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German Pages [380] Year 1985
Städtewesen
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Werkstücke für Studium und Praxis herausgegeben von Heinz Stoob
Institut für vergleichende Städtegeschichte, Münster
Die Stadt Gestalt und Wandel bis zum industriellen Zeitalter Herausgegeben von Heinz Stoob Zweite, überarbeitete und vermehrte Auflage
Franz Petri in Verehrung gewidmet Böhlau Verlag Köln Wien 1985
CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Die Stadt: Gestalt u. Wandel bis zum industriellen Zeitalter/hrsg. von Heinz Stoob.-2. überarb. u. verm. Aufl. Köln; Wien: Böhlau, 1985. (Städtewesen; 1) ISBN 3-412-08384-4 NE: Stoob, Heinz [Hrsg.]; GT
Copyright ® 1985 by Böhlau Verlag GmbH, Köln Alle Rechte vorbehalten Ohne schriftliche Genehmigung des Verlages ist es nicht gestattet, das Werk unter Verwendung mechanischer, elektronischer und anderer Systeme in irgendeiner Weise zu verarbeiten und zu verbreiten. Insbesondere vorbehalten sind die Rechte der Vervielfältigung — auch von Teilen des Werkes — auf photomechanischem oder ähnlichem Wege, der tontechnischen Wiedergabe, des Vortrags, der Funk- und Fernsehsendungen, der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, der Ubersetzung und der literarischen oder anderweitigen Bearbeitung.
Printed in Germany ISBN 3 412 08384 4
Inhalt
Widmung für Franz Petri
VII
Zum Geleit
IX
Vorwort (zur ersten Auflage)
XI
Ein Wort zur zweiten Auflage
XXII
Verzeichnis der Mitarbeiter
XXIII
Verzeichnis der Abbildungen
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Abkürzungsverzeichnis KarlJ. Narr Älteste stadtartige Anlagen
XXXIII 1
Wolfram von Soden Tempelstadt und Metropolis im Alten Orient
37
Thomas Pekäry Die Stadt der griechisch-römischen Antike
81
Max Wegner Zur Topographie von Stadtanlagen der Griechischen und Römischen Antike
99
VI
Inhalt
Torsten Capelle Zur Existenzgrundlage und Dauer stadtartiger Siedlungen der Wikingerzeit
113
Heinz Stoob Die hochmittelalterliche Städtebildung im Okzident.
.
.125
.
151
Heinz Stoob Stadtformen und städtisches Leben im späten Mittelalter Heinz Stoob Frühneuzeitliche Städtetypen Heinz Stoob Zur Städtebildung im industriellen Zeitalter
191 225
Alfred Hartlieb von Wallthor Freiherr vom Stein und die Städteordnung in Westfalen . Peter Schöller Die Großstadt des 19. Jahrhunderts — ein Umbruch der Stadtgeschichte Hermann Hambloch Die moderne Stadt als zentraler Ort
.261
275 315
Widmung für Franz Petri
Die ergänzend überarbeitete und um zwei Abhandlungen zur Entwicklung seit 1800 erweiterte, auch im Abbildungsteil wesentlich verbesserte zweite Auflage des vorliegenden Sammelbandes widmen der Herausgeber und die Verfasser gemeinsam ihrem verehrten Kollegen und Freunde Franz Petri. In Jahrzehnten engen Zusammenwirkens hat er dem in Münster seit 1969 entstandenen, um das Kuratorium für vergleichende Städtegeschichte e.V. und sein Münsteraner Institut konzentrierten Schwerpunkt zur Erforschung des Städtewesens maßgebliche Antriebe vermittelt. Es entsprach seiner weitgespannten Interessenrichtung wie seiner lebhaften Menschlichkeit, wenn dabei von Anfang an die fächerverbindende und fächerübergreifende Zielsetzung betont worden ist. Seine alten Beziehungen zu den niederen Landen, einer der führenden europäischen Stadtlandschaften, gaben von vornherein Wegmarken, wie sie seitens des Kuratoriums im Gedenken an Hektor Ammann auch in Richtung auf den zu Frankreich und der Schweiz hin grenzüberbrückenden alemannischen Großraum, nicht minder — im Gedenken an Hermann Aubin — für die Gebiete der alten donauländischen Doppelmonarchie, für Polen und die Baltischen Länder sowie —im Gedenken an Erich Keyser — für den hansischen Ausstrahlungsraum im Bereich der nordeuropäischen Meeresküsten als gültige Richtlinien der Publikationen empfunden worden sind. Franz Petri hat von der Grundlegung dieser Arbeiten an im Vorstande des Kuratoriums wie in dessen später gebildetem Beirat unentwegt sein reiches Wissen, seine große Erfahrung und sein erstaunliches Engagement zum Vorteil der Sache und namentlich der jüngeren Mitarbeiter in die Waagschale gelegt; fest im Glauben und in der Treue zum wissenschaftlichen Ethos gab er uns ein stetes Vorbild, blieb er
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Widmung fiir Franz Petri
auch in kritischen Stunden der zuversichtliche und lebensweise Nestor des oft mit Sorgen beratenden Kreises. Eben erst hat er sich trotz der ihm freilich kaum anzumerkenden Bürde des neunten Lebensjahrzehnts nochmals bereitgefunden, in dieser Tätigkeit auch zugunsten des neuen Institutsvorstandes unverdrossen fortzufahren. Für die Reihe „Städtewesen", deren Absichten er stets nachdrücklich unterstützt hat, kann kein besserer Zeuge gefunden werden als dieser im echten Wortsinne integere Forscher und Lehrer an einer hoffentlich weiter in ihrer Pflicht zur Wahrheitssuche beharrenden universitas litterarum.
Münster, am 20. April 1984
Heinz Stoob
Zum Geleit
Mit dem vorliegenden Bande unternimmt das Institut für vergleichende Städtegeschichte den Versuch, die von ihm durch den Unterzeichneten herausgegebene wissenschaftliche Publikations-Reihe »Städteforschung« auf sachbezogene Weise zu ergänzen. Die Absicht geht dabei dahin, einen breiteren Leserkreis anzusprechen, sei er nun im Rahmen der Ausbildung auf handliche Leitfäden weiter gespannter Thematik angewiesen oder aus dem praktischen Interesse in Beruf und Öffentlichkeitsarbeit, nicht zuletzt mit dem Streben, eigene Horizonte lesend nach Kräften zu erweitern, auf zuverlässige, jedoch nur durch ein begrenztes Forschungsbeiwerk belastete und gemeinverständlich geschriebene Berichterstattung aus. Diesen Zielen entsprechend, soll die Reihe »Städtewesen« auch äußerlich in handlicher Größe, zugleich aber mit guter Ausstattung durch Abbildungen, Pläne und Karten herausgebracht werden. Mit dem Rückhalt an der vom Institut betriebenen Grundlagenforschung sowie den daraus erwachsenden Veröffentlichungen kann eine Kette von »Werkstücken für Studium und Praxis« manche unbegründete Voreingenommenheit gegenüber dem wissenschaftlichen Schrifttum im strengen Sinne auf eigene Weise überwinden helfen. Sie kann zugleich auf dieses Schrifttum hinlenken und ihm womöglich breiteren Widerhall verschaffen. Es ist daher dem Böhlau-Verlage zu danken, wenn er sich dem Plane gegenüber von Anfang an sehr aufgeschlossen gezeigt hat; Sache der ersten für die Reihe vorgesehenen Bände wird es sein, die ganze Vielfalt durch das Medium »Städtewesen« angebotener und zugänglicher Problemkreise überschaubar zu mächen und in sie auf lebendige Weise einzuführen. Eine Ringvorlesung, wie sie dem ersten Band selbst zugrundeliegt, mag dafür als Ausgangsbasis auch dann besonders geeignet erscheinen, wenn die Umstände
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Zum
Geleit
ihres Zustandekommens, wie im Vorwort näher angedeutet, Lücken und Grenzen klar genug vor Augen führen. Bemühungen der hier angestrebten Art werden immer auf dem Wege sein; wenn sie nur zu Nachdenken und kritischer Überlegung anregen, haben sie schon Schritte des Weges getan.
Münster, am 10. April 1978
Heinz Stoob
Vorwort (zur ersten Auflage)
Die städtische Großsiedlung, als Einzelbild sowohl wie als Gesamterscheinung, ist durch ihre äußere Gestalt und ihr vielfältiges Leben, aber auch durch ihre in Ausstrahlung und Anziehung auf das Umland geübte Wirkung, seit je ein besonderer Mittelpunkt nachdenklicher, ja faszinierter Betrachtung von Menschen gewesen, deren Leben auf die Stadt mit Bezügen aller Art hingewiesen war. Auswärtige wie Inwohnende betrifft das gleichermaßen; wer in ihr, mit ihr und durch sie lebt, zu Wohlstand kommt oder verarmt, wer sie zu beherrschen sucht oder von ihr aus beherrscht wird, wer sie zur geistigen Hochburg macht oder über sie in Kultus und Kultur geprägt wird, kurz - wer sich in ihr findet oder durch sie zu Inhalten gelangt ist, der sah und sieht sich durch alle Vergangenheit und Gegenwart menschlicher Hochkulturen unseres Planeten mit dem Phänomen »Stadt« befaßt. Sucht er nun aber den Begriff zu definieren, so überfällt ihn unvermittelt eine geradezu auswegslose Vieldeutigkeit; so dicht sich Beziehungen und Einflüsse von älteren zu jüngeren sowie von den einen zu den anderen Räumen städtischen Lebens verflechten, ohne näher bestimmende Zusätze ist städtisches Leben und Sein nicht zu umschreiben. Versuche, den Begriff »Stadt« umfassend und ohne Einschränkung durch die historischen Kategorien von Raum und Zeit festzulegen, sind zwar nicht nur von Historikern, sondern auch von Geographen, Statistikern, Volkswirten, Juristen und Sozialwissenschaftlern oft unternommen, aber nie allseitig befriedigend ins Ziel gebracht worden. Die leitenden Gesichtspunkte dieser wie anderer Fächer, in denen Städteforschung betrieben wird, haben gewiß Teil daran, städtisches Leben als Erscheinungsform zu fassen, sie geben wertvolle Hinweise dafür, wie man sich dem Verständnis der Stadt zu nähern vermag, doch gerade dadurch
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Vorwort
wird sie nur als vielschichtig und vieldeutig beleuchtet, und so kann das Anliegen einer eigentlich geschichtlichen Begriffsbestimmung in der umfassendsten Zielsetzung nicht zulänglich befriedigt werden. Um das noch klarer zu erkennen, werfen wir noch einen näheren Blick auf die Versuche unseres eigenen Faches Geschichte, das Wesen der Stadt in möglichst allgemein-umfassender Weise zu kennzeichnen: alle dahin gerichteten Entwürfe beziehen sich - meist ohne daß ihre geistigen Väter sich dessen bewußt wurden - in einer gleichsam stillschweigenden Ubereinkunft auf das europäische Substrat weiteren Rahmens, das heißt mit Einschluß der mediterran/orientalischen Bereiche. Das findet seine natürliche und einfache Erklärung in der empirischen Arbeit des Historikers, die von einer möglichst nüchternen Erkenntnis gewesener Wirklichkeiten zur Ermittlung der gewordenen Wirklichkeit vorzudringen sucht. Äußere, nämlich arbeitsökonomische, sowie innere, nämlich begriffskritische Gründe haben ihn bisher gewarnt und werden ihn fernerhin davor warnen, der bunten Fülle städtischen Lebens durch zu weite und zu unbestimmte Abgrenzung eben jene Farbe und Plastik zu nehmen, aus der ihre Faszination erwächst. Abgesehen von der offenen Frage, ob und wieweit dem Historiker das Eindringen in so andersartige Geisteshaltungen und Ordnungsformen überhaupt möglich und vergönnt ist, wie sie etwa dem ostasiatischen oder dem versunkenen mittel- und südamerikanischen Städtewesen zugrunde liegen, bleibt er ohnehin auf die schlichte Forderung verwiesen, sich zunächst die für noch umfassendere Vorhaben unerläßliche, feste Plattform im eigenen Haus zu verschaffen; ohne sie ständen alle etwaigen Vergleichsversuche beziehungslos im Räume. Dennoch kann und muß aber der Blick über den Rahmen des engeren kontinentalen Kulturzusammenhangs hinaus darauf hinweisen, daß in der Tat allen Hochkulturen des Erdkreises eigenständige Stadtlandschaften entsprechen. Wie sich die mediterrane Städtewelt bereits der Antike, ob sie nun syrisch, kretisch, griechisch, römisch oder keltiberisch bestimmt war, mit den teils älteren, teils parallelen orientalischen Formen der Stadt in Anpassung und Abgrenzung auseinandergesetzt hat, so führen von jenen frühesten Kreisen städtischer Lebensweise in unserer Nachbarschaft verbindende Beziehungen weiter nach Asien, nach Aethiopien und wohl auch in den afrikanischen Sahel. Die nachantiken Stadtlandschaften des Islam und Ostroms fanden sich aber ebenso auf beider, des Orients wie der Antike, Schultern, wie das abendländische Städtewesen unseres Kontinents.
Vorwort
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Damit ist keiner zu vordergründigen Vorstellung von Kontinuität das Wort geredet, wie sie oft genug aus der unbestreitbaren zeitlichen Abfolge und räumlichen wie inhaltlichen Berührung, ja Beeinflussung erschlossen wurde, aber auch nicht jener pseudobiologischen Zergliederung im Stile von Oswald Spengler, der zwar fruchtbar über die gegenseitige Bedingtheit von Hochkultur und städtischer Lebensform nachgedacht, ja die Weltgeschichte geradezu als eine »Geschichte des Stadtmenschen« bezeichnet hat, der aber den wichtigen Problemen einer möglichen Symbiose, eines partiellen Adaptionsvorgangs und einer etwaigen Regeneration städtischer Lebensweisen keine Aufmerksamkeit schenken konnte, weil sie nicht in seinen Gedankenrahmen paßten. Sehr viel schärfer, und vor allem fern von jeder unzulässigen Vereinfachung, hat Max Weber das weitschichtige Phänomen ins Auge gefaßt; seine große, bereits 1921 erschienene Abhandlung »Die Stadt« bietet unverändert den besten, ebenso mitreißenden wie freilich auch anspruchsvollen Abriß, bestechend gleichermaßen durch Urteilskraft und Intuition, erstaunlich in der Materialfülle und im Uberblick: hier sind alle zu seiner Zeit an der Städteforschung beteiligten Fächer berücksichtigt, den Ergebnissen nach verarbeitet und in ein Gesamtbild einbezogen. Sinnfällig beobachten wir die Kraft zu festen Großsiedlungen hindrängender Tendenzen in hochkultivierten Landschaften am Verhalten aller Wandervölker, gleich ob Nomaden oder Ackerbauer, soweit sie kulturell befähigt gewesen sind. Ihnen mußte, ob Hyksos oder Germanen, Araber oder Mongolen, an sich der Stadtbewohner, den man im Sturme nicht ohne weiteres überrennen konnte, sondern zähe zu belagern gezwungen war, ebenso unverständlich wie unheimlich erscheinen. Wich er doch nicht einer Ubermacht aus, wie das ihrer Meinung nach wider alle Vernunft war, sondern suchte hinter Wall und Mauer hartnäckig standzuhalten; zog er doch dem weithin frei schweifenden, die natürlichen Gaben von Weide und gegebenenfalls auch Acker nach Bedarf und Belieben wechselnden Dasein, für sie ganz unbegreiflich, ein Leben in umzirkelter Enge vor! In seinen Denkwürdigkeiten des Hauses Osman berichtet der Chronist Ahmed, wie Osman Gazi das eroberte Dorylaion/Eskischehir einem Kadi unterstellt. Der schickt ihm einen Mann, dem er den Marktzoll verpachten will. »Zoll? Was ist das?«, fragt Osman. »Von jedem, der auf den Markt kommt, nehme ich dafür Geld.« Osman erstaunt: »Schulden Dir denn diese Marktfahrer etwas?«, Der verblüffte Pächter ungeschickt: »Nein, das ist
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Vorwort
eben so Brauch und Sitte!« Osman empört: »Mann. . . führe mir nicht solche Reden!« - Es bedarf eingehender Unterweisung über die vom Zollpächter als Gegenleistung erwartete Marktsicherung, bevor der herkömmliche Betrieb weitergehen kann. Wird hier eine geringschätzige Abneigung sowie ein mangelndes Verständnis gegenüber städtischer Lebensweise deutlich, so hat andererseits die von seßhafter und befestigter Dauer ermöglichte Häufung städtischer Wohlstandsgüter von jeher Begehren bei den Wandervölkern geweckt. Vielen Städten wurde das zum Verderben; so oft sie aber in Trümmer sanken, in vielfach erstaunlich kurzer Zeit erhoben sich manche von ihnen über die Eroberer und zogen diese selbst in das Netz Urbanen Lebens hinein. Von dem mongolischen Großkhan heißt es um 1240, er habe die Muselmanen Yalawatschi und Maschut von Urgendsch, aus dem durch seine Reiter völlig verwüsteten Turkestan, über »den Sinn und die Bedeutung der Städte« befragt. Ihr Bericht machte wohl Eindruck, denn Dschinghis Khan setzte den Yalawatschi daraufhin als Vogt über Peking, während er Maschut beauftragte, unter mongolischen Vögten zu verwalten, was an urbanem Leben in Buchar, Samarkand, Kaschgar, Jarkand und anderswo den äußerst blutigen Mongolensturm überlebt hatte. Im Ostteil des Reiches aber hat schon der Sohn Ugedei das befestigte Hoflager Karakorum bezogen, und der Enkel Kubilai verlegte bereits 1264 den Sitz nach Peking, in die Kaiserstadt der Han selbst. Als ihn dort Marco Polo, der kühne Venezianer, besuchte, hatte die chinesische Stadtkultur über den mongolischen Eroberer triumphiert. Mit hohem Erstaunen beschreibt der abendländische Kaufmann die ostasiatische Kapitale, ihre Tausende von Zofen, Eunuchen und Pagen, ihre Schranzen und Würdenträger, Astrologen, Kalendermacher und Schreiblehrer, ihre Magazine und Rüstkammern, die starke Garde-Garnison und das proskynetische Zeremoniell einer unbeschränkten Despotie. Marco empfindet die außerordentliche Fremdartigkeit einer solchen Form von Urbanität, er bewegt sich bewußt in einer grundsätzlich von der heimischen Welt verschiedenen Umgebung, wenn er die Abstände auch nur beschreiben, noch nicht bestimmen kann. Dazu einen Ansatz zu finden, war das Rüstzeug moderner Wissenschaft vonnöten, wie es Weber einzusetzen vermochte; für ihn ergab sich aus dem Vergleich, daß »die vollentwickelte antike und mittelalterliche Stadt vor allem ein als Verbrüderung konstituierter oder so gedeuteter Verband« ge-
Vorwort
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wesen sei. Religiöse Gründe hätten diesen »Verbandscharakter« der okzidentalen Stadt bewirkt; hier sei es gelungen, die »Tabuschranken« und die »kastenmäßigen magischen Klammern der Sippenverbände« zu überwinden, »welche in Asien die Verbrüderung zu einer einheitlichen Körperschaft hemmten.« Während nun aber, so Weber weiter, die antike Polis als ein Verband von Bürgern zusammen mit der hochmittelalterlichen Stadtgemeinde von jeder Form östlicher Urbanität, auch im altslawischen Räume, scharf geschieden ist, hat die Polis doch mit den Städten des Ostens ein gleiches, zweistufiges Sozialgefüge von Herrschenden und Beherrschten gemeinsam: was in Athen Bürger und Sklaven, das sind für Weber in Peking Beamten und Banausen, in Delhi oder Bagdad gesippte Kasten und landlose Arbeiter, in Moskau Bojaren und »czernj ludj«. Dieser ungemein fruchtbare Denkansatz ist im Kern bis heute unerschüttert geblieben; die neuere Forschung hat lediglich ergänzt, daß auch das okzidentale Frühmittelalter in seinen stadtähnlichen Siedlungen noch ein klares herrschaftliches Gefüge aufweist, ein zweistufiges Nebeneinander von adligen Grundherren und Klerikern zusamt den freien Kaufleuten in Königsmunt einerseits, abhängigen Hofhandwerkern und Gesinden sowie Burgmannen andererseits. Namentlich Otto Brunner und Walter Schlesinger haben hier bahnbrechend gewirkt; Theodor Mayer bot ihnen das Forum auf der Reichenau und brachte die Ergebnisse in Sammelbänden heraus. Mit dem Hochmittelalter stieß die städtische Bürgergemeinde aber zum einheitlichen, freien Verbände durch; er blieb selbstverständlich im Sinne der altständischen Verfassungsordnung immer gestuft, bedeutete aber jenen entscheidenden, der Antike noch fremden Schritt, durch den die am autonomen Stadtregiment beteiligte Einwohnerschicht ganz beträchtlich verbreitert worden ist. Und noch ein zweites Element schied nun die hochmittelalterliche Stadt von der auch in dieser Hinsicht mit dem Osten verbundenen antiken: bei aller Bedeutung seiner herrschaftlichen Stadtburgen hat der Osten die Städte niemals rechtlich vom flachen Lande abgeteilt. Der chinesische Städter, so unterstrich es Weber, blieb rechtlich dem Ahnentempel im Heimatdorfe verbunden, der Städter im alten Rußland war dem Bauern rechtlich gleichgestellt. Nun hatte zwar die Antike ein Stadtbürgerrecht, aber sie bezog umgekehrt das Umland in dieses ein; mit entgegengesetzten Vorzeichen gab es also
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Vorwort
auch dort keine rechtliche Scheide zwischen Stadt und Land. Im Okzident hingegen kam es ab dem Hochmittelalter zu jener typischen Rechtstrennung zwischen den autonomen Stadtrechtsbereichen und dem in landrechtlichen oder leibherrlichen Gerichtsverbänden beharrenden umgebenden flachen Lande. Neben den rechtlichen ist hier endlich auf die nicht minder durchgreifenden Wandlungen des Wirtschaftslebens hinzuweisen: der Markt mit seiner doppelten Funktion für den Fernhandel wie für den Nahverkehr gewann zentrale Bedeutung; in langer Entfaltung wuchs aus dem älteren der jüngere Fernhändlerstand mit Hansen und Gilden hervor, trat ihm gegenüber der korporierte Handwerker mit seinem auf Export gerichteten Gewerbe, prägten Verkehr, Stapel, Zoll, Münze und Messe weitere, unverwechselbare Züge der alteuropäischen Stadt. Die dritte, aber ebenfalls wichtige Entfaltungslinie führte zugleich zur eigenen städtischen Topographie des Westens: in Umfang und Fläche, in Grundriß und Aufriß gewannen seine Zentren ihre steinerne eigene Gestalt, dem Erscheinungsbilde orientalischer und antiker Städte verwandt, aber doch nicht identisch; es waren die großen Bürgerbauten der Befestigung und des Kirchenwesens, der Versorgung und Fürsorge, der inneren Ordnung und gemeindlichen Feste, deren hohe Anforderungen an Finanzierung, Materialbeschaffung, Arbeitskraft und Organisation zugleich den Zusammenhalt der Stadtgemeinde wie die Entfaltung ihrer autonomen Organe entscheidend gefördert haben. Mit dem Ubergange vom altständischen in das industrielle Zeitalter hat sich nun zwar der Substanz wie dem Gehalt nach das bürgerliche Leben wesentlich verändert; es ist aber zu betonen, daß bestimmte Kriterien städtischen Daseins bei neuer Gestalt sich auf den alten Sachzusammenhang orientieren. Das gilt sowohl für die Stadt als baulichen Körper, als auch für das öffentliche Leben in Recht und Verfassung, und nicht minder für Wirtschaft und Gesellschaft. Vor allem ist ein städtisch bezogenes, bürgerliches Selbstverständnis unverändert festzustellen, sowohl bei den aus alter Substanz fortlebenden Städten, so sehr sich ihr äußeres und inneres Gefüge auch verändert haben mag, als auch bei den in beträchtlicher Zahl neu hinzugewachsenen. Nur einer die sogenannte »Stadt im Rechtssinne« auf inzwischen von der Forschung überholte Weise unzulässig als allein gültige Norm setzenden Betrachtungsweise konnte der Gedanke heraufsteigen, daß die europäische Stadt des industriellen Zeitalters im Grunde nicht mehr
Vorwort
XVII
als »Stadt« angesehen werden dürfe. Hier begegnen sich einseitige Vorstellungen in bemerkenswerter Weise mit solchen des kulturellen Pessimismus, der die moderne Großstadtentwicklung auf einem retrospektiven Schirm gespiegelt sieht. Damit sollen die ungemein komplexen und schwierigen Probleme der modernen Städteplanung und Stadtsoziologie, der Zentralitätsforschung und stadtgeographischen Infrastrukturierung keineswegs übersehen werden. Sie bedürfen eigener, sehr eindringender Arbeiten einer ganzen Gruppe daran beteiligter Fächer. Die Tatsache jedoch, daß allein auf westeuropäischem Boden unverändert Zehntausende intakter Städte aller Größen vorhanden sind, wird davon auf keine Weise berührt. In den weitaus meisten von ihnen leben sehr gegenwärtig Bewußtheiten der Zusammengehörigkeit fort, nicht nur geistig-kulturell, sondern auch wirtschaftlich und kommunalrechtlich. Von diesen knappen Vorüberlegungen aus wenden wir uns nunmehr der Entstehungsgeschichte des hier unternommenen Gemeinschaftswerkes zu, das Gestalt und Wandel der Stadt einem interessierten größeren Leserkreise sachlich fundiert, aber doch möglichst eingängig und allgemein verständlich näherbringen möchte. Die Ursprünge des vorliegenden Sammelbandes gehen zurück auf das Bemühen eines Kreises von Hochschullehrern an der Universität Münster, inmitten der Auflösung des alten Zusammenhanges der Philosophischen Fakultät infolge einer 1970 beschlossenen neuen Universitätsverfassung die interdisziplinären und interfakultativen Verbindungen von ihnen in Forschung und Lehre vertretener Fachrichtungen und Fächer am Beispiel einer gemeinsam veranstalteten Ringvorlesung während des Wintersemesters 1971/72 nachdrücklich vor Augen zu führen. Der thematische Mittelpunkt dafür bot sich aus mehreren Gründen an. Zum einen war im Frühjahr 1970 in Münster das Institut für vergleichende Städtegeschichte eröffnet worden, eine vom gleichnamigen Kuratorium als Trägerverein ins Leben gerufene Einrichtung zum Zwecke systematischer Grundlagenforschung unter bibliographischen, lexikalischen, kartographischen und quellenkundlichen Vorzeichen (Bibliographie zu Städtegeschichte Deutschlands, Deutsches Städtebuch, Deutscher und Westfälischer Städteatlas, Quellensammlung zur Städtegeschichte). Zum anderen hatte sich, unter Beteiligung der meisten am vorliegenden
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Vorwort
Bande mitwirkenden Verfasser, an der Universität Münster ein Kollegium zur Förderung vergleichender Städteforschung gebildet, das einem über das Land an den Wissenschaftsrat geleiteten Antrage Rückhalt gewähren sollte, unter Ausnutzung der gerade in Münster günstig erscheinenden Voraussetzungen ein Sonderforschungsprogramm zu finanzieren. Bis zur Genehmigung dieses Antrages hat es dann zwar noch gute Weile gehabt; sie erfolgte erst im Januar 1974, doch seit Mitte 1976 hat der Sonderforschungsbereich 164 »Vergleichende geschichtliche Städteforschung« in Münster seine Arbeiten aufgenommen, und inzwischen ist deren Fortsetzung, zunächst für 1978-80, auf erweiterter Basis bewilligt worden. Wenn in diesem Rahmen eine ansehnliche Gruppe von qualifizierten jüngeren Forschern die Möglichkeit zu eindringender wissenschaftlicher Arbeit gefunden hat, so stand am Beginn des langen Weges dahin jene Ringvorlesung, deren Ertrag im vorliegenden Bande zusammengefaßt werden konnte. Ein dritter Grund für die thematische Orientierung lag in der Sache selbst; er wurde aus der überraschend hohen Hörerzahl deutlich, die auf die öffentliche Ankündigung des Rektors der Universität und heutigen Präsidenten der »Stiftung Preußischer Kulturbesitz«, Prof. Dr. Werner Knopp, hin die »Allgemeine Vorlesung« regelmäßig besuchte. Das Phänomen »Stadt« erwies sich als aktuell und zugkräftig genug, dem Versuch des auf erste Anregung von Max Wegner durch den Unterzeichneten zusammengeführten Kreises von Dozenten eine kaum erwartete, lebendige Resonanz zu verschaffen. Die im Grunde fast spontan improvisierte Veranstaltung regte unverkennbar eine Diskussion an, deren Fragestellungen sich dann im Gedankenaustausch der vom Institut und vom Sonderforschungsbereich gemeinsam seither gehaltenen,
vierzehntägigen
Kolloquien
fortgesetzt
haben. Die nahezu allseitige Darstellung menschlichen Lebens im Kristallprisma Urbanen Daseins, das bis in die unmittelbare Gegenwart fortdauernde Wechselverhältnis von Städtewesen und Hochkultur, die immer neue Einbindung von Individuen und Gruppierungen in alle Spielarten öffentlicher Angelegenheiten, das alles war in allgemeineren oder präzis umrissenen Vorstellungen der Hörerschaft aus verschiedensten Interessenrichtungen und vor allem auch ganz unterschiedlichen
Alters
derart
konkrete Wirklichkeit, daß die zunächst beinahe als Wagnis empfundene Ringvorlesung unerwartet geschlossen verlief. Man wird geradezu sagen dürfen, daß sich die so gemachte Erfahrung ermutigend auf die beteiligten Dozenten übertrug; es war nicht nur die
Vorwort
XIX
schlichte Freude an einer vom Thema her begründeten, im vorbereitenden sowie begleitenden Gespräch sich auch zwischenmenschlich erweisenden Gemeinsamkeit, sondern auch die wechselweise Anregung und Belehrung, die sich aus der von unterschiedlichen Seiten auf den Gegenstand gerichteten Bemühung ergab, auf Grund deren sich noch während des Ganges der Vorlesung die Frage erhob, ob nicht auch eine gesammelte Veröffentlichung daraus entstehen könne. Nachdem der Gedanke einmal geäußert worden war, begann bereits der Versuch, ihn zu verwirklichen. Freilich vergingen sechs Jahre, bis das Ziel endlich erreicht werden konnte, und man wird daraus erschließen, daß immer neue Schwierigkeiten auftraten. Sie lagen nicht einmal so sehr in der Suche nach einer materiellen Basis für die Drucklegung, hatte sich doch schon frühzeitig die Gesellschaft zur Förderung der Westfälischen Wilhelms-Universität bereitgefunden, einen namhaften Zuschuß zu gewähren. Erst 1976 konnte jedoch die äußere Gestalt und die Aufmachung des Bandes geklärt werden, nachdem der am Zustandekommen lebhaft beteiligte Verlagsdirektor Gottwald vorzeitig verstorben war. Den Autoren lag daran, wie bei den Hörern, so auch bei den Lesern ein breiteres Interesse anzusprechen. Daher wünschten sie zunächst einmal den Text von zuviel Beiwerk freizuhalten und vereinbarten, sich auf beigegebene und allenfalls knapp kommentierte Schrifttumsangaben zu beschränken. Bis auf begründete Ausnahmen ist es dabei geblieben, und diese beobachten jedenfalls auch engste Grenzen des Apparates. Denselben Absichten entsprach andererseits das Bemühen, durch möglichst reiche Beigaben von Abbildungen die Texte zu ergänzen und gleichzeitig aufzulockern; hier gebührt dem Böhlau-Verlage für bewiesene Großzügigkeit besonderer Dank. Sie erlaubte es, den Zielsetzungen des Herausgebers entsprechend, mit dem vorliegenden Bande ein Beispiel für Begleitveröffentlichungen zu den seit 1976 erscheinenden Bänden der von Institut und Sonderforschungsbereich getragenen Reihe »Städteforschung« zu geben, das geeignet ist, die öffentliche Resonanz einer solchen Publikation flankierend zu unterstützen. Bei dem Anziehungsvermögen, das unserem Thema unverändert und gerade gegenwärtig innewohnt, ist eine von Bildern und Karten unterstützte, möglichst flüssig lesbare, aber doch mit Nachweisen den Weg zu weiterer Information anbietende Textgestalt am besten geeignet, die Stadt als Jahrtausende überdauerndes Phänomen vorzustellen und lebendig werden zu lassen. Herausgeber und Autoren sind sich ferner bewußt, daß ihre Möglichkeiten
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Vorwort
unter den gegebenen Umständen begrenzt sein mußten. War es ihr Ziel, die angebotene Ringvorlesung betont nur aus den in Münster verfügbaren eigenen Kräften zu bestreiten, so ergab sich daraus logisch, daß auch bei der späteren Veröffentlichung diese eigene Seite des Unternehmens unangetastet bleiben sollte. Manche Ergänzung durch auswärtige Sachkenner, die an sich wohl denkbar und erwünscht gewesen wäre, versagten wir uns daher, um auch in dieser Hinsicht dem ursprünglichen Ansatz möglichst nahe zu bleiben. Das zog allerdings insofern unangenehme Beeinträchtigungen nach sich, als einer der ersten Miturheber später gesundheitshalber nicht in der Lage war, sich zu beteiligen; zwar gelang es andererseits, in Münster selbst später über den Kreis der Vorlesung hinaus noch zwei weitere Autoren für wichtige Ergänzungen zu gewinnen, doch blieb am Ende des Bandes eine dem Verfasserkreise wie dem Verlage durchaus gegenwärtige Lücke. Sie ist allerdings insofern bereits geschlossen, als der im Druck befindliche Band A 5 der »Städteforschung« unter dem Titel »Probleme des Städtewesens im industriellen Zeitalter« erscheinen soll und gerade zu den hier angesprochenen Problemen umfangreiches Material bieten wird. Insofern rechnet der Herausgeber darauf, daß man die enge Verzahnung des vorliegenden Bandes mit jener Sammlung einen vollen Apparat besitzender Abhandlungen erkennt und sich durch die eine auf die andere Veröffentlichung hingewiesen findet. Soweit der Uberblick dennoch Kritik herausfordert, mag sie dem Anliegen gerade dienlich sein; Herausgeber und Autoren wissen sich darin einig, die aus einer Vorlesung erwachsene, gemeinsame Publikation in ihrem Wert nicht zu überschätzen. Sie glaubten aber, daß eben in der gewählten Form auch ein Modell geboten werden konnte, mit dem die Verknüpfung von Lehre und Forschung in ihrer fruchtbaren, daher auch kostbaren Wechselbeziehung an einem auch weitere Kreise interessierenden Thema verständlich zu machen sei. Das Ineinandergreifen von Fachdisziplinen, die heute an der Universität Münster auf drei verschiedene Fachbereiche verteilt sind, und die Notwendigkeit, sie im Wege vergleichbarer Veranstaltungen, Institute oder mittelfristigen Forschungsvorhaben aufeinander zuzuführen, damit in wechselseitiger Erhellung Probleme untersucht werden können, die einerseits auf eine lange Tradition zurückblicken, andererseits auch gegenwärtig von einer allseits einsichtigen, aktuellen Bedeutung sind, mag durch dieses Modell erkennbar werden. Zugleich sollen die ernsten und wachsenden Schwierigkeiten gegenseitiger Verständigung zwischen Fächern und
Vorwort
XXI
Forschungsrichtungen beleuchtet werden, wie sie nicht zuletzt in den hier nicht vertretenen Seiten der Städteforschung aufscheinen. Wenn darüber hinaus der Sammelband Lust und Freude an der Beschäftigung mit Städten aller Zeiten, Räume und Kulturzusammenhänge wecken könnte, sei es zur Standortbestimmung in der Gegenwart oder zur Erweiterung der Horizonte in welcher Blickrichtung auch immer, so wäre damit das eigentliche Ziel bereits erkannt, dem die Verfasser zu dienen suchten. Sie danken abschließend den wiss. Mitarbeitern: Dr. M. Schmitt, F. B. Fahlbusch sowie namentlich cand. phil. Luise Wiese-Schorn für die tätige Mithilfe bei der redaktionellen Arbeit.
Münster, am 15.1.1978
Heinz Stoob
Ein Wort zur zweiten Auflage
Unser vor sechs Jahren erschienener Sammelband ist auf eine erfreulich rege Nachfrage gestoßen; auch die Stellungnahme dazu in Fachrezensionen bestärkt uns in der Auffassung, daß dem hier vertretenen Anliegen mit Verständnis und Zustimmung begegnet werden würde. Der glückliche Umstand, daß unser in Münster ansässiger Kollege Peter Schöller, Ordinarius für Geographie an der Ruhr-Universität Bochum, sich dafür gewinnen ließ, den seinerzeit durch Erkrankung und Überlastung des unvergessenen Wilhelm Müller-Wille zu unser aller Bedauern ausgefallenen Beitrag über das Großstadtproblem im 19. Jahrhundert in den Gesamtkanon einzufügen, hat uns noch vermehrten Anlaß gegeben, da die keineswegs klein bemessene erste Auflage inzwischen vergriffen ist, diese überarbeitete und erweiterte Fassung in Angriff zu nehmen. Mit ganz herzlichem Danke begrüßen wir also Peter Schöller, durch dessen Hinzutreten unverändert die Eigenart eines zur Gänze in Münster angesessenen Verfasserkreises gewahrt bleibt, in unserer Mitte. Das geschieht mit um so größerer Freude, als mehrere Rezensenten mit Recht bedauert haben, unseren Gedankengang nicht ungebrochen in die jüngste Vergangenheit hinein fortgesetzt zu finden. Ihr nachträgliches Verständnis erhoffen wir also, während wir der Kritik von V. Henn an unserem wohlerwogenen Verzicht, uns in der Einleitung auf Begriffsdiskussionen einzulassen, ein Wort Walter Schlesingers entgegenhalten, für den der Begriff Adel "einer Definition im strengen Sinne ebenso" entzogen war "wie der Begriff Stadt; die in Raum und Zeit wechselnden Formen können jeweils nur beschrieben, nicht definiert werden" (ZfArchMA 2, 1974, S. 16). Dieser exakten Beschreibung möge die verbesserte und erweiterte Neufassung des Sammelbandes nützliche Dienste leisten. Münster, am 1. April 1985
namens der Mitverfasser Heinz Stoob
Verzeichnis der Mitarbeiter
Prof. Dr. Torsten Capelle, Seminar für Ur- und Frühgeschichte der Universität, Am Stadtgraben 13/15, 4400 Münster Prof. Dr. Hermann Hambloch, Institut für Geographie und Länderkunde, Robert-Koch-Straße 26—28, 4400 Münster Dr. Alfred Hartlieb von Wallthor, Prov. Institut für westf. Landes- und Volksforschung, Schorlemer Straße 16, 4400 Münster Prof. Dr. Karl J. Narr, Seminar für Ur- und Frühgeschichte der Universität, Am Stadtgraben 13/15, 4400 Münster Prof. Dr. Thomas Pekäry, Seminar für alte Geschichte der Universität, Domplatz 20—22, 4400 Münster Prof. Dr. Peter Schöller, Geographisches Institut der Ruhr-Universität Bochum, Universitätsstr. 150, Gebäude NA, 4630 Bochum 1 Prof. Dr. Wolfram Frh. von Soden, Altorientalisches Seminar der Universität, Domplatz 23, 4400 Münster Prof. Dr. Heinz Stoob, Institut für vergleichende Städtegeschichte, Syndikatplatz 4/5, 4400 Münster Prof. Dr. Max Wegner, Archäologisches Seminar der Universität, Domplatz 20—22, 4400 Münster Redaktion (1. Auflage)
Redaktion (2 . Auflage)
Dr. Michael Schmitt Luise Wiese-Schorn Friedrich Bernward Fahlbusch
Rotraud Ries
Verzeichnis der Abbildungen (mit Quellenangaben)
Abb. 1:
Abb. 2: Abb. 3: Abb. 4: Abb. 5:
Abb. 6:
Abb. 7:
Abb. 8: Abb. 9: Abb. 10:
Abb. 11:
Catal Hüyük VI: Rekonstruktion eines Teils der Siedlung. Abbildung in Anlehnung an: J. Mellaart, Excavations at Hacilar. Edinburgh 1970. Catal Hiiyük. Nord-Westwand der Kultstätte VI A 10, restauriert. Abbildung in Anlehnung an: J. Mellaart, Excavations. Hacilar I. Teilrekonstruktion der befestigten Anlage. Abbildung umgezeichnet nach: J. Mellaart, Excavations. Mersin XVI. Teilrekonstruktion der befestigten Anlage. Auf der Grundlage von: J. Garstang, Prehistoric Mersin. Oxford 1953. Babylonien und Assyrien in der zweiten Hälfte des 2. Jahrtausends v. Chr. Abbildung nach: Fischer Weltgeschichte Bd. 3. Die altorientalischen Reiche II. Das Ende des 2. Jahrtausends. Hg. v. E. Cassin, J. Bottero, J. Vercoutter. Frankfurt 1966. Mesopotamische Tempelanlagen von der Frühzeit bis um 3000 v. Chr. Abbildung nach: H.J. Lenzen, in: Zeitschrift für Assyriologie und vorderasiatische Archäologie N.F. 17, 1955, Tafel 1 nach Seite 32. Tepe Gawra. Südostansicht. Abbildung nach: A.J. Tobler, Excavations at Tepe Gawra, Volume II, University of Pennsylvania Press, Philadelphia 1950. Tepe Gawra, Schicht XIII. Abbildung nach: A.J. Tobler, Excavations, Tafel XI. Tepe Gawra, Schicht XI-A. Abbildung nach: A.J. Tobler, Excavations, Tafel VI. Tepe Gawra. Schicht VIII-B. Abbildung nach: E.A. Speiser, Excavations at Tepe Gawra, Volume I, University of Pennsylvania Press, Philadelphia 1935, Tafel X . Uruk, Tempel der Schicht Y/TV im Eanna-Bezirk. Abbildung nach: H.J. Lenzen, in: Zeitschrift für Assyriologie und vorderasiatische Archäologie N.F. 15, 1949; hier nach: E. Strommenger, Fünf Jahrtausende Mesopotamien. München 1962, S. 51 (beschreibender Teil), ( A u f n a h m e von M . Hirmer).
Verzeichnis der Abbildungen Abb. 12:
XXV
Frühsumerische Epoche: aus dem Eanna-Heiligtura in Uruk. Schicht IV um 3000 v. Chr. Abbildung nach: E. Strommenger, Fünf Jahrtausende, Tafel 13 (Abbildungsteil). Abb. 13: Uruk, Stadtplan. Abbildung nach: H.J. Lenzen, UVB XVI, 1960; hier nach: E. Strommenger, Fünf Jahrtausende, S. 78 (beschreibender Teil). Abb. 14: Babylon. Schematischer Übersichtsplan der Stadt in spätbabylonischer Zeit. Abbildung nach: E. Unger, Babylon, die heilige Stadt. 1931; hier nach: E. Strommenger, Fünf Jahrtausende, S. 121 (beschreibender Teil). Abb. 15: Rekonstruktion eines Privathauses in Ur, um 1800 v. Chr. Abbildung nach: L. Woolley, Ur in Chaldäa. Wiesbaden 1956, S. 178. Abb. 16: Chursangkalama. Plan des Palastes der Mesilim-Periode, sogenannter Palast von Kisch. Abbildung nach: V. Christian, Altertumskunde des Zweistromlandes. 1939; hier nach: E. Strommenger, Fünf Jahrtausende, S. 62 (beschreibender Teil). Abb. 17: Chafadschi, Rekonstruktion des Tempel-Oval-Komplexes der ersten frühdynastischen Bauperiode. Abbildung nach: P. Delougaz, The Temple Oval at Khafajah. Oriental Institute publications, Volume LIII. The University of Chicago Press, Chicago 1940. Abb. 18: Ur. Plan des Nanna-Heiligtums zur Zeit der III. Dynastie von Ur. Abbildung nach: C.L. Woolley, Ur Excavations II, 1934; hier nach: E. Strommenger, Fünf Jahrtausende, S. 24 (beschreibender Teil). Abb. 19: Rekonstruierter Plan des Sü-Sin-Tempels und des Königspalastes in Eschnunna um 1950 v. Chr. Abbildung nach: H. Frankfort, S. Lloyd, T. Jacobson, The Gimilsin Temple and the palace of the rulers at Tell Asmar. The University of Chicago Press, Chicago 1940, Tafel 1. Abb. 20: Mari. Palast des Zimrilim. Abbildung nach: A. Parrot, Mari, 1937; hier nach: E. Strommenger, Fünf Jahrtausende, S. 86 (beschreibender Teil). Abb. 21: Assur. Plan der Stadt ohne die südliche Neustadt. Abbildung nach: E. Strommenger, Fünf Jahrtausende, S. 100 (beschreibender Teil). Abb. 22: Kalchu. Plan der Akropolis in neuassyrischer Zeit. Abbildung nach: E.L. Mallowan, Iraq 19, 1957; hier nach: E. Strommenger, Fünf Jahrtausende, S. 103 (beschreibender Teil). Abb. 23: Dur Scharrukin. Gesamtplan der Stadt mit der Zitadelle auf Grund der ergänzenden Untersuchungen des Oriental Institute Chicago. Abbildung nach: J. Loud nach Ch.B. Altmann, Khorsabad II, OJP XL, 1938; hiernach: E. Strommenger, Fünf Jahrtausende, S. 110 (beschreibender Teil). Abb. 24: Plan von Ninive. Abbildung nach: A. Parrot, Archeologie mesopotamienne, Bd. I, Paris 1946, S. 314.
XXVI Abb. 25:
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Abb. 38: Abb. 39:
Verzeichnis der Abbildungen Babylon. Südburg des spätbabylonischen Stadtschlosses mit den sogenannten Hängenden Gärten, Ischtar-Tor und Ninmach-Tempel. Abbildung nach: E. Unger, Babylon, in: Reallexikon der Assyriologie, 1932; hiernach: E. Strommenger, Fünf Jahrtausende, S. 122 (beschreibender Teil). Babylon. Hauptheiligtum des Marduk mit Tieftempel und Zikkurrat in spätbabylonischer Zeit. Rekonstruktion in Ansicht aus der Vogelschau. Abbildung nach: E. Strommenger, Fünf Jahrtausende, S. 123 (beschreibender Teil). Pompeji. Abbildung nach: A. von Gerkan, Von antiker Architektur und Topographie. Stuttgart 1959, Abb. 1 zu S. 143ff. Olynth. Abbildung nach: D.M. Robinson, Excavations at Olynthus XII. Domestic and Public Architecture. Baltimore 1946, Taf. 272. Paestum. Abbildung nach: F. Castagnoli, Ippodamo di Mileto e l'urbanistica a pianta ortogonale. Rom 1956, Abb. 16. Selinus. Abbildung nach: J.B. Ward-Perkins, Cities of Ancient Greece and Italy: Planning in Classical antiquity. New York 1974, Abb. 31. Athen. Akropolis und Agora. Abbildung nach: H.A. Thompson und R.E. Wycherley, The Athenian Agora XIV. Princeton 1972, The Agora of Athen, Taf. 2. Priene. Abbildung nach: Α. von Gerkan, Griechische Städteanlagen. Berlin/Leipzig 1924, Abb. 9. Priene. Abbildung nach: Th. Wiegand, Priene, in: Ilbergs neue Jahrbücher 13, 1910,1, Tafel zu S. 545. Timgad. Abbildung nach: C. Courtois, Timgad, Antique Thamugadi. Algier 1951, Falt-Tafel. Übersichtskarte der besprochenen Handelsplätze. Entwurf vom Verfasser. Lage von Haithabu. Umgezeichnet nach H . Jankuhn, Haithabu. Ein Handelsplatz der Wikingerzeit, 1976«, Abb. 15. Lage des „Handwerkerviertels" in Haithabu. In Anlehnung an H . Jankuhn, Haithabu. Ein Handelsplatz der Wikingerzeit, 1976«, Abb. 20. Lage von Aarhus. Vereinfachte Darstellung nach einer geographischen Karte. Lage von Kaupang. Vereinfacht umgezeichnet nach Ch. Blindheim, Kaupangundersekelsen avsluttet. Viking 1969, Abb. 2.
Verzeichnis der Abbildungen Abb. 40: Abb. 41: Abb. 42:
Abb. 43: Abb. 44: Abb. 45:
Abb. 46: Abb. 47: Abb. 48: Abb. 49:
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XXVII
Lage von Birka. Vereinfachte Darstellung nach einer geographischen Karte. Lage von Västergarn-Paviken. Vereinfachte Darstellung nach einer geographischen Karte. Aversa. Baublockplan der Stadt. Abbildung nach: L'urbanistica. Revista dell' Instituto nationale di urbanistica. H e f t 2, Torino 1943. Leon. Baublockplan der Stadt. Plan nach: O.Jürgens, Spanische Städte. Atlas, Hamburg 1926, Plan 22. Caen. Vogelschau der Stadt um 1657. Plan nach: Merian, Topographia Galliae. France III. Bärenreiter Verlag. Naumburg. Umlandkarte der Stadt. Plan nach: Atlas des Saale- und mittleren Elbegebietes. 2., neu bearbeitete Auflage des mitteldeutschen Heimatatlas. Hg. von O. Schlüter und O. August, 2. Teil, Leipzig 1960, Karte 37 IV. Goslar. Wachstumsphasenkarte. Entwurf: H . Stoob. Zeichnung: D. Overhageböck. Die Städtebildung in Mitteleuropa bis 1250. Maßstab 1 : 8 Mill. Entwurf: H. Stoob. Zeichnung: D. Overhageböck. Verbreitungskarte der Groß- und Mittelstädte 1450-1500. Entwurf: H . Stoob. Zeichnung: U. Dey. Hildesheim. Umlandkarte der Stadt. Plan nach: Niedersächsischer Städteatlas, 2. Abteilung, Einzelne Städte. Hg. von P.J. Meier, 2. Auflage, Braunschweig/Hamburg 1933, Tafel 1. Nürnberg 1493. Holzschnitt von Hans Wolgemut. Abbildung nach: Schedeische Weltchronik, 1493, Blatt C. Reprint München 1965. Nürnberg. Plan von 1878. Maßstab 1 : 5.000. Plan der K.bayr. Stadt Nürnberg nach dem Stande vom 1. Januar 1878, von G. Schwarz, gedruckt bei Rupert Kraulser, Nürnberg. Stralsund. Vogelschau der Stadt 1652. Plan nach: Merian, Topographia Germaniae. Brandenburg/Pommern 1652. Neue Ausgabe Kassel/Basel 1965, S. 110. Stralsund, Rekonstruierte Vogelschau von K. Gruber. Abbildung nach: K. Gruber, Die Gestalt der deutschen Stadt, Ihr Wandel aus der geistigen Ordnung der Zeiten. 2., bearbeitete Aufl. München 1967, Abbildung 60. Hameln. Umlandkarte der Stadt. Plan nach: Niedersächsischer Städteatlas, 2. Abteilung, Einzelne Städte. Hg. von P.J. Meier, 2. Aufl. Braunschweig/Hannover 1933, Tafel II. Mergentheim. Katasterkarte der Stadt von 1833. Plan nach: H . Stoob, Deutscher Städteatlas, 1. Lieferung. Dortmund 1973, Blatt 1. Lindau. Vogelschau der Stadt von 1626. Ausschnitt aus der Originalkupferplatte der Lindauer Landtafel von J.H. Rauch; verkleinert in Kupfer gebracht durch Johann Morell 1643. Das
XXVIII
Abb. 57:
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Verzeichnis der Abbildungen Original befindet sich im Besitz des Landesvermessungsamtes Baden-Württemberg, Stuttgart. Buxtehude. Katasterkarte der Stadt von 1874. Plan nach: H . ' S t o o b , Deutscher Städteatlas, 1. Lieferung. Dortmund 1973, Blatt 2. Landschaft an der Jagst bei Krautheim 1594. Ausschnitt. Original: Badisches Generallandesarchiv Karlsruhe. Sign.: H / e , Nr. 9. Mewe. Schloß und Stadt nach einem Plan des 17. Jhs. Abbildung nach: Athenaion-Bilderatlas zur Dt. Geschichte. Hg. von H . Jankuhn u.a., Frankfurt 1968, S. 654. Blankenrode, Plan der Stadtwüstung. 1 : 5.000. Abbildung nach: H . Stoob, Westfälischer Städteatlas, 2. Lieferung. Dortmund 1981, Blatt 7. Venedig. Mittelteil des Holzschnittes von E. Reeuwich, 1486. Ausschnitt. Abbildung nach: B. von Breydenbach, Die Reise nach Jerusalem. 1942. Hamburg. Vogelschau der Stadt von 1574. Abbildung nach: Braun/Hogenberg, Civitates orbis terrarum, 1572-1618. Band IV, Blatt 36. Kassel/Basel 1955. Hamburg. Stadtrechtskodex von 1497, Miniatur: Hochgericht. Abbildung nach: J. Bollandt (Hg.), Die Bilderhandschrift des Hamburger Stadtrechts von 1497. Hamburg 1968, Tafel 17: Van pynliken saken dat hogeste belangende. Hamburg. Stadtrechtskodex von 1497, Miniatur: Ratssitzung. Abbildung nach: J. Bollandt (Hg.), Die Bilderhandschrift des Hamburger Stadtrechts von 1497. Hamburg 1968, Tafel 3: Van ordineringe der hogesten ouericheit der Stadt Hamborch. La Valetta. Vogelschau der Stadt um 1631. Abbildung nach: Q. Hughes, Malta. Deutsch: München 1972, Abbildung 17. (Original: Herzog-August-Bibliothek Wolfenbüttel). Mombasa. Festungsplan von 1610. Plan nach: Ch.R. Boxer und Ch. des Azevedo, A Fortaleza de Jesus e los Portugueses en Mombaca. Lissabon 1960, Abbildung vor S. 80. Charleville (NO)-Mezieres (S). Ausschnitt aus dem Luftbild 1975. Im Besitz des I G N Paris. Amsterdam. Grundrißbild um 1544. Stich nach: J. von Deventer 1544. Nederlandsche Steden in der 16e eeuw. s'Gravenhage 1916. Amsterdam. Baublockplan um 1659. Plan nach: Merian, Topographia Germaniae, Burgund-Niederlande 1659. Kassel/Basel, Neuausgabe 1964, nach S. 122. Stockholm. Generalplan um 1645. Original: Königliche Bibliothek Kopenhagen. Reproduktion nach: G. Eimer, Die Stadtplanung im schwedischen Ostseereich 1600-1715. Stockholm 1961, S. 260.
Verzeichnis der Abbildungen Abb. 71:
Abb. 72:
XXIX
Petersburg. Ausschnitt aus dem Stadtplan von Homan, 1718. Plan nach: A.W. Bunin, Geschichte des russischen Städtebaues bis zum 19. Jh. Berlin-Ost 1961, Abbildung 135. Karlstadt 1717. Original im Kriegsarchiv Wien. Signatur: Inland C VII, Env. C., Karlstadt Nr. 8.
Abb. 73: Abb. 74:
Abb. 75: Abb. 76:
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Neubreisach. Von Vauban veranlaßtes Modell von 1706. Original: Mus6e des Plan-Reliefs, Hdtel des Invalides, Paris. Annaberg. Vogelschau der Stadt um 1600. Abbildung nach: Sächsische Bau- und Kunstdenkmäler. Hg. vom Landesverein Sächsischer Heimatschutz, Dresden. Dresden 1933, Abb. 2. Lissa. Ausschnitt aus der topographischen Karte von 1891. Hg. von der Preußischen Landesaufnahme, Reichsamt für Landesaufnahme. Hanau. Vogelschau der Stadt um 1636. Plan nach: Merian, Topographia Hassiae et regionum vicinarum, 1636. Neue Ausgabe Kassel/Basel 1959, Plan nach S. 82. Berlin. Baublockplan der Stadt von 1812. Abbildung nach: Freiherr vom Stein, Briefe und amtliche Schriften. Band 8 , hg. von W. Hubatsch, Stuttgart/Berlin 1970, Karte 10. Verbreitungskarte der Städtebildung von 1800—1945. Entwurf: H . Stoob. Zeichnung: U. Dey. Plan der Stadt Gütersloh von 1822. Nach: H . Jäger (Hg.), Probleme des Städtewesens im industriellen Zeitalter, Münster 1978, S. 339. Gütersloh. Ausschnitt aus der T K 1 : 25.000, 2218 Gütersloh (1897). Vervielfältigt mit Erlaubnis des Landesvermessungsamtes Nordrhein-Westfalen vom 11.1.1982, 11/82. Räumliches Wachstum von Gütersloh. Nach: I. Heiland, Gütersloh, Karte: Räumliches Wachstum von Gütersloh, in: WestfF 16 (1969), S. 189. Gütersloh um 1960. Ausschnitt aus der T K 1 : 50.000, L 4116 Gütersloh 1962. Vervielfältigt mit Genehmigung des Landesvermessungsamtes Nordrhein-Westfalen vom 9.1.1982, 10/82. Carlstadt (Bremerhaven). Kartengrundlage: Kurhannoversche Landesaufnahme 1 : 25.000, Blatt 10 (1796). Hg. v. Nieders. Landesverwaltungsamt - Landesvermessung - und von der Historischen Kommission für Niedersachsen, Hannover. Vervielfältigt mit Erlaubnis des Nieders. Landesverwaltungsamtes-Landesvermessung-B 5 37/82. Plan der Stadt Bremerhaven 1882. Nach: H . Jäger (Hg.), Probleme des Städtewesens im industriellen Zeitalter, Münster 1978, S. 340.
XXX Abb. 85:
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Verzeichnis der Abbildungen Wesermünde-Bremerhaven 1927. Nach: B. Scheper, Die jüngere Geschichte der Stadt Bremerhaven, Bremerhaven 1977, S. 158. Bremerhaven. Kartengrundlage: T K 1 : 50.000, L 2516 Bremerhaven (1979). Vervielfältigt mit Erlaubnis des Herausgebers: Nieders. Landesverwaltungsamt-Landesvermessung- B 5 -647/81. Bad Tölz. Kataster von 1858. Beschriftung ergänzt von H . Stoob. Zeichnung: U. Dey. Bad Tölz. Kartengrundlage T K 1 : 25.000, Blatt Nr. 8235, Wiedergabe mit Genehmigung des Bayer. Landesvermessungsamtes München, Nr. 13068/81. Verstädterung der Emscherzone nördl. Gelsenkirchen um 1890. Plan nach: Topogr. Karte 1:25000, 1890. Die Verteilung der Städte im Deutschen Reich 1871. Plan nach: R. Andree, O. Peschel, Physikalisch-Statistischer Atlas des Deutschen Reichs, Bielefeld u. Leipzig 1878, 2. H., Kt. 16 b. Entwurf: J.I. Kettler. Westfalen: Entwicklung der zentralen Orte 1800-1850. Plan nach: H . H . Blotevogel, Zentrale Orte und Raumbeziehungen in Westfalen vor der Industrialisierung (1780-1850), ( = Veröff. Prov. Inst. f. Westf. Landes- u. Volksforsch. 1,19.) Münster 1975, Kt. 62. Entwurf: H . H . Blotevogel. Höhere Zentren im Deutschen Reich 1895: Zentralität insgesamt. Plan nach: H . H . Blotevogel, Untersuchungen zur Entwicklung des deutschen Städtesystems im Industriezeitalter, Geowiss. Habil. Sehr., Ruhr-Univ. Bochum 1980, Abb. 24. Entwurf: H . H . Blotevogel. Stadtplan Dresden 1833. Plan nach: Atlas of the Society for the Diffusion of Useful Knowledge. London 1840ff. Stadtplan München 1832. Plan nach: Atlas of the Society for the Diffusion of Useful Knowledge. London 1840ff. Stadtplan Frankfurt am Main und Sachsenhausen 1837. Plan nach: Publ. Black and Armstrong, London 1837. Weinbrenners Stadterweiterungsplan für Karlsruhe von 1814. Plan nach: Η . Kneile, Stadterweiterungen und Stadtplanung im 19. Jahrhundert, Freiburg i.Br. 1978, Abb. 1. Typen der Baulanderschließung für Wohnzwecke in Großstädten. Plan nach: E. Kabel, Baufreiheit und Raumordnung. Ravensburg 1959, S. 145. Bauzonenplan der Stadt Frankfurt am Main 1891. Plan nach: E. Kabel, Baufreiheit und Raumordnung. Ravensburg 1959, S. 147. Auflassung und Umgestaltung des Wallgürtels in Hamburg. Plan nach: E. Kabel, Baufreiheit und Raumordnung. Ravensburg 1959, S. 44.
Verzeichnis der Abbildungen Abb. 100:
XXXI
Berliner Stadt- und Ringbahn um 1900. Abb. nach: Brockhaus Konversationslexikon, 14. Aufl., Leipzig u.a. 1898. Abb. 101: Das Verhältnis von Wohnungen zu Grundstücken in Großstädten 1905. Abb. nach: O. Blum, G. Schimpff, W. Schmidt, Städtebau, Berlin 1921, S. 113. Abb. 102: Typen großstädtischer Arbeiterwohnbauten. Abb. nach: Brockhaus Konversationslexikon, 14. Aufl., Leipzig u.a. 1898. Abb. 103: Stadtregionen und Verdichtungsräume in der Bundesrepublik Deutschland. Abbildung nach: O. Boustedt/G. Müller/K. Schwarz, Zum Problem der Abgrenzung von Verdichtungsräumen, in: MittlnstRaumordnung 61, 1968; mit eig. Ergänzungen. Abb. 104: Das Wachstum der Stadt Münster. Abbildung nach: H.Hambloch, Allgemeine Anthropogeographie. Wiesbaden 1972, Abb. 14. Abb. 105: Vergleich der Stadtgebiete von Los Angeles und München. Abbildung nach: O. Boustedt, Agglomeration, in: Handwörterbuch der Raumforschung und Raumordnung. Hannover 1970. Abb. 106: Die Entwicklung der Wirtschaftssektoren am Beispiel Belgiens. Entwurf: H . Hambloch. Zeichnung: D. Overhageböck. Abb. 107: Die Daseinsgrundfunktionen. Abbildung nach: D. Partzsch, Daseinsgrundfunktionen, in: Handwörterbuch der Raumforschung und Raumordnung, Hannover 1970. Abb. 108: Das vierstufige geometrische Modell der zentralen Orte. Abbildung nach: H. Hambloch, Allgemeine Anthropogeographie. Wiesbaden 1972, Abb. I I a . Abb. 109: Zentrale Orte und ihre Bereiche in Nordwestdeutschland. Abbildung nach: G. Kluczka, Zentrale Orte und zentralörtliche Bereiche mittlerer und höherer Stufe in der Bundesrepublik Deutschland. Bonn 1970; Ders., Nordrhein-Westfalen in seiner Gliederung nach zentralörtlichen Bereichen, in: Landesentwicklung 27, 1970, verändert. Abb. 110: Zentrale Orte im Gravitationsmodell. Abbildung nach: Kl.D. Delschen/H. Hambloch/W. Lüke, Dienstleistungszentren und ihre Bereiche in den Niederlanden, in: Geografisch Tijdschrift 6, 1972. Abb. 111: Zentrale Orte und ihre Bereiche in den Niederlanden nach dem Gravitationsmodell. Abbildung nach: Kl.D. Delschen/H. Hambloch/W. Lüke, Dienstleistungszentren und ihre Bereiche in den Niederlanden, in: Geografisch Tijdschrift 6, 1972. Abb. 112: Funktionale Differenzierung in der Stadtregion: a) Fallstudie Kleve b) abgeleitetes Modell. Abbildung nach: R. Vogelsang, Stadtlandschaft und verstädterte Zone, Diss. Münster 1972; verändert.
XXXII
Verzeichnis der Abbildungen
Abb. 113:
Funktionale Differenzierung, Bodenwerte und Wohndichte für einen Profilstreifen in Münster. Abbildung nach: H . Hambloch, Allgemeine Anthropogeographie. Wiesbaden 1972, Abb. 9. Abb. 114: Beispiel Verdichtungsraum Ruhr: a) zentrale Orte b) Siedlungsschwerpunkte. Abbildung nach: Kluczka, Nordrhein-Westfalen in seiner Gliederung nach zentralörtlichen Bereichen, in: Landesentwicklung 27, 1970; Siedlungsverband Ruhrkohlenbezirk (Hg.), Siedlungsschwerpunkte im Ruhrgebiet, in: Schriftenreihe SVR 28,1969, verändert. Umschlagbild: Das Himmlische Jerusalem. Aus: Liber Floridus, Saint Omer, um 1220. Gent, Centrale Bibliothek van de Rijksuniversität, Cod. 92, fol. 65 r.
Abkürzungsverzeichnis
Abh Akad AnnArchaeolAnthrop BerDtLdKde Coli intern Corpus Inscr Lat III ForschFortschr FS GeogrAnz GreifswStralsJb HdbEuropGesch HdbKunstwiss HdwörtbSozwiss HansGbll HistAtlasNs HistRaumforsch HZ InscrGraecBulgariae rep III IsraelExplorJourn JbRegionalforsch JbFränkLForsch JournRoyalAnthropInst KommGeschLkdeBadenWürtt MittlnstRaumordnung Ndsjb NF NümbForsch PalaestExplorJourn PalaestExplorQuart ProcBritAcad
Abhandlung Akademie Annals Archaeological and Anthropological Berichte zur Deutschen Landeskunde Colloquium internationale Corpus Inscriptiones Latinae Forschungen und Fortschritte Festschrift Geographischer Anzeiger Greifswald-Stralsunder Jahrbuch Handbuch der Europäischen Geschichte Handbuch der Kunstwissenschaft Handwörterbuch der Sozialwissenschaften Hansische Geschichtsblätter Historischer Atlas von Niedersachsen Historische Raumforschung Historische Zeitschrift Inscriptiones Graeciae Bulgariae reproductiones Israel Exploration Journal Jahrbuch für Regionalforschung Jahrbuch für Fränkische Landesforschung Journal of the Royal Anthropological Institute Kommission für Geschichte und Landeskunde von Baden-Württemberg Mitteilungen aus dem Institut für Raumordnung Niedersächsisches Jahrbuch Neue Folge Nürnberger Forschungen Palaestinansian Exploration Journal Palaestinansian Exploration Quarterly Proceedings of the British Academy
XXXIV
Abkürzungsverzeichnis
PetermannsMitt
Petermanns Mitteilungen
PropylWG
Propyläen Weltgeschichte
RhVjbll
Rheinische Vierteljahrsblätter
Schriftenreihe SVR
Schriftenreihe des Siedlungsverbandes Ruhrkohlenbezirk
SbbOesterrAkad
Sitzungsberichte
der österreichischen
Akademie
der
Wissenschaften, phil.hist. Klasse StudGen
Studium Generale
übs
übersetzt
UVB
16. vorläufiger Bericht über die vom deutschen archäologischen Institut und der deutschen Orientgesellschaft aus Mitteln der Deutschen Forschungsgemeinschaft unter-
VerhhDtGeographentag
nommenen Ausgrabungen in Uruk/Warka Verhandlungen des deutschen Geographentages
Veröff
Veröffentlichung
ZBayLG
Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte
ZfO
Zeitschrift für Ostforschung
ZRGG
Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte,
ZWürttLG
Zeitschrift für Württembergische Landesgeschichte
Zs
Zeitschrift
Germanistische Abteilung
Älteste stadtartige Anlagen KARLJ. NARR
Für „die Stadt" gilt das gleiche wie für zahlreiche andere Erscheinungen: Versucht man den Anfängen und Frühformen einer Sache nachzuspüren, zeigt sich zumeist sogleich, daß geläufige und geradezu selbstverständliche Vorstellungen, begriffliche Inhalte und Abgrenzungen unscharf werden, sich aufzulösen beginnen und oftmals sogar aufgegeben werden müssen. Nach ältesten stadtartigen Anlagen suchte man lange Zeit nur in jenen fruchtbaren Überschwemmungsländern, in denen sich auch die Anfänge der Hochkulturen abzuzeichnen schienen und mit der Erfindung oder Einführung der Schrift „die Geschichte begann". Die gleichen Räume galten vielfach als die Wiege von Bodenbau und Viehzucht, d.h. als Orte jenes wichtigen wirtschaftlichen Umbruchs, der die Schaffung einer breiteren Ernährungsbasis und damit eine Bevölkerungsvermehrung ermöglicht hatte. Diese Entfaltung führte — je nach den besonderen Bedingungen und Entwicklungen — zur Inbesitznahme weiterer Gebiete oder zu einer stärkeren Konzentration an einzelnen Punkten. Es scheint daher angebracht, sich zunächst in einem Exkurs den wirtschaftlichen Grundlagen, d.h. den Anfängen von Bodenbau und Viehzucht zuzuwenden — hier allerdings in Beschränkung auf Klein- und Vorderasien — und dabei von alten und nahezu liebgewonnenen Gedanken Abschied zu nehmen. Die ältesten Zeugnisse finden sich nicht in den fruchtbaren Uberschwemmungsländern, sondern in der randlichen Zone um den „Fruchtbaren Halbmond". Dort gibt es zwar keine reichlichen Niederschläge, aber auf den Randbergen und Stufenplateaus immerhin genug Regen für einen einfachen Ackerbau. Ob wir wirklich schon in der Lage sind, die Anfänge zu erfassen, erscheint zweifelhaft; doch ist
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Karl J.
Nan
das eine Frage, die uns hier weniger zu interessieren braucht. Sie möge lediglich davor warnen, nunmehr in einer Art neuen Dogmas die Entstehung und Frühform des Bodenbaus einzig dieser Regenfeldbauzone zuzuschreiben: Auch hier muß mit Ausnahmen gerechnet werden. Das Klima der frühesten Perioden, mit denen wir es zu tun haben werden, hat sich offenbar nicht sonderlich vom heutigen unterschieden; aber wir können dennoch nicht einfach vom jetzigen Bild dieser Landschaften ausgehen: Frühe Funde aus den Randgebieten um den „Fruchtbaren Halbmond" und in Kleinasien zeigen uns vielmehr, daß dort im 8. und 7. Jahrhundert v. Chr. Tamarisken, Prosopis, Pistazien, Wacholder, Zürgelbaum (Celtis australis), Mandel, Feige, Walnuß und Eiche wuchsen. Erst in beträchtlich späterer, wenn auch nicht genauer festzulegender Zeit, dürften die Eingriffe des Menschen — die Rodung für den Ackerbau, der Einschlag von Holz für Bau- und Brennmaterial, der Verbiß durch Tierweide, vor allen Dingen durch Ziegen — den Baum- und Strauchbewuchs allmählich zerstört, den Grundwasserspiegel gesenkt und den vielleicht ohnedies bereits überkultivierten und teilweise wohl auch versalzenen Boden der Erosion ausgesetzt haben.
1. Jericho: Älteste Stadt der Welt? Wenn eben davor gewarnt wurde, den Blick nunmehr allzu starr auf den Regenfeldbau in den Randbergen und Stufenplateaus um den „Fruchtbaren Halbmond" zu richten, so vor allen Dingen wegen der Ausgrabungen in Jericho. Als vor mehr als einem halben Jahrhundert dort erstmals der Spaten angesetzt wurde, erhoffte man sich davon archäologische Aufschlüsse über die alttestamentliche Geschichte, erlebte in dieser Hinsicht jedoch eine Enttäuschung: Zwar wurden gewaltige Mauern entdeckt, aber nicht die biblischen; man fand keinerlei Schichten, die man etwa der Zeit des Exodus und Josuas hätte zuschreiben können. Dafür boten aber die tieferen Lagen des Ruinenhügels, die insbesondere in den dreißiger und fünfziger Jahren von englischen Archäologen aufgedeckt wurden, reichliche Entschädigung. Sie führten nicht nur vor die Kenntnis irgendwelcher Metalle zurück, sondern sogar vor die Töpferei und in eine Zeit, in der man seinerzeit
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noch nach den Anfängen von Bodenbau und Viehzucht suchte, und darin auf eine Großsiedlung stieß, die auf den ersten Blick die Bezeichnung als "Stadt" geradezu aufdrängt. 1.1 Befund Zwar liegt das alte Jericho ebenfalls innerhalb der randlichen Zone um den „Fruchtbaren Halbmond", aber nicht im Bereich der noch verhältnismäßig hohen Niederschlagsmengen, die einen Regenfeldbau ermöglichen, sondern in einem halb-trockenen Klimagebiet, das für einen Bodenbau von einiger Bedeutung künstlicher Bewässerung bedarf, mag er in geringem Umfang und in etwas niederschlagsreicheren Zeiten auch ohne dies erreichbar gewesen sein. (Im übrigen befindet sich diese Ruinenstätte dicht nördlich des Toten Meeres tief im Jordangebiet und ist mit etwa 250 m unter N N zugleich die am tiefsten gelegene bisher bekannte prähistorische Siedlung überhaupt.) Indes wurde Bewässerung hier nicht durch die Bewältigung überschüssiger Wassermengen in der Flutzeit von Flüssen möglich, sondern durch eine Quelle, die offenbar vor zehntausend Jahren ebenso reich flöß wie heute. Der Ruinenhügel des alten Jericho, der Tell-es-Sultan, ist keine natürliche Erhebung, sondern ganz aus Siedlungsresten angehäuft. Heute ist er zwar noch bis zu 15 m hoch, aber stark zerstört durch Witterungseinflüsse und den Bau einer Straße sowie schließlich auch durch die Ausgrabungen. Die Straße trennt jetzt den Hügel von der östlich davon gelegenen Quelloase mit einem Wasserreservoir, das innerhalb des alten Siedlungsbereiches liegt. Schon die älteste Maueranlage umschloß offenbar den größten Teil des Teils, d.h. etwa eineinhalb Hektar Fläche. Es ist durchaus möglich, daß zunächst ein unkontrolliertes Fließen des Quellwassers ein für Pflanzenanbau geeignetes Areal von feuchtem Boden geschaffen hatte. Nach der Einbeziehung der Quelle in die Ummauerung ist das aber nicht mehr vorstellbar, sondern es darf mit einer künstlichen und gelenkten Bewässerung des umliegenden Gebietes gerechnet werden. Die Schichten der „präkeramischen" Großsiedlung erlauben nach Architektur und Inventar eine Scheidung in zwei Schichtpakete Α und B, die durch eine Zäsur deutlich voneinander getrennt und von denen
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selbst das obere zum größten Teil noch ganz erheblich vor 6000 v. Chr. anzusetzen sein dürfte, das untere mit seinem Beginn wenige Jahrhunderte vor oder nach 8000 v. Chr. (Genauer sind die Daten leider noch nicht zu fixieren.) Die aufeinanderfolgenden Siedlungen der unteren Lagen bestehen aus Rundhäusern von geringem Durchmesser. Nach der sechsten Bauperiode wurde die ganze Siedlung durch eine Mauer aus Steinen befestigt, die bis zu 1,75 m stark war und heute noch bis zu 3,50 m Höhe erhalten ist. Vor der Mauer, von dieser durch eine kurze Berme getrennt, war ein Graben von über 8 m Breite und mehr als 2 m Tiefe in den Felsboden eingetieft. An einer Stelle hinter der Mauer befindet sich ein kegelstumpfförmiges Bauwerk von 9 m Durchmesser und jetzt noch mehr als 8 m Höhe. Obwohl es durchweg als „Turm" bezeichnet wird, bleibt seine Funktion rätselhaft. Seine Lage innerhalb der Mauer, diese am Fuß berührend und sich mit der Verjüngung nach oben hin davon entfernend, spricht nicht für einen Befestigungsteil. In einer zweiten Bauphase wurde die Anlage ummantelt und dadurch stärker mit der Mauer verbunden sowie im Inneren bis auf einen schmalen Gang und ein Treppenhaus aus großen Steinplatten mit Geröll und Lehm ausgefüllt. Nördlich und östlich des Turms liegen einige Kammern, deren größere östlich mit einem Gang und Treppenhaus innerhalb des „Turms" verbunden ist, während von einer nördlichen ein Kanal in einiger Höhe durch die Mauer ins Freie geht. Der sorgfältige innere "Verputz und ein schichtiges Sediment haben an Speicherungsbecken für Wasser denken lassen, die aber nach dem Niveauverhältnis kaum unmittelbar mit der Quelle zu tun oder dem Bewässerungswesen gedient haben dürften. Die Wohnbauten des präkeramischen Jericho Α weisen ziemlich geringe Ausmaße auf und einen runden oder kurvolinearen Grundriß, sind aus ovalen plankonvexen Ziegeln von „Schweinerücken-Form" errichtet, etwas in den Grund eingetieft und über Stufen zu erreichen. Das Inventar besteht vornehmlich aus kleinen Geräten aus Silex, dazu Poliersteinen und steinernen Stößeln nebst zugehörigen Mörsern und weiteren Steingefäßen, vor allem Schalen, die zumeist ziemlich roh ausgeführt, teilweise aber auch fein poliert und mit Randkerbungen versehen sind. Einige Räume heben sich dadurch hervor, daß unter ihren Fußböden menschliche Schädel, meist ohne Unterkiefer, in
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Gruppen beieinander niedergelegt sind, und ebenso finden sich im Wohnbereich Beisetzungen in Hockerlage in etwa 1 m tiefen Gruben. Bei einem Teil dieser Toten fehlt der Schädel, doch ist — entsprechend den erwähnten Schädelsetzungen — der Unterkiefer vorhanden. Alles spricht dafür, daß die Bestattungen großenteils sekundärer Art sind, zumal die Schädelbeisetzungen im Zusammenhang mit Neubauten und Planierungen öfters versetzt und jeweils von Estrichen überdeckt wurden. Leider ist nur ein recht geringer Teil des imposanten Schutthügels untersucht, so daß über einen allgemeinen Anlageplan nichts auszusagen ist und auch Schätzungen der Bevölkerungsmenge recht unverbindlich bleiben müssen. Gehen wir von dem Umfang von rund eineinhalb Hektar und der Annahme einer ziemlich dichten Bebauung aus, ist eine Schätzung auf mindestens tausend Einwohner, eher aber noch mehr, vielleicht zweitausend, nicht zu hoch gegriffen. Selbst wenn die Niederschlagsrate etwas höher gewesen sein sollte als heute, ist es doch so gut wie unmöglich, daß eine solche Großsiedlung nahezu einzig auf der Grundlage einer Jagd- und Sammelwirtschaft hätte bestehen können. Zwar sind die Nachweise von Kulturpflanzen — Zweizeilgerste und Weizenart (Emmer) — sowie Feige an Zahl gering; aber das mag zum einen auf die Erhaltungsbedingungen zurückzuführen sein, zum anderen — und vielleicht vornehmlich — darauf, daß man sich bei der Ausgrabung für solche Fragen zunächst offenbar weniger interessiert hat. Möglicherweise war die Nahrung von größerer Vielfalt und umfaßte wie in den jüngeren präkeramischen Schichten außer der Zweizeilgerste und zwei Weizenarten (Emmer und Einkorn) auch Linse, Bohne und Erbse. Dabei ist nicht einmal gesagt, daß die Getreide die Hauptrolle gespielt hätten; vielmehr kann diese ebensogut den Leguminosen zugefallen sein. Der Anbau solcher Pflanzen, vielleicht zusammen mit Pflege oder Beernten von Bäumen wie Pistazie, Eiche, Walnuß und Feige ist in einer Quelloase nicht weniger gut, eher sogar besser möglich als die Getreidekultivierung. Wenn die letztere immer so viel Beachtung findet, ist das weithin unserem europäischen Blick zuzuschreiben, der oft genug am Modell unserer Landwirtschaft orientiert ist. Auch ein Teil der Wildtiere, zumal Rind und Schwein, deutet im übrigen darauf hin, daß in der Gegend von Jericho — ähnlich wie an anderen Stellen im Vorderen Orient — nicht lediglich eine
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offene, steppenartige Vegetation herrschte: Der Unterschied zum heutigen Bild dürfte — wie eingangs bereits allgemein gesagt — weniger klimatisch als anthropogen bedingt, d.h. Eingriffen des Menschen in jüngerer Zeit zu danken sein. Tierhaltung ist für das präkeramische Jericho Α nicht nachzuweisen, in den jüngeren präkeramischen Siedlungen hingegen sind Hunde und mit einiger Wahrscheinlichkeit auch Hausziegen vertreten, spielen jedoch im Fundbestand gegenüber den sicher wilden Tieren eine äußerst geringe Rolle. Nach einer vorläufigen groben Schätzung kommt auf etwa tausend Knochen nur einer von einer als domestiziert angesehenen Form. Das mit diesen Bemerkungen bereits berührte jüngere präkeramische Jericho (B) beginnt offenbar noch vor oder allenfalls um 7000 v. Chr., ist teilweise von ganz anderer Art, setzt aber auch Züge der älteren Siedlung fort. Dennoch hat es keine unmittelbare lokale Kontinuität gegeben; vielmehr lag der Ort eine zeitlang wüst: Die Traditionen müssen deshalb auf einen etwas größeren Raum bezogen werden. Auch die jüngere präkeramische Siedlung wurde schon früh wieder befestigt. Die Mauer war aus größeren Steinen, aber weniger sorgfältig gebaut als die der älteren. Die Häuser wurden aus einer anderen Art von Lehmziegeln, zum Teil auf Steinfundamenten errichtet. Ein hellfarbiger und teilweise gefärbter Stuck überzieht die Fußböden und geht mit gerundetem Übergang am unteren Teil der Wände hinauf, ist hart gebrannt und poliert. Die Häuser bestehen durchweg aus rechteckigen Räumen und Nebengelassen. Paare von Pfostenlöchern vor einigen solcher Räume dürften Spuren kleiner Vor-„Hallen" sein. (Im Prinzip ist damit bereits der „Megaron-Typus" verwirklicht.) Einige Häuser gingen offenbar auf Binnenhöfe; doch ist — wie schon erwähnt — noch nichts Genaueres über ein allgemeines Anlageschema zu ermitteln. Nur wenige Gebäude scheinen besonderen Zwecken gedient zu haben: In einer verhältnismäßig tiefen Schicht befand sich ein Bau mit rechteckigem Mittelraum und darin eine bassinartige Vertiefung mit Brandspuren und an einem Ende Anbauten mit kurvig gezogener Wand. In einer der oberen Schichten besaß ein Haus einen Nebenraum mit einer Nische in einer Wand und darin ein Postament, auf dem ursprünglich ein merkwürdiger, rechteckig zugehauener Stein aus vulkanischem Material gelegen hat. Dazu kommt ein größeres Bauwerk
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von rechteckiger Grundform mit antenartig vorgezogenen Seitenwänden und davor sechs Holzpfosten, hinter dem Eingang eine Art von Eingangshalle und im Innenraum zwei weitere Holzpfosten. Aus diesem Bau stammen Figürchen, die anscheinend Horntiere und möglicherweise auch Schweine darstellen. Vielleicht handelt es sich hier um einen eigenen Kultbau, während in dem zuvor genannten eher eine Art von kleinem Hausheiligtum zu sehen sein dürfte. Bestattet wurde ebenso wie in den älteren Schichten in Gruben unter dem Fußboden. Bei einem Teil der Toten ist vom Kopfskelett wieder nur der Unterkiefer vorhanden, und dem entsprechen Funde von teilweise in Gruppen deponierten Schädeln ohne Unterkiefer. Im Gegensatz zum präkeramischen Jericho Α sind aber jetzt bei einem Teil die Gesichtspartien mit einer gipsartigen Masse als vollständige Schädelplastiken einschließlich des als Knochen fehlenden Unterkiefers übermodelliert und anstelle der Augen mehrfach Muscheln eingesetzt. Die Deutung als Ahnenschädel in kultischer Verwendung hat sicherlich viel für sich. Erwähnt seien im übrigen noch drei nahezu lebensgroße maskenartige Gesichtsplastiken eines Mannes, einer Frau und eines Kindes. Am meisten erstaunt auch bei den jüngeren ebenso wie schon bei der älteren präkeramischen Schichtengruppe von Jericho das Mißverhältnis der Größe der Siedlung, der imponierenden Maueranlage und der verhältnismäßig guten Bautechnik im Gegensatz zu der Dürftigkeit des sonstigen Inventars. Neben Schalen und Kümpfen aus Stein, Mörsern und Stößeln gibt es Beile und verschiedene Werkzeuge aus Silex. Die Beschaffung von Rohstoffen aus anderen Gebieten bleibt in bescheidenem Rahmen: Obsidian kam wohl aus Transjordanien oder Armenien, Türkis von der Sinai-Halbinsel; Kaurimuscheln wurden vom Roten Meer, andere Muscheln vom Mittelmeer her beschafft. 1.2. Interpretation Betrachtet man das Gesamtbild der Anlage, drängt sich ohne weiteres der Begriff „Stadt" auf. (Die englischen Ausgräber sprechen von einer „town", nicht aber von einer „city", was wir im Deutschen ja beides unter dem Begriff „Stadt" zusammenfassen.) Was aber nun eigentlich als „Stadt" oder auch nur „stadtartig" bezeichnet werden darf oder soll,
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ist bekanntlich nicht leicht zu definieren. Zwar läßt sich sagen, was eine altorientalische Stadt ist oder die deutsche Stadt des Mittelalters; aber eine übereinstimmende und allgemein gültige Definition ist bisher nicht gefunden und wird wahrscheinlich auch nicht zu finden sein. (Auch systemtheoretische Ansätze dürften daran nichts ändern, obwohl eine Analyse der Elemente und ihrer Beziehungen zweifellos zumindest zu einer Schärfung der Fragestellung und zu Einsichten in die jeweiligen — ob aber auch in allgemeingültigen? — Wechselwirkungen beitragen können.) Bei wiederholten Versuchen, eine generelle Begriffsbestimmung der Stadt zu formulieren, sind verschiedene Merkmale herangezogen worden. Auch wenn wir uns hier nicht etwa in abstrahierenden Definitionsfragen verlieren wollen, scheint es doch nützlich, einige der verwendeten Charakteristiken zu nennen und diese gewissermaßen als Elle an das Material von Jericho anzulegen, um so den Charakter dieser Siedlung deutlicher herauszuarbeiten. Da sind vor allem zu nennen: 1. Die dichte Zusammensiedlung einer größeren Bevölkerungszahl als Grundvoraussetzung für die Anerkennung städtischen Charakters einer Siedlung: Das quantitative Element einer solchen Definition ist jedoch nicht exakt festzulegen, sondern bleibt mehr der gefühlsmäßigen Beurteilung überlassen. 2. Die Loslösung eines wesentlichen Teils der Bevölkerung von der Urproduktion, d.h. ihre Tätigkeit in Gewerbe und Handel, Verwaltung und Verteidigung usw.: Damit wird zwar das Kriterium weitgehend von der Größe auf die Struktur der Siedlung verlagert; aber es bleibt auch hier ein quantitatives Element insofern erhalten, als nicht genau festgelegt werden kann, was nun als „wesentlicher Teil einer Bevölkerung" anzusehen sein soll. 3. Arbeitsteilige Organisation des Gemeinwesens: Sie steht in engem Zusammenhang mit dem vorgenannten Punkt und ist eindeutig ausgebildet vor allem bei der gesellschaftlichen Form von Hochkulturen. 4. Ummauerung und sonstige Befestigungsanlagen: Sie können für sich natürlich noch nicht die Bezeichnung als Stadt rechtfertigen, sondern gelten z.B. auch für eine Burg; vielmehr haben sie nur Durchschlagskraft, wenn sie mit der genannten dichten Zusammensiedlung einer größeren Bevölkerungszahl verbunden sind und eventuell auch nur, wenn sie als äußeres Anzeichen einer arbeitsteiligen Organisation des
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Gemeinwesens gelten dürfen. 5. Die Siedlung als Mittelpunkt einer Landschaft im Sinne eines Zentrums, auf das diese Umgebung weitgehend hingeordnet ist, d.h. die Stadt als Sitz der Verwaltung, Mittelpunkt des Handels usw.: Dabei wird in der Regel eine solch größere Zusammensiedlung von Menschen für ihre Versorgung mit Nahrungsmitteln weitgehend auf ein bäuerliches Hinterland angewiesen sein, dessen Mittelpunkt sie bildet, kann jedoch auch als „Ackerbürgerstadt" einen beträchtlichen Teil der Urproduzenten in ihrem Bereich beherbergen, was jedoch wieder der Größe enge Grenzen setzt. Fragen wir uns nun, was im präkeramischen Jericho von diesen Kriterien nachzuweisen ist, ergibt sich folgendes: Zu 1: An der dichten Zusammensiedlung einer größeren Bevölkerungszahl ist nicht zu zweifeln: Jericho ist sogar nach Flächenausdehnung und Einwohnerzahl nicht wenigen Siedlungen späterer Zeit überlegen, bei denen die verfassungsgeschichtliche Begriffsbestimmung mit der Bezeichnung „Stadt" nicht zögert. Zu 2: Für eine Lösung von der Urproduktion gibt es in Jericho keine einigermaßen überzeugenden Hinweise: Die Bewohner sind offenbar mit allenfalls wenigen Ausnahmen selbst in der Produktion von Nahrungsmitteln in dieser Quell-Oasensiedlung tätig gewesen, zumindest gibt es keine Produkte des Gewerbes oder Gegenstände des Handels als Indizien für einen ins Gewicht fallenden Bevölkerungsteil, der aus diesem Grund von der Urproduktion freigestellt gewesen wäre. (Was an Rohstoffen aus anderen Gebieten beschafft sein muß, hält sich nach Umfang und Entfernung in bescheidenen Grenzen und übertrifft im Prinzip nicht einmal das, was wir aus der Alteren Steinzeit Europas kennen, und erinnert nochmals an den Gegensatz zwischen der Größe der Siedlung und der Mauern einerseits und der Dürftigkeit des Inventars andererseits.) Auch der Mauerbau muß nicht in Richtung auf eine Lösung von der Urproduktion gewertet werden: Gewiß haben die Verteidigungsanlagen einen großen Einsatz von Arbeitskräften verlangt; aber es bleibt zu bedenken, daß dies nicht während der ganzen Dauer der Existenz der Siedlung erforderlich war und es also keiner fortlaufenden und weitgehenden Freimachung von Arbeitskräften für diesen Zweck bedurfte, sondern eher einer verhältnismäßig kurzfristigen Anstrengung der Bevölkerung, wiewohl dies im Lauf des
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Bestehens der Siedlung, aber wohl in Abständen von Jahrhunderten, wiederholt notwendig wurde. Zu 3: Es fehlen überzeugende archäologische Indizien für eine geschichtete Gesellschaft: Ein einzelnes Grab, das im Gegensatz zu anderen von einer Ziegelmauer umgeben ist, spricht nicht deutlich genug. Abgesetzt von der übrigen Bevölkerung ist ein Teil zwar durch die Deformation des Schädels, was in späterer Zeit öfters auf vornehme Familien begrenzt bleibt; aber welche Aussagekraft diese Analogie aus Kulturen anderen Grundcharakters besitzt, muß ganz dahingestellt bleiben. Ebenso läßt die Organisationsleistung des Mauerbaus nicht zwingend auf eine soziale Struktur mit tiefergreifender Rangstaffelung schließen, obwohl er so wohl am leichtesten zu verstehen wäre. Zu 4: Imponierend sind zweifellos die gewaltigen Mauern, der in den Felsboden hineingearbeitete Graben und der sogenannte „Turm", wobei nicht auszuschließen ist, daß sich in dem nicht ausgegrabenen Teil der Siedlung noch weitere solche oder ähnliche Bauwerke befinden: Gewiß erfassen wir einen organisierten Verteidigungswillen, doch müssen die sozialen Voraussetzungen dieser Gemeinschaftsleistung offen bleiben. — Bei all dem ist jedoch zu bedenken, daß wir hier e silentio operieren, denn eine geschichtete Gesellschaft kann sich zwar in Unterschieden der Baulichkeiten oder Grabausstattungen spiegeln, muß es aber nicht; sie mag ebensowohl vorhanden gewesen sein, ohne daß sie uns archäologisch greifbar wird. Indes, das völlige Fehlen irgendwelcher Indizien wäre bei einer so entfalteten Siedlungsform doch eine merkwürdige Ausnahme. Zu 5: Die Siedlung von Jericho war zweifellos ein markanter Punkt einer Bevölkerungskonzentration im Jordangraben nördlich des Toten Meeres und lag zudem noch in der Nähe eines wichtigen Ubergangs über das Jordantal: Dennoch gibt es keine Anzeichen dafür, daß diese Landschaft auf einen solchen Mittelpunkt bezogen gewesen wäre, und es ist zumindest ganz und gar unwahrscheinlich, daß die im weiteren Umkreis lebende Bevölkerung in der Lage gewesen wäre, Wesentliches zur Versorgung Jerichos beizutragen. Will man Jericho als Stadt bezeichnen, so ist das nur möglich bei einem Stadtbegriff, der sich begnügt mit den Kriterien einer dichten Zusammensiedlung einer größeren Bevölkerungszahl und einem Maß an Organisation, das unter anderem zur Errichtung imponierender Be-
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festigungen fähig war. (In Verallgemeinerung gilt das letztere also nur potentiell: d.h. die nötige Organisationsmächtigkeit muß — wenn die Bedingungen entsprechend waren — nicht eine solche Realisierung gefunden haben, und auch für das notwendige Maß an Arbeitsteilung ist nicht eine grundsätzliche Lösung von der Urproduktion zu verlangen, sondern die Bevölkerung kann auch — in entfernter Analogie zur „Ackerbürgerstadt" — in der Hauptsache in der Urproduktion tätig gewesen sein.)
2. Jericho: Versuch einer historischen Ortsbestimmung Indes — wie schon gesagt — wichtiger als eine verbale Begriffsbestimmung ist die Sache selbst, und zu deren Klärung können vielleicht einige weitere Fragen beitragen: 1. Was ging vorauf und kann als Grundlage von Jericho gelten? 2. Wie entstand daraus die Großsiedlung? 3. Wie ist die gleichzeitige kulturelle Umwelt Jerichos beschaffen, und was läßt sich daraus für seinen allgemeinen Charakter erschließen? 4. Welches war das Schicksal der Großsiedlung von Jericho, d.h. fand sie Fortsetzung und Dauer und wirkte sie in späterer Zeit nach? 2.1. Grundlagen Spätestens seit dem 9. Jahrtausend v. Chr., möglicherweise noch früher, gibt es in den Bergländern Südwest-Syriens, des Libanon, Israels und Westjordaniens — mit schwachen Spuren auch darüber hinaus — das sogenannte Natufium (benannt nach dem Wadi El-Natuf). Diese Gruppe lebte in den Bergländern und in der Nähe des Mittelmeeres bei verhältnismäßig warmem Klima in steppen- oder savannenartigen Parklandschaften, die — zumindest in den höheren Hügelländern und in den Schluchten — auch beträchtliche Gehölzbestände aufwiesen. Die heute trockenliegenden Wadis dürften einige Wassermengen geführt haben, und an der Küste sind sogar sumpfige Gebiete anzunehmen, während in der Wüste Juda und in Transjordanien die Bedingungen sicherlich weniger günstig waren. Die Unterschiede in der Landesnatur mögen weitgehend für Verschiedenheiten des ökonomischen und kulturellen Niveaus innerhalb des Natufium-Komplexes verantwortlich
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sein. Wie in Jericho sind Gefäße aus Stein sowohl aus weicherem Kalkstein als auch aus härterem Basalt herausgepickt und leicht überschliffen und zeugen nach Form und Größe bereits von einer erstaunlichen Meisterschaft in dieser Technik. Auch in der Kunst erreicht sie bei einigen Steinfigürchen ein beachtliches Niveau. Unter den kleinen Steinwerkzeugen fallen vor allem schmale Klingen mit glänzend patinierter Schneide auf, die als „Sichelklingen" oder „Erntemesser" bezeichnet werden, weil solcher Glanz entsteht, wenn damit kieselsäurehaltige Halme durchschnitten werden. Daraus ist freilich nicht mit Sicherheit auf Getreidebau zu schließen, denn das gleiche Ergebnis käme zustande beim Schneiden von Wildgräsern oder von Schilf, dessen man zum Decken von Dächern, zum Flechten von Matten und Körben usw. bedurfte. Jedenfalls spielt in der Nahrungswirtschaft die Jagd eine bedeutende Rolle: Mit variierendem Anteil finden sich im allgemeinen viel Gazellenknochen, weniger Reste von Hirschen und von Equiden, dazu Wildschweine, kleine Wiederkäuer, Knochen von Hyänen, Füchsen, Hasen und anderen Nagetieren sowie von Vögeln, in einigen Gebieten auch Schildkröten und Fische. Höhlen und Felsschutzdächer dienten nicht nur der Wohnung, sondern ebenso als Begräbnisstätten, und auch in den Freilandsiedlungen finden sich Bestattungen. Dabei handelt es sich teilweise um recht komplizierte und aufwendige Anlagen, bei denen Pflasterungen und Steinsetzungen eine Rolle spielen. In der Regel haben wir es mit Kollektivgräbern zu tun. Teilbestattungen, meist mehrere Schädel mit einigen Beinen und Armen sowie anderen Knochen, aber auch einzelne Schädel, kommen vor. Neben dem ziemlich reichen Schmuck einzelner Toter gibt es im allgemeinen nur verhältnismäßig wenig Beigaben. Bei einem Teil der Skelette sind die Schneidezähne entfernt. Die Gräber entbehren nicht der Aufwendigkeit und durch die Steinsetzungen auch nicht einer gewissen rohen Monumentalität. Die Siedlungsweise macht aufs Ganze einen bereits recht dauerhaften Eindruck, was aber noch nicht mit unbedingter Seßhaftigkeit gleichgesetzt werden muß, sondern durchaus saisonale Aufenthalte in anderen Bereichen zuläßt. Denkt man an eine noch rein jägerischsammlerische Wirtschaftsweise, muß es sich hier um die Hinterlas-
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senschaft einer Gruppe handeln, die unter günstigen Bedingungen ihre Ernährungsbasis verbreitern und zu einer nicht unbeträchtlichen Stetigkeit gelangen konnte. Das gilt zumal für die Siedlung von Ain Mallaha/Eynan im Norden des Jordantales an dem wasserreichen Hule-See, die daher bis zu einem gewissen Grade mit den Verhältnissen in Jericho verglichen werden kann. Eine verhältnismäßig waldreiche Umwelt spiegelt sich im reichlichen Vorkommen von Wildschweinen; dazu kommt auch eine verhältnismäßig große Zahl von Wiederkäuern. Vor allem aber gibt es reichliche Anzeichen für Fischfang mit Harpunen und Angelhaken und für das Erlegen von Wasservögeln. Die Siedlungsanlage von Ain Mallaha/Eynan bildet einen gewissen Höhepunkt im frühen Natufium. Von rundlichen Bauten mit bis zu 7 m Durchmesser sind außer den Böden Fundamente und untere Wandteile aus Stein erhalten. Die Dachkonstruktion ist kaum anders vorzustellen denn als mehr oder weniger kegelförmiges Holzgerüst mit Gras- oder Schilfbedeckung. Genauere Beobachtungen zeigen, daß die Behausungen mehrfach am gleichen Platz neu errichtet oder umgebaut wurden. In einem Fall wurde ein großer Stein, in den eine Vertiefung von etwa 30 cm tief eingearbeitet ist — etwas, was auch an anderen Fundstellen auftritt — durch mehrere Bauperioden hindurch benutzt und stellt offenbar einen fest im Hause angebrachten Mörser dar. Neben den Bauten sind bassinartige ovale Gruben von 5 und mehr Metern Durchmesser fast bis zu einem Meter in den Boden eingetieft und ihre Wände glatt und sauber mit einem Sand-Lehm-Gemisch verputzt. Es wird angenommen, daß es sich um Vorratsgruben handelt; aber wenigstens teilweise dienten sie auch als Grabstätten. Besonders hervorzuheben ist eine Bestattung in einem solchen „Bassin", dessen Wände Spuren roter Bemalung zeigen. Umfangreiche und eindrucksvolle Pflasterungen und Steinsetzungen lassen die Anlage markant vor anderen hervortreten, und unter den Skeletten ist eines besonders hervorgehoben. Auf einer Ausgrabungsfläche von etwa 250 Quadratmetern wurden einige Rundhäuser festgestellt. Insgesamt beträgt die Ausdehnung der Siedlung wohl etwa 2.000 Quadratmeter. Geht man von einer gleichmäßigen Bebauungsdichte aus, ist mit rund vierzig Häusern zu rechnen, die etwa gleichzeitig existiert haben dürften. Nach den Ausmaßen mögen die Bauten von nicht ganz kleinen Familien bewohnt gewesen
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sein. Über eine Größenordnung zwischen 200 und allenfalls 300 Einwohnern wird man aber kaum hinauskommen. Für die HöhlenFundstellen im Judäischen Gebirge oder am Berg Karmel hingegen ist mit erheblich geringeren Zahlen zu rechnen. Die Herkunft des Natufiums ist noch dunkel; nur sehr wenig spricht für eine alleinige Entwicklung aus den voraufgehenden altsteinzeitlichen Gruppen: Alle entscheidenden Züge sind vielmehr neu in diesem Gebiet, und das gilt sogar für den physischen Typus der Menschen. Umgekehrt ist dieser Typus auch später noch in diesem Raum vertreten, und ebenso findet eine Anzahl von kulturellen Elementen des Natufiums seine Fortsetzung. Das Inventar an Steinwerkzeugen in der älteren präkeramischen Großsiedlung von Jericho entspricht praktisch dem des Natufiums in der Art der Waffenspitzen und der sog. Sichelklingen. Weitergeführt wird die Herstellung von Steingefäßen, der Rundbau mit Steinfundamenten und eine besondere Behandlung und Beisetzung menschlicher Schädel. 2.2. Entstehung Auch in Jericho liegen unterhalb der präkeramischen Großsiedlung an einer begrenzten Stelle auf dem gewachsenen Boden Natufium-Schichten. Einiges spricht dafür, daß das Klima zur Zeit der Errichtung der ersten Großsiedlung etwas trockener war als zuvor. Das könnte dazu beigetragen haben, daß eine größere Menschenmenge sich um die wertvolle und reichlich Wasser spendende Quelle in verkehrsgünstiger Lage gruppierte. Der Ort mag bald von anderen Gruppen bedroht worden sein, wahrscheinlich jenen Natufium-Leuten und ihren Nachkommen, die in den kärglicheren Gebieten lebten, gewissermaßen den „armen Verwandten" der Oasen-Siedler. Tatsächlich machen das jüngere Natufium und seine Nachfolger im Bergland einen erheblich ärmlicheren Eindruck als die Frühphase: Es scheint sich eine krasse Aufspaltung abzuzeichnen in eine „Biozönose" von Oasen-Siedlern im Jordantal einerseits, Bergland-Jägern, später vielleicht auch Viehzüchtern, andererseits. Dieser Gegensatz und eine daraus resultierende Bedrohung mag zur Anlage der mächtigen Befestigungen geführt haben; doch ist das eine Erklärung, die sich ausschließlich der lokalen Befunde und Möglichkeiten und rein rationaler Überlegungen bedient.
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Damit ist jedoch nicht gesagt, daß nicht auch andere Faktoren am Werke und vielleicht sogar entscheidend gewesen sein könnten. So gibt es z.B. unter der Großsiedlung an einer Stelle eine merkwürdige Lehmplattform von unregelmäßiger Form mit einer Setzung von Steinen, darunter zwei ausgehöhlten Steinen ähnlich den Mörsern anderer Wohnplätze. Die Bedeutung ist aufs ganze unklar, und der Fund einer weiblichen Figur reicht kaum für eine Erklärung als Heiligtum oder dergleichen. Sollte sie aber zutreffen, könnten vielleicht auch religiöse Motivationen zum häufigeren Aufsuchen dieses Platzes und einer späteren Konzentration beigetragen haben. Wir werden uns also nicht einbilden, mit den bisher für uns greifbaren Hinweisen schon den Schlüssel und damit die ganze Wahrheit gewonnen zu haben: Es gibt noch Unklarheiten genug! Auf jeden Fall aber bleibt die Tatsache eines eindrucksvollen Sprungs: Vergleichen wir Jericho mit der Natufium-Siedlung am Hule-See, so haben wir in der letzteren eine Ausdehnung von vielleicht 2.000 Quadratmetern gegenüber 14.000 in Jericho, und am Hule-See eine Einwohnerzahl von wahrscheinlich etwa zweihundert gegenüber Jericho mit mindestens tausend, eher aber mehr. Was wir sicher feststellen können, ist die beträchtliche quantitative Steigerung; ob ihr auch eine qualitative Änderung entspricht, ist eine andere Frage: Zweifellos ist das der Fall im Hinblick auf das Befestigungswesen mit seiner imponierenden Mauer, dem „Turm" und dem Graben; aber inwieweit in der präkeramischen Großsiedlung von Jericho etwa keine im Prinzip egalitären gesellschaftlichen Verhältnisse mehr herrschten, sondern sich schon eine regelrechte Oberschicht oder sonstige differenzierte gesellschaftliche Struktur herausgebildet hatte, muß im Grunde offen bleiben. 2.3. Gleichzeitiges Über die dritte Frage, die Stellung Jerichos in der gleichzeitigen kulturellen Umwelt, sind wir noch sehr schlecht unterrichtet. Sicher aber ist, daß Jericho als befestigte Großsiedlung noch isoliert steht. Auch wenn sich noch der eine oder andere Befund dieser Art und Zeit im Vorderen Orient einstellen sollte, wird doch nicht die Rede von einer städtisch geprägten Region sein können. Von andersgearteten gleichzeitigen Siedlungen sei hier eine herausgegriffen, die von Beidha
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(Seil Aqlat), südlich des Toten Meeres in der Nähe der berühmten Felsenstadt Petra, weil sich hier die Frage nach dem Verhältnis von Quantität und Qualität, von äußerer Ausdehnung und innerer Struktur, gewissermaßen mit umgekehrtem Vorzeichen erhebt. Diese kleinere Siedlung erstreckt sich über etwa 70 m auf einer Düne, die durch eine Mauer künstlich gestützt wurde. Gegenüber dem heutigen — weitgehend anthropogen geformten — Bild kann mit einem stärkeren Bewuchs durch Wacholder, Eichen und Pistazien, dazu Mandelbaum und verschiedene Gesträuche gerechnet werden. Die nächste Quelle ist erst in etwa 5 km Entfernung bekannt, doch werden Tümpel und Staubecken im unmittelbar benachbarten felsigen Gebiet und Anschwemmungsland zusätzlich — wenn auch nicht ganzjährig — Wasser geliefert und einen Pflanzenanbau gestattet haben: Abdrücke im Wandstuck und verkohlte Reste in Körben orientieren über das Vorhandensein von zweizeiliger Gerste, die noch der Wildform entspricht, und einem Weizen, der zwischen dem wilden und kultivierten Emmer steht, dazu Erbsen, zwei Arten von Linsen, ferner Eicheln und Pistazien als Sammelobjekten; kleine Horntiere wurden vielleicht als Haustiere gehalten. Die älteste präkeramisch-neolithische Schicht, die ins frühe 7. Jahrtausend gehören dürfte, zeigt zwar technisch sehr interessante Rundbauten, kann aber hier übergangen werden zugunsten der oberen Fundhorizonte, die ebenfalls noch ins 7. Jahrtausend gehören und zeitlich etwa dem jüngeren präkeramischen Jericho (B) entsprechen. Die zweitoberste Lage zeichnet sich dadurch aus, daß sie einen geregelten Gesamtgrundriß erkennen zu lassen scheint, der nahezu ein Gitternetz als Grundlage besitzt. Ein Haus von etwa 9 χ 7 m zeigt auf Wänden und Böden einen weißlichen, hartgebrannten Stuck, der längs der Wände mit einer etwa 1 m breiten roten Zone und um den Herd mit einem ähnlichen roten Band bemalt war. Ein hochpolierter Steinsitz oder Tisch an der Wand unmittelbar bei der Tür und eine rundliche Grube mit Steineinfassungen und einem größeren Stein auf dem Grund waren ebenfalls rot umrahmt. Zu diesem Haus gehören Höfe, und jenseits derselben befinden sich besonders beachtenswerte Rechteckgebäude. Abseits der eigentlichen Siedlung liegen einige besondere Bauwerke: Ein größeres von 6 χ 3,50 m und etwa ovalem Grundriß besitzt einen
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mit künstlich zerbrochenen Steinstücken bedeckten Boden und in der Mitte einen aufrecht stehenden, großen, flachen Sandsteinblock von etwa 1 χ 0,75 m, einen ähnlichen, aber höheren, flachen Stein im Boden eingelassen an der Südwand, einen weiteren und dünneren in der Südostecke auf einem kleinen Fundament aus Kieseln, dazu außerhalb der Südwand ein großes, flaches, annähernd dreieckiges Becken aus einer einzigen Sandsteinplatte von 3,80 χ 2,65 m, darum die Reste einer Einfassung mit rundlichen Ecken und darin eine verbrannte Stelle und Knochenfragmente. Offensichtlich handelt es sich hier wirklich nicht um den Rest einer Wohnung, sondern eher eines Kultbaues. Von besonderem Interesse aber sind die erwähnten Rechteckhäuser. Jedes bestand aus einem mittleren Korridor und zu dessen beiden Seiten je drei kleinen Räumen von 1 χ 1,50 m. Sie waren getrennt durch kräftige Steinmauern, die teilweise größeren Durchmesser haben als die Räume selbst. Der Inhalt der kleinen Räume spricht eher für Werkstätten als für Wohnstellen, und dieser Eindruck wird durch das Fehlen von Wandstuck verstärkt. Innerhalb der Räume ist eine gewisse Spezialisierung festzustellen: Es gibt solche, in denen Horn bearbeitet wurde, während sich in anderen vornehmlich Knochenwerkzeuge und Perlen aus Stein, Knochen und Muscheln in den verschiedensten Stadien der Fertigung fanden, dazu eine Menge Rohmaterial und Sandsteinplatten, wohl Arbeitstische; ein anderer Raum diente offenbar dem Zerlegen von Tierkörpern. Wie immer es im einzelnen gewesen sein mag, gab es jedenfalls baulich verbundene und beieinander zentrierte Plätze der Art von Werk- und Arbeitsstätten, an denen jeweils verschiedene Tätigkeiten ausgeübt wurden. Auch hier ist es schwierig, eine befriedigende Bezeichnung zu finden, doch geht der Befund offensichtlich über so etwas wie einen Familienbetrieb hinaus und läßt eher an ein kommunales Zentrum mit einer Art von Werkstätten, vielleicht sogar an eine handwerkliche Arbeitsteilung denken. Jedenfalls zeigen sich hier Eigenarten, die man gefühlsmäßig in ihrer Differenzierung eher der Großsiedlung von Jericho zutrauen möchte als diesem kleineren Dorfe von Beidha. Zumindest das, was wir im archäologischen Material an Strukturmerkmalen, insbesondere für die Produktion, erkennen können, geht in seiner Differenzierung nicht mit der Größenstaffelung der Siedlungen überein, — es sei denn, die Ausgrabung von Jericho wäre in ihren
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Ausschnitten so unglücklich verlaufen, daß ausgerechnet derartige Befunde nicht erfaßt wurden. Auch dann noch stünde Jericho in seiner Größe und der Art seiner Befestigung bislang immer noch isoliert und dürfte wahrscheinlich — wenn überhaupt — erst in weiterer Entfernung vielleicht Parallelen finden. 2.4. Das Ende Die vierte Frage schließlich, wie es mit der stadtartigen Großsiedlung von Jericho weiterging, ist eindeutig zu beantworten: Zumindest an diesem Ort ging es in dieser Art nicht weiter! Schon die untere präkeramische Siedlung brach offenbar recht plötzlich ab, und der Platz blieb längere Zeit verödet liegen, und das gleiche wiederholte sich zum Ende der späten präkeramischen Großsiedlung. Erst nach vielen Jahrhunderten lassen sich wieder Spuren einer bescheidenen Siedlung am gleichen Ort feststellen. Für eine Erklärung könnte man versucht sein, auf neuzeitliche Beobachtungen bei größeren und dichteren Siedlungsanlagen in halbtrockenen oder trockenen Klimagebieten zurückzugreifen; doch sind die Analogien nicht zwingend. Bei den Pueblo-Indianern im Südwesten der Vereinigten Staaten z.B., die ebenfalls in engen und ziemlich großen Siedlungsagglomerationen wohnen, ist die Wirtschaftsgrundlage ein Bodenbau mit teilweise künstlicher Bewässerung bei einer weithin noch beträchtlichen Bedeutung von Jagd und insbesondere dem Sammeln wilder Früchte. Dieses wirtschaftliche System mit seiner Siedlungsballung bedeutet eine solch extreme Ausnutzung der natürlichen Ressourcen, daß eine Reihe von Trockenjahren sich katastrophal auszuwirken vermag. Man könnte daran denken, daß es sich in Jericho ähnlich verhalten hat; aber anders als bei der Pueblo-Wirtschaft haben wir hier mit Bewässerung auf der Grundlage reichlichen Quellwassers zu rechnen, die von solchen kurzfristigen Trockenperioden oder auch von längerfristigen kleineren Schwankungen deshalb vielleicht nur unwesentlich beeinträchtigt wurde. Auf jeden Fall werden wir uns — ähnlich wie bei den Anfängen — nicht einbilden dürfen, mit solchen ökologisch-demographischen Erwägungen alles geklärt zu haben: Es kann ebensogut sein, daß uns die wirklich entscheidenden Faktoren verborgen bleiben.
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3. Catal Hüyük Mögen es solche oder andere Ursachen gewesen sein, Jericho ist zwar der älteste uns bisher bekannte, jedoch sicherlich nicht der einzige Fall einer frühen Großsiedlung, der keine Fortsetzung und Dauer beschieden gewesen ist. Eher noch eindrucksvoller ist Catal Hüyük in der Konya-Ebene in der Türkei, das allerdings später, etwa in das späte 7. und frühe 6. Jahrtausend v. Chr. zu datieren ist (Abb. 1 u. 2). 3.1. Befund Der Bodenbau steckt in Catal Hüyük offensichtlich nicht mehr in seinen Anfängen. Neben Getreiden, nämlich Emmer, Einkorn und Dinkel, wurden Erbsen und Linsen kultiviert, zudem wahrscheinlich die Bitterwicke, und einem Sammeln von Pflanzennahrung standen außer Mandeln, Eicheln, Pistazien, Wildäpfeln und den Früchten des Zürgelbaumes (Celtis australis) noch Hirtentäschel und Erysium zur Verfügung. Schon in den untersten Schichten treten Schafe und Ziegen als domestizierte Tiere auf, während das Hausschwein fehlt. Das Wildschwein lieferte jedoch neben dem Ur und dem Rothirsch die wichtigste Jagdbeute, die noch durch Wildschafe, Gazellen, Vögel und Fische ergänzt wurde. In dem bisher ausgegrabenen, verhältnismäßig kleinen Teil der Siedlung folgt der Anlageplan durch mehrere Schichten hindurch einem allgemeinen Grundschema: Die Wohnräume waren jeweils rechteckig und die Wände einigermaßen gerade gezogen, Vorratskammern und sonstige Nebengelasse je nach Bedarf um den Hauptraum gruppiert und alle diese Einheiten Wand an Wand dicht zusammengebaut. Dabei erfordert die Notwendigkeit einer auch nur minimalen Beleuchtung und Belüftung eine stufenweise unterschiedliche Höhe der einzelnen Bauten und macht wahrscheinlich außerdem die Einfügung von Höfen zwischen einzelnen Siedlungsteilen verständlich. Der Bedarf an Bauholz dürfte nicht gering gewesen sein, denn jedes Haus besitzt ein selbsttragendes Gerüst aus gut zugearbeiteten Balken. Indes, das Hauptmerkmal war doch der in eine Holzform gestrichene und an der Luft getrocknete Lehmziegel. Die Ausmaße der Ziegel variieren zwar von Schicht zu Schicht, doch überwiegt in jeder Periode eine Standardgröße. Wände und Böden waren mit einem weißlichen Putz
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1. Catal Hüyük VI: Rekonstruktion eines Teils der Siedlung.
überzogen, der in einzelnen Fällen in bis zu 100 Schichten aufgetragen war und den Gedanken an eine häufige, vielleicht jährliche Renovierung der Häuser nahelegt. Flache Dächer sind durch die Reste von Schilf- und Rohrbündeln mit einem dicken Lehmüberzug bezeugt. Die Wände sind noch in solcher Höhe erhalten, daß eindeutig das Fehlen von Türen festzustellen ist: Der Zugang erfolgte offenbar über das Dach; jedes Haus besaß dafür eine hölzerne Leiter aus rechteckig zugehauenen Balken an der Südseite des Hauptraumes. Da Herde und Öfen sich stets in der Nähe der Südwand befinden, dürfte die Zugangsöffnung zugleich den Rauchabzug gebildet haben. Die Nebenräume für Vorratshaltung, schmale Gänge und Lichtschächte waren durch niedrige, rechteckige oder ovale Offnungen in einiger Höhe über dem Boden zugänglich. Längs der Wände sind plattform- oder bankartige Erhebungen in L-förmiger Anordnung angebracht: eine kleinere quadratische gewöhnlich in der Nordostecke, eine viel größere
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mit erhöhter Sitzfläche am Südende in der Nähe des „Küchenteils", dazu eine oder mehrere bei der Nordwand und häufig noch eine in der Südwestecke in der Nähe des Ofens. Nach Zahl und Größe dieser Einrichtungen enthielt kein Raum mehr als acht Schlafplätze, was eine einigermaßen brauchbare Kalkulation für die Einwohnerzahl zuläßt. Ein großer Teil der Räume hat zwar die gleiche Form und Grundeinrichtung mit Plattformen, Öfen und Herden und diente sicherlich auch als Wohnung, zugleich aber offensichtlich dem Kult. In den
2. Catal Hliyük. Nord-Westwand der Kultstätte VI A 10, restauriert.
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mittleren Schichten der bisher ausgegrabenen Flächen kommt auf vier bis sechs Wohngebäude ein solches Heiligtum, in der Schicht VI sogar eines auf zwei bis drei Wohngebäude. Das ist ein ganz erstaunlich hoher Anteil, und es sind gerade diese Räume, durch die Catal Hüyük bereits eine gewisse Berühmtheit erlangt hat: Hier finden sich die Wandmalereien und Wandreliefs, die Plastiken von Stier- und Widderschädeln und von Menschen, die aus dem Putz ausgeschnittenen großen Stierfiguren sowie die zahlreichen Plastiken, hier liegen auch menschliche Schädel, Körner, Samen, feine Statuetten, Tierknochen, Dolche und Lanzenspitzen in solcher Art, daß an Opfer gedacht werden muß. Die im Dienste des Kultes und des Rituals stehenden besonderen Einrichtungsgegenstände und Kunstwerke finden sich stets an ganz bestimmten Stellen der Räume, z.B. die ausgeschnittenen Stierfiguren an anderen Wänden als die Menschenreliefs. Eine weitgehende Ordnung herrscht auch bei den Bestattungen, die man sowohl in den einfachen Wohnräumen als auch in den Heiligtümern unter den erhobenen Plattformen antrifft. Es handelt sich offensichtlich um eine sogenannte „zweistufige" (oder „sekundäre") Bestattung, bei der die Toten zunächst an anderer Stelle beigesetzt und erst nach der weitgehenden oder vollständigen Verwesung oder Entfernung des Fleisches am endgültigen Grabplatz in anatomisch richtiger Ordnung mit Kleidung und Beigaben niedergelegt wurden. Besonders zu beachten ist dabei, daß die Frauenbegräbnisse immer an der gleichen Stelle des Hauses auftreten, nämlich unter den großen Plattformen in der Nähe des „Küchenteils", die Kindergräber öfters unter anderen Plattformen, wenn aber mit einem Erwachsenen zusammen, dann mit der Frau, niemals mit einem Mann, während die Gräber der Männer sich an verschiedenen Stellen unter den kleineren Plattformen finden. 3.2. Interpretation Festzuhalten bleibt zunächst, daß die Großsiedlung von Catal Hüyük ein hohes Maß von Ordnung und Planung erkennen läßt, in der Gesamtanlage ebenso wie in den Einzelheiten: in der standardisierten Größe der Ziegel, dem Grundschema der Hauspläne und der Einrichtungsteile, der Höhe der Durchlässe, der Art der Herde und der Öfen, nicht zuletzt aber auch der Zuordnung von Kultsymbolen zu
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einzelnen Teilen der „Heiligtümer" und der Art der Bestattung. Angesichts des äußeren Bildes von Catal Hüyük drängen sich die bereits erwähnten M Pueblos" im Südwesten der USA nahezu unwillkürlich als vergleichbares Phänomen auf: Sie bieten zweifellos ein gutes Beispiel dichter Zusammensiedlung mit ihren Stein- und Lehmziegelbauten, die um Plätze gruppiert sind und trotz des Namens „Pueblo" nach Größe und Art wenigstens teilweise einen stadtartigen Eindruck machen. In Einzelheiten weicht gewiß die Siedlungsweise von Catal Hüyük ab, wiederholt aber den gedrängten und kompakten Grundeindruck. Jeder „Pueblo" ist eine politisch autonome, innerlich eng geknüpfte Einheit und zugleich eine solche Siedlung (nicht etwa ein Stamm oder dergleichen!) die oberste politische Gruppierung überhaupt. (Das schließt übergreifende Bündnisse oder ähnliches natürlich nicht aus, wie z.B. in dem großen Puebloaufstand, der die Spanier für über ein Jahrzehnt aus Santa Fe vertrieb.) Entscheidenden Anteil an der Regierung haben die Vorsteher religiöser Gesellschaften oder bestimmte Priester, die einen eigenen Rat konstituieren. Dieses Kollegium wählt auch die Oberhäupter. Aufs ganze haben wir es also mit Siedlungen zu tun, die nach Art, Größe und Bevölkerungszahl durchaus Catal Hüyük zu vergleichen sind und deren Organisation nicht auf einer geschichteten Gesellschaft mit ausgeprägten Herrschaftsformen, sondern auf grundsätzlich egalitären Bedingungen beruht. Aus den Bestattungssitten in Catal Hüyük spricht zumindest eine besondere Betonung des Mutter-Kind-Verhältnisses und ein geringerer Grad der Fixierung des männlichen Bestattungsplatzes im Gegensatz zu dem festgelegten der Frau: Es dürften sich darin Besonderheiten der Sozialordnung spiegeln, und zwar solche „mutterrechtlicher" Art, zumal Matrilinearität und Uxorilokalität. Wie es sich damit in Catal Hüyük im einzelnen verhielt, muß freilich ebenso offen bleiben wie das Vorhandensein weiterer „mutterrechtlicher" Züge der Gesellschaftsordnung und ihre eventuelle Verbindung mit „vaterrechtlichen" Prinzipien. (Auch im Kultwesen ist die weibliche Sphäre stark repräsentiert, ohne daß es jedoch an männlichen Elementen und Symbolen vollständig mangelte: Wie weit eine gesellschaftliche Dominanz des Weiblichen ging, kann daraus nicht erschlossen werden.) Wenn aber irgendwo der archäologische Befund Schlüsse auf mutterrechtliche Züge gestattet, dann in Catal Hüyük, wo dies im Bestattungsbrauch
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einen Ausdruck gefunden zu haben scheint. Hierzu sei ein kleiner Exkurs gestattet: „Mutterrecht" ist ein Begriff, hinter dem sich mehrere — teilweise miteinander verbundene, teilweise einzeln auftretende — Züge verbergen. (Der vielfach verwendete Ausdruck „Matriarchat" ist heute — ähnlich wie auch sein Pendant „Patriarchat" — weitgehend zu einem Schlagwort verkommen.) Keineswegs muß „Mutterrecht" etwa eine politische Herrschaft der Frauen, eine „Gynaikokratie", bedeuten. (Das suggeriert zwar der Titel des berühmten Buches von J.J. Bachofen, aber so verstandene Überlieferungen spiegeln eher das, was auch als „uxorische Machtfolge" bezeichnet wird, nämlich den Übergang der Herrschaft auf den Gatten der Dynastentochter, — eine Einrichtung, die in der Frühzeit der Mittelmeerkulturen noch nachklingt.) Kern des eigentlichen „Mutterrechts" ist die Erbfolge in der mütterlichen Linie, die „Matrilinearität". Sie steht bei unbedingt seßhafter Lebensweise zumeist in Zusammenhang mit der „Uxorilokalität", d.h. dem Überwechseln des Mannes an den Wohnort der Familie seiner Frau. Nach weitgehender Erfahrung kommt es zu solchen Einrichtungen vornehmlich auf der Grundlage eines erhöhten wirtschaftlichen Beitrages der Frauen und eines weiblichen Verfügungsrechtes über die Wohnung oder gar eines Besitzes am zugehörigen Ackerboden. Die Matrilinearität hat oft zur Folge, daß für die Kinder der Mutterbruder von größerer Bedeutung ist als der leibliche Vater, d.h. die Einrichtung des „Avunculats". Die Betonung des weiblichen Elementes kann eine Spiegelung in der überweltlichen Sphäre finden, in der Betonung weiblicher höherer Mächte; doch ist umgekehrt keineswegs aus einem Überwiegen weiblicher Plastik oder sonstiger weiblicher Kultsymbole auf mutterrechtliche Verhältnisse zu schließen. Mutterrecht ist im übrigen weder eine durchgehende allgemeine Frühstufe menschlicher Kultur, noch lediglich dort anzutreffen, wo einzig die Frauen die Landwirtschaft betreiben. Die soziale Organisation der Pueblo-Indianer — um der Einfachheit halber bei diesem Beispiel zu bleiben — kann teilweise als ein Musterbeispiel für eine mutterrechtliche Sippenverfassung gelten, obwohl die Frauen weder im öffentlichen noch im privaten Leben oder im Kult eine besondere Rolle spielen, geschweige, daß es etwa weibliche Häuptlinge oder Priester, eine weiblich bestimmte Jenseitswelt oder
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dergleichen gäbe: Entscheidend ist das absolute und unumstrittene Eigentumsrecht der Frauen an den Häusern samt dem Hausrat und den dazugehörigen Feldern, die stets den Töchtern vererbt werden, und da diese hier verbleiben, zieht der Mann bei seiner Heirat ins Haus der Frau. Ohne nun die Parallele überstrapazieren zu wollen, sei schließlich noch darauf hingewiesen, daß es auch in den „Pueblos" eine mit Catal Hüyük vergleichbare große Zahl von Kulträumen gibt — wenn auch von anderer, von den Wohnräumen abweichender Art und nicht in der reichen Ausstattung wie in Catal Hüyük. Das ganze Leben der Pueblo-Indianer und ihre Kultur sind in erstaunlichem Umfang von der religiösen Sphäre bestimmt, die alle Aspekte des Lebens beherrscht und durchtränkt: Es ist geschätzt worden, daß ein Pueblo-Indianer wenigstens die Hälfte seiner Zeit religiösen und rituellen Betätigungen zu widmen hatte. Mit solchen Vergleichen soll nun keineswegs der Eindruck erweckt werden, daß es etwa zwischen Catal Hüyük und den Pueblos einen engeren Zusammenhang gäbe oder daß strukturelle Ähnlichkeiten und Ubereinstimmungen die Folge einer gesetzmäßigen Interdependenz einzelner Kulturbereiche seien. Die Heranziehung solcher Phänomene möge vielmehr als ein Hinweis darauf verstanden werden, welche wertvollen Möglichkeiten oder Wahrscheinlichkeiten einer Interpretation sich uns anbieten, wenn wir den Bereich des Erfahrungsschatzes überschreiten, der uns aus unserem eigenen Kulturbereich und unserer geschichtlichen Vergangenheit geläufig ist. Kehren wir jedoch zum eigentlichen Thema zurück und versuchen wir, den Befund von Catal Hüyük an den gleichen Kriterien zu messen, die wir bereits bei Jericho angewendet haben: 1. An der dichten Zusammensiedlung einer größeren Bevölkerungszahl ist nicht zu zweifeln, und sie ist eher noch stärker und eindrucksvoller ausgeprägt als in Jericho. Gewiß ist bisher nur ein Teil von Catal Hüyük ausgegraben, und der Befund kann deshalb nicht ohne weiteres als repräsentativ für die Gesamtsiedlung angesehen werden. Doch selbst wenn man die Möglichkeit einbezieht, daß in dem noch nicht ausgegrabenen Teil weitere freie Plätze, Straßen und — ähnlich wie in Beidha — von den Wohnhäusern getrennte Werkstätten oder dergleichen verborgen sind, bleibt angesichts der sehr engen Zusam-
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mensiedlung doch die Annahme von gut tausend Einwohnern für die Blütezeit der Siedlung eine recht bescheidene Schätzung. Legt man eine gleichmäßig dichte Besiedlung wie in der Schicht VI und eine maximale Belegung aller Wohnräume zugrunde, kommt man sogar leicht auf mehr als 3.000 Personen. 2. In dem bisher ausgegrabenen Teil der Siedlung sind fast ausschließlich Fertigfabrikate angetroffen worden und kaum Spuren der Herstellung von Geräten, Werkzeugen und Waffen festzustellen. Waffenspitzen z.B. wurden häufig aus schmalen Obsidianklingen gefertigt, doch fand sich bisher insgesamt nur ein Dutzend Kernsteine. Zwar mag es sich bei einigen größeren Öfen, die aus Ziegeln erbaut waren, um Fertigungsstätten von Töpfereiwaren handeln; aber daraus ist noch nicht auf spezialisierte Betriebe zu schließen, zumal die Keramik so außerordentlich einfach ist, daß man sie sich eher als Produkt eines allgemeinen „Hausfleißes" vorstellen möchte. Für einen hohen Stand des Schnitzens und Glättens sprechen hingegen die Gefäße und Behältnisse aus Holz, darunter feine Kästen, Schalen- und Becherformen sowie Steingefäße mit schmalem und langem Ausguß. Eine ausgesprochene Höchstleistung der Steinbearbeitung stellen die polierten Obsidianspiegel dar. Aus Grünstein sind Beile, Dechsel und Meißel gefertigt; Kupfer und Blei treten schon früh auf, zunächst als Perlen, später auch als Röhrchen. Reste von offenbar kompliziertem Gewebe, Schnüren und Fäden, sind noch nicht näher untersucht. Auch hierbei fehlt es im Grabungsbefund, abgesehen von einem Spinnwirtel, noch ganz an Geräten oder Fertigungsstätten der Textilherstellung. In den über 200 Räumen wurde außerdem bislang nur eine einzige „Sichelklinge" gefunden. Auch unmittelbare Hinweise für einen weitreichenden und ins Gewicht fallenden Handel fehlen: Grünstein und Obsidian sind in einiger Nähe zu erreichen, Kalkstein in den Fußhügeln am Rande der Ebene, Alabaster in der Gegend von Kayseri, weißer Marmor in Westanatolien; Kupfer, Hämatit, Limonit, Mangan, Bleierz und Lignit kommen im Taurus-Gebirge vor, und auch Muscheln aus dem Mittelmeer erfordern keine sonderlich weitreichenden Beziehungen. Die Fernverbindungen zur Versorgung mit bestimmten Rohstoffen, zumeist von Luxusgütern, wird man also nicht überschätzen dürfen. Von Gewicht für die Beurteilung der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse in
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Catal Hüyük wären hingegen die Beschaffung und der Transport größerer Mengen von Lebensmitteln und Holz aus einiger Entfernung. Die Annahme, daß man Kern- und Baumfrüchte zur Nahrung, Nadelholz, Eiche und Wacholder als Baumaterial von den Randhügeln und aus dem Taurusgebirge herangeschafft habe, geht jedoch von dem heutigen Landschafts- und Vegetationsbild aus, das sicherlich erst jüngeren Datums ist: Die wahrscheinliche ursprüngliche Vegetation, auf die bereits eingangs hingewiesen wurde, macht eine solche Annahme überflüssig. Daß man die Handwerksgüter fast sämtlich als Fertigfabrikate aus einem engeren und weiteren Umland beschafft hätte, ist nicht anzunehmen. Obwohl Halbfertigware und Fertigungsstätten im bisherigen Ausgrabungsbefund so gut wie völlig fehlen, muß doch mit weitgehender Herstellung am Ort gerechnet werden. Dabei sind die Fertigprodukte wenigstens zum Teil von solcher Art, daß man bezweifeln möchte, daß sie sämtlich einem bäuerlichen „Hausfleiß" zu danken sind und nicht spezialisierten Handwerkern. Die Existenz einer gewerblichen Arbeitsteilung, wenn vielleicht auch in einem verhältnismäßig geringen Umfang, ist jedenfalls nicht ohne weiteres abzulehnen und eher wahrscheinlich. 3. Die Gräber haben bislang keine überzeugenden Indizien für eine geschichtete Gesellschaft ergeben, wiewohl die Toten in den „Ku 1träumen" ein wenig reicher ausgestattet zu sein scheinen als die übrigen. Die große Zahl solcher Bauten hat dazu geführt, daß man darin ein Wohnquartier von Priestern sehen wollte. Diese Deutung ist jedoch recht vordergründig und läßt noch viele Fragen offen, z.B. wo diese Priester dann ihre sakrale Funktion ausgeübt haben — nur in diesem Wohnviertel selbst oder auch anderswo? — und weshalb die besonders ausgestatteten Räume zwischen andere eingeschachtelt sind. Gerade das letztere kann ebensogut und noch eher für Kulte in einem familialen oder sonstigen kleineren Verband sprechen als für einen eigenen „sakralen Bezirk". Das würde freilich eine hohe Bedeutung des Religiösen und eine starke Beanspruchung im Dienst des Kultischen bedingen und könnte vielleicht auch darauf hindeuten, daß religiöse Gesellschaften oder deren Vorsteher eine Rolle in der Regierung des Gemeinwesens gespielt haben. 4. Zwar ist die Großsiedlung von Catal Hüyük nicht eigens ummauert, doch mag die Außenwand ohne Türen an sich bereits einen gewissen
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Verteidigungscharakter besessen haben. 5. Catal Hüyük mit seiner großen Einwohnerzahl ist sicherlich ein markanter Ort einer Bevölkerungskonzentration in der Konya-Ebene. Zwar läßt sich einerseits daraus nicht ableiten, daß eine Landschaft mit weiteren kleineren Siedlungen unmittelbar auf diesen Punkt bezogen und im wesentlichen für seine Versorgung verantwortlich gewesen wäre; aber andererseits gibt es auch keine positiven Zeugnisse dafür, daß ein wesentlicher oder überwiegender Teil der Bevölkerung von Catal Hüyük nur in der Urproduktion beschäftigt gewesen wäre. Im Grunde kann man für die Interpretation des Befundes von zwei extremen Vorstellungen ausgehen, nämlich einerseits von einer im Prinzip egalitären Gesellschaft, bei der ein weit überwiegender Teil der Bevölkerung in der Urproduktion tätig blieb und nur ein geringer f ü r gewerbliche, kultische und politische Funktionen davon freigestellt war, andererseits von einer Siedlung mit arbeitsteiliger politisch-gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Organisation, eventuell mit beträchtlichen Bevölkerungsteilen in kultischen und politischen Funktionen, in Handel und Gewerbe und insgesamt vielleicht auf der Grundlage einer stark geschichteten Gesellschaft mit einer hervorragenden Oberschicht, vielleicht auch einer eigenen oder damit verbundenen Priesterschaft. D e r letzteren Ansicht wird am ehesten zuneigen, wer vom Bild der frühgeschichtlichen Hochkulturen ausgeht. D a s ist jedoch sehr einseitig, und es scheint nützlicher, auch die Völkerkunde heranzuziehen, um Vorstellungen davon zu gewinnen, welch geringerer oder größerer G r a d von Kompliziertheit und Differenzierung vernünftigerweise bei Phänomenen angenommen werden darf oder als Minimum vorauszusetzen ist, die nach der Wirtschafts- und Siedlungsweise mit Catal H ü y ü k vergleichbar sind. D a bieten sich — z.B. bei den Pueblos — Siedlungen zum Vergleich an, die nach Art, Größe und Bevölkerungszahl wenigstens teilweise und annähernd Catal H ü y ü k an die Seite zu stellen sind und deren Organisation doch nicht auf einer geschichteten Gesellschaft mit ausgeprägt herrschaftlicher Organisation, sondern auf grundsätzlich egalitären Bedingungen beruht. Nach der ersten verständlichen Begeisterung über die geradezu sensationellen Befunde von Catal Hüyük dürfte aufs ganze jetzt eine etwas nüchternere Interpretation angebracht sein, wenngleich sie angesichts des Fehlens endgültiger Berichte und der Unvollständigkeit der Ausgra-
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bung einer eingehenden Analyse voraufeilen muß und deshalb ebenfalls nur vorläufig und skizzenhaft sein kann. Eine Minimal-Interpretation mag jedoch einiges am Befund verständlicher erscheinen lassen, vielleicht auch den Niedergang der Siedlung, die nach unserem bisherigen Wissen ebensowenig eine unmittelbare Fortsetzung gefunden hat wie das frühe Jericho. Vielleicht verlangte die Siedlungsballung eine solch extreme Ausnutzung der natürlichen Ressourcen, daß das wirtschaftliche System eine wie auch immer geartete Störung nicht zu überstehen vermochte, und war die gesellschaftlich-politische Ordnung nicht in der Lage, durch Umstrukturierung eine solche Krise zu meistern.
4. Hacilar und Mersin Standen wir schon bei einem Vergleich von Jericho und Beidha vor der Frage des Verhältnisses von Quantität zu Qualität, der Größe einer Siedlung und ihrer Bevölkerung und der Differenzierung und Komplexität ihrer Ordnung, so stellt sich dieses Problem erneut — freilich in wiederum anderer Form —, wenn wir uns zwei befestigten Siedlungen in Kleinasien zuwenden, nämlich denen von Hacilar und von Mersin (Abb. 3 u. 4). 4.1. Befunde Hacilar ist ein großer steinzeitlicher und steinkupferzeitlicher Besiedlungshügel in Pisidien. Seine zweitletzte Bauperiode — um oder kurz vor 5000 v. Chr. — zeigt auf der Mitte dieses Hügels ein Viereck aus einer dicken Lehmziegelmauer und innerhalb dieser Befestigung trotz der geringen Größe Bauten mit verschiedener Funktion: Wohnräume, Speicher, Töpferwerkstätte sowie wahrscheinlich einen Kultbau mit einer besonderen Umhegung. Mit der letzten Periode von Hacilar indes — um etwa 5000 v. Chr. — wurde diese kleine Befestigung ebenso wie die gesamte alte Siedlungsfläche durch Abtragen von Gelände, Aufschüttung an einer Seite und sogar Errichtung von Stützmauern so planiert, daß noch heute der Niveauunterschied kaum mehr als 15 cm beträgt. Anscheinend rings um das so geschaffene
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Plateau — wiederum ist nur ein Teil untersucht — zieht sich eine Außenmauer von nahezu 4 m Mächtigkeit mit eckigen Vorsprüngen. Sie bildet zugleich die Außenwand von Räumen, hinter denen sich noch
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sogenannte Höfe befinden. Auch in diesen wurden Öfen, Gruben und Pfostenlöcher, anscheinend für Zäune oder Unterteilungen, angetroffen; während die hinter der Mauer liegenden, aus Holz und Ziegeln erbauten Räume von etwa 5,5 χ 8 m Herde, Bänke, Pfostenlöcher und verschiedenes Haushaltsgerät wie Töpfe und Mahlsteine enthalten. Heruntergestürzte Reste zeigen, daß mehrere Stockwerke existiert haben, ohne daß sich feststellen ließe, wieviele es waren. Genaueres über die Funktion der kasemattenartig an die Mauer
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angebauten Räume ist schwer zu sagen. Man wird sie sich wohl ähnlich vorzustellen haben wie in der beträchtlich späteren Befestigung von Mersin in Kilikien, die offensichtlich plötzlich verlassen wurde und niederbrannte und dadurch bessere Aufschlüsse ermöglicht. Mersin ist ebenfalls ein Teil von beträchtlicher Größe und mit zahlreichen Schichten, und auch hier wurde — wohl um 4000 v. Chr. — eine ummauerte Siedlung ohne jede Anlehnung an die älteren und künstlich eingeebneten Siedlungen planvoll angelegt. Eine Mauer aus Lehmziegeln auf starkem und hohem Steinfundament ist mit etwa 1,5 m Durchmesser zwar weniger mächtig als die von Hacilar, zeigt aber ebenfalls kleine Vorsprünge an Stellen, an denen sich die Mauerrichtung ändert. Türme oder Bastionen von unregelmäßig viereckigem Grundriß liegen zu beiden Seiten einer Torkammer. Wieder bildet die Befestigungsmauer zugleich die Außenwand einer Art von Kasematten, d.h. von nebeneinanderliegenden, einem gleichen Schema folgenden, gewissermaßen standardisierten Einheiten, von denen jede einen Raum unmittelbar hinter der Mauer umfaßt, dahinter eine Art halbhoch ummauerten Hofes. Von dem unmittelbar an der Mauer liegenden Raum gehen zwei schmale Fensterschlitze nach außen, deren schießschartenartiger Eindruck jedoch täuscht, denn sie sind sehr unbequem angebracht und gewähren kaum Ausblick oder Schußfeld. In der Mitte des Raumes befinden sich jeweils ein Herd und ein in den Boden eingelassener Mahlstein; Gefäße verschiedener Größe und Art, in einer Ecke ein größerer Vorratsbehälter aus Ruten und Lehm, mit Einfüllöffnung oben und Entnahmeöffnung am Boden, gehören zur Einrichtung. Der Boden des Hofraumes zeigt Pfostenlöcher. In einer Ecke liegen in allen Kasematteneinheiten Haufen gebrannter, rundlicher Lehmklumpen, offensichtlich Schleudermunition. Die Verteidigung ist auch hier schlecht vorstellbar ohne ein oberes Stockwerk oder zumindest eine über das Dach hinaufreichende Mauer. Während aber bei Hacilar der Innenraum, d.h. etwa jene Fläche, die zuvor von der kleinen viereckigen Befestigung eingenommen war, in der letzten Befestigungsperiode frei blieb, konnte in Mersin ein weiteres Gebäude teilweise untersucht werden. Es besteht aus drei größeren Räumen mit einem Hof, darin einem größeren Ofen, und ergab eine Anzahl von Gefäßen einer teilweise feineren bemalten Ware.
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4.2. Interpretation Zwei grundsätzliche Vorstellungen von Organisationsform bieten sich zur Erklärung an: Eine Minimalinterpretation, die am Gedanken einer ummauerten Siedlung festhält, hätte anzunehmen, daß die Bevölkerung in familialen Einheiten in den Kasemattenräumen wohnte und in diesem Rahmen als eine Art von Miliz zum Dienst an der Verteidigung bereit war; eine maximale Deutung könnte an eine reine Festung denken, deren Besatzung als eine Art stehenden Heeres von der Urproduktion gelöst war und von anderen Bevölkerungsteilen versorgt werden mußte und nicht geringen Umfang gehabt haben kann. Wie immer dem auch sei, hatte nicht im Verteidigungsfall die Bevölkerung eine von ihren Quartieren unabhängige Mauer zu besetzen, sondern sie wohnte wenigstens zum großen Teil unmittelbar an ihren kriegerischen Einsatzplätzen: Die Art der Anlage und ein hohes Maß an Planung und Standardisierung sprechen für eine straffe militärische Organisation, in der die Verteidiger auf Dauer erfaßt waren und die Wehrfunktion den Ort des täglichen Lebens zumindest weitgehend mitbestimmte. Hacilar und Mersin sind zwar wesentlich kleiner als die befestigte Großsiedlung von Jericho, und doch zeigt sich zumindest in Mersin eine innere Struktur, die weiter in Richtung auf differenzierte und angesichts des Eindrucks von Ordnung und Disziplin vielleicht sogar herrschaftlich betonte Organisation deutet. Ob es wirklich berechtigt ist oder nicht, daß der Ausgräber das größere Gebäude als „Commanders residence" bezeichnet, haben wir es doch mit einem besonderen Gebäude zu tun, von dem wir wohl annehmen dürfen, daß darin auch einige höhergestellte Persönlichkeiten oder Angehörige einer entsprechenden Gesellschaftsschicht wohnten: Wir gewinnen damit bessere Indizien für eine entsprechende soziale Gliederung als etwa in Jericho und auch in Catal Hüyük. Es kommt hinzu, daß sich überhaupt zu dieser Zeit die Anzeichen für eine Entfernung von Bevölkerungsteilen von der Urproduktion im Vorderen Orient mehren; die Produkte scheinen mehr und mehr Gegenstand eines wirklichen Gewerbes zu sein, Güteraustausch und Handel eine Rolle zu spielen und sich verschiedentlich lokale Zentren herauszuheben.
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5. Abschließende Wertung Die mächtigen Befestigungen von Hacilar und Mersin fanden zunächst keine Fortsetzung am Ort in dieser Form. Wir können nach unseren bisherigen Kenntnissen deshalb auch nicht davon ausgehen, daß diese Anlagen Kerne städtischer Entfaltung bilden. Sie sind ebensowenig wie Jericho oder Catal Hüyük als Anfang städtischer Kultur in dem Sinne zu verstehen, daß eine von hier ausgehende städtische Lebensweise Fortsetzung und Dauer über ein bestimmtes Gebiet hin gefunden hätte. Das scheint vielmehr den großen Stromländern vorbehalten geblieben zu sein, wobei in Mesopotamien die Besiedlung des eigentlichen Stromund Schwemmlandes etwa zu Ende des 6. Jahrtausends einzusetzen scheint, in Ägypten nach unseren bisherigen Kenntnissen sogar noch später. Etwa während des Zeitraumes, der durch Hacilar und Mersin charakterisiert wird, sind in Mesopotamien die Verhältnisse zwar zunächst recht bescheiden, scheinen sich aber die Siedlungen schon früh um Kerne zu gruppieren, die offensichtlich von Heiligtümern von anfangs ebenfalls recht bescheidenen Ausmaßen gebildet wurden. Auch hier ist noch vieles unklar und rätselhaft, und es würde weit über das hier gestellte Thema hinausgehen, dies untersuchen zu wollen. Nach unseren bisherigen Kenntnissen bahnen sich die Anfänge einer zukunftsträchtigen städtischen Siedlungsweise und Kultur im Sinne dauerhaft existierender Städte in einiger Anzahl innerhalb einer bestimmten Landschaft erst im 4. Jahrtausend in den großen Stromtälern des Vorderen Orients an, d.h. auf der Grundlage einer effektiven und leistungsfähigen Bewässerungswirtschaft als der stabilen Grundlage für die Ernährung größerer Menschenmengen. Stellen wir uns die Frage, inwieweit uns die genannten Anlagen, insbesondere Jericho oder Catal Hüyük, denn überhaupt wichtige Erkenntnisse vermitteln können, dann müssen wir als erstes feststellen: Sie passen nicht in jenes gängige Entwicklungsschema, das auch heute noch vielfach als gültig betrachtet wird. Es geht etwa davon aus, daß mit dem Übergang zu Bodenbau und Viehzucht sich allmählich kleine dörfliche Siedlungen entwickeln, mit den Fortschritten dieser Wirtschaftsweise die Bevölkerung sich entfaltete, immer mehr Raum brauchte und immer größere Gebiete besiedelte, dann aber auch der Zeitpunkt kam, an dem die Ernährungsgrundlage an einzelnen .Orten
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so stabil und reichlich wurde, daß es nicht mehr der Ausbreitung bedurfte, sondern eine Konzentration in städtischer Art möglich wurde. Natürlich haben sich gegen dieses einfache Evolutionsschema auch Gegenstimmen erhoben; aber sie blieben lange Zeit Rufer in der Wüste. Erst die neueren Forschungen, vor allem die Ausgrabungen in Jericho und Catal Hüyük, haben hier einen Wandel geschaffen, der aber doch nicht so recht ins Bewußtsein gedrungen ist oder aber Versuche ausgelöst hat, ein neues Entwicklungsschema zu konstruieren und dabei allerlei Gewalt anzuwenden. Solche Bestrebungen dürften wenig sinnvoll sein, und die wirkliche Bedeutung dieser Befunde liegt auf einem ganz anderen Gebiet, nämlich gerade darin, daß sie uns zeigen, daß die Dinge nicht so einfach und geradlinig verliefen, vielmehr an einzelnen Punkten wiederholt Menschengruppen — gewissermaßen vorauseilend — in Ansätzen zu einer städtischen Lebensweise, zu einer Bevölkerungsballung gelangten. Wir werden solche Erscheinungen wenig unter dem Gesichtspunkt werten dürfen, was sie für die spätere Entwicklung bedeuten, sondern davon ausgehen, daß sie ganz einfach Werte in sich darstellen als Realisierungen dessen, was auf diesem Gebiet und unter diesen Bedingungen als äußerstes erreichbar war: Beispiele dafür, wie die schöpferische Potenz des Menschen zu verschiedensten Zeiten und in verschiedenen Richtungen — hier in der Bevölkerungskonzentration und Wohnungsballung — vorstößt bis an die Grenzen, die ihr durch die jeweiligen natürlichen Bedingungen und technisch-wirtschaftlichen Voraussetzungen gezogen sind, — offenbar bis zu einem Punkt, an dem eine Situation äußerster Gefährdung der neuen Errungenschaften eintritt. Das ist — wenn man so will — weniger ein historischer als vielmehr ein anthropologischer Aspekt, den wir einordnen dürfen in jene Thematik, die Fritz Kern in dem Titel eines posthum erschienenen Aufsatzes umrissen hat mit der Formulierung „Lehren der Kulturgeschichte über die menschliche Natur". Von solchen, jenseits aller vereinfachten Entwicklungsvorstellungen stehenden Lehren der Kulturgeschichte aber sind — so will mir scheinen — Befunde wie die von Jericho und Catal Hüyük nicht die geringsten.
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Trotz einiger Erweiterungen wurde die Vortragsform des vorstehenden Beitrages beibehalten und kein Anmerkungsapparat hinzugefügt. Im folgenden sei nur auf Veröffentlichungen über die herangezogenen Fundgruppen und Funde hingewiesen. Zum allgemeinen Rahmen·. Handbuch der Urgeschichte, (hg. v. K.J. NARR), Bd 1-2, Bern u. M ü n c h e n
1966-1975; H . MÜLLER-KARPE, H a n d b u c h d e r V o r g e s c h i c h t e Bd.
1-2,
München 1966-1968; W. NAGEL, Die Bauern- und Stadtkulturen im vordynastischen Vorderasien, Berlin 1964; J. PERROT, La Prehistoire Palestinienne, Paris 1968; M.W. PRAUSNITZ, From Hunters to Farmer to Trader, Jerusalem 1970; J. MELLAART, The Neolithic of the Near East, London 1975; J. CAUVIN, Les Premiers Villages de Syrie-Palestine, Lyon 1978; J. GONZALEZ ECHEGARAY, Origines del Neolitico SirioPalestino, Bilbao 1978. Einzelfragen: K.V. FLANNERY, in: Man, Settlement and Urbanism, (hg. v. P.J. UCKO, R. TRINGHAM u. G . W .
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Tempelstadt und Metropolis im Alten Orient WOLFRAM VON SODEN
Zu den frühesten der in einem großen Flußtal angesiedelten Stadtkulturen gehört neben der Ägyptens die des Zweistromlandes um Euphrat und Tigris. Voraussetzung für die Entstehung einer Stadtkultur ist das Vorhandensein einer Anzahl von Städten ähnlicher Struktur und Kultur, die nicht zu weit voneinander entfernt liegen. Diese Voraussetzung war in Babylonien und teilweise auch Assyrien ebenso wie in einigen anderen Gebieten Vorderasiens sicher schon seit dem 4. Jahrtausend v. Chr. gegeben (Abb. 5). Da die verschiedenen Stadtkulturen Altvorderasiens trotz mancher Gemeinsamkeiten doch in vielem recht ungleich strukturiert sind, ist es nicht möglich, in einer Abendvorlesung einen Querschnitt durch sie alle zu legen. Wir müßten eine Uberfülle von fremden Namen und Zahlen nennen und uns dabei weithin mit recht allgemeinen Aussagen begnügen. Während die Städte Babyloniens und Assyriens in einem ziemlich jungen Alluvialland oder einem Hügelland liegen, finden wir in Iran und Kleinasien oft Bergstädte und in Syrien auch bedeutende Hafenstädte mit gebirgigem Hinterland. Unabhängig von den Unterschieden zwischen den Bevölkerungen und den Staatsbildungen bedingen die verschiedenartigen Landschaften sehr verschiedenartige Stadtanlagen und Gruppierungen von Städten. Der sich daraus ergebenden Mannigfaltigkeit können wir in so kurzer Zeit nicht gerecht werden. Daher erscheint als erstes eine Beschränkung auf das Zweistromland angezeigt, das ζ. B. die um einen Burgberg gelagerte Stadt nach Art der Hethiterhauptstadt Hattusas nicht kennt. Aber auch unter den vielen großen und kleineren Städten des Zweistromlandes können wir wegen der Fülle des Stoffes nur wenige auswählen. Denn wir haben es auch bei Beschränkung auf die vorhellenistische Zeit mit einem
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Zeitraum von weit über 3000 Jahren zu tun, innerhalb dessen es durch natürliche Einflüsse wie Flußlaufveränderungen und durch die Hand der Menschen vielfältige Veränderungen gegeben hat. Unser Wissen darüber verdanken wir einmal den Ausgrabungen, die allerdings erst einen Teil der Städte intensiver oder wenigstens oberflächlich erforscht haben. Auch dort, wo über eine längere Zeit hin umfassende Arbeit geleistet wurde, ist unsere Kenntnis der Städte oft etwas einseitig, weil die Ausgrabungen in erster Linie den großen Tempel- und Palastbauten nachgehen und sich um die Wohngebiete, wenn überhaupt, nur sehr viel weniger kümmern und allenfalls kleine Teile davon freilegen. Ungünstige Umstände wie neuere Uberbauung, landwirtschaftliche Nutzung größerer Flächen und Erosion erlauben es zudem oft nicht, die Stadt als Ganzes überhaupt zu erfassen; wir kennen dann nur kleine Teile. In vielen Fällen sind auch die Veröffentlichungen der Grabungsergebnisse mehr oder minder unzureichend, vor allem bei älteren Ausgrabungen. Zusammenfassende Berichte fehlen aber auch bei vielen Ausgrabungen aus jüngster Zeit. Glücklicherweise sind wir im Zweistromland oft nicht auf die Ausgrabungen allein angewiesen, weil in Babylonien schon seit etwa 3000 Schriftquellen in der früh zur Keilschrift umgeformten ältesten Schrift der Menschheit vorliegen. In Assyrien setzt die schriftliche Überlieferung erst gegen Ende des 3. Jahrtausends ein und vielerorts noch wesentlich später. Allerdings fließen auch die Schriftquellen sehr ungleichmäßig. Einer unübersehbaren Fülle von Urkunden, Briefen, Königsinschriften und literarischen Texten der verschiedensten Art aus bestimmten Perioden und Städten steht eine bedrückende Dürftigkeit der Quellen für andere Zeiten und Städte gegenüber, und mancherorts fehlen jedenfalls vorläufig für lange Zeiten die Schriftquellen ganz. Von den ausgegrabenen Schrifttafeln ruhen zudem viele Zehntausende unveröffentlicht in den Museen, und die veröffentlichten Tafeln wurden oft nicht zureichend ausgewertet, weil die Zahl der Mitarbeiter für diese Wissenschaft viel zu klein ist. Daher können wir heute auf viele Fragen, die wir aufgrund der vorhandenen Quellen befriedigend beantworten können müßten, nur sehr vorläufige Antworten geben, die sicher nicht in allem Bestand haben werden. Gleichwohl dürfen wir auch heute schon einige sehr wesentliche Aussagen mit Zuversicht wagen. 1 Am Anfang muß auch hier die Frage stehen: was ist eine Stadt? Befragen wir zunächst die sumerische und die akkadische Sprache, so stellen wir fest, daß beide Sprachen normalerweise nur jeweils ein Wort für eine etwas
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größere Siedlung verwenden, nämlich sum. um bzw. akkad. alum. Das Akkadische kennt zwar auch eine eigenes Wort für Dorfsiedlungen, nämlich kaprum, doch wird dieses ebenso wie ein überwiegend literarisches Wort für eine Tempel- und Marktstadt, mahazum, viel weniger gebraucht. Auf die Unterscheidung zwischen Stadt und Dorf hat die alte Zeit also meist wenig Wert gelegt. U m so zentraler war für die Sumerer und Babylonier die Unterscheidung zwischen der geschützten Stadt mit ihrem Umland und der Steppe oder dem freien Feld, wo der Mensch nicht selten schutzlos bösen Gewalten, seien es nun Menschen, Tiere oder Dämonen, ausgeliefert war. Das Gegensatzpaar Stadt - Steppe begegnet in der Literatur, in der Dichtung wie in den Omina, immer wieder, und die Schreiber lassen keinen Zweifel daran, daß sie die Stadt erwählen. Eine romantische Verklärung der Einsamkeit gibt es auch da nicht, wo einmal bittere Worte über die Mitmenschen fallen. Wenn wir heute nach einer Bestimmung des Begriffes Stadt im Gegensatz zu Dorf im alten Orient suchen, hilft uns das Studium des Sprachgebrauchs in Babylonien und Assyrien also nur wenig. Für die Zeit vor der Erfindung der Schrift, also vor allem das 4. Jahrtausend, fällt es schwer, klar zu sagen, unter welchen Voraussetzungen wir da von Städten reden können oder müssen. Die Loslösung von der wenig differenzierten Urproduktion war längst erfolgt, eine Arbeitsteilung hatte sich in verschiedenem Ausmaß bereits durchgesetzt. Eine gewisse Schichtung der Gesellschaft als Konsequenz der Arbeitsteilung müssen wir annehmen, auch wenn wir konkret darüber wenig aussagen können. Wahrscheinlich nicht auf Städte angewiesen war das in dieser Frühzeit blühende Kunsthandwerk in Ton und Stein. Die Töpfer, die die prächtigen bemalten Gefäße der Teil Halaf-, Samarra- und Eridu-Keramik schufen, arbeiteten gewiß oft in Dörfern. Auf städtische Verwaltungszentren nicht ganz verzichten konnte in Babylonien hingegen die so schwierige Wasserwirtschaft, von der in diesem regenarmen subtropischen Gebiet alles Leben abhing. Die Kanäle zur Ableitung und Speicherung des Hochwassers und zur Bewässerung während der Trockenzeit konnten nicht nur nach örtlichen Interessen angelegt oder unterhalten werden. Planung und einiger Zwang waren nicht zu entbehren, wurden übrigens nach dem altbabylonischen Atramhasis-Mythos von den Göttern schon vor der Erschaffung der Menschen praktiziert. Die späteren Gelehrten Babyloniens wußten das und unterstellten daher in ihren Uberlieferungen als selbstverständlich, daß es immer, auch schon vor der Sintflut, ein zentrales Königtum gegeben habe,
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Metropolis
freilich bei häufigem "Wechsel der Hauptstädte. Sie unterstellten gleichfalls, daß die Städte, in denen Könige residierten, auch seit jeher Kultzentren waren für immer dieselbe Gottheit. Die Ausgrabungen können das z . B . für die alte Hafenstadt Eridu bestätigen, in der eine lange Aufeinanderfolge von Tempeln auf demselben Platz festgestellt wurde. Die ältesten und kleinsten von ihnen wirken freilich noch wenig städtisch (Abb. 6). Für andere Städte Babyloniens fehlen vorläufig ähnlich ergiebige Beobachtungen. 2 Ein kleiner Ruinenhügel in Assyrien etwa 25 km nordöstlich von Ninive, dessen alten Namen wir mangels irgendwelcher Schrifturkunden nicht kennen, ist aufgrund der Ausgrabungsergebnisse besonders geeignet, das Problem einer Kultsiedlung besonderer Art im 4. Jahrtausend zu veranschaulichen 3 (Abb. 7). Die Grundfläche des in fast ebenem Ackerbaugebiet gelegenen Hügels mißt wenig mehr als 1 ha; feste Gebäude bedeckten aber auch in den ältesten, nur teilweise freigelegten Kulturschichten nur etwa Vi ha, ab Schicht 10 (spätes 4. Jahrtausend) noch weniger. War also Tepe Gaura nur eine Dorfsiedlung wie viele andere? Zu einer solchen Einordnung passen die aufgefundenen Kultbauten nicht recht. Schon in Schicht 13, wohl früh im 4. Jahrtausend, finden wir auf der Nordostseite des Hügels drei Tem-
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6. Mesopotamische Tempelanlagen von der Frühzeit bis um 3000 v. Chr.
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7. Tepe Gawra, Südostansicht
pel an einem H o f (Abb. 8), deren Grundriß bei bescheidener Größe (je etwa 12 X 9 m) keineswegs alltäglich ist. In Schicht 11 wurden die Grundmauern eines Rundtempels von etwa 18 m Durchmesser freigelegt (Abb. 9); ob es in dieser Schicht noch weitere Kultbauten dort gab, wurde nicht untersucht. In Schicht 8 schließlich (um 3000) finden wir eine Dreiergruppe von Tempeln (Abb. 10). Für ein Dorf ist das zuviel. Der O r t muß also Kultzentrum für ein weiteres Umland gewesen sein, ohne die Größe auch nur einer Kleinstadt zu erreichen, wenn wir das aus den aufgefundenen Hausgrundmauern schließen dürfen. Da die Häuserreste auf dem Hügel kaum für das Kultpersonal ganz ausgereicht haben können, müssen wir wohl mit größeren Gruppen von heute unter dem Ackerland ganz zerfallenen Holzbauten rings um den Ortskern rechnen. Von einer Befestigung wurde nichts gefunden. Wenn Kontinuität der Bebauung ein Kennzeichen für städtische Siedlungen sein soll: hier war sie für viele Jahrhunderte offenbar gegeben.
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8. Tepe Gawra, Schicht XIII
Auch nach 3000 war der Hügel jedenfalls zeitweise noch besiedelt. Auf dem sich nun immer mehr verjüngenden Hügel reichte dann allerdings der Platz nur noch für eine kleine Dorfsiedlung, vielleicht eine Art von bescheidener
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9. Tepe Gawra, Schicht X I - A
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Fluchtburg für das Umland. Noch in Schicht 4 (um 2000) wurden die Reste eines kleinen Tempels freigelegt. Etwa 500 Jahre später mußte der durch viele Siedlungsschichten in die Höhe gewachsene Hügel aufgegeben werden, da nun nur noch wenige Häuser auf ihm Platz gehabt hätten. Das kleine Kultzentrum Tepe Gaura, das im 4. Jahrtausend auf weniger als 1 ha Fläche mehrfach drei Tempel von bescheidener Größe vereinigte und damit einem kleineren Wallfahrtsort aus neuerer Zeit vergleichbar ist, zeigt m. E., daß das Begriffspaar Stadt-Dorf der Mannigfaltigkeit der Siedlungstypen im alten Mesopotamien nicht gerecht werden kann. Es gab im 4. Jahrtausend dorfartige Siedlungen, die mindestens für den Kult die Bedeutung einer kleinen Stadt hatten, politische Zentren allerdings sicher nicht waren. Das Ende des 4. Jahrtausends bringt mit dem Eindringen der für uns frühesten Semitengruppen nach Nordbabylonien und vielleicht auch schon Assyrien und der Einwanderung der Sumerer aus dem Osten nach Südbabylonien eine ganz neue Situation. Es kam zu mancherlei sozialen Überschichtungen und sehr wahrscheinlich auch schon zur Ausbildung eines sich vor allem aus Kriegsgefangenen rekrutierenden Sklavenstandes.4 Spätestens jetzt wurden in Babylonien die bedeutenderen unter den Kultzentren zu richtigen Städten. Wir können das vor allem an der durch deutsche Ausgrabungen seit 1913 in einigen Teilen freigelegten Doppelstadt UrukKullaba - in der Bibel Erech, griechisch Orche, arabisch Warka - studieren.5 Schon vor 3000 finden wir hier neben den etwas kleineren Tempeln auf Hochterrassen wahrhaft monumentale, mehrschiffige Tempelbauten von bis zu 80 m Länge, die höchst mühsam aus sorgfältig geformten kleinen Rechteckziegeln, sogenannten Riemchen (18 X 8 X 8 cm) errichtet wurden (Abb.11). Etwas später bildeten einige dieser Tempel im Bereich des späteren Eanna einen heiligen Bezirk, der wohl mindestens 2 ha umfaßte. Aufgrund von Abbildungen können wir uns von ihrem Aussehen eine ungefähre Vorstellung machen, obwohl zumeist nur noch Grundmauern aufgefunden wurden. Wo und auf wie großem Gebiet damals die Stadtbevölkerung wohnte, wissen wir nicht.' Ein Königspalast wurde bisher nicht gefunden; außerhalb des Tempelbezirks wurde allerdings auch noch nicht gegraben. Der gewaltige Arbeitsaufwand, der für die Errichtung der Großbauten und die Erneuerungsarbeiten an ihnen sowie die an vielen Tempelwänden angebrachten Ton- und Steinstiftmosaiken aus Zehntausenden von kleinen Kegeln mit
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farbigen Köpfen 7 (Abb. 12) notwendig war, konnte nur von einer nach Tausenden zählenden Bevölkerung in der nach dem Grabungsbefund zu vermutenden kurzen Zeit geleistet werden. Rechnet man zu den an den Bauten unmittelbar Beteiligten die Landarbeiter und die Familienangehörigen hinzu, so m u ß die Einwohnerzahl der Stadt und der Nachbargemeinden die 10 000 weit überschritten haben. Aus einer etwas späteren Zeit hat die Grabung gewaltige Ziegeleianlagen freigelegt, die in ähnlichem Umfang auch schon zur Zeit der ersten Großbauten bestanden haben müssen. Wie die für alle diese Arbeiten vorauszusetzenden Großmanufakturen organisiert waren, wissen wir nicht. Jedenfalls muß U r u k um 3000 schon eine typische sumerische Tempelstadt gewesen sein (s. S. 57).
12. Frühsumerische Epoche: aus dem Eanna-Heiligtum in Uruk. Schicht IV um 3000 v. Chr.
Für die Großbauten dieser Zeit in U r u k sind mindestens vier Bauschichten mit teilweise erheblichen Veränderungen der Gesamtanlage nachweisbar. Erst mit der zweiten oder dritten dieser Schichten setzt auch eine plastische Bildkunst ein, deren Reichtum und künstlerische Gestaltung alles Frühere weit hinter sich läßt. Für die Kleinbildkunst wird jetzt das auf Tonplomben und -tafeln abzurollende Rollsiegel zum bevorzugten Träger. Alle Arbeiten
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an den Tempeln, den Kanälen und auf den wahrscheinlich immer tempeleigenen Feldern und Weiden wurden im Auftrag der Tempel ausgeführt. Da noch Naturalwirtschaft ohne Geld bestand, mußte der Tempel Handwerker, Arbeiter, Bauern und Hirten sowie sein Kult- und Verwaltungspersonal mit Naturalien entlohnen. Alle Eingänge und Ausgänge an Gerste, Schafen, Materialien, fertigen Produkten usw. mußten erfaßt werden. Wie das in der schriftlosen Zeit über lange Jahrzehnte nur mit behelfsmäßigen Notierungen von Zählzeichen gelingen konnte, bleibt ein Rätsel. Infolge des Anwachsens der Bevölkerung und immer größerer Bauvorhaben mußte es aber immer schlechter gelingen. Daher kam während der vierten der genannten Bauperioden ein verzweifelter Bürokrat oder deren mehrere auf die Idee, daß man durch Aufzeichnung der Gegenstände und der Mengenangaben mit Rohrgriffeln auf Tontafeln die Ein- und Ausgänge buchen und nachprüfbar machen könne. Angesichts der Fülle der Eintragungen wurde dann alsbald auch der weitere Schritt getan, daß man viel genannte Objekte wie etwa Schafe stark vereinfacht zeichnete.8 Die Tempelstadt Uruk wurde so um 3000 v. Chr. zum Schauplatz einer der ganz großen, vieles revolutionierenden Entdeckungen der Menschheitsgeschichte: Man erkannte, daß die für das Ohr bestimmte Sprache sichtbar gemacht und daß Aussagen damit festgehalten werden konnten. Alle Wahrscheinlichkeit spricht dafür, daß diese Erkenntnis auf der Erde nur einmal selbständig gewonnen wurde. Die anderen alten Schriftvölker, voran die Ägypter und ebenfalls noch im 3. Jahrtausend die vorarischen Inder, haben die Idee des Schreibens übernommen, aber selbständig eigene Schriftsysteme geschaffen. Während nun bei den Ägyptern offenbar der Wunsch der Könige, sich zu verewigen, am Anfang der Schriftentwicklung stand, kamen die Könige und Stadtfürsten der Sumerer, soweit bis jetzt bekannt ist, frühestens 200 Jahre nach der Schrifterfindung auf den Gedanken, diese Erfindung auch ihrem Nachruhm dienstbar zu machen. Das Entscheidende für unser Thema bleibt aber, festzuhalten, daß nach allem, was wir wissen, nicht nur die ersten Großbauten in einer sumerischen Tempelstadt standen, sondern daß wir dieser auch die Idee des Schreibens verdanken, nachdem sich der Ubergang von der Sammler- und Weidewirtschaft zum Ackerbau in Vorderasien etwa 3000 Jahre vorher in Dorfsiedlungen vollzogen hatte. Nach der Zeit der Schrifterfindung kam es in Uruk zu Rückschlägen. Die Bauten werden dürftiger, während die Bildkunst sich zunächst noch neue
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Möglichkeiten erschließt. Die Schrift wird weiter entwickelt, wir verstehen jedoch von den ältesten Tafeln vorläufig nur recht wenig. Es gibt aber einige sichere Anzeichen dafür, daß man damals in Uruk schon Sumerisch schrieb. In den anderen Städten Babyloniens breitete sich die Schreibkunst schnell aus, und nach und nach werden neben den Urkunden auch literarische Texte in größerer Zahl niedergeschrieben. Die Städte Nordbabyloniens waren damals gewiß schon überwiegend von den semitischen Akkadern bewohnt, und manches spricht dafür, daß die eine oder andere von ihnen wie etwa Kisch schon für einige Zeit zur Hauptstadt eines größeren Gebietes wurde. Wenn wir die zumeist nur dürftigen Funde richtig deuten, waren auch diese Städte großenteils als Tempelstädte ähnlich den sumerischen des Südens angelegt. Für die Stadtgeschichte von Uruk ist das nächste große, für uns nachweisbare Ereignis der Bau der großen Stadtmauer in der sog. frühdynastischen Zeit etwa um 2750 (Abb. 13). Uberlieferungen späterer Zeiten, insbesondere das Gilgameschepos, schrieben diesen Mauerbau dem sagenberühmten König Gilgamesch zu, und wir haben keinen Anlaß, daran zu zweifeln, müssen freilich vermuten, daß die Regierungszeit eines einzigen Königs für eine so gewaltige Arbeit nicht ausgereicht hat. Diese Mauer, deren Sockel aus plankonvexen Ziegeln und stellenweise noch mehr unter dem Sand größtenteils erhalten blieb, hatte nämlich bei einer Dicke von 4—5 m eine Gesamtlänge von 9Vi km.9 Damit umschloß sie ein Stadtgebiet von nahezu 550 ha, das allerdings nach Ausweis der Ruinenhügel nie zur Gänze bebaut gewesen sein kann.10 Denn während sich im Bereich der großen Tempel und benachbarter Wohngebiete Schuttanhäufungen von bis zu 20 m Höhe finden, erheben sich andere Teile des Stadtgebietes nicht oder nur wenig über die umliegende Ebene. In diesen Teilen dürften in Zeiten ausreichender Bewässerung nicht nur Gärten, sondern wohl auch Felder und Viehweiden gelegen haben. Der Mauerring sollte also im Kriegsfall auch Zuflucht suchenden Bewohnern der umliegenden Dörfer und ihren Herden Unterkunft bieten. Auf die Freiräume der Stadt spielt das Gilgamesch-Epos an, das in der altbabylonischen Fassung oft von „Uruk mit dem (großen) Platz" (akkad. Uruk rebitim) spricht und in der jüngeren Zwölftafeldichtung von „Hürden-Uruk" (Uruk supürt).n Von den beiden Tempelzentren der Doppelstadt wurde übrigens der Hochtempelbezirk des Himmelgottes An nach dem Mauerbau durch viele Jahrhunderte hindurch nicht benutzt.
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Schon die erwähnten alten Schmucknamen von Uruk deuten darauf, daß eine Fläche von 550 ha, wie wir sie für Uruk feststellten, im alten Orient alles andere als normal ist. In den bisher bekannten Texten finden wir nur vereinzelt Maßangaben für Städte. Aufgrund von Ausgrabungen oder Geländeaufnahmen lassen sich Maße nur dann errechnen, wenn wenigstens der größte Teil der Stadtmauer noch in Resten erhalten ist. Für das 3. und 2. Jahrtausend ist zunächst einmal festzuhalten, daß Stadtgebiete von mehr als 100 ha Größe nur selten beobachtet wurden. Die berühmte Tempel- und Hafenstadt Ur ζ. B. hatte um 2000 nur etwa 75 ha Fläche, zur Zeit des Mauerbaus in Uruk wahrscheinlich noch viel weniger. Wesentlich größer, aber viel kleiner als Uruk waren in Mittelbabylonien Nippur und Girsu mit je etwa 125 ha in jüngerer Zeit. Assyriens alte Hauptstadt Assur umfaßte nach etwa 1500 53 ha und zusammen mit der wenig später angelegten „Neustadt" 70 ha. Je etwa 40 ha groß waren das altbabylonische Mari am mittleren Euphrat und in Syrien die Städte Karkemisch und Sam'al nach 1000 v. Chr. Eine Fläche von etwa 150 ha und damit reichlich ein Viertel der Fläche von Uruk umschließt die Stadtmauer der Hethiterhauptstadt Hattusas (heute Bogazköy) in Anatolien zur Zeit des Neueren Reiches um 1300. Erst nach 800 v. Chr. werden einzelne Städte so erweitert, daß Uruk überboten wird. Uber die Größe Babylons zur Zeit des Gesetzgebers Hammurabi (1729-1686) und später unter den Kassitenkönigen ist nichts bekannt. Zur Zeit Nebukadnezars II. ( 6 0 5 - 5 6 2 ) hatte es aber, wenn die Rekonstruktion der Stadtanlage durch E. Unger 12 in etwa richtig ist, eine Fläche von 8 - 1 0 qkm (Abb. 14). Zur gleichen Zeit umfaßte das wenig südlich davon gelegene Borsippa wohl mehr als 200 ha. In Assyrien kennen wir von der durch ihre bildgeschmückten Paläste berühmten zweiten Hauptstadt Kalach nur das Palast- und Tempelzentrum. Das größtenteils unter dem heutigen Mossul liegende Ninive aber erreichte unter Sanherib und Assurbanipal nach 700 als Hauptstadt des größten Reiches vor dem Perserreich etwa 7 qkm, also nicht viel weniger als 100 Jahre später Babylon. Vor Sanherib hatte sein Vater Sargon II. aus Sorge vor den nicht selten aufsässigen Priesterschaften und Bürgerfraktionen der älteren Hauptstädte nordöstlich von Ninive seit 713 eine neue Stadt gegründet und unter dem Namen Dür-Scharrukln „Sargonsburg" (heute Chorsabad) zur Hauptstadt gemacht. Nach den Angaben seiner Inschriften und den Ausgrabungen wurden 300 ha ummauert. Wir werden auf diese Stadt noch zurückkommen (S. 68).
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14. Babylon. Schematischer Ubersichtsplan der Stadt in spät-babylonischer Zeit
Bisher sind also für Babylonien und Assyrien nur fünf Städte mit mehr als 2 qkm Fläche nachgewiesen, von denen als Großstadt der Fläche nach nur Uruk schon früh im 3. Jahrtausend bestand.13 Zum Vergleich mag es interessieren, daß man für das Jerusalem der Zeit Davids nur etwa 4 ha Fläche
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bei wohl sehr enger Bebauung annimmt und für Megiddo 7 ha. Stadtgrößen unter 1 qkm waren auch in der Antike vor der römischen Kaiserzeit die Regel. Natürlich hat es oft größere Vorstädte außerhalb der Stadtmauern gegeben; ihre Einbeziehung würde aber die angegebenen Zahlen nicht allzusehr verändern. Können wir nun über die Einwohnerzahlen der Städte Mesopotamiens etwas aussagen? Für Schätzungen aufgrund des Umfangs des jeweils bebauten Stadtgebietes fehlen uns Maßstäbe, und wir wissen bei keiner größeren Stadt genau, ein wie großer Teil ihres Areals zu bestimmten Zeiten bebaut war. Dort, wo die Ausgrabungen auch Wohngebiete einbezogen,14 ergaben sie meistens, daß diese sehr dicht bebaut waren bei nur schmalen und oft winkligen Gassen zwischen den aneinander gebauten Häusern von fast überall sehr bescheidener Größe. Die Urkunden der altbabylonischen Zeit (etwa 1800-1550) belehren uns, daß aneinander anstoßende Häuser normalerweise nur eine gemeinsame Trennmauer (akkad. igär biritim) hatten, um die es manche Auseinandersetzung gab. Für Ur in der Zeit um 1800 zeigen nach dem Ausgräber L. Woolley Aschenreste, daß die Häuser großenteils zweistöckig waren, genau genommen 2'/2Stöckig, weil das flache Dach als ein von einer Brüstungsmauer umgebener Söller (akkad. rugbum) vor allem nach Sonnenuntergang als ein zusätzlicher Wohnraum diente (Abb. 15). Wir dürfen vermuten, daß auch in anderen Städten Mesopotamiens ein größerer oder kleinerer Teil der Häuser zweistöckig ausgebaut wurde, wenn es an Platz innerhalb des Mauerringes fehlte. Leider wird es zur Freilegung auch nur ganzer Stadtviertel bei den größeren Städten Babyloniens und Assyriens wohl nie kommen, weil das entweder nicht möglich oder zu kostspielig sein wird. Zuverlässige Schätzungen von Einwohnerzahlen aufgrund der Ausgrabungen werden also nie möglich sein. Etwas günstiger sind die Aussichten bei Heranziehung der Keilschrifttexte, die bisher noch nie systematisch auf Angaben über Bevölkerungszahlen durchforstet wurden. Chancen böte vor allem das Studium von z . T . sehr umfangreichen Personallisten aus Städten und Tempeln. Nur vereinzelt finden sich auswertbare Zahlen in den Königsinschriften. Zwei Angaben stammen aus Lagasch in Mittelbabylonien. Sie beziehen sich allerdings auf das ganze Staatsgebiet und sind überdies runde Zahlen. Um 2360 sagt uns der als erster sozialer Reformator bekannte König Urukagina, der nach Absetzung seines Vorgängers den Thron usurpiert hatte, daß sein Gott Ningirsu ihn aus 36000 Menschen
15. Rekonstruktion eines Privathauses in Ur, um 1800 v. Chr.
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seines späteren Herrschaftsgebietes zum König erwählt habe. 15 Wir wissen nicht, ob diese Zahl auch kleine Kinder und Sklaven einbezog, dürfen es aber vermuten. Sie war selbstverständlich nur geschätzt, da wir nie etwas von einer Volkszählung hören; auch von umfassenden Steuerlisten wissen wir nichts. Das Gebiet des Stadtstaates Lagasch umfaßte nun neben etlichen Dörfern die drei Städte Girsu, Nina und Lagasch. Wenn wir die runde Zahl 36000 als in etwa zuverlässig ansehen dürfen, darf man die damalige Einwohnerzahl der Hauptstadt Girsu als der wahrscheinlich größten auf etwa 10000 bis höchstens 12000 Einwohner schätzen. 300 Jahre später um 2050 spricht der durch seine Statuetten und sumerischen Bauhymnen bekannte Fürst Gudea von Lagasch von 216000 Untertanen, also von der sechsfachen Zahl. 16 Diese Zahl ist nun allerdings gewiß nicht als das Ergebnis einer Art von Bevölkerungsexplosion in 300 Jahren anzusehen. Eine solche ist schon deswegen ganz unwahrscheinlich, weil in diese Zeit mindestens zwei schwere Katastrophen fielen. Nein, Gudea beherrschte ein wesentlich größeres Gebiet, das an größeren Städten freilich nicht reich war. Für die unter Gudea sehr reiche Hauptstadt Girsu werden wir gleichwohl mit einem erheblichen Bevölkerungszuwachs zu rechnen haben. Unter den nunmehr vielleicht 2 0 - 3 0 0 0 0 Einwohnern dürften sich viele für die großen Tempelbauten angeworbene Fremdarbeiter befunden haben. Kurz nach Urukagina berichtet uns um 2300 der sagenberühmte Erobererkönig Sargon von Akkade, daß in seiner am Tigris wenig unterhalb von Baghdad neu gegründeten Hauptstadt Akkade, deren Reste noch nicht identifiziert werden konnten, 5400 Soldaten täglich „vor ihm gegessen" hätten. 17 Aus dieser sicher etwas aufgerundeten Zahl kann man unter Einbeziehung von Familienangehörigen und Sklaven wohl eine Mindesteinwohnerzahl von 1 2 - 1 5 0 0 0 erschließen, die sich nach dem Zusammenbruch des Großreiches allerdings bald stark vermindert haben wird. Aus dem 2. Jahrtausend ist mir keine Zahl bekannt. Erst der durch seine besonders grausame Kriegsführung berüchtigte, aber auch als Förderer der Bildkunst und Bauherr bekannte Assyrerkönig Assurnassirpal II. ( 8 8 5 - 8 5 9 ) nennt uns wieder eine wichtige Zahl. Er hatte die an der Mündung des Oberen Zab in den Tigris gelegene Stadt Kalach erneut zur Hauptstadt erkoren und großartig ausgebaut. Zum Abschluß der Bauarbeiten gab er seinen Untertanen ein großes Fest, über das eine vor 20 Jahren aufgefundene Stele berichtet." Er habe, sagt er, mit genau spezifizierten riesigen Mengen von Lebensmitteln aller Art, darunter 2200 Rindern, 16000 Scha-
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fen, 10000 Steinböcken und Gazellen, 43000 Stück Geflügel, 10000 Schläuchen Wein und vielem anderen - die Gemüsebezeichnungen können wir leider meistens nicht deuten - , genau 69574 Menschen zehn Tage lang bewirtet. Unter diesen hätten sich 16000 Einwohner der Stadt Kalach befunden und dazu noch 1500 Angestellte seiner verschiedenen Paläste. Auch hier sind gewisse Aufrundungen der Zahlen wahrscheinlich. 15 000 Einwohner mindestens dürfen wir aber für die wieder neu besiedelte Stadt Kalach schon ansetzen, eine Zahl, die unter seinen Nachfolgern gewiß noch erheblich zunahm. Diese Menschen müssen größtenteils außerhalb des bisher allein erforschten Palast- und Tempelhügels Nimrud mit seinen 25 ha Fläche gewohnt haben. Die Mehrzahl von ihnen waren wohl Verschleppte aus den Provinzen, darunter viele Handwerker und Künstler vor allem aus Syrien-Phönizien. Aus den Gefangenenzahlen in den Inschriften der Assyrerkönige werden wir ebenso wie aus ähnlichen Zahlen in anderen Quellen, auch im Alten Testament, keine Schlüsse ziehen dürfen, weil diese Zahlen oft ein Mehrfaches der wirklichen Zahlen betragen haben werden. Trotzdem ist nicht zu bezweifeln, daß zwischen 900 und etwa 640 Hunderttausende nach Assyrien verschleppt wurden. Die Einwohnerzahlen der großen Städte müssen dadurch trotz etlicher Neugründungen und inschriftlich bezeugter schwerer Epidemien stark angestiegen sein. Die Reichshauptstadt Ninive mag unter Assurbanipal um 650 an die 100000 Einwohner oder mehr gehabt haben. Mehr als vage Schätzungen sind leider nicht möglich. Das neu- und spätbabylonische Babylon der Zeit Nebukadnezars II. bis hin zum beginnenden Niedergang unter Xerxes nach 480 hat man bisweilen sogar für eine Millionenstadt gehalten. Mir erscheint das undenkbar. Für eine Einwohnerzahl von mehr als 100000 spricht aber nicht zuletzt das einmalige Ausmaß der Bauten Nebukadnezars. Für sie und die zur Beschaffung der Ziegel erforderlichen Großmanufakturen muß man jahrelang 10-20000 Arbeitskräfte benötigt haben. Berechnungen aufgrund der zu vermutenden Bauleistungen - für die Höhe der Bauten sind meist nur Schätzungen möglich sind noch nie versucht worden. Nach unseren Überlegungen über Stadtareale und Einwohnerzahlen müssen wir noch einmal zur Tempelstadt des 3. Jahrtausends zurückkehren. Ihre soziale Struktur hat schon mehrfach nicht nur Orientalisten beschäftigt. Bereits 1920 veröffentlichte Anna Schneider eine wirtschaftswissenschaftliche Studie „Die sumerische Tempelstadt" (Essen, Bädeker-Verlag).
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Die Forschung der Jahrzehnte danach faßte A. Falkenstein in Vol. I N o . 4 der Cahiers d'Histoire mondiale auf S. 7 8 4 - 8 1 4 zusammen ( „ L a citetemple sumerienne". Paris 1954). Aufgrund weiterer Studien vor allem in den U S A veröffentlichte 1960 Gideon Sjoberg ein Buch über „ T h e Preindustrial City, Past and Present" (Glenkoe, Illinois), das Babylonien einen breiten Raum widmet, aber leider etwas dürftig ausfiel. Er zitiert unter anderem den bekannten Prähistoriker Gordon Childe, der zu den Wesensmerkmalen einer Stadt auch rechnet, daß sie ein Bildungszentrum sein müsse. Als unverzichtbares Wesensmerkmal kann man dieses freilich nicht anerkennen, weil keine Großsiedlung einer schriftlosen Kultur ein solches Zentrum sein kann. Trotzdem hat Childe auf eine wichtige Tatsache aufmerksam gemacht: In den Hochkulturen muß eine Stadt als Mittelpunkt ihres Umlandes in der Tat Bildungseinrichtungen beherbergen, mögen sie nun von nur lokaler Bedeutung sein oder sehr weit ausstrahlen. Selbstverständlich liegen die Schwerpunkte verschieden. Manche Städte sind vor allem Verwaltungszentren, bei anderen ist das Ubergewicht von Handel und Gewerbe unverkennbar. Auch die frühen Tempelstädte Babyloniens dürfen wir uns keinesfalls als gar zu einheitlich strukturiert vorstellen. U r ζ. B. war ein wichtiger Umschlagplatz für Waren, die von den Flußschiffen auf Seeschiffe und umgekehrt verladen wurden; ausgeführt wurden vor allem Getreide und Handwerkserzeugnisse, eingeführt Rohstoffe aller Art, da in Babylonien Bodenschätze fehlten. Auch mangelte es im Alluvium an Steinen sowie an guten Bauhölzern. 19 Gleichwohl gab es in Ur im Tempel auch eine reiche literarische Tradition. Kisch in Nordbabylonien wiederum war lange Zeit vor allem ein politisches Zentrum. Schon in der Mitte des 3. Jahrtausends befand sich dort eine gewaltige Palastanlage, die zugleich Verwaltungsgebäude war und die Tempel an Größe weit übertraf (Abb. I(i). Das Ubergewicht des Königs über die den Stadtgott vertretende Priesterschaft wird hier überaus deutlich. Ein besonders stark ausgeprägtes geistiges Zentrum war hingegen die mittelbabylonische Stadt Nippur nahe der Grenze des schon früh akkadischen Gebietes zum sumerischen Süden. Der Gott Enlil dieser Stadt galt als der Gott, der (normalerweise aus dem Kreis der Stadtfürsten) die Könige bestimmte; Nippur selbst war aber nie Königsstadt. In den Schulen von Nippur bildete sich eine literarische Tradition aus, die später in vielem für das ganze Land bestimmend wurde. Leider wissen wir über die Arbeitsweise der in der Oberstufe vermutlich einer Akademie vergleichbaren
16. Chursangkalama. Plan des Palastes der Mesilim-Periode, sogenannter Palast von Kisch
Tempelschulen fast nichts. Nur für die Arbeits- und Prüfungsmethoden der nach Art von Handwerksbetrieben organisierten unteren Schulstufen gibt es etwas jüngere Überlieferungen, die freilich in manchem satirisch überzeichnet waren. Wieder andere Städte insbesondere in Nordbabylonien waren im 3. Jahrtausend Zentren der Steinbildnerei, in denen Beterstatuetten, wie sie damals gern in den Tempeln aufgestellt wurden, in großer Zahl und sehr ungleicher Qualität hergestellt wurden. Einen Sonderfall schließlich stellen in dieser Zeit einige kleinere Städte dar, in denen der Stadttempel zugleich als eine Art von Fluchtburg ausgebaut war. Das bekannteste Beispiel dafür stellt die Stadt Tutub im Dijala-Gebiet dar (heute Chafadschi). Die Rekonstruktion
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der dort aufgefundenen ovalen Tempelanlage (Abb. 17) kann in vielem natürlich nur als ein Versuch gelten.20
17. Chafadschi, Rekonstruktion des Tempel-Oval-Komplexes der ersten frühdynastischen Bauperiode
Gegen Ende des 3. Jahrtausends können wir zumal in Südbabylonien den Rückgang oder das Verschwinden mancher früher wichtigen Stadt beobachten. Hierzu gehören ζ. B. Bad-tibira, das einmal ein wichtiges Kultzentrum gewesen sein muß, und die „Sintflutstadt" Schuruppak. Neben politischen Ereignissen war dafür oft die Verlagerung der Flußläufe bestimmend, die man übrigens bisweilen auch während eines Krieges künstlich herbeiführte. 2 ' Katastrophen solcher Art in einigen Städten begünstigten den Aufstieg anderer. Wir treffen in diesen dann vergrößerte Tempelzentren an, vor allem im Norden,aber auch sehr große Königspaläste. Als Beispiel für einen stark erweiterten Tempelbezirk mag Ur als die Hauptstadt der 3. Dynastie von Ur (2064-1956) gelten (Abb. 18). Die großen Tieftempel für den Mondgott Nanna (akkad. Sin) bildeten mit der gestuften Tempelhoch-
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18. Ur. Plan des Nanna-Heiligtums zur Zeit (der III. Dynastie von Ur
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terrasse (akkad. ziqqurratum) zusammen den heiligen Bezirk, zu dem in Ur außerdem noch ein zweimal erweiterter Tempel für die vergöttlichten Könige mit unterirdischen Grabkammern gehörte. 22 Für Uruk sind die Ausmaße des heiligen Bezirkes rings um die Stufenterrasse noch nicht bekannt. Als Beispiel für ein Tempelzentrum in Nordbabylonien, das damals schon ganz von semitischen Dynastien beherrscht war, mag Eschnunna an der Dijala gelten (Abb. 19); hier gab es einen Tempel für den vergöttlichten König Schu-Sin von Ur. Unter den großen Palästen der altbabylonischen Zeit im 18. Jahrhundert ist der Palast von Mari (Abb. 2 0 ) der eindrucksvollste, der schon damals auch wegen seines Bildschmucks weithin berühmt war. In ihm war übrigens auch eine Schreiberschule untergebracht, die überwiegend wohl Schreiber von Briefen und Urkunden ausbildete. 23 Für die neusumerische und altbabylonische Zeit zwischen etwa 2100 und 1600 besitzen wir nun Zehntausende von Urkunden aller Arten in beiden Sprachen, Tausende von akkadischen Briefen und Fragmente mehrerer
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19. Rekonstruierter Plan des Sü-Sin-Tempels und des Königspalastes in Eschnunna um 1950 v. Chr.
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Gesetzessammlungen, darunter den berühmten „Kodex Hammurabi". Allen diesen Texten können wir eine Fülle von Erkenntnissen für die Bevölkerungsstruktur in den damaligen Städten, deren Verwaltung und das Gerichtswesen entnehmen, die erst teilweise aufgearbeitet sind.24 Anders als später gab es in den Städten kein Patriziat oder einen Stadtadel. Neben den Beamten und Priestern war für sie das nach Berufsständen gegliederte Bürgertum bestimmend. Seine unteren Schichten wurden in dem für notwendig gehaltenen Ausmaß zu den öffentlichen Arbeiten herangezogen. Die ursprünglich sehr harten Anforderungen mußten dabei im Zuge von Reformen vor allem nach dem Regierungsantritt von Herrschern herabgesetzt werden. Aus nur drei vor allem für Tempelfeste freien Tagen im Monat wurden nach und nach sechs und bisweilen noch mehr. Die Kaufleute und Handwerker waren nicht für Kanal- und Befestigungsarbeiten arbeitspflichtig und konnten ihren Geschäften nachgehen. Die Ausmaße der an Handwerkergruppen bisweilen gestellten Anforderungen illustriert ein Brief des Königs Schamschi-Adad I. von Assyrien (1750-1717) an seinen zum Vizekönig in Mari bestellten Sohn JasmachAdad, der einen nach Mari vergebenen Auftrag auf Lieferung von 10000 großen Bronzenägeln zu je 50 g behandelt. 25 500 kg Kupfer und Zinn wurden dafür gebraucht, die zunächst zu Bronze legiert werden'mußten. Viele Tonformen für den Guß mußten bereitstehen. Es ist leicht einzusehen, daß zur Ausführung von Aufträgen in dieser Größenordnung schon Manufakturen benötigt wurden, die viele Handwerker in ihren Dienst nahmen. Im Falle unseres Briefes wurde übrigens der ursprüngliche Auftrag zunächst halbiert, weil das erforderliche Metall nicht verfügbar war und aus Kleinasien so schnell nicht beschafft werden konnte. Die Unterschicht in den Städten bildeten die Sklaven. Für die Abschätzung ihres prozentualen Anteils an der Bevölkerung fehlen jegliche Anhaltspunkte. Ihre Behandlung muß im ganzen erträglich gewesen sein; auch besaßen sie teilweise eine begrenzte Geschäftsfähigkeit. Freilassungen werden häufig beurkundet. Zeitweilig gab es außerdem halbfreie Bevölkerungsgruppen mit besonderen Pflichten, aber auch Begünstigungen im Dienste der Könige. Sie waren wahrscheinlich aus Klientelen von Freigelassenen der Schechs von Nomaden- oder Halbnomadenstämmen kanaanäischer Herkunft hervorgegangen und verloren nach Ausweis der Urkunden und Briefe nach und nach ihre Sonderstellung, die in die städtische Gesellschaftsordnung nicht hineinpaßte. 26
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An der Spitze der Stadtverwaltung stand ein Bürgermeister (akkad. rabiänum). Die Gesetze Hammurabis, die manche etwas weltfremd anmutende Regelungen enthalten, machen ihn in § 23 f. u. a. zugunsten der Ausgeraubten persönlich haftbar für die Aufklärung von Raubüberfällen. Da Könige wie Hammurabi sich nicht für zu gut hielten, um auch Beschwerden kleiner Leute nachzugehen, wurden die Präfekten und Bürgermeister, wie viele Briefe zeigen, auf ihre sozialen Pflichten immer wieder hingewiesen und gegebenenfalls zur Rechenschaft gezogen. Natürlich funktionierte die Fürsorge für die Armen, Witwen und Waisen, deren sich die Könige gern rühmten, nicht immer. Daß sie auch später noch vom Bürgermeister oder Stadtkommissar erwartet wurde, illustriert eine der wenigen humoristischen Geschichten, die uns die babylonische Literatur überliefert. Ein in zwei neuassyrischen Abschriften erhaltener Text,27 der nach den Namen vermutlich gegen Ende des 2. Jahrtausends verfaßt wurde, erzählt von dem armen Gimil-Ninurta, der sich entschloß, seinen letzten Besitz, eine Ziege, dem Stadtkommissar von Nippur zu schenken in der Hoffnung, dafür angemessen entlohnt zu werden. Dieser deutete das Geschenk aber als einen Bestechungsversuch und schickte den Gimil-Ninurta, ohne auf den Bericht von seiner Notlage einzugehen, mit einem Fleischknochen und einem Becher drittklassigem Bier als Gegengabe wieder weg. Dem Türhüter, der ihn hinauswerfen mußte, kündigte der also Mißachtete nun drei Racheakte an, hatte damit zunächst aber nur einen großen Heiterkeitserfolg. Er ließ sich dann beim König melden und erbat von ihm für einen Tag einen königlichen Wagen, für den er 1 Mine Gold zahlen wolle. Der König gab ihm den Wagen, ohne nach dem Vorhaben des Bittstellers zu fragen, und dieser fuhr als Beauftragter des Königs zum Stadtkommissar, der ihn zum Mahl einlud. Nachts entnahm er dann aus dessen Kasse zwei Minen Gold und verprügelte den Kommissar dazu noch „vom Kopf bis zu den Fußsohlen" ganz erbärmlich. Er brachte dann den Wagen mit einer Mine Gold dem König zurück und ließ sich scheren. Also unkenntlich geworden meldete er sich beim Kommissar als Arzt, der die Wunden von den Prügeln behandeln wollte. Diese Gelegenheit benutzte er, um den Kommissar noch einmal zu verprügeln. Nun mußte er fliehen und wurde verfolgt. Er konnte die Verfolger trennen und den Kommissar allein erwischen. Unter einer Brücke bekam dieser die dritte Tracht Prügel. Die Erzählung endet mit dem lakonischen Satz: „Der Kommissar konnte die Stadt nur kriechend erreichen". Kein Wort von einer Bestrafung des Übeltäters.
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Schreiber und Hörer der Geschichte standen offenbar lachend auf der Seite des Frechen, der dergestalt an dem hohen Herrn Vergeltung übte. In größeren Städten wurden viele Fürsorgeaufgaben übrigens besonderen Beauftragten für die nach den Toren genannten Stadtviertel übertragen. Eine wichtige Aufgabe der Stadtverwaltung war schließlich noch die Rechtspflege in Strafverfahren und im Zivilprozeß. Der Ort der Handlung war vorzugsweise der Platz vor dem Stadttor, sofern man nicht für die Vereidigung von Kontrahenten oder Zeugen zum Gottessymbol an der Tempelmauer gehen mußte. Wahrscheinlich waren die Richter in der Stadt auch für die umliegenden Dörfer zuständig, so daß die Stadt darin eine echte Mittelpunktfunktion hatte. Berufungsinstanzen waren die vom König eingesetzten Präfekten oder Statthalter sowie der König selbst.28 Gegen unordentlich arbeitende Richter wurde sehr streng vorgegangen, weil die Wahrung von Recht und Gerechtigkeit für die Menschen zu den wichtigsten Aufgaben gehörte, die die Götter den Königen im Dienste der Erhaltung der Schöpfung gestellt hatten. Bei den alten Städten des Zweistromlandes wissen wir fast nie, ob sie auf dem Boden von oft sehr alten Siedlungen nach und nach zu Städten und damit zu Mittelpunkten für ihr Umland wurden oder ob der Stadtgründungsbefehl eines Königs am Anfang stand. Selbst bei den Städten, die nach bestimmten Königen meist unter Voraussetzung des akkadischen Wortes durum „Ringmauer" genannt sind - vgl. etwa in Nordbabylonien DürRimusch und die spätere zeitweilige Kassitenhauptstadt Dür-Kurigalzu sowie am Chabur Dür-Jachdullim - , wissen wir oft nicht, ob nicht nur eine ältere Stadt anläßlich ihres Ausbaus oder des Wiederaufbaus nach Zerstörungen einen neuen Namen erhielt. Die Unterscheidung zwischen gewachsenen und geplanten Städten ist daher für die Zeit vor etwa 1500 höchstens vereinzelt durchführbar. Wahrscheinlich gab es in der altbabylonischen Zeit und später nach der Mitte des 2. Jahrtausends in Nordbabylonien einige Neugründungen. Sie gewannen aber keine größere Bedeutung, und wir haben keine Quellen, die uns über Zeit und Zweck der Stadtgründung näher unterrichten. Etwas anders steht es in Assyrien. Hier war, wenn die Ausgrabungen den Befund richtig erhoben haben, Ninive wohl das älteste Zentrum vielleicht schon im 5. Jahrtausend. Seit dem Ende des 3. Jahrtausends war aber für lange Zeit die weiter südlich gelegene Stadt Assur der politische und kommerzielle Mittelpunkt, nach dem später auch das ganze Land genannt
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wurde (Abb. 21). 29 Die Priester und Bürger dieser Stadt müssen oft recht eigenwillige Leute gewesen sein, deren Meinungen nicht immer mit denen der Könige harmonierten. Hierin lag gewiß einer der Gründe dafür, daß die Könige Assyriens mehrfach neue Hauptstädte gründeten. Vier Neugründungen kennen wir aus den Inschriften. Die älteste unter ihnen wurde um 1730 von dem bereits erwähnten König Schamschi-Adad I . , einem Usurpator aus Terqa am mittleren Euphrat, an einer uns noch unbekannten Stelle im Gebiet der Quellflüsse des Chabur gegründet. Durch den Namen Schubat-Enlil wurde sie dem sumerischen Gott Enlil geweiht, der die Könige bestimmte; nach dem Tode des Gründers wurde sie wohl bald wieder verlassen, oder sie erhielt einen neuen Namen. 30 U m 1250 gründete Salmanassar I. in strategisch ausgezeichneter Lage an der Mündung des oberen Zab in den Tigris die schon erwähnte Stadt Kalach. Sie verfiel aber bald wieder und wurde erst von Assurnassirpal II. erneut zur Hauptstadt gemacht (Abb. 22). Sie blieb unter seinen Nachfolgern die Hauptstadt des immer größer werdenden Reiches und behielt ihre Bedeutung auch, nachdem Sargon II. sie als Hauptstadt aufgegeben hatte, bis zu ihrer Zerstörung durch die Meder 614. Leider wurde bei den Ausgrabungen in Kalach bisher keine Inschrift ihres Gründers gefunden, da die großen Paläste des 9. und 8. Jahrhunderts Ausgrabungen in den älteren Schichten weithin blockieren. 31 Nicht zuletzt wegen seiner rücksichtslosen Politik gegenüber Babylon hatte sich Salmanassars Sohn Tukulti-Ninurta I. mit den Bürgern und Priestern von Assur überworfen. Er gründete daher um 1215 etwa gegenüber von Assur auf dem Ostufer des Tigris die neue Stadt Kar-Tukulti-Ninurta, in die er sich gegen Ende seiner Regierung vor den aufständischen Assyrern zurückziehen mußte. Die Ruinen dieser Eintagsgründung wurden 1913/4 von W . Bachmann ausgegraben, der auch Inschriften des Königs auffand. 32 Die
berühmteste aller Neugründungen
wurde
aber
die
Stadt
Dür-
Scharrukln (s. S. 5 2 ) , die der auch aus der Bibel bekannte große Eroberer Sargon II. 713 20 km nordnordöstlich von Ninive auf dem Boden des Dorfes Maganubba gründete. Die Bauern dieses Dorfes wurden angemessen entschädigt, ehe alles eingeebnet und die 3 qkm große Stadt mit dem fast quadratischen Grundriß angelegt wurde (Abb. 2 3 ) . " Trotz größter Anspannung aller Kräfte der vielen tausend Arbeiter und Künstler wurden in den acht Jahren bis zum Tode des Königs auf einem Feldzug nur die Zitadelle mit dem Palast und einigen Tempeln, die Stadtmauer und kleine Teile
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22. Kalchu. Plan der Akropolis in neuassyrischer Zeit
der Stadt fertig. Was in diesen acht Jahren geleistet wurde, stellt alles Frühere weit in den Schatten. Denn der Palast wurde auch noch mit Hunderten von Reliefplatten, die sich zu Bildberichten zusammenschlossen, riesigen Email-Gemälden auf einigen Wänden und gewaltigen Stierkolossen an den Eingängen geschmückt. Die Götter mußten im Inneren der Zitadelle mit viel bescheideneren Bauten vorliebnehmen; ihre Priester waren anders als in Assur hier immer unter Aufsicht. Die Stadt blieb unvollendet, weil Sargons Sohn Sanherib, mit dem Vater zuletzt tödlich verfeindet, sie nach seinem Regierungsantritt 705 sofort verließ. Seine Priester versicherten ihm, daß Sargon den Zorn der Götter herausgefordert habe und deswegen im Kampfe fiel und unbestattet blieb.
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23. Dur-Scharrukin. Gesamtplan der Stadt mit der Zitadelle auf Grund der ergänzenden Untersuchungen des Oriental Institute Chicago
Sanherib machte sich nun alsbald daran, Ninive zur endgültigen Hauptstadt des Großreichs nicht minder großartig auszubauen (Abb. 24). Leider sind wir über diese Stadt besonders unzureichend unterrichtet, weil sie später vom heutigen Mossul überbaut wurde. Nur Teile der Paläste Sanheribs und Assurbanipals mit ihrem überwältigend reichen Bildschmuck konnten freigelegt werden. Unter Assurbanipal übertraf Ninive dann auch noch als Bibliotheksstadt das alte Nippur und die Hethiterhauptstadt Hattusas. Als 612 die Meder und Babylonier an Assyrien furchtbare Rache übten, konnten die Paläste nicht ganz dem Erdboden gleichgemacht werden, sondern blieben unter dem Brandschutt teilweise erhalten. Nur 90 Jahre lang war Ninive die erste Weltstadt der damaligen Zeit geblieben. 34
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Das Erbe von Ninive trat Babylon an, das unter Nebukadnezar II., wie schon erwähnt (S. 57), zur ersten Stadt Vorderasiens wurde und diese Rolle auch unter den persischen Achämeniden nur teilweise an die iranischen Hauptstädte abtrat. Trotz der nach assyrischem Vorbild riesigen Paläste, die, soweit wir wissen, allerdings ohne Bildschmuck blieben,35 wurde zum eigentlichen Wahrzeichen der Stadt der siebenstufige „Turm zu Babel" mit seinen 91 m Höhe bei gleichen Maßen der Grundfläche. Bei gewaltig ge-
24. Plan von Ninive
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steigerten Ausmaßen lebte etwas von der alten sumerischen Tempelstadt in dieser Reichshauptstadt weiter, die auch zu einer Metropole des Handels und der Wissenschaft wurde. Alexander der Große hatte, wie es scheint, sogar vor, sie zur Hauptstadt seines auch das Achämenidenreich noch weit übertreffenden Weltreiches zu machen. Anders als Ninive wurde Babylon nie zerstört, sondern verfiel nach den Städteneugründungen der Diadochen nach und nach und diente dann noch durch viele Jahrhunderte hindurch den Ziegelräubern jüngerer Nachbarstädte als Fundgrube (Abb. 2 5 u. 2 6 ) . Neben Babylon behielten im Neubabylonischen Reich und unter den Achämeniden noch mehrere andere alte babylonische Städte ihre große Bedeutung und wurden von Nebukadnezar und seinen Nachfolgern großzügig ausgebaut. Zu ihnen gehörten vor allem Sippar und Borsippa im Norden, Nippur in der Mitte des Landes und Uruk und U r im Süden. Nur dadurch konnte Babylonien als Ganzes eine der beiden reichsten Provinzen des Perserreiches werden. Vor allem aus einigen Tausend Urkunden aus Uruk wissen wir, einen wie großen Anteil an dem blühenden Wirtschaftsleben nach wie vor die großen Tempel mit ihrem riesigen Grundbesitz hatten. Tausende von Menschen der verschiedensten gehobenen und einfachen Berufe standen in ihrem Dienst. Bestimmte Tempelfunktionen, die mit Einkünften verbunden waren, wurden noch in der Seleukidenzeit wie Aktien gehandelt und ganz oder auch zu Bruchteilen bis hinunter zu Sechzigsteln nach festgelegten Verfahren vor vielen Zeugen veräußert. 36 Aus der alten Zeit sind uns derartige Verfilzungen von Geschäft und Kult nicht bekannt. Die meisten Verkaufsurkunden dieser Art besitzen wir übrigens aus zwei großen Tempeln in Uruk, die erst unter den Seleukiden neu gebaut wurden. Den Kult des alten Himmelsgottes Anu, der in dem einen neu belebt wurde, verstanden die Griechen als Dienst an einer Zeus-Gestalt. Ein Zeugnis griechisch-babylonischer Symbiose in Uruk sind auch die oft bezeugten babylonisch-griechischen Doppelnamen. Nur einige Streiflichter kann dieser Beitrag auf das höchst komplexe Thema ,,die Stadt im alten Zweistromland" werfen. Vieles mußte ungesagt bleiben, weil es nur in einer monographischen Behandlung mit umfangreicher Dokumentation verständlich gemacht werden könnte. Eine Vorstellung von der Bedeutung der Städte in Babylonien und Assyrien sowie ihrer in der Frühzeit ganz überwiegend und später auch noch sehr stark durch die großen Tempel geprägten Eigenart wird das hier Vorgetragene aber ver-
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mittein können. Im Raum dieser Städte entstand, wuchs und verging nach vielen Jahrhunderten einer wechselvollen Geschichte eine der großen Kulturen des Altertums. Keine der Städte hat die Zeit der Spätantike überlebt, die meisten verfielen schon unter den Persern und Seleukiden oder wurden wie vor allem in Assyrien noch früher das Opfer politischer Katastrophen. Manches von dem, was dort einmal geschaffen wurde, wirkt aber auf dem Wege über die Antike in vielfach veränderter Gestalt auch heute noch weiter.
[Das Manuskript wurde 1972 abgeschlossen. Neue Ergebnisse von Ausgrabungen und Literatur der letzten Jahre konnten nicht mehr eingearbeitet werden. Zu Anm. 8: Über Zählsteine mit Zeichnungen als Vorstufen zur Schrift handelt jetzt D . Schmandt-Besserath, An Archaic Recording System and the Origin of Writing (Malibu 1977). Zu S. 45 Mitte: Daß die Befestigung Jerusalems zur Zeit Davids nur die unglaubwürdig geringe Fläche von 4 ha umschlossen hat, wird neuerdings mit gutem Grund angezweifelt. Eine neue Zahl ist mir noch nicht bekannt geworden.]
26. Babylon. Hauptheiligtum
des M a r d u k mit Tieftempel und
Zikkurrat
in spätbabylonischer Zeit. Rekonstruktion in Ansicht aus der Vogelschau
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Anmerkungen ') Eine umfassende Behandlung des Themas Stadt im alten Orient steht noch aus. Viele wichtige Beobachtungen finden sich in Geschichtswerken und Darstellungen der Kulturgeschichte aus den letzten Jahrzehnten wie z . B . der neuen Ausgabe der Cambridge Ancient History V o l . I und I I und den Bänden 2 - 4 der Fischer Weltgeschichte. Nachweise für die hier genannten akkadischen Wörter geben die im Erscheinen begriffenen Wörterbücher (Chicago Assyrian Dictionary und mein Akkadisches Handwörterbuch). 2
) Für die irakischen Ausgrabungen in Eridu liegen nur vorläufige Berichte vor. Die beste
Ubersicht gibt das Kapitel „ T h e Development of Cities" von Μ . Ε . L . MALLOWAN in Band I der neuen Cambridge Ancient History, S. 327ff. (Tempelpläne S. 335 und 338), in dem auch andere städtische Siedlungen der Zeit vor 3000 v. C h r . behandelt werden. 3
) Für einen knappen Uberlick vgl. M . E . L . M A L L O W A N , I.e. S. 3 7 7 f . Ausführlich berichtet
das zweibändige W e r k „Excavations at Tepe G a u r a " , Philadelphia und London 1935 und 1950, von E . A . SPEISER (Band I) und A . J . TOBLER (Band II). 4
) D a ß die Sklaven vor allem aus den benachbarten Gebirgs- und Steppenländern kamen,
beweisen u . a . die schon früh im 3. Jahrtausend bezeugten Schriftzeichen für Sklave und Sklavin: Mann bzw. Frau des Gebirges. 5
) D e r reiche Ertrag der deutschen Ausgrabungen in Uruk in den Jahren 1 9 1 3 / 4 , 1 9 2 8 / 39 und
seit 1953 wurde noch nie zusammenfassend dargestellt. Die sehr ausführlichen vorläufigen Berichte über die Grabungen seit 1928 erschienen bis 1940 ( N r . 1 - 1 1 ) in den Abhandlungen der Preußischen Akademie der Wissenschaften in Berlin und seit 1956 als Abhandlungen der Deutschen Orient-Gesellschaft bzw. des Deutschen Archäologischen Instituts (Berlin, Gebr. Mann Verlag). Ein Register für die Bände 1 - 2 5 ist geplant. ' ) O b es damals schon eine Stadtbefestigung gab, wissen wir nicht. U b e r die Siedlungsdichte im Bereich von Uruk zu verschiedenen Zeiten unterrichtet aufgrund von Oberflächenuntersuchungen R . M c C . ADAMS and H . J . NISSEN, The Uruk Countryside. The Natural Setting of Urban Societies, C h i c a g o - L o n d o n 1972. Das Buch enthält viele Kartenskizzen und nennt viel Literatur. Für Siedlungen mit über 6 ha Fläche verwendet es den Begriff „ t o w n " ; ab 25 ha spricht es von „urban centers" (S. 18). Vgl. auch noch R . M c C . ADAMS, The Evolution of Urban Society. Early Mesopotamia and Prehispanic Mexico, Chicago 1966. 7
) Die Tonstiftmosaiken mit Rauten- und Dreiecksmustern zumeist in den Farben schwarz,
weiß und rot bedeckten große Flächen auf Wänden und Rundpfeilern. Die größeren und mit den damaligen Werkzeugen viel schwerer herzustellenden Steinstifte bildeten nur Bänder. 8
) Die Gesamtzahl der bisher aufgefundenen Tafeln aus den ersten zwei Jahrhunderten des
Schreibens beträgt etwa 2000. Ein Drittel davon enthält mit Schrifttafel und ausführlicher Einleitung A . FALKENSTEIN, Archaische Texte aus U r u k , Berlin 1936. Eine neue Gesamtbearbeitung wird von H . J . NISSEN erwartet. ' ) D a ß diese Mauer aus den nur in der frühdynastischen Zeit verwendeten plankonvexen Ziegeln bestand, mit denen zumeist in Rollschichten sehr schnell und oft doch recht dauerhaft gebaut werden konnte, ist bisher nur durch wenige Stichproben festgestellt worden. Mehrfach beobachtete man Uberbauungen aus jüngerer Zeit. Nach der Gesamtgestalt des Mauerringes ist es aber nicht wahrscheinlich, daß er in jüngerer Zeit noch wesentlich erweitert wurde, so
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daß die Stadt Gilgameschs etwa erheblich kleiner gewesen wäre als das altbabylonische U r u k . V o n den Stadttoren wurde erst eines aus einer jüngeren Schicht freigelegt. I0
) Es besteht vorläufig wenig Aussicht, daß die Erforschung der Stadt als Ganzes in die Aus-
grabungsarbeiten an größeren Städten einbezogen wird. D i e methodischen Schwierigkeiten, die der Stadtforschung „vor O r t " entgegenstehen, sind nicht nur bei Städten von der G r ö ß e von U r u k sehr groß und können nur bei Zusammenarbeit verschiedener Disziplinen überwunden werden. " ) Beide Bezeichnungen sind ungewöhnlich. N u r die vermutlich sehr großzügig angelegte Hauptstadt des ersten semitischen Großreichs, das wir kennen, Akkade (s. dazu S. 5 6 ) wird in der Einleitung zu den Gesetzen Hammurabis auch einmal Akkade rebitim genannt. Normalerweise gäbe es vermutlich keine so großen Freiräume innerhalb des Mauerringes. 12
) E . UNGER, Babylon, die heilige Stadt nach der Beschreibung der Babylonier, Berlin 1931,
Nachdruck 1970, S. 43 ff. Das Buch erfordert allerdings kritische Benutzer. 13
) Ein besonderes Problem stellt die nordbabylonische Stadt Sippar dar. Wenn es richtig ist,
daß sie in der altbabylonischen Zeit aus mehr als zwei Teilstädten bestand, würde sie einen besonderen T y p einer größeren Stadtsiedlung darstellen. Die archäologischen Untersuchungen in dieser Region stehen noch in den Anfängen, und die überaus zahlreichen Urkunden wurden noch nicht intensiv auf diese Fragestellung hin untersucht. Vgl. vorläufig D . O . EDZARD, Altbabylonische Rechts- und Wirtschaftsurkunden aus Teil ed-Der, München 1970, S. 18ff. - F ü r Sippar ist jetzt noch zu nennen R . HARRIS, Ancient Sippar. Α Demographic Study of an O l d Babylonian City ( 1 8 9 4 - 1 5 9 5 B . C . ) ( = Publications de PInstitut Historique et Archeologique Neerlandais de Stamboul 36), Leiden 1975. Auf Grund der Urkunden werden hier wichtige Teilaspekte des so komplexen Problems Sippar gründlich untersucht. H
) Vgl. für die frühdynastische Zeit etwa die Grabung in Tutub (heute Chafadschi) und dazu
P. DELOUGAZ, The Temple Oval at Khafäjah, Chicago 1940. In U r wurden Teile der frühaltbabylonischen Wohnstadt freigelegt (vgl. z. B . L . WOOLLEY, U r in Chaldäa, Wiesbaden 1956, S. 157 ff.). In Babylon wurden Wohnschichten von der altbabylonischen bis zur neubabylonischen
Zeit
auf
zumeist
nur
kleiner
Fläche
im
,Merkes'
untersucht
(vgl.
O . REUTHER, Die Innenstadt von Babylon (Merkes), Leipzig 1926). 15
) Ubersetzung ζ. B . bei W .
VON SODEN, Herrscher im alten Orient, B e r l i n - H e i d e l b e r g
1954, S. 12. Zu den Reformen vgl. ebd. und die in A n m . 1 genannten Werke; ihre Motivation ist ζ. T . noch umstritten. 16
) Die Zahl findet sich in Kol. III der Inschrift auf der Statue Β (letzte Ubersetzung von
M . LAMBERT in Revue d'Assyriologie 4 5 , 1951, S. 49 f.). 17
) Für den Text vgl. H . HIRSCH, Archiv für Orientforschung 20, 1963, S. 38.
1S
) D e r Text der Stele wurde herausgegeben von D . J . WISEMAN in: Iraq 14, 1952, S. 24 ff.
" ) Vgl. dazu W . F . LEEMANS, Foreign Trade in the O l d Babylonian Period as Revealed by Texts from Southern Mesopotamia, Leiden 1960. 20
) Sie wird in dem in Anm. 14 genannten W e r k von P. DELOUGAZ begründet. Ein davon ab-
weichender Rekonstruktionsversuch ist mir nicht bekannt geworden. 21
) Unter anderen tat dies Hammurabi in Eschnunna an der Dijala. In der Einleitung zur
Gesetzesstele berichtet er nur, daß er die Bewohner der Stadt aus großer N o t gerettet habe. Die
'Wolfram von Soden
78
Datenformel seines 38. Jahres spricht hingegen ganz nüchtern von der Zerstörung des Gebietes dieser Stadt durch große Wassermassen (vgl. Reallexikon der Assyriologie II 181). n
) Seit dem König Schulgi ( 2 0 4 6 - 1 9 9 8 ) gab es in Babylonien bis zu ihrer Abschaffung durch
Hammurabi eine kultische Königsvergöttlichung im Zusammenhang mit dem Fruchtbarkeitskult der Heiligen Hochzeit, deren Deutung noch in manchem kontrovers ist. Einige Hymnen für und an Könige sind übersetzt von A. FALKENSTEIN bei F . - W . VON SODEN, Sumerische.· und akkadische Hymnen und Gebete, Zürich 1953, S. 85 ff. 23
) Vgl. A . PARROT, Mission Archeologique de Mari, Vol. I I : Le Palais, 3 Bände, Paris 1958/9.
24
) Es gibt noch keine Gesamtdarstellung der altbabylonischen Zeit. Die Haupttatsachen kann
man den Geschichtswerken entnehmen (vgl. dazu Anm. 1). Band II 1 der Cambridge Ancient History bietet auf S. 742 ff. zu dem Kapitel V von C . H . J . GADD eine umfassende Bibliographie von Einzeluntersuchungen. " ) Bearbeitet von G . DOSSIN, Archives royales de Mari, Vol. I, Paris 1950, N r . 38. 26
) Sie hießen akkadisch muskenum.
Dieses Wort, ursprünglich ein Partizip mit der Wortbe-
deutung „der sich Prosternierende", wurde nach der altbabylonischen Zeit zu einem W o r t für „ A r m e r " . In diesem Sinne wurde es in die anderen semitischen Sprachen übernommen (vgl. ζ. B . hebr. misken und arab. miskm) sowie aus dem Arabischen in die romanischen Sprachen (vgl. ital. meschino und franz. mesquin „armselig"). Es ist also heute noch im Gebrauch. 27
) Bearbeitet von O . GURNEY, Anatolian Studies 6, 1956, S. 145 ff.
28
) Vgl. A . WALTHER, Das altbabylonische Gerichtswesen, Leipzig 1917, Neudruck 1968.
29
) Vgl. für die Ausgrabungsergebnisse W . ANDRAE, Das wiedererstandene Assur, Leipzig
1938. Dazu kommen umfassende Behandlungen einzelner Baukomplexe in der in Anm. 35 genannten Reihe. Die Geschichte der Stadt darzustellen unter Berücksichtigung der vielen Hunderte von Urkunden, Briefen und literarischen Texten, die dort gefunden wurden, wurde noch nicht unternommen. Das Buch von W. ANDRAE wurde inzwischen in einer durchgesehenen und erweiterten 2. Auflage von B. HROUDA neu herausgegeben (München 1977). 30
) Was wir über die Stadt wissen, verdanken wir vor allem dem altbabylonischen Briefarchiv
von Mari. Im gleichen Gebiet lag die Hauptstadt Waschukanni des nach 1500 gegründeten und von arischen Dynasten beherrschten churritischen Mitanni-Reiches, deren Uberreste ebenfalls noch nicht aufgefunden wurden. Es erscheint nicht undenkbar, daß die Mitanni-Könige die Hauptstadt Schamschi-Adad's I. übernommen und umbenannt haben. ")
Die
Ruinen
werden
nach
dem
Stadtgott
Ninurta
heute
Nimrud
genannt.
Vgl.
Μ . E. L. MALLOWAN, Nimrud and its Remains, London 1966. 32
) Es gibt nur vorläufige Veröffentlichungen der Grabungsergebnisse (vgl. W . ANDRAE, Das
wiedererstandene Assur, 121 ff.). Die Inschriften, die sich für die Gründung der Stadt nur auf den Befehl des Gottes Assur berufen, bearbeitete E . WEIDNER, Die Inschriften TukutltiNinurta's I. und seiner Nachfolger, Graz 1959, N r . 16 f. 33
) Die französischen Ausgrabungen dort 1 8 4 3 - 4 7 wurden fortgeführt und nachgeprüft durch
amerikanische Arbeiten 1 9 2 8 - 3 5 . Vgl. G . LOUD and C h . - B . ALTMAN, Khorsabad I. II, Chicago 1936/1938. Von den Inschriften Sargons unterrichten die Cylinderinschriften und die Stierinschrift, die seit langem nicht mehr bearbeitet wurden, besonders ausführlich über die Vorgeschichte der Stadtgründung, die durch die Ausgrabung bestätigten Maße und die Bauten.
Tempelstadt
und
Metropolis
79
Der Gesamtumfang der Stadtmauer von 16280 Ellen habe der „Nennung meines Namens" entsprochen, d. h. Sargon war 16280 Tage alt, als die Maße endgültig festgelegt wurden. M ) Wegen der ungünstigen Umstände wurde an den Ruinen von Ninive in den letzten 140 Jahren immer wieder einmal einige Jahre lang gearbeitet, ohne daß ein Gesamtplan der Stadt oder der beiden Paläste erstellt werden konnte. Vgl. R. C. THOMPSON and HUTCHINSON, Α Century of Explorations at Nineveh, London 1929. Uber die Arbeiten 1929-32 wurde in Vol. 18-20/1931-33 der Annals of Archaeology and Anthropology (Liverpool) berichtet. Für die Grabungen der jüngsten Zeit fehlen zusammenfassende Berichte. 35 ) Die Veröffendichung der deutschen Ausgrabungen 1899-1917 in den Wissenschaftlichen Veröffentlichungen der Deutschen Orient-Gesellschaft (Leipzig und Berlin) ist im wesentlichen abgeschlossen. Bekannt ist die vorläufige Zusammenfassung durch den Ausgräber R. KOLDEWEY. Das wiedererstehende Babylon, 4. Aufl. Leipzig 1925. S. auch Anm. 12. Während von den Palästen und mehreren Tempeln noch bedeutende Reste wieder aufgefunden wurden, die die Rekonstruktion der Grundrisse ermöglichten, sind wir für den Turm weithin auf alte Beschreibungen angewiesen, deren Ausdeutung teilweise umstritten ist (vgl. zuletzt meinen Aufsatz „Etemenanki vor Asarhaddon nach der Erzählung vom Turmbau zu Babel und dem Erra-Mythus", Ugarit-Forschungen 3, 1971, 253 ff.). 3 ') Einen Anteil von 7 /l 80 nennt die Urkunde Vorderasiatische Schriftdenkmäler XV, Nr. 10 in Z. 2.
Die Stadt der griechisch-römischen Antike THOMAS PEKÄRY
Es ist ein verwegenes Unterfangen, auf wenigen Seiten von der antiken Stadt sprechen zu wollen. Denn die antike Geschichte ist, sieht man von den wenigen Ausnahmen - insbesondere den Anfängen und den Randgebieten - ab, weitgehend eine Geschichte der Städte, und die antike Kultur ist fast ausschließlich eine städtische Kultur. Man könnte dem freilich entgegenhalten, daß sich der Schwerpunkt der Wirtschaft oder mindestens der Produktion außerhalb der Stadt befand: der weitaus größte Teil der arbeitenden Bevölkerung ist in dieser Epoche, in der Industrie, Handel und Dienstleistung noch eine unbedeutende Rolle spielen, in der Landwirtschaft tätig. Doch der Widerspruch ist nur scheinbar, und zwar nicht nur deshalb, weil auch die landwirtschaftlichen Produkte hauptsächlich in der Polis umgeschlagen werden und somit der Markt, also die Stadt, Produktion und Preisgestaltung weitgehend - wenn auch nicht in dem Maße, wie heute - bestimmen, sondern weil fast das ganze Land in den meisten Gebieten unmittelbar zu einzelnen Städten gehört. (Ausnahmen gibt es freilich, wie die Chora in Ägypten, große Teile des mazedonischen Staates, die riesigen Tempelgüter in Kleinasien.) Politische - d . h . ursprünglich , städtische' aus Polis = Stadt - und wirtschaftliche Entscheidungen werden von den versammelten Bürgern, Magistraten oder dem Herrscher in der Stadt gefällt. Dabei geht es so weit, daß bei Volksabstimmungen etwa in Athen oder in Rom nur diejenigen Bürger ihr Stimmrecht ausüben können, die zur Zeit der Abstimmung in der Stadt sind, und das noch in der späten römischen Republik, als ein sehr großer Teil der Stimmberechtigten tageoder wochenlange Reisen hätte auf sich nehmen müssen, um an einer Abstimmung teilnehmen zu können. Ebenso bezeichnend ist, daß auf den meisten griechischen städtischen Territorien - d . h . auf dem größten Teil des
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Thomas Pekdry
griechischen Bodens - nur die Vollbürger Eigentums - und Besitzrechte haben. Dies hat u. a. zur Folge, daß die oft sehr große Zahl von Ausländern, wie besonders die Metöken in Athen, ähnlich den Juden des europäischen Mittelalters und der frühen Neuzeit, in Handel, Handwerk und in Geldgeschäften eine dominante Rolle spielen können, obwohl für sie freilich Hypothekendarlehen aus den erwähnten Gründen nicht in Frage kommen. Einige zufällig auf uns gekommene Volksbeschlüsse schwer verschuldeter hellenistischer Städte, die auf auswärtige Darlehen angewiesen waren, zeigen uns, daß man nur in höchster Not von dem Grundprinzip abgewichen ist: Eigentumsrecht innerhalb des städtischen Gebietes, d. h. also des Staates, nur für eigene Bürger. Damit haben wir bereits die ersten und wohl wesentlichsten Charakteristika der antiken Stadt angedeutet. Sie ist eine politische Organisation grundsätzlich gleichberechtigter Bürger, die größtenteils Landbesitzer sind - oder in gewissen Fällen wie in Sparta sogar sein müssen — und ihre politischen Rechte nur in der Stadt selber ausüben können. Nur sie oder aber ihre Ganzheit, also die Gemeinde selbst, haben Eigentumsrechte am Boden und dadurch natürlich auch an den Bauten, die auf diesem Boden stehen. Die letzten und teilweise schon in neue Richtungen weisenden Folgerungen werden aus dieser Auffassung in der römischen Kaiserzeit gezogen: der Jurist Gaius schreibt, daß der Boden der Provinzen durch den Akt der Eroberung Eigentum des römischen Volkes bzw. des Kaisers (!) geworden sei; die einheimische Bevölkerung besitze nur Besitzes- oder Nutzungsrechte. Daraus folgt nach römischer Auffassung auch, daß der Provinziale nach seinem Boden, vielfach auch für seine Person, Steuern entrichten muß; sowohl der griechische als auch der römische Bürger ist von solchen Abgaben grundsätzlich frei. Gegen die oben gegebene vorläufige Definition der antiken Stadt könnte man jedoch einige Einwände erheben. Erstens treffe die angedeutete Gleichsetzung von Stadt und Staat z . B . im Falle der hellenistischen Flächenstaaten kaum zu, noch weniger im römischen Imperium besonders der Spätantike; denn in diesen Fällen werden nicht nur große ländliche Gebiete, sondern auch eine ansehnliche Zahl von Städten von einer zentralen übergeordneten Stelle aus regiert und verwaltet; zweitens seien die politischen Rechte der Bürger in Städten, die von Tyrannen, Königen, oder nichtgewählten Körperschaften (Gerusien, Senat) beherrscht werden, stark beschnitten oder sogar aufgehoben. Sicherlich relativieren diese Einwände
Stadt der griechisch-römischen Antike
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die obige Definition, heben sie jedoch nicht auf. So verlieren in den hellenistischen Flächenstaaten die Griechenstädte zwar ihre frühere Macht und außenpolitische Selbständigkeit; diese war jedoch auch in früheren Zeiten nicht unbegrenzt, dafür sorgte schon die machtpolitische Konstellation (Persien, delisch-attischer Seebund, Sparta usw.). Das Verhältnis hellenistischer Herrscher - Griechenstadt ist im übrigen äußerst umstritten und wird mangels entsprechender Quellen wohl nie ganz befriedigend geklärt werden können. Tausende von Steininschriften beweisen, daß weiterhin vom Volk gewählte Räte und Magistraten zusammen mit der Volksversammlung Beschlüsse fassen. Wieweit freilich Wahlen und Beschlüsse königlichem Einfluß oder sogar Druck unterliegen, werden wir nie genau erfahren. Nur in ganz wenigen Fällen wissen wir genau, daß eine Stadt steuerfrei war oder daß sie dem König Steuern entrichten mußte; der letztere Fall ist freilich in den Augen des antiken Bürgers eine grundsätzliche Beschneidung der Freiheit. Meistens gibt sich der König mit f r e i willigen' Geschenken seitens der Stadt zufrieden, es sind meist Goldkränze von beträchtlichem Gewicht; damit ist wenigstens der Anschein der Freiheit gewahrt, wie durch die Wahlen, die eigene Gesetzgebung und Gerichtsbarkeit. Denn der König ist ja auch auf das Wohlwollen und die Wirtschaftsmacht dieser Städte in mehr als einer Hinsicht angewiesen. Erwähnen wir mindestens zwei davon. Einmal den machtpolitischen Aspekt: die meisten Griechenstädte besitzen eine eigene Bürgerwehr. Sie sind dazu noch mit Stadtmauern umgeben, die in der hellenistischen Zeit vielfach noch besonders ausgebaut werden. Noch wichtiger ist wahrscheinlich der wirtschaftliche Aspekt. Dafür ein Beispiel: Viele Griechenstädte entwickeln sich teils bereits seit dem 6. oder 5. Jahrhundert v. Chr. dahin, daß sie sich selber aus dem eigenen Territorium nicht mehr ernähren können. Deshalb sind sie auf Getreide- und übrige Lebensmittelimporte angewiesen. Die Ptolemäer in Ägypten besitzen das notwendige überschüssige Getreide; was sie jedoch nicht haben und dringend brauchen, ist Geld (für Königshof, Söldnerheer, Flotte, Beamtenstab), Edelmetalle und Schiffbaumaterial (die es in Ägypten nicht gibt), ferner gut ausgebildete griechische Techniker und Facharbeiter. In ihrem Interesse liegt es, daß dieser Austausch friedlich verläuft und besonders, daß die Griechen ihr Getreide nicht in Südrußland oder Sizilien, den anderen großen Getreideproduzenten, kaufen. Daß sie freilich Griechenstädte, die voll unter ihrem Einfluß standen, zum Getreidekauf auch zwingen konnten, wissen wir aus einem zufällig auf uns
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Thomas Pekäry
gekommenen Text; bequemer und auch billiger (kein Truppeneinsatz!) war es freilich, wenn möglichst viele Griechenstädte freiwillig in Ägypten kauften. Wir haben hier keinen Raum, die Frage länger zu behandeln. So viel geht aus den zerstreuten und zufällig auf uns gekommenen Dokumenten jedoch hervor, daß die Griechenstädte auch unter hellenistischer Oberherrschaft mehr oder weniger unabhängige politische Einheiten geblieben sind, in denen die Eigentumsrechte der Bürger, die Wahlen, die Gesetzgebung, Rechtsprechung und Verwaltung weitgehend unangetastet blieben, die wirtschaftliche Autarkie zwar eingeschränkt, aber nicht aufgehoben wurde. Nur der politische Spielraum wurde stark eingeengt, noch mehr freilich unter römischer Herrschaft. Selbst nach der römischen Eroberung blieben nämlich jene Städte des griechischen Mittelmeergebietes, die den Römern keinen Widerstand geleistet oder sogar noch vor dem Eingreifen mit Rom ein Bündnis geschlossen hatten, mehr oder weniger frei; civitates foederatae, liberae, und in einigen Fällen immunes, was besonders wichtig war, denn dieses letzte Wörtchen bedeutete Steuerfreiheit (erst vor kurzem ist es A . H . M . Jones gelungen zu zeigen, daß die ,freien' Städte nicht unbedingt auch steuerfrei gewesen sein müssen). Obwohl zur Zeit der römischen Bürgerkriege des 1. Jahrhunderts v.Chr. zu ungeheuren Abgaben und Kontributionen gezwungen und deshalb oft schwer verschuldet, erholten sich die Griechenstädte besonders im 2. Jahrhundert n . C h r . noch einmal und kamen zum Teil zu einem einmaligen glänzenden Wohlstand, wie es die Ausgrabungen etwa in Athen, Ephesos, Milet, Pergamon und anderswo deutlich zeigen. Prachtvolle Tempel, öffentliche Bauten, Bäder, Wasserleitungen werden gebaut, aber nicht zuletzt auch Tempel für die vergöttlichten römischen Kaiser; tausende von Statuen säumen Straßen und Plätze, darunter Hunderte von Kaiserstatuen; berühmte Redner werden feierlich empfangen, angehört und mit Statuen geehrt; ihre Festreden gelten oft der Huldigung des Kaisers; mit großem Pomp werden Feste begangen, freilich ganz besonders die zu Ehren der Kaiser. Einige hundert Griechenstädte schlagen bis ins späte 3. Jahrhundert n . C h r . eigene Münzen, jedoch nur Scheidemünzen, die kaum über das städtische Territorium hinaus gelangen und mit der römischen Reichsprägung nicht konkurrieren können. Diese Städte wählen noch bis ins 3. Jahrhundert n . C h r . Magistrate, fassen Beschlüsse (,,Der Rat und das Volk haben beschlossen", beginnen die Steininschriften), jedoch haben diese Beschlüsse keine politische Relevanz
Stadt der griechisch-römischen Antike
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mehr; die eigene Gerichtsbarkeit wird von der des römischen Statthalters allmählich verdrängt. Die Freiheit verkümmert, weil der übermächtige römische Staat den Freiraum immer mehr einengt; am Ende steht der Streit der Städte um leere Ehrentitel und die Unfähigkeit, während und nach dem wirtschaftlichen Verfall des 3. Jahrhunderts n. Chr. noch Kandidaten für die kostspieligen städtischen Ehrenämter zu finden. Und trotzdem hat die Stadt auch in dieser Epoche nicht ausgespielt. Ihre politische Rolle ist zwar fast auf den Nullpunkt gesunken, aber die Verwaltung des römischen Reiches ist ohne sie nicht möglich. Um das genau zu verstehen, müssen wir zurückgreifen in die Zeit, als Rom seine westlichen Provinzen erobert hat. In Gallien, Britannien, in großen Teilen der iberischen Halbinsel gab es zur Zeit der römischen Eroberung keine Städte. Zu den ersten Sorgen der Römer gehörte es, solche zu gründen. Zunächst handelte es sich wohl um militärische Überlegungen: neueroberte Gebiete sollten durch befestigte Siedlungen wehrfähiger römischer Bürger gesichert werden. Dabei gelangen Römer auf Kosten der Besiegten zu Bodeneigentum. Bewußt oder unbewußt kommt jedoch allmählich ein dritter Faktor zum Tragen. Die römische Verwaltung als Teil der Verfassung ist ursprünglich für einen Stadtstaat konzipiert. Rom wird jedoch durch die ständigen Eroberungen immer neuer Gebiete zu einem riesigen Flächenstaat; dieser Entwicklung paßt sich aber die Verfassung teils nur sehr zögernd, teils gar nicht an. Dies ist wohl mit einer der Gründe dafür, daß die Republik scheitert und der Monarchie weichen muß. Die Verfassung sieht nun ursprünglich für die Provinzen - bezeichnenderweise bedeutet das Wort zunächst nichts weiter als den Amtsbereich eines Magistraten - die gewesenen Konsuln und Prätoren als Statthalter vor, die jeweils nur ein Jahr lang das Gebiet mit Hilfe einiger Freunde und besonders jüngerer Senatoren verwalten. Ein eigentlicher Beamtenstab ist nicht vorgesehen. In den von den Römern eroberten griechischen Gebieten, von Sizilien bis nach Kleinasien und Syrien, besteht der größte Teil des Bodens aus städtischen Territorien, und so können dort nach der Unterwerfung die vorhandenen städtischen Beamten und Behörden weiterhin die Verwaltungsaufgaben - sprich: besonders die Erhebung und Eintreibung der Steuern - durchführen. Anders im Westen. Weil es dort keine eigentlichen Städte gibt, müssen sie gegründet (z.B. durch Veteranenansiedlung) oder ihre Entstehung (z.B. durch die Erweiterung einheimischer Dörfer und Siedlungen) gefördert werden. Diesen Städten wird ein großes Territorium zugeordnet, bis dann
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Thomas Pekary
der größte Teil der Provinz von den Städten verwaltet werden kann. Ausgenommen bleiben hauptsächlich die riesigen kaiserlichen Domänen, die eigens eingesetzten Prokuratoren unterstellt werden. Die Gründung neuer Städte illustriert sehr schön der auf Marmorplatten aufgezeichnete und in großen Teilen auf uns gekommene Kataster von Orange in Frankreich, den man auf eine heutige Karte projizieren kann. Ein großes Gebiet wird schachbrettartig in gleich große Lose aufgeteilt, von denen die fruchtbarsten die römischen Kolonisten erhalten. Die verjagten Urbewohner müssen sich mit den am wenigsten ergiebigen Grundstücken zufriedenstellen. Zur Stadt gehört also immer ein Territorium, und beide bilden zusammen eine wirtschaftliche Einheit. Die Antike kennt weder Industriestädte - jegliche Form von eigentlicher Industrie fehlt, und selbst Städte, in denen ein Handwerkszweig wie Textil oder Keramik zu einer gewissen Blüte kommt und für den Export arbeitet, bleiben im wesentlichen doch Agrarstädte noch reine Verwaltungszentren, die von Beamten geprägt werden. Auch von eigentlichen Handelsstädten kann man nur mit Einschränkungen reden; in der Fachliteratur fehlt hier oft die nötige Vorsicht. Sicherlich gibt es Orte, die wenigstens in gewissen Perioden vorwiegend vom Handel leben, wie die phönikischen Küstenstädte, wie Korinth in archaischer und klassischer Zeit, wie Delos und Rhodos im Hellenismus, wie Karthago. Aber Rhodos und Karthago haben ein landwirtschaftlich sehr ertragreiches Hinterland, Delos lebt nicht zuletzt aus dem panhellenischen ApolloHeiligtum, das auch eine Bank unterhält. Nur allmählich und dann auch nur zeitlich begrenzt ist die Stadt auf der kleinen und unfruchtbaren Insel ein Handelszentrum geworden. Zwar gründet noch im späten 4. Jahrhundert n.Chr. Kaiser Valentinian am Donauufer in Pannonien einen ,burgus, cui nomen commercium qua causa et factus est' (Corpus Inscr Latlll 3653), aber dies ist keine Stadt, sondern eine Festung, die den Handel zwischen der römischen Provinzbevölkerung und den gefährlichen Völkern außerhalb der Reichsgrenze in dieser wirren kriegerischen Zeit unter Militäraufsicht stellt. Wir besitzen auch die ausführliche Gründungsinschrift eines Marktfleckens in Thrakien aus dem Jahre 202 n. Chr. (InscrGraecBulgariae rep III, 1689); doch auch hier entsteht keine Stadt. Das zunächst etwas überraschende Fehlen eigentlicher Handelsstädte hängt m i t der Struktur der antiken Wirtschaft zusammen. Erstens sind die Land-
transportkosten außerordentlich hoch, wie nachgewiesen; es konnte auch
Stadt der griechisch-römischen Antike
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nicht anders sein, da das in der ganzen Antike dominierende Transportmittel der Ochsenkarren gewesen ist. Zum zweiten ist die Konsumentenschicht äußerst klein: während der Blütezeit Athens lebt der größte Teil der Bevölkerung nachweislich äußerst bescheiden, und in der Millionenstadt Rom leben wohl Hunderttausende arbeitslos oder als Gelegenheitsarbeiter. Zum dritten fehlen die industriell hergestellten Waren für den Massenkonsum. Die wichtigsten Handelswaren sind Lebensmittel, in erster Linie Getreide, dann Olivenöl und Wein. Die Hauptabnehmer sind an erster Stelle jene Städte, die ihre überproportional angewachsene Bevölkerung aus dem eigenen Hinterland nicht mehr ernähren können, wie Athen und Rom, dazu einige weitere Städte wie Ephesos, Antiochien in Syrien usw. Aus einigen, allerdings nicht völlig eindeutigen Angaben des 4. Jahrhunderts v. Chr. kann man berechnen, daß Athen zwei Drittel seines Bedarfes an Getreide importieren mußte. Die angegebene Menge entspricht 100-200 Schiffsladungen damaliger Tonnage (zwischen 100 und 500 Tonnen), also kein hoher Jahresumsatz. Erst recht nicht, wenn man bedenkt, daß die Stadt Ravenna, noch völlig unbedeutend in der Römerzeit, in ihrem Hafen 250 Schiffen Anlegeplätze anbieten konnte (Cassius Dio 55,33). Ein größerer Abnehmer als Athen war nur das kaiserzeitliche Rom. Die meisten antiken Städte waren jedoch auf keine Lebensmitteleinfuhr angewiesen, es sei denn zu Zeiten von Krieg oder Naturkatastrophen wie Dürre und Überschwemmung. Die Stadt und ihr Territorium (Chora auf griechisch) bildeten eine ziemlich autarke wirtschaftliche Einheit, die nur auf den Import von gewissen Rohstoffen in meistens bescheidenen Mengen (Marmor, Schiffbauholz, Metall für Waffen und Werkzeuge), Luxusprodukten für einen exklusiven kleinen Kreis von Konsumenten (besondere Sorten von Textilien, Edelsteine, orientalische Gewürze) und Sklaven angewiesen war. Selbstverständlich war jede Stadt dabei ein Marktflecken für die auf ihrem Territorium produzierten Agrarerzeugnisse und für die Waren der Handwerker, die in der hellenistischen und besonders in der Römerzeit Berufsvereine bildeten, wie auch in gewissen Fällen die Kaufleute. Im Gegensatz zu den großen Flächenstaaten (Hellenismus, Spätantike) mit teilweise dirigistischer Wirtschaft und mit zahlreichen Monopolen ist die antike Stadt in ökonomischen Fragen meist äußerst liberal. Die athenische Volksversammlung wird zwar in regelmäßigen Abständen mit Getreideproblemen beschäftigt, aber nur, um die Versorgung der Stadt sicherzustellen. In Athen ist auch die Ausfuhr von Getreide verboten. Händler und
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Thomas Pekäry
Schiffseigentümer sind jedoch fast ausschließlich Metöken und Ausländer. Freilich müssen sich die Behörden von Rom seit dem 2. Jahrhundert v. Chr. um die Lebensmittelversorgung der Hauptstadt kümmern, aber eine staatliche Handelsflotte entsteht hier ebenso wenig wie in Athen. Die städtischen Behörden beschränken sich meistens auf die Kontrolle von Maßen und Gewichten auf dem Markt, auf die Erhebung von gewissen Zöllen oder Abgaben, in seltenen Fällen gibt es Beschränkungen von Ein- oder Ausfuhr oder restriktive Bestimmungen über Geldumtausch oder Währung. Markttage werden häufiger geregelt, besonders in der Römerzeit. Der Ort des Marktes ist meistens der Hauptplatz (agora, forum), wie vielerorts noch heute; seit dem Hellenismus werden, besonders in bedeutenderen Städten, gedeckte Markthallen oft beträchtlicher Größe erbaut, jedoch nicht von der Stadt, sondern fast immer von reichen Bürgern als Geschenk an ihre Mitbürger. Die größte und heute noch erhaltene mehrstöckige Markthalle mit den vielen Läden ist der ,mercato di Traiano' in Rom, wohl auch kein Staatsbau, sondern vom Kaiser als dem ,ersten Bürger' für seine Hauptstadt erstellt. Die Markthallen führen uns zum Problem der öffentlichen Bauten und der Bauherren. Im Gegensatz zu heute erwartet die antike Stadtbevölkerung, daß ihre reichsten und wohlhabendsten Mitbürger diese Aufgaben auf eigene Kosten übernehmen. Zehntausende in Stein oder Marmor gehauene Stiftungs- und Bauinschriften zeugen dafür, daß die Reichen dieser Aufgabe nachgekommen sind, teils aus Tradition, teils wohl unter dem Druck der öffentlichen Meinung. Diese griechische Sitte wurde auch von den Römern übernommen, aber offenbar etwas reglementiert: erst vor kurzem konnte der englische Forscher R. Duncan-Jones nachweisen, daß in den einzelnen Städten, mindestens in Italien und in den nordafrikanischen Provinzen, aber wohl auch anderswo, genau festgelegt war, welche Mindestsumme (summa honoraria) der gewählte Jahresbeamte für öffentliche Zwecke bereitstellen mußte. Die Höhe der jeweiligen Summe war offenbar von der Größe und Bedeutung der Stadt abhängig. Sehr reiche Bürger, wie ζ. B. der berühmte Herodes Atticus im 2. Jahrhundert n.Chr., waren dann zu besonderer Großzügigkeit verpflichtet: dieser eine Mann ließ in Athen, Korinth, Olympia, Delphi, Alexandreia Troas und anderswo Theater, Tempel, Wasserleitungen und vieles andere bauen. Auch römische Kaiser traten in zahlreichen Provinzstädten als Bauherren öffentlicher Gebäude auf. So waren in den Städten die Ratshäuser und Markthallen, die Theater
Stadt der griechisch-römischen Antike
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und Tempel, Wasserleitungen und öffentlichen Bäder, Säulenhallen und Denkmäler, oft sogar die Stadtmauer von einzelnen Bürgern geschenkte Bauten, die von deren Reichtum zeugen und an deren Freigiebigkeit erinnern sollten. In einzelnen Fällen entsteht ein Bau aus einer öffentlichen Kollekte, wie Inschriftentafeln mit den Namen der Donatoren beweisen. Nur in seltenen Fällen ist die Stadt selbst Bauherrin, wobei dann die gewöhnlichen oder außergewöhnlichen Einkünfte oder Anleihen verwendet werden. Interessant ist auch zu erwähnen, daß uns kein Fall bekannt ist, in der die Stadt oder ihre reichen Bürger billige Wohnungen für die ärmeren Bürger erstellt hätten. Während der Krise des 3. Jahrhunderts n.Chr. verstummen in den meisten Städten des römischen Imperiums die Bau- und Stiftungsinschriften. Es ist bekannt, daß der Staat, der jetzt in die Angelegenheiten der Städte immer mehr und mehr eingriff oder, anders ausgedrückt, zum Eingriff gezwungen wurde, seinerseits zu Zwangsmaßnahmen greifen mußte, z . B . deshalb, weil immer weniger Bürger bereit waren, die Pflichten eines städtischen Ratsherrn zu erfüllen. Dies ist auch nicht verwunderlich, da die Ratsherren dem Staate gegenüber für die städtischen Steuern verantwortlich gemacht wurden und die in dieser politischen und wirtschaftlichen Krisenzeit nicht eintreibbaren Steuern des städtischen Territoriums aus eigener Tasche bezahlen mußten. O b sie überhaupt noch zur Finanzierung öffentlicher Bauten gezwungen wurden oder werden konnten, wissen wir nicht; die Ausgrabungen zeigen jedenfalls, daß etwa seit dem 2. Drittel des 3. Jahrhunderts n.Chr. in den wenigsten Ortschaften noch gebaut wurde, sieht man von der Neuerstellung oder Reparatur der plötzlich wieder so wichtig gewordenen Stadtmauern ab. Und wenn hie und da ein wohlhabender Bürger noch Geld für öffentliche Bauten oder deren Wiederherstellung spendete, so fand er es anscheinend nicht mehr nötig, zusätzlich für die kostspieligen Bauinschriften aufzukommen. Doch das ist die Schlußphase einer langen Entwicklung. In der Blütezeit der klassischen Antike ist es der höchste Wunsch des wohlhabenden Bürgers, in eines der oft sehr kostspieligen Ehrenämter gewählt zu werden und die Würde eines Ratsherren zu bekleiden, wenn die Verfassung es so vorsieht, lebenslänglich. Das System von Rat und Ehrenämtern (Jahresämtern) ist allerdings auch nicht von Anfang an vorhanden. Zunächst herrschten, soweit uns die mageren Quellen für die frühesten Epochen überhaupt Feststellungen erlauben, in den meisten griechischen und etruskischen Städten
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Thomas Pekäry
Könige oder Tyrannen, teils mit Unterstützung des Lokaladels, teils jedoch offenbar auch gegen ihn. Im späten 6. Jahrhundert v. Chr. kommt es vielerorts dazu, daß der Adel oder eine breitere bürgerliche Schicht sich ihrer Stärke bewußt wird und die Tyrannen stürzt, so in Athen, in zahlreichen Griechenstädten, aber auch in den etruskischen Städten und in Rom. Solche Umwälzungen und die dazugehörenden Kämpfe in den kleinasiatischen Griechenstädten sind wohl für den Ausbruch der Perserkriege mitverantwortlich. Die revolutionäre Bewegung kommt nicht überall zum Erfolg, es gibt Städte, die weiterhin, teils noch während Jahrhunderte, von Tyrannen regiert werden. In den von Alleinherrschern befreiten Städten entwickelten sich verschiedene Regierungsformen. Oft konnte der Adel die Macht übernehmen und stellte die höchsten Beamten und den Rat der Ältesten. Vielfach kam es zwischen Adel und Bürger zu langwierigen Kämpfen wie etwa in Rom; anderswo entstanden mehr oder minder demokratische Staatsformen. Die radikalste Demokratie - gleichzeitig eine der am besten bekannten antiken städtischen Verfassungen - entstand schrittweise im Laufe des 5. Jahrhunderts v.Chr. in Athen. Es lohnt sich, ihre Einrichtungen in einigen Worten zu skizzieren, da es sich ja gleichzeitig um eine der höchsten kulturellen Blüteperioden der europäischen Geschichte handelt. Die voll entwickelte Form dieser Demokratie besteht aus der fast uneingeschränkten Volkssouveränität, wovon freilich die Frauen, Fremden (Metöken) und Sklaven ausgeschlossen sind. Die wichtigsten Entscheidungen trifft die Volksversammlung, der die volljährigen Bürger angehören. Sie tagt zehn- bis vierzigmal im Jahr; für gewisse Abstimmungen ist eine Mindestteilnehmerzahl (6000) vorgeschrieben. Der Rat der 500 präsentiert die Abstimmungsvorlagen, die, falls Änderungsvorschläge gemacht werden, an den Rat zurückverwiesen werden. Die Abstimmung erfolgt durch Handerhebung oder schriftlich. In der Diskussion konnte sich jeder Bürger zu Wort melden; besonders begabte und erfolgreiche Redner konnten die Abstimmungen und damit die ganze Politik Athens oft während längerer Zeit entscheidend beeinflussen (Perikles). Aber auch sie konnten immer wieder niedergestimmt oder sogar bestraft werden, so z . B . , wenn jemand nachwies, daß die von ihnen vorgeschlagenen Gesetze mit den „Gesetzen der Väter" in Widerspruch standen. Aber auch dem Kritiker drohte eine Buße, wenn nicht mindestens ein Teil der Volksversammlung die Einwände für diskussionswürdig ansah.
Stadt der griechisch-römischen
Antike
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Der Rat der 500 besteht aus je 50 Personen, die aus den 10 Tribus ausgelost werden. Diese 50 Bürger (Prytanen) führen während je 36-38 Tagen die Ratsgeschäfte, jeden Tag wird einer unter ihnen durch das Los zum Epistates, wir könnten fast sagen, zum Staatspräsidenten bestimmt. Die Aufgaben des Rates bestehen in der Vorbereitung der Volksversammlung, der Kontrolle der Beamten, des Heeres, der Flotte, der Listen der Bürger; er kümmert sich um die Tempel und die öffentlichen Feste, führt die Volksbeschlüsse durch und übt sogar kleinere richterliche Funktionen aus. Größere Vergehen gegen den Staat werden von der Volksversammlung beurteilt und geahndet. Jeder Bürger darf in seinem Leben nur zweimal Mitglied des Rates (und damit eventuell Staatspräsident für einen Tag) werden. Die Beamten werden teils gewählt, teils ausgelost. Ihre Amtszeit dauert in den meisten Fällen nur ein Jahr wie die der Ratsmitglieder; allerdings können sie wiedergewählt werden (Perikles ist jahrelang Stratege gewesen). Die Wahl durch die Volksversammlung ist deshalb notwendig, weil für gewisse Ämter besondere Fähigkeiten (Kriegsführung!), ferner ein Vermögen vorhanden sein müssen. Diese Amtsträger übernehmen eine finanzielle Haft für ihre Tätigkeit, andererseits werden von ihnen mit der Zeit immer mehr Aufwendungen für die Stadt erwartet wie ζ. B. die Ausstattung von Kriegsschiffen oder die Bezahlung von öffentlichen Spielen (Aufführungen von Tragödien und Komödien). Wir haben schon gesehen, daß diese Verpflichtungen der reichen Bürger gegenüber ihrer Stadt fast in der ganzen Antike vorhanden waren. Die Tätigkeit der Beamten wird vom Rat und von der Volksversammlung laufend überprüft, was oft zur Absetzung oder zu gelegentlich sehr hohen Bußen führt. Nach Ablauf des Amtsjahres muß der Beamte vor der Volksversammlung Rechenschaft ablegen. Zu den Einrichtungen der athenischen Demokratie gehören schließlich die Volksgerichte, deren Mitglieder ebenfalls durch das Los bestimmt, dafür aber an Gerichtstagen auch entlohnt werden, ebenso wie die Mitglieder des Rates und im 4. Jahrhundert sogar die Teilnehmer an der Volksversammlung. Diese sogenannte radikale Demokratie wurde nur von wenigen Griechenstädten nachgeahmt. In den Griechenstädten der spätklassischen und hellenistischen Zeit gibt es zwar die von der Volksversammlung für ein Jahr - in einigen Städten für sechs oder sogar vier Monate - gewählten höchsten Beamten, doch sie gehören immer mehr ausschließlich den wohlhabenden Schichten an. In Krisenzeiten kann es sogar vorkommen, daß niemand
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mehr bereit ist, die mit den höchsten Ämtern verbundenen finanziellen Risiken auf sich zu nehmen und daß Stellen dann unbesetzt bleiben, wie wir es aus Beamtenlisten einiger Städte wissen. Hier sei bemerkt, daß die Namen der eponymen Beamten: Archonten, Stephanephoren, Hegemonen und wie sie alle heißen, auf Steintafeln aufgeschrieben wurden und öffentlich aufgestellt sein mußten, da diese Magistraten dem Jahr ihren Namen gaben und die Listen z . B . für die Datierung von Urkunden notwendig waren. So war es in Rom auch mit den Konsuln, mit deren Namen die Jahre angegeben wurden (ab urbe condita war lediglich eine gelehrte Konstruktion und keine Wendung des täglichen Gebrauchs); interessant ist, daß die Konsullisten erst sehr spät veröffentlicht und erst unter Augustus in Steinplatten gehauen wurden. Die Priester der städtischen Kulte - oft ebenfalls hohe, gelegentlich sogar eponyme Ämter - wurden in einigen Städten ebenfalls gewählt, anderswo mußten sie jeweils Mitglieder einer Familie sein (offenbar wurde in diesen Fällen ein uralter Familienkult von der Gemeinde übernommen); schließlich konnten einige dieser Ämter auch verkauft werden. Wenn in Krisenzeiten und besonders in der Spätantike die Kandidaten für die Ämter oft auch fehlen, ist normalerweise eher ein Andrang zu vermerken und es kommt sogar zu Wahlpropaganda, wie wir es aus Pompeji kennen: auf Wahlplakaten, die auf die Hausmauer gepinselt werden, versprechen die Kandidaten niedrige Lebensmittelpreise oder glänzende öffentliche Spiele. In den Griechenstädten wird der Rat für ein Jahr - es gibt hier einige Ausnahmen - gewählt oder ausgelost. Zur Zeit des römischen Eingriffes kommt es allmählich zu einer bemerkenswerten Änderung, teils freiwillig, teils unter römischem Druck, wie es etwa die Gesetzgebung des Pompeius in Bithynien bezeugt. Nach römischer Auffassung ist die Mitgliedschaft im Rat (Senat) lebenslänglich; die gewählten Beamten kommen nach ihrem Amtsjahr automatisch in den Rat, und sie müssen ein vorgeschriebenes Vermögen besitzen, für den Senat in R o m 1 Million Sesterzen, in den lateinischen Kolonien und Munizipien eine niedrigere Summe, die je nach Größe der Stadt variiert. Dieses System wird von den Griechen allmählich übernommen, so daß zunächst die Auslosung und dann die Wahl lebenslänglicher Ratsmitglieder verschwindet und der Rat zur politisch entscheidenden Körperschaft wird. Die Jahresbeamten werden allerdings weiterhin von der Bürgerversammlung gewählt, bis in der mittleren Kaiserzeit auch
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diese letzte demokratische Einrichtung sowohl in den griechischen als auch in den römischen Städten verschwindet und nur in der Bischofswahl der Christengemeinde weiterlebt. Über weitere Tätigkeiten der Bürgerversammlung sind wir in den meisten Städten eher schlecht unterrichtet. Rat und Volk treten allerdings fast immer gemeinsam auf in den Tausenden von Ehrendekreten für verdiente Bürger oder andere Personen, und zwar sowohl in hellenistischer als auch in römischer Zeit, jedoch nur bei den Griechen. Auf lateinischen Inschriften ist meist nur von Ratsbeschlüssen (decreto decurionum) die Rede. Interessant ist, daß die Wahlen gerade zu einer Zeit aufhören, als durch die Constitutio Antoniniana (212 n.Chr.) fast alle Bewohner des römischen Reiches das Vollbürgerrecht und damit - nach unserer heutigen Auffassung - das aktive Wahlrecht erhalten. In früheren Zeiten war ja ein sehr beträchtlicher Teil der Bewohner einer Stadt aus dem politischen Leben ausgeschlossen, so, wie bereits erwähnt, die Sklaven, die Frauen - in späthellenistischer und römischer Zeit können Frauen allerdings gewisse Ehrenämter bekleiden - und die „Anwohner" (metöken in Athen, anderswo katöken genannt), also Bürger anderer Gemeinden. In der hellenistischen Zeit gibt es jedoch Verträge zwischen Städten, die unter gewissen Umständen den Bürgern gegenseitig das Wahlrecht in der anderen Stadt erteilen. Diese Praxis wird dann von den Römern verboten. Freigelassene Sklaven bekommen in Rom in der ersten Generation das aktive, in der zweiten sogar das passive Wahlrecht, in Griechenland bleiben sie Bürger zweiter Klasse und aus dem Gemeindeleben ausgeschlossen; erst unter römischem Einfluß ändert sich das langsam. Des weiteren leben sowohl in Griechen- als auch in Römerstädten oft noch jahrhundertelang Reste der bei der Gründung einst unterjochten einheimischen Landbevölkerung ohne politische Rechte. Interessant sind schließlich die Dokumente hellenistischer und römischer Zeit, die zeigen, daß in Griechenstädten das Bürgerrecht für Geld gekauft werden konnte. Häufig wurde es auch ehrenhalber verliehen, wie es zahlreiche Beschlüsse von Rat und Volk bezeugen. Aber selbst die Vollbürger einer Stadt hatten nicht alle dieselben Rechte. Wir sahen bereits, daß die Wählbarkeit zu Ämtern und Rat durch das timokratische Prinzip immer mehr eingeschränkt wurde. Aber selbst bei der Ausübung des aktiven Wahlrechts konnte in gewissen Fällen das Vermögen eine Rolle spielen, am krassesten wohl in Rom, wo durch das System der Zenturiatskomitien eine Minderheit von Reichen die große Mehrheit der
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Armen niederstimmen konnte. In Athen wurde beim Umsturz des Jahres 411 v. Chr. ein großer Teil der Bürger seiner politischen Rechte beraubt. In der kleinasiatischen Stadt Tarsos scheint ein gesetzlich festgelegtes Mindestvermögen notwendig gewesen zu sein, um politische Rechte ausüben zu können. Die Einteilung der Bürger in Vermögensklassen ist in einzelnen Städten schon sehr früh erfolgt (in Athen etwa unter Solon); älter ist aber die Einteilung in Phylen bzw. Tribus. Die Zahl der Phylen schwankt bei den Griechen zwischen 2 und 12 oder mehr; in Rom gab es zunächst 3, am Ende der Entwicklung 35 Tribus. Obwohl diese ursprüngliche Einteilung ihre politische und soziale Bedeutung mit der Zeit vollkommen verloren hatte, wurde sie formal nie aufgegeben. Die Phylen tragen oft die Namen mythischer Stadtgründer oder Heroen; in der römischen Kaiserzeit, als sie zu leeren Formen erstarrt sind, werden sie häufig nach Mitgliedern des Herrscherhauses benannt. Als die alten gentilizischen Verbände, Demen und Phylen ihre Bedeutung allmählich einbüßen, entstehen an ihrer Stelle religiöse und Berufsvereine. Die ersten finden sich in Athen bereits im 5. Jahrhundert v. Chr. - eventuell sogar früher - doch erst im Hellenismus und zur Römerzeit kommen sie zu ihrer Blüte. Gelegentlich werden sie zu politischen Faktoren wie die Hetairien in Athen im 5. Jahrhundert, Vereinigungen demokratiefeindlicher Oligarchen, zu denen u. a. Alkibiades gehörte, oder im Rom der Bürgerkriege, als Männer wie Clodius sie bewaffneten und gegen politische Gegner einsetzten. Noch zur Zeit Kaiser Trajans sieht es der Staat mit Unwillen, wenn in Griechenstädten neue Berufsvereinigungen gegründet werden, wie es der Briefwechsel des jüngeren Plinius mit dem Herrscher zeigt. Zu den ältesten griechischen Vereinen hatten ursprünglich nur Vollbürger Zutritt, doch nahmen die Thiasoten und Eranisten immer mehr Fremde, dann sogar Frauen und Sklaven in ihren Reihen auf, also jene Schichten der Bevölkerung, die sonst aus dem politischen Leben ausgeschlossen waren. Formal bleiben sie immer Kultgemeinschaften, doch in Wirklichkeit entwickeln sie sich zu wirtschaftlichen Interessenvereinen oder Begräbnisvereinigungen. In späterer Zeit gibt es zahlreiche agonistische Vereine. Die Zahl der Vereine ist besonders im östlichen Mittelmeergebiet sehr groß, nicht aber ihre Bedeutung, da sie, wie wir es aus zahllosen in Stein gehauenen Namenlisten wissen, selten über 100 Mitglieder umfassen, im Durchschnitt sogar bedeutend weniger. Sie treffen sich an Festtagen, einmal oder öfters
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im Jahr, huldigen einer Gottheit oder später häufig dem Herrscher, sie wählen den Vorstand, fassen Beschlüsse und nehmen an einem Festessen teil. Die meist bescheidenen Einkünfte stammen aus Eintrittsgeldern, freiwilligen Beiträgen, Schenkungen, aus der Verpachtung der vereinseigenen Gebäude und Grundstücke. Die Ausgaben betreffen die gemeinsamen Mahlzeiten, Begräbnisse, Geschenke an Herrscher und Ehrungen von verdienten Mitgliedern durch Inschriften und Statuen. In römischen Städten findet man eher reine Berufsvereine, wie die der Zimmerleute, Schmiede, Textilhersteller, Kaufleute. Sie haben Statuten und stehen unter strenger staatlicher Kontrolle; die Veteranenvereine dürften in den Provinzstädten sogar staatliche Uberwachungsfunktionen ausgeübt haben. In Begräbnisvereine - eine Art Sterbekasse - durften sogar Sklaven aufgenommen werden. Die meisten Vereine spielen eine Rolle beim Kaiserkult: sie bauen Tempel, bringen Opfer dar und ziehen an kaiserlichen Feiertagen hinter ihren Vereinsfahnen durch die Stadt. Einige Vereine wirken als städtische Feuerwehr. Wieweit sie die munizipale Politik, ζ. B. die Wahl der Magistrate und die Beschlüsse über die Finanzpolitik, beeinflußt haben, ist nicht mehr auszumachen. Wie die innere Struktur, so ist auch das äußere Bild der antiken Stadt bunt. Die Skala reicht von einem Wirrwarr zerstreuter runder Lehmhütten mit einem zentralen Versammlungsplatz, wie die Römer der Königszeit und zu Beginn der Republik wohnten, bis zum schachbrettartigen Plan mit gepflasterten, kanalisierten Straßen, Kolonnaden und Marmorpalästen. Das System der parallelen, rechtwinklig sich schneidenden Straßen hieß schon in der Antike das hippodamische System, nach Hippodamos aus Milet, der im 5. Jahrhundert v.Chr. solche Städte geplant haben soll, so Peiraeus, die Hafenstadt von Athen und Thurioi in Süditalien (444/3 v.Chr.). Bei der Anlegung von Legionslagern und Kolonien sind die Römer in ähnlicher Weise vorgegangen. Die Städte waren fast immer von Mauern umgeben. Sehr eindrucksvoll ist die heute größtenteils noch stehende monumentale Aurelianische Mauer in Rom (3. Jahrhundert n.Chr.), oder etwa die ebenfalls recht gut erhaltene und größtenteils in steile Felsenwände eingebaute hellenistische Stadtmauer von Herakleia am Latmos (in der Nähe von Milet). In vielen toskanischen Städten kann man noch heute Teile der etruskischen Stadtbefestigungen bewundern. Die anfangs einfachen Stadttore und Befestigungsanlagen wie Basteien und Wachtürme werden in der Spätantike zu riesigen
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massiven Bauwerken (wie die Porta Nigra in Trier). Tore werden oft auch zu Ehrendenkmälern, wobei sie Nischen und Statuenschmuck erhalten. Zu jeder Stadt gehört ein religiöses und politisches Zentrum, das nach Möglichkeit auf einer Anhöhe liegt. Hier befinden sich die Heiligtümer der Staatsgottheiten, der Königspalast, wenn es einen König gibt, der Versammlungsort des Stadtrates und gegebenenfalls der Amtssitz der Beamten und Priester. In der Nähe liegt meistens auch der Platz für die Volksversammlung, außer in Rom, wo die entscheidende Versammlung, die Zenturiatskomitien, ursprünglich eine militärische Ordnung darstellten und als solche innerhalb der Stadtmauer nicht in Erscheinung treten durften. Deshalb tagt die Volksversammlung, die für Gesetzgebung und Wahl der höchsten Magistrate zuständig ist, außerhalb der Stadt, auf dem Marsfeld, das erst in die spätantike Stadt miteinbezogen wird, als die Volksversammlungen längst nicht mehr zusammengerufen werden. Ebenfalls im Stadtzentrum liegt meist auch der Marktplatz, der auch als allgemeiner Treffpunkt und Aufenthaltsort dient. Ursprünglich ein offener Platz, wird er mit der Zeit meistens mehr oder weniger prächtig ausgebaut mit Kolonnaden, gedeckten Markthallen, vollgestopft mit Ehrenstatuen. Ein weiterer wichtiger Treffpunkt für die Bevölkerung ist das Theater oder Amphitheater, das freilich oft außerhalb der Stadtmauer liegt. Es kann in Marmor ausgebaut und mit Hunderten von Statuen geschmückt sein; nach Auskunft zeitgenössischer Münzbilder standen in den heute kahlen Nischen des römischen Kolosseums Statuen. Ehrenplätze wurden für Priester, Magistrate, den Senat, die Ritterschaft oder den Stadtrat reserviert; in den Logen verstorbener Kaiser in Rom wurden während der Spiele ihre Statuen aufgestellt. Auch auf den Sportplätzen kommt die Bevölkerung zusammen. An den athletischen Kämpfen und Wagenrennen der Griechen nehmen auch Aristokraten und sogar Könige aktiv teil. Für die Sieger werden zahlreiche Statuen errichtet. In Rom dagegen rekrutieren sich die Gladiatoren und Wagenlenker aus den untersten Bevölkerungsschichten. Sie werden genauso wie Schauspieler - als unehrliche Leute angesehen; in der Spätantike werden dann allerdings für Wagenlenker doch Siegerstatuen aufgestellt. Zu den öffentlichen Bauten gehören auch die Badeanlagen, die besonders in der Römerzeit, aber dann auch in den Griechenstädten aufkommen und oft monumentale, das Stadtbild prägende Gebäude sind; Ehrendenkmäler, Tempel für den Kaiserkult, Triumphbögen, Brunnenanlagen, Basiliken, die
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besonders Gerichtsverhandlungen dienen, Rednerbühnen, Kriegsdenkmäler wie Pfeiler und Trophäen, und schließlich zahlreiche Tempel und kleinere Heiligtümer. Sehr wenig wissen wir über die Wohnverhältnisse. In der Kleinstadt Pompeji wohnten die wohlhabenden Weinbergbesitzer in angenehmen Villen mit Gärten, Atrium oder Peristyl, zwischen Statuen und Wandbildern. In anderen Häusern ist das Erdgeschoß für Läden reserviert, der Besitzer wohnt im ersten Stock. Auf wenigen Raum zusammengedrängt und in teilweise mehrere Stockwerke hohen Mietshäusern wohnt der größte Teil der Bevölkerung in der Hafenstadt Ostia, obwohl es auch hier reiche, mit Wandbildern geschmückte Atrium- oder Peristylhäuser gibt. Ein Industrie- und Wohnquartier klassischer und hellenistischer Zeit wurde vor nicht allzulanger Zeit im Zentrum Athens ausgegraben. Die Straßen sind eng, die Wohn- und Arbeitsräume klein und dunkel. Ganz kraß zeigten sich die sozialen Unterschiede der verschiedenen Bevölkerungsgruppen in den Wohnungen der Stadt Rom. Senatoren und Ritter besaßen glänzende Paläste, deren Wert, wie wir besonders aus einigen Angaben aus der Zeit des Cicero wissen, astronomische Höhen erreichen konnte, nicht zuletzt wegen der auch durch Spekulation ständig steigenden Bodenpreise in besonders günstigen Wohngegenden. Diese vornehmen Häuser waren selbstverständlich auch an Wasserleitung und Kanalisation angeschlossen. Der größte Teil der Bevölkerung dieser Millionenstadt lebte jedoch in düsteren häßlichen Mietskasernen, in kleinen Zimmern ohne Komfort und ohne hygienische Einrichtungen. Die Mieten waren sehr hoch, und die Wohnungen waren lebensgefährlich, da sie größtenteils aus Holz gebaut waren und deshalb den häufig auftretenden und oft ganze Stadtbezirke verwüstenden Feuersbrünsten zum Opfer fielen. Nicht minder gefährlich war für die Mieter der Umstand, daß die Häuser aus Spekulation zu hoch gebaut wurden und deshalb oft zusammenstürzten. Zur Zeit des Augustus wurde die Höhe der Straßenfront auf 2OV2 m (etwa 6 - 7 Stockwerke) begrenzt; ob dieser Verordnung immer Folge geleistet wurde, ist freilich unbekannt. Die Straßen antiker Städte sind meistens eng, mit Steinplatten oder Kopfsteinpflaster belegt und kanalisiert. Da in Rom tagsüber Fahrzeuge nicht verkehren durften, gab es in der Nacht, als die mit Lebensmitteln und anderen Waren beladenen Wagen durch die unebenen Gassen fuhren, einen Höllenlärm. Noch ein Wort zu den Wohnungen der Toten. Im Gegensatz zu heute ist in
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der Antike jede Bestattung innerhalb des Stadtgebietes verboten. Die Gräber befinden sich außerhalb der Stadt, entweder in der Gegend der Stadttore, oder, wie in Rom, beiderseits der Straßen, die die Stadt verlassen. Sie können sich zu monumentalen Gebäuden entwickeln (Grab des Mausolos in Kleinasien, des Cestius, der Galla Placidia oder des Hadrian, also die Engelsburg in Rom) und sind sehr häufig mit Reliefs oder Statuen geschmückt. Prunksucht und der Wunsch, wenigstens in versteinerter Form „unsterblich" zu bleiben, "trieb auch auf diesem Gebiet eigenartige Blüten; aus einer römerzeitlichen Grabinschrift aus Kleinasien erfahren wir, daß ein Toter auf seinem Grab in 13 Statuen dargestellt war. Die Menge der Statuen inner- und außerhalb der Mauer antiker Städte muß ungeheuer groß und für uns kaum vorstellbar gewesen sein.
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Zur Topographie von Stadtanlagen der Griechischen und Römischen Antike MAX WEGNER
Von den großen Weltstädten der griechisch-römischen Antike, Athen, Rom, Alexandria, Antiochia oder Konstantinopel, ist kein übersichtlicher Plan der Stadtanlage in ihrem Ganzen wiederzugewinnen; deren Fortleben bis heute ist darüber hinweg gewachsen. Demgegenüber hat die Verschüttung durch den Vesuvausbruch des Jahres 79 n.Chr. bewirkt, daß der Stadtplan von Pompeji durch Ausgrabungen wiederzugewinnen ist und damit wohl die anschaulichste Vorstellung von einer Stadtanlage des klassischen Altertums zu vermitteln vermag (Abb. 27). Ein Luftbild läßt schon jetzt in der Hauptsache ein zweistufiges Wachstum der Stadt erkennen, ähnlich den Luftbildern mittelalterlich-moderner Städte wie beispielsweise Regensburg oder Barcelona. Ein engbegrenzter alter Stadtkern hebt sich deutlich ab von einer jüngeren vielfachen Erweiterung. Die Altstadt, auf der Höhe eines aufgestauten Lavastroms gelegen, sammelt sich in nahezu gleichem Abstand um den Marktplatz, das Forum civile, und die seitlich anstoßende Kultstätte, das Apollonheiligtum. Bewohnt war der Tuffhügel bereits in der Bronzezeit, obwohl er bei etwa 42 m über dem Meeresspiegel wegen schwieriger Wasserversorgung eigentlich ungünstig für eine Besiedlung zu nennen ist. Zu einer Stadt wurde diese Stätte, als die Osker sie während der ersten Hälfte des 7. Jahrhunderts v.Chr. in Besitz nahmen. Ein Markt war es wohl, der dieser Besiedlung durch die Osker städtischen Charakter gab. An der Stelle des späteren Apollontempels läßt sich bereits vor dem 6. Jahrhundert eine Kultstätte nachweisen, und es dürfte bereits in diesem Jahrhundert ein erster einfacher Kultbau aus Holz errichtet worden sein. Welcher Gottheit ursprünglich diese Kultstätte geweiht war, weiß man nicht. Daß später Apollon dort verehrt wurde, entspricht dem Brauch griechischer Kolonisation in Unteritalien und auf Sizilien, wo dem durch
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Orakel wegweisenden Gott in den ältesten Kolonien von Kyme und Naxos Tempel oder Altar errichtet wurde. Eine enge Verbindung von Markt- bzw. Versammlungsplatz und Kultstätte ist uns auch sonst aus dem hohen Altertum gut bekannt, beispielsweise das Heroon des Theseus als des sagenhaften Gründers von Athen auf dessen Agora oder das sogenannte Grab des Romulus auf dem Forum Romanum; zu erwähnen ist in diesem Zusammenhang auch das Pelopion in der Altis von Olympia. - Wie die Wohnviertel der kleinen Altstadt Pompeji städtebaulich aussahen, ist wohl auch künftig nicht mehr zu ermitteln. Das Forum civile hatte in ihr gewiß noch nicht die langgestreckte Nord-Südausdehnung, wie sie heute als Stadtmitte sichtbar ist, und dessen Ausrichtung auf den Tempel der kapitolinischen Trias setzt natürlich römischen religiösen Brauch voraus. Die geräumige Erweiterung der Altstadt um ein Vielfaches hängt wohl mit der Eroberung der Osker-Stadt durch die Samniten um 420 v.Chr. zusammen. Große Samnitische Volksteile ließen sich damals in Pompeji nieder. Für diesen Bedarf an Wohnraum und für die Erweiterung der Stadt kam das Gelände nördlich und östlich der Altstadt in Frage. Weitgehend parallel geführte Längsstraßen und annähernd rechtwinklig diese schneidende Querstraßen bewirkten ein übersichtliches Netz von Gebäudeblöcken, den Insulae, die hauptsächlich Wohn- und Gewerbezwecken
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dienten. Weit abgelegen im östlichen Winkel befand sich das Amphitheater, die Stätte des Volksvergnügens. Ein mathematisch rechtwinkliges, ein orthogonales Straßensystem führt die griechische Uberlieferung zurück auf Hippodamos von Milet, der im 5. Jahrhundert v.Chr. lebte und wirkte, und der sein System in Peiraieus und in Thurioi in Unteritalien (443 v.Chr.) verwirklicht haben soll. Die Schriftquelle bei Diodor XII 10 interpretiert A. von Gerkan wie folgt: „Man teilte die Stadt ihrer Länge nach in vier (Quer)straßen, ihrer Breite nach aber in drei (Längs)straßen". In der von Alters her stetig bewohnten und vergrößerten Hafenstadt Peiraieus ist dieses hippodamische System nur noch zu rekonstruieren und Thurioi ist so gut wie untergegangen. Auch in Milet selbst, bei seinem Wiederaufbau im 5. Jahrhundert v.Chr. nach der Zerstörung durch die Perser im Jahre 494, ist das orthogonale Straßensystem mehr zu erschließen als durch Ausgrabungsbefunde nachzuweisen. Ein vortreffliches Beispiel für eine antike Stadtanlage nach hippodamischem System ist Olynthos auf der Chalkidike (Abb. 28). Auch diese Stadt ist keine ursprüngliche Gründung; eine Besiedlung dieser Stätte läßt sich bis in neolithische Zeit hinauf nachweisen. Als bereits nennenswerte Stadt wurde Olynthos ebenfalls von den Persern zerstört, 480 v. Ch. Wie Milet hat man es aber danach völlig wieder aufgebaut, bis es 348 v. Chr. durch Philipp von Makedonien erobert und von Grund auf zerstört wurde. Da die Stätte bis in byzantinische Zeit nicht wieder besiedelt worden ist, darf man im mittleren Stadtbereich den Ausgrabungsbefund als verläßlichen Beweis für einheitliche Planung ansehen. Was durch die bisherigen Ausgrabungen als Teil der Stadt sichtbar geworden ist, bietet ein Bild vollkommener orthogonaler Planmäßigkeit. Durch die mathematisch rechtwinklig sich kreuzenden Straßen entstehen gleich große, hochrechteckige Blöcke, deren jeder in der Regel in zehn quadratische Wohnungen aufgeteilt ist. Im Laufe etwa eines Jahrhunderts konnte natürlich ein allmähliches Anwachsen der Stadt nicht ausbleiben. Dabei wurde nach Ansicht von A. Boethius nach der XIII. Querstraße das planvolle System allerdings aufgegeben, so daß dieser Forscher unterscheiden möchte zwischen planvoll angelegten Wohnbezirken und dem unregelmäßigen Bereich von Handel und Gewerbe, der der Wohnstadt allmählich zuwuchs. Ähnlich wie in Pompeji und in Olynth sind uns noch heute geplante antike Stadtanlagen vornehmlich in großgriechischen und sizilischen Orten deutlich geworden, wie beispielsweise in Paestum (Abb. 30). Um die Mitte des
28. Olynth
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7. Jahrhunderts v. Chr. wurde Paestum/Poseidonia von Sybaris als Tochterkolonie gegründet. Bis zur Mitte des 5. Jahrhunderts hatte es seine noch heute aufrecht stehenden, ansehnlichsten Altertümer aufzuweisen, die drei dorischen Tempel von etwas modifizierter griechischer Art. Was allerdings von der Stadtanlage nach neueren Ausgrabungen heute zu sehen ist, geht erst auf die Zeit zurück, da Paestum 273 v. Chr. römische Kolonie geworden war. Der Verlauf der Stadtmauer wurde im allgemeinen beibehalten und nur durch Verstärkung erneuert. Ob dem bürgerlichen Zentrum der Stadt, dem Forum, eine griechische Agora vorausging, ist bisher nicht ermittelt. Das heute kenntliche Forum ist römisch, „frühestens lukanisch" (A. von Gerkan); es überbaut nördliche Anlagen des großen Tempelbezirks, und der Tempel an seiner nördlichen Langseite ist eindeutig .hellenistisch-römisch'; man datiert ihn ins 3./2. Jahrhundert v.Chr. Aus einer unregelmäßigen Griechenstadt nahm Paestum damals ein italisches Gepräge an: Decumanus von der Porta Sirena bis zur Porta Marina und Cardo von Norden nach Süden waren die bestimmenden Achsen der Stadt, letzterer allerdings keine durchgehende gerade Längsachse, sondern nördlich des
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Forums in Richtung auf den Athenatempel eine Einknickung aufweisend. Daß diese Achse nicht bereits der alten Griechenstadt angehört, wird daran deutlich, daß sie nicht vor der Ostseite der Tempel, deren Zugangsseite, vorbeiführt, sondern westlich vor der Gegenseite der beiden großen Tempel verläuft. Innerhalb dieser bestimmenden Achsen war anscheinend kein eindeutiges rechtwinkliges Straßensystem durchgeführt; vielfach vermißt man gleichmäßige Abstände zwischen den Nebenstraßen, gerade Linien und rechte Winkel. „Das ist kein griechisches Straßensystem, sondern ein italisches" (A. von Gerkan).
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Auf ähnliche Weise wie in Paestum führt in Selinus auf Sizilien die beherrschende Nord-Südachse auf der Akropolis westlich der beiden Haupttempel vorbei (Abb. 30). Das geschieht beim Tempel D so dicht und beengend, daß diese Straßenführung niemals der Anlage des Tempel D und seines Bezirks vorausgegangen sein kann. Auch die andere Hauptstraße, die man als Decumanus bezeichnen möchte, trennt auffallend willkürlich die Folge der Tempel Α und C. Das heute erkennbare Straßensystem kann also, entgegen der Auffassung einiger italienischer Forscher, nicht vor der Zerstörung von Selinus im Jahre 409 v. Chr. angelegt worden sein. Andererseits ist es vor 250 v. Chr. zu datieren, weil seitdem die Stätte von Selinus verödete. Im Hinblick auf gewachsene Städte seien hier zwei bemerkenswerte und bedeutende Besonderheiten griechischer und römischer Stadtwerdung eingeschaltet. In Athen hat die mykenische Burg des 14./13. vorchristlichen Jahrhunderts als die Keimzelle der späteren Stadt zu gelten (Abb. 31). Zur Zeit des eigentlichen Griechentums war diese Akropolis mit ihren Heiligtümern der kultische Mittelpunkt Athens. Außerhalb der ummauerten Herrenburg lag an den Abhängen der Akropolis, vor allem am Nordabhang, eine einfache Siedlung; bis in frühneolithische Zeit läßt sich diese Stelle fast ununterbrochen als Wohnplatz verfolgen. Das Werden der eigentlichen Stadt Athen versteht die Sagenüberlieferung als eine Zusammensiedlung zerstreut wohnender Attiker unter Anführung des Theseus; man nennt dies den Synoikismos des Theseus, der sich etwa im 8. Jahrhundert v. Chr. vollzogen hat, in jenem Jahrhundert, in dem die attische Vasenmalerei mit geometrischen Mustern und frühesten Figurenbildern in höchster Blüte stand. Zum gemeinsamen Markt Athens, zur Agora, wurde nach und nach die Ebene am Nordabhang der Akropolis. In dieser Ebene, vor allem an den Rändern der sie begrenzenden Hügel, bestatteten die mykenischen Herren ihre Toten. Noch bis in die Blütezeit der geometrischen Stile ist dieses Gelände als Begräbnisplatz nachzuweisen. Die Nekropole der Frühzeit wurde mehr und mehr verdrängt, weiter nach außen vor das Dipylontor verlagert, und an ihre Stelle trat die Agora als Markt und Versammlungsplatz, umgeben mit Heiligtümern, Verwaltungsgebäuden und geräumigen Hallen. Soweit die Stadt Athen in archaischer und klassischer Zeit uns heute kenntlich ist, lagen Akropolis und Agora innerhalb der älteren Stadtmauer nahezu in der Mitte, während sich mit der jüngeren Stadt-
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Athen. Akropolis und Agora
mauer, dem themistokleischen Ring, die Wohnquartiere beträchtlich nach Norden ausgeweitet hatten. Mit der Stadtwerdung Roms verhält es sich ähnlich. Auch hier sind an der Stätte, die später zum Mittelpunkt der Stadt wurde, dem Forum Romanum, in der Frühzeit Bestattungen nachzuweisen. Protokorinthische Scherbenfunde in einigen dieser Gräber datieren diese in die Zeit um 700 v. Chr. Besiedelt waren in der Frühzeit Roms die umliegenden Hügel, der Palatin, der Quirinal und die Ausläufer des Esquilin. Anscheinend zur gleichen Zeit wie in Athen wurde das Forumstal zur „Stätte des gemeindlichen Lebens" (H. Müller-Karpe), denn im 8. Jahrhundert wird die Bestattung be-
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schränkt, um alsbald in diesem Gebiet gänzlich aufzuhören. Es vollzieht sich also in Rom ein ähnlicher Synoikismos wie in Athen; das römische Geschichtsbewußtsein traf gewiß einigermaßen das Richtige, wenn es die Gründung Roms auf das Jahr 753 v. Chr. nach unserer Umrechnung datierte. Und ähnlich wie die Akropolis in Athen wurde das Kapitol sowohl Burg und Verteidigungswehr gegen Norden als auch vornehmste Kultstätte mit dem Tempel des Iuppiter Capitolinus, der kapitolinischen Trias Iuppiter, Iuno, Minerva, deren Verehrungsstätte bereits als Richtpunkt des Forums von Pompeji begegnete. Bei der ersten Ummauerung Roms nach dem Galliersturm von 387 v.Chr., der sogenannten Servianischen Mauer, rückten Capitol und Forum ganz an die Westgrenze des Gemeinwesens; erst innerhalb der Aurelianischen Mauer waren beide mehr in der Mitte gelegen. Die herrschaftlichen und bürgerlichen Wohnquartiere Roms sind mit der Zeit* mehr und mehr gewachsen. Eine orthogonale Straßenplanung ist nirgends nachzuweisen. Ein großer Teil der Bodenfläche war der Bewohnbarkeit entzogen. Nach Berechnung A. von Gerkans war innerhalb der Aurelianischen Mauer die Hälfte der Fläche unbewohntes Gebiet, und auf das Wohngebiet kommen rund siebenhunderttausend Einwohner; das alte Rom war also keine Millionenstadt, wie gern und insbesondere von der italienischen Forschung angenommen wird. Bei den bisherigen Beispielen von Städteanlagen der griechischen und römischen Antike handelte es sich meistens um Stätten, die seit alter Zeit besiedelt waren und die sich dann im Laufe der Jahrhunderte ausweiteten. Einige von ihnen waren in Kriegszügen zerstört worden; sie wurden neu errichtet und entsprachen dann in ihren neuen Wohnquartieren weitgehend dem, was man das hippodamische System nennt. Es gibt aber auch einige Städte des Altertums, die auf Neuland von Anfang an planvoll gegründet' wurden. Zwei solcher Städteanlagen mögen hier als Beispiel dafür dienen, das griechische Priene und das römische Timgad (Abb. 32,33 und 34). Nachdem das archaische, weiter binnenländisch gelegene Priene 495 v. Chr. von den Persern zerstört worden war, wurde es sehr viel später, um 350, in einiger Entfernung von der alten Stätte unter Einflußnahme von Athen neu .gegründet'. Der Stadtplan entspricht ganz und gar dem, was man hippodamisches System nennt, obwohl das Gelände, ein Bergabhang mit Terrasse, einem solchen System nicht gerade günstig war. Ausgerichtet nach den Himmelsrichtungen verlaufen die Längsstraßen von Osten nach Westen, die rechtwinklig schneidenden Querstraßen von Norden nach
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32. Priene
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Süden, wobei Höhenunterschiede durch Treppen überwunden wurden. So erfolgte eine gleichmäßige Aufteilung in gleichgroße, etwas gedrungene Rechtecke, die für die eigentlichen Wohnquartiere verbindlich sind. Annähernd in der Mitte des Stadtplanes wird westlich einer Querachse aus diesen Einheiten ein Platz für den Athenatempel ausgespart, östlich von ihr und ein wenig südlicher ein größerer Platz für die Agora, von Hallen umgeben. Während der freie Platz der Agora zwei Einheiten beansprucht, entfallen vier Privathäuser auf eine Einheit. Die Mauer, welche die Gesamtheit von öffentlichen Baulichkeiten und Wohnquartieren einfaßt, muß sich in unregelmäßigem Verlauf dem abschüssigen Gelände anpassen. Im Norden wird diese Mauer am Berghang hochgeführt bis zum abgeflachten Gipfel, wo ein Beobachtungsposten für die Verteidigung angelegt wurde.
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Timgad, antik Thamugadi, in Nordafrika wurde zu Beginn des 2. Jahrhunderts n. Chr. im Auftrage von Trajan als Kolonialstadt gegründet. Die orthogonale Anlage folgt in ihrem Plan dem Muster eines römischen Lagers. In fast quadratischer Form schließt die Mauer die eigentliche Stadt ein. In der Mitte dreier Seiten dieser Mauer öffnet sich ein Tor. Der Porta Praetoria entsprechend lag in der Mitte der Nordseite das Haupttor, von dem aus der Cardo genau in die Stadtmitte führte. Hier stieß er auf den Decumanus, der vom Osttor zum Westtor die Stadt mitten durchquerte. Wie im Lager die Via Praetoria auf das Praetorium zuführte, so zielte die Hauptstraße von Timgad von Norden her an dessen Stelle genau auf das
34. Timgad
Anlage griechisch-römischer
Städte
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Forum, das aus dem militärischen zum bürgerlichen Versammlungsplatz geworden war. Hinter dem Forum fällt im Stadtplan noch ein Theater vom griechischen Typus als großräumige Anlage auf. Sonst überwiegen innerhalb der quadratischen Ummauerung die ebenfalls quadratischen Einheiten der Wohnquartiere so wie im Lager die Unterkünfte für die Soldaten. Und nochmals dem Lager ähnlich, den Canabae, den bürgerlichen Marketendervierteln entsprechend, lagern sich in Timgad um die regelrechte Kernstadt an den Ausfallsstraßen regellos die Vorstädte, die vorwiegend wirtschaftlichen Zwecken und dem Vergnügen der Einwohner dienten, wo allerdings - für Timgad merkwürdig - mehrere Heiligtümer ihren Platz finden mußten. Während in den angeführten alten Städten in der Regel Markt und Kultstätte deren Mitte bildeten, so scheinen in dieser gegründeten ,modernen' Stadt die Kultstätten vom .Verlust der Mitte' betroffen zu sein. Das Fahnenheiligtum, das im römischen Lager am Praetorium den Zielpunkt bildete, hat hier keinen so gewichtigen und entsprechenden Nachfolger gefunden. Diese knappen Bemerkungen und die beigefügten Pläne möchten dazu dienen, im Rahmen des Gesamtwerks ein wenig die Aufmerksamkeit darauf zu lenken, was die Stadtanlagen der griechischen und römischen Antike an Merkwürdigkeiten sowie allgemeinen und grundlegenden Einsichten zu bieten haben.
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Max
Wegner
Ausgewähltes Schrifttum (vgl. auch die von Th. Pekäry genannten Werke) G. HAVERFIELD, Ancient town-planning, Oxford 1913. Α. VON GERKAN, Griechische Städteanlagen, Berlin/Leipzig 1924. K . LEHMANN-HARTLEBEN in: Paulys Real-Enzyklopädie der klassischen Altertumswissenschaft 2. Reihe III, s.v. Städtebau, Stuttgart 1929. F. KRISCHEN, Die griechische Stadt, Berlin 1938. A . M . H . JONES, The Greek city from Alexander to Iustinian, Oxford 1 9 4 0 . R.E. WYCHERLEY, H O W the Greeks built cities, London 1946, 2. Aufl. 1962. A. BOETHIUS, in: Göteborgs Högskolas Ärskrift Nr. 3, Göteborg 1948. R. MARTIN, L'urbanisme dans la Grece antique, Paris 1956. F. CASTAGNOLI, Ippodamo di Mileto e Purbanistica a pianta ortogonale, Rom 1956. E. KIRSTEN, Raumordnung und Kolonisation in der griechischen Geschichte, in: Raumforschung 2, 1958. A. VON GERKAN, Kolonialstädte der Antike, in: Von antiker Architektur und Topographie. Gesammelte Aufsätze, Stuttgart 1959. E. EGLI, Geschichte des Städtebaus I. Die antike Welt, Zürich/Stuttgart 1959. A. GIULIANO, Urbanistica delle cittä greche, Mailand 1966. A . GARCIA Y BELLIDO, Urbanistica de las grandes cividades del mundo antiguo, Madrid 1966. F. WEISSENGRUBER, Eine Entwicklungsstufe im griechischen Städtebau, in: Jahreshefte des Osterreichischen Archäologischen Institutes in Wien 48,1966/67, S. 76ff. A. BOETHIUS, in: Enciclopedia dell'Arte Antica VII, S. 1062 ff. mit Lit., Rom 1966. G.A. MANSUELLI, Architettura e civiltä, Bologna 1970. J.B. WARD-PERKINS, Cities of ancient Greece and Italy: Planning in classical antiquity, New York 1974.
Einzelne erwähnte Orte Α. VON GERKAN, Der Stadtplan von Pompeji (vgl. oben: Gesammelte Aufsätze, S. 144ff.). H. ESCHEBACH, Die städtebauliche Entwicklung des antiken Pompeji, Heidelberg 1970. R . RIEMANN, Das vorsamnitische Pompeji, in: B . ANDREAE U. H . KYRIELEIS, Neue Forschungen in Pompeji, Recklinghausen 1975. D.M. ROBINSON, Excavations at Olynthus XII. Domestic and public Architecture, Baltimore 1946. Α. VON GERKAN, Zur Stadtanlage von Paestum, in: Studi in onore di Aristide Calderini e Roberto Paribeni, Mailand 1956, S. 212ff. M.A. THOMPSON U. R.E. WYCHERLEY, The Athenian Agora XIV, Princeton 1972. Η. MÜLLER-KARPE, Vom Anfang Roms, Rom 1959,1. H. MÜLLER-KARPE, Zur Stadtwerdung Roms, Heidelberg 1962. T H . W I E G A N D u. H . SCHRÄDER, Die Ergebnisse der Ausgrabungen, Berlin 1 9 0 4 . M. SCHEDE, Die Ruinen von Priene, Berlin/Leipzig 1934, 2. Aufl. 1964. C . COURTOIS, Timgad. Antique Thamugadi, Algier 1951.
Zur Existenzgrundlage und Dauer stadtartiger Siedlungen der Wikingerzeit TORSTEN CAPELLE
Die großen wikingerzeitlichen Handelsplätze haben in den letzten Jahren immer wieder im Mittelpunkt der archäologisch-historischen Diskussion gestanden. 1 Ihre Entstehung und Bedeutung ist dabei hinreichend charakterisiert worden; neue Ausgrabungen verändern jedoch ständig den Forschungsstand. In den folgenden Ausführungen gilt es vor allem zwei Fragen zu behandeln: 1. was hat zur schnellen Entfaltung dieser Orte geführt und 2. wie lange hat die Lebensdauer solcher Ansiedlungen gewährt? Vorläufer im Zentrum 2 und Kolonien außerhalb des wikingischen Kerngebietes 3 sollen dabei unberücksichtigt bleiben. Als Grundlage werden herangezogen im nördlichen Deutschland Haithabu, in Dänemark Aarhus, in Norwegen Kaupang, in Festland-Schweden Birka und auf Gotland Västergarn-Paviken (Abb. 35). Haithabu 4 - in geschützter Lage an der inneren Schlei (Abb. 36) - ist der an Umfang größte und zugleich der am besten erforschte Platz. Bereits seit kurz vor 800 n.Chr. nachweisbar, erlebte es im 9. Jahrhundert eine erste Blütezeit, die im 10. Jahrhundert durch eine starke Ausdehnung und die Errichtung des mächtigen Halbkreiswalles ihren Höhepunkt erreichte. Literarische Zeugnisse und archäologisches Fundgut beleuchten die internationale Prägung Haithabus. Ausschlaggebend für die Entfaltung der Ansiedlung ist der intensive Fernhandelsverkehr gewesen, der über die Schleswiger Landenge verlief und den karolingisch-ottonischen Kontinent mit dem wikingischen Norden verband. Der Fernhandel ist sicher vorwiegend im Sommerhalbjahr - also saisonweise - betrieben worden. Seine Träger können aber nicht allein für den wirtschaftlichen Aufschwung Haithabus verantwortlich gewesen sein. Vielmehr muß es auch ein konstantes Element
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Torsten
Capelle
35. Ubersichtskarte der besprochenen Handelsplätze
0
10 Km
36. Lage von Haithabu
20
Stadtartige Siedlungen der
Wikingerzeit
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gegeben haben, das in sich bereits genug Anziehungskraft ausübte, um eine ungebrochene Kontinuität zu gewährleisten. Die dafür in Frage kommende Bevölkerungsgruppe ist in den am Ort fest ansässigen Handwerkern zu suchen. Diese siedelten verhältnismäßig dicht beisammen am Rande des Ortskernes. Die für die Zeit um 850 n. Chr. gegebene Ausdehnung zeigt die Abbildung 37; danach scheint sich die von den Handwerkern in Anspruch
116
Torsten Capelle
genommene Fläche nicht mehr erweitert zu haben. Das könnte bedeuten, daß die hier mit der Verarbeitung von Gold, Silber, Bronze, Horn, Leder und anderen Materialien beschäftigten Handwerker trotz anwachsender Bevölkerung ohne Vergrößerung ihrer Berufsgruppen den Bedarf decken konnten. 5 Sie wären demnach neben den Kaufleuten die konstante Gruppe, die sich wahrscheinlich als Träger der Siedlung verstand. Allerdings waren die weitgehend für den Export arbeitenden Handwerker beim Vertrieb ihrer Waren sowie beim Erwerb der dafür notwendigen Rohstoffe von den
38. Lage von Aarhus
Stadtartige Siedlungen der Wikingerzeit
117
Kaufleuten abhängig. Spätestens seit der Mitte des 11. Jahrhunderts hat Schleswig die Rolle Haithabus übernommen. Auch Aarhus weist eine von Natur aus günstige Lage auf (Abb. 38). Die erst jüngst vorgelegten archäologischen Untersuchungsergebnisse deuten aller* dings darauf hin, daß mit einem Beginn der Ansiedlung hier erst am Anfang des 10. Jahrhunderts, also in der mittleren Wikingerzeit zu rechnen ist; der zugehörige Halbkreiswall ist wohl erst einige Jahrzehnte später aufgeschüttet worden. 6 Dieser Ort blieb bis in die Neuzeit hinein ununterbrochen besiedelt. Bereits in der Wikingerzeit zeichnete er sich dadurch aus, daß hier Handwerksbetriebe bestanden, deren Hinterlassenschaften jedoch eine strenge Differenzierung nicht zulassen. Bemerkenswert ist aber das Haus C M E 7 aus dem 10. Jahrhundert, das offenbar zugleich als Wohnhaus und als Werkstatt gedient hat. Hier fanden sich neben zahlreichen, auch wertvollen anderen Gegenständen Hobel, Hohlmeißel, Löffelbohrer und ein Eisenkeil, also Werkzeuge eines Tischlers. Offensichtlich hat ein verhältnismäßig wohlhabender spezialisierter Handwerker hier gewohnt. Ganz anderer Art ist der Handelsplatz von Skiringssal-Kaupang im südlichen Norwegen (Abb. 39), den die Ausgräberin am ehesten als eine Ansammlung von Gehöften verstanden wissen möchte. 8 Immerhin handelt es sich dabei aber um den bedeutendsten Handelsplatz der Wikingerzeit in Norwegen. Zum Landinnern war der Platz durch steil abfallende Felsen teilweise unzugänglich, so daß sich eine künstliche Befestigung erübrigte. Er wird auch nicht durch überragenden, zu Angriff und Beute reizenden Reichtum gekennzeichnet gewesen sein, da - wie sonst vielfach - in keiner zeitgenössischen Quelle ein Uberfall verzeichnet ist. Ein Überraschungsangriff wäre hier auch, wie bei den anderen großen Handelsplätzen der Wikingerzeit, kaum möglich gewesen, da Kaupang im Inneren eines Fjordes geradezu hinter Schären versteckt lag. Die Siedlung beginnt in der Zeit um 800 n. Chr. und endet in der Mitte des 10. Jahrhunderts; vermutlich ist ihre Funktion durch das nahebei gelegene Tjölling übernommen worden. Ihre Stellung im Fernhandel wird vor allem beleuchtet durch zahlreiche anglo-irische Importfunde. Darüber hinaus befand sich hier ein ortsgebundenes Handwerk. Es wurden Perlen hergestellt sowie Metalle und Bernstein verarbeitet. Die verhältnismäßig vielseitige Produktionstätigkeit am Ort wird für dessen Existenz ebenso notwendig gewesen sein wie seine Funktion als Handelsplatz.
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Torsten Capelle
39. Lage von Kaupang
Vergleichbar kurzlebig ist Birka gewesen, das im Mälarsee (Abb. 40) auf der kleinen Insel Björkö lag.9 Es ist Anfang des 9. Jahrhunderts entstanden und kurz nach der Mitte des 10. Jahrhunderts bereits wieder aufgegeben worden. Birka nahm eine zentrale Stellung im wikingischen Mittelschweden ein. Als Nachfolgerin wird vermutlich Sigtuna zu betrachten sein. Ein dem Absatz offenes Hinterland intensivierte geradezu die Rolle Birkas als Mittler für neue Errungenschaften und als Knotenpunkt im Fernhandel
Stadtartige Siedlungen der Wikingerzeit
0 40. Lage von Birka
10 2 0 Km
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zwischen Osteuropa, Skandinavien und dem karolingisch-ottonischen Kontinent.10 Sowohl die zeitgenössische Überlieferung als auch die bisher nahezu ausschließlich aus den Gräbern bekannten Funde bezeugen einen fast unermeßlichen Reichtum." Obgleich der im Laufe des 10. Jahrhunderts von einem Halbkreiswall Umschlossene Siedlungsraum bis heute kaum archäologisch untersucht worden ist, liegen dennoch hinreichend Zeugnisse (etwa Gußformen, Tiegel und Rohstoffe der Metallverarbeitung sowie Halbfabrikate von Horn- und Bernsteinwaren) dafür vor, daß verschiedene Handwerksbetriebe hier arbeiteten. Auf Grund der in vielen Punkten sehr ähnlichen Struktur von Birka und Haithabu wird in Anlehnung an Haithabu die Annahme nicht verfehlt sein, daß manche Erzeugnisse auch in Birka speziell für den Export geschaffen wurden. Als letztes Beispiel bleibt Västergarn-Paviken südlich von Visby an der Westküste Gotlands zu erwähnen'2 (Abb. 41). An der Mündung des Väster-
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41. Lage von Västergarn-Paviken
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0
10 Km
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Stadtartige Siedlungen der Wikingerzeit
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garnä liegt hier ein mächtiger Halbkreiswall, der aber wohl frühestens der ausgehenden Wikingerzeit angehört. Gut einen Kilometer flußaufwärts ist an dem Noor Paviken unmittelbar neben der Einmündung des Ida in den letzten Jahren eine Siedlung der Wikingerzeit untersucht worden, die eine ebenso „versteckte" Lage aufweist wie Haithabu. 13 Västergarn und Paviken sind nach Ansicht des Ausgräbers Per Lundström als Einheit aufzufassen. Die bisherigen Funde beleuchten zwar auch die Tatsache, daß dieser Platz am Fernhandel seiner Zeit teilhatte, doch zeigen sie vor allem die Existenz vielseitiger handwerklicher Tätigkeit. Hier wurden kleine Gegenstände wie Perlen und Bernsteinarbeiten hergestellt, aber auch Schiffe gebaut. Bereits um die Jahrtausendwende ist Västergarn-Paviken jedoch durch Visby abgelöst worden. Die hier besprochenen großen, zum Teil geradezu stadtartig anmutenden Siedlungen der Wikingerzeit sind alle durch drei gemeinsame Merkmale gekennzeichnet: 1. sie liegen an größeren Wasserläufen, doch möglichst nicht unmittelbar an der Küste, 2. sie spielten eine wesentliche Rolle im Fernhandel des 9 . - 1 1 . Jahrhunderts, 3. sie beherbergten Handwerksbetriebe, deren vielfältige und umfangreiche Produktion nicht nur für die Deckung des lokalen Bedarfs bestimmt gewesen sein kann. Die Rolle, die das ortsgebundene Handwerk bei der Entstehung dieser Anlagen gespielt hat, darf demnach nicht unterschätzt werden. In der Vendelzeit hat das Handwerk sogar die ausschließliche Rolle für das Aufblühen der wirtschaftlich starken Siedlung Helgö in der Nachbarschaft Birkas gespielt.14 Die Handwerker stellen in der Wikingerzeit den einzigen ständig anwesenden, hauptberuflich tätigen Personenkreis in den Großsiedlungen dar.15 Sie können ohne weiteres als ,,stadtbildende" Gruppe verstanden werden. An einzelnen Orten bildete die Konzentration von Handel und Handwerk die Voraussetzung für die Entstehung der Stadtkultur im Norden. Diese hat aber dennoch keine ungebrochene Entwicklung aufzuweisen, da die meisten wikingischen großen Handelsplätze nicht überlebt haben. Es hat vielmehr drei nach Entstehungszeit und Lebensdauer verschiedene Typen gegeben:
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Torsten Cupelle
1. eine frühe Gruppe, z.B. Haithabu, Kaupang, Birka und Paviken, belegt seit Anfang der Wikingerzeit und endend um die Jahrtausendwende, 2. erst in der mittleren Wikingerzeit entstandene Anlagen, die bis heute bestehen blieben; einziges Beispiel ist dafür bisher Aarhus, 3. in der ausgehenden Wikingerzeit beginnende und dann fortlebende Städte wie ζ. B. Schleswig, Sigtuna und Visby. Die Bedeutung von Handel und Handwerk für die Existenz der beiden ersten Typen ist im Vorstehenden herausgestellt worden. Der dritte Typ bleibt hier unberücksichtigt, da er darüber hinaus durch seine Bindung an politische oder kirchliche Zentren als Kristallisationspunkte bestimmt wird und erst das hohe Mittelalter prägt."'
Stadtartige Siedlungen der Wikingerzeit
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Anmerkungen * Manuskript abgeschlossen 1972. ') ζ. B . Visby-symposiet för historiska vetenskaper 1963 und H . JANKUHN, Typen und F u n k tionen vor- und frühwikingerzeitlicher Handelsplätze im Ostseegebiet. Sbb. ö s t e r r . Akad. 273. Band, 5. A b h . (1971). 2
) z . B . Helgö im Mälarsee: W . HOLMQVIST, Excavations
3
) z . B . Grobin bei Libau: B. NERMAN, Grobin-Seeburg, Ausgrabungen und Funde (1958).
at Helgö I (1961) - I V (1972).
4
) H . JANKUHN, Haithabu, ein Handelsplatz der Wikingerzeit ( 4 1963); K. SCHIETZEL
(Hrsg.), Berichte über die Ausgrabungen in Haithabu 1, 1969ff. 5
) D e r jetzige Ausgräber von Haithabu, D r . K. SCHIETZEL, bezweifelt die Existenz eines ge-
schlossen wirkenden „Handwerkerviertels". D i e Verteilung der bisher veröffentlichten Funde vermittelt aber immer noch den Eindruck einer lokal stark begrenzten Massierung der entsprechenden Zeugnisse. 6
) Η . H . ANDERSEN, P . J . CRABB, H . J . MADSEN, Ärhus Söndervold, en byarkceologisk
unders0gelse (1971). 7
) Wie A n m . 6, S. 264 ff.
8
) Ch. BLINDHEIM, u . a . , Viking 1969, S. 5 - 1 3 7 .
' ) H . ARBMAN, Birka, Sveriges äldsta handelsstad (1939); B . ARRHENIUS, Birka, die älteste Stadt
Schwedens.
In:
Sveagold
und
Wikingerschmuck,
Katalog
3
des
Rom.-Germ.
Zentralmuseums Mainz (1968). 10
) H . ARBMAN, Schweden und das Karolingische Reich (1937).
" ) H . ARBMAN, Birka 1, Die Gräber (1940/43). 12
) E . FLODERUS, Västergarn, Fornvännen 1934; B. NERMAN, Det forntida Västergarn,
ebenda; P . LUNDSTRÖM, Paviken 1, ett vikingstida varv pa Gotland, Gotländskt Arkiv 40, 1968. " ) vgl. Plan auf S. 101 bei LUNDSTRÖM (wie Anm. 12). 14
) Wie A n m . 2.
15
) D a ß es sich dabei um spezialisierte Handwerker handelt, kann kaum noch bezweifelt
werden: vgl. T . CAPELLE, D e r Metallschmuck von Haithabu (1968) S. 91 ff. Zur Rolle von Handel und Handwerk als stadtbildende Elemente, siehe auch: H . AUBIN, in: Handbuch der deutschen Wirtschafts- und Sozialgeschichte 1. 1971, S. 118.
Die hochmittelalterliche Städtebildung im Okzident HEINZ STOOB
Mit dem spätantiken, mediterran orientierten Städtewesen, dessen Rudimente und Residuen über die Völkerwanderung hinweg gewirkt haben, und den wikingerzeitlichen Emporien des Nordens wurden in den vorangehenden Beiträgen Antipoden urbaner Lebensformen beschrieben, wie sie nicht gegensätzlicher zu denken sind. Hier die perfekt zivilisierten, steinernen Zentren eines riesigen Machtkreises, dort die am Rande damals bekannter Horizonte in holzerdener Vergänglichkeit angesiedelten Operationsbasen unternehmender Fernhändler und findiger Handwerker. Trotz aller Abstände gab es aber keinen Zweifel, daß auch die Einwohner der Großsiedlungen Haithabu und Birka jedenfalls nicht bäuerlich gelebt haben. Der Kontrast weist auf ein zentrales Problem europäisch-westlicher Städtebildung hin, das der Kontinuität. Die Frage nach „Maß und Bedeutung der Kulturzusammenhänge zwischen Antike und Abendland", um den Titel einer wichtigen Abhandlung von Hermann Aubin zu zitieren, hat zu erwägen, ob räumlich benachbarte, zeitlich aufeinander folgende städtische Hochkulturen in echter Kontinuität auseinander hervorgehen können, oder ob deren Beziehungen als funktionale Verwandtschaft, Anpassung an Traditionsvorbilder und zweckmäßige Techniken Urbanen Lebens allgemein anzusehen sind, dessen Ausbildung selbst sodann eigenständig, vom zeitlichen Vorgänger unabhängig erfolgte, sobald sich die Entwicklung eines gegebenen Kulturzusammenhangs aus innerer Notwendigkeit über die Schwelle zur städtischen Großsiedlung hinwegbewegte? Die Untersuchung des Problems muß differenziert nach den gestuften Großräumen des Kontinents erfolgen, dem westlichen Mittelmeerbereich als der spätantiken Herrschaftsmitte, dem von dort her überformten romanisch-germanischen Westen, der kontinentalen Mitte als Vorland spät-
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Heinz Stoob
antiker Ausstrahlungen, dem kaum berührten, aber wirtschaftlich angenäherten Norden und dem byzantinisch beeinflußten Osten, hinter dem sich die asiatische Weite öffnet. Sie orientiert sich an einem fast uferlosen und bis heute kontrovers gebliebenen Schrifttum. Hatte etwa schon Friedrich Karl von Savigny 1815 in seiner „Geschichte des römischen Rechts im Mittelalter" die lombardische Kommune als den legitimen Erben des „municipium" der Antike bezeichnet, so sah Carl von Hegel in der 1847 erschienenen „Geschichte der Städteverfassung von Italien" keinerlei gerade Brücke zwischen dem spätrömischen Mediolanum und dem lombardischen Mailand. Ähnlich entschlossen vertraten ein Halbjahrhundert später Alfons Dopsch mit einer Fülle neuer Argumente die Fortdauer städtischen Lebens bis auf Karl den Großen, der große Belgier Henri Pirenne dagegen den völligen Niedergang antiker Kultur und Verkehrswirtschaft bis zum spätkarolingischen Tiefpunkte. Beide bildeten Schule, wurden teils ergänzt, teils widerlegt, und immer vielschichtiger öffnete und vertiefte sich räumlich wie sachlich das Problem. Nannte Claudio Sanchez-Albornoz 1943 sein Buch „Ruina y extincion del municipio romano en Espana", so vertrat Edith Ennen 1953 ideenreich und vielseitig anregend wieder das Prinzip der Kontinuität grundsätzlich. Der Sache nach lernte man zu scheiden zwischen baulichem Fortleben und Neubenutzung von Stadtruinen, zwischen Siedlungskonstanz und -Verlagerung, zwischen weiterbestehenden städtischen Gewerben und echter urbaner Wirtschaftsorganistion, zwischen Dauer, Abbruch und Wandel munizipaler Verfassung und Verwaltung, zwischen herrschaftlichen und gemeindlichen Organen der Einwohnerschaft, zwischen der spätantiken „civitas" als einem Stadt-Umland-Bezirk und der Trennung von Stadt und Land, die siedlungsmäßig, verfassungs- und kirchenrechtlich sowie gesellschaftlich und wirtschaftlich, das heißt umfassend funktional, den mittelalterlichen Stadtbegriff im Okzident ausmacht. Dabei spielten moderne, im Gefolge der Kriegszerstörungen ertragreich vertiefte Disziplinen der Stadtkernforschung eine wesentliche Rolle, namentlich die Archäologie, aber auch die Kirchengeschichte, denn als Kontinuitätsträger hatten sowohl geistliche Reduktionsmitten im verfallenden spätantiken Stadtgefüge als auch die Bischöfe als Erben bestimmter Zentralitätsfunktionen beträchtliche Bedeutung. Starke regionale Unterschiede erschwerten die zutreffende Beurteilung des im Vergleich zum provinzialrömischen Leben eingetretenen, jedenfalls folgenschweren Abfalls.
Hochmittelalterliche Städtebildung
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Schon an den Prototypen Urbanen Lebens faßte man die Kontraste auf: unter den mediterranen Hauptstädten der Antike wurde Rom weit mehr durch Abbruch und Wandel als durch Dauer und Fortentwicklung bestimmt, beharrte dagegen Byzanz bis zu seinem Fall in ungebrochener, wenn auch langsam erstarrender Kontinuität. Eine Stadt wie Paris war zwar spätantik vorgeformt, wich dann aber über die Seineinsel als Brückenglied auf den anderen Stromhang aus, um sich dort unabhängig neu zu entwickeln . In Prag entfaltete sich die Urbanität erst auf wanderzeitlichen Wurzeln der Siedlung, in Moskau gar erst auf solchen des Hochmittelalters. Auf andere Weise rücken diese Modellfälle in eine lateinisch-westliche Gruppe Rom, Paris, Prag - und eine orthodox-östliche - Byzanz, Moskau - auseinander. Die Gegensätze lagen aber nicht nur in der politischen und kirchlichen Spaltung, so wesentlich diese für die Ausbildung zweier verschiedenen Bereiche Urbanen Lebens auf unserem Kontinent im Mittelalter geworden ist. Vielmehr hat sich der Westen später durch wichtige Neubildungen oder Veränderungen des Stadtcharakters eindeutig vom Osten abgehoben. Erstens kam es im nachantiken Westen zur funktionalen Trennung von Stadt und Umland. Das gilt sowohl für den Siedlungskörper in Grundriß und Aufbau mit dessen spezifisch mittelalterlichen Steinkonturen, als für die Ordnungen von Recht und Verfassung mit zu Exemption und Autonomie drängenden Zielen, als nicht minder für die ständisch-soziale Gliederung mit ihren eigengesetzlich aus der Umgebung hervortretenden, Wirtschaft und Gesellschaft anders fassenden Formen; es mündete in besondere geistige Horizonte, die ein eigenes bürgerliches Selbstverständnis und Selbstbewußtsein als Genossenverband in Verfassung und Recht, Kirche und Bildung, Handel und Gewerbe, Versorgung und Fürsorge hervorriefen. Von dem beinahe in jeder Hinsicht einen erstaunlichen Singular vertretenden Byzanz ganz abgesehen, findet sich die Summe dieser Neubildungen und Scheidungen weder in der orthodoxen ostslawischen Staatlichkeit noch bei den bunt gemischten Balkanvölkern; und selbst in Byzanz gab es keine städtische, sondern eine Staatswirtschaft, keine bürgerliche Gesellschaft, sondern auf den Basileus bezogene Klientelen, kein geistiges Eigenbewußtsein des in diesem Sinne fehlenden, weder verfassungsmäßig noch rechtlich umrissenen Bürgertums. Im Westen wurden ferner spezifische Formen der bürgerlichen Gemeinde-
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bildung entwickelt; das geschah nicht in Gestalt einer Nivellierung, aber doch einer enger gestuften Verbindung von bestimmten Urbanen Bevölkerungsgruppen. Der unternehmende Fernhandel, der gestützt auf die korporative Personaleinung mit selbständiger Initiative disponiert, und das marktproduktive Gewerbe, das mit dem Rückhalt eines nachbarschaftlichen Lokalverbandes die Nachfrage des Umlandes wie des Fernhandels zugleich nutzt und befriedigt, sie stellten bei diesem Vorgang die eigentlich prägenden Gruppen dar, traten aber, was die Forschung erst neuerdings besser berücksichtigt hat, in Wechselbeziehung und zugleich in Verbindung mit ebenfalls korporativen Einungen der Ministerialität sowie mit bestimmten Teilen des ortsgesessenen Klerus, soweit beide in die urbane Lebensgemeinschaft eingegangen sind. Zelle der Bürgergemeinde war dabei das „gesamte Haus" im Sinne des auf Max Weber fußenden Otto Brunner, also der unter hausherrlicher Muntschaft stehende Friedenskreis, in den über die Großfamilie hinaus gestuft Abhängige, wie Gesinde und Gäste, Gesellen und Lehrlinge, aber auch in geordneter oder freier Fürsorge erfaßte Unbehauste einbezogen waren, aus dem sie umgekehrt ausgeschlossen bleiben konnten. Die Bürgergemeinde als Ganzes war in erweitertem Sinne ein solches, die Stadt autonom umfassendes „gesamtes Haus"; ihren Verband bildete die Gesamtheit der vollberechtigten Hausherren, eben der „Bürger" im Sinne des europäischen Mittelalters. Dieser Verband war Schwurgemeinde auf sakraler Basis, was beispielsweise Nichtchristen von vornherein ausschloß; er bildete Führungsorgane aus, die in sich Keime zu eigener, obrigkeitlicher Herrschaftsbildung trugen, er war also zugleich Genosseneinung und Substrat kollegialer, nicht monarchischer, Herrschaftsform. Beides blieb selbstverständlich, wie alle menschlichen Ordnungen, dem Rechtsbruch und dem Mißbrauch ausgesetzt, doch hat sich der Bürgerverband seit dem Hochmittelalter für längere Jahrhunderte funktionsfähig behauptet. Spannungen erwuchsen ihm aus dem Kontrapunkt Gemeinde - Ratsobrigkeit, aus innerund zwischenstädtischen Egoismen und Rivalitäten ebenso wie aus der Tatsache, daß die erwähnten, urban einbezogenen Gruppen von Adel und Klerus ihrerseits Teile auch im Umlande sitzender Stände des mittelalterlichen Lebens waren, endlich aus den Schwierigkeiten der Uberwölbung von deren Immunitäten sowie von sondergemeindlichen Gruppen, wie etwa der lombardischen „hospites" oder der unter Königsschutz gestellten Juden.
Hochmittelalterliche Städtebildung
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Das führt zur dritten, grundsätzlichen Unterscheidung von westlichem und östlichem Städtewesen. Zwar hatte auch die westliche Stadt des Mittelalters immer einen Ortsherren, sie war also nie absolut autonom. Anders als im Osten bestand jedoch zwischen dem Stadtherren und der Bürgergemeinde ein Vertragsverhältnis, das im Zusammenhang mit deren hochmittelalterlicher Entwicklung in langen Etappen ausgehandelt, aber seither auch durch ein- bzw. mehrmaligen Rechtsakt übertragen sein konnte. Die Vertragslage war dabei ständig im Fluß, konnte also auch beseitigt, unterbrochen, gestört, jedoch selbst bei Anwendung des Widerstandsrechts, als eines legitimen Bestandteils westlicher Verfassungsordnung, jeweils nur auf Zeit außer Kraft gesetzt sein. Gerade wegen der vorhin skizzierten außerordentlichen Unterschiede in Ausgangslage und Entwicklung bei der vorhin erwähnten Modellgruppe Rom-Paris-Prag muß es besonders auffallen, daß die ersten Belege für derartige Vertragsverhältnisse bei allen dreien zeitlich benachbart dem 12. Jahrhundert angehören, in Vorstufen zum späteren 11. Jahrhundert zurückreichen. Hier liegen sogleich Gemeinsamkeiten der westlichen Entwicklung zutage, die umso bemerkenswerter sind, als die frühmittelalterlichen Vorstufen sich im ganzen Kulturbereich noch erheblich voneinander abhoben, vergleicht man etwa das merowingische Tournai, das karolingische Regensburg, das Genua des 10. Jahrhunderts, den keltischen bzw. angelsächsischen Großort auf den britischen Inseln, den ottonischen Marktort und Bischofssitz Halberstadt, die gleichzeitigen Fernhandelsplätze der Küste von Quentovic bis Wollin oder die westslawischen Fürstensitze salischer Zeit in Prag, Breslau, Gnesen. Für sie alle gelten andererseits, das ist als wichtiges Ergebnis der letzten Forschungsjahrzehnte festzuhalten, nicht-agrarische Sachzusammenhänge von Staat und Kirche, Wirtschaft und Gesellschaft, die in den sich entfaltenden, okzidentalen Bindungen wurzeln. Anstelle einer frühmittelalterlichen Differenziertheit, die sich auch in den alle Teile des Kulturzusammenhangs zueinander beziehenden Ubergangsformen trotz deren unverkennbarer und wachsender Gemeinsamkeit noch fassen läßt, kam es also mit Schwerpunkt im 11. Jahrhundert zu einem den Westen rasch und ganz erfassenden Prozeß der Stadtbildung mit bestimmten, konstitutiven Abläufen. Zu diesen gehörten abermals topographische, verfassungsrechtliche, wirtschaftlich-soziale und geistige Vorgänge: das Fortschreiten zum nun auch außersakralen Steinbau und zur Gesamtbefestigung aller bis dahin
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locker einander zugeordneten Siedlungsteile, zur Entwicklung eines personal orientierten Fernhandels- und eines lokal gebundenen Marktrechts („ius mercatorum" - „ius fori"), zur Organisation des Marktbetriebs und zur schrittweisen Geleitsregelung des Wasser- und des Landverkehrs, vor allem aber zur Bewußtwerdung der gemeinsamen Ortszugehörigkeit sowohl bei den handel- und gewerbetreibenden Bürgern als auch bei den Bewohnern der herrschaftlichen Burgsiedlungen, der Klerikerkonvente sowie der etwaigen Sondergemeinden am Orte, kurz es kam zur Sprengelbildung unter Ausschluß des Umlandes auch im geistigen und geistlichen Sinne. Den indirekten Beweis dafür, daß und wann diese sehr umfassenden, vielschichtigen und folgenreichen Wandlungen zu einem gewissen Wendepunkt gelangt waren, liefern weniger die alten Landesmitten, weil dort Kontinuitätselemente und frühe Bindungen an die Ortsherren später oft verzögernd wirken konnten, als vielmehr solche städtischen Siedlungen, die binnen kurzer Zeit und im Zusammenhang mit Planungsanlagen entstanden, „gegründet", waren. In den älteren Vororten, die oft auf bestimmte Weise und mit wechselnden Akzenten vorgeformt, oft auch durch bereits erworbene Sonderrechte etwa der Fernhändler, der Immunitätsinsassen oder der Burgmannen bei der eben erwähnten Zusammenfügung aller Ortsteile behindert erscheinen, stand man zwar unverändert nach Größe, Bedeutung und Ausstrahlung voran, doch lassen sich die typischen Begleiterscheinungen der westlichen Städtebildung methodisch exakter an den viel kleineren, aus bestimmten regionalen Bedingtheiten erwachsenen Plananlagen beobachten. Wir finden sie im frühen 11. Jahrhundert fast gleichzeitig in Italien und Spanien wie im nordfranzösischen und im mitteldeutschen Markengebiet. Aversa bei Neapel ist zum Beispiel die erste normannische Plananlage städtischen Charakters in Unteritalien, entstanden zwischen 1020 und 1050 neben einem Dorfe, mit der Grafenburg, dem neuen Domstift und den eigens geschaffenen Klerikerkonventen. Wenig später auf sechs Kirchspiele erweitert, wird es von den „burgenses" und den „bavassores civitatis", Lehnsleuten des normannischen Grafen, um 1100 schon mit mehrstöckigen Häusern dicht bebaut und entfaltet einen lebhaften Marktbetrieb für Nahgüter und Fernhandel (Abb. 42). Leon in Kastilien erhielt nach der Wiedereroberung aus maurischer Hand ab 1020 die über seine Legionsfeste hinausgreifende, zunächst halbkreis-
Hochmittelalterliche Städtebildung
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42. Aversa. Baublockplan der Stadt
förmige Erweiterung mit einem neuen „fuero", dem königlichen Marktprivileg, zur Entfaltung als Hauptstadt (Abb. 43). Caen in der Normandie war eine der um 1025 vom dortigen Herzog entwickelten Plananlagen, ebenfalls mit Burg, Klerikerkonventen und Marktsiedlung, hier zugleich mit wichtiger Hafenfunktion am Vorabend jenes Übergangs Wilhelms des Eroberers nach England (Abb. 44). Naumburg an der Saale endlich wurde kurz nach 1030 im Zuge einer Rückverlegung des Bistums Zeitz planmäßig angelegt im Zusammenwirken Kaiser Konrads II., seines hier eingesetzten Bischofs und der kinderlosen markgräflichen Brüder Ekkehard II. und Hermann, die sich auf ihrem Grund und Boden dort bereits eine Grablege geschaffen hatten und sie 1046 dem Salier Heinrich III. übertrugen (Abb. 45). Diese und entsprechende, etwa zeitgleiche Plananlagen fanden zwar
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9utrta
Μ
Stoob
CoitH'e
- I L E O M ) · 43. Leon. Baublockplan der Stadt
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durchweg Rückhalt an schon vorhandenen örtlichkeiten sehr verschiedener Gestalt, erweiterten sie aber jeweils durch das typische Ensemble von Bürgersiedlung, Herrenburg und geistlichen Konventen. Eine gewisse zeitliche Phasenverschiebung läßt sich lediglich im nördlichen und östlichen Ausdehnungsbereich okzidentaler Einflüsse feststellen. Bei den Skandinaviern also, den Westslawen, den Ungarn und Kroaten/Slowenen drangen entsprechend gestaltete Großsiedlungen erst im Zusammenhang mit dem säkularen Vorgang der Expansion kontinentaler Volks- und Herrschaftskräfte ein, wie er nach der ersten großen Phase der fränkischen Zeit erneut seit Anfang des 12. Jahrhunderts auf breiter Front voranschritt. Als Ansatzpunkte dienten dabei nicht selten, jedoch keineswegs immer und stets mit bezeichnenden Schwerpunktverlagerungen die nordischen und östlichen Emporien, Burgmärkte und Fürstensitze. Von da an gewannen diese Orte, wie sich bei den Slawen am Übergang von „gorod", ,,grad" zu „miasto", „mesta" nur hier, nicht aber im russisch-ukrainischen Bereich, ablesen läßt, einen grundsätzlichen Abstand im funktionalen Gefüge zu den ostslawischen Zentren. Wurde mit diesen Planungsvorgängen die Schwelle zur Städtebildung im okzidentalen Sinne endgültig und äußerlich wie funktional sichtbar überschritten, so muß man doch die im Schrifttum verbreitete Unterscheidung von „gewachsenen" und „gegründeten" Städten als verfehlt ablehnen. Genauer besehen stellen sich die Wachstumsphasen bei der großen Mehrzahl mittelalterlicher Bürgergemeinden als eine ineinander greifende Abfolge von spontanen und planmäßigen Vorgängen dar, und zwar gilt das nicht nur für die topographische Entfaltung, sondern sinngemäß wieder ebenso für die verfassungsrechtlichen und die wirtschaftlich-sozialen Abläufe. Dieses Miteinander über Jahrhunderte hinweg fortschreitender Ausbildung aller Seiten städtischen Lebens mag hier am Beispiel der Stadt Goslar näher betrachtet werden (Abb. 46). Gleich wichtig als Bergbauort und salische Vorzugspfalz, verspricht Goslar besonders lehrreiche Aufschlüsse über das höchst komplexe Phänomen „Stadtbildung". In den Jagdstützpunkt bereits ottonischer Zeit verlegte Heinrich II. bald nach 1000 die Bezirksverwaltung von der Pfalz Werla her, die sich unweit der 15 km nördlich Goslar vorbeiziehenden Fernverbindung Hildesheim-Braunschweig befand. Er hatte dafür politische und wirtschaftliche Gründe. Als Landtagsort der Sachsen stand Werla unter erheblichem Druck von Heinrichs brunonischen und billungischen Gegnern; zugleich war die Ausbeute der seit etwa 960/70 am
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Rammeisberg über Goslar geförderten Silbererze so beträchtlich gestiegen, daß der Ort schon zur wichtigsten Münzstätte des Königtums geworden war. Zwischen der dörflichen Siedlung oberhalb St. Peter auf dem Frankenberge und einem Domanialbezirk mit Königshof bei St. Johannis wuchs nun vom Straßenknie der Wege nach Hildesheim und Halberstadt aus die Bergstraßensiedlung gewunden zum Erzabbau hinauf. Der Dammschlag des „Hohen Weges" überwand die Flußniederung und staute zugleich ein „vivarium regis" auf als Energiequelle für Mühlen, Erzveredlung und Münzprägung. Schon Otto III. hatte eine Reliquie für Goslar gestiftet; also dürfte um seine Zeit die Marktsiedlung mit dem für spätottonische Anlagen typischen Vierecksplatz ihre Kirche erhalten haben. 1042 verlieh Heinrich III. den Quedlinburger Kaufleuten das gleiche Recht, wie es seit seinen Vorgängern die „mercatores de Goslaria et Magdeburgo" genössen - auch das weist auf Heinrich II. zurück. Schon damals wurde das Marktgericht, gegen eine Viertelsabgabe an den königlichen Richter, der inzwischen entstandenen gewerblichen Marktsiedlergemeinde zugesprochen. Um 1017 war Heinrich II. auch nach dem Zeugnis Thietmars von Merseburg mit dem lebhaften Ausbau der „villa" Goslar beschäftigt. Von 1038 bis 1047 entstanden sodann drei große Stiftsgründungen der Salier: St. Georgen im Norden, St. Peter im Osten und vor allem St. Simon und Juda bei der Pfalz, die jetzt einen mächtigen, bald von zwei Kapellen flankierten Palas erhielt. Heinrich III. kam zunehmend häufig nach Goslar; neben seiner Bau- und Herrschaftstätigkeit zog natürlich auch der Domanialverkehr bei den gut ausgestatteten Konventen Menschen aus dem Umlande heran. Unvermindert wuchs weiter der Fernhandel auf Montanbasis, und die Münzprägung erreichte ihren Höhepunkt. So darf man damit rechnen, daß nun die Marktsiedlung nach Osten bis etwa zur späteren Pfarrsprengelgrenze wuchs, daß sie aber vor allem durch eine Plananlage mit den Vorsiedlungen an Bergstraße und Frankenbergkirche zusammengefügt wurde. Achse des neuen Ortsteils war die Frankenberger Straße; sie wurde durch eine Reihe leidlich parallel geführter Quergassen mit der Bergstraße verbunden. Ähnlich wie in Speyer, einer der weiteren frühen Plananlagen salischen Ursprungs, erhielt die Achse eine Stadtbachführung; oberhalb der Peterskirche wurde sie von der Talsohle abgezweigt und weiter über die Marktstraße geführt. Von dort scheint sie dann am Nord-
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rande der damaligen Bebauung abschüssig und gerade ostwärts weiter gelaufen zu sein. U m 1048 war der bedeutende schwäbische Kapellan Benno in die kaiserliche Hofkapelle an Simon und Juda berufen worden, die salische Ausbildungsstätte für Kanzlei und Episkopat, deren geistiges Niveau im hochmittelalterlichen Goslar tonangebend war. Als Kleriker, Organisator, Agrarfachmann und Baumeister gleich bewährt,wurde Benno schon um 1050 Domscholaster von Hildesheim, wenig später dann Dompropst und damit zugleich Archidiakon für den Goslarer Bezirk. Maßgeblich an den Dombauten in Speyer und Goslar beteiligt, blieb er auch als Bischof von Osnabrück seit 1068 dem Hofe Heinrichs IV. verbunden, bis er mit diesem 1073 Goslar verlassen mußte, weil der Sachsenkrieg ausgebrochen war. Bennos „duplex potestas" am kirchlichen Sendgericht und als Verwaltungsträger des Königs ist von Heinemann eingehend geklärt worden; vielleicht stand bereits hinter der Plananlage um die Frankenbergstraße Bennos Initiative, bestimmt aber wird man sie für den daraus hervorwachsenden Dreistraßenverband des Jacobi-Kirchspiels bis gegen 1070 anzunehmen haben, sowie endlich für die zu 1073 durch Lampert von Hersfeld bezeugte Gesamtbefestigung. Der Umriß dieses Holz-Erde-Walles läßt sich am Ortsbilde gut rekonstruieren; er faßte auch den inzwischen ostwärts noch erweiterten Markt mit ein. Der beträchtlichen Vergrößerung entsprach ein administrativer, wirtschaftlicher und sozialer Aufstieg des Ortes, und es fällt auf, daß es unvermindert dabei blieb, auch dann, als die Königsherrschaft ab 1077 zunächst auf die fast immer von Goslar aus operierenden Gegenkönige Rudolf von Rheinfelden sowie Hermann von Salm überging, um dann seit 1088 jahrzehntelang überhaupt auszufallen. Vorteil zog aus der günstigen Entwicklung besonders die nun fest gefügte, verfaßte Bürgergemeinde. 1108 hatte sie bereits einen selbständigen Führungskreis, wie eine damals getroffene Grenzregelung zwischen den Pfarrsprengeln der Frankenbergkirche einer - , der Markt - und der Jakobikirche andererseits beweist. Erst mit Lothars III. Königswahl 1125 änderte sich nochmals die Herrschaftslage am Orte. War er schon vorher wiederholt mit dem letzten Salier zusammen in Goslar gewesen, so hielt er sich als König sehr häufig und oft lange Monate hindurch dort auf. Konsequent reorganisierte er dabei die Reichsvogtei, fügte im Umlande Krön- und Eigengut zusammen, setzte Ministeriale und Lehngrafen an und verband so
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diesen zentralen Bezirk seiner Macht mit dessen alter Mitte um Braunschweig, Königslutter und Haldensleben. Unter Lothar setzte aber ferner die Ostbewegung ein, zugleich mit dem fernhändlerischen Ausgriff in den Ostseeraum und dem Siedlerzug in die westslawischen Länder. Auch dabei nahm Goslar eine Vorzugsstellung ein. Der jüngst auf Gotland entdeckte Münzfund von Bürge, acht Jahre nach Lothars Tod 1145 vergraben, enthält unter 3500 Münzen rund 1700 niedersächsische, von denen allein 1300 zu Lothars Zeit in Goslar geprägt worden sind. Die wichtigen Privilegien Lothars für die Fernhändler von Quedlinburg und Magdeburg, vermutlich auch Bardowick und Lüneburg, sowie sein zu erschließendes großes Gotlandprivileg, ferner die neue Grenzpolitik des Kaisers gegenüber Dänen, Obotriten, Ranen und Lutizen, die Zerstörung der Kultstätte Rethra am Tollense-See sowie die Missionsförderung in Pommern und Nordelbien, endlich die Neufestigung der Lehnshoheit über Dänen, Greifen in Pommern, Piasten und Przemysliden, das alles bedeutete zugleich die Sicherung von Wirkungsfeldern des Goslarer Bürgertums und vor allem der Bergleute am Rammeisberg, deren Erzförderung nun einen ersten Gipfel erreichte. Lothars enge Beziehungen zur Klosterreform spielten bei der Entfaltung des 1117 durch Reichsministeriale aus Goslar begründeten Augustinerstifts Riechenberg eine Rolle. Der erste Stiftspropst Gerhard genoß zugleich das Vertrauen des Herrschers wie des von diesem 1130 investierten Hildesheimer Bischofs und konnte so zwischen den im Harzraume aufeinandertreffenden Interessen von König und Bistum vermitteln. Dafür gewann er von der Diözese zusätzlich noch die Propstei von St. Georgen/Goslar und Lothar fertigte ihm zwei Freibriefe für Riechenberg aus. Anscheinend geht auch der erste Gerichtshallenbau auf dem Goslarer Markt, Vorstufe des Rathauses, auf Lothars Zeit zurück, und jedenfalls erscheint kurz nach seinem Tode das vierte Kirchspiel Stephani 1142 erstmals in der Uberlieferung. Es bildet die ganze Osthälfte der Stadt bis zum Breiten Tore. Hier war die Bebauung längs der Breiten Straße gewiß schon erheblich früher über die salische Befestigung hinausgewachsen, an einen Planvorgang hatte sich also eine spontane Entwicklung angeschlossen. Diese wurde nun wieder planmäßig durch die Parallele der Kornstraße mit ihren in bezeichnendem Unterschiede zu den Seitengassen der älteren Ausfallstraße sehr gerade und stets gegenständig angelegten Querrippen ergänzt. Fügen wir hinzu, daß Goslar, obwohl kein Bischofssitz, seit 1131 regelmäßig „civitas"
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genannt wird, und daß seine vier Kirchspiele 1151 gemeinsam belegt sind, so dürfen wir als den entscheidenden Zeitraum der Stadtbildung hier die Jahrzehnte zwischen 1100 und 1140 ansehen. Die Bürgerschaft selbst betrieb nun, was deren materielle Kräfte unterstreicht, unmittelbar anschließend einen mächtigen Steinmauerbau. Er muß 1167 schon verteidigungsfähig gewesen sein, als die Stadt es wagen konnte, sich offen gegen Heinrich den Löwen zu stellen aufseiten von dessen fürstlichen Gegnern. 1181u. 86 wird der Steinbering auch urkundlich bezeugt. Die nur noch selten und kurz in Goslar Hof haltenden Staufer haben der bürgerlichen Initiative zwar begleitende Hilfe erwiesen und ihren Reichsvogt auch bei der Stiftung des Klosters Neuwerk unterstützt - damit sowie mit der Einbeziehung des vom Pfalzbezirk spontan ostwärts gewachsenen domanialen Kleinbürgerviertels weitete sich das Oval der Stadt nach der nördlichen und südlichen Flanke zur nun endgültigen mittelalterlichen Fläche von 84 ha aus - , treibende Kraft aber war nicht mehr der königliche Ortsherr, sondern das aus Dienstmannen, Berg- und Hüttenleuten, aus Fernhändlern und Handwerkern, aus Klerikern und Grundholden der großen innerstädtischen Wirtschaftshöfe zusammenwachsende Stadtvolk unter zunehmend autonomer Führung durch die eigenen Organe. Unser Plan, an dem sich die ganze Kette der Wachstumsphasen verfolgen läßt, gibt uns etwa durch das Fehlen aller in die Zeit vor 1850 zurückreichenden Bauten im Nordosten des Kirchspiels Stephani weiterhin Anhaltspunkte für die Vermutung, daß noch im frühen 13. Jahrhundert ansehnliche Freiflächen innerhalb des Berings liegen geblieben waren, die wohl erst erheblich später, teils planmäßig, teils spontan, aufgesiedelt worden sind. Der unverändert große Bauwille der Bürger konzentrierte sich um die Mitte des 13. Jahrhunderts neben der schrittweise verstärkten und bald sogar verdoppelten Stadtmauer und ihren Toren sowie Türmen auf neue Großbauten in der Marktgegend; außer dem Rathaus wuchsen dort jetzt zahlreiche Gildehäuser der Fernhändler und gewerblichen Korporationen auf. Hier amtierte spätestens 1236 das fertig entwickelte Ratskolleg. Die Marktkirche selbst, ebenso die Jakobi- und die Frankenberger Kirche wurden gerade damals eingewölbt und erweitert, eine Reihe neuer Kapellen, Klöster und Spitäler trat hinzu; das Goslar der Zeit um 1250 dürfte demnach einer für die Zeit höchst modernen Großbaustelle geglichen haben. Das Wirtschaftswachstum ging Hand in Hand mit sprunghafter Entfaltung der Bergbautechnik in den nun zum Untertagebau übergehenden Montananlagen.
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Von ihnen strahlten seit der Zeit Lothars III. lebhafte Einflüsse auf die Bergwerke im thüringischen Altenburg und im meißnischen Freiberg weiter, wie auch die Bergleute selbst über diese Städte nach Böhmen hinein wanderten, um in Kuttenberg und Iglau sowie wenig später in den Bergstädten Oberungarns und der Zips nach Silber und anderen Edelmetallen zu schürfen. Unser Modell Goslar sollte den an Tiefe des Wandels wohl nur mit dem des industriellen Zeitalters nach dem Wiener Kongreß zu vergleichenden säkularen Prozeß der europäischen Städtebildung wenigstens an einem besonders plastisch ausgeprägten Beispiel hervortreten lassen. Für den Umfang des Vorgangs müssen wir seine Verbreitung noch etwas näher betrachten. Goslar gehörte, wir sahen es, einer schon vorstaufischen Periode der Städtebildung an. Um 1150 wies Mitteleuropa zwischen Brügge und Wien, Schleswig und Genf etwa 200 Städte auf, von denen allein die Hälfte westlich der Linie Genf-Verdun-Utrecht lag. Dabei prägten große Vororte mit hoher Zentralitätswirkung auf das Umland sowie sehr bezeichnend gefügte Städteketten das Verbreitungsbild. Tournai und Verdun, Trier und Besangon, Metz und Aachen, Augsburg und Nürnberg, Würzburg und Erfurt, Worms und Köln, Utrecht und Braunschweig waren schon damals „Stadtzentren" von weitreichender Bedeutung, um sie als Beispiele herauszugreifen; dabei erfolgte die Entwicklung etwa in Augsburg, Nürnberg, Würzburg und Braunschweig, der an Goslar betrachteten entsprechend, wesentlich in salischer Zeit (Abb. 47). Die ersten ,,Städteketten" orientierten sich an der Lage dieser Zentren, sie unterstreichen damit zugleich das besondere Gewicht bestimmter Achsen des politischen, des wirtschaftlichen und des geistigen Fernverkehrs, denn auch die hochmittelalterliche Rolle etwa des Pilgerzuges darf nicht vergessen werden. Die kräftig betonte Rheinlinie steht voran mit ihrer von Utrecht und Tiel über Nimwegen, Duisburg und Köln stromauf weisenden Kette; von Mainz, Worms und Speyer verfolgen wir sie weiter nach Straßburg und Basel, Schaffhausen, Konstanz, St. Gallen und Chur, das heißt zur Graubündner Paßgruppe hinauf. Die Rheinlinie war das eigentliche Rückgrat hochmittelalterlicher Staatlichkeit, Verbundwirtschaft und geistiger Beziehungen. Eine gewisse Parallele dazu bietet die Maaskette von Epinal, Toul und Verdun über Dinant, Namur, Huy und Lüttich bis nach Maastricht. Schwächer besetzt, aber von Ulm und Augsburg her über
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Regensburg und Passau weit ostwärts bis nach Stein/Krems und Wien weisend, finden wir die Donaulinie, Straße sowohl der Kreuzheere zu Lande wie des Regensburger Fernhandels und der bajuwarischen Südostsiedlung. Verbindungen zum Rheine hat sie noch kaum, denn das bedeutende Viereck Würzburg-Bamberg-Nürnberg-Hall muß von der fränkischmainzischen Obermainmission und jener salisch-staufischen Regionalpolitik her verstanden werden, zu der auch Ulm und Augsburg enge Bezüge aufweisen. Vom Baseler Rheinknie her führt über Solothurn und Lausanne, weiter nach Genf und Sitten der Fernweg nach Savoyen mit dessen ebenfalls wichtiger Gruppe von Alpenpässen. Von Mainz und von Köln aus weisen zwei Ketten zur Mittelelbe hin: die eine erreicht über Frankfurt und Fulda das Erfurter Becken mit Erfurt selbst, Mühlhausen-Nordhausen, sodann den Saalebogen mit Halle-Merseburg-Naumburg und den obersächsischen Landesausbau um Altenburg-Zwickau-Meißen, sie stellt über Hersfeld und Fritzlar eine Querverbindung nach Marsberg und Paderborn in Westfalen her; die andere folgt der alten Hellweglinie über Dortmund-Soest-Paderborn zur Mittelweser bei Höxter, weiter nach Hildesheim-BraunschweigHalberstadt-Magdeburg, und entsendet Abzweige nordwärts über Münster-Osnabrück nach Bremen-Stade, über Minden-Verden nach Bardowick-Hamburg und Lübeck, das neben Schleswig als erste Spitze bereits die Ostseeküste erreicht. Nur eine Region aber zeigt bereits eine zum „Städtenetz" fortgeschrittene Verbreitung: Brabant-Flandern-Hennegau mit seinen von der Linie St. Truyden-Löwen-Mecheln-Antwerpen über Gent, Brüssel und Möns weiter nach Valenciennes-Cambrai-Douai-Arras, nach Oudenaarde-Lille sowie nach Brügge-Ypern-Cassel bis in den Raum von Amiens und St. Omer verteilten, aufblühenden Textilstädten; hier bildet sich der die Champagne ablösende wirtschaftliche Gegenpol zur Lombardei heraus. Im Gesamtbilde der Verbreitung treten aber auch sehr markante Leerzonen hervor: der Nordwesten zwischen Elbmündung und Ijsselmeer, die Lüneburger Heide und der Mittelgebirgsriegel von Sauerland und Rothaar bis Taunus, Rhön und Spessart, weiter dann Odenwald und Schwarzwald, ferner Ardennen, Eifel und Hunsrück; noch klafft Leere zwischen Bamberg und Erfurt, sind Oberfranken und die Oberpfalz ebenso ohne Städte wie das Alpenvorland südlich der Donau, das Hinterland von Salzburg und die
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Herzogtümer Kärnten-Steier. Mit dem staufischen Zeitalter setzt dann eine starke Verdichtung der Städtedecke ein, die sich allein bis gegen 1200 in den genannten Grenzen fast verdreifachte. Dabei läßt sich vor allem die durch Friedrich I. und Heinrich VI. energisch vorangetriebene Verwendung städtischer Plananlagen als Werkzeug der Herrschaftsbildung erkennen. Links des Oberrheins, von Colmar bis Kaiserslautern, in Schwaben um Überlingen, Biberach, Eßlingen und Heilbronn, in Mittelfranken von Donauwörth und Weißenburg bis nach Rothenburg und Ansbach, weiter östlich um Amberg und Schweinfurt, Hof und Eger, an der Oberweser und in Thüringen um Höxter, Eschwege und Saalfeld, im Vogt- und Pleißnerlande mit Weida, Chemnitz, Bautzen spielen junge Bürgergemeinden oder unter staufische Vogtei gelangte Städte kirchlicher Ortsherren in der von den Königen betriebenen Reichslandpolitik eine ähnlich wichtige Rolle, wie in der Wetterau mit Gelnhausen, Friedberg und Wetzlar oder am Mittelrhein mit Oberwesel, Boppard, Andernach, Sinzig. Etwa ein Viertel aller um 1198 vorhandenen Städte Mitteleuropas stehen damit unter königlicher Ortsherrschaft; im Wege der Bezirksbildung mit städtischen Zentren sowie mit dem neuen Typus der Stadtpfalzen, wie Hagenau, Seligenstadt, Kaiserswerth, Leisnig, sucht das Königtum zu flächenhafter erstreckten Gebietsherrschaften durchzustoßen, die als breiter Diagonalgürtel von Burgund bis nach Meißen-Brandenburg das Reich verklammern sollen. Schon jedoch haben die regionalen Rivalen staufischer Herrschaft ebenfalls den Vorteil städtischer Plananlagen erkannt: die Zähringer wirken am Oberrhein von Bern und Rheinfelden bis Freiburg und Offenburg, der weifische Doppelherzog führt im niederdeutschen Räume das Werk des kaiserlichen Großvaters zwischen Göttingen, Hannover, Haldensleben und Schwerin weiter, sucht auch in Bayern München zu fördern; die thüringisch-hessischen Landgrafen, der Mainzer und der Kölner Erzbischof, die wettinischen und askanischen Markgrafen, die nordelbischen Schauenburger, Kleve/Geldern am Niederrhein, Holland und Brabant im Westen haben gegenüber dem Königtum den Vorteil ständigerer Anwesenheit in ihrem regionaler begrenzten Stützpunktsystem. Mit dem Niederbruch der Krongewalt seit der Doppelwahl von 1198 treten wir in fehdereiche Jahrzehnte; sie geben dem Bürgertum die energisch genutzte Gelegenheit zu umfassender Ausweitung der städtischen Selbstbestimmung. Viele Bischofs- und Abteistädte spielen erfolgreich ihre Orts-
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herren und das Königtum gegeneinander aus, entgleiten jedenfalls fortschreitend einem unmittelbaren Zugriff. Als Friedrich II. sich endlich durchgesetzt hat, kann er fast nur noch an Oberrhein und Neckar die alten Ziele wieder aufgreifen und neue Städte anlegen, alte erweitern lassen. Manche Einbuße, etwa um Saalfeld oder Maastricht, ist nicht mehr rückgängig zu machen; des Königs tüchtige Helfer, die Reichsministerialen, begründen jetzt bereits auf eigene Faust bürgerliches Leben, im Pleißnerlande wie in der Pfalz und Wetterau. Überall aber kommen die Landesherren jetzt endgültig in Vorhand: westfälische Grafen, Hessen und Henneberger, pfälzisch-bayerische Wittelsbacher, Württemberger und Savoyer, die Babenberger in den österreichischen Landen, die AndechsMeranier, Habsburg und Kyburg in der Schweiz. Noch wichtiger aber legt sich über die Neustammgebiete das planmäßig entwickelte Städteschachbrett wendischer wie deutscher Landesherren: Obotriten in Mecklenburg, Greifen in Pommern, Askanier in der Mark, Wettiner in der Lausitz legen reihenweise neue Städte an, vor allem die schlesischen Piasten stoßen damit bis in den Raum um Ratibor vor und begegnen dort der das Marchtal hinaufdringenden mährischen Entwicklung. Uber Posen-Kujawien wird bis zum Ende der staufischen Zeit Masowien erreicht, ferner entstehen um Thorn, Kulm und Marienwerder/Elbing die ersten Ordensstädte. Zugleich wird über Krakau der obere Weichselbogen bis Sandomir mit ersten Städten versehen, dringen in Oberungarn deutsche Bergleute nach Karpfen, Schemnitz und Altsohl vor, entstehen in der Zips Leutschau, am Hernad Kaschau, am Rande Siebenbürgens Satmar und Großwardein, während sich die erste innerungarische Städtegruppe um Gran und Ofen an der mittleren Donau bildet und das steirisch-kärntnische Städtenetz wesentlich verdichtet. Fassen wir zusammen, so bringt die erste Hälfte des 13. Jahrhunderts abermals eine Verdreifachung der Städtezahl in Mitteleuropa auf nunmehr etwa 1500 Orte. In der nun bereits recht großen Dichte treten aber, was die neu zuwachsenden Bürgergemeinden angeht, nur noch nach Osten hin Städte größeren Umfangs und Gewichts hervor. Weit überwiegend bereits werden Kleinstädte angelegt: dabei macht sich, namentlich im Westen, schon ein gewisser Sättigungsgrad im Städtenetz bemerkbar, ferner scheinen die Kräfte sowohl des Bürgertums als auch der Ortsherren abzunehmen, zumal sich ja gleichzeitig die älteren Städte, das Beispiel Goslar zeigte es, kräftig weiter entfalteten. Ausgangs der staufischen Zeit hat der König kaum noch ein Zehntel aller vorhandenen Städte unter seiner Herr-
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schaft, und darin liegt das Scheitern hochmittelalterlicher Machtbildung durch die Zentralgewalt unter Beiziehung auch des Städtewesens beschlossen. Bei den starken Massierungen vorwiegend kleiner und kleinster Städte im alemannischen, im hessisch-westfälischen, im sächsisch-thüringischen Räume treten unverkennbar Folgen kleinräumiger Territoriaikämpfe ursächlich hervor; sie heben sich vom planmäßig ausgebauten Schachbrett im Gürtel größerflächiger Markengebiete von Holstein bis nach Schlesien deutlich ab. U m 1250 noch ganz oder fast leere Landschaften wie Ostpommern, Ostpreußen, Innerpolen und Innerböhmen sowie das Karpatenvorland sind von diesem Ausbau einfach noch nicht erfaßte Räume, zu denen die andauernde Ostbewegung noch auf dem Wege ist. Hier sagt eine Leerzone daher anderes aus als bei den oben erwähnten des Westens, denn im Endmoränenbereich zwischen Lüneburger Heide und niederländischer Veluwe, im Venn der Eifel, in den Wäldern der Ardennen, des Hunsrück und der oberdeutschen Mittelgebirge, erst recht natürlich im Hochgebirgszuge der Alpen haben wir es mit Bereichen zu tun, die vom Naturraum her nicht siedlungsfreundlich sind, also auch nur wenig oder gar keinen Nährboden für die Entfaltung von Bürgergemeinden bieten. Ihnen gegenüber hebt sich bereits um 1250 durch sein gut entwickeltes Städtenetz jener fruchtbare Gürtel besonderer Bodenbonitäten klar ab, der sich von Flandern-Brabant über das niederrhein-westfälische, das niedersächsisch-mittelelbische und das beiderseits der Oder gelegene schlesische Land quer durch den Kontinent in Richtung Rotreußen-Ukraine hinzieht. Auch an den Hauptverkehrslinien ist die Rolle dieses Gürtels gut zu beobachten. Erinnern wir uns, wie sich am Wachstum Goslars das kommunizierende Verhältnis zwischen bürgerlicher Leistungsfähigkeit und heraufsteigender mitteleuropäischer Verbundwirtschaft erkennen ließ, dann werden wir die großen Fernverkehrs spinnen bedeutender Städte wie Brüssel, Köln, Soest, Braunschweig, Magdeburg, Bautzen, Breslau, Krakau innerhalb dieses Zusammenhangs richtig bewerten, ihnen zugleich die südlichen Gegenbilder klassischer Regionalzentren wie Prag, Regensburg, Nürnberg an die Seite stellen. Aber auch zahlreiche der partnerschaftlich von fürstlichen Ortsherren und Bürgerverbänden zuwege gebrachten Stadtbildungen haben binnen weniger Jahrzehnte der spätstaufischen Zeit ihre mehr oder weniger weit gespannte Autonomie als baulicher Körper, als Rechts- und Verfassungsverband sowie als wirtschaftlich und gesellschaft-
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lieh zunehmend eigenständiges Gemeinwesen gewonnen. Von dieser um 1250 weithin vorhandenen Führungsgruppe des mitteleuropäischen Städtewesens ist die spätmittelalterliche Stadtqualität ausschlaggebend bestimmt worden, der wir uns mit dem nächsten Abschnitt zuwenden wollen.
Schrifttumshinweise G. WAITZ, Deutsche Verfassungsgeschichte, 8 Bde., hatte in Bd. 5 (2. Aufl., hg. von K. ZEUMER, Berlin 1893) S. 393 ff. sowie Bd. 7-8 (Kiel 1876,1878) Kaufleute, Bürgertum und Städtewesen erstmals grundlegend auf der Basis des älteren Schrifttums behandelt. Für die neuere Forschung hat H. PlRENNE entscheidende Anstöße gegeben, zusammengefaßt in der zweibändigen Ausgabe ,,Les villes et les institutions urbaines", 4. Aufl. Brüssel 1939; neben ihm ist der bahnbrechende Aufsatz von M. WEBER, Die Stadt, zuerst 1921, jetzt in: Wirtschaft und Gesellschaft, 4. Aufl. 1956, S. 735ff. als Ausgangspunkt der weiteren Diskussion zu nennen. Deren vom jetzigen Stande der Arbeiten ausgehende, breit angelegte Darstellung steht aus. Einen glänzenden Abriß bot F. RÖRIG in der PropylWG 4/1932, der gesondert und mit Schrifttum ergänzt als „Die europäische Stadt im Mittelalter . . ." hg. A. v. BRANDT, Göttingen 1955, erschien. Unbefriedigend bleibt das abschließende Werk von H. PLANITZ, Die deutsche Stadt im Mittelalter . . ., Graz 1954, eine Kompilation der zum Teil sehr bedeutenden Aufsätze des Verfassers (2. Aufl. 1965 unverändert). Dagegen hat Ε. ENNEN mit ihrer „Frühgeschichte der europäischen Stadt", Bonn 1953, ungeachtet des andauernden Streits um ihre Leitgedanken, die Diskussion der Forschung stark belebt und in „Die europäische Stadt des Mittelalters", Göttingen 1972 (3. Aufl. 1979), weit mehr als eine überarbeitete Neufassung Rörigs geboten, wenn dabei auch der Bereich des östlichen Mitteleuropa zu kurz kommt. Vorzüglich ist die beigefügte, mit Unterstützung durch F. IRSIGLER bearbeitete Schrifttumsliste, S. 235ff. (957 Titel einschl. Nachträgen). Anregenden Wert behalten daneben die geographisch orientierte „Histoire de l'urbanisme" von P. LAVEDAN (1/1926, 2/1941, Paris), nebst dessen „Geographie des villes", 2. Aufl., Paris 1954 sowie die großzügigen, aber nicht immer stichhaltigen Überblicke von R. DICKINSON, The West-European City . . ., London 1951, und L. MUMFORD, The City in History, 1961, sowie The Historian and the City, 1963 (beide auch in Obs. Köln 1963). Einen knappen geographischen Abriß verfaßte P. SCHÖLLER, Die deutschen Städte, Wiesbaden 1967. Von den der Thematik nach enger umgrenzten Darstellungen muß herausgehoben werden Ph. DOLLINGER, La Hanse, Paris 1964 (Ubs. Stuttgart 1966). Aus marxistischer Sicht behandelte K. CZOK „Die Stadt. . .", Leipzig 1969. Besonders wichtige Beiträge zur Erforschung der Städtegeschichte bieten eine Reihe von Sammelbänden; hier folgen zunächst die wichtigsten führender Städteforscher samt ihnen gewidmeter Festschriften. Außer der bereits genannten Publikation von H. PlRENNE sind es F. RORIG, Wirtschaftskräfte im Mittelalter, Weimar 1959 (2. Aufl. 1971 unverändert), dem
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1953 (Lübeck) auch eine durch A. v. BRANDT und W . KOPPE hg. Gedächtnisschrift „Städtewesen und Bürgertum als geschichtliche Kräfte" gewidmet wurde, ferner H . AMMANN, dessen gesammelte „ o p e r a o m n i a " (10 Bde., im Institut f ü r vergl. Städtegeschichte, Münster) weit überwiegend Abhandlungen z u m Städtewesen umfassen, und der 1965 eine Festschrift „Beiträge zur Wirtschafts- und Stadtgeschichte" erhielt (hg. H . AUBIN u . a . , Wiesbaden). T h . MAYER, Mittelalterliche Studien, Konstanz 1959, setzte sich vor allem mit F. RÖRIG auseinander; ihm wurden „ A u s Verfassungs- und Landesgeschichte" 2 Bde., Konstanz 1 9 5 4 - 5 5 zugeeignet, die wichtige Beiträge zum Städtewesen enthalten. Als den schärfsten und eindringendsten Kopf unter den Städteforschern der letzten Jahrzehnte wird man W . SCHLESINGER bezeichnen müssen; seine „Beiträge zur deutschen Verfassungsgeschichte des Mittelalters" geben in Bd. 2/1963 (Göttingen) darüber Aufschluß, daneben sind seine „Mitteldeutschen Beiträge zur deutschen Verfassungsgeschichte des Mittelalters", Göttingen 1961, zu nennen sowie die ihm gewidmete Festschrift, 2 Bde., Köln 1973-74. O . BRUNNER, N e u e Wege der Sozialgeschichte, Göttingen 1956, und H . AUBIN, Grundlagen und Perspektiven geschichtlicher Kulturraumforschung und Kulturmorphologie,(hg. v. F. PETRI, Bonn 1965), leisteten zum Problem der Definition und der Kontinuität wichtige Arbeit, von O . BRUNNER u . a . wurde die Festschrift f ü r H . AUBIN, Wiesbaden 1965, mit vielen hier zu beachtenden Beiträgen herausgegeben. Die Abhandlungen von F. STEINBACH legten F. PETRI/G. DROEGE, Collectanea Franz Steinbach, B o n n 1967, vor. Ε. ENNEN erhielt von W . BESCH u . a . die Festschrift „ D i e Stadt in der europäischen Geschichte", Bonn 1972, gewidmet, in der von F. PRINZ u . a . redigierten Festschrift f ü r K. BOSL, Bayerische Geschichte als Tradition und Modell, München 1973, stehen eine Reihe weiterer Forschungen z u m Städtewesen, ebenso in der von G . DROEGE u . a . herausgegebenen Festschrift f ü r F. PETRI, „Landschaft und Geschichte", Bonn 1970. Seine bis 1969 verfaßten Beiträge zum Problem sammelte H . STOOB, Forschungen z u m Städtewesen in Europa, Bd. I, Köln 1970. Die nächste G r u p p e der Sammelbände verdankt ihr Entstehen der Initiative bestimmter Tagungs- und Forschungszentren, die sich ganz oder in Schwerpunkten mit dem Problemkreise der Städtegeschichte befaßten. Hervorzuheben sind hier TH. MAYER, Studien zu den Anfängen des europ. Städtewesens, Konstanzer Vorträge und Forschungen 4/1958 sowie Untersuchungen zur gesellschafdichen Struktur der mittelalterlichen Städte in Europa, ebda., Bd. 11/1966, ferner die ,Recueils de la Societe Jean Bodin „ L a foire" (5/1953), und „ L a ville" ( 6 - 8 / 1 9 5 4 - 5 7 ) , die vom Spoletiner Tagungskreise veröffentlichten Bände „ La cittä nell' alto mediaevo" (6/1959), „ M o n e t a e scambi" (8/1961) und „Topografia urbana . . . " (2 Bde., 21/1974), die beiden von H . JANKUHN vorgelegten Bände „ V o r - und F r ü h f o r m e n der europäischen Stadt", Göttingen 1973, die Reihe „ P r o Civitate" (hg. von F. VERCAUTEREN, Lüttich 1962ff.), die von W . RAUSCH betreuten Bände „ D i e Städte Mitteleuropas im 12. und 13. J h . " , Linz 1963, „Stadt und Stadtherr im 14. J h . " , ebda. 1972, und „ D i e Stadt am Ausgang des Mittelalters", ebda. 1974, die E. MASCHKE und J. SYDOW zu dankenden Veröffentlichungen des Südwestdeutschen Arbeitskreises für Städtegeschichte, Stuttgart 1966ff., der von B. TÖPFER herausgegebene ostdeutsche Sammelband „Stadt und Städtebürgertum . . . des 13. J h . " , Berlin 1976, und die neue Publikationsreihe des „ K u r a t o r i u m s f ü r vergleichende Städtegeschichte" in Münster, „Städteforschung" (hg. von H . STOOB u . a . , 1976ff.). U b e r diese hinaus informieren E. KEYSER (Hg.), Bibliographie zur Städtegeschichte Deutschlands, Köln 1969 (Zweitauflage in Vorbereitung; Hinweise auf die älteren, 1 9 6 0 - 6 7 erschie-
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nenen Bibliographien für Skandinavien, England, Schweiz, Frankreich); PH. WOLFF, Guide international d'histoire urbaine, I: Europe, Paris 1977. Für die Quellen zur Städtegeschichte hat die ältere Sammlung von F. KEUTGEN, Urkunden zur städtischen Verfassungsgeschichte, Berlin 1901, unverändert großen Wert; neu erschienen die „Quellen zur älteren Geschichte des Städtewesens in Mitteldeutschland, 2 Teile, Weimar 1949 (Hg. R . KÖTZSCHKE) und der „Elenchus fontium historiae urbanae", Leiden 1967 (Hg. C . v. d. KLEFT, B. DIESTELKAMP u.a.). Das als Nachschlagewerk grundlegende Handbuch ist E . KEYSER, Hg., Deutsches Städtebuch, 11 Bde., Stuttgart 1939-74 (V, 1 - 2 Bayern hg. von E. KEYSER/H. STOOB); ihm entspricht A. HOFFMANN, Hg., österreichisches Städtebuch, bisher 4 Bde., Wien 1968-76. Als Atlanten sind hervorzuheben P. MEIER, Niedersächsischer Städteatlas, 2. Aufl. Hannover 1926ff.; O . SCHLÜTER/Ο. AUGUST, Atlas des Saale- und mittl. Elbegebiets, Leipzig 1 9 5 9 - 6 1 (wichtiger Textband!); Ε . ENNEN u.a., Rheinischer Städteatlas, Bonn 1972ff (bisher 36 Blätter); H . STOOB, Deutscher Städteatlas, Dortmund 1973ff. (bisher 25Blätter); H. STOOB, Westf. Städteatlas, Dortmung 1975ff. (bisher 30 Blätter); M. LOBEL, Historie Towns, Oxford 1969ff. (bisherl2 Städte behandelt). Sehr nützliche Sammlungen, soweit erforderlich in Übersetzung, hat die Reihe „Wege der Forschung" der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft Darmstadt vorgelegt; zu nennen sind: P. HOBINGER, Hg., Zur Frage der Periodengrenze zwischen Altertum und Mittelalter, Bd. 51/1969; ÜERS., Kulturbruch oder Kulturkontinuität. . .", Bd. 201/1968; C. HAASE, Die Stadt des Mittelalters, 3 Bde., 2 4 3 - 4 5 / 1 9 6 9 - 7 3 ; H . STOOB, Altständisches Bürgertum, 2 Bde., 417f./1978.
Einzelhinweise zum Abschnitt ,,Städtebildung" F. v. SAVIGNY, Geschichte des römischen Rechts im Mittelalter, 2. Aufl., 7 Bde., Heidelberg 1 8 3 4 - 5 1 ; C . v. HEGEL, Geschichte der Städteverfassung in Italien . . ., 2 Bde., Leipzig 1847; A. DOPSCH, Wirtschaftliche und soziale Grundlagen der europ. Kulturentwicklung . . . von Caesar bis auf Karl den Großen, 2 Tie., Wien 1 9 2 3 - 2 4 ; H . PLRENNE, Mahomet et Charlemagne,
7. Aufl.
Paris 1937 (Ubs. von P. HÜBINGER, 2.
Aufl.
Amsterdam
1941);
C . SANCHEZ-ALBORNOZ, Ruina y extineiön del munieipio romano en Espana . . ., BuenosAires 1943; O . BERTOLINI u.a., Storia di Roma, Bde. I X - X I I ,
1947ff.; R . MAYER,
Byzantion-Konstantinopolis-Istanbul, Ak. d. Wiss. Wien, Phil.-hist. Kl., Denkschriften 71, 3, Wien 1943; A. SCHNEIDER, Mauern und Tore am Goldenen Horn . . ., in: Nachr. der Ak. d. Wiss. Göttingen, Phil.-hist. Kl., 1950, S. 6 5 - 1 0 7 ; R . JANIN, Constantinople Byzantine, Paris 1950; Μ . POtTE, Une vie de Cite: Paris . . ., 1 Tafel-, 3 Textbde., Paris 1 9 2 4 - 3 1 ; P. LEFRANCOIS, Paris a travers les siecles, Paris 1948 (Abriß); O . SCHÜRER, Prag. Kultur, Kunst, Geschichte, 5. Aufl., München/Brünn 1943; J. CAREK, Romanska Praha, Prag 1947; H . SCHAEDER, Moskau, das dritte Rom, Osteurop. Studien 1/1929; H . BUNIN, Geschichte
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des russischen Städtebaus . . . (Ubs. von M. FISCHER), Berlin 1961, bes. S. 67ff. (Über H . AUBIN, 1965, O . BRUNNER, 1956, und E. ENNEN, 1953, vgl. oben!). Zu Aversa: A. GALLO, Aversa Normanna, Neapel 1938; DERS., Codice diplomatico Normanno di Aversa, Neapel 1926; P. KEHR in: Italia Pontificia VIII/1961, S. 279 ff.; H . STOOB, Die Castelli der Colonna, in: Quellen und Forsch, aus ital. Arch, und Bibl. 51/1972, S. 207ff. Zu Leon: L. de VALDEAVELLANO, Sobre los burgos y los burgueses de la Espana medieval. . . , Madrid 1960; O . JÜRGENS, Spanische Städte, Hamburg 1926; H . AMMANN, Vom Städtewesen Spaniens . . . , in: MAYER, Hg., Vortr. u. Forsch. 4/1958, S. 105ff. Zu Caen: H . LEGRAS, Le bourgage de Caen, Paris 1911; M. FAUROUX, Recueil des actes des dues de Normandie . . . , Caen 1961; T. ENDEMANN, Markturkunde und Markt in Frankreich und Burgund vom 9. bis 11. Jh., Konstanz 1964, S. 79,145; L. MUSSET, Peuplement en bourgage et bourgs ruraux en Normandie du X e au XIII' siecle, in: Cahiers de civilisation medievale, Poitiers, 9/1966, S. 177ff. (Übs. bei STOOB, 1978, wie oben!). Zu Naumburg: W. SCHLESINGER, Kirchengeschichte Sachsens, 2 Bde., Köln 1962, hier II, 551 ff.;E.HERZOG,DieottonischeStadt. . ..Berlin 1964,S.54ff.;K.JUNGHANNS,Diedeutsche Stadt im Frühfeudalismus, Berlin 1959, S. 85ff.; O . AUGUST, Textband zum Atlas, wie oben, S. 176 ff. mit Kane 37, IV. Zu Goslar: A. v. BEHR/U. HÖLSCHER, Die Kunstdenkmäler der Prov. Hannover II, 1 + 2 , Stadt Goslar, 1901; H . GRIEP, Das Bürgerhaus in Goslar, Tübingen 1959; K. FRÖLICH, Die Verfassungsentwicklung von Goslar im Mittelalter, in: ZRG 47/1927, S. 287ff.; E. WADLE, Reichsgut und Königsherrschaft unter Lothar III., Berlin 1969; W. HEINEMANN, Das Bistum Hildesheim . . ., Hildesheim 1968; S. WLLKE, Das Goslarer Reichsgebiet. . ., Göttingen 1970; H . STOOB, Die Wachstumsphasen der Stadt Goslar. . ., in: Harz-Zs. 104/1972, S. 59ff.; DERS., Gedanken zur Ostseepolitik Lothars III., in: Festschrift f. F. HAUSMANN, Graz 1977. Zum Verbreitungsbilde: C. HAASE, Die Entstehung der westfälischen Städte, 2. Aufl., Münster 1965; H . STOOB, Die Ausbreitung der abendländischen Stadt im östlichen Mitteleuropa, in: Z f O 10/1961, S. 423ff.; (Kommentar zu den Karten 59-61 in: E. MEYNEN u.a., Atlas östliches Mitteleuropa, Remagen 1959); F. UHLHORN, Hg., Gesch. Adas von Hessen, Marburg 1960ff. (darin hat W. HESS die Städtekarte bearbeitet); H . AMMANN/K. SCHIB, Historischer Atlas der Schweiz, 2. Aufl. Aarau 1958.
Stadtformen und städtisches Leben im späten Mittelalter HEINZ STOOB
Blicken wir auf den Vorgang der hochmittelalterlichen Städtebildung zurück, so beeindruckt die steil emporstrebende Entwicklung bis zum Ende des staufischen Zeitalters nach Quantität und Qualität gleichermaßen. Binnen sechs Generationen hatte sich das mitteleuropäische Städtenetz von 200 auf rund 1500 Bürgergemeinden verdichtet, es war dabei phasenweise nord- und ostwärts ausgebreitet worden und hatte sich durch starke Erweiterung der meisten Einzelglieder sowie durch den Ubergang zum Steinbau, zur autonomen Ratsverfassung, zur fernhändlerisch-marktgewerblichen Wirtschaftsordnung bei wachsender Distanzierung vom ortsherrlichen Zugriff gründlich neu profiliert. Gäbe es nur die statistisch-quantifizierende Betrachtung, so hätten wir das eigentliche Maximum der Städtebildung sogar erst nach 1250 anzusetzen, denn während der Jahrzehnte von 1240 bis 1300 sind - mit steigender Tendenz - jeweils über 300 neue Städte innerhalb unseres von Brügge bis Brest-Litowsk, von Falsterbo bis Genf erstreckten Untersuchungsgebiets zugewachsen. Danach geht die Kurve zwar zurück, doch bleibt sie noch bis 1330 bei etwa 200 neu gebildeten Städten pro Jahrzehnt, bis 1370 bei etwa 150. Erst gegen 1400 unterschreitet der Jahrzehntzuwachs das Hundert, erst zwischen 1460 und 1470 erreicht er mit etwa 25 ein absolutes Minimum, dem dann unverkennbar eine neue Periode mit anderen Vorzeichen folgt. Der Ausgang des Mittelalters liegt also, was zunächst einmal die statistische Kurve der Städtebildung angeht, um 1450; damals haben wir auf unserem Betrachtungsfelde mit rund 5000 Städten zu rechnen, Städten aller Größenordnungen. Der Zusatz unterstreicht, daß eine qualifizierende Beurteilung hinzutreten muß, denn eine Stadtbildung des frühen 12. Jahrhunderts wie sie von uns
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am Beispiel Goslars betrachtet worden war, ist in keiner Weise gleichzusetzen mit der Entstehung etwa von Buxtehude um 1290 oder der von Erlangen um 1360. Da sich mit zunehmender Verdichtung der Städtedecke natürlich die Entfaltungsmöglichkeiten der Neubildungen verringerten, wurden diese dem Einzelumfang und -gewicht nach stetig kleiner und unbedeutender, wobei allerdings die nach Osten fortlaufende Phasenverschiebung ebenso beachtet werden muß, mit ihren entsprechend verzögert auftretenden Funktionstypen, wie mancher besonders gelagerte Ausnahmefall auch im westlichen Kartenteil. Stellt man diese Bedingungen in Rechnung, ergibt sich gleichwohl eine gewisse Typenfolge der Stadtbildung; an sie sollten Zeitstufen der Erfassung sich stärker anlehnen als an die reine Mengenstatistik. Zur ältesten Schicht gehören dann die meist bereits aus frühmittelalterlichen Wurzeln entfalteten, vielzelligen Orte überregionalen Ranges, in denen eine ganze Kette von Wachstumsphasen festzustellen ist wie bei Goslar. Es folgt eine zweite, zahlenmäßig bereits weit stärkere Gruppe von immerhin regionaler Bedeutung, bei der zwar auch durchweg noch vorhandene Kerne, von Hof und Dorf bis zu Burg und Abtei, zur Anlehnung dienen, aber doch ein größerer Planvorgang im Zusammenwirken von bürgerlichen Unternehmern und ortsherrlichen Ministerialen stattfindet, dem sich dann gegebenenfalls spätere Erweiterungen anschließen. Kaum noch übersehbar scheint die dritte Schicht von weit überwiegend kleinen Städten; sie bilden sich meist in machtpolitischen Gruppen, hängen also beim Entstehungsvorgang stärker vom Ortsherren ab und werden oft von diesem selbst auf ältere, normgebende Groß- oder Mittelstädte hingeordnet. In deren Windschatten gelangen sie dann im Spätmittelalter oft aber auch noch zu ansehnlicher Bewegungsfreiheit, sind jedenfalls nach Form und Inhalt unzweifelhaft und im vollen Wortsinne Städte. Zuletzt, mit Anfängen zwar noch dem 13., vorwiegend aber erst den beiden folgenden Jahrhunderten zugehörig, kam noch ein durch Minderung nun auch der Qualität oder durch Kümmerformen aller Art gekennzeichneter „Bodensatz" von Zwergstädten hinzu, Orte, bei denen sich alle Stufen des fließenden Uberganges zwischen Stadt- und Landgemeinde beobachten lassen. Daneben gehört die weitere, für das ausgehende Mittelalter kennzeichnende Beobachtung, daß nun ein unstreitig vorhanden gewesener Stadtcharakter auch bereits wieder verloren gehen, die betreffende Siedlung
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im Extremfalle sogar ganz wieder verschwinden konnte. Wir sprechen dann von „abgekommenen" Städten und von Stadtwüstungen. Letztere sind recht selten, erstere jedoch gehen ausgangs des Mittelalters bereits in die Hunderte. Man wird für die zweite Hälfte des 15. Jahrhunderts davon ausgehen dürfen, daß in ihr kurzfristig bereits einmal der Abgang an Städten den Zuwachs zahlenmäßig übertrifft. Für das Verhältnis dieser natürlich idealtypisch gebildeten und nur so zu verstehenden Schichten zueinander läßt sich mit allem Vorbehalt vielleicht soviel sagen, daß man in Mitteleuropa um 1300 mit etwa 50-60 „Großstädten" von über 10000 Einwohnern oder mindestens 100 Hektar Fläche rechnen darf sowie mit etwa 450-500 „Mittelstädten" von 2000-10000 Einwohnern und 20-100 Hektar Fläche. Aus dieser großen Schar könnte man eine untere Gruppe von 2000-5000 Einwohnern bei mindestens 15 Hektar Fläche ausgliedern und an sie die zahlenmäßig erheblich stärkere der Kleinstädte von 800-2000 Einwohnern anschließen. Unter 8 Hektar Fläche und 800 Einwohnern begänne dann das Reich der Zwerg- und Minderformen, die ihrerseits aber manchen größeren Ort umfassen. Gröber noch als diese idealtypische Einteilung wäre beim derzeitigen Stande unseres Wissens der Versuch angesetzt, Verhältniszahlen der Gruppen zueinander zu ermitteln. Wenn er hier dennoch gewagt wird, so eigentlich mehr, um den Selbstauftrag zu weiterer Arbeit zu begründen und zugleich ein Bemühen um kritische Prüfung anzuspornen. Nach der bisher gewonnenen Ubersicht kamen auf eine mittelalterliche „Großstadt" schätzungsweise 3 große, 8 kleinere Mittelstädte, etwa 35 Kleinstädte, etwa 14 Zwerg- und Minderformen. Vergleicht man mit unseren älteren Angaben von 1961/1970/1979, so ergeben sich beträchtliche, inzwischen ermittelte Verbesserungen, zugleich eben deshalb auch Vorbehalte gegenüber dem immer noch unzulänglichen Stande der Zahlenstatistik. In Verhältniszahlen ausgedrückt wären am Umkehrpunkte der mittelalterlichen Bevölkerungskurve, also etwa um 1330/40, von den damals anzunehmenden rund 3800 Städten im Untersuchungsgebiet ca. 18,5% solche mit weniger als 800 Einwohnern gewesen, weitere 47,5% hätten 800-2000, 2 4 % 2000-5000, 8,5% 5000-10 000 und nur 1,5% über 10 000 Einwohner gezählt. In den gut 500 Groß- und Mittelstädten lebten aber über 4 0 % , in Kleinstädten etwa 5 6 % , in Zwerg- und Minderformen lediglich 4 % der städtischen Bevölkerung. Die räumliche Verteilung der Städte über 2000 Einwohnern
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zeigt in vier Stufen unsere Verbreitungskarte (Abb. 48). Hier tritt der flämisch/niederländische Schwerpunkt sehr scharf hervor, daneben aber die vom Hellweg bis Breslau reichende Querachse, die dichte Streuung in Thüringen-Hessen sowie Franken-Schwaben und im Kontrast dazu die Leere östlich Oder-March-Leitha. Schätzen wir die städtische Einwohnerschaft gegen 1330 zutreffend auf rund 7 Millionen in Mitteleuropa, so bedeutet das allerdings erhebliche Unterschiede zu bisherigen Ansätzen. Diese gehen, etwa bei Hektor Ammann, für Alemannien und andere westeuropäische Landschaften davon aus, daß ein Viertel der spätmittelalterlichen Bevölkerung stadtsässig gewesen sei; Walter Kuhn hat mit guten Belegen für Teile des östlichen Mitteleuropa wahrscheinlich gemacht, daß dort die Städte nur 20% der Gesamtbevölkerung beherbergten. Damit ließen sich bisherige Schätzungen, etwa von Wilhelm Abel, nach denen um 1300 in Deutschland insgesamt kaum 15 Millionen Menschen lebten, schwer oder gar nicht vereinbaren; allerdings werden dabei Flandern-Brabant und volkreiche Teile der Reichsromania des Westens nicht berücksichtigt, und gerade in diesen betrug der städtische Volksanteil noch erheblich mehr, als Ammann es veranschlagte. Gleichwohl darf man, immer auf unseren Untersuchungsraum zwischen Brügge und BrestLitowsk, Falsterbo und Genf bezogen, für die Zeit vor dem „Schwarzen Tode" in Mitteleuropa unter Bezugnahme auf die Zahlenstatistik der Städtebildung mit erheblich höheren Zahlen der Gesamtbevölkerung rechnen als bisher angenommen, und man wird auch den städtischen Volksanteil, zumindest im Bereich der Ballungsräume des westlichen und mittleren Kartenausschnitts auf mehr als ein Viertel anzusetzen haben. In Brabant und Flandern lag er mit Sicherheit über einem Drittel. Geht man aber von über 20 Millionen am Vorabende der Pestwelle in Mitteleuropa lebenden Menschen aus, dann treten auch die einschneidenden Folgen dieser Katastrophe für das spätmittelalterliche Städtewesen drastisch hervor. Sie lassen sich zunächst an dem Kontrast zeigen zwischen einem geschätzten Volksrückgang im Okzident von 73 auf 45 Millionen bis 1400 und der trotz wachsender Zahl von abkommenden Städten dank der vor allem in den östlichen Gebieten fortdauernden Städtebildung rein zahlenmäßig bis 1450 auf die schon erwähnte, absolute Höhe von rund 5000 weiter steigenden Zahl von Städten. Der scheinbare Widerspruch löst sich doppelt auf: zum einen sanken die Volkszahlen selbstverständlich auch in
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den Städten kraß ab, oft nachweislich um über ein Drittel der Einwohnerschaft; zum anderen lösten die Seuchenzüge gerade eine umfangreiche Landflucht aus, weil sich die Anziehungskraft der Bürgergemeinden, in denen Menschen starben, Funktionen, gewerbliche Einrichtungen und Güter aber erhalten blieben, eher noch verstärkte. Das führte besonders in den 66 % der Kleinstädte und Minderformen, aber auch in vielen der mittleren Städte zu einem gründlichen Wandel des Gefüges. Hatten vorher auch bei ihnen in bemerkenswert vielen Fällen der Handel und das Exportgewerbe dominiert, zumindest die Führungsschicht bestimmt, so drangen jetzt das Kleingewerbe mit Nahmarktfunktion sowie der Ackerbau selbst in den kleineren Städten vor. Diese hatten oft, wie an zahlreichen untersuchten Fällen zu erweisen war, ursprünglich kaum eigene Feldmarken besessen, da sie ja vergleichsweise spät gebildet worden waren. Im Zuge eines das städtische Umland weithin erfassenden Wüstungsprozesses verlegten jetzt aber viele überlebende Bauern, oft in geschlossener Gruppe, ihre Wohnsitze hinter die Stadtmauern, um von dort aus die Fluren der verlassenen Dörfer weiter zu bewirtschaften. Damit richtete sich das Interesse der Bürgergemeinden zunehmend auf einen beachtlichen Land Wehrbereich. Das vom 14. Jahrhundert an spürbar trockener und kühler werdende Klima tat ein übriges hinzu, Teile auch der übergroß gewordenen Feldmarken wüst zu legen, und angesichts der ohnehin geringeren Geburtlichkeit sowie größeren Sterblichkeit der städtischen Bevölkerung mit deren höherer sanitärer Gefährdung trug so die Dichte des spätmittelalterlichen Städtenetzes weiter zum Rückgange der Gesamtvolkszahlen mit bei. Vor allem gewannen so namentlich die kleineren Städte erst jetzt ihr eng umgrenztes „ackerbürgerliches" Aussehen, das wegen der gleichfalls erst ausgangs des Mittelalters einsetzenden bildlichen Darstellungen des Stadtprospektes und seiner Teile von der Forschung oft irrig mit dem der „mittelalterlichen" Stadt schlechthin gleichgesetzt worden ist. Endlich traten, der allgemeinen Lage in Mitteleuropa entsprechend, seit je gewichtige regionale Sonderheiten mit dem grundlegenden biologischen, politischen und fernwirtschaftlichen Wandel noch bei weitem schärfer hervor. Die polnische Entwicklung unter Kasimir dem Großen bis 1370 oder die des preußischen Ordensstaates bis 1410 standen unter den Vorzeichen lebhaft fortschreitender Städtebildung, als in Mecklenburg-Vorpommern kaum noch eine einzige neue Stadt anzutreffen war; das spätmittelalterliche Verbreitungsbild im pfälzisch-hessischen und oberdeutschen Räume ist
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durch das Auftauchen einer Vielzahl städtischer Minderformen gekennzeichnet, während sich in der Reichsromania die vorwiegend rural orientierte Bildung von ,,villes neuves" nach dem Vorbilde von Beaumont/ Argonnes oder Prisches/Hennegau abspielte. In der Schweiz wie an der Nordseeküste traten interessante Sonderformen auf, die Vororte von Talschaften der Alpen und Landesgemeinden der Seemarsch, bei denen eine vom Umlande ausgehende Unterbindung von Stadtbildungsvorgängen beobachtet werden kann. Die Entfaltung flächenhaft erstreckter städtischer Territorien und Pfandherrschaften im hansischen wie im schwäbischfränkischen Bereich führte zu sehr bezeichnenden Herrschaftsformen von Städten über Städte. Die Reihe dieser Beispiele von regionalen Sonderentwicklungen ließe sich erheblich verlängern; sie weist auf die kompliziert verflochtenen und zugleich auseinander strebenden Zustände des späteren Mittelalters hin. Diesen Überlegungen zum Zahlenspiegel und zum Verbreitungsbilde des Städtewesens zwischen 1250 und 1450 müssen wir nun, um das zunächst statistisch-theoretisch herausgearbeitete Bild einer Typenfolge von innen heraus mit Leben zu erfüllen, praktische Modelle gegenüber stellen, Modelle aller Größenordnungen und Landschaften des Städtewesens spätmittelalterlicher Zeit. Beginnen wir mit Hildesheim, dem karolingischen Bischofssitz, der schon um 1000 eine erste Domburgmauer und anschließend bis zur Mitte des 12. Jahrhunderts vier im Kreuz dazu liegende Stiftsimmunitäten erhielt: St. Michael im Norden, St. Moritz jenseits der Innerste im Westen, das Kreuzstift im Osten und das Godehardistift im Süden (Abb. 49). Der wichtige Furtweg an der Fernverbindung Köln-Magdeburg wurde zugleich um die Domfreiheit herumgeführt, es entstand der Altemarkt, eine typische, zweizeilige Kaufleutestraße. Daraus wuchs das Marktviertel um die Bürgerpfarre St. Andreas hervor, von dem aus um 1120-30 planmäßig die ovale Altstadt mit einem neuen Marktzentrum angelegt worden ist. Gegen 1196 entstand jedoch an dem durch die Innerste-Niederung erbauten Damm auf dem Grunde des Moritzstifts eine zweite, von Niederländern besiedelte Stadtanlage, und schließlich ließ das Domkapitel um 1215 wieder einen selbständigen anderen Bürgerverband seine Neustadt im Südosten errichten. Seit 1198 lagen Bischof und Domkapitel sowie Altstadt, Dammstadt und bald auch Neustadt in schweren Streitigkeiten; alle drei Bürgergemeinden hatten eigenes Recht, eigene Ratskollegien, eigene Pfarrkirchen,
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eigene Stadtmauern. Die Altstadt sah sich dadurch ernstlich behindert, sie spielte seit Mitte des 13. Jahrhunderts in Städtebünden wechselnder Gestalt und Zusammensetzung mit ihren Nachbarinnen Goslar, Hannover, Hameln, Höxter und anderen meist gegen den Bischof zusammen, drängte diesen, da sie wirtschaftlich und mithin finanziell übermächtig wurde, aus allen Positionen in seinem Domsitz heraus, abgesehen von der geistlichen, und genoß spätestens um 1300, inzwischen auch eng mit der Hanse verbunden, unbeschränkte Bewegungsfreiheit. Eine der dauernden Reibungen mit der Dammstadt wurde daraufhin in der Weihnacht 1332 benutzt, um diese zu überfallen und gänzlich zu vernichten. Selbst die Nikolaipfarre verschwand, und nur noch der einstige Umfassungsgraben erinnert an diesen heute ganz locker bebauten Ortsteil. Die Neustadt St. Lamberti dagegen wurde einbezogen, da sie sich völlig den Altstädtern unterordnete; erst 1383 hat sie wenigstens minderheitlichen Anteil am Rat erhalten, erst 1806 wurde sie gleichberechtigt! Tuchhandel und Brauerei begründeten die wirtschaftliche Blüte Hildesheims im 13.-15. Jahrhundert, wobei die hervorragende Verkehrslage im Kreuz des Hellwegs und der Leinestraße ein großes Gewicht hatte. Daneben war ein weites und fruchtbares Umland auf den Hildesheimer Markt und seine Lebensmittelgewerbe ausgerichtet. Erst nachmittelalterlich spielten endlich die Bodenschätze (Kali, Kreide, Ton und Erdöl) eine zunehmende Rolle für die Stadtwirtschaft. Schwere Fehden, in denen der Bischof 1435, 1481-86 und nochmals am Vorabende der Reformation 1519-23 vergeblich versuchte, sich gegen die Autonomie seiner Domstadt und ihre Verbündeten durchzusetzen, verursachten zwar nicht eigentlich, begleiteten aber doch zeitlich den Umschwung zu wirtschaftlicher Stagnation und nachfolgendem Niedergang. Er war demnach keine Folge der biologischen Wende des 14. Jahrhunderts, sondern erst das Ergebnis grundlegender Wandlungen am Aufgange der Neuzeit. Im Rückgang der Einwohnerschaft von rund 10000 noch gegen 1500 auf nur noch die gute Hälfte um 1650 spiegelt sich der charakteristische Abstieg. Nach der Bischofsstadt Hildesheim betrachten wir die Kaiserstadt Nürnberg, von Dürers Lehrer Wolgemut für Schedels Weltchronik 1493 idealisierend porträtiert, als gehe es um ein Denkmal der spätmittelalterlichen Großstadt schlechthin (Abb. 50). Die Anfänge Nürnbergs hängen mit der salischen Markenpolitik zusammen; von Heinrich III. erhielt es 1040
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Marktrecht, und nach einer Unterbrechung wurde ab etwa 1065 der Ausbau nachdrücklich fortgesetzt. Neben die wohl erste Marktkirche St. Jakobi im Südwesten der späteren Stadtfläche trat um 1070 St. Sebald als Wallfahrtsziel; die Plananlage um diese Bürgerpfarre war um 1130 mit der starken Burg verbunden, der gut befestigte Ort hatte zweifellos Stadtcharakter, als ihn damals Lothar III. erst mit einer zweiten, langwierigen Belagerung überwinden konnte. Die Staufer erweiterten Nürnberg seit etwa 1140 um eine topographisch ganz selbständige St. Lorenz-Stadt am südlichen Gegenufer der Pegnitz. Zur Vorzugspfalz namentlich des Reichstags aufgestiegen, löste sich die inzwischen gesamtbefestigte Doppelstadt erst nach dem Ende der Staufer aus der den Königsstädten eigenen Abhängigkeit, gewann dafür nun jedoch, anders als Hildesheim, die verfassungstopographische Einheit unter einem einzigen Rat. Dabei spielte der kräftige Rückhalt an einem von der Zentralgewalt zielbewußt ausgebauten Umlande mit, zumal er die früh einsetzenden Fernwirkungen der vorteilhaften Rechtslage begünstigte (Abb. 51). Lag Nürnberg wie ein Gelenk im diagonalen Kreuz der Herrschaftsachsen des hoch- wie des spätmittelalterlichen Königtums, so sorgte diese auch wirtschaftlich ungemein günstige Position für ein auf leistungsfähige Exportgewerbe begründetes, materiell wie biologisch ungewöhnliches Wachstum. In dem um 1320 nochmals erweiterten und stark ausgebauten Doppelbering lagen fast 80 Hektar Fläche; schon ab 1346 wurde aber auch die Einbeziehung der großen Vorstädte ins Auge gefaßt und das zwischen beiden Städten liegende Gebiet unter Beseitigung des dortigen Judenviertels als neuer Marktbezirk mit Marienkapelle des Rates umgestaltet. Der darum geführte Mauerzug brachte die Stadt auf 138 Hektar Fläche; infolge der Hussitenkriege entstand endlich jene heute noch erhaltene oder wieder hergestellte Doppelmauer mit modernen Bastionen, die dann durch mächtige Toranlagen des 16. Jahrhunderts auf einen Umfang von 160 Hektar kam. Die Stadt zählte 1397 gut 5 600 Steuernde, also einschließlich der Stadtarmut wohl erheblich über 20 000 Einwohner, und das gerade in der vorhin skizzierten Zeit biologischer Rezessionen ringsum; das ganze Stadtgebiet war jetzt dicht und hoch, das heißt mehrstöckig, bebaut. Frühzeitig hatte sich das auf Metall- und Textilverarbeitung beruhende Exportgewerbe einen weit ausgreifenden Fernhandelsvertrieb gesichert. Der Einzugsbereich wie der Abnehmerkreis spannten sich fast über den ganzen Kontinent. Das verschaffte der sicher disponierenden und besonders den Warenverkehr
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glänzend organisierenden Führungsschicht auch beim Ausbau der Obrigkeit gegenüber der Gemeinde wertvollen Rückhalt. Ein Aufstand zur Herrschaftsbeteiligung drängender, vorwiegend besitzbürgerlicher Schichten, die nach dem Tode Ludwigs des Bayern gegen den Ubergang des Rates zur Partei Karls IV. waren, gelang nur vorübergehend; in den Sturz des neuen Rates wurden auch Nürnbergs Juden blutig verwickelt. Auch danach blieb es bei einer nur minderheitlichen Beteiligung mittelständischen Bürgertums am Ratsregiment. Auf Nürnbergs Märkten begegneten sich Waren und Händler des Orients, Italiens, Burgunds und Frankreichs, der Niederlande und des hansischen Großverkehrsraumes; vor allem war die Ausstrahlung nach Osten sehr groß. Neusiedler aus Nürnberger Familien begegnen uns zahlreich in Lübeck und Leipzig, in Breslau und Krakau, besonders aber in Prag, dessen Altstadt bereits im Hochmittelalter zu Nürnberger Recht privilegiert worden war. Karl IV. gestaltete die Verbindung enger denn je; erst die schweren Hussitenkämpfe schnitten den Zugang und Durchgang durch Böhmen für lange Zeit ab. Damit schlug Leipzigs große Stunde, während sich Nürnbergs böhmischer Verkehr nicht vor dem Reformationszeitalter wieder leidlich einspielen konnte. Im Transit gingen über Nürnberg vor allem flämische Tuche nach Osten; seine durch das technisch hervorragende Metallgewerbe zu allen sudetischen Märkten angeknüpften Verbindungen kamen aber auch dem oberdeutschen Leinen- und Barchenthandel zugute. Seit dem 15. Jahrhundert gingen Nürnberger Spezialisten in den wieder aufblühenden Bergbau unter Tage; das Nürnberger Geld folgte ihnen als gesuchte Investitionsbasis der Kupfer- und Edelmetallminen von Mansfeld und dem Erzgebirge über Kuttenberg und Iglau bis zur Slowakei und nach Tirol. Die starke Ausstrahlung in das Umland führte ferner zu ausgedehntem Grundbesitz: Nürnberger Bürger und Konvente hatten lange Zeit ganze Dörfergruppen in der Hand, sie gründeten sogar Städte im oberfränkischen Hinterlande. Noch wichtiger war es, daß die Stadt vermöge ihrer finanziellen Überlegenheit den aus Amtsträgern des Königs zu eigener Territorialherrschaft gestiegenen Burggrafen die umliegenden, riesigen Waldgebiete, einstige Königsforsten, abnehmen konnte. Der Lorenzer- und der Sebalderwald, wie sie nach ihren Kirchspielsverwaltungen hießen, weisen die früheste planmäßige Forstverwaltung in Europa auf; 1367 ist hier bereits Wald gesät worden, blühten Köhlerei, Pechsiederei und Zeidlerei als
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typische Waldgewerbe auf. Aus der Bienenzucht der Zeidlerzunft hat Nürnberg sein Monopol für die seit dem 15. Jahrhundert betriebene Lebkuchenbäckerei gewonnen. Erst frühneuzeitlich kamen ferner im Umlande der Hopfen- und Tabakbau hinzu, aber schon 1449 wird uns das „Knoblauchsland" nördlich der Stadt bezeugt, ein auf der bekannten Vogelschau von Pfinzing vom Ende des 16. Jahrhunderts gut erkennbares Gemüsebauzentrum, in dem später auch Arzneipflanzen gezogen wurden. Damals aber neigte sich, wie nicht zuletzt am Schicksal großer Bankhäuser zu sehen, die Hochblüte Nürnbergs ihrem allmählichen Ende zu. Neben dem Wahlort Frankfurt und dem Krönungsort Aachen war das spätmittelalterliche Nürnberg als bevorzugter Reichstagsort eine Itinerarmitte aller Kaiser; es spielte im Bewußtsein der Zeit eine größere Rolle, als die langsam Residenzcharakter annehmenden Wohnsitze vieler Herrscher, Prag und Wien. So nahm es innerhalb der damaligen Großstädte nicht nur nach Umfang und Wirtschaftskraft, sondern auch im Sinne der auf Oberdeutschland orientierten Staatlichkeit eine Sonderstellung ein, die sich nicht zuletzt in der geistig-kulturellen Atmosphäre dieser den frühen Buchdruck, die Malerei und Baukunst, aber auch das Fastnachtsspiel und das reiche Brauchtum von Zünften und Bruderschaften pflegenden fränkischen Reichsmitte vorbildhaft fassen läßt. Nürnbergs kulturelle Ausstrahlung auf den verschiedensten Gebieten ist an Bedeutung seiner wirtschaftlichen Zentralität im späten Mittelalter gleichwertig zur Seite zu stellen. In Stralsund, Vorpommerns hansischem Haupthafen, betreten wir nun abermals eine ganz neue Welt. Zwar mit deutlichem Abstände zu den Großstädten an der südlichen Ostseeküste, Lübeck, Stettin und Danzig, aber doch im vordersten Gliede nachfolgender, großer Mittelstädte, hatte die koloniale Tochtergründung von Rostock, etwa ein Menschenalter nach diesem entstanden und 1234 vom rügischen Fürsten als Ortsherren mit Rostocker Recht versehen, ihren vorzüglichen Hafen am Zugang zur Kalkinsel sowie zu den Heringsfanggründen vor Hiddensee mit seiner insularen Schutzlage fast unverändert behauptet, was zugleich allerdings, ähnlich wie in Lübeck, ihre Entfaltungsmöglichkeiten räumlich begrenzte (Abb. 52). Das Ortsbild zeigt eine Dreigliedrigkeit aus der Nikolai-Altstadt und zwei südlich daran gefügten Erweiterungen um die Neustadt Sankt Marien und um die Jakobipfarre. Der Gründungsumfang hatte sich damit bis gegen 1260 auf 48 Hektar verdoppelt. Als Eckbastionen baute man im Westen den Katharinenkonvent der Dominikaner, im Norden St. Johannis
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der Franziskaner und im Südosten das Heiliggeistspital. Den südlichen Zugang beherrschte der mächtige Marienturm. So treten bei Stralsund riesige Sakralbauten anstelle der hier ganz fehlenden Kirchenburg oder Königspfalz, ein kennzeichnender Unterschied zu den beiden vorher betrachteten Großstädten des Altsiedelraumes. Er tritt natürlich auch in dem rationalklaren Raster des Grundrißbildes der Sundstadt hervor, von deren 10 Toren im Steinbering des späten 13. Jahrhunderts nur 4 zum Lande weisen, während 6 auf die Schiffsbrücken des Hafens ausgerichtet sind, als Kopfund Kontrollstationen ebensovieler Parallelstraßen, mit denen der Umschlag für die Zeit höchst modern organisiert wurde - ein Kennzeichen hansischer Ostseehäfen von Lübeck bis Wisby. In der von Karl Gruber entworfenen Rekonstruktion wird diese vorzüglich ausgewogene Plangestalt der Stralsunder Altstadt mit dem ebenso geschützten wie geräumigen Hafenbereich herausgehoben; die hohen Kirchenschiffe betonen einmal den Zug der „Langen Straße" als Durchgangsachse, zum anderen das großartig aus Rathaus, Schrangen für den Marktbetrieb, Stadtbrunnen und Staffelgiebeln der Bürgerhäuser zusammengefügte Zentrum um den fast quadratischen Altmarkt (Abb. 53). Kraft und Schönheit der Backsteingotik wirken zusammen in den aufstrebenden Linien der Formsteinvorlagen und Fenstermaßwerke, dem Putz der Blendarkaturen, dem buntgemauerten Filigran der Giebelspitzen und den ruhenden Massen der Turmriesen. Die lebendige Farbe dieser hansischen Bauprovinz leuchtet auch im ebenso robusten wie zweckmäßigen Alltagsbau; das wird sich in den Stralsunder Hafenbauten jener Zeit ähnlich gespiegelt haben, wie etwa heute noch an der bekannten Salzspeicherfront der Lübecker Obertrave. In den natürlichen Grenzen seiner Bebauung mußte auch das bastionär befestigte Stralsund schwedischer Zeit beharren; immerhin werden wir in der dicht und mehrstöckig bebauten mittelstädtischen Fläche von rund 60 Hektar des 15. Jahrhunderts mit 9 - 1 0 000 Einwohnern rechnen dürfen. Anders als in Hildesheim, und aus anderen Gründen als in Nürnberg, war schon im 13. Jahrhundert die gemeinsame Führung der Doppelstadt durch einen zweischichtig verfaßten Rat entstanden, an dem 1334 auch die Neustadt zu einem Drittel beteiligt war. Den Ton gaben im Rat auch hier die Kaufleute an, aber neben ihnen hatten auch die Handwerker Zugang zur Obrigkeit. Dem entsprach die Wirtschaftsordnung; sie war weit einseitiger als zu Nürnberg oder gar zu Hildesheim vom Fernhandel geprägt. Unter den wendischen Hansestädten entfaltet sich Stralsund namentlich als Umschlag-
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platz für schwedisches Erz (Osemund), baltisches Holz (Wagenschot), dänische Viehprodukte und vor allem rügischen, später schonischen Hering gegen flämisches und englisches Tuch. Daneben spielen das Bier und sein Rohstoff, das Getreide aus dem pommerischen Hinterlande, nur eine zweitrangige Rolle. Die geistige Welt des spätmittelalterlichen Bürgertums wird an der durch Zaske und Ewe eindringlich dargestellten Stralsunder Baugeschichte besonders lebendig: zugleich mit dem großen Mauerring wuchs anstelle einer ersten Gruppe von dreischiffigen Hallenkirchen, die tlic Nikolai, die beiden Konventskirchen Katharinen und Johannis, ferner wahrscheinlich den ersten Marienbau umfaßte, seit etwa 1270 die zwar auf gleichem Grundriß, aber auch im Aufgehenden fast völlig neu hochgeführte Nikolai-Kathedrale empor, Ausdruck zugleich eines erstaunlichen materiellen Leistungsvermögens und einer vom französischen Westen faszinierten Mystik. Ab 1366 wurde der alte Einturm durch eine großartige Doppelfassade ersetzt. Die weniger wohlhabende Kirchspielsgemeinde Jakobi dagegen entschied sich zu gleicher Zeit für das einfachere Hallenschema, um es dann doch im 14. Jahrhundert, als auch hier die Mittel verfügbar wurden, in eine chorlose Basilika umzugestalten. Noch weiter ging die mit der Altstadt rivalisierende, von reich gewordenen Gewandschneidern geführte Neustadtgemeinde; während sich bei Nikolai der in den Proportionen ausgewogene Marktbezirk vollendete, wurde im Süden der Neubau Sankt Marien als gewaltige Kreuzbasilika mit dreischiffigem Querhaus unternommen. Zwischen 1382 und 1476 wuchs der auch im Westwerk riesenhafte, als Bau dennoch oder deshalb die Gesamtwirkung des Altstädter Zentrums nicht erreichende Kathedralkörper Marien heran. Ebenfalls gleichzeitig aber entstand eine letzte, betont schlichte Hallenkirche, der unscheinbar-zweckmäßige Spitalbau zum Heiligen Geist im Dienste der bürgerlichen Krankenund Armenfürsorge. So bildete sich in den Hauptgliedern der Stralsunder Silhouette die spätmittelalterliche bürgerliche Gesellschaft mit allen Kontrasten und Spannungen ab, die zugleich alle religiösen wie materiellen Kräfte künstlerischer Gestaltung freigesetzt haben. Mit kürzeren Blicken wollen wir noch eine Auswahl mittlerer bis kleiner Stadtgemeinden bedenken; sie kann bei der Fülle von Möglichkeiten lediglich mit einer gewissen Willkür geschehen und soll darum nur eigene, weitere Beschäftigung anzuregen suchen. Zuerst sei Hameln an der Weser betrachtet, erwachsen aus einer ursprünglich fuldischen Abteizelle St. Boni-
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faz neben der wichtigen Furt des unterhalb Höxter zweiten Fernwegs, der von Paderborn aus nach Niedersachsen führte. Stromabwärts der Klosterimmunität kam es dabei zur Bildung eines der Uferlände unter den Stromschnellen zugewendeten Fernhandelsplatzes, während landseitig von der Furt aus die „Altmarkt"-Siedlung an der Fernwegspur entlangwuchs. Die
Flurkarte von H.A.Nicolai 1 7 6 0
54. Hameln. Umlandkarte der Stadt
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als Vögte vermutlich unter Lothar III. Einfluß übenden Eversteiner Grafen saßen links des Stromes oberhalb der Abtei auf Burg Ohsen. Vor 1186 dürfte im Zusammenwirken von Vögten und Bürgergemeinde die planmäßige Verbindung aller vorhandenen Ortsteile durch eine Achsenknieanlage Bäcker- und Osterstraße mit fast quadratischer Marktform am Achsenwinkel erfolgt sein. Der für Uferstädte typische Halbkreisbering war vermutlich um 1200 im Bau; die Ratsverfassung ist in Hameln, wie in Stralsund und Hildesheim, erheblich früher als in Nürnberg vorhanden, mit Sicherheit schon 1235. Für das Wirtschaftsleben war der Stromübergang wichtiger als die auf der Mittelweser ziemlich behinderte Flußschiffahrt. Ein relativ leistungsfähiges Umland sowie die vom Strome begünstigten Mühlen, denen der Ort auch seinen Namen dankt, begründeten den lebhaften Getreideumschlag. Daneben trugen der Fischhandel, der Sandsteinvertrieb und zeitweilig auch der Weinbau zum besonders nach 1433 wachsenden Wohlstande bei. In den rund 25 Hektar Wohnfläche saßen damals vermutlich gegen 3000 Einwohner, mehr als die hier einmal zu vorsichtige Ortsforschung veranschlagt (Abb. 54). Frühe flämische Zuwanderung und erheblicher Umlandzuzug sind zu erkennen; die drei Bauerschaften des 15. Jahrhunderts in der Stadt haben mit deren Entstehung nichts zu tun, sondern geben uns ein Beispiel für den oben behandelten Verödungsprozeß im spätmittelalterlichen Umlande, der auch in Hameln das innerstädtische Gefüge stärker auf Nahmarkt-Horizonte umgestellt hat. Als Wehr-, Steuer- und Hütebezirke, ferner bei der Feuerschutzordnung, spielen diese Stadtviertel verschiedener Benennungen in spätmittelalterlichen Städten ihre Rolle, sie bilden sekundäre, meist rationale Einteilungen und zeugen damit von wachsender bürgerlicher Autonomie. Mergentheim, das zweite unserer Modelle, geht auf einen alten Zentsitz mit fränkischem Königshof nebst Kapelle zurück. Sie finden sich mit dem zugehörigen Dorf als der Vorsiedlung im Grundriß ebenso wieder wie die Ministerialsitze westlich des Gänsemarktes als erster Ortsmitte, neben der Pfarrkirche. U m 1160 fügt sich östlich daran eine neue Wasserburg mit eigener Marktsiedlung, angelegt von den edelfrei im staufischen Gefolge aufsteigenden Hohenlohe. Unter den bedeutenden Brüdern Gottfried, Konrad und Heinrich, die sich auf Kreuzfahrt und im Königsdienst hervorgetan hatten, kam es spätestens gegen 1240 zur planmäßigen Erweiterung als Stadt. Zugleich wurden aber die Burg und reiche Güter an den Deutschen Orden geschenkt, dessen Hochmeisteramt Heinrich seit 1244 inne-
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hatte. Daraus folgte später eine Rivalität zwischen Bürgergemeinde und Orden, vertreten durch den in Mergentheim Sitz nehmenden Deutschmeister. Mit Unterstützung durch Ludwig den Bayern setzte der Orden sich um 1330 durch und umfing die damit überwältigte Stadt vermittels einer großen neuen Befestigung. Sie maß jetzt einschließlich der Burganlage etwa 18 Hektar und mag im ausgehenden Mittelalter gut 2000 Einwohner gezählt haben. Wirtschaftlich blieb Mergentheim ohne Fernhandel und Exportgewerbe ein reges Nahmarktzentrum; Weinberge, Holzwirtschaft und Ackerbau bestimmten die Ausrichtung der örtlichen Kleingewerbe und Lebensmittelbetriebe. Erst nach Herverlegung der Ordensresidenz 1526 entwickelten sich für die frühe Neuzeit bezeichnende Antriebe eines amtsstädtischen Lebens neuer Art (Abb. 55). Lindau, unser drittes Beispiel auf der Bodenseeinsel eines karolingischen Nonnenkonvents, gewann seinen Markt während des Investiturstreits, als er vom Uferort Äschach auf das besser geschützte Eiland verlegt wurde. Unter staufische Vogtei gelangt, baute das Kloster eine Stephanspfarre für den Markt, bei der sich dann eine bürgerliche Plansiedlung um die Achse der breiten Maximiliansgasse entfaltete (Abb. 56). Die Baunaht gegen den Immunitätsbezirk lief quer über die Insel zwischen Brettermarkt und Karolinenplatz; der Grundriß hält ferner den einstigen Verlauf der Staufermauer als bogenförmige Grenze gegen Westen fest. Um 1200 war der Bering vermutlich vorhanden; die spätstaufische Stadt verfügte bereits über beachtlichen Wohlstand, veranschlagte man sie doch 1241 auf eine Jähressteuer von 100 Mark nebst 2 weiteren der ortsansässigen Juden. Lindau gehörte zum spätmittelalterlichen Bereich der Barchent-Produktion, dessen leichte Leinen/Baumwoll-Ware weite Fernhandelsverbreitung fand; in der seit 1380 aufstrebenden „Großen Ravensburger Handelsgesellschaft" finden wir die Bodenseestadt lebhaft beteiligt, und ihr Weinbau sowie der Salztransit förderten die Schiffahrt des Konstanz, Bregenz und Überlingen an Bedeutung übertreffenden Bodenseehafens. Die gut 2000 Einwohner des 15. Jahrhunderts orientierten sich daher wirtschaftlich und auch sozial wesentlich anders als etwa in Hameln oder Mergentheim, wie sich auch an dem seit 1345 aus Geschlechtern und Zunftmeistern gemischten Ratsregiment beobachten läßt, dessen Anfänge - wie in Nürnberg - erst nachstaufisch sind. Mit Buxtehude im Alten Lande links der Unterelbe überschreiten wir endgültig die Grenze zur Kleinstadt hin. Hier läßt sich die Stadtbildung einmal
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sehr genau eingrenzen. Sie geschah durch den erzbischöflichen Ortsherren Gieselbert von Bremen mit Beiziehung eines Bürgerverbandes unter Benutzung von Gütern des nahen Nonnenkonvents Neukloster ab 1287. Die vergleichsweise einfache Topographie zeigt einen älteren Kern mit der Pfarrkirche an der schiffbaren Este vor deren Mündung in die Elbe. Zunächst wurde daran ein Achsenknie mit kleiner Marktausweitung im Winkel gefügt, es folgte die ganz niederländische ,,Fleet"-Anlage nach Westen, eine Mittelgracht zwischen zwei Straßenzeilen. Sie läßt auf Zuzug von „Hollern" (Holländern) im Gemeindeverbande schließen, den wir vom benachbarten Marschlande her gut kennen. Im 14. Jahrhundert gewann Buxtehude trotz seiner Kleinheit lebhaften Anteil am hansischen Fernhandel; das Exportgewerbe, vor allem Tuchmacher, Kürschner und Hutmacher, zog daraus ähnlich Nutzen wie das Lebensmittelgewerbe auf dem fruchtbaren Umlande jenseits des schützenden Moorgürtels. Die Handwerkerämter bildeten das vom Ortsherren übertragene Stadtrecht mit ihren Zunftbriefen weiter; zu den größeren Nachbarstädten Stade und Hamburg gab es enge Familienbeziehungen (Abb. 57). Hatte der erzbischöfliche Stadtherr bei der Anlage von Buxtehude sich noch durch seine den Hauptzugang beherrschende Stadtburg in der Gewalt über den Ort abzusichern gesucht, so brachten es die Bürger schon drei Generationen später fertig, den Ausbau dieses Amtshofes zu verhindern und ihn faktisch bald ganz in eigene Hand zu bringen. Als Kopfstation der Elbfähren für den Ochsenhandel gewann der Ort im 15. Jahrhundert neue Bedeutung; in seinen etwa 9 Hektar Fläche lebten bei sehr enger Bebauung etwa 1500 Einwohner. Krautheim an der Jagst im heute badischen Franken mag etwa gleichen Alters mit Buxtehude sein, war jedenfalls 1306 als Stadt bereits vorhanden. Ursprünglich stand hier eine Burg, deren mit den Grafen von Komburg und den Staufern verwandte Eigner im Gefolge Friedrichs II. ihren Sitz um 1235/39 ansehnlich ausbauten (Abb. 58). Eine 1594, wohl vom hohenlohischen Kartographen Hospin, gemalte Stadtansicht auf einer bei Grenzstreitigkeiten entstandenen Bildkarte gibt auch das von Mainz und Würzburg quadrierte Ortswappen wieder und weist so auf den spätmittelalterlichen Ubergang an diese Herren hin, von denen aber schon 1389 der Mainzer endgültig durchgedrungen war. Man sieht den dreitorigen Steinbering des 14. Jahrhunderts, der ein Rechteck von etwa 5 Hektar mit ungefähr 500 Einwohnern umfaßte, ferner die Baum- und Weingärten des ganz auf Nah-
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57. Buxtehude. Katasterkarte der Stadt von 1874
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58. Landschaft an der Jagst bei Krautheim 1594
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marktverkehr eingestellten Städtchens. Nennenswerte Autonomie hat es nie erlangt, und als es im Bauernkriege zu den Aufständischen überging, verlor es zur Strafe sogar seine Bürgermeister sowie Teile der Niedergerichtsbarkeit, die nun von mainzischen Amtsleuten verwaltet wurde. Mewe in Westpreußen, links der unteren Weichsel, soll uns als Beispiel f ü r Kleinstädte im Neustammbereich dienen. 1229 hatten es die pommerellischen Herzöge den Zisterziensern von Oliva bei Danzig geschenkt, schon als Mitte einer „terra", in der sich von See her kommende niederländische Zuwanderer ansiedelten. An ihre H e r k u n f t erinnert der Ortsname (heute polnisch: Gniew). 1255 wurde der O r t dem Kloster wieder entzogen, was vermutlich den Beginn einer städtischen Plananlage oder doch die Ankunft weiterer Neusiedler im Zusammenhang mit dem prussischen Kreuzzuge des Ordens bedeutet. Die letzten pommerellischen Herzöge Sambor II. und Mestwin II. übertrugen 1276/82 dem Deutschen O r d e n endgültig diesen seinen ersten größeren Stützpunkt links der unteren Weichsel. N u n wurde eine starke Burg errichtet und der städtischen Plansiedlung daneben 1297 ihre Handfeste erteilt, zu Kulmer Recht und unter dem Erbschulzen Konrad von Rheden. Die einfache Planform aus Burg und von ihr getrennt befestigter Stadt ist charakteristisch für Dutzende solcher Kleinstädte des ausgehenden 13. und frühen 14. Jahrhunderts; Markt und Nikolai-Kirchplatz bilden als diagonal gestelltes Doppelquadrat die Ortsmitte, eine starke Befestigung erhielt zusätzlich noch den flankierenden „ D a n z k e r " als Außenbastion (Abb. 59). Mit Erlangen haben wir endlich eine späte Kleinform erst der Zeit Karls IV. vor uns, ausgehend von einem fränkischen Dorfe mit Martinspfarre und Königshof. Im Zusammenhange mit der neuböhmischen Erwerbspolitik des großen Luxemburgers kam der O r t 1361 an diesen, wurde daraufhin ummauert und mit Stadtrecht versehen. Das Altstadtoval maß 250 X 350 Meter, darin saßen 1495 bei 92 steuerpflichtigen Bürgern 212 Erwachsene, also etwa 400 Einwohner. Erst frühneuzeitlich hat Erlangen wirkliche Bedeutung gewonnen, als eine großzügig vermessene Barockanlage neben der Altstadt entstand. Blankenrode (Abb. 60), eine Stadtwüstung im Hardehauser Forst südöstlich von Paderborn, soll diese Umschau abschließen, eines der sprechendsten Modelle für den spätmittelalterlichen Untergang von Städten. Der 1966 vermessene Grundriß zeigt eine starke Rundburg im Osten mit anschließendem, rund 17 Hektar großen, dem Gelände angepaßten Oval der Stadt-
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fläche, die durch einen bisher nicht gedeuteten Doppelwall quergeteilt erscheint. Vermutlich hat der seit 1228 in Paderborn amtierende Bischof Bernhard zur Lippe zusammen mit dem A b t von Corvey diese Stadt von Bergleuten aus dem nahen Marsberg anlegen lassen, jedenfalls wollten beide Ortsherren
damit
eine
Maßnahme
gegen
die
kurkölnische
und
die
Waldecker Territorialpolitik im Lande an der Diemel treffen. W i r kennen städtische Urkunden, Bürgermeister und zahlreiche Ratmannen, wissen von Streitigkeiten mit dem Kloster Hardehausen und können um 1320 bei der G r ö ß e mit bis zu 1000 Einwohnern rechnen. Fehden zwischen den verschiedenen Burgmannenfamilien auf Blankenrode ziehen sich durch das ganze Spätmittelalter, doch hat die Stadt selbst nicht über das Ende des 14. Jahrhunderts
hinaus bestanden.
Vermutlich
trafen dabei
mehrere
Gründe zusammen: die Aussicht auf größeren Bergsegen erwies sich als trügerisch, die relativ hochgelegene Flur in abseitiger, unwirtlicher Lage bot keine dauernd ausreichenden Erträge, die schweren Fehden verursachten mehrfach Flächenbrände, und vielleicht hat auch die Pest unter den Bürgern gehaust, denen zudem kein Ausgleich mit den Rechtsansprüchen der A n rainer über A c k e r , Weide und Holzung gelang. D i e Resteinwohner zogen ab, soweit sie ihre Wohnsitze nicht in das D o r f Blankenrode unterhalb der Stadthöhe verlegten. Das noch verwendbare Baumaterial wurde abgefahren, die Stadtfläche von frühneuzeitlich aufgeforstetem Buchenwalde überzogen. Zuletzt verödete auch die Burg. Würde man den Platz eingehender untersuchen, so böte er wahrscheinlich Einblicke in die topographischen, wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse der spätmittelalterlichen Kleinstadt, wie sie so unverworfen kaum irgendwo sonst gewonnen werden könnten. Namentlich für das H e e r der städtischen Klein- und Minderformen fehlen uns empfindlich nähere Kenntnisse von den Lebensverhältnissen des ausgehenden Mittelalters, vor allem was die Folgen der oben skizzierten großen Wende seit dem hohen 14. Jahrhundert angeht. Besser steht es lediglich bei einigen der großen Bürgergemeinden, weil mit der heraufsteigenden Renaissance das künstlerische Interesse am realistischen Detail der U m g e bung zunahm. So wird uns hier in mancher Hinsicht das bürgerliche Leben und Treiben anschaulich. Mehr als eine Stichprobe davon kann in unserem Zusammenhang nicht geboten werden. Sie soll in Vergleich und Kontrast das Augenmerk auf einige der wichtigsten Gebiete lenken, deren ordnende
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Gestaltung zu den Hauptanliegen spätmittelalterlicher Städte gehörte. Modelle wären von Brügge und Köln bis nach Regensburg und Wien oder Breslau beliebig zu finden. Wir wählen dafür zwei schöne Beispiele darstellender Kunst aus den antipodischen Häfen Venedig und Hamburg. Als Bernhard von Breydenbach 1486 seine Beschreibung einer Pilgerfahrt nach Jerusalem - einen heute noch geschätzten Wiegendruck - durch Holzschnitte des Utrechters Erwin Reeuwich illustrieren ließ, eröffnete dieser seine mit meisterlichem Realismus, aber für die ferneren Levanteorte oft auch unbekümmerter Erfindung gefertigte Reihe mit einem bestechenden Konterfei des großen Venedig, der adriatischen Lagunenkapitale. Auf einem der Höhepunkte ihrer Geschichte stehend, hatte sie die „terra ferma", das binnenländische Machtgebiet, bis an den Comer See hart nördlich Mailand ausgedehnt und meinte auch mit den levantinischen Handelsschwierigkeiten seit dem Fall von Byzanz aus ihrer jahrtausendealten Mittlerstellung zwischen Orient und Abendland heraus unerschüttert fertig zu werden. Die vom Canal Grande durchzogene Hauptinsel der Stadt maß ost-westlich etwa 3000, in der größten Nord-Süd-Erstreckung an die 2000 Meter. Bei einer ungefähren Fläche von 300 Hektar lebten hier zur Zeit Reeuwichs etwa 45 000 Menschen dichtgedrängt, in mehrstöckigen Wohnbauten. Ihr Handel, ihre Banken und vor allem ihr Seeverkehr zogen unverändert aus allen Himmelsrichtungen Menschen an, ihre patrizische Adelsoligarchie hatte die Führung unbeirrt durch allen Wandel behauptet. Am Ostende der Hafenfront erkennt man vor dem Arsenal ein ausgedehntes Werftgelände; ein bereits von Stapel gelaufener, noch mastloser Hulk wird von Flößen her ausgerüstet. Daneben wriggt ein Gondoliere vorbei; einmastige Bojer und Küstenfahrzeuge mit Dreieck- (Latein-) Segeln liegen an den Kajen. Auf den kleineren Inseln im Hintergrunde sieht man das große Stadtspital. Um das „Armamentarium" hat die von Osten her ansteigende Bauhöhe schon vier bis fünf Stockwerke erreicht. Die Kajen westlich der Werften liegen frei, man erkennt einige Läden an der Uferfront, auch eine der typischen, den Fußgängern vorbehaltenen, hochgewölbten Kanalbrücken sowie zwei auf einer Bank ihre ladefertigen Fässer bewachende Schauerleute. Große Fensterreihen und zahllose Kamine über den Dächern verraten ein wenig von der zunehmenden Wohnlichkeit hinter den Mauern. Vor der frei erfundenen Hintergrundszenerie liegen San Michele und Murano, weiter westlich folgt der mächtige Dominikanerkonvent San Giovanni e Paolo, vor dem Verocchio eben damals (bis 1488) sein Reiter-
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Standbild des Colleoni errichtete, dem Venedig die große Ausweitung der Terra Ferma als Condottiere zu danken hatte. Es folgt die großartige Stadtmitte samt ihren Erker- und Loggienbauten, der Seufzerbrücke, dem Dogenpalast und San Marco (Abb. 61). Vor der Piazzetta weisen die beiden berühmten Säulen auf das Zentrum venezianischer Macht hin, davor fehlt nicht die langgestreckte Staatsgaleere. Beiderseits der Schiffsbrücke drängen sich die Fracht- und Personengondeln. Münze und Granarium als Rückgrat des Geldmarktes und der Versorgung schließen den Platzbereich nach Westen ab. Dahinter steigen die Türme des eigentlichen Altstadtzentrums auf, mit dem Rialto, der Börse und dem Markt, an dem sich San Giacomo erhebt, um den sich die große Kanalschleife windet. Dicht bei ihr liegt auch der „Fondaco dei Tedeschi", in dem wenig später Dürer absteigen wird. Vor dem anschließenden Ortsteil südlich des Franziskanerkonvents werden gerade zwei breite Lastschiffe in der Kanalmündung gelöscht. Hinter ihnen zieht sich die Front der Palazzi, und am südlichen Kanalufer scharen sich die Schiffsmasten, biegt sich ein Galeerensteven empor. Dann folgt das Gewerbeviertel am Canale della Giudecca mit den langgestreckten Zollgebäuden sowie einer weiteren Werft mit Neubauten auf der Helling, an denen die Schiffszimmerer arbeiten. Panoramenhaft hat Reeuwich auch noch die Westspitze der Giudecca, des ehemaligen Judenviertels, mit ihrer an sich nach Nordosten gerichteten Uferlinie in den Bildausschnitt gezogen. Der mediterranen Kapitale kann sich Hamburg, die nordische Hansestadt, nicht vergleichen; sein spätmittelalterliches Ortsbild ist erst fast hundert Jahre nach Reeuwich, nämlich 1574, von dem Dithmarscher Daniel Frese für Braun-Hogenbergs „Civitates orbis terrarum" im Kupferstich (Abb.62) festgehalten worden. Es maß etwa 84 Hektar Fläche und wies um 1500 etwa 16-18 000 Einwohner auf, also nur ein gutes Drittel Venedigs. Zwischen Petri- und Nikolaistadt lagen an der Trostbrücke Rathaus, Niedergericht und Börse, daneben der alte Kran an der Nikolaikaje des Binnenhafens. Dem berühmten Hamburger Stadtrechtskodex von 1497, dessen Aufzeichnung der bedeutende Bürgermeister und Währungsreformer Hermann Langenbeck veranlaßt hat, sind eine Reihe ebenso schöner wie der Sache nach informativer Farbminiaturen beigegeben, von denen wir zwei abschließend noch näher betrachten wollen. Auf der einen (Abb. 63) sehen wir das Hochgericht, dem gerade ein Toter im Sarge zum Beweis vorgezeigt wird; dahinter sitzen Männer im Schandblock, fern auf dem Anger vor der
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im späten
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63. Hamburg. Stadtrechtskodex von 1497, Miniatur: Hochgericht
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Xlii: cuDri-rr^rrirr/?üi)rirr Dumritm irr . juibipfi] 64. Hamburg. Stadtrechtskodex von 1497, Miniatur: Ratssitzung
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Stadt hat soeben der Nachrichter einen Verurteilten enthauptet, ein anderer hängt am Galgen. Weiter links mischt eine Hexe, den Teufel hinter dem Kopfe, mit Zaubersprüchen ihr Gift; auf dem Kaak, also am Pranger, stehen zwei in Unehren gekommene Frauen, unten aber wird gerade einer zum Stäupen abgeführt. Die zweite Miniatur (Abb. 64) handelt von der bürgerlichen Obrigkeit selbst: innerhalb der Schranken des rückwärts in eine weite Halle geöffneten Rathauses findet sich das Kollegium zusammen; vier Bürgermeister, von denen einer „das Wort hält", und 20 Ratmannen. Vorne halten zwei die Privilegien der Stadt, mitten auf dem Tische steht der Reliquienschrein, auf den Rats- wie Bürgereid zu leisten sind. Briefschaften über auswärtige Angelegenheiten gehen herum und ein paar Bittsteller warten. Das Spruchband mahnt die Stadtführung, reich und arm in gleicher Gerechtigkeit zu behandeln. Ähnlich lebendig geben weitere Miniaturen zum Niedergericht, zum Eheund Erbrecht, zur Vormundschaft, zu Marktaufsicht und Schuldrecht, zu Legaten und Testaten usw. ihren Kommentar. Allgemeine Umstände des bürgerlichen Lebens lassen sich daran betrachten, Umstände einer bunten und prallen Welt, mit Licht und Schatten, kaum geordneter als zu anderen Zeiten, aber jedenfalls in sich geschlossen und klar gestuft. Die frühe N e u zeit sollte ihre überkommenen N o r m e n von Grund auf verändern.
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Schrifttumshinweise Ergänzend zum oben aufgeführten allgemeinen Schrifttum sei verwiesen auf die vorzügliche und ausführliche Einleitung zu H. BOESCH/P. HOFER, Flugbild der Schweizer Stadt, Bern 1963, ferner H. PLRENNE, Sozial- und Wirtschaftsgeschichte Europas im Mittelalter, 2. Aufl., München 1971 (Ubs. v o n M . BECK aus: G. GLOTZ, Hg., Histoire Generale, Bd. 8/1933), bes. S. 164ff.; G. DROEGE, Deutsche Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Berlin 1972, bes. S. 68ff. Vorbildlich eindringend: R. MOLS, Introduction ä la demographie historique des villes, 3 Bde., Löwen 1954-56; für das Mittelalter unbefriedigend die bisher vorliegenden allgemeinen Arbeiten: E. KEYSER, Bevölkerungsgeschichte Deutschlands 3. Aufl. Leipzig 1943; W. KÖLLMANN/P. MARSCHALCK, Bevölkerungsgeschichte, Köln 1972. Den abgewogensten Uberblick zum älteren Schrifttum bietet immer noch J. KULISCHER, Allgem. Wirtschaftsgeschichte . . ., 2. Bde., München 1928/29 (Nachdruck Berlin 1954), bes. I, 128ff., II, 4ff. Wertvolles Zahlenmaterial, abgesehen von der zu niedrigen Gesamtschätzung für ca. 1300, bei W. ABEL, Geschichte der deutschen Landwirtschaft . . ., Stuttgart 1962, bes. S. 24ff., 65, 103ff. Vorzügliche Beobachtungen in der kritischen Rezension H. BECHTELS von H. AMMANN in: ZRG 64/1944, S. 367ff. und im: Stud. Generale 9/1956, S. 503ff.; ferner von H. REINCKE in: Hansische Gesch.bll. 70/1951, S. 34ff.; E. ENNENim Hdwöb. der Soz.wiss. 9/1956, S. 780ff.; K. BLASCHKEin: Fschr. H. SPROEMBERG, Berlin 1956, S. 133ff., und in: Jb. für Regionalforsch. 3/1968, S. 34ff.; J. VAN ΗΟΙΓΓΤΕ in: Rhein. Vierteljahrsbll. 27/1962, S. 50ff.; W. KUHN in: Ostdt. Wiss. 7/1960, S. 31 ff. und in: ZfO 17/1968, S. 440f. Eindringender statistischer Ansatz bei T. LEWERENZ, Die Größenentwicklung der Kleinstädte in Ostund Westpreußen, Marburg 1976, bes. S. 8 ff. Zu Hildesheim: J. GEBAUER, Geschichte der Stadt H., 2. Bde., Hild., 1922-24; DERS., Geschichte der Neustadt H., Hild., 1937; O. GERLAND, Die Dammstadt von H., in: Zs. des Harz-Vereins 39/1906, S. 372ff .; N. KLEWITZ, Studien zur territor. Entwicklung des Bistums H., Studien und Vorarb. zum Hist. Atl. Nds. 13/1932; W. SCHLESINGER in: Stadt und Vorstadt, Veröff. der Komm, für Gesch. Landeskunde Baden-Württ. 51/1969, S. i f f . ; Μ. HAMANN, Die Hild.er Bischofsresidenz, in: Ndsächs. Jahrb. 36/1964 S. 28ff. Vgl. Atlas. Zu Nürnberg: H. HOFMANN, N., Gründung und Frühgeschichte, in: Jahrb. für Fränk. Landesfsch. 10/1950, S. Iff.; DERS. N. - Fürth, Hist. Atl. Bayern Teil Franken 1/4, 1954; H. SEIBOLD, Die bürgerl. Siedl, des mittelalt. N. . . ., Nürnb. 1959; W. SCHULTHEISS, Die I inwirkung N.er Stadtrechts auf Deutschland . . ., in: Jahrb. für Fränk. Landesfsch. 2/1936, S. 18ff.; DERS., Kleine Geschichte N.s, Nürnb. 1966; G. PFEIFFER u. a., N., Geschichte einer europäischen Stadt, Nürnb. 1971; H. AMMANN, N.s wirtschaftl. Stellung im Spätmittelalter, Nbg. Fsch. 13/1970. Pfinzing: W. SATZINGER, Entwicklung, Stand und Möglichkeiten der Stadtkartographie. Dargest, v o r w i e g e n d an B e i s p i e l e n aus N ü r n b e r g . M ü n c h e n 1 9 7 1 .
Zu Stralsund: K. GRUBER, Die Gestalt der deutschen Stadt, München 1952, bes. S. 74ff.; N. ZASKE, Gotische Backsteinkirchen Norddeutschlands, 2. Aufl., Leipzig 1970; H. EWE, Stralsund, Rostock 1972; H. KOEPPEN, Gewerbe, Beruf, Stand und Volkstum im Spiegel der mittelalterlichen Straßennamen von Str., in: Fschr. A. HOFMEISTER, Halle 1955, S. 149ff.; H. B E R L E K A M P , Probleme der Frühgeschichte Str.s, in: Greifsw.-Strals. Jahrb. 4/1964, S. 31ff.; ebda., S. 69ff.; K. FRITZE, Die Bevölkerungsstruktur Rostocks, Stralsunds und
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Stadtformen
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Mittelalter
gischen Stadtrechts von 1497, Hamburg 1917; C. GAEDECHENS, Historische Topographie der Freien und Hansestadt Hamburg . . ., 2. Aufl. Hamburg 1880; H. STOOB, Hamburgs hohe Türme, Hamburg 1957; E. v. LEHE u. a., Heimatchronik der Freien und Hansestadt Hamburg, Köln 1959; H. REINCKE, Hamburg am Vorabend der Reformation, Hamburg 1966.
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Das mitteleuropäische Städtewesen der frühen Neuzeit hebt sich von den Verhältnissen vor 1450 ab sowohl hinsichtlich der neu gebildeten Bürgergemeinden - der Zahl nach zwar nur etwa ein Fünftel des mittelalterlichen Bestandes, der Gestalt nach jedoch durchaus eigenständig - als auch hinsichtlich der gründlichen Veränderungen städtischen Lebens in Wirtschaft, Gesellschaft, Recht und Verfassung, wie der Bedingungen für das bürgerliche Wehrwesen und die Kirchen- sowie Bildungsverhältnisse. Welches Ausmaß diese Umwandlungen haben konnten, sieht man etwa bei Amsterdam, das zu Luthers Zeiten eine kleinere Mittelstadt von knapp 40 Hektar Fläche war, hundert Jahre später jedoch die Grenze der 100000 Einwohner weit überschritt und zu den lebendigsten Kapitalen des Kontinents zählte. In anderen Fällen, so etwa bei Berlin, kam es zwar auch zu beträchtlichem Wachstum, doch ging dem ein schrittweiser Verlust der autonomen Bewegungsfreiheit einher: die Stadt wurde dirigistisch in das Konzept moderner Flächenstaatlichkeit einbezogen. Legion wurden jetzt ferner die Vorkommen rückläufiger Entwicklung mit tief einschneidenden Substanzverlusten gegenüber der mittelalterlichen Zeit. Gemessen an der Wirtschaftskraft des Bürgertums hätte es noch ohne größeres Gewicht sein können, daß namentlich unter den städtischen Minderformen, den Zwerg- und Kleinstadtheeren,starke Abgänge zu verzeichnen waren; reihenweise sanken sie frühneuzeitlich zu Dörfern zurück, und wo die Attribute städtischen Lebens äußerlich erhalten blieben, waren sie doch oft genug erstarrte Relikte geworden. Der nun zu administrativer und militärischer Schlagkraft gelangende Fürstenstaat zunächst ständischer, dann absolutistischer Prägung bezog sie in seine flächenhaft erstreckte Gebietsherrschaft und Bezirksbildung ein.
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Ihren Höhepunkt erreichte diese Reduktion zwischen 1620 und 1690, als eine ganze Anzahl von Faktoren zusammenwirkte, und - von regionaler Sonderentwicklung abgesehen - Städte nun aller Größenordnungen an den Wurzeln ihres Wohlstandes und damit ihrer Bewegungsfreiheit getroffen worden sind. Die meistens mit Flächenbränden verbundene militärische Besetzung während der großen Kriege, ob mit, ob ohne Belagerung und Kampfhandlungen, legte verheerende Breschen auch in das bauliche Gefüge der Städte, die Bevölkerungsverluste von Pommern und Schlesien bis nach Schwaben und zur Pfalz raubten ihnen das biologische Hinterland. Am Ende waren sie fast alle jener wirtschaftlich-materiellen und vor allem defensiv-militärischen Überlegenheit verlustig, mit denen sie sich im Spätmittelalter so erfolgreich gegen die fürsdiche Landesherrschaft hatten behaupten können. Im Deutschen Städteatlas ist der Niederbruch auch bei Reichsstädten wie Dortmund, Gelnhausen oder Isny, die sich rein äußerlich noch unabhängig halten konnten, mit aller Härte zu beobachten; räumlich weit voneinander entfernt, standen sie im letzten Drittel des 17. Jahrhunderts doch ähnlich tief getroffen da: an Volkszahl bei kaum der Hälfte (Isny), einem Viertel (Gelnhausen) oder gar noch weniger (Dortmund) ihres einstigen Bürgerkreises, finanziell ruiniert und baulich zugrunde gerichtet. Das spätere 18. Jahrhundert brachte unter diesen Umständen für die Masse der damals vorhandenen Städte einen Tiefstand an öffentlichem Leben und materieller Substanz. Er zeichnet sich nicht zuletzt darin ab, daß nun ein erneutes, viel tiefer und länger einwirkendes Minimum des Zugangs neuer Städte erreicht wurde, mit dem sich das frühneuzeitliche Städtewesen deutlich absetzt von der nachfolgenden Städtebildung des industriellen Zeitalters. Wo sich das frühneuzeitliche Bürgertum nicht auf irgend eine Weise in den Auftrieb monarchischer Machtentfaltung seiner Zeit einzuschalten vermochte, litt es echte Not und nahm Schaden an seiner Identität, seinem überkommenen Selbstverständnis, seiner vom Gemeindeverbande getragenen Initiative. Verkarstungserscheinungen aller Art waren die Folge, sowohl was die nun ganz obrigkeitlich geordnete Verfassung und das von eigenen Normen zur Rezeption übergehende Rechtswesen anging, als auch die immer undurchlässiger werdende Gesellschaftsordnung und das nun wirtschaftlich rückständige System der zünftischen Korporationen. Wo man jedoch an Residenzen, Garnisonen, Verwaltungsmitten und manufakturellen Staatsbetrieben Vorteile genoß, bewirkten auch diese einen gründ-
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liehen Wandel bürgerlichen Denkens und Verhaltens gegenüber den mittelalterlichen Normen. Dennoch lassen sich auf höchst bezeichnende Weise fortwirkende Kräfte des Urbanen Lebens auch in der frühen Neuzeit erkennen. Ihnen soll sich unsere Aufmerksamkeit jetzt näher zuwenden. Sie hatten einerseits, den Charakter durchgehender Zusammenhänge, denn trotz aller Verluste war ja die große Mehrzahl der Bürgergemeinden erhalten geblieben, erstens dem Siedlungsbilde nach, zweitens hinsichtlich der Funktionsgesetze städtischer Wirtschaft, drittens in Bezug auf die Lebensordnung der Gesellschaft und viertens in Bezug auf geistige Bewußtheiten des Urbanen Denkens über Bildung und Kultur, über autonomes öffentliches Leben. Hier gab es ungeachtet der eben skizzierten, sich anbahnenden Wandlungen doch breite Kontinuitäten. Andererseits haben ganz bestimmte Neuansätze den Wandel auf positive Weise mit geprägt, und auch sie bezogen sich erstens auf das renaissancehaft umgestaltete Baugefüge in Grundriß und Aufriß, zweitens auf ein unter den Kennzeichen Gewerbefreiheit und Gewerkeneinung neu formiertes wirtschaftlich-soziales Gefüge, sowie drittens auf die im Ringen um geistigreligiöse Freiheit frisch erwachende kulturelle Autonomie unter bürgerlichen Vorzeichen. Diesen drei Linien ist weiter nachzugehen; sie verschränkten sich naturgemäß, lösten sich auch nicht selten ab, haben jedenfalls immer entscheidenden Einfluß auf die weitere Gestaltung bürgerlichen Lebens behalten. Seit Poggio 1416 in Sankt Gallen, wohin er vom Konstanzer Konzil aus gereist war, um nach den Texten der Alten zu fahnden, Vitruvs Hauptwerk ,,De Architectura" wiedergefunden und nach Florenz entführt hatte, begann im Zeichen des „Rinascimento" eine grundsätzliche Neuorientierung der Baukunst. Schon Antonio Filarete, der sein dem Vitruv nachbenanntes und nachgeschriebenes Werk 1464 dem Piero de Medici widmete, legte darin erste Entwürfe radial und rektangulär konzipierter Idealstadtpläne vor. Seine nach Francesco Sforza benannte Stadtutopie ,,Sforzinda" wies je 8 von der zentralen Platzanlage ausgehende Radialstraßen und arkadenflankierte Radialkanäle auf, die bis zur sternförmigen Außenmauer führten; am Schnitt mit einer Ringstraße sollten sich die Radien zu 8 Plätzen mit Kirchen erweitern. Ungelöst blieb die Einordnung rechteckiger Baublöcke in dieses System. Ähnlich utopisch zeichneten Filaretes Nachfahren, wie Leon Battista
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Alberti, der die Stadt als individuelles Wesen begriff und widersprüchlich zugleich Gütergemeinschaft und soziale Differenzierung in ihr forderte. Mittelalterlich waren seine gekrümmten Straßenfluchten unter Betonung malerischer Akzente durch kirchliche Großbauten; neu gedacht war aber die Forderung, Brücken und Kreuzungen zu schmücken, die Achsialstraßen durch Arkaden, die Platzeingänge durch Triumphbögen zu betonen und Parks anzulegen. Treffend hat Hans Simon die Starrheit solcher Konstruktionen mit dem Hinweis bedacht, Städte könne man „nicht als graphische Illusion am Reißbrett" erdenken, „Pläne, die um einen abstrakten Mittelpunkt oder über einen schematischen Raster entworfen" würden, seien „von vornherein zur Sterilität verdammt". Dennoch sind die italienischen Theoretiker zu erheblichem Einfluß auf ihre Zeit und deren Vorstellungen vom Baukörper der idealen Stadt gelangt, lagen ihr doch auch sonst literarische Utopien im Stile des Thomas Morus oder des Kalabresen Campanella. Die erste förmliche Gesamtanlage einer auf solchen Theorien fußenden Stadtplanung hat niemand anders als der Kanzler Karls V., Mercurio di Gattinara 1526 unweit von Vercelli geschaffen. Der Ort war von den Franzosen völlig zerstört worden und erhielt nun einen symmetrisch-rektangulären Grundriß, aus dem nur der Herrensitz an der Südwestecke und das Klostergelände an der Südostecke hervorragen. Der Blick von den Toren über die geschickt eingerückten Kirchen zum arkadenumsäumten Rechteckmarkt zeigt sehr abgewogene Perspektiven; die Achsen haben repräsentative Breite, die je sechs queroblongen Baublöcke sind bereits vierseitig erschlossen, entgegen den stets zweiseitigen oder einzeiligen des Mittelalters, sie haben Binnengärten und zum Teil schon baulich betonte Eckhäuser, lauter durchaus neue Züge. Als völlig neue Anlage entstand, nachdem Karl V. den von Rhodos durch die Türken vertriebenen Johannitern 1525 die verödete Insel Malta zugewiesen hatte, deren Haupthafen La Valetta, benannt nach dem tatkräftigen Großmeister des Ordens, der nach Abweisung schwerer türkischer Angriffe 1566 dazu den Grundstein legte. Bauhilfe kam aus dem ganzen Abendlande, und 1571 bezog endlich La Valettes Nachfolger Pietro del Monte die Residenz. Trotz starker Abschüssigkeit ging die auch hier durch größere Breite betonte Achse schnurgerade von der „Porta Reale" zum Fort St. Elmo hinunter, und bei den Quergassen zwang das Rektangulärschema sogar zur Treppengestalt. Levanteflüchtlinge, Kreuzfahrer, genuesische Kaufleute und spanische Seefahrer mischten sich zu einem bun-
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ten Stadtvolk, das im späten 17. Jahrhundert schon über 10 000 Seelen zählte. Damals entstand die barocke Befestigung (Abb. 65). Wieder etwas jünger ist die venezianische Anlage Palmanova, auf der Terra ferma am 22. Jahrestage des großen Seesieges von Lepanto über die Türken als „neue Siegespalme" 1593 angelegt nach abgewandelten Entwürfen von Giulio Savorgnan. Das regelmäßige Neuneck des Außenrandes ist raffiniert zum Sechseck des Innenplatzes übergeleitet. Die Anlage wurde jedoch nie voll ausgebaut, wenn sie auch als Torso ihre strenge Planform bewahrt hat. War das maßvoll zugeschnittene Gattinara lebensfähig als ackerbürgerlich-kleingewerbliche Umlandmitte einer großen Grundherrschaft, hatte die einmalige Lage der Hafen-Residenz La Valetta zu raschem wirtschaftlichen Aufstieg verholfen, so zeigte sich an Palmanova, daß auch in der frühen Neuzeit administrativ-militärische Gründe allein zur Städtebildung im echten Sinne noch nicht ausreichten; der Ort blieb ein reines Söldnerlager, obgleich Venedig 1622 sogar Kriminelle zur Ansiedlung dort ermunterte, indem es ihnen Straferlaß und Baugrund zusicherte. Erst gegen 1650 überschritt der feste Einwohnerstand die Tausendergrenze, und von den geplanten Großbauten kamen die meisten gar nicht, die übrigen - auch der Dom - nur stark reduziert zustande. Der italienische Planungsgedanke hatte trotz aller utopisch-abstrakten Züge bedeutende Fernwirkung; nach Osten bereits im 16. Jahrhundert bis Moskau, nach Westen schon unter Karl V. über den Atlantik hinweg: 1521-23 ließ der Habsburger seine genauen Vorschriften zur Siedlungsplanung der Konquistadoren in Süd- und Mittelamerika am Vitruv und dessen italienischen Interpreten orientieren. Danach entstand seit 1533 das peruanische Cuzco aus den Inkatrümmern als Kolonialstadt neu. An die teilweise wieder verwendeten Baufluchten wurde eine rektanguläre Plaza mit dem Gouverneurspalast gefügt; die meist zweizeilig-oblongen Baublöcke sind an den Ecken durch größere, teils arkadengeschmückte Bauten betont. Auch die ganz anders, auf reinen Fernhandel mit befestigten Küstenfaktoreien orientierte Uberseepolitik der Portugiesen hat sich auf ihre Weise der Idealpläne bemächtigt: ein 1610 entstandener Stich des 1593 angelegten Forts Jesus in Mombasa/Kenia hält mit großzügigem Bastionärumriß leibhaft das „corpus Christi" mit Kopf, Armen und Beinen fest, wobei das zur Küste gewendete Hauptwerk mit einer siebengeschützigen Batterie bestückt ist - eine ebenso merkwürdige wie typische Planform (Abb. 66).
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Wichtiger sind für uns die kontinentalen Adepten der italienischen Idealpläne. Unter dem Eindruck der Türkengefahr verfaßte Dürer 1527 seinen „Unterricht von der Befestigung der Städte, Schlösser und Flecken", in dem er neben der kreisrunden „Klause" auch eine quadratische „Königsstadt" entwarf, mit riesigem Waffenplatz in der Mitte, sorgfältig nach Ständen und Funktionen geschiedenen Wohn- und Gewerbevierteln sowie bastionär in die Ecken gesetzten Großbauten (Schloß, Arsenal, Spital). Von Dürers Einfluß auf die Nürnberger Festungsbauten haben wir gesprochen, ein Verweis auf die gleichzeitige Umgestaltung Roms durch Michelangelo und Sixtus V.,aber auch auf die der westeuropäischen Hauptstädte gehört dazu. Von Dürer sowie dem bedeutenden Straßburger Stadtbaumeister Daniel Speckle, einem Bewunderer der Anlage von La Valetta, bezog auch Heinrich Schickhardt, der Architekt und Freund Herzog Friedrichs III. von Württemberg seine Anregungen, als er 1599 an die Vermessung von Freudenstadt im Schwarzwalde ging. Ursprünglich als Bergstadt und Residenz zugleich gedacht, wurde Freudenstadt keines von beidem, denn die Silbergruben waren rasch erschöpft, und der Herzog verstarb schon 1609. Inzwischen hatte er Glaubensflüchtlinge, vor allem aus den österreichischen Landen, herbeigezogen, doch in den folgenden Kriegswirren brannte die Stadt 1632 ab. Erst mit der seit 1660 entstandenen Bastionärbefestigung nebst Kasernen- und Behördenbauten gewannen die neuzugezogenen Flüchtlinge eine bescheidene Existenzbasis. Von Schickhardts Plan blieb der an Dürer erinnernde, aber nie mit dem vom Herzog darauf gewünschten Schloß besetzte Zentralplatz mit seinen eigenwilligen Eckbauten erhalten, vor allem der Doppelkirche, sowie das Netz der beiden inneren Bauzeilen. Der Wiederaufbau nach 1950 hat es zwar abgewandelt, aber nicht grundsätzlich verändert. Charleville an der Maas bei Mezieres, eine etwa gleichzeitige Renaissanceanlage, zeigt Ähnlichkeiten mit Freudenstadt. Benannt ist es nach dem Ortsherren Karl von Gonzaga, einem Abkömmling der byzantinischen Palaiologen und Vetter König Heinrichs IV. von Frankreich; Karl stiftete einen Ritterorden, dachte ernstlich an die Rückgewinnung Konstantinopels und schuf schließlich als Duodezfürst an den Ardennen eine Miniaturresidenz (Abb. 67). Lavedan erkannte, daß eine Serie von ineinandergesetzten Quadraten zugrundeliegt; mit dem schönen, für Feste wie geschaffenen Zentralplatz, der dem königlichen Vetter für die Pariser „Place Royale" Modell stand, sowie den im offenen Gründungspatent angebotenen Privi-
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67. Charleville ( N O ) - Mezieres (S), Luftbild 1975
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68. Amsterdam, Grundrißbild um 1544
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legien (freier Baugrund, 2 Gewerbe-Freijahre, Asyl für Kriminelle, vor allem Verschuldete) zog der Fürst 7s der Familien aus Mezieres in seinen neuen Sitz hinüber. In den Niederlanden waren schon seit etwa 1540 italienische Ingenieure beim Ausbau der Festung Antwerpen tätig; zugleich war im Zeichen der Kämpfe Karls V. mit Franz I. von Frankreich die Festungstechnik revolutioniert worden. Das nach dem oranischen Schweiger benannte, seit 1581 angelegte Willemstad südlich Rotterdam, eine Antithese zu der belgischen Wallfahrtsgründung Scherpenheuvel, verband Wasserwerke, Wallanlagen und bastionäre Brechung früher linear gewesener Festungsfronten erstmals auf beispielhafte Weise. Die Nachbarschaft zu Palmanova wird noch deutlicher bei der spanischen Anlage Coevorden in der Provinz Drenthe, zwischen Ems und Ijssel, die seit 1591 entstand, ab 1597 ihre endgültige heptagonale Form erhielt. Im Innenraum rücken auch hier, wie beim peruanischen Cuzco, Zitadelle und Wohnviertel auf bezeichnende Weise auseinander. Das eingangs erwähnte prachtvolle Modell Amsterdam gehört als Erweiterungskette in diese Reihe. Als Jacob van Deventer es 1544 zeichnete, hatte es noch sein bescheidenes, mittelalterliches Gesicht mit etwa 40 Hektar Fläche (Abb. 68). Der Fall von Antwerpen sowie die kurz danach, ab 1587, überwundene spanische Bedrohung boten den Ausgangspunkt für ein mit ungeheurer Wirtschaftskraft expandierendes Wachstum. Starker Flüchtlingszuzug von Juden und Protestanten fand hinter der ersten WasserwerkBefestigung von 1597 Schutz, doch sogleich wurde sie wieder gesprengt. Seit 1610 orientierte man die großzügige Westerweiterung nach den Flurstreifen des Umlandes, was zugleich dem schon in Willemstad erprobten holländischen System innerstädtischer Kanäle, der Grachten, entgegenkam. Inzwischen war das Stadtvolk auf über 50000 gewachsen, Antwerpen wie Hamburg waren überflügelt (Abb. 69). Der mächtige Halbkreisring des Außenrahmens, bemessen mit Rücksicht auf die an der Wasserfront lebhaft ausgreifenden Hafenanlagen, war um 1667 fast völlig überbaut, eine für die Zeit außerordentliche Entwicklung. Sie fand ihre Zielpunkte in überseeischen Emanationen wie dem 1612 angelegten Neu-Amsterdam an der New-Yorker Südspitze von Manhattan oder dem 1619 von einer Faktorei ausgehenden, seit 1652 ganz holländisch ausgebauten Batavia auf Java. Niederländische Wurzeln hatte aber auch die skandinavische Städtebildung, wie sie unter Christian IV. in Dänemark-Norwegen, unter Gustaf Adolf in
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Schweden begann. Für den 23jährigen Christian legte der Holländer Steenwinkel ab 1600 dessen erste Gründung Kristianopel in Blekinge an. Es folgte eine ganze Kette, aus der Kristianstad 1614, Glücksburg an der Elbe 1617, Kristiania/Oslo seit 1624, die etwa gleichzeitige norwegische Minenstadt Kongsberg und Kristiansand 1641 als größte von allen hervorgehoben seien. Seit 1611 hatte Gustaf Adolf mit dem Wiederaufbau von Göteborg (mittelalterlich Lödöse) unter Ortsverlegung und starker Anlehnung an das Vorbild Amsterdam begonnen. Hier bauten Holländer wie Sersanders, dem seit 1614 auch der Neubau von Kalmar übertragen war. Dort hielt er sich ganz an Vorlagen von Speckle. Weitere Anlagen wurden bis zur Nordspitze des Bottnischen Busens hinauf geschaffen. In der Großmachtzeit Schwedens kamen dann eingesessene Planer hinzu, wie örnehufvud und Wärnschiöld, deren Anlagen bis nach Helsingfors und Nyen am Ende auch des Finnischen Busens vordrangen. Die Planung nahm dabei keinerlei Rücksicht auf Geländeschwierigkeiten; sie sparte etwa in Helsingfors nur die höchsten Erhebungen des zur Stadtanlage ausersehenen Halbinselteils aus. Das Ergebnis blieb dann hier und oft auch sonst erheblich hinter dem ursprünglichen Bebauungsplan zurück. Besonders reizvoll ist es, die seit Christian in Kopenhagen, seit Gustaf-Adolf in Stockholm rasch vorangetriebene Hauptstadtplanung näher zu betrachten. Hier wählen wir Stockholm (Abb. 70), weil dorthin der mittelschwedische Herrschaftssitz von den bereits behandelten frühmittelalterlichen Fernhandelsplätzen Helgö und Birka über die hochmittelalterlichen Etappen Sigtuna und Upsala gewandert ist, nachdem kurz vor 1250 mit Beteiligung deutscher Kaufleute die Stockholmer Stadtbildung unter Birger Jarl erfolgt war. Ein frühes, von dem Ostpreußen Thome 1626 gezeichnetes Planbild zeigt neben der Burg die schwedische, zur Südspitze des Holms hin die deutsche Kirche, jede mit ihrem zugehörigen Markt. Nachdem Gustaf Vasa die Zweisprachigkeit 1536 beseitigt und damit den Abzug vieler Deutscher bewirkt hatte, begann erst Ende des 16. Jahrhunderts wieder ein Wachstum, das auf dem Generalplan von 1645 bereits ansehnliche Ausmaße erreichte. Die „malmarna" bildeten sich als Vorstädte nach allen Himmelsrichtungen, Väster-, Norr- und östermalm radial auf das königliche Schloß als Altstadtkern gerichtet. Gegen Ende Gustaf-Adolfs hatte Stockholm bereits 25000 Einwohner, bis 1665 wuchs es auf 40000, bis 1675 auf über 55000 an.
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Als den logischen Endpunkt dieser Entwicklungsreihe, deren zunehmende Bezogenheit auf einen immer unbeschränkter herrschenden und so auch die Städtebildung völlig an sich ziehenden Monarchen ganz unverkennbar ist, kann man die Entstehung von Petersburg seit 1703 ansehen; von der PeterPauls-Feste und der Admiralitätsinsel hat sich schon 1718 die Anlage der beiden großen Prospekte radial entwickelt. Im Osten entstand das erste der später einen inneren Halbkreis umgebenden Wohnviertel mit noch unregelmäßigem Schachbrett. Nach dem Fall der schwedischen Festungen Viborg, Reval und Riga während des Jahres 1710 hatte Peter der Große 1712 den Hof an die Newamündung übersiedeln lassen. 1714 ging er so weit, für das übrige Rußland den Steinbau zu verbieten, um alle Baumaterialien auf seine Residenz zu konzentrieren. Westliche Ingenieure arbeiteten genaue Vorschriften aus, etwa Trezzini 1714 für sozial dreigestufte Modellfassaden. An der Peripherie wurde nur einstöckige Bebauung zugelassen. Das ganz europäische und hochbarocke, aber dennoch in seiner östlichen Verwurzelung originale Profil der Zarenresidenz ist von Holländern und Niederdeutschen, Balten und Italienern bestimmt, von qualifizierten russischen Baumeistern wie Katschalow, Semzow u.a. entfaltet worden (Abb. 71). Der Kreis um Zentraleuropa schließt sich, nehmen wir zuletzt noch die aus den Türkenkriegen erwachsene österreichische Militärsiedlung in das Blickfeld: war die vortürkische Städtebildung lediglich mit den Vorposten Fünfkirchen, Esseg/Drau und Temesvar bis an den Belgrader Donaubogen herangedrungen, so entstand nach der Rückeroberung an der Drau-Donaulinie im Grenzgürtel des Carlowitzer Friedens von 1699 ein eigener frühneuzeitlicher Schwerpunkt von Städten; Karlstadt/Slowenien ist ein gutes Modell dafür (Abb. 72). In ihnen herrschten die Waffen; der Hauptplatz war weniger Markt als Exerziergelände und Bereitstellungsraum, an ihm erhoben sich nun Arsenal und Kommandantur, Garnisonkirche und Spital, während das Bürgertum in die Seiten- und Außenkarrees der Anlage verwiesen blieb; gegenüber dem allgegenwärtigen Kommandanten hatte es kaum Bewegungsfreiheit. Dem örtlichen Befehlshaber unterstand selbst die Marktaufsicht, wie denn auch alle Handwerker für die Armee arbeiteten. Pulvermagazine, Ausrüstungslager und Kasernen waren die wichtigsten Großbauten, wenn auch daneben das Kapuziner- oder Franziskanerkloster sowie das Piaristen-Seminar nicht fehlten. Es ist die Zeit von Erik Dahlberg, dem bedeutendsten der schwedischen
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71. Petersburg. Ausschnitt aus dem Stadtplan von Homan, 1718.
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Planer, und von Sebastien Le Prestre, dem genialen Festungsschöpfer Ludwigs XIV. Dahlberg und Vauban waren Marschälle ihrer Krone, vertraten aber aus nüchterner Erkenntnis der Leistungsgrenzen hier Schwedens, dort Frankreichs eine maßvolle, defensive Politik; beide gerieten damit in Gegensatz zu ihrem König. Nur vier Jahre lag beider Todestag auseinander. Für Vaubans unerschöpfliche Produktivität, die neben Hunderten von Ausbauten auch etwa 30 neue Städte als Festungen geschaffen hat, möge das Zeugnis Neubreisachs genügen, der erst 1698 begonnenen, letzten und ebenmäßigsten seiner Anlagen. Abgesetzt von der Oberrheinlinie wurde hier ein fremder Stern mitten in die Kulturlandschaft gepflanzt, jeder Zoll und jeder Bau vollendet auf militärische Zweckbestimmung ausgerichtet. In diesem fortifikatorischen Reißbrett ohne Makel war die bürgerliche Vitalität ausgemerzt (Abb. 73). Vauban selbst, der für den absoluten Einheitsstaat und eine dirigistische Wirtschaft eintrat, glaubte zwar, wie er in seiner „Description de la ville de Landau" sagt, daß gerade im Fortfall der Autonomie sich die neue Wirtschaftsblüte aus der besseren Verzahnung mit dem Umlande entfalten werde, aber daran erkennt man lediglich, wie grundlegend sich Wirtschaft und Gesellschaft in derartigen frühneuzeitlichen Städten verändert hatten, wie völlig sie auf neue Koordinaten ausgerichtet wurden. Dennoch hat der Wandel in anderer Hinsicht seinerseits neue stadtschaffende Kräfte wachgerufen, die sich wirtschaftlich auf eine im Genossenverbande erstrebte Gewerbefreiheit orientierten. Die frühneuzeitliche Entstehungsschicht von Bergstädten ist der erste Zeuge dafür. Im Harz und in allen Randgebirgen des böhmischen Kessels sowie in Tirol bildeten sich neue, in der Slowakei erholten sich alte Erzabbaugebiete seit der Mitte des 15. Jahrhunderts. Neu prospektierte Felder, neue Abbautechniken und bald auch neue, längerfristige Finanzierungsmöglichkeiten begründeten das. Vom „weichen" Abbau sekundärer Verwitterungsschichten ging man endgültig zum „harten" Stollenbau unter Tage über; sinnreiche Neuerungen der Wasserwältigung sowie der Saigerung, also Verhüttung, steigerten die Erträge. Das neue „Berggeschrei" lockte alte Knappen und junge Glücksritter von weither an. Aus ungeregelten Siedlungsanfängen einer plötzlich aufbrechenden Jagd nach dem großen Gewinn, etwa im sächsischen Altenberg noch vor 1450, wuchs bald eine von langer Hand organisierte Ausnutzung der neuen Konjunktur. Ortsansässige Fachkräfte, fürstliche Grundherren und großbürger-
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liehe Unternehmer aus Krakau und Breslau, Görlitz und Leipzig, Zwickau und Nürnberg verbanden sich miteinander, „Bergherren" vom Schlage eines Martin Römer in Schneeberg, eines Johann Thurzo, gebürtigen Zipsers, in der Slowakei verkörperten technische Intelligenz, praktische Erfahrung, robuste Arbeitskraft und organisatorisches Geschäftsvermögen in einem. Indem sie den herkömmlichen Kleinzechenbetrieb mit 5-10 Arbeitskräften rationalisierten und größere Einheiten zusammenfaßten, steigerten sie die Erträge und die Abhängigkeit der Bergleute zugleich. Lebhaft suchte jeder Zechenhalter nach finanzkräftigen Gewerken, und der Kapitalüberhang in großen Städten mit alten Verbindungen zu den Metallgewerben kam dem entgegen. Der Bergbau, ohnehin das nichtagrare, das stadtsässige Gewerbe schlechthin, rief bei dieser neuen Wirtschaftslage mit geradezu industriezeitlichem Tempo Siedlungsballungen hervor. So entdeckte man 1492 am erzgebirgischen Schreckenberge ein reiches neues Silberfeld; vier Jahre später standen an 300 Zechen darüber! In deren Mitte wurde am 21. September 1496 gitterförmig, aber der Hanglage angepaßt, eine neue Stadt mit kreisrundem Umriß von 2500 Metern vermessen. An den Rechteckmarkt baute man sogleich das Rathaus, 1501 stand auch ein Franziskanerkloster, 1502 die Knappschaftskapelle der geradezu von Berufs wegen frommen Bergleute, seit 1503 wuchs der Steinbering mit sieben Toren. Den Grundstein zur großartigen spätgotischen Stadtkirche St. Annen hatten die Bürger schon 1499 gelegt; 1519 wurde sie bei noch fortdauerndem Bau geweiht. Vor der Stadt entstand seit 1502 das weiträumige Spital, am Mühltor ferner das Kornhaus; oberhalb des Ortes nahmen die Tongrube sowie der Ziegelhof ihren Betrieb als Zeugen der lebhaften Bautätigkeit auf (Abb. 74). ,,Santt Annabergk" hieß die neue Stadt erstmals im wettinischen Privileg von 1497; ein Jahr darauf gab es in der „civitas" bereits das landesherrliche Bergamt mit Vogt, Richter, Bergmeister und Geschworenen. Als Rechtsbasis wurde die „Schreckenberger Bergordnung" 1499 erlassen, das erste gedruckte deutsche Bergrecht, dessen Fassung von 1509 weiteste Verbreitung fand. Die sofort aufgenommene Silberprägung, der „Schreckenberger" oder „Engelsgroschen", stand hoch im Kurse. Schon 1505 bildete die Bürgergemeinde ihren ersten Rat, wählte nun auch selbst den Richter, hatte also gegenüber dem sofort zugreifenden herzoglichen Ortsherren ihre Autonomie begründet. 1509 brachte sie auch das Hochgericht an sich, der Stadtvogt verschwand. Trotz der hohen Zahlungen, mit denen diese Fort-
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74. Annaberg. Vogelschau der Stadt, um 1600
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schritte erkauft wurden, wuchs der Wohlstand rasch, und mit ihm die Einwohnerschaft. Um 1500 waren über 3000, 1508 etwa 6000, Ende 1509 schon 8000 Leute ansässig; bis 1540 wurde ein Höchststand von 12000 erreicht, also das damals etwa 10000 Einwohner zählende Leipzig überflügelt; Annaberg war nun mit Abstand die größte sächsische Stadt überhaupt. Um 1537 belief sich die Jahresausbeute auf 130000 Gulden; in der Kirchenausstattung, den aufwendigen Bergfesten, den Schmuck- und Kunstgewerbewaren spiegelte sich das. 37 Pochwerke und 14 Hütten verarbeiteten das Erz, an Gewerken finden wir die sächsischen und preußischen Herzöge, das Naumburger Domstift, ferner Leipziger, Kölner, Nürnberger und Augsburger Unternehmer. 1542 gab es aber auch bereits 14 Tuchmachermeister, deren Innung sich eine Satzung verbriefte, sodann blühte die Bortenwirkerei als Nebengewerbe, das nebst Posamenten und Klöppelei lebenswichtig wurde, als der Bergsegen abnahm. Seit 1530 war eine eigene Druckoffizin tätig und verlegte trotz landesherrlichen Verbots lutherisches Schrifttum, bis 1539 die Kirchenordnung unter dem eigenen Superintendenten errichtet wurde. Hier wie überall waren die Bergleute besonders lebhafte Protestanten. Eine Lateinschule gab es schon vor 1500, dem für das Berggewerbe gebotenen Bildungsbedürfnis entsprechend; daneben bestanden um 1540 sieben Privatschulen. Eine leitete der große Rechenmeister Adam Riese, dessen Elementarlehrbücher weit verbreitet wurden. Er hat die Rechnung nach arabischem Zehnersystem eingeführt, eine für den Geschäftsbetrieb ganz bahnbrechende Neuerung. Hoch entwickelt war natürlich auch die Bergtechnik; die Erfindungen des führenden Ingenieurs Lazarus Ercker waren weitbekannt. Der erfolgreichste eingesessene Zechenbesitzer Caspar Kürschner war bis zu seinem Tode 1572 Bergherr und Bürgermeister. Neben zahlreichen mittleren und kleinen Bergstädten der gleichen Entstehungsperiode erhielt Annaberg auf der böhmischen Seite ab 1515 in Joachimstal das noch größere Gegenbild. 1517 waren dorthin schon 3000 Knappen zugelaufen, und als die nach Christi Großvater benannte Bergstadt gut 15 Jahre alt war, hatte sie 18 000 Einwohner. Der deutschböhmische Graf Stephan Schlick prägte als Grundherr seit 1518 die , Joachimsthaler". Ihr Name und Gewicht setzten sich normgebend für die Silber-Großmünzen des ganzen Zeitalters durch; selbst in Frankreich prägte man den „Jocondale", in Rußland den „Jefimok". Auch der spa-
nische Peso Karls V. ab 1535 war dem Taler nachgeahmt.
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Zu den etwa 1 8 0 - 2 0 0 Bergstädten dieses Zeitraumes kamen als letzte Gruppe die sieben Oberharzer Bergstädte; an ihnen läßt sich heute noch die außerordentliche Arbeitsleistung frühneuzeitlicher Bergleute ermessen: über Tage in Gestalt der weitverzweigten Stauwasserbauten zur Energiesicherung mit dem 1000 Meter langen, bis zu 40 Meter breiten Sperberhaier Damm als Kernstück, den 1 Million Kubikmeter fassenden 71 Stauteichen und den rund 160 Kilometern das Wasser sammelnder Gräben, unter Tage mit den Dutzende von Kilometern langen „Erbstollen" zur Wasserlösung. Geistige Aufgeschlossenheit und stark genossenschaftliche Züge des Denkens und Handelns kennzeichnen auch den Oberharzer Bergbau. War das Montangewerbe vor allem im ersten Jahrhundert nach 1450 das vornehmste zu neuer Stadtbildung beitragende Element der Entwicklung, zwar in den Organisationsformen, der Technik und der geistigen Haltung neuartig entfaltet, aber doch von einer bereits mittelalterlichen, auch damals schon stadtsässigen und stadtschaffenden Berufsgruppe ausgehend, so kamen nun aber mit der Reformation bis dahin ganz unbekannte Formen der Flüchtlingsbewegung hinzu, die auf eine für die frühe Neuzeit spezifische Weise das Entstehen von Städten nach sich gezogen haben. Einer Zeit, die rund um den Erdball mit Zwangsumsiedlung, Austreibung und Flucht konfrontiert ist, muß vergangenes Exulantenschicksal besonders aktuell erscheinen. Publizistische Ursachen der Verteufelung Andersdenkender gab es lange vor den heutigen Informationsmitteln bei den frühen Flugschriften des Buchdrucks. Plädoyers für Gewalt und Gewissenszwang waren damals wie heute die Folge, doch in reformatorischer Zeit stand dem ein stark entfaltetes neues Ethos, ein vertieftes Ringen um Gewissensfreiheit gegenüber. War in der nachantiken Südbewegung wie in der mittelalterlichen Ostsiedlung der von den Zielgebieten ausgeübte Sog wahrscheinlich größer als ein in den Heimatgebieten vorliegender Druck gewesen, so standen jetzt gewaltsame Austreibung oder erzwungenes Ausweichen am Beginn eines ««freiwilligen Aufbruchs. Man empfand sich echt als „Exulant", als vertriebener Flüchtling. Was man verlor, war materiell mehr, als was man erhoffte, aber entscheidend schien die in Aussicht stehende Gewissensfreiheit, ein geistiges Gut. Man wollte sich daheim einem Zwange nicht beugen, nicht opportunistisch anpassen; das beweist sittliche Kraft, wie sie denn auch aus den Quellen der Exulantenbewegung im Zeitalter der Glaubensspaltung eindeutig spricht. Dabei konnte man meist nicht einmal darauf rechnen, im Zielgebiet kein Minderheitenschicksal mehr vorzufinden.
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Greifen wir aus den zahlreichen Wellen von Flüchtlingen, Juden und Taufgesinnten, böhmischen Brüdern und Lutheranern, Kalvinisten und Waldensern, Remonstranten und Sozzinianern, Hugenotten und Salzburgern, wenigstens drei mit je einem Beispiel heraus: böhmische Brüder, wallonisch-flämische Kalvinisten, Hugenotten. Nach Karls V. siegreichem Feldzuge von 1547 hatte sein Bruder Ferdinand mit der Landesordnung von 1549 die Rekatholisierung Böhmens eingeleitet. Das steigerte die schon ausgelöste Fluchtbewegung der Brüdergemeine mit Hauptziel über Schlesien nach Posen. Dort war Lissa der wichtigste Auffangplatz, denn hier hatte der polnische Ortsherr ein protestantisches, deutschsprachiges Gymnasium errichtet und bot Exulanten Schutz. Zuvor ein Städtchen von kaum 500 Einwohnern, wuchs Lissa nun in mehreren Etappen, erneut und am stärksten nach der Schlacht am Weißen Berge 1620 (Abb. 75). Der Südmährer Arnos Comenius stieg in der Stadt zum Bischof der Brüdergemeine auf, Publizist, Pädagoge, Prediger und Polyhistor zugleich. Er sah die Bedeutung systematischer ßildungsarbeit für das gefährdete Bekenntnis. In seinen Lehrerseminaren suchte er eine für die Zeit umwälzend moderne Erziehung durch die planvolle Kette eigener didaktischer Schriften fest zu begründen. Utopisch forderte er weiter in seiner erst 1935 wiedergefundenen „Pansophia" ein Weltfriedensgericht, ein allgemeines Gelehrtenkolleg und ein ökumenisches Konzil als höchste Organe. Er hat zugleich Leibniz und die englischen Empiriker maßgeblich beeinflußt. Inmitten des großen Krieges entfaltete seine Lehre mit der unitätseigenen Druckerei erstaunliche Fernwirkung. Lissa wurde das Modell der geistigen Freistatt. 1629 flüchtete aus Schlesien dorthin eine ganze schlesisch-lutherische Stadt: Guhrau. Der den Treck von 3000 Menschen anführende Bürgermeister Held wurde schon 1631 als solcher für Lissa gewählt. Obwohl die Mehrzahl dieser Neubürgergruppe einige Jahre später wieder in die Heimatstadt zurückkehren konnte, war Lissa um 1650 mit 12 000 Einwohnern Polens größte Stadt geworden. Danach jedoch erlebte es schwerste Zerstörungen, bis es im 18. Jahrhundert zur kleinen Mittelstadt zurückgeworfen war, als die es 1793 unter preußische Herrschaft kam. Der Zahl nach viel geringer, dem wirtschaftlichen und geistigen Gewicht nach aber mindestens gleich bedeutend waren die von wallonischflämischen Kalvinisten seit dem späten 16. Jahrhundert im deutschen Westen angelegten Städte. Eine besonders interessante unter ihnen entstand
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75. Lissa. Ausschnitt aus der topographischen Karte von 1891
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neben der spätmittelalterlichen Kleinstadt Hanau. Hier saß der junge Graf Philipp-Ludwig II., seit 1596 mit einer Tochter Wilhelms von Oranien verheiratet und unter dem kalvinistischen Einfluß von dessen Dillenburger Verwandten aufgewachsen. Da sich die nach Frankfurt geflüchteten Kalvinisten dort vom lutherischen Rat nach anfänglicher Duldung an ihrem Gottesdienst gehindert sahen, Schloß der Graf 1597 mit ihnen einen Ansiedlungsvertrag und ließ neben seinem winzigen Residenzort eine neue Stadtanlage vermessen (Abb. 76). In diesem Falle waren die Flüchtlinge recht wohlhabend, und sie setzten daher bei den Verhandlungen sehr günstige Bedingungen durch, obgleich der Graf nicht ohne Sorge auf eine Reaktion des ihm an Mitteln weit überlegenen Frankfurt achten mußte. Sie blieb jedoch aus, von wirtschaftlichen Maßnahmen abgesehen, und so entwickelte sich die im Bastionsfünfeck regelmäßig angelegte Neustadt Hanau rasch. Zweimal zwei Doppelblöcke des Rasters waren für Markt und Kirchplatz ausgespart, ein Westkarree sollte Hafen werden und einen Kanal zum Main erhalten. Die hochinteressante Doppelkirche diente der großen wallonischen und der kleinen flämischen Gemeinde zugleich; ein ebenso zweckmäßiger wie mit den Kanzelaltären beiderseits des Turms, der wie eine gleichsam numinose Vertikale die verschiedensprachigen Gemeinden als horizontale Kreise verklammerte, auch tiefsinniger Grundriß blieb erhalten; heute ist das größere Zehneck als Ruine des letzten Krieges zur Gedenkstätte umgestaltet, es übt auf den Besucher auf unbeabsichtigt-neue Weise nachhaltigen Eindruck. Die Exulantenführer konnten sich am Markte aufwendige Doppelhäuser errichten, deren Gestalt der Graf ebenso festlegte wie die Bauweise der übrigen Blöcke in der ganzen Anlage. Die Marienpfarre der Altstadt wies er den deutschen Kalvinisten zu, während die Lutheraner das kleine Johanneskirchlein benutzten und später großzügig erweiterten. Schon 1607 war bei der Brücke zwischen Alt- und Neustadt eine „Hohe Schule" begründet worden. Erst im 18. Jahrhundert fiel die Befestigung zwischen beiden Städten, und nun verbanden sich bezeichnende Residenzaspekte mit der einstigen Flüchtlingsanlage. Ein Paradeplatz entstand, mit Zeughaus, Theater und Kollegiengebäude; eine Allee führte zum Lustschloß Philippsruhe, streng achsial Garten und Orangerie dahinter, und eine Querachse dazu endete am Wilhelmsbad mit englischem Park und Meierei, eine Diagonale an dem elfstrahligen Alleestern mit Fasanerie. Kutschen der Hofgesellschaft benutzten diese Verbindungen und fuhren ostwärts, immer mit Blick
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auf Schloß und Stadt, weiter zur Maulbeerplantage der Seidenzucht, zum Neuhof und Lehrhof als dortigen Vorwerken. Uber ein Rondell kehrte man zum Nürnberger Tor der Neustadt zurück. Das blühende Spezialgewerbe der Exulanten hatte inzwischen seinen Markt erobert: Textilien standen voran, besonders moderne Mischstoffe wie der Bombasin aus Baumwolle, Kamelhaar und Seide, der Bursat, ein sergeartiger Stoff aus Leinen, Seide und Wolle, das Grosgrain oder Hanauer Zeug, vor allem für dicke Unterröcke, und mehrere Sammetsorten; daneben wirkte man Strümpfe und Strumpfhosen, fertigte Hüte und Barette sowie Teppiche und Gobelins. Der Seidenverarbeitung folgten Bortenmacherei und Klöppelei, Kunststickerei und andere Nadelarbeit; gesucht waren Hanaus Goldschmiede und Knopfmacher, Perlenlocher, Steinschleifer und Filigrandreher. Seit 1661 gab es eine Fayencemanufaktur, seit 1736 die Seidenraupenzucht. Damit ist Hanau beispielhaft für die wirtschaftlichen Möglichkeiten gehobener Exulantengewerbe des Westens, wo man sich in Lissa und sonst im Osten mit der biederen alten Tuchweberei beschied. Gerade die Verbindung mit der Residenz erlaubt uns aber, als bezeichnenden Kontrast zu diesem Duodezländchen sowie zugleich als naheliegenden Schlußpunkt hinter die lange Reihe in den letzten Abschnitten betrachteter Bürgergemeinden das durch mehrere hugenottische Flüchdingsstädte nacheinander erweiterte Zentrum Preußens abschließend zu betrachten. Berlin und sein Spreegegenüber Kölln waren um 1230 als Doppelstadt im Zuge der askanischen Herrschaftsbildung in der Mark Brandenburg entstanden, um einen wichtigen Flußübergang zu decken. Die Berliner Altstadt St. Nikolai erhielt vor 1292 eine Neustadterweiterung St. Marien. Auf der Naht beider nun zusammen 47 Hektar umfassenden Ortsteile fand das gemeinsame Rathaus seinen Platz. Die Petristadt Kölln dagegen behielt den ursprünglichen Planungsumfang von 23 Hektar, wurde allerdings nach 1442 im Westen durch die Markgrafenburg ergänzt. Damit war die Gesamtanlage auf 70 Hektar gebracht. Franziskanerkloster und Spital hatten im Randstreifen von Berlin Platz gefunden, ein Leprosorium Georgen lag nördlich außerhalb der Stadt vor dem gleichnamigen Tore (Abb. 77). Von den Gartenerweiterungen hinter Schloß und Dom abgesehen, hat noch der Große Kurfürst diese nach den Maßstäben der Zeit große Mittelstadt so vorgefunden. Ihre Autonomie war bereits Mitte des 15. Jahrhunderts durch seine Vorfahren entscheidend beschnitten worden; Berlin verlor damals
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seine Bindungen zur Hanse, und sein besonders auf Hamburg ausgerichteter, auf Kornexport beruhender Fernhandel trat an Bedeutung zunehmend zurück hinter die Funktionen der Residenz; die landständische Führungsrolle im Kreise der märkischen Städte war mit der Reformation so gut wie ausgespielt. Als Kurfürst Johann Sigismund zu den Reformierten übertrat, begehrte die lutherische Bürgerschaft Berlins im sogenannten „Kalvinistentumult" 1615 ein letztes Mal vergeblich auf; danach brach der gerade die Kurmark hart betreffende große Krieg endgültig ihren Widerstandswillen. Bis dahin also entsprach die frühneuzeitliche Entwicklung hier ganz den anfangs von uns umrissenen Reduktionserscheinungen im älteren Städtewesen. Seit dem Kriegsende jedoch begann der Zuzug in die stark entvölkerte Doppelstadt sprunghaft anzusteigen; zunächst beruhte das weniger auf der Ansiedlung von Glaubensflüchtlingen als auf dem Residenzphänomen mit seinen vielschichtigen Kumulationsgründen von Hofleuten aller Sparten, von Beamten und Soldaten. Doch die engen Beziehungen des nun kalvinistischen Herrscherhauses zu den Oraniern führten bald zu gezielter Förderung des Exulantenzuzugs, und der tatkräftige Friedrich-Wilhelm suchte damit zugleich dem „Commerzium" sowie der „Peuplierung" zu dienen, um die wirtschaftspolitischen Schlagworte der Zeit einzuführen. Er privilegierte zunächst 1662 den „Friedrichswerder", eine südwestliche Erweiterung von Kölln, mit der zugleich die fast vollendet kreisrunde Bastionärbefestigung um die Gesamtstadt emporwuchs ( 1 6 5 8 - 8 3 ) ; es folgte die 1673 angelegte und nach der Kurfürstin benannte „Dorotheenstadt" nachweislich französisch-holländischer Anlage. Im Anschluß an das Potsdamer Edikt von 1685, mit dem der Kurfürst die Aufhebung des Edikts von Nantes durch Ludwig X I V . beantwortete, hat dann Johann Adolf Nering für den eben zur Herrschaft gelangten Erben die großzügig geplante „Friedrichstadt" geschaffen. Ihre seit 1688 angesiedelten Neubürger waren zunächst fast ausschließlich französische Hugenotten, wie ebenso die der 1705 neu privilegierten westlichen Vorstadt Charlottenburg, eigentlich nur einer Schloßsiedlung der Königin, die auch räumlich durch das weite Tiergartengelände von der Hauptstadt getrennt war. Da sich im 17. Jahrhundert auch schlesische Lutheraner und vor allem böhmische Brüder in großen Scharen eingefunden hatten, wuchsen die von diesen bebauten Viertel im weiten Halbkreise um Alt-Berlin herum gleich-
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zeitig rasch weiter, wobei sich der mit Radialstraßen vom Paradeplatz ausstrahlende Bezirk der „Königsvorstadt" seit 1734 ausbildete. Als Friedrich der Große die Herrschaft antrat, hatte Berlins Einwohnerzahl die 100 000 bereits überschritten; während des siebenjährigen Krieges ist sie nochmals von gut 125 000 auf 98 000 zurückgegangen, betrug dann aber 1783 schon wieder 141000. Davon gehörten allein 57000 der Garnison, den Beamtenfamilien und den Hofleuten zu; das Bürgerrecht hatten lediglich 7,5 % . Den Exulantengemeinden war auch nach 1705, als man die fünf Städte endlich zusammengeschlossen und einem gemeinsamen Magistrat unterstellt hatte, zunächst noch ein Sonderstatus zugebilligt. Fassen wir zusammen, so hat Berlin einmal die komplizierten Wachstumsvorgänge des Mittelalters und der frühen Neuzeit auf seine Weise ineinandergefügt; es ist ferner in seiner wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung aus der Kornexportstadt im hansischen Fernverkehrsnetz zu einer - wie hier nicht mehr näher behandelt werden konnte - Spezialgewerbestadt mit vielschichtigen Exulantenbeimischungen im Zubringerdienste einer aufsteigenden frühneuzeitlichen Residenz geworden, es hat sich endlich im 18. Jahrhundert bei kennzeichnender Mischung aus preußischem Absolutismus und geistiger Freistatt für die verschiedensten Bekenntnisse auch zu einem individuellen Profil bürgerlichen Bewußtseins entfaltet, während es nach Volkszahl und Umfang zu Hamburg und Wien als den um diese Zeit führenden Städten des deutschen Sprachgebiets aufzuschließen vermochte. Ein Blick voraus zeigt, daß um 1850 auch die Kapitalen an Elbe und Donau von Berlin überflügelt worden waren. Die nachfolgende Zeit des Glanzes wie der Geschlagenheit hat wohl erst recht ihren Beitrag dazu geleistet, dieser Stadt eine protagonistische Ausnahmerolle in Mitteleuropa zu sichern. Wie kaum eine andere vereinigt sie das bunte Spektrum Urbanen Lebens im nachantiken Europa, dem wir mit knappen Strichen Farbe zu geben suchten, auf ihrer Palette. Sie weist damit voraus auf die vom Verfassungshistoriker und Stadtgeographen zu gebende Skizze der Bedingungen städtischen Lebens im industriellen Zeitalter.
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Schrifttumshinweise Allgemeines: Für das Städtewesen der frühen Neuzeit fehlt eine umfassende moderne Behandlung noch; reiches Material über die geographisch orientierte Fragestellung hinaus bei P. LAVEDAN, Histoire de l'urbanisme II: Renaissance et temps modernes, Paris 1941. Das wertvolle Reservoir älterer Stadtansichten behandelt F. BACHMANN, Die alte deutsche Stadt. Ein Bilderatlas der Städteansichten (bis 1648), 3 Bde., Leipzig 1941-49, 4. Bd., hg. von M. SCHEFOLD, Stuttgart 1961. Anregende Abrisse: H . HERZFELD, Die Stadt in den aufsteigenden Nationalstaaten, in : O . HASELOFF (Hg.), Die Stadt als Lebensform, Berlin 1970, S. 73 ff.; Ε. ENNEN, Die Stadt zwischen Mittelalter und Gegenwart, in: Rhein. Vierteljahrsbll. 30/1965, S. 118ff.; Entwicklungskritische Beobachtungen eigener Sicht bei A. TOYNBEE, Unaufhaltsam wächst die Stadt (Ubs. aus dem Englischen), Stuttgart 1971; L. MUMFORD, Die Stadt. Geschichte und Ausblick (Obs. aus dem Englischen), London 1963; stoffreicher Neuansatz bei H. MAUERSBERG, Wirtschafts- und Sozialgeschichte zentraleuropäischer Städte in neuerer Zeit. . ., Göttingen 1960. Versuch neuer Gliederung: H. STOOB, Über frühneuzeitliche Städtetypen, in: Festschr. f. K. v. RAUMER, Münster 1966, S. 163ff. Einige Abschnitte zum frühneuzeitlichen Städtewesen in größerem Zusammenhang: F. LÜTGE, Deutsche Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, 2. Aufl., Berlin 1960, S. 199ff., 278ff. u . ö . ; H . HAUSSHERR, Wirtschaftsgeschichte der Neuzeit, Weimar 1955, bes. S. 12ff., 215ff.; H . CONRAD, Deutsche Rechtsgeschichte 11/1966 (Neuzeit), Karlsruhe, bes. S. 99ff., 193ff., 268ff., 368ff.; W. ANDREAS, Deutschland vor der Reformation . . ., 6. Aufl., Stuttgart 1959, bes. S. 287ff. Zur Städteplanung der Renaissance: Les utopies de la Renaissance, (Coli, intern. 1961), Brüssel 1963; A. BRINCKMANN, Stadtbaukunst, im: Hdb. der Kunstwiss., 2. Aufl. Potsdam 1924; H. SIMON, Das Herz unserer Städte, 2. Aufl. Essen 1963-67 (3 Bde.); V. LORENZEN, Drömmen om den ideale by, Copenhagen 1947; Η. ROSENAU, The ideal city, London 1959; C. HlNRICHS, Die Idee des geistlichen Mittelpunkts Europas, in: Festgabe F. MEINECKE, 1952; S. 85-109; H. FREYER, Die politische Insel. . ., Leipzig 1936; H . GOLLWITZER, Geschichte des weltpolitischen Denkens, 1/1972. Z« Ubersee und 'Westeuropa: H. WlLHELMY, Südamerika im Spiegel seiner Städte, Hamburg 1952; DERS., Probleme der Planung . . . südamerikan. Kolonialstädte, in: Hist. Raumforschung 4/1963, S. 17ff. (dort noch weitere Beiträge); R. KONETZKE, Überseeische Entdeckungen . . ., in: Propyl. Weltgesch. 6/1964 (vgl. Fischer-Weltgesch. 22/1965); J . ENGEL im Hdb. der europ. Geschichte, hg. von TH. SCHIEDER, 3/1971, S. 78ff. (Schrifttum!); V. DE MAGELHAES-GODINHO, L'economie de l'empire portugais . . . 1969; S. FOCKEMAANDREAE/E. TER KUILE, Duizend jaar bouwen in Nederland, Amsterdam 1948. Zu Skandinavien: V. LORENZEN, Christians IV. byanlaeg, Copenhagen 1937; G. EIMER, Die Stadtplanung im schwedischen Ostseereich 1600-1715, Stockholm 1961; A. v. BRANDT und K. ZERNACK in: Hdb. der europ. Geschichte, hg. von TH. SCHIEDER, Bde. 3/1971, S. 962ff. bzw. 4/1968, S. 512ff.; H. KELLENBENZ in: Gesch. Schleswig-Holsteins 5/1960, S. 203f. Zur österreichischen Militärgrenze: R. v. SCHUMACHER, Des Reiches Hofrain . . ., 3. Aufl., Darmstadt 1942; J . AMSTADT, Die k. k. Militärgrenze . . ., Würzburg 1969; E. LENDL, Die deutsch geprägten Stadtanlagen im südöstl. Mitteleuropa, Göttingen 1953; A. KLAAR, Die
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neuzeitliche Stadt, in: K. GINHART, Bildende Kunst in Österreich 9/1943; G. RHODE, in: Hdb. der europ. Geschichte, hg. von T h . SCHIEDER, Bd. 3/1971, S. 1091 ff.; A. PETRI, Die Festung Temesvar im 18. Jahrhundert, München 1966. Vauban: P. LAZARD, Vauban 1633-1707, Paris 1934; A. KÜHN, Vauban . . . in: Hist. Raumforschung 4/1963, S. 31 ff.; AUGOYAT (Hg.), Memoires inedites du marechal Vauban Sur Landau, Luxembourg 1841; F. HlORNS, Town planning in history, London 1956; W. GEMBRUCH, Zwei Denkschriften Vaubans . . ., in: Hist. Zs. 195/1962, S. 297ff.; M. PARENT/J. VEROUST, Vauban, Paris 1972 (vorzügliches Bildmaterial); H. MUSALL, Die Kriege im Zeitalter Ludwigs XIV. und ihre Auswirkungen auf die . . . Oberrheinlande, in: Festschr. H. GRAUL, Heidelberg 1974. Bergstädte: A. SCHAHL, Heinrich Schickhardt. . ., in: Zs. für Württ. Landesgesch. 18/1959, S. 15ff.: Schrifttum zu Freudenstadt; W. KUHN, Die deutsche Ostsiedlung in der Neuzeit, 2 Bde., Köln 1955-57; H. LÖSCHER, Die erste Annaberger Bergordnung, in: Zs. der Savignystiftung für Rechtsgesch. German. Abt. 68/1951, S. 435ff.;J. MITTENZWEI, Der Kapitalismus im Joachimsthaler Silberbergbau, in: Wiss. Zs. Univ. Leipzig 14/1965, S. 443-453; G. PROBSZT, Die niederungarischen Bergstädte . . . bis 1546, München 1966; H. DENNERT, Kleine Chronik der Oberharzer Bergstädte . . ., Clausthal 1954. Exulantenstädte: J. MÜLLER, Geschichte der böhmischen Brüder, 3 Bde., Herrnhut 1922-31; A. RHODE, Geschichte der evang. Kirche im Posener Land, Würzburg 1956; A. FLITNER, Die „Große Didaktik" des J. A. Comenius, Düsseldorf 1954; W. KALINOWSKI, City development in Poland . . ., Warschau 1966; H. BOTT, Gründung und Anfänge der Neustadt Hanau 1596-1620, Marburg 1970; H. ERBE, Die Hugenotten in Deutschland, Essen 1937; M. ARENDT u.a., Geschichte der Stadt Berlin, Festschrift Berlin 1937; O. GANDERT, Heimatchronik Berlin, Köln 1962; H. HERZFELD, Berlin als deutsche Hauptstadt im Wandel der Geschichte, in: Schicksalsfragen der Gegenwart 4/1959; H. SCHILLING, Niederländische Exulanten im 16. Jahrhundert, Gütersloh 1972.
Zur Städtebildung im industriellen Zeitalter HEINZ STOOB
Über den tiefen Einschnitt in das mitteleuropäische Städtewesen zur Zeit vor und um 1800 besteht im derzeitigen Forschungsgespräch Einhelligkeit. Seine Bedeutung umschrieb Otto Brunner damit, daß „Grundherrschaft und alte Stadtgemeinde ... vom aufwachsenden modernen Staat erst ausgehöhlt und sinnlos gemacht und dann ... beseitigt" worden seien. Obwohl hier keineswegs geradezu vom Ende der Stadt als solcher, vielmehr eben lediglich von dem „der alten Stadtgemeinde" gesprochen wird, ist unter Aufnahme der Wendungen Brunners und anderer Forscher für die Zeit nach 1800 vertreten worden, „der Stadtbegriff an sich" werde „jetzt höchst fragwürdig", es beginne „etwas völlig Neues", die Stadt falle, „was ihre Stellung zum flachen Land angeht, gewissermaßen in die Lage zurück, in der sie sich in der ersten großen Epoche befand" (das heißt vor 1100). Carl Haase, der hier zitiert wurde, hat freilich an gleicher Stelle betont, „einfach quantitativ, unter dem Gesichtspunkt der städteschöpferischen Epochen" sei das 19./20. Jahrhundert dem 11./13. an die Seite zu stellen. In der Tat kann man nicht daran vorbei, daß die Kurve der Städtebildung nach einem Tiefpunkt im späteren 18. Jahrhundert mit dem Zeitalter der Verkehrsrevolution und der Industrialisierung wieder zu beträchtlichen Zahlen angestiegen ist, wenn sie auch das Maximum der Zeit um 1300 bei weitem nicht wieder erreicht hat. Es ist also, ob nun der Zeit nach 1800 als eigener Periode innerhalb des Gesamtphänomens Gewicht beigemessen wird, oder ob man für sie den Großsiedlungen — entgegen dem eindeutig fortdauernden Sprachgebrauch sowie dem Selbstverständnis von deren Bewohnern — rundweg die Stadtqualität absprechen will, sowohl sachlich begründet als auch notwendig, den vorangegangenen Perioden das Verbrei-
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tungsbild der nach 1800 neu entstandenen Städte gegenüberzustellen (Abb. 78). Von den Neubildungen ganz abgesehen, erscheint es aber auch für die fortbestehenden Städte mittelalterlicher oder frühneuzeitlicher Entstehungszeit problematisch, in ihnen nach 1800 „etwas völlig Neues" zu sehen. Natürlich trifft es zu, daß Hunderte im 19. Jahrhundert für längere Zeit oder auch auf Dauer zu Landgemeinden abgesunken sind, aber „abgekommene" Städte hatten wir auch vorher in beträchtlicher Zahl bereits festgestellt. Der Sichtweise jedoch, es gebe nun keine unterscheidenden Kriterien von Stadt und Land mehr, die Städte seien unter dem Einfluß französischer Verwaltungsgesetzgebung verfassungsrechtlich und wirtschaftlich eingeebnet, die „Scheidung von Stadt und Land endgültig sinnlos geworden", muß man entgegenhalten, daß umgekehrt Hunderte von kleinen und kleinsten Städten gerade vorher, im Zeitalter der großen Kriege nämlich, baulich zerstört, oft fast entvölkert, der bürgerlichen Selbstverwaltung faktisch beraubt und wirtschaftlich verarmt hindämmerten, seit dem frühen 19. Jahrhundert aber in jeder dieser Hinsichten zu neuen Kräften gelangten. Viele dieser Orte erlebten jetzt einen Aufstieg weit über ihren altständischen Rahmen hinaus, in keinem aber empfanden die Bürger den Wandel als eine Abkehr von der heimatstädtischen Überlieferung. Den Problemen des bürgerlichen Bewußtseins seit dem Biedermeier ist hier nicht weiter nachzugehen; es genügt zu fragen, ob die Kriterien städtischen Lebens wirklich eine grundsätzliche Unterscheidung von dem der vorangehenden Perioden verlangen oder auch nur gestatten. Nach Wiederherstellung der Selbstverwaltung, wenn auch in zeitgemäßen, dem Anstaltsstaat angepaßten Formen, gewann jedenfalls — vom Wachstum der Einwohnerzahlen und der Bausubstanz wie auch vom wirtschaftlich-sozialen Aufschwung einmal ganz abgesehen — das Bürgertum nicht weniger verfassungsrechtlich und kulturell wieder eigenes Profil. Die kommunalpolitische Initiative erhielt materiell wie ideell eine neuartige erhebliche Bewegungsfreiheit. Zwar wurde die Planung, namentlich auf den Gebieten der Leistungsverwaltung, weithin vom Wachstum überrollt, was bei dessen Umfang zumindest verständlich erscheinen muß, doch ist andererseits mit erheblichen Anstrengungen und nicht zu leugnenden Erfolgen um die Bewältigung der Wachstumsprobleme gerungen worden.
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Dabei ging es, um wenigstens mit Stichworten die verschiedenen Richtungen anzudeuten, um Eingemeindung und Umlandpolitik wie um Sanierung und Nahverkehrsnetz, um Kanalisation und Versorgungsbetriebe, um Standorte für Handel, Gewerbe, Industrie ebenso wie für Gesundheitswesen, Bildung, Verwaltung und Militär, um Tiergärten, Parke und Stadtseen wie um Gaststätten, Geschäftsviertel und kulturelle Einrichtungen. Das alles fand nicht nur in der städtischen Oberschicht zur Kreisfreiheit aufsteigender Orte statt, es bewirkte auch in sehr vielen, alten wie jungen, Kleinstädten eine unbestreitbare Hebung, oft gewiß auch Überhöhung des ortsbürgerlichen Selbstbewußtseins. Besäßen wir Querschnittsvergleiche für einige regionale Städtegruppen hinsichtlich ihres Zustandes um 1670, 1770 und 1870, so würden die Ergebnisse für sich sprechen; an der Kontinuität des betreffenden Gemeinwesens kann dabei, vom zeitgenössischen Bewußtsein ganz abgesehen, kaum ein Zweifel bestehen, auch dort, wo nicht die typische Kleinresidenz, die alteingesessene Garnison, das verwurzelte Großgewerbe sie in der eigenen Tradition verkörperten. Demnach muß die Städtebildung nach 1800 als letztes Glied in unseren Betrachtungszusammenhang einbezogen werden. Der Vergleich mit den vorhergegangenen Perioden soll dabei keineswegs Unterschiede geringschätzen oder gar übergehen; mit Recht hat Elisabeth Pfeil am Gegenstande der „Großstadt" davor gewarnt, unbesehen mittelalterliche und moderne Großsiedlungen, auch wenn gleiche Proportionen zu den übrigen Städten vorlägen, unter den gleichen Kategorien zu beurteilen, denn das relativierende Verfahren sei in diesem Fall unpraktisch, es verlange „dauerndes Umschalten", decke das eine Phänomen nur auf, indem es dafür ein anderes verschleiere. Hier muß also stets aus der jeweiligen Periode heraus, in deren Querschnitt, argumentiert werden, bevor am Längsschnitt über Möglichkeiten des Vergleichs nachgedacht werden kann. Wenn übrigens die Verbreitungskarte mit dem Jahre 1945 abschließt, so geschah dies nicht nur mit Rücksicht auf das Kriegsende, so einschneidend man dessen Folgen für das europäische Städtewesen zu bewerten hat. Noch Carl Haase hatte sein im Prinzip entsprechendes Schlußjahr 1950 für die Kartierung der westfälischen Städtebildung aus verständlichen Gründen als „willkürlich gesetzt", den Abschnitt seit
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1803 als „noch nicht beendet" bezeichnet, da sich die Entwicklung „noch mitten in den Übergängen" befinde. In der Tat erschien zunächst der säkulare Zusammenhang einer für das moderne Europa konstitutiven, später von dort aus weitergreifenden Wachstumsballung mit den sich daraus ergebenden politischen, wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und geistig-kulturellen Umschichtungen nicht einmal durch die Weltkriege der Tendenz nach unterbrochen. In den letzten Jahrzehnten aber wurde es dann doch unverkennbar, daß mit Rücksicht auf die Umkehr der Bevölkerungskurve, das Auslaufen des Wirtschaftswachstums sowie die in West und Ost bei aller Gegensätzlichkeit der Systeme gleichermaßen gegebene Erschütterung ethisch-normativer Grundordnungen ein Wendepunkt nach der Jahrhundertmitte anzusetzen sein dürfte. Das kontinentale Städtenetz wurde davon vor allem durch die Migrationsbewegungen beeinflußt. Sie erfaßten im ganzen Osten von Finnland bis zum Balkan hinab stadtsässige Bevölkerungen aller Sprachen bis zu dem gar nicht seltenen Extremfall des förmlichen Kontinuitätsbruchs hin. Sie führten umgekehrt, den hochmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Wanderungsbewegungen entsprechend, in den Zielräumen zu neuer Städtebildung und Stadterweiterung, obwohl damals wie jetzt das Flüchtlingsschicksal nur eine von mehreren Ursachen der Neubildungen gewesen ist. Diese Ursachen waren und sind komplex; sie betrafen und betreffen geistige Kräfte konfessioneller oder ideologischer Art neben machtpolitischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen. Gerade im östlichen Mitteleuropa, wo zunächst die Wachstumskurve der Bevölkerung noch anhielt und den durch Abwanderung eingetretenen Verlust bald ausglich oder gar übertraf, kam es aus interessanten Gründen durch Verwaltungsakte zu einer starken Verdichtung der Städtedecke, etwa um Warschau, in Schlesien und in Böhmen-Mähren. Das bekräftigt für uns noch jene Argumente, 1945 als das Schlußjahr der Kartierung auf unserer Verbreitungskarte zu wählen. Bevor wir nun das Kartenbild näher betrachten und seinen Tendenzen nach zu beurteilen versuchen, wollen wir an drei Beispielen bestimmte Typen solcher Gemeinwesen vorführen, die zwischen 1800 und 1945 im Wege der Verwaltungsanordnung mit Stadtrecht versehen worden sind: den Gewerbeort Gütersloh, den Schiffahrtsplatz Bremerhaven und den
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Kurort Bad Tölz. Die Auswahl mag willkürlich erscheinen, sie mußte aber bestimmte stadtbildende Voraussetzungen berücksichtigen und sollte auch räumlich verschiedene Regionen angehen. Drei typologisch, funktional und räumlich weit voneinander entfernte Modelle mögen zudem weitere entsprechende Untersuchungen anregen und den Blick für das Gesamtspektrum schärfen. Die durch Kabinettsordre vom 14. November 1825 erhobene Stadt Gütersloh gehörte zusammen mit dem sauerländischen Witten als Nachzügler zu einer Gruppe von weiteren 11 bereits 1821 in die Städteliste aufgenommenen Orten. Mit 2.400 Einwohnern war Gütersloh damals wesentlich volkreicher als Dutzende alter westfälischer Städte; als Kirchdorf hatte es eine vermutlich in ottonische Zeiten zurückreichende Geschichte, obwohl die Pankratiuspfarre gesichert erst 1184 zu belegen ist. Der Ortsname ging wohl zurück auf eine Flur beiderseits der Dalke im Einzugsgebiet der oberen Ems mit vergleichsweise großem Sprengel. Hier überquerte ein Fernweg zwischen Porta Westfalica und dem Hellweglande den Fluß; bei Wiedenbrück kreuzte er die Straße Münster-Paderborn. Vermutlich nach dem Ubergang des osnabrückischen Meierhofes Gütersloh an die nahegelegene Zisterze Marienfeld im Jahre 1241 entstand ein ansehnlicher Kirchenneubau; die Pfarre setzte aber das 1259 in Wiedenbrück begründete Stift ein. Daraus und aus der Konkurrenz des zur Herrschaft Rheda gehörigen Freigerichts mit dem osnabrückischen Gogericht Wiedenbrück ergaben sich lange Streitigkeiten. Sie wurden 1565 durch Teilung so geregelt, daß die größere Nordhälfte des Kirchspiels mit Gütersloh selbst zu Rheda kam, der Süden und der Nordosten aber beim Amte Reckenburg-Wiedenbrück blieben. Das entschied auch die konfessionelle Frage in Gütersloh zugunsten der um 1540 eingedrungenen Reformation. Die spätere geistige und wirtschaftliche Entwicklung wurde dadurch bestimmt, die städtische Entfaltung im 19. Jahrhundert beeinflußt. Die Teilung und die Grenznähe des Restkirchspiels war natürlich dem ferneren Wachstum des Hauptortes hinderlich, obwohl dieser bereits über ein weiteres Nahmarkt-Einzugsgebiet verfügte. Am „Spiekerring" um die Kirche, den das Urkatasterblatt gut zeigt (Abb. 79), spaltete vom älteren Fernweg Wiedenbrück-Bielefeld der jüngere nach Osnabrück ab, den dann die Marienfelder Straße kreuzte. So bildete sich ein
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79. Plan der Stadt Gütersloh von 1822
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frühneuzeitlich bebautes Dreieck von Kötteranwesen, während die alten Meierhöfe sowie einige jüngere Markkötter der Zeit 1450 - 1550 im weiten Ringe um die Ortsmitte liegen blieben. Zwischen 1657 und 1663 entstand der „Busch", ein planmäßiger Ausbau des Grafen von Rheda, als zweiter Ortskern „auff den Venne vor Gütersloh"; der Straßenabschnitt bis dorthin wurde erst im 18. Jahrhundert beidseitig bebaut. Noch im Verbreitungsbilde zentraler Orte um 1800 fehlt Gütersloh unter diesen Umständen ganz; das alte Wiedenbrück sowie seine benachbarten, kleineren Rivalen Rheda und Rietberg standen damals als untere Mittelzentren an der Oberems noch unangefochten voran. Die Zusammenfassung der drei Kleinterritorien und ihr Anschluß an Preußen 1813-16 gab zwar Gütersloh erste Anstöße zum Aufstieg, kam aber zunächst einmal der neuen Kreisstadt Wiedenbrück zugute. Als jedoch der Chausseebau Berlin-Koblenz 1817 von Bielefeld her Gütersloh erreichte, seit 1820 im Ortsbereich auch gepflastert, begann sich die günstige Wirtschaftslage deutlicher abzuzeichnen. Das 1822 aufgenommene Katasterblatt weist bereits den neuen Chausseezugang von Süden her auf, ferner den Feuerteich mit Spritzenhaus an der späteren Ortsmitte sowie die abseits nach Westen gelegene Synagoge. Um diese Zeit lebten bereits fast 100 Juden in Gütersloh, ein Anhalt für das aufsteigende Gewerbeleben. Der Ort gehörte zu jener ganz handwerklich orientierten, auf Hausweberei begründeten und von den Preußen zielbewußt geförderten Textilzone zwischen Bielefeld und Münster, deren Garne und Leinen das Hauptexportgut in Richtung Bremen, Amsterdam sowie namentlich Iserlohn/Elberfeld bildeten; zugleich lag er an der modernsten Fernverbindung zur märkischen Metallwarenfabrikation. Damit gewann auch der Fuhrbetrieb seine hohe Bedeutung für Gütersloh; die Geschäftsverbindungen zwischen den Textilstädten Herford, Bielefeld und Gütersloh sowie den Eisenstädten Iserlohn, Altena, Lüdenscheid und Elberfeld, für die nachweislich auch der gemeinsame, protestantische Konfessionsstand der Handelspartner von Belang war, förderten auch das Marktaufkommen, hinter dem nun Rietberg und bald auch Wiedenbrück zurückblieben. Die Volkszunahme im Umlande kam dem leistungsfähigen Lebensmittelgewerbe, namentlich der Fleischproduktion, am Gütersloher Markt zugute. Die
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Stadt näherte sich den 6.000 Einwohnern und übernahm 1842 die revidierte Städteordnung von 1831; das bedeutete die Ausgliederung der umliegenden Bauerschaften als Amt aus der nun endgültig durchgebildeten Stadtverwaltung. Vor allem aber griff Gütersloh mit Energie nach der Chance, Bahnstation der neugeplanten Strecke Köln-Minden zu werden, während sich das konservative Wiedenbrück dagegen sträubte und Rheda den Bahnanschluß überließ. Mit dem Beginn des Bahnverkehrs 1847 setzte auch die Bildung des neuen Bahnhofsviertels im Südosten der Stadt ein (Abb. 80). Von da an beschleunigte sich die Entfaltung weiter; zum Textil- und Lebensmittelgewerbe traten Metall- und Holzindustrie, das 1848 zum privaten Lyceum, 1851 auch zum Gymnasium gelangte Bildungswesen begünstigte den Aufstieg von Zeitungen, Druckereien und Verlagsbetrieben. Wieder weisen dabei die Wurzeln auf den Konfessionsstand: in der protestantischen „Erweckung" spielten der Prediger Volkening und sein Gesinnungsfreund Bertelsmann seit den Tagen der Stadterhebung eine wichtige Rolle. Hatte sich das bürgerliche Selbstgefühl von Anfang an aus der parochialen Eigenständigkeit im Kleinterritorium Rheda heraus natürlich entfalten können, so gewann es im Bismarckreich weitere Festigung. Als man sich 1910 zur großzügigen Eingemeindung der umliegenden Bauerschaften entschloß, wuchs damit die Einwohnerschaft erneut auf mehr als das Doppelte, nun bereits 18.000. Um den alten Kern waren, bei wabenförmiger Ausfüllung der Sektoren zwischen den Ausfallbebauungen, konzentrische Wachstumsphasen entstanden; die einst als Tangente angelegte Bahnschneise schnitt jetzt recht hinderlich mitten durch den Stadtkörper (Abb. 81). Dennoch überwölbte nun die Zentralfunktion den Bereich der älteren Nachbarstädte: in Rheda und Wiedenbrück wohnende Berufspendler bilden 1969 bereits eine beträchtliche Gruppe der in Gütersloh Beschäftigten, umgekehrt aber findet kein nennenswerter Pendlerverkehr statt. Nachdem bereits 1953 die Auskreisung angestrebt, 1956 die 50.000 und 1970 die 75.000 Einwohner überschritten worden waren, mündete die Entwicklung 1973 in die Bildung des Großkreises Gütersloh; damit wurde auch verwaltungsmäßig die binnen 150 Jahren entfaltete Zentralität bestätigt (Abb. 82).
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Stellen wir nun der westfälischen Gewerbestadt ein zweites Modell zur Seite: den der Stadterhebung nach zwar fast zeitgleichen, aber aus ganz anderen Wurzeln erwachsenden Küstenplatz Bremerhaven rechts der Unterweser. Beiderseits des Mündungsmäanders der Geeste lagen hier die Kirchdörfer Lehe und Geestendorf, deren Ortsnamen auf die nur knapp 2 km voneinander entfernten Anhöhen der Geest hinweisen. Auf ihnen standen jeweils die Anwesen, an sie lehnte sich der alte Seedeich;
81. Räumliches Wachstum von Gütersloh
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82. Gütersloh um 1960. Ausschnitt aus der T K 1 : 50.000
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das zwischenliegende, unbedeichte Land teilte der Fluß beiden Gemarkungen zu. Nach Patrozinien, Baubefund und Überlieferung sind beide Kirchen im Hochmittelalter vorhanden; in Lehe führte die Furtlage spätmittelalterlich auch zu Marktleben und Fleckensbefestigung. Die Geestemündung lag verhältnismäßig günstig zu Fahrwasser, Gezeiten und Winden; von dort aus konnte man den Seeverkehr nach und von Bremen beaufsichtigen, und so versuchte der Bremer Erzbischof erstmals 1408 durch Anlage der „Stinteburg" an der Geestendorfer Seite der Weserstadt Schwierigkeiten zu bereiten. Unverzügliche Gegenmaßnahmen Bremens beseitigten aber die Burg, und in dem für zweieinhalb Jahrhunderte als Teil des Amtes Bederkesa unter bremische Pfandherrschaft gelangten Lehe saßen von da an die Hansen, um ähnliche Versuche von vornherein zu vereiteln. Erst im 30jährigen Kriege suchte sich der letzte Bremer Erzbischof dort erneut festzusetzen, und 1653 legten seine schwedischen Rechtsnachfolger im letzten Mündungsbogen der Geeste eine Schanze an. Sie war längst vergangen, als daneben seit 1672 eine nach Karl XI. von Schweden benannte großzügige Plananlage entstand. Diese regelrechte Festungsstadt lag bereits auf dem Boden der späteren Bremerhavener Stadtmitte. Der Ausbau war noch im Gange, als mit Fehrbellin 1675 das Blatt sich gegen die Schweden wendete; Anfang 1676 kapitulierte die schwedische Besatzung von „Carlstadt" vor den sie belagernden Reichstruppen, Versuche zur Wiederbelebung scheiterten, und 1705 verkaufte man das Stadtgelände (Abb. 83). Bremen mußte dennoch die 1715 endgültig an Hannover gelangte Geestemündung bei der anhaltenden Verschlechterung des Weserfahrwassers weiter im Auge behalten, zumal die oldenburgischen Kleinhäfen Elsfleth und Brake links der Unterweser mehr und mehr aufkamen. Seit 1795 nachweisbare Überlegungen, durch Landerwerb und Hafenbau nun selbst bei Lehe das Heft wieder in die Hand zu bekommen, gewannen in dem 1800 zum Ratsherren aufgestiegenen Johann Smidt einen immer entschiedeneren Fürsprecher. Als 1825 bekannt wurde, daß Oldenburg in der Konsularpraxis Brake anstelle Bremens als Bestimmungshafen treten ließ, gewann Smidt in geheimen Verhandlungen Hannover für die Abtretung des Außendeichlands um die noch vorhandenen Wallreste der Schweden; am 1. Mai 1827 wurden
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83. Carlstadt (Bremerhaven)
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knapp 90 ha Land rechts der Geestemündung bis auf die Militärhoheit an Bremens Vertreter übergeben. Nach Plänen des holländischen Wasserbaumeisters van Ronzelen wurde von 500 - 900 Erdarbeitern der 7,2 ha Fläche deckende „Alte Hafen" ausgehoben und zugleich der neue Seedeich davor angelegt; im September 1830 lief das erste amerikanische Segelschiff in das 8 m tiefe Becken ein. Erst danach wurden Bauplätze für die ebenfalls nach Ronzelens Plan vermessene Stadt ausgeschrieben; das Rektangulärschema war hafenparallel orientiert, vom quadratischen Marktplatz ging nach Südosten diagonal der Zuweg zum Geesteübergang ab, den zunächst noch ein Fährbetrieb vermittelte. Wenige Jahre später war auch die erste Erweiterung nach Norden mit einem Kirchplatz hinzugefügt. Während aber das klassizistische Bremer Amtshaus bereits 1830 als eines der ersten Gebäude errichtet worden war, kam ein eigenes Stadthaus erst durch Schulumbau 1888 hinzu. Die Bürgerbücher wurden zwar 1827 angelegt, aber bis 1919 in Bremen geführt, die Neubürger leisteten den Bremer Bürgereid; ihre Verärgerung darüber, daß der neue Ort „lediglich eine Schiffsstation sein sollte" und Bremen selbst jeden größeren Handelsverkehr dort verhinderte, geht aus Berichten hannöverscher Beamter in den Jahren bis 1850 hervor. Die Einwohnerzahl gelangte vor 1835 an das erste Tausend, überschritt um 1840 die 2.000 und erreichte gegen 1850 die 4.000; obwohl 1837 eine vorläufige Gemeindeordnung eingeführt wurde, entschied noch unverändert der bremische Amtmann alle anhängigen Sachen ohne Beiziehung von Organen der Bürgerschaft. Inzwischen zog aber die Nachricht von der neuen Anlage ihre Kreise: der alte Goethe, von einem aus Bremen gebürtigen Mindener Arzt „sehr angenehm" mit Unterlagen versorgt, studierte schon Anfang 1829 Karten und Pläne, „um ... die neuen Bauten bei Geestendorf und dem Leher Hafen besser einzusehen"; in seinen Gedanken mit den Landgewinnungsplänen des erblindeten Faust beschäftigt, wollte er „Mit jedem Tage ... Nachricht haben, wie sich verlängt der unternommene Graben." Wenig später setzte in Bremerhaven der Auswandererstrom ein, 1832 waren es bereits über 10.000, 1837 gab es einen ersten Höhepunkt von 15.000 und 1845 wurde die Zahl von 30.000 erreicht. Mit dem 1846 in Washington erzielten Verhandlungserfolge, für die unter Bremer Kapitalbeteiligung begründete Ocean Steam Navigation
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Company als europäischen Zielhafen des im folgenden Jahre aufzunehmenden Linienverkehrs Bremerhaven festzulegen, war praktisch über den weiteren Ausbau der Anlagen entschieden, weil die l i m breite Schleuse des Alten Hafens den Raddampfern der Linie keine Einfahrt mehr gestattete. So kam es zum Bau des Neuen Hafens 1847-51 mit breiter Moleneinfahrt und für die Zeit außerordentlichen Schleusenmaßen. Zwar verzögerten die Ereignisse um 1848 sowie mancher Streit mehrfach die Fertigstellung, doch im November 1851 konnte die inzwischen entstandene deutsche Bundesflotte unter Admiral Brommy bereits zur Überwinterung in den noch nicht ganz fertiggestellten Hafen einlaufen. Es war eine logische Folge dieser Entfaltung, daß Bremen sich nun endlich entschloß, mit Einführung einer neuen Gemeindeverfassung am 18.10.1851 Bremerhaven (und gleichzeitig auch Vegesack) zur Stadt zu erklären. Damit kam es nun freilich zur Wahl eines ab 1852 amtierenden Gemeinderats, doch blieb der Amtmann vorläufig weiter Verwaltungsspitze und zugleich Richter. Die 8 Ratsmitglieder und 40 Verordneten nahmen aufsichtsgebundene Befugnisse der Vermögensverwaltung, der Ortspolizei und des Marktverkehrs wahr, sie wurden gleichwohl, so begrenzt ihr Tätigkeitsbereich auch noch war, die Träger eines bürgerlichen Selbstbewußtseins. Am Aufbegehren gegen die Absichten Bremens, zwar einen Hafen, jedoch keine selbständige Stadt entstehen zu lassen, sowie an der seit 1840 erstrebten kirchlichen Gemeindebildung läßt sich das gut verfolgen. Gerade die anschließenden Streitigkeiten, in denen der bremische Amtmann Zielscheibe des Unmuts der stadtkirchlichen Mehrheitsgemeinde mit uniertem Bekenntnis wurde, weil er sich für die lutherische Minderheitsgemeinde einsetzte, spielten dabei eine wichtige Rolle; die 1862 gedruckte anonyme Schrift „Was Bremerhaven not tut. Ein Beitrag zur Kritik der Verfassung Bremerhavens und ein offenes Wort an seine Bürger" gibt Einblick in den konfessionelle und politische Meinungsbildung verquickenden Entstehungsprozeß der Bürgerschaft. Verlegt hatte diese für Verselbständigung der Stadt Bremerhaven vom Amt und Neugliederung der kommunalen Behörden eintretende Abhandlung Leopold von Vangerow, gleichzeitig der in diesen Jahren wortführende Gemeindevorsteher; bezeichnenderweise ist er 1873 auch der eigentliche Urheber für die Begründung der Stadtbibliothek
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gewesen. Nimmt man die großen Schul-Neubauten von 1866/67 sowie die Eröffnung des Volksgarten-Theaters 1868 hinzu, dann tritt die Bedeutung der 60er Jahre für das Entstehen einer eigenständigen städtischen Mentalität in Bremerhaven noch schärfer hervor. Das gilt nicht minder für den gewerkschaftlichen Zusammenschluß des Arbeitnehmerkreis es, und zwar ohne Rücksicht auf die noch zwischen Bremerhaven, Geestemünde und Lehe einschneidenden Grenzen; am großen Werftstreik von 1867 haben wir, auch wenn und gerade weil dieser scheiterte, ein sicheres Zeugnis dafür. Zeitlich parallel ging schließlich der Ausbau wichtiger gemeindeeigener Versorgungsbetriebe, wie der Gasanstalt 1864 - 65, der Kanalisation ab 1869; und auch das Armenhaus der Stadt wurde 1868 errichtet. Ihr Etat hat sich unter diesen Umständen zwischen 1865 und 1870 verfünffacht; damit sind die entscheidenden Jahre für den eigentlichen Durchbruch zur Stadtbildung hinlänglich umrissen. Die großen politischen Ereignisse der Jahre 1866-71 und die darauf notwendig folgende Zeit neuer Orientierung für alle Gliedstaaten des neuen Deutschen Reichs, auch für Bremen, haben die fällige Verfassungsreform in Bremerhaven gleichwohl noch bis 1879 verzögert, wobei auch verfahrenstechnische Rücksichten der gesetzgebenden Körperschaft mitspielten. Am 1.10.1879 erhielt es endlich seine moderne Stadtverfassung; der Amtmann spielte nun keine Rolle mehr, „Stadtdirektor", „Stadtrat" und „Stadtverordnete" gewannen klare Kompetenzen und Eigenverantwortung. Die Einführung des Titels „Oberbürgermeister" (1913) und die späteren Redaktionen der städtischen Verfassung brachten keine grundsätzlichen Wandlungen mehr. Für die Entfaltung eigener Bewußtheit spielte nicht zuletzt aber das zwischen Rivalitäten und Mißvergnügen über die von den Zwischengrenzen verursachten Abschnürungen pendelnde Meinungsbild in Bremerhaven selbst und in den beiden älteren Nachbargemeinden des Geestemündungsraumes eine wichtige Rolle. Sie waren direkt wie indirekt durch die Vorgänge des Hafenausbaus und der Städtebildung in Bremerhaven betroffen und alsbald zugleich auch mit gefördert. Deshalb ist ihre Entwicklung ergänzend zu beachten. Für den Flecken Lehe hatte bereits Anfang 1780 Karl August von Hardenberg, damals noch nicht preußischer Minister, sondern weifischer Kammerrat, eine Denkschrift zur Anlage eines Lehe benachbarten Handelsortes verfaßt.
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Statt dessen war es dann zur Abtretung des Karlsburg-Geländes an Bremen gekommen, doch ein schon 1819 vorhandener Löschplatz links der Geeste mit anschließendem Kleinwerftgebiet zog auf der Geestendorfer Seite seinen Vorteil vom Bremer Hafenbau. Als um 1835 zu erkennen war, daß dieser keine Fehlplanung darstellte, kam man auch in Hannover auf die älteren Pläne zurück. In erneuerter Form 1845 genehmigt, führten sie zum Entstehen der 1847 so benannten Ortschaft Geestemünde und zu einem dort 1857 begonnenen, im Sommer 1863 fertiggestellten „Handelshafen"-Bau mit großzügigen Abmessungen, die natürlich die Bremerhavener in den Schatten stellen sollten. Der Wettstreit von Ortsteilen oder benachbarten Bürgergemeinden, dem wir so oft im älteren Städtewesen als ebenso fruchtbarem wie schmerzhaften Antrieb einer Entfaltung begegnen, wurde so zunächst zwischen den beiden neuen Hafenorten entfacht, im selben Zeitabschnitt, der ihr gemeinsames Schicksal durch die anteilig finanzierten Bauten der Drehbrücke als Verbindung über die Geeste bis 1857 sowie des Bahnanschlusses mit Eröffnung des Geestemünder Bahnhofs Anfang 1852 und Weiterführung der Zweigbahn von dort zum Kai von Bremerhaven ganz nachdrücklich unterstrich. In diesen Jahren trat ferner anstelle der amerikanischen die Linienfahrt des 1857 begründeten „Norddeutschen Lloyd", und 1861 kam auch die längst überfällige Gebietserweiterung durch vertragliche Einigung mit Hannover zustande. Damit konnte der 1858 begonnene „Neue Hafen" auf mehr als die doppelte Länge ausgebaut werden. Zugleich wurden aber die Wachstumsgrenzen für die Stadt selbst nur noch schärfer unterstrichen: eingezwängt in den Mündungsbogen der Geeste, jenseits dessen bereits ein Wettbewerber aufwuchs, war sie auch nordwärts durch die große Leher Flur hinter dem alten Seedeich abgeriegelt, zumal nun auch dieser Flecken zu wachsen und sich gegen weiteren Gebietsverlust zu sträuben begann. Hatte zunächst Bremerhaven bis 1840 der Einwohnerzahl nach Lehe überholt, Geestendorf weit hinter sich gelassen, so schlug nun der Pegel um: bis 1900 war Lehe mit fast 25.000 zur volkreichsten, das 1889 vereinigte Geestemünde mit gut 20.000 zur zweitstärksten Gemeinde aufgestiegen, während Bremerhaven mit 19.500 nun wieder am Ende lag. Dementsprechend kam es auch bei den mit Preußen, dem Erben Hannovers, 1869, 1892 und 1905
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schrittweise ausgehandelten Gebietserweiterungen zwar zu einem beträchtlichen Wachstum des Hafengeländes — der übrigens die Ende 1869 erfolgte Inbetriebnahme des Geestemünder Fischereihafens wieder bezeichnend parallel ging —, doch rückte eben in diesem Zusammenhang der Schwerpunkt von Bremerhavens Schiffsverkehr mehr und mehr von der Stadtmitte fort und zugleich immer näher an den Ortskern von Lehe heran. Die Großanlagen der Kaiserschleuse 189297, der Columbuskaje und Nordschleuse 1924 - 31, nicht zuletzt des Flugfeldes ab 1925, haben diesen allgemeinen Zug der Entwicklung weiter hervorgehoben. Allerdings dehnte sich auch die städtische Bausubstanz Bremerhavens von den Anfängen der Zeit bis 1835 in den nachfolgenden Jahrzehnten beträchtlich nach Norden aus; über das Kirchenviertel mit der in zwei Anläufen 1846-55 entstandenen Stadtkirche wuchs sie mit dem Lloydstraßen-Viertel östlich des Neuen Hafens bis 1882 auf mehr als die doppelte Fläche (Abb. 84). Damit war jedoch das bereits von gewerblichen und Versorgungsanlagen besetzte sowie durch die Leher Grenze und den älteren Bahndammbogen bemessene Gelände erreicht; die endlich 1905 noch östlich des Kaiserhafens gewonnene Wohnbaufläche stand nicht mehr in Zusammenhang mit dem Stadtkern und wurde vorwiegend als Villenviertel zwischen beiden Weltkriegen überbaut. Das weitere Wachstum aber spielte sich in den benachbarten Gemeinden ab, die nun ebenfalls 1912 (Geestemünde) und 1920 (Lehe) zu Stadtrechten gelangten; im Ortskern Bremerhaven konnte die Einwohnerzahl nur noch durch Stockwerkaufbauten zunehmen, bis sie 1939 mit knapp 27.000 eine Umkehrhöhe erreichte. Die seit 1924 zu „Wesermünde" vereinten Nachbarstädte ließen 1927 eine das Rivalitätsdenken bildhaft belegende Karte drucken, auf der die Einzwängung von Bremerhaven drastisch hervortritt (Abb. 85). Mit der 1939 verfügten Eingliederung schien Bremerhaven dann tatsächlich in der nun „Wesermünde" benannten Gesamtstadt aufzugehen; das an sich notwendige und sinnvolle Zusammenwachsen der drei Nachbarn hätte damit über den Schrittmacher hinweggeführt, doch 1946/47 erstand er, nach fast gänzlicher Kriegszerstörung, in doppeltem Sinne als Phönix aus der Asche. Unter geschickter Ausnutzung der besonderen amerikanischen Interessen sowie der allgemeinen
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WESERMÜNDE Langea UWtvfdtrDU/ritrJ) Vi·/ /fr/u r/tob'ih nf
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MMMS rf undmehr Wohnungen
Das Verhältnis von Wohnungen zu Grundstücken in Großstädten 1905.
Gelände derart verteuert, daß die Bauvorschriften bis zur äußersten Grenze voll ausgenutzt werden mußten, um Rentabilität zu erzielen. In Niedersachsen, Westfalen und dem Rheinland wurde dagegen die Entwicklung der Großstädte und die Auswahl der Mietshaustypen viel weniger von zwischenhandeltreibenden Bodengesellschaften bestimmt. Bei geschlossenem Hofbesitz konnte die Geländeerschließung vom Eigentümer selbst durchgeführt werden; der Boden blieb bis zur Bebauung in landwirtschaftlicher Nutzung. Im Ruhrgebiet kam, wie in den Montanrevieren Oberschlesiens und an
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der Saar, der große Anteil an Werkswohnungen hinzu; häufig wurde eine vom Werk geförderte Wohnungsgenossenschaft oder eine städtische Baugesellschaft mit der Errichtung von Arbeiterwohnkolonien beauftragt. Auch in Ludwigshafen und Nürnberg sowie im mitteldeutschen Industriegebiet, in dem die großstädtische Bebauung freilich in der Regel dichter war als in den Ruhrgebietsstädten, errichteten die Betriebe umfangreiche Werkssiedlungen. Die Wohndichte lag in diesen Gebieten bei etwa 180 bis 220 Einwohner/ha. Insgesamt gesehen ist das Ergebnis des großstädtischen Wohnungsbaus bis zum 1. Weltkrieg im Umfang imponierend, in der städtebaulichen Qualität bedrückend. In weitem Umfang ist die Lebensform der Großstadt diskreditiert worden, weil die großstädtischen Wohngebiete menschenunwürdig und familienfeindlich waren. So kam es um die Jahrhundertwende zum Pendelausschlag nach der anderen Seite: In einer Gegenbewegung gegen die neue Welt großstädtischer Mietskasernen und enger, unhygienischer Massenwohnquartiere flüchtete man in die Idylle kleinstädtisch-romantischer Wohnformen, wobei die von englischen Beispielen beeinflußte Gartenstadtbewegung neue Siedlungsmodelle bereitstellte. Doch in den Innenstädten waren es vor allem merkantile Reize, die in immer größerer Ballung das Gesicht und die Struktur altstädtischer Quartiere prägten: Warenhauspaläste und Vergnügungsbetriebe, Spezialgeschäfte und Handelshäuser, Banken und Versicherungen, Konzernverwaltungen und Bürogebäude begannen seit der Gründerzeit um 1871, den Charakter und die Silhouette der Stadtkerne eindeutig zu bestimmen. Die bürgerlichen Gemeinschaftsbauten wurden übertrumpft und traten in den Hintergrund. Wohl suchte das liberale Großbürgertum der bedeutenden Städte noch einmal in gewaltigen Rathausbauten wie denen von Hamburg, Leipzig und München Selbstdarstellung und äußere Repräsentation zu gewinnen. Doch auf die Dauer errangen die wirtschaftlichen Einzel- und Gruppeninteressen die Übermacht. Die Auflösung der überkommenen Ordnung alter Stadtanlagen war nicht aufzuhalten. Die Bau- und Bodenspekulation regierte, bestimmte den Überbauungsgrad und regulierte die Gebäudehöhen. Dabei schaltete die Steigerung der Bodenpreise im Stadtkern die Stadtgemeinschaft als Bauherrn weitgehend aus. Die Auflösung der im mittelalterlichen Erbpachtsystem festgelegten Trennung von Boden- und Bauwerks-
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Die Großstadt des 19. Jahrhunderts
2. Grundrifs α Höfe,
f
b
der Hälfte
b Wohnstuben, Vorplätze,
der Uandwerlierhaserne
e Schlafstuben, g Treppen,
Wohnstube, c Schlafstube,
h
Fig. 1.
d Küchen, e Gänge,
α Hof,
b Wohnstube, c Schlafstube,
d Küche.
Loggien.
d Küche.
1. 2. Handwerkerkaserne der „Victoria-Dwellings-Association, Limited" beim Battersea-Park in London. 3. 4. Doppelhaus der „Berliner Baugenossenschaft" zu Adlershof. &. 6. Reihenhaus der Kolonie lr8chederhof" von Friedrich Krupp in Essen. 7. «. Reihenhaus der Kolonie „Drei Linden" von Friedrich Krupp in Essen. 9. Arbeiterkost- und Logierhaue des „Bochumer Vereine für Bergbau und Gufsetahlfabrikation.
102.
Typen großstädtischer Arbeiterwohnbauten
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eigentum zugunsten des privaten Profitstrebens und der kommerziellen Repräsentation mußte zur Erschwerung jedes kommunalen Gestaltungswillens führen und zur Auflösung echten stadtbürgerlichen Lebensbewußtseins beitragen. Die große Freiheit unserer Stadtzentren und die Dominanz des privaten Verfügungsrechts am städtischen Grund und Boden wurde zum Hindernis für eine funktionsfähige Gliederung gesamtstädtischer Aufgaben. Alexander Mitscherlich hat mit Recht betont, daß in unseren Stadtkernen eine Umwelt entstand, die ein soziales Engagement und ein Gefühl für kommunale Verantwortung eher hinderte als förderte. Die Hypothek des 19. Jahrhunderts ist somit nicht die materielle Struktur in unseren Städten allein, sondern die Diskreditierung der Stadtkerne als Ort kommunalpolitischer Bewußtseinsbildung. So führt auch dieser Gedanke voraus in ein neues Jahrhundert, in dem die Krise des stadtbürgerlichen Bewußtseins und der Gemeinde-Identifikation in vielen Ländern tatsächlich zu einer Krise der Großstadt selbst geführt hat. Wie steht es demnach — und diese Frage mag am Ende stehen — um die Einheit des Jahrhunderts in der Stadtentwicklung? Kann man wirklich von „der Stadt" oder „der Großstadt des 19. Jahrhunderts" sprechen, oder wären historisch andere Zäsuren sachgerechter? Den Epochenbeginn um 1800 hat H. Stoob noch jüngst unter Hinweis auf gewichtige Argumente der rechts- und verfassungsgeschichtlichen Diskussion als gerechtfertigt und für den weiteren Gang der Forschung als notwendig bezeichnet. Für den Verstädterungsprozeß in Mitteleuropa — und nur für diesen Raum kann es auch hier eine einheitliche Antwort geben — wäre dem zuzustimmen, wenn „1800", der Jahrhundertbeginn, als Scheitel einer Zeitschwelle aufgefaßt wird, die etwa von 1780 bis 1820 anzusetzen wäre. Die tiefgreifende demographische Wende für Binnenwanderung und Städtewachstum liegt freilich um 1850. So könnte die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts stadtgeschichtlich komplex als Anlauf- und Umstellungsphase für Urbanisierung, Entwicklung neuer industrieller Typen und für neue Wege der Stadtgestaltung bezeichnet werden; alte Strukturen lösen sich in dieser Zeit auf (Stadtbefestigung), andere bleiben noch tonangebend; doch das Neue kündigt sich bereits an. Nach 1850 steigern sich schnell alle Prozesse industrieller Verstäd-
Die Großstadt des 19. Jahrhunderts
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terung: Binnenwanderung und Städtewachstum, Verdichtung des Städtenetzes und Umwertung des funktionalen Städtesystems; der Eisenbahnbau begünstigt die Großzentren als Verkehrsknoten und fördert Städteketten; agglomerierende Tendenzen in den Revieren der Kohle und Schwerindustrie nehmen zu. Im Städtebau verbinden sich bis dahin unbekannte Massenleistungen bei Stadterweiterungen mit bedeutenden Innovationen der Stadttechnik. Der nächste Einschnitt des Jahrhunderts um 1870/71 bezeichnet neue Quantitäten und Qualitäten der Großstadtentwicklung. Das Spitzenwachstum der großen Städte löst sich vom Stufenbau der Gemeindegrößen-Pyramide. Vor allem aber nimmt das Ausmaß der inneren Umformung und Neugestaltung der Städte zu, mit umfassenden neuen Bauaufgaben, Citybildung, Vorortentwicklung und modernen Verkehrsformen. Diese Phase, um 1890 noch einmal gesteigert, setzt sich bis zum 1. Weltkrieg ohne bedeutenden Einschnitt fort. Nur unter qualitativen Gesichtspunkten kann die Jahrhundertwende als gewisse Zäsur gelten. Denn um 1900 werden zum erstenmal Gegenkräfte und Gegenbewegungen im zentraleuropäischen Städtewesen gegen die Monotonie unhygienischer Massenwohnquartiere und die merkantile Überlastung der Stadtkerne deutlich spürbar: Jugendstil und Gartenstadtbewegung, Denkmalschutz und Stadtbildpflege sowie Anfänge moderner komplexer Stadtplanung. Auch diese zukunftsweisenden Ideen, Initiativen und Reformen sind im 19. Jahrhundert angelegt und vorbereitet worden.
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Peter Schöller
Belege und Beweise Über Verstädterung und Großstadtwachstum orientieren mit globalem Ansatz: K. DAVIS, The Urbanization of the Human Population, in: Scientific American 213 (1965), S. 41-53, sowie United Nations: Report on the World Situation, New York 1957, und United Nations: Growth of the Worlds Urban and Rural Population, 1920-2000 ( = Populations S t u d i e s 4 4 ) , N e w Y o r k 1 9 6 9 . — W . KÖLLMANN in: E . KIRSTEN, E . W . BUCHHOLZ, W .
KÖLLMANN, Raum und Bevölkerung in der Weltgeschichte, Bd. II/III, Würzburg 1955. — Für Europa und Deutschland: H. HAUFE, Die Bevölkerung Europas. Stadt und Land im 19. und 20. Jahrhundert, Berlin 1936, und R. MACKENSEN, Städte in der Statistik, in: W. PEHNT (Hg.), Die Stadt in der Bundesrepublik Deutschland, Stuttgart 1974, insbes. S. 139-142.
Als Zeitzeuge der Großstadtentwicklung im 19. Jahrhundert: K. BÜCHER, Die Entstehung der Volkswirtschaft, Tübingen 1893, Zitate S. 385ff. — Zu Grundsatzfragen der Industriestädte im 19. Jahrhundert: G. IPSEN, Verstädterung, in: Medizin und Städtebau, hg. v. P. Vogler, E. Kühn, München u.a. 1957, Bd. 1, S. 302; P. SCHÖLLER, Grundsätze der Städtebildung in Industriegebieten, in: H. JÄGER (Hg.), Probleme des Städtewesens im industriellen Zeitalter, Köln, Wien 1978, S. 99-107; im gleichen Band: H. STOOB, Zur Städtebildung in Mitteleuropa im industriellen Zeitalter, S. 316-341; M. HOMMEL, Entwicklung und Integration junger Industriestädte im nördlichen Ruhrgebiet, S. 108-133. — P. SCHÖLLER, Entwicklungsunterschiede zwischen Saarland und Ruhrgebiet, in: Stadt und Stadtraum ( = Veröff. d. Akad. f. Raumforsch, u. Landespl., Forsch, u. Sitzungsber. 97), Hannover 1974, S. 125-126. Angaben zum Spitzenwachstum der Großstädte bei W. KÖLLMANN, Raum und Bevölkerung in der Weltgeschichte, Bd. II/III, Würzburg 1955, S. 225. — Zum Wohnungswesen englischer Industriestädte: F. ENGELS, Die Lage der arbeitenden Klasse in England, Leipzig 1845. — Zur wissenschaftlichen Erforschung der Stadtgestalt: M.R.G. CONZEN, Zur Morphologie der englischen Stadt im Industriezeitalter, in: H. JÄGER (Hg.), Städtewesen im industriellen Zeitalter, 1978, S. 1-48. — Die Auffassung W. SOMBARTS zitiert nach seinem grundlegenden Werk: Der moderne Kapitalismus, 2. Bd., Leipzig 1902, S. 236 f. — Zu Arbeits- und Wohnverhältnissen des 19. Jhs.: K. DITT, Arbeitsverhältnisse und Betriebsverfassung in der deutschen Textilindustrie des 19. Jahrhunderts unter besonderer Berücksichtigung der Bielefelder Leinenindustrie, in: Archiv f. S o z i a l g e s c h . 2 1 ( 1 9 8 1 ) , S. 5 5 - 7 5 , u n d L . NIETHAMMER, F . BRÜGGEMEIER, W i e w o h n t e n d i e
Arbeiter im Kaiserreich?, in: Archiv f. Sozialgesch. 16 (1976), S. 61-134. — Die Quantifizierung H. STOOBS in: H. JÄGER (Hg.), Städtewesen im industriellen Zeitalter, 1978, S. 233. — Zur Entwicklung des Städtesystems in Deutschland: H.H. BLOTEVOGEL, Zentrale Orte und Raumbeziehungen in Westfalen vor der Industrialisierung^ = Bochumer Geogr. Arb. 18), Münster 1975, und DERS., Untersuchungen zur Entwicklung des deutschen Städtesystems im Industriezeitalter. Polarisierung und Dezentralisierung in der Entwicklung der höherrangigen Zentren und ausgewählter kultureller Stadtfunktionen. Habil.-Schrift (Ms.), Bochum 1980. — Zur inneren Struktur, Baugestaltung und Umformung der Städte im 19. Jahrhundert: P. SCHÖLLER, Die deutschen Städte, Wiesbaden 1967; E. PFEIL, Großstadtforschung, 2. Aufl., Hannover 1972; Η. BOBEK, E. LICHTENBERGER, Wien, Graz und Köln 1966; E. LICHTENBERGER, Wirtschaftsfunktion
Die Großstadt des 19. Jahrhunderts
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und Sozialstruktur der Wiener Ringstraße ( = Die Wiener Ringstraße 6), Köln, Wien 1970; DIES., Die Wiener Altstadt, Wien 1977; R. HEILIGENTHAL, Deutscher Städtebau, Heidelberg 1921; O. BLUM, G . SCHIMPFF, W. SCHMIDT, Städtebau, Berlin 1921; E. KABEL,
Baufreiheit und Raumordnung, Ravensburg 1949; W. HEGEMANN, Das steinerne Berlin (1930), Berlin 1963; R. HARTOG, Stadterweiterungen im 19. Jahrhundert, Stuttgart 1962; O. SCHILLING, Innere Stadterweiterung, Berlin 1921; H. KNEILE, Stadterweiterungen und Stadtplanung im 19. Jahrhundert, Freiburg 1978; S. SCHUMACHER, Strömungen in deutscher Baukunst seit 1800, Köln 1955; K. CZOK, Die Stadt. Ihre Stellung in der deutschen Geschichte, Leipzig u.a. 1969. — Das Zitat von F. Engels nach: G. SCHMITZ, Wohnung, Siedlung, Lebensweise. Aus Werken und Briefen von Karl Marx und Friedrich Engels, Berlin (Ost) 1980, S. 212. Verweise zu den Schlußgedanken: A. MLTSCHERLICH, Die Unwirtlichkeit unserer Städte, Frankfurt/Main 1965. — Zum Periodenbeginn um 1800 mit Literatur: H. STOOB in: H. JÄGER (Hg.), Städtewesen im industriellen Zeitalter, 1978, S. 316-318. — Grundlegende und weiterführende Aspekte der Stadtgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts auch im Sammelband: J. REULECKE (Hg.), Die deutsche Stadt im Industriezeitalter, Wuppertal 1978 (mit Beiträgen von W. Köllmann, W.Hofmann, P. Marschalck, H. Matzerath, D. Rebentisch, J. Reulecke).
Die moderne Stadt als zentraler Ort HERMANN HAMBLOCH
Die Stadt der Gegenwart als Verkörperung der Industriekultur In der vom Menschen gestalteten Kulturlandschaft ist die Stadt unbestritten das facettenreichste und komplizierteste Strukturelement. Daher ist es auch nicht verwunderlich, daß immer wieder Skepsis sich einstellt, ob der Inhalt nicht den Begriff sprengt, ob man überhaupt von „der Stadt" schlechthin sprechen kann. Worin liegt denn das durch Abstraktion zu gewinnende Gemeinsame von New York und Nowosibirsk, von Frankfurt und Tokio, von Florenz und Reval oder gar von Bombay und Ibadan? Zeigen nicht schon so wenige Beispiele und die darin liegende Aufforderung, diese Liste nach Belieben um mehr oder weniger gegensätzliche Paare zu verlängern, die ganze Problematik des Stadtbegriffs? Nun, auch wenn man von den Unterschieden absieht, die es zu beachten gilt bei der Größenordnung, der Lage im Raum und der Tiefe der historischen Wurzeln, wenn man insbesondere auch absieht von den Differenzierungen, die eine Folge der Zugehörigkeit der Städte zu verschiedenen Kulturerdteilen sind, - es bleibt doch immer noch als wesentlicher und gemeinsamer Inhalt des geographischen Stadtbegriffs: die hohe Verdichtung der Bevölkerung, deren ausgeprägte soziale Differenzierung, die Mannigfaltigkeit der Bausubstanz, die Übernahme bestimmter Funktionen in spezifischen Vierteln, die Möglichkeit zur Entfaltung eines Urbanen Lebensstiles sowie der Charakter der Stadt als Knotenpunkt menschlicher Aktivitäten, gleichsam als Pol von Kraftlinien, die im Hinterland verlaufen. Allein wenn man sich auf diese Kategorien der Stadtforschung zurückzieht und die ihnen innewohnenden Regelhaftigkeiten in den Vordergrund rückt, hingegen alle noch so reizvollen individuellen Züge beiseite schiebt, wenn man ferner nur diejenigen
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Hermann Hambloch
städtischen Siedlungen als Beispiele heranzieht, bei denen alle Wesensmerkmale voll ausgebildet sind, - nur dann und unter diesen Voraussetzungen scheint es möglich, Aussagen zu dem vielschichtigen Phänomen „Stadt" zu treffen. Einschränkungen sind freilich immer noch erforderlich. Die erste, Konzentration auf die Stadt der Gegenwart, ergibt sich aus der Stellung dieses Beitrages als Schlußglied im Rahmen einer Ringvorlesung. Die zweite liegt darin, daß nur eine Qualität der Stadt, nämlich ihre Zentralität, in das Blickfeld gerückt wird. Zur zeitlichen und thematischen Eingrenzung kommt drittens noch eine selbst gewählte räumliche: das Thema soll an Beispielen aus denjenigen Regionen entwickelt werden, die die höchste Stufe der sozialökonomischen Entfaltung im Sinne Bobeks (1959) erreicht haben und die ich die anthroposphärischen Formationen der urbanisierten Industriegesellschaft nenne (Hambloch, 1972). Damit ist die Beziehung zwischen Stadt und Gesellschaftsform angesprochen. Städte können sich nur entwickeln, wenn die sozialökonomische Entfaltung zur Arbeitsteilung, zur sozialen Differenzierung, zur wechselseitigen Abhängigkeit der in der gewerblichen Wirtschaft einerseits und der in der agraren Urproduktion andererseits Tätigen sowie zur Verkehrserschließung des Hinterlandes geführt hat. Bobek (1927) bezeichnete den Verkehr und die Bündelung seiner Linien an bestimmten Punkten im Räum geradezu als die Voraussetzung jeder Stadtbildung. Während Tausender von Generationen vollzog sich die vorgeschichtliche Entwicklung der Menschheit in stadtlosen Kulturen, bis im mediterran-orientalischen Raum die frühen stadtartigen Siedlungen entstanden, von denen die ersten Beiträge dieser Ringvorlesung handelten. Die Stadt ist Verkörperung von Kultur und Lebensform. Mit den Namen, die in den vorangehenden Vorträgen genannt worden sind, von Jericho bis Berlin, werden ganze Epochen assoziiert. Entwicklung und Niedergang von Städten hängen stets mit Wachstum, Niederbruch und Zerfall von Kulturen im Sinne Toynbees (1949) zusammen, also mit dem Schicksal der „Sozialkörper". Man wird geneigt sein, die Frage Salins, „inwieweit hängt alle Stadtgeschichte in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zusammen oder inwieweit hängt sie sogar ab von der Gesamtgeschichte der Gesellschaft?" 1 dahingehend zu beantworten, daß das in einem sehr hohen Grade der Fall ist. Unter der städtischen Lebensform der Industriegesellschaft haben wir nun zweifellos etwas ganz anderes zu verstehen als unter der Lebensform der abendländischen Stadtgesellschaft vor dem 18. Jahrhundert, aus der sich -
Die moderne Stadt als zentraler Ort
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beginnend in England, dann auf den Kontinent übergreifend - die Stadt der Industriekultur entwickelte, zunächst mit all den üblen Begleiterscheinungen des Frühkapitalismus, wie sie Friedrich Engels in seinem Buch über die Lage der arbeitenden Klassen in England gegeißelt hat. Ebenso unterscheiden sich städtische Lebensformen der Gegenwart in einem Industrieland grundsätzlich sowohl von eben diesen Lebensformen in den Städten heutiger Agrarländer als auch von dem Urbanen Geist und Stil in der frühen orientalischen, indischen, chinesischen und alt-amerikanischen Stadtgesellschaft. Der Begriff „städtische Lebensform" hat bei uns eine bezeichnende Wandlung durchgemacht. Das liegt offensichtlich daran, daß zwar der Urbanisierungsgrad, der Anteil der Menschen also, die in der Stadt leben, ständig wächst, indessen die Tatsache, Stadtbewohner zu sein, für eben diese Stadtbewohner selbst zunehmend an Gewicht verliert. Lutz (1967) hat städtisches Leben einmal als die Summierung von offenen Austauschsystemen bezeichnet, die in ihrer Marktfunktion vom Städter wie vom Umlandbewohner in Anspruch genommen werden, wenn auch mit wechselnder Intensität. Räumliche und soziale Mobilität der Menschen in der Industriegesellschaft, eine Mobilität, die weitgehend zur Uberwindung jener Mißstände des Frühkapitalismus geführt hat, konnte auch bewirken, daß das Verhältnis der Bewohner zu ihrer Stadt etwas Unverbindliches bekam. So erscheint der Begriff der städtischen Lebensform als eine problematische „Ableitung aus den Sozialformen der vorindustriellen Stadt" 2 , die nicht nur mit ihrem Mauerkranz, sondern auch als gesellschaftliches Phänomen scharf vom flachen Land abgesetzt war. Mit der Unverbindlichkeit der städtischen Austauschsysteme ist konkret gemeint, daß die Bindung zwischen Wohnung und Arbeitsplatz locker geworden ist, und der Bewohner einer Vorstadt, wenn er nur als Pendler eine etwas längere Fahrtzeit morgens und nachmittags in Kauf nimmt, die Wahl zwischen mehreren Arbeitsplätzen hat. Es ist damit gemeint, daß dem Einkaufenden freisteht, ob er den Supermarkt am Stadtrand ansteuern, sich im Geschäftszentrum seiner Stadt versorgen oder aus irgendwelchen Gründen in die Nachbarstadt fahren will. Unverbindlichkeit heißt, daß um eines besseren Bildungsangebotes einer Stadt oder um des größeren Freizeitwertes ihrer Umgebung willen kurzentschlossen der Wohnort gewechselt wird. Diese Überlegungen führen nun schon in einem gewissen Sinne hin zu den im Thema angesprochenen zentralörtlichen Funktionen. Bevor wir dem Gedanken aber nachgehen, ist noch die Berechtigung des Wortes Indu-
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Hermann
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striekultur zu prüfen, das Gehlen gern zur Beschreibung dieser neuen Epoche benutzte. 3 Es zielt auf den Sachverhalt, daß nach einer ersten Phase der industriellen Entfaltung, in der der Mensch als Objekt von den Umwälzungen der materiellen Lebensbedingungen ergriffen wurde, er nunmehr dazu übergeht, die „neue Technik und ihre industrielle Nutzung unter das Gesetz seiner menschlichen Lebensentfaltung zu bringen"/ Die unüberhörbaren Warnungen gerade in unsern Tagen, das materielle Wachstum zu beschränken, die Grenzen dieses Wachstums rechtzeitig zu erkennen und zu respektieren, um die Qualität des Lebens zu sichern, in dem die Freizeit eine immer größere Rolle spielt, sind sicherste Anzeichen dafür, daß die den Menschen beherrschende industrielle Technik in eine vom Menschen beherrschte Industriekultur umgewandelt wird. Kerngebiete der Stadt der Industriekultur sind der europäische, der nordamerikanische, der russisch-sibirische und der japanische Raum. Nur für diese Regionen mit ihrem hohen Grad der Verstädterung, mit ihrer gegenüber der vorindustriellen Gesellschaft (sowie gegenüber allen gleichzeitig bestehenden Gesellschaften niedrigerer sozialökonomischer Entfaltungsstufe) gründlich veränderten Sozialstruktur und mit ihrem engmaschigen Netz der Verkehrslinien haben die folgenden Aussagen über Zentralität prinzipielle Gültigkeit, wenngleich wir unsere konkreten Beispiele im wesentlichen nur aus dem europäischen Raum wählen werden. Zwei möglichen MißVerständnissen muß vorab noch begegnet werden. Erstens: da es sich bei den vier Regionen um Kerngebiete der Verstädterung und zugleich der Industrialisierung handelt, ist darauf hinzuweisen, daß nicht behauptet wird, die Industrie sei ein typisch städtischer Arbeitszweig. Industrie schafft Agglomerationen, nicht aber städtisches Leben. Indessen entsteht mit der Industrialisierung die Notwendigkeit, Konzentrationen von Verwaltung, Handel, Verkehr und Dienstleistungen aller Art, eben jene Austauschsysteme, an bestimmten Standorten zu schaffen, und das sind dann oft doch wieder jene (rohstofforientierten) Agglomerationen. Gelsenkirchen ist m. E. ein gutes Beispiel dafür. Zweitens: natürlich existieren auch außerhalb der Regionen der urbanisierten Industriegesellschaft Städte, auf die alle Merkmale der eingangs genannten Definition zutreffen. Es ist bekannt, daß die Groß- und vor allem die Hauptstädte mancher Entwicklungsländer in der baulichen Substanz ihrer Geschäfts- und Regierungsviertel oft in verblüffender Weise den gleichen Phänotyp aufweisen wie Städte der Industriekultur. Fast immer sind sie auch die Innovationszentren
Die moderne Stadt als zentraler Ort
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der beginnenden Industrialisierung. Aber ihnen steht (noch!) kein verstädtertes Umland gegenüber. Sie sind nicht bloß ein - wenn auch durch seine Bedeutung hervorgehobenes - Glied in einer über das Land verteilten Netzstruktur von Städten, sondern stellen Singularitäten dar. Damit aber fehlt - wie sich zeigen wird - eine der wesentlichsten Voraussetzungen für die Zentralität als raumordnerisches Prinzip. Einige Zahlen sollen das Wachstum der Städte und der Stadtbevölkerung in den Regionen belegen, die wir als Kerngebiete der Industriekultur benannt haben. Während sich von 1850 bis 1950 die Erdbevölkerung verdoppelt hatte, war sie in Nordamerika, Europa, Rußland und Japan fast auf das Dreifache gestiegen. Um 1840 gab es nur vier Millionenstädte: London, Paris, New York und Tokio. Berlin, - um den Anschluß an die Darlegungen von Herrn Stoob zu gewinnen (vgl. S. 221), - hatte gerade eine halbe Million Einwohner erreicht, als um 1840 mit Borsig die Entwicklung zur „Industriestadt" begann. Heute zählt man ca. 140 Millionenstädte, in denen allein ein Zehntel der Menschheit lebt, und mehr als die Hälfte davon liegt in den vier Regionen. Im Raum jenseits des Ural existierte vor 50 Jahren nur eine Großstadt, nämlich Omsk, heute sind es mehr als hundert, davon neun mit je einer Viertelmillion Einwohnern und allein drei Millionenstädte. Japan ist ein Städteland geworden. Rechnete man 1920 dort nur 18 % der Menschen zur Stadtbevölkerung, so sind es heute über 70 % . In den USA sind 90 % der Bewohner als städtische Bevölkerung registriert, wenngleich bei dieser rein statistischen Einordnung Abstriche zu machen sind. Aber gerade in den USA ist zu beobachten, wie die Vorstädte, von den Urbanen Kernen ausgehend, wachsen und wachsen, bis sie sich mit denen der Nachbarstadt berühren und aus „Suburbia" ein „Interurbia" geworden ist. In dem Städteband von Boston bis Washington sollen im Jahre 2000 etwa 80 Millionen Menschen wohnen, in dem Band an der pazifischen Peripherie, von San Francisco bis San Diego reichend, werden es dann 20 Millionen sein. Und nehmen wir schließlich die Bundesrepublik Deutschland als einen Staat im abendländischen, industrialisierten Raum, so ist festzustellen, daß hier (1967) 5 6 % der Bevölkerung in den 68 Stadtregionen lebte und zwar 40 % allein in den überlasteten Verdichtungsräumen, die nach bestimmten statistischen Kriterien ausgesondert werden können (vgl. Abb.103; dazu Boustedt/Müller/Schwarz, 1968). Längst haben die Stadtregionen aufgehört, klar gegen ihr Umland abgrenzbare Gebilde zu sein, wie uns das die Ansichten der mittelalterlichen Stadt
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Die moderne Stadt als zentraler
Ort
103. Stadtregionen und Verdichtungsräume in der Bundesrepublik Deutschland.
Hermann
Mittelalterliche Grenzen — — DomimmunitätumHOO —
Bebauung
um 1875
Civitasum1200 Wall seit dem 13 Jhdt.
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Hambloch
1
bis 1903 H ü ! bis 1939 ^
^
bis 1963 bis 1969
104. Das Wachstum der Stadt Münster
1
J
Landwirtsch. Nutzfläche,Kleingärten. einzelne Baulücken (1969) Grünanlagen. Sportplätze, Friedhöfe, Wald(1969)
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Hermann
Hambloch
noch zeigten (vgl. Abb. 42-46). Münster mag als ein Beispiel dafür stehen (Abb.104), obschon ein solches Bild auch wie ein Zwerg hinter dem amerikanischen Städtewachstum zurückbleibt. Abb. 105 zeigt daher einen Vergleich der Dimensionen der Stadt des Abendlandes und der Neuen Welt. Mit dem Bevölkerungswachstum und der Verstädterung im industrialisierten Raum, vor allem aber auch mit dem Ubergang zur Industriekultur im Sinn Arnold Gehlens eng korreliert ist nun ein weiterer Sachverhalt: der ungeheuere Strukturwandel in der Erwerbstätigkeit. Schematisiert ist in Abb.l06dargestellt, wie sich die aktiv im Beruf stehende Bevölkerung auf die drei großen Wirtschaftssektoren verteilt, und zwar am Beispiel der Entwicklung in Belgien, das für die europäischen Industrieländer in bezug auf dieses Sektorenverhältnis eine Mittelstellung einnimmt. (Die USA sind entsprechend dem in Abb. 106 zum Ausdruck kommenden Trend schon weiter fortgeschritten, die Sowjetunion liegt noch zurück, dort verteilen sich die Erwerbstätigen gegenwärtig etwa zu gleichen Teilen auf die drei Sektoren). Der primäre Sektor (Agrarwirtschaft), in dem um 1800 in Belgien noch Dreiviertel der Arbeitenden ihren Platz hatten, ist - von der Zahl her gesehen - fast zu Bedeutungslosigkeit geschrumpft und wird in Zukunft noch weiter abnehmen. Die Phase der ersten industriellen Revolution ist ebenso deutlich zu erkennen wie die zweite Phase der beginnenden Automatisation, in der der Anteil der Industriebeschäftigten (sekundärer Sektor) stagniert. Dafür wächst der Prozentsatz der in den Dienstleistungsberufen Tätigen, hier im tertiären Sektor wird auch weiterhin die größte Zunahme prognostiziert. Auf die in Abb.106 zum Ausdruck kommenden Trends der zukünftigen Entwicklungen gehen die Ideen Fourasties (1954) zurück. Ob alle Voraussagen, die der französische Soziologe und Ökonom an dieses Modell geknüpft hat, in Erfüllung gehen werden, kann hier dahingestellt bleiben. Die unbestreitbare Tatsache jedoch, daß die Industriegesellschaft eigentlich treffender eine Dienstleistungsgesellschaft genannt zu werden verdient, führt uns wieder zum Begriff des zentralen Ortes. Mit der Intensivierung der Daseinsgrundfunktionen (Abb. 107), mit dem Anwachsen der Beschäftigten im tertiären Sektor, mit der Ausübung ihrer Dienstleistungen vornehmlich in den Städten, wird die Stadt der Industriekultur mehr als jede andere vor ihr zur Drehscheibe menschlicher Aktivitäten, wird zum zentralen Ort in dem Sinne, wie er heute in der Raumforschung verwandt wird: das Angebot an Gütern und Diensten des tertiären Sektors kann aus technischen und ökonomischen Gründen nur
105.Vergleich der Stadtgebiete von Los Angeles und München
Hermann Hambloch
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100°/.
90·/.
80%
70·/.
60%
50%
40%
30%
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1950
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2050
106. Die Entwicklung der Wirtschaftssektoren am Beispiel Belgiens
zentral an wenigen Punkten eines Raumes gemacht werden. D o r t steht es dann der im Einzugsbereich dieses Ortes dispers siedelnden Bevölkerung zur Verfügung. N u n liegt es aber auf der Hand, daß die Rentabilität
Die moderne Stadt als zentraler Ort
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107. Die Daseinsgrundfunktionen
größerer oder speziellerer Einrichtungen im Dienstleistungsbetrieb einen weiter reichenden Bedienungskreis erfordert. Die zentralen Orte eines Gebietes werden also nicht nur gestreut, sondern auch in ihrer Bedeutung und in ihrem Einflußbereich gestuft sein. So sind es in erster Linie zwei Fragenkreise, die von der Stadt- und Raumforschung her Beachtung verdienen und auch für das Folgende das Gliederungsprinzip abgeben sollen: 1. die Hierarchie der zentralen Orte, ihre räumliche Verteilung und die Größen und Grenzen der ihnen zugeordneten Bereiche sowie 2. die Bedeutung der zentralen Einrichtungen für die Struktur der Städte und Stadtregionen, wobei noch einmal daran erinnert sei, daß Bobek für die Stadt der Industriekultur Zentralität ,,nur mehr absolut, als Gesamtbedeutung aller an einem Standort versammelten zentralen Einrichtungen verstanden" sehen will.5
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Die Zentralität als räumliches Ordnungsprinzip Zentralität wächst proportional mit der Arbeitsteilung, dem Kommunikations- und dem Versorgungsanspruch der Bevölkerung eines Raumes. Gebunden an die „Austauschsysteme", erfährt sie besondere Bedeutung in der modernen Stadt der Industriekultur. Daß sie vorrangig zum Objekt geographischer Fragestellung seit fast einem halben Jahrhundert wird, liegt aber zugleich auch darin begründet, daß damals die raumfunktionelle Betrachtung aufkam, die zugleich soziale Gruppen als Träger dieser Funktionen ins Blickfeld rückte. Schon Bobek (1927) hatte dem Sinn nach auf die Städte als die Funktionszentren innerhalb der Kulturlandschaft hingewiesen, einen Sachverhalt, für den dann Christaller (1933) den prägnanten Begriff des zentralen Ortes einführte. Was vielleicht anfangs weniger scharf gesehen wurde und erst allmählich in das Bewußtsein drang, war die Tatsache, daß jede Kulturlandschaft, geprägt von einer Gesellschaft auf bestimmter sozialökonomischer Entfaltungsstufe, ihr spezifisch strukturiertes System von zentralen Orten besitzt (Neef, 1950 und 1952). Zentralität als räumliches Ordnungsprinzip kann als Treffpunkt sowohl deduktiver als auch induktiver, empirischer Forschung gelten. Die Literatur dazu ist heute kaum noch überschaubar. Auf eine von Schöller (1972) besorgte Ausgabe wichtiger Arbeiten nebst einer Bibliographie kann hier nur verwiesen werden. Christaller selbst ging, zumindest anfangs, den Weg der Deduktion. Bei einer gleichmäßig über den Raum verteilten Bevölkerung, bei einer allseitig gleich guten Erreichbarkeit städtischer Siedlungen, bei der Konzentration des Angebots von zentralen Gütern und Diensten in diesen Städten und unter der Voraussetzung, daß der Bedarf an Gütern des täglichen Gebrauchs in kürzerer Entfernung befriedigt werden muß als der seltener auftretende Bedarf nach höherwertigen Gütern und Diensten, ergab sich eine Hierarchie der zentralen Orte und eine Differenzierung der Größe der Versorgungsbereiche. Zugleich kann man nachweisen, daß die Sechseckform unter ökonomischen Randbedingungen und wenn eine lückenlose Zuordnung des Raumes gefordert wird, die optimale Form der zentralörtlichen Bereiche ist (Abb.108). Dieses Bild, das geradezu Symbolcharakter erlangt hat, läßt erkennen, wie bei der hier ausgewählten vierstufigen Hierarchie (es sind auch andere Stufenzahlen möglich) der zentrale Ort höchsten Ranges vier Bereiche zugeordnet erhält, weil er die Versor-
Die moderne Stadt als zentraler Ort
1 0 8 . Das vierstufige geometrische Modell der zentralen O r t e
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gung auf vier Stufen zu übernehmen hat, nämlich von den zentralen Gütern und Diensten der Grundstufe über eine Mittelstufe und eine Oberstufe bis zur höchstwertigen Versorgung als Großzentrum. Erstere wird wirksam in dem kleinsten, letztere in dem größten den Ort umgebenden Sechseck. Die zentralen Orte nächstniederen Ranges (davon gibt es sechs in Abb. 108) haben nur noch drei Bereiche, gestuft nach der Bedeutung, zu versorgen. Und so geht es herab bis zu den zahlreichen Zentren der untersten Stufe, die lediglich für den engsten, ihnen direkt verbundenen Raum zuständig sind (Kleinzentren). In Wirklichkeit weicht die Anordnung der zentralen Orte und ihrer Bereiche von diesem deduktiven Idealmodell erheblich ab. Das gilt sofort dann, wenn man zwar alle oben genannten räumlichen Bedingungen als erfüllt annimmt, indessen die Bevölkerung selbst keineswegs homogen ist in ihren materiellen und immateriellen Ansprüchen an den Markt der Dienstleistungen. Diese Voraussetzung ist (und auch dort nur annähernd) in den Industriegesellschaften mit dem höchsten Pro-Kopf-Anteil des Bruttosozialprodukts gegeben, abzulesen etwa daran, daß der Besitz langlebiger, hochwertiger Konsumgüter eine Selbstverständlichkeit bis in die Breite der Grundschicht der Bevölkerung ist. So muß zwangsläufig die zentralörtliche Struktur eines solchen Landes anders geartet sein als dort, wo eine schmale Oberschicht breitesten einkommensschwachen Schichten gegenübersteht. Aber von dieser sozialstrukturellen Voraussetzung abgesehen gibt es tatsächlich auch die homogene Raumstruktur nirgends, ist auch die Bevölkerungsverteilung nie homogen, so daß in dichtbesiedelten Räumen gleichrangige Zentren näher zusammenrücken. Tatsächlich begünstigen individuelle Agglomerations- und Fühlungsvorteile den Rang eines zentralen Ortes und wiegen historisch gewachsene Bedeutung und Bindung einer Stadt zu ihrem Umland schwerer als ein geometrisch-ökonomisches Gesetz. Daher richtete sich die empirisch-induktive Forschung, schon bevor Christaller sein deduktives System veröffentlichte, auf die Erfassung der realen Funktionsräume einer Stadt aus, so ζ. B. die Untersuchungen von Dickinson (1932) über die Marktbereiche der kleinen städtischen Siedlungen in Ostengland. Empirischen Untersuchungen stehen grundsätzlich zwei verschiedene Wege offen. Einmal kann man von der Ausstattung der Städte selbst mit zentralörtlichen Diensten und Angeboten ausgehen. Zum andern läßt man die Untersuchungen im Umland beginnen. Mit dieser empirischen Umland-
Die moderne Stadt als zentraler Ort
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methode wurde in den sechziger Jahren unter Mitarbeit fast aller geographischen Institute und zahlreicher anderer Behörden und Wissenschaftler das zentralörtliche Gefüge der Bundesrepublik Deutschland untersucht. Die Ergebnisse sind von Kluczka (1970a) veröffentlicht worden, in dessen Händen die wissenschaftliche Koordination gelegen hatte. Abb.109 zeigt ein Teilergebnis für das nordwestliche Deutschland. Wichtigster Bestandteil der Untersuchung war eine Fragebogenerhebung. Die Fragen gestatteten, bei der Auswertung zu unterscheiden, wo die Bevölkerung ihren Alltagsbedarf deckt, diese Orte stellen die Kleinzentren dar. Der seltenere Normalbedarf wird in den Mittelzentren gedeckt, der gehobene Spezialbedarf in den Oberzentren und schließlich gibt es noch die Großzentren. Die Orte dieser vier Normalstufen (vgl. auch das Modell in Abb.l 09) können klar nach ihrem Angebot differenziert werden. Wegen der grundsätzlichen definitorischen Bedeutung lassen wir Kluczka selbst ausführlich zu Wort kommen. Er schreibt dazu: „Ihrer Ausstattung nach verfügen die zentralen Orte unterer Stufe in der Regel über Verwaltungsbehörden niedersten Ranges und Postamt, Kirchen, Mittelpunkt- und eventuell Realschule, Kino, mehrere Geschäfte verschiedener Grundbranchen, Apotheke, Praktischen und Zahnarzt; ferner gibt es hier oft schon ein kleines Krankenhaus und fast immer zwei Sparkassen und je nach Struktur des Umlandes eine Bäuerliche Bezugs- und Absatzgenossenschaft. - Die zentralen Orte mittlerer Stufe bieten ein spezifisches städtisches Angebot. Als typisch hat sich für die zentralen Orte mittlerer Stufe die Merkmalskombination Einkaufsstraße(n) mit wichtigen Fachgeschäften, voll ausgebaute Höhere Schule und Krankenhaus mit mehreren Fachabteilungen herausgestellt. Hinzu kommen die wichtigsten unteren Behörden, Organisationen von Handel, Handwerk und Landwirtschaft, Banken und Sparkassen, berufsbildende Schule, Theatersaal oder Mehrzweckhalle für kulturelle, gesellige und berufsständische Veranstaltungen. Unerläßlich für den zentralen Ort mittlerer Stufe sind u. a. auch wichtige Berufsgruppen wie Fachärzte, Rechtsanwälte, Notare und Steuerberater. Den zentralen Orten mittlerer Stufe kommt somit die Hauptaufgabe in der Versorgung der Bevölkerung mit materiellen und immateriellen Gütern zu. - Die zentralen Orte höherer Stufe haben für die breite Masse der Bevölkerung weitaus überwiegend die Bedeutung als Einkaufsstädte mit größeren Waren- und Kaufhäusern und Spezialgeschäften. Darüber hinaus bieten sie wichtige Kulturstätten wie Theater, Museen und Galerien, sind Sitz von Behörden und Wirtschaftsverbänden,
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Zentraler Ort höchster Stufe (Groflzentrum)
Zentraler Ort höherer Stufe mit Teilfunktion eines Großzentrums Zentraler Ort höherer Stufe (Oberzentrum) Zentraler Ort mittlerer Stufe mit Teilfunktion eines Oberzentrums Zentraler Ort mittlerer Stufe Nicht voll wirksames Mittelzentrum der Nebenkarte Zentraler Ort unterer Stufe mit Teiltynktion eines Mittelzentrums Kleinzentrum
Mittelbereiche (in der Nebenkarte mit Überschneidungen)
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Bereiche, die keinem Mittelzentrum eindeutig zugeordnet werden könn P ^ - '"] Großflächige, fr'"""- ' gemeindefreie Gebiete Bereichsgrenze von Ober- und GroÖzentren
109. Zentrale Orte und ihre Bereiche in Nordwestdeutschland
Hoch- und Fachschule, Spezialkliniken und größeren Sport- und Vergnügungsstätten. - Die kleine Gruppe der zentralen Orte höchster Stufe kommt nur noch für den hochspezialisierten und seltenen Bedarf in Frage. Ihre Hauptaufgabe liegt in ihren besonderen überregionalen Funktionen für
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Verwaltung, Wirtschaft und Kulturwesen. Es handelt sich, um sie beim N a m e n zu nennen, um die Metropolen Frankfurt am Main, Hamburg, Köln und München, die, gefördert durch das föderalistische Verwaltungsprinzip der Bundesrepublik Deutschland, teilweise die Aufgaben der früheren Hauptstadt Berlin übernommen haben". 6 Lassen sich nun Regelhaftigkeiten als Raumordnungsprinzip ablesen? Eine Erscheinung, die sofort ins Auge fällt, ist die Tatsache, die eine wichtige Aussage im deduktiven System Christaliers bestätigt: die Oberzentren nehmen zugleich die Funktionen der Mittel- und Kleinzentren mit auf und drängen diese in einen gewissen Abstand. Das ist auf Abb. 109 um Münster, Osnabrück, Oldenburg und Hannover für die Mittelzentren besonders klar zu erkennen; für die Kleinzentren zeigt es die Nebenkarte. Deutlich wird dieser Effekt vor allem in relativ dünn besiedelten, noch stärker von der Agrarwirtschaft geprägten Bereichen; hingegen im Umkreis des Oberzentrums Bielefeld, in einem Raum also mit höherer Bevölkerungsdichte und größerem Anteil von Kleingewerbe und Industrie, rücken die Mittelzentren wieder heran. Auch hier wird man an Christaller erinnert: wenn die Randbedingungen sich ändern, ändert sich das Verhalten des Systems. Uberhaupt lassen sich raumordnerische Konsequenzen rein quantitativ ziehen. Bei einer Bevölkerungsdichte von 100 E / q k m im Umland haben die Kleinzentren Einzugsbereiche von 80 bis 100 qkm, sie sind also lebensfähig, wenn sie ca. 8000 bis 10000 Bewohner des Umlandes zu versorgen haben. Eine besondere Rolle spielen jedoch die Mittelzentren, deren Bedienungsbereich daher in Abb.109 auch flächig hervorgehoben wurde. „Sie sind fast jedem Bewohner des Bereiches bewußt; für viele ist das Zentrum mittlerer Stufe die Stadt schlechthin". 7 Dagegen werden Fahrten zu den Oberzentren zwar häufiger, aber doch nicht regelmäßig gemacht, die Verbindung ist loser, ihre Hinterländer „sind noch keine voll ausgefüllten Resonanzfelder des Geschehens in den höheren Zentren". 8 So kommt es auch vor, daß Regionen sich gar nicht eindeutig einem Oberzentrum zuordnen lassen (vgl. in Abb. 109 die Region um Rahden und Minden). Stets zeigt sich, daß Untersuchungen über Zentralität eine Voraussetzung für Raumordnungsmaßnahmen sind und die Kommunalreform sich an Funktionsbereichen orientieren muß. Reizvoll ist auch die Frage, wie weit die O r t e aus der ersten Gründungsperiode der abendländischen Stadt ihre damals hervorragende Bedeutung behauptet haben (vgl. Abb.109). Das ist oft der Fall, aber seit der früh-
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industriellen Periode brachte der Bau neuer Verkehrsachsen auch deutliche Schwerpunktverlagerungen im bestehenden Siedlungsnetz sowie Änderungen im Rang der Orte mit sich. Anzumerken bleibt noch, daß die empirische Umlandmethode weitgehend auf die Erfassung der freien Zentralität ausgerichtet ist, d. h. auf die Inanspruchnahme von Gütern und Diensten dort, wo aus Gründen der bequemen Erreichbarkeit, der Qualität des Angebots oder historisch begründeter Anhänglichkeit willen nach freier Entscheidung der Bewohner es am günstigsten erscheint, sich aus konkurrierendem Angebot zu versorgen. Im Gegensatz dazu steht die gebundene Zentralität. Damit ist Angebot und Reichweite administrativer Dienstleistungen gemeint, deren Ausübung an Zuständigkeitsbereiche geknüpft ist (Gemeinde- oder Kreisgrenzen, Bezirke von Arbeitsämtern, kirchlicher Stellen etc.). Diese Bereiche sind klar gegeben und bedürfen keiner langwierigen Ermittlung. Wichtig erscheint aber die Aufgabe, im Zuge der Kommunalreform Mittelzentren so auszustatten, daß sie in ihren Funktionsbereichen freie und gebundene Zentralität möglichst zur Deckung bringen, jedenfalls dann, wenn es sich um Administrationen handelt, die die meisten Bürger regelmäßig angeht. Hartke hat dazu schon früh gefordert: Man frage sich einmal nicht: wo liegen die Grenzen? sondern: welche Raumbeziehungen des täglichen Lebens wünscht man sich am wenigsten durch eine Grenze getrennt?". 9 Kehren wir abschließend für den Komplex der Zentralität als Raumordnungsprinzip noch einmal zu einer methodischen Fragestellung zurück. Sie erwächst nicht zuletzt aus der Erkenntnis, daß die Durchführung der empirischen Umlandmethode mit dem Ziel, das zentralörtliche Gefüge eines Raumes, d . h . den Rang der Orte und die Struktur der Bereiche zu erkunden, eine außerordentlich mühevolle, langwierige Angelegenheit ist. Kann man nicht die in der Realität zu erwartenden Abwandlungen des Christallerschen Grundmodells selbst in einem Modell erfassen? Da liegt nun die Idee nahe, den zentralen Ort wie ein Gravitationszentrum zu betrachten und zu fragen, wie weit in seinem Umland die zentripetale Kraft wirkt, wie sie langsam abnimmt, bis schließlich der Nachbarort die Herrschaft übernimmt. Versuche mit derartigen Gravitationsmodellen gibt es in mannigfacher Art. Wir haben ein solches Vorgehen für die Niederlande erprobt (Delschen/Hambloch/Lüke, 1972). Aus der Statistik der Erwerbstätigen werden typische Aktivitäten des tertiären Sektors ausgewählt, und es wird weiter gefragt, wie das Verhältnis der Erwerbstätigen in diesen
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Zweigen zur Wohnbevölkerung in den einzelnen Städten einerseits und der gleiche Quotient im Umland (Provinz) andererseits beschaffen ist. Daraus läßt sich rechnerisch ein Zentralitätsmaß ableiten, das gleichsam die Schwerkraft des Ortes darstellt. Mit Hilfe einer Gravitationsformel kann man die Abnahme der zentripetalen Kraft bestimmen und zugleich die räumlichen Grenzen, an denen die Einflüsse benachbarter Zentren gleich stark sind. Abb. 110stellt das schematisch dar, und ohne daß hier auf die mathematische Ableitung im einzelnen eingegangen werden soll, zeigt Abb. 111 das Ergebnis einer solchen Bereichsgliederung. Die Ubereinstimmung mit empirischen Ergebnissen ist überraschend gut.
C , am geringsten
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A 20,64
Entwurf: Kl-D Delschen
111 . Zentrale O r t e und ihre Bereiche in den Niederlanden nach dem Gravitationsmodell
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Die Standorte zentraler Einrichtungen in Stadtregionen Viele der Probleme, die entstehen, wenn Menschen in Städten dichtgedrängt siedeln, sind keineswegs neu. Nicht einmal die Größenordnungen mancher demographischer Werte sind neu: so hatte das Rom der Caesaren eine Bevölkerungsdichte, die durchaus mit der heutigen von New York, London oder Paris vergleichbar gewesen sein dürfte. Aber nahe am Zentrum mußte man im antiken Rom schon wohnen, wenn man in dem dichten Fußgängerverkehr und durch die schmalen Straßen rasch an sein Ziel gelangen wollte. Und hier ergibt sich nun für die moderne Stadt beim Vergleich mit der Stadt früherer Epochen doch etwas grundsätzlich Neues: die räumliche Differenzierung in einer Stadtregion ist immer eine Funktion des Verkehrsnetzes, mit der wachsenden Kraft der Raumüberwindung wird der alte Bereich der Stadt gesprengt. Hinzu kommt, daß eine sozialräumliche Differenzierung stets auch eine Folge der Sozialpolitik ist. Die Gartenstadtidee von Howard mit ihren Modifikationen und den verschiedenen Versuchen, sie in die reale Bauwelt umzumünzen, setzte zentrifugale Kräfte frei. Mit dem wachsenden Lebensstandard, der in der Industriekultur erreicht wird, steigen die Raumansprüche des Einzelnen und die Massenkommunikation ermöglicht es, die zentripetale Tendenz in der alten Stadt zu neutralisieren. Die Stätten, die der Ausübung der Daseinsgrundfunktionen dienen, entfernen sich räumlich immer mehr voneinander, am deutlichsten erkennbar in der Trennung von Wohn- und Arbeitsbereich. So dominieren bei jeder Kartierung der sozial-funktionalen Viertel einer Stadt die ausufernden, sektorenförmig oder ringähnlich angeordneten Areale der Wohngebiete verschiedener Bevölkerungsschichten einerseits und die Industrie- und Gewerbegebiete andererseits, während die Standorte zentraler Einrichtungen auf ein relativ kleines Viertel beschränkt bleiben. Alle Modelle, die in der Stadtgeographie entwickelt wurden, spiegeln das wider, und derartige Modelle lassen sich bereits an Städten mittlerer Größe gewinnen. Vogelsang (1972) hat in seiner Dissertation über die Stadtregion von Kleve zunächst eine solche funktionale Differenzierung herausgearbeitet und in leicht schematisierter Form dargestellt (Abb.112a). In diesem Bild sind noch alle typischen Lagemomente von Kleve enthalten, insbesondere die Betonung der von Südwesten nach Nordosten gerichteten Achse Kleve—Kellen, die Einengung des Stadtgebietes durch den Altrhein am südöstlichen Rand und der Einfluß der Stauchmoräne im Nordwesten.
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Daraus läßt sich dann unschwer auch das symmetrische Modell einer vom Objekt gelösten Stadtregion ableiten (Abb. 112 b). Bekannte Stadtstrukturmodelle, die auf ähnliche Weise durch Abstraktion entstanden sind, stellen die Schemata von Hoyt (1939) und Harris/Ullman (1945) dar. Gegenüber den zentrifugalen Tendenzen, die in Abb. 112 schon bei einer Mittelstadt sichtbar werden und mit weiter wachsender Größe der Stadt die hinlänglich bekannten Ausmaße annehmen (vgl. nochmals Abb. 105), verharrt das, was der Stadtkern, die City oder einfach das zentrale Geschäftsgebiet genannt wird, auf eng begrenztem Raum. Niemeier (1969) kommt in einer Untersuchung über das Cityareal von deutschen und USamerikanischen Städten zu dem Ergebnis, daß dieses Areal stets unter 1 % der Stadtgebietsfläche bleibt. Die City aber ist jenes Glied in der städtischen „Nukleonik", wo vornehmlich die zentralen Funktionen ausgeübt werden. Oder, wieder in der Terminologie der Daseinsgrundfunktionen gesprochen, wo Versorgung stattfindet. Die Untersuchung der Karlsruher Innenstadt unter diesem Aspekt durch Abeler/Leidlmaier (1968) sei von vielen derartigen Arbeiten hier als eine der instruktivsten genannt. Die enge Vergesellschaftung eines breiten und zugleich spezifischen Angebotes an Dienstleistungen ist das eine Merkmal der Kerngebiete in unsern Städten mit hoher Zentralität. Für viele Einrichtungen ist der Standort hier zwingend vorgeschrieben oder zumindest doch höchst vorteilhaft. Ein zweites Merkmal der City ist der hohe Bodenwert, und damit steht wiederum im direkten Zusammenhang das dritte Hauptmerkmal, nämlich der Verlust der Wohnfunktion, so daß die Diskrepanz zwischen dem pulsierenden Leben am Tage und der oft geschilderten Verödung am Abend auftritt. Natürlich sind alle diese allgemeinen Aussagen relativ zur Größe der Stadt und ihrem Rang in der zentralörtlichen Hierarchie zu sehen. Was als sinnlose Entmischung der Funktionen und als die Unwirtlichkeit unserer Städte von Mitscherlich beklagt wird, gilt nicht für jede mittelzentrale Kreisstadt. Ansätze jedoch finden sich meist auch hier schon. Supermärkte verdrängen die kleinen Läden. Aus der abwechslungsreichen Straßenzeile wird ein monotoner Baublock, und das ist nicht zuletzt ein soziologisches Problem; denn der vielzitierte „Laden an der Ecke" war ein Kommunikationszentrum, wenngleich seine Benutzer früher dieses Wort nicht kannten. Der Supermarkt indessen ist steril, so wie manche andere der modernen Austauschsysteme auch, und das krampfhafte Bemühen der Städteplaner, Kommunikationszentren zu schaffen, ist ja nur deswegen notwendig, weil die ehemals
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selbstverständlichste und menschlichste Seite Urbanen Lebensstiles verloren zu gehen droht. Wenn es schon nicht möglich ist, im Rahmen eines Vortrages auf die sozialökonomische Differenzierung der Stadt der Industriekultur und hier speziell auf die Stellung der City in aller Breite einzugehen, so mag doch an einem Beispiel der Sachverhalt nochmals aufgezeigt werden (Abb. 113). Hier wird f ü r Münster einmal die Bereichsgliederung nach der Flächennutzung veranschaulicht und zwar in einem Profilstreifen, der vom Bahnhof durch die Altstadt in die neueren Viertel im Nordwesten reicht. Die Bodenpreise als Indikatoren für die soziale und ökonomische Differenzierung werden deutlich, und nahezu umgekehrt verhält sich die Wohndichte: niedrig im Bereich des Kerngebietes, der City, und hoch in den Wohngebieten unterer sozialer Schichten am linken Profilrand. Alle diese Erscheinungen in ihrer vielfältigen Differenzierung und in ihrer Abhängigkeit von der Größe der Städte sind oft beschrieben worden. Die Frage, die hier unter dem Thema der modernen Stadt als zentralem O r t abschließend gestellt werden soll, geht über diesen Sachverhalt hinaus und lautet: wie wird der Standort des Angebots von zentralen Gütern und Diensten in Zukunft aussehen, insbesondere dann, wenn die Ränder der Stadtregion sich immer weiter von der Kernstadt entfernen? Vieles deutet darauf hin, daß die Stadt, jedenfalls dann, wenn sie in einem hypertrophen Wachstum verbleibt, die Fokussierung ihrer zentralen Funktionen selbst in Frage stellt. Es ist interessant zu sehen, wie das, was sich heute anbahnt, Bobek schon 1927 vorausgeahnt hat, als er damals schrieb: ,,es könnte sein, daß eine aufs höchste gesteigerte Verkehrsleichtigkeit selbst den Zwang zur räumlichen Konzentration der typisch städtischen Arbeitszweige aufhebt, und damit die Grundlage städtischen Wesens". 10 Natürlich spielt hier auch das exakte Gegenteil der Bobekschen Voraussetzung, nämlich die Verkehrserschwerung, eine Rolle, an deren heutiges Ausmaß vor einem halben Jahrhundert wohl niemand gedacht hat: die Erscheinung des an sich selbst erstickenden Individualverkehrs und die Probleme des öffentlichen Nahverkehrs mit ihren in den Spitzenzeiten oft unzumutbaren Bedingungen fallen nicht eben unter den Begriff der Verkehrsleichtigkeit. So erfolgt denn auch die Abwanderung von Teilfunktionen aus der City heraus am konsequentesten dort, w o das Städtewachstum und der Verkehr Dimensionen angenommen haben, die wir bei uns noch nicht kennen: in den USA. Auch das großartigste N e t z von Stadtauto-
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Die moderne Stadt als zentraler Ort a: F l ä c h e n n u t z u n g ( 1 9 6 8 )
; Wohngebiet H U J I Mischgebiet j | Kerngebiet
Sondernutzung
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Kirche Μ Museum · Bundeswehr S Schule [ Feuerwehr Τ Theater J Krankenhaus U Universität!
b: Richtwerte für Bodenpreise (1968)
Einwohner/ha W M ,