protokoll (§§271 bis 273); § 274 gilt nicht. Die Entscheidung ergeht als Beschluß auf Grund der mündlichen Verhandlung. Was in dieser nicht vorgetragen ist, darf das Gericht nicht berücksichtigen. Die Entscheidung ist nach Möglichkeit am Schluß der mündlichen Verhandlung zu verkünden, sonst baldmöglich schriftlich zu erlassen. Wegen des Inhalts s. IV 3 Abs. 2, wegen der Bekanntmachung § 35. 4. Weitere Beschwerde ist nicht statthaft (§ 310). Das wäre sie nur, wenn Gegenstand der Entscheidung „die Verhaftung" wäre. Darunter ist nun zwar nicht nur die Anordnung der Untersuchungshaft zu verstehen, sondern alles, was sich auf den Entzug der persönlichen Freiheit selbst (OLG Celle NJW 1957 393) - nicht auf die Modalitäten dieses Entzugs (OLG Nürnberg HESt. 2 87) — bezieht. Hier aber ist Gegenstand der Entscheidung nicht der Freiheitsentzug, sondern das Schicksal der Sicherheitsleistung 12 . VI. Wirkung (Absatz 3). Die redaktionell unglücklich abgefaßte Vorschrift hat folgenden Sinn: Die strafgerichtliche Entscheidung steht, falls sie nicht oder nicht mehr anfechtbar ist, dem rechtskräftigen Zivilendurteil gleich, in den anderen Fällen — wenn sie noch anfechtbar ist oder wenn sie zulässigerweise angefochten, aber über die Anfechtung noch nicht entschieden ist — dem für vorläufig vollstreckbar erklärten Zivilendurteil. Danach ist die rechtskräftige Entscheidung des Strafrichters endgültig. Der Weg des Zivilprozesses ist zwischen dem, der die Sicherheit im eigenen Namen geleistet hat, und dem Staat ausgeschlossen (BayObLGSt. 28 185). Die Vorschrift legt der Entscheidung die angegebene Wirkung nur im Verhältnis vom Staat zum Bürgen bei. Keinem Zweifel unterliegt es, daß das Verhältnis zwischen dem Bürgen und dem Beschuldigten und zwischen dem, der Sicherheit geleistet hat, und einem, der ihm die Mittel dazu gegeben hat, von der Entscheidung unberührt bleibt. Ohne Bedenken ist auch zu folgern, daß eine Entscheidung, die das Freiwerden der Sicherheit feststellt, für das Verhältnis dessen, der die Sicherheit geleistet hat, gegenüber dem Staat nicht die Wirkung eines Zivilurteils hat. Dagegen ist es zweifelhaft, ob „eine so singuläre Vorschrift wie die des § 124 Abs. 3 weiter, als ihr nächster Wortsinn es rechtfertigt, zulässigerweise angewendet werden d a r f ' ( V o i t u s 467), d. h. ob die Wirkung eines Zivilurteils auch im Verhältnis des Staates zu dem Beschuldigten eintritt, der selbst Sicherheit geleistet hat. Man muß die Frage gegen den Wortlaut des Gesetzes bejahen, weil nicht ersichtlich ist, warum die allgemein notwendige Wirkung auf das Verhältnis des Staates zum Bürgen beschränkt sein sollte. Die Entscheidung erweitert, da sie nur deklaratorischen Charakter hat, die II 7 dargestellten Folgen nicht. Sie ermöglicht aber die Zwangsvollstreckung gegen den Bürgen, der ein Zahlungsversprechen abgegeben hatte, gestattet die zwangsweise Wegnahme von zur Sicherung übereigneten Gegenständen, die Zwangsversteigerung aus einer Grundschuld usw. 12

OLG Justiz Kl 3; 10 zu

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Königsberg JR 1928 292; OLG Hamburg LZ 1929 70; K G JW 1938 314; OLG Karlsruhe 1963 63; OLG Hamm NJW 1963 1264; E r b s III zu § 1 2 2 ; D a l l i n g e r 6 zu § 1 2 2 ; M ü l l e r - S a x 4 d ; a. A. BayObLG DRiZ 1926 63; L o b e - A l s b e r g V 4 zu § 122; H ä r t u n g § 122; E b S c h m i d t Nachtr. 17 und die gesamte ältere Literatur; Nachweis bei G e r d i n g 72.

Neunter Abschnitt. Verhaftung und vorläufige Festnahme (Dünnebier)

§ 125 Anm. 1

§ 125 (1)Vor Erhebung der öffentlichen Klage erläßt der Amtsrichter, in dessen Bezirk ein Gerichtsstand begründet ist oder der Beschuldigte sich aufhält, auf Antrag der Staatsanwaltschaft oder, wenn ein Staatsanwalt nicht erreichbar und Gefahr im Verzug ist, von Amts wegen den Haftbefehl. (2) Nach Erhebung der öffentlichen Klage erläßt den Haftbefehl das Gericht, das mit der Sache befaßt ist, und, wenn Revision eingelegt ist, das Gericht, dessen Urteil angefochten ist. In dringenden Fällen kann auch der Vorsitzende den Haftbefehl erlassen. (3) In der Voruntersuchung erläßt der Untersuchungsrichter den Haftbefehl. Er bleibt auch nach dem Schluß der Voruntersuchung zuständig, bis die Staatsanwaltschaft die Akten mit ihrem Antrag dem Gericht vorlegt. Entstehungsgeschichte: Früher regelte § 125 die Zuständigkeit zum Erlaß des Haftbefehls und für die Entscheidungen über die Untersuchungshaft vor Erhebung der öffentlichen Klage und § 124 diejenige nach ihrer Erhebung. Durch Art. 1 Nr. 1 StPÄG ist der Stoff auf die § § 1 2 5 und 126 in der Weise verteilt worden, daß die erste Vorschrift die Zuständigkeit zum Erlaß des Haftbefehls, die andere diejenige für die späteren Entscheidungen über die Untersuchungshaft darstellt. Die Worte „wenn ein Staatsanwalt nicht erreichbar" sind eingefügt worden durch Art. 3 Nr. 1 des 8. StRÄndG. Bezeichnung der Absätze 2 und 3 bis 1965: § 124 Abs. 1 bis 3. 1. Vor Erhebung der öffentlichen Klage (Absatz 1) ist zuständig, den Haftbefehl zu erlassen, jeder Amtsrichter (§ 162 Abs. 1), in dessen Bezirk ein Gerichtsstand ( § § 7 bis 13 a, 15) begründet ist. Die mehreren Amtsrichter stehen zur Wahl des Staatsanwalts; er ist, wenn einer von ihnen seinen Antrag ablehnt, nicht gehindert, ihn bei einem anderen neu zu stellen; allerdings sollte das vermieden werden. In Sachen, die nach § 120 G V G zur Zuständigkeit des Oberlandesgerichts gehören, können auch der Ermittlungsrichter des Oberlandesgerichts oder des Bundesgerichtshofes den Haftbefehl erlassen (§ 168a Abs. 1). Auch diese Zuständigkeit besteht neben den vorgenannten und den im nächsten Absatz behandelten, jedoch sind, soweit irgend möglich, die genannten Ermittlungsrichter anzugehen. Eine weitere Zuständigkeit hat der Amtsrichter, in dessen Bezirk sich der Beschuldigte — ohne daß dort für ihn ein Gerichtsstand gegeben ist — in dem Zeitpunkt, wo der Haftbefehl zu erlassen ist (OLG Hamm G A 1968 343), tatsächlich aufhält, gleichviel ob für längere oder für kürzere Zeit oder auch, etwa auf der Durchfahrt in einem Kraftwagen, nur vorübergehend. Der Begriff umfaßt den des Betroffenwerdens (§ 125 Abs. 2 a. F.). Er ist deutlich abgegrenzt von dem des Ergriffenwerdens, der in § 9 dazu dient, einen Gerichtsstand zu begründen. Der Gegensatz zu diesem Begriff, der auf ein zeitliches Ereignis abstellt, zeigt, daß es für die aus dem Aufenthalt abgeleitete Zuständigkeit — anders als bei § 9 (1 zu § 9) — nicht darauf ankommt, wie der Beschuldigte dorthin gekommen ist, wo er sich in dem Augenblick befindet, in dem die amtsrichterliche Entscheidung über die Anordnung der Untersuchungshaft notwendig wird. Auch wenn der Beschuldigte nicht dem Amtsrichter, in dessen Bezirk er festgenommen (§ 128 Abs. 1) ist, sondern dem Amtsrichter eines anderen Bezirks vorgeführt wird, hält er sich dort auf (BayObLGSt. 30 35; O L G Celle NdsRpfl. 1956 39). Auf der anderen Seite wird ein unzuständiger Amtsrichter nicht dadurch zuständig, daß der Beschuldigte, der aufgrund eines von dem unzuständigen Richter erlassenen Haftbefehls in Untersuchungshaft ist, später in dessen Bezirk verbracht wird (OLG H a m m JMB1NRW 1969 167). D a die Zuständigkeit dem Amtsrichter beigelegt ist, ist bei strafbarer Handlung in der Hauptverhandlung (§ 183 GVG) das verhandelnde Gericht nicht zuständig, den Haftbefehl zu erlassen (OLG Hamm N J W 1949 191), falls nicht der nach § 165 zuständige Richter als Einzelrichter verhandelt und Gefahr im Verzug vorliegt. Hat der Amtsrichter abgelehnt, die Untersuchungshaft anzuordnen, dann erlangen die mit Beschwerde und weiterer Beschwerde angegangenen Gerichte die Zuständigkeit, den Haftbefehl zu erlassen. Wird die öffentliche Klage erhoben, erlischt die Zuständigkeit des Amtsrichters (OLG

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§125 Anm. 2, 3

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

Oldenburg NJW 1957 233) und damit für das Beschwerdeverfahren die Zuständigkeit der Gerichte, die dem Amtsrichter übergeordnet sind, falls sie nicht zugleich über dem Gericht stehen, bei dem die Klage erhoben worden ist. Zuständig für Beschwerden werden diejenigen Gerichte, die dem nach § 126 Abs. 2 zuständigen Gericht als Beschwerdegerichte übergeordnet sind ( D ü n n e b i e r MDR 1968 186). 2. Veranlassung der Entscheidung. Der Haftbefehl ergeht auf Antrag der Staatsanwaltschaft, bei Gefahr im Verzug von Amts wegen. Wenn die Staatsanwaltschaft die öffentliche Klage noch nicht erhoben hat, dürfen der Amtsrichter (§ 162 Abs. 1, § 125 Abs. 1) und die Ermittlungsrichter des Bundesgerichtshofs oder des Oberlandesgerichts (§ 168a Abs. 1) die Untersuchungshaft grundsätzlich nur auf Antrag der Staatsanwaltschaft anordnen, und in entsprechender Anwendung von § 120 Abs. 3 Satz 1 über deren Antrag, den Haftbefehl nur wegen bestimmter Taten zu erlassen (4 Abs. 2 zu § 114), nicht hinausgehen; sie können aber den Antrag ablehnen oder hinter ihm zurückbleiben, das letztere aber nur, wenn sie wegen einer von mehreren Taten den dringenden Tatverdacht oder den Haftgrund verneinen, nicht — wie der Staatsanwalt — aus Gründen der Zweckmäßigkeit. Ist kein Staatsanwalt erreichbar und Gefahr im Verzug, dann kann der Richter die Untersuchungshaft auch von Amts wegen anordnen (§§ 165, 125 Abs. 1), doch ist der Haftbefehl auf Antrag der Staatsanwaltschaft aufzuheben (§ 120 Abs. 3 Satz 1) oder in entsprechender Anwendung dieser Vorschrift auf von der Staatsanwaltschaft zu bestimmende Straftaten zu beschränken. § 125 Abs. 1 gilt unabhängig davon, ob der Beschuldigte bei der Entscheidung des Amtsrichters noch frei oder nach § 127 Abs. 1 und 2 vorläufig festgenommen ist. Gefahr im Verzug liegt — was durch die Neufassung klargestellt wird — vor, wenn ohne das Handeln des Amtsrichters die Verhaftung wegen der Unerreichbarkeit des Staatsanwalts in Frage gestellt würde, oder wenn ein vorläufig Festgenommener (§ 127 Abs. 1 und 2) bei vorheriger Entschließung der Staatsanwaltschaft nicht unverzüglich, spätestens am Tage nach der Verhaftung, dem Richter vorgeführt werden könnte. Gefahr im Verzug liegt also nicht vor, wenn der erreichbare Staatsanwalt im Gegensatz zu der Auffassung des Richters gegen einen zur Flucht entschlossenen Beschuldigten keinen Antrag stellt, die Untersuchungshaft anzuordnen, etwa weil er die Tat nicht für strafbar hält oder weil er weiß, daß ein notwendiger Strafantrag nicht gestellt werde. 3. Nach Erhebung der öffentlichen Klage (Absatz 2) erläßt den Haftbefehl das mit der Sache befaßte Gericht. Erhebung der öffentlichen Klage (§ 170 Abs. 1) sind der Antrag auf Voruntersuchung (§179), die schriftliche Anklage (§199 Abs. 2, § 200), die Nachtragsanklage (§266 Abs. 2), der Antrag auf Erlaß eines Strafbefehls (§ 408 Abs. 1) und — die Klage ersetzend — der polizeiliche Antrag auf Erlaß einer amtsrichterlichen Strafverfügung (§413 Abs. 1) sowie der Antrag des Finanzamts (Hauptzollamts) auf Erlaß eipes Strafbefehls (§ 435 AO). Die Vorschrift ist entsprechend anzuwenden auf den Antrag im Sicherungsverfahren (§ 429a, § 126 a Abs. 2). Im beschleunigten Verfahren wird die Anklage entweder durch Einreichen einer Anklageschrift oder in der Hauptverhandlung mündlich erhoben (§ 212a Abs. 2). Im letzten Falle wird nach dem Grundsatz, daß das sachnächste Gericht entscheiden soll, die Zuständigkeit des angerufenen Gerichts nicht erst mit der mündlichen Anklage, sondern schon mit dem Antrage begründet, die Sache im beschleunigten Verfahren abzuurteilen (§212). Mit der Sache befaßt ist das Gericht, das nach der Prozeßlage Herr des Verfahrens ist, mit anderen Worten dasjenige Gericht, das dem Beschuldigten, der Sache und den Akten am nächsten ist, das sachnächste Gericht, wenn es (als erstinstanzliches oder als Berufungsgericht) zuständig ist, in der Strafsache selbst zu entscheiden. Gelangt die Sache, bevor das Hauptverfahren eröffnet ist, mit Beschwerde (etwa gegen einen Beschluß, der die Ablehnung eines Richters für unbegründet erklärt) an ein höheres Gericht, so ist das Beschwerdegericht nicht mit der Sache befaßt. Das gilt auch in allen Fällen, in denen gegen Entscheidungen des erkennenden Gerichts entgegen § 305 Satz 1 Beschwerde zulässig ist und eingelegt wird. Die Sachherrschaft des ersten Gerichts endet erst, nachdem die des Berufungsgerichts begründet worden ist. Das Berufungsgericht wird erst zuständig, wenn die Akten

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s

Anm. 4, 5

bei ihm eingegangen sind; bis dahin kann das erste Gericht die Akten zurückfordern und damit seine Sachherrschaft weiter ausüben; das Berufungsgericht dagegen kann eine ihm künftig erwachsende Herrschaft nicht vorwegnehmen. Daher endet die Zuständigkeit des Gerichts erster Instanz nicht schon dann, wenn 1 bei ihm Berufung eingelegt wird ( W u n d e r LZ 1927 133). War die Zuständigkeit des Berufungsgerichts begründet, dann geht sie, wenn die Berufung zurückgenommen wird, wieder auf das Gericht der ersten Instanz zurück (BayObLGSt. 32 128). Da das Revisionsgericht nur mit der Rechtsfrage befaßt ist, bleibt, wenn Revision eingelegt ist, das Tatgericht zuständig, dessen Urteil angefochten ist. Im Wiederaufnahmeverfahren (5 zu § 112) ist das Gericht zuständig, bei dem die Wiederaufnahme betrieben wird. In dringenden Fällen kann der Vorsitzende den Haftbefehl erlassen. Dringend ist der Fall, wenn das Kollegium nicht alsbald zusammengerufen werden kann und die Gefahr besteht, daß der Haftbefehl zu spät käme, wenn gewartet würde, bis das Kollegium zusammen wäre. Da das Gericht während der Hauptverhandlung versammelt ist, ist der Vorsitzende in diesem Prozeßabschnitt grundsätzlich nicht zuständig. Ob ein Fall dringlich ist, entscheidet der Vorsitzende nach seinem pflichtgemäßen Ermessen. Erkennt er die Dringlichkeit, so muß er den Haftbefehl auch erlassen, weil er sonst dessen Zweck vereiteln würde. Das „kann" gibt ihm kein freies Ermessen, sondern hat dieselbe Bedeutung wie in § 112 (19 zu § 112). Der Vorsitzende bedarf keiner Bestätigung durch das erkennende Gericht, muß es aber unterrichten. Das Gericht kann auf Antrag oder von Amts wegen abweichend entscheiden. 4. Voruntersuchung (Absatz 3). Das System der §§ 125, 126, das sachnächste Gericht zuständig zu machen, geht bei der Voruntersuchung nicht rein auf, weil während dieses Verfahrensabschnitts die Entscheidungen auf das Gericht (§ 180 Abs. 1 Satz 2, § 181 Abs. 1 Satz 2, § 197 Abs. 2, § 198 Abs. 1) und auf den Untersuchungsrichter (§§ 184, 189, 191, 197 Abs. 1) verteilt sind. Das Gesetz entscheidet dahin, daß allein der Untersuchungsrichter zuständig ist, solange die Voruntersuchung dauert. Die Voruntersuchung beginnt mit ihrer Eröffnung (§ 184), doch kann für den Beginn der Zuständigkeit des Untersuchungsrichters hierauf nicht abgestellt werden. Das Wort „in" (der Voruntersuchung) weist nicht, wie die herrschende Ansicht 2 meint, zwingend auf jenen Zeitpunkt hin. Der Beginn der Zuständigkeit ist sicherer dem Sinn der Zuständigkeitsregelung zu entnehmen. Er geht dahin, das sachnächste Gericht mit der Entscheidung zu betrauen. Da der Untersuchungsrichter sich als erster in die Sache einarbeiten muß, ist er ihr näher als das Gericht, das nur in besonderen Fällen mit ihr befaßt wird. Der Untersuchungsrichter ist daher zuständig, sobald der Antrag auf Voruntersuchung (§ 179) bei ihm eingegangen ist. Seine Zuständigkeit endet mit dem Schluß der Voruntersuchung. Wann sie geschlossen ist, ist streitig, braucht aber hier nicht erörtert zu werden. Denn das Gesetz schreibt ausdrücklich vor, daß der Untersuchungsrichter solange zuständig bleibt, bis die Staatsanwaltschaft die Akten dem Gericht vorlegt mit ihrem Antrage, das Hauptverfahren zu eröffnen oder den Angeschuldigten außer Verfolgung zu setzen (§ 198 Abs. 2). 5. Verhältnis zu § 126. Die §§ 125 und 126 regeln die Zuständigkeit, einen Haftbefehl zu erlassen (§ 125) und die weiteren richterlichen Entscheidungen, die sich auf die Haft beziehen, zu treffen (§ 126). § 125 befaßt sich nur mit dem Erlaß des Haftbefehls, der Anordnung der Untersuchungshaft (§ 114 Abs. 1). Die Zuständigkeit, einen Haftbefehl zu erlassen, umfaßt auch die, einen hierauf gerichteten Antrag der Staatsanwaltschaft abzulehnen. Nur der Vorsitzende einer Kammer oder eines Senats (Absatz 2 Satz 2) ist hierfür nicht zuständig, weil die Ablehnung nicht dringlich ist. Will er einen beantragten Haftbefehl nicht erlassen, hat er unverzüglich die Entscheidung des Gerichts einzuholen. Die Aussetzung des Haftvollzugs ist auch dann eine weitere Maßnahme i. S. des § 126, wenn sie mit dem Erlaß des Haftbefehls verbunden wird. Erläßt der Vorsitzende einen Haftbefehl und will er gleichzeitig dessen Vollzug aussetzen, dann bedarf er zum Aussetzen der Zustimmung der Staatsl 2

S o L o b e - A l s b e r g I I I 4 z u § 124; H ä r t u n g 2 b zu § 124. L o b e - A l s b e r g I I I 2 b z u § 124; H ä r t u n g 2 a zu § 124; M ü l l e r - S a x 4; wie hier Kl 2 B.

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§ 126 Anm. 1

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anwaltschaft. Erhält er sie nicht oder will er sie nicht beiziehen, hat er unverzüglich die Entscheidung des Gerichts herbeizuführen (§ 126 Abs. 2 Satz 3). Den Haftbefehl hat er indessen gleichwohl alsbald zu erlassen.

§ 126 (1) Vor Erhebung der öffentlichen Klage ist für die weiteren richterlichen Entscheidungen und Maßnahmen, die sich auf die Untersuchungshaft oder auf die Aussetzung des Haftvollzugs (§ 116) beziehen, der Amtsrichter zuständig, der den Haftbefehl erlassen hat. Hat das Beschwerdegericht den Haftbefehl erlassen, so ist der Amtsrichter zuständig, der die vorangegangene Entscheidung erlassen hat. Wird das vorbereitende Verfahren an einem anderen Ort geführt oder die Untersuchungshaft an einem anderen Ort vollzogen, so kann der Richter, sofern die Staatsanwaltschaft es beantragt, die Zuständigkeit dem Amtsrichter dieses Ortes übertragen. Ist der Ort in mehrere Gerichtsbezirke geteilt, so bestimmt die Landesregierung durch Rechtsverordnung das zuständige Amtsgericht. Die Landesregierung kann diese Ermächtigung auf die Landesjustizverwaltung übertragen. (2) Nach Erhebung der öffentlichen Klage ist das Gericht zuständig, das mit der Sache befaßt ist. Nach Einlegung der Revision ist das Gericht zuständig, dessen Urteil angefochten ist. Einzelne Maßnahmen, insbesondere nach § 119, ordnet der Vorsitzende an. In dringenden Fällen kann er auch den Haftbefehl aufheben oder den Vollzug aussetzen (§ 116), wenn die Staatsanwaltschaft zustimmt; andernfalls ist unverzüglich die Entscheidung des Gerichts herbeizuführen. (3) Das Revisionsgericht kann den Haftbefehl aufheben, wenn es das angefochtene Urteil aufhebt und sich bei dieser Entscheidung ohne weiteres ergibt, daß die Voraussetzungen des § 120 Abs. 1 vorliegen. (4) In der Voruntersuchung ist der Untersuchungsrichter zuständig. § 125 Abs. 3 Satz 2 gilt entsprechend. (5) Die §§ 121 und 122 bleiben unberührt. Entstehungsgeschichte: S. bei § 125 die gleiche Spalte, Absatz 1. Der Untersuchungsrichter war früher von der Zustimmung des Staatsanwalts abhängig, wenn er einen Haftbefehl erlassen oder aufheben oder einen Beschuldigten gegen Sicherheitsleistung freilassen wollte. Art. 1 Nr. 1 StPÄG hat diese Abhängigkeit beseitigt. Durch die gleiche Bestimmung ist — zufolge Streichung von § 124 Abs. 3 a. F. — die Zuständigkeit des Untersuchungsrichters für die mündliche Verhandlung im Haftprüfungsverfahren, die früher beschränkt war, unbeschränkt begründet worden. Die Vorschrift, daß der Vorsitzende die Entscheidung des Gerichts herbeizuführen habe, wenn die Staatsanwaltschaft einer von ihm beabsichtigten Haftentlassung nicht zustimmt (Absatz 2 Satz 3), war früher mit der Anordnung versehen, daß die Entscheidung spätestens binnen 24 Stunden zu veranlassen sei. 1. Weitere Entscheidungen und Maßnahmen. Der Grundsatz des § 125 Abs. 2, daß je nach der Prozeßlage das jeweils zuständige Gericht die Haftentscheidungen trifft, gewinnt namentlich Bedeutung für die weiteren richterlichen Entscheidungen und Maßnahmen, die nach Erlaß des Haftbefehls erforderlich werden und sich auf die Untersuchungshaft oder auf die Aussetzung des Haftvollzugs (§ 116) beziehen. „Diejenige Stelle, die den Haftbefehl erlassen hat, bleibt zunächst auch für die weitere Behandlung der Haftangelegenheit zuständig, jedoch rückt jede Stelle, an die nachfolgend der Prozeß selbst gelangt, damit auch in die Zuständigkeit für die Haftangelegenheit ein" ( B e l i n g § 102 Nr. 8 Abs. 2). Danach ergeben sich für die einzelnen Verfahrensabschnitte die in den Nrn. 2 bis 6 aufgeführten Zuständigkeiten. Diese werden auch nicht dadurch berührt, daß in der Sache früher ein höheres Gericht, sei es im Instanzenzug, sei es als Beschwerdegericht, entschieden hatte. Hat das Landgericht als Berufungsgericht einen Haftbefehl erlassen, und ist die Sache vom Revisionsgericht ans Amtsgericht zurückgewiesen worden, so kommen diesem die weiteren Entscheidungen zu. Hat das Landgericht auf Beschwerde gegen den amtsrichterlichen Haftbefehl den Vollzug der Untersuchungshaft ausgesetzt (§ 116), so entscheidet

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§ 126 Anm. 2

über den Widerruf der Aussetzung (§116 Abs. 3) der Amtsrichter, wenn sich die Sache noch im Ermittlungsverfahren befindet. Entscheidungen und Maßnahmen, die sich auf die Untersuchungshaft oder die Aussetzung des Haftvollzugs beziehen, sind die Aussetzung des Vollzugs eines Haftbefehls und die Anordnung von Maßnahmen, die erwarten lassen, daß der Zweck der Untersuchungshaft auch durch sie erreicht werden kann (§116 Abs. 1 und 2); die Aufhebung dieser Maßnahmen (§ 123 Abs. 1) und die Anordnung des Vollzugs des Haftbefehls (§ 116 Abs. 3); die Verfügungen über den Vollzug der Untersuchungshaft (§119 Abs. 5); die Aufhebung eines Haftbefehls (§ 120 Abs. 1 und 3); die Entscheidungen, die sich auf die Sicherheitsleistung beziehen (§ 116a Abs. 2, § 124 Abs. 2 und 3); der Erlaß eines Steckbriefs (§ 131); die Entscheidung über den Antrag auf Haftprüfung (§117 Abs. 1 und 2), die Entscheidung im Haftprüfungsverfahren von Amts wegen (§117 Abs. 5) und die Anordnung von Ermittlungen im Haftprüfungsverfahren (§117 Abs. 3); die Entscheidung nach mündlicher Verhandlung im Haftprüfungsverfahren ( § 1 1 8 a Abs. 4); die Bestellung eines Verteidigers für die mündliche Verhandlung im Haftprüfungsverfahren (§ 117 Abs. 4). Die gleiche Zuständigkeit, die für diese Entscheidungen gegeben ist, besteht auch für die nachfolgenden Akte: die Amtsbenachrichtigung (§ 114b Abs. 1); die Vernehmung nach Ergreifung (§115 Abs. 1); die mündliche Verhandlung bei der Haftprüfung (§ 118a Abs. 3); die Aktenvorlage nach § 122 Abs. 1. Für alle diese Entscheidungen und Akte gilt die gleiche Zuständigkeit; nur für den Vorsitzenden des Gerichts ergeben sich gewisse Besonderheiten (4). § 126 gilt auch für die Ungehorsamshaft (§ 230 Abs. 2, § 236). Für das Verfahren nach vorläufiger Festnahme enthält § 128 eine Ergänzung, die jedoch an dem System der Zuständigkeit nichts ändert. 2. Vor Erhebung der öffentlichen Klage (Absatz 1) ist zuständig der Amtsrichter oder der Ermittlungsrichter des Bundesgerichtshofs oder des Oberlandesgerichts (1 Abs. 1 zu § 125), der den Haftbefehl erlassen hat (Satz 1). Hatte der Amtsrichter es abgelehnt, einen Haftbefehl zu erlassen und hat dann ein Beschwerdegericht, sei es auf Beschwerde, sei es auf weitere Beschwerde, die Untersuchungshaft angeordnet, dann ist der Amtsrichter zuständig, der die ablehnende Entscheidung getroffen hatte (Satz 2). Im Bezirk des Amtsrichters, der den Haftbefehl erlassen hat, wird in der Regel auch das Ermittlungsverfahren geführt und die Untersuchungshaft vollzogen werden. Davon sind aber Ausnahmen möglich, namentlich wenn ein Haftbefehl nach vorläufiger Festnahme (§ 127) oder von dem Amtsrichter des Aufenthaltsorts, an dem kein Gerichtsstand begründet ist (§ 125 Abs. 1; 1 Abs. 2 zu § 125), erlassen worden ist. Um für diese Fälle sicherzustellen, daß der sachnächste Amtsrichter für die weiteren Entscheidungen zuständig ist, Zuständigkeit wird der Amtsrichter, der den Haftbefehl erlassen hat, ermächtigt, seine zu übertragen dem Amtsrichter des Ortes, an dem das vorbereitende Verfahren der Staatsanwaltschaft (§§ 160 bis 170) geführt wird; dem Amtsrichter des Orts, an dem die Untersuchungshaft vollzogen wird (Satz 3). Ohne eine solche amtsrichterliche Übertragung geht die Zuständigkeit nicht über, namentlich nicht etwa dadurch, daß die Staatsanwaltschaft das Verfahren an eine andere abgibt, selbst wenn sie dabei den Untersuchungsgefangenen mit überstellt Durch die Übertragung rückt der Amtsrichter am Ermittlungs- oder Haftort in die Stelle des Amtsrichters ein, der den Haftbefehl erlassen hatte. Er erlangt damit die Befugnis, seiner1

A. A. OLG Hamburg A l s b . E 1 260.

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§ 126 Anm. 3

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seits die Zuständigkeit weiter zu übertragen, wenn sich der Ermittlungs- oder der Haftort ändert. Das Gesetz, das auf die Zweckmäßigkeit abstellt, ist nicht dahin zu verstehen, daß die Übertragung nur einmal und nur von dem Richter ausgesprochen werden könnte, der den Haftbefehl erlassen oder, wenn das Beschwerdegericht die Untersuchungshaft angeordnet hat, die vorausgegangene Entscheidung getroffen hat. Voraussetzung der Übertragung ist ein Antrag der Staatsanwaltschaft. Sie kann ihren Antrag bis zur Übertragung zurücknehmen. Nach diesem Zeitpunkt ist eine Rücknahme wirkungslos. Der Amtsrichter kann nicht von Amts wegen entscheiden. Der Amtsrichter, dem die Zuständigkeit übertragen wird, braucht — im Gegensatz zum bisherigen Recht (BGHSt. 14 179) — nicht gehört zu werden und nicht zuzustimmen. Er kann die Übernahme nicht deshalb ablehnen, weil er die Übertragung für unzweckmäßig hält. Jedoch wird ein Amtsrichter, in dessen Bezirk weder das vorbereitende Verfahren gefuhrt noch die Untersuchungshaft vollzogen wird, durch die (irrtümliche) Übertragung nicht zuständig. Auf der anderen Seite verliert ein Amtsrichter, dem die Zuständigkeit übertragen war, nicht später dadurch wieder seine Zuständigkeit, daß das Ermittlungsverfahren von einer anderen Staatsanwaltschaft übernommen wird. Doch kann er nun seinerseits die Zuständigkeit dem Amtsrichter des Orts übertragen, an dem das vorbereitende Verfahren geführt wird. Zufolge der Übertragung erlischt die Zuständigkeit des Amtsrichters, der die Sache abgegeben hat. Der neue Amtsrichter übernimmt die Verantwortung für die Rechtmäßigkeit der Untersuchungshaft und die getroffenen Einzelregelungen2. Daher hat er von Amts wegen über die Fortdauer der Untersuchungshaft zu entscheiden. Tut er das, kann weiterhin nur diese Entscheidung angegriffen werden; anderenfalls werden für die Anfechtung die Entscheidungen des Amtsrichters, der die Zuständigkeit abgegeben hat, wie solche des Amtsrichters behandelt, der die Zuständigkeit übernommen hat (BGHSt. 14 180)3. Wegen der Folgen des Zuständigkeitswechsels für Beschwerden s. 17 zu § 114; wegen des Verfahrens nach §§ 121, 122 s. I 2 Abs. 2 zu § 122. Eine Anzahl von Orten ist in mehrere Gerichtsbezirke geteilt (Berlin, Bremen, Hamburg, mehrere Großstädte in Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen). In diesen Fällen ist durch Rechtsverordnung festzulegen, welches Gericht zuständig ist (Satz 4 und 5). 3. Nach Erhebung der öffentlichen Klage (Absätze 2 und 3) ist das Gericht zuständig, das nach § 125 zum Erlaß des Haftbefehls zuständig wäre, wenn noch keiner bestände. Wegen des Begriffs der Klageerhebung s. 3 Abs. 2 zu § 125. Wegen des Wechsels der Zuständigkeit des Beschwerdegerichts bei Klageerhebung s. 1 Abs. 5 zu § 125. Wie zum Erlaß des Haftbefehls (3 zu § 125) fehlt dem Revisionsgericht die Zuständigkeit auch für die weiteren Entscheidungen, die sich auf die Untersuchungshaft oder auf die Aussetzung des Haftvollzugs beziehen (Absatz 2 Satz 2). Nur für die Haftentlassung läßt das Gesetz eine Ausnahme zu, indem es dem Revisionsgericht die Befugnis zulegt, zusammen mit dem angefochtenen Urteil den Haftbefehl aufzuheben, wenn sich bei der Aufhebung des Urteils ohne weiteres, d. h. ohne weitere Ermittlungen ergibt, daß die Voraussetzungen des § 120 Abs. 1 vorliegen (Absatz 3)4. Das Gesetz macht die Befugnis des Revisionsgerichts, den Haftbefehl aufzuheben, davon abhängig, daß dieses gleichzeitig das Urteil aufliebt. Das ist nicht sehr sinnvoll, weil die Aufhebung, etwa wenn eine Rüge der Verletzung des Verfahrensrechts durchschlägt, oder wenn die Staatsanwaltschaft zu Ungunsten des Angeklagten Revision eingelegt hatte, über den dringenden Tatverdacht und die Verhältnismäßigkeit nichts aussagt. Auf der anderen Seite kann — wenn auch in seltenen Fällen und nur bei Revisionen der Staatsanwaltschaft gegen Urteile, die auf eine Geldstrafe, eine nicht freiheitsentziehende Maßregel oder eine zur Bewährung ausgesetzte Freiheitsstrafe erkannt haben —, auch wenn das Urteil nicht aufgehoben, die Revision vielmehr verworfen und das Urteil rechtskräftig wird, offensichtlich werden, daß der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verletzt ist (II 2 zu § 120) oder 2 3

4

Begrdg. BTDrucks. IV 178, S. 26. Ebenso OLG München NJW 1956 760; OLG Hamburg NJW 1966 606; a. A. OLG Oldenburg NJW 1957 233. Vgl. zu der Frage der Beschwerdeentscheidungen über Haftbefehle bezirksfremder Amtsgerichte D ü n n e b i e r M D R 1969 185. Begrdg. zu § 126, BTDrucks. IV 178, S. 27.

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§ 126 Anm. 4

daß es nichts mehr zu verdunkeln gibt (II 1 Abs. 3 zu § 120). Gleichwohl ist der Wortlaut des Gesetzes zu achten. Hebt das Revisionsgericht das Urteil nicht auf, darf es auch den Haftbefehl nicht aufheben. Daraus folgt auch, daß es den Haftbefehl nicht früher aufheben darf als das Urteil (a. A. M ü l l e r - S a x 3 a). Tritt die Notwendigkeit dazu während des Revisionsverfahrens, aber vor dem Urteil hervor, muß das Instanzgericht entscheiden. Das Revisionsgericht braucht den Haftbefehl nicht aufzuheben; es hat nur die Befugnis dazu. Indessen ergibt sich aus § 120 Abs. 1 ausnahmsweise auch eine Verpflichtung des Revisionsgerichts. Diese Vorschrift behandelt zwei Fallgruppen: Einmal ist der Haftbefehl aufzuheben, sobald die Voraussetzungen der Untersuchungshaft nicht mehr vorliegen, namentlich wenn der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit bei weiterer Untersuchungshaft verletzt wäre. Hier ist eine Wertung erforderlich; daher ist es sinnvoll, dem Revisionsgericht freizustellen, ob es den Haftbefehl selbst aufheben oder die Entscheidung dem Tatrichter überlassen will. Wird dagegen — die Fälle der anderen Gruppe — der Angeklagte freigesprochen oder das Verfahren nicht bloß vorläufig eingestellt, so ist der Haftbefehl aufzuheben, ohne daß dem Gericht eine andere Möglichkeit verbliebe. Das hat auch das Revisiongericht zu beachten. Demzufolge muß es, wenn es den verhafteten Angeklagten freispricht (§ 354 Absatz 1), den Haftbefehl aufheben. Das gleiche gilt, wenn es das Verfahren wegen eines nicht mehr behebbaren Verfahrenshindernisses (II 4 zu § 120) einstellt. In diesen Fällen ergibt sich stets ohne weiteres, daß die Voraussetzungen des § 120 Abs. 1 vorliegen. 4. Der Vorsitzende (Absatz 2 Satz 3 und 4) ist zuständig, einzelne Maßnahmen anzuordnen; er hat darüber hinaus die Befugnis, in gewissen Fällen Entscheidungen zu treffen, die zu einer Entlassung des Angeschuldigten führen. a) Maßnahmen. Alle nach § 119 erforderlichen Maßnahmen zum Zwecke des Vollzugs der Untersuchungshaft, mögen sie den Angeschuldigten belasten oder begünstigen, ordnet der Vorsitzende an. Die Maßnahmen nach § 119 sind aber nur ein Beispielsfall („insbesondere"). Die Aussetzung des Vollzugs der Untersuchungshaft (§ 116) ist keine Maßnahme, wie der Gesetzestext ausdrücklich ergibt. Muß aber eine bei der Aussetzung vom Gericht angeordnete Maßnahme geändert werden (9 Abs. 2 zu § 116), so fallt das in die Zuständigkeit des Vorsitzenden. Zu den Maßnahmen zählen auch die Benachrichtigung nach § 114 b Abs. 1, die Änderung einer Sicherheit (7 Abs. 1 zu § 116a), die Bestellung eines Verteidigers, die in § 117 Abs. 4 Satz 3 in Vbdg. mit § 142 Abs. 1 besonders geregelt ist, sowie der Erlaß eines Steckbriefes nach § 131 Abs. 2 (steckbriefliche Verfolgung eines Entwichenen ohne Haftbefehl). Der Vorsitzende ist auch befugt, einen Steckbrief nach § 131 Abs. 1 zu erlassen, weil es sich um die Vollstreckung (§ 36 Abs. 2) eines Haftbefehls handelt. Der Vorsitzende kann die ihm gesetzlich übertragene Befugnis nicht auf das Gericht übertragen; er ist allein der gesetzliche Richter; das Gericht ist nicht zuständig (OLG Köln JMB1NRW 1967 103; OLG Bremen Rpfleger 1968 397; OLGHamm NJW 1969 1865). Andere 5 erachten es dagegen für unschädlich, wenn zwei weitere Richter mitwirken und berufen sich dafür auf E b S c h m i d t , nach dessen Lehre der Betroffene größere Sicherheit erhalte, wenn ein Kollegialgericht entscheide. E b S c h m i d t gibt aber keine Auslegungsregel, sondern stellt eine Forderung an den Gesetzgeber auf (Lehrk. 1 91); er läßt auch nicht erkennen, daß er die Ansicht des Oberlandesgerichts Hamburg billige (Nachtr. 6). Das Reichsgericht hat in anderem Zusammenhang (Entscheidung nach Richterablehnung) § 192 Abs. 1 GVG als verletzt angesehen, wenn ein Richter zuviel mitgewirkt hat (RGSt. 49 11). Der Grundsatz muß auch dann gelten, wenn das Gesetz Entscheidungen dem Kollegium entzieht und dem Vorsitzenden zuweist; es darf auch nicht nur die Möglichkeit entstehen, daß der zuständige Vorsitzende von den unzuständigen Beisitzern überstimmt wird. Praktisch ist die Frage allerdings von keiner großen Bedeutung. Ob der Beschuldigte nur die Sachentscheidung angreift oder ob er zusätzlich auch noch die Besetzung rügt, macht keinen wesentlichen Unterschied. Das Beschwerdegericht kann die Sache wegen der falschen Besetzung zwar an den Vorderrichter zurückverweisen (OLG Bremen Rpfleger 1968 397) und wird das in der Regel tun (OLG Düsseldorf JMB1NRW 1969 115), braucht es aber nicht, sondern kann auch gleich in der Sache selbst entscheiden (OLG Köln JMB1NRW 1967 103). 5

O L G Hamburg NJW 1965 2362; OLG Düsseldorf JMB1NRW 1968 227; M ü l l e r - S a x 3 (2); K l 2.

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§126 Anm. 5—7

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

b) Haftentlassung. In dringenden Fällen kann der Vorsitzende den Haftbefehl aufheben (§ 120) oder seinen Vollzug aussetzen (§ 116). Ein dringender Fall liegt vor, wenn die Haftentlassung verzögert würde, falls das Kollegium zusammengerufen werden müßte (3 Abs. 5 zu § 125). Der Vorsitzende bedarf der Zustimmung der Staatsanwaltschaft. Nachdem sie — im Gegensatz zum bisherigen Recht (§ 124 Abs. 2 a. F.) — für den Untersuchungsrichter nicht mehr erforderlich ist (Absatz 4), fehlt eine rechte Begründung dafür, den Vorsitzenden an die Zustimmung der Staatsanwaltschaft zu binden. Denn die Voruntersuchung bildet eine Zwischenstufe zwischen Ermittlungs- und Hauptverfahren; es war sinnvoll, in diesem Stadium der Staatsanwaltschaft einen gewissen Einfluß einzuräumen. Ist er dort weggefallen, läßt er sich für Entscheidungen des Vorsitzenden des Gerichts, das doch meist das erkennende sein wird, schlecht begründen und wird bei einer Reform zu beseitigen sein. Die Zustimmung der Staatsanwaltschaft liegt stets in ihrem Antrag; ggf. wird der Vorsitzende ihr Gelegenheit geben, einen zu stellen. Da er die Staatsanwaltschaft dazu jedoch nicht zwingen kann, muß er, falls er die Haftentlassung beabsichtigt und kein Antrag der Staatsanwaltschaft vorliegt, deren Zustimmung erfragen, wenn er sie anhört ( § 3 3 Abs. 2). Der Vorsitzende kann, wenn die Zustimmung versagt wird, aufgrund der Argumente der Staatsanwaltschaft seine Ansicht ändern und von der zunächst beabsichtigten Entscheidung absehen. Beharrt er auf seiner Ansicht und will er demgemäß, daß die in Aussicht genommene, aber von der Staatsanwaltschaft beanstandete Maßnahme nunmehr vom Gericht angeordnet werde, so ist nach seiner Ansicht der Gefangene nunmehr zu Unrecht in Haft. Deshalb hat er unverzüglich die Entscheidung des Gerichts herbeizuführen. Rechnet er mit einem Widerspruch der Staatsanwaltschaft, kann er die Entscheidung von Anfang an dem Gericht überlassen. Dann hat dieses die Staatsanwaltschaft zu hören (§ 33 Abs. 2), doch kann der Vorsitzende das Anhören für das Gericht übernehmen, ohne daß er zum Ausdruck bringt, ob er seine Entscheidung oder eine des Gerichts vorbereiten will. Die Staatsanwaltschaft hat ihre Erklärung unverzüglich abzugeben. Tut sie das nicht, kann der Vorsitzende die Sache schon vor Abgabe der Erklärung dem Gericht vorlegen und kann dieses schon vor Stellungnahme der Staatsanwaltschaft den Haftbefehl aufheben oder seinen Vollzug aussetzen. Solche Fälle sind grundsätzlich vermeidbar. Sind sie ausnahmsweise in Betracht zu ziehen, wird der Vorsitzende durch technische Vorkehrungen (Ubersendung von Abschriften an die Staatsanwaltschaft) dafür Sorge zu tragen haben, daß die Akten dem Gericht zur Verfügung stehen. Der Vorsitzende hat die Entscheidung des Gerichts unverzüglich herbeizuführen. Nach bisherigem Recht hieß die Stelle: „unverzüglich, spätestens binnen 24 Stunden". Die Streichung, für die den Materialien keine Begründung zu entnehmen ist, soll ihn wohl freier stellen. Der Vorsitzende wird es jedoch auch weiterhin als seine Ehrenpflicht ansehen, die Entscheidung des Gerichts, auch an Feiertagen, innerhalb 24 Stunden herbeizuführen. 5. Beauftragter Richter. Ist das zuständige Gericht ein Kollegialgericht, so ist es befugt, Vernehmungen einem beauftragten Richter zu übertragen. Zwar ist die Einrichtung des beauftragten Richters in der Strafprozeßordnung nicht allgemein, sondern nur in einzelnen Bestimmungen (§ 173 Abs. 3, § 223 Abs. 1, § 233 Abs. 2, § 369 Abs. 1) geregelt. Die Regelung gestattet jedoch den Rückschluß, daß ein Kollegialgericht zur Vorbereitung einer Entscheidung außerhalb einer mündlichen Verhandlung allgemein einen Richter beauftragen kann. Es braucht das aber nicht zu tun, sondern kann den Beschuldigten auch vor dem Kollegium in Beschlußbesetzung vernehmen. Bedient es sich eines beauftragten Richters, so hat es nach dessen Vortrag zu entscheiden, ob Anlaß besteht, den Haftbefehl aufzuheben (§ 120) oder seinen Vollzug auszusetzen (§ 116). In Jugendsachen kann der zuständige Richter die Entscheidungen, die die Untersuchungshaft betreffen, aus wichtigen Gründen sämtlich oder zum Teil einem anderen Jugendrichter übertragen (§ 72 Abs. 5 JGG). 6. In der Voruntersuchung (Absatz 4) ist der Untersuchungsrichter zuständig. Wegen des Beginns und des Endes seiner Zuständigkeit s. 4 Abs. 2 zu § 125. 7. Das Oberlandesgericht (Absatz 5) ist allein zuständig, die Fortdauer der Untersuchungshaft anzuordnen, wenn die besondere Schwierigkeit oder der besondere Umfang 812

Neunter Abschnitt. Verhaftung und vorläufige Festnahme (Dünnebier)

§ 1 2 6 Anm. 8 § 1 2 6 a Anm. 1

der Ermittlungen oder ein anderer wichtiger Grund die Durchführung der Hauptverhandlung noch nicht zuläßt und die Fortdauer der Haft rechtfertigt (§121 Abs. 3). 8. Nach Rechtskraft gibt es keine Untersuchungshaft. Hat das Gericht den Angeklagten freigesprochen, so muß es den Haftbefehl alsbald mit dem Urteilsspruch aufheben (§ 120 Abs. 1 Satz 2), also vor Rechtskraft. Ist der Angeklagte zu Freiheitsstrafe verurteilt worden, so hat sich die Untersuchungshaft mit der Rechtskraft in Strafhaft verwandelt, der Haftbefehl wird damit gegenstandslos; das Gericht braucht ihn nicht aufzuheben, ist aber nicht gehindert, das zu tun (II 10 zu § 120). Zuständig ist das Gericht der letzten Tatsacheninstanz. Die Staatsanwaltschaft hat ihm die Akten auf Anfordern zuzuleiten, braucht das aber nicht von sich aus zu tun, wie sie auch nicht verpflichtet ist, von Amts wegen zu beantragen, den gegenstandslos gewordenen Haftbefehl aufzuheben. Dagegen ist der Haftbefehl zwar unbegründet, aber nicht gegenstandslos, wenn ein Urteil rechtskräftig wird, in dem nicht auf freiheitsentziehende Strafen oder Maßregeln erkannt, eine erkannte Freiheitsstrafe als durch die Untersuchungshaft verbüßt bezeichnet oder die Vollstreckung einer Freiheitsstrafe ausgesetzt wird. Ein solcher Haftbefehl ist auch nach Rechtskraft aufzuheben (II 10 Abs. 3 zu § 120). Für sonstige Entscheidungen über die Untersuchungshaft besteht nach Rechtskraft keine Möglichkeit mehr, namentlich ist das Prozeßgericht nicht befugt, über einen Haftbefehl zu entscheiden, nachdem ein auf noch zu vollstreckende Freiheitsstrafe erkennendes Urteil ergangen ist 9 . Ausgenommen ist die nach § 124 Abs. 2 und 3 zu treffende Entscheidung über den Verfall einer Sicherheitsleistung. Nach § 124 Abs. 1 haftet die Sicherheit bis zum Antritt einer erkannten Freiheitsstrafe, also über die Rechtskraft des Urteils und über den Bestand des Haftbefehls (2 Abs. 2 zu § 123) hinaus. Daher steht die Urteilsrechtskraft der gerichtlichen Entscheidung über die Sicherheitsleistung nicht im Wege (KG JR 1927 1272; BayObLGSt. 32 127). Zuständig ist, da die Entscheidung keine Vollstreckungsentscheidung (§ 462) ist, das mit der Sache zuletzt befaßte Tatsachengericht 10 .

§ 126a (1)Sind dringende Gründe für die Annahme vorhanden, daß jemand eine mit Strafe bedrohte Handlung im Zustand der Zurechnungsunfahigkeit oder der verminderten Zurechnungsfähigkeit begangen hat und daß seine Unterbringung in einer Heil- oder Pflegeanstalt angeordnet werden wird, so kann das Gericht durch Unterbringungsbefehl seine einstweilige Unterbringung anordnen, wenn die öffentliche Sicherheit es erfordert. (2) Für die einstweilige Unterbringung gelten die §§ 114 bis 115a, 117 bis 119, 125 und 126 entsprechend. Hat der Unterzubringende einen gesetzlichen Vertreter, so ist der Beschluß auch diesem bekanntzugeben. (3) Der Unterbringungsbefehl ist aufzuheben, wenn die Voraussetzungen der einstweiligen Unterbringung nicht mehr vorliegen oder wenn das Gericht im Urteil die Unterbringung in einer Heil- oder Pflegeanstalt nicht anordnet. Durch die Einlegung eines Rechtsmittels darf die Freilassung nicht aufgehalten werden. § 120 Abs. 3 gilt entsprechend. Entstehungsgeschichte: Eingefügt durch Art. 2 Nr. 6 des Gesetzes vom 24. 11. 1933 (RGBl. I 1000). Die Vorschrift ist durch Art. 1 Nr. 1 StPÄG geringfügig geändert worden. Die Änderungen beziehen sich meist nur auf die Verweisungen. Neu ist diejenige auf § 120 Abs. 3. 1. Inhalt. Die einstweilige Unterbringung sichert nicht wie die Untersuchungshaft das Verfahren und die Unterbringung in einer Heil- oder Pflegeanstalt (Sax bei B e t t e r m a n n 9

10

BayObLGSt. 7 421; OLG Nürnberg SJZ 1950 142; OLG Celle NJW Nachweisen - ; E b S c h m i d t 14 zu § 124; K l e i n k n e c h t SJZ 1950 § 4 5 0 ; a. A. OLG Köln LZ 1916 1510; OLG Frankfurt HESt. 1 M D R 1950 755; E r b s III zu § 115. BayObLGSt. 32 127; E b S c h m i d t 15 zu § 124; M ü l l e r - S a x 3a zu 3 zu § 122.

1963 2240 - mit weiteren 142; M ü l l e r - S a x l a zu 163; O L G Braunschweig § 124; S c h ä f e r - D a l c k e

813

§ 126 a Anm. 2—4

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

N i p p e r d e y - S c h e u n e r , Grundrechte, III2, S. 980), wenn sie auch den letzten Zweck tatsächlich miterfüllt. Mit ihr soll vielmehr die Öffentlichkeit vor einem gemeingefährlichen verbrecherischen Geisteskranken gesichert werden. Da das auch der Zweck der endgültigen Unterbringung ist, nimmt die einstweilige Unterbringung den Zweck der künftigen Verurteilung in gleicher Weise vorweg wie die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis (I zu § l i l a ) und wie die „Untersuchungshaft" für den Sittlichkeitsverbrecher, von dem weitere Sittlichkeitsverbrechen drohen (15a zu § 112). Der Idee nach ersetzt sie die Untersuchungshaft nicht ( E b . S c h m i d t SJZ 1950 214). Wohl aber übernimmt sie praktisch deren Aufgabe, weil regelmäßig, wenn die Anordnung der Unterbringung nach § 42 b StGB zu erwarten ist, auch zugleich die Voraussetzungen des § 126 a vorliegen. Deshalb braucht das Gesetz für den Fall des fluchtverdächtigen verbrecherischen Geisteskranken — der verdunkelnde spielt keine Rolle —, der nicht wegen seiner verfahrenshemmenden Flucht, sondern nur wegen seiner Gemeingefährlichkeit von § 126a erfaßt wird, keine besondere Vorsorge zu treffen. 2. Verhältnis zu § 112. Da im Zustande der Zurechnungsunfähigkeit keine Tat i. S. des § 112 begangen werden kann, kann § 112 beim Zurechnungsunfähigen nicht zur Anwendung kommen. Der vermindert Zurechnungsfähige jedoch kann eine Straftat begehen, so daß bei ihm § 112 und § 126 a nebeneinander anwendbar sind. Ist mit der Unterbringung in einer Heil- oder Pflegeanstalt nicht zu rechnen, so bewendet es bei § 112. Ist sie zu erwarten, sichert die einstweilige Unterbringung auch dagegen, daß sich der Beschuldigte dem Strafverfahren entziehen werde (§112 Abs. 2 Nr. 2), so daß neben der Unterbringung Untersuchungshaft wegen Fluchtgefahr nicht in Betracht kommt. Dagegen schützt die einstweilige Unterbringung nicht vor Verdunkelung (§112 Abs. 2 Nr. 3). Zwar wird auch während der einstweiligen Unterbringung der schriftliche und mündliche Verkehr mit der Außenwelt geprüft, jedoch im Hinblick auf ärztliche Rücksichten und auf etwaige Gefahren, die der Außenwelt aus der Vorbereitung weiterer Verbrechen drohen könnten. Für die Prüfung auf Verdunkelungsabsichten oder gar für das Anhalten auf Verdunkelung abzielender Briefe gibt § 126a keine Handhabe. Daher ist bei einem vermindert Zurechnungsfähigen, bei dem die Voraussetzungen von § 126 a und außerdem Verdunkelungsgefahr vorliegen, neben der einstweiligen Unterbringung die Untersuchungshaft anzuordnen. Kann der Richter zwischen mehreren Unterbringungsanstalten wählen, wird er bei seiner Wahl dieser doppelten Anordnung Rechnung tragen. 3. Dringende Gründe. Voraussetzung für die einstweilige Unterbringung sind dringende Gründe für die Annahme, sowohl daß jemand eine mit Strafe bedrohte Handlung begangen hat, als auch, daß deswegen seine endgültige Unterbringung angeordnet werde. Der Begriff der dringenden Gründe, die in bezug auf die Handlungsbegehung und die endgültige Unterbringung verlangt werden, entspricht dem des dringenden Tatverdachts des § 112 (7 zu § 112). Die dringenden Gründe müssen für die Annahme vorliegen, daß jemand eine mit Strafe bedrohte Handlung im Zustande der Zurechnungsunfähigkeit ( § 5 1 Abs. 1, § 55 Abs. 1 StGB) oder der verminderten Zurechnungsfähigkeit (§ 51 Abs. 2, § 55 Abs. 2 StGB) begangen habe, und daß seine Unterbringung in einer Heil- oder Pflegeanstalt angeordnet werde. Da nach § 42 b Abs. 1 Satz 2 StGB die Unterbringung wegen Übertretungen nicht zulässig ist, kommt nur eine als Verbrechen oder Vergehen mit Strafe bedrohte Handlung in Betracht. Die Unterbringung ist nach § 42 b StGB anzuordnen, wenn die öffentliche Sicherheit es erfordert. Wegen der Voraussetzungen hierfür muß auf die Erläuterungen zu § 42 b StGB verwiesen werden. 4. Öffentliche Sicherheit. Auch wenn eine Unterbringung nach § 42 b StGB dringend zu erwarten ist, kann die einstweilige Unterbringung nur angeordnet werden, wenn die öffentliche Sicherheit nicht nur die endgültige, sondern zugleich auch die vorläufige Unterbringung erfordert. Das ist der Fall, wenn künftige gegen die Rechtsordnung gerichtete Handlungen mit bestimmter Wahrscheinlichkeit zu erwarten sind; wenn durch sie der Bestand der Rechtsordnung unmittelbar bedroht wird; wenn wegen des Gewichts der Bedrohung eine Abhilfe für die Zukunft geboten ist, um den Bestand der Rechtsordnung aufrecht zu erhalten; und wenn dieses Ziel auf keine andere Weise als durch die Unterbringung zu erreichen ist (RGSt. 73 304; OLG Tübingen DRechtsZ 1949 210). Zur Prüfung 814

Neunter Abschnitt. Verhaftung und vorläufige Festnahme (Dünnebier)

§ 126 a Anm. 5, 6

dieser Voraussetzung muß das Gericht würdigen: die mit Strafe bedrohte Handlung, die Anlaß zu dem Verfahren gegeben hat; die Gesamtpersönlichkeit des Unterzubringenden und dazu seine Erkrankung und sein Vorleben; sowie endlich die Verhältnisse, in denen er lebt (BGH NJW 1951450). Die endgültige Unterbringung ist von der gleichen Voraussetzung abhängig, daß die öffentliche Sicherheit sie erfordert. Diese Voraussetzung ist in § 42 b StGB für den Zeitpunkt der Verurteilung, bei vermindert Zurechnungsfähigen für den Zeitpunkt der Beendigung der Strafverbüßung (BGH NJW 1960 394), aufgestellt, in § 126 a für den Zeitpunkt, in dem die Notwendigkeit der einstweiligen Unterbringung hervortritt, nachdem der Betroffene eine mit Strafe bedrohte Handlung begangen hat. Der Unterschied ist indessen weitgehend theoretisch. Denn es sind nur wenige Fälle denkbar, in denen das Gericht die schwierige Frage der Gemeingefährlichkeit für den späteren Zeitpunkt bejahen, aber die leichtere für den gegenwärtigen Zeitpunkt verneinen könnte. Bejaht das Gericht die dringenden Gründe für die Annahme einer künftigen Unterbringung nach § 42 b StGB, so bejaht es in der Regel damit zugleich, daß die öffentliche Sicherheit auch schon die einstweilige Unterbringung erfordert. Immerhin ist es denkbar, daß Verwandte für eine ausreichende Sicherheit der Öffentlichkeit verläßlich Sorge tragen, diese Verpflichtung aber nur bis zur Klärung durch ein Urteil übernehmen wollen. Für diesen Fall ist wohl die endgültige Unterbringung zu erwarten, die einstweilige aber unzulässig, weil die öffentliche Sicherheit sie nicht fordert (BGH NJW 1951 724). 5. Unterbringungsbefehl. Das Gericht trifft die Anordnung in einem Unterbringungsbefehl. Auf ihn finden die Ausführungen 1 bis 3 zu § 114 entsprechende Anwendung. Anstatt der strafbaren ist die mit Strafe bedrohte Handlung aufzuführen, anstelle des dringenden Tatverdachts sind die dringenden Gründe für die Annahme der rechtswidrigen Tat einzusetzen. Wegen des Begriffs der Dringlichkeit s. 7 zu § 112. Anstelle der Haftgründe sind die Gründe anzugeben, die die Annahme rechtfertigen, die öffentliche Sicherheit erfordere die einstweilige Unterbringung. Die Tatsachen dafür sind im Unterbringungsbefehl aufzuführen. § 114 Abs. 3 gilt für den Unterbringungsbefehl nicht, da § 112 Abs. 1 Satz 2 in § 126 a nicht wiederholt werden kann. Wegen der Veranlassung der Entscheidung, des Anhörens der Beteiligten und der Beschwerde gilt das zu § 114 Ausgeführte entsprechend. Für die Bekanntmachung vgl. die Ausführungen zu § 114 a, doch ist der Unterbringungsbefehl auch dem gesetzlichen Vertreter des Unterzubringenden bekanntzumachen; ihm steht auch die Beschwerde zu. Entsprechendes wie bei der Haft gilt auch für die Vollstreckung der einstweiligen Unterbringung (11 bis 14 zu § 114), wenn auch bei dieser die Fälle der Überhaft, Doppelhaft und der Unterbrechung eine untergeordnete Rolle spielen; sie bleiben gleichwohl, namentlich bei vermindert Zurechnungsfähigen, denkbar. Für Abgeordnete (2 zu § 114) gelten im Vergleich mit der Untersuchungshaft keine Besonderheiten 6. Anstaltsbezeichnung. In Literatur und Rechtsprechung besteht darüber Streit, wie der Befehl der einstweiligen Unterbringung zu fassen ist. Das Oberlandesgericht Hamm ist der Ansicht, das Gericht habe lediglich die einstweilige Unterbringung anzuordnen, Namen und Charakter der Anstalt bestimme die den Unterbringungsbefehl vollstreckende Staatsanwaltschaft 2 . Demgegenüber ist E b . S c h m i d t der Meinung, der Befehl müsse auf die Unterbringung in einer Heil- oder Pflegeanstalt lauten; die Bezeichnung einer von mehreren in Betracht kommenden Heil- oder Pflegeanstalten sei dann Sache der Staatsanwaltschaft 3 . Der Bezeichnungsfrage liegt die weitere Frage zugrunde, ob § 126 a seinem Zusammenhange nach die einstweilige Unterbringung in einer Heil- oder Pflegeanstalt anordnet oder bewußt die Art der einstweiligen Unterbringung offen läßt. Das letztere behauptet H ä r t u n g unter Hinweis auf die Entstehungsgeschichte (SJZ 1950 316), das erstere ' B o c k e l m a n n , Die Unverfolgbarkeit der Abgeordneten nach deutschem Immunitätsrecht 50; M a u n z - D ü r i g 56 zu Art. 46, die den Fall des § 126a allerdings unter Art. 46 Abs. 3, nicht Absatz 2, subsumieren. 2 SJZ 1950 214; ebenso OLG Oldenburg NdsRpfl. 1952 120; M ü l l e r - S a x 3b; E r b s VIII. 3 SJZ 1950 214; E b S c h m i d t Nachtr. 12, 13; K l 3.

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§ 126 a Anm. 7, 8

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

E b S c h m i d t mit der Begründung, die vorläufige Unterbringung nehme die endgültige vorweg. Das Gesetz legt in § 126 a ebenso wie in § 112 dem Richter nur auf, die Verwahrungsart anzuordnen, in diesem Falle Untersuchungshaft, in jenem einstweilige Unterbringung. Was Untersuchungshaft ist, bestimmt § 119, wobei allerdings die Hauptsache, daß sie die Verwahrung in einer Haftanstalt ist, der Bestimmung als selbstverständlich zugrunde liegt. Da § 126a Abs. 2 Satz 1 auf § 119 verweist, soll dieser Vorschrift — und nicht § 126a — entnommen werden, was einstweilige Unterbringung ist. Wenn das Gesetz damit auch zuviel als selbstverständlich voraussetzt, so bringt es doch klar zum Ausdruck, daß in § 126 a die Worte „seine einstweilige Unterbringung" (anordnet) nicht durch die „in einer Heiloder Pflegeanstalt" ergänzt werden dürfen. Soweit nur § 126 a in Rede steht, ist daher der herrschenden Meinung zuzustimmen, daß nach ihm nur die Unterbringung angeordnet werden darf, die Anstalt und ihre Art aber nicht. Die Notwendigkeit, Art und Name der Anstalt im Unterbringungsbefehl aufzuführen, kann sich indessen aus § 119 Abs. 5 ergeben. Welche Anstalt für den Vollzug der einstweiligen Unterbringung in Betracht kommt, ordnet die Landesjustizverwaltung durch den Vollstreckungsplan (§ 22 Abs. 1 StVollstrO) an. Sie ist dabei durch den Sinn der einstweiligen Unterbringung gebunden. Dieser hindert sie nicht, auch auf die praktischen Bedürfnisse der Untersuchung Bedacht zu nehmen, und aus diesem Grunde für die einstweilige Unterbringung eine andere Anstalt vorzusehen als für die endgültige. Demzufolge kann sie für jene eine dem Gerichtsort in der Regel näher als eine Heil- oder Pflegeanstalt gelegene Untersuchungshaftanstalt mit psychiatrischer Abteilung bestimmen. Die Unterbringung in einer anderen Vollzugsanstalt als einer solchen mit Anstaltskrankenhaus oder psychiatrischer Abteilung ist nach Nr. 12 VGO für höchstens 24 Stunden und nur dann zulässig, wenn der Gefangene nicht sofort in die zuständige Anstalt überführt werden kann. Benennt die Landesjustizverwaltung eine einzige Anstalt, dann ergeben sich keine Schwierigkeiten. Der Richter muß sich der einzigen bezeichneten Anstalt genau so bedienen, wie des Gerichtsgebäudes, das die Landesjustizverwaltung ihm, oder der Untersuchungshaftanstalt, die sie ihm für die Untersuchungsgefangenen zur Verfügung stellt. Werden indessen im Vollstreckungsplan, wie üblich, mehrere Anstalten (Heilund Pflegeanstalt, Krankenanstalt, Untersuchungshaftlazarett mit psychiatrischer Abteilung) benannt, dann ist es nach § 119 Abs. 5 Aufgabe des Richters, die Anstalt auszuwählen, und nicht Sache der Vollstreckungs- oder Vollzugsbehörde. Denn der Richter bestimmt, unabhängig von der Untersuchungshaftvollzugsordnung, alles, was in bezug auf die Untersuchungshaft und die einstweilige Unterbringung nicht vom Gesetz selbst geregelt ist. Sieht der Vollzugsplan keine Anstalt für die einstweilige Unterbringung vor, dann ist der Richter nur durch den Sinn der einstweiligen Unterbringung gebunden, sonst aber in der Auswahl der Anstalten frei. Er wird sich dabei an Nr. 89 Abs. 1 Satz 1 UVollzO halten. Steht in den vorbehandelten Fällen dem Richter die Bestimmung der Anstalt zu, dann nimmt er sie im Unterbringungsbefehl vor. Er kann die unterlassene Bestimmung durch Beschluß nachholen; dies können auch die Beschwerdegerichte tun. 7. Unterbringungsprüfung. Da die Unterbringung eine einstweilige ist, ist ihre Notwendigkeit wie die der Untersuchungshaft (22 zu § 112; 1 zu § 117; I zu § 120) fortlaufend zu prüfen. Doch kommt der fortlaufenden Prüfung hier geringere Bedeutung als in Haftsachen zu, weil der Zustand, der die Unterbringung erfordert, kaum Veränderungen unterliegen wird. Ist das indessen nach der Art der Erkrankung der Fall („Schübe" bei Schizophrenie), dann ist ein Sachverständiger zur Unterbringungsprüfung zuzuziehen. Um die Prüfung zu gewährleisten, finden die Vorschriften über die Vorführung des Festgenommenen zum Richter (§§ 115, 115a) und über die Haftprüfung (§§ 117 bis 118b) entsprechende Anwendung (Absatz 2 Satz 1). 8. Für die Aufhebung des Unterbringungsbefehls (Absatz 3) gilt das zu § 120 Ausgeführte entsprechend. Da die im Verfahren angestrebte Maßregel der Unterbringung in einer Heil- oder Pflegeanstalt für eine unbestimmte Zeit ausgesprochen werden muß, kann der für die Untersuchungshaft bedeutsame Grundsatz der Verhältnismäßigkeit für die Frage der einstweiligen Unterbringung keine Rolle spielen. Demzufolge ist § 112 Abs. 1 Satz 2 816

§ Neunter Abschnitt. Verhaftung und vorläufige Festnahme (Dünnebier)

126 a Anm. 9 , 1 0 § 127

in § 126 a nicht wiederholt. Aber auch der Gedanke, daß ein Gefangener nach angemessener Zeit entweder seine Hauptverhandlung haben oder aber entlassen werden muß, der in § 1 2 1 Abs. 1 und 2 zum Ausdruck kommt, kann bei einer Unterbringung, die der öffentlichen Sicherheit dient, keine Anwendung finden. Daher sind die §§ 121, 122 nicht in Absatz 2 angezogen. Aus dem gleichen Grunde ist die entsprechende Anwendung des § 116 (Aussetzung des Vollzugs der Untersuchungshaft) ausgeschlossen: wer wegen seiner Gefährlichkeit der Verwahrung bedarf, kann nicht mit deren Vollzug verschont werden. 9. Umstellung. Ein Unterbringungsbefehl kann in einen Haftbefehl, ein Haftbefehl in einen Unterbringungsbefehl umgewandelt werden, wenn sich die Beurteilung der Zurechnungsfrage ändert (vgl. §§ 80a, 246a), sonst aber sowohl ein Haft- als auch der gesetzliche Unterbringungsgrund gegeben ist. Die Änderung kann auch das Beschwerdegericht vornehmen (OLG Bremen JZ 1951 465). 10. Wegen der Zuständigkeit gelten die §§ 125, 126.

§ 127 (1) Wird jemand auf frischer Tat betroffen oder verfolgt, so ist, wenn er der Flucht verdächtig ist oder seine Persönlichkeit nicht sofort festgestellt werden kann, jedermann befugt, ihn auch ohne richterlichen Befehl vorläufig festzunehmen. (2) Die Staatsanwaltschaft und die Polizeibeamten sind bei Gefahr im Verzug auch dann zur vorläufigen Festnahme befugt, wenn die Voraussetzungen eines Haftbefehls oder eines Unterbringungsbefehls vorliegen. (3) Bei strafbaren Handlungen, deren Verfolgung nur auf Antrag eintritt, ist die vorläufige Festnahme von der Stellung eines solchen Antrags nicht abhängig. Entstehungsgeschichte: Durch Art. 2 Nr. 7 des Gesetzes vom 24.11. 1933 (RGBl. I 1000) wurden in Absatz 2 die Worte „oder eines Unterbringungsbefehls" eingefügt. Schrifttum: B o e h m , Das Recht zur vorläufigen Festnahme, JR 1925 491; K a r a m u n t z o s , Die vorläufige Festnahme bei Flagrantendelikten, Bonn 1954; M e i n c k e , Betreffen oder Verfolgen auf frischer Tat als Voraussetzung der vorläufigen Festnahme nach § 127 Abs. 1 StPO, Diss. Hamburg 1963; N a u c k e , Die Bedeutung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit (§ 112 Abs. 1 Satz 2 StPO) für die Befugnis zur vorläufigen Festnahme (§ 127 StPO), SchlHA 1966 97; Das Strafprozeßänderungsgesetz und die vorläufige Verhaftung (§ 127 StPO), NJW 1968 1225; Z i m m e r m a n n , Uber die vorläufige Festnahme durch Private und Wachen, GA 30 404. Übersicht I. Vorbemerkungen 1. Inhalt 2. Abgrenzung 3. Rechtsfolgen II. Festnahme auf frischer Tat (Absatz 1) 1. TatbegrifT 2. Frische Tat 3. Betreffen und Verfolgen 4. Festnahmegründe 5. Fluchtgefahr 6. Fehlender Identitätsnachweis 7. Festnahmeberechtigte

8. Festnahme 9. Festnahmemittel 10. Kraftfahrer als Täter 11. Form III. Festnahme bei Gefahr im Verzug (Absatz 2) 1. Gefahr im Verzug 2. Festnahmeberechtigt 3. Voraussetzungen eines Haft- oder Unterbringungsbefehls 4. Festnahme IV. Strafantrag (Absatz 3)

817

§127 Anm. I 1

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

I. Vorbemerkungen. 1. Inhalt. An die bisher behandelten Fälle schließt zunächst Absatz 2 an. Er führt die im neunten Abschnitt eingehaltene Linie folgerichtig fort: Nach § 125 Abs. 2 erläßt den Haftbefehl nach Klageerhebung das mit der Sache befaßte Gericht; § 125 Abs. 1 gestattet dem Amtsrichter (§ 162 Abs. 1), auf Antrag der Staatsanwaltschaft einen Haftbefehl schon vor diesem Zeitpunkt zu erlassen, ja bei Gefahr im Verzug (§ 165) auch von Amts wegen. Wenn die Gefahr aber so groß ist, daß sogar der Amtsrichter nicht mehr angegangen oder tätig werden kann, können nach § 127 Abs. 2 Staatsanwälte und Polizeibeamte gleichsam die Vollstreckung eines noch nicht erlassenen Haftbefehls vorwegnehmen, wenn nur die Voraussetzungen dafür gegeben sind, daß er aller Wahrscheinlichkeit nach erlassen werden wird. Alle drei genannten Bestimmungen sind daher dadurch verbunden, daß die Voraussetzungen der Festnahme für alle von ihnen gleicherweise in den §§ 112, 113 niedergelegt sind. Dieser Linie folgt Absatz 1 nach seinem Wortlaut nicht so einsichtig wie Absatz 2. Auch die Geschichte und die Ausbildung, welche die Rechtseinrichtung der vorläufigen Festnahme in anderen Rechten erfahren hat, könnten zu Zweifeln Anlaß geben. Denn das Institut ist nicht überall allein ein prozessuales Mittel der Strafverfolgung. Vielmehr zeigt es oft vermischte Züge und verbindet Institute des bürgerlichen, des Prozeß- und des Polizeirechts. Von Elementen der Notwehr abgesehen, ist ihm zuweilen auch die Handhabe entnommen worden, rechtswidrige Handlungen oder wenigstens ihre Fortsetzung zu verhindern 1 . Die Auslegung hat aber mit Recht Absatz 1 eingeengt und auf die Rolle eines prozessualen Mittels zurückgeführt, die Strafverfolgung und damit den Strafanspruch zu sichern (RGSt. 17 128: Zweck ist die „Ermöglichung oder Sicherung strafrechtlicher Verfolgung"; M e i n c k e (13): „Die Festnahme i s t . . . ausgeschlossen, wenn keine verfahrensrechtlichen Maßnahmen aus Anlaß der Tat in Frage stehen"). Strafrecht und Polizeirecht gehen getrennte Wege; die Verbrechensverhütung ist, von klar formulierten Ausnahmen abgesehen (§ 111 a, § 112 Abs. 3, § 126a), nicht Sache des Strafprozesses ( M ü l l e r - S a x 1). Daraus ergibt sich für Absatz 1 folgender Inhalt: Die Vorschrift geht noch einen Schritt weiter als Absatz 2. Sie läßt jedermann handeln, wenn die frische Tat sofortige Festnahme erheischt. Alsdann wäre es freilich sinnvoll, das Handeln des Privaten auszuschließen, wenn Polizei leicht erreicht werden kann oder gar zur Stelle ist. Die erste Einengung schließt der Wortlaut aus. Denn sie wäre nur sinnvoll, wenn der Private verpflichtet würde, die Polizei herbeizurufen; eine solche Verpflichtung stellt das Gesetz aber nicht auf. Die zweite Beschränkung ergibt sich aus dem Sinn der Vorschrift, daß der Private für den Staat handelt (RGSt. 17 128: „§ 127 StPO ü b e r t r ä g t . . . dem einzelnen eine an sich zur Strafverfolgung gehörige öffentliche Funktion"). Daraus folgt, daß er nicht neben staatlichen Organen tätig werden kann. — Die Festnahme ist nur zulässig bei frischer „Tat", doch führt die Auslegung zu dem Begriff des dringenden Tatverdachts (II 1). Die Haftgründe des § 112 Abs. 2 und 3 sind durch zwei Festnahmegründe ersetzt, von denen einer mit dem der Fluchtgefahr übereinstimmt (II 5). Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gilt auch im Falle des Absatzes 1 (II 4). Bei näherer Betrachtung ist somit auch Absatz 1, wenn auch loser als Absatz 2 und mit einigen Abweichungen, mit den §§ 112, 113 verbunden. Weil somit, wie im Falle des Absatzes 2 der Polizeibeamte, im Falle des Absatzes 1 der Private gleichsam den Vollzug eines künftigen Haftbefehls vorwegnimmt, müssen für Prozeßhindernisse, z. B. die Exterritorialität, dieselben Grundsätze wie beim Haftbefehl gelten (2 zu § 114). Bei Abgeordneten fällt unter die Verhaftung i. S. des Art. 46 Abs. 2 G G auch die vorläufige Festnahme nach § 127 Abs. I 2 , jedoch nicht, wenn sie nur vorgenommen wird, um die Persönlichkeit festzustellen (a.A. RGSt. 59 113). Sie wird in der Regel nach Art. 46 Abs. 2 G G zulässig sein. Sie ist es stets, wenn der Abgeordnete auf frischer Tat betroffen wird. Bei Verfolgung auf frischer Tat ist dagegen die vorläufige Festnahme ohne Genehmigung des Parlaments nur zulässig, wenn die Festnahme im Laufe des Tages nach der Tat gelingt. Daß der Abgeordnete nur verfolgt werden dürfte, nachdem er bei 1 2

v. H i p p e l § 66 C 1 Abs. 2; K a r a m u n t z o s 67. M a u n z - D ü r i g 50 zu Art. 46; B o c k e l m a n n , Die Unverfolgbarkeit der Abgeordneten nach deutschem Immunitätsrecht, S. 56; a. A. M e i n c k e 49.

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Neunter Abschnitt. Verhaftung und vorläufige Festnahme (Dünnebier)

§ 127 Anm. I 2, 3; II 1

Begehung der Tat betroffen worden ist 3 , ist dem Wortlaut des Art. 46 Abs. 2 G G nicht zu entnehmen. Freilich werden Prozeßhindernisse dem regelmäßig nicht erkennbar sein, der bei frischer Tat verhaftet: Verjährung ist nicht denkbar, erkennbarer Verzicht auf Strafantrag ein äußerst seltener Fall. Es bleibt wohl nur die Exterritorialität, die z. B. am Kennzeichen eines Kraftwagens (CD) erkennbar sein kann. 2. Abgrenzung. § 127 wird ergänzt durch § 183 Satz 2 GVG und durch § 231 Abs. 1 Satz 2. Die drei genannten Bestimmungen, die ihrerseits die §§ 112 bis 114 ergänzen, regeln abschließend, wann jemand wegen einer Straftat im Hinblick auf ein künftiges Strafverfahren verhaftet werden kann. Namentlich hat § 163 Abs. 1 nicht etwa die Bedeutung, Maßnahmen, die nach § 127 Abs. 1 und 2 nur unter bestimmten Voraussetzungen zulässig sind, einem an diese Voraussetzungen nicht gebundenen Ermessen der Beamten des Polizeidienstes zu unterwerfen (RGSt. 27 152; 67 352). Auf der anderen Seite bleiben alle Rechte unberührt, die die Bestimmungen über Notwehr und Notstand (§§ 53, 54 StGB, §§ 228, 904 BGB) sowohl einem durch die Straftat Verletzten als auch dem vom Verdächtigen rechtswidrig angegriffenen Festnehmenden gewähren (RGSt. 46 350; 53 132; 55 82) sowie diejenigen Befugnisse, die Polizeibeamte nach Landesrecht zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ruhe, Sicherheit und Ordnung haben (RGSt. 31 308; OLG Celle GA 53 302). 3. Rechtsfolgen. Der Festnehmende handelt, wenn die Voraussetzungen des § 127 vorliegen, rechtmäßig ( B o e h m 492; BayObLGSt. 2 387; OLG Celle NdsRpfl. 1963 189); der Verdächtige hat demzufolge kein Notwehrrecht (RGSt. 21 190; 54 197; R G JW 1938 2332; BayObLGSt. 1956 171). Ob die Tatumstände, die der Festnehmende als gegeben erachtet, auch wirklich so vorliegen, wie er sie sieht, ist nicht entscheidend. Für die Rechtmäßigkeit seines Handelns kommt es darauf an, ob er sie nach seinem pflichtgemäßen Ermessen für vorliegend erachten kann (RGSt. 38 375; BayObLGSt. 15 153). Auch wenn das Ergebnis seiner Prüfung sachlich falsch ist, handelt er rechtmäßig (RGSt. 72 311). Dagegen handelt er rechtswidrig, wenn er nicht über die Umstände irrt, aus denen sich seine Berechtigung ergibt, sondern bei richtig erkannten Umständen irrig eine ihm vom Gesetz nicht eingeräumte Berechtigung in Anspruch nimmt, also z. B. im Falle des Absatzes 1 wegen Verdunkelungsgefahr oder zum Zwecke einer Vernehmung festnimmt (RGSt. 27 157). II. Festnahme auf frischer Tat (Absatz 1). 1. Tatbegriff. § 127 will sicherstellen, daß immer, wenn nach der Strafprozeßordnung ein Verfahren eingeleitet werden kann, der Beschuldigte auf frischer Tat festgenommen werden darf. Er ergänzt sowohl § 112 in Vbdg. mit § 114 als auch § 126 a in Vbdg. mit §114. Demzufolge umfaßt der Begriff Tat sowohl die Straftat, d. h. die rechtswidrige und schuldhafte Handlung, die den Tatbestand eines Strafgesetzes verwirklicht (wie sie § 112 im Auge hat), als auch (der Fall, den § 126 a behandelt) die rechtswidrige Tat, d. h. die rechtswidrige Handlung, die den Tatbestand eines Strafgesetzes verwirklicht, auch wenn sie nicht schuldhaft begangen ist, im letzten Falle aber nur, wenn der Täter in einem Strafverfahren in einer Heil- oder Pflegeanstalt untergebracht werden kann (§ 42 b StGB), also vierzehn Jahre alt oder älter ist (§ 1 Abs. 3 JGG). Zufolge der Beschränkung der Vorschrift auf die Zwecke der Strafverfolgung ist die Festnahme von Kindern nicht als zulässig anzusehen 4 . Die Handlung braucht nicht vollendet zu sein; auch Versuch und Unternehmen berechtigen zur Festnahme, wenn sie strafbar sind 5 . Die Grenzen, die sich in bezug auf Übertretungen aus § 113 für Absatz 2 ergeben, spielen für Absatz 1 keine Rolle (RGSt. 3 4

5

So wohl B o c k e l m a n n , aaO 57, Anm. 88. M e i n c k e 43; M ü l l e r - S a x l a (1); K a u f m a n n 54; K e r n - R o x i n § 32 A I 4 b ; a. A. K l 2 C; F e i s e n b e r g e r 1; RGSt. 17 127, 19 103 und L o b e - A l s b e r g I 2 c , aber nur für den Fall, daß erzieherische, vorbeugende oder sonstige Maßnahmen oder Haftung gesetzlicher Vertreter usw. in Betracht kommen. K a r a m u n t z o s 12; M e i n c k e 44.

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§127 Anm. II 2, 3

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

34 445, 46 351; BayObLGSt. 15 153), weil dort nicht wie in Absatz 2 auf die Voraussetzungen des Haftbefehls abgestellt, sondern der besondere Festnahmegrund zur Verfügung gestellt wird, daß die Persönlichkeit nicht sofort festgestellt werden kann. Demzufolge umfaßt der Begriff Tat auch die Übertretung ohne Einschränkungen. Sie ergeben sich jedoch für Polizeibeamte (7 Abs. 2); auch kann die Festnahme nur dann zu einem Haftbefehl führen, wenn die Voraussetzungen des § 113 vorliegen6. Vorbereitungshandlungen werden, soweit nicht das Unternehmen strafbar ist, nicht vom Begriff der Tat umfaßt. Rechtfertigungs- und Entschuldigungsgründe stehen der Bestrafung und damit der Strafverfolgung entgegen, hindern die Festnahme aber nicht, wenn sie dem Festnehmenden unbekannt sind. Zwar enthält Absatz 1 nicht den Begriff des dringenden Tatverdachts, doch kann nicht auf die Sicherheit der Täterschaft 7 abgestellt werden. Der Augenschein kann stets täuschen; was als rechtswidrige Tat erscheint, kann einen, dem Beobachter unbekannten, Rechtfertigungsgrund haben. Wenn der Staat die Festnahmebefugnis an die sichtbare Tat knüpft und in seinem Interesse den augenblicklichen Entschluß zur Festnahme billigt, kann er nicht mehr als den dringenden Tatverdacht verlangen 8 . Nur müssen wegen der Anknüpfung an die frische Tat, anders als bei der Feststellung des dringenden Tatverdachts nach § 112, alle außerhalb der sichtbaren Tat denkbaren Indizien außer Betracht bleiben; einziges Beweismittel ist die frische Tat selbst. Daher ist die Festnahme gerechtfertigt, wenn die äußere Erscheinung der Tat dringenden Tatverdacht rechtfertigt. Wegen des Begriffs des dringenden Tatverdachts s. 7 zu § 112. 2. Frische Tat. Die Festnahme ist jedermann gestattet, wenn jemand auf frischer Tat betroffen oder verfolgt wird. Frisch ist die Tat, wenn die Ausführung oder die eben beendete Ausführung einer Handlung einem Beobachter als rechtswidrige Tat oder als strafbarer Versuch oder als strafbare Vorbereitung einer solchen erkennbar ist9. Dazu braucht der Beobachter nicht sämtliche Teile der Handlung wahrzunehmen, nur müssen die wahrgenommenen Teile ohne weitere Indizien den beobachteten Hergang nach der Lebenserfahrung als rechtswidrige Tat erkennen lassen. M e i n c k e bezeichnet als frisch die Tat während oder kurz nach Ablauf des Tatgeschehens (S. 61), will aber als Zeitraum kurz nach der Tat nur die Frist von 24 Stunden ansehen (S. 72), und auch im Verfolgungsfall die Festnahme nur während der frischen Tat, also innerhalb von 24 Stunden, zulassen (S. 78), so daß er die beiden Festnahmemöglichkeiten nicht zu unterscheiden braucht (S. 80). Die rechtshistorischen und rechtsvergleichenden Untersuchungen M e i n c k e s tragen seinen Schluß nicht. Denn das Gesetz trifft die Unterscheidung zwischen Betreffen und Verfolgen und setzt für die Verfolgung keine zeitliche Grenze. Die Annahme ist auszuschließen, daß der Gesetzgeber die Auslegung einer Vorschrift, die sich an jedermann wendet; von Kenntnissen der Rechtsgeschichte, ausländischer Rechte, anderer geltender und früherer Gesetze hätte abhängen lassen wollen. Fristen setzt das positive, geschriebene Recht. Fehlen sie, kann die Auslegung sie nicht schaffen. 3. Betreffen und Verfolgen. Betroffen wird auf frischer Tat, wer während (RGSt. 34 445) oder unmittelbar nach (RGSt. 65 394) einer vollendeten oder, wenn mit Strafe bedroht, einer versuchten oder unternommenen rechtswidrigen Tat bemerkt wird. Der Begriff des Überraschens oder Entdeckens ist mit den Worten „betroffen wird" nicht notwendig verbunden (RGSt. 73 348) Verfolgung auf frischer Tat liegt vor, wenn unmittelbar nach Wahrnehmen, Bemerken oder Entdecken der vollendeten oder, wenn strafbar, auch der versuchten oder unternommenen Tat die strafrechtliche Verfolgung des Täters aufgenommen wird. Es ist nicht erforderlich, daß der Täter, wenn die Tat bemerkt wird, selbst noch anwesend ist, wenn nur Spuren vorhanden sind, die auf eine bestimmte Person hinweisen und dem Verfolgenden gestatten, allein aus ihnen (Teile einer auffalligen Kleidung, benutztes Kraftfahrzeug) den ' M e i n c k e (S. 11) weist noch darauf hin, daß (nicht strafbewehrte) „Polizeiübertretungen" keine Taten i. S. des Absatzes 1 sind. Das ist selbstverständlich; daß RGSt. 46 351 eine solche „Polizeiübertretung" behandle, ist nicht erkennbar. 7 So E b S c h m i d t Nachtr. 8; K a r a m u n t z o s 58. 8 Eingehend M e i n c k e B II, III; ebenso M ü l l e r - S a x 1 a (1) 9 A. A. — Tatvorgang darf noch nicht beendet sein — P e t e r s § 4 7 B I 1.

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Neunter Abschnitt. Verhaftung und vorläufige Festnahme (Dünnebier)

§ 127 Anm. II 4

Täter festzustellen. Die Verfolgung umfaßt alle Maßnahmen, die darauf abzielen, den Täter zu ergreifen, und die das nach ihrer Natur ermöglichen, erleichtern oder sichern (RGSt. 30 388). Die Verfolgung braucht sich der Entdeckung nicht augenblicklich anzuschließen. Vielmehr kann sich der Verfolgende auf die Verfolgung vorbereiten, indem er Hilfskräfte und Hilfsmittel (Kraftwagen) herbeischafft. Nicht notwendig ist, daß der Täter auf Sicht und Gehör verfolgt wird; der Verfolgende kann ihm vorauseilen, Wege besetzen usw. (RGSt. 30 388). Eine Rast nimmt dem Nacheilen nicht den Charakter der Verfolgung (RGSt. 58 226). Der Verfolgende braucht nicht der Entdecker, kann vielmehr von diesem unterrichtet worden sein („haltet den Dieb"); immer aber muß die Tätigkeit des Verfolgenden auf eine Entdeckung der frischen Tat, sei es auch durch einen anderen, zurückgehen. Wer in die Telefonleitung einer ihm bekannten Person gerät und aus dem, was sie einem Dritten mitteilt, erfahrt, daß sie eine strafbare Handlung begangen hat, hat sie nicht auf frischer Tat betroffen und hat auch von niemandem, der das getan, davon erfahren. Er darf sie nicht selbst verfolgen, muß sich vielmehr mit einer Nachricht an die Polizei begnügen. Der Festnehmende braucht nicht der erste Verfolger zu sein. Es genügt, wenn er von ihm oder einem weiteren Zwischenmann mit Verfolgungsmaßnahmen beauftragt worden ist (RGSt. 60 69). Das Gesetz kennt keine zeitliche Begrenzung der Festnahmebefugnis. Danach kann, wenn der Täter nicht alsbald beim Betreffen festgenommen werden konnte, die Verfolgung bis zu seiner Festnahme fortgesetzt werden. Für den Fall der Verfolgung ist die frische Tat der Ausgang; eine zeitliche Begrenzung für das Ende der Verfolgung ist dem Begriff nicht zu entnehmen 10 , wohl aber hängt die Verfolgungs- und Festnahmebefugnis davon ab, daß die Verfolgung auf die noch frische Tat hin begonnen worden ist. Wird jemand Stunden nach der Tat durch einen Beobachter unterrichtet, dann kann er den Täter nicht mehr auf frischer Tat verfolgen. 4. Festnahmegründe. Wer auf frischer Tat betroffen oder verfolgt wird, kann aus zwei Gründen festgenommen werden: weil er der Flucht verdächtig ist, oder weil seine Persönlichkeit nicht sofort festgestellt werden kann. Die beiden Gründe werden nicht, wie das in § 112 Abs. 2 und 3 geschieht, als Haftgründe bezeichnet, und stimmen auch, wenigstens dem Wortlaute nach, mit keinem der Haftgründe des § 112 Abs. 2 und 3 überein; in Wirklichkeit ist das bei dem ersten Verhaftungsgrund doch der Fall (5), und beide entsprechen den Haftgründen des § 112. Dort machen die Haftgründe allein noch nicht die Voraussetzungen der Haft aus (1 zu § 112). Zu ihnen gehört noch der dringende Tatverdacht, dem hier die frische Tat entspricht, und die Verhältnismäßigkeit des anzuwendenden Zwanges zu dem angestrebten Erfolg (§112 Abs. 1 Satz 2). Dieser für die Untersuchungshaft ausdrücklich ausgesprochene Satz gilt für alle Akte der öffentlichen Gewalt. Er muß daher auch gelten, wenn ein Privater, im öffentlichen Interesse handelnd, den Vollzug eines künftigen Haftbefehls gleichsam vorwegnimmt. Demzufolge besteht die Festnahmeberechtigung nicht, wenn die Festhaltung zu der Bedeutung der Sache und zu einer zu erwartenden Strafe oder Maßregel der Sicherung und Besserung außer Verhältnis steht (BayObLGSt. 1959 41; N a u c k e NJW 1968 1225). Da die Abwägung für den Privaten äußerst schwierig ist, wird dieser das Festnahmerecht nur bei besonders schweren Verstößen, bei denen die Angemessenheit der Verhaftung auf der Hand liegt, ausüben können ( N a u c k e SchlHA 1966 101). Keine Berechtigung zur Festnahme verleiht Verdunkelungsgefahr oder Ungehorsam gegen Ladungen (§§ 230, 236). Auch darf der Beschuldigte nicht etwa deshalb festgenommen werden, weil er den beleidigt, der seine Person feststellen will (OLG Celle GA 53 302). Wenn die Identität feststeht, ist es unzulässig, den Beschuldigten festzunehmen, um ihn alsbald zu vernehmen (RGSt. 32 270; 39 190; 67 352; BGH NJW 1962 1021) 11 oder um den Erfolg einer Durchsuchung sicherzustellen (RGSt. 15 358) 12 . 10 11 12

A. A. — Verfolgung über mehrere Tage ist ausgeschlossen — M e i n e k e 66. Ebenso BayObLGSt. 1956 172; OLG Schleswig NJW 1956 1570. Wegen des Verhältnisses des Landesrechts zur Strafprozeßordnung s. auch 2 zu § 163 und K a u f m a n n 84.

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§ 127 Anm. II 5,6

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

5. Fluchtgefahr. Die vorläufige Festnahme ist zulässig, wenn der Verfolgte der Flucht verdächtig ist. Diese abkürzende Formulierung sollte vor dem Inkrafttreten des Strafprozeßänderungsgesetzes ersichtlich auf § 112 verweisen. Dort wurde in Absatz 1 Nr. 1 ein Haftgrund umschrieben, der in Absatz 2 mit der Bezeichnung Fluchtverdacht versehen wurde. In der neuen Fassung ist der Tatbestand dieses Haftgrunds enger gefaßt: die Verhaftung ist nur zulässig, wenn aufgrund bestimmter Tatsachen (diese ausdrückliche Voraussetzung bestand bisher nur bei Verdunkelungsgefahr) die Gefahr besteht (bisher: die Befürchtung begründet ist), daß sich der Beschuldigte dem Strafverfahren entziehen werde. Der Haftgrund wird im Anschluß an die neue Formulierung als Fluchtgefahr, nicht mehr als Fluchtverdacht, bezeichnet. Dem Wortlaut nach verweist § 127 Abs. 1 mit den Worten „der Flucht verdächtig ist" nicht auf § 112 Abs. 1 Nr. 2. Eine Begründung, warum § 127 unverändert geblieben ist, ist den Materialien nicht zu entnehmen. Man könnte die Auffassung vertreten, daß für eine Verhaftung, zu der jedermann befugt ist, einfachere Voraussetzungen genügen und eine durchsichtigere Fassung bereitgestellt werden sollte13. Dem letzten Punkt würde die Erwägung entgegenstehen, daß die Fassung „der Flucht verdächtig" eine Kurzfassung ist, die der Erläuterung bedarf, wann denn dieser Verdacht gegeben sei. Dem ersten Punkt wäre entgegenzuhalten, daß der Staat die Rechte für den privat Einschreitenden eher geringer zu bemessen Veranlassung hätte, als bei seinen geschulten Beamten. Denn die Gefahr, daß der Private die Grenzen überschreitet, liegt nahe. Aus beiden Überlegungen muß man folgern, daß ein Redaktionsversehen vorliegt. Nach dem Sinn der Vorschrift und nach dem System des Abschnitts will § 127 Abs. 1 mit seiner ersten Festnahmemöglichkeit auf § 112 Abs. 1 Nr. 2 verweisen14. Die Vorschrift ist daher so zu lesen, als ob sie lautete: „wenn Fluchtgefahr besteht oder die Persönlichkeit des Betroffenen nicht sofort festgestellt werden kann"; bei einer Reform sollte sie geklärt werden. Zu dem Begriff der Fluchtgefahr s. 10 zu § 112. 6. Fehlender Identitätsnachweis. Die Festnahme ist ferner zulässig, wenn die Persönlichkeit des Täters nicht sofort festgestellt werden kann. Das ist der Fall, wenn der Betroffene in einer ernstliche Zweifel ausschließenden Weise nicht ohne Vernehmung oder Nachforschung identifiziert werden kann, z. B. weil er Angaben über seine Person verweigert (RGSt. 21 10). Aber auch die Namensangabe kann ungenügend sein, wenn keine Möglichkeit besteht, sie nachzuprüfen (RGSt. 27 199). Ist der Name eines ortsansässigen Betroffenen bekannt, besteht grundsätzlich kein Festnahmerecht (RGSt. 67 353), doch kann in großstädtischen Verhältnissen die Festnahme berechtigt sein, wenn nur der Familienname, nicht aber der Vorname und die Anschrift bekannt sind (OLG Hamburg MDR 1964 778). Denn die Persönlichkeit ist nur dann festgestellt, wenn mit Hilfe bekannter oder nachgewiesener Angaben der Beschuldigte später zur Verantwortung gezogen werden kann. Reichen die Nachweise nicht aus, so wird die Nachprüfung durch die Bestätigung eines anderen, der sich selbst ausweisen kann, in der Regel möglich sein (OLG Celle GA 53 302). Können die Angaben, etwa bei großem Verkehr, bei Unruhen oder weil — ernstlich und konkret — Störungen zu erwarten sind oder wegen Dunkelheit, nipht auf der Straße nachgeprüft werden, so kann der Verdächtige zur nächsten Polizeiwache verbracht werden (RG JW 1925 1000). Daß die Feststellung später oder durch einen anderen wahrscheinlich möglich sein wird, steht der Festnahme nicht entgegen (BayObLG LZ 1928 1408). Daher braucht sich der Festnehmende, wenn der Verdächtige ein Kraftfahrzeug benutzt, nicht damit zu begnügen, das Kennzeichen festzustellen (KG VerkMitt. 1959 77). Denn damit allein kann der Nachweis, wer das Fahrzeug benutzt hat, nicht mit Sicherheit geführt werden. Wenn der Verdächtige dagegen ein öffentliches, nach Fahrplan verkehrendes, Verkehrsmittel führt, kann davon ausgegangen werden, daß eine Anfrage bei der Leitung des Verkehrsbetriebs zur Identifizierung führen wird. Der theoretisch gleichwohl nicht völlig auszuschließende Beweisverlust ist dann so gering, daß er jedenfalls bei geringeren Straftaten hingenommen werden muß. Es widerspricht dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, eine Straßenbahn 13 14

So Kl 5, ähnlich M ü l l e r - S a x l b ( l ) . Zust. N a u c k e NJW 1968 1225.

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Neunter Abschnitt. Verhaftung und vorläufige Festnahme (Dünnebier)

° Anm. II 7—9

anzuhalten, um den Ausweis des Fahrers einzusehen, wenn dieser etwa die Vorfahrt eines Kraftwagens folgenlos verletzt hat 15 . 7. Festnahmeberechtigte. Die Befugnis zur Festnahme hat jedermann, also auch ein Ausländer oder Minderjähriger; eine Altersgrenze besteht nicht ( K a r a m u n t z o s 17). Eine persönliche Beziehung des Festnehmenden zu der Tat ist nicht erforderlich. Er braucht also nicht der Verletzte oder damit beauftragt zu sein, dessen Interessen wahrzunehmen (RGSt. 12 194). Jedermann ist auch ein Polizeibeamter (RGSt. 21 12; 27 156; 46 351), der hier — anders als nach Absatz 2 — auch außerhalb seines Amtsbezirks tätig werden kann. Obwohl ein Polizeibeamter nach Absatz 2 wegen einer Übertretung nur in sehr beschränktem Umfang vorläufig festnehmen darf (§ 113), ist er im Rahmen des Absatzes 1 nach dessen Wortlaut bei frischer Tat auch bei einer Übertretung von Beschränkungen frei. Da er jedoch — im Gegensatz zu einem Privatmann — weiß, daß der Richter einen wegen Fluchtverdachts festgenommenen, einer Übertretung Verdächtigen alsbald entlassen muß, falls nicht einer der in § 113 genannten Ausnahmefalle vorliegt, darf er in bezug auf eine Übertretung wegen Fluchtverdachts nur unter den Voraussetzungen von § 113 festnehmen, sonst nur, wenn die Persönlichkeit des Verdächtigen nicht festgestellt werden kann. Die Festnahmeberechtigung endet, wenn die öffentliche Gewalt, in der Regel die Polizei, selbst einschreitet und damit das Handeln des Privaten für sie überflüssig macht (I 1 Abs. 3). Gegen ihren Willen kann ein Privater nicht tätig werden. Nimmt die anwesende Polizei einen ihr zwar bekannten, aber fluchtverdächtigen Täter nicht fest — etwa weil die Festhaltung zu der Bedeutung der Sache außer Verhältnis stehen würde —, dann ist ein Privater nicht befugt, das von sich aus zu tun. 8. Festnahme. Jede Einwirkung, die über die Frage nach Namen und Anschrift und die Einsicht in freiwillig vorgelegte Ausweise hinausgeht, ist Festnahme. Sie liegt also namentlich vor, wenn jemand zum Polizeirevier mitgenommen wird, damit dort seine Personalien festgestellt werden (RGSt. 27 157)16. Die Festnahme wird durchgefiihrt durch die Aufforderung, dem Festnehmenden zum nächsten Amtsrichter oder, was vorzuziehen ist, zur nächsten Polizeistation (3 zu § 128) zu folgen. Reicht das nicht aus, ist der Festnehmende befugt, die zur Durchführung nötigen Mittel, namentlich Gewalt, anzuwenden. Dazu darf er Handlungen vornehmen, die ohne diese Berechtigung als Freiheitsberaubung, Nötigung und körperliche Mißhandlung strafbar wären (RGSt. 12 197; 34 446; 65 3 9 2 ) K a n n der Festnehmende den Täter nicht alsbald zum Richter oder zur Polizei bringen, dann ist er befugt, ihn in einem Privatzimmer festzuhalten, bis Polizei herbeigerufen werden kann. Indessen gestattet § 127 nur, die Bewegungsfreiheit aufzuheben, aber keine weitere Einschränkung (RG DJZ 1905 219). Daher dürfen an sich erlaubte Drohungen nicht in Beleidigungen eingekleidet, darf der Festzunehmende namentlich nicht geduzt werden (BayObLGSt. 33 42). 9. Festnahmemittel. Der Festnehmende kann den Täter zwingen, in ein Kraftfahrzeug zu steigen (OLG Braunschweig HESt. 2 83). Er kann ihn festhalten und dazu fest anpacken. Doch ist ihm darüber hinaus, anders als bei der Notwehr, nicht jedes Mittel gestattet. Vielmehr muß die mit den angewendeten Mitteln verbundene Rechtsgutverletzung in einem angemessenen Verhältnis zu dem angestrebten Zweck der Festnahme stehen (RGSt. 65 394). Danach ist in der Rechtsprechung grundsätzlich für unzulässig erachtet worden, Leib und Leben des Betroffenen zu verletzen (RGSt. 34 446), namentlich auf einen Fliehenden, auch nur mit Schrot, angriffsweise zu schießen (RGSt. 65 394; 69 312; 71 52; 72 306; a. A. KG GA 69 288). Drohung mit dem Schießen (RGSt. 12 197; 65 394) und ein Warnschuß bleiben erlaubt; Belästigung der Allgemeinheit durch einen solchen Schuß muß hingenommen werden (BayObLGSt. 2 387). Fesseln und Binden sind in besonderen Fällen erlaubt, doch ist starkes Fesseln unzulässig (RGSt. 17 128). 15

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17

A. A. — Feststellungsberechtigter braucht sich nicht mit einer Anfrage bei dem Verkehrsbetrieb zu begnügen - OLG Düsseldorf VRS 9 217. Ebenso L o b e - A l s b e r g V; M ü l l e r - S a x 5; a. A. RGJW 1925 1000; JW 1935 3393; OLG Braunschweig G A 1953 28. Ebenso B o e h m 493; M e i n c k e 11.

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§ 127 Anm. II 10,11

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

Die Rechtsprechung ist an Fällen entwickelt worden, in denen die Tat geringfügig war. Sie ist nicht ohne weiteres auf die Festnahme bei schweren Verbrechen zu übertragen. Denn das angemessene Verhältnis, in dem die Mittel zu dem Festnahmezweck stehen sollen, ist auch in Beziehung zu der verübten Rechtsgutverletzung zu suchen. Daher kann auch ein unbeteiligter Dritter nach Entdeckung eines beendeten Mordes den flüchtigen Täter mit der Schußwaffe an der Flucht hindern, sofern er alles tut, seine Tötung zu vermeiden 18 . Der Festnehmende darf dem Verdächtigen Sachen wegnehmen, die ihm die Fortbewegung erleichtern (OLG Saarbrücken NJW 1959 1191). Ebenso kann er ihm Beweisstücke abnehmen, deren er sich zu entäußern sucht. Schließlich kann er sich, wenn er den Beschuldigten nicht festzunehmen vermag, darauf beschränken ( B o e h m 493), ihm solche Sachen wegzunehmen, die eine Identifizierung ermöglichen (RGSt. 8 291) 19 . Das gilt jedoch nur für Sachen, die der Täter bei sich führt, nicht für solche, die er in seiner Wohnung oder an anderer Stelle verwahrt (OLG Celle G A 37 377). Ist der Festnehmende ein Beamter, so beantwortet sich die Frage, welche Handlungen er zum Zwecke der Festnahme vornehmen darf, nach den für diesen Fall für seine Beamtengruppe erlassenen besonderen Vorschriften. Danach kann einem Beamten, anders als einem Privaten, der Gebrauch von Schußwaffen erlaubt sein (RG Recht 1926 344; RGSt. 72 305). Die Einzelheiten regeln die Landesgesetze über Anwendung unmittelbaren Zwanges; sie gestatten den Schußwaffengebrauch nur bei besonders gelagerten Fällen. Die aus seinem Amt erwachsenen Befugnisse hat der Beamte jedoch nur, wenn er die sachlichen (RGSt. 66 340) und örtlichen Grenzen seines Amtes innehält. 10. Kraftfahrer als Täter. Aus dem Recht, die Persönlichkeit des Verdächtigen festzustellen, und, wenn dies an Ort und Stelle nicht möglich ist, ihn dazu festzunehmen, folgt das weitere, die Fortbewegung des Verdächtigen zu verhindern. Das wirft besondere Fragen auf, wenn der Verdächtige zur Fortbewegung ein Kraftfahrzeug auf öffentlichen Straßen benutzt. Ist der Täter gestellt, kann er durch Wegnahme des Zündschlüssels an der Flucht gehindert werden (OLG Saarbrücken NJW 1959 1191). Muß er noch gestellt werden, ist es grundsätzlich zulässig, Hindernisse zu bereiten, die es ihm unmöglich machen, weiter zu fahren (OLG Hamburg HRR 1928 1401). Dabei ist aber sowohl eine Gefahrdung des Straßenverkehrs (OLG Hamm VRS 16 136; 23 453; K G VRS 17 359) als auch regelmäßig eine solche des Flüchtigen zu vermeiden (OLG Schleswig NJW 1953 275; OLG Frankfurt VerkMitt. 1959 72). Daher ist es in der Regel nicht zulässig, eine belebte Straße (BayObLG LZ 1928 1408), auf jeden Fall eine Autobahn, wegen einer bloßen Übertretung zu sperren (OLG Celle NdsRpfl. 1958 98). Doch müssen die anderen Verkehrsteilnehmer gewisse Belästigungen auf sich nehmen (OLG Düsseldorf VRS 9 217). Auch hier dürfen indessen einzelne Entscheidungen nicht verallgemeinert werden. Was nicht angemessen ist, wenn verfolgt wird, wer einer Übertretung verdächtig ist, kann geboten sein, wenn es gilt, einen Kraftfahrer zu stellen, der nach einem von ihm verursachten schweren Unfall die Flucht ergriffen hat. Versucht er, den Verfolger rücksichtslos abzuschütteln und gefährdet er ihn dabei, so ist es erlaubt, auch ihn zu gefährden. Andere dürfen allerdings nicht in Gefahr gebracht werden, müssen aber hinnehmen, daß sie belästigt und in schweren Fällen auch behindert werden. 11. Form. Die Festnahme unterliegt keiner besonderen Form. Sie braucht nicht ausdrücklich als solche bezeichnet zu werden. Der Festnehmende kann, wenn sonst der beabsichtigte Erfolg gefährdet wäre, davon absehen, sowohl die Festnahme (OLG Braunschweig HESt. 2 83) als auch eine Gewaltanwendung (BayObLGSt. 1959 38) anzukündigen. Die vorgenommene Handlung muß jedoch dem Verdächtigen als eine Festnahme erkennbar sein (BayObLGSt. 1960 6 6 = NJW 1960 1583). Zur Nachtzeit kann ohne Beschränkung verhaftet werden (RGSt. 40 67), wenn der zu Verhaftende außerhalb einer Wohnung, eines Geschäftsraumes oder eines befriedeten Besitztums betroffen wird oder diese Ortlichkeit auf Auffordern freiwillig verläßt. Muß 18

A . A . - kein Recht, auf Fliehende zu schießen - P e t e r s § 47 B I 1; E b S c h m i d t N a c h t r . 25; K e r n - R o x i n § 32 B II 2 a . " Ebenso R G G A 50 392: K G G A 70 12: O L G Düsseldorf HESt. 1 270: P e t e r s § 4 7 B I 1: a. A. — zwangsweise Sachentziehung darf allein nach § 94ff. beurteilt werden — E b S c h m i d t Nachtr. 26.

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Neunter Abschnitt. Verhaftung und vorläufige Festnahme (Dünnebier)

§ 127 Anm. III 1,2

eine Wohnung usw. zum Zwecke der Verhaftung, sei es am Tage, sei es zur Nachtzeit, betreten werden, dann liegt darin eine Durchsuchung, die nur unter den Voraussetzungen der §§ 102 bis 104 zulässig ist 20 . Danach scheidet sie für Private aus; für Hilfsbeamte der Staatsanwaltschaft (§ 105 Abs. 1) ist sie, da der Beschuldigte festgenommen werden soll, nachdem er auf frischer Tat verfolgt worden ist, nach § 104 Abs. 1 zulässig. III. Festnahme bei Gefahr im Verzug (Absatz 2). 1. Gefahr im Verzug liegt vor, wenn die Festnahme gefährdet wäre (vgl. § 81 c Abs. 3) zufolge der Verzögerung, die eintreten würde, falls zuvor ein richterlicher Haft- oder Unterbringungsbefehl erwirkt werden müßte. Dabei kommt es indessen nicht auf eine — kaum feststellbare — objektive Gefahr an, sondern allein darauf, ob der Beamte auf Grund der gesamten Umstände des Falles nach seinem pflichtgemäßen Ermessen als wahrscheinlich annehmen kann, der Festnahmeerfolg sei gefährdet (RGSt. 37 34; 38 375). Liegen die Voraussetzungen eines Haftbefehls vor, dann darf der Polizeibeamte den Fall der Gefahr im Verzug nicht dadurch herbeiführen, daß er, ohne einen Haftbefehl erwirkt zu haben, den Beschuldigten vernimmt und dadurch einen latenten Entschluß zur Flucht oder zur Verdunkelung zu einer konkreten Gefahr macht. Ist er aber versehentlich oder absichtlich so verfahren, dann hat das auf sein Recht zur Festnahme gleichwohl keinen Einfluß. Der Umstand, daß er durch frühere Fehler oder Pflichtwidrigkeiten die Gefahr mitverursacht hat, muß außer Betracht bleiben (BGHSt. 3 243). 2. Festnahmeberechtigt nach Absatz 2 sind die Staatsanwaltschaft und die Polizeibeamten. Der Ausdruck Staatsanwaltschaft umfaßt die Bundesanwälte, die Staatsanwälte und die Amtsanwälte einschl. ihrer Beforderungsstufen. Als Bundesanwälte gelten auch die bei der Bundesanwaltschaft beschäftigten Oberstaatsanwälte, als Staatsanwälte die mit der Wahrnehmung staatsanwaltschaftlicher Aufgaben beauftragten Assessoren, als Amtsanwälte die mit der Wahrnehmung amtsanwaltschaftlicher Aufgaben beauftragten Referendare (OLG Düsseldorf JMB1NRW 1965 103) und Inspektoren. Die Amtsanwälte sind festnahmeberechtigt nicht nur im Umfang ihrer Zuständigkeit nach den Anordnungen der Landesjustizverwaltungen über Organisation und Dienstbetrieb der Staatsanwaltschaft, sondern in allen Sachen, die zur Zuständigkeit des Amtsgerichts (§ 24 GVG) gehören (§ 142 Abs. 2 GVG), doch wird sich der Amtsanwalt in den ihm nach jenen Verfügungen nicht zugewiesenen Sachen der Anordnung einer Festnahme zu enthalten haben, wenn nicht Gefahr im Verzug in der Weise vorliegt, daß nicht nur kein Richter, sondern auch kein Staatsanwalt zu erlangen ist. Polizeibeamte sind alle Beamten des Polizeidienstes (Schutzpolizei, einschl. Wasserschutz- und Bereitschaftspolizei, und Kriminalpolizei), nicht nur die Beamten derjenigen Klassen, die nach § 152 Abs. 2 GVG als Hilfsbeamte der Staatsanwaltschaft bezeichnet worden sind 21 . Hilfsbeamte der Staatsanwaltschaft, die nicht Polizeibeamte sind, fallen nicht unter Absatz 2, doch ist einzelnen Klassen von ihnen in Einzelgesetzen die Befugnis zur Verhaftung ausdrücklich beigelegt worden. So nimmt nach § 433 Abs. 1 AO das Finanzamt dann die Rechte und Pflichten wahr, die der Staatsanwaltschaft im Ermittlungsverfahren zustehen, wenn es die Ermittlungen selbständig durchführt. Führt die Staatsanwaltschaft die Ermittlungen durch, hat das Finanzamt nach § 437 Abs. 1 AO dieselben Rechte und Pflichten, wie sie den Behörden des Polizeidienstes nach der Strafprozeßordnung zustehen. Nach § 1 Nr. 2 des Gesetzes über die Finanz Verwaltung22 gelten als Finanzämter auch die Hauptzollämter und die Zollfahndungsstellen. Die beiden Behörden und ihre Beamten haben nach § 4 2 Abs. 3 Satz 1 des Außenwirtschaftsgesetzes 23 in Außenwirtschaftsstrafsachen die Rechte und Pflichten der Polizeibeamten nach den Bestimmungen der Strafprozeßordnung. 20

21 22 23

RGSt. 31 307; P e t e r s § 47 B I 1 Abs. 7 und 8; E b S c h m i d t Nachtr. 5; a. A. - vorläufige Festnahme kann jederzeit an jedem Ort vorgenommen werden — RGSt. 4 0 67. K a u f m a n n 59. vom 6. 9. 1950 (BGBl. III 600 - 1). vom 28. 4. 1961 (BGBl. III 7400 - 1).

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§ 127 Anm. III 3 , 4 ; IV

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

In der Sitzung kann der Richter die vorläufige Festnahme wegen einer in der Sitzung begangenen strafbaren Handlung verfügen (§ 183 GVG). Aber auch in bezug auf die Handlung, die er aburteilt, kann er nicht weniger Rechte als der Staatsanwalt haben. Daher kann auch er vorläufig festnehmen, wenn die Maßregeln nach § 231 Satz 2 nicht ausreichen, etwa weil die Voraussetzungen eines Haftbefehls wegen Verdunkelungsgefahr vorliegen. Die vorläufige Festnahme von Soldaten wegen eines Dienstvergehens richtet sich nach § 9 WDO. Die Bestimmung verleiht den militärischen Vorgesetzten keine Befugnisse nach Absatz 2 24 . Von den Bahnpolizeibeamten sind nur die hauptamtlichen zur Festnahme nach Absatz 2 befugt 25 . Privatdetektive haben keine Rechte nach Absatz 2 (RGSt. 59 296). 3. Wegen der Voraussetzungen eines Haft- oder Unterbringungsbefehls s. § 112 und § 126 a, wegen fehlender Berechtigung zur Festnahme I 1 Abs. 4; die §§ 230, 236 geben für Staatsanwaltschaft und Polizei kein Recht zur vorläufigen Festnahme. Im Gegensatz zu Absatz 1 ist nach Absatz 2 die Festnahme auch wegen Verdunkelungsgefahr zulässig, aber in bezug auf Übertretungen nur unter den einschränkenden Voraussetzungen des §113 erlaubt; doch ist das bei Polizeibeamten gegenüber Absatz 1 in Wirklichkeit keine Einschränkung (II 7 Abs. 2). Da § 113 bei Übertretungen die Verhaftung wegen Verdunkelungsgefahr ausschließt, ist eine vorläufige Festnahme unzulässig, um eine Blutprobe zu erzwingen, wenn der Verdacht lediglich einer Übertretung besteht (OLG Saarbrücken NJW 1959 1190)26. 4. Wegen der Durchführung der Festnahme gilt das zu II 8 bis 11 Ausgeführte entsprechend, doch ist bei Verhaftungen zur Nachtzeit zu beachten, daß die Gefahr im Verzug, von der Absatz 2 spricht, nicht dieselbe zu sein braucht, die nach § 104 Abs. 1 berechtigt, eine Wohnung zur Nachtzeit zu durchsuchen (II 11 Abs. 2). Auch wenn der Polizeibeamte verhaften muß, ohne vorher einen richterlichen Haftbefehl erwirken zu können, kann durchaus die Möglichkeit bestehen, daß er mit der Verhaftung bis zum Tagesanbruch wartet, wenn feststeht, daß der Gesuchte sich in seiner Wohnung aufhält, und wenn deren Ausgänge gesichert werden können. IV. Strafantrag (Absatz 3). Prozeßhindernisse, wozu auch fehlende Prozeßvoraussetzungen zählen, stehen jeder Prozeßhandlung entgegen. § 130 macht hiervon für den Haftbefehl eine Ausnahme (s. auch 2 Abs. 2 zu § 114); Absatz 3 dehnt die Ausnahme auf die vorläufige Festnahme aus. Danach ist die vorläufige Festnahme bei Antragsdelikten schon zulässig, ehe ein Strafantrag gestellt ist, solange nur noch nicht feststeht, daß der Berechtigte, von mehreren Berechtigten jeder von ihnen (OLG Celle Alsb. E 1 271), ihn nicht stellen wird. Dieser Ausnahme kommt für Absatz 1 kaum Bedeutung zu. Denn bei frischer Tat wird dem Festnehmenden kaum je bekannt sein, daß ein Antragsberechtigter auf sein 24 25 26

D r e h e r - L a c k n e r - S c h w a l m WStG 9 zu § 46. § 55 Abs. 2 der Eisenbahn- Bau- und Betriebsordnung vom 8. 5. 1967 (BGBl. II 1565). Der Frage kommt bei Übertretungen schon praktisch keine große Bedeutung zu, die sich aus rechtlichen Erwägungen weiter verringert. Denn die Ansicht, daß Spuren „verwische", wer sich der Blutalkoholuntersuchung entziehen wolle, oder daß eine solche Absicht derjenigen, Spuren zu vernichten, gleichzustellen sei (OLG Braunschweig NJW 1956 1808; BayObLGSt. 1960 6 7 = N J W 1960 1583), ist nicht zu billigen. Die Konstruktion ist aber auch nicht erforderlich, weil die Blutalkoholuntersuchung (nicht der sog. Alkoholtest; BayObLGSt. 1963 15 = NJW 1963 772) nach § 81 a erzwungen werden kann und dazu eine kurzfristige Festnahme des Beschuldigten für die Dauer der Untersuchung ( B a u m a n n , Festschr. für Eb. Schmidt 538) zulässig ist (9 zu § 81 a; BayObLGSt. 1956 183 = NJW 1957 273; BayObLGSt. 1963 213 = NJW 1964 459; OLG Hamm D A R 1962 131; OLG Neustadt D A R 1962 243 = M D R 1962 593; P e t e r s Blutalkohol 1964 241). § 8 1 a enthält die Befugnis zur Beschränkung der Bewegungsfreiheit — entgegen der Ansicht N a u c k e s SchlHA 1963 103 - in sich ( D ü n n e b i e r JR 1964 149; K l e i n k n e c h t NJW 1964 2181). Es wäre undenkbar, daß das Gesetz in § 8 1 c die zwangsweise Vorführung eines Zeugen zur Blutentnahme zuließe, sie aber beim Beschuldigten habe versagen wollen. Allerdings sind zur Anordnung nach § 81 a nicht — wie zur Festnahme nach § 127 Abs. 1 — alle Polizeibeamten sondern nur diejenigen befugt, die Hilfsbeamte der Staatsanwaltschaft sind (OLG Saarbrücken NJW 1959 1191; K o h l h a a s D A R 1960 255).

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Neunter Abschnitt. Verhaftung und vorläufige Festnahme (Dünnebier)

§ 127 a Anm. 1

Antragsrecht verzichten wolle. Die Bestimmung ist nicht nur bei fehlendem Strafantrag anzuwenden, sondern ebenso bei noch ausstehender Ermächtigung, Anordnung oder Zustimmung oder einem Strafverlangen usw. (2 Absatz 2 zu § 114).

§ 127a (1) Hat der Beschuldigte im Geltungsbereich dieses Gesetzes keinen festen Wohnsitz oder Aufenthalt und liegen die Voraussetzungen eines Haftbefehls nur wegen Fluchtgefahr vor, so kann davon abgesehen werden, seine Festnahme anzuordnen oder aufrechtzuerhalten, wenn 1. nicht damit zu rechnen ist, daß wegen der Tat eine Freiheitsstrafe verhängt oder eine freiheitsentziehende Maßregel der Sicherung und Besserung angeordnet wird und 2. der Beschuldigte eine angemessene Sicherheit für die zu erwartende Geldstrafe und die Kosten des Verfahrens leistet. (2) § 116 a Abs. 1, 3 gilt entsprechend. Entstehungsgeschichte: Die Vorschrift ist durch Art. 2 Nr. 6 EGOWiG mit leichten Änderungen aus der Abgabenordnung (§ 434) übernommen worden. Schrifttum: D ü n n e b i e r , Sicherstellung der Strafvollstreckung durch Sicherheitsleistung (§§ 127 a, 132 StPO), NJW 1968 1752. 1. Voraussetzungen. Der Ersatz der Untersuchungshaft durch Sicherheitsleistung ist von drei Voraussetzungen abhängig: a) Wohnsitz. Der Beschuldigte darf im Geltungsbereich der Strafprozeßordnung, d. h. in der Bundesrepublik und in Berlin-West, keinen festen Wohnsitz oder Aufenthalt (2 zu § 113) haben. b) Fluchtgefahr. Gegen den Beschuldigten müssen die Voraussetzungen eines Haftbefehls vorliegen, aber nur aus dem einen Haftgrund der Fluchtgefahr (§112 Abs. 1 in Vbdg. mit Absatz 2 Nr. 2; 9 zu § 112). Nicht stattfinden darf das Verfahren, wenn die Voraussetzungen eines Unterbringungsbefehls (§ 126 a) gegeben sind. Die Untersuchungshaft wird bei zu erwartender Geldstrafe oft wegen des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit ( § 1 1 2 Abs. 1 Satz 2) ausgeschlossen sein; dann ist ggf. nach § 132 zu verfahren. Immerhin zeigt § 113, daß der Gesetzgeber selbst bei geringen Strafen die Untersuchungshaft für zulässig hält, wenn der Beschuldigte im Geltungsbereich der Strafprozeßordnung keinen festen Wohnsitz hat. Auf keinen Fall aber darf mit der Haft gedroht werden, wenn nach der Praxis der Gerichte nicht zu erwarten ist, daß Untersuchungshaft verhängt werde. c) Strafart. Da Untersuchungshaft nur angeordnet werden darf, wenn der Beschuldigte der Tat dringend verdächtig ist, darf das Verfahren nur stattfinden, wenn eine Strafe zu erwarten ist. Es ist aber unzulässig, wenn mit einer Freiheitsstrafe (II 2 zu § 124) oder einer freiheitsentziehenden Maßregel (II 3 zu § 124) zu rechnen ist. Jugendarrest ist ein Zuchtmittel (§13 Abs. 2 JGG) und keine Strafe. Da indessen die mit ihm verbundene Einsperrung nicht durch eine Sicherheitsleistung abgegolten werden kann, muß er hier wie eine Strafe behandelt werden, so daß, wenn Jugendarrest zu erwarten ist, das Verfahren unzulässig ist. Danach ist das Verfahren zulässig, wenn Geldstrafe (§ 27 StGB), Fahrverbot ( § 3 7 StGB), Einziehung (§ 40 StGB) oder Entziehung der Fahrerlaubnis (§ 42 m StGB) zu erwarten ist. Das Fahrverbot und die Entziehung der Fahrerlaubnis können durch eine Sicherheit nicht abgegolten werden; sie dürfen bei der Bemessung der Sicherheit auch nicht berücksichtigt werden. Die Eintragung in einen ausländischen Fahrausweis (§37 Abs. 3 Satz 2, § 42 o StGB) ist unmöglich, wenn der Beschuldigte vor der Verurteilung die Bundesrepublik verläßt. Gleichwohl sind die zuständigen Organe befugt, aber nicht verpflichtet, von der Verhaftung auch dann abzusehen, wenn neben Geldstrafe Fahrverbot oder Entziehung der Fahrerlaubnis zu erwarten ist ( D ü n n e b i e r 1753; a. A. E b S c h m i d t Nachtr. 2 12). 827

§ 127 a Anm. 2—5

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

2. Art der Sicherheitsleistung. Liegen die genannten Voraussetzungen vor, kann davon abgesehen werden, eine Festnahme anzuordnen oder aufrechtzuerhalten, wenn der Beschuldigte eine angemessene Sicherheit für die zu erwartende Geldstrafe und die Kosten des Verfahrens leistet. Wegen der Art der Sicherheit gilt § 116a Abs. 1 (2 zu § 116a) entsprechend. Dort ist auch die Bürgschaft „geeigneter Personen" vorgesehen. § 127 a Abs. 1 Nr. 2 verlangt, daß „der Beschuldigte" die Sicherheit leistet, während § 116 Abs. 4 Nr. 4 die Leistung einer Sicherheit durch den Beschuldigten „oder einen anderen" zuläßt. Durch die Verweisung auf § 116a Abs. 1 kommt zum Ausdruck, daß der Gesetzgeber die Sicherheit auch dann als vom Beschuldigten geleistet ansieht, wenn ein anderer Bürgschaft leistet. Als „geeignete Personen" sind nicht nur natürliche Personen anzusehen, sondern auch Konsulate, Kraftfahrerverbände, Banken, Versicherungsgesellschaften, Reedereiagenturen u. ä. 3. Bemessung der Sicherheitsleistung. Die Sicherheit des § 116 Abs. 1 Nr. 4 in Vbdg. mit § 116a Abs. 2 ist so zu bemessen, daß anzunehmen ist, der Beschuldigte werde lieber das Strafverfahren mit der Hauptverhandlung und den Vollzug einer Freiheitsstrafe (vgl. § 124) hinnehmen als den Verlust der Sicherheit. Dabei ist die bloße Angleichung der Sicherheit an die Höhe einer zu erwartenden Geldstrafe und die Gerichtskosten nicht zulässig ( 1 , 3 zu § 116a). Diese Grundsätze gelten für die hier behandelte Sicherheit nicht. Eine Freiheitsstrafe hat der Beschuldigte nicht zu erwarten; mit einer Hauptverhandlung, zu der er erscheinen müßte, hat er nicht zu rechnen. Das Verfahren ist vielmehr auf der Voraussetzung aufgebaut, daß der Beschuldigte einen ihm außerhalb des Geltungsbereiches der Strafprozeßordnung zugestellten Strafbefehl hinnimmt. Danach sichert die Sicherheit die zu erwartende Geldstrafe und die Kosten des Verfahrens, für die sie nach Rechtskraft der verurteilenden Entscheidung in Anspruch genommen wird. Beide Rechnungsposten sind der Bemessung der Sicherheit zugrunde zu legen, und zwar, nach dem klaren Wortlaut des Gesetzes, allein. Ist ausnahmsweise eine Einziehung zu erwarten, kann nach §§ 94, 98 verfahren werden. 4. Zustellungsbevollmächtigter (Absatz 2). „§ 116 a Abs. 3 gilt entsprechend". Diese Vorschrift hat einen dreifachen Inhalt: Der Beschuldigte wohnt nicht im Geltungsbereich des Grundgesetzes; er stellt einen Antrag, den Vollzug des Haftbefehls gegen Sicherheitsleistung auszusetzen; er ist verpflichtet, einen Zustellungsbevollmächtigten zu benennen. Ob ein Unterschied zwischen Wohnen (5 Abs. 2 zu § 116a) und festem Wohnsitz besteht, kann hier dahingestellt bleiben; denn die entsprechende Anwendung des § 116a Abs. 3 kann nicht bedeuten, daß die Voraussetzungen des § 127a Abs. 1 zurückgenommen werden. Auch das Antragserfordernis soll wohl nicht eingeführt werden. Denn das Verfahren kommt ohnehin nur zur Anwendung, wenn der Beschuldigte ihm dadurch zustimmt, daß er eine Sicherheit bestellt. Das Antragserfordernis, auch im Falle des § 116 Abs. 1 Nr. 4 zumindest überflüssig, sollte daher gewiß nicht eingeführt werden. Vielmehr hat die Verweisung praktisch denselben Inhalt wie § 132 Abs. 1 Nr. 2: Die Verhaftung unterbleibt, wenn der Beschuldigte außer der Sicherheitsleistung auch noch einen Zustellungsbevollmächtigten bestellt. Bei einer Reform sollte das klargestellt werden. Wegen des Zustellungsbevollmächtigten s. 5 zu § 116a. Dabei ist darauf hinzuweisen, daß das Gericht durch den Gesetzeswortlaut nicht gehindert ist, auch Zustellungsbevollmächtigte anzuerkennen, die nicht im Gerichtsbezirk wohnen. Bei reisenden Ausländern wird darauf Bedacht zu nehmen sein. 5. Entscheidungsberechtigt sind in erster Linie die in § 127 Abs. 2 genannten Polizeibeamten 1 , gleichgültig ob sie Hilfsbeamte der Staatsanwaltschaft sind, und die Staatsanwälte. Erweitert wird der Kreis um die Behörden und Beamten, denen in Einzelgesetzen die Befugnis zur Verhaftung ausdrücklich beigelegt worden ist (III 2 Abs. 3 zu § 127). So nimmt nach § 433 Abs. 1 AO das Finanzamt dann die Rechte und Pflichten wahr, die der Staatsanwaltschaft im Ermittlungsverfahren zustehen, wenn es die Ermittlungen selbständig durchführt. Nach § 1 Nr. 2 des Gesetzes über die Finanz Verwaltung2 gelten als 1 2

Begrdg. zu Drucks. V 2600, 2601, S. 18. vom 6. 9. 1950 (BGBl. III 600 - 1).

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Neunter Abschnitt. § Verhaftung und vorläufige Festnahme (Dünnebier)

1 2 7 a Anm

- 6-8 § 128

Finanzämter auch die Hauptzollämter und die Zollfahndungsstellen. Insoweit deckt sich § 127 a mit § 434 AO, dessen Aufhebung vorgesehen ist. Die Hauptzollämter und die Zollfahndungsstellen sowie ihre Beamten haben nach § 42 Abs. 3 Satz 1 des Außenwirtschaftsgesetzes 3 in Außenwirtschaftssachen die Rechte und Pflichten der Polizeibeamten nach den Bestimmungen der Strafprozeßordnung. Der Gesetzestext beschränkt den Kreis der Entscheidungsberechtigten nicht auf die genannten Beamten. Er umfaßt vielmehr auch den Richter, dem der Festgenommene, sofern er nicht wieder in Freiheit gesetzt worden ist, vorgeführt wird (§ 128). Auch der Fall des § 129 ist, obwohl er kaum vorkommen kann, nicht ausgeschlossen. Ebenso nicht ausgeschlossen ist die Anwendung auf sonstige Fälle, in denen es zur Anordnung der Untersuchungshaft (§ 114), die ja stets eine Anordnung der Festnahme ist, ohne vorläufige Festnahme kommt 4 . 6. Rechtsmittel. Die Entscheidung, einen Fluchtverdächtigen festzunehmen oder bei Sicherheitsleistung davon abzusehen, ist kein Verwaltungsakt, sondern eine Prozeßhandlung. Ein Rechtsmittel ist nicht gegeben. Dienstaufsichtsbeschwerde ist zulässig, aber von keiner Bedeutung. Der Beschuldigte kann die Sicherheitsleistung verweigern, sich zum Richter vorführen lassen und dort seine Entlassung ohne Sicherheitsleistung beantragen, indem er etwa den Haftgrund oder die Verhältnismäßigkeit der Untersuchungshaft angreift. Dringt er damit nicht durch und ordnet der Richter die Untersuchungshaft an, kann er dessen Entscheidung mit der Beschwerde anfechten, worüber er zu belehren ist (§ 128 Abs. 2 Satz 3 in Vbdg. mit § 115 Abs. 4). 7. Folgen. Leistet der Beschuldigte die Sicherheit, so wird er trotz des Haftgrundes der Fluchtgefahr nicht festgenommen oder, wenn er festgenommen war, entlassen. Er kann dann insbesondere den Geltungsbereich der Strafprozeßordnung verlassen. Leistet er die Sicherheit nicht, ist er vorläufig festzunehmen und unverzüglich dem Amtsrichter vorzuführen, in dessen Bezirk er vorläufig festgenommen worden ist (§ 128 Abs. 1). Das Weitere richtet sich nach § 128 Abs. 2, doch kann auch der Amtsrichter noch nach § 127a verfahren, wenn der Beschuldigte nunmehr die Sicherheit leistet. Der Amtsrichter kann § 127a auch dann anwenden, wenn die Polizei ihn für unanwendbar gehalten hatte, etwa weil sie annahm, es sei eine Freiheitsstrafe zu erwarten. 8. Verwendung der Sicherheit. Ziel der Sicherheitsleistung ist weder, den Antritt einer Freiheitsstrafe, noch die Beteiligung an einer Hauptverhandlung zu sichern. Der Gesetzgeber rechnet im Gegenteil damit, daß sich der Beschuldigte aus dem Geltungsbereich der Strafprozeßordnung entfernt, und daß die zu erwartende Strafe im Abwesenheitsverfahren oder durch Strafbefehl (3 zu § 277) auferlegt wird. Deshalb sind § 123 Abs. 2 und 3, § 124 nicht anwendbar. Die Sicherheit ist als ein Vorschuß auf die zu erwartende Geldstrafe und die im Verfahren anfallenden Kosten zu behandeln und nach Rechtskraft des Erkenntnisses abzurechnen. Daraus folgt auch, daß die Polizeibehörde die vereinnahmte Sicherheit an die Gerichtskasse abzuführen hat. Die Justizverwaltungsvorschriften müssen zur ordnungsmäßigen Behandlung und Abrechnung der Sicherheiten noch ergänzt werden.

§ 128 (1) Der Festgenommene ist, sofern er nicht wieder in Freiheit gesetzt wird, unverzüglich, spätestens am Tage nach der Festnahme, dem Amtsrichter des Bezirks, in dem er festgenommen worden ist, vorzuführen. Der Amtsrichter vernimmt den Vorgeführten gemäß § 115 Abs. 3. (2) Hält der Amtsrichter die Festnahme nicht für gerechtfertigt oder ihre Gründe für beseitigt, so ordnet er die Freilassung an. Andernfalls erläßt er auf Antrag der Staatsan3 4

vom 28. 4. 1961 (BGBl. III 7 4 0 0 - 1). Beispiel: Der Beschuldigte hatte sich bereit erklärt, bis zur Verhandlung in der Bundesrepublik zu bleiben, wird dann aber fluchtverdächtig. — Für Zuständigkeit auch des Richters ebenfalls K l 7; a. A. E b S c h m i d t Nachtr. 2 19.

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§128 Anm. 1,2

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

waltschaft oder, wenn ein Staatsanwalt nicht erreichbar ist, von Amts wegen einen Haftbefehl oder einen Unterbringungsbefehl. § 115 Abs. 4 gilt entsprechend. Entstehungsgeschichte: Durch Art. 2 Nr. 8 des Gesetzes vom 24.11.1933 (RGBl. I 1000) wurden in Absatz 2 die Worte „oder einem Unterbringungsbefehl", durch Art. 3 Nr. 50 VereinhG in Absatz 1 die Worte „spätestens am Tage nach der Festnahme" eingefügt. Die Klausel^ die sich auf den Antrag der Staatsanwaltschaft bezieht, ist durch Art. 3 Nr. 2 des 8. StRÄndG eingestellt worden. Der Wortlaut des letzten Satzes von Absatz 1 und von Absatz 2 stammt aus Art. 1 Nr. 2 StPÄG; er dient der Anpassung an die §§ 115, 115a. Schrifttum: K a i s e r , Mitwirkung der Staatsanwältschaft bei Erlaß eines Haftbefehls gemäß § 128 StPO, NJW 1969 1097. 1. Beendigung der vorläufigen Festnahme. Die Untersuchungshaft ist alsbald zu beenden, wenn ihre Voraussetzungen nicht mehr vorliegen oder wenn sie außer Verhältnis zu der zu erwartenden Sanktion stehen würde. Dieser ausdrückliche Gesetzesbefehl (§ 120 Abs. 1) wird für die vorläufige Festnahme nicht wiederholt, ist aber selbstverständlich, weil ohne Festnahmegrund keine Festnahme bestehen bleiben darf. Mit diesem Inhalt ist der erste Zwischensatz („sofern er nicht wieder in Freiheit gesetzt wird") auszufüllen. Danach muß, wer den Verdächtigen festgenommen hat — wenn es ein Beamter war, auch sein Vorgesetzter — ihn alsbald freilassen, wenn die Festnahmegründe entfallen sind. Das ist nach Festnahme auf frischer Tat stets der Fall, wenn bei einem nicht fluchtverdächtigen Unbekannten die Personalien festgestellt sind oder wenn eine Fluchtgefahr, die zunächst bestanden hatte, ausgeräumt worden ist. Alsdann ist es auch unzulässig, eine zunächst zulässige Festnahme zu dem Zwecke aufrechtzuerhalten, die Fortsetzung der Straftat eines bekannten, nicht fluchtverdächtigen Täters zu verhindern (I 1 Abs. 2 zu § 127). Im Falle des § 127 Abs. 2 kann die Einlassung des Festgenommenen ergeben, daß der Festnehmende die Haftgründe zu Unrecht angenommen hatte, etwa weil sich herausstellt, daß nur der Fall des § 113 vorliegt, dessen besondere Voraussetzungen aber nicht gegeben sind, oder weil sich ergibt, daß die Tat — entgegen der ursprünglichen Annahme — nur geringfügig ist, und daher die Haft zu der Bedeutung der Sache und der zu erwartenden Strafe außer Verhältnis stehen würde. Ohne Rücksicht auf den Stand der Identitätsfeststellung und trotz bestehender Fluchtgefahr ist ein Festgenommener, der sich in polizeilichem Gewahrsam befindet, alsbald dann freizulassen, wenn die Polizei ihn nicht bis zum Ende des Tages nach der Festnahme dem Amtsrichter (§ 128 Abs. 1) oder dem zuständigen Gericht (§ 129 Abs. 1) hat vorführen können (Art. 104 Abs. 2 Satz 3 G G ; E b S c h m i d t Nachtr. 4, 5). 2. Verhältnis zu § 129 und § 115. Das Verfahren nach der Festnahme ist in den §§ 128, 129 geregelt. Dabei behandelt § 129 die Vorführung, nachdem die öffentliche Klage bereits erhoben ist, und demnach § 128 den Fall, daß dies noch nicht geschehen ist. Beide Bestimmungen gehen davon aus, daß noch kein Haftbefehl vorliegt, wie sich aus § 128 Abs. 2 Satz 2, § 129 letztem Halbsatz ergibt. Es ist aber denkbar, daß jemand vorläufig festgenommen wird, obwohl gegen ihn bereits ein Haftbefehl erlassen worden ist. § 127 hat das nicht im Auge, setzt vielmehr voraus, daß noch kein Haftbefehl ergangen ist („wenn die Voraussetzungen eines Haftbefehls . . . vorliegen"). Ausnahmsweise kann das indessen gleichwohl der Fall sein, ohne daß der verhaftende Beamte das weiß. Für § 127 Abs. 1 kann dieser Fall nicht eintreten, wenn der Täter auf frischer Tat betroffen wird. Wird er nach Verfolgung festgenommen, könnte theoretisch inzwischen ein Haftbefehl ergangen sein; praktisch ist es nahezu ausgeschlossen. Kommt es gleichwohl vor, wird der Verfolgende von dem Haftbefehl benachrichtigt, so daß er nach § 115 zu verfahren hat, wenn er den Beschuldigten nunmehr aufgrund des Haftbefehls ergreift. Anders ist es im Falle des § 127 Abs. 2. Hier kann der Festnehmende auf keinen Fall wissen, daß die Untersuchungshaft bereits angeordnet ist. Nimmt er den Beschuldigten ohne Kenntnis von dem Haftbefehl fest, so kann er ihn nicht „aufgrund des Haftbefehls" ergreifen. Alsdann findet nicht § 115, sondern § 128 Abs. 1 Satz 1 Anwendung. Für die Vernehmung gilt § 115 Abs. 3 (§ 128 Abs. 1 Satz 2), für die Entscheidung § 128 Abs. 2 Satz 1 und 2 und für die Rechtsmittelbelehrung § 115 Abs. 4 (§ 128 Abs. 2 Satz 3).

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Neunter Abschnitt. Verhaftung und vorläufige Festnahme (Dünnebier)

§ 128 Anm. 3—6

3. Die Vorführung (3 zu § 115) ist zu dem Amtsrichter des Bezirks zu bewirken, in dem der Verhaftete festgenommen worden ist. Die Vorschrift ergibt, im Hinblick darauf, daß im Falle des § 127 Abs. 1 jedermann zur Festnahme berechtigt ist, eine klare, leicht einprägsame Vorführungsregel. Sachlich ist sie entbehrlich, nachdem in § 125 Abs. 1, der auch im Falle der vorläufigen Festnahme gilt, die Zuständigkeit des Amtsrichters begründet worden ist, in dessen Bezirk sich der Beschuldigte — hier zufolge der vorläufigen Festnahme — aufhält. Daß mit § 128 Abs. 1 eine von § 125 Abs. 1 abweichende ausschließliche Zuständigkeit des Richters des Festnahmebezirks geschaffen werden sollte (so OLG Dresden JW 1932 1779), ist ihr nicht zu entnehmen; es ist auch kein Grund für eine solche Abweichung zu erkennen. Demzufolge ist außer dem Amtsrichter des Festnahmebezirks auch jeder nach § 125 Abs. 1 zuständige Amtsrichter zur Vernehmung und zu den Entscheidungen nach § 128 Abs. 2, § 129 berufen (OLG Celle JZ 1956 125), ebenso der Ermittlungsrichter des Bundesgerichtshofs und des Oberlandesgerichts (1 zu § 125). Der Vorführende, gleichviel ob er eine Privatperson oder ein Polizeibeamter ist, braucht den Festgenommenen nicht unmittelbar zum Richter zu bringen, kann ihn vielmehr bei der nächsten Polizeiwache (RGSt. 29 137) oder, wenn diese nicht mit Kriminalpolizei besetzt ist, bei der nächsten Kriminaldienststelle abliefern. Diese hat den Festgenommenen unverzüglich dem Richter vorzuführen, falls sie ihn nach Prüfung des Sachverhalts, zu der sie berechtigt und verpflichtet ist, nicht von sich aus freiläßt (RGSt. 67 299). Für Privatpersonen und Polizeibeamte, die nicht Kriminalbeamte sind, empfiehlt sich dieser Weg; es wäre wünschenswert, wenn er in § 127, der sich an jedermann wendet, bei einer Reform ausdrücklich bezeichnet würde. Befindet sich am Sitze des Richters eine Staatsanwaltschaft, dann hat ein Beamter, wenn die Zeit es zuläßt, den Beschuldigten dorthin zuzuführen, damit die Staatsanwaltschaft den notwendigen Antrag (Absatz 2 Satz 2) stellen kann und auf diese Weise durch die Anhörung (§ 33 Abs. 2) keine weitere Zeit verlorengeht. Die Staatsanwaltschaft wird auch am ehesten feststellen können, ob bereits öffentliche Klage erhoben ist oder ob etwa schon ein Haftbefehl vorliegt. Außerdem kann sie, wenn sie die zuständige Staatsanwaltschaft ist und die öffentliche Klage noch nicht erhoben hat, den Vorgeführten entlassen. Da ihr das Recht der Entlassung für die Zeit nach Erlaß des Haftbefehls zusteht (§ 120 Abs. 3), hat sie es auch vorher. 4. Frist. Wegen der in Absatz 1 gebrauchten Wendung „unverzüglich, spätestens am Tage nach der Festnahme" s. 4 zu § 115, wegen der „symbolischen Vorführung" 3 Abs. 2 zu § 115. 5. Die Vernehmung ist nach § 115 Abs. 3 durchzuführen. Wegen ihres Inhalts und der Form s. 7, 8a zu § 115. § 128 Abs. 1 Satz 2 enthält keine Verweisung auf § 115 Abs. 2, wonach der Richter den Beschuldigten unverzüglich nach der Vorführung, spätestens am nächsten Tage, zu vernehmen hat. Das ist ein Mangel des Gesetzes; er kann jedoch durch Auslegung behoben werden. Wenn der Beschuldigte, gegen den ein Haftbefehl vorliegt, unverzüglich zu vernehmen ist (§115 Abs. 2), dann gilt das für den, gegen den noch kein Haftbefehl vorliegt, erst recht; er muß sich so rasch wie möglich verteidigen können. Für die Endfrist gilt § 129, letzter Halbsatz, entsprechend. Der Beschuldigte ist so frühzeitig zu vernehmen, daß der Richter spätestens am Tage nach der Festnahme entscheiden kann. Nur so kann Art. 104 Abs. 2 Satz 3 G G Genüge getan werden. Die Vernehmung ist entbehrlich, wenn der Richter aufgrund des Festnahmeberichts alsbald die Freilassung anordnen kann oder wenn die Staatsanwaltschaft die Freilassung nach § 120 Abs. 3 Satz 1 beantragt. 6. Verfahren. Nach § 169 Abs. 1, § 192 Abs. 2 können Staatsanwalt und Verteidiger der Vernehmung beiwohnen. Sie sind daher von dem Termin zu benachrichtigen, „soweit dies ohne Aufenthalt für die Sache geschehen kann" (§ 192 Abs. 2 Satz 2). Telefonisch wird das beim Verteidiger regelmäßig, bei der Staatsanwaltschaft stets der Fall sein, wenn der Richter sich bewußt bleibt, daß die ihm obliegende Fürsorgepflicht Vorkehrungen erfordert, die eine Benachrichtigung für den Regelfall möglich machen. 831

§ 1 2 8 Anm. 7, 8 § 129 Anm. 1

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

7. Entscheidung. Die Entscheidung des Amtsrichters ist verschieden, je nachdem, ob schon ein Haftbefehl ergangen ist oder ob dieser Umstand, was der Regelfall ist, nicht vorliegt. Liegt kein Haftbefehl vor, dann entscheidet der Amtsrichter nach dem Ergebnis der Vernehmung und aufgrund des Vorführungsberichts. Bei der Entscheidung hat er nicht zu prüfen (worauf die nicht ganz glückliche Fassung des § 128 Abs. 2 — freilich nur scheinbar — hindeuten könnte), ob die Festnahme gerechtfertigt war, sondern allein, ob im Augenblick der Entscheidung die Voraussetzungen eines Haftbefehls vorliegen. Aufgrund dieser Prüfung läßt er den Vorgeführten entweder frei oder erläßt einen Haft- oder einen Unterbringungsbefehl (§ 128 Abs. 2). Beantragt die nach § 33 Abs. 2 zu hörende Staatsanwaltschaft die Freilassung, so hat er dem zu entsprechen (§ 120 Abs. 3 Satz 1). Hat der Amtsrichter selbst (zwischen Verfolgung und Verhaftung) einen Haftbefehl erlassen, so entscheidet er nach § 115 (5 zu § 115). Hat ein anderer Richter einen Haftbefehl erlassen, so entscheidet er, wenn ihm das bekannt ist, als nächster Richter nach § 115 a Abs. 2 Satz 3, Absatz 3. § 128 Abs. 2 gilt dann nicht, weil — wie 3 ausgeführt — die §§ 128, 129 nur den Fall im Auge haben, daß noch kein Haftbefehl vorliegt. Der Antrag der Staatsanwaltschaft ist, von Notfallen abgesehen, notwendige Voraussetzung der Entscheidung, daß die Untersuchungshaft angeordnet werde. Vor dieser ist daher die Staatsanwaltschaft auf jeden Fall zu hören, falls sie ihren Antrag nicht schon bei der Vorführung gestellt hat. Aber auch wenn der Richter keinen Haftbefehl erlassen will, hat er die Staatsanwaltschaft nach § 33 Abs. 2 zu hören ( K a i s e r 1098; K l 6). Wegen der Veranlassung der Entscheidung — auf Antrag oder von Amts wegen — s. 2 zu § 125. Wegen der Rechtsmittelbelehrung gilt § 115 Abs. 4 entsprechend. Nach Erlaß des Haftbefehls richtet sich das weitere Verfahren nach § 114 a Abs. 2 (Abschrift des Haftbefehls), § 114 b (Haftbenachrichtigung und Zugangsbrief), §§ 116 ff. 8. Mehrere Haftbefehle. Ausnahmsweise kann es vorkommen, daß der Haftrichter nach § 128 Abs. 2 Satz 2 einen Haftbefehl erläßt, obwohl an anderer Stelle schon die Untersuchungshaft angeordnet ist, Dann ist nach den allgemeinen Vorrangsregeln (§12 Abs. 1) zu entscheiden. Für das Ermittlungsverfahren fehlen sie. Die Staatsanwaltschaften haben sich zu einigen. Der Amtsrichter des Bezirks, deren Staatsanwaltschaft das Verfahren abgegeben hat, gibt in entsprechender Anwendung des § 126 Abs. 1 Satz 3 das Verfahren an den Amtsrichter des Bezirks ab, deren Staatsanwaltschaft das Verfahren führt. Dieses hebt einen der beiden Haftbefehle auf. Einfacher ist es, wenn die abgebende Staatsanwaltschaft vor der Abgabe die Aufhebung des Haftbefehls nach § 120 Abs. 3 Satz 1 beantragt. Ist bereits Klage erhoben, so wird das Verfahren dort weitergeführt, wo das Hauptverfahren oder die Voruntersuchung bereits eröffnet ist. Dem danach zuständigen Gericht oder Untersuchungsrichter hat der Amtsrichter den Haftbefehl und die Vorgänge abzugeben. Das Gericht hebt dann einen der beiden Haftbefehle auf. Der Amtsrichter ist aber auch befugt, seinen Haftbefehl von Amts wegen oder auf Antrag des Beschuldigten oder der für ihn zuständigen Staatsanwaltschaft im Hinblick auf die Anhängigkeit der Sache bei dem anderen Gericht aufzuheben.

§ 129 Ist gegen den Festgenommenen bereits die öffentliche Klage erhoben, so ist er entweder sofort oder auf Verfügung des Amtsrichters, dem er zunächst vorgeführt worden ist, dem zuständigen Gericht oder dem Untersuchungsrichter vorzufuhren; diese haben spätestens am Tage nach der Festnahme über Freilassung, Verhaftung oder einstweilige Unterbringung des Festgenommenen zu entscheiden. Entstehungsgeschichte: Durch Art. 2 Nr. 9 des Gesetzes vom 24.11.1933 (RGBl. I 1000) wurden die Worte „oder einstweilige Unterbringung", durch Art. 3 Nr. 50 die Worte „spätestens am Tage nach der Festnahme" eingefügt. 1. Hinweise. Wie bereits ausgeführt (2 zu § 128), regelt § 129 das Verfahren nach der vorläufigen Festnahme für den Fall, daß bereits die öffentliche Klage erhoben ist. Wegen 832

Neunter Abschnitt. Verhaftung und vorläufige Festnahme (Dünnebier)

° * Anm. 2—4

des Begriffs Erhebung der öffentlichen Klage s. 3 Abs. 2 zu § 125. Wegen der Freilassung vor der Vorführung gilt das 1 zu § 128 Ausgeführte; der Umstand, daß bereits öffentliche Klage erhoben ist, begründet keinen Unterschied. 2. Vorführung. Wird der Festgenommene nicht wieder in Freiheit gesetzt, dann kann der vorführende Beamte (es können nur Fälle des § 127 Abs. 2 und als Vorführende daher nur Beamte in Betracht kommen) den Festgenommenen dem zuständigen Gericht — wenn Voruntersuchung schwebt, dem Untersuchungsrichter — unmittelbar vorführen. Wegen des Begriffs der Vorführung s. 3 zu § 115. Das ist sachgemäß, wenn der Beamte den zuständigen Richter fristgemäß erreichen kann. Er braucht diesen Weg aber nicht einzuschlagen, kann vielmehr in jedem Fall den Amtsrichter (§ 128 Abs. 1, § 125 Abs. 1) angehen. Das muß er tun, wenn er den Beschuldigten dem zuständigen Richter nicht fristgemäß zuführen kann. Das Wort „sofort" steht in keinem Gegensatz zu dem in § 128 verwendeten Ausdruck unverzüglich, hat vielmehr die Bedeutung von unmittelbar ( H ä r t u n g 2). Demzufolge ändert § 129, der als Sonderfall des § 128 aus dieser Vorschrift zu ergänzen ist, nichts an der dort begründeten Verpflichtung, den Festgenommenen unverzüglich, spätestens am Tage nach der Ergreifung, dem Richter vorzuführen. Er bestimmt vielmehr nur, daß der Verdächtige innerhalb dieser Frist statt dem Amtsrichter, „sofort", d. h. ohne amtsrichterliche Vermittlung, dem zuständigen Gericht zugeführt werden kann, wenn die Zuständigkeit durch die Klage festgelegt ist. Bei einer Reform sollte das klargestellt werden. 3. Vernehmung. Die Vorschrift des § 129 ist nur verständlich, wenn man sie nicht als selbständige Bestimmung, sondern als Ergänzung des § 128 auffaßt. Auf § 128 ist daher für den Fall zurückzugreifen, daß der Festnehmende den Angeschuldigten nicht dem zuständigen Richter, sondern dem Amtsrichter vorführt. Die Verpflichtung des Amtsrichters, die Vorführung zum zuständigen Gericht anzuordnen, entbindet ihn nicht von der Pflicht, den Angeschuldigten unverzüglich selbst zu vernehmen. Diese Vernehmung hat dem § 115 Abs. 3 zu entsprechen. Auch § 115 Abs. 2 ist anzuwenden (5 Abs. 2 zu § 128). Wird der Vorgeführte, sei es sofort, sei es nach Vernehmung durch den Amtsrichter, dem zuständigen Gericht vorgeführt, so hat dieses ihn zu vernehmen. Das ist zwar in § 129 nicht vorgeschrieben. Wenn das zuständige Gericht aber nach Erlaß eines Haftbefehls zur Vernehmung des ergriffenen Beschuldigten verpflichtet ist (§115 Abs. 2), so hat es diese Verpflichtung erst recht, wenn ihm jemand vorgeführt wird, gegen den noch kein Haftbefehl vorliegt. Die Vernehmung ist entbehrlich, wenn der Richter aufgrund des Festnahmeberichts alsbald die Freilassung anordnen kann oder wenn die Staatsanwaltschaft die Freilassung nach § 120 Abs. 3 Satz 1 beantragt. Auch für diese Vernehmung ist § 115 Abs. 1, für die Frist zu dieser Vernehmung § 115 Abs. 2 anzuwenden. Wegen des Verfahrens gilt das 6 zu § 128 Ausgeführte. 4. Entscheidung. Ist die öffentliche Klage bei dem Amtsrichter des Verhaftungsbezirks erhoben worden, dann trifft dieser die in § 129 vorgesehene Entscheidung. Ist sie bei einem anderen Gericht erhoben, dann ordnet der Amtsrichter die Vorführung zu dem zuständigen Gericht an. Der Amtsrichter kann jedoch den Beschuldigten auch freilassen. Zur Freilassung ist er nicht nur im Rahmen des § 115a Abs. 2 Satz 3, sondern im gleichen Umfange wie der Festnehmende selbst befugt und verpflichtet. Seine gegenüber § 115 a Abs. 2 weitergehende Befugnis erklärt sich daraus, daß die Untersuchungshaft noch nicht angeordnet ist. Zum Erlaß eines Haftbefehls ist er dagegen, wenn die Strafsache schon bei einem anderen Gericht anhängig ist, nicht befugt (OLG Hamm Recht 1899 25; M ü l l e r - S a x 3a; a. A. E b S c h m i d t Nachtr. 7, 8). Das ist allein Sache des zuständigen Gerichts. Dessen Entscheidung kann nur auf Freilassung (auch nach § 116 Abs. 1 und 2 und nach § 72 Abs. 1 JGG) oder auf Anordnung der Untersuchungshaft (§ 114) oder der einstweiligen Unterbringung (§ 126a) lauten. Wegen der Zuständigkeit s. § 126. Die Entscheidung des zuständigen Gerichts ist spätestens am Tage nach der Festnahme zu treffen. Von dieser Frist entbindet nur höhere Gewalt. Die Überführung vom Amtsrichter zum zuständigen Gericht muß daher stets im Einzeltransport auf schnellstem Wege bewirkt werden. 833

§ 1 2 9 Anm. 5 § 130 Anm. 1,2

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

Nach Erlaß des Haftbefehls richtet sich das weitere Verfahren nach § 114 a Abs. 2 (Abschrift des Haftbefehls), § 114b (Haftbenachrichtigung und Zugangsbrief), §§ 116 ff. 5. Wegen der Rechtsmittelbelehrung gilt § 115 Abs. 4 entsprechend. Das ist zwar nur für den Fall bestimmt, daß der Amtsrichter die Untersuchungshaft anordnet (§ 128 Abs. 2 Satz 3), gilt aber auch dann, wenn die Untersuchungshaft nach § 129 von dem zuständigen Gericht verhängt wird. Denn die Rechtsmittelbelehrung ist, wie der Zusammenhang der Vorschriften eindeutig erkennen läßt, immer zu erteilen, wenn jemand aufgrund eines Haftbefehls in Haft genommen wird, oder wenn gegen jemanden, der sich in Haft befindet, ein Haftbefehl ergeht.

§ 130 Wird wegen Verdachts einer strafbaren Handlung, die nur auf Antrag verfolgt wird, ein Haftbefehl erlassen, bevor der Antrag gestellt ist, so ist der Antragsberechtigte, von mehreren wenigstens einer, sofort von dem Erlaß des Haftbefehls in Kenntnis zu setzen. § 120 Abs. 3 ist anzuwenden. Entstehungsgeschichte: Satz 2 hat, ohne inhaltliche Änderung, seine Fassung durch Art. 1 Nr. 3 StPÄG erhalten. 1. Inhalt. Wie schon § 127 Abs. 3 bringt auch diese Vorschrift zum Ausdruck, daß mit der Verhaftung und deren Anordnung nicht gewartet zu werden braucht, bis ein Strafantrag gestellt ist ( H a h n Mat. 1 697). Nachdem neben den Strafantrag andere ihm gleichwertige Voraussetzungen gestellt worden sind, muß die Vorschrift auch auf sie angewendet werden, nämlich auf Ermächtigung, Strafverlangen und Behördenantrag (2 Abs. 2 zu § 114). Dagegen ist es unzulässig, einen Haftbefehl zu erlassen, bevor das Parlament dazu die Genehmigung erteilt hat, es sei denn, daß der Abgeordnete bei Begehung der Tat oder im Laufe des nächsten Tages festgenommen worden ist. Ob der Gedanke des § 130 auch bei anderen Zwangseingriffen (Beschlagnahme, Durchsuchung) anzuwenden ist, ist dort zu untersuchen. Für die im Gesetzeswortlaut genannte „Handlung, die nur auf Antrag verfolgt wird", wird die Bestimmung kaum Anwendung finden, nachdem bei Körperverletzung auch von Amts wegen eingeschritten werden kann (§ 232 Abs. 1 StGB). Bedeutung kommt ihr vor allem in bezug auf Straftaten zu, die nur auf Ermächtigung usw. verfolgt werden dürfen. Da der Strafantrag Klagevoraussetzung ist, kann der Fall, den die Bestimmung im Auge hat, nur vor Erhebung der öffentlichen Klage eintreten. Für diesen Zeitabschnitt gilt § 120 Abs. 3 auch ohne Verweisung. Demzufolge ordnet der letzte Satz etwas Selbstverständliches an, ist somit entbehrlich und bei einer Reform zu streichen. 2. Die Benachrichtigung enthält die Mitteilung, daß gegen den Beschuldigten wegen der nach Zeit, Ort und Tatumständen bezeichneten Handlung Haftbefehl ergangen sei. In ihr wird dem Antragsberechtigten Gelegenheit gegeben, Strafantrag zu stellen. Ihm wird eröffnet, daß der Beschuldigte nach Ablauf einer bestimmten Zeit aus der Haft entlassen werde, wenn kein Antrag gestellt worden oder keine Antwort eingegangen sei. Unter Umständen kann es unangebracht sein, eine Frist zu setzen und auf eine Entlassung hinzuweisen, etwa dann, wenn ein Justizministerium benachrichtigt wird; denn bei einem solchen gehört es zur Dienstpflicht, Haftsachen vordringlich und rasch zu bearbeiten. Ob dem Antragsberechtigten die Straftat bekannt oder unbekannt ist, ist für die Benachrichtigungspflicht gleichgültig. Empfänger der Benachrichtigung ist der Antragsberechtigte. Sind mehrere Personen antragsberechtigt, so sind alle Empfanger. Zwar genügt es, wenn eine von ihnen benachrichtigt wird. Eine solche Beschränkung empfiehlt sich aber nicht, weil sonst, wenn der allein Benachrichtigte keinen Antrag stellt, nunmehr die anderen Berechtigten benachrichtigt werden müssen. Da Haftsachen stets beschleunigt bearbeitet werden müssen, ist es vielmehr geboten, allen bekannten Antragsberechtigten gleichzeitig Nachricht zu geben. Für die meisten Fälle der Ermächtigung usw. sind Berichtswege zu beachten. Mit der Benachrichtigung soll klargestellt werden, ob eine Klagevoraus Setzung geschaffen wird. Daher ist sie Sache der Staatsanwaltschaft, an die die Akten alsbald nach Erlaß 834

Neunter Abschnitt. Verhaftung und vorläufige Festnahme (Dünnebier)

§ 130 Antn.3 § 131 Anm. 1

des Haftbefehls zur weiteren Entschließung gelangen. Da der Richter für die Haftkontrolle verantwortlich bleibt, kann auch er die Benachrichtigung vornehmen. Mit § 36 (so L o b e A l s b e r g 3) hat die Frage indessen nichts zu tun; denn es steht keine richterliche Entscheidung, die der Vollstreckung bedarf, in Rede. 3. Für die Aufhebung des Haftbefehls gelten die allgemeinen Gründe (§ 120), so daß es in einzelnen Fällen zur Entlassung kommen kann, ehe die dem Berechtigten gesetzte Frist abgelaufen ist. Von eigentlicher Bedeutung ist aber der Fall, daß der Haftbefehl aufgehoben werden muß, weil die Straftat nicht mehr verfolgt werden kann: Ist die Strafantragsfrist ergebnislos abgelaufen oder haben sämtliche Berechtigte bei Gericht, bei der Staatsanwaltschaft oder der Polizei auf den Strafantrag verzichtet (BGH NJW 1957 1368), so muß der Haftbefehl aufgehoben werden. Erklären die Berechtigten auf die Benachrichtigung, sie stellten keinen Strafantrag, so ist das zwar nicht stets als Verzicht auf das Antragsrecht auszulegen (OLG Hamm JMB1NRW 1953 35). Die Erklärung nötigt aber gleichwohl zur Entlassung, weil mit großer Wahrscheinlichkeit feststeht, daß das Verfahren wird eingestellt werden müssen. Geht innerhalb der Frist keine Antwort ein, so ist die Staatsanwaltschaft zur Entlassung berechtigt, doch wird sich bei manchen Ermächtigungen erneute Rückfrage empfehlen, weil zum Teil umfängliche Vorbereitungen vor der endgültigen Entschließung notwendig sind.

§ 131 (1)Auf Grund eines Haftbefehls oder eines Unterbringungsbefehls können die Staatsanwaltschaft oder der Richter einen Steckbrief erlassen, wenn der Beschuldigte flüchtig ist oder sich verborgen hält. (2) Ohne Haft- oder Unterbringungsbefehl ist eine steckbriefliche Verfolgung nur zulässig, wenn ein Festgenommener entweicht oder sich sonst der Bewachung entzieht. In diesen Fällen kann auch die Polizeibehörde einen Steckbrief erlassen. (3) In dem Steckbrief ist der Verfolgte zu bezeichnen und soweit möglich zu beschreiben. Die Tat, deren er verdächtig ist, sowie Ort und Zeit ihrer Begehung sind anzugeben. (4) Die §§115 und 115a gelten entsprechend. Entstehungsgeschichte: Absatz 4 ist eingefügt durch das Gesetz zur Abänderung der Strafprozeßordnung vom 27. 1. 1926 (RGBl. I 529) und hat seine jetzige Fassung erhalten durch Art. 1 Nr. 4 StPÄG. Die Erweiterung auf den Unterbringungsbefehl beruht auf Art. 2 Nr. 10 des AG zu dem Gesetz gegen gefahrliche Gewohnheitsverbrecher und über Maßregeln der Sicherung und Besserung vom 24. 11. 1933 (RGBl. I 1000). 1. Der Inhalt von Absatz 1 ist eindeutig, der von Absatz 2, wie auch dessen Verhältnis zu Absatz 1, ist dagegen unklar. Immerhin vermittelt die Entstehungsgeschichte Einblicke in die Absichten des Gesetzgebers. In den Motiven ( H a h n 1 138) ist ausgeführt: Der Erlaß eines Steckbriefes solle, weil durch ihn der Ruf des vielleicht unschuldigen Beschuldigten gefährdet werde, regelmäßig nur zulässig sein, wenn der Richter die Verhaftung oder Verwahrung angeordnet habe. Auf diese Rücksicht habe aber der Entwichene keinen Anspruch; deshalb mache Absatz 2 eine im Interesse der Verfolgung notwendige Ausnahme. Daß diese Ausnahme sich indessen nicht nur auf die Ermächtigung bezieht, einen Steckbrief auch bei fehlendem Haftbefehl zu erlassen, sondern namentlich auf die Befugnis der Polizei, steckbrieflich zu verfolgen, ist in der Reichstagskommission dargelegt worden: In den Fällen des Absatzes 2 habe ein Steckbrief nur Bedeutung, wenn er sofort vollstreckt würde. Dazu sei vorzugsweise geeignet, daß die Polizei unmittelbar einschreite. Wäre die steckbriefliche Verfolgung erst auf dem Umweg über eine richterliche Verfügung zu erreichen, dann könnte der Beschuldigte häufig nicht ereilt werden ( H a h n 2 1267). Dem hat auch der Regierungsvertreter zugestimmt ( H a h n 2 1268), nachdem er allerdings früher erklärt hatte, Absatz 2 beziehe sich nur auf den Fall des § 127. Die dargestellte Ansicht setzte sich zunächst nicht durch; § 131 Abs. 2 Satz 2 wurde gestrichen. Gleichzeitig wurde die Vorschrift authentisch dahin interpretiert, daß sie nur im Vorverfahren Anwendung finde, nicht dagegen, wenn ein bereits Verurteilter 835

§131 Anm. 2

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

sich der Haft entziehe ( H a h n 2 1268, 1504). Für diese Fälle sollte der Polizei die Befugnis, Steckbriefe zu erlassen, durch § 131 nicht entzogen sein ( H a h n 2 1531). Nachdem der Bundesrat Vorstellungen erhoben hatte ( H a h n 2 1597), wurde Satz 2 von der gleichen Kommission, die ihn vorher gestrichen hatte, wieder angefügt. Gründe dafür sind nicht angegeben ( H a h n 2 1624). Nach diesen Vorgängen wird man der Entstehungsgeschichte entnehmen dürfen, daß die Reichstagskommission in Ubereinstimmung mit der Regierung und mit dem Bundesrat mit Absatz 2 nach ursprünglichem Schwanken schließlich zweierlei wollte: Einmal soll beim Entweichen ein Steckbrief ausnahmsweise ohne die Grundlage eines Haftbefehls zulässig sein. Zum anderen soll in diesem Fall die Polizei einen Steckbrief erlassen können, gleichviel ob ein Haftbefehl vorliegt oder fehlt. Schließlich bestand noch Übereinstimmung, daß die polizeiliche steckbriefliche Verfolgung auch bei entwichenen Strafgefangenen zulässig sei. Das kann dem Wortlaut auch entnommen werden, wenn man den Mittelsatz (wenn ein Festgenommener entweicht) sowohl als Nachsatz zum ersten Halbsatz (ohne Haftbefehl ist eine steckbriefliche Verfolgung zulässig, wenn ein Festgenommener entweicht) als auch als Vorsatz zum zweiten Satz (wenn ein Festgenommener entweicht, kann auch die Polizeibehörde einen Steckbrief erlassen) auffaßt. Diese Auslegung ist auch allein sinnvoll: Wenn am Sonntag nachmittag in Grenznähe ein Gefangener, gleichgültig in wessen Gewahrsam er sich befindet, entweicht, muß die verwahrende Behörde die Polizei unmittelbar angehen dürfen und muß die Polizei aus eigener Entschließung die unbeschränkte Fahndung und die Grenzbewachung veranlassen können — wie dies in der Tat in der Praxis täglich geschieht. Mag diese Verfolgung auch überörtliche Fahndung genannt werden, so ändert das nichts daran, daß es sich nach dem Gesetz um eine steckbriefliche Verfolgung handelt. Diese Praxis ist zu billigen. Es ist nicht möglich, die Staatsanwaltschaft oder gar das Gericht einzuschalten; beide Behörden sind an Sonntagen nachmittags unbesetzt. 2. Steckbrief ist die nicht an eine bestimmte Person oder Behörde gerichtete amtliche Aufforderung, nach einer Person zu fahnden und sie festzunehmen. Diese „ungezielte" Fahndung macht das Wesen im Steckbrief aus, nicht 1 die genaue Personalbeschreibung (5). Die Fahndungsaufforderung kann sich an jedermann richten, das Festnahmeersuchen dagegen nur an die zur Strafverfolgung berufenen Beamten. Grundlage der Festnahme ist der Haft- oder Unterbringungsbefehl (§ 131 Abs. 1), das rechtskräftige Urteil (§457 Abs. 1) oder die im Steckbrief enthaltene Anordnung der Staatsanwaltschaft oder der Polizei. Grundlage des Steckbriefs ist ein Haft- oder Unterbringungsbefehl oder ein rechtskräftiges Urteil, bei Entweichung und fehlendem Haftbefehl oder Urteil das Festnahmerecht der Staatsanwaltschaft oder Polizei nach § 127 Abs. 2. Die Anordnung eines Steckbriefs ist nicht nur an die in den Absätzen 1 und 2 genannten Voraussetzungen geknüpft, sondern auch an den allgemeinen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gebunden. Weil der Steckbrief nicht nur, wie der Haft- und der Unterbringungsbefehl, die Bewegungsfreiheit aufhebt, sondern darüber hinaus zu öffentlicher Bloßstellung führen kann, muß sich die Notwendigkeit, den Beschuldigten mit dem Mittel des Steckbriefs zu verfolgen, sowohl aus der Schwere der Straftat (Grundsatz der Verhältnismäßigkeit) als auch aus der Erkenntnis ergeben, daß das angestrebte Ziel nicht mit weniger eingreifenden Maßnahmen erreicht werden kann (Grundsatz der Subsidiarität). Aufgrund eines Strafurteils kann die Staatsanwaltschaft einen Steckbrief erlassen, wenn der Verurteilte, der die Strafe noch nicht angetreten hat, flüchtig ist oder sich verborgen hält (§ 457 Abs. 2). Dieselbe Befugnis hat der Amtsrichter, dem nach § 451 Abs. 3 in Vbdg. mit § 5 StVollstrO die Strafvollstreckung übertragen ist ( § 3 4 Abs. 1 StVollstrO). § 4 5 7 Abs. 2 erweitert damit § 131 Abs. 1 für das Gebiet der Strafvollstreckung in bezug auf die Zeit vor dem Vollzug. Für die Zeit nach Beginn des Vollzugs ist eine gleiche Erweiterung für den aus der Strafhaft entwichenen Verurteilten im siebenten Buch nicht enthalten. Es kann kein Zweifel sein, sowohl daß die Notwendigkeit besteht, nach entwichenen Gefangenen mit den Mitteln des Steckbriefes zu fahnden, als auch daß während der Gesetzgebungsarbeit davon ausgegangen worden ist, dieser Notwendigkeit sei Rechnung getragen. 1

So P e t e r s § 47 A III 1 Abs. 3.

836

Neunter Abschnitt. Verhaftung und vorläufige Festnahme (Dünnebier)

§ 131

Anm. 3 , 4 Alsdann muß § 131 Abs. 2, in gleicher Weise wie es bei den §§102 bis 104 der Fall ist (s. 2 b zu § 102), für das Vollstreckungsverfahren entsprechend angewendet werden 2 . 3. Steckbrief auf Grund eines Haftbefehls (Absatz 1). Voraussetzungen des Steckbriefs sind ein Haftbefehl (§ 114, § 230 Abs. 2, § 236) oder ein Unterbringungsbefehl (§ 126a Abs. 1) sowie Flucht (10 zu § 112) oder Verbergen des Beschuldigten. Der Beschuldigte verbirgt sich, wenn er seinen Aufenthalt, sei es unter eigenem, sei es unter fremdem Namen, so wählt, daß dieser den Behörden nicht als Aufenthalt des Beschuldigten erkennbar ist. Liegt ein Haftbefehl oder ein Unterbringungsbefehl vor, dann ist der Erlaß eines Steckbriefs eine Vollstreckungshandlung. In Übereinstimmung mit § 36 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 erklärt das Gesetz Staatsanwaltschaft und Richter gleicherweise für zuständig. Richter ist der Amtsrichter, der Untersuchungsrichter und der Vorsitzende eines Kollegialgerichts (4a,b zu § 126). Der Staatsanwalt kann nach Lage der Sache zum Erlaß eines Steckbriefs verpflichtet sein. Der Richter ist es nicht; er kann der Staatsanwaltschaft die Vollstreckung des Haftbefehls überlassen (§ 36 Abs. 1). Erläßt er einen Steckbrief, kann er wiederum, wenn er nicht als Vollstreckungsbehörde (§ 451 Abs. 3) tätig geworden ist, die Vollstreckung des Steckbriefs, d. h. die Veröffentlichung usw., der Staatsanwaltschaft überlassen. Dagegen kann er nicht verfügen, daß die Staatsanwaltschaft einen Steckbrief zu erlassen habe (zust. OLG Karlsruhe Rpfleger 1968 288). Wegen der Zuständigkeit im allgemeinen s. §§ 125, 126. 4. Steckbrief bei Entweichung (Absatz 2). a) Voraussetzungen. Voraussetzung der steckbrieflichen Verfolgung nach Absatz 2 ist die Entweichung. Der Beschuldigte entweicht, wenn er sich unerlaubt aus einem behördlichen Gewahrsam entfernt, in dem er sich als Gefangener befindet 3 . Wegen des Begriffs Gefangener s. 3 c zu § 104, doch gehören die aufgrund eines Vorführungsbefehls Verhafteten nicht hierher. Entweichen sie, so ist es unzulässig, nach ihnen steckbrieflich zu fahnden; es muß vielmehr erst ein Haftbefehl ergehen. Der Entweichung steht es gleich, wenn sich der Festgenommene der Bewachung entzieht, d. h. nicht aus einer Anstalt, sondern auf dem Transport dahin, von einem Zwischenaufenthalt oder bei einer Vorführung entflieht ( H a h n Mat. 1 695). Bewachung ist indessen nur eine amtliche. Wer nach vorläufiger Festnahme durch einen Privaten sich dessen Uberwachung entzieht, kann nicht mit einem Steckbrief verfolgt werden (vgl. RGSt. 13 254). Der Steckbrief bezweckt die Verhaftung. Demzufolge kann, wenn noch kein Haft- oder Unterbringungsbefehl vorliegt, ein Steckbrief nur erlassen werden, wenn die Voraussetzungen eines Haft- oder eines Unterbringungsbefehls vorliegen (§ 127 Abs. 2). Dagegen kommt es hierauf nicht an, wenn ein Strafgefangener entwichen ist, weil dann das rechtskräftige Urteil die Grundlage zur Verhaftung gibt. Da der Steckbrief zur Festnahme führen soll, über die Freiheitsentziehung aber grundsätzlich nur der Richter, und zwar vor der Freiheitsentziehung ( M a u n z - D ü r i g , GG, 23 Abs. 4 zu Art. 104), zu entscheiden hat (Art. 104 Abs. 2 Satz 1 GG), können andere Stellen nur hilfsweise tätig werden. Demzufolge dürfen Beamte, wenn kein Haft- oder Unterbringungsbefehl vorliegt, einen Steckbrief nur erlassen, wenn sie berechtigt wären, einen Beschuldigten vorläufig festzunehmen, nämlich (§ 127 Abs. 2) bei Gefahr im Verzug. Diese wird bei Entweichung gesetzlich vermutet, doch sind Staatsanwaltschaft und Polizei verpflichtet, die letztere durch Vermittlung der Staatsanwaltschaft, alsbald den Erlaß eines Haft- oder eines Unterbringungsbefehls herbeizuführen. Sie dürfen es nicht darauf ankommen lassen, daß durch ihre Säumnis noch Gefahr im Verzug vorliegt, wenn der Beschuldigte ergriffen wird. Haben sie allerdings, obwohl ein richterlicher Haftbefehl als Grundlage des Steckbriefs hätte geschaffen werden können, den Zustand der Gefahr im Verzug 2

3

F e i s e n b e r g e r 2; a. A. H ä r t u n g 3; im Ergebnis wie hier K e r n - R o x i n § 33 A II 2 zufolge analoger Anwendung des § 457. A. A. — Absatz 2 bezieht sich nur auf vorläufig Festgenommene, für Strafgefangene gilt stets § 457 — v. H i p p e l § 67 I 2 Abs. 2 und Anm. 5; — Absatz 2 bezieht sich nur auf vorläufig Festgenommene — T h i l o 4; H ä r t u n g 3; M ü l l e r - S a x 2 b ; E b S c h m i d t Nachtr. 1 b; K l 3.

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§ 131 Anm. 5 , 6

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

pflichtwidrig herbeigeführt, so beseitigt das nicht die Befugnis, den Beschuldigten festzunehmen (vgl. BHGSt. 3 243). Ein rechtskräftiges Urteil, in dem auf eine Freiheitsstrafe oder auf eine freiheitsentziehende Maßregel der Sicherung oder Besserung erkannt worden ist, gibt die Befugnis, den Verurteilten einzusperren. In Strafvollstreckungssachen ist daher kein Haftbefehl oder Unterbringungsbefehl erforderlich und wegen des Abschlusses der Untersuchung auch nicht möglich. Auch kommt es, da die Grundlage zur Festnahme eindeutig gegeben ist, nicht auf Gefahr im Verzug an, wenn die Polizei einen Steckbrief erläßt. Sie ist jedoch verpflichtet, die Vorgänge alsbald der Vollstreckungsbehörde zuzuleiten, damit diese die weitere Entscheidung (Strafzeitberechnung) treffen oder bei der Anstalt veranlassen kann. b) Zuständigkeit. Liegt ein Haft- oder ein Unterbringungsbefehl vor, dann ist grundsätzlich nach Absatz 1 zu verfahren (3), doch kann auch die Polizei einen Steckbrief erlassen, wenn entweder der Gefangene aus ihrem Gewahrsam entwichen ist, oder die verwahrende Stelle (Strafanstalt, sichere Abteilung eines Krankenhauses, Nervenklinik) die Polizei unmittelbar angeht (Absatz 2 Satz 2). Liegt kein Haft- oder Unterbringungsbefehl vor, dann sind zuständig der Richter, die Staatsanwaltschaft und die Polizei. Wird der Richter mit der Sache befaßt, dann wird er regelmäßig — jedoch bei Eilsachen nicht immer — einen Haftbefehl erlassen, so daß alsdann Absatz 1 Anwendung findet. Erläßt er zunächst nur den Steckbrief, so hat er die Untersuchungshaft alsbald nachträglich anzuordnen. Erläßt die Staatsanwaltschaft oder die Polizei den Steckbrief, so hat sie alsbald den Erlaß eines Haftbefehls zu beantragen. In Strafvollstreckungssachen kann als Richter nur der Amtsrichter als Vollstreckungsbehörde tätig werden. Der Erlaß eines richterlichen Haftbefehls scheidet aus. Wegen der Zuständigkeit im allgemeinen s. §§ 125, 126. 5. Steckbriefinhalt (Absatz 3). Anzugeben sind der Verfolgte mit Namen, Vornamen, Geburtstag und -ort; eine Beschreibung kennzeichnender Merkmale zu seiner Person (Dialekt) oder zu seinem Verhalten (Hoteldieb); die Kurzbezeichnung der Tat mit Ort und Zeit ihrer Begehung (Bandendiebstahl Köln, April 1970); das Ersuchen um Verhaftung; die Angabe des zuständigen Gerichts (§ 114 b; vgl. § 131 Abs. 4); die Aufforderung, der ausschreibenden Stelle sofort Mitteilung von der Verhaftung zu machen (vgl. § 34 StVollstrO). Bei Steckbriefen gegen entwichene Verurteilte sind anstelle der Tat die zu vollstreckende Entscheidung nebst Art und Dauer der zu vollstreckenden Strafe, und anstelle des zuständigen Gerichts die Vollzugsanstalt anzugeben (§ 34 StVollstrO). Der Steckbrief wendet sich an eine unbestimmte Zahl von Behörden, Stellen und Personen, doch ist der Umfang der Fahndung nach den Umständen des Einzelfalls festzulegen. Namentlich sind Fahndungsersuchen, die sich an die Öffentlichkeit wenden, in der Regel nur bei Kapitalverbrechen angebracht 4 . 6. Verfahren nach der Ergreifung (Absatz 4). Ist der Steckbrief auf Grund eines Haftbefehls oder eines Unterbringungsbefehls erlassen (Absatz 1), dann wird der Beschuldigte auch auf Grund des Haftbefehls oder Unterbringungsbefehls ergriffen (§115 Abs. 1). Alsdann finden die §§ 115 und 115 a unmittelbar Anwendung. In allen anderen Fällen gelten sie entsprechend. Demzufolge ist, wenn der Steckbrief ohne Haft- oder Unterbringungsbeferil ergangen ist, nicht nach §§ 128, 129 zu verfahren, sondern so als ob bereits ein Haftbefehl vorläge. Das ist sachgemäß, weil bei ordnungsgemäßer Behandlung inzwischen in der Tat ein Haftbefehl vorliegen muß (4 b). Ist das ausnahmsweise nicht der Fall und steht somit vor Erhebung der öffentlichen Klage nicht fest, welcher Amtsrichter zuständig ist (§ 127 Abs. 1: jeder Amtsrichter, in dessen Bezirk ein Gerichtsstand begründet ist), so wählt die Staatsanwaltschaft den Richter aus. Ggf. ist zunächst nach § 115 a zu verfahren. Der nächste Richter ist jedoch nicht zum Erlaß des Haftbefehls befugt, wenn er nicht, was beim Fehlen eines Haftbefehls in der Regel zutreffen wird, zugleich zuständiger Richter nach § 125 Abs. 1 ist. Im Hinblick auf Art. 103 Abs. 3 Satz 2 G G ist nochmals die Not4

Eine umfassende Darstellung des Fahndungswesens enthält die Schriftenreihe des Bundeskriminalamts, Kriminaldienstkunde, IV. Teil.

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Abschnitt 9 a. Sonstige Maßnahmen zur Sicherstellung der Strafverfolgung und Strafvollstreckung (Dünnebier)

§ 132 Anm. 1

wendigkeit zu betonen, einen fehlenden Haftbefehl alsbald nach Erlaß des Steckbriefs auszubringen, damit das nicht bei der Ergreifung nachgeholt werden muß. Ist ein Verurteilter auf Grund eines Steckbriefs nach Entweichung ergriffen, so gibt es keinen zuständigen Haftrichter. Die entsprechende Anwendung der §§ 115, 115a bedeutet daher, daß der entwichene Strafgefangene der Haftanstalt zuzuführen, aus der er entwichen ist. Auf sein Verlangen ist er dem nächsten Amtsrichter zur Identitätsprüfung vorzuführen ( H ä r t u n g 6 Abs. 5). ABSCHNITT 9 a. Sonstige Maßnahmen zur Sicherstellung der Strafverfolgung und Strafvollstreckung Vorbemerkungen Der Abschnitt ist eingefügt durch Art. 2 Nr. 7 EGOWiG. Die vom Rechtsausschuß vorgeschlagene Einfügung zielt, ebenso wie die des § 127 a, darauf ab, „gewisse Mängel zu beseitigen, die nach den geltenden Vorschriften über die Sicherstellung der Strafverfolgung zutage getreten sind und der Praxis namentlich bei der Verfolgung von Verkehrszuwiderhandlungen durchreisender Ausländer große Schwierigkeiten bereiten" (Begrdg. BTDrucks. zu V 2600, 2601, S. 17). Die zulässigen Maßnahmen sind die Auferlegung einer Sicherheitsleistung und die Beschlagnahme, namentlich von Kraftwagen.

§ 132 (1) Hat der Beschuldigte, der einer Straftat dringend verdächtig ist, im Geltungsbereich dieses Gesetzes keinen festen Wohnsitz oder Aufenthalt, liegen aber die Voraussetzungen eines Haftbefehls nicht vor, so kann, um die Durchführung des Strafverfahrens sicherzustellen, angeordnet werden, daß der Beschuldigte 1. eine angemessene Sicherheit für die zu erwartende Geldstrafe und die Kosten des Verfahrens leistet und 2. eine im Bezirk des zuständigen Gerichts wohnende Person zum Empfang von Zustellungen bevollmächtigt. § 116 a Abs. 1 gilt entsprechend. (2) Die Anordnung dürfen nur der Richter, bei Gefahr im Verzuge auch die Staatsanwaltschaft und ihre Hilfsbeamten (§ 152 des Gerichtsverfassungsgesetzes) treffen. (3) Befolgt der Beschuldigte die Anordnung nicht, so können Beförderungsmittel und andere Sachen, die der Beschuldigte mit sich führt und die ihm gehören, beschlagnahmt werden. Die Vorschriften über die Beschlagnahme gelten entsprechend. Entstehungsgeschichte: § 132 hatte früher einen ähnlichen Inhalt, wie ihn jetzt § 115 a hat. Bei mehreren Neuregelungen im neunten Abschnitt wurde die Vorschrift durch A Nr. 6 des Gesetzes zur Abänderung der Strafprozeßordnung vom 27. 12. 1926 (RGBl. I 529) gestrichen. Die jetzt geltende Vorschrift ist eingefügt worden durch Art. 2 Nr. 7 EGOWiG. Schrifttum: D ü n n e b i e r , Sicherstellung der Strafvollstreckung durch Sicherheitsleistung (§§ 127a, 132 StPO), NJW 1968 1572. 1. Voraussetzungen: Die Auferlegung einer Sicherheitsleistung ist von drei Voraussetzungen abhängig, die mit denen des § 127a weitgehend übereinstimmen: a) Wohnsitz. Der Beschuldigte darf im Geltungsbereich der Strafprozeßordnung, d. h. in der Bundesrepublik und in Berlin-West, keinen festen Wohnsitz oder Aufenthalt (2 zu § 113) haben. b) Dringender Tatverdacht. Der Beschuldigte muß einer Straftat dringend verdächtig (7 zu § 112) sein. 839

§132 Anm. 2—4

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

c) Kein Haftbefehl. Die Voraussetzungen eines Haftbefehls dürfen nicht vorliegen. Die Formulierung ist ungenau. Die Voraussetzungen eines Haftbefehls sind die „Voraussetzungen der Untersuchungshaft" (§ 120 Abs. 1 Satz 1, erster Halbsatz) und die Verhältnismäßigkeit (§ 120 Abs. 1 Satz 1, zweiter Halbsatz; § 112 Abs. 1 Satz 2). Voraussetzungen der Untersuchungshaft sind dringender Tatverdacht und ein Haftgrund (§112 Abs. 1 Satz 1) oder der Verdacht eines Verbrechens wider das Leben (§112 Abs. 4). Da mit dem Verlangen, daß die Voraussetzungen eines Haftbefehls nicht vorliegen dürfen, der dringende Tatverdacht, der als erste Voraussetzung des Verfahrens aufgestellt worden ist, nicht wieder preisgegeben werden kann, muß man den Eingang des § 132 in folgender Formulierung lesen: „Hat der Beschuldigte im Geltungsbereich dieses Gesetzes keinen festen Wohnsitz oder Aufenthalt und ist er einer Straftat dringend verdächtig, liegen aber die s o n s t i g e n Voraussetzungen eines Haftbefehls nicht v o r , . . . " . Bei einer Reform sollte das geändert werden. 2. Strafart. Der Wortlaut schließt das Verfahren — im Gegensatz zu § 127 a — nicht aus, wenn eine Freiheitsstrafe oder eine freiheitsentziehende Maßregel zu erwarten ist. Auf der anderen Seite darf eine Sicherheit nicht für eine Freiheitsstrafe, sondern nur für „die zu e r w a r t e n d e Geldstrafe und die Kosten des Verfahrens" verlangt werden. Daraus folgt, daß das Verfahren wie das des § 127 a nur zulässig ist, wenn „nicht damit zu rechnen ist, daß wegen der Tat eine Freiheitsstrafe verhängt oder eine freiheitsentziehende Maßregel der Sicherung und Besserung angeordnet wird" (§ 127 a Abs. 1 Nr. 1). Der Gesetzgeber dürfte davon ausgegangen sein, daß bei Erwartung einer Freiheitsstrafe die Voraussetzungen eines Haftbefehls vorliegen. Daß ein Fahrverbot oder die Entziehung der Fahrerlaubnis zu erwarten ist, muß ohne Bedeutung bleiben ( D ü n n e b i e r 1573). 3. Sicherheitsleistung; Zustellungsbevollmächtigter. Liegen die genannten Voraussetzungen vor, kann angeordnet werden, daß der Beschuldigte eine angemessene Sicherheit für die zu erwartende Geldstrafe und die Kosten des Verfahrens leistet. Wegen der Art der Sicherheitsleistung und wegen ihrer Bemessung s. 2 und 3 zu § 127 a. Wegen des Zustellungsbevollmächtigten s. 5 zu § 116a, 4 Abs. 2 zu § 127a. 4. Anordnungsberechtigt sind der Richter, bei Gefahr im Verzuge auch die Staatsanwaltschaft und ihre Hilfsbeamten. Richter ist der Amtsrichter, in dessen Bezirk die Handlung vorzunehmen ist (§ 162 Abs. 1). Da die Sicherheit aus Anlaß einer Straftat verlangt wird, und da der Beschuldigte im Geltungsbereich der Strafprozeßordnung keinen festen Wohnsitz oder Aufenthalt hat, wird die Prozeßhandlung regelmäßig beim Amtsrichter des Tatorts wahrzunehmen sein. Doch wird man in entsprechender Anwendung des § 125 Abs. 1 auch den Amtsrichter des Bezirks, wo der Beschuldigte sich aufhält, für zulässig ansehen können. Beisp.: Der Beschuldigte verursacht in A, Bezirk B, einen Verkehrsunfall, bei dem sein Wagen selbst beschädigt wird. Er läßt den Wagen in die nächste Stadt, C, abschleppen, wo sich auch das Amtsgericht C befindet, und mietet sich dort bis zur Erledigung der Reparatur ein Hotelzimmer. Dort betrifft ihn die Polizei. Bei Gefahr im Verzuge sind auch die Staatsanwaltschaft und ihre Hilfsbeamten zuständig. Gefahr im Verzuge liegt vor, wenn die Abforderung der Sicherheit und notfalls die Beschlagnahme der Beförderungsmittel (Absatz 3) gefährdet wäre (vgl. § 81 c Abs. 3) zufolge der Verzögerung, die eintreten würde, wenn eine richterliche Anordnung erwirkt werden müßte. Diese Gefahr wird die Regel sein, da keine Möglichkeit besteht, den Beschuldigten nach Beendigung der Amtsverrichtung zur Aufklärung der Straftat (§ 164) auch nur e i n e Minute an der Fortbewegung zu hindern. Freilich darf diese Überlegung nicht den Versuch ausschließen, einen Richter anzugehen, wo das mit einiger Aussicht auf Erfolg möglich ist. Das ist stets der Fall, wenn der Beschuldigte versichert, er werde eine richterliche Entscheidung abwarten, und wenn dieser Versicherung Vertrauen zu schenken ist. Eine Anordnung der Staatsanwaltschaft wird kaum in Betracht kommen. Denn wenn ein Staatsanwalt zu erreichen ist, ist es auch ein Richter. Die meisten Anordnungen werden von Hilfsbeamten der Staatsanwaltschaft (§ 152 Abs. 2 GVG) erlassen werden. Polizeibeamte, die nicht Hilfsbeamte der Staatsanwaltschaft sind, sind zur Anordnung nicht berechtigt.

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Abschnitt 9 a. Sonstige Maßnahmen zur Sicherstellung der Strafverfolgung und Strafvollstreckung (Dünnebier)

§ 132 Anm. 5—8

Nach dem Wortlaut des Gesetzes ist auch der erkennende Richter nicht ausgeschlossen, die Anordnung zu erlassen. Beisp.: Der Beschuldigte hat sich einem beschleunigten Verfahren gestellt; legt, weil ihm die erkannte Geldstrafe zu hoch erscheint, Berufung ein und erklärt, er werde die Bundesrepublik nunmehr verlassen. Anordnungen des Richters ergehen als Beschluß nach Anhörung der Staatsanwaltschaft (§ 33 Abs. 2) und des Beschuldigten (§ 33 Abs. 3), soweit nicht § 33 Abs. 4 einschlägt. Die Anordnung eines Hilfsbeamten der Staatsanwaltschaft kann auch mündlich eröffnet werden. Das wird oft geboten sein. Dann sollte sie schriftlich bestätigt werden, 5. Rechtsmittel sieht das Gesetz nicht vor. Da in erster Linie eine richterliche Entscheidung vorgesehen ist, muß dem Beschuldigten in entsprechender Anwendung des § 98 Abs. 2 Satz 2 das Recht eingeräumt werden, die richterliche Entscheidung nachzusuchen, wenn ein Beamter entschieden hat. Belehrung hierüber ist nicht vorgeschrieben, aber um so eher angebracht, als die Beschuldigten in der Regel Ausländer sein werden, denen das deutsche Recht nicht geläufig ist. Gegen die Entscheidung des Richters ist die Beschwerde statthaft (§ 304 Abs. 1). Ist die Entscheidung ausnahmsweise die eines erkennenden Gerichts, so ist die Beschwerde unzulässig (§ 305 Satz 1). Eine Analogie zu § 305 Satz 2 zu suchen, besteht kein Anlaß. Die Anordnung, eine Sicherheit zu leisten, ist nicht vollstreckbar und daher den Entscheidungen des § 305 Satz 2 nicht gleichzustellen. Kommt es zur Beschlagnahme (Absatz 3), so ist die Beschwerde auch gegen die Entscheidung eines erkennenden Gerichts statthaft (§ 305 Satz 2). 6. Verwendung der Sicherheit. Leistet der Beschuldigte die Sicherheit, dann nimmt das Verfahren seinen Fortgang. Das 7 zu § 127 a Ausgeführte gilt auch hier. 7. Beschlagnahme (Absatz 3). Die Anordnung, eine Sicherheit zu leisten, kann nicht vollstreckt werden. Zum Ausgleich sieht das Gesetz einen mittelbaren Zwang vor. Leistet der Beschuldigte die Sicherheit nicht oder bestellt er keinen Zustellungsbevollmächtigten, der im Gerichtsbezirk wohnt oder den der Richter zugelassen hat, dann können Beförderungsmittel und andere Sachen beschlagnahmt werden, die der Beschuldigte mit sich führt und die ihm (allein: BGHSt. 2 337) gehören. Das Eigentum muß feststehen (LG Krefeld DAR 1966 192). Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ist zu beachten. Wegen einer zu erwartenden Strafe von einigen hundert Mark darf kein Kraftwagen beschlagnahmt werden, sondern nur etwa eine Uhr oder eine Camping-Ausrüstung. Auch dabei ist Zurückhaltung zu üben: Ist das Interesse des Beschuldigten an einer gebrauchten Sache erheblich höher als der bei einer Versteigerung zu erzielende Wert, dann ist die Beschlagnahme unzulässig. Wegen einer Bagatellstrafe darf nicht die Habe des Beschuldigten verschleudert werden. Zu den Sachen zählt auch Geld. Es eignet sich zur Beschlagnahme deshalb besonders, weil es leicht und ohne Verlust zu verwerten ist. Doch darf der Beschuldigte nicht seiner Unterhalts mittel entblößt werden. Auch wird man wegen einer geringfügigen Strafe nicht so viel beschlagnahmen dürfen, daß der Beschuldigte zwar seinen Lebensunterhalt bestreiten kann, aber nur, wenn er entgegen seinen Plänen alsbald nach Hause fahrt. Den Schwierigkeiten, Verkehrsstrafen von Ausländern hereinzuholen, kann nicht durch harte Sicherstellungsmaßnahmen begegnet werden, sondern letztlich nur durch internationale Vereinbarungen. Ist § 132 nicht ohne unverhältnismäßige Härte durchzuführen, muß auf seine Anwendung verzichtet werden. 8. Form und Rechtsmittel. Nach Absatz 3 Satz 2 gelten die Vorschriften über die Beschlagnahme entsprechend; es sind also die Vorschriften nicht anzuwenden, die auf den Charakter der beschlagnahmten Gegenstände als Beweismittel oder Einziehungsgegenstände abstellen. Im übrigen gilt für die Anordnung der Sicherheitsleistung § 98 Abs. 1. Anordnungen des Richters ergehen als Beschluß nach Anhörung der Staatsanwaltschaft (§ 33 Abs. 2) und des Beschuldigten (§ 33 Abs. 3), soweit nicht § 33 Abs. 4 einschlägt. Die Anordnung eines Hilfsbeamten der Staatsanwaltschaft kann auch mündlich eröffnet werden; oft wird das geboten sein. Dann sollte sie aber stets schriftlich bestätigt werden. Wegen der Rechtsbehelfe und Rechtsmittel gilt das 5 Ausgeführte. 9. Beendigung der Beschlagnahme. Da der Beschuldigte die Beschlagnahme durch Sicherheitsleistung vermeiden kann, kann er sie auch jederzeit dadurch beenden, daß er die 841

§ 132 Anm. 9 Anm. 1 - 5

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

§ 133

(ursprünglich verlangte) Sicherheit leistet. Das Gericht ist dann verpflichtet, die Beschlagnahme aufzuheben und die Sache herauszugeben. Zweckmäßigerweise wird der Beschuldigte in dem Beschlagnahmebeschluß auf diese Möglichkeit hingewiesen. Denn dem Staat ist nicht an dem oft schwer und ungünstig zu verwertenden Beschlagnahmegegenstand gelegen, sondern an der Sicherheit. Macht der Beschuldigte von der Möglichkeit, die Beschlagnahme zu beenden, keinen Gebrauch, steht die beschlagnahmte Sache als Vollstreckungsgegenstand für die Geldstrafe und die Kosten des Verfahrens zur Verfügung. Eine Einziehung ist unzulässig; ins Eigentum des Fiskus kann sie nicht übergehen. Vor der Vollstreckung, die regelmäßig mit einer Versteigerung verbunden sein wird, ist der Verurteilte zu benachrichtigen, damit er Strafe und Kosten bezahlen und damit die Beendigung der Beschlagnahme erwirken oder sich an der Versteigerung, ggf. durch einen Bevollmächtigten, beteiligen kann. Ist Geld beschlagnahmt worden, ist es wie eine Sicherheit des Beschuldigten zu behandeln. Die Ergänzung der Verwaltungsvorschriften in bezug auf die Abwicklung der Beschlagnahme ist besonders dringlich. ZEHNTER ABSCHNITT Vernehmung des Beschuldigten

§ 133 (1) Der Beschuldigte ist zur Vernehmung schriftlich zu laden. (2) Die Ladung kann unter der Anordnung geschehen, daß im Falle des Ausbleibens seine Vorführung erfolgen werde. 1. Diese Vorschrift gilt nur für den Richter. Das ergibt sich daraus, daß weder der Staatsanwalt noch die Polizei einen Beschuldigten ohne weitere Voraussetzungen (nämlich ohne die der Festnahme) vorführen lassen und deshalb auch die Vorführung nicht androhen kann. Zum Erscheinen vor dem Staatsanwalt oder der Polizei ist niemand verpflichtet; für das strafprozessuale Ermittlungsverfahren kann auch das Landesrecht eine solche Pflicht nicht begründen, vgl. BGH NJW 1962 1020. Die Vorschrift ist nicht verfassungswidrig, BayVerfGH MDR 1963 739. 2. Nur die vom Richter angeordnete Ladung begründet die Erscheinungspflicht. Dem Urkundsbeamten steht die Anordnung nicht zu, RGSt. 56 234. Das Gesetz erwähnt nur die schriftliche Ladung als den Regelfall; verbindlich ist aber auch eine Ladung, die der Richter dem Beschuldigten bei einer Vernehmung, die unterbrochen wird, verkündet. Auch sie löst die Erscheinungspflicht nebst ihren Folgen (Zulässigkeit der Vorführung, auch wenn die Voraussetzungen eines Haftbefehls nicht vorliegen) aus. 3. Eine Ladungsfrist ist nicht vorgesehen; jedoch wird bei gar zu kurzer Zeit zwischen Ladung und Termin das Ausbleiben unter Umständen als entschuldigt angesehen werden müssen. 4. Der Beschuldigte muß als solcher geladen werden. Die Ladung muß deshalb zum Ausdruck bringen, daß der Geladene als Beschuldigter vernommen werden soll. Dagegen ist eine Angabe der strafbaren Handlung in der Ladung zwar zulässig, aber nicht erforderlich; das ergibt sich aus einem Vergleich des Textes mit § 134 Abs. 2. Beschuldigter wird jemand dadurch, daß ein Organ der Strafverfolgung — also z. B. auch der Vernehmungsrichter — gegen ihn als solchen vorgeht; er kann, wenn er nicht schon vorher Beschuldigter war, in diese Rolle also auch gerade dadurch geraten, daß der Richter seine Ladung gemäß §133 verfügt. Durch das bloße Auftreten eines Verdachts wird jemand, der bisher Zeuge war, noch nicht zum Beschuldigten, BGH St. 10 8 = NJW 1957 230 = LM Nr. 45 zu § 154 StGB (mit Anm. von F r ä n k e l ) . 5. Im übrigen ist eine bestimmte Form für die Ladung gesetzlich nicht vorgeschrieben. Insbesondere bedarf es nicht der Zustellung; sie wird sich indessen empfehlen, wenn die

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Zehnter Abschnitt. Vernehmung des Beschuldigten (Sarstedt)

§ 1 3 3 Anm. 6—11 § 1 3 4 Anm. 1

Vorführung angedroht wird, damit die Ladung als deren Voraussetzung sicher nachgewiesen werden kann. Selbstverständlich geschieht die Ladung durch Brief, nicht durch Postkarte, vgl. auch RiStV Nr. 35 Abs. 1 S. 3. 6. Den Beschuldigten trifft keine Erklärangspflicht zur Sache, auch nicht vor dem Richter, vgl. unten 5 zu § 136. Indessen ist es keine ausreichende Entschuldigung für das Ausbleiben, wenn der Beschuldigte erklärt, sich zur Sache nicht äußern zu wollen. A. M. A G Stuttgart NJW 1966 791; wie hier LG Hannover NJW 1967 791. Der Richter kann sein Erscheinen auch dann erzwingen, sei es auch nur, um ihn zur Person zu vernehmen; dazu muß der Beschuldigte sich erklären, vgl. unten 12 zu § 136. Ferner kann der Richter es für erforderlich halten, den Beschuldigten in Augenschein zu nehmen oder Zeugen über seine Identität zu hören. Schließlich mag er es für angemessen halten, den Beschuldigten persönlich über die Zweckmäßigkeit oder Unzweckmäßigkeit der Weigerung zu belehren. Vgl. hierzu jedoch Anm. 4i und k zu § 136 a. 7. Vorführung kann angedroht werden, sie muß es nicht. Daß das Gesetz die Androhung als Regel ansähe, wie T i l l m a n n in der 20. Auflage meinte, ergibt der Wortlaut nicht. Vielmehr handelt es sich stets um eine Frage der Zweckmäßigkeit und des freien richterlichen Ermessens. Dabei wird der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten sein, E b S c h m i d t JZ 1968 358. Der Richter sollte die Vorführung im allgemeinen nur dann androhen, wenn er Grund zu der Befürchtung zu haben glaubt, daß der Beschuldigte sonst nicht kommen werde; und auch in diesem Falle nur dann, wenn er gewillt ist, die Drohung wahr zu machen, sonst erleidet er eine vermeidbare Einbuße an Autorität. Da die Vorführung nach dieser Vorschrift (anders gemäß § 134) nur im Falle des unentschuldigten Ausbleibens zulässig ist, empfiehlt es sich, auch die Androhung auf diesen Fall zu beschränken. 8. Der Vorführungsbefehl muß, auch wenn er gemäß § 133 wegen unentschuldigten Ausbleibens, nicht gemäß § 134 Abs. 1 ergeht, inhaltlich den Anforderungen des § 134 Abs. 2 genügen, vgl. 4 zu § 134. 9. Rechtsmittel. Gegen die Ladung im allgemeinen und gegen die Androhung der Vorführung steht dem Geladenen die einfache Beschwerde zu, § 304; LG Hannover NJW 1967 791. Die weitere Beschwerde des § 310 ist jedoch nicht gegeben, auch nicht unter dem Gesichtspunkt, daß die Vorführung, ebenso wie die Haft, einen Eingriff in die persönliche Freiheit bedeutet; vgl. OLG Köln MDR 1952 378. 10. Verstöße gegen § 133 beeinträchtigen die prozessuale Verwertbarkeit der Vernehmung nicht und begründen deshalb auch keine Revision. 11. Schon mit der Ladung, nicht erst mit der Vorführung oder ihrer Androhung würde ein Abgeordneter „zur Verantwortung gezogen"; sie ist daher nur unter den Voraussetzungen des Art. 46 Abs. 2 GG. (oder der entsprechenden Bestimmungen der Länderverfassungen) zulässig.

§ 134 (1) Die sofortige Vorführung des Beschuldigten kann verfügt werden, wenn Gründe vorliegen, die den Erlaß eines Haftbefehls rechtfertigen würden. (2) In dem Vorführungsbefehl ist der Beschuldigte genau zu bezeichnen und die ihm zur Last gelegte strafbare Handlung sowie der Grund der Vorführung anzugeben. Schrifttum: E b S c h m i d t : Der Vorführungsbefehl des Ermittlungsrichters — Androhung und Vollzug, JZ 1968 354. 1. Unter „sofortiger" Vorführung versteht das Gesetz die Vorführung ohne vorangegangene Ladung, im Gegensatz zu der Vorführung, die gemäß § 133 wegen unentschuldigten Ausbleibens angeordnet wird. 843

§ 134 Anm. 2—8

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

§ 135 2. Voraussetzung der sofortigen Vorführung ist, daß Gründe vorliegen, die den Erlaß eines Haftbefehls rechtfertigen würden; vgl. darüber den Neunten Abschnitt, §§ 112fF. Zum Erlaß eines Haftbefehls bedarf es allerdings nicht der vorherigen Anhörung oder gar Vernehmung des Beschuldigten, BVerfGE 9 8 9 = NJW 1959 427. Trotzdem kann das Gericht die vorherige Vernehmung für angebracht halten; in solchen Fällen empfiehlt sich die sofortige Vorführung. Das gilt auch für das Beschwerdegericht, wenn die Staatsanwaltschaft gegen die Ablehnung des Haftbefehls oder gegen seine Aufhebung oder gegen einen Haftverschonungsbeschluß Beschwerde eingelegt hat und zu befürchten ist, daß die Gründe der Beschwerde den Beschuldigten zur Flucht oder zur Verdunkelung veranlassen könnten; W e r s d ö r f e r NJW 1954 377; OLG Oldenburg NJW 1958 1 5 2 = DRsp. IV (458) 35b. 3. Die Anordnung der Vorführung steht nur dem Richter, nicht dem Urkundsbeamten zu, RGSt. 56 234. 4. Die Vorschrift des Abs. 2 über den Inhalt des Vorführungsbefehls gilt nicht nur für die sofortige Vorführung gemäß Abs. 1, sondern auch für die Vorführung wegen unentschuldigten Ausbleibens gemäß § 133. a) Wird die Vorführung wegen unentschuldigten Ausbleibens angeordnet, so ist dieser Grund im Vorführungsbefehl darzutun. Dazu gehört die Angabe, daß und wie der Beschuldigte geladen worden war, und daß er sein Ausbleiben entweder nicht entschuldigt hat oder daß und warum die von ihm angegebenen Entschuldigungsgründe nicht als ausreichend angesehen werden. b) Wird die „sofortige" Vorführung gemäß Abs. 1 angeordnet, so genügt nicht die Bemerkung, daß „Gründe vorliegen, die den Erlaß eines Haftbefehls rechtfertigen würden" (was K l M 5 c, S c h w a r z 1 und T i l l m a n n 6 der 20. Auflage für ausreichend erklären), sondern die Haftgründe sind ebenso anzugeben wie in einem Haftbefehl; so mit Recht E b S c h m i d t 4 . Liegen sie wirklich vor, so ist das eine kleine Mühe, die einer höchst notwendigen Selbstkontrolle des Richters dient. c) In beiden Fällen muß der Beschuldigte „genau" bezeichnet werden (Namen, Beruf, Geburtsort und -datum, Wohnort, Wohnung). Die ihm zur Last gelegte strafbare Handlung ist konkret anzugeben (also nicht nur „wegen Diebstahls", sondern „dem NN. am — Datum — in — Tatort — das und das weggenommen zu haben"). 5. Form. Der Vorführungsbefehl ist schriftlich abzufassen. Er ist dem Beschuldigten nicht zuzustellen, sondern nur durch den vollstreckenden Beamten vorzuzeigen. 6. Die Vollstreckung ist entweder einem Justizwachtmeister aufzutragen, oder die Polizei ist darum zu ersuchen. Ein Steckbrief darf zur Vollstreckung des Vorführungsbefehls nicht erlassen werden, vielmehr bedarf es dazu eines Haftbefehls. Hat der Richter den Vorgeführten vernommen, so hat er ihn, wenn er keinen Haftbefehl erläßt, wieder zu entlassen. 7. Gegen den Vorführungsbefehl ist theoretisch die einfache Beschwerde gegeben; sie hat jedoch keine aufschiebende Wirkung und wird in jedem Fall entweder durch Freilassung oder durch den Erlaß eines Haftbefehls überholt sein, ehe das Beschwerdegericht entscheiden kann. 8. Gegen einen Abgeordneten des Bundestages darf ein Vorführungsbefehl nur unter den Voraussetzungen des Art. 46 Abs. 2 GG. erlassen werden; entsprechendes gilt gemäß den Verfassungen der Länder für deren Parlamentsmitglieder.

§ 135 Der Vorgeführte ist sofort von dem Richter zu vernehmen. Ist dies nicht ausführbar, so kann er bis zu seiner Vernehmung, jedoch nicht über den nächstfolgenden Tag hinaus, festgehalten werden. 844

Zehnter Abschnitt. Vernehmung des Beschuldigten (Sarstedt)

§ 135 Anm. 1—3

§ 136 1. Geltungsbereich. Die Vorschrift gilt sowohl für die Vorführung wegen unentschuldigten Ausbleibens (§ 133) als auch fiir die Vorführung bei Vorliegen eines Haftgrundes (§ 134 Abs. 1). Für die Hauptverhandlung gehen die §§ 230, 236 als Sondervorschriften vor. Andererseits ist § 135 die vorgehende Sondervorschrift im Verhältnis zu den §§ 115, 115 a. 2. Fristen. Grundsätzlich muß der Richter den Vorgeführten sofort vernehmen; nur wenn dies nicht ausführbar ist, darf er ihn im Rahmen des S. 2 festhalten. Die Frist beginnt mit dem Eintreffen des Vorgeführten dort, wo der Richter ihn vernehmen will; nicht erst, wenn der Richter ihn sieht, und noch nicht mit der Ergreifung oder während des Transports. Das gilt auch, wenn der Transport mehrere Tage in Anspruch nimmt. Kann der Richter den Vorgeführten nicht spätestens am nächsten Tage vernehmen, so muß er ihn entlassen. Ob der nächste Tag ein Sonn- oder Feiertag ist, macht keinen Unterschied. 3. Nur innerhalb dieser Frist kann der Vorgeführte festgehalten werden. Die Art der Festhaltung ordnet der Richter an. Mindestens muß § 119 eingehalten werden. Die Einsperrung in ein Gerichtszimmer wird nur für ganz kurze Zeit, höchstens etwa für eine Stunde, angängig sein. Die Regel wird die Bewachung durch den vorführenden Beamten oder durch einen Justizwachtmeister sein müssen. Nach der Vernehmung muß der Richter den Vernommenen entweder entlassen oder Haftbefehl gegen ihn erlassen. Nicht etwa kann die Frist dadurch verlängert werden, daß der Richter bei Ablauf des „nächstfolgenden" Tages, ohne zunächst den Vorgeführten zu vernehmen, Haftbefehl gegen ihn erläßt.

§ 136 (1) Bei Beginn der ersten Vernehmung ist dem Beschuldigten zu eröffnen, welche Tat ihm zur Last gelegt wird und welche Strafvorschriften in Betracht kommen. Er ist darauf hinzuweisen, daß es ihm nach dem Gesetz freistehe, sich zu der Beschuldigung zu äußern oder nicht zur Sache auszusagen und jederzeit, auch schon vor seiner Vernehmung, einen von ihm zu wählenden Verteidiger zu befragen. In geeigneten Fällen soll der Beschuldigte auch daraufhingewiesen werden, daß er sich schriftlich äußern kann. (2) Die Vernehmung soll dem Beschuldigten Gelegenheit geben, die gegen ihn vorliegenden Verdachtsgründe zu beseitigen und die zu seinen Gunsten sprechenden Tatsachen geltend zu machen. (3) Bei der ersten Vernehmung des Beschuldigten ist zugleich auf die Ermittlung seiner persönlichen Verhältnisse Bedacht zu nehmen. Entstehungsgeschichte: In der ursprünglichen Fassung (bis 1964) fehlten in Abs. 1 Satz 1 die Worte: „und welche Strafvorschriften in Betracht kommen". Abs. 1 Satz 2 lautete: „Der Beschuldigte ist zu befragen, ob er etwas auf die Beschuldigung erwidern wolle." Abs. 1 Satz 3 fehlte. Die jetzige Fassung beruht auf dem Strafprozeßänderungsgesetz vom 19. 12. 1964 (BGBl. I S . 1024). Übersicht 1. Geltung fiir richterliche, staatsanwaltliche und polizeiliche Vernehmungen 2. Begriff des Beschuldigten 3. Begriff der ersten Vernehmung 4. Sofortige Mitteilung des Vorwurfs 5. Keine Aussagepflicht a) objektiv b) Belehrung darüber 6. Wahrheitspflicht oder Recht zum Lügen? 7. Schlüsse aus dem Schweigen 8. Art und Form der Aussage a) zusammenhängende Darstellung oder Antwort auf Fragen

b) mündliche oder schriftliche Darstellung 9. Zuziehung eines Verteidigers a) Schwierigkeiten bei der Zuziehung b) Verfahren bei verhaftetem Beschuldigten c) Beratung durch den Verteidiger 10. Mitteilung der Verdachtsgründe 11. Entlastungstatsachen 12. Ermittlung der persönlichen Verhältnisse a) Identität b) Lebensumstände 13. Vernehmungstechnik 14. Anwesenheitsrechte und -pflichten a) Staatsanwalt

845

§ 136 b) c) d) e) f) g) h)

Verteidiger Protokollführer Dolmetscher Sachverständige Zeugen Mitbeschuldigte Ehegatte

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

15. 16. 17. 18.

i) Erziehungsberechtigte und gesetzliche Vertreter Protokoll Tonbandaufnahmen Schriftliche Äußerung Revision (Beweisverbot?)

Schrifttum: A e p p l i : Tonbandaufnahmen von Verhören statt Protokollierung? Kriminalistik 1954 173; A e p p l i : Das Tonband im Strafverfahren, SchweizZStrR 1959 217; A l t a v i l l a : Psicologia giudiciaria (Torino 4. Aufl. 1955); deutsch Forensische Psychologie (Graz, Wien, Köln 1955); A n d e n a e s : Beweisverbote im Strafprozeß nordischer Länder, Gutachten für den 46. DJT 1966; B e n n e c k e / B e l i n g 374; B i n d i n g : Die Wahrheitspflicht im Prozeß, DJZ 1909 162; v a n B i n s b e r g e n : Het gebruik van de bandrecorder in het strafprocess, Tijdschrift voor Strafrecht 1959 Teil 68 Abs. 2 S. 65; B i r n b a u m : Kriminalpsychopathologie und psychologische Verbrecherkunde, 2. Aufl. 1931; B r e i t h a u p t : Die Verhandlungsleitung im Strafprozeß, DRiZ 1962 47; C o i n g : Die heimliche Tonbandaufnahme als Rechtsproblem, in: Tonbandaufnahmen, Zulässigkeit und Grenzen ihrer Verwendung im Rechtsstaat, Bericht über eine Arbeitstagung (Mannheim 1957); E n g e l h a r d t : Die Vernehmung des Angeklagten ZStrW 58 (1939) 355; F e l d m a n n : Das Tonband als Beweismittel im Strafprozeß, NJW 1958 1166; v o n G e r l a c h : Der Angeklagte als Zeuge für sich selbst im englischen Strafverfahren (1964); G n e i s t : Vier Fragen (1874) S. 80; G r a ß b e r g e r : Psychologie des Strafverfahrens (Wien 1950); G r a v e n : L'obligation de parler en justice? (Padova 1950); G r a v e n : L'emploi du magnétophone dans la procédure pénale, SchweizZStrR 1958 361; G r o s s : Kriminalpsychologie, 2. Aufl. 1905; G r ü n w a l d : Beweisverbote und Verwertungsverbote im Strafverfahren, JZ 1966 489; H ä n d e l : Staatsanwaltschaft und Kriminalpolizei — Zusammenarbeit im Zeichen der Strafrechtspflege und Strafrechtsreform (Wiesbaden 1961) S. 215; H a r t n a c k : Nochmals: „Das Tonband als Beweismittel im Strafprozeß", NJW 1958 1478 (mit Schlußwort von F e l d m a n n ) ; H a u ß n e r : Das Geständnis des Verbrechers, ArchKrimAnthr. 13 267; H e l l w i g : Die Lüge im Prozeß, Woche 1908 1715; H e l l w i g : Psychologie und Vernehmungstechnik, 4. Aufl. 1951; H e n k e l : Die Zulässigkeit und die Verwendbarkeit des Tonbandes bei der Wahrheitserforschung im Strafverfahren, in: Tonbandaufnahmen, Zulässigkeit und Grenzen ihrer Verwendung im Rechtsstaat, Bericht über eine Arbeitstagung (Mannheim 1957); H e n k e l : 2. Aufl. 173; H e n s c h e l : Vernehmung des Beschuldigten, GS 74 (1909); v o n H e n t i g : Das Leugnen, SchweizZStrR 1937 201; v o n H e n t i g : Zur Psychologie der Geständnisbereitschaft, Rittler-Festschrift (Innsbruck und Aalen 1957) S. 373; v o n H e n t i g : Das Geständnis, SchweizZStrR 1929 23; v o n H e n t i g : Die Ausrede, Aschaffenburg-Festschrift (1926) 97; v o n H i p p e l 419; J e s c h e c k : Beweisverbote im Strafprozeß, rechtsvergleichendes Generalgutachten für den 46. DJT, 1966; K l u g : Beweisverbote im Strafprozeß, Referat für den 46. DJT 1966; K o h l h a a s : Tonbandaufnahmen im Strafprozeß DRiZ 1955 81; K o h l h a a s : Die Tonbandaufnahme als Beweismittel im Strafprozeß NJW 1957 81; L i e p m a n n : Art. „Geständnis" in HdR Bd.II (1927) 889; L o h s i n g : Das Geständnis in Strafsachen (Halle 1905); L o r e n z : Die Frage nach den Vorstrafen, DRiZ 1961 329; M e i n e r t : Vernehmungstechnik (Lübeck, 4. Aufl. 1956); M ö n k e m ö l l e r : Psychologie und Psychopathologie der Aussage (1930); M u e l l e r : Beweisverbote im amerikanischen Strafprozeß, Gutachten für den 46. DJT 1966; N i ed erre ut h e r : Die Wahrheitspflicht der Prozeßbeteiligten im Lichte der Strafreform, GS 109 (1938) 64; N u v o l o n e : Beweisverbote im Strafverfahren der Länder des romanischen Rechtskreises, Gutachten für den 46. DJT 1966; P e t e r s : 2. Aufl. 175; P e t e r s : Beweisverbote im Strafprozeß, Gutachten für den 46. DJT 1966; P f e n n i n g e r : Die Wahrheitspflicht des Beschuldigten im Strafverfahren, in: Rittler-Festschrift (Innsbruck und Aalen 1957) 355; P f e n n i n g e r : L'emploi du microphone dans la procédure pénale, Revue de crimonologie et de police technique Bd. 5 (1951) 3; P f e n n i n g e r : Das Tonband im schweizerischen Strafverfahren, SchweizJurZtg. 1958 281; R a d b r u c h : Grenzen der Kriminalpolizei, Sauer-Festschrift (1949) 121; R e i f f : Tonbandprobleme, Verwaltungspraxis 1959 73; R e i c k : Geständniszwang und Strafbedürfnis (Wien 1925); R o e b e r / W e h r h a h n :

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Zehnter Abschnitt. Vernehmung des Beschuldigten (Sarstedt)

§ 136 Anm. 1,2

Das Tonband und seine Stellung im Recht, Heft 6 der UFITA-Reihe (1957); R u p p i Beweisverbote im Strafprozeß in verfassungsrechtlicher Sicht, Gutachten für den 46. DJT 1966; S a n g m e i s t e r : Polizeiliche Ladung und Vernehmung von Beschuldigten und Zeugen, in: Strafrechtspflege und Strafrechtsreform (Wiesbaden 1961) 231; S a r s t e d t : Beweisverbote im Strafprozeß, Referat für den 46. DJT, 1966; S c h m i d t , A.: Fehler bei Vernehmungen, DRiZ 1960 426; E b S c h m i d t : Die Verwendbarkeit von Tonbandaufnahmen im Strafprozeß, in: Forschungen und Berichte aus dem öffentlichen Recht (Gedächtnisschrift für Walter Jellinek) 625; E b S c h m i d t : Sinn und Tragweite des Hinweises auf die Aussagefreiheit des Beschuldigten, NJW 1968 1209; S c h m i d t , H. W.: Das Vorführungsrecht der Polizei, NJW 1962 2190; S c h m i d t , R.: Die Lüge im Prozeß, DJZ 1909 39 und 255; S c h m i d t - L e i c h n e r : Die Stellung des Beschuldigten und des Verteidigers im künftigen Strafprozeß, in: Strafrechtspflege und Strafrechts reform (Wiesbaden 1961) 231; S c h u l z : Tonbandaufnahmen im strafrechtlichen Ermittlungsverfahren, Kriminalistik Januar 1959; S c h u l z : Die Stellung der Kriminalpolizei im Strafprozeß, in: Strafrechtspflege und Strafrechtsreform (Wiesbaden 1961) 185; S e e l i g / B e l l a v i c : Lehrbuch der Kriminologie, 3. Aufl. 1963; S i e g e r t : Verwertung rechtmäßiger Tonbandaufnahmen im Strafprozeß, GoltdA 1957 265; S i e g e r t : Die Grenzen rechtmäßiger Tonbandaufnahmen im Strafprozeß, DRiZ 1957 101; S t r e e : Schweigen des Beschuldigten im Strafverfahren, JZ 1966 593; W a l d e r : Die Vernehmung des Beschuldigten (1965); W a l d e r : Das Verhör mit dem Angeschuldigten, Pfenninger-Festschrift (Strafprozeß und Rechtsstaat Zürich 1956) 181; W e s s e l s : Schweigen und Leugnen im Strafverfahren, JuS 1966 169; W i m m e r : Die Strafzumessungstatsachen im Prozeß, NJW 1947/48 176; W i m m e r : Gestehen und Leugnen im Strafprozeß, ZStrW Bd. 58 (1930) 538; W o l f : Zur Stellung des Beschuldigten im Strafverfahren, ZAkDR 1937 177. 1. Früher war streitig, ob die Vorschrift nur für den Richter oder auch für den Staatsanwalt und die Polizei gelte. Das Strafprozeßänderungsgesetz vom 19. 12. 1964 hat die Frage in dem Sinne gelöst, der hier in der Vorauflage vertreten wurde: § 163 a Abs. 3 und 4. 2. Die Vorschrift bezieht sich auf die Vernehmung des Beschuldigten. Es fragt sich, von wann ab jemand in diesem Sinne „Beschuldigter" ist. Im Anfangsstadium der Ermittlungen, vor allem beim ersten Zugriff, kann es Lagen geben, die eine ganze Reihe von Personen als verdächtig erscheinen lassen. Bei einem Brand, dessen Ursachen aufgeklärt werden sollen, kann das halbe Dorf verdächtig sein, ihn gelegt zu haben, einschließlich des Hauseigentümers, seiner Angehörigen, Bediensteten und früheren Bediensteten, seiner Nachbarn, seiner Feinde und ganz besonders seiner Freunde. Der Polizeibeamte, der bei einer Schlägerei in ein Wirtshaus gerufen wird, kann seine Ermittlungen nicht gut damit anfangen, daß er sagt: „Ich möchte Sie alle gern etwas fragen, aber Sie brauchen nichts zu sagen und können sich alle erst einmal mit Ihren Verteidigern besprechen." Er darf zweifellos ohne solche Belehrungen fragen, was denn hier los gewesen sei. Selbst ausdrückliche Bezichtigungen brauchen den, gegen den sie vorgebracht werden, nicht ohne weiteres zum „Beschuldigten" im Sinne dieser Vorschrift zu machen ( K o h l h a a s NJW 1965 1255). Innerhalb gewisser Grenzen muß es der Beurteilung des ermittelnden Beamten überlassen bleiben, von wann ab er jemanden „als Beschuldigten" vernehmen will. Auch die englischen Judges' Rules, die hier vorbildlich gewesen sind, stellen es darauf ab, ob der Beamte glaubt, er habe „angemessene Gründe" für einen Verdacht (vgl. Kl JZ 1965 156). Mit Vorschriften allein ist der Rechtsstaat nicht zu verwirklichen; es bedarf der richtigen Mischung zwischen dem Vertrauen, daß die ausführenden Organe fähig und willens sind, das Richtige zu tun — und ihrer Kontrolle. Es wird stets eines gewissen Fingerspitzengefühls bedürfen, um zu erkennen, wann sich die Ermittlungen gegen einen bestimmten Verdächtigen zu richten beginnen. Spätestens ist dieser Zeitpunkt erreicht, wenn Zwangsmaßnahmen getroffen werden: vorläufige Festnahme, Anordnung einer Blutuntersuchung, Durchsuchung. Aber sie sind dazu nicht unerläßlich. Wird dem Angehörten eine Tat „auf den Kopf zugesagt", so ist er Beschuldigter. Auch mehrere Verdächtige, von denen nur einer schuldig sein kann, können gleichzeitig „Beschuldigte" sein. So liegt es etwa, wenn der Beamte sagt: „Einer von Ihnen beiden ist es gewesen" (z. B. „hat am Steuer gesessen"). Beschuldigter ist der Vernommene auch dann, wenn ein Formular für „verantwortliche Vernehmungen" benutzt wird. 847

§136 Anm. 3 , 4

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

3. Die Erwähnung der „ersten Vernehmung" ist, wie E b S c h m i d t Nachtr. zu II Rdnr. 6 bei § 136 treffend sagt, jedenfalls insoweit verfehlt, als es sich um die Belehrung über Dinge handelt, über die der Vernommene bei früheren Vernehmungen nicht belehrt worden war. Wird er bei einer späteren Vernehmung zu einer neuen strafbaren Handlung gehört, so muß ihm das „bei Beginn" dieser Vernehmung eröffnet werden. Beseitigt sind dagegen die Unzuträglichkeiten, die sich daraus ergaben, daß nach einer früher verbreiteten Ansicht unter der „ersten Vernehmung" erst die erste richterliche Vernehmung verstanden wurde. Jedoch gibt die Erstreckung der Vorschrift auf die Polizei Anlaß zu dem Hinweis, daß es keine Vernehmung vor der „ersten" gibt. Recht verbreitet ist die mißbräuchliche Übung, daß der Beschuldigte vor dem, was dann nachher in den Protokollen „Vernehmung" genannt wird, „informatorisch befragt" wird. Wenngleich der Polizei ein gewisser Spielraum hinsichtlich der Frage gelassen werden muß, wann und wen sie „als Beschuldigten" vernimmt, so steht ihr doch keine Freiheit zu, eine Vernehmung nicht „Vernehmung", sondern irgendwie anders zu nennen und sich dabei von der gesetzlichen Vorschrift zu dispensieren. Solche „informatorischen Befragungen" erscheinen aber nicht selten in Aktenvermerken, polizeilichen Schlußberichten und Zeugenaussagen der Vernehmungsbeamten. Solchem Mißbrauch sollte entschieden entgegengetreten werden. 4. Sofortige Mitteilung des Vorwurfs. Abs. 1 Satz 1 ist eine ungemein wichtige Vorschrift, der leider in der Praxis oft zuwidergehandelt wird und die auch im Schrifttum vielfach keine ausreichende Würdigung erfährt. Sie verbietet dem Vernehmenden, die erste Vernehmung mit Fragen einzuleiten. So ist es verboten, die Vernehmung mit der Frage zu eröffnen, ob der Beschuldigte wisse oder sich denken könne, was man von ihm wolle. Es ist verboten, mit der Frage zu beginnen, wo der Beschuldigte zu dem und dem Zeitpunkt gewesen sei. Zwar wären solche Einleitungen vom kriminalistischen Standpunkt sehr zweckmäßig. Sie könnten bisweilen zur Aufdeckung noch ganz unbekannter Straftaten führen, bisweilen auch von vornherein einen Alibibeweis vereiteln. Aber sie verstoßen gegen das Grundrecht auf rechtliches Gehör. Ehe der Beschuldigte überhaupt zu Worte kommt, muß er zunächst einmal wissen, daß er als Beschuldigter sprechen wird. Dazu wiederum gehört, daß der Vernehmende selbst sich über diese Stellung des zu Vernehmenden klar ist. Auch wenn ihm, wie das insbesondere beim ersten Zugriff vorkommen kann, selbst noch nicht klar ist, wer von den Beteiligten als Täter, wer als Verletzter in Betracht kommt (Verkehrsunfall, Schlägerei), muß er sich entschließen, wen er als Zeugen (gegebenenfalls gegen Unbekannt) und wen er als Beschuldigten vernimmt; und diesen Entschluß muß er dann dem zu vernehmenden Beschuldigten mitteilen, ehe er mit der Vernehmung beginnt. Und nicht nur das; ihm muß auch gesagt werden, „welche strafbare Handlung" ihm vorgeworfen wird. Wie genau, ist eine Frage des Einzelfalls. Es brauchen nicht alle Einzelheiten angegeben zu werden; aber die Tat muß so deutlich bezeichnet werden, daß der Beschuldigte nicht in die Lage kommt, sich unversehens einer anderen als der gemeinten Tat zu bezichtigen. Es genügt also nicht, ihm nur zu sagen, es handle sich um einen Diebstahl; vielmehr muß mindestens gesagt werden, entweder was, oder wo, oder wann, oder wen er bestohlen haben soll. Soll er über mehrere Taten vernommen werden, so braucht die Vernehmung über die erste, von der die Rede sein soll, nicht mit der Eröffnung eingeleitet zu werden, daß ihm auch noch andere, oder gar welche anderen, vorgeworfen werden. Über welche Taten er vernommen wird, und in welcher Reihenfolge, steht im Ermessen des Vernehmenden; das braucht nicht dem Beschuldigten überlassen zu werden. Die Mitteilung der weiteren Tatvorwürfe muß dann jeweils nachgeholt werden, ehe die Vernehmung auf sie erstreckt wird. Nach Abs. 2 soll der Beschuldigte Gelegenheit erhalten, die gegen ihn vorliegenden Verdachtsgründe zu beseitigen. Dazu müssen sie ihm mitgeteilt werden; aber es ist nicht vorgeschrieben, daß auch das schon zu Beginn der Vernehmung geschehen müsse (vgl. unten 10). Ein Kenner der Praxis wird sich auch bei späteren Vernehmungen nicht dabei beruhigen, daß es am Kopf des ersten Vernehmungsprotokolls heißt: „Ihm wurde eröffnet, welche strafbare Handlung ihm zur Last gelegt wird." Hinter diesem üblichen formelhaften Satz (der oft schon vorgedruckt ist) kann sich eine ganz unzulängliche Belehrung verbergen. Auch bei der zweiten und den folgenden Vernehmungen tut der Vernehmende also vielfach gut, sich zunächst einmal mindestens zu vergewissern, ob der Beschuldigte hinreichend genau 848

Zehnter Abschnitt. Vernehmung des Beschuldigten (Sarstedt)

§ 136 Anm. 5

weiß, um welchen Vorwurf es sich handelt. In der Hauptverhandlung erfüllt die durch § 243 Abs. 2 vorgeschriebene Verlesung des Eröffnungsbeschlusses die Aufgabe dieser Belehrung. 5. Keine Aussagepflicht. a) Der Beschuldigte ist in keinem Stadium des Verfahrens verpflichtet, irgend etwas zu der Beschuldigung zu sagen. Zu schweigen, ist das ihm an dieser Stelle vom Gesetz ausdrücklich eingeräumte gute Recht ( S c h m i d t - L e i c h n e r NJW 1951 9; P f e n n i n g e r Wahrheitspflicht 367). Daraus ergibt sich, daß aus seinem Schweigen allein keine Schlüsse gegen ihn gezogen werden dürfen. Die Erwägung: er würde sprechen, wenn er unschluldig wäre, ist verboten. Übrigens wäre sie auch rein tatsächlich äußerst schwach. Das festgestellte Lügen, das erkennbare Ausweichen, die Weigerung, einzelne unbequeme Fragen zu beantworten (vielleicht mit einer rechtlich nicht haltbaren Ausrede: BGHSt. 1 369 = NJW 1952 151 Nr. 23) — dieses Verhalten kann Erkenntniswert haben. Dagegen kann das runde Nein des Beschuldigten auf die Frage, ob er überhaupt etwas auf die Beschuldigung erwidern wolle, immer auch andere Motive haben als ein schlechtes Gewissen. Eine Strafrechtspflege, die das Prädikat „rechtsstaatlich" für sich in Anspruch nimmt, sollte es für unter ihrer Würde halten, in diesem Nein etwas anderes zu sehen als das Selbstbewußtsein des Staatsbürgers, der von einem gesetzlichen Recht Gebrauch macht, und als einen Beweis seines Vertrauens in die Justiz, sie werde, um zu einem gerechten Urteil zu kommen, kein Beweismittel nötig haben, auf welches das Gesetz ihr kein Recht gibt. „Er braucht sich zur Anklage nicht zu äußern und an der Aufklärung des Sachverhalts nicht mitzuwirken (BGHSt. 1 342); er mag mitunter anerkennenswerte Beweggründe hierfür haben. Die Tat ist auch ohne sein Zutun auf justizförmigem Wege aufzuklären" (BGHSt. 5. 334). Vielfach wird freilich anderes gelehrt (Tillmann in der 20. Auflage; früher auch H e n k e l 1. Aufl. 225; richtig 2. Aufl. 176; vgl. auch die sehr bedenkliche Entscheidung BGHSt. 2 353 betr. den zeugnisverweigerungsberechtigten Zeugen; aufgegeben in BGHSt. 22 113). Der Grundsatz der freien Beweiswürdigung (§ 261) kann hier nicht herangezogen werden. Der Angeklagte ist ein Beweismittel nur, wenn er aussagt. Das Gesetz überläßt ihm (wie nach § 52 dem Angehörigen als Zeugen) die Entscheidung, ob er Beweismittel sein will; will er das nicht, so gibt es daran nichts zu „würdigen". Das Schweigen muß auch bei der Strafzumessung außer Betracht bleiben. Schlüsse auf das Maß der persönlichen Schuld oder auf den Grad der Gefährlichkeit (die nach BGHSt. 1 106 aus Leugnen oder Geständnis gezogen werden können) rechtfertigt es nicht. Schweigen ist kein Leugnen und kein Geständnis. Zust. E b S c h m i d t Nachtr. zu II Rdnr. 29. b) Das Gesetz verlangt jetzt den Hinweis an den Beschuldigten, daß er jede Erklärung ablehnen darf. Die Motive ( H a h n l 139) meinten, eine ausdrückliche Belehrung darüber erwecke „den Anschein, als solle auch die sittliche Pflicht zur Angabe der Wahrheit verneint werden". Von sittlichen Pflichten schweigt man in diesem Zusammenhang besser. Wenn es eine sittliche Pflicht ist, die Wahrheit zu sagen, gerade dann darf der Vernehmende nicht so tun, als sei es für den Beschuldigten eine Rechtspflicht; denn das wäre die Unwahrheit. Im Namen des Sittengesetzes könnte nur der die Wahrheit fordern, der es sich versagt, aus „taktischen Gründen" einen Irrtum des anderen auszunutzen. Ferner meinten die Motive aaO., die Belehrung über das Weigerungsrecht könne „leicht den Beschuldigten veranlassen, mit jeder Auslassung zurückzuhalten, dadurch aber seiner eigenen Sache zu schaden, weil man (!) häufig geneigt sein wird, das Schweigen, wenn auch das Gesetz dem Beschuldigten das Recht (!) hierzu nicht streitig macht, zu seinem Nachteil zu deuten". Aber solchen Neigungen darf „man", wenn man ein Richter ist, aus den oben (a) genannten Gründen eben nicht erliegen. Wer die Praxis, besonders die polizeiliche, ein wenig kennt, wird auch „häufig geneigt sein", dieses zweite Argument der Motive für ein wenig unaufrichtig zu halten. Damit der Beschuldigte sich nicht durch sein Schweigen schade, unterläßt der vernehmende Polizeibeamte die Belehrung, daß er schweigen darf! — Freilich sollte es in einem Rechtsstaat dieser Belehrung nicht erst bedürfen; der Staatsbürger müßte das ohnehin wissen. Da ihn in Deutschland bisher aber weder die Schulen noch die Organe der öffentlichen Meinung darüber in ausreichender Weise belehrt zu haben pflegen, muß der Vernehmende es in aller Deutlichkeit und Ausdrücklichkeit tun. 849

§136 Anm. 6

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

Die Erfahrungen mit dem englischen Strafverfahren zeigen, daß es kriminalistische Methoden gibt, die für die Gewährleistung der öffentlichen Sicherheit ausreichen, ohne daß die Polizei dabei auf den Beschuldigten als Beweismittel angewiesen ist. Damit wird keine Rezeption englischen Verfahrensrechts vorgeschlagen. In dem Punkte, von dem hier die Rede ist, gleicht das deutsche Verfahrensrecht dem englischen seit Inkrafttreten der Strafprozeßordnung. Ein Unterschied liegt nur darin, daß englische Beschuldigte ihr Weigerungsrecht in aller Regel kennen (selbst wenn die Polizei sie nicht, wie in England üblich, ausdrücklich darüber belehren würde) und daß sie unbefangen davon Gebrauch machen. Darauf muß und kann die Kriminalpolizei sich von vornherein einrichten. Sie muß und kann so arbeiten, daß sie die zur Überführung erforderlichen Beweismittel schon beisammen hat, ehe sie den Beschuldigten vernimmt (oder gar festnimmt). Das führt nicht nur zu einem rechtsstaatlicheren Ermittlungsverfahren, sondern es kürzt — nebenbei bemerkt — auch die Untersuchungshaft bedeutend ab, was dem deutschen Gesetzgeber bekanntlich trotz der verschiedenartigsten Bemühungen bisher nicht gelungen ist. 6. Streitig ist, ob den Beschuldigten eine „Wahrheitspflicht" trifft (so früher H e n k e l 1. Aufl. 225), oder ob er ein „Recht zum Lügen" hat (so z. B. L i e p m a n n HdR II 890: „vom Gesetz anerkanntes Recht"). Keins von beiden ist richtig (vgl. darüber ausführlich E b S c h m i d t 10ff.; P f e n n i n g e r aaO.). Eine durchsetzbare, mit verfahrensrechtlichen Sanktionen ausgestattete Pflicht, die Wahrheit zu sagen, besteht nicht. Daß der Beschuldigte — sei er schuldig oder unschuldig — in vielfacher Hinsicht ein Interesse daran haben kann, die Wahrheit zu sagen, macht das nicht zu einer Rechtspflicht. Die Annahme einer solchen Pflicht wäre auch nicht damit vereinbar, daß der Beschuldigte sich überhaupt nicht zu äußern braucht (vgl. oben 5). Andererseits verleiht ihm die Tatsache, daß es keine verfahrensrechtlichen oder materiellen „Lügenstrafen" (mehr) gibt, kein „Recht" zum Lügen, während das Schweigen in der Tat sein „gut,es Recht" ist (vgl. oben 5 a). Während also aus dem bloßen und völligen Schweigen keine Schlüsse gegen ihn gezogen werden dürfen, ist das beim festgestellten Lügen durchaus statthaft. Wenn der Beschuldigte überhaupt etwas zur Sache sagt, wissend, daß er dazu nicht verpflichtet ist, macht er sich in freiem Entschluß zu einem Beweismittel; damit unterstellt er sich der freien Beweiswürdigung (§ 261). Deshalb muß es auch zulässig sein, Schlüsse gegen ihn daraus zu ziehen, daß er einzelne Fragen — was ihm freisteht — unbeantwortet läßt. Denn wenn er überhaupt aussagt, läßt die Aussage sich nur als Ganzes würdigen; dabei muß dann auch in Betracht gezogen werden dürfen, daß sie lückenhaft ist. So mit Recht BGHSt. 1 3 6 9 = NJW 1952 151 Nr. 23; diese Entscheidung läßt sich aber nicht (wie T i l l m a n n in der 20. Aufl. meinte) dafür anführen, daß auch aus völligem Schweigen Schlüsse gezogen werden dürften, denn mit einem solchen Falle hatte sie es nicht zu tun. Er wird allmählich häufiger. In diesem Zusammenhang wird neuerdings wieder oft der Satz des Grafen zu D o h n a (3. Aufl. 107) angeführt: „Wie jemand aus der Begehung eines Verbrechens ein Recht sollte herleiten dürfen, das Gericht zu belügen, ist unerfindlich." Eher ist „unerfindlich", wie ein so verständiger, rechtsstaatlich denkender und scharfsinniger Jurist eine so schiefe und denkfehlerhafte Frage stellen konnte. In dem Verfahren, um das es sich hier handelt, ist die „Begehung eines Verbrechens" keine Prämisse, von der man bei der Beantwortung prozessualer Fragen ausgehen dürfte, sondern sie ist das thema probandum. Der Beschuldigte (der prozessual eben nicht mit dem Täter gleichgesetzt werden darf), leitet seine prozessualen Rechte nicht aus der Begehung eines Verbrechens ab, sondern aus dem Verfahrensrecht. Das Verfahrensrecht erlegt ihm keine Wahrheitspflicht auf: das bedeutet aber kein „Recht", das Gericht zu belügen. Eine Ermahnung des Beschuldigten, der aussagebereit ist, zur Wahrheit ist zulässig, soweit diese Ermahnung selbst völlig wahrhaftig bleibt; andernfalls verstößt sie gegen das Täuschungsverbot des § 136 a. Deshalb ist es unzulässig, einem Beschuldigten, gegen den noch keine zur Überführung ausreichenden Beweise vorliegen, zu sagen, die Aufklärung der Wahrheit liege in seinem eigenen Interesse. Denn wenn er schuldig ist, trifft das schlechterdings nicht zu. Aber es gibt zahlreiche Fälle, in denen es wirklich im Interesse des Beschuldigten liegt, die Wahrheit zu sagen. Erscheint die Überführung sicher, so beraubt der wahrheitswidrig Leugnende sich oft der Möglichkeit, Milderungsgründe geltend zu machen, die nur er kennt, und auf die das Gericht ohne ausdrückliche Erwähnung nicht 850

Zehnter Abschnitt. Vernehmung des Beschuldigten (Sarstedt)

§ 136 Anm. 7, 8

kommen kann ( L i e p m a n n HdR II 891: „Wenn der Beschuldigte von den Ursachen sprechen würde, die ihn zu der Tat getrieben haben, so wird damit ein Stück Mitschuld anderer und der Gesellschaft offenbar, das bei der Abrechnung über Schuld und Strafe unberücksichtigt bleiben kann, falls er überhaupt keine Aussagen macht" oder leugnet). Dem leugnenden Beschuldigten das vorzustellen, ist zweifellos Recht und Pflicht des Vernehmenden. 7. Schlüsse aus dem Schweigen. Dadurch, daß das Gesetz jetzt den Hinweis auf das Schweigerecht ausdrücklich fordert, ergibt sich eine jener Fernwirkungen, die dem Gesetzgeber vielleicht nicht vor Augen gestanden haben. Es wäre unfair, dem Beschuldigten ein Verhalten als ausdrücklich gesetzlich erlaubt zu bezeichnen, wenn es möglich wäre, alsdann nachteilige Folgerungen gegen ihn daraus zu ziehen, daß er davon Gebrauch macht. Das darf also nicht möglich sein. Die Tatsache, daß der Beschuldigte — sei es nur vor der Polizei, sei es auch später — schweigt, oder daß er erst nach Besprechung mit seinem Verteidiger aussagt, darf weder bei der Beweiswürdigung noch bei der Strafzumessung gegen ihn verwendet werden: BGHSt. 20 281. Nun ist das vollständige Schweigen ohnehin keine tragfähige Grundlage für derartige Folgerungen; insoweit grundsätzlich zustimmend K o h l h a a s NJW 1965 2282. Anscheinend besteht aber eine Meinungsverschiedenheit darüber, was in diesem Sinne „völliges" Schweigen ist. Beschränkt sich der Beschuldigte auf Bemerkungen wie: „ich bin unschuldig", „ich habe nichts Verbotenes getan", „ich bin es nicht gewesen", so erlauben auch sie keine Schlüsse irgendwelcher Art gegen ihn. Das ist nicht einmal eine Rechtsfrage; solche Beteuerungen sind rein tatsächlich zu wenig ergiebig, als daß man sagen dürfte: du hast gesprochen, jetzt ziehen wir aus deinem Schweigen im übrigen Schlüsse. Auf eine Rechtsfrage führt das teilweise Schweigen erst dann, wenn solche Schlüsse tatsächlich möglich werden. Nachdem das Gesetz das Schweigen jetzt ausdrücklich gestattet, könnte man vielleicht sagen wollen, daß damit nachteilige Schlüsse aus dem Schweigen, auch aus dem teilweisen Schweigen, rechtlich unmöglich gemacht werden. Es wäre nicht schlechthin undenkbar, nunmehr ein darauf gerichtetes Beweisverbot aus dem Gesetz herauszulesen. Wir halten das freilich für bedenklich. Bei den gesetzgeberischen Beratungen ist eine solche Möglichkeit nicht erörtert worden. Wir neigen deshalb zu der Ansicht Kleinknechts (JZ 1965 155), der von den „zwei Verteidigungsmöglichkeiten" (dem Reden und dem Schweigen) spricht, die es beide mit sich bringen, daß das Gericht, soweit das tatsächlich möglich ist, bei der freien Beweiswürdigung die ihm richtig erscheinenden Schlüsse zieht. Solange sich dem Gesetz nicht ganz zweifelsfrei etwas anderes entnehmen läßt, geht doch wohl der Grundsatz des § 261 noch vor; vgl. auch BGHSt. 20 298. Es ist unter Umständen psychologisch so gut wie unmöglich, aus dem jeilweisen Schweigen keine Schlüsse zu ziehen. Übrigens gibt es auch sonst fließende Ubergänge zwischen Reden und Schweigen. Jeder Praktiker kennt den Typus des Beschuldigten, der weder zum Reden über die Sache noch zum Schweigen zu bringen ist; er schweigt über das, was man von ihm wissen will, indem er beharrlich von anderen Dingen (etwa über die „Vorgeschichte") redet. Eines der von K o h l h a a s (NJW 1965 2284) vorgetragenen Bedenken halten wir freilich nicht für durchschlagend: mit der Annahme eines Beweisverbots hindere man den Tatrichter nur, das Schweigen unter den Beweisgründen ausdrücklich zu erwähnen. Die Notwendigkeit, Urteilsgründe zu schreiben, enthält schon eine gewisse immanente Schranke völliger Freiheit der Beweiswürdigung. Nicht alles, was in einem „Wahrspruch" der Geschworenen möglich gewesen wäre, läßt sich schriftlich begründen. Es gibt immer wieder Fälle, in denen außer dem Schweigen eben keine Beweismittel vorhanden sind. Wenn der einzige Belastungszeuge das Zeugnis verweigert und der Angeklagte (ganz oder teilweise) schweigt, so kommt diese Frage zum Spruch; da helfen auch keine „revisionssicheren" Urteilsgründe. 8. Art und Form der Aussage. Das Fehlen aller Zwangsmittel gegenüber dem Beschuldigten bringt es mit sich, daß auch dem Vernehmenden keine bindenden Vorschriften darüber gemacht werden können, ob er eine zusammenhängende Darstellung oder die 851

§136 Anm. 9

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

Beantwortung einzelner Fragen herbeiführen, ob er auf mündlicher Äußerung bestehen oder sich mit einer schriftlichen begnügen soll. a) Aus dem Grundrecht auf rechtliches Gehör folgt, daß der Beschuldigte zunächst Gelegenheit zu einer Darstellung im Zusammenhang bekommen muß. Nur wenn er sich dazu nicht imstande zeigt oder wenn er selbst bittet, ihn zu fragen, ist es zulässig, die Vernehmung mit einem Frage- und Antwortspiel einzuleiten (etwas weiter Köln MDR 1956 694). Auch bei einer zusammenhängenden Schilderung ist es Recht und Pflicht des Vernehmenden, dem Beschuldigten, wo es dessen bedarf, durch Zwischenfragen, Hinweise und Vorhalte weiterzuhelfen, ihn beim Thema zu halten und ihn zu einem möglichst klaren, deutlichen und widerspruchsfreien Ausdruck dessen zu veranlassen, was er sagen will. Nach Abschluß der zusammenhängenden Darstellung stellt der Vernehmende nach seinem Ermessen zusätzliche Fragen und macht Vorhalte. b) Wenn der Beschuldigte nicht wenigstens Gelegenheit zu mündlicher Äußerung erhält, handelt es sich nicht um eine Vernehmung. Schlägt er aber diese Gelegenheit freiwillig aus, um sich schriftlich zu äußern, so muß auch diese schriftliche Erklärung entgegengenommen werden. Sie kann eine polizeiliche oder staatsanwaltschaftliche Niederschrift völlig ersetzen, nicht dagegen eine richterliche; vgl. § 251 Abs. 2. Auch ist es keine richterliche Vernehmung, wenn nur auf eine anderweit niedergeschriebene Aussage, insbesondere auf ein polizeiliches Vernehmungsprotokoll Bezug genommen wird: BGH NJW 1952 1027 = JR 1952 289 = LM Nr. 2 zu § 254 StPO; BGHSt. 6 279 = LM Nr. 6 zu § 52 StPO (mit Anm. von K o h l h a a s ) ; BGHSt. 7 73 = NJW 1955 191 = MDR 1955 244 (mit ablehnender Anm. von M i t t e l b a c h ) = LM Nr. 7 zu § 254 StPO (mit Anm. von S a r s t e d t ) ; Hülle DRiZ 1952 166. 9. Der jetzt weiterhin vorgeschriebene Hinweis, daß der Beschuldigte jederzeit, auch schon vor seiner Vernehmung, einen von ihm zu wählenden Verteidiger befragen könne, hat zu einer Reihe von Schwierigkeiten geführt. a) Es kann geschehen, daß der Beschuldigte erklärt, von dieser Möglichkeit Gebrauch machen zu wollen, daß er dann aber keinen Verteidiger findet. Das kann schon daran scheitern, daß er ihn nicht bezahlen kann; ohne Kostenvorschuß braucht der Anwalt nicht tätig zu werden. Oder der Beschuldigte kennt keinen Anwalt; daß Polizei, Staatsanwalt oder Richter ihm einen nennt oder ihm auch nur eine (vollständige oder redigierte?) Liste der am Ort wohnenden Rechtsanwälte vorlegt, kann seine Bedenken haben. Oder der gewählte Anwalt ist nicht in der Lage, oder nicht willens, „zur Unzeit" zu erscheinen; er braucht einer solchen Lage weder seine sonstigen Termine, noch seine Sprechstunde, noch seinen Nachtschlaf zu opfern. Es ist mißlich, daß sich dann die „Möglichkeit", auf die der Vernehmende den Beschuldigten hinweisen muß, als eine Unmöglichkeit erweist. Gewiß gibt es Fälle, in denen dann die Beiordnung eines Verteidigers erwogen werden sollte; aber im Regelfall liegt in einem so frühen Stadium des Verfahrens noch kein Fall der notwendigen Verteidigung vor, und dann wird der Richter die Beiordnung meist ablehnen. Übrigens bedarf es gerade für die Beratung hinsichtlich der Frage, ob der Beschuldigte besser spricht oder besser schweigt, eines besonderen Vertrauensverhältnisses zwischen ihm und seinem Verteidiger; mit einer Beiordnung ist das nicht immer und nicht ohne weiteres herzustellen. Bekommt also der Beschuldigte aus einem dieser Gründe trotz seines Wunsches keinen Verteidiger, so wird weiter verfahren werden müssen, wie ohne den Hinweis verfahren worden wäre; der Beschuldigte muß sich ohne Beistand entschließen, ob und was er jetzt aussagen will. Gewiß kann er sich dahin entscheiden, ohne Verteidiger nichts zu sagen. Wenn das aber zu Nachteilen, etwa zu einer Verlängerung der Haft führt, läßt sich daran nichts ändern. Das Gesetz hat das Wohlwollen für den Beschuldigten (oder für die Anwaltschaft?) hier doch wohl ein wenig über den Punkt hinausgeführt, bis zu dem ihm (oder ihr) damit ein wirklicher Dienst erwiesen wird. b) §§ 115 Abs. 3 S. 1, 115 a Abs. 2 S. 2 schreiben vor, daß der auf Grund eines Haftbefehls ergriffene Beschuldigte auf das Recht hinzuweisen ist, sich zur Beschuldigung zu äußern oder nicht zur Sache auszusagen. Der Hinweis auf das Recht, vorher einen Ver852

Zehnter Abschnitt. Vernehmung des Beschuldigten (Sarstedt)

§ 136 Anm. 10

teidiger zu fragen, wird in diesen Vorschriften nicht erwähnt. Daraus schließen D r e v e s (DRiZ 1965 113) und G e g e n f u r t n e r (DRiZ 1965 334), in den Fällen der §§ 115, 115a bedürfe es dieses Hinweises nicht; es sei in diesen Fällen auch zu eilig. Mit D ü n n e b i e r (7 zu § 115, 4 zu § 115a), K l e i n k n e c h t JZ 1965 155 sowie 2 B zu § 115 und M ü l l e r 4 zu § 115 meinen wir, daß § 136 auch auf diese Vernehmungen angewendet werden muß. Durch den Hinweis allein entstehen keine tatsächlichen Schwierigkeiten. Sie können erst dadurch entstehen, daß der Beschuldigte erklärt, einen Verteidiger befragen zu wollen, und daß das vor Ablauf der Fristen der §§ 115, 115a nicht mehr möglich ist. Dieses Verlangen kann der Beschuldigte aber auch ohne den Hinweis äußern; dann ist die Lage keine andere, als wenn er es auf den Hinweis hin tut. Das Problem ist kein anderes, als das oben zu a) behandelte: das Gesetz verlangt den Hinweis auf eine „Möglichkeit", die sich dann unter Umständen als nicht vorhanden herausstellt. Der Richter darf mit der Vernehmung nicht länger warten als bis zum Ablauf eines Tages nach der Vorführung. „Vernehmung" kann hier wie anderwärts beim Beschuldigten nur heißen, daß ihm Gelegenheit zur Äußerung gegeben wird. Ob er davon Gebrauch macht oder aus irgendeinem Grund, z. B. wegen der Unmöglichkeit, vorher einen Verteidiger zu sprechen, verzichtet, bleibt seine Sache. c) Eine besondere lästige Lage kann für den Verteidiger entstehen, der den Beschuldigten beraten soll, ob er besser aussagt oder besser schweigt. Die Grundlagen für eine solche, unter Umständen schwerwiegende Entscheidung sind zur Zeit der ersten Vernehmung im allgemeinen noch etwas mager. Das hängt mit der immer noch nicht überwundenen Neigung der deutschen Strafverfolgungsbehörden zusammen, den Beschuldigten als das wichtigste Beweismittel zur Überführung anzusehen. Das würde wahrscheinlich anders werden, wenn recht viele Beschuldigte schwiegen. Die Polizei würde dann wahrscheinlich in zunehmendem Maße bemüht sein, die Schuldbeweise möglichst vollständig schon vor dem Zeitpunkt zu sammeln, in dem die erste Vernehmung des Beschuldigten versucht wird. Daß insoweit mehr möglich ist, als bei uns zu geschehen pflegt, beweist das Beispiel von Scotland Yard. Das allein wird freilich kaum ein Grund sein können, aus dem ein Verteidiger zum Schweigen rät. In sehr zahlreichen Fällen ist die wirksamere Art der Verteidigung eben doch das Reden. Vielfach wird die richtigste Entscheidung für den Verteidiger darin bestehen, daß er schriftliche Stellungnahme in Aussicht stellt. Es kann ein entscheidender Unterschied sein, ob die Einlassung mit den Worten der Polizei oder mit den Worten des Verteidigers zu Papier gebracht wird. Ein Grund für den Rat, lieber zu schweigen, kann dann gegeben sein, wenn die dem Angeklagten günstige Wahrheit unwahrscheinlich und nicht beweisbar ist, und wenn deshalb damit gerechnet werden müßte, daß sie ihm doch nicht geglaubt werden wird. Auch kann es sich empfehlen, abzuwarten, bis die Zeugen sich auf Einzelheiten festgelegt haben. Übrigens sollte über die Frage, ob der Beschuldigte aussagen oder schweigen soll, zwischen ihm und seinem Wahlverteidiger immer Einverständnis erzielt werden. Die gefürchteten — und psychologisch gewiß auch zu fürchtenden — Schlüsse vom Schweigen auf die Schuld sind sehr viel schwerer zu ziehen, wenn der Verteidiger wahrheitsgemäß erklären kann, daß der Beschuldigte auf seinen Rat schweige. Für diesen Rat lassen sich dann unter Umständen einleuchtende Erklärungen geben, oder doch Erklärungen, die jedenfalls den Schluß vom Schweigen auf die Schuld des Angeklagten unmöglich machen. In dem auch in der Tagespresse viel erörterten Fall, der Anlaß zu den Veröffentlichungen DRiZ 1965 294 und NJW 1965 2282 gegeben hat, wäre das nicht schwer gewesen; jene Angeklagte hatte im ersten Verfahren schlechte Erfahrungen mit ihren Erklärungen zur Sache gemacht. 10. Mitteilung der Verdachtsgründe. Abs. 2 schreibt vor, daß die Vernehmung dem Beschuldigten Gelegenheit geben soll, die gegen ihn vorliegenden Verdachtsgründe zu beseitigen. Es hat guten Sinn, daß hier, im Gegensatz zu Abs. 1 und Abs. 3, nicht von der ersten Vernehmung gesprochen wird, geschweige denn vom Beginn (Abs. 1) der ersten Vernehmung, und daß Abs. 2 als Sollvorschrift gefaßt ist. Eine Gelegenheit, die Verdachtsgründe zu beseitigen, hat der Beschuldigte nur, soweit diese Verdachtsgründe ihm mitgeteilt werden. Es kann aber bei aller Rechtsstaatlichkeit nicht als die Pflicht des Vernehmenden angesehen werden, den Beschuldigten gleich zu Anfang von dem ganzen bisherigen Ergeb853

§136 Anm. 11,12

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

nis der Ermittlungen zu unterrichten. Es wäre eine unerträgliche (auch im Ausland nirgends bestehende) Erschwerung für ein geordnetes Ermittlungsverfahren, wenn die Strafverfolgungsbehörden genötigt wären, von vornherein alle Karten aufzudecken, während der Beschuldigte schweigen kann. Daß dies nicht der Sinn des Abs. 2 sein kann, ergibt sich zwingend aus § 147 Abs. 1. Denn wenn dem Beschuldigten alle Verdachtsgründe offengelegt werden müßten, hätte es keinen Sinn, sie dem Verteidiger noch vorzuenthalten. Sie sind also auch dem Beschuldigten immer nur insoweit mitzuteilen, „als dies" nach dem jeweiligen Stande des Verfahrens „ohne Gefahrdung des Untersuchungszwecks geschehen kann" (§ 147 Abs. 2). Dann aber muß der Beschuldigte zu diesen Verdachtsgründen auch sofort zu Worte kommen. Mit ihrer Mitteilung darf also die Vernehmung nicht etwa abgeschlossen werden. 11. Entlastungstatsachen. Den gleichen Sinn, daß nämlich der Vernehmende den Beschuldigten zu Worte kommen lassen soll, hat auch die Bestimmung, daß der Beschuldigte Gelegenheit haben soll, die zu seinen Gunsten sprechenden Tatsachen geltend zu machen. Dies gilt für jede, für die erste wie für die letzte Vernehmung. Dieser Teil der Vorschrift hat besondere Bedeutung für einen etwaigen Alibibeweis. Je weniger genau die belastenden Beweismittel die Tat zeitlich festlegen, desto schwieriger ist insoweit die Lage des Beschuldigten. Es kann unter Umständen zu den Erfordernissen eines anständigen Verfahrens („fair trial") gehören, daß der Beschuldigte noch nicht auf Zeitangaben festgelegt wird, ehe der in seinen Zeitangaben zunächst unsichere oder ungenaue Belastungszeuge sich bestimmter erklärt hat. Das wird bisweilen noch bei der Vernehmung des Angeklagten in der Hauptverhandlung übersehen und führt dann gelegentlich zur Aufhebung des Urteils. 12. Ermittlung der persönlichen Verhältnisse. Hier ist zu unterscheiden. a) Die Identität des Beschuldigten ist mit den zurückhaltenden Ausdrücken des Abs. 3 nicht gemeint. Auf ihre „Ermittlung" ist nicht bloß „zugleich Bedacht zu nehmen"; vielmehr ist sie festzustellen, und zwar ehe das beginnt, was der Abschnitt unter Vernehmung versteht. Auf die Fragen zur Identität (Namen, Stand, Beruf, Gewerbe, Wohnort, Wohnung, Staatsangehörigkeit) bezieht auch die Hinweispflicht des Abs. 1 Satz 2 sich nicht. Die Frage, wer der Vernommene ist, hat noch nichts mit der Frage zu tun, ob und gegebenenfalls was er auf die Beschuldigung erwidern wolle. Er muß sie wahrheitsgemäß beantworten; andernfalls macht er sich nach § 360 Nr. 8 StGB (Kl 6) und, wenn er auf seine falschen Angaben hin mit falschem Namen usw. in das Gefangenenbuch einer Untersuchungshaft- oder Strafanstalt eingetragen wird, nach § 272 StGB strafbar. Die verfahrensrechtliche Stellung als Beschuldigter ist kein Rechtfertigungs- oder Entschuldigungsgrund gegenüber diesen Strafandrohungen des sachlichen Strafrechts; gerade § 360 Nr. 8 StGB hätte überhaupt wenig Sinn, wenn man die Vorschrift nicht auch und in erster Linie auf Beschuldigte anwenden wollte. Ebenso H e n k e l 174 Fußn. 5. A. M. E b S c h m i d t 9; ihm ist einzuräumen, daß die bloße Weigerung, den Namen usw. zu nennen, für sich allein noch keinen Haftbefehl rechtfertigt; aber das ist eine andere Frage, mit der wir es bei der Auslegung des § 136 gar nicht zu tun haben. Zwar meint E b S c h m i d t (Nachtr. zu II Rdnr. 17 Abs. 2 am Anfang) zu Unrecht, wir widersprächen seiner Ansicht, Angaben über die Identität können schon Aussagen zur Sache sein oder doch Schlüsse auf die Sache ermöglichen. Darin hat er völlig recht. Wenn etwa feststeht, daß der Täter eines Diebstahls Felix Krull heißt und in Eltville geboren ist, dann ist die Angabe: „ich heiße Felix Krull, geboren in Eltville", eine Aussage von höchstem Interesse für die Sache. Aber § 360 Nr. 8 StGB geht als lex specialis dem § 136 vor. Denn für andere Leute als Beschuldigte kommt diese Strafvorschrift praktisch gar nicht in Betracht. Behörden, Beamte und „zuständige Soldaten" fragen den ihnen unbekannten Bürger nicht nach seinem Namen, wenn sie ihm nichts vorzuwerfen haben; jedenfalls wären das seltene Ausnahmen, bei denen der Bürger wiederum kein Interesse an Weigerung oder falschen Angaben hat und deshalb nicht mit Strafe bedroht zu werden braucht. Zu Unrecht meint E b S c h m i d t (Rdnr. 17 a. E.), gegen die Anwendbarkeit der §§ 272, 360 Nr. 8 StGB spreche „die zurückhaltende Art, wie § 136 Abs. 3 mehr rät als befiehlt, schon bei der ersten Vernehmung ,auf die Ermittlung der persönlichen Verhältnisse Bedacht zu nehmen'". Die Identität des Menschen ist etwas anderes als seine persönlichen 854

Zehnter Abschnitt. Vernehmung des Beschuldigten (Sarstedt)

§ 136 Anm. 13, 14

Verhältnisse. Vielmehr hält der Gesetzgeber die Notwendigkeit, bei einer Vernehmung festzustellen, wen man eigentlich vor sich hat, für so selbstverständlich, daß er sie nicht ausdrücklich erwähnt. Das kann und darf nicht Gegenstand eines zurückhaltenden Rates sein, sondern das ist ganz unverzichtbar. Falsche Angaben über die Identität tendieren sehr stark dahin, das Verfahren gegen einen gar nicht Gemeinten, Unschuldigen zu lenken; damit wird ein wichtigeres Rechtsgut verletzt als die prozessuale Stellung des Beschuldigten. In aller Regel hat nur der Schuldige ein Interesse daran, seine Identität zu verschleiern. b) Unter den „persönlichen Verhältnissen" versteht Abs. 3 diejenigen Lebensumstände des Beschuldigten, die für die Beurteilung seiner Verantwortlichkeit und für die Bemessung der Strafe einschließlich der Frage einer Strafaussetzung von Bedeutung sein können. Hierher gehören z. B. Alter, Werdegang, Kriegsdienst (dazu S e i b e r t NJW 1960 473), Einkommen, Vermögen, Familienverhältnisse, sonstige Umwelt, Krankheiten, Vorstrafen. Daß solche Dinge auch zum Gegenstand der Vernehmung des Beschuldigten gemacht werden, ist besonders deshalb wichtig, weil die Akten vielfach Berichte (insbesondere der Gerichtshilfe) darüber enthalten, die nicht auf verfahrensrechtlich geregelten Wegen gewonnen sind und nicht zum Gegenstand der Hauptverhandlung gemacht werden können. Bisweilen findet man wahre Uriasbriefe darunter. Zu den unter b erwähnten Angaben ist der Beschuldigte nicht verpflichtet. 13. Über die Vernehmungstechnik schweigt § 136. Wir verweisen auf das oben vor 1 angeführte Schrifttum, insbesondere auf die Werke von G r a ß b e r g e r , M e i n e r t und Hellwig. 14. Anwesenheitsrechte und -pflichten. a) Der Staatsanwalt ist nicht verpflichtet, wohl aber berechtigt, polizeilichen Vernehmungen des Beschuldigten beizuwohnen. Seine Berechtigung ergibt sich daraus, daß er der Herr des Ermittlungsverfahrens ist und die Beamten der Polizei nur seine Hilfsbeamten sind. Er ist jederzeit zu Weisungen an den vernehmenden Polizeibeamten und zum persönlichen Eingreifen befugt. Bei richterlichen Vernehmungen im Vorverfahren und während der Voruntersuchung ist der Staatsanwalt gemäß §§ 169 Abs. 1, 192 Abs. 2 zugelassen (vgl. dazu unten b am Ende). In der Hauptverhandlung muß er anwesend sein. b) Ob der Verteidiger bei polizeilichen Vernehmungen des Beschuldigten zugegen sein darf, ist streitig. Die herrschende Praxis verneint es: M ü l l e r - S a x 2 b zu § 137 a. E.; H e n k e l 1. Aufl. 212 (der das indes selbst als unzulänglich bezeichnet und es in der 2. Aufl. 162 nicht so entschieden wiederholt hat). Dieser Ansicht muß entschieden widersprochen werden. Denn wenngleich § 136 auf polizeiliche Vernehmungen anzuwenden ist, so galt dies doch keinesfalls für die §§ 169, 192 a. F., die ganz ausdrücklich auf richterliche Vernehmungen beschränkt waren und hier sowohl den Staatsanwalt als auch den Verteidiger ausschlössen. Bei den richterlichen Vernehmungen sollte dieser Ausschluß beider eine Störung durch streitige Erörterungen verhindern und eine gewisse „Waffengleichheit" verbürgen. Aber jetzt (§ 192 Abs. 2 n. F.) sind hier beide ausdrücklich zugelassen! Vor der Polizei aber hatte und hat nur der Staatsanwalt ein unbestreitbares Recht auf Anwesenheit, so daß auf ihn die §§ 169, 192 hier ohnehin nicht angewendet werden; die Polizei wird nur als seine Hilfsbehörde tätig. Deshalb erfordert hier also gerade der Grundsatz der Waffengleichheit die Anwesenheit des Verteidigers. Eine streitige Erörterung dadurch zu verhindern, daß nur die eine Seite ausgeschlossen wird, kann unmöglich als der Sinn der §§ 169, 192 a. F. angesehen werden. Daß der Beschuldigte ein Recht auf die Anwesenheit seines Verteidigers hat, ergibt sich überdies aus dem eindeutigen Wortlaut des § 137 Abs. 1; die Worte „in jeder Lage des Verfahrens" sind so klar wie nur möglich. Eine Ausnahme für polizeiliche Vernehmungen ist im Gesetz nirgends zu finden. Im übrigen ist der Beschuldigte, wenn er nur weiß, daß er überhaupt nichts zu sagen braucht, praktisch in der Lage, die Zulassung seines Verteidigers und selbst die Beiordnung eines Verteidigers ad hoc zu erzwingen. Denn wenn er die Polizei vor die Wahl stellt, entweder auf jede Äußerung von ihm zu verzichten oder den Verteidiger zuzulassen (notfalls sogar das Gericht um Beiordnung eines Verteidigers zu bitten), wird sie das zweite wählen müssen, um ihrer Aufgabe gerecht werden 855

§136 Anm. 15

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

zu können. Auch sollte der Polizei, wenn sie korrekt verfahren will, die Anwesenheit eines Verteidigers nur hochwillkommen sein; denn die leidigen Geständniswiderrufe, begründet mit unwahren Behauptungen über unkorrekte Vernehmungsmethoden und dergleichen, sind unmöglich oder werden doch stark erschwert, wenn ein Verteidiger sich vom einwandfreien Vorgehen der Beamten überzeugen konnte. Auch bei Vernehmungen vor dem Staatsanwalt steht dem Verteidiger die Anwesenheit frei. Bei richterlichen Vernehmungen im Vorverfahren und in der Voruntersuchung ist der Verteidiger, wie der Staatsanwalt (vgl. oben a), nach §§169 Abs. 2, 192 Abs. 2 n. F. zugelassen. c) Die Mitwirkung eines Protokollführers ist durch §§ 168, 187 nur für richterliche Vernehmungen zwingend vorgeschrieben. Unterbleibt sie, so ist die Vernehmung nicht als richterliche gemäß §§251 Abs. 1, 254 verwertbar. Staatsanwalt und Polizei ziehen nur nach ihrem Ermessen einen Protokollführer zu. Vorgeschrieben ist das nicht. d) Über die Mitwirkung eines Dolmetschers vgl. GVG §§ 185, 186. e) Die Beiziehung von Sachverständigen steht im Ermessen des Vernehmenden; er kann dem Sachverständigen auch gestatten, unmittelbar Fragen an den Beschuldigten zu stellen (§ 80 Abs. 2). f) Ebenso ist es dem Ermessen des Vernehmenden überlassen, dem Beschuldigten bei seiner Vernehmung Zeugen gegenüberzustellen (§ 58 Abs. 2). g) Das gleiche gilt von Mitbeschuldigten. Im Vorverfahren wird es sich im allgemeinen empfehlen, Mitbeschuldigte getrennt zu vernehmen; jedoch steht es im Ermessen des Vernehmenden, sie einander gegenüberzustellen. Umgekehrt ist es in der Hauptverhandlung: die Regel ist gemäß § 231, daß alle Angeklagten anwesend sind; Ausnahmen gestattet § 247. h) Der Ehegatte (Ehemann oder Ehefrau) ist in der Hauptverhandlung gemäß § 149 Abs. 1 als Beistand der oder des Angeklagten zuzulassen. Im Vorverfahren haben sie einen solchen Anspruch nicht; nach § 149 Abs. 3 unterliegt ihre Zulassung dem richterlichen Ermessen. Auch dem Staatsanwalt und der Polizei wäre solche Zulassung nicht verboten; jedoch werden sie sich kaum darauf einlassen. i) Hat der Angeklagte einen gesetzlichen Vertreter, so gilt für ihn das gleiche wie vom Ehegatten (oben h). Für jugendliche Beschuldigte gilt darüber hinaus § 67 JGG. Hier haben der gesetzliche Vertreter und jeder Erziehungsberechtigte ein Recht darauf, gehört zu werden, Fragen und Anträge zu stellen oder bei Untersuchungshandlungen anwesend zu sein, soweit der jugendliche Beschuldigte selbst diese Rechte hat. Dies gilt auch im Vorverfahren. Der Wortlaut des Gesetzes läßt offen, ob das Recht sich auch auf Anwesenheit bei Vernehmungen erstreckt. Die Vernehmung des Jugendlichen ist natürlich eine „Untersuchungshandlung"; die Frage, ob er „ein Recht darauf hat", dabei anwesend zu sein, mag seltsam klingen — aber davon hängt es ab, ob Erziehungsberechtigte und gesetzliche Vertreter anwesend sein dürfen. Sie wird zu bejahen sein; ebenso G r e t h l e i n / B r u n n e r Fußn. 7 zu § 67 JGG. Mißbräuchen, die bisweilen naheliegen mögen, ist dadurch zu begegnen, daß der Richter das Recht gemäß § 67 Abs. 4 J G G entzieht. In der Praxis ist die Polizei freilich im allgemeinen nicht geneigt, den Erziehungsberechtigten und gesetzlichen Vertretern dieses Recht zuzugestehen. 15. Für richterliche Vernehmungen schreiben die §§ 168, 188 die Aufnahme eines Protokolls vor. Für Vernehmungen durch den Staatsanwalt oder durch die Polizei gibt es entsprechende gesetzliche Vorschriften nicht; hier gilt Nr. 36 RiStBV, wo eine Niederschrift als selbstverständlich vorausgesetzt und für den Fall eines Geständnisses näher geregelt ist. BayObLGSt. 1956 269 (271 unten) rechnet es zu den „Kennzeichen einer amtlichen Vernehmung, daß eine Niederschrift aufgenommen wird". Die polizeiliche oder staatsanwaltliche Niederschrift hat im allgemeinen Bedeutung nur für die weiteren Ermittlungen, nicht dagegen als Gegenstand eines Urkundenbeweises; dazu kann sie gemäß § 251 Abs. 2 nur dann werden, wenn der Vernommene verstorben ist oder aus anderen Gründen in absehbarer Zeit gerichtlich nicht vernommen werden kann. Über den Inhalt der polizeilichen Niederschrift vgl. M e i n e r t 234 ff. 856

Zehnter Abschnitt. Vernehmung des Beschuldigten (Sarstedt) § 1 3 6 Anm. 16—18

§ 136a 16. Tonbandaufnahmen bei Vernehmungen sind gestattet, und zwar mit oder ohne Kenntnis des Vernommenen. Eine durch § 136 a verbotene Täuschung, die geeignet wäre, die Freiheit der Willensentschließung oder der Willensbetätigung des Beschuldigten zu beeinträchtigen, liegt nicht darin, daß ihm das Vorhandensein eines Tonbandgeräts verheimlicht wird, vgl. Anm. 4f zu § 136 a. Eine andere Frage ist die nach der prozessualen Verwertbarkeit des Tonbandes als Beweismittel. Nach richtiger Ansicht ist es nicht (wie K o h l h a a s DRiZ 1956 80 meint) Urkunde, die durch Abspielen „verlesen" werden könnte, sondern Gegenstand des Augenscheins, vgl. oben Anm. 4 zu § 86. Mit den Urkunden hat es freilich gemeinsam, daß die Vernehmung in der Hauptverhandlung nicht allgemein (vgl. § 250), sondern nur unter den Voraussetzungen des § 251 durch solchen Augenschein ersetzt werden darf; neben der Vernehmung ist die Benutzung aber unbeschränkt zulässig. 17. Für „geeignete Fälle" sieht das Gesetz den Hinweis vor, daß der Beschuldigte sich schriftlich äußern könne. Geeignet werden solche Fälle sein, in denen der Beschuldigte sowohl hinreichend schriftgewandt als auch hinreichend guten Willens ist. In solchen Fällen wird von dieser Möglichkeit vor allem dann Gebrauch zu machen sein, wenn für die Äußerung auf umfangreiche Unterlagen zurückgegriffen werden muß. Weitere Beispiele bei K l 5. — Die Aufforderung, eine schriftliche Sachdarstellung zu geben, darf aber nicht dazu mißbraucht werden, ohne Wissen des Beschuldigten eine Vergleichsschrift für Handschriftuntersuchungen zu schaffen; das wäre eine Täuschung im Sinne des § 136 a. 18. Die Revision kann auf Verstöße gegen § 136 nur dann gestützt werden, wenn sie bei der Vernehmung des Angeklagten in der Hauptverhandlung (vgl. § 243 Abs. 3) geschehen sind. So kann etwa beanstandet werden, daß dem Angeklagten die frühere Aussage eines Zeugen vorgehalten worden sei, der inzwischen von seinem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch gemacht hat, BGHSt. 2 99; BGH NJW 1956 1886= LM Nr. 10 zu § 252 StPO. Ist dagegen im Vorverfahren gegen § 136 verstoßen worden, so begründet das die Revision ebensowenig wie sonstige Verfahrens verstoße im Vorverfahren; denn das Urteil darf nach § 261 ohnehin nur auf dem Inbegriff der Hauptverhandlung beruhen. Die Neufassung hat zu der Frage geführt, ob die Verletzung der Hinweisvorschriften ein Verwertungsverbot zur Folge habe (vgl. D a h s NJW 1965 1266 gegen K l 11). Das ist mit aller Entschiedenheit zu verneinen. Dem Gesetzgeber ist es gar nicht eingefallen, ein solches Verbot statuieren zu wollen. Ein Vergleich zwischen § 136 und 136a Abs. 3 S. 2 führt zu einem zweifelsfreien argumentum e contrario. Entsprechende Anwendung des im § 136a enthaltenen Verwertungsverbots ist nicht möglich; in § 136a handelt es sich um positive Verstöße gröbster, vielfach als Verbrechen strafbarer Art, in § 136 um Unterlassungen. Ebenso BGHSt. 22 129; 22 170 mit umfangreichen Schrifttumsangaben.

§ 136a (1) Die Freiheit der Willensentschließung und der Willensbetätigung des Beschuldigten darf nicht beeinträchtigt werden durch Mißhandlung, durch Ermüdung, durch körperlichen Eingriff, durch Verabreichung von Mitteln, durch Quälerei, durch Täuschung oder durch Hypnose. Zwang darf nur angewandt werden, soweit das Strafverfahrensrecht dies zuläßt. Die Drohung mit einer nach seinen Vorschriften unzulässigen Maßnahme und das Versprechen eines gesetzlich nicht vorgesehenen Vorteils sind verboten. (2) Maßnahmen, die das Erinnerungsvermögen oder die Einsichtsfähigkeit des Beschuldigten beeinträchtigen, sind nicht gestattet. (3) Das Verbot des Abs. 1 und 2 gilt ohne Rücksicht auf die Einwilligung des Beschuldigten. Aussagen, die unter Verletzung dieses Verbots zustande gekommen sind, dürfen auch dann nicht verwertet werden, wenn der Beschuldigte zustimmt. Entstehungsgeschichte: Eingefügt durch (BGBl. 455); vgl. unten 1 a und e.

Vereinheitlichungsgesetz

vom

12.9. 1950 857

§ 136a

Strafprozeßordnung. Erstes Buch Übersicht

1. Allgemeines a) Entstehungsgeschichte b) Vorläufer c) ausländische Vorbilder d) amtliche Begründung e) allgemeine Beurteilung 0 Auslegung 2. Sachlicher Geltungsbereich 3. Beeinträchtigung der Willensfreiheit 4. Die verbotenen Methoden a) Mißhandlung b) Ermüdung c) körperlicher Eingriff d) Verabreichung von Mitteln

5. 6. 7. 8. 9. 10.

e) Quälerei f) Täuschung g) Hypnose h) Zwang i) Drohung k) Versprechen Beeinträchtigung des Erinnerungsvermögens und der Einsichtsfahigkeit Unbeachtlichkeit der Einwilligung Verwertungsverbot Beweis des Verstoßes Entsprechende Anwendung auf Willenserklärungen Revision

Schrifttum: A r n d t : Der Lügendetektor vor amerikanischen Gerichten, D R Z 1950 133; B a d e r : Zum neuen § 1 3 6 a S t P O , J Z 1951 123; B a d e r : JZ 1952 88 (Anm. zu BGH); B a d e r : „Zu Recht oder U n r e c h t . . . " ? JZ 1958 449; B a u m a n n : Narkoanalyse (Diss. Münster 1950); B a u m a n n : Sperrkraft der mit unzulässigen Mitteln herbeigeführten Aussage, GA 1959 33; von C l e r i c : Zur forensischen Würdigung der Suggestivfragen (ZSchweizStR 43 [1929]); B i n d o k a t : Zur Frage des Irrtums bei Prozeßhandlungen, NJW 1956 51; B r e i t h a u p t : Die Verhandlungsleitung im Strafprozeß, DRiZ 1962 47; D a l l i n g e r : Zur Vereinheitlichung des Strafverfahrens, SJZ 1950 732; D ü n n e b i e r : Anm. zu dem Urteil Nr. 677 des Court of Appeals v. 15. 8. 1951, JZ 1952 373; E r b s : Unzulässige Vernehmungsmethoden, NJW 1951 386; F e l d m a n n : NJW 1960 210 (Anm. zu OLG Düsseldorf); G r ü n w a l d : Zur Ankündigung von Strafmilderung für den Fall eines Geständnisses, NJW 1960 1941; H e l l w i g : Psychologie und Vernehmungstechnik bei Tatbestandsermittlungen, 4. Aufl. 1951; H e n k e l : 228; H e n k e l : Die Zulässigkeit und die Verwertbarkeit von Tonbandaufnahmen bei der Wahrheitserforschung im Strafverfahren, JZ 1957 148; H e l l w i g : Psychologie und Vernehmungstechnik (1951) S. 210ff.; H o f f m a n n : Bemerkungen zur Aussageerpressung, NJW 1962 972; von H o l s t e i n : Zu § 136a StPO. - Einige Bemerkungen zu einer Entscheidung des BGH (BGHSt. 1 376), MDR 1952 340; K n ö g e l : Der Lügendetektor, DRiZ 1954 234; K o g g e : Psychoanalyse? JR 1950 203; K o h l h a a s : Zur Anwendung des Lügendetektors, JR 1953 450; K o h l h a a s : Tonbandaufnahmen im Strafprozeß, DRiZ 1955 80; K r a n z : Narkoanalyse (1950); K u n e r t : Wie weit stützt die Strafprozeßordnung die Grundrechte des Beschuldigten? MDR 1967 539; L a u x : Zum Begriff der Täuschung in § 136a Abs. I StPO, SchlHA 1951 3 9 = DRsp. IV (450) 29e; L e s s : Zur Anwendung experimental-psychologischer Methoden bei Zeugen, DRZ 1950 322; L i l j e , Hanns: Im finstern Tal, 2. Aufl. 1948 (Kap. „Verhöre", S. 31 ff.); M e i n e r t , F.: Vernehmungstechnik, 4. Aufl. 1956; M e t z : Zur Frage der Zulässigkeit der Anwendung des „Lügendetektors" im Strafverfahren, NJW 1951 752; M ö l d e r s : NJW 1960 211 (Anm. zu OLG Düsseldorf); N i e s e : Narcoanalyse als doppelfunktionelle Prozeßhandlung, ZStW 1950 199; P a u l i : Die Wiederherstellung der Rechtseinheit in der Bundesrepublik in (sie!) Deutschland, D R Z 1950 461; P e t e r s : S. 258ff.; P e t e r s : Narcoanalyse? JR 1950 47; R a d b r u c h : Grenzen der Kriminalpolizei, in Festschrift für W. Sauer (1949) 121; R o e s e n : Die Stellung des Vorsitzenden in der Hauptverhandlung, NJW 1958 977; S a u e r : Grenzen des richterlichen Beweises, JR 1949 500; S c h m i d t , August: Fehler bei Vernehmungen, DRiZ 1960 426; E b S c h m i d t : „Es gibt noch Richter in Karlsruhe", Rhein-Neckar-Zeitung v. 27. 4. 1954 und DRiZ 1954 125; E b S c h m i d t : JZ 1955 681 (Anm. zu OLG Bremen); E b S c h m i d t : Zulässigkeit und Verwendbarkeit von Tonbandaufnahmen im Strafverfahren, JZ 1956 206; E b S c h m i d t und Kurt S c h n e i d e r : Zur Frage der Eunarkon-Versuche in der gerichtlichen Praxis, SJZ 1949 449; S c h ö n k e : Einige Bemerkungen zur Frage der Verwendung des „Wahrheitsserums", D R Z 1950 145; S i e g e r t : Zur Tragweite des § 136a StPO, DRiZ 1953 98; S i m s o n : Lehren der schwedischen Strafrechtspflege, MDR 1950 281; W ü r t e n b e r g e r : Ist die Anwendung des Lügendetektors im deutschen Strafverfahren zulässig? JZ 1951 772. 858

Zehnter Abschnitt. Vernehmung des Beschuldigten (Sarstedt)

§ 136 a Anm. 1 a, b

1. Allgemeines. a) Entstehungsgeschichte. „Bewundert viel und viel gescholten" ist diese Vorschrift, die das Vereinheitlichungsgesetz in die Strafprozeßordnung eingefügt hat. Das Urteil über sie geht von der Meinung R o t b e r g s (berichtet von Abg. Greve, Verh. d. Dt. BT, I. Wahlp. 1949 Bd. IV S. 2882), mit ihr rücke die Bundesrepublik in die Reihen der modernsten Staaten Europas, bis zu der Ansicht M e i n e r t s (S. 142), es handle sich um einen Katalog von „Ausreden zur gefalligen Benutzung". Wir pflichten keiner dieser extremen Meinungen bei. Die Aufgabe, die der Gesetzgeber sich hier gestellt hat, ist jeder Mühe wert; freilich ist es ein wenig harmlos, zu glauben, diese Aufgabe sei mit einer gesetzlichen Vorschrift zu bewältigen, und noch dazu mit einer so nachlässig konzipierten, so wenig zu Ende gedachten Vorschrift. Trotzdem hat sie ihr Gutes. Sie hat auf das Schrifttum zu diesen wichtigen Fragen belebend eingewirkt und die Anwaltschaft angeregt, einschlägige Fälle vor die Revisionsgerichte zu bringen; sie hat den so entstandenen Entscheidungen und Veröffentlichungen einen festen Standort gegeben, an dem dieses Material in Kommentaren und Lehrbüchern, Registern und Karteien gesammelt werden kann und leicht aufzufinden ist. „Die Vorschrift verdankt ihr Dasein den schmerzlichen Erfahrungen einer Zeit, die die Achtung vor der freien Entschließung eines Menschen, auf dem der Verdacht einer strafbaren Handlung ruht, vielfach verletzte" (BGHSt. 1 387 = NJW 1952 152 Nr. 25 = JZ 1952 8 6 = MDR 1952 117= LM Nr. 3 zu § 136a). Aber das war nur der unmittelbare Anlaß; die Geschichte der Vorschrift ist viel älter. Diese Geschichte beginnt damit, daß der Strafprozeß des Mittelalters von den formalen Beweismitteln der fränkischen Zeit (Gottesurteil, Reinigungseid des Beschuldigten, mit Eideshelfern oder ohne sie, Urkunden) zu dem Geständnis des Beschuldigten als einem der wichtigsten Beweismittel überging. „Der Geständnisprozeß hatte zur unmittelbaren Folge die Tortur" ( F e h r : Deutsche Rechtsgeschichte, 2. Aufl. 1925, S. 201). „Die C. C. C. und die ihr nachfolgenden Prozeßordnungen sind daher voll von Bestimmungen über die ,peinliche F r a g e ' . . . Man darf nicht verkennen, daß sich die P. G. O. eine heillose Mühe gab, die Anwendung der Folter auf das richtige Maß zu beschränken" ( F e h r aaO. S. 287). Für jemanden, der nicht nur an Symptomen kurieren will, liegt die Wurzel des Übels in dem Satz „confessio regina probationum". Der bisher wichtigste Schritt zur Bekämpfung des Übels war mithin die Einführung der freien Beweiswürdigung. Indessen sollte man die Augen nicht davor verschließen, welche tatsächliche Gewalt der Satz, das Geständnis sei das beste Beweismittel und die Krönung eines richtig geführten Ermittlungsverfahrens, noch heute über die Gemüter ausübt. Man lese nur nach, wie eindringlich M e i n e r t in seinem Werk, das für die Polizeibeamten das führende ist, die Herbeiführung eines Geständnisses als das Ziel jeder Vernehmung hinstellt, und wie unbefangen er die Begriffe „Geständnis" und „Wahrheit" miteinander gleichsetzt. Gerade das Pathos, das sich mit dem Worte „Wahrheit" verbindet, macht den Kampf gegen gewisse Methoden der „Wahrheits"-Findung so schwer. Wir glauben auch die Erfahrung gemacht zu haben, daß zwar Laien wie Juristen in der allgemeinen Erörterung gern dem Satze zustimmen, man solle lieber hundert Schuldige freisprechen, als einen Unschuldigen zu bestrafen — daß es ihnen aber trotzdem gewaltig sauer wird, wenn es nun wirklich in einem konkreten Fall daran gehen soll, einen wahrscheinlich (aber eben nur wahrscheinlich!) Schuldigen freizusprechen. Hier liegen starke Versuchungen, mit denen man rechnen muß, wenn man die Vorschrift richtig auslegen und handhaben will. b) Die ersten Vorläufer der Vorschrift sind die Kabinettsordres Friedrichs des Großen vom 3. Juni 1740, 27. Juni und 4. August 1754 sowie vom 18. November 1756; schon hier wurde auch der Geständniszwang ohne Einsatz der eigentlichen Folterwerkzeuge streng untersagt (vgl. E b S c h m i d t , Einführung in die Geschichte der deutschen Strafrechtspflege, 2. Aufl. 1951 S. 258). Schon Friedrich mußte sich selbst Mut zusprechen mit dem Satze: „II vaudrait mieux pardonner ä vingt coupables que de sacrifler un innocent"; und schon er mußte die Gerichte ermutigen, auch ohne Geständnis zu verurteilen, „wenn die Delinquenten die stärkeste und sonnenklare Indicia und Beweise durch viele unverdächtige Zeugen und dergleichen wider sich haben" (beide Zitate nach E b S c h m i d t aaO.). 859

§ 136 a Anm. 1 c—e

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

Die Vorschrift ist aber auch in der neuesten Zeit nicht ohne Vorgang. Nr. 70 Abs. 1 S. 2 der Richtlinien für das Strafverfahren, AV des RJM vom 29. 4. 1935 (!) lautete: „Ebenso ist es unzulässig, bei seiner (des Beschuldigten) Vernehmung unlautere Mittel (Drohung mit Verhaftung oder deren Aufrechterhaltung, Versprechen der Freilassung für den Fall des Geständnisses, Vorhalten unrichtiger Tatsachen) zur Anwendung zu bringen." c) Die Vorschrift hat auch im ausländischen Recht verschiedene Vorbilder. Kap. 23 § 12 des schwedischen Prozeßgesetzes lautet: „Während einer Vernehmung dürfen zu dem Zweck, ein Geständnis oder eine Erklärung in einer bestimmten Richtung zu erzielen, keine bewußt unrichtigen Angaben, Versprechungen oder Vorspiegelungen besonderer Vorteile, Drohungen, Zwang, Ermüdung oder andere unangemessene Maßnahmen angewandt werden. Dem Vernommenen darf nicht verwehrt werden, die üblichen Mahlzeiten einzunehmen oder sich in der nötigen Weise auszuruhen" (vgl. S i m s o n MDR 1950 281). Die Vorschrift unterscheidet sich zu ihrem Vorteil von der unsrigen einmal durch die Generalklausel („andere unangemessene Maßnahmen"), zum anderen durch teilweise präzisere Fassung („keine bewußt unrichtigen Angaben", die „üblichen" Mahlzeiten). — § 106 der B e r n i s c h e n StPO schreibt vor: „Bei Abhörung des Beschuldigten sind alle auf Erwirkung einer Aussage und insbesondere eines Geständnisses abzielenden Zwangsmittel, Gewaltmaßregeln, Drohungen, Versprechungen, falsche Vorspiegelungen und eingebenden Fragen untersagt" ( H e l l w i g , Psychologie und Vernehmungstechnik S. 220). Hier dürfte das Verbot der „eingebenden Fragen" sehr weit gehen und vorsichtig zurückhaltender Auslegung bedürfen. — In den Vereinigten Staaten von Amerika verbietet das Fünfte Amendment zur Verfassung die erzwungene Selbstbelastung; die Ansichten darüber, ob Verstöße dagegen das erlangte Beweismaterial unverwertbar machen, gehen in Amerika auseinander (US Court of Appeals JZ 1952 373 mit Anm. von D ü n n e b i e r ) . d) Amtliche Begründung. Der Regierungsentwurf zum VereinheitlG 1950 enthielt § 136 a nicht. Die Vorschrift wurde erst durch den Rechtsausschuß des Bundestages eingefügt. Der Berichterstatter des Rechtsausschusses, Abg. G r e v e , hat darüber vor dem Plenum am 26. 7. 1950 (Verh. d. Dt. BT, I. Wahlperiode 1949, Bd. IV S. 2882) ausgeführt: „Eine der wesentlichsten Änderungen, auf die gestern schon in einer Pressekonferenz Senatspräsident Rotberg vom Bundesjustizministerium hingewiesen hat, ist die Fassung der Bestimmung des § 136 a, auf die ich Ihre ganz besondere Aufmerksamkeit lenken möchte. Herr Präsident Rotberg hat zum Ausdruck gebracht, daß wir in Deutschland damit mit unserem Strafprozeß in die Reihe der modernsten Staaten Europas gerückt sind. Das ist zweifelsohne richtig. Wenn wir uns entschlossen haben, die Bestimmung des § 136a in die Strafprozeßordnung aufzunehmen, dann einmal deswegen, weil wir es aus allgemein menschlichen Gründen für notwendig hielten, etwas Derartiges gesetzlich zu fixieren, zum anderen aber auch, weil wir aus der hinter uns liegenden Erfahrung keine andere Möglichkeit sahen, um Wiederholungen zu vermeiden. Die Bestimmung stellt tatsächlich das Äußerste dar, was auf diesem Gebiet von uns getan werden kann. Hiermit bringen wir zum Ausdruck, daß keine Mittel angewandt werden dürfen, die heute weithin zur Erforschung der Wahrheit angewendet werden. Es soll eben auch zur Feststellung dessen, was ein Beschuldigter möglicherweise getan hat, keine Narko-Analyse angewendet werden, und es sollen keine sogenannten Wahrheitsspritzen verabfolgt werden, nur um einen Beschuldigten in einen Zustand zu versetzen, von dem man annimmt, daß er in ihm möglicherweise entgegen dem normalen Zustand die Wahrheit sagt, so daß damit die Möglichkeit gegeben wird, gegen ihn strafrechtlich vorzugehen, was bei Anwendung normaler Mittel nicht möglich gewesen wäre. (Zu Abs. 2 und 3): Ich glaube, wenn man überhaupt diesen Weg gehen wollte, den wir mit dieser Bestimmung gegangen sind, dann konnte man nicht weiter gehen, als wir gegangen sind. Es ist das letzte, was überhaupt möglich ist, um Maßnahmen auszuschließen, die wir nicht anwenden wollen nur zu dem Zweck, um unter Druck und durch alle möglichen Mittel die Wahrheit — die angebliche Wahrheit — zu erforschen." e) Allgemeine Beurteilung. Diesem unbefangenen Selbstlob des Gesetzgebers können wir keineswegs beipflichten. Die endgültige Beseitigung des Übels steht freilich nicht in seiner Macht; indessen hätte er mehr dagegen tun können.

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Zehnter Abschnitt. Vernehmung des Beschuldigten (Sarstedt)

§ 136 a Anm. 1 f, 2

Mit besserer Wirkung läßt sich der Gefahr von anderer Seite her begegnen. Einmal müssen die Methoden der Wahrheitserforschung mit naturwissenschaftlichen Mitteln verbessert werden. Hier ist seit Erlaß der Strafprozeßordnung schon Wesentliches geleistet worden. Fingerabdruckverfahren, Blutuntersuchung (zur Identifizierung, zur Abstammungsforschung, zur Feststellung des Trunkenheitsgrades), chemische und mikroskopische Spurenuntersuchung, kriminologische und erkennungsdienstliche Aufzeichnungen — Fortschritte in dieser Richtung müssen und werden Geständnisse und zweifelhafte Zeugenaussagen in immer zunehmendem Maße entbehrlich machen; so wird die Versuchung herabgesetzt, bei Vernehmungen unlautere Methoden anzuwenden. Zum anderen kann auch der Gesetzgeber des materiellen Strafrechts helfen, indem er auf Tatbestandsmerkmale verzichtet, die allzusehr im Subjektiven liegen und deshalb nicht mit objektiven Beweismitteln darzutun sind. Freilich ist nicht zu verkennen, daß die allgemeine Richtung der Rechtswissenschaft, zum Teil auch der Rechtsprechung zur Zeit gerade zu der gegenteiligen Entwicklung neigt. f) Allgemeines zur Auslegung der Vorschrift. Die Vorschrift leidet an großer Unschärfe. Sie will zwar ein Gesetz sein, wirkt ihrem Wortlaut nach aber eher wie ein bloßes Programm. Sie sagt teilweise zu wenig, teilweise zu viel; allenthalben muß erst bei der Anwendung das rechte Maß gefunden werden. Daß dies der Rechtsprechung bisher schon durchweg gelungen sei, läßt sich kaum sagen. 2. Die Vorschrift gilt für alle Vernehmungen durch den Richter, den Staatsanwalt (vgl. § 1 6 1 Abs. 2) und die Polizei (vgl. § 163 Abs. 2), und zwar für Vernehmungen der Beschuldigten (Angeschuldigten, Angeklagten), Zeugen (vgl. § 69 Abs. 3) und Sachverständigen (§ 72 in Verb, mit § 69 Abs. 3). Sie muß entsprechend aber auch dann angewendet werden, wenn ein Sachverständiger Beschuldigte oder Zeugen anhört (BGHSt. 11 211 = NJW 1958 679 = MDR 1958 411 = LM Nr. 6 zu § 136a [mit Anm. von F r ä n k e l ] ) . Dies ist zwar nur in sehr beschränktem Umfange zulässig, vgl. oben 3 a zu § 80; auch BGH JR 1962 111; überschreitet der Sachverständige insoweit seine Befugnisse, so ist das so Ermittelte schon deshalb nicht verwertbar. Aber keinesfalls darf er sich innerhalb oder außerhalb seiner Zuständigkeit der in § 136a verpönten Methoden bedienen. Auf Zeugen, die den Beschuldigten oder andere Zeugen ausfragen, ist die Vorschrift nicht ohne weiteres anzuwenden. So kommt es vor, daß die Angehörigen des Verletzten den Täter, den sie bei oder nach der Tat antreffen, mißhandeln und zur Rede stellen; was er daraufhin äußert, kann durch Vernehmung derer, die es gehört haben, in das Verfahren eingeführt werden und ist uneingeschränkt verwertbar; OLG Oldenburg NJW 1953 1237. Anders liegt es jedoch, wenn Dritte durch die zur Strafverfolgung berufenen Beamten veranlaßt werden, Beschuldigte oder Zeugen auszuhorchen; wenn etwa ein Mitgefangener zu dem Beschuldigten in die Zelle gelegt wird, um ihn zu unbedachten Äußerungen anzureizen, die dann durch den Mitgefangenen als Zeugen in das Verfahren eingeführt werden sollen. Das ist nicht zulässig; solches Vorgehen fallt unter das Täuschungsverbot. Denn hier ist es der Vernehmungsbeamte selbst, der sich des Mitgefangenen bedient, um den Beschuldigten darüber zu täuschen, daß ihm Erklärungen entlockt werden sollen, die der gegen ihn gerichteten Ermittlung zu dienen bestimmt sind. Auch sonst macht es keinen Unterschied, ob der Vernehmende die verbotenen Maßnahmen selbst trifft oder sich dazu eines anderen (als dolosen oder unwissenden Werkzeugs) bedient. So ist es denkbar und kommt vor, daß der Verteidiger als Mittelsmann zu einer Täuschung benutzt wird. Das war der Fall der (mindestens insoweit sehr bedenklichen) Entscheidung BGHSt. 14 190 = NJW 1960 1212 = MDR 1960 694 = LM Nr. 9 zu § 136a (mit Anm. K r u m m e ) = JR 1961 70 (mit abl. Anm. E b S c h m i d t ) ; ablehnend auch G r ü n w a l d NJW 1960 1941. Hier hatte der Vorsitzende dem leugnenden Angeklagten gesagt, „daß bei der Prüfung der Frage, ob ihm mildernde Umstände zugebilligt werden könnten, ein offenes Geständnis, dem das Gericht Einsicht und Sühnebereitschaft entnehmen könnte, von Bedeutung sein könne". (So jedenfalls die nachträglichen dienstlichen Äußerungen.) Als daraufhin der Angeklagte weiter leugnete, hatte der Vorsitzende „die Verhandlung auf einige Minuten unterbrochen, um (!) dem Verteidiger Gelegenheit zu geben, die Angelegenheit mit dem Angeklagten zu besprechen". In dieser Pause erklärte der Ver-

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§ 136 a Anm. 3 , 4

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

teidiger dem Angeklagten, allein von dem Geständnis hänge es ab, ob das Gericht eine Zuchthaus- oder eine Gefängnisstrafe ausspreche. Daraufhin gab der Angeklagte seine Täterschaft zu. Bei dieser Sachlage kann man nicht mit dem BGH sagen, das Gericht habe keinen Einfluß darauf gehabt, was der Verteidiger dem Angeklagten außerhalb der Hauptverhandlung erklärte. Das Gericht hat den Verteidiger ganz eindeutig veranlaßt, auf den Angeklagten in demselben Sinne einzureden, wie es der Vorsitzende ohne Erfolg getan hatte. Das durfte der Verteidiger aber nur dann, wenn er überzeugt war, daß das Geständnis nur zugunsten und nicht zuungunsten des Angeklagten wirken könne. Es durfte die Chance, daß das Gericht ohne Geständnis die Überzeugung von der Täterschaft nicht gewinnen werde, nicht gegen eine ganz vage (mit einem dreifachen „könnte" verklausulierte) Möglichkeit der Zubilligung mildernder Umstände verschenken. Das Gericht mußte auch wissen, daß der Verteidiger dem Angeklagten nur zum Geständnis raten konnte, wenn er, der Verteidiger, überzeugt war, dann würden mildernde Umstände zugebilligt werden. Wäre das Gericht davon ausgegangen, daß der Verteidiger dem Angeklagten nur genau dasselbe sagen würde, was ihm der Vorsitzende schon gesagt hatte, dann hätte es sich von dem einen genausowenig versprechen können wie von dem anderen. Es muß also davon ausgegangen sein, daß der Verteidiger stärker auftragen werde. Das war sowohl eine Täuschung als auch ein unzulässiges Versprechen; denn es sollte sich von selbst verstehen, daß ein mit solchen Mitteln erzieltes Geständnis den Schluß auf Reue nicht erlaubt und keine Strafmilderung rechtfertigt. Das Verwertungsverbot muß auch dann gelten, wenn der zur Vernehmung zuständige Beamte einen Dritten veranlaßt, den Beschuldigten (oder Zeugen) zu befragen und dabei eine amtliche Vernehmung vorzuspiegeln (vgl. den Fall BayObLGSt. 1956 269). Macht sich der Dritte dabei dann einer Mißhandlung usw. schuldig, die den Willen des Vernommenen beeinträchtigt, so ist das, was er sagt, nicht verwertbar. 3. Die einzeln aufgezählten Druckmittel sind (soweit es sich nicht ohnehin um strafbare Tatbestände handelt) nicht schlechthin verboten, sondern nur, soweit sie die Freiheit der Willensentschließung und der Willensbetätigung beeinträchtigen. Dies ist eine in vieler Hinsicht sehr wesentliche Einschränkung. Sie hat zur Folge, daß eine gewisse Ermüdung, eine gewisse Täuschung nicht verboten ist, jedenfalls nicht zur Unverwertbarkeit der Aussage führt. Die Grenzziehung wird weithin mit einer verständigen Beweiswürdigung übereinstimmen. Wo es völlig fern liegt, daß jemand sich durch eine Ermüdung des gegebenen Grades angesichts einer solchen Beschuldigung zu einer solchen Aussage bringen läßt, da fehlt es eben an der vorausgesetzten Beeinträchtigung der Willensfreiheit. Niemand gibt einen Mord zu, weil er eine Zigarette bekommt oder nicht bekommt, BGHSt. 5 290. Andererseits führt der Gesichtspunkt, daß das Entscheidende die Willensbeeinträchtigung ist, in anderer Beziehung zu einer Ausdehnung des Anwendungsbereichs der Vorschrift. Als rein körperlicher Eingriff betrachtet, ist die Anbringung der Meßgeräte eines Lügendetektors recht harmlos. Verboten wird sie erst dadurch, daß hier die Willensbetätigung ganz ausgeschaltet ist» daß nicht die Aussage, zu der der Vernommene sich entschließt, sondern seine unwillkürlichen Reaktionen das Ergebnis der Vernehmung bilden sollen. 4. Die verbotenen Methoden, die das Gesetz in Abs. 1 im einzelnen aufzählt, sind nicht genau voneinander abgrenzbar. Mißhandlung und Quälerei gehen ineinander über, wobei die Mißhandlung mehr auf körperlichem, die Quälerei mehr auf seelischem Gebiet ihr Schwergewicht hat. Drohung und Versprechen treten vielfach gleichzeitig, wechselweise auf, wobei das eine die Kehrseite des anderen ist (Drohung weiterer Festhaltung bei Bestreiten, Versprechen alsbaldiger Freilassung bei Geständnis). Drohungen können eine Mißhandlung usw. zum Gegenstande haben. Körperlicher Eingriff kann das Mittel des Zwanges sein. Ein Versprechen ist, wenn es nicht ernst gemeint ist, gleichzeitig eine Täuschung. Verabreichung von Mitteln kann durch körperlichen Eingriff (Spritzen) geschehen. Bei der praktischen Anwendung der Vorschrift kann es deshalb erforderlich werden, ein Verhalten unter mehreren Gesichtspunkten zu prüfen. Im übrigen ist die Aufzählung nicht schlechthin abschließend. Entsprechende Anwendung auf ähnliche Dinge ist durchaus möglich. Der Strafrechtler ist durch die ständige Beachtung des sachlich-rechtlichen Satzes „nulla poena sine lege" zu einer ganz unangebrachten Scheu vor jeder Analogie erzogen. Gerade hier 862

Zehnter Abschnitt. Vernehmung des Beschuldigten (Sarstedt)

§ 136 a Anm. 4 a, b

wäre diese Scheu verfehlt. Sollte etwa ein „Lügendetektor" erfunden werden, der ohne unmittelbare Berührung mit dem Körper des Vernommenen arbeiten kann, so müßte selbstverständlich auch seine Anwendung als unzulässig gelten. Vgl. ferner unten zu 8. a) Mißhandlung ist der Tatbestand des § 223 StBG. Eine eigentliche Verletzung des Körpers ist also nicht erforderlich. Oft wird der Mißhandelnde gleichzeitig den Tatbestand des § 343 StGB verwirklichen; davon hängt jedoch die Anwendbarkeit des § 136 a nicht ab. b) Bei der Ermüdung ist zunächst streitig, ob sie die Aussage nur dann unverwertbar macht, wenn der Vernehmende selbst den Vernommenen ermüdet hat, oder auch dann, wenn der Vernommene aus anderen Gründen ermüdet war. Für die erste Ansicht trat T i l l m a n n in der 20. Auflage (9b) ein, ferner E r b s NJW 1951 387. Die zweite Auffassung vertritt E b S c h m i d t 11 sowie BGHSt. 1 376 = NJW 1952 152 Nr. 26 = LM Nr. 2 zu § 136a (mit Anm. von J a g u s c h ) ; zustimmend auch N i e s e JZ 1953 220; ferner BGHSt. 13 6 0 = NJW 1959 1142= MDR 1959 5 9 1 = DRsp. IV(449)27e. Für die erste Meinung, an der wir nicht festhalten können, spricht nur der Wortlaut („darf nicht beeinträchtigt werden durch . . . Ermüdung"). Das ist aber ein gar zu äußerlicher Beweisgrund. Wer einen sehr Ermüdeten vernimmt, ermüdet ihn schon mit der ersten Frage weiter, so daß er ihn bis zur ersten Antwort schon ermüdet hat. Ermüdung ist ein allmählich fortschreitender Zustand, bei dem in aller Regel das Vernehmen zu anderen Ursachen hinzutritt (z. B. BGHSt. 13 60: 30 Stunden „mit körperlicher Arbeit und nervenanstrengenden Vernehmungen verbracht"). Eine weitere Zweifelsfrage ist, ob schon die nur objektive Ermüdung das Vernehmungsergebnis unverwertbar macht, oder ob diese Folge nur dann eintritt, wenn der Vernehmende die Ermüdung absichtlich zur Beeinflussung der Aussage herbeigeführt oder ausgenutzt hat. Ersteres ist richtig: E b S c h m i d t 12; BGHSt. 13 60. Der vom Gesetz vorausgesetzte Grad der Ermüdung ist besonders schwer festzulegen und tatsächlich zu ermitteln. Praktisch werden nur extreme Fälle in Betracht kommen. Freilich würden wir einen Fall wie den der Entscheidung BGHSt. 1 376 schon dazu rechnen: Festnahme, Vernehmung bis in die Abendstunden, wiederholte Verhöre am folgenden Tage, abends Ausgrabung der Leiche des Opfers in Gegenwart der Beschuldigten, in der Nacht Wecken um 2 Uhr und erneute Vernehmung bis 4 Uhr; dann Geständnis. Was das genannte Urteil zur Entschuldigung dieses Verfahrens sagt, greift nicht durch. Das gilt insbesondere von der „Notwendigkeit", den Verdacht eines Tötungsverbrechens mit jeder nur möglichen Beschleunigung aufzuklären. Es ist ja gerade die Frage, ob es angesichts des § 136 a noch als „möglich" gelten darf, jemanden nach derartigen Belastungen in den beiden Vortagen nachts um 2 Uhr aus dem Schlaf zu reißen; diese Frage muß verneint werden. Vgl. die zutreffende Kritik von E b S c h m i d t 12 und B a d e r JZ 1952 88. Die Behauptung von der Notwendigkeit solchen Vorgehens widerlegt sich schon dadurch, daß der Beschuldigte sich keinesfalls darauf einzulassen braucht. Hier wird besonders deutlich, daß der Staat seinen Bürgern die Freiheit nicht mit Gewalt bringen kann, sondern daß dazu das Erwecken eines freiheitsliebenden Bürgersinns notwendig wäre. Das ist eine Aufgabe, an der der Gesetzgeber allein scheitern muß, wenn ihm nicht die Erziehung zu Hilfe kommt. Wer sich als Beschuldigter darüber klar ist, erstens, daß er überhaupt nicht auszusagen braucht, und zweitens, was für ihn möglicherweise auf dem Spiel steht, dessen Willensfreiheit kann durch Ermüdung nur unter sehr ungewöhnlichen Bedingungen beeinträchtigt werden. Er kann jede Vernehmung zu jeder Zeit abbrechen und erklären, er sei erst nach einer so und so langen Pause, nach ungestörter Nachtruhe, nach der fälligen Mahlzeit bereit, weiteres zu sagen. Ist er in Haft, so ist die Gefahr eines Mißbrauchs dieser selbstverständlichen Möglichkeit nicht groß. Andererseits ist nur der ein Staatsbürger und ein taugliches Subjekt staatsbürgerlicher Freiheit, der bereit ist, ihretwegen auch die Opfer auf sich zu nehmen, die mit dem Gebrauch der Freiheit in solchen Ausnahmelagen nun einmal notwendig verbunden sind. Wer in übermüdetem Zustande aussagt, nur um die Untersuchungshaft nicht um einen oder zwei Tage zu verlängern, dem kann im allgemeinen auch der Gesetzgeber nicht helfen. Ein solcher Beschuldigter macht sich selbst aus einem Subjekt zu einem Objekt des Verfahrens. Es ist kein Zufall, daß der bisher einzige Fall, in dem der BGH ein Urteil wegen Ermüdung beim Geständnis aufgehoben hat, der 863

§ 136 a Anm. 4 c

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

eines „geistig hochgradig beschränkten, an der Grenze des Schwachsinns stehenden" Beschuldigten war (BGHSt. 13 60); in BGHSt. 1 376 handelt es sich um obiter dicta, denn dort beruhte die Verurteilung auf einem später in nicht ermüdetem Zustande vor dem Richter abgegebenen Geständnis. Die Gefahr einer unzulässigen Ermüdung besteht besonders in der Hauptverhandlung, weil hier der Angeklagte nicht ständig in dem Maße aktiv beteiligt ist wie bei einer anderen Vernehmung. Die passive Rolle, zu der er bei einer längeren Beweisaufnahme und auch bei längeren Plädoyers bisweilen verurteilt ist, bringt die Gefahr einer vom Gericht nicht bemerkten Übermüdung mit sich. Allerdings liegt ein gewisser Schutz darin, daß sich hier die Vernehmungsbeamten nicht, wie im Vorverfahren, ablösen und schichtweise ausruhen können; indessen sind Berufsrichter, Staatsanwälte und Verteidiger besser an langes Verhandeln gewohnt als die meisten Angeklagten, und letztere selbst bemerken möglicherweise vor Aufregung nicht, wie wenig sie noch folgen können. BGH 5 StR 591/52 v. 2. 7. 1953 (mitgeteilt bei D a l i i n g e r MDR 1953 598 zu § 338 Nr. 5) behandelt einen Fall, in dem die Hauptverhandlung von 10 Uhr morgens mit kurzen Unterbrechungen bis gegen 2 Uhr nachts gedauert hatte. Es erscheint kaum möglich, daß alle Beteiligten so lange folgen können. Hier geht die Frage der Ermüdung im Sinne des § 136a jedoch in der allgemeineren Frage der Verhandlungsfahigkeit auf. Sie wird in aller Regel vom Beschuldigten oder seinem Verteidiger noch in der Verhandlung selbst zur Sprache gebracht werden müssen, um entschieden werden zu können. Unrichtig ist es, mit Till m a n n (Anm. 9b in der 20. Auflage) aus der „gesetzlichen Zulässigkeit des Kreuzverhörs" zu schließen, daß eine „ermüdende Vernehmung nicht verboten" sei; und ebenfalls unrichtig ist es, wenn K I M 3b dazu bemerken, das Ziel des Kreuzverhörs sei es „nicht, den Beschuldigten zu ermüden, sondern sein von ihm aufgebautes Verteidigungsschema in Verwirrung zu bringen". Dagegen ist mehreres einzuwenden. Erstens gestattet das Gesetz (§ 239) das „Kreuzverhör" nur in der Hauptverhandlung und nur mit Zeugen, nicht etwa mit dem Angeklagten. Zweitens kommt das Kreuzverhör in Deutschland nicht vor; infolgedessen gibt es bei uns weder Staatsanwälte noch Verteidiger, die hinreichend ausgebildet sind, es irgend sachgemäß zu handhaben. Drittens kann das Ziel des Kreuzverhörs, so wie § 239 es regelt, unmöglich sein, den Vernommenen zu ermüden oder in Verwirrung zu bringen. Das wäre ein Mißbrauch, den der Vorsitzende gemäß § 241 Abs. 1 unterbinden müßte (und, wenn es wirklich einmal zu diesem bei uns ungewohnten Verfahren kommen würde, auch ganz gewiß sofort unterbinden würde!). Viertens sagen K l M 1 zu § 239 selbst (und mit Recht), das Kreuzverhör sei „nicht geeignet, die Aussichten der Wahrheitsermittlung zu erhöhen". Sollte jedoch mit den oben angeführten Äußerungen nicht das. „Kreuzverhör" des § 239, sondern die Befragung eines Beschuldigten oder Zeugen durch mehrere Beamte gleichzeitig gemeint sein, wobei ihn der eine mit seinen Fragen hierhin, der andere dorthin zerrt, so läßt sich jedenfalls aus dem Gesetz nichts über die Zulässigkeit eines solchen Verfahrens herleiten. Im allgemeinen wird dergleichen entweder als Ermüdung oder als Quälerei unzulässig sein; denn sachlichen Erfolg verspricht so etwas nicht. Eine Vernehmung, die ein verwertbares Ergebnis haben soll, kann nur von einem geleitet werden ( M e i n e r t 129). Daß ein zweiter Beamter anwesend ist und mit Zustimmung des die Vernehmung Leitenden gelegentlich Zwischenfragen stellt, kann sich unter Umständen empfehlen und ist zweifellos nicht verboten. c) Der körperliche Eingriff braucht hier nur insoweit erörtert zu werden, als er nicht schon unter dem Gesichtspunkt der Mißhandlung (oben a), der Verabreichung von Mitteln, etwa durch Spritzen (unten d) oder der Quälerei (unten e) verboten ist. Verboten sind auch völlig schmerzfreie und folgenlose körperliche Eingriffe; sonst hätte es ihrer Erwähnung gar nicht bedurft. Zu denken ist in erster Linie an den sogenannten L ü g e n d e t e k t o r , einer Apparatur, mit der Blutdruck, Pulsschlag, Atmung gemessen werden, um daraus Schlüsse auf die subjektive Wahrheit des Ausgesagten zu ziehen. Die richtige Meinung, daß dies schon vor Erlaß dieser Vorschrift unzulässig war und jetzt erst recht unzulässig ist, hat sich völlig durchgesetzt: BGHSt. 5 3 3 2 = NJW 1954 6 4 9 = JZ 1954 3 6 4 = LM Nr. 5 zu § 136 a (mit Anm. von J a g u s c h ) ; E b S c h m i d t 9; Kl M 3c; a. M. M e i n e r t (166ff.), der den Lügendetektor nicht grundsätzlich, sondern nur in seiner heutigen Form als unverläßlich ablehnt. Die Anwendung eines Lügendetektors, „der so sicher arbeitet, daß ein Zweifel an 864

Zehnter Abschnitt. Vernehmung des Beschuldigten (Sarstedt)

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der Richtigkeit seiner Ergebnisse überhaupt nicht möglich wäre", hat nach der von M e i n e r t mit Nachdruck vertretenen Ansicht „mit verbotenen Vernehmungsmethoden' nichts (von M e i n e r t hervorgehoben) zu tun". Daß diese Ansicht in dem führenden Werk zur Unterrichtung der Kriminalpolizeibeamten auf mehreren Seiten in aller Ausführlichkeit vertreten werden kann, sollte alle am Strafverfahren beteiligten Juristen zu höchster Wachsamkeit veranlassen. Ein Irrtum, der eines Tages verhängnisvoll werden könnte, wäre es, zu glauben, angesichts des weitgefaßten Wortlauts des § 136a sei die Gefahr rechtsstaatswidriger Vernehmungsmethoden praktisch so gut wie gebannt. Es verdient stärkste Beachtung, daß ein so hoher Polizeibeamter ( M e i n e r t war Präsident des Bayrischen Landeskriminalamtes) im Jahre 1956 öffentlich erklärt, die Kriminalisten müßten „Gott danken, wenn endlich eine Maschine erfunden würde, die uns den Schuldbeweis fix und fertig liefert" (S. 167). Darauf ist mit J a g u s c h (aaO.) zu antworten: „Der Preis, den eine völlig uneingeschränkte Verbrechensverfolgung auf menschlichem Gebiet fordern würde, wäre zu hoch und auch unsittlich." Auch (und gerade) ein vollkommener Lügendetektor dürfte deshalb im Strafverfahren nicht angewendet werden, selbst wenn er seine Messungen ohne Berührung mit dem Körper des Vernommenen vornehmen könnte. d) Bei der Verabreichung von Mitteln ist vor allem an berauschende (Alkohol in jeder Form), betäubende, einschläfernde (Evipan, Eunarcon; dazu E b S c h m i d t u. K. S c h n e i d e r SJZ 1949 449) und Weckmittel (Benzedrin, Pervitin; dazu BGHSt. 11 211) zu denken. Ein Weckmittel ist auch das Coffein; indessen wird eine Tasse Kaffee die Willensentschließung und Willensbetätigung nicht unfrei machen können und deshalb sicherlich erlaubt sein. Es gibt auch Mittel, deren Verabreichung gleichzeitig den Begriff der Mißhandlung oder der Quälerei erfüllen kann, so etwa das grundlose oder heimliche Eingeben von Abfuhrmitteln, von stark gesalzenem Essen bei gleichzeitigem Flüssigkeitsentzug. Über Zigaretten vgl. BGHSt. 5 2 9 0 = NJW 1953 1114= JZ 1953 5 7 4 = LM Nr. 4 zu § 136a (mit Anm. von Geier). e) Unter Quälerei sind schwere, unangemessene Einwirkungen auf das Seelenleben zu verstehen. Eine längere Zeit andauernde, durch schwere Kränkungen entwürdigende Behandlung, Beschimpfungen, fortgesetztes Anschreien, Dunkelhaft, Erzeugung von Ekel, unzüchtige Gespräche vor Frauen, Erregung von Angst und Hoffnungslosigkeit können sich als Quälerei darstellen. BGHSt. 15 187 = NJW 1961 84 = MDR 1961 163 LM Nr. 11 zu § 136a (mit Anm. von M a r t i n ) sieht unter ganz besonderen Umständen eine Quälerei darin, daß der Beschuldigte zur Leiche des Opfers geführt wird (der Leitsatz spricht vom „Täter" und der Leiche „seines" Opfers). Die Entscheidung setzt sich nicht damit auseinander, daß es nach § 88 Satz 2 nicht nur „statthaft" (so die Gründe S. 189), sondern zwingend vorgeschrieben ist, dem Beschuldigten die Leiche zur Anerkennung vorzuzeigen. Freilich war dies nicht das Anliegen der Polizeibeamten; vielmehr machten sie die (nach dem Gesetz gar nicht zulässige) Unterlassung davon abhängig, daß der Beschuldigte gewisse Aussagen machte. Einen solchen Zusammenhang durften sie zweifellos nicht herstellen. Gleichwohl eignet die Entscheidung sich nicht zur Verallgemeinerung. In aller Regel ist eine so zarte Rücksicht auf die „besonders seelische Schmerzempfindlichkeit" (BGH S. 190) eines Mörders, der sein Opfer „furchtbar zugerichtet" hat (vgl. die Apologie des Urteils bei R o t b e r g in Strafrechtspflege und Strafrechtsreform [Wiesbaden 1961] S. 241), nicht angebracht. Gegen Verallgemeinerung auch M a r t i n aaO. BGH 5 StR 145/57 v. 14. 5. 1957 betraf einen Fall, in dem der Staatsanwalt während der Hauptverhandlung einen nicht sehr einleuchtenden Antrag auf psychiatrische Untersuchung der Angeklagten — einer angesehenen Ärztin — gestellt und das Gericht diesen Antrag nicht sofort beschieden hatte. Der BGH verneinte einen Anstoß gegen § 136 a; immerhin wird eingeräumt werden müssen, daß es bei solchen Dingen auf die Umstände des Einzelfalls, vor allem auf den Zweck solchen Vorgehens (Einschüchterung, öffentliche Demütigung und Herabwürdigung?) ankommen kann, und daß auch der Ton die Musik macht. Insoweit wird ein Revisionsgericht praktisch oft in einer schwierigen Lage sein. f) Das Verbot der Täuschung ist zweifellos zu weit gefaßt. Hier ist einschränkende Auslegung geboten, E r b s NJW 1951 388; D a l i i n g e r SJZ 1950 734; P a u l i D R Z 1950 762; P e t e r s S. 261; E b S c h m i d t 13; M ü l l e r - S a x 2d. E b S c h m i d t wollte früher von 865

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Strafprozeßordnung. Erstes Buch

diesem Verbot nur den „Grundsatz" übriglassen, daß der Vernehmende den Vernommenen nicht „durch grobes Anlügen erschüttern" dürfe, und schränkte auch diesen Grundsatz noch ein; so wollte er die unwahre Behauptung, ein Mitbeschuldigter habe gestanden, oder man habe Beweismittel, die in Wahrheit nicht vorhanden sind, nicht unter allen Umständen als verboten ansehen; er wollte es hier noch darauf abstellen, wie die Behauptung auf den Vernommenen wirkt. Diese Einschränkung möchten wir nicht gelten lassen; lügen darf der Vernehmende keinesfalls. Daran ändern auch angebliche kriminalpolitische Notwendigkeiten nichts. Denn erstens ist das Lügen in aller Regel höchst unzweckmäßig; gerade in dieser Situation hat es oft besonders „kurze Beine". Wenn der Vernommene erkennt, daß der Vernehmende lügt, wird er — auch wenn er schuldig ist — in einer dem Untersuchungszweck abträglichen Weise gestärkt; er wird die Position des Vernehmenden, der zu solchen Mitteln greift, mit Recht für schwach halten. Der Vernehmende müßte also seiner Sache schon sehr sicher sein; dann aber — und das ist der zweite Grund gegen die angebliche kriminalpolitische Notwendigkeit — wäre das Geständnis des Vernommenen zu entbehren. Zutreffend jetzt E b S c h m i d t Nachtr. zu II 10 Rdnr. 13. Feinere Täuschungen zu verbieten, ist dagegen unmöglich. Nicht frei von einer — mindestens objektiven — Täuschung ist es schon, wenn der Vernehmende dem Beschuldigten Freundlichkeit und Verständnis zeigt. Das aber wird in den Lehrbüchern der Vernehmungstechnik mit Recht dringend empfohlen ( M e i n e r t 2 8 und sonst; H e l l w i g 12ff.). Denn was der Vernehmende in Wahrheit mit dem Beschuldigten vorhat, ist etwas durchaus Unfreundliches; er will ihm die Angabe von Tatsachen entlocken, von denen er annimmt, annehmen muß, daß ihr Bekanntwerden höchst unangenehme Folgen für den Beschuldigten haben wird. Diese Seite der Sache wird ein halbwegs geschickter Vernehmungsbeamter möglichst nicht in den Vordergrund rücken; er wird im Gegenteil trachten, sie nach Kräften aus dem Bewußtsein des Vernommenen zunächst zu verdrängen. Er wird deshalb vielfach eine Miene zur Schau tragen, die in dem Beschuldigten den falschen Eindruck erweckt, als sei das alles nicht so schlimm. Das kann man nicht verbieten; auch BGHSt. 5 2 9 0 = NJW 1953 1114 = JZ 1953 574 = LM Nr. 4 zu § 136a (mit Anm. von G e i e r ) erklärt das „Vortäuschen freundschaftlicher Gesinnung" für unbedenklich. Der „schneidige" Vernehmungsbeamte ist insoweit viel offener, als er mit seinem Auftreten klarmacht, daß er der Gegner des Vernommenen ist — wie es ja der wahren Sachlage entspricht. Trotzdem wird mit Recht von solcher „Schneidigkeit" abgeraten ( M e i n e r t aaO.). Freilich darf die psychologisch geschicktere Freundlichkeit nicht so weit getrieben werden, daß dem Beschuldigten unzutreffende Angaben über die Strafbarkeit des ihm zur Last gelegten Verhaltens gemacht werden. Es darf ihm nicht der Wahrheit zuwider gesagt werden, er könne dieses oder jenes ruhig zugeben, weil es gar nicht strafbar sei. Hier wird ein vielfach brauchbarer (wenn auch nicht schlechthin gültiger) Gesichtspunkt für die Abgrenzung zwischen Erlaubtem und Verbotenem sichtbar: wo eine Täuschung die naheliegende Wirkung haben kann, daß jemand eine für ihn ungünstige Tatsache der Wahrheit zuwider einräumt, da beginnt der Bereich des Verbotenen. M e i n e r t (29) empfiehlt für den Anfang der Vernehmung einen „leichten Plauderton", weil er eine zwanglose Atmosphäre schaffe. Das kann keinesfalls verboten sein, obwohl es streng genommen eine Täuschung ist. Denn dem Beschuldigten kann dabei suggeriert werden, die Folgen, die für ihn nach Ansicht des Vernehmenden zu erwarten sind, seien nur von solcher Art, daß der ganzen Sache ein „leichter Plauderton" angemessen sei. Zweifellos ist es auch gestattet, den Vernommenen in Ungewißheit darüber zu halten, was der Vernehmende schon von der Sache weiß. Auch wenn der Vernehmende bemerkt, daß der Beschuldigte glaubt, man wisse mehr oder weniger, als man in Wahrheit weiß, darf er diesen Irrtum benutzen. Er kann unmöglich verpflichtet sein, dem Vernommenen zu sagen, man habe noch keine ausreichenden Beweismittel gegen ihn, oder man habe schon die oder die Tatsachen ermittelt. Er darf ihm zwar nicht geradezu die Unwahrheit sagen; was er ihm aber von der Wahrheit sagt, ist eine Frage der Zweckmäßigkeit und nicht des Rechts. Auch braucht der Vernehmende nicht erkennen zu lassen, in welchen tatsächlichen und rechtlichen Zusammenhang er die Tatsache zu stellen gedenkt, nach der er den Vernommenen fragt. Eine rechtliche Schranke ist hier nur der § 136 Abs. 1 Satz 1. Die Vernehmung darf nicht zum Ziel haben, den Beschuldigten einer anderen Tat zu überführen als der, die

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Zehnter Abschnitt. Vernehmung des Beschuldigten (Sarstedt)

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ihm bei Beginn der Vernehmung als deren Gegenstand genannt worden ist; es darf ihm auch nicht vorgespiegelt werden, er sei Zeuge, während er in Wahrheit wegen einer gegen ihn gerichteten Beschuldigung vernommen wird. Aber der Vernehmende darf Einzelheiten aus ihrem verfänglichen Zusammenhang lösen und sie entweder zusammenhanglos oder in anderer Verbindung erörtern ( M e i n e r t 145). Hat etwa der Beschuldigte am Tatort einen Fingerabdruck hinterlassen, so ist es nicht erforderlich, ihm dies gleich vorzuhalten und ihm Gelegenheit zu geben, die Hinterlassung des Fingerabdrucks mit der (vielleicht schwer widerlegbaren) Behauptung eines harmlosen Besuchs vor der Tat zu erklären (Beispiel von M e i n e r t aaO.). Vielmehr darf die Vernehmung durchaus mit der Frage beginnen, ob der Vernommene jemals am Tatort gewesen sei; verneint er das der Wahrheit zuwider, so hat er es sich selbst zuzuschreiben, daß er sich beim Lügen hat überlisten lassen. Der Vernehmende darf und soll einen Plan der Vernehmung haben; und es ist keineswegs seine Pflicht, diesen Plan dem Vernommenen aufzudecken. Es ist nicht verboten, sondern dringend erwünscht, daß der Vernehmende intelligenter ist und sich auch intelligenter auffuhrt als der Vernommene; dazu kann gehören, daß er sich dümmer stellt als er ist. Schließlich hat ja auch der Vernommene jede Freiheit, von seinen geistigen Kräften Gebrauch zu machen. Hat er Grund, ihnen nicht zu trauen, so mag er schweigen. Suggestivfragen können nicht wohl unter den Begriff der Täuschung im Sinne der Vorschrift fallen. Suggestivfragen können unter Umständen „ungeeignet" im Sinne des § 241 Abs. 2 sein und aus diesem Grunde zurückgewiesen werden; aber daß sie im Ernste die Willensentschließung oder Willensbetätigung des Befragten beeinträchtigen könnten, darf wohl als ausgeschlossen gelten. Übrigens sind sie praktisch nicht immer zu vermeiden; der Vernehmende kann gar nicht immer beurteilen, was seine Frage dem Vernommenen möglicherweise suggeriert. Das englische Strafverfahrensrecht verbietet die Suggestivfrage bei der direct examination, also der Befragung durch den Beweisführer, gestattet sie dagegen bei der cross examination durch den Beweisgegner. Wer die bisweilen sehr gekünstelten Fragen gehört hat, mit denen nach englischen Gerichtsgebrauch die Suggestion als vermieden gilt (eingeleitet durchweg mit den Worten: „did you or did you n o t . . . ? " ) , wird die Rezeption eines derartigen Verbotes kaum befürworten. Soweit Suggestivfragen der Wahrheitsfindung gefährlich werden können, läßt sich die Gefahr auch mit einem Verbot nicht wirksam bekämpfen. Werden im Vorverfahren nicht die Fragen, sondern — wie meist — nur die Erklärungen des Vernommenen protokolliert, so läßt sich ein etwaiger Verstoß kaum beweisen. Liegt dagegen ein Frage- und AntwortProtokoll vor und lassen sich einzelne Fragen als Suggestivfragen kennzeichnen, so ist nicht das Verwertungsverbot das angemessene Gegenmittel, sondern die freie Beweiswürdigung. verstoßen dann gegen das Täuschungsverbot und sind deshalb Tonbandaufnahmen unverwertbar, wenn sie ohne Wissen des Sprechenden bei einer Unterhaltung gemacht worden sind, die ihm als unbelauscht erscheinen mußte. Geheime Mikrophone in der Zelle oder in einem Besuchsraum, in dem der Gefangene mit seinem Anwalt oder einem Geistlichen spricht, verstoßen eindeutig gegen das Täuschungsverbot. Anders verhält es sich bei der Tonbandaufnahme von einer als solchen erkennbaren Vernehmung. Zweifellos unbedenklich, weil keine Täuschung, ist sie dann, wenn sie offen geschieht. Es bestehen aber auch keine durchgreifenden Bedenken dagegen, wenn der Vernommene keine Kenntnis von der Aufnahme hat. Zwar kann darin eine Täuschung liegen; sie beeinträchtigt aber nicht die Freiheit der Willensentschließung oder der Willensbetätigung. Wer — für ihn erkennbar — in einem Strafverfahren vernommen wird, ist vernünftiger- und normalerweise auf der Hut. Belastet er sich selbst in der Hoffnung, die von ihm wirklich abgegebenen Erklärungen später als Fälschungen des Protokolls oder als Lügen der Beamten bezeichnen zu können, so verdient das nicht den Schutz des § 136a. Wie hier K o h l h a a s DRiZ 1955 80; BGH JZ 1956 227 I; a. M. E b S c h m i d t JZ 1956 206, der die Verwertbarkeit solcher Tonbandaufnahmen auch deshalb bestreitet, weil sie keine Protokolle seien. Darin hat er zwar recht (a. M. K o h l h a a s aaO.); sie sind Augenscheinsobjekte, vgl. oben 4 zu § 86. Das steht ihrer Verwertung aber nur entgegen, soweit dadurch die Anhörung der Beweisperson ersetzt werden soll; neben der Vernehmung in der Hauptverhandlung darf das Tonband benutzt werden; BGHSt. 14 339 = NJW 1960 1582 = MDR 1960 863 = LM Nr. 10 zu § 136a 867

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Strafprozeßordnung. Erstes Buch

(Anm. von G e i e r bei Nr. 19 zu § 244 Abs. 3). Einen Grenzfall behandelt das Urteil BGH JZ 1956 227 II, ohne ihn freilich abschließend zu entscheiden: Nach einer Vernehmung, die nicht auf Tonband, sondern zu Protokoll genommen worden und abgeschlossen war, hatte sich der Beamte mit dem Vernommenen in einen Raum begeben, wo ein Tonbandgerät verdeckt aufgestellt war; dort hatte er „in aufgelockerter Weise" ein Gespräch über den Vernehmungsgegenstand mit ihm geführt, das — für den Vernommenen nicht erkennbar — auf das Tonband genommen wurde. Der BGH macht es von weiteren Tatsachenfeststellungen abhängig, ob dieses Verfahren gegen § 136 a verstieß. Die Frage dürfte jedoch zu verneinen sein. Wer sich als Beschuldigter mit einem Beamten der Strafverfolgungsbehörde, den er als solchen kennt, nach einer Vernehmung „in aufgelockerter Weise" über die ihm zur Last gelegte Tat unterhält, wird nicht darüber getäuscht, daß sein Geplauder geeignetenfalls gegen ihn verwendet werden kann. Er irrt höchstens über die Beweisbarkeit dessen, was er wirklich gesagt hat. Das ist keine Beeinträchtigung der Willensfreiheit. g) Hypnose ist unzulässig, nicht dagegen sind es Suggestivfragen (vgl. oben f)h) Zwang zur Aussage ist nur gemäß § 70 gegenüber Zeugen, gemäß § 77 gegenüber Sachverständigen gestattet; sie zu einer wahrheitsgemäßen Aussage zu veranlassen, ist der Eid und die Strafbarkeit der falschen uneidlichen Aussage vor Gericht bestimmt. Beschuldigte können nur zum Erscheinen gezwungen werden, sei es zum Erscheinen vor Gericht mittels eines Vorführungsbefehls (§ 134), sei es, wenn die Voraussetzungen der Festnahme vorliegen oder der Beschuldigte sich in Untersuchungs- oder Strafhaft befindet, auch zum Erscheinen vor dem Staatsanwalt oder der Polizei. Zwangsmittel zum Aussagen gegen den Beschuldigten kennt das Gesetz nicht. Insbesondere darf die Untersuchungshaft nicht zu diesem Zweck mißbraucht werden. i) Drohungen müssen, ehe sie das Verwertungsverbot des Abs. 3 begründen können, ebenfalls sorgfältig darauf geprüft werden, ob sie geeignet wäre, die Freiheit der Willensentschließung oder der Willensbetätigung des Vernommenen zu beeinträchtigen. Die Ankündigung einer zulässigen vorläufigen Festnahme ist regelmäßig keine verbotene Drohung: BGH 4 StR 115/53 v. 18. 6. 1953 (NJW 1953 1481 [L]; etwas ausführlicher bei D a l i i n g e r MDR 1953 723); BGH GA 1955 246; BGH bei D a l i i n g e r MDR 1956 527; BGH 2 StR 456/60 v. 21. 10. 1960. Entsprechendes gilt von dem Fall, daß der Beschuldigte seine früheren Geständnisse zurücknimmt und ihm gesagt wird, dies stehe der in Aussicht genommenem Haftentlassung entgegen, BGH 5 StR 372/56 vom 5. 3. 1957. Einem Zeugen, der nicht aussagt oder nicht in bestimmtem Sinne aussagt, darf die Polizei nicht mit Festnahme drohen, BGH LM Nr. 1 zu § 343 StGB; dagegen darf das Gericht oder der Staatsanwalt einem Zeugen, der vor Gericht allem Anschein nach falsch aussagt, ein Strafverfahren wegen Meineides oder falscher uneidlicher Aussage und auch eine Festnahme androhen. BGHSt. 1 387 = MDR 1952 117 = NJW 1952 117 = JZ 1952 86 (mit Anm. von B a d e r ) = JR 1952 67 = LM Nr. 3 zu § 136a (mit Anm. von J a g u s c h ) sagt, ein Vorhalt von Umständen und Gründen, durch die sich ein Beschuldigter in seinem Prozeßverhalten vernünftigerweise schon von selbst bestimmen lassen sollte, verstoße keinesfalls gegen das Verbot der Drohung. Ohne diesem Satz zu widersprechen, wird man doch vielleicht sagen müssen, daß die Folgerungen, die der BGH daraus zieht, etwas weit gehen. Sicherlich trifft es zu, daß es keine Drohung ist, wenn dem Beschuldigten vorgestellt wird, er könne im Falle eines Geständnisses (vielleicht, je nach Lage des Falles!) „auf Milderungsgründe hinweisen, die andernfalls vom Gericht, wenn es trotzdem zur Uberzeugung seiner Schuld käme, möglicherweise nicht berücksichtigt würden" (BGH aaO.). Bedenklicher ist dagegen schon die (vom BGH aaO. gebilligte) Bemerkung, daß „wegen der Verdachtsgründe Leugnen keinen Erfolg verspreche". Sind die Verdachtsgründe wirklich derart stark, daß sie zum Beweise hinreichen (was der Polizeibeamte meist nicht sicher wissen kann), dann kann und sollte der Vernehmende auf solche Bemerkungen verzichten. Vollends der Vorhalt, daß ein Geständnis der notwendige erste Schritt zur Sühne sei (BGH aaO.) und die gem daran angeknüpfte weitere Bemerkung, daß Leugnen strafschärfend, ein Geständnis strafmildernd berücksichtigt werden könne oder zu werden pflege, sind nicht unbedenklich. Gewiß kann das Gericht vom Leugnen auf Verstocktheit, vom Geständnis auf Reue schlie868

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ßen und beides bei der Strafzumessung berücksichtigen. Der Schluß von einem Geständnis, das erst durch einen solchen Vorhalt erzielt wird, auf eine Reue solcher Art, daß sie mildere Strafe rechtfertigt, wird aber im allgemeinen falsch sein; ein solcher Vorhalt ist ein Appell gerade nicht an die echte Reue, sondern an die Zweck- oder Folgenreue, die bei richtiger Strafzumessung nicht mildernd berücksichtigt werden sollte. Insoweit ist es eben doch ein großer sachlicher Unterschied, ob der Beschuldigte sich so etwas selbst sagt, oder ob es ihm gesagt wird. Deshalb erscheint die Entscheidung BGHSt. 14 1 9 0 = NJW 1960 1212 = MDR 6 9 4 = JR 1961 70 (mit abl. Anm. von E b S c h m i d t ) = LM Nr. 9 zu § 136a (mit Anm. von K r u m m e ) nicht ganz unbedenklich. Dort hatte der Vorsitzende „dem Angeklagten ins Gewissen geredet, ihn auf die erdrückende Beweislage hingewiesen und ihn darauf aufmerksam gemacht, daß bei der Prüfung der Frage, ob ihm mildernde Umstände zugebilligt werden könnten, ein offenes Geständnis, dem das Gericht Einsicht und Sühnebereitschaft entnehmen könne, von Bedeutung sein könne"; daraufhin Teilgeständnis (auf dem die Verurteilung beruht!) und (sachlich richtig) Versagung mildernder Umstände. So sollten Geständnisse u. E. nicht herbeigeführt werden. Vielmehr sollte man bei einer wirklich „erdrückenden Beweislage" den Mut fassen, den Angeklagten auch ohne Geständnis zu verurteilen. Ist das nicht möglich, so rechtfertigt die angeblich „erdrückende" Beweislage solche massiven Vorhalte ebensowenig wie sie die volle Schuldüberzeugung begründet. Man muß sich von der Vorstellung freimachen, der Beschuldigte werde nur dadurch als Prozeßsubjekt behandelt, daß man ihn möglichst nur auf Grund seiner eigenen Erklärungen zur Sache verurteile. Besonders wirksam können unbestimmte, nicht näher umrissene Drohungen sein, wie etwa die in BGH 2 StE 15/56 v. 22. 12. 1956 (Hochverrat und Staatsgefährdung Bd. II S. 112) behauptete Äußerung eines Vernehmenden: „So schon können wir nicht weitermachen; dann schon müssen wir anderes machen!" oder die Drohung mit „Room 101" in „1984" von George Orwell. Hier können Drohungen in Quälerei übergehen. k) Die Erwähnung des Versprechens „gesetzlich nicht vorgesehener" Vorteile ist ein Beleg dafür, wie nachlässig die Vorschrift abgefaßt ist. Denn weder das Verfahrensrecht noch das sachliche Recht sieht Vorteile dafür vor, daß jemand eine Aussage macht, die er ohne diese Vorteile nicht machen würde. Die wichtigste Rolle spielt hier das Versprechen milderer Strafe für den Fall eines Geständnisses. Das ist ebenso verbreitet wie bedenklich. Weder das Geständnis noch das Leugnen sind legitime Strafzumessungsgründe, BGHSt. 1 103; 1 105. Freilich tritt in den tatrichterlichen Urteilen das Geständnis selten ohne das Beiwort „reumütig", das Leugnen selten ohne das Beiwort „hartnäckig" oder „verstockt" auf. Das ist öfter falsch als richtig. Die wenigsten Geständnisse beruhen auf Reue; die meisten beruhen auf der Erkenntnis, daß das Leugnen nichts hilft, und eben auf der — durch die hier behandelten Versprechungen geförderten und auch selten enttäuschten — Hoffnung, daß ein Geständnis, das dem Richter Arbeit, Zeit und Verantwortung spart, ihn aus diesem unsachlichen Grunde zur Milde stimmen werde. Die Revisionsgerichte haben fast niemals Gelegenheit, das zu korrigieren, weil die Staatsanwaltschaften dagegen keine Revision einzulegen pflegen. Übrigens steckt in der Zusage, ein Geständnis mit Milde zu belohnen, als Kehrseite die ebenfalls verbotene Drohung, das weitere Leugnen mit einer Strafschärfung zu beantworten. Zulässig wäre das allenfalls bei einem „verstockten", nicht jedoch schon beim „hartnäckigen" Leugnen. Jemand kann auch aus Scham „hartnäckig" leugnen, aus Rücksicht auf seine Familie, oder — wie meist — einfach aus Angst vor Strafe, die durchaus mit innerer Einkehr und dem aufrichtigen Willen zur Besserung verbunden sein kann. Es gibt Geständnisse, die weit mehr für „Verstocktheit" sprechen als viele Fälle des Leugnens. Das gilt oft gerade für solche Geständnisse, die erst durch das Versprechen milder Strafe herbeigeführt worden sind. Eine große Rolle spielt ferner das Versprechen der Freilassung für den Fall des Geständnisses und, wiederum als Kehrseite, die Drohung mit Festnahme oder Fortdauer der Untersuchungshaft für den Fall des Bestreitens. Zweifellos sind solche Fälle nicht so häufig wie sie von Angeklagten behauptet werden; gerade hier zeigt sich, wie unerträglich es wäre, auf die tatsächlichen Voraussetzungen des § 136 a den Satz „in dubio pro reo" anzuwenden. Immerhin kommt dergleichen vor: BGHSt. 20 268 (Staatsanwalt!). Auch ist es nicht schlechthin undenkbar, daß bei unzweideutigem Fehlen des Fluchtverdachts die Verdunklungsgefahr 869

§ 136 a Anm. 5—7

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

durch ein Geständnis beseitigt wird, so daß wirklich die Freilassung von dem Geständnis abhängt. Selten läßt sich das aber mit einiger Sicherheit schon vorher sagen, also in dem Zeitpunkt, in dem die Freilassung versprochen wird; meist ist es auch nicht der Vernehmungsbeamte, der darüber zu entscheiden hat. Nahe liegt auch die Gefahr von Mißverständnissen zwischen Vernehmenden und Vernommenen. Nicht selten scheint der Vernehmungsbeamte dem Vernommenen auf sein Bestreiten hin erklärt zu haben, „dann" müsse er ihn hierbehalten — wobei dahinsteht, ob er ihn nicht auch bei einem Geständnis festnehmen müßte. Mit Recht rät deshalb M e i n e r t (S. 156), kein Geständnis in dem Augenblick entgegenzunehmen, in dem der bisher bestreitende Beschuldigte von der Notwendigkeit seiner Festnahme unterrichtet worden ist. Das Versprechen kleiner Annehmlichkeiten (Zigaretten, Tasse Kaffee) kann im allgemeinen die Willensfreiheit nicht beeinträchtigen. Auch ein starker Raucher gibt keine schweren Taten nur deshalb zu, weil ihm das Rauchen gestattet wird (vgl. BGHSt. 5 290 = NJW 1953 1114= JZ 1953 5 7 4 = LM Nr. 4 zu § 136a (mit Anm. von G e i e r ) . 5. Absatz 2 verbietet Maßnahmen, die das Erinnerungsvermögen oder die Einsichtsfahigkeit des Beschuldigten beeinträchtigen. Auch solche Maßnahmen werden meist mit den in Abs. 1 Satz 1 genannten Mitteln getroffen werden, vor allem durch körperlichen Eingriff (Elektroschock), Verabreichung von Mitteln (Eunarkonversuche) oder durch Hypnose. Das Einsichtsvermögen kann möglicherweise auch durch Ermüdung beeinträchtigt werden. Der Sinn der Vorschrift liegt auf der Hand. Eine Beeinträchtigung des Erinnerungsvermögens hindert die Verteidigung des Beschuldigten; er soll nicht künstlich in einen Zustand versetzt werden, in dem ihm Alibizeugen, Rechtfertigungs- oder Entschuldigungsgründe und andere entlastende Tatsachen entfallen sind. Eine Herabsetzung des Einsichtsvermögens hindert den Beschuldigten, sich seiner Verantwortung bewußt zu bleiben; das kann zwar belastende Tatsachen zutage fördern, widerstreitet aber dem eigentlichsten Sinn des Strafverfahrens, der darin liegt, daß der Beschuldigte, ihm selbst bewußt, zur Verantwortung gezogen wird. 6. Die (vor dem Verstoß gegebene) Einwilligung des Beschuldigten ist unbeachtlich. Natürlich willigt ohnehin niemand darin ein, daß er mißhandelt, gequält, getäuscht oder daß ihm gedroht wird. Vielmehr bedurfte es dieser Vorschrift, um der Gefahr zu begegnen, daß ein Beschuldigter sich mit einer Anwendung des Lügendetektors, der Narkoanalyse oder Hypnose einverstanden erklärt, vielleicht sogar darum bittet. Denn wäre das zulässig, so läge es nahe, Schlüsse gegen einen anderen Beschuldigten daraus zu ziehen, daß er in solche Maßnahmen nicht einwilligt. Die Drohung mit einem solchen Schluß (oder, wenn man lieber will, die Warnung vor ihm) wäre dann natürlich der nächste Schritt, der sich dem Vernehmungsbeamten anböte; von ihr würde die Rechtsprechung dann möglicherweise sagen, ein Vorhalt von Umständen und Gründen, durch die sich ein Beschuldigter in seinem Prozeßverhalten vernünftigerweise schon von selbst bestimmen lassen sollte, verstoße keinesfalls gegen § 136a (wie in BGHSt. 1 387). Auf die Einwilligung angewendet, hieße das aber, die Vorschrift praktisch in Nichts aufzulösen. Deshalb war die Bestimmung des Abs. 3 Satz 1 unerläßlich. 7. Auf das Verwertungsverbot des Abs. 3 S. 2 war der Gesetzgeber ersichtlich besonders stolz; er glaubte damit jeden Anreiz zu den verpönten Vernehmungsmethoden beseitigt zu haben. Nun ist schon die Vorstellung etwas harmlos, man könne einen Vernehmungsbeamten, der nicht einmal lange Freiheitsstrafe (StGB § 343) scheut, wirksamer dadurch abschrecken, daß man ihm das Ziel seiner verbotenen Bemühungen verstellt; denn man kann ja nichts daran ändern, daß beides, sowohl die Freiheitsstrafe als auch das Verwertungsverbot, nur dann droht, wenn der Verstoß erwiesen wird. Man hat also zunächst nur einen zusätzlichen Beweggrund geschafffen, sich so zu verhalten, daß Verstöße nicht bewiesen werden können; und dieser zusätzliche Beweggrund war nicht nötig, dafür genügte die Strafdrohung völlig. Schlimmer ist indessen, daß man einen Beweggrund geschaffen hat, die verpönten Methoden energischer als bisher anzuwenden, nämlich nicht nur bis zur Erzielung eines Geständnisses oder einer sonstigen Aussage erwünschten Inhalts, sondern bis zur Aufdeckung anderer Überführungsmöglichkeiten. Es genügt nicht mehr, den Beschuldigten so lange zu peinigen, bis er gesteht; diejenigen Vernehmungsbeamten, für die die ganze 870

Zehnter Abschnitt. Vernehmung des Beschuldigten (Sarstedt)

§ 136 a Anm. 8

Vorschrift überhaupt nur gedacht sein kann, müssen ihn jetzt vielmehr weiter peinigen, bis er Augenzeugen nennt, das Versteck der Beute offenbart, kurz, bis er außer der unverwertbaren Aussage verwertbare Beweismittel bekannt gibt. Denn unverwertbar ist nur die Aussage selbst, die unter Verletzung des Verbots zustande gekommen ist, und zwar unverwertbar als Beweismittel, verwertbar jedoch als Grundlage weiterer Ermittlungen. Die Aussage selbst darf nicht in die richterliche Überzeugungsbildung eingehen. Sie darf weder dem Vernommenen selbst noch jemandem anders im Verfahren vorgehalten werden; es darf weder die Niederschrift über sie verlesen noch der Vernehmungsbeamte oder jemand anders über ihren Inhalt vernommen werden. Selbst die Zustimmung des Beschuldigten soll daran nichts ändern, wie der Gesetzgeber eifrig hinzufügt. Ein Beschuldigter, der im Ernst bereit wäre, eine solche Zustimmung zu erteilen, ist aber zweifellos auch bereit, die verbotswidrig erlangte Aussage statt dessen ohne Zwang, Drohung, Täuschung, Ermüdung usw. inhaltlich zu wiederholen. Das ist erlaubt, und dann bestehen gegen die Verwertung keine Bedenken (BGHSt. 1 376 a. E.). Das entspricht dem Art. 58 der Carolina: „Und sol die sag des gefragten nit angenommen oder uffgeschrieben werden, so er jnn der martter, sonnder soll sein sag thun, so er von der marter gelassen ist." Erlaubt ist ferner die Verwertung derjenigen Beweismittel, deren Vorhandensein erst durch die verbotswidrig erlangte Aussage bekannt geworden ist. Es ist also gestattet, den Zeugen zu vernehmen, dessen Namen der Beschuldigte in der Hypnose genannt, den Tatort zu besichtigen, den er in übermüdetem Zustand erwähnt, die Leiche auszugraben, deren Versteck er nach Schlägen preisgegeben hat. Vgl. dazu die Verhandlungen der strafrechtlichen Abteilung des 46. Deutschen Juristentages 1966. Das Verwertungsverbot gilt nur in dem Verfahren, in dem die gesetzwidrig gewonnene Aussage erstattet worden ist, BGH 2 StR 14-15/59 v. 11. 3. 1959. So ist es z. B. in einem Straf- oder Dienststrafverfahren gegen den Vernehmungsbeamten durchaus zulässig, festzustellen, welchen Wortlaut die von ihm erzielte Aussage hatte. 8. Beim Beweis des Verstoßes gegen § 136 a geht es um Verfahrensfragen; deshalb handelt es sich um einen „Freibeweis" im Sinne von D i t z e n , Dreierlei Beweis (1926). Demnach gilt insoweit das förmliche Beweisrecht, insbesondere das Beweisantragsrecht nicht. Beweisanträge, mit denen Verstöße gegen § 136 a bewiesen werden sollen, brauchen nicht ausdrücklich beschieden zu werden und können auch aus anderen Gründen als denen des § 244 StPO abgelehnt werden (der notwendige Ausgleich besteht darin, daß das Revisionsgericht diese Tatfrage selbst nachprüfen kann, und zwar ebenfalls im Wege des Freibeweises, s. u. 10). Der Satz „in dubio pro reo" gilt für Verstöße gegen § 136 a ebensowenig wie bei allen anderen Verfahrensverstößen. E b S c h m i d t bekämpft diese Ansicht zwar allgemein (LK. I Nr. 177; II 14 zu § 261) und für diesen Fall im besonderen (JR 1962 110). Aber dieser Satz gehört von Hause aus nur dem sachlichen Strafrecht an. Er gehört zu dem strafrechtlichen Syllogismus: der Untersatz muß eben feststehen, damit die Folgerung gezogen werden kann; denn der Obersatz lautet: „wer das und das getan hat, wird bestraft", und nicht „wer das und das vielleicht oder möglicherweise getan hat, wird bestraft". Gewiß sind Fälle denkbar, in denen eine behutsame Übertragung des Satzes „in dubio pro reo" auf gewisse verfahrensrechtliche Einzelfragen nicht ausgeschlossen erscheint. Das mag z. B. der Fall sein, wenn ein Straffreiheitsgesetz an bestimmte Besonderheiten des strafrechtlichen Tatbestandes anknüpft, wenn es den Straftatbestand gleichsam um ein Tatbestandsmerkmal erweitert („aus Not"). Die von E b S c h m i d t befürwortete allgemeine Ausdehnung des Satzes „in dubio pro reo" auf alle Verfahrensverstöße würde — abgesehen davon, daß es an jeder, aber auch an jeder dogmatischen Begründung dafür fehlt — das ganze Strafverfahrensrecht zum Einsturz bringen. Es ist überhaupt kein Strafverfahren denkbar, in dem der Richter „überzeugt" sein kann, es sei kein Verstoß gegen Verfahrensregeln vorgekommen. Das hieße mindestens den Begriff der richterlichen Überzeugung völlig verwässern. Der Richter prozediert, so korrekt er kann; dabei bildet er sich eine Überzeugung von den schuld- und strafbegründenden Tatsachen, nicht von denjenigen Tatsachen, die ihm gestatten, zu prozedieren und so zu prozedieren. An diese Tatsachen denkt er im allgemeinen gar nicht. Er legt sich nicht die Frage vor, ob einer der Schöffen vielleicht mit dem Bestohlenen ver871

§ 136 a Anm. 9

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

schwägert ist. Er forscht nicht bei jedem Zeugen nach, ob er vielleicht wegen Meineids verurteilt worden ist; die stillschweigende und gewöhnlich unbewußte Voraussetzung, dies werde schon nicht der Fall sein, ist eine recht vage Annahme, die den Namen der richterlichen „Überzeugung" nicht verdient. Ebensowenig kann der Richter im eigentlichen Sinne des Wortes „überzeugt" sein, es sei keiner der zahlreichen in § 136 a aufgezählten Verstöße geschehen. Solange ihm keine konkreten Behauptungen vorgetragen werden, kann er normalerweise überhaupt keine Meinung, geschweige denn eine Uberzeugung darüber haben, ob der Angeklagte vielleicht bei der Ablegung des ersten Geständnisses übermüdet gewesen ist. Ohne besonderen Anlaß danach zu fragen, wäre auch eine grobe Ungeschicklichkeit. Die gleiche dahinstellende Gelassenheit, bezogen etwa auf den Vorsatz des Angeklagten bei Begehung der Tat, wäre ein klarer Verstoß gegen den Satz „in dubio pro reo". Über den Vorsatz hat der Richter eben eine „Überzeugung" zu haben, er muß auch ohne besonderen Anlaß genau über ihn nachdenken — über die Ermüdung bei der Vernehmung nicht. 9. Die Rechtsprechung hat begonnen, den Grundgedanken der Vorschrift auch auf verfahrensrechtliche Willenserklärungen entsprechend anzuwenden, insbesondere den Verzicht auf Rechtsmittel und die Rücknahme von Rechtsmitteln dann als unwirksam zu behandeln, wenn diese Erklärungen auf einem Irrtum des Erklärenden beruhten, der durch ein staatliches Organ der Rechtspflege (Richter, Urkundsbeamten) hervorgerufen war, sei es auch gutgläubig; so OLG Bremen JZ 1955 680 (mit zust. Anm. von E b S c h m i d t ) ; OLG Hamm JMB1NRW 1956 2 5 0 = VRS 11 4 4 8 = DRsp. IV (450) 84 d; OLG Düsseldorf JMB1NRW 1959 2 7 0 = NJW 1960 210 (mit abl. Anm. von F e l d m a n n und zust. Anm. von M ö l d e r s ) ; vgl. auch Schäfer oben S. 87. Es muß F e l d m a n n eingeräumt werden, daß die Analogie sehr kühn ist. Prozessuale Willenserklärungen sind in der Tat ihrem Wesen nach etwas völlig anderes als Aussagen; und die Verwertung einer Aussage ist mit der Berücksichtigung einer Rechtsmittelrücknahme ebenfalls kaum zu vergleichen. Dem Gesetzgeber hat es zweifellos völlig ferngelegen, eine solche Folge verordnen zu wollen. Während es früher unstreitig war, daß prozessuale Willenserklärungen nicht einmal (gemäß § 123 BGB) wegen arglistiger Täuschung angefochten werden können (obwohl der Rechtsgedanke des § 123 BGB sich im Grunde weit besser zu einer weiten Verallgemeinerung eignet), wurde jetzt nicht einmal eine arglistige Täuschung gefordert, sondern auch eine „gutgläubige Täuschung" für ausreichend gehalten, und als Folge nicht die Anfechtbarkeit, sondern gleich die Nichtigkeit angenommen. Demgemäß hat auf Vorlegung des OLG Düsseldorf (NJW 1961 96) der BGH nunmehr (BGHSt. 17 14) die entsprechende Anwendung des § 136 a auf Rechtsmittelverzicht und -rücknahme abgelehnt. Demgemäß hat er die Revision eines Angeklagten als unzulässig verworfen, der in der Hauptverhandlung auf Rechtsmittel verzichtet hatte, nachdem der Staatsanwalt einen Haftbefehl beantragt hatte, dessen Erlaß sachlich nicht gerechtfertigt gewesen wäre. Freilich deutet die Entscheidung an, daß sich Fälle schwerer Drohung, vielleicht auch des Zwanges oder der Täuschung denken lassen, in denen diese Willensmängel Berücksichtigung finden müßten. Dem ist zuzustimmen. Ahnlich wie die Rechtsprechung in der Frage der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand bei Versäumung von Rechtsmittelfristen durch Verteidiger immer nachsichtiger geworden ist, muß auch in der Frage der Willensmängel bei Verzicht und Rücknahme eine gewisse Lockerung für angebracht gehalten werden. Sie kann sich aber nicht „unmittelbar und in den Einzelheiten an die Regelung des § 136a anschließen" (BGH aaO.). Wir halten eine entsprechende Anwendung des § 123 BGB für angemessener, schon deshalb, weil es hier nicht darauf ankommen kann, ob die Drohung gerade von dem mit der Strafsache befaßten Staatsorgan oder etwa von einem Außenstehenden ausgesprochen worden ist. Ferner verdienen die Rechtsgedanken des § 123 BGB hier auch deshalb den Vorzug, weil sie nicht unmittelbar zur Nichtigkeit, sondern nur zur Anfechtbarkeit der Verzichts- oder Rücknahmeerklärung führen würden. Das entspricht eher der Regel der §§ 44ff., wo außer der Nachholung des Versäumten und dem Vortrag der Versäumungsgründe noch ein ausdrücklicher Antrag auf Wiedereinsetzung gefordert wird. Ebenso würde eine ausdrückliche Anfechtung zur prozessualen Klärung beitragen. Die grundsätzlichen Bedenken F e l d m a n n s (aaO.) und des OLG Düsseldörfs (aaO.) gegen die Anfechtbarkeit scheinen uns kein erhebliches Gewicht zu haben. Sie bestehen darin, daß Rechtsmittelerklärungen öffentlich872

Zehnter Abschnitt. Vernehmung des Beschuldigten (Sarstedt)

§ 136 a Anm. 10

rechtliche Wirkungen haben, daß sie die Rechtskraft hemmen oder herbeiführen; deshalb müsse ihr zweifelsfreier Bestand und ihre unbedingte Wirksamkeit gefordert werden, das verlange das öffentliche Interesse an einem geordneten Verfahren; es dürfe nicht zweifelhaft sein, ob ein Urteil vollstreckbar oder eine Sache beim Rechtsmittelgericht anhängig sei. Aber wer ist eigentlich das Subjekt dieses angeblich so gewichtigen Interesses, und wie schwer wiegt das alles, verglichen mit dem Interesse nicht nur des Angeklagten, sondern auch der Öffentlichkeit an einem möglichst fairen Verfahren und einem möglichst richtigen Urteil? Zweifel über das Vorliegen der Rechtskraft, über die Vollstreckbarkeit eines Urteils, über die Anhängigkeit einer Sache bei diesem oder jenem Gericht kommen auch sonst vor, ohne daß deshalb schlimme Folgen eintreten. Hat der judex a quo eine Revision gemäß § 346 Abs. 1 als unzulässig verworfen und ruft der Beschwerdeführer gemäß § 346 Abs. 2 das Revisionsgericht an, so ist das weitere Schicksal des Urteils zunächst auch zweifelhaft; ebenso tritt ein Schwebezustand der Ungewißheit ein, wenn der in erster Instanz Verurteilte die Frist zur Einlegung des Rechtsmittels oder die Revisionsbegründungsfrist versäumt hat und dagegen Wiedereinsetzung in den vorigen Stand verlangt. Verfassungsbeschwerden gegen rechtskräftige Entscheidungen haben ebenfalls einen solchen Zustand der Ungewißheit zur Folge, der manchmal jahrelang andauert. Dazu kommen die zahlreichen Fälle, in denen die Auslegung von Rechtsmittelerklärungen Schwierigkeiten macht, in denen man z. B. vor der endgültigen Entscheidung nicht wissen kann, ob es sich um eine Berufung oder um eine Revision oder überhaupt nicht um ein zulässiges Rechtsmittel handelt. Alle damit verbundenen Zweifel und Unbequemlichkeiten werden von den Gerichten und Staatsanwaltschaften, wie es sich ziemt, mit Gelassenheit ertragen. Die geistige Arbeit, die zur Lösung dieser Schwierigkeiten erforderlich ist, wird eben geleistet — manchmal mit einer Hingebung und einem Scharfsinn, die besser auf die richtige Aufklärung der Tatsachen und auf die gerechte Beurteilung der Sache selbst verwendet würden. Ein geordnetes Verfahren ist wünschbar, aber nicht so wichtig wie ein faires Verfahren; es ist unfair, einen Angeklagten an der Rücknahme eines Rechtsmittels festzuhalten, die er nur deshalb erklärt hat, weil der Richter ihm irrtümlich eröffnete, das Rechtsmittel sei nicht zulässig; und über diesen Mangel an Fairness, über diese Einbuße der Justiz an Vertrauen in der Öffentlichkeit kann die Ordnung nicht hinwegtrösten. Auch ist die entstehende Unordnung nicht so groß; meist entsteht kaum ein Zeitverlust. Es fehlt im Strafverfahren an einem Gegenspieler, der, wie der Gegner in einem bürgerlichen Rechtsstreit, mit Schmerzen auf die Vollstreckbarkeit des endlich erstrittenen Urteils wartet. Die Strafanstalt kann es abwarten, bis der Verurteilte erscheint; ist er in Untersuchungshaft, so ist in erster Linie er selbst der Leidtragende. 10. Revision. Die Verwertung einer Vernehmung entgegen dem Verbot des Abs. 3 begründet bei entsprechender Rüge die Revision, wenn das angefochtene Urteil darauf beruhen kann. Die Tatsachen, in denen der Verstoß gesehen wird, muß der Revisionsführer formund fristgerecht in der Revisionsbegründung vortragen. Ob die Voraussetzungen des § 136 a vorgelegen haben, stellt das Revisionsgericht im Wege des Freibeweises (über den Begriff vgl. D i t z e n , Dreierlei Beweis, 1926) fest. Das gilt ganz allgemein für alle Verfahrensrügen (vgl. S c h n e i d e w i n in Fünfzig Jahre Reichsgericht, 1929, S. 325) und so auch für diese. BGHSt. 16 165 = NJW 1961 1979 = MDR 1961 1031 = LM Nr. 12 zu § 136a (mit Anm. K o h l h a a s ) = JR 1962 108 (mit Anm. E b S c h m i d t ) hat das mit der erforderlichen Deutlichkeit ausgesprochen; BGHSt. 1 376 enthielt Wendungen („Tatfrage", vom Schwurgericht verneint; „rechtlich nicht zu beanstanden"), die insoweit mindestens mißverständlich waren. Für den Beweis des Verstoßes gilt vor dem Revisionsgericht nichts grundsätzlich anderes als vor dem Tatrichter (vgl. oben 8). Ist der Verstoß bei einer Vernehmung des Beschuldigten begangen worden, so kann ihn nur die Revision des Angeklagten oder eine zu seinen Gunsten eingelegte Revision der Staatsanwaltschaft geltend machen; denn insoweit ist § 136a lediglich zugunsten des Angeklagten gegeben (§ 339). Ist § 136 a jedoch bei der Vernehmung eines Zeugen verletzt worden, mit dem Ziele, ihn zu einer dem Beschuldigten günstigeren Aussage zu bewegen, so kann die Verwertung dieser Aussage auch zuungunsten des Angeklagten mit der Revision der Staatsanwaltschaft gerügt werden. 873

V o r § 137 Anm. 1—3

Strafprozeßordnung. Erstes Buch ELFTER ABSCHNITT Verteidigung

Vorbemerkungen 1. Schrifttum. A c k e r m a n n , Die Verteidigung des schuldigen Angeklagten, NJW 1954 1385; A l e x a n d e r , Die Stellung des Verteidigers, ZStW 51 54; A l s b e r g , Die Philosophie der Verteidigung (1930); Über die Verteidigung, JW 1920 257; B a r t n i n g , Die Stellung des Verteidigers im Strafprozeß (1929); D a h s , Die Stellung des Verteidigers im Strafprozeß, Kriminalpolitische Gegenwartsfragen, S. 127; Der Anwalt im Strafprozeß, AnwBl. 1959 171; Das Plädoyer des Strafverteidigers, AnwBl. 1959 1; Verteidigung im Strafverfahren — heute und morgen, Z R P 1968 17; Handbuch des Strafverteidigers (1970); F r i e d m a n n , Die Kunst der Verteidigung und der forensischen Rede (1915); F r y d m a n n , Systematisches Handbuch der Verteidigung im Strafverfahren (1878); G ü d e , Die Verteidigung aus der Sicht der Anklage, AnwBl. 1961 3; H a f e r l a n d , Die strafrechtliche Verantwortlichkeit des Verteidigers (1929); K a l s b a c h , Standesrecht des Rechtsanwalts (1956); K ö h l e r , Die Lehre von der Verteidigung, GS 1897 161, 321; K o h l e r , Die amtliche und nichtamtliche Überzeugung des Verteidigers, GA 60 206; v. L i l i e n t h a l , Verteidigung und Begünstigung, DJZ 1901 101; Die Wahrheitspflicht des Verteidigers im Strafprozeß, DJZ 1914 28; v . L i s z t , Die Stellung des Verteidigers in Strafsachen, DJZ 1901 179; M a m r o t h , Zur Stellung des Verteidigers, DJZ 1901 205; M a n n h e i m e r , Zur Legitimation der Verteidiger und Bevollmächtigten im Strafprozeß, MDR 1954 454; O s t l e r , Der Rechtsanwalt als Strafverteidiger, JR 1959 121; Die Stellung des Rechtsanwalts in den Prozeßordnungen, JR 1967 134; R o e d e r , Funktion und Grenzen der formellen Verteidigung im Anklageprozeß, ÖstJZ 1959 231, 258; S c h o r n , Der Strafverteidiger (1966); S c h u l t e t u s , Die Verteidigung in Strafsachen (1907); S e i b e r t , Die Kunst der Verteidigung, JR 1951 337; S p e n d e l , Zur Vollmacht und Rechtsstellung des Strafverteidigers, JZ 1959 737; v . S t a c k e l b e r g , Der Anwalt im Strafprozeß, AnwBl. 1959 190; V a r g h a , Die Verteidigung in Strafsachen (1879). 2. Entstehungsgeschichte. Der Abschnitt erfuhr seine ersten wesentlichen Änderungen, nachdem § 126 a eingefügt worden war, durch Art. 2 AG GewVerbrG vom 24. 11. 1933 (RGBl. I 1000). Änderungen der dreißiger Jahre wurden durch Art. 3 Nr. 52 bis 60 VereinhG im wesentlichen wieder abgebaut. Durch Art. 3 StPÄG wurden die notwendige Verteidigung ausgebaut, die Akteneinsicht und der Verteidigerverkehr erleichtert. Einzelheiten s. bei der Entstehungsgeschichte der §§ 140 ff. 3. Stellung des Verteidigers. a) Übersicht. In der Rechtslehre finden sich verschiedene Haupttheorien über den Verteidiger, die sich allerdings zum Teil überschneiden, und die unbeschadet der Verschiedenheit in der Grundeinstellung durch Ausnahmen vom eigenen Prinzip und Zugeständnisse an die gegnerische Auffassung in den praktischen Ergebnissen oft weitgehend übereinstimmen. Nach der älteren Auffassung wurde der Verteidiger als Vertreter des Beschuldigten angesehen mit der Maßgabe, daß seine Handlungen als solche des Beschuldigten zu gelten haben (v. K r i e s 233). Das Vertreterverhältnis wurde jedoch verschiedentlich eingeschränkt. So verstand v. H i p p e l (§ 49 III 5) den Verteidiger als Vertreter und Prozeßbevollmächtigten des Beschuldigten, wenn auch mit beschränktem Umfang der Vertretungsvollmacht mit der Maßgabe, daß der Verteidiger vom Beschuldigten unabhängig sei und jeder Teil selbständig ohne den anderen vorgehen könne. S p e n d e l (741) betrachtet ihn als Vertreter für Prozeßhandlungen zugunsten des Beschuldigten und nur ausnahmsweise für solche zu seinen Ungunsten. Die hier ursprünglich vertretene Meinung war differenziert; sie erachtete den Verteidiger als selbständigen Vertreter für Prozeßhandlungen zugunsten des Beschuldigten, auch wider dessen Willen, bei der notwendigen, dagegen als an den Willen des Beschuldigten gebundenen Vertreter bei der gewillkürten Verteidigung (1. Aufl. 7 a vor § 137). Schon früh wurde jedoch auch die Eigenschaft des Verteidigers als Beistand erkannt, wenn 874

Elfter Abschnitt. Verteidigung (Dünnebier)

Vor § 137 Anm. 3

auch zunächst die Beistandschaft mehr an den Staat als an den Beschuldigten gebunden erschien Die Auffassung, daß der Verteidiger staatlicher Beistand sei, konnte der Natur der Sache nach keinen Boden gewinnen; die Ansicht, daß er Vertreter des Beschuldigten sei, wird durch das System der Strafprozeßordnung widerlegt (4). Demzufolge sieht die herrschende Meinung in dem Verteidiger keinen Vertreter, sondern einen Beistand, und keinen Beistand des Staates, sondern einen des Beschuldigten (§ 137 Abs. 1; § 387 Abs. 1), der selbständig an der Seite des Beschuldigten auftritt, teilweise weitergehende Befugnisse als dieser ausüben, ihn aber — außer bei der Zustellung (§ 145 a) — nur kraft besonderer Vollmacht vertreten kann 2 . b) Beistand. Der herrschenden Ansicht ist nach dem System der Strafprozeßordnung beizupflichten. Diese unterscheidet zwischen der gewillkürten und der notwendigen Verteidigung und bei dieser — bei jener liegt stets Wahlverteidigung vor — zwischen der Wahlund der Pflichtverteidigung. Die Rechte, die sie dem Verteidiger einräumt und die Pflichten, die sie ihm auferlegt, sind aber für alle Verteidiger gleich (RGSt. 17 315; S t e n g l e i n 271). Da der Pflichtverteidiger, wenn auch er nach Möglichkeit nach dem Vertrauen des Angeklagten ausgesucht werden soll (BVerfGE 9 38 = NJW 1959 572; RGSt. 77 154), dem Angeklagten wider seinen Willen aufgezwungen werden kann, ergibt sich schon hieraus, daß der Verteidiger, dessen Stellung grundsätzlich bei Wahl- und Pflichtverteidigung nur einheitlich sein kann, kein Vertreter des Beschuldigten ist. Denn abgesehen von der Frage, ob die Rechtsordnung es zuläßt, einem verhandlungs- und im allgemeinen auch prozeßfahigen Menschen wider seinen Willen, wenn auch für einen beschränkten Zweck, einen Vertreter zu bestellen, muß der Wille des Gesetzgebers dazu mangels klarer Erklärung schon deshalb verneint werden, weil kein Anlaß besteht, so weit in die Rechte des Beschuldigten einzugreifen. Dem staatlichen Interesse ist mit einem Beistand (§ 137 Abs. 1) genügt, der berechtigt ist, wenn auch beschränkt (§ 297, § 302 Abs. 2), selbständig (RGSt. 17 315) vorzugehen 3 . Demzufolge hat das Gesetz die Ausübung von Rechten der Verteidigung in zahlreichen Fällen dem Angeklagten und dem Verteidiger nebeneinander zuerkannt (§ 79 Abs. 1 Satz 2, § 240 Abs. 2, § 251 Abs. 1 Nr. 4) oder die Vornahme von Prozeßhandlungen beiden gegenüber vorgeschrieben (§216, § 218 Abs. 1 Satz 1). Auf der anderen Seite bringt die Versagung einer Vertreterstellung mit sich, daß der Verteidiger ohne besondere Vollmacht keinen Verzicht für den Beschuldigten abgeben kann. Das ist für Rechtsmittel in § 302 Abs. 2 ausdrücklich ausgesprochen, gilt aber auch für den Antrag auf Entbindung, persönlich in der Hauptverhandlung zu erscheinen (§ 233 Abs. 1; BGHSt. 12 367), weil er einen Verzicht auf Gehör in der Hauptverhandlung enthält. Diese Stellung des Verteidigers schließt es indessen nicht aus, daß er im Prozeß des Angeklagten auch eigene Rechte hat. Darunter fallen die Befugnis des in der Hauptverhandlung neu bestellten Verteidigers, zu verlangen, daß sie ausgesetzt oder unterbrochen werde (§ 145 Abs. 3; BGH NJW 1963 1115) und das Recht, auf die nach § 218 Abs. 1 Satz 2 in Vbdg. mit § 217 Abs. 2 ihm zustehende Aus1

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Beistand nicht nur des Beschuldigten, sondern auch des Staates: Anwalt des Rechts und der Gesellschaft ( F r y d m a n n 65; V a r g h a 278, 350); vom Willen des Beschuldigten unabhängiger Beistand des Gerichts bei der notwendigen Verteidigung; an den Willen des Beschuldigten gebundener Beistand bei der gewillkürten Verteidigung (v. H o l t z e n d o r f f 1 405; G e r l a n d 151; G r a f z u D o h n a 70). RGSt. 17 315, 37 23, 64 164, 66 211; BGHSt. 9 357, 12 369; BayObLGSt. 1952 243; O L G Karlsruhe NJW 1968 1438; E b S c h m i d t 17; M ü l l e r - S a x 1; D a h s Hdb. 10 Abs. 2; P e t e r s § 29 II; K e r n - R o x i n § 19 B II; v. L i s z t DJZ 1901 179; K ö h l e r 218; v. L i l i e n t h a l 30; C ö n d e r s GS 1915 338; M a m r o t h JW 1923 689; M a y e r SchlHA 1955 348; A n s c h ü t z 58. H e n k e l (§ 33 I 3) verwirft den verbrauchten Begriff Beistand und befürwortet die Bezeichnung Fürsprecher. Diese hält auch L u k a n o w (29) für die bildhafteste Andeutung des Wesentlichen der Verteidigerposition, zieht aber die Bezeichnung als „gesetzlich berufener Parteihelfet" vor. In der Sache ergeben sich keine Unterschiede. Von diesem Gesichtspunkt aus ist die beanstandete ( E b S c h m i d t 16 vor § 137; S p e n d e l 737 Anm. 8) Formulierung des Bundesgerichtshofs, der Verteidiger sei nur der Beistand und nicht der Vertreter des Beschuldigten (BGHSt. 9 357), vollkommen korrekt. Daß der Beistand aus einem anderen Gesichtspunkt mehr Befugnisse als ein Vertreter hat, wird damit nicht in Abrede gestellt.

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Vor § 137 Anm. 4

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

setzung der Hauptverhandlung zu verzichten, wenn er nicht — wohl aber der Angeklagte — fristgerecht geladen war (BGHSt. 18 396). Der grundsätzliche Mangel der Vertretungsmacht tritt vornehmlich darin hervor, daß die Anwesenheit des Verteidigers die des Beschuldigten (§ 230, § 329 Abs. 1), das Anhören des Verteidigers das des Beschuldigten nicht ersetzt (RGSt. 18 141) und daß Erklärungen des Verteidigers nicht die Wirkung von solchen des Beschuldigten zukommt (RGSt. 44 285), so daß gegen einen ausgebliebenen Angeklagten grundsätzlich auch dann keine Hauptverhandlung stattfindet, wenn der Verteidiger erschienen ist (§ 230). Gibt der Verteidiger in Anwesenheit des Beschuldigten eine Erklärung ab, so ist diese nur wirksam, wenn der Beschuldigte sie genehmigt (RGSt. 18 141), wobei sein Stillschweigen seine Genehmigung in der Regel (RGSt. 1 198; RGRspr. 6 295) beinhaltet, aber nicht, wenn er die Einlassung zur Sache verweigert hat (KG HRR 1928 1167). Wenn auch der Verteidiger kein Vertreter ist, so kann ihn der Beschuldigte doch dazu bestellen und wird dies bei einem Wahlverteidiger auch oft tun. In gewissen Fällen muß der Beschuldigte, wenn er sich vertreten lassen will, sich dazu eines Verteidigers bedienen und diesen dazu schriftlich bevollmächtigen (§ 234, § 350 Abs. 2 Satz 1, § 387 Abs. 1, § 411 Abs. 2). Die Vollmacht ermächtigt, wenn sie nicht eingeschränkt ist, zur Vertretung in der Erklärung und im Willen (BGHSt. 9 356). Bezieht sich die Vertretung auf die Hauptverhandlung, so kann sich der als Vertreter ermächtigte Verteidiger für den Angeklagten zur Sache einlassen (OLG Hamm JMB1NRW 1964 214). Zur Unterzeichnung der schriftlichen Vollmacht kann der Beschuldigte einen anderen mündlich ermächtigen. Diese Ermächtigung muß, wenn es dem Gericht erforderlich erscheint, nachgewiesen werden, doch kann nicht gefordert werden, daß sie schriftlich erteilt werde (BayObLG NJW 1963 872). Die Selbständigkeit des Verteidigers wirkt sich in doppelter Richtung aus: Einmal hat er Rechte, die nur er, wenn auch als Beistand des Beschuldigten und für ihn, ausüben kann und nicht dieser selbst. So stehen Akteneinsicht (§ 147) und Kreuzverhör (§ 239 Abs. 1) zwar quoad jus dem Beschuldigten, quoad exercitum aber nur dem Verteidiger zu. Dasselbe gilt für das Recht auf Teilnahme an vorweggenommenen Beweisaufnahmen, das der Beschuldigte nur beschränkt (§ 193 Abs. 4), der Verteidiger unbeschränkt ausüben kann (§ 193 Abs. 1 und 2). Ebenso kann den Mitangeklagten nur der Verteidiger, nicht der Angeklagte befragen (§ 240 Abs. 2). Auf der anderen Seite ist der Verteidiger dem Gericht gegenüber ein unabhängiges Organ der Rechtspflege (§ 1 BRAO). Daher ist er verpflichtet, die staatliche Rechtsordnung aufrechtzuerhalten. Er darf nicht dem Unrecht dienen oder sogar die Rechtsfindung erschweren (Begründung zu § 1 BRAO) oder sich gar der Wahrheitsforschung hindernd in den Weg stellen. Wegen seiner Unabhängigkeit von der Justiz hat er aber nicht nur — was selbstverständlich ist — keine richterlichen Weisungen, Eingriffe, ja auch nur auf den Fall bezogene Erwartungen entgegenzunehmen, ist vielmehr eindeutig kein Beistand des Gerichts. Daraus folgt, daß er die gerichtliche Prozeßaufgabe zwar nicht hemmen darf, aber nicht weiter zu fördern hat, als sich das aus seiner Beistandschaft zum Beschuldigten ergibt (RGSt. 17 315; v. L i l i e n t h a l DJZ 1914 30). Die Unabhängigkeit des Verteidigers besteht aber nicht nur gegenüber Gericht und Staatsanwaltschaft, sondern gegenüber allen verfahrensfremden äußeren Einflüssen, namentlich von Behörden, Verbänden, Parteien oder — bei Ausländern — von staatlichen Vertretungen. 4. Inhalt der Verteidigung. a) Verteidigerpflichten. Die Stellung des Verteidigers als selbständiger Beistand des Beschuldigten und als unabhängiges Organ der Rechtspflege — der Ausdruck ist in einem übertragenen Sinne gebraucht — reicht erst dann aus, den Inhalt der Verteidigungsrechte zu bestimmen und abzugrenzen, wenn klar herausgestellt wird, daß der Verteidiger als Organ der Rechtspflege der Pflicht zur Wahrheit und dem Verbot der Lüge unterliegt ( § 5 8 Abs. 1 Satz 1 RiAA). „Die Wahrheitspflicht ist eine der Grundpflichten des Rechtsanwalts und beruht darauf, daß Recht und Wahrheit unlösbar verbunden sind, daß also die Verwirklichung des Rechts nicht erreicht werden kann, wenn dieses Ziel mit Unwahrheiten erstrebt wird" ( K a l s b a c h 644). 876

Elfter Abschnitt. Verteidigung (Dünnebier)

Vor § 137 Anm. 5

Im Strafprozeß wird die Wahrheitspflicht durch die Schweigepflicht ( H e n k e l § 33 III 2) und die Treuepflicht gegenüber dem Mandanten (RGSt. 70 393) begrenzt. Es wäre für den Verteidiger pflichtwidrig, wenn er die Wahrheitspflicht als Offenbarungspflicht ansähe. Gegenüber der Justiz wirkt sie sich in erster Linie als Verbot der Lüge aus. Die Zuordnung des Verteidigers zur Rechtspflege „schließt hier jede Unwahrhaftigkeit absolut aus" ( D a h s Hdb. 26 Abs. 2). b) Aufgabe der Verteidigung. Aufgrund der Stellung des Verteidigers, seiner Verpflichtung zur Wahrheit und seiner Treuepflicht zum Mandanten ergibt sich als seine Aufgabe: „Der Verteidiger hat dem Beschuldigten zu helfen, den Angriff der Anklage abzuwehren und dafür Sorge zu tragen, daß der Strafanspruch des Staates im prozeßordnungsmäßigen, justizförmigen (BGHSt. 5 334) Wege verfolgt wird" ( E b S c h m i d t 5). Er hat alles vorzubringen, was nach sachlichem oder Verfahrensrecht dem Beschuldigten günstig ist, hat dazu auch an Zeugen und Sachverständigen Kritik zu üben und die Befangenheit eines Richters zu rügen und sich dazu, wenn notwendig, auch zu der Auffassung des Beschuldigten in Widerspruch zu setzen. Zu dessen Überführung darf er nicht beitragen ( E b e r m a y e r DJZ 1927 138). Er ist nicht berechtigt, ihm bekanntes belastendes Material vorzutragen ( V a r g h a 348), sondern handelt pflichtwidrig, wenn er es tut (v. H i p p e l § 4 9 IV 3 mit weit. Nachw.). Er muß Freispruch beantragen, wenn ihm der Nachweis der Schuld des Angeklagten nicht lückenlos geführt erscheint, aus der Erwägung, daß nicht nur die Unschuld sondern auch der Mangel des Schuldbeweises den Anspruch auf Freisprechung begründet. Der eigene Glaube an die Schuld darf ihn nicht abhalten, diese Pflicht zu erfüllen. Die Pflicht, zur Aufdeckung der Wahrheit tätig zu sein, liegt ihm nur ob, wenn und soweit er hierdurch die Unschuld oder geringere Strafbarkeit des Beschuldigten dartun kann (RGSt. 17 315) 4 . Auf der anderen Seite ist es nicht Aufgabe des Verteidigers, die als Ergebnis der Hauptverhandlung zutage getretene Schuld, auch wenn der Angeklagte weiter leugnet, gegen seine Überzeugung ebenfalls abzustreiten. Er kann solchenfalls seiner Überzeugung Ausdruck geben, daß der Angeklagte überführt sei, und die für die Strafzumessung zugunsten des Angeklagten beachtlichen Umstände vortragen ( D a h s Hdb. 92). Soweit es die Aufgabe der Verteidigung erfordert, ist der Verteidiger berechtigt und verpflichtet, zur Beurteilung des belastenden und zum Auflinden entlastenden Materials eigene Ermittlungen durchzuführen und sich hierzu der Hilfe anderer zu bedienen (v. H i p p e l § 4 9 I V 5). Er darf dabei dritte Personen, namentlich Zeugen, befragen und die Angaben mit ihnen erörtern. Schriftliche Aussagen soll er sich jedoch nicht geben lassen (§ 4 Abs. 4 RiAA). Bei seinen Ermittlungen, namentlich bei Besprechungen, hat der Verteidiger auch nur den Anschein einer Beeinflussung des Zeugen zu vermeiden (§ 4 Abs. 3 RiAA). 5. Grenzen der Verteidigung. Die doppelte Aufgabe, den Angriff der Anklage abzuwehren und für prozeßordnungsmäßigen Verfahrensablauf zu sorgen, berechtigt den Verteidiger wegen des zweiten Zweckes, auch den ihm bekannt schuldigen, aber nicht geständigen Angeklagten zu verteidigen5. Er kann die Verteidigung ablehnen, wenn er als Verteidiger gewählt und alsbald aufgeklärt wird. Erfahrt er von der Schuld erst nach der Mandatsübernahme oder nach der Übertragung des Pflichtmandats, dann darf er nicht zur Unzeit und nur in solcher Weise niederlegen oder um seine Entpflichtung bitten, daß er damit nicht das ihm anvertraute Geheimnis verrät. Demzufolge ist ihm bei Wahlverteidigung die unmotivierte Niederlegung jederzeit möglich. Bei Pflichtverteidigung darf er sich zur Ablehnung nur auf eine gewonnene Überzeugung, nicht auf eine ihm gemachte Eröffnung berufen. Führt er die Verteidigung, darf pr nicht Freispruch wegen erwiesener Unschuld beantragen, muß aber auf Freispruch antragen, wenn der Schuldbeweis nicht geführt ist und darf das, ohne sich dem Vorwurf der Begünstigung auszusetzen (BGHSt. 2 377)6. Namentlich bei der Verteidigung des schuldigen Angeklagten, aber nicht hierauf beschränkt, ergeben sich aus der Organstellung des Anwalts und aus der Wahrheitspflicht folgende Grenzen der Verteidigung: Der Verteidiger darf nicht störend in die Tätigkeit eingreifen, welche die Strafverfolgungsbehörden und das Gericht zur Ermittlung der Wahr4 5 6

Ebenso EhrenGHE 6 108; E b e r m a y e r DJZ 1927 136; v. L i s z t DJZ 1901 180. B e l i n g § 38 III Abs. 4; A c k e r m a n n 1385; D a h s Anwalt 176. Ebenso K o h l e r 206; a. A. S c h e l l h a s DJZ 1901 132; K o r n DJZ 1901 57.

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V o r § 137 Anm. 6

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heit entfalten ( E b e r m a y e r DJZ 1927 138; K ö h l e r 68). Er muß sich jeder bewußten Verdunkelung (RGSt. 66 326) des Sachverhalts und jeder Erschwerung der Strafverfolgung enthalten und sich auf verfahrensrechtlich erlaubte Mittel beschränken (BGHSt. 2 377). Er darf und muß zwar eine ihm, aber nicht dem Gericht bekannte, dem Beschuldigten nachteilige Wahrheit verschweigen (RGSt. 70 398; V a r g h a 348), darf aber die Wahrheitspflicht nicht tätig durch einen falschen Vortrag verletzen (EhrenGHE 7 95; 8 41; 16 218). Er darf nicht darauf abzielen, die Einlassung des zu ihr bereiten Beschuldigten zu vereiteln (weitergehend EhrenGHE 6 109), hat aber das Recht, den Beschuldigten zu belehren, daß er sich nicht einzulassen brauche 7 . Dem Verteidiger ist es wegen des Verbots der Lüge untersagt, einen durch das Hauptverhandlungsprotokoll ausgewiesenen Verfahrensverstoß zu rügen, wenn er weiß, daß der Verstoß in Wirklichkeit nicht stattgefunden hat. Bei der Behandlung dieser Frage wird zwischen der (zeitlich unbeschränkten; K G JW 1930 951) Berichtigungsmöglichkeit und der (zeitlich beschränkten; RGSt. 43 1; BGHSt. 2 125) Berücksichtigung der Berichtigung zuweilen nicht genau unterschieden. Die Beweisregel des § 274 Satz 1, die zugunsten und zu Lasten des Angeklagten wirkt, wird unterstützt durch ein Beweisverbot, das nur zu seinen Gunsten Wirkung hat. Das Beweisverbot wird ausgelöst durch die Rüge. Diese muß die den Mangel enthaltenden Tatsachen angeben, d. h. die bestimmte Behauptung aufstellen (BGH GA 1962 371), das Gericht habe mit der Vornahme oder Unterlassung einer zu bezeichnenden Prozeßhandlung eine Rechtsnorm über das Verfahren verletzt (§ 344 Abs. 2 Satz 1; BGHSt. 7 162; S a r s t e d t 121). Ist ein Verstoß beurkundet, der in Wirklichkeit nicht stattgefunden hat, und weiß der rügende Verteidiger das, dann schafft die Behauptung der Unwahrheit, die bewußte Lüge ( E b S c h m i d t 261), erst die Unverrückbarkeit der Beweislage ( D a h s AnwBl. 1950/51 90; S c h n e i d e w i n MDR 1951 193). Die Lüge, der Prozeßfehler sei in Wahrheit geschehen, macht die Unwahrheit für den laufenden Prozeß unwiderlegbar, berührt aber die Wahrheit des Geschehens nicht, die ja in Form einer unbeachtlichen, nach der Rüge beurkundeten Protokollberichtigung bezeugt sein kann. Die Wirkung der Beweisregel darf nicht auf das Gebiet der Tatsachen übertragen werden ( D a l l i n g e r NJW 1951 256). Die scharfe Gliederung des prozessualen Vorgangs widerlegt die Annahme, daß § 274 die Fiktion aufstelle8, die Prozeßvorgänge seien so geschehen, wie beurkundet. Das Ausnutzen eines Protokollfehlers ist daher als Verletzung der Wahrheitspflicht standesrechtlich ( J e s c h e c k GA 1956 119) unzulässig, gleichgültig, ob das Urteil falsch oder richtig ist 9 . Die prozessuale Wirksamkeit der Rüge wird von ihrer Standeswidrigkeit indessen nicht berührt. 6. Untervollmacht. a) Grundsatz. Die Strafprozeßordnung enthält keine Vorschriften darüber, ob ein Verteidiger ermächtigt ist, die Verteidigung ganz oder teilweise auf einen anderen Verteidiger durch Untervollmacht zu übertragen. § 139 läßt das im Verhältnis eines Rechtsanwalts zu seinem Referendar zwar zu, ist aber seinem Inhalte nach mehr eine Ergänzung von § 138 Abs. 2 als Ausdruck einer allgemeinen Regel. Immerhin ist ihm zu entnehmen, daß das Gesetz eine Unterbevollmächtigung nicht für unzulässig erachtet. Der Gesetzgeber hat dazu auch keine Veranlassung. Zwar sind die Anwaltsdienste im Zweifel persönlich zu leisten (§ 675 in Vbdg. mit §§ 613, 664, 665, 675 BGB) und ist das Verhältnis zwischen Beschuldigtem und Anwalt ein Vertrauensverhältnis ( § 3 2 RiA A). Es beruht jedoch — von der Pflichtverteidigung abgesehen — auf dem Willen des Beschuldigten. Demzufolge kann, wenn dieser oder im Falle des § 13 7 Abs. 2 sein gesetzlicher Vertreter einwilligt, an der Zulässigkeit einer Unterbevollmächtigung kein Zweifel sein. Denn die Einwilligung enthält die Wahl eines weiteren Verteidigers, der — je nach dem Inhalt der Vereinbarung — für einzelne Verfahrensabschnitte oder für das ganze weitere Verfahren an die Stelle des zunächst gewählten Verteidigers treten, häufiger diesen aber in der Weise unterstützen soll, daß er nach außen auftritt, der ursprüngliche Verteidiger aber die Leitung der Verteidigung behält. 1

K ö h l e r GS 1905 69; v. H i p p e l DStZ 1919 240; v. K r i e s 232. »So C ü p p e r s NJW 1950 930; K a l s b a c h 306; S c h m i d Rpfleger 1962 304. 9 A. A. S a r s t e d t 127 und jetzt auch D a h s Hdb. 754.

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Elfter Abschnitt. Verteidigung (Dünnebier)

Vor § 137 Anm. 7

b) Einwilligung. Von dieser Erwägung aus ist die Einwilligung die tragende Grundlage der Unterbevollmächtigung. Sie berührt allerdings nur die Beziehung zwischen Beschuldigtem und Verteidiger und ist daher dem Gericht nicht nachzuweisen ( K ö h l e r 207). Die Einwilligung kann schriftlich oder mündlich, aber auch durch konkludente Handlungen erklärt werden, etwa indem der Beschuldigte nach einer Besprechung des Falles bei seinem Anwalt mit dessen Sozius zur Hauptverhandlung geht. Der Beschuldigte kann seine Einwilligung auch im voraus — etwa in der Vollmacht — erteilen und die Auswahl des Vertreters seinem Verteidiger überlassen (RG GA 56 87). Sofern nicht anders vereinbart, ist nach dem Sinn der Verteidigungsvollmacht als stillschweigend vereinbart anzusehen, daß der Beschuldigte stets in der Hauptverhandlung von dem von ihm gewählten Verteidiger selbst verteidigt werden will, daß dieser jedoch zu rein formellen Handlungen, wie dem Einlegen eines Rechtsmittels, Untervollmacht erteilen kann (RGSt. 41 14). Für das Begründen und Vertreten eines Rechtsmittels dagegen kann eine solche Ermächtigung nicht angenommen werden, es sei denn, daß ein Verteidiger, der selbst am Revisionsgericht regelmäßig nicht auftritt, sich eines Rechtsanwalts bedienen will, der mit der Rechtsprechung dieses Gerichts besonders vertraut ist. c) Allgemeiner Vertreter eines Rechtsanwalts. Nach § 53 Abs. 1 BRAO muß ein Rechtsanwalt, der über eine Woche abwesend oder verhindert ist, für seine Vertretung sorgen. Er kann, wenn die Vertretung nicht länger als einen Monat dauert, einen bei demselben Gericht zugelassenen Rechtsanwalt bestellen (§ 53 Abs. 2 BRAO). Sonst bestellt die Landesjustizverwaltung einen Rechtsanwalt, eine andere zum Richteramt befähigte Person oder einen Referendar, der mindestens seit zwei Jahren im Vorbereitungsdienst beschäftigt ist (§53 Abs. 4 BRAO). Dieser allgemeine Vertreter tritt ganz an die Stelle des gewählten Anwalts. Einer Untervollmacht im einzelnen Fall bedarf es nicht. Der Nachweis der Bestellung als allgemeiner Vertreter kann verlangt werden, wird aber im allgemeinen durch umlaufende Mitteilungen gerichtskundig sein. Auf die Einwilligung des Beschuldigten oder im Falle des § 137 Abs. 2 des gesetzlichen Vertreters kommt es, auch im Falle des § 139 (OLG Dresden A l s b . E 1 137), nicht an, doch haben diese selbstverständlich das Recht, der Verteidigung durch den Vertreter zu widersprechen. d) Personenkreis. Als Unterbevollmächtigte können alle Personen bezeichnet werden, die befähigt sind, eine Verteidigung zu führen, d. h. regelmäßig Rechtsanwälte und Hochschullehrer. Soweit die Prozeßhandlung, wie das Einlegen einer Berufung, nicht durch einen Verteidiger vorgenommen werden muß, kann auch eine sonstige Person als Vertreter Untervollmacht erhalten. Wird eine sonstige Person als Verteidiger mit Untervollmacht versehen, so bedarf sie dazu der Zulassung durch das Gericht, doch kann auf der anderen Seite eine nach § 138 Abs. 2 zugelassene sonstige Person einem Rechtsanwalt ohne gerichtliche Genehmigung Untervollmacht erteilen; § 77 Abs. 1 Buchst, a RiAA schließt allerdings die Annahme einer solchen Untervollmacht für den Rechtsanwalt standesrechtlich aus. 7. Bevollmächtigter. Aus dem System des Abschnitts und aus § 149 ergibt sich, daß der Angeklagte in der Hauptverhandlung nur den Beistand eines Verteidigers, ggf. auch eines nicht rechtskundigen (§138 Abs. 2), seines Ehegatten und seines gesetzlichen Vertreters genießen, sich aber nicht, auch nicht bei einzelnen Handlungen, etwa dem Stellen eines Beweisantrags, vertreten lassen kann. Das Gericht hat solche Vertreter, wenn sie nicht als Verteidiger zugelassen werden, zurückzuweisen. Außerhalb der Hauptverhandlung, richterlicher Termine und sonstiger Vernehmungen kann der Beschuldigte seine verfahrensrechtlichen Interessen jedoch durch einen beliebigen Dritten aufgrund einer Bevollmächtigung vornehmen lassen, soweit das Gesetz nicht besondere Voraussetzungen aufstellt (§ 172 Abs. 2 Satz 2). Dem Verteidiger ist eine solche Vertretung nicht vorbehalten (RGSt. 66 2II) 1 0 . Der Beschuldigte kann also namentlich durch einen Vertreter Rechtsbehelfe anbringen (RGSt. 66 209), Rechtsmittel einlegen (BayObLGSt. 10 444; 34 82) und begründen (RG Recht 1903 1527; 1913 2819; OLG Dresden DRiZ 1930 378; JW. 1933 189), gleichviel ob er ihn dabei nur in der Erklärung oder auch im Willen vertritt (BayObLGSt. 1964 85 = JR 1964 427). Dabei kann der Bevollmächtigte mit dem Namen 10

Zur weiteren, auch zu der früheren abweichenden Rechtsprechung s. D ü n n e b i e r JR 1964 428.

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Vor § 137 Anm. 8

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

des Vollmachtgebers zeichnen (RGSt. 66 212). Wird er dazu mündlich ermächtigt, reicht das aus. Die Ermächtigung muß zwar, wenn es dem Gericht erforderlich erscheint, nachgewiesen werden, doch kann nicht verlangt werden, daß sie schriftlich erteilt werde (BayObLGSt. 1962 2 8 2 = NJW 1963 872). Die Vollmacht ist dem Gericht auf Verlangen nachzuweisen. Sie braucht nicht mit der Prozeßhandlung selbst vorgelegt zu werden (OLG Bremen NJW 1954 46). Es genügt, wenn sie bei ihr bestanden hat, gleichviel, ob sie schriftlich, mündlich oder durch schlüssige Handlungen erklärt worden ist (RGSt. 66 212). 8. Gesetzlicher Vertreter. Auf den Beschuldigten ist der dem bürgerlichen Streitverfahren eigentümliche Begriff der Prozeßfähigkeit (§§ 51 ff. ZPO) nicht anwendbar. Denn die strafrechtliche Verantwortlichkeit ist rein persönlicher Art; der Beschuldigte steht grundsätzlich (Ausnahmen: § 232 Abs. 1, § 387 Abs. 1, § 411 Abs. 2, § 413 Abs. 4 in Verbdg. mit § 411 Abs. 2) selbst vor dem Strafrichter und muß, wenn er sich zur Aussage erbietet, selbst Rede und Antwort stehen. Wer im bürgerlichen Rechtsstreit den Beschuldigten zu vertreten hätte, braucht an den Prozeßhandlungen nicht teilzunehmen. Ihre Gültigkeit wird davon nicht berührt. Namentlich sind die Erklärungen des Beschuldigten wirksam, ohne daß sein bürgerlicher gesetzlicher Vertreter beitritt (RGRspr. 7 377). Gleichwohl räumt die Strafprozeßordnung dem gesetzlichen Vertreter eine gewisse Beteiligung am Verfahren ein, um ihm Gelegenheit zu geben, aus seiner Verantwortlichkeit am Schutz und an der Verteidigung des von ihm Vertretenen mitzuwirken; Vertreter im Verfahren ist er jedoch nicht (RG GA 60 78). Durch seine Beteiligung wird weder die Teilnahme des Beschuldigten überflüssig, noch kann er diesen in seinen Rechten beschränken. Erklärungen des Vertreters dürfen nicht als solche des Beschuldigten verwertet werden. Ein Geständnis kann er für ihn nicht abgeben. Wer gesetzlicher Vertreter ist, bestimmt sich nach bürgerlichem Recht (RGSt. 42 343). Danach kommen in Betracht: Für Minderjährige die Eltern in Gesamtvertretung (BVerfGE 10 5 9 = NJW 1959 1483; BGHSt. 22 103); für nichteheliche Minderjährige die Mutter (§ 1705, § 1626 Abs. 2 BGB); der Vormund (§§ 1773, 1793 BGB); der Pfleger, der für den Fall vorläufig bestellt ist, daß die Inhaber der elterlichen Gewalt oder der Vormund verhindert sind (§ 1909 BGB; R G GA 58 182); für Volljährige der Vormund (§§ 1896, 1897, 1793 BGB), gleichviel, ob die Entmündigung wegen Geisteskrankheit oder wegen Geistesschwäche oder ob sie wegen Verschwendung oder Trunksucht angeordnet ist (§ 1901 BGB; RGSt. 59 353; M a y G A 55 72; K ö h l e r 171); der vorläufige Vormund (§ 1906 BGB; RGSt. 34 98); der Pfleger, der statt des verhinderten Vormunds oder bis zu dessen Bestellung bestellt ist (§ 1909 BGB; R a s c h Recht 19 597); der Gebrechlichkeitspfleger (§1910 BGB). Ist der Beschuldigte ein Ausländer, so sind die Voraussetzungen der gesetzlichen Vertretung nach ausländischem Recht zu beurteilen (Art. 7 Abs. 1 und 2 EGBGB 11 ), soweit nicht nach Art. 8 , 1 9 , 2 0 , 22,23 EGBGB deutsches Recht gilt. Der Strafrichter darf nur prüfen, ob die gesetzlichen Voraussetzungen zur Bestellung eines Vormunds oder Pflegers vorgelegen haben ( R G G A 4 8 447; unentschieden RGSt. 49 226). Dagegen ist ihm, wenn die gesetzlichen Möglichkeiten gegeben sind, die Prüfung versagt, ob die Bestellung gerechtfertigt war (RG GA 37 438), d. h. ob die tatsächlichen Voraussetzungen für sie vorgelegen haben (RGSt. 50 157). Die Prüfung hat das Gericht, wenn es Zweifel an der Vertretungsmacht hat, von Amts wegen anzustellen. Es kann dem, der sich als Vertreter meldet, regelmäßig nicht aufgeben, den Nachweis seiner Befugnis zu führen. Kann das Gericht jedoch Nachforschungen außerhalb des Geltungsbereichs der Strafprozeßordnung nicht oder nur mit Schwierigkeit betreiben, dann wird es den urkundlichen Nachweis der Vertretungsbefugnis verlangen dürfen, wenn sonst die Gefahr bestünde, daß eine Bestellung nur vorgetäuscht werde. 11

Absatz 3 dieser Vorschrift findet, weil er nur den rechtsgeschäftlichen Verkehr betrifft, keine Anwendung ( W a g n e r Recht 1903 99).

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§ 137 Anm. 1—3

Die Befugnisse des Vertreters sind abschließend aufgeführt (§ 137 Abs. 2, § 149 Abs. 2, § 298 Abs. 1, § 365, § 374 Abs. 3). Sie stehen dem gesetzlichen Vertreter selbständig (§ 298), also in der Art zu, daß er sie kraft seiner gesetzlichen Stellung ausübt. Er ist hierbei vom Willen des Beschuldigten ebenso unabhängig wie umgekehrt der Beschuldigte von seinem (RGSt. 38 106). Handelt der gesetzliche Vertreter sonach aus eigenem Recht, so wahrt er doch in der Sache das Recht des Vertretenen. Dessen Vermögen haftet daher für das Rechtsmittel des Vertreters (RGSt. 46 136). Die Befugnisse des Vertreters enden, wenn er aufhört, gesetzlicher Vertreter zu sein. Hat er als solcher noch rechtswirksam Revision eingelegt, so kann er diese nach Wegfall der gesetzlichen Vertretung nicht mehr rechtswirksam begründen (RGSt. 42 342). Er kann sie auch nicht mehr zurücknehmen (a. A. RGSt. 47 160). Vielmehr steht die Verfügung über das Rechtsmittel dem von der Vertretung frei Gewordenen zu. Er kann es zurücknehmen. Tut er es nicht, wird es als sein Rechtsmittel behandelt ( A l s b e r g G A 6 1 488; 5 zu § 298), so daß er es nunmehr begründen kann. Nach den Umständen ist ihm dazu Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren.

§ 137 (1) Der Beschuldigte kann sich in jeder Lage des Verfahrens des Beistandes eines Verteidigers bedienen. (2) Hat der Beschuldigte einen gesetzlichen Vertreter, so kann auch dieser selbständig einen Verteidiger wählen. 1. Beschuldigter ist der einer Straftat oder einer rechtswidrigen Tat durch Strafanzeige oder Strafantrag Bezichtigte oder der einer solchen Tat Verdächtige, wenn gegen ihn, gleichviel ob mit oder ohne seine Kenntnis, wegen jener Tat behördlich eingeschritten wird. Der Begriff umfaßt schon allgemein die Ausdrücke „Angeschuldigter" und „Angeklagter" (§ 157), auch im Privatklageverfahren (§ 387 Abs. 1), aber noch zusätzlich den des „Verurteilten" (§ 359 Satz 1) im Wiederaufnahmeverfahren, im Vollstreckungsverfahren(§§ 453 ff.) und im Gnadenverfahren. Im Vollzug ist der Verurteilte Beschuldigter i. S. des § 137 nur, soweit er Vollzugsakte bei Gericht angreift. Beschuldigter ist auch der vom Sicherungsverfahren (§§ 429äff.) und von der Vermögensbeschlagnahme (§ 443) Betroffene. Für den Einziehungsbeteiligten ist die Vertretung und die entsprechende Anwendung des § 137 in § 434 besonders geregelt. Diese Regelung gilt auch im selbständigen Einziehungsverfahren (§ 440 Abs. 3) und im Verfahren bei Festsetzung von Geldbußen gegen juristische Personen und Personenvereinigungen (§ 444 Abs. 2 Satz 2). 2. In jeder Lage des Verfahrens kann sich der Beschuldigte eines Verteidigers bedienen, d. h. von der Anzeige oder vom ersten behördlichen Eingreifen an, gleichgültig ob sich das Eingreifen auch unmittelbar mit ihm befaßt oder zunächst im Sammeln von Beweisen besteht, bis zum Ende des Strafvollzugs oder einer diesem nachfolgenden Wiederaufnahme. Die Vorschrift, die selbstverständlich zu sein scheint, ist vor allem historisch zu sehen und dahin zu verstehen, daß der Beschuldigte sich eines Verteidigers schon im Vorverfahren, und zwar sowohl in der Voruntersuchung als auch im vorbereitenden Verfahren bedienen darf. Im vorbereitenden Verfahren spielt es keine Rolle, ob die Staatsanwaltschaft, der Ermittlungsrichter oder die Polizei oder Finanzbehörden tätig werden ( H ä r t u n g NJW 1956 44). Während des Vollzugs kann sich der Beschuldigte in bezug auf die Straftat, wegen der er einsitzt, eines Verteidigers nur bedienen, soweit er wegen der Vollstreckung dieser Tat Anträge ans Gericht stellt (vgl. namentlich §§ 453 ff.), Gnadengesuche anbringt oder bei Gericht Vollzugsmaßnahmen beanstandet (§§ 23 ff. EGGVG). 3. Ein Verteidiger. Mit den Worten, daß sich der Beschuldigte jederzeit eines Verteidigers bedienen kann, will die Vorschrift besagen, daß die Verteidigung in jeder Verfahrenslage zulässig ist. Dagegen beschränkt sie den Beschuldigten nicht auf einen einzigen Verteidi-

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§ 137 Anm. 4, 5

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

ger. Demzufolge kann der Beschuldigte sich sowohl gleichzeitig mehrerer Verteidiger bedienen, was § 227 für die Hauptverhandlung hervorhebt, als auch nacheinander mehrere Verteidiger haben. Das ist namentlich auch für die Hauptverhandlung zulässig. Die Vorschrift besagt nicht, daß in der Hauptverhandlung nur immer ein und derselbe Verteidiger anwesend sein müsse (BGHSt. 13 341). Mehrere Verteidiger können sich ablösen, auch kann ein neuer eintreten, wenn gesichert ist, daß ihn der alte, allenfalls der Angeklagte, nicht der Vorsitzende, unterrichtet (IV 3 zu § 145). Verschiedene Verteidiger kann der Beschuldigte auch für einzelne Vorgänge des Verfahrens wählen, wie die Beweisaufnahme durch ein ersuchtes Gericht oder die Revisionsverhandlung. 4. Beistand. In jeder Lage des Verfahrens kann der Verteidiger Erklärungen abgeben und Anträge stellen, in der Hauptverhandlung oder in sonstigen mündlichen Verhandlungen (z.B. § 118) in der Regel, wenn auch nicht ausschließlich, mündlich, sonst schriftlich. Soweit der Beschuldigte nicht auf freiem Fuße ist, ist ihm dazu schriftlicher und mündlicher Verkehr mit dem Verteidiger gestattet (§ 148). Auch hat der Verteidiger das grundsätzliche, nur im Vorverfahren unter engen Voraussetzungen beschränkbare Recht, die Akten einzusehen (§ 147). Über die Vorgänge in Verhandlungen, denen er beiwohnt, namentlich der Hauptverhandlung, darf er sich Aufzeichnungen machen oder sie durch Hilfspersonen herstellen lassen. Wird ihm das in der Hauptverhandlung untersagt, ist regelmäßig der Revisionsgrund des § 338 Nr. 8 gegeben, weil die Verteidigung nur in sehr kurzen und einfachen Verhandlungen ohne schriftliche Gedächtnisstützen geführt werden kann. Wird eine Hilfsperson wegen des Aufzeichnens aus der Hauptverhandlung ausgeschlossen, dann ist außerdem § 338 Nr. 6 verletzt (BGHSt. 18 181). Von dem Recht, Anträge und Erklärungen abzugeben, ist die Befugnis des Verteidigers, an Prozeßhandlungen mitzuwirken, verschieden und nicht immer befriedigend geregelt. Das gilt namentlich für das Vorverfahren, in dem folgende Einzelrechte eine Rolle spielen: Da der Verteidiger mehr als ein Vertreter des Beschuldigten ist, können Schwierigkeiten entstehen, wenn er nur auf eine Unterrichtung durch den Beschuldigten angewiesen ist, zumal da dieser die Tragweite einzelner Prozeßhandlungen und ihre Beziehung zur Verteidigung oft nicht übersehen kann. Das Gesetz sieht daher Benachrichtigungen vor, u. a. in § 118 a Abs. 1 (mündliche Verhandlung im Haftverfahren), § 218 Abs. 1 (Ladung zur Hauptverhandlung), § 224 Abs. 1 (Nachricht vom Termin zur kommissarischen Vernehmung); § 145 a Abs. 4 (Zusendung von Entscheidungen an den Verteidiger, dem nicht zugestellt wird). Die Benachrichtigung sollte bei einer Reform auf die wichtigsten Akte des Verfahrens ausgedehnt werden (§ 101 Abs. 1, § 114 a Abs. 1, § 201 Abs. 1, sowie Benachrichtigung über Erhebung der öffentlichen Klage und Einstellung des Verfahrens). Darüber hinaus ist das Anhören des Verteidigers u. a. vorgeschrieben in § 81 Abs. 1 (Untersuchung in einer Heil- oder Pflegeanstalt), wäre aber auch wohl in anderen Fällen zweckmäßig (vgl. z. B. § 180 Abs. 2). Von besonderer Wichtigkeit ist die Anwesenheit des Verteidigers. Sie ist geregelt für die Hauptverhandlung (§218 Abs. 1, § 140), bei kommissarischen Vernehmungen (§ 224 Abs. 1, § 233 Abs. 3), bei Vernehmung des Beschuldigten und bei Beweisaufnahmen in der Voruntersuchung (§ 192 Abs. 2, § 193 Abs. I) und im richterlichen vorbereitenden Verfahren (§ 169 Abs. 2). Es wäre sachgemäß, das Anwesenheitsrecht bei einer Reform auf den Fall des § 106 zu erstrecken. 5. Verteidiger des gesetzlichen Vertreters. Der gesetzliche Vertreter ist selbständig berechtigt, einen Verteidiger zu wählen. Er ist vom Willen des Beschuldigten unabhängig sowohl in der Frage, ob er einen Verteidiger zuziehen, als auch bei der, wen er als Verteidiger auswählen will. Auf der anderen Seite ist auch der Beschuldigte in gleicher Weise selbständig. Sein Recht wird durch Absatz 2 nicht eingeschränkt, wenn ihm auch durch die Unfähigkeit, sich vertraglich zur Honorarzahlung zu verpflichten, geringere Bedeutung zukommt. Einigen sich der Beschuldigte und sein gesetzlicher Vertreter nicht über die Person des Verteidigers, sondern wählt jeder einen anderen, dann treten beide auf; das Gericht ist nicht befugt, einen von ihnen nicht zuzulassen (C ö n d e r s GS 1915 338). 882

Elfter Abschnitt. Verteidigung (Dünnebier)

§ 138 Anm. I 1

§ 138 (1) Zu Verteidigern können die bei einem deutschen Gericht zugelassenen Rechtsanwälte sowie die Rechtslehrer an deutschen Hochschulen gewählt werden. (2) Andere Personen können nur mit Genehmigung des Gerichts und, wenn der Fall einer notwendigen Verteidigung vorliegt und der Gewählte nicht zu den Personen gehört, die zu Verteidigern bestellt werden dürfen, nur in Gemeinschaft mit einer solchen als Wahlverteidiger zugelassen werden. Schrifttum: A n s c h ü t z , Die Entziehung der Verteidigungsbefugnis, Diss. Heidelberg 1959; G a l l a s , Grenzen zulässiger Verteidigung, ZStW 53 256; H a m a n n , Zur verfassungsrechtlichen Stellung des Strafverteidigers, AnwBl. 1963 285; K a l s b a c h , Zur Frage der Ausschließung des Verteidigers im Strafprozeß, JZ 1961 593; L u k a n o w , Der Mißbrauch der Verteidigerstellung im englischen und deutschen Strafprozeß (1953); O s t l e r , Die Entziehung der Verteidigerbefugnis durch den Strafrichter, JR 1960 170; P r a m a n n , Die Ausschließung des Verteidigers im Strafverfahren, Diss. Hamburg 1969 (dort auch die ältere Literatur); v o n S c a n z o n i , Kann das Gericht den Verteidiger ausschließen? JW 1932 3583; E b S c h m i d t , Zur Problematik der Entziehung der Verteidigerbefugnis, NJW 1963 1753; S c h o r n , Die Ausschließung eines Rechtsanwalts als Strafverteidiger, DRiZ 1964 155; v o n W i n t e r f e l d , Die Ausschließung von Verteidigern, NJW 1961 902. Übersicht I. Verteidiger 1. Rechtsanwalt 2. Deutsches Gericht a) Gerichte der Bundesrepublik b) Sämtliche Gerichte 3. Rechtslehrer 4. Deutsche Hochschulen 5. Andere Personen II. Genehmigung des Gerichts 1. Grundsatz 2. Antrag 3. Entscheidung 4. Zuständiges Gericht 5. Rechtsmittel 6. Folge 7. Notwendige Verteidigung III. Unfähigkeit 1. Prozeßunfähigkeit 2. Grundsatz 3. Tatbeteiligung 4. Zeuge

5. Widerstreitende Interessen a) Mehrere Beschuldigte b) Parteiverrat 6. Anhängigkeit 7. Verletzung der Beistandspflicht 8. Begünstigung durch die Verteidigung 9. Verfahrenssabotage 10. Verrat von Staatsgeheimnissen 11. Strafbare Handlungen 12. Sitzungspolizeiliche Gründe 13. Ausschließung 14. Grundlage 15. Zuständigkeit 16. Anfechtung 17. Reform IV. Vollmacht 1. Verteidigervollmacht 2. Vertretungsvollmacht 3. Nachweis 4. Dauer 5. Fehlen

I. Verteidiger. 1. Rechtsanwalt ist, wer die Fähigkeit zum Richteramt nach den Vorschriften des Deutschen Richtergesetzes erlangt 'hat (§ 4 BRAO), zur Rechtsanwaltschaft zugelassen ist (§ 6 Abs. 1 BRAO) und über die Zulassung eine von der Landesjustizverwaltung ausgefertigte Urkunde erhalten hat (§ 12 Abs. 2 in Verbindung mit Absatz 1 BRAO). Die Befugnis, die Anwaltstätigkeit auszuüben, beginnt erst mit der Eintragung in die Liste der Rechtsanwälte (§ 32 Abs. 1 BRAO), doch sind Handlungen, die der Rechtsanwalt zwischen Zulassung und Eintragung vornimmt, rechtswirksam (§ 32 Abs. 2 BRAO). Die Zulassung erlischt, wenn durch rechtskräftiges Urteil auf Ausschließung aus der Rechtsanwaltschaft erkannt ist ( § 1 3 BRAO), oder wenn die Justizverwaltung des Landes, in dem der Rechtsanwalt zugelassen ist, die Rücknahme der Zulassung rechtskräftig verfügt hat (§ 16 BRAO). 883

§138 Anm. 2 , 3

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

Wird gegen einen Rechtsanwalt ein Berufsverbot verhängt, darf er seinen Beruf nicht ausüben; wird ein Vertretungsverbot verhängt, darf er vor Gericht nicht auftreten und keine Schriftsätze einreichen. Die Wirksamkeit gleichwohl vorgenommener Rechtshandlungen bleibt indessen unberührt (§ 155 BRAO), auch wenn sie der Anwalt in eigener Sache vornimmt (OLG Oldenburg NdsRpfl. 1963 117). In Steuersachen können auch Steuerberater, Steuerbevollmächtigte, Wirtschaftsprüfer und vereidigte Buchprüfer zu Verteidigern gewählt werden, soweit das Finanzamt (Hauptzollamt) das Verfahren selbständig durchführt (§ 421 Abs. 2, § 433 Abs. 1, §§ 435, 436 AO). Sonst können sie — ohne besondere Zulassung nach § 138 Abs. 2 — die Verteidigung nur in Gemeinschaft mit einem Rechtsanwalt oder Rechtslehrer durchführen, soweit sie nicht, wenn die Verteidigung nicht notwendig ist, nach § 138 Abs. 2 als — alleiniger — Verteidiger ausdrücklich zugelassen werden. 2. Deutsches Gericht. a) Gerichte der Bundesrepublik. Da die Bestimmung von zugelassenen Rechtsanwälten spricht, kann sie nur auf solche Anwendung finden, deren Zulassung sich nach den in der Bundesrepublik geltenden Bestimmungen regelt. Ohne diesen systematischen Zusammenhang wäre die Beschränkung auf zugelassene Anwälte wirkungslos. Daher ist „deutsch" hier in Abweichung vom sonstigen Sprachgebrauch — aber in gleicher Weise wie in § 10 — als „im Geltungsbereich dieses Gesetzes" zu gebrauchen (im Ergebnis ebenso BGHSt. 8 200)'. Rechtsanwälte, die vor dem 9. 5. 1945 bei einem Gericht im jetzigen Gebiet der D D R oder östlich der Oder-Neiße-Linie, aber noch nicht wieder in der Bundesrepublik zugelassen sind, sind zwar Rechtsanwälte geblieben (§ 212 Abs. 1 und 2 BRAO; vgl. BGHSt. 8 171), aber nicht bei einem deutschen Gericht i. S. des Absatzes 1 zugelassen. b) Sämtliche Gerichte. Der Beschuldigte kann jeden Anwalt wählen, der bei einem Amtsgericht, Landgericht oder Oberlandesgericht der Bundesrepublik zugelassen ist, gleichgültig an welchem Ort und vor welchem Gericht, auch dem Bundesgerichtshof, er sich zu verteidigen hat. Die bei dem Bundesgerichtshof zugelassenen Rechtsanwälte darf er jedoch nur zur Verteidigung vor diesem Gericht oder internationalen oder zwischenstaatlichen Gerichten, etwa dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (Art. 19 Buchst, b MenschRKonv.), wählen (§ 172 Abs. 1 BRAO). Sie dürfen bei anderen als den in § 172 Abs. 1 BRAO genannten Gerichten nur auftreten, wenn jene ersuchte Gerichte dieser Gerichte sind (§ 172 Abs. 2 BRAO). Das Verbot, vor Gericht aufzutreten, schließt auch das Verbot ein, Schriftsätze für andere als die in § 172 Abs. 1 BRAO genannten Gerichte zu unterzeichnen und bei ihnen einzureichen (a. A. — Einreichen von Schriftsätzen ist kein Auftreten — K l 1). Das Anbringen der Revisionsanträge und der Revisionsbegründung (§ 345 Abs. 2) sowie Anfragen beim Instanzgericht (etwa in bezug auf die Gesetzmäßigkeit der Besetzung) gehören jedoch schon zur Verteidigung vor dem Bundesgerichtshof und stehen daher auch dem am Bundesgerichtshof zugelassenen Rechtsanwalt zu, wenn auch die Schriften beim Landgericht einzureichen sind (§ 341 Abs. 1, § 345 Abs. 1). 3. Rechtslehrer sind ordentliche und außerordentliche Professoren, Privatdozenten und Lehrbeauftragte 2 , deren Lehrgebiet sich, gleichgültig ob sie einer Juristenfakultät angehören, auf ein Rechtsgebiet bezieht 3 . Die Entpflichtung beendet die Eigenschaft als Rechtslehrer nicht, wenn ihr nicht Mängel in der Amtsführung zugrundeliegen ( M ü l l e r 525), doch sind Lehrbeauftragte nach der Natur des Auftragsverhältnisses Rechtslehrer nur für die Dauer des Auftrags. Wer vor dem 9. 5. 1945 an einer deutschen Hochschule im jetzigen Gebiete der D D R oder östlich der Oder-Neiße-Linie als Rechtslehrer berufen war, ist Rechtslehrer i. S. des Absatzes 1 geblieben. 1

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Ebenso für die in § 172 Abs. 3, § 345 Abs. 2, § 366 Abs. 2 genannten Rechtsanwälte O L G Hamburg NJW 1962 1689. A. A. — Lehrbeauftragte gehören nicht zu den Rechtslehrern — K G JZ 1956 288; abl. P e t e r s ebendort. E b S c h m i d t II; M ü l l e r - S a x 1 a; P e t e r s JZ 1956 289; M ü l l e r JZ1956 524.

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Elfter Abschnitt. Verteidigung (Dünnebier)

§ 138 Anm. 1 4 , 5 ; II 1

4. Deutsche Hochschulen sind Universitäten, technische, landwirtschaftliche, Handelsund Wirtschaftshochschulen sowie Berg- und Forstakademien. Der Ausdruck „deutsch" erstreckt sich hier jedoch nur auf Hochschulen der Bundesrepublik und von Berlin-West ( E b S c h m i d t 7; a. A. M ü l l e r JZ 1956 525). Denn aus der Zusammenstellung mit den „zugelassenen" Rechtsanwälten muß gefolgert werden, daß auch bei den deutschen Hochschullehrern auf eine unserer Rechtsordnung entsprechende Auswahl bei der Anstellung mit abgestellt sein soll, die nur im Geltungsbereich der Strafprozeßordnung gewährleistet ist. 5. Andere Personen. Die Vorschrift, daß auch andere als die in Absatz 1 genannten Personen, regelmäßig Rechtsanwälte, zu Verteidigern bestellt werden können, ist nach dem Antrage W o l f f s o h n aufgenommen. Er wollte damit eine Bestimmung der Preußischen Strafprozeßordnung übernehmen, eine Anzahl Nichtrechtskundiger so heranzubilden, daß sie Rechtsanwälte, wo es an ihnen fehle, ersetzen könnten, vorzugsweise aber dem Interesse des Beschuldigten Genüge tun, von einer bestimmten Person, etwa mit technischen oder literarischen Kenntnissen, verteidigt zu werden ( H a h n Mat. 1 953). Die Reichstagskommission hat die Vorschrift allein aus der letzteren Erwägung aufgenommen, „um dem Angeklagten eine möglichst freie Wahl und die Wahl einer Person zu sichern, welcher er sein Vertrauen zugewendet hat" ( H a h n Mat. 2 1533). Demzufolge erblickt die Rechtsprechung mit Recht die Bedeutung der Vorschrift weniger in der Einschränkung der Wahlmöglichkeit durch die gerichtliche Genehmigung als in der Ausdehnung des Kreises der Verteidiger. Aus diesem nach der Entstehungsgeschichte gerechtfertigten Blickpunkt dient die Vorschrift nicht dem Schutz der Interessen der zugelassenen Rechtsanwälte als vielmehr dem des Beschuldigten (KG JR 1956 29; OLG Bremen NJW 1951 123). Die herrschende Ansicht (Zusammenstellung O L G Hamburg MDR 1966 256) will § 138 Abs. 2 im Privatklageverfahren nicht anwenden, den in diesem Verfahren Beschuldigten vielmehr auf den „Beistand eines Rechtsanwalts" (§ 387 Abs. 1) beschränken. Diese Auffassung ist mit der Begründung S a r s t e d t s (8 zu § 387) abzulehnen. Nach Sinn und Zweck der Bestimmung kann Verteidiger nur eine natürliche Person sein (OLG Hamm MDR 1950 755; BayObLGSt. 1952 267 = NJW 1953 354; OLG Neustadt NJW 1953 1606). Im übrigen ist der Personenkreis unbeschränkt: Frauen können ebenso wie Männer, Ausländer ebenso wie Inländer in Betracht kommen. Ob ein Richter oder Beamter für die Annahme der Wahl als Verteidiger der Genehmigung bedarf, hat das Gericht nicht zu prüfen. Unter Absatz 2 fallen namentlich: Ausländische Rechtsanwälte ( H a h n Mat. 1 935); in der D D R zugelassene Rechtsanwälte (BGHSt. 8 200); Rechtsbeistände und Prozeßagenten, gleichgültig ob sie an dem Gericht, wo sie verteidigen wollen, oder an einem anderen zugelassen sind4. II. Genehmigung des Gerichts. 1. Grundsatz. Das Gericht entscheidet nach pflichtgemäßem Ermessen. Es muß dazu im Einzelfall die schutzwürdigen Interessen des Beschuldigten mit den Interessen der Rechtspflege abwägen. Es darf die Zulassung nicht mit dem Hinweis auf eine allgemeine Übung des Gerichts versagen (BayObLGSt. 1954 33 = NJW 1954 1212) oder wegen des allgemeinen Grundes ablehnen, daß der Verteidiger die Verteidigung gewerbsmäßig betreibe und nicht bei dem Gericht, wo er verteidigen will, zugelassen sei (BayObLG MDR 1956 567). Es darf auch, wenn der Beschuldigte das Vertrauen zu einem Verteidiger darlegt, nicht den Vortrag besonderer Gründe dafür verlangen, daß der Beschuldigte an der Verteidigung gerade durch den Gewählten ein Interesse habe 5 . Wenn der Gewählte vertrauenswürdig ist und nach den Umständen des Falles in besonderem Maße die Befähigung zur Verteidigung besitzt, kann die Genehmigung nicht versagt werden (OLG Bremen NJW 1951 4

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BayObLG MDR 1956 567; OLG Neustadt M D R 1956 437; a. A. - Auftreten eines Rechtsbeistandes außerhalb des Ortes der Bestätigung unzulässig — O L G Braunschweig GA 1956 182. Die Entscheidung des OLG Oldenburg (NJW 1958 33), die das verlangt, ist um so unverständlicher, als der Beschuldigte neben einem Rechtsanwalt einen Oberlandesgerichtsrat z. Wv. lediglich als zweiten Verteidiger wählen wollte.

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§138 Anm. II 2 - 4

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

123)6. Eine völlig unbedeutende Vorstrafe bietet für sich allein keinen Versagungsgrund (OLG Hamburg NJW 1955 644). 2. Antrag. Die Genehmigung setzt einen Antrag voraus, der im Einzelfall anzubringen ist und nicht allgemein gestellt werden kann ( M ü l l e r — S a x 3a). Auf die Formulierung nach dem Wortlaut des Gesetzes kommt es nicht an. Die Vorlage einer Vollmacht als „Prozeßbevollmächtigter und Rechtsbeistand" ist ein genügender Antrag (BayObLGJW 1928 822). Der Antrag kann auch stillschweigend gestellt werden, indem der Gewählte eine Prozeßhandlung vernimmt, die erkennen läßt, daß er als Verteidiger handeln will (RGSt. 55 213, RG JW 1927 2047). 3. Entscheidung. Der Gewählte ist entweder abzulehnen oder als Verteidiger zuzulassen. Wird er zugelassen, so erstreckt sich die Verteidigung auf das gesamte Verfahren 7 . Der Beschuldigte kann die Verteidigung unter mehrere Verteidiger aufteilen, die nacheinander auftreten. Er kann auch von vornherein erklären, daß er einen Verteidiger nur für einen bestimmten Verfahrensabschnitt bestelle. In diesem Falle erfaßt die Genehmigung auch nur die Wahl für diesen Abschnitt (RGSt. 9 80). Darüber hinaus ist es unzulässig, daß das Gericht bei unbeschränkter Wahl eine beschränkte Genehmigung erteilt8. § 138 Abs. 2 wird eingeschränkt durch § 139 (1 zu § 139) und durch § 281 (4 zu § 281). Für diese Fälle scheidet ein richterliches Ermessen bei der Zulassung aus. Die Genehmigung kann jederzeit erteilt werden, solange das Gericht mit der Sache befaßt und der Verfahrensabschnitt noch nicht beendet ist, für den die vom Verteidiger vorzunehmende Prozeßhandlung bestimmt ist und in dem sie wirken soll. Die Vorschrift setzt nicht voraus, daß die Genehmigung erteilt sein muß, bevor der als Verteidiger auftretende Beauftragte des Beschuldigten eine Prozeßhandlung vornimmt (RGSt. 55 214). Die Genehmigung wirkt also zurück (OLG Hamm MDR 1951 503). Das Gericht ist befugt, die Genehmigung wieder zurückzunehmen. Anlaß dazu kann u. a. sein, daß der Gewählte die Verteidigung nicht zu führen vermag, daß eine Person bestellt worden ist, die nicht bestellt werden durfte (Mitangeklagter), oder daß sonstige Irrtümer obgewaltet haben (BayObLGSt. 1953 15 = NJW 1953 755). Namentlich kann das Rechtsmittelgericht eine andere Beurteilung zugrundelegen als der judex a quo (BGHSt. 8 196), nur kann es dessen Genehmigung nicht rückwirkend vernichten (RG JW 1927 2048). Die Entscheidung ergeht durch Beschluß, der im Falle der Ablehnung und der Rücknahme zu begründen ist (§ 34)®. Gleichwohl ergehende stillschweigende Entscheidungen sind indessen rechtswirksam (RGSt. 55 213), doch müssen die die Zulassung beinhaltenden schlüssigen Handlungen erkennen lassen, daß das Gericht den Willen zu der Genehmigung gehabt hat (RGSt. 61 106). 4. Zuständiges Gericht. Zuständig ist das Gericht, bei dem das Verfahren schwebt. Ist ein Rechtsmittel eingelegt, dann ist das Gericht, bei dem es eingelegt ist (§314 Abs. 1, § 341 Abs. 1), solange zuständig, bis die Akten an das Rechtsmittelgericht gelangt sind (§321, § 347 Abs. 2; RGSt. 55 214; 62 250; RG JW 1927 2047; BayObLGSt. 24 121; OLG Hamm MDR 1951 503). Der judex a quo braucht jedoch nicht zu entscheiden, sondern kann die Entscheidung dem judex ad quem überlassen ( S e i b e r t JZ 1951 440). Um das Mißverständnis zu vermeiden, die Weitergabe der Akten sei eine stillschweigende Genehmigung, wird er aktenkundig zu machen haben, daß er die Entscheidung dem Rechtsmittelgericht vorbehalte. 6

A. A. O L G Nürnberg ( M D R 1968 944), das zu Unrecht einen Rechtsbeistand nur in Sonderfällen zulassen will, in denen für die Verteidigung besondere Sachkunde erwünscht sei. 7 A. A. — Zulassung erstreckt sich nicht auf die höhere Instanz — O L G Hamburg DRiZ 1929 615. » E b S c h m i d t 15; a. A. M ü l l e r - S a x 3 d ; Kl. 2a. 9 Auch die bewilligende Entscheidung sollte wegen der Klarheit der Prozeßlage stets als Beschluß ergehen, damit solche unklare Lagen, wie R G JW 1927 2047 und BayObLG JW 1928 822 dargestellt, nicht auftreten. Das ist namentlich von Bedeutung, wenn ein Rechtsmittel bei einem anderen Gericht eingelegt wird als dem, das darüber zu entscheiden hat.

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Elfter Abschnitt. Verteidigung (Dünnebier)

§ 138 A n m . II 5 - 7

Ist die Sache noch im Vorverfahren, dann kann nicht 1 0 die Zuständigkeit aus § 162 abgeleitet werden, der von Untersuchungshandlungen spricht, also keine gleichliegende F r a g e regelt. N a c h dem System des Abschnitts und wegen der Fortwirkung der Genehmigung für das ganze Verfahren ist vielmehr § 141 Abs. 3 entsprechend in der Weise anzuwenden, d a ß das Gericht (§ 138 Abs. 2; nicht sein Vorsitzender) zuständig ist, das für das H a u p t v e r f a h r e n zuständig wäre. Ist keine feste Zuständigkeit gegeben, hat die Staatsanwaltschaft bei ihrer A n h ö r u n g (§ 33) die Entscheidung zu treffen, ob die Sache besondere Bedeutung hat (§ 24 Abs. 1 N r . 2 und 3). D a n a c h richtet sich die Zuständigkeit. Ist die der Strafk a m m e r begründet, kann diese in entsprechender A n w e n d u n g von § 209 Abs. 1 Satz 2 die Sache an das Amtsgericht zur Entscheidung abgeben. Ist die Sache in der Voruntersuchung, entscheidet die S t r a f k a m m e r (§ 73 Abs. 1 G V G ) . 5. Rechtsmittel. Gegen die unter 3 genannten Entscheidungen ist die Beschwerde zulässig, soweit nicht Beschlüsse der Strafsenate, auch wenn das Oberlandesgericht im ersten Rechtszuge zuständig ist, in Rede stehen (§ 304 Abs. 4). Beschwerdeberechtigt sind der Beschuldigte und die Staatsanwaltschaft, der Beschuldigte j e d o c l v n u r im Falle der Ablehnung oder R ü c k n a h m e . In diesen Fällen ist auch der vom Beschuldigten Gewählte beschwerdeberechtigt, gleichviel ob er ein zugelassener Rechtsbeistand ( B a y O b L G S t . 1954 53 = N J W 1954 1212; O L G Bremen N J W 1951 123) oder eine nicht in dieser Stellung befindliche „andere P e r s o n " ist ( O L G Oldenburg N J W 1958 33). D u r c h die Wahl des Beschuldigten wird er eine „andere P e r s o n " auch im Sinne des § 304 Abs. 2. Diese prozessuale Stellung wird durch die Versagung oder R ü c k n a h m e der Genehmigung berührt; das reicht zur Beschwerdeberechtigung aus. Eine „durch Gesetz begründete Rechtsstellung" ( O L G H a m b u r g M D R 1969 598) darf nicht gefordert werden. A u c h die Beschlüsse des erkennenden Gerichts (§ 305 Satz 1) unterliegen der Beschwerde, weil sie nicht im inneren Z u s a m m e n h a n g mit dem Urteil stehen ( R G S t . 67 312) 1 1 . F ü r Beschlüsse, die im ersten Rechtszug oder im Berufungsverfahren oder vom Amtsrichter (§ 25, § 30 Abs. 2 G V G ) erlassen sind, ergibt der Text von § 304 Abs. 1 die Statthaftigkeit der Beschwerde. Soweit die S t r a f k a m m e r zuständig ist, entscheidet sie in Fällen, die in ähnlichen Lagen ( § 1 4 1 Abs. 3) dem Vorsitzenden obliegen. D a aber gegen die Verfügungen des Vorsitzenden die Beschwerde statthaft ist, m u ß sie es gegen Beschlüsse des Gerichts ebenfalls sein. Mitbeschuldigte, Privat- oder Nebenkläger haben, da durch die Verteidigerbestellung nicht beschwert, kein Beschwerderecht ( L G D o r t m u n d J M B 1 N R W 1954 156). H a t das Gericht unter M i ß b r a u c h seines pflichtgemäßen Ermessens die Genehmigung zur W a h l eines Verteidigers versagt, so kann der Angeklagte mit der Revision Verletzung von § 338 Nr. 8 rügen ( E b S c h m i d t 11). Ist Berufung zulässig und wählt der Angeklagte nicht die Sprungsrevision (§ 335), so m u ß er den Mangel schon bei der Berufung rügen ( R G S t . 59 299). F ü r das Berufungsverfahren ist § 328 Abs. 2 zu beachten. 6. Folge. Mit der Zulassung wird der Gewählte, wenn er die W a h l a n g e n o m m e n hat, Verteidiger mit allen Rechten eines Verteidigers, auch wenn er im Falle der notwendigen Verteidigung nur in Gemeinschaft mit einem anderen bestellt ist, der „zu den Personen gehört, die zu Verteidigern bestellt werden dürfen". Er kann also namentlich auch Revisionsanträge und Begründungen anbringen ( B a y O b L G S t . 1955 256). Die G e n e h m i g u n g kann z w a r z u r ü c k g e n o m m e n werden (3 Abs. 4); solange das aber nicht geschehen ist, besteht sie auch für höhere Instanzen. Namentlich kann das Rechtsmittelgericht die Genehmigung nicht mit rückwirkender K r a f t wieder aufheben ( R G J W 1927 2048). Bei Ablehnung oder R ü c k n a h m e ist der Beschuldigte zu belehren, d a ß er einen anderen Verteidiger wählen k a n n ( R G S t . 67 313). A u c h m u ß ihm die zu dieser W a h l erforderliche Frist eingeräumt oder erforderlichenfalls ein Verteidiger von A m t s wegen bestellt werden. 7. Notwendige Verteidigung. Wenn § 138 Abs. 2 auch dem Beschuldigten die Möglichkeit geben will, sich einer Vertrauensperson, die nicht Anwalt oder Rechtslehrer ist, als 10 11

So E r b s V; E b S c h m i d t 1 b. Ebenso KG JW 1933 484; BayObLGSt. 1953 15 = NJW 1953 755; OLG Bremen NJW 1951 454; OLG Hamburg JZ 1951 760; MDR 1969 598; OLG Oldenburg NJW 1958 33. 887

§138

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

Anm. III 1 , 2 Verteidiger zu bedienen, so gilt diese Befugnis doch nur dort uneingeschränkt, wo der Beschuldigte keinen Verteidiger braucht. Im Falle der notwendigen Verteidigung (§ 140) kehrt das Gesetz, wenn es auch eine Ausnahme einräumt, grundsätzlich zur Regel des Absatzes 1 zurück, gestattet dem Beschuldigten aber einen zusätzlichen Verteidiger aus dem Personenkreis des Absatzes 2. Im einzelnen können im Falle der notwendigen Verteidigung als alleinige Verteidiger gewählt werden: die bei einem deutschen Gericht zugelassenen Rechtsanwälte sowie die Rechtslehrer an deutschen Hochschulen (§ 138 Abs. 1). Die Wahl bedarf keiner Genehmigung; Gerichtsreferendare nach mindestens einem Jahr und drei Monaten Vorbereitungsdienst ( § 1 3 8 Abs. 2, § 142 Abs. 2). Deren Wahl bedarf der Genehmigung. Wird eine andere Person als Verteidiger gewählt, so darf sie nur zugelassen werden, wenn gleichzeitig ein Verteidiger aus den vorgenannten beiden Gruppen gewählt oder als Pflichtverteidiger bestellt wird. III. Unfähigkeit. 1. Prozeßunfähigkeit. Es ist selbstverständlich, daß der Verteidiger, wie sämtliche am Strafverfahren beteiligten Personen, verhandlungsfähig sein muß (RGSt. 57 373). Darüber hinaus ist wegen der vermögensrechtlichen Beziehungen und Folgen, die seine Bestellung mit sich bringt, zu verlangen, daß er prozeßfähig ist ( S e i b e r t JZ 1951 440 für den Fall des Absatzes 2). Liegen diese Voraussetzungen nicht vor, ist die gewählte Person unfähig, Verteidiger zu sein (wegen der Folgen s. 13). Die Hauptfalle der Unfähigkeit ergeben sich aber nicht aus den beiden ebengenannten allgemeinen Prozeßgrundsätzen, die bei der Verteidigung in der Praxis keine Rolle spielen, sondern aus dem Wesen der Verteidigung. 2. Grundsatz. Aus § 146 ist zu entnehmen, daß der Verteidiger die Verteidigung nicht führen kann, wenn die Verteidigung durch eine bestimmte Person der Aufgabe der Verteidigung widerstreitet (1 zu § 146; RGSt. 35 190). Die Aufgabe der Verteidigung ist oben dahin gekennzeichnet: Der Verteidiger hat dem Beschuldigten als Beistand (3 b vor § 137) zu helfen und dafür zu sorgen, daß prozeßordnungsgemäß verfahren wird (4 b vor § 137). Dabei hat er seine Unabhängigkeit zu wahren (3 b letzter Absatz vor § 137). Er unterliegt der Wahrheitspflicht, eingeschränkt durch die Treue- und Schweigepflicht, die er seinem Mandanten schuldet, und dem unbedingten Verbot der Lüge (4 a vor § 137). Daraus und aus der Stellung als „Organ der Rechtspflege" folgt die Verpflichtung, die Wahrheitsforschung nicht zu stören (5 vor § 137). Der Aufgabe der Verteidigung widerstreitet nicht nur die Verteidigung mehrerer Beschuldigten mit verschiedenen Interessen — ein Fall, den § 146 allein behandelt —, sondern jede Verteidigung, die prozeßordnungswidrig ist, sei es, weil besondere Umstände in der Person des Verteidigers diesen von vornherein als Verteidiger unfähig machen (3 bis 6), sei es, weil die Art, wie er die Verteidigung führt, gegen die Prozeßordnung verstößt (7 bis 9) 12 . Auf diese Fälle ist der in § 146 konkretisierte, ihm zugrundeliegende, aber weitergreifende Rechtsgedanke, den Zweck der Verteidigung zu sichern, nach der gesamten Ordnung des Verfahrens (RGSt. 24 106) im Wege der lückenfüllenden Analogie entsprechend anzuwenden ( A n s c h ü t z 75; P r a m a n n 109) 13 . Dabei ist freilich sowohl bei der Gewinnung der Unfähigkeitsfälle als auch bei ihrer Anwendung im Einzelfall Zurückhaltung geboten. Der Grundsatz der freien Verteidigerwahl 12

D i e Einteilung hatte bei G a l l a s die besondere Bedeutung, d a ß er nur für die erste Gruppe — des „rechtlichen Nichtdürfens" ( 2 5 8 ) — die Zuständigkeit des Gerichts bejahte, den Verteidiger auszuschließen, die zweite — des „rechtlichen N i c h t k ö n n e n s " ( 2 5 8 ) — aber der Standesgerichtsbarkeit vorbehielt (271). Rechtsprechung und Lehre sind dieser Beschränkung der gerichtlichen Zuständigkeit nicht beigetreten; das Schrifttum hält aber an der Zweiteilung fest ( E b S c h m i d t ErgBd. 1 11 ff. vor § 137; H e n k e l § 35 IV; A n s c h ü t z 5 9 ; P r a m a n n 127, 135, die j e d o c h - 111 - die Falleinteilung zu Recht als unwesentlich erkennt), w e n n auch die Z u o r d n u n g zu den beiden Fallgruppen teilweise nicht übereinstimmt.

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D a s Bundesverfassungsgericht unterstellt der Rechtsprechung, daß sie auf vorkonstitutionellem Gewohnheitsrecht fuße ( B V e r f G E 15 2 3 2 = JZ 1963 364), und läßt nachkonstitutionell fortgebildetes Recht nicht als Eingriffsgrundlage gelten ( B V e r f G E 16 2 1 8 = N J W 1963 1772; B V e r f G E 2 2 122 = N J W 1 9 6 7 2052). Eine abschließende Beurteilung der Eingriffsgrundlage wollen diese

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Elfter Abschnitt. Verteidigung (Dünnebier)

§ 138 Anm. III 3 , 4

ist eines der Hauptprinzipien unseres Strafprozesses. In einem Verfahren, wo es um die Ehre und Freiheit, j a oft um das ganze Lebensschicksal geht, muß der Beschuldigte regelmäßig das Recht haben, sich einen Beistand seines Vertrauens frei zu wählen. Vor dieser Notwendigkeit treten Erwägungen der Fachkunde zurück: Auch vor dem Bundesgerichtshof darf jeder Rechtsanwalt auftreten; selbst nicht rechtskundige Personen dürfen als Verteidiger zugelassen werden, bei notwendiger Verteidigung allerdings nur neben Rechtskundigen. Ein solcher Hauptgrundsatz kann schon im Hinblick auf den Beschuldigten nur dann eine Beeinträchtigung erfahren, wenn es sich mit einem ordentlichen Strafprozeß nicht mehr vereinbaren ließe, ihn anzuwenden. Aber auch im Hinblick auf den Verteidiger ist Zurückhaltung bei der Feststellung der Verteidigungsunfähigkeit notwendig. Ist der Verteidiger, wie regelmäßig 1 4 , Rechtsanwalt, wird mit seiner Ausschließung (13) in sein grundsetzlich garantiertes Recht (Art. 12 Abs. 1 G G ) eingegriffen, seinen Anwaltsberuf auszuüben (BVerfGE 15 231 = JZ 1963 3 6 4 = D R i Z 1963 121; 22 1 1 9 = N J W 1967 2051). Für diesen schwerwiegenden Eingriff gilt das Gebot der Verhältnismäßigkeit und das Verbot des Übermaßes: der Eingriff muß in einem vernünftigen Verhältnis zu dem ihn auslösenden Anlaß und zu dem mit ihm verfolgten Zweck stehen (Abwägung: BVerfGE 16 2 1 9 = N J W 1963 1772); er darf nicht übermäßig belasten (BVerfGe 15 234 = JZ 1963 364), muß vielmehr zwingend geboten sein, um ein höherwertiges Rechtsgut zu schützen (BVerfGE 22 1 2 3 = N J W 1967 2051). Aus der Unvereinbarkeit sowohl von Umständen, die in der Person des Verteidigers liegen, als auch von Handlungen, die der Verteidiger im Prozeß vornimmt, mit der Aufgabe der Verteidigung sind die folgenden Unfähigkeitsfälle abgeleitet worden. 3. Tatbeteiligung. Einen mitangeklagten Verteidiger hindert sein eigenes Interesse, seinen Mandanten zu verteidigen. Denn er wird in erster Linie bestrebt sein, seine Beteiligung zu leugnen oder zu verringern. D a s wird in der Regel seinen Komplizen belasten; auf jeden Fall aber kann er nicht unbefangen verteidigen. Daher ist ein Mitangeklagter als Verteidiger ausgeschlossen ( R G J W 1926 2756; BayObLGSt. 1953 15 = N J W 1953 755) 15 . Die Tatbeteiligung umfaßt den Anstifter, Mittäter, Gehilfen und Hehler sowie die Begünstigung, die nicht in der Verteidigungsführung liegt. Bei der Begünstigung kommt es nicht darauf an (so P r a m a n n 19), ob sie vor oder nach Verfahrensbeginn begangen ist. Der Verteidiger, der nach der Tat Diebesbeute für den Täter bei sich versteckt, fallt ebenso unter den Tatbestand wie der, der es vor dem Verfahren getan hat. Als Sonderfall ist nur die Begünstigung durch (prozeßordnungswidrige) Verteidigung zu behandeln (8). — Der Ausschluß ist, da es nicht auf die Prozeßlage, sondern auf die Tatbeteiligung ankommt, nicht auf den angeklagten Verteidiger beschränkt, Vielmehr macht auch der eine Anklage rechtfertigende Verdacht einer strafbaren Beteiligung zum Verteidiger unfähig ( R G J W 1926 2756) 1 6 , wenn nicht besondere Umstände vorliegen, die die Unfähigkeit ausschließen (14). 4. Zeuge. In der Mehrzahl der Fälle kann nicht verteidigen, wer als Zeuge ausgesagt hat. Eine belastende Aussage erschüttert das Vertrauen zum Angeklagten. Sie wird vom Zeugen verlangt, während der Verteidiger verpflichtet ist, ihm bekanntes, den Beschuldigten belastendes Material zu verschweigen (4 b vor § 137). Auch kann der Verteidiger seine eigene belastende Aussage nicht unbefangen würdigen (RGSt. 24 297). Aber auch bei lediglich entlastender Aussage bestehen Bedenken. Zwar sind diese nicht aus der Aktenkenntnis des Verteidigers herzuleiten. Eideszwang und — da im Regelfall Anwälte als Verteidiger

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Beschlüsse wohl nicht bringen, schon weil die Entscheidung letztlich nicht auf der Frage nach der Eingriffsermächtigung, sondern auf einer Interessenabwägung beruht. Gegen die Annahme von Gewohnheitsrecht E s s e r (Festschr. für Fritz von Hippel, 112) und P r a m a n n (72). Vorkonstitutionelles Gewohnheitsrecht nehmen an H e n k e l (§ 35 IV 2 b Anm. 20) und R o x i n (§ 19 D Abs. 1). Für Verteidiger, die nicht Rechtsanwälte sind, kann ggf. Art. 2 Abs. 1 G G in Betracht kommen. Ebenso G r a f z u D o h n a JW 1932 3674; a. A. D r u c k e r AnwBl. 1927 58; B e n d i x LZ 1927 511; B e l i n g LZ 1927 518; O s t l e r 173, die jedoch die Vorenthaltung bestimmter Verteidigerfunktionen für zulässig halten; dazu s. 13 Abs. 2. Ebenso E b e r m a y e r DJZ 1927 134; E b S c h m i d t ErgBd. 1 12 vor § 137; M ü l l e r - S a x 2 d (2) vor § 137; a. A. H a g e m a n n DRiZ 1932 262 und S c a n z o n i JW 1932 3583, die nur den angeklagten Verteidiger als ausgeschlossen ansehen.

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§138 Anm. III 5

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

gewählt werden — Standespflicht stehen der Annahme entgegen, der Zeuge werde sich durch die Kenntnis des Ermittlungsergebnisses in seiner Objektivität beeinflussen lassen. Doch ist der Verteidiger, weil er als Zeuge von der Anwesenheit in der Hauptverhandlung bis zu seiner Vernehmung ausgeschlossen ist (RGSt. 55 219), ggf. für lange Zeit seiner Verteidigungstätigkeit entzogen (RGSt. 24 107). Gerät diese auf solche Weise mit der Zeugenpflicht in Konflikt, dann geht die Zeugenpflicht tatsächlich vor, weil zwar ein Verteidiger ersetzbar ist, nicht aber ein Zeuge (RG GA 62 155; BGH NJW 1953 1601; a. A. RG J W 1891 546) 11 . Bei der Entscheidung, ob ein solcher Konflikt vorliegt, ist davon auszugehen, daß die Freiheit der Verteidigerwahl zu den Hauptgrundsätzen der Strafprozeßordnung gehört; daß der Ausschluß des Zeugen vom Amte des Verteidigers der Strafprozeßordnung unbekannt (§ 53) ist; und daß hieraus geschlossen werden kann, der Gesetzgeber habe keiner der beiden Pflichten, Verteidiger oder Zeuge zu sein, vor der anderen rechtlich den Vorrang einräumen wollen (RG GA 39 113). Daher ist der Verteidiger nur dann unfähig, wenn der Konflikt nicht zu lösen ist 18 . Auf dieser Grundlage ist in der Regel als Verteidiger nicht unfähig, wer lediglich im Vorverfahren (RGSt. 24 108) nicht belastend als Zeuge ausgesagt hat, oder zwar in der Hauptverhandlung nicht belastend als Zeuge aussagt, dem Verfahren aber nur für kurze Zeit entzogen wird (RGSt. 54 175; BGH NJW 1953 1601; a. A. — Verteidiger, der zugleich Zeuge ist, ist in jedem Fall unfähig — A n s c h ü t z 66). Die bloße Benennung als Belastungszeuge in einem Nebenpunkt kann regelmäßig für sich allein den Ausschluß von der Verteidigung nicht rechtfertigen (BVerfGE 16 2 1 9 = NJW 1963 1771). Denn die Frage des Konflikts läßt sich in der Regel erst nach der Vernehmung entscheiden. Wird jedoch der Verteidiger als Hauptbelastungszeuge gerichtlich geladen, so steht schon bei der Ladung fest, daß er sowohl der Hauptverhandlung für wesentliche Teile als Verteidiger entzogen wird als auch zu einer objektiven Würdigung der Aussage des Hauptbelastungszeugen nicht in der Lage ist. Alsdann bewirkt schon die Ladung seine Unfähigkeit als Verteidiger19. Bei notwendiger Verteidigung muß für die Zeit der Verhinderung ein anderer Verteidiger bestellt werden. Wenn der Angeklagte das nicht tut, muß das Gericht einen Pflichtverteidiger beiordnen. Entsprechendes gilt, wenn der Verteidiger als Sachverständiger vernommen wird, was sich in aller Regel vermeiden lassen wird. Hier wird in der Regel Unfähigkeit vorliegen ( H e n k e l § 35 IVb; P r a m a n n 129). 5. Widerstreitende Interessen. a) Die Verteidigung mehrerer Beschuldigten ist in § 146 geregelt und wird dort behandelt. b) Parteiverrat. Der Verteidiger kann dem Beschuldigten gegenüber die Verteidigungsaufgabe, ihm ohne Rücksicht auf andere Interessen Beistand zu leisten, dann nicht erfüllen, wenn er in derselben Rechtssache auch einem anderen, etwa dem Verletzten, durch Rat oder Beistand dient. Denn dann nimmt er einander widerstreitende Interessen und damit (auch) andere Interessen als die seines Mandanten und somit nicht allein dessen Interessen wahr. Deshalb ist unfähig, wer durch die Verteidigung Parteiverrat (§ 356 Abs. 1 StGB) begehen würde (OLG Oldenburg GA 1956 190)20. Daß er dabei gerade die Interessen des Beschuldigten aufopfern würde ( P r a m a n n 131), ist nicht Voraussetzung der Unfähigkeit ( A n s c h ü t z 70), weil der Interessengegensatz allein dem ungehinderten Beistand für den Beschuldigten entgegensteht. Daher besteht die Unfähigkeit auch dann, wenn der Tatbestand des Parteiverrats — etwa wegen Verbotsirrtums — nicht erfüllt ist; wesentlich ist allein, daß 17 18

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Ebenso K ö h l e r GS 1897 211; F r a e b GS 1913 105; H a g e m a n n DRiZ 1932 261. BVerfGE 16 2 1 9 = NJW 1963 1771; BGH NJW 1967 404; E b S c h m i d t ErgBd. 1 4 vor § 48; H e n k e l § 35 IV l c ; Kl 2 C vor § 137; M ü l l e r - S a x 2 c vor § 137. Die Unfähigkeit wird eher zu bejahen als zu verneinen sein. Daß in einigen besonders liegenden Einzelfällen beide Rollen als vereinbar befunden worden sind, darf nicht verallgemeinert werden. Die Empfehlung, auf den Anwalt als Zeugen zu verzichten, kann regelmäßig wegen § 244 Abs. 2 und 3 nicht befolgt werden. Ebenso G e p p e r t NJW 1958 1959; K a l s b a c h 594; A n s c h ü t z 70; P r a m a n n 131.

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Elfter Abschnitt. Verteidigung (Dünnebier)

§ 138 Anm. III 6 - 8

die konkrete G e f a h r gegeben ist, der Verteidiger könne auch von dem Interesse eines anderen beeinflußt sein. A u s diesem Grunde gilt für § 356 A b s . 2 S t G B keine Besonderheit. 6. Abhängigkeit. D a die Unabhängigkeit zum Wesen der Verteidigung gehört (3 b a. E. v o r § 137), ist eine den Interessen des Beschuldigten dienende Verteidigung unmöglich, wenn der Verteidiger Weisungen verfahrensfremder oder gar verfahrensfeindlicher Stellen unterworfen ist ( B G H S t . 15 326), allerdings derart, daß er diesen die Interessen des Beschuldigten unterordnet. D a ß er dabei bewußt zum Nachteil des Beschuldigten handelt ( K a l s b a c h 596), kann als Voraussetzung der Unfähigkeit nicht gefordert werden. D e n n schon der Umstand, daß er andere Interessen denen des Beschuldigten überordnet, steht der Verteidigungsaufgabe gegenüber, dem Beschuldigten ohne Rücksicht auf fremde Interessen Beistand zu leisten 21 . 7. Verletzung der Beistandspflicht. A u f g a b e des Verteidigers ist, zu verteidigen. Er ist daher zur Verteidigung unfähig, wenn er nicht verteidigt, d. h. dem Beschuldigten den Beistand versagt. Dieser am sinnfälligsten klingende Unfähigkeitsgrund hat zugleich die engsten Grenzen, ist kaum nachzuweisen und spielt in der gerichtlichen Praxis keine Rolle. Denn dem Gericht kann keine Befugnis eingeräumt werden, zu prüfen, ob der Verteidiger allgemein befähigt und im Einzelfall geeignet ist, die Verteidigung zu führen (v. S c a n z o n i 3587); wie bei Richter und Staatsanwalt kann hier allein auf die vorgeschriebene Ausbildung abgestellt werden. Danach fallen nicht unter den Tatbestand alle Fälle der mangelhaften, selbst grob mangelhaften (Unterlassen der R ü g e der Verletzung des Verfahrensrechts bei klar zutage liegenden Verstößen), j a der sachwidrigen Verteidigung (unzulässige weitere Beschwerden; A n t r a g auf „milde Strafe", wenn Freispruch wegen Tatbestandsmangel zu beantragen wäre). Alsdann verbleiben nur Fälle, w o der Verteidiger „mit voller A b s i c h t " ( P r a m a n n 63, 138) seine Pflichten verletzt, namentlich die Schweigepflicht gegenüber seinem Mandanten bricht, wenn hierfür kein Rechtfertigungsgrund vorliegt. A u c h die abhängige Verteidigung ( 6 ) wird, wenn der Verteidiger bewußt z u m Nachteil des Beschuldigten handelt, zur Verletzung der Beistandspflicht werden. Nicht gefordert werden kann, daß die Prozeßordnungswidrigkeit eine Straftat ist (so P e t e r s 190), wenn das auch in der Regel, aber nicht stets, der Fall sein wird. 8. Begünstigung durch die Verteidigung. A l s Teilnahmefall macht die Begünstigung den Verteidiger unfähig (3), weil er wegen seiner eigenen Verteidigung einen K o m p l i z e n nicht unbefangen verteidigen kann. D a v o n auszunehmen ist die Begünstigung, die in einer Verteidigungshandlung oder in der gesamten Verteidigungsführung liegt. Sie macht die Verteidigung prozeßordnungswidrig. D a ß die Verteidigung ,4m weiteren Sinne" ( L u k a n o w 77, 108) als Begünstigung des Beschuldigten erscheine, ist nur richtig, wenn man das W o r t „Begünstigung" in einem unjuristischen Sinn auffaßt. Denn auch der Verteidiger des ihm als schuldig bekannten Beschuldigten „entzieht" diesen nicht der Bestrafung, wenn er mangels Schuldbeweises auf Freispruch plädiert (4 b v o r § 137), weil die Bestrafung nicht durch die Schuld ausgelöst wird, sondern durch die Überführung in einem prozeßordnungsgemäßen Verfahren. A b e r es ist einzuräumen, daß der W e g von der erlaubten, sogar gebotenen Ausnutzung der Prozeßsituation zur Begünstigung manchmal nahe liegt. D a h e r ist streng zu scheiden zwischen dem Vorenthalten und d e m Verfalschen ungünstiger Beweise; zwischen der Belehrung über das Schweigerecht und dem R a t , ein beabsichtigtes Geständnis zu unterlassen oder gar ein abgegebenes entgegen der Wahrheit zu widerrufen ( B G H N J W 1952 894; O L G Celle H E S t . 3 23 = N J W 1950 717); zwischen der Kritik v o n Zeugen im Gerichtssaal und öffentlicher Kritik mit dem Ziele, auf Zeugen einzuwirken, die Unwahrheit zu sagen (vgl. R G J W 1926 2757). N u r wenn der Verteidiger die Bestrafung dadurch vereiteln will, daß er sich bewußt durch prozeßordnungswidrige Eingriffe der Wahrheitsforschung hemmend in den W e g stellt, ist er wegen Begünstigung als Verteidiger unfähig. D a g e g e n setzt die Unfähigkeit nicht voraus, daß der Tatbestand des § 257 StGB erfüllt ist ( P r a m a n n 135). A u f der anderen Seite umfaßt die Begünstigung auch andere Straftat-

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Für den Grundsatz ist es unerheblich, daß das Bundesverfassungsgericht die Entscheidung des Bundesgerichtshofs mit Recht schon deshalb aufgehoben hat, weil der Eingriff in die freie Berufsausübung unverhältnismäßig war (BVerfGE 22 122 = N J W 1967 2053; oben 2).

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§ 138 Anm. III 9 - 1 2

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

bestände, wie Nötigung (BGHSt. 9 20) und Bedrohung ( P r a m a n n 57), wenn sie von dem Willen getragen sind, die Wahrheitsforschung zu vereiteln und den Beschuldigten dadurch prozeßordnungswidrig dem Verfahren zu entziehen. 9. Verfahrenssabotage. In den Fällen 2 bis 6 ist die Unfähigkeit des Verteidigers zur Verteidigung damit begründet, daß er die Interessen seines Mandanten nicht unbefangen wahrnehmen könnte. Bei der Begünstigung (8) tritt die andere Komponente des Verteidigers als „Organ der Rechtspflege" in den Vordergrund, der sich der Wahrheitsforschung nicht in den Weg stellen darf. Bei der Begünstigung ist diese Verpflichtung auf das Gebot zur Wahrheit (4 a vor § 137) zurückzuführen. Es besteht aber auch unabhängig von dieser Grundlage: Auch der Verteidiger dient der Wahrheitsforschung, in den Grenzen, die ihm Treue- und Schweigepflicht gegenüber dem Mandanten setzen, im Wege des prozeßordnungsgemäßen Verfahrens (3 vorl. Absatz vor § 37). Macht er dieses Verfahren, wenn auch im Interesse des Angeklagten, unmöglich, ist er zur Verteidigung unfähig. Eine solche Verfahrenssabotage kann der Verteidiger dadurch betreiben, daß er dauernd: abgelehnte Anträge wiederholt; unzulässige Ablehnungen anbringt; über § 257 a hinaus mit Erklärungen das Plädoyer vorwegnimmt; bereits erledigte Vorhaltungen an Zeugen wieder aufnimmt; nach rechtlichem Gehör und gründlicher Erörterung ergangene Gerichtsbeschlüsse angreift; und vor ihrer Ausführung bereits gewürdigte Erklärungen nochmals vorbringt und ähnl. mehr. Unternimmt er solche ständigen Wiederholungen, obwohl er weiß, daß sie prozessual unzulässig und nach der bekanntgegebenen Stellungnahme des Gerichts sachlich erfolglos sind, in der Absicht, das Gericht zu zermürben und ein geordnetes Verfahren unmöglich zu machen und schließlich zu „sprengen", ist er zur Verteidigung unfähig (KG JW 1933 484) 22 . 10. Verrat von Staatsgeheimnissen. Der Bundesgerichtshof hat einen Verteidiger ausgeschlossen, weil die Gefahr bestand, daß er ihm durch den Prozeß bekannt werdende Staatsgeheimnisse an Einrichtungen außerhalb der Bundesrepublik preisgeben werde (BGHSt. 8 194). Der Tatbestand begründet keine Unfähigkeit des Verteidigers 23 , wird aber wegen der Ausschließung (13 ff.) und der Rechtsmittel (16) hier mit behandelt. Die Ausschließung ist allein damit zu begründen, daß der Schutz wichtiger Staatsgeheimnisse der freien Verteidigerwahl bei Abwägung beider Rechtsgüter vorgezogen werden muß 24 . 11. Strafbare Handlungen, die in der Absicht begangen werden, die Wahrheitsforschung zu vereiteln und den Beschuldigten auf diese Weise der Bestrafung zu entziehen, sind bei der Verteidigungsbegünstigung (8) behandelt worden. Sonstige strafbare Handlungen, z. B. Beleidigungen oder Bedrohungen ohne jene Absicht, machen die Verteidigung nicht prozeßordnungswidrig und schließen den Verteidiger nicht aus. Das Gericht muß sich mit der strafrechtlichen Verfolgung begnügen, die es veranlassen kann 25 . 12. Sitzungspolizeiliche Gründe können nicht zum Ausschluß eines Verteidigers führen 26 . Die Frage, ob das Verbot, (etwa ohne Robe) sachliche Erklärungen abzugeben (KG NJW 1970 482), unzulässig ist, weil es einem Ausschluß gleichkommt ( A r n d t DRiZ 1969 188). wird bei § 176 GVG behandelt. 22

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Ebenso H e n k e l § 35 IV 2a; D a h s NJW 1959 1162; a. A. M ü l l e r - S a x 2 f vor § 137. - Ohne Belang ist hier, daß das Kammergericht in dem sog. Felseneck-Prozeß die Unfähigkeit auch aus anderen Gründen festgestellt hat. Für die allgemeine Betrachtung des losgelösten Tatbestandes ist es unerheblich, daß im entschiedenen Fall möglicherweise der Unfahigkeitsgrund der Abhängigkeit (6) konkurrierte, auf den A n s c h ü t z (72) allein abstellt. E b S c h m i d t JZ 1957 721; R o x i n § 19 D l c ; P r a m a n n 135 Anm. 1. Die Frage ist meist im Zusammenhang mit BGHSt. 9 20 erörtert worden. Diese Entscheidung ist nahezu allgemein abgelehnt (Ad. A r n d t JZ 1956 376; E b S c h m i d t , Nachtr. 1 13 vor § 137; Kl 2B vor § 137; A n s c h ü t z 74; P r a m a n n 136) und vom Bundesverfassungsgericht aufgehoben worden (BVerfGE 15 227 = JZ 1963 363). Losgelöst von dem entschiedenen Einzelfall kann die Bedrohung als Begünstigungsmittel (8) durchaus unfähig machen, weiter zu verteidigen. G r a f zu D o h n a JW 1932 3673; H a g e m a n n DRiZ 1932 293; A n s c h ü t z 43; D a h s Hdb. 116; M ü l l e r - S a x 2 b vor § 137.

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Elfter Abschnitt. Verteidigung (Dünnebier)

§ 138 Antn. III 13,14

13. Ausschließung. Liegt einer der vorgenannten Fälle in dem Zeitpunkt vor, in dem der Beschuldigte den Verteidiger wählen will, so darf er auf ihn seine Wahl nicht richten und darf der Gewählte eine gleichwohl vorgenommene Wahl nicht annehmen. Tritt der Fall erst nach der Wahl ein, z. B. beim Verteidiger als Zeugen regelmäßig erst in der Hauptverhandlung (OLG Dresden SächsOLG 23 385), hat der Verteidiger sein Amt niederzulegen; der Vorsitzende kann ihm dazu raten oder ihn dazu auffordern. Wird eine Verteidigung trotz eines Ausschließungsgrundes begonnen oder fortgesetzt, so hat das Gericht den Verteidiger, nachdem es ihn gehört hat, durch Beschluß von der Verteidigung auszuschließen (RGSt. 35 191). Die Bestellung des Pflichtverteidigers ist zurückzunehmen (4 zu § 143). Die Staatsanwaltschaft hat in beiden Fällen ggf. Anträge zu stellen. Es ist unzulässig, anstelle der Ausschließung des Verteidigers dessen Rechte zu beschränken, etwa dem als Zeugen benannten Verteidiger die Aktenkenntnis vorzuenthalten 27 . Denn verteidigen kann nur, wer alle Verteidigerrechte hat. Eine Verteidigung ohne Aktenkenntnis ist undenkbar, weil ohne sie nicht geprüft werden kann, ob auch die Entlastungsbeweise voll vorgelegt werden. Nach dem Ausschluß wird regelmäßig die Hauptverhandlung auszusetzen sein, damit der Angeklagte sich einen neuen Verteidiger wählen und dieser sich einarbeiten kann. Auch wenn von zwei Verteidigern nur einer ausscheidet, der verbleibende aber nach dem Verteidigungsplan nur zur Straffrage sprechen wollte, ist die Hauptverhandlung auszusetzen, damit er sich auf das Plädoyer auch zur Schuldfrage vorbereiten kann (RG JW 1926 1218). Wenn die Verteidigung notwendig ist, finden, weil die rechtswidrige Verteidigung unwirksam war, § 141 Abs. 2 und § 145 Abs. 2 und 3 entsprechende Anwendung. Demzufolge müssen alle wesentlichen Teile der Hauptverhandlung, wie Vernehmung des Angeklagten zur Person und Sache, Verlesen des Eröffnungsbeschlusses und Beweisaufnahme, wiederholt werden (BGHSt. 9 244); es genügt nicht, daß der Vorsitzende den neuen Verteidiger unterrichtet (IV 3 zu § 145). 14. Grundlage. Die Ausschließung ist nur zulässig, wenn die Unfähigkeit erwiesen ist. Wird die Unfähigkeit aus der Art und Weise der Verteidigung hergeleitet (7 bis 9), so sind die Umstände nachzuweisen, die die Verteidigung prozeßordnungswidrig machen. Beruht die Unfähigkeit auf Umständen, die in der Person des Verteidigers liegen (3 bis 6), sind diese nachzuweisen. Die Annahme läge nahe, daß die daraus entspringende konkrete Gefahrdung nicht nachgewiesen zu werden brauchte, weil sie aus den Umständen zwingend folge ( P r a m a n n 127 Anm. 5). Da indessen die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (2 Abs. 3) Einzelfallabwägung verlangt, muß in allen Fällen nachgewiesen werden, daß entweder besondere Umstände in der Person des Verteidigers oder die Art und Weise, wie er die Verteidigung führt, im Einzelfall die Interessen des Beschuldigten (3 bis 7) oder die Wahrheitsermittlung (8 bis 9) gefährden. Selbst bei der Beteiligung des Verteidigers an der Straftat, wo zuweilen hinreichender Tatverdacht für ausreichend erachtet wird 28 , ist es nicht undenkbar, daß die Verteidigung keinen Interessengegensatz zutage treten läßt. Das kann z. B. der Fall sein, wenn die ganze Tat geleugnet oder bei zugestandener Tat behauptet wird, es mangele an einem Tatbestandsmerkmal. Die Verteidigung kann dann, wenigstens im ersten Falle, zwar skandalös und standeswidrig sein, gleichwohl aber prozeßordnungsgemäß geführt werden. Das Gericht stellt die Umstände, die die Unfähigkeit — bei Gefahr des Verrats von Staatsgeheimnissen (10) die Ausschließung — begründen, im Wege des Freibeweises fest, hört die Beteiligten dazu und entscheidet durch Beschluß. Die Feststellungen können notwendigerweise nicht den Grad der Sicherheit tragen, wie die nach einer Hauptverhandlung, " O L G Celle NdsRpfl. 1960 259; E b S c h m i d t 2 zu § 138; a. A. B e l i n g LZ 1927 518; O s t l e r 173. — Nicht unzulässig wäre es, einem Verteidiger, von dem Eingriffe in die Substanz der Akten drohen, anstelle der Akteneinsicht eine beglaubigte Abschrift der vollständigen Akten auszuhändigen. Denn das wäre keine Beschränkung, sondern eine modifizierte Form der Akteneinsicht. Indessen wird ein solcher Fall kaum praktisch werden. 28 Hinreichender Verdacht: G a l l a s 263; Voraufl. III 2 b ; P r a m a n n 128; dringender Verdacht: BGHSt. 8 196; K l 2 A vor § 137; A n s c h ü t z 62, 67. - Für den Fall des Parteiverrats verlangt das Oberlandesgericht Oldenburg ( G A 1956 190) dringenden Tatverdacht; strenger K a l s b a c h 594; P r a m a n n 131.

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§ 138 Anm. III 15,16

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

doch muß das Gericht die Überzeugung einer konkret bevorstehenden Gefährdung erlangt haben. Bloße Vermutungen aufgrund noch so eindringlicher, aber doch nicht erwiesener Indizien reichen nicht aus 29 . Dagegen kann, wenn die Prozeßordnungswidrigkeit in einer Straftat liegt, nicht gefordert werden, daß die Feststellungen in einem gegen den Verteidiger gerichteten Strafverfahren (so L u k a n o w 108) getroffen werden. 15. Zuständigkeit. Die Feststellung, daß der Verteidiger in dem Verfahren, in dem er auftritt, ausgeschlossen ist, trifft das mit der Sache befaßte Strafgericht (RGSt. 35 191; BVerfGE 16 217 = NJW 1963 1771; BGHSt. 15 331). Denn es ist über den Inhalt strafprozessualer Bestimmungen zu entscheiden, und das Gericht ist für den prozeßordnungsgemäßen Ablauf verantwortlich. Zudem hat das Gericht nicht nur ein fair, sondern auch ein speedy trial zu gewähren (Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MenschRKonv.). Damit wäre es nicht zu vereinbaren, wenn es auf das — verhältnismäßig schwerfallige — ehrengerichtliche Verfahren zu warten hätte. Auch schlösse die standesrechtliche Mißbilligung nicht aus, daß der Verteidiger sein Verhalten wiederholte. Mit Recht ist deshalb weitgehend anerkannt, daß das mit der Sache befaßte Gericht darüber zu entscheiden hat, ob die Verteidigung prozeßordnungsgemäß ist 30 . Zuständig ist das Gericht, das mit der Sache befaßt ist (BGHSt. 15 326). Danach ist im Ermittlungsverfahren grundsätzlich keine gerichtliche Zuständigkeit gegeben (OLG Düsseldorf NJW 1962 265), es sei denn, daß ein Gericht, etwa der Haftrichter oder Ermittlungsrichter (BGHSt. 8 196), mit der Sache befaßt ist. Die Zuständigkeit des für das Hauptverfahren zuständigen Gerichts (II 4) ist nur begründet, wenn eine Bestellung (§ 141) oder Zulassung (§ 138) in die Zukunft wirkt, nicht aber bei einer Ausschließung, die von dem Gericht, an das die Sache später gelangt, selbständig beurteilt werden kann. Da die Feststellung der Unfähigkeit eine Einschränkung des § 138 enthält, ist für die Zuständigkeit zum Ausschluß nicht § 143, sondern § 138 entsprechend anzuwenden, wo für die Wahl gewisser Verteidiger die Genehmigung des Gerichts, nicht des Vorsitzenden, vorgesehen ist. Daraus ist zu folgern, daß auch für die Beschränkung der Verteidigerwahl die Zuständigkeit des Vorsitzenden ausgeschlossen ist. Vielmehr hat, wie bei der Genehmigung der Wahl einer anderen Person als eines Rechtsanwalts (§ 138 Abs. 2), das Gericht zu entscheiden, auch bei der Abberufung eines Pflichtverteidigers. 16. Anfechtung. Gegen die gerichtliche Entscheidung ist Beschwerde der Staatsanwaltschaft, des Beschuldigten und des Verteidigers (BGHSt. 8 194) statthaft, soweit nicht Beschlüsse des Oberlandesgerichts, auch wenn es im ersten Rechtszug zuständig ist, und des Bundesgerichtshofs in Rede stehen (§ 304 Abs. 4). Die Beschwerde wird nicht dadurch ausgeschlossen, daß die Entscheidung die eines erkennenden Gerichts ist. Für das Beschwerderecht des Verteidigers folgt das aus § 305 Satz 2, letztem Halbsatz, für das des Angeklagten daraus, daß die Entscheidung in keinem Zusammenhang mit der Urteilsfällung steht (OLG Bremen NJW 1951 454). Ist der Verteidiger ausgeschlossen, kann er zwar für sich (§ 304 Abs. 2), aber nicht mehr für den Beschuldigten Beschwerde einlegen (§ 307 Abs. 1; K G JW 1932 1772). Wenn ein Antrag der Staatsanwaltschaft, einen Verteidiger auszuschließen, abgelehnt wird, ist nur diese beschwert. Der Mitbeschuldigte ist nur beschwert, wenn sein Verteidiger entgegen dem Antrag der Staatsanwaltschaft als Verteidiger eines anderen Beschuldigten nicht aus dem Grunde des Interessenwiderstreites ausgeschlossen wird. Im übrigen gilt das II 5 Gesagte entsprechend. Hat das Gericht einen Verteidiger zu Unrecht ausgeschlossen, so kann das der Angeklagte mit der Revision rügen (§§ 336, 338 Nr. 8). Wegen des Berufungsverfahrens s. II 5 29 30

A l s b e r g JW 1926 2756; G r a f z u D o h n a JW 1932 3674; G a l l a s 263. H e n k e l § 35 IV 4; P e t e r s § 29 IV 4 c Abs. 3; R o x i n § 19 II 1 c Abs. 4, 5; K l 2 vor § 137; M ü l l e r - S a x 2 g vor § 137; 4 zu § 146; A n s c h ü t z 63; P r a r a a n n 140; a. A., meist unter Verweisung auf die standesrechtliche Ehrengerichtsbarkeit, B e l i n g § 38 II Anm. 3; v. W i n t e r f e l d 905; A d . A r n d t NJW 1964 2147. G a l l a s erkennt die Zuständigkeit des mit der Sache befaßten Gerichts nur für die Fälle des „rechtlichen Nichtdürfens" (2 Anm. 12) an und verweist den Rest zur Standesgerichtsbarkeit. Man sollte nicht übersehen, daß seine Arbeit zu einer Zeit veröffentlicht wurde, wo ihm die anwaltliche Freiheit eher durch die ordentlichen als durch die Standesgerichte gefährdet erscheinen durfte.

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Elfter Abschnitt. Verteidigung (Dünnebier)

§ 138 Anm. III 17; IV 1,2

Abs. 3. Ebenso kann ein Angeklagter rügen, daß der Verteidiger eines Mitbeschuldigten wegen Interessenwiderstreites nicht ausgeschlossen worden sei. Da der Ausschluß Rechtsund nicht Ermessensentscheidung ist, ist das Revisionsgericht in der Würdigung der tatsächlichen Umstände frei, wird jedoch einer Bekundung des Tatrichters, ein Verteidiger sei wegen seiner Zeugenvernehmung von wesentlichen Teilen der Hauptverhandlung ausgeschlossen gewesen, besondere Beachtung zu schenken haben. 17. Reform, v o n W i n t e r f e l d bekämpft die Gewinnung von Unfahigkeitsgründen praeter legem und die Feststellung der Unfähigkeit durch den Strafrichter. Er verlangt den Erlaß fester Normen durch den Gesetzgeber und die Zuweisung der Entscheidung an die Ehrengerichtsbarkeit (S. 905). Dem ersten Verlangen ist zuzustimmen. Die Ableitung so tief eingreifender Rechtssätze aus einer — unzulänglichen — Gesetzesbestimmung und aus allgemeinen Grundsätzen ist zwar nicht unzulässig, aber doch unerwünscht, zumal da die Grenzziehung schwierig ist. Eine Regelung, die Grenzen setzt, aber die Entwicklung nicht verschließt, ist daher erforderlich 31 . Dabei wird allerdings nicht darauf verzichtet werden können, die Zuständigkeit des Strafgerichts festzulegen. Diejenige des Ehrengerichts wäre nicht nur unpraktisch im Hinblick auf den Fortgang des laufenden Verfahrens, sondern auch systemwidrig, weil nicht die das Ehrengericht angehende Frage der allgemeinen Zulassung in Rede steht, sondern diejenige der Verteidigungsunfähigkeit in einem bestimmten Einzelverfahren, das der Herrschaft des Strafgerichts unterliegen muß. IV. Vollmacht. 1. Verteidigervollmacht. Von Wahl eines Verteidigers spricht das Gesetz, um die Möglichkeit des Auswählens zu betonen. Rechtlich erheblich ist nicht die Wahl, sondern im Verhältnis zum Gewählten der Abschluß eines Vertrages (in der Regel auf Geschäftsbesorgung), der mit der Annahme des Gewählten zustande kommt, und im Verhältnis nach außen, namentlich zum Gericht, die Bevollmächtigung. Ob der Gewählte annimmt, steht ihm frei; eine Verpflichtung dazu besteht weder für Rechtsanwälte (§ 675, § 663 Satz 1 BGB) noch für Hochschullehrer, noch — im Falle des § 138 Abs. 2 — für Rechtsbeistände. Im Falle des § 138 Abs. 2 ist die Vollmacht bis zur Genehmigung schwebend unwirksam. Die strafprozessuale Vollmacht begründet als Ausdruck der Wahl das Verteidigerverhältnis; mit der bürgerlich-rechtlichen Vertretungsvollmacht hat sie nichts zu tun. Wer sie erteilt, braucht, wie sich aus § 137 Abs. 2 ergibt, nicht geschäftsfähig zu sein. Eine Unwirksamkeit des Vertrags mit dem Anwalt ist fiir die Gültigkeit der Wahl und der Vollmacht ohne Bedeutung. Die Vollmacht ermächtigt zu allen Verteidigungshandlungen, namentlich auch dazu, Rechtsmittel einzulegen (§ 297), doch bedarf die Rücknahme eines Rechtsmittels ausdrücklicher Ermächtigung (§ 302 Abs. 2). 2. Vertretungsvollmacht. Da der Verteidiger Beistand (§137 Abs. 1) und nicht Vertreter des Beschuldigten ist, ist von der Verteidigungsvollmacht die Vertretungsvollmacht zu scheiden. Eine solche ist erforderlich in den Fällen von § 234, § 329 Abs. 1, § 350-Abs. 2, § 387 Abs. 1, § 411 Abs. 2, § 413 Abs. 4 in Verbindung mit § 411 Abs. 2. Es genügt eine zwar ausdrücklich erteilte, aber dem Inhalte nach allgemeine Vertretungsvollmacht; auf die besonderen Umstände, etwa: den Angeklagten in dessen Abwesenheit zu vertreten, braucht nicht abgestellt zu werden (BGHSt. 9 357). Wie die Prozeß vollmacht ist auch die Vertretungsvollmacht keine bürgerlich-rechtliche Vertretungsvollmacht, sondern Prozeßhandlung. Sie kann daher auch von einem Geschäftsunfähigen erteilt werden. Soweit eine solche ausdrücklich erteilte Vertretungsvollmacht nicht erforderlich ist, wird einer Verteidigungsvollmacht grundsätzlich eine allgemeine Vertretungsvollmacht zu entnehmen sein. Demzufolge kann der nach § 138 Abs. 2 Gewählte, wenn ihn das Gericht nicht zuläßt, zwar keine Revision, wohl aber — nicht als Verteidiger, aber als Vertreter des Beschuldigten — wirksam Berufung einlegen. Eine Vollmacht, den Beschuldigten bei der Annahme von Ladungen zu vertreten, muß jedoch wegen der besonderen Folgen stets ausdrücklich erteilt werden (§ 145 a Abs. 3), doch ist es zulässig, sie für sämtliche Zustellungen des Verfahrens abzugeben. 31

Vgl. feVerfGE 15 2 3 3 = JZ 1963 364; P r a m a n n 143.

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§ 138 Anm. IV 3—5

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

§ 139 3. Für den Nachweis der Vollmacht (1) ist keine Form vorgeschrieben. Es genügt, wenn der Beschuldigte die Wahl anzeigt oder durch konkludente Handlungen erkennen läßt. Dazu reicht es aus, wenn er mit einem Wahlverteidiger zur Hauptverhandlung erscheint (RGSt. 25 153). Alsdann ist die Vollmacht für alle nachfolgenden Verteidigungshandlungen nachgewiesen. Der Pflichtverteidiger muß dagegen eine besondere Vollmacht nachweisen, wenn er den Beschuldigten außerhalb seiner Pflichtverteidigung vertreten will, etwa bei einer Vollstreckungsbeschwerde. Der Nachweis der Vollmacht kann auch nachträglich erbracht werden. Erklärungen, namentlich Rechtsmittel oder sonstige fristgebundene Erklärungen, sind daher rechtswirksam, wenn der Verteidiger bevollmächtigt war, als er sie abgab, auch wenn er das erst nach Ablauf der Frist nachweist (RGSt. 21 125,46 372, 66 210). Soweit keine Fristen zu beachten sind, kann auch ganz vom Nachweis einer Vollmacht abgesehen werden. Namentlich greift die Vermutung der Bevollmächtigung Platz, wenn ein Rechtsanwalt, der sich als Verteidiger bezeichnet, den der Beschuldigte aber nicht als solchen angezeigt hat, schriftliche Erklärungen zu den Akten einreicht. Die Vertretungsvollmacht (2) muß schriftlich erteilt sein. Das kann das Gericht nur durch Einsicht nachprüfen. Daher ist der Nachweis der Vertretervollmacht durch Vorlage der schriftlichen Vollmachtsurkunde zu führen. Erteilt der mit der Vertretung Beauftragte Untervollmacht, braucht er das nicht schriftlich zu tun (OLG Hamm NJW 1963 1793). Denn die Schriftlichkeit soll den ernstlichen Willen des Beschuldigten bekunden, sich vertreten zu lassen. Die Ernstlichkeit des Willens des Vertreters, in der Regel eines Rechtsanwalts, bedarf dagegen keiner Dokumentation. Die Einwilligung des Beschuldigten in die Unterbevollmächtigung berührt nur die Beziehung zwischen ihm und dem Vertreter und ist dem Gericht nicht nachzuweisen (6 b vor § 137). 4. Die Dauer der Vollmacht richtet sich nach ihrem Inhalt. Sie kann auf einzelne Prozeßhandlungen (Akteneinsicht) oder Verfahrensabschnitte (Haftverfahren, Tatsacheninstanz, Revisionsinstanz) beschränkt, auch zurückgenommen und vom Verteidiger, wenn auch nicht zur Unzeit (§ 25 Abs. 2 RiAA), gekündigt werden. Ist sie nicht beschränkt, so gilt sie für die ganze Dauer des Verfahrens, einschließlich des Vollstreckungsverfahrens (OLG Hamm NJW 1955 1201), des Gnadenverfahrens und des Wiederaufnahmeverfahrens, doch umfaßt die in der Prozeßvollmacht erteilte Ermächtigung zur Zurücknahme von Rechtsmitteln nicht ohne weiteres die Zurücknahme eines Wiederaufnahmeantrags (OLG Braunschweig NdsRpfl. 1960 117). Sie endet mit dem Tod des Beschuldigten (BayObLGSt. 27 107 = JW 1927 2723; KG JR 1968 433). Eine Rücknahme der Vollmacht ist nicht schon darin zu erblicken, daß der Beschuldigte eine einzelne Prozeßhandlung selbst vornimmt (RGSt. 25 153). Ihrem Sinn nach endet die Vollmacht, wenn die Zulassung des Rechtsanwalts erlischt (§ 13 BRAO) oder zurückgenommen wird (§§ 14, 15 BRAO). Soweit nichts anderes vereinbart ist, bleibt eine in der Verteidigungsvollmacht enthaltene Vertretungsvollmacht wirksam. Auf die Unfähigkeit des Anwalts, als Verteidiger aufzutreten, hat die fortbestehende Vertretungsvollmacht, wie selbstverständlich, keinen Einfluß (RGSt. 61 105). 5. Beim Fehlen einer Vollmacht sind Erklärungen rechtsunwirksam. Sie werden nicht dadurch rechtswirksam, daß nachträglich Vollmacht erteilt wird (RGSt. 29 257).

§ 139 Der als Verteidiger gewählte Rechtsanwalt kann mit Zustimmung des Angeklagten die Verteidigung einem Rechtskundigen, der die erste Prüfung für den Justizdienst bestanden hat und darin seit mindestens einem Jahr und drei Monaten beschäftigt ist, übertragen. Entstehungsgeschichte: Die Beschäftigungszeit ist durch Art. II der VO der RReg. v. 1.6. 1920 (RGBl. I 1108) auf ein Jahr und drei Monate herabgesetzt worden. 896

Elfter Abschnitt. Verteidigung (Dünnebier)

§ 1 3 9 Anm. 1—5 § 140

1. Sinn und Inhalt. Die Erwägung, durch die Vorschrift dem Mangel an verteidigenden Rechtsanwälten abzuhelfen ( H a h n Mat. 1 968), ist überholt. Die Bestimmung behält aber ihre Berechtigung durch die Notwendigkeit, den beim Rechtsanwalt auszubildenden Referendar (§ 5 Abs. 3 Nr. 1 DRiG) auch in der Verteidigung zu schulen (OLG Dresden A l s b . E 1 336). Der Inhalt der Vorschrift besteht darin, daß die in ihr bezeichneten Rechtskundigen nicht der Genehmigung des Gerichts bedürfen, obwohl sie zu den in § 138 Abs. 2 angeführten „anderen Personen" gehören (RGSt. 61 106). Die Frage, ob der Referendar der Genehmigung seiner Vorgesetzten bedarf, bleibt von § 139 unberührt; der Richter hat sie nicht zu prüfen. 2. Wahlverteidigung durch Rechtsanwalt. § 139 gilt nur für die Vertretung des gewählten Verteidigers (§138 Abs. 1), aber hier sowohl im Falle der gewillkürten als auch der notwendigen Verteidigung. Wegen der Vertretung des Pflichtverteidigers durch Referendare s. 3 b Abs. 2 zu § 142. § 139 ist nach dem regelmäßigen Ausbildungszweck auf Rechtsanwälte beschränkt. Rechtslehrer an deutschen Hochschulen dürfen daher eine von ihnen übernommene Verteidigung nicht in entsprechender Anwendung von § 139 auf Referendare übertragen, die bei ihnen als Assistenten beschäftigt sind. 3. Zustimmung. Die Übertragung bedarf der Zustimmung des Beschuldigten. Aus der Verwendung des Wortes „Angeklagter" ist nicht zu folgern, daß die Vorschrift erst Anwendung findet, wenn die Eröffnung des Hauptverfahrens beschlossen ist (§ 157). Es muß vielmehr ein ungenauer Sprachgebrauch angenommen werden Die Zustimmung kann allgemein für die Referendare des Anwalts, auch mündlich, erteilt werden. Sie betrifft nur das Verhältnis des Beschuldigten zum Anwalt und braucht daher dem Gericht nicht nachgewiesen zu werden. 4. Referendare. Die Vorschrift handelt, wie § 142 Abs. 2 von Rechtskundigen, die die erste Staatsprüfung bestanden haben und sich mindestens ein Jahr und drei Monate im Justizdienst befinden. Obwohl für den gemeinten Personenkreis seit Jahrzehnten in ganz Deutschland der Ausdruck „Gerichtsreferendare" eingeführt ist, beharrt der Gesetzgeber auf der farblosen Bezeichnung „Rechtskundiger". Nach dem Wortlaut könnte sich das auf Justizdienst bezogene Wort „darin" auch auf andere Justizzweige als den juristischen Vorbereitungsdienst erstrecken. Indessen ist das, was in § 142 aus dem dort gebrauchten Wort „Ausbildung" folgt, nicht der Fall (4 zu § 142). Vielmehr muß der Rechtskundige nach erfolgreicher erster Staatsprüfung zur Vorbereitung auf das Amt des Richters oder Staatsanwalts als Referendar im Justizdienst beschäftigt sein. Die Vorschrift hat in erster Linie Bedeutung für Referendare in der Anwaltsstation, ist aber nicht auf solche beschränkt. Zufolge der Beschränkung auf den Vorbereitungsdienst fallt nicht unter die Vorschrift, wer sich, nachdem er die erste Staatsprüfung bestanden hat, dem gehobenen Justizdienst als Rechtspfleger oder als Amtsanwalt zuwendet. 5. Die Übertragung wird durch Untervollmacht bewirkt (6 vor § 137).

§ 140 (1) Die Mitwirkung eines Verteidigers ist notwendig, wenn 1. die Hauptverhandlung im ersten Rechtszug vor dem Oberlandesgericht oder dem Landgericht stattfindet; 2. dem Beschuldigten ein Verbrechen zur Last gelegt wird; ' E b S c h m i d t 8; Kl 1; wohl auch M ü l l e r - S a x l c (da er von der Zustimmung des Beschuldigten spricht); a. A. — Angeklagter ist nicht im Sinne von Beschuldigter zu verstehen — F e i s e n b e r g e r 2.

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§ 140 Anm. I 1

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

3. das Verfahren zur Unterbringung in einer Heil- oder Pflegeanstalt oder zur Untersagung der Berufsausübung fuhren kann; 4. der Beschuldigte taub oder stumm ist; 5. der Beschuldigte sich mindestens drei Monate in derselben oder in einer anderen Sache in Untersuchungshaft oder auf Grund behördlicher Anordnung in einer Heil- oder Pflegeanstalt befunden hat und nicht mindestens zwei Wochen vor Beginn der Hauptverhandlung aus der Untersuchungshaft oder der Heil- oder Pflegeanstalt entlassen wird; 6. zur Vorbereitung eines Gutachtens über den Geisteszustand des Beschuldigten seine Unterbringung in einer öffentlichen Heil- oder Pflegeanstalt in Frage kommt; 7. die Hauptverhandlung gegen einen Abwesenden stattfindet (§ 277). (2) In anderen Fällen bestellt der Vorsitzende auf Antrag oder von Amts wegen einen Verteidiger, wenn wegen der Schwere der Tat oder wegen der Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage die Mitwirkung eines Verteidigers geboten erscheint, oder wenn ersichtlich ist, daß sich der Beschuldigte nicht selbst verteidigen kann. (3) Die Bestellung eines Verteidigers nach Absatz 1 Nr. 5 ist aufzuheben, wenn der Beschuldigte mindestens zwei Wochen vor Beginn der Hauptverhandlung aus der Untersuchungshaft oder der Heil- oder Pflegeanstalt entlassen wird. Die Bestellung des Verteidigers nach § 117 Abs. 4 bleibt unter den in Absatz 1 Nr. 5 bezeichneten Voraussetzungen für das weitere Verfahren wirksam, wenn nicht ein anderer Verteidiger bestellt wird. Entstehungsgeschichte: Die Vorschrift ist mehrfach geändert worden 1 mit der Tendenz, die notwendige Verteidigung nach und nach weiter auszubauen, aber auch, um Änderungen der Gerichtsverfassung gerecht zu werden. Bemerkenswert ist die Einfügung der Nr. 5 durch Art. 3 Nr. 52 VereinhG 2 , die Ausdehnung der notwendigen Verteidigung auf alle Strafkammersachen und die Beseitigung des Erfordernisses eines Antrags in Verbrechens- und Haftsachen durch Art. 3 Nr. 1 StPAG. Schrifttum: K a p p e , Ist die Entscheidung über die Bestellung eines Pflichtverteidigers gemäß § 140 Abs. 2 StPO eine Ermessensentscheidung? GA 1960 357; S a r s t e d t , Zur Frage der Bestellung des bisherigen Wahlverteidigers zum Pflichtverteidiger, JR 1957 470; S e i b e r t , Zur notwendigen Verteidigung, DRiZ 1956 152. I. Notwendige Verteidigung. 1. Sinn der Vorschrift. Die Bestimmungen über die notwendige Verteidigung wollen sichern, daß in allen schwerwiegenden Fällen der Angeklagte im staatlichen Interesse eines geordneten Ablaufs des Verfahrens (BGHSt. 3 398) rechtskundigen Beistand erhält. Durch das Wirken des Verteidigers soll der prozeßordnungsmäßige Ablauf des Verfahrens sichergestellt werden. Dafür haben zwar auch Richter und Staatsanwalt zu sorgen. Das Gesetz geht jedoch davon aus, daß jene Pflicht am besten durch Teilung der Aufgaben erfüllt wird und daß daher eine Wahrnehmung der Rechte des Angeklagten mit dem Blick auf dessen Interessen neben der Tätigkeit von Richter und Staatsanwalt notwendig ist. Zu diesem Zweck sichern die Vorschriften der §§ 140ff. die Verteidigung unabhängig davon, ob der Beschuldigte die Kosten seiner Verteidigung selbst tragen kann (OLG Düsseldorf NJW 1952 1151; OLG Hamm MDR 1958 707). Auch spielt es keine Rolle, ob er sich selbst verteidigen kann; das Gesetz geht von seiner Befangenheit aus. Daher ist die Verteidigung auch dann notwendig, wenn ein Rechtsanwalt Angeklagter ist (BGH MDR 1954 564). Soweit die Verteidigung notwendig ist, findet ohne Mitwirkung des Verteidigers keine ordnungsgemäße Hauptverhandlung statt; ein gleichwohl ergangenes Urteil ist der Aufhebung durch den absoluten Revisionsgrund des § 338 Nr. 5 ausgesetzt (14 zu § 141). 1

2

Die wichtigsten Änderungen enthalten die VO über Gerichtsverfassung und Strafrechtspflege vom 4. 1. 1924 (RGBl. I 15); Art. 2 Nr. 11 A G zum Gewohnheitsverbrechergesetz vom 24. 11. 1933 (RGBl. I 1000); § 20 der VereinfVO vom 1. 9. 1939 (RGBl. I 1658); §§ 32, 33 der ZustVO vom 21. 2. 1940 (RGBl. I 405); Art. 3 Nr. 52 VereinhG; Art. 9 Nr. 7 des 1. StrRG; Art. 2 Nr. 3 des Gesetzes zur allgemeinen Einführung eines zweiten Rechtszuges in Staatsschutz — Strafsachen vom 8. 9. 1969 (BGBl. I 1582). Eingefügt vom Rechtsausschuß; BTDrucks. 1 1138, S. 48; Vhdlgen. des Rechtsausschusses, S. 57.

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Elfter Abschnitt. Verteidigung (Dünnebier)

§ 140 Anm. I 2, 3

Das Recht auf notwendige Verteidigung ist auch jedem Verzicht entzogen (RGSt. 25 181)3. Jedoch werden einzelne Prozeßhandlungen des Angeklagten, z. B. ein Rechtsmittelverzicht, in ihrer Wirksamkeit nicht dadurch beeinträchtigt, daß sie beim Fehlen eines notwendigen Verteidigers vorgenommen werden (OLG Hamm JZ 1957 759). 2. Umfang. Die Verteidigung ist stets in bezug auf einen einzelnen Beschuldigten notwendig, nicht in bezug auf ein Verfahren. Sind an einem Verfahren mehrere Täter beteiligt, so sind die Voraussetzungen bei jedem von ihnen zu prüfen. Im Falle der Nr. 1 muß freilich das Ergebnis bei allen gleich sein. Ebenso ist es im Falle der Nr. 7, weil das Abwesenheitsverfahren, als ein Sonderverfahren schon aus praktischen Gründen, nicht mit einem regelmäßigen Hauptverfahren verbunden werden kann. In den sonstigen Fällen aber kann die Notwendigkeit der Verteidigung selbst dann verschieden zu beurteilen sein, wenn mehrere Beteiligte an derselben Tat, teils als Täter, teils als Gehilfen, teilgenommen haben. Nur wenn die Teilnahme sich auf ein Verbrechen bezieht (Nr. 2), ist die Verteidigung für alle Beteiligten notwendig. Dagegen ist bei Verbindung mehrerer Sachen gegen denselben Angeklagten zufolge der Regel des § 5 die Verteidigung für das ganze Verfahren notwendig, wenn mit Strafsachen, wegen deren die Verteidigung notwendig ist, nach §§ 2 bis 4 solche verbunden werden, die diese Notwendigkeit nicht begründen (1 zu § 5; RGSt. 67 12; BGH NJW 1956 1767). Denn die Verbindung schließt die Sachen zu einem einheitlichen Verfahren zusammen (5 zu § 4). Im Gegensatz zu dieser Sachverbindung läßt die bloße Verhandlungsverbindung (§ 237) die einzelnen Sachen selbständig, so daß die Frage, ob die Verteidigung notwendig ist, für verschiedene gegen denselben Angeklagten gleichzeitig verhandelte Sachen verschieden sein kann. Den Angeklagten muß das verwirren. Es wird daher, wenn irgend angängig, nach Absatz 2 zu verfahren sein. 3. Weitere Fälle. § 140 erschöpft die Fälle der notwendigen Verteidigung nicht. Nach § 68 J G G ist dem jugendlichen Beschuldigten außer in den Fällen, in denen auch einem Erwachsenen ein Verteidiger zu bestellen ist, dann ein solcher beizuordnen, wenn dem Erziehungsberechtigten und dem gesetzlichen Vertreter ihre Rechte nach dem Jugendgerichtsgesetz entzogen sind oder wenn zur Vorbereitung eines Gutachtens über den Entwicklungszustand (§ 73 JGG) die Unterbringung des Beschuldigten in Frage kommt. Die Vorschriften sind im Verfahren gegen Heranwachsende entsprechend anzuwenden (§ 109 Abs. 1 JGG). Auch in diesen Fällen ist die Verteidigung ebenso notwendig wie in den Fällen des § 140 Abs. 1 (BGH GA 1959 178). Nach § 117 Abs. 4 ist dem Beschuldigten für die Dauer der Untersuchungshaft auf Antrag ein Verteidiger zu bestellen, wenn der Vollzug der Untersuchungshaft mindestens drei Monate gedauert hat. Findet vorher im Haftprüfungsverfahren eine mündliche Verhandlung statt und wird der Beschuldigte dazu nicht vorgeführt, so ist ihm, wenn er noch keinen Verteidiger hat, für die mündliche Verhandlung einer zu bestellen (§ 118 a Abs. 2 Satz 2 und 3). Dasselbe ist der Fall in der Revisionshauptverhandlung, doch ist hier die Verteidigerbestellung von einem Antrag abhängig (§ 350 Abs. 3). § 81 Abs. 2 ist neben § 140 Abs. 1 Nr. 6 bedeutungslos. — Eine auf einen Prozeßabschnitt beschränkte notwendige Verteidigung ist in § 32 Abs. 2 D A G geregelt. Dagegen ist es in dem Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht über Normenkontrolle auf Antrag eines Strafgerichts (Art. 100 GG) nicht zulässig, einen Pflichtverteidiger beizuordnen (BVerfGE 1 108 = NJW 1952 299), selbst wenn in der Sache, in der es zur Vorlage kommt, die Verteidigung notwendig ist. Denn das Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht eröffnet keine Instanz, auch keine Zwischeninstanz, des Strafverfahrens. Bei einer Reform sollte § 81 Abs. 2 gestrichen und § 117 Abs. 4 nach § 140 übertragen werden. 3

Die Rechtsprechung zum Verzicht bezog sich auf die inzwischen beseitigten Fälle, wo die Verteidigung erst durch einen Antrag des Angeklagten notwendig werde. Sie ist insgesamt erledigt.

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§ 140

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

Anm. II 1, 2 II. Katalog (Absatz 1). 1. Oberlandesgericht und Landgericht (Nr. 1). Das Oberlandesgericht ist nach § 120 GVG nur in Staatsschutzsachen zuständig. Eine breite Zuständigkeit hat dagegen das Landgericht. Der Begriff umfaßt in bezug auf eine Hauptverhandlung im ersten Rechtszug die Strafkammer (§ 60, § 74 Abs. 1 GVG), auch als Staatsschutzkammer (§ 74 a GVG) und als Jugendschutzkammer (§ 74 b GVG), sowie das Schwurgericht (§ 79 GVG). Es ist bedauerlich, daß die Verteidigung nicht auch für Verhandlungen vor dem erweiterten Schöffengericht für notwendig erklärt worden ist. Wenn eine Sache so umfänglich ist, daß ein zweiter Amtsrichter zugezogen werden muß, wird in aller Regel nach Absatz 2 die Mitwirkung eines Verteidigers wegen der Schwierigkeit der Sachlage geboten erscheinen (OLG Bremen NJW 1955 1529). Es wäre zweckmäßig gewesen, den Beschuldigten und den Vorsitzenden nicht auf den Weg des Absatzes 2 zu verweisen, sondern die Verteidigung nach Absatz 1 für notwendig zu erklären. Die Vorschrift findet Anwendung, wenn vor einem der genannten Gerichte in einem erstinstanzlichen Verfahren eine Hauptverhandlung, gleichgültig ob gegen einen Erwachsenen oder einen Jugendlichen (§ 102 Satz 1, § 103 Abs. 1 JGG), stattfindet, also nach Aufruf der Sache (§ 243 Abs. 1 Satz 1) verhandelt wird. Da aber der Verteidiger zu bestellen ist, wenn der Angeschuldigte nach § 201 aufgefordert wird, sich über die Anklageschrift zu erklären (§ 141 Abs. 1) — damit sich schon der Verteidiger gegen die Eröffnung des Hauptverfahrens wenden kann —, muß die Vorschrift, um mit § 141 Abs. 1 im Einklang zu stehen, dahin gelesen werden, daß die Verteidigung notwendig ist, wenn bei dem Oberlandesgericht oder dem Langericht eine Anklage eingereicht wird; auf den Wortlaut („stattfindet", nicht „stattfinden soll") kann angesichts des klaren Wortlauts des § 141 Abs. 1 nicht abgestellt werden. Bei einer Reform wird die Fassung zu ändern sein. Auf die sachliche Zuständigkeit des angerufenen oder verhandelnden Gerichts kommt es nicht an. Es genügt vielmehr, daß eine Hauptverhandlung, sei es auch unter Verletzung der Zuständigkeitsvorschriften, vor einem der genannten Gerichte stattfindet oder mit der Anklage begehrt wird, sie dort stattfinden zu lassen. 2. Verbrechen (Nr. 2) ist eine Handlung, die im Mindestmaß mit Freiheitsstrafe von einem Jahr oder darüber bedroht ist (§ 1 Abs. 1 StGB). Entscheidend ist nicht die zu erwartende, sondern die angedrohte (BGHSt. 1 304) Regelstrafe; wenn das Gesetz verschiedene Strafen androht, die schwerere auch dann, wenn im Einzelfall die mildere ausgeworfen wird (BGHSt. 2 393; 4 227). Strafschärfungen machen ein Vergehen nicht zu einem Verbrechen und Strafmilderungen ein Verbrechen nicht zu einem Vergehen (§ 1 Abs. 4 StGB). Daher ist der minder schwere Fall eines Verbrechens kein Vergehen und der besonders schwere Fall eines Vergehens kein Verbrechen. Qualifizierte Straftaten (z. B. §§ 244, 250) sind nach ihrer Strafandrohung zu beurteilen. Besonders schwere Fälle sind selbst dann keine qualifizierten Tatbestände, wenn ihnen ein benannter Fall als Beispiel beigefügt ist (BGHSt. 11 241). Die Strafmilderungen für Versuch (§ 44 StGB), Beihilfe (§ 49 Abs. 2 StGB), im Falle des § 51 Abs. 2 StGB, und beim Verbotsirrtum (BGHSt. 2 209) ändern den Verbrechenscharakter nicht. Zur Last gelegt wird dem Beschuldigten ein Verbrechen, wenn es zufolge einer Anklageschrift (§ 200), einer Nachtragsanklage (§ 266 Abs. 1 und 2; RGSt. 65 246) oder zufolge eines Hinweises nach § 265 Abs. 1 Gegenstand des Strafverfahrens wird. Es ist gleichgültig, wenn zufolge des Verfahrensverlaufs die Verurteilung nicht mehr wegen des angenommenen Verbrechens, sondern nur wegen eines Vergehens, oder wenn Freispruch zu erwarten ist. Die Verteidigung wird dadurch nicht hinfallig, vielmehr bleibt die einmal notwendige Verteidigung solange notwendig, bis rechtskräftig entschieden ist, daß kein Verbrechen vorliegt. Daher ist die Verteidigung auch dann noch notwendig, wenn der wegen eines Verbrechens Angeklagte, aber nur wegen eines Vergehens Verurteilte allein ein Rechtsmittel einlegt, weil er trotz § 331 Abs. 1, § 358 Abs. 2 Satz 1 in der Rechtsmittelinstanz wieder wegen eines Verbrechens verurteilt werden kann (RGSt. 62 97). Dagegen endet die Notwendigkeit der Verteidigung mit der Rechtskraft des nur wegen eines Vergehens ausgesprochenen Schuldspruchs, wenn der Angeklagte allein den Strafausspruch anficht.

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Elfter Abschnitt. Verteidigung (Dünnebier)

§ 140 Anm. II 3—5

3. Maßregelanordnung (Nr. 3). Das Gesetz beschränkt die Notwendigkeit der Verteidigung auf die am meisten in das Leben eingreifenden Maßregeln. Die Sicherungsverwahrung ist durch Nr. 1 erfaßt, weil nur das Landgericht auf Sicherungsverwahrung erkennen kann (§ 24 Abs. 1 Nr. 3, § 74 Abs. 1 GVG). Nr. 3 sichert die notwendige Verteidigung bei der Unterbringung in einer Heil- oder Pflegeanstalt (§ 42 b StGB) und der Untersagung, einen Beruf, ein Gewerbe oder einen Gewerbezweig auszuüben (§ 42 1 StGB). Wenn die Unterbringung in einer Trinkerheilanstalt (§ 42 c StGB) oder die Entziehung der Fahrerlaubnis (§ 42 m StGB) zu erwarten ist, ist die Vorschrift nicht entsprechend anzuwenden. Das Verfahren kann dann zur Anordnung einer der genannten Maßregeln führen, wenn der Staatsanwalt in der Anklageschrift (§ 200) oder bei einer Nachtragsanklage (§ 266 Abs. 1 und 2) den Antrag auf Anordnung angekündigt (z. B. durch das Zitat der §§ 42 b, 42 e, 421 StGB in der Anklageschrift) oder wenn das Gericht den Angeklagten auf die Möglichkeit der Maßregelanordnung hingewiesen (§ 265 Abs. 2) hat. Im Sicherungsverfahren (§ 429 a) ist die Verteidigung schon deshalb stets notwendig (Nr. 1), weil die Strafkammer als erkennendes Gericht des ersten Rechtszuges zuständig ist (§ 429 b Abs. 3). Die Verteidigung ist auch notwendig, wenn bei der Eröffnung des Hauptverfahrens, im Zwischenverfahren oder in der Hauptverhandlung Umstände vorhanden sind, erwachsen oder bekannt werden, die dem Gericht Anlaß geben, sich mit der Maßregelfrage zu befassen (BGHSt. 4 322). Dabei kommt es nicht darauf an, daß das Gericht versäumt, nach § 265 Abs. 2 zu verfahren. Doch wird dem Unterlassen eines Hinweises in der Regel zu entnehmen sein, daß die Umstände dem Gericht nicht ausreichend waren, die Maßregel zu erwägen (OLG Celle NdsRpfl. 1964 71), es sei denn, daß die Urteilsgründe durch, wenn auch ablehnende, Erwägungen das Gegenteil dartun. Wird eine Maßregel verhängt, so ist damit dargelegt, daß das Verfahren zu ihrer Anordnung führen konnte (BGH MDR 1954 564). Das Verfahren führt nicht zu einer Maßregel, wenn diese in einem früheren Verfahren bereits angeordnet und in dem gegenwärtigen Verfahren bei Bildung einer Gesamtstrafe ins Urteil zu übernehmen ist, ohne daß dabei für eine Prüfung Raum ist (RG H R R 1939 1390). Da die Dauer der Unterbringung in einer Heil- oder Pflegeanstalt an keine vom Richter zu bestimmende Frist gebunden ist, kann eine solche Prüfung nur bei der Untersagung der Berufsausübung in Betracht kommen, wenn diese auf weniger als fünf Jahre ausgesprochen ist. Aber auch in diesem Falle kann das Verfahren nur zu einer (weiteren) Untersagung der Berufsausübung führen, wenn hinsichtlich der Delikte des neuen Verfahrens die Voraussetzungen des Absatzes 2 vorliegen. 4. Taub oder stumm (Nr. 4). Das Gesetz fordert, weil auf die Verhandlungsfahigkeit abgestellt ist, weniger als § 55 StGB, der bei gewissen Formen der Taubstummheit die strafrechtliche Verantwortung ausschließt. Es genügt vielmehr ein die Verhandlungsfahigkeit beeinträchtigendes Fehlen des Vermögens, entweder zu sprechen oder zu hören, auch wenn es keine Auswirkung auf die Verstandestätigkeit hat. Ob die Fähigkeit für immer oder nur vorübergehend aufgehoben ist, spielt keine Rolle (RG GA 59 337). Dem Zweck der Vorschrift entsprechend, Beeinträchtigungen der Verhandlungsfahigkeit durch den Beistand eines Verteidigers auszugleichen, kommt es nicht darauf an, ob die Fähigkeiten völlig fehlen, wenn auch bloße Schwerhörigkeit der Taubheit nicht gleichzustellen ist (OLG Hamm NJW 1952 1190). Vielmehr genügt es, wenn bei verbliebenen Resten des Hörens oder des Sprechens die Fähigkeit, Gesprochenes aufzunehmen und Gedachtes auszusprechen, so schwer beeinträchtigt ist, daß der Angeklagte entweder wegen des Gehörmangels den Vorgängen der Hauptverhandlung nicht folgen oder was er zur Verteidigung sagen will, wegen des Sprachmangels nicht ausdrücken kann. 5. Drei-Monats-Verwahrung (Nr. 5). a) Inhalt. Nach der alten Fassung war die Verteidigung notwendig, wenn sich der Beschuldigte bis zur Hauptverhandlung in Haft befunden, diese länger als drei Monate gedauert hatte und außerdem ein Antrag gestellt war. Der allerdings nicht zweifelsfrei zu ermittelnde Sinn der Vorschrift und ihre Entstehungsgeschichte legten es nahe, unter Haft nur Untersuchungshaft in der gleichen Sache zu verstehen, doch war der gesetzgeberischen Erwägung nicht zuzustimmen. Der neue Text stellt klar, daß die drei Monate

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Anm. II 5 entweder Untersuchungshaft sein müssen — gleichviel, ob in der Sache, in der die Bestellung eines Verteidigers zu prüfen ist, oder in einer anderen — oder die amtlich angeordnete Verwahrung in einer Heil- oder Pflegeanstalt, gleichviel in welcher Sache und gleichviel welcher Art (b). Strafhaft und sonstige Formen der behördlich angeordneten Freiheitsentziehung (Fürsorgeerziehung) machen die Verteidigung nicht notwendig. Die Vorschrift ist jetzt eindeutig, aber ihr Sinn ist nicht einleuchtender geworden. Das Gesetz bedient sich nicht der Wendung „nicht auf freiem Fuß befindlich", sondern fordert nur bei zwei Verwahrungsarten die Verteidigung. Bei der Untersuchungshaft wird wohl auf das Vorläufige, das Ungewisse, abgestellt. Denn die Strafhaft kann die Verteidigungsfähigkeit genauso beeinträchtigen wie die Untersuchungshaft, ist ihr aber gleichwohl nicht gleichgestellt. Bei der Unterbringung in einer Heil- oder Pflegeanstalt spielt dagegen das Vorläufige keine Rolle; vielmehr wird es die Art der Unterbringung sein, die es dem Gesetzgeber notwendig erscheinen läßt, dem so Untergebrachten in einem während der Unterbringungszeit laufenden Strafverfahren einen Verteidiger zu geben. Man wird deshalb annehmen müssen, daß der Gesetzgeber die Verteidigung bei Untersuchungshaft und bei der Unterbringung in einer Heil- oder Pflegeanstalt deshalb notwendig gemacht hat, weil er diese beiden Verwahrungsarten als der Selbstverteidigung besonders hinderlich ansieht. Uberzeugend ist diese Begrenzung des Schutzbedürfnisses des Angeklagten nicht. Denn dieses erheischt auch Anerkennung, wenn der Angeklagte sich zwar nicht bei der Hauptverhandlung, wohl aber bei der Rechtsmittelbegründung drei Monate in einer Heil- oder Pflegeanstalt befunden hat, und auch, wenn er nicht in einer Heil- oder Pflegeanstalt, sondern in einer Trinkerheilanstalt oder in einer Entziehungsanstalt untergebracht worden ist. Für die Reform bleibt eine großzügigere Regelung zu wünschen. b) Untersuchungshaft und Unterbringung. Untersuchungshaft ist die nach § 114 angeordnete Haft. Ihr sind gleichzustellen die Auslieferungshaft (§ 10 Abs. 1 und 2, § 30 DAG), aber nicht Freiheitsstrafe (§ 18 StGB; OLG Hamm MDR 1970 437) und sonstige freiheitsentziehende Strafen (Jugendstrafe; § 17 J G G ; Strafarrest; § 9 WStG) oder Jugendarrest (§16 JGG). Der Aufenthalt in einer Heil- oder Pflegeanstalt macht die Verteidigung stets notwendig, wenn er behördlich angeordnet ist; der Grund der Anordnung und das Gesetz, das sie ermöglicht, sind gleichgültig4. In Betracht kommen die einstweilige Unterbringung (§ 126 a), die Unterbringung aufgrund eines Strafurteils (§ 42 c StGB) und im Sicherungsverfahren (§ 429 b) sowie die Unterbringung nach den Unterbringungsgesetzen der Länder. Die Unterbringung in einer Heil- oder Pflegeanstalt ist von der Unterbringung in einer Trinkerheilanstalt oder einer Entziehungsanstalt (§ 42 c StGB) geschieden. Diese Unterbringungsarten — ebenso wie die Sicherungsverwahrung (§ 42 e StGB) — fallen nicht unter Nummer 5. Das ist zwar unverständlich, darf aber nicht im Wege der Auslegung geändert werden 5 . Absatz 2 ist stets sorgfaltig zu prüfen (ebenso K r e y NJW 1970 1909). Die Untersuchungshaft und die Unterbringung werden meist in der Sache angeordnet sein, in der es zur Hauptverhandlung kommt; notwendig ist das aber nicht. c) Dauer der Freiheitsentziehung. Die Verteidigung ist notwendig, wenn sich der Beschuldigte mindestens drei Monate in Untersuchungshaft oder in einer Heil- oder Pflegeanstalt 4 5

Begrdg. BTDrucks. IV 178, S. 30. Ebenso in bezug auf die Strafhaft O L G Hamm N J W 1970 906. Wie der Richter die Strafhaft nicht der Untersuchungshaft gleichstellen darf, ist es — entgegen der Ansicht des O L G Hamm (aaO.) — auch unzulässig, die Unterbringung eines entmündigten Angeklagten durch den Vormund mit vormundschaftsgerichtlicher Genehmigung als Unterbringung aufgrund behördlicher Anordnung zu behandeln, wie es das Oberlandesgericht Celle (NJW 1969 2069; zust. K l 3 Nr. 5) tut. Die Verweisung auf BGHSt. 9 262 hilft nicht weiter. Abhilfe kann nur der Gesetzgeber schaffen, indem er bei einer Reform die mißlungene Vorschrift ändert. Das Oberlandesgericht Hamm hatte eine Verletzung des Gleichheitsgrundsatzes erwogen, aber Vorlage ans Bundesverfassungsgericht mit der Begründung abgelehnt, dieses könne die Vorschrift nur im ganzen für nichtig erklären. Die hiergegen gerichtete Kritik O s t e r m e y e r s ( Z R P 1970 174) geht fehl. Denn in der Tat kann die verfassungskonforme Gesetzesauslegung das Gesetz zwar soweit verkürzen, als es verfassungswidrig ist, sie kann aber ein Gesetz nicht, um es verfassungskonform zu machen, um einen Tatbestand erweitern, der im Gesetz fehlt (im Ergebnis ebenso K r e y NJW 1970 1909).

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§ 140 Anm. II 6, 7 befunden hat. Er muß dort „in derselben oder in einer anderen Sache" gewesen sein. Danach kann es auch keine Rolle spielen, ob er sich zum Teil in derselben, zum Teil in einer anderen Sache oder in mehreren anderen Sachen in Verwahrung befunden hat. Es ist auch nur auf den Zeitraum von drei Monaten abgestellt; nicht wird gefordert, daß er ununterbrochen sein müsse (OLG Düsseldorf JMB1NRW 1970 237). Demzufolge sind alle Verwahrungszeiten der beiden genannten Arten zusammenzuzählen, mögen sie noch so oft und so lange unterbrochen worden sein. Das macht keine Schwierigkeit bei Untersuchungshaft oder bei einstweiliger Unterbringung in derselben Sache. Handelt es sich um Verwahrung in einer anderen Sache, so fragt es sich, von wann an sie zu zählen ist. Sie kann sinnvollerweise nur angerechnet werden, wenn der Beschuldigte sie während des Strafverfahrens erlitten hat, in dem er zur Erklärung über die Anklageschrift aufgefordert wird (§141 Abs. 1; OLG Düsseldorf aaO.). Aber das Verfahren kann zunächst gegen Unbekannt oder gegen andere gelaufen sein. Man wird daher den Beginn des Verfahrens dort ansetzen, wo der Beschuldigte der Strafverfolgungsbehörde als Beschuldigter erkennbar geworden und von ihr in den Akten als Beschuldigter behandelt worden ist oder bei ordnungsmäßigem Verfahren als Beschuldigter hätte behandelt werden können. d) Ende der Freiheitsentziehung. Die Untersuchungshaft und die Unterbringung in einer Heil- oder Pflegeanstalt sowie ihre Dauer werden im Rahmen des Absatzes 1 Nr. 5 bedeutungslos, wenn der Beschuldigte mindestens zwei Wochen vor Beginn der Hauptverhandlung entlassen wird. Die Dauer der Untersuchungshaft kann aber ein Indiz für die Schwere der Tat sein, so daß es notwendig werden kann, nach Absatz 2 einen Verteidiger zu bestellen. Der Verteidiger ist regelmäßig zu bestellen, wenn der Angeschuldigte aufgefordert wird, sich auf die Anklageschrift zu erklären (§ 141 Abs. 1). Zwar liegt dieser Zeitpunkt (§ 201 Abs. 1) vor der Eröffnung des Hauptverfahrens (§ 207 Abs. 1), bei der das Gericht über die Fortdauer der Untersuchungshaft oder einer einstweiligen Unterbringung zu entscheiden hat (§ 207 Abs. 4). Da das Gericht aber jederzeit prüfen muß, ob die Voraussetzungen der Untersuchungshaft noch vorliegen, namentlich ob die weitere Untersuchungshaft zu der Bedeutung der Sache und der zu erwartenden Strafe oder Maßregel der Sicherung oder Besserung in einem angemessenen Verhältnis steht, wird es bei der Zustellung der Anklageschrift zugleich über die Fortdauer der Untersuchungshaft oder der einstweiligen Unterbringung entscheiden, um eine gewisse Sicherheit zu haben, ob der Beschuldigte zwei Wochen vor Beginn der Hauptverhandlung noch in Untersuchungshaft oder in der einstweiligen Unterbringung sein wird. 6. Unterbringung zur Begutachtung (Nr. 6). Für die mündliche Verhandlung im Haftprüfungsverfahren ist unter Umständen die Mitwirkung eines Verteidigers vorgesehen (§117 Abs. 4). Diese Verteidigung in einem bestimmten Abschnitt des Vorverfahrens macht aber die Verteidigung für das weitere Verfahren nicht notwendig (9 c zu § 117). Kommt dagegen zur Vorbereitung eines Gutachtens über den Geisteszustand des Beschuldigten seine Unterbringung in einer öffentlichen Heil- oder Pflegeanstalt in Frage ( § 8 1 Abs. 1), so wird damit, wie die Aufnahme von Nr. 6 neben § 81 Abs. 2 erweist, die Verteidigung für das ganze Verfahren notwendig, gleichgültig wie sich das Anstaltsgutachten äußert. Denn über die Zurechnungsfähigkeit hat das Gericht und nicht der Sachverständige zu entscheiden; damit bleibt die Frage, die durch die Anstaltsunterbringung aufgeworfen ist, bis zur Rechtskraft offen (RGSt. 37 21; 67 261; BHG NJW 1952 797). Die Unterbringung kommt in Frage, wenn die Staatsanwaltschaft sie, sei es im Ermittlungs-, sei es im Hauptverfahren beantragt, oder wenn das Gericht sie, etwa nach dem' Gutachten eines Sachverständigen, in Erwägung zieht. Sie kommt ebenfalls in Frage, wenn der Beschuldigte einen ernstgemeinten und mit sachlichen Gründen versehenen Antrag auf Anstaltsunterbringung stellt, mag auch das Gericht ihn als unbegründet erachten (BGH NJW 1952 797). 7. Verfahren gegen Abwesende (Nr. 7). Die Vorschrift bezieht sich, wie das Zitat von § 277 ergibt, nur auf das Hauptverfahren gegen Abwesende nach den §§ 276 bis 284. Sie findet keine Anwendung im Beweissicherungsverfahren nach den §§ 285 bis 294; im fortgeführten Verfahren gegen den Angeklagten, der sich nach Vernehmung zur Sache entfernt hat oder nach einer Unterbrechung der Hauptverhandlung ausgeblieben ist (§ 231 Abs. 3); 903

§140 Anm. III 1 - 3

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im Bagatellverfahren gegen den ausgebliebenen Angeklagten, der in der Ladung darauf hingewiesen ist, daß in seiner Abwesenheit verhandelt werden kann (§ 232 Abs. 1); und im Verfahren gegen den Angeklagten, der von der Verpflichtung entbunden worden ist, in der Hauptverhandlung zu erscheinen (§ 233 Abs. 1). In dem Verfahren nach § 277 kommt es für die Notwendigkeit der Verteidigung nur darauf an, daß die Hauptverhandlung stattfindet; ob sie zulässig ist, spielt keine Rolle. III. Andere Fälle (Absatz 2). 1. Angeordnete Verteidigung. Nach Absatz 1 ist in den dort genannten Fällen die Mitwirkung eines Verteidigers notwendig; nach Absatz 2 hat in anderen Fällen — es kommen nur Vergehenssachen, die vor dem Amtsgericht verhandelt werden, in Betracht — der Vorsitzende unter bestimmten Umständen einen Verteidiger zu bestellen. Das Gesetz sagt also nicht, daß die Verteidigung notwendig sei, wenn die in Absatz 2 genannten Umstände vorliegen; es hat Absatz 2 nicht als eine Nr. 8 von Absatz 1 konstruiert, setzt vielmehr die „anderen Fälle" denen der notwendigen Verteidigung entgegen. Daraus ist zu folgern, daß der Gesetzgeber in den Fällen von Absatz 2 der Entscheidung durch den Vorsitzenden eine maßgebliche Rolle hat einräumen wollen, mit anderen Worten, daß die Verteidigung erst zufolge der richterlichen Feststellung notwendig wird, die Verteidigung erscheine wegen der Schwere der Tat oder wegen der Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage geboten oder es sei ersichtlich, daß der Beschuldigte sich nicht selbst verteidigen könne 6 . Demzufolge unterscheidet RGSt. 70 320 zwischen der notwendigen und der angeordneten Verteidigung und betont deren Gleichheit erst von der Bestellung an. Das Gericht hat seine Prüfung, ob ein Verteidiger zu bestellen ist, von Amts wegen anzustellen. Der Antrag ist dafür nur eine Anregung. Für den Beschuldigten löst er allerdings den Vorteil einer gerichtlichen Entscheidung und deren Bekanntgabe aus (9 zu § 141). 2. Die Schwere der Tat ergibt sich in erster Linie aus der Höhe der zu erwartenden Strafe oder der Schwere der Maßregel. Da die Verteidigung in allen Strafkammersachen (Nr. 1), in allen Verbrechenssachen (Nr. 2), wenn Sicherungsverwahrung (Nr. 1), Unterbringung in einer Heil- oder Pflegeanstalt oder Untersagung der Berufsausübung zu erwarten ist (Nr. 3), ohnehin notwendig ist, erkennt das Gesetz an, daß auch vor dem Schöffengericht tatschwere Sachen verhandelt werden. Dabei kommen vor allem die vor dem erweiterten Schöffengericht in Betracht (OLG Bremen NJW 1955 1529). Größere Bedeutung wird allerdings den beiden anderen Bestellungsfallen zukommen. Es ist nicht ausgeschlossen, daß der Fall der Tatschwere versehentlich stehen geblieben ist, als die Verteidigung bei allen Strafkammer- und allen Verbrechenssachen notwendig gemacht wurde. 3. Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage liegt in der Regel bei Verhandlungen vor dem erweiterten Schöffengericht (OLG Bremen NJW 1955 1529) vor, wenn nicht schon die Tatschwere zur Verteidigerbestellung führt. Die Sachlage ist schwierig, wenn die Staatsanwaltschaft in einer umfangreichen Sache gegen den in erster Instanz freigesprochenen Angeklagten in zweiter Instanz das Ziel verfolgt, die Verurteilung aufgrund einer abweichenden Beweiswürdigung zu erreichen (OLG Bremen Rpfleger 1960 62). Kommen zwei Instanzen aus Rechtsgründen zu abweichenden Entscheidungen, so wird damit erwiesen sein, daß die Rechtslage schwierig war (OLG Bremen NJW 1957 151). Schwierige Rechtsund Sachlagen können sich auch im Wiederaufnahmeverfahren (OLG Hamm NJW 1961 932), schwierige Rechtslagen in Auslieferungssachen (BGH GA 1965 56) ergeben. Schwierigkeit der Sachlage ist anzunehmen, wenn sich der Angeklagte nicht ohne die dem Verteidiger vorbehaltene (§ 147 Abs. 1) Akteneinsicht verteidigen kann, etwa weil die Akten 6

A. A. M ü l l e r - S a x 5 unter Bezugnahme auf S e i b e r t DRiZ 1956 152. Die Frage ist bedeutsam für die Beurteilung, ob ein absoluter oder ein relativer Revisionsgrund vorliegt (14 zu § 141). Der Unterschied ist zwar gering, aber nicht zu übersehen: Meist wird, wenn nicht § 338 Nr. 5, sondern § 338 Nr. 8 in Vbdg. mit § 140 Abs. 2 verletzt ist, die Verteidigung in einem für die Entscheidung wesentlichen Punkt verletzt sein, doch kann trotz zweifelsfrei schwieriger Rechtslage der nicht verteidigte Angeklagte ein so günstiges Urteil erhalten haben, daß eine Verletzung von § 338 Nr. 8 eindeutig ausscheidet.

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§ 1 4 0 Anm. III 4; IV

§ 141 Sachverständigengutachten (BGH LM § 140 Nr. 18) oder Berichte der Ermittlungshilfe enthalten, die zu Beweisanträgen Veranlassung geben können. Wegen der Schwierigkeiten ist auch auf die persönlichen Fähigkeiten des Angeklagten mit abzustellen (OLG Celle NdsRpfl. 1964 71). Daher können die Fähigkeiten, einer Verhandlung zu folgen, rasch zu verstehen, sich schriftlich gut auszudrücken, mündlich gewandt vorzutragen, juristische Argumente aufzufassen und selbst zu gebrauchen und ähnl. berücksichtigt werden. Insoweit berührt sich der hier behandelte Bestellungsgrund mit dem der Verteidigungsunfähigkeit (4). 4. Verteidigungsunfähigkeit. Mit dem Antragsgrund, daß der Angeklagte sich nicht selbst verteidigen könne, wird unabhängig von der Tatschwere und der Sachschwierigkeit auf die persönlichen Fähigkeiten des Beschuldigten abgestellt. Dieser Bestellungsgrund liegt z. B. vor, wenn der Beschuldigte zwar nicht taub ist, aber hochgradig schwerhörig (OLG Hamm NJW 1952 1190); wenn er zwar nicht stumm ist, aber durch Stottern so behindert, daß die Befürchtung besteht, er werde wegen seines Gebrechens nicht alles Notwendige sagen; wenn er zwar verhandlungsfähig ist, aber doch zufolge geistiger Minderwertigkeit die Bedeutung der Verteidigung nicht voll erkennt (RG JW 1934 901) oder zufolge von Krankheit zu apathisch ist, um sich wirksam zu verteidigen. Als weitere Fälle kommen Blindheit, Unkenntnis der Gerichtssprache ( R a s c h Recht 19 596, 20 8), fortgeschrittene Schwangerschaft (OLG Düsseldorf NJW 1964 877) und Entmündigung (RG GA 62 337) in Betracht. IV. Widerruf und Fortwirkung der Verteidigerbestellung (Absatz 3). Hat das Gericht sich in einem Drei-Monats-Fall in der Beurteilung der Lage geirrt oder haben sich die Verhältnisse geändert, und wird der Beschuldigte wenigstens zwei Wochen vor der Hauptverhandlung aus der Untersuchungshaft oder aus der Heil- oder Pflegeanstalt entlassen, so ist die Bestellung des Verteidigers aufzuheben. Zuständig dafür ist, wie im Falle des § 143 (BGHSt. 3 328), der Vorsitzende des Gerichts, bei dem Anklage erhoben worden ist, und wenn das Hauptverfahren inzwischen bei einem anderen Gericht eröffnet worden ist, der Vorsitzende dieses Gerichts. Die Aufhebung hängt allein von der Entlassung und dem Zeitpunkt der Hauptverhandlung ab. Liegen die Voraussetzungen des Absatzes 3 vor, muß der Vorsitzende die nach Nummer 5 vorgenommene Bestellung aufheben; ein Ermessen steht ihm nicht zu. Er hat aber stets zu prüfen, ob die Bestellung des Verteidigers nicht nach Absatz 2 aufrechtzuerhalten ist. In den meisten Drei-Monats-Fällen wird der Beschuldigte einen Verteidiger haben. Denn regelmäßig werden die drei Monate nicht gerade dann ablaufen, wenn dem Angeschuldigten die Anklageschrift zugestellt wird (§ 201 Abs. 1, § 141 Abs. 1); meist werden sie schon früher zu Ende gegangen sein. Dann wird der Beschuldigte in der Regel nach § 117 Abs. 4 einen Verteidiger erhalten haben. Die Bestellung hat der Amtsrichter nach § 126 Abs. 1 vorgenommen. Der Vorsitzende des Gerichts, das für das Hauptverfahren zuständig ist (§141 Abs. 4), kann nun einen neuen Verteidiger bestellen; dann endet das Amt des bisherigen (9 c zu § 117). Wird kein neuer Verteidiger bestellt, bleibt die vom Amtsrichter angeordnete Bestellung für das weitere Verfahren in der gleichen Weise wirksam, als wenn der Vorsitzende des für das Hauptverfahren zuständigen Gerichts die Bestellung ausgesprochen hätte. Wird der Beschuldigte nicht zwei Wochen vor der Hauptverhandlung, sondern erst später entlassen, dann ist die Verteidigung weiter notwendig. Weil die Untersuchungshaft zu Ende gegangen ist, ist aber die für die Dauer der Untersuchungshaft (9 c Abs. 2 zu § 117) nach § 117 Abs. 4 Satz 1 angeordnete Bestellung eines Verteidigers erloschen. Daher ist in diesem Fall § 140 Abs. 3 Satz 2 nicht anwendbar. Vielmehr ist von dem nach § 141 Abs. 4 zuständigen Vorsitzenden ein Verteidiger zu bestellen. Dabei ist nach Möglichkeit der bisherige Verteidiger zu bestimmen.

§ 141 ( l ) I n den Fällen des § 140 Abs. 1 und 2 wird dem Angeschuldigten, der noch keinen Verteidiger hat, ein Verteidiger bestellt, sobald er gemäß § 201 zur Erklärung über die Anklageschrift aufgefordert worden ist. 905

§141 Anm. 1

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(2) Ergibt sich erst später, daß ein Verteidiger notwendig ist, so wird er sofort bestellt. (3) Der Verteidiger kann auch schon während des Vorverfahrens bestellt werden. Nach dem Abschluß der Ermittlungen (§ 169 a Abs. 1) ist er auf Antrag der Staatsanwaltschaft zu bestellen. Die Staatsanwaltschaft soll diesen Antrag stellen, falls die Gewährung des Schlußgehörs in Betracht kommt und nach ihrer Auffassung in dem gerichtlichen Verfahren die Verteidigung nach § 140 Abs. 1 notwendig sein wird. Der Abschluß der Ermittlungen soll in diesem Falle auch dem Beschuldigten erst nach der Bestellung des Verteidigers mitgeteilt werden (§ 169 a Abs. 2). (4) Über die Bestellung entscheidet der Vorsitzende des Gerichts, das für das Hauptverfahren zuständig oder bei dem das Verfahren anhängig ist. Entstehungsgeschichte: § 141 entsprach ursprünglich dem jetzigen § 140 Abs. 2; sein jetziger Absatz 3 Satz 1 war früher Inhalt von § 142. Die Verpflichtung, den Verteidiger zu bestellen, ging zufolge § 4 der DVO zur VereinfachungsVO vom 8. 9. 1939 (RGBl. I 1703) auf den Vorsitzenden über. Durch § 21 Abs. 2 Nr. 1 der DVO zur ZustVO vom 13. 3. 1940 (RGBl. I 489) wurde § 141 außer Kraft gesetzt. An seine Stelle trat § 7 der genannten Verordnung. Er hatte etwa den Inhalt, den § 141 durch Art. 3 Nr. 52 VereinhG erhielt. Die jetzige Fassung beruht auf Art. 3 Nr. 2 StPÄG: Absatz 1 ist vereinfacht. Die Bestellung im Vorverfahren ist jetzt in Absatz 3 geregelt, der mit Ausnahme des ersten Satzes (bisher Absatz 1 Satz 2) neu ist. Absatz 4 entspricht inhaltlich dem bisherigen Absatz 3. 1. Inhalt. Mit dem Institut der notwendigen Verteidigung und mit der Bestellung eines Verteidigers sichert der Staat das Interesse, das er an einem ordnungsgemäßen Verfahren und damit an der Verteidigung hat. Sein Interesse ist gewahrt, wenn dem Beschuldigten ein Verteidiger zur Seite steht (§ 143). Dabei ist es gleichgültig, wer ihn gewählt hat ( K ö h l e r 181; OLG Hamm NJW 1958 641), der Beschuldigte selbst oder sein gesetzlicher Vertreter (§137 Abs. 2). Solange keine Verteidigerwahl zu den Akten angezeigt ist, wird das Gericht davon ausgehen, daß kein Verteidiger gewählt ist. Auch dem Beschuldigten, der einen Wahlverteidiger hat, wird ein Verteidiger bestellt, wenn mit Sicherheit feststeht, daß der Wahlverteidiger spätestens dann ausscheiden, wenn ein Pflichtverteidiger bestellt sein wird. Das ist der Fall, wenn der Wahlverteidiger beantragt, ihn als Pflichtverteidiger zu bestellen (OLG Hamm MDR 1958 707). Denn das Gesuch des Wahlverteidigers, ihn zum Pflichtverteidiger zu bestellen, enthält regelmäßig die Erklärung, die Wahlverteidigung solle mit der Bestellung zum Pflichtverteidiger enden (OLG Düsseldorf MDR 1967 515). Wahlverteidiger ist nur, wer vom Beschuldigten (§ 137 Abs. 1) oder von dessen gesetzlichem Vertreter (§137 Abs. 2) als Verteidiger gewählt worden ist. Wer von einem Dritten beauftragt ist oder wer aus eigenem Entschluß handelt, ist kein Verteidiger (RGSt. 66 266). Daß der gesetzliche Vertreter auftritt, ersetzt die notwendige Verteidigung nicht (RGSt. 52 180). Auch ein Beistand kann nicht die Rechte des notwendigen Verteidigers wahrnehmen. Zwar hat der Beistand beim Schlußgehör (§ 169 b) und in der Hauptverhandlung die Rechte eines Verteidigers (§ 69 Abs. 3 Satz 2 JGG), doch darf, wenn die Verteidigung notwendig ist, kein Beistand bestellt werden (§ 69 Abs. 1 JGG). Ist das gleichwohl geschehen, muß der Beistand entlassen und ein Verteidiger beigeordnet werden. Ist ein Pflichtverteidiger bestellt worden, obwohl der Beschuldigte einen Wahlverteidiger hatte, so äußert dieser Umstand keinen Einfluß auf die Wirksamkeit der Bestellung (OLG Hamm NJW 1958 641). Ein Pflichtverteidiger kann unter besonderen Umständen auch dann bestellt werden, wenn der Beschuldigte bereits einen Wahlverteidiger hat und ihn auch behalten will (BGHSt. 15 309). Das kann geboten sein, wenn der Angeklagte mehrfach Wahlverteidiger entläßt und neue wählt und dadurch den ordnungsmäßigen Ablauf der Hauptverhandlung in Frage stellt; durch die Möglichkeit des § 145 kann dem nicht immer begegnet werden. Es kann zweckmäßig sein, wenn bei Verhandlungen von längerer Dauer (§ 192 Abs. 2 GVG) zu befürchten ist, daß der Wahlverteidiger ausfallen könnte ( D a h s Hdb. 84). Es ist zu erwägen, wenn der Beschuldigte zu dem von seinem gesetzlichen Vertreter gewählten Verteidiger (§137 Abs. 2) kein Vertrauen hat ( D a l l i n g e r - L a c k n e r JGG 25 zu § 68). Die Bestellung eines weiteren Verteidigers für einen Beschuldigten, der schon einen Verteidiger hat, beruht in allen Fällen auf § 140 Abs. 2.

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§ 141 Anm. 2, 3

2. Zeitpunkt (Absatz 1). Der Verteidiger ist — wenn nicht die I 3 zu § 140 genannten Sonderfalle vorliegen — zu bestellen, sobald der Angeschuldigte nach § 201 Abs. 1 aufgefordert worden ist, die dort vorgesehenen Erklärungen abzugeben, also alsbald. Der Vorsitzende darf nicht abwarten, ob der Angeschuldigte die Wahl eines Verteidigers anzeigt oder was er erklärt. Denn der Verteidiger soll dem Angeschuldigten schon bei der Erklärung nach § 201 Abs. 1 Beistand leisten. Demzufolge wird der Vorsitzende die Mitteilung der Anklageschrift, die Bestellung des Verteidigers und die Nachricht hiervon an den Angeschuldigten miteinander verbinden. In den Fällen des § 140 Abs. 1 Nr. 1, 2, 3, 6 und 7 macht das keine Schwierigkeiten. Ob ein Angeschuldigter taub oder stumm ist (§ 140 Abs. 1 Nr. 4), wird die Staatsanwaltschaft wissen und in der Anklageschrift anzugeben haben. Bei der Drei-Monats-Verwahrung (§ 140 Abs. 1 Nr. 5) muß der Vorsitzende die Haftfrage und die Verteidigerbestellung prüfen, ehe er die Anklageschrift zustellt (5d zu § 140). Sind die Voraussetzungen des § 140 Abs. 1 nicht gegeben, wird der Vorsitzende des Schöffengerichts oder der Amtsrichter, der allein entscheidet, immer erwägen, ob die Voraussetzungen des § 140 Abs. 2 vorliegen. Die Staatsanwaltschaft wird dazu Anträge stellen. Einen Antrag des Angeschuldigten darf der Vorsitzende nicht abwarten; er hat von Amts wegen zu prüfen, ob ein Verteidiger zu bestellen ist. Verneint er das, wird er zweckmäßigerweise das Ergebnis der Prüfung aktenkundig machen. Ein negatives Ergebnis braucht er dem Angeschuldigten nicht mitzuteilen, es sei denn, daß dieser einen Antrag gestellt hatte. Im beschleunigten Verfahren (§ 212) bei Verhafteten (§ 140 Abs. 1 Nr. 5) ist die Verteidigerbestellung mit der Ladung zu verbinden. Vorführung ohne Ladung (§ 212 a Abs. 3) wird nicht in Betracht kommen, weil der Angeschuldigte sich mit seinem Verteidiger besprechen muß, doch sind Ausnahmefalle denkbar, namentlich wenn der Beschuldigte verlangt, daß sofort die Hauptverhandlung stattfinden solle. Dann ist der Verteidiger so frühzeitig zu bestellen, daß er sich, besonders durch Besprechung mit dem Beschuldigten, auf die Hauptverhandlung vorbereiten kann. 3. Spätere Bestellung (Absatz 2) spielt bei § 140 Abs. 1 keine bedeutende Rolle, doch kommt sie gelegentlich in Betracht (das Gericht erkennt erst später, daß der Angeschuldigte taub oder stumm ist; es stellt erst im Eröffnungsverfahren die Notwendigkeit fest, den Angeschuldigten zur Vorbereitung eines Gutachtens über seinen Geisteszustand in eine öffentliche Heil- oder Pflegeanstalt einzuweisen) und stets dann, wenn der Wahlverteidiger das Mandat niederlegt. Sonst wird der Hauptfall späterer Bestellung der des § 140 Abs. 2 sein, weil die Frage, ob die Sach- oder Rechtslage schwierig ist, sich nicht nur objektiv, sondern auch nach der Person des Beschuldigten beantwortet (III 3 zu § 140). Daher kann sie oft erst nach Schriftsätzen oder nach dem Auftreten in der Hauptverhandlung beurteilt werden. In allen diesen Fällen ist der Verteidiger alsbald zu bestellen, nachdem die Notwendigkeit hervorgetreten oder erkannt worden ist. Ist das erst in der Hauptverhandlung der Fall, dann ist wegen des weiteren Verfahrens § 145 Abs. 2 zu beachten. Ob ein Verteidiger, namentlich auch nach § 140 Abs. 2, zu bestellen ist, muß, weil die Bestellung von keinem Antrag abhängt, während des ganzen Verfahrens geprüft werden. Legt der Wahlverteidiger sein Mandat nieder, während die Revisionsbegründungsfrist noch läuft, ist daher ein Pflichtverteidiger auch dann zu bestellen, wenn der Wahlverteidiger schon eine Revisionsbegründung abgegeben hatte (OLG Hamburg NJW 1966 2323), weil die Rüge, solange die Frist läuft, auf (weitere) Verfahrensverstöße ausgedehnt werden kann. Wegen der bis zum Schluß dauernden Pflicht hat der Vorsitzende, auch wenn er früher eine Bestellung abgelehnt hatte, in der Hauptverhandlung erneut zu prüfen, ob es erforderlich ist, einen Verteidiger beizuordnen (BGH LM 16 zu § 140). Anlaß dazu bieten namentlich Änderungen des rechtlichen Gesichtspunktes (§ 265), aber auch Komplikationen des Sachverhalts oder Eigenarten des Angeklagten (Schwerfälligkeit), die erst in der Hauptverhandlung erkannt werden. Erst spätere Bestellung kann auch nach Rechtskraft des Urteils erforderlich sein (11), so bei — allerdings nur sehr schwierigen — Gesamtstrafenbildungen (§ 460), bei Auslegungen eines Strafurteils (§ 458 Abs. 1) und für das Wiederaufnahmeverfahren (OLG Hamm NJW 1961 932), wenn im wiederaufzunehmenden Verfahren kein Verteidiger bestellt worden war (für den Fall, daß im alten Verfahren ein Verteidiger beigeordnet war, s. 10 Abs. 3). 907

§141 Anm. 4, 5

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

4. Bestellung im Vorverfahren (Absatz 3 Satz 1). Das Urteil beruht allein auf der Hauptverhandlung (§ 261). In aller Regel wird der Verteidiger daher bestellt, um dem Angeklagten in der Hauptverhandlung beizustehen und in der Zeit vorher, wenn entschieden wird, ob es zur Hauptverhandlung kommt und wegen welchen Vorwurfs. Aber auch noch früher kann es geboten oder zweckmäßig sein, einen Verteidiger beizuordnen. Das Gesetz schreibt das für einige Fälle vor (I 3 zu § 140). Sonst kommt es etwa in Betracht, wenn zu wichtigen Gutachten Stellung zu nehmen und der Beschuldigte dieser Aufgabe nicht gewachsen ist. Wird im Anklageerzwingungsverfahren (§ 172 Abs. 2) dem Antragsteller ein Rechtsanwalt beigeordnet (§ 172 Abs. 3 Satz 2, 2. Halbsatz), wird es stets notwendig sein, dem Beschuldigten einen Verteidiger zu bestellen. Darüber hinaus sollte es zur Regel werden, dem Beschuldigten einen Verteidiger so frühzeitig wie möglich dann beizuordnen, wenn erkennbar wird, daß er im Laufe des Verfahrens einen Verteidiger bekommen wird. Wer einen Wahlverteidiger nimmt, tut dies ohnehin meist zu Beginn des Verfahrens, so daß die Gefahr, später nach § 143 verfahren zu müssen, gering ist. So sollte ein tauber oder stummer Beschuldigter schon beim ersten Eingang der Akten einen Verteidiger erhalten. Das gleiche gilt, wenn ein Beschuldigter eine Tat einräumt, die ein Verbrechen ist, oder wenn feststeht, daß Anklage vor dem Landgericht erhoben werden muß. In Haftsachen wird, wenn die Verteidigung nicht schon aus anderen Gründen notwendig ist, auf jeden Fall dann ein Verteidiger beizuordnen sein, sobald aufgrund der Schwere der Tat oder deren Umfang feststeht, daß die Ermittlungen länger als drei Monate dauern werden und eine Haftentlassung nicht in Betracht kommt. Kann das Verfahren zur Unterbringung in einer Heil- oder Pflegeanstalt führen, so ist der Verteidiger zu bestellen, sobald diese Möglichkeit erstmalig offenkundig wird. Das gilt auch bei einer Unterbringung nach § 81 StPO. Im übrigen ist ein Verteidiger vor allem alsbald beizuordnen, sobald offenkundig wird, daß der Beschuldigte sich nicht selbst verteidigen kann oder sobald die Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage es erfordert. Der Staatsanwalt sollte dazu Anträge stellen. Freilich ist sein Antrag vor Abschluß der Ermittlungen nicht bindend; deshalb wird er gegen eine Ablehnung ggf. Beschwerde einzulegen haben. Wird ein Verteidiger schon während des Vorverfahrens bestellt, und wird die Bestellung nicht auf einen besonderen Zeitraum beschränkt (11), so wird damit die Bestellung nach Absatz 1 vorweggenommen. Absatz 1 bezieht sich auf § 140 Abs. 1 und Abs. 2. Die in § 140 Abs. 2 gegebene Regel wird den Vorsitzenden im Vorverfahren leiten. Zum Vorverfahren gehören das Ermittlungsverfahren (Verfahren zur Vorbereitung der öffentlichen Klage) und die gerichtliche Voruntersuchung. 5. Bestellung auf Antrag der Staatsanwaltschaft (Absatz 3 Satz 2 und 3). Im Vorverfahren ist die Staatsanwaltschaft am besten in der Lage, zu beurteilen, ob der Beschuldigte einen Verteidiger benötigt. Ihr hätte es daher übertragen werden können, in diesem Verfahrensabschnitt einen Verteidiger beizuordnen. Das wäre aber unpraktisch, weil die Verteidigerbestellung für die Hauptverhandlung beim Gericht liegen muß, die Bestellung im Vorverfahren aber grundsätzlich auch für die Hauptverhandlung gilt. Das Gesetz löst den Konflikt dadurch, daß es Beiordnung und Auswahl des Verteidigers auch im Vorverfahren beim Vorsitzenden beläßt, ihn aber wegen der Verpflichtung, einen Verteidiger zu bestellen, dann an den Antrag der Staatsanwaltschaft bindet, wenn dieser nach dem Abschluß der Ermittlungen gestellt wird. Der Abschluß der Ermittlungen ist stets zu den Akten zu vermerken, wenn die Staatsanwaltschaft die öffentliche Klage nicht durch Antrag auf Eröffnung der Voruntersuchung (§ 170 Abs. 1; § 179) stellt (§ 169 a Abs. 1; § 212 Abs. 2 Satz 1; § 407 Abs. 4 Satz 1). Besondere Bedeutung hat der förmliche Abschluß der Ermittlungen, wenn die Staatsanwaltschaft die Zuständigkeit des Schöffengerichts oder eines Gerichts höherer Ordnung für begründet hält. Denn dann kommt, wenn nicht in Schöffensachen das beschleunigte Verfahren ( § 2 1 2 Abs. 2 Satz 2) oder das Strafbefehlsverfahren (§ 407 Abs. 4 Satz 2) gewählt wird, die Gewährung des Schlußgehörs in Betracht (§ 169 b Abs. 1 Satz 1). Ist in diesen Fällen die Staatsanwaltschaft der Ansicht, daß für das gerichtliche Verfahren die Verteidigung nach § 140 Abs. 1 notwendig sein wird, dann soll sie beantragen, dem Beschuldigten schon vor dem Schlußgehör einen Verteidiger beizuordnen. In bezug auf eine Behörde ent-

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hält das „Soll" eine Verpflichtung, von der nur in begründeten Ausnahmefällen abgesehen werden darf. Solche sind kaum denkbar. Die Staatsanwaltschaft wird es begrüßen, wenn sie vor der Anklageerhebung von sachkundiger Seite die Einwendungen gegen die beabsichtigte Anklage erfahrt, was freilich selten der Fall ist. Auch wenn kein Fall des § 140 Abs. 1, wohl aber einer des § 140 Abs. 2 vorliegt — etwa bei Anklagen zum erweiterten Schöffengericht —, kann die Staatsanwaltschaft die Beiordnung eines Verteidigers beantragen. Wie jeder nach dem Abschluß der Ermittlungen gestellte Antrag hat auch dieser bindende Wirkung (Absatz 3 Satz 2). 6. Verfahren beim Schlußgehör (Absatz 3 Satz 4). Hält die Staatsanwaltschaft eine höhere Zuständigkeit als die des Amtsrichters allein (§ 25 GVG) für begründet, und wählt sie nicht das beschleunigte Verfahren (§212 Abs. 2 Satz 2) oder das Strafbefehlsverfahren (§ 407 Abs. 4 Satz 2), so hat sie dem Beschuldigten und seinem Verteidiger den Abschluß der Ermittlungen mitzuteilen und ihnen Erklärungen anheimzustellen (§ 169 a Abs. 2). Hat der Beschuldigte keinen Verteidiger, ist die Aufforderung allein an ihn zu richten. Wenn aber die Staatsanwaltschaft die Bestellung eines Verteidigers herbeiführt, soll sie die Mitteilung an den Beschuldigten so lange zurückstellen, bis der Verteidiger beigeordnet worden ist. Dann sind die Mitteilungen an den Beschuldigten und an den Verteidiger zur gleichen Zeit zu bewirken. 7. Zuständigkeit (Absatz 4). Der Vorsitzende entscheidet „über die Bestellung"; er ist also sowohl zuständig, einen Verteidiger beizuordnen, als auch einen darauf gerichteten Antrag abzulehnen (OLG CeUe MDR 1965 597; OLG Düsseldorf MDR 1967 515). Das Gericht hat keine Zuständigkeit und kann, wenn es anderer Ansicht als der Vorsitzende ist, nicht an dessen Stelle einen Verteidiger beiordnen. Hat es das gleichwohl getan, bleibt eine von der Staatsanwaltschaft unangefochtene Bestellung wirksam. Zuständig ist der Vorsitzende des Gerichts, bei dem die Sache anhängig ist oder anhängig zu machen ist. Danach ist im Vorverfahren maßgeblich die Zuständigkeit des Gerichts, das für das Hauptverfahren zuständig ist, also des Gerichts, bei dem die Staatsanwaltschaft die Anklage erheben will. In Sachen, in denen zunächst die Staatsanwaltschaft die Bedeutung der Sache zu beurteilen hat (§ 24 Abs. 1 Nr. 2 und 3 GVG), richtet sich die Zuständigkeit nach der Erklärung der Staatsanwaltschaft, wo sie die Anklage erheben werde, doch kann die Strafkammer die Entscheidung dem Amtsgericht abgeben mit der Begründung, daß sie vor diesem eröffnen werde (§ 209). Ein Irrtum bei der Annahme der Zuständigkeit ist unschädlich; der Verteidiger ist wirksam bestellt, auch wenn die Hauptverhandlung schließlich vor einem anderen Gericht stattfindet. Im Hauptverfahren ist maßgeblich die Zuständigkeit des Gerichts, bei dem das Verfahren anhängig ist. Während der Vorbereitung des Revisionsverfahrens (§§ 341 ff.) ist, solange die Sache noch nicht an das Revisionsgericht abgegeben ist (§ 347 Abs. 2), nicht dessen Zuständigkeit sondern die des Gerichts maßgebend, dessen Urteil angefochten wird (RG HRR 1925 1403); das Revisionsgericht selbst bestellt einen Verteidiger nur, wenn ausnahmsweise die Verteidigung auch in der mündlichen Verhandlung vor dem Revisionsgericht (10 und 11) stattfinden soll (OLG Hamm NJW 1963 1513) oder wenn der Fall des § 350 Abs. 3 vorliegt. Nach der Hauptverhandlung kommt die Bestellung eines Verteidigers nach § 140 Abs. 2 seltener in Betracht (3 Abs. 3, 10). Maßgeblich ist alsdann die Zuständigkeit des nach § 462 zu ermittelnden Gerichts, für den Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens des Gerichts, dessen Urteil mit dem Antrag angefochten wird (§ 367 Abs. 1). 8. Entscheidung. Im Falle des § 140 Abs. 1 hat der Vorsitzende nur die Voraussetzungen festzustellen und dann ohne eigenes Ermessen den Verteidiger beizuordnen. Auch in bezug auf die Merkmale „In Frage — kommen" (§ 140 Abs. 1 Nr. 2 und 6) und „Führen — Können" (§ 140 Abs. 1 Nr. 3) waltet kein Ermessen ob. Der Vorsitzende kann die Bestellung nicht unterlassen (so E b S c h m i d t 9), weil etwa das Oberlandesgericht bei der Eröffnung die Sache dem Landgericht überweisen (§ 120 Abs. 2 Satz 2 GVG) oder die Strafkammer die Sache dem Oberlandesgericht zur Entscheidung vorlegen (§ 209 Abs. 3) will. Es ist Sache des rechtskundigen Verteidigers, Anträge in bezug auf die Eröffnung oder Verweisung zu stellen.

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§ 141 Anm. 9,10

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Im Falle des § 140 Abs. 2 wird die Verteidigung erst zufolge der richterlichen Feststellung notwendig, daß die Voraussetzungen dieser Bestimmung vorliegen (III 1 zu § 140). Im Falle des § 141 Abs. 3 Satz 1 entscheidet lediglich das pflichtgemäße Ermessen. Die Rechtsprechung der Revisionsgerichte hat die tatrichterliche Beurteilung der Voraussetzungen des § 140 Abs. 2 sehr weit nachgeprüft. Die von der Sorge für den Beschuldigten getragene, nahezu zu weitgehende Prüfung findet ihre Erklärung in einer den Entscheidungen zu entnehmenden oft erstaunlichen Engherzigkeit oder Sorglosigkeit der unteren Instanzen, bei dér Rechtsprechung des Reichsgerichts in den vierziger Jahren aber wohl auch in der Not, auf andere Weise nicht helfen zu können (RGSt. 74 304; 77 153). Im einzelnen ist zu bemerken: Bei der Bestellung eines Verteidigers besteht wegen der in § 140 Abs. 2 verwendeten unbestimmten Rechtsbegriffe ein gewisser richterlicher Beurteilungsspielraum ( K a p p e 370; OLG Stuttgart Justiz 1964 317), der in der Rechtsprechung zumeist durch die Wendung vom pflichtgemäßen Ermessen des Richters gekennzeichnet wird. Die Feststellung der Voraussetzungen des § 140 Abs. 2 ist indessen keine Ermessensentscheidung. Die zufolge der unbestimmten Fassung („geboten erscheint") verbleibende Entscheidungsfreiheit darf nicht willkürlich ausgeübt werden. Das Gericht darf, wie selbstverständlich ist, die Bestellung nicht aus äußerlichen, persönlichen oder sonst unsachlichen Gründen ablehnen. Es hat den Sachverhalt sorgfältig zu prüfen, alle Gesichtspunkte in Erwägung zu ziehen und darf sich keineswegs über § 140 Abs. 2 hinwegsetzen oder ihn, wenn die Bestellung nach § 140 Abs. 1 abgelehnt werden mußte, außer acht lassen (RGSt. 68 36; BGH NJW 1953 116). Es muß Besonderheiten des Falles, etwa einer Nervenkrankheit des Beschuldigten (RGSt. 74 305), einer Behinderung durch Gebrechen (OLG Hamm NJW 1952 1190), aber auch der Tatschwere Rechnung tragen, so daß es regelmäßig geboten sein wird, einen Verteidiger für Verhandlungen vor dem erweiterten Schöffengericht zu bestellen (OLG Bremen NJW 1955 1529). Auch die Rechtsfrage muß der Vorsitzende des Schöffengerichts, ja auch der allein entscheidende Amtsrichter, sorgfaltig in Erwägung ziehen: Bigamie, wenn eine Ehe im Ausland geschlossen war, Tatbestände mit normativen Tatbestandsmerkmalen oder solche, über deren Auslegung oder gar Verfassungsmäßigkeit Streit besteht, sollten, um einige Beispiele zu nennen, Veranlassung geben, einen Verteidiger nach § 140 Abs. 2 zu bestellen. 9. Begründung; Bekanntmachung. Wird ein Verteidiger bestellt, so bedarf das keiner Begründung. Hat der Vorsitzende die Bestellung von Amts, wegen geprüft und nicht für notwendig befunden, so sollte Er das aktenkundig machen. Eine auf Antrag ergehende ablehnende Entscheidung ist mit Gründen zu versehen. In der Regel wird, wenn die Voraussetzungen des § 140 Abs. 1 verneint werden, auch anzugeben sein, daß die Voraussetzungen des § 140 Abs. 2 nicht vorliegen und aus welchen Gründen. Die Entscheidungen sind nach § 35 bekanntzumachen; soweit sie in der Hauptverhandlung ergehen, durch Verkündung, sonst, da keine Beschwerdefrist besteht, durch Mitteilung. Der Beschluß, durch den die Bestellung eines Pflichtverteidigers abgelehnt wird (RG HRR 1942 256), muß dem Angeschuldigten vor der Hauptverhandlung bekanntgemacht werden, damit er sein Beschwerderecht ausüben oder sich eines Wahlverteidigers bedienen kann (RGSt. 48 387,67 313; R G DRiZ 1930 489; R G HRR 1935 8 2 4 ; R G J W 1938 1885; K G NJW 1954 124). Ergeht die Ablehnung kurz vor der Hauptverhandlung oder in ihr, dann wird das Verfahren auszusetzen sein, um den Angeklagten in den Stand zu setzen, Beschwerde einzulegen oder sich einen Verteidiger zu wählen (RGSt. 67 313, 314). 10. Umfang der Bestellung. Die Stellung als notwendiger Verteidiger beginnt mit der Bestellung; Rückwirkung kann ihr nicht beigelegt werden (OLG Düsseldorf NJW 1952 1151; OLG Hamm NJW 1958 642; OLG Köln JMB1NRW 1964 132). Der Pflichtverteidiger ist für das ganze Verfahren bestellt (RGSt. 40 16), sowohl für die erste als auch für die zweite Tatsacheninstanz (RG JW 1926 1215), einschließlich der Termine vor dem beauftragten oder ersuchten Richter (BGH NJW 1952 1426). Die Bestellung gilt auch für das Revisionsverfahren, namentlich das Einlegen und Begründen der Revision; die Abgabe der Gegenerklärung auf die Revision der Staatsanwaltschaft, des Privat- oder Nebenklägers;

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Anm. II die Stellungnahme zu dem Antrag der Staatsanwaltschaft, die Revision nach § 349 Abs. 2 zu verwerfen (OLG Hamm NJW 1970 440); die Vertretung im Haftprüfungsverfahren (BGHSt. 22 167). Dagegen ist von der Bestellung regelmäßig die Vertretung in der Revisionshauptverhandlung ausgenommen (BayObLG DRiZ 1928 241; KG JR 1951 217; 1953 385; OLG Hamm NJW 1958 1934; JMB1NRW 1962 227 = AnwBl. 1963 144). Denn in dieser ist die Verteidigung nur für den verhafteten aber nicht zum Hauptverhandlungstermin vorgeführten Angeklagten notwendig (§ 350 Abs. 3; a. A. LG Frankfurt NJW 1967 1816). Daher umfaßt die Bestellung diesen Abschnitt nach dem Gerichtsgebrauch grundsätzlich n i c h t D e r Bundesgerichtshof will die Bestellung des Verteidigers im gleichen Umfange beschränkt sehen, begründet das aber damit, daß der Tatrichter die revisionsrechtliche Schwierigkeit oft nicht beurteilen könne und der für die Tatsacheninstanz beigeordnete Verteidiger im allgemeinen nicht derjenige sei, der für die Revisionsinstanz beigeordnet werden sollte (BGHSt. 19 258). Demgegenüber ist daran festzuhalten, daß der Tatrichter den Verteidiger zwar grundsätzlich nicht für die Revisionsverhandlung bestellen will, daß er die Bestellung aber auf die Revisionshauptverhandlung ausdehnen kann. Das wird nur in ganz klar liegenden Fällen geboten sein; sonst ist es dem Revisionsgericht zu überlassen. Tritt das Bedürfnis erst in der Revisionsinstanz hervor, ist die alleinige Zuständigkeit des Revisionsgerichts begründet 2 . Mit der Rechtskraft endet die Bestellung von sich aus (OLG Oldenburg NJW 1963 170; OLG Hamm JMB1NRW 1963 109), wenn Streit über die Wirksamkeit eines Rechtsmittelverzichts besteht, jedoch erst mit der Entscheidung des Rechtsmittelgerichts (OLG Hamm JMB1NRW 1962 227). Das Nachverfahren des § 30 Abs. 1 JGG ist Teil des Verfahrens, das mit dem Schuldspruch (§ 27 JGG) geendet hat, und zwar auch dann, wenn das alte Verfahren mit einem neuen Verfahren verbunden ist, in dem die Verteidigung ohne die Fortsetzung des alten Verfahrens nicht notwendig wäre. Aber auch wenn ohne Verbindung in einem neuen Verfahren nach § 31 Abs. 2 J G G auf eine einheitliche Jugendstrafe unter Einbeziehung der nach § 27 JGG ausgesetzten Jugendstrafe zu erkennen ist, ist die Verteidigung notwendig, weil sie in der in die Strafe einzubeziehenden Sache notwendig war ( R o e s t e l NJW 1969 2001). Sonst aber gilt die Bestellung nicht für Nachtragsentscheidungen über Bewährung (§ 453 Abs. 1), für das Verfahren bei Aussetzung des Strafrestes nach § 26 StGB (§ 454 Abs. 1), für die Entscheidungen nach §§ 42 f bis h, 42 1 Abs.4 und § 42 m Abs. 4 StGB (§ 463 a Abs. 2), für Strafaufschubgesuche (§ 456), bei der Gesamtstrafenbildung (§ 460), für Vollzugs- und Gnadenentscheidungen (OLG Naumburg JW 1938 2492), doch kann dafür ein Verteidiger neu beigeordnet werden (11). Die Bestellung als Pflichtverteidiger umfaßt wieder die Tatsacheninstanzen nach Rückverweisung durch das Revisionsgericht (RGSt. 40 4) und das Wiederaufnahmeverfahren (RGSt. 22 97; OLG Hamm NJW 1958 642) bis zur Anordnung der Wiederaufnahme des Verfahrens und der Erneuerung der Hauptverhandlung (§ 370; RGSt. 29 278; 40 5). 11. Beschränkte Bestellung ist im Falle des § 140 Abs. 1 nicht zulässig, wohl aber in dem des § 140 Abs. 2 ( M ü l l e r - S a x 2 b). Die Befugnis, die Bestellung ganz abzulehnen, schließt auch die Ermächtigung in sich, die Beiordnung auf bestimmte Abschnitte des Verfahrens zu beschränken (RGSt. 62 23) 3 . Demzufolge ist es zulässig, einem nichtverteidigten Angeklagten einen Verteidiger zum Begründen der Revision (RG JW 1892 8), für die am Ende der Anmerkung 10 genannten Prozeßabschnitte (OLG München MDR 1957 696), die Hauptverhandlung vor dem Revisionsgericht oder für den Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens (§ 366; OLG Hamm NJW 1961 933; OLG Braunschweig NdsRpfl. 1965 139) zu bestellen. Die entgegengesetzte Auffassung (OLG Hamm JMB1NRW 1963 109) verkennt die Bedeutung des § 140 Abs. 2, der die Bestellung eines Verteidigers in (allen) anderen Fällen als denen des Absatzes 1, also auch außerhalb einer Hauptverhandlung und damit 1

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A. A. — Bestellung des Pflichtverteidigers wirkt für die g a n z e Revisionsinstanz — OLG Hamburg NJW 1964 418; S e y d e l NJW 1964 1035; P e t e r s § 29 III 3. weitergehend - stets alleinige Zuständigkeit des Revisionsgerichts - OLG Köln JMB1NRW 1964 311; E b S c h m i d t 12. Die gelegentliche Bemerkung des Reichsgerichts, die Bestellung eines Verteidigers für einzelne Prozeßabschnitte sei der Strafprozeßordnung fremd (RGSt. 37 23), ist inzwischen durch § 117 Abs. 4 Satz 1 widerlegt.

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auch nach ihrem Abschluß, zuläßt. Zwar ist dem Gesetz zu entnehmen, daß mit der Rechtskraft auch die Verteidigerbestellung ihr Ende findet, nicht aber, daß die Neubestellung nach Rechtskraft ausgeschlossen sein soll. Bei der weitgehenden Fürsorge, die das Gesetz für die ordnungsgemäße Verteidigung entfaltet, ist im Gegenteil eine weite Anwendung des § 140 Abs. 2 als Wille des Gesetzgebers zu erkennen. Dem steht nicht entgegen, daß in § 140 Abs. 2 der Ausdruck „Beschuldigter" verwendet wird. Dieser Begriff hat auch sonst zuweilen eine sehr umfassende Bedeutung (2 zu § 148). Abgesehen von den oben genannten Fällen und der Bestellung für einzelne Akte des Vorverfahrens oder einer vorweggenommenen Zeugenvernehmung (§ 223) wird eine beschränkte Bestellung nur selten in Betracht kommen. Die Beschränkung auf Teile der im Gerichtssaal stattfindenden Hauptverhandlung muß als unzulässig angesehen werden. Die Bestellung lediglich für die erste Instanz ist zwar möglich (RGSt. 62 23), nötigt aber, in der Berufungsinstanz erneut Beschluß zu fassen. Dabei wird der Vorsitzende, wenn die Sachund Rechtslage unverändert ist, kaum eine andere Stellung als die Vorinstanz einnehmen können, wenn er nicht das Vertrauen des Angeklagten erschüttern will, der sich auf den Beistand eines Verteidigers eingerichtet hatte. Er ist in seiner Entschließung an den Vertrauensgrundsatz gebunden, doch können neue Umstände, z. B. Teilrechtskraft, Geständnis oder Klärung durch Zeugen, deren Ladung für die Berufungsverhandlung nicht beantragt wird (§ 325), es rechtfertigen, die Verteidigerbestellung abzulehnen. Ist der Verteidiger nur für die erste Instanz bestellt worden, aber mit Billigung des Vorsitzenden auch in der Berufungsinstanz aufgetreten, dann ist er als auch für die zweite Instanz bestellt zu behandeln (OLG Köln NJW 1956 1936). 12. Anfechtung. Die Beiordnung eines Verteidigers ist grundsätzlich der Anfechtung, sei es durch Beschwerde, sei es durch Revision, entzogen. Die Auswahl eines Verteidigers entgegen dem Wunsche des Angeklagten ist zwar anfechtbar, verletzt aber weder ein Grundrecht (BVerfGE 9 36 = NJW 1959 571) noch prozessuale Rechte (RG Recht 1917 1524) des Beschuldigten. Dieser hat auch, wenn einer der Fälle des § 142 Abs. 2 vorliegt, keinen Anspruch darauf, einen Rechtsanwalt und nicht einen Referendar als Verteidiger zu erhalten (RGSt. 33 332). Die Bestellung ist fehlerhaft, wenn ein Verteidiger bestellt wird, der unfähig ist, Verteidiger zu sein (III zu § 138), wobei namentlich der Fall des Interessengegensatzes in Betracht kommen kann. Sie ist es auch, wenn bei notwendiger Verteidigung eine „andere (als in § 138 Abs. 1 genannte) Person" allein zum Verteidiger bestellt, oder wenn ein Referendar beigeordnet wird, obwohl einer der Fälle des § 140 Abs. 1 Nr. 1, 3 oder 6 vorliegt (§ 142 Abs. 2) oder wenn der Vorsitzende sein Ermessen dadurch mißbraucht, daß er, ohne den Einzelfall individuell zu prüfen, grundsätzlich einen anderen als den bisherigen Wahlverteidiger beiordnet (KG JR 1957 469; D a h s Hdb. 82). Wo die Anfechtung zulässig ist, steht sie auch der Staatsanwaltschaft offen, nicht jedoch den übrigen Prozeßbeteiligten, wie z. B. dem Nebenkläger. Entscheidungen, mit denen ein Antrag auf Bestellung eines Verteidigers abgelehnt wird, unterliegen der Beschwerde. Sie können in der Regel auch mit der Revision angefochten werden. 13. Die Beschwerde gegen die Ablehnung, einen Verteidiger zu bestellen oder als solchen eine bestimmte Person auszuwählen, ist nach § 304 Abs. 1 statthaft und auch, weil die Entscheidung nicht im inneren Zusammenhang mit der Urteilsfällung steht, nicht durch § 305 Satz 1 ausgeschlossen (RGSt. 67 312) 4 . Sie ist auch statthaft, wenn während der Hauptverhandlung die Bestellung eines Verteidigers versagt und namentlich wenn ein Verteidiger ausgeschlossen (III zu § 138) wird. Da der Nachteil, der dem Angeklagten entsteht, wenn ihm ein Verteidiger verweigert wird, vielfach auch dann nicht wieder gutgemacht werden kann, wenn das Urteil aufgehoben wird, ist die Hauptverhandlung zu unterbrechen oder zu vertagen, damit zunächst das Beschwerdeverfahren durchgeführt werden kann (RGSt. 67 313). "Ebenso OLG Bremen NJW 1951 454; BayObLGSt. 1952 159 = NJW 1952 1224; OLG Köln NJW 1953 1807; JMB1NRW 1964 131; OLG Hamburg NJW 1966 2324.

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§ 141 Anm. 14

Im Beschwerdeverfahren entscheidet das Beschwerdegericht in Beschlußbesetzung (OLG Hamburg N J W 1966 2324). Die Regel des Absatzes 4, daß der Vorsitzende entscheidet, ist für das Rechtsmittelverfahren nicht wiederholt; sie kann ohne gesetzliche Anordnung nicht entsprechend angewendet werden. 14. Revision. Verstöße gegen die §§ 140, 141 begründen die Revision. Der absolute Revisionsgrund des § 338 Nr. 5 liegt vor, wenn in einem der Fälle des § 140 Abs. 1 die Hauptverhandlung ganz oder teilweise ohne Verteidiger stattgefunden hat, mag die fehlende Verteidigerbestellung auf Versehen, Rechtsirrtum oder einem anderen Grunde beruhen (VI 3 zu § 145). Der absolute Revisionsgrund ist auch gegeben, wenn dem Angeschuldigten ein Verteidiger nach § 140 Abs. 2 beigeordnet worden war, an der Haupt Verhandlung aber ganz oder teilweise kein Verteidiger, sei es der beigeordnete, sei es ein anderer, teilgenommen hat (RGSt. 70 320). Er ist endlich gegeben, wenn ein Verteidiger nach § 138 Abs. 2 allein oder wenn ein Referendar in einer Sache beigeordnet worden ist, in der er nicht verteidigen durfte. Der Angeklagte hatte dann keinen vom Gesetz vorgesehenen Verteidiger. Der Verfahrensmangel entfallt nicht dadurch, daß die Hauptverhandlung im weiteren Verlaufe einen günstigen Wandel für den Angeklagten erkennen läßt ( R G H R R 1942 256). Er wird nicht dadurch geheilt, daß das Urteil nicht zu einer der Maßregeln des § 140 Abs. 1 Nr. 3 oder zu einer Verurteilung wegen eines Verbrechens geführt hat (RGSt. 70 317). Die Außiebung kann, wenn mehrere Delikte angeklagt sind, nicht auf diejenigen beschränkt werden, welche die Verteidigung notwendig gemacht haben. Denn durch die Verbindung ist eine einheitliche Sache entstanden; die Notwendigkeit der Verteidigung erstreckt sich auf das ganze Verfahren (I 2 zu § 140). Davon gilt auch dann keine Ausnahme, wenn die Voraussetzungen des Verbots der Berufsausübung nur bei einem von mehreren angeklagten Delikten vorliegen (BGH G A 1959 55). Nicht § 338 Nr. 5, sondern § 338 Nr. 8 (bei Ablehnung in der Hauptverhandlung) oder § 336 (bei Ablehnung vor der Hauptverhandlung) ist verletzt, wenn der Vorsitzende § 140 Abs. 2 falsch angewendet hat. Das ist der Fall, wenn er die Verteidigerbestellung abgelehnt und dabei die ihm nach jener Vorschrift überlassene beschränkte Entscheidungsfreiheit mißbräuchlich oder rechtsirrtümlich ausgeübt oder § 140 Abs. 2 völlig außer acht gelassen hat ( R G JW 1934 901; RGSt. 74 305; O L G Stuttgart Justiz 1964 317). Denn im Falle des § 1 4 0 Abs. 2 ist die Verteidigung nicht kraft Gesetzes notwendig, sondern wird es erst zufolge der Bestellung durch den Vorsitzenden (III 1 zu § 140). Die Ablehnung eines absoluten Revisionsgrundes (§ 338 Nr. 8 ist in Wirklichkeit ein relativer) liegt auch der älteren Rechtsprechung zugrunde, die stets geprüft hat, ob das Urteil auf dem Mangel, der Verletzung des § 140 Abs. 2, beruht hatte (RGSt. 68 36; 74 305; BGHSt. 6 202; O L G Hamburg HESt. 3 24; O L G Düsseldorf SJZ 1950 59; wohl auch B G H N J W 1953 116 - wegen des Hinweises auf RGSt. 68 36 und 74 305 - und B G H LM § 140 Nr. 18). Demgegenüber wird in letzter Zeit häufiger die Meinung vertreten, auch bei den Angeklagten beschwerender Verletzung des § 140 Abs. 2 sei § 338 Nr. 5 anzuwenden (BGH LM § 140 Nr. 16; BGHSt. 15 307 5 ). Diese Ansicht setzt den unterschiedlichen Wortlaut der beiden ersten Absätze des § 140 beiseite. Der Gesetzgeber hat § 140 Abs. 2 nicht als § 140 Abs. 1 Nr. 8 konstruiert, vielmehr eine Verpflichtung des Vorsitzenden begründet, die er den Fällen der notwendigen Verteidigung in § 140 Abs. 1 entgegensetzt. Richtig unterscheidet RGSt. 70 320 zwischen der notwendigen und der angeordneten Verteidigung und betont deren Gleichheit erst von der Bestellung an. § 140 Abs. 2, § 336 sind verletzt, wenn der Angeklagte auf einen Antrag nach § 140 Abs. 2 nicht beschieden worden ist. Es kommt nicht darauf an, ob er den Antrag in der Hauptverhandlung wiederholt hat ( R G H R R 1935 824; R G J W 1938 1885®). Denn auch in dieser bestand noch die Pflicht des Vorsitzenden, ihn zu bescheiden. Jedoch scheiden Anträge aus, die in einem früheren Zeitpunkt des Verfahrens gestellt und nach Zustellung der An5

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Ebenso OLG Hamm NJW 1951 614; OLG Bremen NJW 1955 1530; OLG Hamm NJW 1957 1530; OLG Celle NJW 1962 601; OLG Düsseldorf NJW 1964 877; P e t e r s § 2 9 III 3; E b S c h m i d t 30. Ebenso K G NJW 1954 124; OLG Celle NdsRpfl. 1950 162; OLG Schleswig SchlHA 1967 209. Die ältere Rechtsprechung, die Wiederholung des Antrags in der Hauptverhandlung verlangte (RGSt. 48 388), ist überholt.

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§142

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

Anm. 1,2 klageschrift nicht wiederholt worden sind (RG JW 1937 630). Endlich ist § 137 in Vbdg. mit § 336 verletzt, wenn dem Angeklagten ein Antrag auf Beiordnung des Verteidigers abgelehnt worden ist und die Hauptverhandlung so kurz nach'der Ablehnung stattgefunden hat, daß der Angeklagte nicht genügend Zeit hatte, sich einen Wahlverteidiger zu nehmen, oder dieser, sich einzuarbeiten.

§ 142 (1) Der zu bestellende Verteidiger wird durch den Vorsitzenden des Gerichts möglichst aus der Zahl der bei einem Gericht des Gerichtsbezirks zugelassenen Rechtsanwälte ausgewählt. (2) In den Fällen des § 140 Abs. 1 Nr. 2 , 4 , 5 und 7 sowie des § 140 Abs. 2 können auch Rechtskundige, welche die vorgeschriebene erste Prüfung für den Justizdienst bestanden haben und darin seit mindestens einem Jahr und drei Monaten beschäftigt sind, für den ersten Rechtszug als Verteidiger bestellt werden, jedoch nicht bei dem Gericht, dessen Richter sie zur Ausbildung überwiesen sind. Entstehungsgeschichte. § 142 hatte früher den Inhalt von § 141 Abs. 3 Satz 1; § 142 dagegen war früher als § 144 eingeordnet. Die Auswahl des Verteidigers war für das vorbereitende Verfahren dem Amtsrichter übertragen; das Wort „möglichst" fehlte. Dieses findet sich erstmals in § 33 der ZustVO vom 21. 2. 1940 (RGBl. I 405) und ist dann durch Art. 3 Nr. 52 VereinhG in die Strafprozeßordnung eingeführt worden. Nach dieser Fassung konnten auch Justizbeamte, die nicht als Richter angestellt waren, als Verteidiger bestellt werden. Für Referendare waren keine besonderen Voraussetzungen vorgeschrieben. Durch Art. 3 Nr. 3 StPAG ist die Möglichkeit beseitigt worden, Justizbeamte, die nicht als Richter angestellt sind, als Verteidiger beizuordnen. Für Referendare ist als Voraussetzung eingefügt worden, daß sie mindestens 15 Monate im Vorbereitungsdienst beschäftigt sind. Ferner ist die Zulässigkeit, sie zu bestellen, auf bestimmte Fälle eingeschränkt worden. Schrifttum: G ü n t h e r , AnwBl. 1970 65.

Ablehnungsgründe für Armenanwälte und Pflichtverteidiger,

1. Als Pflichtverteidiger kommen grundsätzlich Rechtsanwälte, niemals Hochschullehrer, und ausnahmsweise Gerichtsreferendare (4) in Betracht. Der Vorsitzende darf keine Person bestellen, die unfähig ist, Verteidiger zu sein (III zu § 138). Er hat bei der Entscheidung, ob er anstelle eines Rechtsanwalts einen Gerichtsreferendar bestellt, die Schwierigkeit der Sache zu berücksichtigen, so daß Absatz 2 nur im Verfahren vor dem Amtsgericht Anwendung finden wird. Er muß Einwendungen des Beschuldigten gegen einen in Aussicht genommenen oder bestellten Verteidiger prüfen und soll in der Regel dem Beschuldigten den Anwalt seines Vertrauens beiordnen (BVerfGE 9 3 8 = N J W 1970 571; D a h s Hdb. 82). 2. Rechtsanwälte (Absatz 1). Bestellt werden können sämtliche Rechtsanwälte der Bundesrepublik, die beim Bundesgerichtshof zugelassenen jedoch (§ 172 Abs. 1 BRAO) nur von den Vorsitzenden der Strafsenate des Bundesgerichtshofs. Indessen sollen die Verteidiger — und so geschieht es auch in der Praxis — regelmäßig den Rechtsanwälten entnommen werden, die im Gerichtsbezirk zugelassen sind. Wird aber ausnahmsweise ein auswärtiger Anwalt bestellt, ist die Einschränkung, daß er nur die Vergütung eines ortsansässigen Anwalts beanspruchen dürfe, unzulässig und unbeachtlich; der Pflichtverteidiger ist unbeschränkt bestellt (OLG Hamm N J W 1968 855)'. Der Rechtsanwalt ist grundsätzlich verpflichtet, das Amt zu übernehmen (§ 49 Abs. 1 BRAO), doch kann er beantragen, ihn von der Verpflichtung zu entbinden, wenn er im Übermaß mit Verteidigungen belastet ist oder aus sonstigen wichtigen Gründen die Verteidigung nicht führen kann (§ 48 Abs. 2 BRAO). Es kann notwendig sein, wegen besonderer Spezialkenntnisse einen Anwalt zu beauftragen, der Pflichtverteidigungen ungern übernimmt. Dieser Ehrenpflicht sollte sich ein Anwalt 1

A. A. — Anwalt, der die Gebührenbeschränkung nicht hinnimmt, ist nicht bestellt — OLG Hamm NJW 1954 1541.

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§ 142 Anm. 3

nicht entziehen, doch wird immer Übereinstimmung zwischen Vorsitzendem und Anwalt wegen der Bestellung anzustreben sein. Wenn auch den Wünschen des Beschuldigten weitgehend Rechnung getragen werden soll (1), so hat dieser doch, wenn er dafür nicht besondere Gründe vorbringt, keinen Rechtsanspruch darauf, daß ihm ein bestimmter Rechtsanwalt bestellt werde (OLG Stuttgart NJW 1970 1466), auch nicht sein Wahlverteidiger, der — etwa wegen mangelnder Honorierung — die Wahlverteidigung nicht führen will ( W i e b r i n g h a u s , MenschRKonv., III 3 D zu Art. 6). Der Beschuldigte kann nicht erzwingen, daß ihm ein „Staranwalt" aus einer fernen Stadt beigeordnet wird, der vielleicht gar nicht bereit ist, das Amt zu übernehmen. Auf der anderen Seite darf der Vorsitzende die Bestellung bestimmter spezialisierter Rechtsanwälte, etwa für Wehrdienstverweigerer oder bei Landfriedensbruch, nicht deshalb versagen, weil sie dem Gericht „unbequem" sind ( D a h s Hdb. 82). 3. Vertreter. a) Allgemeine Vertreter. Im Gegensatz zur Wahl des Beschuldigten, die in erster Linie von dem Vertrauen zum Verteidiger geleitet ist, dient die staatliche Bestellung hauptsächlich dem staatlichen Interesse an einem prozeßordnungsgemäßen Verfahren. Daß er diesem gerecht werden kann, wird von jedem Rechtsanwalt vermutet, so daß Pflichtverteidigungen zuweilen, wenn auch nicht gegen den Willen des Beschuldigten, in der Reihenfolge einer Liste zugeteilt werden. Alsdann bestehen keine Bedenken, den Grundsatz, daß dem Vertreter die anwaltlichen Befugnisse des Rechtsanwalts zustehen, den er vertritt (§ 53 Abs. 7 BRAO), auch auf Pflichtverteidigungen anzuwenden (OLG Köln NJW 1954 124; OLG Stuttgart NJW 1955 1291; OLG Hamburg NJW 1963 2040 2 ). Da es indessen Rechtsanwälte gibt, die nur sehr selten Strafverteidigungen führen, der Staat aber an der Pflichtverteidigung durch einen im Strafprozeß erfahrenen Anwalt im eigenen Interesse und in dem des Angeklagten interessiert ist, kann der Vorsitzende den Eintritt des Vertreters durch persönliche Bestellung sowohl ausschließen, als auch, wenn das nicht geschehen, zum Anlaß nehmen, die Bestellung zurückzunehmen, wenn auch in der Praxis solche Fälle vermeidbar sein werden. b) Sonstige Vertreter. Im übrigen kann der bestellte Pflichtverteidiger die Bestellung nicht von sich aus dadurch unwirksam machen, daß er die Verteidigung, sei es auch mit Zustimmung des Gerichts oder des Beschuldigten, durch Untervollmacht auf einen anderen überträgt (BGH NJW 1958 1308)3. Wenn aber für ihn ein anderer, der nach § 142 als Verteidiger bestellt werden kann, mit Zustimmung des Gerichts auftritt, so liegt in der Zulassung des Vertreters durch das Gericht die stillschweigende Bestellung auch des anderen, indessen ohne eigenen Gebührenanspruch an das Gericht, zum Verteidiger (OLG Hamburg NJW 1963 2040) 4 . Die Stellvertretung des bestellten Verteidigers (Pflichtverteidigers) durch Referendare ist, auch bei Zustimmung des Beschuldigten und des Gerichts, unzulässig (BGH NJW 1958 1308; 1967 165)5. Es unterliegt allein der Entscheidung des Vorsitzenden, ob er einen Referendar als Pflichtverteidiger auftreten lassen will (§ 142 Abs. 2 in Vbdg. mit Absatz 1), nicht derjenigen des Verteidigers. Mit Zustimmung des Gerichts darf der Pflichtverteidiger den Referendar zum Zwecke der Ausbildung Verteidigungsaufgaben wahrnehmen lassen. Dabei muß der Verteidiger selbst während der ganzen Verhandlung anwesend bleiben und in der Lage sein, jederzeit einzugreifen. Er muß das tun und die Aufgaben selbst erledigen, wenn der Referendar ihnen nicht gewachsen ist. Das Gericht kann seine Erlaubnis jederzeit, auch während der Verhandlung, zurücknehmen (BGH NJW 1958 1308). 2

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5

mit Nachw. der älteren Rspr.; a. A. — Pflichtverteidiger kann seine Aufgabe nicht übertragen — P e s t a l o z z a JW 1932 2182. Ebenso K G JW 1933 1807; a. A. RG D R i Z 1928 307. Ebenso RGRspr. 10 104; OLG Braunschweig JW 1932 2182; Rpfleger 1956 114; K G JW 1933 1087. A . A . O L G Hamburg JW 1932 2182; OLG Stuttgart NJW 1955 1291; OLG Hamm G A 1959 379.

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§ 1 4 2 Anm. 4—6 § 143 Anm. 1

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

4. Referendare. Der Kreis der in Absatz 2 Genannten umfaßt Rechtskundige, welche die vorgeschriebene erste Prüfung für den Justizdienst bestanden haben, und darin (noch) beschäftigt sind. Der Justizdienst ist nicht mehr — was der Wortlaut der ersten Satzhälfte zuließe — der als Richter oder Staatsanwalt, sondern nur der sog. Vorbereitungsdienst (§ 5 Abs. 3 DRiG), wie sich aus dem Schlußteil („zur Ausbildung überwiesen") ergibt. Absatz 2 umfaßt also nur die Gerichtsreferendare (BGHSt. 20 96). Das Gericht soll, namentlich zum Zwecke der Ausbildung, seine eigenen Kräfte verwenden können. Der Referendar muß wenigstens 15 Monate im Vorbereitungsdienst beschäftigt sein (ebenso § 139), eine Voraussetzung, die mit den Justizausbildungsordnungen zusammenhängt. Ausgeschlossen ist der Referendar von der Verteidigung, wenn die Hauptverhandlung im ersten Rechtszuge vor dem Oberlandesgericht oder dem Landgericht stattfindet (§ 140 Abs. 1 Nr. 1); wenn das Verfahren zur Unterbringung in einer Heil- oder Pflegeanstalt oder zur Untersagung der Berufsausübung führen kann (§ 140 Abs. 1 Nr. 3); und wenn zur Vorbereitung eines Gutachtens über den Geisteszustand des Beschuldigten seine Unterbringung in einer öffentlichen Heil- oder Pflegeanstalt in Frage kommt (§ 140 Abs. 1 Nr. 6). Der Referendar darf Verteidiger nur im ersten Rechtszuge sein. Danach darf er nicht in Berufungssachen vor der kleinen Strafkammer auftreten. Da er außerdem nicht vor der großen Strafkammer verteidigen darf, kann er nur bei dem Amtsrichter und bei dem Schöffengericht als Verteidiger eingesetzt werden. Der Referendar darf als Verteidiger nicht bei dem Gericht bestellt werden, dessen Richter er zur Ausbildung überwiesen ist. Nach dem Sinn der Vorschrift ist mit Gericht der entscheidende Gerichtskörper gemeint, nicht das gesamte Amtsgericht. Der Referendar, der vom Amtsrichter A ausgebildet wird, kann also in einer Sitzung des Amtsrichters B verteidigen. Es wird nicht verlangt, daß nur Referendare, die beim Landgericht ausgebildet werden, beim Amtsgericht verteidigen dürfen. Allerdings wird das meist so sein, weil ein Referendar nach fünfzehn Monaten in der Regel nicht mehr beim Amtsgericht ausgebildet wird. 5. Vorsitzender. Wegen der Zuständigkeit des Vorsitzenden s. 7 zu § 141. 6. Beendigung. Das Amt des Pflichtverteidigers endet bei der beschränkten Bestellung (11 zu § 141) mit dem Prozeßabschnitt, für den der Verteidiger bestellt war, sonst mit dem Ende der notwendigen Verteidigung (10 zu § 141) oder mit der Rücknahme der Bestellung (§ 143). Dazu kann es kommen, wenn zwischen dem Angeklagten und dem Verteidiger kein Vertrauensverhältnis (mehr) besteht-(OLG Hamm NJW 1958 642; MDR 1967 856). Denn das Verhältnis zwischen Rechtsanwalt und Auftraggeber ist ein Treueverhältnis, und es ist ausgeschlossen, daß der Anwalt einen Auftrag beibehält, wenn dieses Treueverhältnis nicht besteht (Nr. 32 RiAA). Grundsätzlich gilt das auch für den Pflichtverteidiger, wenn auch der seltene Fall vorkommen kann, daß der Beschuldigte zwar verteidigt werden muß (§ 140), wegen seiner Veranlagung aber zu keinem Anwalt ein Vertrauensverhältnis gewinnen kann. Dann muß der Anwalt die Pflichtverteidigung führen (§ 49 BRAO), niederlegen kann er sie nicht ( D a h s Hdb. 95). Er kann aber beim Vorsitzenden beantragen, ihn von seinem Amt zu entbinden (§ 49 Abs. 2 in Vbdg. mit § 48 Abs. 2 BRAO). Dabei kommt es nur auf den Umstand an, daß kein Vertrauensverhältnis besteht; wie es dazu gekommen ist, namentlich ob der Verteidiger es selbst zerstört hat, muß gleichgültig bleiben 6 . Solange aber der Vorsitzende die Bestellung nicht aufgehoben hat, muß der Pflichtverteidiger seine Pflicht, auch gegen seinen Willen, erfüllen (KG JR 1968 472), sonst kann er sich standesrechtlich zu verantworten haben (EG Hamburg AnwBl. 1969 180).

§ 143 Die Bestellung ist zurückzunehmen, wenn demnächst ein anderer Verteidiger gewählt wird und dieser die Wahl annimmt. 1. Beendigung. Die Bestellung (§ 141) erlischt, wobei die erneute Wirksamkeit für die Wiederaufnahme vorbehalten bleibt, von sich aus mit der Rechtskraft (10 zu § 141). Sie 6

P e t e r s JR 1968 472; G ü n t h e r 66; a. A. K G JR 1968 471.

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Elfter Abschnitt. Verteidigung (Dünnebier)

§ 143 Anm. 2—4

endet weiter (endgültig) von sich aus durch den Tod des Pflichtverteidigers. Im übrigen erlischt sie, wenn die Notwendigkeit der Verteidigung nach § 140 Abs. 1 nicht mehr besteht, nicht von selbst, sondern nur durch ausdrückliche Rücknahme. Wird diese nicht ausgesprochen, bleibt die Bestellung bestehen und zwar, wenn die Voraussetzungen des § 140 Abs. 1 nicht oder nicht mehr vorliegen, auf der Grundlage des § 140 Abs. 2 (RGSt. 70 320). Wegen der Rücknahme im Falle des § 140 Abs. 2 s. 3 Abs. 2. Als Grundlage der Rücknahme kommen in Betracht: 2. Wahl eines Verteidigers. Wie kein Anlaß besteht, dem Angeklagten einen Verteidiger zu bestellen, der selbst einen gewählt hat (§ 141 Abs. 1 Satz 1), so besteht auch kein Grund, es bei der angeordneten Bestellung zu belassen, wenn der Angeklagte sich nach der Bestellung einen Verteidiger wählt. Die Bestellung ist deshalb — der einzige im Gesetz ausdrücklich geregelte Fall — zurückzunehmen, wenn der Angeklagte einen Verteidiger gewählt und dieser die Wahl uneingeschränkt angenommen hat (§ 143); Annahme mit der Beschränkung auf einzelne Verfahrenshandlungen genügt nicht (OLG Dresden H R R 1937 269). Solange die Bestellung nicht zurückgenommen ist, bleibt sie bestehen. Der Angeklagte hat dann zwei Verteidiger, die — solange keine Aufgabenverteilung stattgefunden hat — die gleichen Rechte, namentlich auf das Gehör, haben (OLG Oldenburg NdsRpfl. 1969 163). Der gewählte Verteidiger muß Rechtsanwalt oder Hochschullehrer sein oder zu den Personen gehören, die nach § 142 Abs. 2 zu Verteidigern bestellt werden können (RGSt. 29 14). Ist ein Rechtskundiger, der die vorgeschriebene erste Prüfung für den Justizdienst bestanden hat (§ 142 Abs. 2), gewählt worden, so kann die Bestellung erst zurückgenommen werden, nachdem das Gericht die Wahl nach § 138 Abs. 2 genehmigt hat. 3. Sonstige Fälle. Auch außerhalb des in § 143 geregelten Falles kann ein bestellter Pflichtverteidiger abberufen werden, ohne daß er durch einen anderen ersetzt wird (BGHSt. 7 71). Dafür kommen namentlich folgende Fälle in Betracht: Die notwendige Verteidigung fällt nachträglich weg, z. B. wenn in der Anklage die Eröffnung vor dem Landgericht beantragt war, dieses aber vor einem niederen Gericht eröffnet hat (RGSt. 21 266). Der Schuldspruch in einer Verbrechenssache (§ 140 Abs. 1 Nr. 2) ist in der Weise rechtskräftig geworden, daß der Angeklagte wegen eines Vergehens verurteilt worden ist; das Verfahren wird nur noch fortgeführt, weil die für das Vergehen ausgesprochene Strafe angefochten worden ist. Es war rechtsirrtümlich ein Fall des § 140 Abs. 1 Nr. 2 bis 6 angenommen worden. Der im Abwesenheitsverfahren Angeklagte ist zur Hauptverhandlung erschienen (1 letzter Absatz zu § 282). Es war ein Pflichtverteidiger bestellt worden, obwohl schon ein Verteidiger gewählt war. Im Falle des § 140 Abs. 2 ist es indessen regelmäßig unzulässig, die Verteidigerbestellung wieder rückgängig zu machen, wenn ohne Veränderung der Umstände der Vorsitzende lediglich seine Ansicht über die Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage geändert hat (BGHSt. 7 71). Der Widerruf einer fehlerhaften Verteidigerbestellung wäre, wenn er die Rechtslage des Beschuldigten nicht verschlechtert, an sich möglich ( J a g u s c h LM 2 zu § 143). Ihm wird jedoch regelmäßig der Grundsatz des Vertrauensschutzes entgegenstehen. Dieser verbietet es, eine zu großzügige Verteidigerbestellung ohne Veränderung der Umstände, die zu der Bestellung geführt haben, rückgängig zu machen, wenn der Beschuldigte sich zufolge gerichtlicher Entscheidung auf den Beistand eines Verteidigers eingestellt hat. 4. Auswechseln des Pflichtverteidigers. Auch wenn, anders als in den soeben erörterten Fällen, die Notwendigkeit der Verteidigung bestehen bleibt, kann die Verteidigerbestellung (§ 141) aus wichtigen Gründen widerrufen werden, jedoch nur, falls dem Angeklagten alsbald ein neuer Verteidiger bestellt wird. Ein solcher Grund kann vorliegen, wenn der Verteidiger ausfallt, weil ein Fall der Unfähigkeit, Verteidiger zu sein, vorliegt (III zu § 138; O L G H a m m N J W 1954 1259), aber auch, wenn zwischen Verteidiger und Angeklagtem ohne dessen Schuld kein Vertrauensverhältnis besteht (OLG H a m m N J W 1958 642). Demzufolge bietet es keinen Grund, einen neuen Verteidiger zu bestellen, wenn der bisherige es ablehnt, einen Wiederaufnahmeantrag zu stellen, weil er ihn nach sachgerechter Prüfung für aussichtslos hält (OLG Bremen AnwBl. 1964 288) oder gar, wenn der Verurteilte ohne sachliche Gründe für ein Wiederaufnahmeverfahren einen Verteidigerwechsel erzwingen will (OLG H a m m M D R 1967 856). Doch sollte einem nur subjektiv bestehenden, aber 917

§ 1 4 3 Anm. 5 §§ 1 4 4 , 1 4 5

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

nicht schlechthin unverständlichen Mißtrauen Rechnung getragen werden. Ein Auswechseln des Verteidigers kommt namentlich in Betracht, wenn die Sache an ein anderes Gericht verwiesen wird, weil es dem — an sich in seinem Amt verbleibenden Verteidiger — in der Regel nicht wird zugemutet werden können, an einem auswärtigen Gericht zu verteidigen. Dagegen sollten, wenn der Verteidiger eingearbeitet ist, in einem Vertrauensverhältnis zum Angeklagten steht und bereit ist, ihn weiter zu verteidigen, Reisekosten bei der Entscheidung keine Rolle spielen. 5. Verfahren. Im Falle des § 143 hat der Vorsitzende (BGHSt. 3 328) die Wahl, die Annahme der Wahl und weiter festzustellen, daß der Gewählte Rechtsanwalt oder Rechtslehrer ist oder zu dem Personenkreis des § 142 Abs. 2 gehört und daß im letzteren Falle seine Wahl genehmigt ist (2). Ein Anlaß, zu prüfen, ob bei dem Gewählten einer der Unfähigkeitsfälle (III zu § 138) gegeben ist, besteht nicht, doch sieht der Vorsitzende von der Rücknahme ab, wenn ihm bekannt, daß dies der Fall ist, oder wenn einer der seltenen Fälle vorliegt, in dem neben der Wahlverteidigung ausnahmsweise auch zusätzlich Pflichtverteidigung geboten ist (1 Abs. 3 zu § 141). Bei den sonstigen Rücknahmefallen (3,4) hat der Vorsitzende stets zu prüfen, ob nicht eine Verteidigung, die nach § 140 Abs. 1 nicht notwendig ist, nach § 140 Abs. 2 aufrechterhalten werden muß. Bei allen Rücknahmeentscheidungen muß er wegen des Zeitpunkts auf den Stand des Verfahrens Rücksicht nehmen. Er darf die Bestellung nicht zur Unzeit zurücknehmen. Es darf weder die Gefahr, noch auch nur der Anschein entstehen, daß die Verteidigung unzulässigerweise beschränkt werden solle (BGHSt. 3 329). Die Rücknahme ist zu begründen (§ 34). Die bloße Mitteilung, es liege kein Fall der notwendigen Verteidigung vor, genügt nicht (OLG Hamm NJW 1958 1934). Die Entscheidung ist dem Beschuldigten, der Staatsanwaltschaft und dem abberufenen Verteidiger bekanntzumachen (§ 35). Dieser kann für seine eigene Person (§ 304 Abs. 2) Beschwerde einlegen (KG JW 1932 1772), nicht aber für den Angeklagten (§ 304 Abs. 1). Dieser kann aber selbst oder durch einen neuen Verteidiger oder auch durch einen Bevollmächtigten Beschwerde einlegen. Er ist nicht gehindert, den abberufenen Verteidiger zu bevollmächtigen. Bei der Abberufung eines Pflichtverteidigers wegen Unfähigkeit (III zu § 138) entscheidet nicht der Vorsitzende, sondern das Gericht (III 15 Abs. 2 zu § 138).

§ 144 § 144 hatte in Absatz 1 die Auswahl des zu bestellenden Verteidigers geregelt und in Absatz 2 die Bestellung von Justizbeamten, die nicht als Richter angestellt sind, sowie von Referendaren als Verteidiger für zulässig erklärt. Das VereinhG hat Absatz 1 mit verändertem Inhalt in den neuen § 142 Abs. 1, Absatz 2 in den neuen § 142 Abs. 2 übernommen. Demzufolge hat Art. 3 Nr. 53 VereinhG den § 144 aufgehoben.

§ 145 (1)Wenn in einem Falle, in dem die Verteidigung notwendig ist, der Verteidiger in der Hauptverhandlung ausbleibt, sich unzeitig entfernt oder sich weigert, die Verteidigung zu führen, so hat der Vorsitzende dem Angeklagten sogleich einen anderen Verteidiger zu bestellen. Das Gericht kann jedoch auch eine Aussetzung der Verhandlung beschließen. (2) Wird der notwendige Verteidiger gemäß § 141 Abs. 2 erst im Laufe der Hauptverhandlung bestellt, so kann das Gericht eine Aussetzung der Verhandlung beschließen. (3) Erklärt der neu bestellte Verteidiger, daß ihm die zur Vorbereitung der Verteidigung erforderliche Zeit nicht verbleiben würde, so ist die Verhandlung zu unterbrechen oder auszusetzen. (4) Wird durch die Schuld des Verteidigers eine Aussetzung erforderlich, so sind ihm die hierdurch verursachten Kosten aufzuerlegen.

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Elfter Abschnitt. Verteidigung (Dünnebier)

§ 145 Anm. I 1—4

Entstehungsgeschichte: Durch Art. 2 Nr. 12 A G GewVerbrG vom 24. 11. 1933 (RGBl. I 1000) wurde in § 145 zwischen den ersten und den zweiten Absatz eine dem jetzigen § 141 Abs. 2 entsprechende Vorschrift eingefügt und bestimmt, daß Absatz 1 Satz 2 entsprechend gelte. Das VereinhG hat die eingesetzte Vorschrift nach § 141 gebracht, dafür den jetzigen Absatz 2 eingefügt, Absatz 1 textlich angepaßt und in Absatz 4 die Worte „vorbehaltlich dienstlicher Ahndung" gestrichen. Schrifttum: B ö r k e r , Aussetzung der Hauptverhandlung wegen Wechsels des notwendigen Verteidigers, MDR 1956 578. I. Hauptverhandlung bei notwendiger Verteidigung. 1. Sinn der Vorschrift. § 145 ist eine Ergänzung von § 140 Abs. 1 und 2, § 141 Abs. 1 und 2. Er soll den Zweck dieser Bestimmungen für den Fall sichern, daß die vom Gesetz allgemein getroffene Fürsorge durch besondere Umstände des Einzelfalls in der Hauptverhandlung nicht wirksam wird. Aus § 145 ist der sonst in der Strafprozeßordnung nicht ausgesprochene Grundsatz herzuleiten, daß im Falle der notwendigen Verteidigung der Verteidiger zu den Personen gehört, deren Anwesenheit in der Hauptverhandlung das Gesetz vorschreibt (§ 338 Nr. 5; RGSt. 44 17). Darüber hinaus will die Vorschrift sicherstellen, daß der Verteidiger sich ausreichend auf die Hauptverhandlung vorbereiten kann (RGSt. 77 155). 2. Hauptverhandlung. § 145 gilt nur für die Hauptverhandlung bei notwendiger Verteidigung (Mot. H a h n 1 144; RGSt. 28 414 1 ). Es entspricht dem Schutzbedürfnis des Angeklagten, daß er in dieser während ihrer ganzen Dauer den Beistand eines Verteidigers hat. Im Sinne dieser Bestimmung umfaßt die Hauptverhandlung nicht deren vorweggenommene Teile, die kommissarische Vernehmung von Zeugen und Sachverständigen (§ 223) und des Angeklagten (§ 233 Abs. 2), weil für diese Akte ausdrücklich das Erscheinen des Verteidigers freigestellt ist (§ 224 Abs. 1 Satz 1; § 233 Abs. 3 Satz 1). 3. Notwendige Verteidigung liegt in den Fällen des § 140 Abs. 1 stets vor, im Falle des Absatzes 2 aber nur dann, wenn dem Angeklagten ein Pflichtverteidiger bestellt worden ist. Eine Prüfung, ob ein Fall der notwendigen Verteidigung (wirklich) vorliegt, unterbleibt mit der Folge, daß § 145 stets anzuwenden ist, wenn dem Angeklagten ein Pflichtverteidiger bestellt worden war (Mot. H a h n 1 144), mag diese Bestellung auch später nach § 143 deshalb zurückgenommen worden sein, weil der Beschuldigte sich einen Verteidiger gewählt hatte. Deshalb ist es insoweit gleichgültig, ob der Angeklagte einen Pflicht- oder einen Wahlverteidiger hat. Tritt sonst, wenn ein Fall des § 140 Abs. 2 in Betracht kommen könnte, der Fall des § 145 ein, so ist die Verteidigung nur notwendig, wenn das Gericht auf Antrag oder von Amts wegen feststellt, daß die Mitwirkung eines Verteidigers wegen der Schwere der Tat oder wegen der Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage geboten erscheint. Hat das Gericht das nicht schon früher geprüft, als es einen, später nach § 143 weggefallenen, Pflichtverteidiger bestellte, so hat es das alsbald auf Antrag oder von Amts wegen zu tun, wenn es nach §• 145 zu entscheiden hat (RGSt. 44 218). 4. Verteidiger. Die Vorschrift gilt stets für den bestellten Pflichtverteidiger. Sie gilt auch für den Wahlverteidiger (RGSt. 53 265), den der Beschuldigte in einem der Fälle des § 140 Abs. 1 gewählt hat, oder den er im Falle des Absatzes 2 gewählt hat, nachdem ihm bereits ein Pflichtverteidiger beigeordnet war, gleichgültig, ob die Bestellung des Pflichtverteidigers — wie regelmäßig — zurückgenommen worden (§ 143) oder bestehen geblieben ist 2 . Sie gilt auch dann, wenn der Beschuldigte sich in einem Fall, der nicht unter § 140 Abs. 1 fallt, einen Wahlverteidiger gewählt hatte, und das Gericht, wenn nach § 145 zu entscheiden ist, feststellt, daß die Mitwirkung eines Verteidigers wegen der Schwere der Tat oder wegen der Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage geboten erscheint, mithin ein Fall des § 140 Abs. 2 gegeben ist. 1

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Ebenso OLG Frankfurt JR 1950 570; BayObLGSt. 1952 1 5 6 = NJW 1952 1066; OLG Hamm NJW 1963 1416. weitergehend wohl BayObLGSt. 1952 1 5 8 = NJW 1952 1224; übereinstimmend BayObLG M D R 1960 426.

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§145 Anm. I 5; II 1,2

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

5. Keine Ausnahme für Absatz 4. § 145 gilt in allen seinen Absätzen nur für die Fälle, in denen die Verteidigung notwendig ist (RGSt. 44 217). Bei den Absätzen 1 und 2 ergibt das der Gesetzestext, bei Absatz 3 der Zusammenhang mit den Absätzen 1 und 2. Aber auch für Absatz 4 besteht nach seiner Stellung dieser Zusammenhang. Hätte mit jenem Absatz ein selbständiger Gedanke zum Ausdruck gebracht werden sollen, so hätte es eines besonderen Paragraphen bedurft. Entgegen der Ansicht von R o s e n b e r g (DRiZ 1925 430) ist auch den Motiven ( H a h n 1 144) nicht zu entnehmen, daß § 145 Abs. 4 auf die gewillkürte Verteidigung anwendbar wäre. Auch Absatz 4 findet daher nur bei der notwendigen Verteidigung Anwendung (BayObLGSt. 1952 157 = NJW 1952 1066), nicht (so OLG Düsseldorf JW 1930 2597) auch bei der gewillkürten. Im Rahmen der notwendigen Verteidigung (3) ist es auch bei Absatz 4 gleichgültig, ob der Verteidiger ein Pflicht- oder ein Wahlverteidiger ist (BayObLGSt. 1952 157 = NJW 1952 1066). Denn der Zwang, im Falle der notwendigen Verteidigung eine Hauptverhandlung auszusetzen, besteht bei beiden Arten von Verteidigern gleichermaßen. II. Anwendungsfälle. 1. Ausbleiben. Der Verteidiger ist ausgeblieben, wenn er bei Beginn der Hauptverhandlung nicht erschienen ist, doch ist es unwesentlich, wenn er nur den Aufruf der Sache (§ 243 Abs. 1) versäumt hat (RG HRR 1928 2332). Dagegen muß er anwesend sein, wenn der Angeklagte zur Person (§ 243 Abs. 1) oder zur Sache (§ 243 Abs. 4) vernommen wird (a. A. OLG Stuttgart NJW 1950 359) und bei den weiter unter 2 aufgeführten Prozeßhandlungen. Ausgeblieben ist der Verteidiger nur, wenn er verpflichtet war, zu erscheinen. Dazu muß er zum Termin geladen sein (RGSt. 53 265). Die Ladungsurkunde muß den Termin nach Tag und Stunde (a. A. RGSt. 52 248) und den Angeklagten angeben, dem der Verteidiger Beistand leistet. Endlich muß sie ordnungsmäßig zugestellt sein. Dagegen kommt es nicht darauf an, daß die Ladungsfrist (§218 Abs. 1 Satz 2 in Verbindung mit § 217 Abs. 1) innegehalten ist. Denn wenn sie unterschritten ist, darf der Verteidiger zwar verlangen, daß die Hauptverhandlung ausgesetzt werde (§218 Abs. 1 Satz 2 in Verbindung mit §217 Abs. 2); er darf aber nicht ausbleiben. Ist er ausgeblieben, dann ist sein Grund für die Anwendung des § 145 Abs. 1 bedeutungslos, aber dafür von Bedeutung, welche der beiden zur Verfügung stehenden Maßregeln das Gericht auswählt. In seltenen Fällen kann auch ein erschienener Verteidiger als ausgeblieben angesehen werden (OLG Hamm NJW 1963 1416). Das wird der Fall sein, wenn er zufolge seines geistigen Zustandes (Geisteskrankheit, Rauschmittelvergiftung, Trunkenheit; vgl. BGHSt. 23 334) unfähig ist, der Verhandlung zu folgen, ihre Ergebnisse zuverlässig in sich aufzunehmen und sie zur Verteidigung zu verwerten. Doch darf eine solche geistige Abwesenheit nicht angenommen werden, wenn der Verteidiger gelegentlich ermüdet, mit seinen Gedanken abschweift, Unterschriften leistet o. ä. Keinesfalls darf ein Verteidiger als ausgeblieben angesehen werden, der nicht so erscheint, wie das nach Verwaltungs- oder Standesvorschriften vorgeschrieben ist, der z. B. keine Robe oder andere als die übliche Straßenkleidung trägt. 2. Entfernen. Der Verteidiger entfernt sich unzeitig, wenn während seiner Abwesenheit Prozeßhandlungen vorgenommen werden müßten, die für die Führung der Verteidigung wesentlich sind (RGSt. 44 18; 63 249). Zu den wesentlichen Prozeßhandlungen rechnen namentlich: Die Vernehmung des Angeklagten über seine persönlichen Verhältnisse (RGSt. 53 171); die Verlesung des Anklagesatzes durch den Staatsanwalt; die Nachtragsanklage; die Vernehmung des Angeklagten zur Sache (RGSt. 38 217); die Vernehmung von Zeugen und Sachverständigen; die Entschließung, ob auf die Vernehmung (RGSt. 44 18) oder auf die Vereidigung von Zeugen und Sachverständigen verzichtet werden soll; der Hinweis auf die Veränderung des rechtlichen Gesichtspunktes; der Vortrag des Berichterstatters im Berufungsverfahren; in diesem erklärte Rechtsmittelbeschränkungen oder -rücknahmen; die Verkündung des Urteils einschließlich der mündlichen Begründung (RGSt. 57 265; 63 249). Auf den Grund der Entfernung kommt es, wenn er auch bei der Auswahl der dem Gericht zur Verfügung stehenden Maßnahmen eine Rolle spielt, in bezug auf die Anwendung des § 145 Abs. 1 nicht an. Deshalb hat sich ein Pflichtverteidiger unzeitig entfernt, den

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Elfter Abschnitt. Verteidigung (Dünnebier)

§ 145 Anm. II 3; III 1 , 2

der Vorsitzende, ohne die Bestellung zurückzunehmen, deshalb aus der Hauptverhandlung entlassen hat, weil keiner der Fälle des § 140 Abs. 1 mehr vorgelegen hat. Denn solange die Bestellung nicht zurückgenommen ist, bleibt die Verteidigung zufolge der Bestellung nach § 140 Abs. 2 notwendig (RG H R R 1935 403; 1 zu § 143). 3. Die Weigerung, die Verteidigung zu führen, kann einer ausdrücklichen Erklärung des Verteidigers entnommen werden, die er etwa als Protest gegen einen Gerichtsbeschluß abgibt, oder seinem schlüssigen Verhalten, indem er in der Hauptverhandlung untätig verharrt, wo er nach seiner Stellung als Verteidiger zum Handeln verpflichtet wäre. Auch hier ist der Grund der Weigerung ohne Belang, namentlich ist es gleichgültig, ob sich die Haltung des Verteidigers gegen den Angeklagten oder gegen das Gericht richtet. Im letzteren Falle ist § 145 jedoch nicht anwendbar, wenn sich der Verteidiger weigert, einem prozeßordnungswidrigen Ansinnen nachzukommen, etwa vor einem Rundfunkmikrophon zu sprechen (BGHSt. 10 207). Ungebühr vor Gericht ist keine Weigerung, die Verteidigung zu führen, sondern eine ungebührliche Verteidigung. Wegen der Anwendung von Absatz 4 auf diesen Fall s. V 3. III. Folgen. 1. Fehlende Verteidigung. Die Maßnahmen des Absatzes 1 können nur angeordnet werden, wenn der Angeklagte durch einen der Fälle des Absatzes 1 ohne Verteidigung ist. Hat er mehrere Verteidiger, so genügt es, wenn einer von ihnen die Verteidigung in der Hauptverhandlung führt; daß die mehreren Verteidiger stets gleichzeitig anwesend sind, ist nicht erforderlich, sie können sich gegenseitig unterrichten. Deshalb ist es auch zulässig, daß ein Verteidiger, der sich vorübergehend entfernt, dem Verteidiger eines Mitangeklagten Untervollmacht (6 vor § 137) erteilt, falls dadurch kein Interessenwiderstreit entsteht (RGSt. 54 175). Bei mehreren Verteidigern kommt es grundsätzlich nicht darauf an, wie sie die Arbeit unter sich geteilt haben, wenn das Gericht dem auch dadurch Rechnung tragen wird, daß es die Verhandlung unterbricht, damit sich der verbleibende Verteidiger einarbeiten kann. Ist dagegen der Stoff so umfangreich, daß er ohne Verteilung unter mehrere Anwälte schwer bewältigt werden kann, und hat sich daher der eine Anwalt nur einem besonderen Teilgebiet zugewendet, so sind je nach Lage des Falles die Grundsätze des Absatzes 1 (Fehlen des Verteidigers auf einem Teilgebiet) oder des Absatzes 3 (Übernahme neuer Verteidigung auf einem Teilgebiet) entsprechend anzuwenden (weitergehend RGSt. 71 354). Gehört bei mehreren Verteidigern der verbleibende nicht zu den Personen, die zu Verteidigern bestellt werden dürfen (III zu § 138), so ist der Angeklagte als verteidigungslos zu behandeln. Maßnahmen nach § 145 kommen nicht in Betracht, wenn der Mangel der fehlenden Verteidigung geheilt wird. Das ist stets möglich durch völlige Neuverhandlung, der aber in aller Regel eine Aussetzung zur weiteren Vorbereitung vorhergehen wird. Hat aber die Verteidigung nur während eines kleineren Teils gefehlt (Zuspätkommen, kurzes Weggehen, zu frühes Verlassen der Sitzung), so kann der Mangel dadurch geheilt werden, daß jener Teil wiederholt wird (RGSt. 38 217; 44 18). Ein Verzicht auf die Wiederholung ist unwirksam. 2. Aussetzung. Liegt einer der Anwendungsfälle des Absatzes 1 vor, dann hat das Gericht einen anderen Verteidiger zu bestellen. Es kann jedoch auch die Aussetzung beschließen. Aussetzen ist das Abbrechen der Verhandlung mit der Maßgabe, daß demnächst eine neue Verhandlung stattfinden werde. Das Aussetzen macht also auf der einen Seite die Wiederholung der Verhandlung notwendig, kann aber, wenn der Verteidiger nur vorübergehend ausgefallen ist, einen Verteidigerwechsel ersparen. Da dem Beschuldigten nach Möglichkeit der eingearbeitete und vertraute Verteidiger zu erhalten ist, verdient die Aussetzung vor der Bestellung eines neuen Verteidigers den Vorzug, wenn Anzeichen dafür bestehen, daß das Ausbleiben, unzeitige Entfernen oder Nichtverhandeln des Verteidigers nicht auf Gleichgültigkeit oder Ablehnung beruht, sondern auf Verhinderungen oder auf andere Umstände zurückzuführen ist, die ihm nicht zum Vorwurf gereichen und die behebbar sind (OLG Celle NdsRpfl. 1961 138).

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§145 Anm. III 3; IV 1

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

Das Gericht ist nicht gehindert, die Hauptverhandlung zunächst nur zu unterbrechen (§ 228 Abs. 1 Satz 2, § 229), um die Gründe eines Entfernens oder einer Weigerung, die Verteidigung zu führen, zu klären und für Abhilfe Zeit zu geben. Bei der Prüfung, ob der Grundsatz der Kontinuität der Verteidigung zurücktreten muß, wird zu beachten sein, daß auch bei Bestellung eines anderen Verteidigers die Wiederholung der Hauptverhandlung in der Regel nicht vermieden werden kann (IV 5). 3. Anderer Verteidiger. Kann durch eine Unterbrechung nicht geholfen werden und kann eine neue, ungestörte Hauptverhandlung auch nicht dadurch erwartet werden, daß die laufende ausgesetzt wird, dann hat der Vorsitzende dem Angeklagten sogleich einen anderen Verteidiger zu bestellen. Das wird der Aussetzung auch dann vorzuziehen sein, wenn der Verteidigermangel zwar behebbar, aber verschuldet und die Hauptverhandlung schon fortgeschritten ist, jedoch mit dem anderen Verteidiger fortgesetzt werden kann, also nicht wiederholt zu werden braucht. Das ist stets der Fall, wenn der bisherige Verteidiger sich weigert, die Hauptverhandlung als Wahlverteidiger zu führen, aber bereit ist, das als Pflichtverteidiger zu tun; im Sinne des Gesetzes ist er dann ein anderer Verteidiger (OLG Freiburg HESt. 3 33). Allerdings wird der bisherige Wahlverteidiger nicht gegen den Willen des Angeklagten zum Pflichtverteidiger zu bestellen sein ( E b S c h m i d t 10). In der Regel wird es nicht möglich sein, dem Angeklagten als neuen Verteidiger den eines Mitangeklagten zu bestellen, weil dieser die Hauptverhandlung nicht mit dem Blickpunkt auf die Interessen seines neuen Mandanten verfolgt hat (vgl. BGH NJW 1956 1767); doch sind Ausnahmen denkbar. Der andere Verteidiger kann auch erst bestellt werden, nachdem die Hauptverhandlung unterbrochen oder ausgesetzt war. Die Anordnung, daß er s o g l e i c h zu bestellen ist, bedeutet, daß, bevor er bestellt worden ist, keine wesentlichen Prozeßhandlungen vorgenommen werden dürfen (RGSt. 44 17). Wegen der Unterbrechung zum Zwecke der Unterrichtung des neuen Verteidigers s. IV 3. IV. Neuer Verteidiger (Absatz 3). 1. Grundsatz. Für den Eintritt eines neuen Verteidigers in die Hauptverhandlung sind drei Fälle zu unterscheiden: der Angeklagte war schon bisher verteidigt, aber die Verteidigung ist weggefallen (Absatz 1); der Angeklagte war bisher nicht verteidigt; die Verteidigung ist erst im Laufe der Hauptverhandlung notwendig geworden (Absatz 2), z. B. durch Nachtragsanklage, durch Veränderung des rechtlichen Gesichtspunktes oder durch eine Entscheidung des Gerichts nach § 140 Abs. 2; die Verteidigung war von Anfang an notwendig, doch war es irrtümlich unterblieben, einen Verteidiger zu bestellen. Die Vorschriften zugunsten des neuen Verteidigers (Absätze 2 und 3) gelten nur für den bestellten Verteidiger (RGSt. 16 32). Sie sind aber, wenn kein Mißbrauch vorliegt, entsprechend anzuwenden, wenn sich der Angeklagte bei notwendiger Verteidigung alsbald einen neuen Verteidiger wählt. Denn der Sinn der Bestimmung, die Vorbereitung der Hauptverhandlung sicherzustellen, trifft auch bei dem Wahlverteidiger zu. In Fällen der gewillkürten Verteidigung wird es Pflicht des Gerichts sein, bei nicht vorhersehbarem und nicht vom Angeklagten verschuldeten Ausfall des Verteidigers die Verhandlung zu unterbrechen oder eine noch nicht begonnene Hauptverhandlung zu vertagen, um dem Angeklagten Gelegenheit zu geben, einen neuen Wahlverteidiger zu beauftragen. Die Aussetzung einer begonnenen Hauptverhandlung wird er in der Regel nicht verlangen können (OLG Köln JR 1957 469)'. Wird dagegen — wenn auch zulässigerweise — die Bestellung eines Pflichtverteidigers zurückgenommen, so darf ohne Einverständnis des Angeklagten die Hauptverhandlung ohne Mitwirkung eines Verteidigers nur stattfinden, wenn er ausreichend Zeit hatte, sich zu beschweren oder einen Wahlverteidiger zu bestellen (RG HRR 1935 824; 1942 256; R G JW 1938 1885). 3

A. A. OLG Oldenburg JR 1956 472; OLG Celle NdsRpfl. 1964 234; NJW 1965 2264.

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Elfter Abschnitt. Verteidigung (Dünnebier)

§ 145 Anm. IV 2 - 5

Die Absätze 2 und 3 gelten entsprechend, wenn ein Pflichtverteidiger zwar kurz vor der Hauptverhandlung, aber so spät bestellt worden ist, daß ihm nicht die zur Vorbereitung auf die Hauptverhandlung erforderliche Zeit verblieben ist (BGH NJW 1963 1115; 1965 2164). 2. Folgen. In allen den genannten Fällen kann das Gericht schon nach den allgemeinen Vorschriften die Hauptverhandlung unterbrechen oder aussetzen (§ 228). Es muß (RGSt. 16 33) eine der beiden Maßnahmen vornehmen, wenn der neu bestellte Verteidiger erklärt, daß ihm ohne eine solche die zur Vorbereitung der Verteidigung notwendige Zeit nicht verbleiben werde (Absatz 3). Ob der Angeklagte den Wegfall der Verteidigung verschuldet hat, bleibt dabei außer Betracht (RG JW 1937 3221). Es entscheidet das pflichtgemäße Ermessen des Verteidigers, daß die Hauptverhandlung nicht alsbald fortgesetzt werde; das pflichtgemäße Ermessens des Gerichts entscheidet, ob eine vom Vorsitzenden anzuordnende Unterbrechung, wenn keine Wiederholung der Hauptverhandlung notwendig ist (5), genügt oder ob die Verhandlung auszusetzen ist (BGHSt. 13 343). Die Erklärung nach Absatz 3 steht nur dem Verteidiger zu. Der Angeklagte (BGH NJW 1963 1115), der Staatsanwalt, der Privat- und der Nebenkläger können die Unterbrechung oder Aussetzung der Hauptverhandlung nicht erzwingen. Sie können diese Maßnahmen aber anregen. Auch unabhängig von einer solchen Anregung wie auch von einem Antrage des Verteidigers muß das Gericht stets prüfen, ob dem Verteidiger genügend Zeit bleibt, die Verteidigung ausreichend vorzubereiten. Muß es das bei einer umfänglichen oder schwierigen Sache verneinen, so hat es von Amts wegen eine der beiden Maßnahmen anzuordnen.(RGSt. 77 153). 3. Eine Unterbrechung wird in Betracht kommen, wenn mit der Hauptverhandlung unter Beteiligung eines Verteidigers schon begonnen war, die Verteidigung aber weggefallen ist und nur durch die Unterbrechung sichergestellt werden kann, daß der neue den alten Verteidiger ausreichend unterrichtet. Mit der Unterrichtung des neuen durch den alten Verteidiger wird der Grundsatz der dauernden Teilnahme eines Verteidigers ( I I ) nicht verletzt, weil bei mehreren Verteidigern nicht alle stets gleichzeitig anwesend sein müssen (BGHSt. 13 341; a. A. E b S c h m i d t Nachtr. 12, 13). Dagegen genügt es auf keinen Fall, daß der neue Verteidiger durch den Vorsitzenden unterrichtet wird 4 . Denn der Vorsitzende beobachtet die Hauptverhandlung aus einer anderen Blickrichtung als der Verteidiger. 4. Die Aussetzung der Hauptverhandlung mit der Notwendigkeit, sie neu zu beginnen, kommt in Betracht, wenn in den Fällen des vorhergehenden Absatzes die Unterbrechung nicht genügt, den neuen Verteidiger durch den alten zu unterrichten; wenn eine solche Unterrichtung nicht möglich ist, sei es, weil der alte Verteidiger, etwa durch Krankheit, dazu unfähig ist, sei es, weil er die Unterrichtung ablehnt und dazu auch standesrechtlich nicht angehalten werden kann; oder wenn im Falle des § 145 Abs. 2 der neue Verteidiger sich in der Unterbrechungszeit nicht einarbeiten kann. Bei sachlich und rechtlich sehr schwierigen und umfangreichen Verfahren ist es im allgemeinen geboten, die Hauptverhandlung auszusetzen (BGHSt. 13 3 3 7). So ist immer zu verfahren, wenn die Hauptverhandlung ohnehin wiederholt werden muß. Denn dann besteht kein Anlaß, den Grundsatz, daß der Verteidiger sich einarbeiten und für die Hauptverhandlung vorbereiten muß, hinter den der schleunigen Abwicklung des Verfahrens zurückzustellen, wie dies geboten sein kann, wenn durch bloße Unterbrechung ein neuer Verfahrensbeginn (§ 229) vermieden werden kann. 5. Wiederholung der Hauptverhandlung ist erforderlich, wenn der Angeklagte sonst in einem wesentlichen Teil der Hauptverhandlung ohne Verteidiger gewesen wäre. Das trifft in den beiden letzten der IV 1 genannten Fallgruppen zu. Für die dritte Gruppe bedarf das keiner Ausführung. Bei der zweiten wird die Verteidigung zwar erst mit den dort genannten Akten notwendig. Der Verhandlungsstoff aber bleibt unverändert, und der Verteidiger muß zu dem gesamten Verlauf der einheitlichen Hauptverhandlung Stellung nehmen (BGHSt. 9 244). 4

So aber RGSt. 33 333; Müller-Sax 3a (1); Kl. 6; a. A. mit Recht EbSchmidt 11. 923

§145

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

Anm. V 1 - 3 Eine Ausnahme hiervon gilt auch nicht für die Nachtragsanklage. Hier genügt es nicht, die Hauptverhandlung durch erneute Vernehmung des Angeklagten und nochmalige Beweisaufnahme nur zu dem nachträglich angeklagten Delikt zu wiederholen, das die Notwendigkeit der Verteidigung begründet hat. Denn durch die Verbindung erstreckt sich die Notwendigkeit der Verteidigung auf das ganze Verfahren (I 2 zu § 140). V. Kostenlast (Absatz 4). 1. Grundsatz. Bei der Empfindlichkeit des Gesetzes gegen das Fehlen eines Verteidigers bei notwendiger Verteidigung, die in der Mehrzahl der vorkommenden Fälle eine Aussetzung und damit eine Erneuerung der Hauptverhandlung erfordert, ist es billig, daß die Kosten einer vom Verteidiger schuldhaft verursachten Aussetzung diesem zur Last fallen. Es kommen zunächst die Fälle in Betracht, in denen die Verhandlung wegen einer der drei in § 145 Abs. 1 angegebenen Umstände ausgesetzt werden mußte. Wegen weiterer Fälle s. 3. Wegen des notwendigen Ermessens des Gerichts wird der Verteidiger in der Regel nicht einwenden können, es sei nicht notwendig gewesen, die Hauptverhandlung auszusetzen, vielmehr hätte es genügt, sie zu unterbrechen oder mit einem neu bestellten Verteidiger fortzusetzen. Ein Verschulden ist u. a. darin gefunden worden, daß der allgemeine Vertreter eines Verteidigers (6c vor § 137) den Angeklagten nicht befragt hatte, ob er mit der Verteidigung durch ihn einverstanden sei, und daß er sich lange Zeit nicht um den Angeklagten gekümmert hatte (RG LZ 1916 575). Keine Schuld des Verteidigers liegt vor, wenn er sich wegen prozeßordnungswidriger Anordnungen (BGHSt. 10 207) oder wegen einer Anordnung, deren Zulässigkeit rechtlich umstritten ist (BayObLGSt. 1956 26 = NJW 1956 390), oder aus Gewissenszwang (OLG Breslau GA 51 374) weigert, die Verteidigung zu führen, es sei denn, daß im letzteren Falle eigene Nachlässigkeit des Verteidigers dazu geführt hat, daß er den Konflikt zu spät bemerkt, oder daß er trotz rechtzeitiger Erkenntnis eine Mitteilung ans Gericht unterlassen hat (OLG Celle NdsRpfl. 1961 137). Dagegen erlaubt nicht jede Spannung zwischen dem Vorsitzenden und dem Pflichtverteidiger diesem, die Verteidigung niederzulegen, zumal wenn er die Möglichkeit nicht ausnutzt, die Entscheidung des Gerichts herbeizuführen (OLG Hamm JMB1NRW 1967 105). 2. Bei später hervorgetretener Notwendigkeit der Verteidigung. Im Falle von § 140 Abs. 2 wird die Verteidigung erst durch die gerichtliche Feststellung notwendig, daß die Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage die Mitwirkung eines Verteidigers geboten erscheinen läßt oder daß ersichtlich ist, der Beschuldigte könne sich nicht selbst verteidigen. Für diese Entschließung ist kein Raum, wenn der Beschuldigte einen Wahlverteidiger hat. Mag auch der Grundsatz der Einheit der Hauptverhandlung praktisch zu einer Art Rückwirkung der später eintretenden Notwendigkeit der Verteidigung führen, so ist doch, wenn die Anwendungsfalle des Absatzes 2 eintreten, die Verteidigung noch nicht notwendig, so daß Absatz 4 auf den Wahlverteidiger keine Anwendung findet (im Ergebnis ebenso BayObLGSt. 1952 158= NJW 1952 1066). 3. Weitere Fälle. Absatz 4 gilt, wie oben (I 5) dargelegt, nicht für die gewillkürte Verteidigung. Denn wenn die Verteidigung nicht notwendig ist, kann das Gericht, auch wenn der Verteidiger wegfallt oder wegbleibt, weiter verhandeln und ist nicht gezwungen, die Hauptverhandlung zu unterbrechen oder auszusetzen. Bei der notwendigen Verteidigung ist die Bestimmung wegen ihres allgemeinen Wortlautes nicht auf die drei Anwendungsfalle des Absatzes 1 beschränkt, sondern auch auf gleichliegende anzuwenden (OLG Düsseldorf JW 1930 2597; OLG Celle NdsRpfl. 1961 138; a. A. OLG Hamm NJW 1963 1416). Der Hauptfall dafür ist die Aussetzung der Hauptverhandlung wegen Ungebühr eines Verteidigers, der Rechtsanwalt ist. Denn Rechtsanwälte unterliegen zwar der Sitzungspolizei des Vorsitzenden, aber nicht der sitzungspolizeilichen Gewalt und den Ordnungsstrafen des Gerichts nach §§ 177, 178 GVG. Dem Gericht, das sonst wehrlos wäre ( H e i l b e r g JW 1930 2597), steht daher als einziges Mittel die Aussetzung der Hauptverhandlung (§ 228 Abs. 1 Satz 1) zur Verfügung, weil Unterbrechungen nicht genügen, standesrechtliche Maßnahmen, namentlich ein Vertretungsverbot (§ 155 Abs. 3 BRAO), herbeizuführen. Eine solche Aussetzung wird stets durch die Schuld des Anwalts erforder-

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Elfter Abschnitt. Verteidigung (Dünnebier)

§ 145 Anm. VI 1 - 3

lieh. Dabei ist allerdings Voraussetzung, daß sein Verhalten das Fortführen der Hauptverhandlung völlig unmöglich macht (OLG Hamm NJW 1954 1053). Die Ungebühr ist aber nicht der einzige Fall, in dem Absatz 4 über die Fälle des Absatzes 1 hinaus angewendet werden kann. Unterläßt der Verteidiger schuldhaft jede Vorbereitung, so daß er zwar zur Anwesenheit aber nicht zur Verteidigung fähig ist, und wird deshalb die Aussetzung der Hauptverhandlung erforderlich, dann ist auch das ein Verschulden, das es rechtfertigt, dem Anwalt die Kosten aufzuerlegen. „Verspätetes" Vorbringen von Beweisanträgen rechtfertigt die Anwendung von Absatz 4 dagegen nicht (OLG Frankfurt JR 1950 570); denn es steht dem Beschuldigten frei, wann er seine Beweisanträge stellt. VI. Verfahren. 1. Zuständigkeit. Zuständig für die Entscheidung ist das erkennende Gericht. Der Vorsitzende hat zwar den Verteidiger zu bestellen (§ 145 Abs. 1, § 141 Abs. 6) und Unterbrechungen anzuordnen (§ 228 Abs. 1 Satz 2). Welche Maßnahme indessen angewendet werden soll, beschließt das Gericht. Der Beschluß wird regelmäßig in der Hauptverhandlung ergehen. Jedoch kann die Entscheidung auch später durch mitzuteilenden (§35 Abs. 2 Satz 2) Beschluß erlassen werden, nachdem die Hauptverhandlung zunächst unterbrochen worden war, um die Sachlage zu klären. Im Falle des Absatzes 4 wird das zweckmäßig sein (OLG Düsseldorf JW 1930 2597), weil der Verteidiger zu hören ist, das Gehör in einer Sitzung, die wegen der Ungebühr des Verteidigers abgebrochen werden muß, aber nicht sinnvoll durchgeführt werden kann. 2. Beschwerde. Wird ein Antrag, die Hauptverhandlung zu unterbrechen oder auszusetzen, abgelehnt oder statt einer beantragten Aussetzung nur Unterbrechung gewährt, so ist keine Beschwerde statthaft (§ 305 Satz 1). Wird dagegen Unterbrechung oder Aussetzung beschlossen, so steht diese Entscheidung mit der Urteilsfällung nicht in innerem Zusammenhang, so daß für alle an der Hauptverhandlung Beteiligten Beschwerde statthaft ist (OLG Rostock A l s b . E 2 168; OLG Neustadt DRZ 1949 189). Im Falle des Absatzes 4 ist Beschwerde (§ 304 Abs. 1) des Verteidigers und der Staatsanwaltschaft (§ 296 Abs. 2) statthaft. Sonstige Prozeßbeteiligte sind nicht beschwert. Das Beschwerdegericht hat sein Ermessen an die Stelle des Erstrichters zu setzen, wird dabei aber beachten, daß dieser Umstände, die sich nur aus der Hauptverhandlung ergeben, am ehesten sachgemäß beurteilen kann. 3. Revision. Alle Verstöße gegen die Absätze 1 und 3 begründen die Revision. § 338 Nr. 5 ist verletzt, wenn die Hauptverhandlung ganz (RGSt. 52 181) oder zum wesentlichen Teil in Abwesenheit des notwendigen Verteidigers stattgefunden hat 5 , mag auch der später zum Verteidiger Bestellte schon vorher als Verteidiger eines anderen Angeklagten anwesend gewesen sein (BGH NJW 1956 1767). Die gleiche Vorschrift ist verletzt, wenn bei einer Verteidigung, die erst in der Hauptverhandlung notwendig wird, zwar ein Verteidiger bestellt, die Verhandlung aber nicht erneuert wird (BGHSt. 9 244). § 265 Abs. 4 ist verletzt, wenn ohne Aussetzung weiter verhandelt wird, obwohl von zwei Verteidigern derjenige niedergelegt, der die Hauptlast der Verteidigung übernommen hatte (RGSt. 71 354). §§ 145, 217 sind verletzt, wenn wegen Ausbleibens des Verteidigers ein neuer bestellt worden ist, obwohl der ursprüngliche Verteidiger nicht geladen war (RGSt. 53 265). § 145 kann verletzt sein, wenn das Gericht die Frage, ob auszusetzen sei, nicht von Amts wegen geprüft hat (RGSt. 77 155), nicht aber, wenn er nur die Frage an den neuen Verteidiger unterläßt, ob er genügend vorbereitet sei (RGSt. 52 248). Die Aufhebung kann, wenn mehrere Delikte angeklagt sind, nicht auf diejenigen beschränkt werden, welche die Verteidigung notwendig gemacht haben. Denn durch die Verbindung ist eine einheitliche Sache entstanden; die Notwendigkeit der Verteidigung erstreckt sich auf das ganze Verfahren (I 2 Abs. 2 zu § 140). Sind jedoch durch den Verstoß nur 5

Beispiele: RGSt. 53 171: Vernehmung zur Person vor Erscheinen des Anwalts; RGSt. 38 217: unbemerkte Entfernung während der Vernehmung des Angeklagten; RGSt. 44 17; 44 217: Entfernung; RGSt. 57 265; 63 249: Entfernung vor Urteilsverkündung; RGSt. 67 12: nach Wegfall des Wahlverteidigers kein Pflichtverteidiger bestellt.

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§ 145 a

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

Anm. 1,2 einige von mehreren Delikten berührt (Beweisaufnahme zu bestimmten Delikten während Abwesenheit des sonst anwesenden Verteidigers), dann wird das Urteil nur zu den betroffenen Fällen aufgehoben, weil es nur insoweit auf dem Mangel beruht (RGSt. 44 19).

§ 145 a ( 1 ) D e r gewählte Verteidiger, dessen Vollmacht sich bei den Akten befindet, sowie der bestellte Verteidiger gelten als ermächtigt, Zustellungen für den Beschuldigten in Empfang zu nehmen. (2) Die Ermächtigung nach Absatz 1 gilt nicht, wenn das Gesetz die Zustellung an den Beschuldigten durch Übergabe vorschreibt (§ 232 Abs. 4). (3) Eine Ladung des Beschuldigten darf an den Verteidiger nur zugestellt werden, wenn er in einer bei den Akten befindlichen Vollmacht ausdrücklich zur Empfangnahme von Ladungen ermächtigt ist. § 116 a Abs. 3 bleibt unberührt. (4) Wird eine Entscheidung dem Verteidiger nach Absatz 1 zugestellt, so wird der Beschuldigte hiervon unterrichtet; zugleich erhält er formlos eine Abschrift der Entscheidung. Wird eine Entscheidung dem Beschuldigten zugestellt, so wird der Verteidiger hiervon zugleich unterrichtet, auch wenn eine schriftliche Vollmacht bei den Akten nicht vorliegt; dabei erhält er formlos eine Abschrift der Entscheidung. Entstehungsgeschichte: Eingefügt durch Art. 3 Nr. 4 StPÄG. Schrifttum: D ü n n e b i e r , Fristberechnung bei mehrfacher Zustellung ( § 3 7 Abs. 2 StPO), JZ 1969 94; K o h l h a a s , Zustellung des in Abwesenheit des Angeklagten verkündeten Urteils, N J W 1968 538; O p p e , Neue Zustellungsprobleme im Strafprozeß, N J W 1968 829. 1. Inhalt. Die Bestimmung enthält eine Reihe technischer Vorschriften, die es dem Verteidiger ermöglichen, Fristen auch dann innezuhalten, wenn der Beschuldigte ihm weder Zustellungsvollmacht erteilt, noch von Zustellungen, die er erhalten hat, rechtzeitig in Kenntnis setzt. Sie wird ergänzt durch § 37 Abs. 2, nach dem eine Frist nach der letzten Zustellung berechnet wird, wenn an mehrere Empfangsberechtigte zugestellt worden ist. Die Vorschrift, die mit § 378 Satz 2 zu vergleichen ist, weicht von § 176 Z P O deutlich ab. Diese Bestimmung kann nicht entsprechend angewendet werden. Denn der Verteidiger ist, auch wenn er ermächtigt ist, Zustellungen in Empfang zu nehmen, kein Vertreter oder Prozeßbevollmächtigter des Beschuldigten (RGSt. 6 93; BGHSt. 18 353) 1 . Aus diesem Grunde kann weder der Beschuldigte noch der Verteidiger verlangen, daß diesem zugestellt werde. Doch ist in der Regel die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, wenn dem Verlangen, dem Verteidiger zuzustellen, nicht entsprochen wird, oder wenn die in Absatz 4 Satz 2 vorgeschriebene Unterrichtung des Verteidigers unterbleibt, dadurch Irrtümer entstehen und auf diese Weise eine Frist versäumt wird (vgl. O L G Kiel HESt. 2 74; O L G Freiburg N J W 1953 678). Es entspricht dem Zweck des Gesetzes, um Zweifel, Irrtümer und Umständlichkeiten zu vermeiden, daß grundsätzlich dem Verteidiger allein zugestellt wird; für Urteilszustellungen ist das in Nr. 153 Abs. 1 RiStBV angeordnet. Durch die Zustellungsform des § 2 1 2 a Z P O (Zusendung an Anwalt gegen Empfangsbekenntnis) können zudem Kosten gespart werden. Es ist selbstverständlich, daß der dem Verteidiger zuzustellenden Entscheidung die dem Angeklagten zu erteilende Rechtsmittelbelehrung ( § 3 5 a ) anzuschließen ist. Wird ausnahmsweise eine Notwendigkeit gesehen, dem Beschuldigten zuzustellen, sollte, um Irrtümer auszuschließen, nicht auch zusätzlich dem Verteidiger, zugestellt, sondern nach § 145 a Abs. 4 Satz 2 verfahren werden. 2. Zustellungsermächtigung (Absatz 1). Absatz 1 soll sicherstellen, daß der Verteidiger — von e i n e r Ausnahme abgesehen (Absatz 2) — als Zustellungsbevollmächtigter (I 6 zu § 37) behandelt wird. Der Pflichtverteidiger, dessen Verteidigerbestellung für das Gericht feststeht, gilt stets als ermächtigt, Zustellungen für den Beschuldigten in Empfang zu neh1

Ebenso RGRspr. 4 831; BGH GA 1965 375; BayObLGSt. 22 142; OLG Kiel HESt. 2 74.

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Elfter Abschnitt. Verteidigung (Dünnebier)

§ 145 a Anm. 3 , 4

men, der Wahlverteidiger nur, wenn sich seine Vollmacht bei den Akten befindet. Denn nur damit ist für das Gericht eine sichere Grundlage vorhanden. Aus diesem Grunde ist ein sonstiger Vollmachtsnachweis, etwa durch das Auftreten in der Hauptverhandlung (IV 3 zu § 138), nicht ausreichend. Wenn das Gesetz dem Beschuldigten schon die Mühe erspart, seinem Verteidiger Zustellungsvollmacht zu erteilen, so will es aber dem Gericht nicht zumuten, Handlungen des Beschuldigten auszulegen. Allerdings braucht die Vollmacht nicht schriftlich erteilt zu sein; es genügt, wenn der Angeklagte seinen Verteidiger in der Hauptverhandlung mündlich bevollmächtigt. Deshalb haben Urkundsbeamter und Vorsitzender sorgfältig auf die Protokollierung zu achten. Bedarf die Verteidigerbestellung der Genehmigung durchs Gericht (§ 138 Abs. 2), dann gilt der Verteidiger erst mit der Genehmigung als ermächtigt, Zustellungen in Empfang zu nehmen ( M ü l l e r - S a x 1 c), doch ist zu prüfen, ob die Vollmacht nicht eine ausdrückliche Zustellungsvollmacht enthält; diese ist unabhängig von der gerichtlichen Genehmigung wirksam. § 145 a ist auf den bevollmächtigten Vertreter des Einziehungsbeteiligten entsprechend anzuwenden. Wegen des Privatklägers s. § 387 Satz 2, wegen des Nebenklägers § 397 Abs. 1. Das Blatt der Akten, auf dem sich die Vollmacht befindet, sollte stets auf dem Aktenumschlag vermerkt werden. 3. Dauer der Ermächtigung. Beim bestellten Verteidiger fällt die Dauer der Ermächtigung mit der Dauer der Bestellung zusammen. Sie beginnt mit der Bestellung (10 Abs. 1 zu § 141) und endet mit dem Ende der notwendigen Verteidigung (10 Abs. 2 zu § 141, 1 zu § 143) oder mit der Rücknahme der Bestellung (6 zu § 142, 1 bis 4 zu § 143). Bei dem durch Vollmacht ausgewiesenen Wahlverteidiger können dagegen das Ende der Vollmacht (IV 4 zu § 138) und die Dauer der Ermächtigung auseinanderfallen. Denn der gewählte Verteidiger gilt als Zustellungsbevollmächtigter, w e n n sich seine Vollmacht bei den Akten befindet. Da die Fiktion an diesen Umstand anknüpft, muß die Vorschrift so verstanden werden, daß die Eigenschaft als Zustellungsbevollmächtigter s o l a n g e gilt, als die Vollmacht nicht zu den Akten widerrufen oder der Widerruf zu den Akten angezeigt worden ist (BayObLGSt. 1969 1 1 0 = VRS 38 194; E b S c h m i d t ErgBd. 4; K l 1 A). Es ist Sache des Beschuldigten, das Erlöschen der Vollmacht dem Gericht anzuzeigen, wenn er die Zustellungen künftig selbst empfangen will, oder des abberufenen Wahlverteidigers, wenn er sich der Zustellungsvollmacht entledigen will. Wenn die Vollmacht deswegen endet, weil die Zulassung des Rechtsanwalts erlischt (§ 13 BRAO) oder zurückgenommen wird (§§ 14, 15 BRAO; s. IV 4 zu § 138), kann der ehemalige Rechtsanwalt nicht mehr Verteidiger nach § 138 Abs. 1 sein. Er ist daher nur dann noch gewählter Verteidiger, wenn das Gericht seine Wahl nach § 138 Abs. 2 genehmigt hat (2). Wenn das nicht der Fall ist, gilt er auch dann nicht als Zustellungsbevollmächtigter, wenn seine Vollmacht bei den Akten liegt und zu diesen nicht mitgeteilt worden ist, daß die Zulassung erloschen oder zurückgenommen worden ist. Es ist Sache der Gerichtsverwaltung, durch Umlauf bekanntzumachen, daß das Anwaltsverhältnis erloschen ist, und Sache der Senate, Kammern und Abteilungen, daraus für den Einzelfall die Konsequenzen zu ziehen. 4. Wenn die Zustellung durch Übergabe (Absatz 2) gesetzlich vorgeschrieben ist, gilt die gesetzliche Ermächtigung des Absatzes 1 nicht. Eine solche Vorschrift befindet sich n u r in § 232 Abs. 4. Dort wird die Zustellung des Urteils geregelt, das ergangen ist, wenn der Angeklagte in der Hauptverhandlung ausgeblieben ist, nachdem er ordnungsgemäß geladen und in der Ladung darauf hingewiesen worden ist, daß in seiner Abwesenheit verhandelt werden kann, und wenn auf keine andere Strafe oder Maßregel erkannt worden ist als auf Freiheitsstrafe bis zu sechs Wochen, Geldstrafe, Fahrverbot, Einziehung, Vernichtung, Unbrauchbarmachung oder auf Entziehung der Fahrerlaubnis, in dem letzteren Falle nur, wenn er in der Ladung auf diese Möglichkeit hingewiesen worden war. Daß das Gesetz nur diesen einen Fall im Auge hat, ist durch den Klammersatz ausdrücklich klargestellt (Prot, des Rechtsausschusses des BT IV 38, 45 ff)2- Wird in anderen Fällen als in dem des 2

Damit wird die Ansicht K o h l h a a s ' (S. 539) widerlegt, der Klammersatz sei ein Redaktionsversehen.

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§ 145 a Anm. 5 , 6

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

§ 232 Abs. 4 gegen einen ausgebliebenen Angeklagten ein Urteil verkündet (§ 231 Abs. 2, § 233 Abs. 1), so ist nicht durch Gesetz vorgeschrieben, daß die Zustellung durch Übergabe zu bewirken sei. Danach kann in allen Fällen, ausgenommen § 232 Abs. 4, an den bevollmächtigten Wahlverteidiger und an den Pflichtverteidiger zugestellt werden (BayObLGSt. 1966 63 = NJW 1966 2323; BayObLGSt. 1967 101 = NJW 1967 2124; EbS c h m i d t 2 ; K 1 . 4 ) . Auch die Ausnahme für § 232 Abs. 4 ist ohne rechten Sinn und sollte bei einer Reform fallen ( D ü n n e b i e r 97). 5. Ladungen (Absatz 3). Für die Ladung ist zwar keine Zustellung vorgeschrieben, doch ist sie notwendig, wenn nachgewiesen werden soll, daß die Ladungsfrist innegehalten ist (§ 217) oder wenn es als Urteilsvoraussetzung auf den Nachweis ankommt, daß der Angeklagte ordnungsgemäß geladen worden ist (§ 232). Deshalb wird, wenigstens dann, wenn damit gerechnet wird, daß der Angeklagte ausbleiben könne, die Ladung zugestellt (Nr. 112 Abs. 1 RiStBV). Das Gesetz geht in § 217 Abs. 1 und § 218 Abs. 2 Satz 1 von dieser Form der Ladung aus. Die Zustellung kann auch an den Zustellungsbevollmächtigten bewirkt werden (RGSt. 43 321; 66 79). Für diesen Fall gilt aber der Pflichtverteidiger und der zu den Akten bevollmächtigte Wahlverteidiger nicht als zustellungsbevollmächtigt. Der Verteidiger kann Ladungen nur dann wirksam in Empfang nehmen, wenn er eine besondere Ladungsvollmacht hat, und wenn diese zu den Akten gegeben worden ist. Eine allgemeine Vollmacht, „Zustellungen aller Art" entgegenzunehmen, genügt entgegen der bisherigen Rechtsprechung (RGSt. 43 321) für den Verteidiger nicht mehr. Wenn diese Einschränkung für den Verteidiger angeordnet worden ist, muß man als den Willen des Gesetzgebers annehmen, daß sie auch dann gelten soll, wenn eine andere Person als der Verteidiger Zustellungsvollmacht hat. Sache des Zustellungsbevollmächtigten eines gegen Sicherheitsleistung entlassenen Beschuldigten, der nicht im Geltungsbereich der Strafprozeßordnung wohnt (§ 116 a Abs. 3), ist es ausdrücklich, Ladungen entgegenzunehmen (BGHSt. 10 63). Bei ihm wird daher keine besondere Ladungsvollmacht verlangt (Absatz 3 Satz 2). Zufolge Verweisung gilt dasselbe im Falle des § 127 a (vgl. dessen Absatz 2) und der Sache nach im Falle des § 132, dessen Absatz 1 Nr. 2 mit § 116 a Abs. 3 übereinstimmt. 6. Unterrichtung (Absatz 4). Da der Verteidiger nach Absatz 1 regelmäßig als Zustellungsbevollmächtigter gilt, und da jederzeit auch an den Beschuldigten zugestellt werden kann, stehen zwei Zustellungsempfänger zur Auswahl; sie sollte allerdings in aller Regel auf den Verteidiger gerichtet werden (1). In sehr weitgehender Fürsorge für den Beschuldigten und seinen Verteidiger wird in Absatz 4 verordnet, daß jeweils derjenige, dem nicht zugestellt wird, von der Zustellung benachrichtigt wird und zugleich formlos eine Abschrift der Entscheidung erhält. Der Verteidiger bekommt die Benachrichtigung und die Abschrift auch dann, wenn keine Verteidigervollmacht bei den Akten liegt, das Gericht aber weiß, daß er Verteidiger ist, etwa weil er sich, ohne Vollmacht vorzulegen, als Verteidiger gemeldet hat, Schriftsätze eingereicht hat oder als Verteidiger aufgetreten ist. Die Benachrichtigung kann ihren Zweck nur erfüllen, wenn sie gleichzeitig mit der Zustellung zur Post gegeben wird. Unterbleibt die Nachricht, so ist das auf die Zustellung ohne Wirkung (OLG Hamburg NJW 1965 1614). Absatz 4 Satz 1 gilt nach seinem Wortlaut nur im Falle der Zustellung nach Absatz 1. Er ist aber entsprechend anzuwenden, wenn dem Verteidiger nicht aufgrund des Absatzes 1, sondern zufolge einer ausdrücklichen Zustellungsvollmacht zugestellt wird. Satz 2 gilt allgemein: Immer wenn dem Beschuldigten selbst zugestellt wird, also auch im Falle des § 232 Abs. 4, ist der Verteidiger von der Zustellung zu unterrichten. Die Unterrichtung ist keine Bekanntmachung i. S. des § 35 Abs. 1, § 35 a. Sie braucht daher keine Rechtsmittelbelehrung zu enthalten. Wird der Verteidiger unterrichtet, ist das auch nicht notwendig. Erhält der Beschuldigte die Nachricht, kann es die Fürsorgepflicht gebieten, ihm Rechtsmittelbelehrung zu erteilen, wenn diese nicht schon in den Text der Entscheidung aufgenommen ist. Dabei muß dann freilich klar zum Ausdruck kommen, daß die Rechtsmittelfrist von der Zustellung an den Verteidiger an läuft. Nach dem Wortlaut der Vorschrift wäre die Benachrichtigung auch dann zu geben, wenn sowohl dem Verteidiger als auch dem Beschuldigten zugestellt ist; jeder wäre von der 928

Elfter Abschnitt. Verteidigung (Dünnebier)

§ 146 Anm. 1—3

Zustellung an den anderen zu benachrichtigen. Allein, einer solchen Übertreibung kann sich der Gesetzgeber nicht haben hingeben wollen. Die Vorschrift ist daher so zu lesen, als wenn es hieße: Wird eine Entscheidung a l l e i n dem Verteidiger... und im zweiten Satz: a l l e i n dem Beschuldigten (zugestellt). Bei einer Reform wird sie so zu fassen sein. Auf Ladungen bezieht sich Absatz 4 nicht. Sie werden nur entweder dem Beschuldigten oder dem Ladungsbevollmächtigten zugestellt. Eine Nachricht hiervon an den anderen Teil unterbleibt.

§ 146 (1)Die Verteidigung mehrerer Beschuldigter kann, sofern dies der Aufgabe der Verteidigung nicht widerstreitet, durch einen gemeinschaftlichen Verteidiger geführt werden. (2) Ist in einem Fall, in dem ein Verteidiger die Verteidigung mehrerer Beschuldigter führt, eine Zustellung von Schriftstücken an den Verteidiger vorzunehmen, so bedarf es auch in Angelegenheiten, die alle oder mehrere der Beschuldigten betreffen, nur einer Zustellung. Eine der Zahl der Beschuldigten entsprechende Anzahl der Schriftstücke soll der Zustellung beigefügt oder formlos mitgeteilt werden. Entstehungsgeschichte: Absatz 2 ist eingefügt durch die VO vom 17. 6. 1933 (RGBl. I 394). 1. Verteidigung. Die Bestimmung bezieht sich auf die Verteidigung schlechthin, betrifft also die Wahl- wie die Pflichtverteidigung, die notwendige wie die gewillkürte Verteidigung. Nach der Art einer Ordnungsvorschrift aufgebaut, enthüllt sie nur dann ihren Sinn, wenn der eingeschobene Halbsatz als ihr eigentlicher Inhalt erkannt und sie danach gelesen wird: Die Verteidigung mehrerer Beschuldigter darf, wenn dies der Aufgabe der Verteidigung widerstreitet, nicht durch einen gemeinschaftlichen Verteidiger geführt werden (RGSt. 35 190). Das Verbot wendet sich in erster Linie an den Verteidiger und für den Fall der Pflichtverteidügung an den Vorsitzenden (§ 142 Abs. 1), aber auch an den Beschuldigten (§137 Abs. 1) und den gesetzlichen Vertreter (§137 Abs. 2). Daß es eingehalten wird, hat das Gericht sicherzustellen, weil sonst für den durch den Widerstreit benachteiligten Beschuldigten keine Verteidigung vorläge. Diesem Sinne nach könnte sich die Vorschrift auf die notwendige Verteidigung beschränken. Das Verbot auch für den Fall einer gewillkürten Verteidigung soll den Beschuldigten schützen und das Institut der Verteidigung reinhalten. Die Vorschrift auf die notwendige Verteidigung zu beschränken, wird daher bei einer Reform nicht zu erwägen sein. 2. Widerstreit. Das Auftreten eines gemeinschaftlichen Verteidigers widerstreitet der Aufgabe der Verteidigung, wenn die Bedürfnisse der mehreren Beschuldigten einander entgegenstehen. Das ist namentlich dann der Fall, wenn der eine Beschuldigte zu seiner Entlastung den anderen belastet oder wenn dem einen die Verleitung des anderen zur Last gelegt wird oder er sich zu seiner Entlastung auf die Verleitung durch den anderen beruft, weil der Verteidiger alsdann sowohl die Beweisanträge nicht sachlich ohne Benachteiligung eines der mehreren Beschuldigten stellen als auch in seinem Plädoyer nicht ohne Widerspruch beiden Teilen gerecht werden könnte (RGSt. 35 190). 3. Verfahren. Wenn ein Interessenwiderstreit vorliegt, ist es in erster Linie Pflicht des Verteidigers, die Verteidigung niederzulegen oder im Falle der Pflichtverteidigung zu beantragen, ihn seines Amtes zu entschlagen. Tut er das nicht, so ist es im Falle der Pflichtverteidigung Sache des Vorsitzenden, die vorgenommene Bestellung zu ändern und weitere Verteidiger zu bestellen. Wenn indessen auf diese Weise nicht Verteidigung ohne Interessenwiderstreit hergestellt wird, hat das Gericht den Verteidiger auszuschließen (RGSt. 35 191). Ist die rechtswidrige Verteidigung dadurch entstanden, daß der Verteidiger zu der Verteidigung eines Beschuldigten nachträglich die eines anderen übernommen hat, oder daß der für einen Beschuldigten bestellte Verteidiger nachträglich für einen anderen bestellt worden ist, so ist der Verteidiger nur für die später begonnene Verteidigung auszuschließen. Hat er jedoch von vorn92!

§ 1 4 6 Anm. 4—6 Strafprozeßordnung. Erstes Buch § 147 Anm. 1 herein die Verteidigung für mehrere Beschuldigte übernommen, so ist er von der gesamten Verteidigung auszuschließen. 4. Folge. Schließt das Gericht einen Pflichtverteidiger aus — ein Fall, der indessen kaum vorkommen dürfte —, so hat der Vorsitzende nach § 141 Abs. 2 und 6 soviel Pflichtverteidiger zu bestellen, daß kein Interessenwiderstreit mehr vorliegt. Dabei wird der alte Pflichtverteidiger in der Regel zu berücksichtigen sein. Wird ein Wahlverteidiger ausgeschlossen, so hat im Falle der notwendigen Verteidigung der Vorsitzende Pflichtverteidiger in dem vorher genannten Umfange zu bestellen. Im Falle der gewillkürten Verteidigung bleibt den Beschuldigten die Regelung ihrer Verteidigung überlassen. Die Hauptverhandlung ist hierzu auszusetzen. Soweit der Interessenwiderstreit reicht, war die rechtswidrige Verteidigung unwirksam. Wegen der verfahrensmäßigen Folgen s. III 13 zu § 138. 5. Wegen der Zuständigkeit und der Anfechtung s. III 15, 16 zu § 138. 6. Absatz 2 enthält eine Verwaltungsvorschrift, um mit deren Gesetzesform einer unpraktikablen Rechtsprechung (RG Recht 1915 1914; BayObLGSt. 20 9) entgegenzutreten.

§ 147 (1) Der Verteidiger ist befugt, die Akten, die dem Gericht vorliegen oder diesem im Falle der Erhebung der Anklage vorzulegen wären, einzusehen sowie amtlich verwahrte Beweisstücke zu besichtigen. (2) Ist der Abschluß der Ermittlungen noch nicht in den Akten vermerkt, so kann dem Verteidiger die Einsicht in die Akten oder einzelne Aktenstücke sowie die Besichtigung der amtlich verwahrten Beweisstücke versagt werden, wenn sie den Untersuchungszweck gefährden kann. (3) Die Einsicht in die Niederschriften über die Vernehmung des Beschuldigten und über solche richterlichen Untersuchungshandlungen, bei denen dem Verteidiger die Anwesenheit gestattet worden ist oder hätte gestattet werden müssen, sowie in die Gutachten von Sachverständigen darf dem Verteidiger in keiner Lage des Verfahrens versagt werden. (4) Auf Antrag sollen dem Verteidiger, soweit nicht wichtige Gründe entgegenstehen, die Akten mit Ausnahme der Beweisstücke zur Einsichtnahme in seine Geschäftsräume oder in seine Wohnung mitgegeben werden. Die Entscheidung ist nicht anfechtbar. (5) Über die Gewährung der Akteneinsicht entscheidet vor Einreichung der Anklageschrift die Staatsanwaltschaft, während der Voruntersuchung der Untersuchungsrichter, im übrigen der Vorsitzende des mit der Sache befaßten Gerichts. (6) Ist eine Anordnung nach Absatz 2 nicht vorher entfallen, so hebt die Staatsanwaltschaft sie spätestens mit dem Abschluß der Ermittlungen, der Untersuchungsrichter spätestens mit dem Schluß der Voruntersuchung auf. Entstehungsgeschichte: Die Vorschrift ist inhaltlich verändert und neu gefaßt durch Art. 3 Nr. 5 StPÄG. Schrifttum: A c k e r m a n n , Die Akteneinsicht des Verteidigers im Verwaltungsstrafverfahren, NJW 1957 241; Güll a n d , Recht des Verteidigers auf Akteneinsicht, Ausweis des Wahlverteidigers, Rechtsschutz für das Akteneinsichtsrecht, JW 1932 1712; K l e i s s , Strafprozeßnovelle und Standesgrundsätze, AnwBl. 1966 39; L o b e und A l s b e r g , Ist ein Verteidiger berechtigt, nach Eröffnung des Hauptverfahrens dem Angeklagten einen Aktenauszug oder auch eine vollständige Aktenabschrift mitzuteilen und ihm während der Hauptverhandlung zu seiner Verteidigung zu belassen? JW 1926 2725; L ü t t g e r , Das Recht des Verteidigers auf Akteneinsicht, NJW 1951 744; S c h o r n , Akteneinsicht und Abschriftserteilung im Strafverfahren, DRiZ 1930 210. 1. Sinn der Vorschrift. Einer der Hauptgrundsätze unseres Strafprozesses ist derjenige der Mündlichkeit, weil die Wahrheit nur erforscht werden kann, wenn die Zeugen Aug' in Auge mit dem Beschuldigten aussagen und ihm auf Fragen und Einwände Rede und Ant930

Elfter Abschnitt. Verteidigung (Dünnebier)

§ 147 Anm. 2

wort stehen. Dieser Grundsatz ist im Vorverfahren bisher nur unvollkommen verwirklicht; es spielt sich zum großen Teil heimlich ab. Dadurch ist der Beschuldigte in seiner Verteidigung beeinträchtigt. Zum Ausgleich gebietet § 147, ihm Akten und Beweisstücke so frühzeitig wie möglich, auf jeden Fall aber — und dann ohne Ausnahme — nach Abschluß der Ermittlungen offenzulegen, damit der Beschuldigte von den Ermittlungen Kenntnis erlangt und Verteidigungsmittel beschaffen und vorbringen kann. Früher entstand das Recht auf Akteneinsicht mit dem Schluß des Vorverfahrens; vorher konnte dem Verteidiger Einsicht gestattet werden. Jetzt besteht sein Recht von Anfang an, wenn ihm auch vor Abschluß der Ermittlungen versagt werden kann, es auszuüben. Diese Umkehrung beweist, daß die Akteneinsicht nicht nur dazu dienen soll, die Hauptverhandlung vorzubereiten, sondern auch, die Anklage abzuwehren und zum beschleunigten Abschluß des Verfahrens beizutragen. Die Aktenkenntnis dient dem Beschuldigten. Lediglich aus Gründen der Vorsicht mußte der Gesetzgeber die Akteneinsicht in die Hand einer Person legen, die entweder durch Vorbildung und Standesrecht (§ 138 Abs. 1) oder zufolge der Kontrolle, die das Gericht bei der Auswahl ausübt (§138 Abs. 2), die Gewähr dafür bietet, daß anläßlich der Einsicht die Akten nicht vernichtet, beschädigt oder verfälscht werden ( L o b e und A l s b e r g 2726; KG JR 1965 70). Es wäre falsch, hieraus den Schluß zu ziehen, daß das Recht auf Akteneinsicht dem Verteidiger zustehe. Nach seinem Zweck steht es vielmehr quoad jus dem Beschuldigten, quoad exercitum dem Verteidiger zu. Verteidiger ist der Wahlverteidiger sowohl bei der notwendigen als auch bei der gewillkürten Verteidigung, bei der letzten auch im Falle des § 138 Abs. 2 (RGSt. 72 275), und der Pflichtverteidiger. Nur der Verteidiger kann das Recht der Akteneinsicht ausüben, dagegen nicht der Beschuldigte (RGSt. 72 275), der gesetzliche Vertreter oder der Beistand (§ 149). Von diesem Ausgangspunkt aus hätte der Gesetzgeber vorsehen können und für den verteidigerlosen Beschuldigten in gewissem Umfange vorsehen sollen, daß Abschriften aus den Akten erteilt werden. Nach positivem Recht wird aber die Aktenkenntnis nur in der Form der Akteneinsicht durch den Verteidiger vermittelt. Dieser hat daher keinen Anspruch, daß das Gericht ihm Abschriften fertige (BayObLGSt. 1953 28 = JR 1953 465; OLG Hamburg NJW 1963 1024), und wie dieser auch nicht der Beschuldigte. Dagegen ist die Begründung (OLG Schleswig SchlHA 1952 50) unrichtig, daß der Beschuldigte deshalb kein Recht auf Abschriften habe, weil ihm kein Recht auf Akteneinsicht zustehe. Die zur Entscheidung über die Akteneinsicht zuständige Stelle kann jedoch Abschriften von Aktenteilen geben, wenn der Akteneinsicht selbst noch Bedenken (Absatz 2) entgegenstehen, und der Verteidiger daher gehindert ist, selbst Abschriften fertigen zu lassen (vgl. BGHSt. 18 372). Es wäre zweckmäßig, wenn für die in Absatz 3 genannten Urkunden bei einer Reform die Herausgabe von Abschriften an Verteidiger und Beschuldigte vorgesehen würde; sie könnten mühelos als Durchschläge gefertigt werden. 2. Die Akten umfassen die Ermittlungsakten der Staatsanwaltschaft, die sie mit der Anklage dem Gericht vorzulegen hat (§ 199 Abs. 2 Satz 2), mit diesen also auch den Strafregisterauszug des Angeschuldigten (OLG Frankfurt NJW 1960 1731), die nach der Anklage enstandenen gerichtlichen Vorgänge, sämtliche Beiakten, wie Vorstrafenakten (OLG Dresden SächsOLG 14 482) oder Akten über Zivilprozesse, in denen sich z. B. Vorgänge über einen Meineid befinden, Berichte oder besondere dem Gericht zugänglich gemachte Akten der Gerichts- oder Ermittlungshilfe (OLG Hamm JW 1930 3448; a. A. N ö t z e l DRiZ 1928 281), Personalakten der dem Beschuldigten vorgesetzten Behörden oder von Polizeidienststellen, Steuerakten usw. Die Handakten der Staatsanwaltschaft enthalten nur Schriftstücke, die den inneren Dienst der Staatsanwaltschaft betreffen; sie verbleiben stets in den Händen der Staatsanwaltschaft (§ 48 Abs. 1 Satz 1 und 2 AktO), werden dem Gericht nicht vorgelegt und sind damit von der Einsicht ausgeschlossen (Nr. 192 Satz 1 RiStBV). Auf der anderen Seite ist es unzulässig, Ermittlungsvorgänge, auch nur vorübergehend, zu den Handakten zu nehmen. Nach Nr. 106 Abs. 5 RiStBV darf der Staatsanwalt dem Gericht oder dem Vorsitzenden Akten nur vorlegen, wenn er sie gleichzeitig zu Bestandteilen der gerichtlichen Akten erklärt und damit auch dem Verteidiger zugänglich macht. Das Gericht erhält also regelmäßig keine vertraulichen Akten. Geschieht das durch ein Versehen doch oder werden dem Gericht 931

§ 147 Anm. 3

Strafprozeßordnung. Erstes Buch

Akten, die es von anderen Behörden als der Staatsanwaltschaft angefordert hat, vertraulich zugänglich gemacht, darf es von ihnen keine Kenntnis nehmen. Denn es kann sie nicht verlesen oder vortragen und damit nicht zum Gegenstand der Beweisaufnahme machen; diese aber darf allein dem Urteil zugrunde liegen (§ 261). Daher empfiehlt es sich, vertrauliche Akten, ohne von ihrem Inhalt Kenntnis zu nehmen, alsbald zurückzugeben oder sie, wenn über ihre Freigabe ein Schriftwechsel geführt wird, in der Geschäftsstelle zu verwahren. Auf keinen Fall dürfen sie Beiakten werden ( R e u s s JW 1938 2964) 1 . Hat das Gericht vertrauliche Akten erhalten, ist es nicht befugt, sie entgegen dem Willen der übersendenden Behörde zu verwerten (RGSt. 42 292; RDienstStrH JW 1938 2620). Ggf. muß dadurch Abhilfe geschaffen werden, daß die verfügende Behörde Teile für offen erklärt und von diesen Teilen Abschriften genommen und dem Verteidiger zugänglich gemacht werden (RGSt. 72 276). Geschieht das nicht und hat das Gericht die vertraulichen Akten durch ein Versehen eingesehen, so muß es sich von der — auch unbewußten — Verwertung ihres Inhalts freimachen. Kann der Richter, der vertrauliche Akten gelesen hat, nicht ausschließen, daß Besorgnis seiner Befangenheit bestehe, hat er Anzeige nach § 30 zu machen. Berichte der Polizei oder der Ermittlungshilfe dürfen nicht vertraulich vorgelegt werden. Tut die Behörde das gleichwohl, so ist der Vermerk ohne Bedeutung. Denn was für das Verfahren geschaffen worden ist, kann ihm nicht gleichzeitig vorenthalten werden. — Als vertraulich sind hier nur solche Akten bezeichnet, die nach dem Willen der aktenflihrenden Behörde Privatpersonen überhaupt nicht zugänglich gemacht werden dürfen. Darunter fallen nicht Verschlußsachen, die für ein Gerichtsverfahren geschaffen worden sind oder bereitgestellt werden. Wegen solcher Akten s. 4 Abs. 3 und 4. Wie die Akten sind dem Verteidiger auch die amtlich verwahrten (§ 94 Abs. 1) Beweisstücke zur Einsicht offenzulegen. Für die Beschränkung auf amtlich verwahrte Beweisstücke ist keine Rechtfertigung zu erkennen. Auch wenn ein Beweisstück in anderer Weise sichergestellt ist (IV 4 zu § 94), muß es der Verteidiger einsehen können. Staatsanwaltschaft und Gericht müssen ihm die Möglichkeit dazu verschaffen; er darf nicht auf eine Besichtigung in der Hauptverhandlung verwiesen werden. Das ist so selbstverständlich, daß nur ein Redaktionsversehen angenommen werden kann, und die Vorschrift auf alle in Verwahrung genommenen oder in anderer Weise sichergestellten Beweisstücke (§ 94 Abs. 1) anzuwenden ist. Darunter sind im Gegensatz zu den Protokollen die als Beweismittel dienenden Sachen, gefälschte Urkunden, beleidigende Briefe, hochverräterische Schriften oder sonstige Gegenstände zu verstehen, an denen Tatspuren haften oder die sonst zum Beweise der Tat dienen können (§ 94 Abs. 1, erste Möglichkeit; II 3 zu § 94). Einziehungsstücke (§ 94 Abs. 1 Satz 1, zweite Möglichkeit) fallen nicht unter die Vorschrift, doch wird eines von mehreren gleichen stets Beweisstück sein. 3. Einsicht. Der Verteidiger darf die Akten einmal oder mehrfach einsehen, kann aber nicht verlangen, daß sie unausgesetzt zur Einsicht für ihn bereitgehalten werden. Denn der Fortg