Die Staatsidee Alexander Hamiltons in ihrer Entstehung und Entwicklung [Reprint 2019 ed.] 9783486759136, 9783486759129


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German Pages 186 [196] Year 1927

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Table of contents :
Inhalts-Verzeichnis
A. Einleitung
B. Die Staatsidee Alexander Hamiltons in ihrer Entstehung und Entwicklung
C. Zusammenfassung
Beilage A. Hamilton und Hume
Beilage B. Hamilton und Machiavelli
Beilage C. Abschrift aus Hamilton, Works ed. J. C. Hamilton, 1851, I, 4 ff. New York, August 31. 1776. Pay-book of the State Company of Artillery commanded by Alexander Hamilton
Literatur-Verzeichnis
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Die Staatsidee Alexander Hamiltons in ihrer Entstehung und Entwicklung [Reprint 2019 ed.]
 9783486759136, 9783486759129

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DIE STAATSIDEE ALEXANDER HAMILTONS IN IHRER ENTSTEHUNG U N D ENTWICKLUNG VON

ALEX BEIN MIT BINBM TITBLBILD ALEXANDBR HAMILTONS

M Ü N C H E N U N D BERLIN 1927 DRUCK UND VERLAG VON R. OLDENBOURG

B E I H E F T 12 DER H I S T O R I S C H E N

ZEITSCHRIFT

Alle Rechte, e i n s c h l i e ß l i c h der Ü b e r s e t z u n g , vorbehalten

HERRN GEHEIMRAT IN UND

MEINECKE DANKBARKEIT VEREHRUNG

Die nachstehende Untersuchung erscheint mit amerikanischer Unterstatzung durch Vermittlung der Deutschen Hochschule für Politik. Herrn Professor J ä c k h und Herrn Geheimrat Meinecke bin ich dafür zu Dank verpflichtet.

Inhalts-Verzeichnis. Seite

A . Einleitung: Problemstellung, Lebenslauf Alexander Hamiltons, Literaturübersicht

i

B. Die Staatsidee Alexander Hamiltons in ihrer Entstehung und Entwicklung. Kapitell. D i e G r u n d l a g e n . 1. Persönliche Voraussetzungen und Eindrücke in früher Jugend 2. Das geistige und politische Leben Amerikas in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts 3. Der Ausdruck von Zeit und Persönlichkeit in den ersten Schriften Hamiltons

28

Kapitel II. Die E n t s t e h u n g der S t a a t s i d e e A l e x a n d e r Hamiltons. 1. Die Erfahrungen der Kriegsjahre bis 1780 und die ersten Konzeptionen eines Staatsbildes 2. Weitere Ausgestaltungen: Der Continentalist

41 73

8 15

Kapitel III. Die O p p o s i t i o n g e g e n das h e r r s c h e n d e Sys t e m v o m F r i e d e n s s c h l u ß bis zur K o n v e n t i o n v o n P h i l a d e l p h i a 1787. 1. Betonung des Rechtsgedankens in den Phocion-Briefen . . 96 2. Der Gedanke zentraler Macht in der Konvention von Phila109 delphia Kapitel IV. V e r e i n i g u n g e n , Milderungen s t a l t u n g e n im F e d e r a l i s t

und

Ausge-

C. Zusammenfassung. Auswirkung der Ideen und Würdigung Beilage A. Hamilton und Hume „ B. Hamilton und Machiavelli ,, C. Notizen aus dem Pay-book von 1776 Literaturverzeichnis

120 . . 149 165 173 . . 178 182

A . Einleitung. Die Staatsidee Alexander Hamiltons zu zeichnen in ihren Grundlagen, ihren Wandlungen und Ausgestaltungen hat sich diese Untersuchung als Aufgabe gestellt. Sie hat also auszugehen von seiner Jugend und von den Gegebenheiten der Zeit und hat die Entwicklung bis dahin zu verfolgen, wo die Ausbildung des Gesamtbildes in den wesentlichsten Zügen vollendet war. Das war geschehen zu eben der Zeit, in der auch die Geschichte des Landes, in dem er lebte und wirkte, des nordamerikanischen Staatswesens, vor einem Wendepunkt stand: die Annahme der neuen Bundesverfassung von 1787, die der nordamerikanischen Union die staatliche Form gab, unter der sich ihre weiteren Geschicke vollzogen, beendete grob gesehen den Zustand des Suchens, Tastens, Kämpfens und Experimentierens um die Form des staatlichen Zusammenlebens und schuf die Grundlagen, auf denen sich in konsequentem Fortschreiten, wenn auch nicht ohne Krisen und ernste Konflikte, die heutige amerikanische Großmacht erhoben hat. Bis zu diesem Zeitpunkt, bis 1789 etwa also, hat die Erzählung zu führen, bis hart an den Beginn jener Revolution damit, die, nicht ohne Einfluß der amerikanischen Freiheitsbewegung entstanden, wie auf Europa so auch auf Amerika so bedeutsam ein- und rückwirkte. Die Auseinandersetzung mit den Ideen der französischen Revolution bildete ein wichtiges Kapitel auch in dem Leben des späteren Staatsmannes Alexander Hamilton. Sie ist hier indes nicht zu schildern, hier sind vielmehr die Grundlagen aufzudecken, die diesen Widerstreit schufen und bedingten. Die Voraussetzungen dazu liegen, das wird nachzuweisen sein, in der Persönlichkeit Hamiltons und in den besonderen Verhältnissen, in denen er aufwuchs und lebte, deren Umgestaltung und Sicherung sein Lebenswerk war. Die Untersuchung kann in der verschiedensten Hinsicht von Interesse und Bedeutung sein. Sie führt in eine Zeit entscheidender geistiger, sozialer und politischer Umwälzungen; sie hat sich zu beschäftigen mit einer der größten und kritischsten Perioden amerikanischer Geschichte; sie hat zum Thema das Leben und mehr noch das Denken eines Mannes, der diese Zeit und dieses Land Beiheft d. H. Z. 12.

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mit besonderer geistiger Schärfe durchschaute und der auch das europäische Staatenleben mit einer Intuition erfaßte, von der Talleyrand, der spätere französische Diplomat, sagte, er habe Europa erraten, ohne es je gesehen zu haben.*) Zeiten entscheidender Neubildungen sind ja für den Historiker von besonderem Erkenntniswert. Nirgends so klar wie hier, wo aus Absterbendem, faul Gewordenem Neues, Gesundes aufkeimt und emporwächst, offenbart sich ihm die Kontinuität des geschichtlichen Werdens; und von besonderem Reiz ist es dann — nicht nur von ästhetischem—gerade den Fäden nachzuspüren, die von Altem zu Neuem sich spinnen. Ihren besten Ausdruck finden solche Zeiten des Übergangs in den Anschauungen der in ihnen lebenden Menschen. In dreifacher Hinsicht, kann man etwas schematisierend sagen, interessieren diese Menschen, besonders wenn sie im Mittelpunkt wichtiger Geschehnisse stehen, den Historiker: als Spiegel, als individuelle Persönlichkeit und als wirkende Kraft. Als Spiegel, für das Bunte der Meinungen, Interessen, Denksysteme, aufgefaßt und mehr oder weniger verbunden und gegeneinander ausgeglichen durch das eigene Denken und Wollen der handelnden Persönlichkeit. Und eben dadurch wird diese zur wirkenden Kraft, einmal mehr durch das besondere Zusammenschweißen von fremden und eigenen Denkrichtungen, ein andermal durch die besondere Intensität und Zielsicherheit, mit der Ideen aus dem Reich der Theorie in das Reich der Praxis umgesetzt werden. Das Unbegreiflichste aber und nur tastend Nachzuzeichnende ist dann eben jener Prozeß, der sich von der Aufnahme bis zur Formimg und Auswirkung im Individuum selbst vollzieht. Die Persönlichkeit Alexander Hamiltons ist, wie erwähnt, in jeder dieser Beziehungen von Bedeutung und Interesse. Er steht im Mittelpunkt großer Ereignisse, betrachtend und wirkend, denkend und handelnd, ein Theoretiker, Publizist und ein Staatsmann von großer politischer Fähigkeit und Bedeutung. Sein Leben ist verwoben in die Geschicke der Zeit, von ihnen beeinflußt und wieder und stärker noch sie selbst beeinflussend. Geboren am n . Januar 1757 auf der kleinen Antilleninsel Nevis als Sohn eines schottischen Vaters und einer französischen Mutter, kommt A l e x a n d e r H a m i l t o n durch die Hilfe von Verwandten als 15 jähriger Jüngling zur Ausbildung nach New York, wo er bald von der amerikanischen Freiheitsbewegung ergriffen *) Curtis, Constitutione^ History, 1903, I 276 Anm. 1 ; zuerst erwähnt in der ersten Auflage des Buches 1859; danach in fast allen Darstellungen, wiederholt.



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wird. Freiwilliger, in kurzem Kapitän einer New Yorker Artilleriekompanie, erregt der Frühreife, der schon zuvor durch zwei große Flugschriften von sich reden gemacht hatte, das Interesse Washingtons; er wird im März 1777 in dessen Generalstab berufen, dem er bis Februar 1781 als Privatsekretär und Adjutant angehört. Kurze Zeit wieder als Offizier an der Front — bei Yorktown erstürmt er die erste Schanze — dann als Steuereinnehmer des Staates New York tätig, wird er zum Kongreß gewählt, an dessen Sitzungen er bis Juli 1783 teilnimmt. Sachliche und persönliche Gründe — er hatte im Dezember 1780 geheiratet — veranlassen ihn nach seiner Rückkehr aus dem Kongreß vorderhand auf politische Laufbahn zu verzichten. Aber auch bei der Ausübung seines Berufs als Rechtsanwalt fließen politische und private Tätigkeit eng ineinander. In der Bewegung zu unitarischerer Umgestaltung der staatenbundlichen Verfassung nach dem Friedensschluß von 1783 steht er an vorderster Stelle. 1786 entwirft er in der Konvention von Annapolis die Adresse, die jene Bewegung weiterführte, zur Konvention von Philadelphia, der er als einer der Vertreter New Yorks angehört. Obwohl die dort ausgearbeitete bundesstaatliche Verfassung seinen unitarischeren Plänen nicht entspricht, setzt er sich mit aller Kraft für ihre Ratifikation ein; zu ihrer Verteidigung und Erklärung schreibt er mit J a y und Madison zusammen den Federalist. Gleich nach dem endgültigen Inkrafttreten der neuen Verfassung wird er von Washington, dem ersten Präsidenten, als Finanzminister (secretary of the treasury) ins Kabinett berufen, dem er vom 1 1 . September 1789 bis Ende 1795 angehört. Seine Tätigkeit bewirkt die Ordnung der trostlosen finanziellen Zustände, zugleich legt sie in handelspolitischer, außenpolitischer wie administrativer Beziehung die Grundlage für die folgenden Zeiten. Schon während seiner Amtstätigkeit, in vollem Maße aber nach seinem Rücktritt, ist er der Führer der großen föderalistischen Partei, die, in heftigem Gegensatz zu der sogenannten republikanischen Partei, im wesentlichen eine einheitlichere Ausgestaltung der Verfassung, eine starke Staatsmacht erstrebt und den Tendenzen und Zielen der französischen Revolution feindlich gesinnt ist. Denkwürdig ist dabei besonders sein Kampf mit Jefferson, dem Führer der Gegenpartei, dem nachmaligen Präsidenten, dem Mann, der 1776 die Unabhängigkeitserklärung entworfen hatte. Wie nah Hamilton dabei Washington steht, zeigt die Tatsache, daß er 1796 dessen berühmt gewordene Abschiedsbotschaft entwirft. 1798 von diesem als Generalinspektor einer 1»



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Armee, die gegen Frankreich ausgebildet werden sollte, nochmals in den Dienst der Republik berufen, kehrt er 1800 wieder nach New York zurück, wo er wie zuvor seine juristische Praxis ausübt. Als Führer der Federalisten bleibt er weiterhin in heftige Kämpfe mit Gegnern außerhalb und später auch innerhalb seiner Partei verstrickt. Am 1 1 . Januar 1804 wird er in einem Duell mit Aaron Burr tödlich verwundet, am folgenden Tage stirbt er, genau 47 Jahre alt. Damit endet ein Leben, das reich an Tätigkeit war, reich an Enttäuschungen, reich an Ausstrahlungen auf seine Zeit und auf die Zukunft, das Leben einer überragenden Persönlichkeit. Mit dem Leben Alexander Hamiltons haben sich Zeitgenossen und Nachwelt viel beschäftigt. Die erste auf umfangreiches Quellenmaterial gestützte Biographie erschien indes erst 1840. Sie stammte von seinem Sohne John Church Hamilton1) und handelte in ausführlicher Weise bis zum Abschluß des Federalist. Sie war entscheidend für ihre Zeit, auch jetzt noch ist sie, was die tatsächlichen Ereignisse anbetrifft, das grundlegendste Werk. In der Art ihrer Zeichnung, die sehr stark auf Schwarz-weiß-Manier abgestellt ist und an den äußeren Tatsachen haften bleibt, kann sie indes heute wenig befriedigen. 1851 erschien auch von demselben Herausgeber die erste Gesamtausgabe der Werke2), 1859 folgte eine neue Zusammenfassung der ersten Biographie und Weiterführung bis 1792. Während des Kampfes der Nord- und Südstaaten um die Weitererhaltung bzw. Neugestaltung der Union, in der das Interesse Europas sich stärker der Geschichte Amerikas zuwandte, im Jahre 1864, erschien das Buch von James Riethmüller3), einem Engländer. Er geht aus von dem amerikanischen Bürgerkrieg und sucht dessen tiefsten Grund in der Entstehungsgeschichte der amerikanischen Verfassung, die er deshalb schildern will, „in Verknüpfung mit dem Leben und den Anschauungen des Mannes, der das meiste tat, um sie ins Dasein zu rufen und in ordentlichen Gang zu bringen, während er ihre Gefahren von Anfang an voraussah und unaufhörlich an deren Verhütung arbeitete". Unter diesem Aspekt geschrieben, wird ihm Hamilton zum Hüter gerechter Freiheit, zum Vorkämpfer gegen ') John Church Hamilton, Life of Alexander Hamilton, 2 vol. New York, 1840. Im weiteren zitiert: J . C. H. 2 ) John Ch. Hamilton, History of the republic of the U. S. A. usw. 1859; Alex. Ham., W o r k s , 7 vol. ed. J . C. Ham. 1851 (in Deutschland nicht zugänglich). 3 ) Christopher James Riethmalier, The life and times of A. H. usw. London 1864.



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übertriebene Demokratie, vor der er auch die Engländer seiner Zeit warnt. Die Darstellung ist skizzenhaft, nicht eines aus dem anderen entwickelnd. Im allgemeinen sicheren Urteils, kommt der Verfasser zu dem etwas merkwürdigen Schluß, Hamilton hätte, lieber als daß er zum Kampf gegen die Mitbürger geschritten wäre, in die Sezession der Südstaaten eingewilligt. — 1876 erschien dann die zweibändige Biographie von John T. Morse4), die „Geist, Charakter und Werke" Hamiltons darstellen will. Voll ehrfürchtiger Bewunderung für ihren Helden sucht sie doch auch den Gegnern gerecht zu werden. Im Gegensatz dazu steht die Darstellung Georg Shea's (2 Bände 1877/78)5), die in ihrer nur begeisterten und bewundernden, Leben und Werk völlig nebeneinander behandelten Art zwar oft sehr geistvolle Bemerkungen bringt, im ganzen aber Entscheidendes vermissen läßt. Durch ihren Zweck, für die Errichtung eines Denkmals Hamiltons zu werben, mag dabei manches erklärt und vielleicht entschuldigt werden. Flüssig in der Darstellung und klug in der Auswahl des Wesentlichen ist das kleine 1882 erschienene Buch des Senators H. C. Lodge.6) Auf guter Tatsachenkenntnis aufgebaut, versucht es auch die leitenden Ideen Hamiltons herauszuarbeiten, als die sich ihm der Gedanke der aristokratischen Republik und der einheitlichen Nationalität darstellen. Es sucht nach gerechter Beurteilung, bleibt aber, besonders in der Erzählung des Lebensganges, doch meist an bewundernder oder tadelnder Oberfläche. Von der größten Wichtigkeit für weitere Forschungen war es jedoch, daß Lodge 1885/86 eine neue, vollständigere Ausgabe von Hamiltons Werken erscheinen Heß7), von der die folgenden Biographien profitieren konnten. So etwa die W. G. Sumners (1890)8), die die Frage beantworten will, inwieweit Hamilton zu den „Schöpfern dieses amerikanischen Staates" gehört. Sumner, der hauptsächlich Finanz- und Sozialwissenschaftler ist, rückt in seiner Behandlung des Lebenswerks Hamiltons die wirtschaftlichen Gesichtspunkte in den Vordergrund, sein Standpunkt 4

) John T. Morse jun., The life of A. H. Boston 1876. ) Georg Shea, A. H. a historical study. In 4 Teilen geplant, aber nur 2 erschienen. New York 1877/78. Teil I: The Individual. I I : The founder of Empire. •) Henry Cabot Lodge, A. H., Boston 1882. Amer. Statesman series. Vgl. die Kritik in Hist. Ztschr. 57, S. 182. ') The Works of A. H „ Philadelphia 1886. 9 Bde. (Bd. 9 ist der Federalist.) 8 ) William Graham Sumner, A. H., in der Reihe „Makers of America". New York 1890. 5



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ist der des Freihändlers. Dabei sucht er das von ihm abgelehnte Programm Hamiltons aus den Verhältnissen der Zeit zu verstehen, die er eingehend schildert. — Behandeln die vorerwähnten Werke Hamilton vornehmlich als einen der für die Aufrichtung und Sicherung der Union wesentlichsten Männer, so versucht die ihnen bei weitem am psychologischen Eindringen und an Gesamterfassung des Lebens, Denkens und Wirkens überlegene Darstellung Frederick Scott Oliver's (1906), eines Engländers, seine Person in allgemeinere Zusammenhänge zu stellen.9) Sie ist, wenngleich vielleicht etwas zu einseitig10), doch heute die modernen Ansprüchen am meisten entsprechende Lebensbeschreibung. Ihr Ausgangspunkt ist dabei das Suchen des England des beginnenden zwanzigsten Jahrhunderts um eine einheitlichere Organisationsform des britischen Imperiums. — Wertvolle Ergänzungen, besonders über das private Leben, bietet das sorgfältig geschriebene und viele neue Dokumente enthaltende Buch eines Enkels von Hamilton, Allan McLane Hamilton. 11 ) — Im ganzen eine unbedeutende Kompilation aus anderen Werken ist das neue, völlig unwissenschaftliche Buch Vandenbergs (1921) 12 ), in dem eigentlich nur die zahlreich aufgeführten Urteile bedeutender Amerikaner der Gegenwart von Interesse sind. Dagegen ist Bowers' Buch 13 ) „Jefferson and Hamilton" in jeder Weise fesselnd und anregend. Es steht zwar — im Gegensatz und vielleicht als Reaktion zu Vandenbergs Buch — Hamilton mit ziemlicher Abneigung gegenüber, behandelt auch fast nur die Zeit nach 1789, gibt aber gute Gesamtskizzierung auch der früheren Perioden. In Deutschland hat man sich ausführlich kaum mit Hamilton beschäftigt; wo man die Geschichte Amerikas behandelte, hat man ihn zwar eingehend gewürdigt14), bei einer verwandten Natur, •) Frederick Scott Oliver, Alexander Hamilton, an essay on American Union. London 1906. l0 ) Siehe auch Kritik. Am. hist. rev. X I I , S. 502. (1907.) Diese Einseitigkeit ist indes bewußt durchgeführt. Vgl. Oliver, S. 446: „ I t has been written, frankly, from the standpoint of Hamilton." n ) Allan McLane Hamilton, The intimate Life of A. H. London 1910. ls ) Arthur Hendrick Vandenberg, The greatest American: A. H. New York, London, 1921. 1S ) Claude G. Bowers, Jefferson and Hamilton, The struggle for Democracy in America. New York 1926. " ) So Carl Friedrich Neumann, Geschichte der Vereinigten Staaten 1863, S. 416—425. Dr. Ed. Reimann, Die Vereinigten Staaten im Übergang vom Staatenbund zum Bundesstaat. Weimar 1855, S. 85/91 und bes. in v. Hoist's berühmtem Buche.

wie der Treitschkes 15 ), konnte er auch mit Begeisterung einmal als Vorbild für den Willen zur Einheit zitiert werden. In umfassenderer Weise hat ihn erst neuerdings Rein 16 ) zu zeigen versucht, skizzierend nur, wie es der Natur einer Einleitung in eine Auswahl seiner Schriften entsprach, aber mit bedeutsamen Hinweisen, die ihn in neue und weitere ideengeschichtliche Zusammenhänge stellten. Anregungen, die diese Schrift bot, sucht auch die vorliegende Arbeit auszubauen, nicht ohne daß der Verfasser sich bewußt wäre, wieviel er ihr verdankt und wie schwer es ist, nach gutem Vorbild Gutes zu leisten. 17 ) Ein Gedanke, der dort ausgesprochen wurde, war es vorzüglich, der den Verfasser zur Beschäftigung mit dem Thema reizte: Wie weit wurzeln die Gedanken Hamiltons in der Aufklärung und wie weit führen sie darüber hinaus ? Lag eine solche Weiterentwicklung übernommener Gedanken vor, so mußte es reizvoll sein, eben die Verbindungen aufzusuchen, die Altes an Neues schlössen, Zeit, Leben und Denken in einer Einheit zu begreifen. Die Entwicklung des Denkens über staatliches Zusammenleben, wie sie sich im Leben Alexander Hamiltons vollzog, will diese Arbeit also darstellen. Sie hat daher vieles aus dem Leben selbst zu erzählen, vieles aus der Zeit, manches vielleicht ausführlicher als bei einer Gestalt, die dem Leser in ihren wichtigsten Zügen vertrauter ist. Der Schwerpunkt liegt dabei immer auf der Ausbildung des Denkens. Nicht eine Gesamtbiographie will diese Arbeit geben, sondern, wenn man so sagen kann, die Biographie einer Idee. Wie diese sich aus dem politischen und geistigen Milieu bildete, in dem Hamilton lebte, und sich unter der Einwirkung seiner Natur und seiner Erfahrungen gestaltete, das ist das eigentliche Thema dieses Versuchs. Fundiert ist die Arbeit im wesentlichen auf den Quellen, wie sie in Hamiltons Werken und anderen Publikationen vorliegen; für die Zeitgeschichte und zur Korrektur des eigenen Urteils wurden die in Deutschland zugänglichen wichtigeren Darstellungen beigezogen. 15 ) ie)

Treitschke, Bundesstaat und Einheitsstaat.

A. Rein, Die drei großen Amerikaner Hamilton, Jefferson, W a shington. Klass. d. Pol. Bd. V I I (1923), Einleitung. 17 ) Auch Herrn Prof. Dr. Luckwaldt, der die Arbeit durch mannigfache Anregungen und Hinweise gefördert hat, möchte ich an dieser Stelle meinen Dank aussprechen.

B. Die Staatsidee Alexander Hamiltons in ihrer Entstehung und Entwicklung. K a p i t e l I.

Die Grundlagen. i . Jugend Alexander Hamiltons bis zu seiner Überfahrt nach New York. Am i i . Januar 17571), ein halbes Jahr nach dem Beginn des siebenjährigen Krieges, dessen Auswirkungen auch für sein Leben so bedeutsam sein sollten, ein halbes Jahr vor der Geburt des Freiherrn vom Stein, mit dem er nicht nur das Geburtsjahr gemeinsam hat, erblickte Alexander Hamilton in Nevis, einer kleinen Antilleninsel, das Licht der Welt. Viel umstritten bei Zeitgenossen und Späteren wie sein Leben und Tod ist schon seine Geburt. Dank liebevoller Nachforschung von Sohn und Enkel2), von Historikern und Künstlern herrscht heute darüber Klarheit. Sein Vater James Hamilton stammte aus einem schottischen Adelsgeschlecht, dessen Bestehen sich urkundlich bis 1411 zurückverfolgen läßt.8) In den Wirren der englischen Revolution, in der so viele Engländer ihre Heimat mit fremden Ländern vertauschten, hatten einige Mitglieder dieses Geschlechts4) durch Auswanderung nach den westindischen Inseln sich den Verfolgungen entzogen, denen sie als Königstreue ausgesetzt waren; sie lebten dort ihr Leben weiter, wie sie es in England gewohnt waren: als Gutsherrn, im Dienst der Verwaltung; ein Teil wandte sich wohl auch dem Handel zu. — Seine Mutter, Rahel Faucette5) war die Tochter französischer Hugenotten, die 1685 nach der Aufhebung des Edikts *) Hierfür wie für fast alle biogr. Angaben J. C. H. und Int. Life; s. Literaturverzeichnis. *) J. C. Hamilton und Allan McLane Hamilton. s ) Int. Life, S. 8 und Anhang S. 433. 4) Atherton, The Conqueror: Zwar in Form eines Romans erzählt, aber, wie Anhang und Anmerkungen zeigen, auf genauen Nachforschungen beruhend. I, S. 12/13. Auch von Oliver mehrfach benutzt. «) Int. Life, S. 8.



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von Nantes nach diesen Inseln geflohen waren. Sie war mit 16 Jahren zu einer Heirat mit einem dänischen Juden, John Michael Lewine, gezwungen worden, hatte ihn, der von ihr an Jahren und Lebensart zu sehr verschieden war, verlassen und war zu ihrer Mutter zurückgekehrt. Kurze Zeit später scheint sie James Hamilton kennengelernt zu haben, den sie liebt und dem sie sich bald verbindet. Die Frucht dieser Verbindung ist Alexander Hamilton. Viele Eigenschaften, die früher oder später bei ihm hervortraten und in ihrer eigenartigen Verbindung die Welt staunen machten, haben seine Biographen aus seiner Abstammung zu erklären versucht. Seine geistigen Anlagen wollte man vor allem dem schottischen Blute zuschreiben: „den Scharfsinn, die logische Art seines Verstandes und den Geschmack am Debattieren, basiert auf abstrakte und allgemeine Prinzipien".6) (Auf Adam Smith, dem großen Schotten, mit dem man ihn zuweilen verglich, wies man dabei hin.) Seine hervorstechendsten Charaktereigenschaften indes wollte man als Erbteil seiner Mutter ansehen. In der „Ungezwungenheit seines Benehmens, in dem Wunsch und der Fähigkeit zu gefallen, in seiner Lebhaftigkeit und Bewegtheit" glaubte man das französische Blut zu spüren. Und die besondere Eigenart der exilierten Hugenotten in den größeren Wesenszügen: „in dem festen moralischen Mut, im Beharren auf großen und edlen Bemühungen, in der Macht der Selbstaufopferung und den Elementen eines großartigen Heroismus". Was damit sich noch nicht erklären ließ: „sein hitziges, ungestümes Temperament, seine begeisterungsfähige und liebevolle Natur", „die erstaunliche Frühreife im Hervortreten seines Ehrgeizes und der Entwicklung seines Geistes", das suchte man aus dem tropischen Klima seines Geburtslandes abzuleiten. So verführerisch es ist, sich das Wesen und die Eigenschaften auf diese Weise verständlich zu machen, der Historiker wird solchen Versuchen nur mit großer Vorsicht nachgehen können. Zu sehr hängt die Beurteilung dabei ab von dem, was der Betrachter in die Eigenschaften einer Rasse hineinsieht, zu wenig lassen sich die Einflüsse von Rasse, Klima, Umgebung auf das Wesen des einzelnen wissenschaftlich feststellen, zu leicht zerfällt bei solcher Betrachtung das Individuum in eine Fülle von einzelnen, zusammensetzbaren Eigenschaften. Wie sehr aber gerade Verschiedenes, scheinbar Unvereinbarliches, sich in der Persönlichkeit zu einem Neuen zusammenschließt, aus dem die Urbestandteile nur schwer ') Morse, S. 3.



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mehr zu lösen sind, das gerade ist die tägliche Erfahrung des Historikers. Immerhin wird man sagen können: Ohne Einfluß konnte es auf Hamilton nicht sein, daß zwei verschiedene Lebensströme sich in ihm trafen und zusammenschlössen. Das gab seinem Wesen größere Aufnahmefähigkeit, Weite, Wandelbarkeit. Er hatte nicht die geschichtliche Erfahrung nur eines einzigen Volkes in sich, aus zwei verschiedenen Lebenskreisen stammten ja seine Eltern, aus Kreisen, die gerade im letzten Jahrhundert handelnd und leitend den Gang der Ereignisse miterlebt hatten. Irgendwie glaubt man das in seinem Wesen zu spüren. Doch darauf wird an geeigneter Stelle zurückzukommen sein. Hier ist die Frage zu stellen nach den ersten Eindrücken seiner Kindheit und Jugend. „Bei den meisten namhaften Menschen," sagt Ranke in der französischen Geschichte7) „ist es ein lebhafter Eindruck, den sie in ihrer Jugend empfingen, der allerdings darum so lebhaft wurde, weil er eine Ader ihres innersten Wesens berührte, was ihre Lebensrichtung bestimmt hat." Sind solche Einflüsse bei dem jungen Hamilton festzustellen, ist also die Frage; zu untersuchen ist seine Umgebung, seiner Erziehung, seine Lektüre, seine früheste Tätigkeit. Über Hamiltons Kindheit wissen wir wenig Authentisches; er pflegte nicht viel über seine persönliche Geschichte zu äußern.8) Das Bild seiner Mutter glaubt man in der Vorstellung, die er sich später von der Frau macht, zu sehen. Sie wird als schöne, liebevolle, lebhafte Frau geschildert9), auch an Klugheit dem Vater weit überlegen; ihn hat man als Träumer und Grübler gezeichnet, gutherzig, aber ohne Willen. 10 ) Nach dem frühen Tode seiner Frau, der sein ganzes Leben gilt, scheint seine Kraft völlig erlahmt zu sein; er verläßt bald danach Nevis, um nach St. Vincent überzusiedeln. Auch schon vorher hat er wenig Glück in seinen Unternehmungen. Unordnung im häuslichen Vermögen, Bankrott, Unterstützung durch Verwandte seiner Mutter scheinen die häuslichen Eindrücke des Kindes zu sein. — Gering war wohl auch Erziehung und Ausbildung des Knaben: von der engen Schule erzählt er wohl manchmal 11 ), in der man um den Tisch ') Ranke, Franz. Geschichte I, S. 71. ») J. C. H. I. 3. *) Int. Life, S. 8. Oliver, S. 15; vgl. auch die späteren Briefe an seine Braut und Gattin und den scherzhaften Brief an einen Freund. Works VII, 585. 10) Int. Life, S. 12/13. ») J. C. H. I, 3.



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einer Lehrerin stand, einer Jüdin, die ihn den Dekalog auf Hebräisch lehrte. „Der Umkreis seiner frühen Studien," meint sein Sohn, „war wohl sehr begrenzt; wahrscheinlich umfaßte er nur wenig mehr, als die Rudimente der englischen und französischen Sprache." Mehr als aus regelrechter Schulung konnte der frühreife Knabe doch schon aus der Umgebung entnehmen. Er konnte das Leben der Gutsherren sehen, die durch ihre Herde von Negersklaven die weiten Zuckerplantagen bewirtschaften ließen, ähnlich wie in den Südstaaten der späteren Union. Auch staatliches Leben konnte er beobachten, freilich nur im Kleinen. Hatte man doch gemeinsam mit der nahen Insel St. Christopher Gouverneur, Council (Rat) und Assembly (Repräsentantenhaus) ganz der englischen Verfassung in König, Ober- und Unterhaus in Miniatur nachgebildet. 12 ) Ein lässiges Herrenleben war es sicher, das ihn umgab. Von der Politik der Zeit hat er vermutlich wenig gehört. Fern lag die Insel den Welthändeln, so bedeutsam sich diese gerade um jene Zeit gestalteten. Wohl konnte durch Kaufleute einmal dies oder jenes berichtet werden — auch bei der Ausfuhr des Zuckerrohres spielten Politik und Krieg gewiß eine Rolle — dann waren es aber doch nur wenig greifbare E r z ä h l u n g e n , die man vernahm; das Volk selbst wurde kaum davon ergriffen, nahm vor allem nicht aktiv am Geschehen teil. Selbst „das Zeitalter der Unabhängigkeitskämpfe ist hier ohne große Änderungen vorübergegangen", trotz gelegentlichen Kampfes um die Insel (1782/83). 1 S )

Der vorwärtsstrebende Geist des Knaben mußte sich früh der Literatur zuwenden. Er las viel. Bedeutsam war, daß er dabei die Führung eines Mannes hatte, der tiefen Einfluß auf ihn ausüben sollte: eines presbyterianischen Geistlichen, John Knox. „Die glühende Frömmigkeit dieses Mannes, dessen Umgang er häufig genoß, gab seinen Gefühlen eine starke religiöse Grundlage", urteilt J. C. Hamilton. 14 ) Das war wohl der erste ganz starke Eindruck seiner Jugend: Daß es ein religiöser war und von einer Religion herrührte, deren Weltauffassung ihn unmittelbar strebend und handelnd in die Welt zwang, das mußte richtunggebend für ihn sein. Man wird den Auswirkungen in seinem späteren Leben begegnen. Und ohne Zweifel traf dieser Eindruck „eine Ader seines innersten Wesens", mit dem oben angeführten Ranke-Wort zu 12 )

Atherton, The conqueror, I, 11/13. Alfred Hettner, Grundzüge der Länderkunde II (außereuropäische Erdteile), S. 368. 13 )

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J. C. H „ S. 3.



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reden. Das zeigte sich bald, als der Zwölfjährige 1769 nach dem frühen Tode seiner Mutter in das Handelsgeschäft eines Nicholas Cruger in St. Croix, einer kleinen, damals dänischen Insel, westlich von Nevis, eintrat. — Aus dieser Zeit sind ein paar Briefe von ihm erhalten, die einen tieferen Einblick in seine Entwicklung gewähren. Ein paar Geschäftsbriefe, die der junge Kaufmann in Abwesenheit und Vertretung seines Chefs geschrieben.16) Sie zeigen erstaunliche Reife des Verstandes, Sicherheit und Sachlichkeit in der Erfassimg der geschäftlichen Verhältnisse; sittliche Verpflichtung der Welt gegenüber hat man darin zu spüren geglaubt. „Briefe eines Menschen" urteilt Oliver, „der seine Verantwortung fühlt, aber nicht von ihrem Gewicht erdrückt wird". 18 ) Feilich wendet er sich von vornherein innerlich gegen diesen seinen Beruf. Daß er zu Höherem berufen, daß wenigstens alles in ihm nach Macht und erhobenerer Stellung dränge, wird der bohrenden Selbsterkenntnis des Knaben bald irgendwie bewußt. Er „verachte die kriechende Stellung eines clerk oder dergleichen", zu der ihn die Umstände zwängen, schreibt er schon 1769 an seinen Freund.17) „Denn um meine Schwäche zu bekennen, Ned, mein Ehrgeiz ist vorherrschend", „und ich würde willig mein Leben riskieren, obgleich nicht meinen Charakter, um meine Stellung zu erhöhen." — Man könne ihm sagen, er baue Luftschlösser, wendet er sich selbst ein, und er schäme sich selbst seiner Narrheit. Und doch seien solche Pläne oft erfolgreich gewesen, „wenn, der sie plante, nur beständig blieb". „Ich will damit schließen, daß ich sage, ich wünschte, es gäbe Krieg." Es gab noch keinen Krieg, so bedrohlich sich auch die Wetterwolken am politischen Horizont zusammenzogen; zu jung war auch der Knabe noch, das machte er sich selbst klar, um sofort zu höherem Range aufzusteigen; Jahre noch mußte er in seiner kaufmännischen Stellung verbleiben, wenn es auch scheint, daß sie bald nicht mehr so „kriechend" gewesen ist, wie sie zu Anfang war oder ihm dünkte. Den Nutzen dieser Lehre hat er in seinem späteren'Leben auch wohl höher schätzen gelernt, sicherlich nicht nur der „Methode und Leichtigkeit wegen, die sie ihm gab", wie sein Sohn meint18); „in der eindrucksfähigsten Periode seines Lebens bekam Hamilton die harte Lektion, daß die schönsten Phrasen (wenn sie " ) Works, V I I , 472/73. S. 19/20. " ) Oliver, S. 16. " ) Works, VII, 471/72. " ) J . C. H., S. 6.

Atherton a few letters, S. 4/7. Int. Life,

— 13 — auch zeitweise den Neigungen der Menschen entgegenkommen) niemals eine einzige Tatsache in ihrer Existenz verändern; daß selbst die flüssigsten Erklärungen niemals die schlechten Resultate falschen Handelns, zu geringer Vorsicht oder Vertrauens an falscher Stelle auswischen können" — so hat offenbar richtiger ein anderer Biograph19) die Bedeutung der geschäftlichen Tätigkeit für Hamiltons Leben eingeschätzt, sich dabei eng berührend mit dem Urteil, das der Freiherr vom Stein über sein eigenes Wirken im Berg- und Hüttenwesen gelegentlich fällte. „Sie habe den Nutzen gehabt", sagt er einmal, „den Körper zu stärken, den praktischen Geschäftssinn zu beleben und das N i c h t i g e des t o t e n B u c h s t a b e n s kennen zu lernen." 20 ) Gerade bei einem Menschen mit so vielseitigen Anlagen und Interessen und mit dem Streben, es allen Menschen zuvorzutun, konnte eine solche Dämpfung durch ganz reales, zweckhaftes Leben zunächst nur bildend wirken. Freilich war er dadurch gezwungen, diese seine Talente und Neigungen durch Selbstarbeit in der Freizeit zu befriedigen. Auch das mußte auf seine Energie wirken, ihn zu Beharrlichkeit und strenger Auswahl erziehen. Er war sich dessen bewußt: „Ich will den Weg für die Zukunft vorbereiten", sagt er in dem oben erwähnten Brief. — Mathematik und Chemie21) waren die Gebiete, für die er sich am meisten interessierte; zunächst wohl durch die Anregungen des Geschäfts, die zur Ergänzung lockten; zugleich offenbarte sich hier doch auch seine Natur, die von vornherein nach der Erkenntnis des Gesetzlichen strebte, nach der sie die Vielfältigkeit der Eindrücke durchschauen und meistern wollte. Seiner Vorliebe für die Naturwissenschaft kam sicherlich auch seine Lektüre entgegen. War es doch der Glaube vieler Aufklärer, daß die Zeit nun gekommen sei, in der der Mensch die Gesetze des Lebens frei erkennen und ebenso frei und bewußt danach handeln könne. Er las weiterhin viel. Dabei bevorzugte er Bücher, die ethischen Einschlag hatten: Pope, „den Fürsten des Reims und den erhabenen Dichter der Vernunft", wie ihn die Engländer nennen22), der sich Deutlichkeit des Ausdrucks als vornehmstes Ziel setzt, selbst auf Kosten der dichterischen Schönheit seiner Verse23), ja, der diese zum guten Teil nur deshalb anwendet, um seine Lehren dem Gedächtnis haftender einzuprägen. Dann Plutarch " ) Oliver, S. 16/17. 20) Allgem. deutsche Biographie, Bd. 35, S. 614.

(Stern.)

" ) J. C. H., S. 6. 22) Zitiert bei Herrn. Hettner, Literaturgesch. d. 18. Jahrh. I, S. 222. 23) Pope, Essay on man. Ed. Tauchnitz, S. 167/68.

— 14 — besonders, den Verherrlicher der Freiheit, des Bürgersinns, der Tugend, der großen Taten großer Männer, der ja auch auf so viele andere bedeutende Zeitgenossen stark gewirkt hat. 24 ) Diese literarischen Einflüsse können hier nur gestreift werden, später sind sie noch genauer zu besprechen. Hier galt es nur, die Voraussetzungen Hamiltons zu zeigen, die Anlagen und Eigenschaften, mit denen er sich später die Wirklichkeit im Denken und Handeln eroberte.25) Fassen wir das Erkannte zusammen! Frühreife, eine ins Leben ausgreifende Frömmigkeit, ein schwer zu meisternder Ehrgeiz nach großen Dingen, rücksichtslose Selbsterkenntnis, Streben nach rationaler Erfassung und Beherrschung der Wirklichkeit, das waren die hervorstechendsten Züge, die uns schon bei dem zarten, ja körperlich schwächlichen Knaben entgegentraten. Was noch dazu kam, der frühzeitige Versuch und die Fähigkeit, auf ihn einstürmende Eindrücke auch literarisch zu meistern26), das sollte am bedeutsamsten für seine Zukunft werden. Ein flott geschriebener Aufsatz über das Wüten eines Tornados27), der in einer Zeitung erscheint und Aufsehen in weiteren Kreisen erregt, lenkt die Aufmerksamkeit auf ihn. Verwandte wollen dem so ungewöhnlich Begabten Weiterentwicklung durch Studium ermöglichen. Oktober 1772 kommt Alexander Hamilton in New York an. Er verläßt diimit die enge Abgeschlossenheit seiner Heimat und tritt in einen Kreis aktiven geistigen und politischen Lebens ein. In der Stille hatten sich seine Fähigkeiten und Talente entwickelt, sein Charakter mußte sich bilden im Strome der Welt. Und nicht nur sein Charakter: seine Anschauungen über alle Fragen menschlichen Zusammenlebens, sein Denken über den Staat also, mußte hier die ersten Grundlagen — Stoffe und Formungen — erhalten; hier in Amerika, dem Lande, das damals zu eigenem Bewußtsein erwachte; hier in New York, das einer der zentralen Punkte in " ) J . C. H. erwähnt Bemerkungen (I, 6) über Plutarch, die er damals niederschrieb. Vgl. auch die Bemerkungen Bowers' S. 24: „Through the pages of Plutarch he was lifting himself above the drab slothful surroundings to the companionship of the great." — Über den Einfluß Plutarchs auf das 18. Jahrh. s. Hirzel, Plutarch, S. 158 ft. M ) Vgl. dazu auch die spätere Bemerkung Hamiltons in den PhocionBriefen von 1784. Works III, 503: 't is with governments as with individuals: F i r s t i m p r e s s i o n s a n d e a r l y h a b i t s g i v e a l a s t i n g b i a s t o the temper and character. *•) Vgl. dazu Bowers, S. 24: He seemed born with a mastery of words, a rare gift of expressions. *') Gedruckt in: A. Hamilton, a fewofhis letters, ed. G. Atherton, 1903.

— 15 — diesem werdenden, sich von der Kultur und dem Mächtesystem des alten Europa emanzipierenden Lande war. Das Bild jener Zeit uns klar zu machen, so wie es einem so sorgsam beobachtenden und kritisch sichtenden Verstände wie dem Hamiltons sich darbot, wird also die nächste Aufgabe der Untersuchung sein müssen. 2. D a s geistige und p o l i t i s c h e L e b e n A m e r i k a s in der zweiten H ä l f t e des a c h t z e h n t e n J a h r h u n d e r t s . Ungefähr in der Mitte der dreizehn englischen Kolonien, die sich am Rande der atlantischen Küste entlangzogen, liegt New York. Nicht nur der Lage nach nimmt es eine Mittelstellung ein* auch in allen anderen Faktoren seines Lebens drückt sie sich aus: in Bodenbeschaffenheit, Bevölkerung und Wirtschaft, in Religion und geistigem Leben und nicht zuletzt in politischer Gesinnung. Norden und Süden jenes Küstenstreifens, der das Siedlungsgebiet der Kolonien bildete, war ja von Natur aus grundverschieden. Karg und wenig ergiebig war der Boden im Norden1), wo die Alleghanies immer härter an die Küste herantreten und nur eine geringe Fläche zur Bebauung freilassen. Rauh ist das Klima. Gegen Süden zu, den Verlauf der Küste gewissermaßen schärfer nachzeichnend, biegt der Gebirgszug weiter nach dem Westen aus. Ein sich stetig verbreiterndes Flachland wird hier frei, dem sein warmes Klima — die Breitenlage entspricht der von Kairo — Anbau von Tabak, Reis, auch Baumwolle ermöglicht. Verschieden wird dadurch auch die Wirtschaftsweise. Plantagenbetrieb mit frühzeitiger Verwendung von Negersklaven ist im Süden das Gegebene. Der Norden bevorzugt den bäuerlichen Kleinbetrieb. Die Ungunst der Bodenverhältnisse und des Klimas zwingen dort zu harter Selbstarbeit, die Gunst der Seelage ermutigt zu Schifffahrt, Fischerei, Handel und Handwerk. Zahlreiche Städte entstehen als Voraussetzung und Grundbedingung des Lebens. Neger spielen hier eine weit geringere Rolle, sie sind mehr Handelsobjekt. Für die Grundbesitzer des Südens sind sie beinahe eine Existenzfrage. Dabei blieb für den Besitzer noch Aufgabe genug in der Beherrschung und Verwaltung. In jener Oberschicht, die, obwohl Minderheit, allein wesentliche Bedeutung in geistiger und politischer Beziehung hat, entsteht ein Menschenschlag, der in seiner x ) Norden Bd. II: ders S.

Daenell, S. 5 ff. und Luckwaldt, Bd. I. Über den Gegensatz voa und Süden vgl. auch Erich Mareks, Männer und Zeiten 1922, Historische und akademische Eindrücke aus Nordamerika, beson51 ff.



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Vereinigung altenglischer Adelstradition und eben dieser Gewohnheit des Herrschens und Verwaltens wie geschaffen scheint zum Staatsmann. (Bis 1861 stammen auch fast alle bedeutenden Staatsmänner aus dieser Schicht.) Diese Menschen sind stolz, von glühendem Patriotismus, leicht reizbarem Selbstgefühl. Sie haben Freude an körperlichen Fertigkeiten, an geselligem Lebensgenuß, an verschwenderischer Gastfreundschaft.2) Durch Reisen und Korrespondenz unterhalten sie Beziehungen mit Europa. Nicht nur aus dem Mangel eines geordneten Erziehungswesens und der Schwierigkeit seines Aufbaues wegen der Zerstreutheit der Siedlungen schicken sie ihre Kinder oft zur Ausbildung in englische Schulen. Sie fühlen sich recht als Nachkommen englischer Aristokratie, mit der sie den Konnex nicht gerne lösen wollen. Da England zudem das Absatzgebiet für die Produkte ihres Bodens ist, sind sie auch wirtschaftlich eng mit dem Mutterlande verbunden. All das liegt anders im Norden, in Neu-England. Wohl waren auch dessen Bewohner durch Handel mit der alten Heimat verknüpft, ja, sie rühmten sich „das reinste englische Blut" zu besitzen, „weniger vermischt mit schottischem, irischem, holländischem, französischem, dänischem, schwedischem etc.", wie 1775 John Adams, der spätere Vizepräsident und Präsident der Union rühmte.3) Aber was er dazu setzte, sie stammten von Engländern ab, „welche Europa in reineren Zeiten als der gegenwärtigen verlassen hatten, und welche weniger durch Korruption verderbt waren, als die, welche sie hinter sich ließen", das zeigte doch schon auch den Abstand und die Selbstsicherheit, mit der sie sich über ihre Zeitgenossen erhoben. Sicherlich half das wirtschaftliche Hemmnis, das die merkantilistische Zollpolitik Englands dem Aufkommen eigener Industrien in den Kolonien entgegensetzte, diesen Abstand verstärken; die Wurzel lag doch tiefer: es war der gleiche puritanische Geist, welcher die ,.Pilgerväter" 1620 zur Auswanderung in die neue Welt bewogen hatte, der in diesem Urteil zum Ausdruck kam. Puritanischer Geist durchdrang hier alles. Dem ganzen Leben lag der Glaube zugrunde, berufen zu sein, zur Verwirklichung göttlichen Weltplanes4) und der Wille, sich dieser Berufung würdig zu zeigen. Was dieser Weltplan sei, darüber konnte man freilich verschiedener Meinung sein; dann aber konnte gerade die Überzeugung, Gottes Werkzeug zu sein, in seinem Auftrag zu handeln, zu unerhörter Schärfe gegen Andersdenkende verleiten. 2

) Diese Charakteristik nach Daenell S. 20. ) Bei Hart, S. 63/64. 4 ) Luckwaldt, S. 51/55. 3

— 17 — E s herrschte geradezu eine Tyrannei der öffentlichen Meinung. Unter Gewissensfreiheit verstand man nur die „Freiheit von Sünde und Irrtum". Conscientia in tantum libera in quantum ab errore liberata.6) Im übrigen war strenge Unterwerfung unter die kirchlichen Vorschriften Staatsgesetz (noch bis 1833). Nicht nach Gewissensfreiheit ging hier das Streben, sondern nach Gleichheit.6) Die Keime moderner Demokratie liegen hier; denn dadurch, daß die Formen der Calvinischen Kirchenverfassung auch auf das Staatsleben übertragen wurden, mußten dessen Grundsätze in das politische Leben übergehen. „Die Einrichtungen in Neu-England zur Förderung von Religion, Sitten und Anstand übertreffen alle anderen", hebt Adams in dem oben erwähnten Brief hervor, um kurz danach fortzufahren: „Die Teilung unseres Territoriums (territory), d. h. unserer Grafschaften (counties) in Stadtgemeinden (townships), die die Städte (towns) ermächtigt, sich zu versammeln, Beamte zu wählen, Gesetze zu machen, Straßen zu verbessern und hundert andere Dinge zu tun, gibt jedermann Gelegenheit, jene Erziehung zu zeigen, die er auf dem College oder der Schule erhalten hat und macht Kenntnis und Gewandtheit bei öffentlichen Angelegenheiten allgemein."7) — Geographische Lage, Abstammung, Religion und ein Schulwesen, von dem man rühmte, daß es nirgends in der Welt seinesgleichen habe8), wirkten so zusammen, den Menschen aktiv ins Leben zu stellen und jenen vielgehaßten, vielgeschmähten und vielverspotteten Typ des Neu-Engländers zu schaffen, den demokratischen Yankee: einen selbstsicheren, nüchternen, freudenfeindlichen Menschenschlag, als dessen hervorstechendste Eigenschaften man bezeichnet hat: großartige Selbstsucht, kühnste Spekulationslust und zähe schöpferische Energie.9) Schon durch Klima, Bodenverhältnisse und geographische Lage, die einerseits Anbau von Getreide wie Mais und Weizen gestatteten, anderseits das Aufkommen regen Gewerbes und besonders Handels — Außen- und Binnenhandels — begünstigten, s

) Ebenda, S. 10. •) Troeltsch (Protestantismus und moderne Welt, S. 59) führt die puritanischen Kolonien geradezu als Beispiel für Gleichheit ohne Freiheit an. S. auch später wörtlich: „Sie wußten nicht nur nichts von Gewissensfreiheit, sondern hatten sie geradezu als gottlose Skepsis verworfen." ') S. Anm. 3. Allerdings weist Luckwaldt I, 56 darauf hin, daß es mit der tatsächlichen Gleichheit nicht ganz so gut bestellt war und Standesunterschiede usw. eine ziemliche Rolle spielten; s. a. S l o a n e , S. 16. «) S. Anm. 3. •) Daenell, S. 19. Beiheft d. H. Z. 12.

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war New York zur Verbindung zwischen Nord und Süd prädestiniert. Freilich wirkte das ursprüngliche Neu-Amsterdam zunächst wie ein Keil, den man zwischen die weit voneinander entfernten englischen Kolonien getrieben hatte. Schon 1664 aber, bzw. endgültig 167410) hatten es die Engländer auf Grund der Priorität englischer Entdeckung den Holländern,, die zuvor schon aus ähnlichen Gründen sich die schwedische Kolonie Neu-Schweden angeeignet hatten, fast ohne Schwertstreich abgenommen und in ein New York verwandelt, und nun genossen sie die Vorteile der Toleranz-Politik, die hier von vornherein geherrscht hatte. Gerade das Fehlen jener „Vorzüge", auf die sich die anderen Kolonien so viel zugute taten, der Reinheit einer Kaste, Rasse oder religiösen Anschauung, gerade der Zustrom der Bevölkerung aus aller Herren Länder, war es, was dieser Siedlung das besondere Gepräge gab: Holländer, Deutsche, Franzosen, Schweizer, Juden waren zugewandert und wanderten zu, dabei blieb das holländische Element bis in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts in der Majorität. Das gab dem Leben Vielseitigkeit und Lebensfreude, dabei zugleich Dämpfung zu Wirklichkeitssinn und zähem Gleichmut. Verstärkt wurden diese Elemente durch die nahe Quäkerkolonie Pennsylvanien, für deren Gründer schon Religionsfreiheit nicht nur praktische, stark von wirtschaftlichen Gesichtspunkten bestimmte Politik war, sondern bewußt in die Praxis umgesetzte religiöse Überzeugung. Das spiegelte sich schon in dem Namen jener Hauptstadt Philadelphia, jener „Stadt der Bruderliebe", die damals die größte Stadt des Kontinentes war. — Auch hier lagen Keime des Neuen. Die geeignetsten Männer zur Leitung eines amerikanischen Staatswesens konnten wohl im Süden, in Virginien und seinen Tochterkolonien, entstehen; für die Entwicklung und Klärung eines Staatsbildes, einer Staatsidee mußten die wesentlichsten Elemente aus Norden und Mitte stammen, und ihre Vereinigung konnte zu Neuem führen. Englische Verfassungstradition, germanisches Freiheitsempfinden mochten Grundlagen sein: erst das aus tiefster Überzeugung stammende und zugleich mit zäher Energie in die Wirklichkeit umgesetzte Streben nach gesetzlicher Gleichheit und möglichster Herrschaft des Volks, wie es sich am stärksten in den Puritanersiedlungen von Massachusetts verkörperte, und nach Freiheit des Denkens und Glaubens, wie es sich um New York und Pennsylvanien anbahnte, konnte die Wirklichkeit zu klarem Bewußtsein und bewußt Gewordenes zu neuer Darstellung in der I0 )

Die Daten bei Luckwaldt, Darmstaedter, Hopp, Daenell, Chan-

ning u. a.

— 19 — Wirklichkeit bringen. Zu beidem freilich, zur Klärung politischen Denkens und zur Gestaltung politischen Lebens mußten noch andere, weltlichere Elemente hinzutreten, die jene aus der religiösen Sphäre in die politische übergreifenden Tendenzen nun erst völlig säkularisierten. u ) Diese Ideen stammten nicht aus Amerika selbst, sie waren, wie so vieles andere, aus der alten Welt übernommen, auf die man doch so gerne mitleidig oder mit strengem Richterblick herniederschaute. Sie trafen indes hier, das wurde schon angedeutet und wird noch später auszuführen sein, in dem weiten Koloniallande auf günstigere Vorbedingungen, als in den Staaten Europas, denen lange historische Tradition oft gar zu sehr die Wege zur Weiterentwicklung sperrte oder doch schwerer gangbar machte. „Die Literatur für sich ist niemals produktiv, wenn sie nicht in den historischen und sozialen Verhältnissen einen für ihre Wirkung vorbereiteten Boden findet", bemerkt Jellinek 12 ) mit Recht gerade bei Besprechung amerikanischer Verhältnisse. Aber ebenso gut könnte mein den Satz auch umwenden und sagen: Auch noch so günstige Anlagen zur Gestaltung neuer Formen des Lebens finden erst dann ihre volle Durchbildung, wenn sie durch das Wirken von Denkern und Dichtern aus ihrem Sonderdasein gelöst, in weitere Zusammenhänge gestellt, in größere Aufgaben einbezogen werden. Erst der Glaube, nicht nur für sich oder einen engen Kreis zu kämpfen, sondern zugleich Vortrupp zu sein im Streite für etwas Allgemeingültiges — wenn man will, ein messianischer Glaube — schafft den Mut und die Kraft, sich gerade nun für die Aufgaben eines verhältnismäßig kleinen Bereichs einzusetzen. Dieses Bewußtsein aber, daß es gelte, die Welt jetzt zu erlösen, sie schöneren, klareren, freieren Zeiten entgegenzuführen, war das Leitmotiv der europäischen Aufklärungsbewegung, die um die Mitte des 18. Jahrhunderts sich in immer stärkerem Maße auch die Neue Welt eroberte. Diese Aufklärung war ja von dem neuen Wirklichkeitsbewußtsein der Renaissance ausgegangen. Zwar hatten die Menschen dieser Epoche sich von dem Autoritätsglauben des Mittelalters noch nicht völlig loszulösen vermocht und hatten an Stelle der Autorität der Kirche die der Antike gesetzt. Aber gerade durch die Rezeption der Antike mußten die Augen der Denkenden für die Wirklichkeit geöffnet werden. Und hatte man erst einmal begonnen, die Welt mit offenen Augen zu betrachten, so mußte man bald auch kritisch den überlieferten „Wahrheiten" Griechenu

) Troeltsch, op. cit., S. 58 ff. ) Jellinek, Menschenrechte 1919, S. 41.

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lands und Roms gegenüberstehen, wie das zuvor doch schon den Dogmen der Kirche gegenüber mit mehr oder minderer Konsequenz geschehen war. Man begann sich von aller Bevormundung vergangener Zeiten loszuringen, zögernd zunächst, immer stolzer und selbstsicherer dann. Nichts anderes konnte schließlich mehr Geltung haben, als das, was das eigene kritische Denken in der Welt der Erfahrung erkannt, aus der Erfahrung — innerer oder äußerer — abstrahiert hatte. Befreiung von allen überkommenen Anschauungen, voraussetzungslose Erkenntnis der Wirklichkeit mußte also das erste Streben der Aufklärung sein 13 ); das Mittel dazu, eine kritische Zersetzung alles Gegebenen, ein Suchen nach der Gesetzmäßigkeit, die den gegebenen Verhältnissen zugrunde liege. Die Voraussetzung dazu, der Glaube, daß allem Geschehen solche Gesetze zugrunde liegen, und daß es die Aufgabe und Fähigkeit menschlichen Geistes sei, jene Gesetze oder Prinzipien zu erkennen. Das bedeutete auf die Beziehungen der Menschen untereinander übertragen, den Glauben an ein natürliches Recht, an das Naturrecht. Mit dieser Idee des Naturrechts, die schon aus der Antike stammte, im Mittelalter von religiösen Vorstellungen durchtränkt wurde, und dann von Grotius, Pufendorf u. a. ausgebildet worden war, hatte sich nun zunächst in den Kämpfen um die politische Gestaltung Englands während der „rebellion", „restoration" und „glorious revolution" andere Ideen, die auch schon früher entstanden oder von den bestehenden Verhältnissen abstrahiert worden waren, vereinigt: sie alle faßte am populärsten Locke in seinen beiden Abhandlungen über die Regierung zusammen, die er 1689 erscheinen ließ, um die Rechtmäßigkeit der Revolution Wilhelms von Oranien zu erweisen.14) Wie sah nun in den Grundzügen das Staatsbild aus, das er entwarf? Ursprünglich lebten die Menschen im Naturzustande15), sie hatten vollkommene Freiheit nach ihrem Belieben zu leben und ls ) Vgl. dazu außer den bekannten philos. und staatsrechtl. Werken: Dilthey, Das 18. Jahrh. und die geschichtl. Welt, Dtsche. Rundschau 108; Hoffmann-Linke: „Zwischen Nationalismus und Demokratie", Beiheft 9 der Hist. Ztschr., München 1927; L. Stephen, History of English Thought in the i8th Century, 1876. 14 ) John Locke, Two treatises on government. 7. Aufl. 1772. Der Zweck wird in der Einleitung S. V I I ausdrücklich hervorgehoben. William ist der „restorer". E r hat also gewissermaßen die ursprünglich im Staatsleben vorhandenen Prinzipien nur wieder eingeführt. Vgl. auch Tönnies in der Einleitung zu Kl. d. Pol. 13, S. 2 und S. 17 (Hobbes). 15 ) Locke, II, §4/15. Kurze Wiedergabe auch bei Koch, I, 80 ff., Stephen, II, 135 ff. und Dunning, Kap. X .



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zu wandeln, bis sie sich, um einen Richter für Streitigkeiten und einen Schutz für ihr Eigentum zu haben, das sie sich aus der allen gemeinsamen Natur durch Arbeit angeeignet hatten 18 ), zu einer politischen Körperschaft zusammenschlössen. Das geschah durch einen V e r t r a g 1 7 ) , den der Einzelne mit der Gesamtheit schloß und worin er ihr einen Teil seiner Rechte — vor allem das, sein eigener Richter zu sein — übertrug. Von nun an gelten für ihn nicht mehr die reinen Gesetze der Natur, sondern die der Gemeinschaft, die sie sich unter seiner Zustimmung oder unter der seines Vertreters18) gibt. Aus dem Stadium „natürlicher Freiheit" tritt der Mensch damit in das „menschlicher Freiheit". Freiheit bedeutet hier: alles tun zu dürfen, was die Gesetze nicht verbieten. 19 ) Denn nur auf Grund von Gesetzen, die allgemein bekannt sind, und ordnungsgemäß von der Legislatur gemacht wurden, darf die Exekutive gegen ihn vorgehen, jeder willkürliche Übergriff auf sein Eigentum, das nun definiert wird als „Leben, Freiheit und Besitz", ist verboten; denn gerade die Sicherung des Eigentums ist ja der Grund zur Bildung einer Regierung. Da aber die Exekutive auch das Recht der Prärogative hat, d. h. die Macht, solange die nichtständige Legislative nicht zusammengetreten ist und keine Vorschrift erlassen hat, „ohne Vorschrift des Gesetzes und zuweilen gegen das Gesetz zu handeln" 20 ), kann sie wohl einmal in Versuchung kommen, das Freiheitsrecht der Einzelperson zu verletzen. Dann bleibt dieser nichts als „Appell an den Himmel", d. h. Widerstandsrecht gegen die Obrigkeit. Im übrigen ist die Legislative die oberste Macht, die die Exekutive bestimmt; diese wieder ist geteilt in die föderative Gewalt für Außenpolitik und die eigentliche exekutive Gewalt für Innenpolitik. 21 ) Aber auch die Legislative ist vom Volk absetzbar, wenn sie ihren Zwekken nicht entspricht. Man sieht, dieses Staatsbild verwendet klug alle bestehenden Theorien über Naturrecht, Freiheit und Repräsentation, Volkssouveränität, Staatsvertrag und Widerstandsrecht u. a. m. zur Erklärung der englischen Verfassung. Dieses Bild wurde in Einzel16 )

E b e n d a , § 27 f f .

D a ß E i g e n t u m und W e r t aus A r b e i t entstehen,

ist dort des öfteren m i t aller D e u t l i c h k e i t ausgesprochen.

Einerseits diente

er dadurch den Besitzenden, f ü r die er schrieb, anderseits f ü h r t doch v o n hier ein gerader W e g zu den P h y s i o k r a t e n , §89,

H u m e und

Smith.

")

Ebenda,

128/31.

")

A u f den Gedankensprung, der hier g e m a c h t wird, weist hin K o c h ,

I, 82. » ) L o c k e , II, § 142 und K a p . I X , 20 )

Ebenda

I I , § 160 ff.

§ 123 f f .



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heiten von anderen erweitert, abstrahiert, zum allgemeinen Prinzip erhoben. Denn das Prinzip der Dinge zu erkennen, war ja das Ziel der Aufklärung. Und dabei mußte sich eine merkwürdige Veränderung der Einstellung ergeben: anfangs hatte man ganz naiv angenommen, das Naturrecht sei die Grundlage des bestehenden Rechts, hatte mit naturrechtlichen Theorien nur operiert, um die Rechtmäßigkeit bestehender Einrichtungen mit ihrer Entstehung aus Naturzustand und Staatsvertrag zu erweisen. Jetzt mußte man, zu je voraussetzungsloserer Betrachtimg der Welt man sich erzogen hatte, die Verschiedenheit von Naturrecht und positivem Recht erkennen. 22 ) Diese Wendimg vollzog sich besonders stark in Frankreich, wo Voltaire, Montesquieu, Rousseau als die Wegbereiter wirkten.23) Das Naturrecht war nun nicht mehr bestehendes Recht, sondern sein sollendes, es war nicht mehr Form der Wirklichkeit, sondern wirklichkeitsformende Idee. Das aufstrebende bürgerliche Dichter- und Journalistengeschlecht suchte es gegen die erstarrten Formen des Absolutismus auszuspielen. Das Recht der Einzelpersönlichkeit und ihr Glück •wurde allein zum Ziel und Maßstab. Und einmal als Idee erfaßt, blieben diese Gedanken nun nicht auf ein Volk und ein Land beschränkt, sondern konnten ihren Siegeszug durch die ganze Welt antreten. Die Geister der einzelnen Nationen konnten sich nun beeinflussen, weiterführen, Hand in Hand arbeiten; man konnte jetzt wirklich Weltbürger sein, denn in der ganzen Welt galt es, den gleichen Kampf zu führen: Aufklärung zunächst, Umgestaltung der bestehenden Verhältnisse nach dem geschauten Bilde sodann. Die Einzelheiten sind hier nicht wichtig; jedenfalls aber war es nur zu leicht, daß diese Bewegung der Geister in Revolutionen der Völker enden konnte. Und diese Wirkung sollte sie tatsächlich sehr bald in Amerika zeitigen. Hier war der Boden, besonders in den nördlichen 21

) Ebenda, II, Kap. X I I und X I I I , § 143 ff. ) Ahnlich bemerkt es Troeltsch: Naturrecht und Christentum. Hist. Zeitschr. 106, S. 266/67. 23 ) Montesquieu fahrte in dem berühmten Kapitel (XI, 6) des Esprit des lois die Dreiteilung der Gewalten, wie sie bei Locke angedeutet war, konsequenter durch und erhob sie als a l l g e m e i n e s P r i n z i p , das die Rechte des Individuums sichere. — Rousseau trieb die Lehre von der Volkssouveränität, die auch bei Locke zugrunde lag, aber auch fttr die bestehenden Verhältnisse zugespitzt war, zu extremem Radikalismus; er, wie Pope (Essay on man I), schufen zugleich die romantische Verherrlichung des Naturzustandes. — Voltaire nahm der Zeit den Rest von Bibelglauben und suchte sie dadurch völlig in die moderne Welt zu stellen. 22

— 23 — Kolonien, auch am günstigsten vorbereitet: alle diese Ideen waren ja zuerst unter dem Einfluß religiöser und zumeist puritanischer Vorstellungen, in der Neuzeit ausgebildet worden.24) In Europa hatten sie sich immer mehr von ihrem natürlichen Nährboden entfernt, jetzt, in Amerika, konnten sie gewissermaßen wieder organischer weiterwachsen. Zudem war die Theorie vom Staatsvertrag hier nicht wie in Europa bloße Konstruktion. Standen doch zu Beginn der Geschichte einiger Kolonien wirkliche Staatsverträge, die die Auswanderer beim Betreten Amerikas geschlossen hatten.25) Alle Arten naturrechtlicher Schriften drangen im Verlaufe der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts hier ein; die Handelsverbindung mit Europa hatte ja schon immer auch zu geistigem Austausch geführt. Blackstones Kommentare zum englischen Recht, die den Versuch machten, alle diese Theorien in das bestehende englische Recht hineinzuinterpretieren, dabei aber dem englischen Parlament unbeschränkte Vollmacht zuerkannten, wurden nach dem Zeugnis Burkes in ebenso großer Anzahl in Amerika, wie in England selbst gekauft.26) Grotius, Pufendorf, Locke, Montesquieu, Burlemaqui empfiehlt der junge Hamilton 1775 einem Gegner zur Informierung über das Naturrecht27), Voltaire war bekannt, Rousseaus Einfluß ist mindestens 1776 nachzuweisen (bei Thomas Paine)28), sogar kritischere Geister wie Hume oder Mably wurden von manchem gelesen. Am allgemeinsten bekannt war doch Locke. John Adams hat ihn einen anderen Columbus genannt, der eine neue Welt im menschlichen Geist entdeckt habe.29) Lockes Gedanken waren auch am plansten, allgemeinsten und klarsten. Auch waren sie ja unter ähnlichen Umständen — als Verteidigung einer Revolution gegen absolutistische Theorien — entstanden. Absolutistisch " ) Vgl. Troeltsch, Hist. Zeitschr. 106, S. 263 ff. " ) Siehe Jellinek, Menschenrechte, S. 46 ff. und Macdonald, Bd. I. *•) Richmond Lenox: Burke, .S. 179. Juristische Literatur werde nur noch durch Andachtsliteratur im Verbrauch übertreffen, bemerkt er dazu. " ) Hamilton, Works I, 59. M ) Koch, II. 145. *>) Channing, III, S. 10: John Locke in the second of his " T w o Treatises of Government" set forth the glittering generalities that became the political gospel of the American revolutionists. Schon damals wiesen auch Engländer, wie Channing (III, S. 109, Anm.) zitiert, auf die "evil consequences arising from the propagation of Mr. Locke's demokratical principles" hin.

— 24 — schien ja nun aucn das englische Parlament gegen die Kolonien vorzugehen. So treten Lockes Formulierungen oft beinahe wörtlich in den Beschwerden der Kolonien, ihren Beschlüssen und in deren Begründung durch Schriftsteller und Rechtsanwälte entgegen. „Regierung ist ein bedingter Vertrag zwischen König und V o l k . . . Eine Verletzung dieses Vertrags durch eine der beiden Parteien entbindet die andere ihrer Verpflichtung", konnte Patrick Henry sagen, einer der eifrigsten Verfechter der Freiheit. Und James Otis: „Eine Parlamentsakte, die gegen die Verfassung gerichtet ist, ist nichtig."30) Damit waren die Handhaben gegeben, die eine Lösung der Kolonien rechtfertigten. Wie war es zu diesem Gegensatz zwischen Mutter- und Tochterland gekommen ? Eng war die Verbindung zwischen den Kolonien und England eigentlich nie gewesen. Dazu war die Entfernung der beiden Länder, die Verschiedenheit der Lebensbedingungen zu groß. So hatten es schon die ersten Ansiedler des Nordens für nötig befunden, sich zu „einer politischen Körperschaft" (civil body politic) zusammenzuschließen, der sie die Aufgabe zuwiesen, Gesetze zu geben und Verfügungen zu treffen, wie sie am passendsten und zweckmäßigsten für das Wohl der Kolonie schienen.31) Der Zwang, auf sich selbst gestellt zu sein, die inneren religiösen und politischen Wirren Englands, der zunehmende Wohlstand der Siedler erhöhte ihr Selbstbewußtsein, ihr Freiheits- und Selbständigkeitsgefühl. Sicherlich steigerte auch die Mißwirtschaft englischer Gouverneure oft die Abneigung, wie Burke 1757 bemerkte.82) „Engländer hassen willkürliche Macht, wie sie den Teufel hassen", hat ein Amerikaner 1710 geäußert.33) Über einen „unbändigen Geist von Unabhängigkeit und Unzufriedenheit" berichtet ein New Yorker Gouverneur 1740. 34 ) Am instruktivsten aber ist der Reisebericht eines schwedischen Professors aus dem Jahre 1748, der kurz wiedergegeben sei, weil er Vergangenes und Zukünftiges gut zusammenfaßt.35) Es sei von großem Vorteil für die englische Krone, sagt er da, daß das französische Kanada hart an die englischen Siedlungen 30

) Channing, III, S. 1. ) Im Mayflower-Compact von 1620, s. Mac-Donald, I, S. 33/34. 32 ) Burke in Hart, I, S. 149/50. Dort auch Hinweis auf die Schwierigkeiten der Handhabung des englischen Gewohnheitsrechtes in den Kolonien und die daraus entstehende Macht der Rechtsanwälte. 33 ) John Wise in Hart, S. 1 3 1 . 34 ) Hart, S. 161. 36 ) Peter Kalm, Travels, Worrington, 1770, I, 262/265. Hier nach Hart, I, S. 352/53. 31

— 25 — angrenze. J a , man hätte Grund zu glauben, daß es dem König niemals ernst damit gewesen sei, Frankreich aus seinen Besitzungen zu treiben, er hätte es sonst leicht zuwege gebracht. Denn die Bevölkerung in den Kolonien sei an Anzahl und Reichtum beinahe der Alt-Englands gleich. Nun habe man aber zum Schutze der Autorität und des Handels des Mutterlandes und zu manchen anderen Zwecken die Errichtung neuer Manufakturen verboten; Bergwerksausbeute nur unter der Bedingung gestattet, daß das Gold und Silber sofort nach England gesandt werde; die Freiheit des Handels mit Ausnahme weniger Plätze auf die britischen Besitzungen beschränkt und Schiffe fremder Händler überhaupt nicht zugelassen. „Diese und manche anderen Beschränkungen veranlassen die Bewohner der englischen Kolonien, weniger zärtlich ihrem Mutterland gegenüber zu werden." Diese Kälte werde verstärkt durch die vielen Fremden, wie Deutsche, Holländer, Franzosen, die naturgemäß wenig innere Verbindung mit England hätten. Dazu komme ein ewig unbefriedigtes Bestreben nach Vergrößerung des Reichtums, und so führe ihre übergroße Freiheitssucht und ihr Luxus oftmals zu Zügellosigkeit. — Nicht nur Amerikaner, auch Engländer hätten ihm versichert, die nordamerikanischen Kolonien würden im Verlauf von 30—50 Jahren einen eigenen unabhängigen Staat bilden können. Aber da das Land auf allen Seiten ungeschützt sei und besonders die Franzosen im Norden eine immerwährende Bedrohung darstellten, wären die Kolonien auf den Schutz ihres Mutterlandes angewiesen. „Die englische Regierung hat also genügend Grund, die Franzosen in Nordamerika als bestes Mittel zu betrachten, um die Kolonien unter ihrer Botmäßigkeit zu halten." Man erkennt hier deutlich die Kräfte: der Handel, das Freiheitsgefühl, geboren aus religiösem und zugleich merkantilem Geist, führte von England weg; zu ihm hin zwang äußere Gefahr. Wie nun, wenn diese wegfiel ? Mußten dann nicht bald die Loslösungstendenzen allein herrschend werden und die letzten Reste einer Anhänglichkeit aus Blutsverwandtschaft und Tradition beseitigen ? Daß dieser Zustand nun wirklich eintrat, als durch den Siebenjährigen Krieg Frankreichs Besitz in der neuen Welt an England kam, ist allgemein bekannt. Nun, nach 1763, konnte sich der Gegensatz des jungen, ungestümen Volkes gegen das schon bedächtiger gewordene Stammvolk auswirken. Denn das ist doch in der Tiefe der eigentliche Gegensatz, der sich hinter den Einzelerscheinungen verbarg: Neues, das zur Gestaltung drängte, stieß an Altes, das es hinderte; eine aktiv vorwärtstreibende Bewegung traf auf eine Tendenz nach



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Beharrung oder, wie man gesagt hat, dynamische Kräfte kämpften gegen statische.36) Das England der sechziger Jahre war in seinen führenden Schichten eben nicht mehr das England Lockes und der glorious revolution, es war das England Humes geworden, des ruhigen, kritisch prüfenden Betrachters.37) Nicht mehr Kampf für Freiheit war die Tendenz, sondern beharrlicher Ausbau. Anders in Amerika. Dort stand gerade Kampf für Freiheit im Vordergrund und als ihr Apostel galt Locke. Damit vereinigte sich nun die kritisch richtende Gesinnung des Puritanertums des Nordens, von der zu Eingang des Kapitels gesprochen wurde. Und wirklich gab es auch vieles an den bestehenden politischen Verhältnissen Englands zu tadeln. Nahm die übrige Welt auch lange Zeit Voltaires und Montesquieus Idealisierungen des Engländers und der englischen Verfassung für bare Münze, die englischen Kolonisten kannten die Wirklichkeit besser: sie wußten, daß das Parlament alles eher als eine freiheitliche Vertretung des Gesamtvolkes war38); sie kannten, wenn nicht aus eigener Erfahrung, so mindestens aus Erzählungen, aus Zeitungen, aus Büchern, das Leben und Treiben der herrschenden Aristokratie, den oft grundsatzlosen Kampf der Whigs und Tories um die Ministerstellen mit dem raffiniert ausgebildeten Korruptionswesen, die Unsicherheit der Politik von König und Parlament.39) So konnte schließlich aus verhältnismäßigen Kleinigkeiten der Streit zu offenem Ausbruch gelangen. Der äußere Anlaß war die Zollpolitik. Um die Ausgaben für die Kolonien während des letzten Krieges zu decken, und um die Kolonien fester an das 36) Diese Auffassung in fast allen neuen Darstellungen, wodurch die Schuldfrage hinfällig wird. Am klarsten ausgesprochen von Charles M. Andrews: The American Revolution, an Interpretation; Amer. Hist. Rev. vol. 31, Nr. 2, S. 219/33. Vgl- auch Oliver, S. 21 ff.; S. 22: "The evil was hindrance, not tyranny". " ) S. darüber Lennox: Burke, Kap. II, S. 26 ff. und Leslie Stephen, Bd. II, 185. Es regte sich wohl auch hier heftige Opposition, p o l i t i s c h war sie indes noch von geringem Einfluß. as ) Ob es irgendeinen vernünftigen Grund dafür geben könne, daß 160000 Wähler in den britischen Inseln den 4000000 Einwohnern der amerikanischen Staaten Gesetze geben sollten, konnte Thomas Jefferson in einer Streitschrift, (A Summary View of the Rights of the British-America usw., Writings I, S. 436, 1774) fragen. sa) Eine gute Illustration bieten die zeitgenössischen Memoiren, wie Chesterfield, Letters to his son (Tauchnitz-Leipzig 1918); Last journals of Horace Walpole from 1771—1783 (London 1910). Vgl. auch die Schilderung der Adelsherrschaft bei Dibelius I, 14 ff.

— 27 — Mutterland zu binden, wollte man die Handelsgesetzgebung, die bisher mehr auf dem Papier als in Wirklichkeit existiert hatte, straffer durchführen. Zunächst wollte man einige Regimenter englischer Soldaten zur Unterdrückung des Schmuggels lind befürchteter Unruhen in Amerika belassen.40) Schon dagegen, gegen die Gefahr des miles perpetuus, des Bollwerks des Absolutismus, wie man zu erkennen vermeinte, erhob sich Opposition. Sie wurde verstärkt, als 1764 und 1765 Zucker- und Stempelsteuer eingeführt werden sollten. Es entstand die prinzipielle Frage, ob die Krone berechtigt sei, die Kolonien zu besteuern. Man verneinte sie. Es gehöre unbestreitbar zur Freiheit eines Volks und sei das unbezweifelte Recht jedes Engländers, daß ihm keine Steuer auferlegt werde, ohne seine Einwilligung, die er persönlich oder durch Vertreter geben könne; da aber die Kolonien im englischen Parlament nicht vertreten seien und sein könnten, vielmehr die einzige Vertretung der Kolonien in den Kolonialparlamenten bestehe, hätten diese allein das Besteuerungsrecht und die Akte der englischen Regierung seien hinfällig.41) So formulierte es zunächst noch in ruhigem Tone im Sinne Lockes der Stempelaktenkongreß 1765 in einer Petition an den König. Gleichzeitig aber gründete man einen Verein zur Nichteinfuhr englischer Waren; eine ungeheure Erregung entstand im Volk. Und nun wich die englische Regierung unsicher Schritt für Schritt zurück, suchte dazwischen wieder einmal vorzugehen und erhöhte so Selbstbewußtsein und Widerstandskraft der Kolonisten. Als schließlich, lediglich um das Besteuerungsrecht formal zu wahren, nur noch der Teezoll blieb, kam es zu der bekannten Versenkung der Teeschiffe im Hafen von Boston unter offensichtlicher Billigung der dortigen Behörden. Jetzt war ein Kampf kaum mehr zu vermeiden, England ging scharf gegen die rebellierende Stadt vor, die anderen Kolonien erklärten sich nach und nach solidarisch, mehr aus einer unbestimmten Furcht vielleicht — wie man bemerkt hat —, aus einer Besorgnis vor den Ereignissen, die kommen könnten und aus einem instinktiven Bedürfnis nach Freiheit von Beschränkungen, als aus ernst erwogenen Gründen. Am 5. September 1774 kam es zum ersten „kontinentalen Kongreß". Die Beschlüsse, die er am 14. Oktober faßte, waren fast noch die gleichen wie 1765. 40

Ende.

) Die wichtigsten Akte und Petitionen bei Mac-Donald I, 258 bis

41 ) Ebenda, S. 313/15. Das stand im Gegensatz zu der erwähnten Theorie Blackstones von der Omnipotenz des Parlaments. Vgl. dazu auch die spätere Bemerkung Hamiltons in der Konvention von Philadelphia. Works I, S. 392/93.



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Aber der Ton war schärfer und drohender geworden, die Begründungen klarer und geschliffener, reines Naturrecht. Eines aber zeigte doch am deutlichsten den Wandel seit 1765: man sprach nicht mehr von Kolonisten und guten Untertanen: „Das gute Volk dieser Kolonieh", „das amerikanische Volk", „Amerikaner" waren die Bezeichnungen. „Amerikaner", schloß die Resolution nach Aufzählung der Rechte der Kolonisten als Engländer und Menschen und der Akte, die danach gesetzlos seien, könnten sich derartigen Bedrückungen nicht unterwerfen. Da man aber die Hoffnung auf Wiederherstellung des Zustandes von vor 1763 noch nicht aufgegeben habe, habe man sich entschlossen, vorerst friedliche Gegenmaßnahmen zu ergreifen: bei Volk und Krone zu petitionieren, zugleich aber eine Nichteinfuhr-, Nichtausfuhr- und Nicht-Verbrauchsverpflichtung gegen England einzugehen.42) Das war nun nicht weit von offenem Widerstand entfernt. Längst nicht alle waren mit diesem Vorgehen einverstanden. Die verschiedenen wirtschaftlichen und persönlichen Beziehungen, wie sie die Bewohner der einzelnen Kolonien zu England hatten, kamen jetzt zur Geltung. Ein reger Streit um die Richtigkeit jener Kongreßbeschlüsse entstand, zahlreiche Schriften für und gegen sie wurden veröffentlicht. Es war bei dieser Gelegenheit, daß auch die beiden Erstlingsschriften des jungen Hamilton erschienen. 3. D e r A u s d r u c k von Z e i t und P e r s ö n l i c h k e i t in den ersten S c h r i f t e n H a m i l t o n s . Es war nicht das erste Mal, daß Hamiltons Name in der Öffentlichkeit genannt wurde, als seine beiden Pamphlete erschienen. Schon kurz vorher einmal hatte der siebzehnjährige Student in einer großen Versammlung der Freiheitspartei gesprochen und Staunen und Bewunderung erregt.1) Zwei Parteien waren ja in den letzten Jahren entstanden, die sich nun immer heftiger befehdeten: die Patrioten oder Whigs, die Loslösung oder wenigstens Beschränkung der Oberhoheit Englands auf ein Minimum forderten, und die Loyalisten oder Tories, deren Wunsch — wie ja schon ihr Name ausdrückt — war, auf den bestehenden gesetzlichen Einrichtungen weiterzubauen, das englische Imperium in seiner bestehenden Form zu erhalten. Ganz besonders scharf waren in New York die Meinungen aufeinandergeplatzt. Eine Reihe von Umständen konnte hier zum Widerstand gegen die " ) Mac-Donald, S. 356/361. ') J.C.H.I.22.

— 29 — Loslösungstendenzen führen.2) Die ungeschützte geographische Lage, die Verschiedenheit der Bevölkerung nach Rasse und Religion, der Gegensatz von Land- und Handelsinteressen, die Stimmung einer reicher werdenden Geldaristokratie, wie sie hier immer mehr entstand und sich gemeinsam mit dem konservativen Landadel über das Volk erhob. Demgegenüber hatte es schon früh Vorkämpfer für die Unabhängigkeit gegeben; sie waren von der Behörde, die hier stets englandfreundlich war und lange blieb, zu Gefängnisstrafen verurteilt worden und waren nun über den Weg des Märtyrertums zu den Helden des Tages geworden. Sogar zur Versenkung einer Teeladung war es schließlich nach dem Vorbild Bostons gekommen.3) Englandfreundliche und englandfeindliche Meinungen waren es so, die gleicherweise auf Hamilton einstürmten. In dieser Atmosphäre entstehen seine beiden Schriften zur Verteidigung des Kongresses. Sie haben für uns besonderes Interesse, weil sie sein Denken um diese Zeit zeigen, die Einflüsse sehen lassen, die auf ihn wirkten, und die Art, wie er sich mit ihnen auseinanderzusetzen wußte. Versuchen wir also, sie uns in dieser Hinsicht klarzumachen. Zunächst erschien am 15. Dezember 1774 eine fast fünfzig Seiten starke Schrift mit dem Titel: »Verteidigung der Maßnahmen des Kongresses gegenüber den Verleumdungen seiner Feinde in Antwort auf den offenen Brief eines „Westchester Farmers" usw.4) Sie enthält nicht viel anderes, als was in ähnlichen Schriften jener Zeit auch erscheint, angefangen von dem weitschweifigen Titel bis zu dem etwas demagogischen Schlußappell an die Farmer der Provinz New York. Es werden die bekannten naturrechtlichen Theorien in keckem, selbstbewußtem Ton vorgetragen, ohne wesentliche Umgestaltung. Man erkennt in dem Schreiber einen Jüngling, der von der Zeitströmung erfaßt und zugleich stolz darauf ist, wie tief er die verschlungenen Verhältnisse durchschaut. Er ist begeistert von der großen Aufgabe Amerikas, vom Kampf gegen „den furchtbaren Angriff auf unsere 2

) J . C. H. I, 14/23; A. von Ende, New York, Berlin 1909, S. 36 ft. ) 18. April 1774. 4 ) Der volle Titel lautet: A f u l l V i n d i c a t i o n of the Measures of Congress from the calumnies of their ennemies, in answer to a letter under the signature of a Westchester Farmer; whereby his s o p h i s t r y is exposed, his c a v i l s confuted, his a r t i f i c e s detected and his w i t ridiculed, in a general adress to the inhabitants of America, and a particular to the Farmers of the P r o v i n c e of N e w Y o r k . Veritas magna est et prevalebit — Truth is powerful and will prevail. New York: Printed by James Rivington 1774. (Works, I, 1/50.) 8

— 30 — Rechte".5) Die Maßnahmen des Kongresses sind völlig gerechtfertigt. Die Beschlüsse für alle bindend „und verlangen gewissenhafte (religious) Beachtung". Hin und wieder bricht dabei doch schon Eigenes durch, so wenn er auf den Einwurf, der Kongreß habe „dem Zweck seiner Erwählung nicht entsprochen, sondern sei auf eine unrechte und schädliche Art des Vorgehens verfallen", mit edlem Pathos fragt: „Wer will da Richter sein ? Soll irgendein Individuum seine private Meinung den gemeinsamen Beratungen von Männern entgegenstellen, auf welche Amerika so hohes Vertrauen gesetzt hat. Der Versuch würde keinen kleinen Grad von Anmaßung und Selbstzufriedenheit erfordern."6) Schon in dieser Einordnung zeigt sich der Sinn des politischen Menschen, dem der einzelne wenig, das gemeinsame Ziel alles gilt. Dieser politische Sinn tritt deutlicher hervor im zweiten Teil, wo er die zuvor als gerecht gebilligten Maßnahmen des Kongresses auf ihre politische Zweckmäßigkeit hin prüfen will. Daß eine Politik gut sei, dazu seien drei Dinge nötig, leitet er diesen Abschnitt ein. „Erstens, daß die Notwendigkeit der Zeit sie erfordere, zweitens, daß sie nicht die wahrscheinliche Quelle größerer Übelstände sei als die, welche sie zu heilen vorgibt, drittens, daß sie eine Wahrscheinlichkeit des Erfolgs habe."7) Und nun versucht er konsequent nach diesen Gesichtspunkten die Beschlüsse des Kongresses zu rechtfertigen. Manche klugen Bemerkungen fallen dabei auf; so etwa, wenn er darauf hinweist, daß der Premier von England schon zu weit gegangen sei, als daß er mit Sicherheit noch zurückkönnte8), oder wenn er England mit Rom vergleicht, das wegen seiner Gerechtigkeit und Milde berühmt war und doch gegen seine Provinzen mit Grausamkeit vorging.9) Das mochten ja alles auch Meinungen der Umgebung sein, ebenso etwa, wie die Überschätzimg amerikanischer Macht und die Ansicht, England werde es im äußersten Falle deshalb nie zum Kampf kommen lassen, — auch in der Auswahl, die ein Mensch aus den ihn umgebenden Eindrücken vornimmt, offenbart sich schon sein Wesen, jede Auswahl ist ja zugleich Bewertung. „Individualität" hat man formuliert10), „bildet sich dadurch, daß ein bestimmtes inneres Lebensgesetz Teile der Außenwelt anzieht oder abstößt und die von ihm angezogenen ') •) ') 8) ») 10)

Works, I, S. 7. Ebenda, 7/8. Ebenda, 13. Ebenda, S. 11. Works, I, 15. Meinecke, Die Idee der Staatsraison, S. 23.

— 31 — Teile zu einer singulären Einheit verbindet". Von diesem Gesichtspunkt aus bekommt das Forschen nach Einflüssen erst seine volle Bedeutung. Gerade in dieser Beziehung aber aufschlußreicher als die erste ist die zweite, nur kurze Zeit später entstandene Schrift, die auch in Inhalt und Ausführung der ersten weit überlegen ist. Auf eine Erwiderung des angegriffenen „Westchester Farmer" erscheint sie am 5. Februar 1775 unter dem Titel „der Farmer widerlegt oder eine umfassendere, unparteiische Betrachtung der Streitigkeiten zwischen Groß-Britannien und den Kolonien" usw. 11 ) Zur Antwort auf Einwände gezwungen, dringt er hier tiefer ein, versucht sich und den Lesern die Frage in allen Details klarzumachen. Dabei treten nun offener die philosophische Fundierung, die Gesamtansicht, die benutzten Werke zutage, besonders da er nicht mit Zitaten spart und mit dem Stolz und Ehrgeiz des frühreifen Jünglings alles auskramt, was sich aus Schule, Leben, Lektüre nur irgend verwerten läßt. So können wir hier besser die Grundlagen erkennen, auf denen sich sein Denken aufbaut, und die Art, wie es sich der Welt bemächtigte. Er beginnt mit ironischen Angriffen auf die Beweisführung seines Gegners.12) Dann gibt er dessen Kompliment, das Leser entwaffnen sollte, er habe seine Gedanken brillant ausgedrückt, kühl zurück, um ihm zu sagen, daß er „nach nichts anderem gestrebt habe als nach Richtigkeit des Gedankens. „Ich wendete mich an die Urteilskraft (judgement), nicht an die Einbildungskraft (imagination)."18) Nun geht er auf die Angriffe seines Gegners ein. „Im Naturzustande sei der Mensch völlig frei von allem Zwang, von Gesetz und Regierung; und dann müsse der Schwache sich dem Starken n ) Works I, 51/169: "The Farmer Refuted or a more comprehensive and impartial View of the Disputes between Great Britain and the Colonies. Intended as. a further Vindication of the Congress, in answer to a Letter from a Westchester Farmer, entitled a Viev.- of the Controversy between Great Britain and her Colonies, including a Mode of determining the present Disputes finally and effectually, etc. B / a sincere friend to America. Tituli remedia pollicentur, sed pyxides ipsie venena continent. — The title promises remedies, but the box itself poisons. N.-Y. 1 7 7 5 . " Lt. Anm. des Herausgebers der Schriften ist der Verfasser des Gegenpamphlets ein Dr. Seabury, ein Geistlicher. " ) I, 54. Dabei zitiert er Pope fehlerhaft, also wohl aus dem Gedächtnis, was auf ziemliche Bekanntschaft mit den Werken dieses Dichters schließen läßt. " ) I. 58.

— 32 — unterwerfen", hatte jener gesagt. 14 ) „Wenden Sie sich unverzüglich dem Studium des Naturrechts zu," erwidert Hamilton. „Ich würde Ihnen Grotius, Pufendorf, Locke, Montesquieu, Burlemaqui zur Durchsicht empfehlen." Er könne noch andere nennen, doch diese dürften zu seiner Aufklärung genügen. „Denn es besteht eine starke Ähnlichkeit zwischen Ihren politischen Prinzipien und den Anschauungen von Hobbes, sodaß man, wollte man darnach urteilen, Sie sehr leicht für seinen Schüler halten könnte." Er könne also nicht an Gott glauben, wenn er es auch betone; denn moralische Verpflichtung stammte nach Hobbes aus der „Einführung der bürgerlichen Gesellschaft". Tugend ist also nur „eine Erfindung von Politikern zur Aufrechterhaltung sozialer Verbindung". 15 ) „Der Grund aber, weshalb er (Hobbes) sich in diese absurde und gottlose Doktrin verrannte, war, daß er nicht an die Existenz eines vernünftigen, alles beherrschenden Wesens glaubte, das Lenker und schließlicher Richter des Universums ist." 16 ) Ablehnung also des Machiavellismus oder — was jener Zeit das gleiche ist — des Hobbismus aus den gleichen moralischen Gründen, mit denen seine ganze Umgebung ihn ablehnt, das ist es, was aus diesen Worten spricht. „Gute und kluge Menschen haben zu allen Zeiten eine ganz andere Theorie angenommen", nämlich die des Naturrechts — und nun zitiert er wörtlich Blackstone — , „das so alt ist wie die Menschheit selbst und von Gott selbst diktiert wurde" 17 ), und deshalb „in seiner verpflichtenden Kraft über jedem anderen Recht s t e h t . . . Kein menschliches Recht gilt, wenn es ihm widerspricht; und solche, die gültig sind, leiten ihre Autorität, direkt oder indirekt, von diesem Original ab". Das Ziel der Gesellschaft aber, führt er weiter mit Blackstone aus, ist, „die Individuen in dem Genuß jener absoluten Rechte zu beschützen, mit denen sie durch die unveränderlichen Gesetze der Natur begabt wurden". So also, ganz im Banne revolutionärer Modemeinung, ist seine Anschauung, solange er sich in den Regionen abstrakter Theorie zu bewegen sucht. Sobald er sich nun aber den wirklichen Verhältnissen zuwendet, den Beziehungen Englands zu Amerika, wird das Urteil anders. Das Parlament englischer Wähler sei keine geeignete " ) Ebenda 58, 59. " ) Ebenda. » ) Ebenda, S. 60. 17 ) Ebenda, 61. Als Quelle wird nur der Name Blackstone angegeben, er war so allgemein bekannt, daß dies genügen konnte. Siehe Blackstone, Commentaries on the Laws of England (4. Aufl. Dublin 1771), Bd. I, Einleitung: Von der Natur des Rechts im allgemeinen.

— 33 — Vertretung für die Kolonien, denn es werde immer für England sorgen, aus „Egoismus, jenem mächtigsten Anreiz menschlichen Handelns" 18 ), oder Eifersucht; denn diese „ist eine vorherrschende Leidenschaft der menschlichen Natur und die Quelle der größten Übel". 19 ) Diese pessimistische Einschätzung der menschlichen Natur kann aus religiösen Vorstellungen übernommen sein, in dem Gegensatz zu den kurz vorher erwähnten Äußerungen wirkt sie indes mindestens merkwürdig. Dieser Eindruck wird dadurch verstärkt, daß zum Beweis nun Hume, „ein berühmter Schriftsteller", herbeigezogen wird, aus dessen Essay über die Unabhängigkeit des Parlaments eine längere Stelle wörtlich zitiert wird. Hume billigt hier die Meinung, die „politische Schriftsteller als Maxime aufgestellt haben", daß bei Bildung und Handlungen von Regierung und Verfassung „jedermann als ein Schurke angesehen werden sollte, der kein anderes Ziel bei allen seinen Handlungen hat als sein Privatinteresse". Durch dieses Interesse müsse man ihn regieren und zur Mithilfe am allgemeinen Guten bringen, sonst hätten alle Errungenschaften einer Verfassung keinen Sinn. „Es ist deshalb eine richtige politische Maxime, daß jedermann als Schurke genommen werden muß. Wenn es auch gleichzeitig etwas seltsam erscheint, daß eine Maxime in der Politik wahr sein sollte, die in der Wirklichkeit falsch ist." 20 ) Um sich aus diesem Dilemma zwischen politischer und Privat-Ethik zu retten, führt Hume an, daß „Menschen im allgemeinen anständiger in privater als in öffentlicher Eigen18 ) "Seif interest, that most powerful incention of human nature." Bei Blackstone (I, 40) heißt das nur: "Seif love that universal principle of action." Im Sinne konnte Hamilton diese Stelle wohl haben, aber sie ist doch charakteristisch verschärft. Bei Blackstone wird diese Selbstliebe zu einem von Gott in den Menschen gelegten Grundprinzip, um das Naturrecht, das zu seinem Glück diene, zu erkennen. Von jenem Glücksstreben erscheint bei Hamilton nichts. 1 ') I, 69. Jealousy is a predominant passion of human nature and is a source of the greatest evils. Dieses Wort „Jealousy", das hier und besonders dann in späteren Schriften immer wiederkehrt, ist schwer zu übersetzen: Eifersucht, Neid, Argwohn, Mißtrauen liegen in ihm. 20) Works I, 70/71. I n A n m . : Hume, vol. 1, Essay V. — Welche Ausgabe Hamilton vorlag, ist durch die ungenauen Angaben Allan McLane Hamiltons, der ein Verzeichnis der erhaltenen Bibliothek gegeben hat, schwer festzustellen. In der Ausgabe London 1753, 4. Aufl., erscheint das Zitat aus Essay V I I I , S. 64/65, in der neueren Ausgabe von Green und Grose, London 1865, die hier benutzt wird, Bd. III, S. 117 ff. Vgl. auch Beilage A ; über den Zusammenhang mit Machiavelli (Disc. I, 3) s. Beilage B, Anm. 9.

Beiheft d. H. Z. 12.

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— 34 — schaft" seien. Ehre sei ein Hemmschuh für viel Böses. Aber wenn Menschen in einer Partei zusammen handelten, verliere dieser Hemmschuh viel von seiner Wirkung; auch dadurch, daß fast überall Majoritätsbeschluß gelte und die Majorität der Menschen von ihrem Eigennutz getrieben werde, bestimme dieser meist mehr als die Sorge für das allgemeine Wohl die Handlungen politischer Körperschaften. Man sieht, Autoritäten für fast entgegengesetzte Ansichten werden hier nebeneinander angeführt. Nun konnte freilich von der einen zur anderen sich eine Brücke schlagen lassen: Nahm man einmal mit Locke und seinen Nachfolgern an, daß der Staat zum Schutze der Eigeninteressen des einzelnen gegründet sei, so konnten sich bei genauerer, vorurteilsfreierer Untersuchung eben dieser Eigeninteressen starke Zweifel an der Güte der menschlichen Natur einstellen. Dann konnte man aber schwerlich mehr die Kraft aufbringen, sich den Staat als Zwingherrn zur Erziehung des Menschen zum Guten vorzustellen, wie Machiavelli und Hobbes; das England Humes war vielmehr nur zu leicht geneigt, den Menschen tolerant bei seiner Natur zu belassen und eben diese böse Natur durch einen kunstvollen Mechanismus zu segensreicher Wirkimg für die Gesamtheit einzufangen, wie die gefährliche Explosivkraft des Dampfes zum Antrieb der Dampfmaschine. Hier aber, bei Hamilton, ist doch von einer solchen Verbindung wenig zu sehen. Was hier entgegentritt, ist vielmehr offenbar der Konflikt zwischen strenger sittlicher Forderung und den Erkenntnissen tatsächlicher Wirklichkeit, zwischen den Theorien der ihn umgebenden Welt und ihren Handlungen, zwischen dem ethischen und dem politischen Menschen in ihm selbst. Deprimierend wirkte auf ihn zunächst der Riß, der oft zwischen den Deklamationen seiner Zeitgenossen und ihren Handlungen klaffte und sich besonders in den immer stärker auch auf Amerika übergreifenden Korruptionswesen äußerte. „Was für einen Einfluß Ämter, Pensionen und Ehrenstellen auf die Gesinnung der Menschen haben, können wir leicht entdecken, indem wir das frühere Verhalten einiger unter uns dem gegenwärtigen gegenüberstellen", sagt er einmal.81) Viele seien aus begeisterten Vorkämpfern für die Freiheit Amerikas zu Gegnern geworden. Dazu kam nun — jetzt auch mit den Worten Humes ausgesprochen, wie in der ersten Schrift schon mit eigenen — die Einsicht, daß freiheitliche Regierungen, obwohl sie „im allgemeinen ») Works, I, 135.

— 35 — für die, welche an ihrer Freiheit teilnehmen, die glücklichsten sind, doch die schädlichsten und drückendsten für ihre Provinzen sind".22) Das käme von dem Unterschied her, den gerade freie Staaten zwischen sich und ihren Provinzen machten und machen müßten, bis die Menschen lernen, „ihre Nachbarn wie sich selbst zu lieben".23) Es ist also ein Fehler, willkürliche Gewalt nur einem absoluten Königtum, also etwa Frankreich, zuzuschreiben, ein Parlament könne sie in stärkerem Maße ausüben, wenn ein Teil der Beherrschten nicht in ihm vertreten sei. Und nun kommt zur Erklärung dieser Tatsache seine eigenste innere Erfahrung dazu und man wird unwillkürlich an jene erste kindliche Äußerung über seinen eigenen Ehrgeiz erinnert, wenn er nun bestimmt ausspricht: „Liebe zur Macht ist den meisten Menschen eingepflanzt und es ist nur zu natürlich, sie zu mißbrauchen, wenn sie erworben ist." 24 ) Oder später: „Es verrät eine Unkenntnis der menschlichen Natur, anzunehmen, daß ein durch Jahre hindurch entworfener und gereifter Anschlag auf die Freiheiten eines Volks durch die bloße Kraft von Bitten vereitelt werden könnte. Menschen müßten aufhören, so machtliebend zu sein, wie sie es sind, bevor dies eintreten könnte."25) So gibt es also gegen den „Machtdurst des englischen Parlaments", der so natürlich ist, daß das „Volk Groß-Britanniens" „eine Art höheres Wesen" sein müßte und nicht zu der „allgemeinen entarteten Rasse der Sterblichen gehören, wenn es nicht gerne das Interesse und Wohl Amerikas seinem eigenen opferte"26), nur das eine Mittel: Widerstand, und zwar mit allen Kräften. „Denn wenn ein ganzes Volk angegriffen ist, kann kein Gesetz gelten, das es verhindert, sich jede notwendige Hilfe zu verschaffen."27) Hier können die Gedanken des Naturrechts wieder als Stütze dienen, auch mit ihnen ließ sich ja Gewaltpolitik in vielen Fällen rechtfertigen. „Wenn die ersten Prinzipien menschlicher Gesellschaft verletzt und die Rechte eines ganzen Volkes angegriffen werden, können die gewöhnlichen Formen munizipalen Rechtes nicht beachtet werden. Die Menschen können dann ihre Zuflucht zum Naturrecht nehmen", und bei Übereinstimmung mit diesem sind ihre Handlungen gerecht" ) Works, I, 78, Anm. Vgl. dazu Anm. 9 dieses Abschnittes und Hume, Philos. Wks. III, 101—103. " ) Ebenda. M ) Works, I, 114. A fondness for power is implanted in most men, and it is natural to abuse it when acquired. Vgl. oben Abschnitt 1.

") I. 136/37») I, 78/79.

") I. 155. 3*

— 36 — fertigt. „Es gibt Ereignisse, auf die sich menschliche Gesetze nicht erstrecken." „Kurz, wenn menschliche Gesetze den Mitteln widersprechen, die zur Erhaltung der wesentlichen Rechte einer Gesellschaft dienen, dann vereiteln sie das eigentliche Ziel aller Gesetze und werden daher null und nichtig." 28 ) Denn bürgerliche Gesetze sind ja nur Abwandlungen der allgemeinen Freiheitsgesetze der Natur für die besonderen Verhältnisse eines Volkes. „Bürgerliche Freiheit ist nur natürliche Freiheit, geformt und gesichert durch die Sanktionen der bürgerlichen Gesellschaft." Zwischen den herrschenden Anschauungen der Menge und den kritischen Gesichtspunkten aus eigener Lektüre und eigener Erfahrung sucht also Hamilton zu vermitteln; dies aber immer nur, solange er Ansichten irgendwie philosophisch begründen will.29) Selbständig, reif und sicher ist indes sein Urteil auch in dieser Schrift, sobald er sich wieder der Politik zuwendet. Zwar meint er auch hier noch, England werde es schließlich nicht zu einem Krieg kommen lassen, überschätzt wohl auch, wie die meisten seiner Zeitgenossen, nicht nur in Amerika, die schädliche Rückwirkung, die ein Verlust der amerikanischen Kolonien auf England haben müßte. Aber die Art, wie er all dies begründet, zeigt doch tiefen natürlichen Instinkt für politisches Geschehen: Die alten Feinde Englands nämlich, sagt er sich, würden im Kriegsfalle sich wieder erheben; auf die Einwendung, das sei nicht sicher, bestenfalls eine Möglichkeit, antwortet er in erhobener Sprache: „Ursachen müßten nicht mehr ihre gewöhnliche Wirkung haben, wenn dies nicht eintritt. Fürsten und Nationen müßten aufhören, ehrgeizig und habsüchtig zu sein. Die Franzosen müßten aus einem eifersüchtigen, politischen und unternehmungslustigen zu einem nachlässigen, stumpfen und ihr eigenes Interesse nicht beachtenden Volk werden." 30 ) Etwas Wünschenswerteres als Uneinigkeit zwischen England und den Kolonien könne es für Frankreich gar nicht geben. Staatsraison oder, wie er sich ausdrückt, „jedes Diktat von Politik und Interesse würde es zur Förderung (dieser Uneinigkeit) durch jedes mögliche Mittel treiben"; denn sie sei das beste Mittel, „die wachsende Macht seines großen Rivalen" zu zerstören. „Die Versprechungen von Fürsten und Staatsmännern sind von ge28)

Works, I, 129. Works, I, 79. Man spürt seine Unsicherheit dabei, wenn er etwa Spinoza „jenen berühmten Sophisten" nennt, mit dem man auch beweisen könne, daß englisches und amerikanisches Volk das gleiche sei; denn man könne ja mit ihm sagen, sie seien nur der Modalität nach verschieden, aber der Substanz nach dasselbe. M)

— 37 — ringem Gewicht. Sie binden nie länger, als bis sich eine starke Versuchung bietet, um sie zu brechen, und häufig werden sie mit schlechten Hintergedanken abgeschlossen."31) Die gegenwärtige, scheinbar friedliche und englandfreundliche Politik Frankreichs, meint er weiter, sei „nur eine List, um die Regierung in gewaltsame Maßnahmen gegen die Kolonien hineinzutölpeln (dupe), damit es sie dann zu seinem eigenen Vorteil ausnützen" könne.82) Frankreich würde bestimmt nichts, was in seiner Macht läge, versäumen, „um die Opposition auf unserer Seite so kräftig zu machen, wie es unsere Angelegenheiten nur gestatten würden". Sucht er sich so die machiavellistische Politik seiner Zeit, die unverbunden neben den neuen Theorien einherging33), ohne irgendwelche Beschönigung klarzumachen, so übersieht er dabei nicht, neue Faktoren, die in die Politik hineinspielen. Der Sieg Englands über Amerika sei, auch wenn dieses ohne fremde Hilfe bleibe, in einem etwa entstehenden Kriege durchaus nicht sicher. Zwar hätten die englischen Truppen bessere Disziplin und militärische Übung. Aber Überzahl, Furchtlosigkeit und vor allem „jene Beseelung, die eingeflößt wird durch den Wunsch nach Freiheit und die Liebe zum Vaterland" 34 ), kann diese Vorteile aufwiegen. „Denn es liegt ein gewisser Enthusiasmus in der Freiheitsidee, der die menschliche Natur über sich selbst hinaushebt in Handlungen von Tapferkeit und Heroismus."35) Corsica sei ein Beweis dafür, das gezeigt habe, wie weit ein Volk in Verteidigung seiner Freiheit gehen könne, auch der Sieg der Russen durch ihre Tapferkeit unter Peter dem Großen über die viel besser ausgebildeten Truppen der Schweden.36) So würde auch Amerika, falls es zum Krieg käme, seinen Mann stehen. — Man spürt das Aufflammen ehrlicher Begeisterung, das Drängen jugendlichen Ehrgeizes nach Krieg und Ruhm und Heldentum, aber immer wieder dämpft Vernunft und Einsicht dieses Sehnen und den hervorbrechenden Groll gegen Englands Tyrannei. Und vielleicht auch mehr als bloße Vernunft und Einsicht; denn oft wieder scheint es, als läge gerade das Wesen englischer Staatskunst ihm nahe. „Seine Sympathien waren aristokratisch, und er war mit einer Achtung vor Tradition geboren", hat man von 30

) «) S2 ) J3 ) »*) ss ) s «)

I. i57I, 161. 1,162. Vgl. auch Meinecke, Staatsraison, S. 341 ff. I. 158. I, 156. I, 160.

— 38 — ihm gesagt.87) — So klingt es sehr glaubhaft, wenn er zu Anfang des „Farmer refuted" schreibt, er habe zunächst auf englischer Seite gestanden und sei erst durch die Kraft der Argumente bei einem Besuch in Boston von der Gerechtigkeit amerikanischer Ansprüche überzeugt worden.38) Gerade auch das immer neue Rechtfertigen dieser Ansprüche bestärkt in dieser Auffassung. Sie waren ihm nicht selbstverständlich, immer neuer Kampf zwischen Gefühl und Vernunft, Liebe zur Tradition und Erkenntnis der Notwendigkeit muß die Wahrheit zutage bringen. Zuerst wird das Verhältnis prinzipiell untersucht. Denn „der beste Weg, Streitigkeiten zu entscheiden und Wahrheit zu suchen, ist, zu Grundprinzipien herabzusteigen".89) Nachdem damit die Berechtigung erwiesen, werden nun mit recht gründlicher Kenntnis die Charter der einzelnen Kolonien durchgegangen und das Rechtsverhältnis zwischen Krone und Kolonien geprüft. Sicherlich läßt sich dabei mancher Fehler nachweisen, aber die Gründlichkeit des Nachforschens ist doch bemerkenswert. Ein starker Sinn für Recht und Gerechtigkeit spricht daraus, der leicht die Ideen seiner Zeit zur Stütze verwenden kann. So klingt es wie ein Geständnis, wenn er nach Untersuchimg der Charter und Begründung auch der Ansprüche New Yorks, das keinen Charter besitzt, die Worte ausspricht, die man für so charakteristisch für ihn gefunden hat, daß man sie seinen Werken als Motto vorausschicken konnte: „Nach den heiligen Rechten der Menschheit braucht man nicht in alten Pergamenten und muffigen Urkunden zu stöbern. Sie sind wie mit Sonnenstrahlen in das ganze Buch der menschlichen Natur eingeschrieben durch die Hand der Gottheit selbst und können durch menschliche Macht niemals ausgemerzt oder verdunkelt werden."40) Und ebenfalls klingt es durchaus wie seine wahrhafte Meinung, wenn er bei aller Berechtigung amerikanischer Ansprüche, doch die Beziehungen zwischen Mutter- und Tochterland nicht völlig gelöst haben möchte.41) Der König soll die Oberhoheit und das Recht zur Regulierung des Handels behalten. Er (Hamilton) sei „ein warmer Advokat der beschränkten Monarchie und ohne Verstellung ein Freund der jetzigen königlichen Familie", setzt ") ") ") 40) ")

Oliver, S. 28. Works, I, 52. I, 72. I, 108. (Im Original mit großen Lettern und gesperrt gedruckt.) I, 76, 114 und an anderen Stellen.

— 39 — er hinzu.42) Aber darauf, allgemeines Oberhaupt zu sein, solle die königliche Macht auch beschränkt bleiben, in innere Verhältnisse stehe ihr Einmischung nicht zu. Jede Kolonie sei mit ihren eigenen Angelegenheiten am besten vertraut: „Laßt jede Kolonie ihre eigene innere Politik verfolgen, und alles wird gut sei."41) Dezentralisation also, deren Bekämpfimg dann doch sein ganzes späteres Leben gewidmet sein sollte. Mische sich die Krone in Fragen innerer Politik, so würde gerade das Gegenteil ihrer Absicht erreicht — „eine beständige Eifersucht würde auf beiden Seiten bestehen. Diese würde auf der einen Seite zu Tyrannei, auf der anderen zu Widersetzlichkeit und Rebellion führen. Steuern, die nicht an sich drückend wären, würden doch so empfunden werden, und das Murren, das darüber entstände, würde als Folge einer aufrührerischen, unlenkbaren Gesinnung betrachtet werden. Diese widerstreitenden Grundkräfte würden schließlich alles in Unordnung stürzen und zu einem nicht wieder gutzumachenden Bruch und völliger Spaltung führen."44) So faßt er mit scharfem psychologischen Eindringen die tatsächlichen Gegensätze gegen Schluß zusammen und nimmt damit die spätere Entwicklung des Konfliktes voraus. Die Wirkung, die diese Schriften auf ihre Zeitgenossen hatten, ist hier nicht zu untersuchen. Sicherlich war sie keine kleine, — daß man die Aufsätze längere Zeit so angesehenen und einflußreichen Männern wie Jay und Livingstone zuschreiben und Hamilton als den „Befreier des Kongresses" in der Diskussion zitieren konnte48), ist ein Beweis dafür. Wichtiger für unsere Betrachtung ist es, uns in einer zusammenfassenden Überschau nochmals die darin auftretenden Tendenzen und ihre Grundlagen klarzumachen. Zwei Betrachtungsweisen fanden wir zunächst unausgeglichen und manchmal in offener Disharmonie nebeneinander: die philosophisch-rechtliche und die politische. Starke Abhängigkeit von Umgebung und herrschendem Zeitgeist fanden wir bei der ersten; naturrechtliche Ideen werden hier ohne Prüfung angenommen und frisch " ) I, 168. Scharf lehnt er die übertriebene Feindschaft gegen das Königtum ab, die bisweilen so weit ginge, daß man in der Bibel die Worte „King, Kingdom" mit „Civil magistrate, Parliament, Republic" ersetzte (I, 98 Anm.). " ) I, 115. Vgl. damit den Brief vom 3. Juli 1787 (VIII, 175), wo er feststellt, daß man zu einer ähnlichen Regierungsform kommen müsse, wie die, welche man während der Revolution aufgegeben hatte. " ) I, 169. «) J. C. H„ I, 37.

— 40 — für die Argumentation verwertet, Blackstones Einleitung zu seinen Kommentaren des englischen Rechts erscheint als wesentlichste Quelle, wenn auch die bedeutendsten anderen Vertreter dieser Gedanken genannt und sicherlich zum Teil gekannt sind. Ein starkes persönlich empfundenes Gerechtigkeitsgefühl trat dabei als Voraussetzung entgegen. — Frei und selbständig war indes sein Blick, sobald er sich der politischen Wirklichkeit zuwandte. Hier zeigte sich schon klare Erkenntnis des Staates als Macht im Kampf mit anderen Mächten. Der Einzelne im Staatswesen erscheint ebenso, getrieben von Egoismus und persönlicher Machtliebe. — Als Vermittlung zwischen diesen beiden Ideen, von denen die eine den Menschen als im Wesen gut, die andere als schlecht nahm, wird mit Hume der Gedanke von der Verschiedenheitmenschlichen Empfindens und Handelns in politischer und privater Sphäre eingeführt. Dabei erkannten wir, daß doch auch mit dem Naturrecht selbst sich manchmal Überleitungen finden ließen. — In der Methode fällt ein Bemühen auf, den Dingen auf den Grund zu gehen, sie so vorurteilsfrei wie möglich zu betrachten, im Stil leidenschaftlicher und doch immer wieder gebändigter Vortrag, der den Kampf zwischen glühendem Wollen und kühler Überlegung verrät. Ein Drang nach Veränderung — aus Jugend und Zeit geboren — kämpft mit dem Wunsch nach Erhaltung von Tradition und Ruhe. Die Frage der Staatsform ist wenig berührt, sie stand nicht im Vordergrund des Interesses, eine gewisse Unbekümmertheit herrschte ihr gegenüber. Nur, daß er nicht Republikaner ist, läßt der Verfasser erkennen. Das alles zeigt sich überhaupt nur in Ansätzen; Ausgereiftheit des Urteils und der Darstellung kann man von solcher Jugend nicht erwarten. Aber Möglichkeiten der Entwicklung bieten diese Ansätze nach verschiedener Richtung; nach welcher am stärksten, läßt sich dabei schon vermuten. Daß es kein Philosoph ist, der spricht, sondern ein werdender Staatsmann, ein Mensch, den es zum Handeln treibt und der dabei natürlichen Instinkt für gegeneinanderwirkende Kräfte hat, drängt sich der Betrachtung als Resultat immer wieder auf. Die Frage war dabei, wieweit er sich vollständig von den Anschauungen seiner Umwelt würde loslösen können, oder besser, ob seine Kraft stark genug war, daß sie unter der Einwirkung umfassenderer eigener Erfahrung die dem Milieu entnommenen Bausteine zu einem einheitlichen und eigenartigen Gebäude zusammenzufügen vermochte. Das mußte sich in den folgenden Jahren erweisen.

— 41 — Kapitel II.

Die Entstehung der Staatsidee Alexander Hamiltons. i. D i e E r f a h r u n g e n der K r i e g s j a h r e bis 1780 und die ersten K o n z e p t i o n e n eines S t a a t s b i l d e s . Gelegenheit zu weiteren Erfahrungen sollte Hamilton bald bekommen. Der Konflikt zwischen England und den Kolonien spitzte sich immer weiter zu. Auf Proklamationen, Parlamentsakte und Pamphlete waren schon Handlungen gefolgt: Im April 1775 war es bei Lexington, im Juni bei Bunkershill zu blutigen Zusammenstößen zwischen englischen Truppenteilen und amerikanischen Kolonisten gekommen.1) Das trieb in Amerika die Entrüstung, zornige Erregung und Angst vor neuem gewaltsamen Geschehen auf den Höhepunkt. Man erblickte in dem Vorgehen der Engländer ungerechtfertigte Schärfe und Grausamkeit — oder gab es wenigstens vor. Jedenfalls stieg def Wille zum Widerstand. In England wiederum geriet man in immer stärkeren Unwillen über die „Rebellion" der Kolonien. Stolz, Starrheit, Unterschätzung des Umfangs der revolutionären Bewegung und, wie Hamilton richtig bemerkt hatte, die Tatsache, daß man schon zu weit vorgegangen war, um noch mit Ehre nachgeben zu können, trieben zur Gewalt. Die Kaufleute in den großen Städten Englands waren damit ja wohl nicht einverstanden, ihre Vorstellungen konnten die Regierung gelegentlich einmal schwankend machen, aber nicht mehr zu entschiedenem Einlenken bringen.2) Im Parlament war zudem ihr Einfluß nur gering. Auch in Amerika hatte man sich am 8. Juli 1775 noch einmal auf das Drängen der versöhnlicheren Partei im Kongreß mit einer Petition8) an den König gewandt, die Überbringer waren nicht mehr empfangen worden. Zwei Tage früher hatte auch schon der Kongreß in feierlicher Proklamation4) die Gründe dargelegt, die zum Ergreifen der Waffen gezwungen hätten: nicht Ruhmgier oder Eroberungssucht trieben sie in den Kampf. Aber sie würden x) J. C. H., Luckwaldt, Channing, Hart und vor allem Mac-Donald. Für die englische Stimmung s. das Annual Register 1774/83 (Burke). 2) Lord North's Conciliatory Resolution vom 27. Februar 1775 (MacDonald, I, 367) war darauf zurückzuführen. Sie wollte die Steuerfestsetzung amerikanischen Kolonialparlamenten, die Verwendung der Gelder dem englischen Parlament zubilligen. Dieses Zugeständnis ging den Amerikanern nicht weit genug. S. auch den Report darüber Mac-Donald, I, 385. 3) 4)

Mac-Donald, I, 381/85. Mac-Donald, I, 374/381.

— 42 — lieber als freie Männer sterben, denn als Sklaven leben.6) Zugleich übernahm Washington den Oberbefehl über die „kontinentale" Armee. Die Engländer sperrten die Häfen 6 ), schnitten den Seehandel der Kolonien mit dem Ausland und untereinander ab; nur New York und Nordkarolina waren ausgenommen, die man immer noch glaubte, bei sich halten zu können. Das wieder schloß die Bedrohten enger zusammen; man bekam das Gefühl starker Einheit und Kraft: „Unsere Sache ist gerecht, unsere Einheit ist vollkommen. Unsere Hilfsquellen im Innern sind groß, und wenn es nötig ist, ist fremde Hilfe unzweifelhaft erreichbar." 7 ) So drückte sich die Stimmung in der oben erwähnten Proklamation aus. Man drängte zu aggressivem Vorgehen. Ein Angriff auf Kanada schlug indes fehl. Die Bevölkerung dieser Kolonien — meist katholisch — zögerte sehr, sich den Revolutionären anzuschließen; man besorgte sich um die Aufrechterhaltung des katholischen Glaubens.8) Dafür nun hatten die Engländer in einem Parlamentsakt Vorsorge getreffen, indem sie die früheren, den Katholiken und besonders den Geistlichen günstigeren französischen Gesetze wieder in Kraft setzten. Wenn nun auch die Amerikaner Tolerierung versprachen — ihre Zeitungen zeigten doch viele andere Stimmen: Stimmen der Entrüstung über den Versuch der Engländer, durch einen einfachen Parlamentsakt ohne Befragung 4er Kolonialparlamente die „papistische Religion" aufzurichten. „Willkürliche Macht und ihre große Maschine, die papistische Religion", formuliert Hamilton in einem der beiden gegen die Verfügung gerichteten Zeitungsartikel.9)" Es werde immer klarer, daß Englands Despotismus die eigentliche Gefahr sei, nicht NeuEnglands „Republikanismus, Frömmelei und Intoleranz". Das war es also, was die New Yorker am meisten fürchteten: den Radikalismus der Puritaner des Nordens. „Der Name Republik . . . war ihnen ein Schrecknis, fast mehr noch als die Trennung vom Mutterlande an sich; sie fürchteten, die unausbleibliche Folge würde Anarchie sein." 10 ) Diese Besorgnis war nicht ohne 6 ) Mac-Donald, I, 380. Im weiteren: " W e exhibit to mankind the remarkable spectacle of a people attacked by unprovoked ennemies, without any imputation or even suspicion of offence." Das zeigt auch, wie der Blick immer auf das weite Forum der „Menschheit" gerichtet war. •) Mac-Donald, I, 368/374. I, 389. I, 391/96. ') Mac-Donald, I, 380. 8 ) Luckwaldt, I, 114. •) Remarks on the Quebec bill. Works, I, 1 7 3 ff. Nach J . C. H „ I, 45/46 veröffentlicht am 15. 6. 1775. 10 ) Luckwald, I, 1 1 3 .

— 43 — Grund. Ausschreitungen kamen des öfteren vor. — Wie Hamilton darauf reagierte, zeigt ein für sein Wesen ungemein charakteristischer Brief. Ein Reitertrupp aus Massachusetts war gewaltsam gegen die royalistische Presse New Yorks vorgegangen, hatte die Lettern zerstört und andere Terrorakte begangen. In großer Erregung schreibt Hamilton an Jay, einen New Yorker Deputierten im kontinentalen Kongreß11), man solle diese Angelegenheit nicht gering nehmen; er kenne zwar den Schaden, den diese Presse anrichte, trotzdem müsse er die Handlung verurteilen. Denn sie diene dazu, „einen Geist von Unordnung in einer Zeit zu nähren", in der die Menschen schon von selbst nur zu geneigt dazu seien. In Zeiten der Erregung führe die Leidenschaft die Menschen leicht zu Extremen, besonders die ungebildeten Schichten; „wenn deren Sinne von der Bindung an alte Einrichtungen und Wege gelöst werden, scheinen sie schwindlig zu werden und mehr oder weniger geneigt, in Anarchie zu treiben". Diese Prinzipien, die schon an sich nur zu wahr und für ihn noch durch Lesen und eigene Erfahrung bekräftigt seien, verdienten die Aufmerksamkeit der Leiter der öffentlichen Angelegenheiten. „In solchen stürmischen Zeiten ist größte Geschicklichkeit bei politischen Leitern nötig, tun die Menschen in Ordnung und in rechten Grenzen zu halten." Daß Unregelmäßigkeiten zu erwarten seien, wisse er. Nichtsdestoweniger seien sie gefährlich und sollten durch jedes mögliche „kluge und gemäßigte Mittel verhindert werden". Das läßt schon sehen, wie sehr das Streben nach Ruhe und Ordnung bei ihm im Vordergrund stand, wie wenig Revolutionsromantik in ihm war. Der Politiker aber lenkt den Blick noch auf weitere Konsequenzen: zunächst sei erschwerend, daß die Tat von Bewohnern Neu-Englands ausgeführt sei. Dulde oder billige man eine solche Handlung, so werde es zu Anmaßung auf der einen, zur Verstärkung der „Antipathien und der Angst vor neuen Gewaltsamkeiten" auf der anderen Seite führen. Zugleich aber werde dadurch bei den Feinden die Meinung entstehen, New York sei völlig auf Englands Seite, da man aus anderen Kolonien habe eingreifen müssen. Dem müsse man vorbeugen, man müsse die Handlungen also mißbilligen. Das hätte zur Folge, daß der Kongreß in das Ansehen von unparteiischer Gerechtigkeit käme, während die Englandfreunde doch zugleich gesehen hätten, daß sich das amerikanische Volk nicht alles gefallen lasse. — Der Gegensatz von Anfang und Schluß des Briefes in Gedankengang und Ton ist auffallend: Erregung über die Unruhe zu Anfang, " ) Text des Briefes in Int. Life, S. 24/27.

— 44 — aber im Lauf des Schreibens doch schon ein Besinnen, wie sich der Schritt politisch verwerten ließe. Für den Politiker ist jede begangene Tat, so unangenehm sie sei, ja immer eine Möglichkeit, die er auf irgendeine Weise für sein Ziel benutzen kann. Immer stärker ergreift so die Kampfbewegung den Jüngling. Bald beteiligt er sich nicht mehr nur durch Rede und Schrift. Einem allgemeinen Aufruf zur Bildung von Freiwilligen-Kompagnien folgt er Ende 1775. E r verläßt die Universität, die er im Herbst I773 1 2 ) bezogen und wo er sich neben den allgemeinen Fächern — alte Sprachen, Mathematik und Philosophie — wie es scheint, auch noch mit Anatomie beschäftigt hatte, und tritt in eine Freiwilligen trappe, die „Hearts of Oak" (Eichenherzen) ein. Dort erhält er die erste militärische Ausbildung. Im März 1776 übernimmt er bereits als Kapitän eine Artillerie-Kompagnie der New Yorker Miliz; ein Jahr später wird er in den Generalstab Washingtons als Sekretär mit dem Rang eines Oberstleutnants berufen, wo er während der Hauptzeit des Krieges bis zum Frühjahr 1781 verbleibt. Eine ziemlich reichhaltige Korrespondenz, die er dort dienstlich und privat führt, gibt einen Einblick in den Gang seines Lebens, in die Formung seines Denkens, in die Entstehung und Klärung seines Staatsbildes. Denn im eigentlichen Sinn kann man erst von dieser Zeit sagen, daß sie ihn zu eigenen Gedanken über das Wesen, die Notwendigkeit und den Aufbau staatlichen Lebens führte. Als Betrachter hatte er sich zuvor schon manches klarlegen können; zu letzter Gewissenhaftigkeit seinem Denken gegenüber wurde er hier erzogen, wo es galt, Gedachtes an den Tatsachen zu messen und in den Tatsachen Wirklichkeit werden zu lassen. Und auch hier erst konnte er ja die Notwendigkeiten erkennen. In dem Streit mit England war die Frage nur Treue zu England oder Abfall gewesen. Oder mit den revolutionären Worten: Sklaverei oder Freiheit. Freiheit, das bedeutete etwas durchaus Negatives, nicht Beherrschtwerden, Unabhängigkeit. Der Streit hierüber war nun entschieden, das letzte Band zerschnitten. Nachdem man im Frühjahr des Jahres 1776 Boston schließlich „befreit" hatte, hatte man nach langem Schwanken und nach Disputen unter den einzelnen Staaten die denkwürdige Unabhängigkeitserklärung erlassen. Die bekannten naturrechtlichen und zumeist aus Locke stammenden Argumente waren hier in packendster 12) Alle biographischen Angaben nach J. C. H. und Int. Life. Eine gute Zusammenstellung der wichtigsten Lebensdaten und Ereignisse der Zeit in tabellarischer Form am Schlüsse der Biographie Olivers.

— 45 — und knappster Form zusammengefaßt, um eine Loslösungsmöglichkeit zu erweisen; die „Gewaltakte" der englischen Regierung einzeln aufgeführt, um die tatsächliche Loslösung zu rechtfertigen. Schließlich waren feierlich die Kolonien zu freien und unabhängigen Staaten erklärt und ihre Vereinigung unter dem Namen „Vereinigte Staaten von Amerika" konstituiert worden.13) Die Loslösung war also vollzogen; jetzt galt es, sie zu verteidigen und an Stelle des bisherigen Regiments ein neues zu schaffen. Für die Einzelstaaten war das weniger schwierig, wo man Erfahrung bereits durch den Anteil an der Regierung hatte. Schwieriger mußte es für eine Zentralregierung sein, mit der man sich bisher fast nur insoweit beschäftigt hatte, als man sie bekämpfte. Die Verhandlungen, die der Kongreß darüber führte, waren langwierig, das Ergebnis war eine lose Vereinigung in Form eines Staatenbundes. 14 ) Jeder Staat wollte soviel Macht behalten, wie irgend angängig. So war die Macht des Kongresses eine sehr beschränkte und zweifelhafte. In dem Aufflammen erster ehrlicher Begeisterung mochte er sich durchsetzen; wieweit er sich in den Zeiten kühlen und zähen Aushaltens und Kämpfens bewährte, mußte sich erst zeigen. Unter dem Druck der Bedürfnisse des täglichen Lebens und des Kampfes erst konnte man sich von den abstrakten Lehren loslösen, die hier noch immer über Gebühr das Denken beherrschten, und konnte Erfahrung sammeln, wie man das Staatswesen zu formen habe. Diese Klärung der Meinung der Gesamtheit konnte nur erfolgen über dem Wege der Erfahrung des einzelnen. Diese Erfahrung wieder konnte zunächst nur auf Teilgebieten gesammelt werden. Je inniger sich deren Fragen mit den Fragen des ganzen Staatswesens verflochten zeigten, desto eingehender mußte auch die Erkenntnis sich mit diesen selbst beschäftigen. Zeitliche Umstände und persönliches Schicksal, das ihn in die Mitte der Ereignisse stellte, waren also recht geeignet, Hamilton 13 ) Die Würdigungen, die man von vielen Seiten jener Unabhängigkeitserklärung hat zuteil werden lassen, sind bekannt. Vgl. besonders Ranke, Epochen der neueren Geschichte, S. 128 ff. Wesentlich für diese Untersuchung ist sie nur insofern, als sie eben jene Ansichten der Zeit knapp zusammenfaßt und damit zeigt, wie weit sie in das allgemeine Bewußtsein übergegangen waren. Dadurch wird auch Jeffersons Behauptung, er habe bei der Abfassung kein Buch benützt, glaubhaft, obwohl man Locke in jedem Worte spürt. 14 ) Confederationsartikel u. a. bei Mac-Donald, II, S. 6 ff. Selbst diese Form war erst 1778 von der Mehrheit, 1784 von allen Staaten ratifiziert worden.

— 46 — einen Einblick in politisches Leben zu geben. Zeiten großer Umwälzungen, soviel Unerfreuliches sie für Gesamtheit und Einzelpersonen bringen mögen, haben ja immer den einen großen Vorzug, daß sie die Menschen zu schärferem Nachdenken über die den Erscheinungen zugrunde hegenden Kräfte zwingen. Und daß sie diese Erscheinungen im Zerfallen und Werden zeigen und dadurch dem Betrachter die Bedingtheit und zugleich das wahre Wesen leichter erkennen lassen. Das Gefühlsleben mag dabei oft schmerzvoll erschüttert werden, Verstand und Vernunft werden gereinigter und ungetrübter aus den Kämpfen hervorgehen. Aus der Zeit, in der Hamilton seine Kompagnie führte, sind wenig Briefe erhalten. Doch aus diesen ist manches zu erkennen, was einen Einblick in die bestehenden Verhältnisse gibt. In einem Brief an den Provinzialkongreß von New York klagt der junge Offizier über Ungleichheiten in der Bezahlung.15) Man hatte ja zwei verschiedene Arten von Truppen: die sog. kontinentale Armee und die Milizen der einzelnen Staaten. Beide waren auf Anwerbimg basiert. Dabei nun zeigten sich leicht Verschiedenheiten: die kontinentale Armee habe die Löhnung erhöht, berichtet Hamilton, ein anderer Kapitän der Miliz werbe auch zu erhöhten Bedingungen, schon keime Unzufriedenheit in seiner Kompagnie, und es bestehe Gefahr, daß sie zu den besser bezahlten Armeeteilen übergehe. Auch gebe man bei anderen Truppen einen Kittel als Anwerbungsprämie. — Über mangelhafte Verpflegung klagt er zwei Monate später in einem Brief.19) Über eine zu besetzende Offiziersstelle schreibt er ein andermal. Es sei eine ordnungsgemäße Beförderung notwendig. „Es würde viel Unannehmlichkeiten schaffen, wenn niedrigere Offiziere nicht im Rang aufrücken würden," meint er. Was er sich unter einem guten Offizier vorstellt, zeigt dabei die Schilderung eines Mannes, den er zur Beförderung vorschlägt: „Er versteht sehr gut Disziplin zu halten," rühmt er, „er besitzt den Vorzug, ziemlich viel Dienst in Deutschland gesehen zu haben, hat eine genügende Portion gesunden Menschenverstand und wird den Rang eines Offiziers und gentleman nicht entehren". Seine Beförderung werde ein anfeuerndes Beispiel sein für alle Männer, die davon hörten.17) Das sind Kleinigkeiten, sicherlich. Aber schon sie zeigen den Mangel an Einheitlichkeit, der von vornherein herrschte und ls)

26. Mai 1776. Works, VII, 473/74. 26. Juli 1776. Works, VII, 475. " ) August 1776. Works, VII, 475/6. M)

— 47 — sich im weiteren Verlauf des Krieges stets steigerte. Und einem Menschen, der gewohnt war, auch Kleinigkeiten ernst zu nehmen, und der zugleich sich durch rastlose Lektüre weiterzubilden suchte, wie es von ihm bezeugt ist, mußten diese Einzelheiten sicherlich zu denken geben. Sehr instruktiv sind in dieser Beziehung die Notizen, die er sich in ein von ihm geführtes Zahlbuch seiner Kompagnie machte.18) Zunächst finden sich da Hinweise auf Bücher, die er las oder deren Titel er sich zu späterer Lektüre notiert hatte, wahllos durcheinander: Rousseaus Emile, historische Werke über antike, modern-europäische und amerikanische Geschichte, Bacons Essays, Hobbes' Dialoge, Montaignes Essays, Humes Essays, antike Autoren wie Plutarch, Cicero, Demosthenes, Aristoteles, daneben Notizen über Stoffe, die ihn interessieren, und Zitate aus Werken, die er gelesen. Auf einzelne dieser Bemerkungen ist in späterem 'Zusammenhange zurückzukommen. Hier ist nur die Feststellung wichtig, daß sein Geist bemüht war, Theorie und Praxis zugleich zu erfassen und miteinander in Verbindung zu bringen. Daß sämtliche Bemerkungen politischer oder wirtschaftlicher Natur sind, ist dabei erwähnenswert. Reichhaltig ist die erhaltene Korrespondenz von dem Zeitpunkt an, da er in Washingtons Generalstab tritt. Er hatte, so scheint es, nicht nur untergeordnete Tätigkeit: er nahm Teil an Beratungen zur Entwerfung von ScMachtplänen, half bei ihrer Ausführung; er führte eine umfassende dienstliche Korrespondenz, die immer selbständiger wird; dazu kamen fortlaufende „private" Berichte an ein eigens zur Korrespondenz mit ihm gebildetes Komitee des Provinzialkongresses von New York und manche andere Stellen, abgesehen von der eigentlichen Privatkorrespondenz, die den politischen Charakter doch auch nur in den seltensten 18 ) Dieses pay-book, das die reichsten Aufschlüsse über das Aufkeimen eigener Gedanken und Ober benatzte Literatur gibt, wurde aus unbekannten und unverständlichen Gründen von Lodge in seiner Ausgabe der Hamiltonschen Werke, die allein in Deutschland zugänglich ist, ausgeschieden. Durch freundliche Vermittlung des Herrn Bernhard Bamberger, dem ich auch an dieser Stelle dafflr danke, gelang es mir, eine Abschrift aus der Ausgabe der Werke ed. J. C. Hamilton (New York 1851) aus dem Britischen Museum verschafft zu bekommen, die als Beilage im Anhang wiedergegeben wird. Hinweis auf dieses Zahlbuch bei J. C. H., I, 53. Es trägt das Datum 31. August 1776, doch scheint dies nur das Datum zu sein, an dem das Buch begann. Es ist wahrscheinlich, daß er es mindestens bis zum Eintritt in den Generalstab benützte, für seine persönlichen Bemerkungen offenbar sogar noch längere Zeit.

— 48 — Fällen verleugnet. „Die Feder unserer Armee wurde von Hamilton geführt," sagt ein Zeitgenosse.19) Und bald wachsen sich diese Briefe in Memoranda an einflußreiche Persönlichkeiten und in offene Briefe an die Gesamtbevölkerung aus, in denen die einzelnen Erfahrungen und Erkenntnisse zusammengefaßt und zu Plänen zur Änderung geformt sind. Verfolgen wir die Entwicklung im einzelnen! Wenig eingegangen werden kann hier auf die Schilderungen der militärischen Lage, die naturgemäß einen sehr breiten Raum einnehmen. Sie zeigen ihn als kundigen Offizier20), der bemüht ist, sich die Lage ohne Beschönigung vorzustellen, der die Befehle seines Vorgesetzten sicher und klug ausführt, und der, wie es ihm Washington bestätigt, wo eigene Initiative notwendig ist, auch ohne Auftrag und, wenn nötig, gegen den Auftrag Dispositionen treffen kann. Das war wohl häufig nötig: Unregelmäßigkeiten in Anwerbung und Bezahlung und Verpflegung schufen, wie erwähnt wurde, oft Schwierigkeiten. Die mangelnde Disziplin bei den Truppen und der Eigenwille einzelner Heerführer verstärkte sie und ließ Befehlen oft ungenügende Ausführung, wenn nicht gar Weigerung folgen. Eine Mission, die er Ende des Jahres 1777 auszuführen hat, Truppen aus den nördlicheren Kampfgebieten, wo sie durch den Sieg von Saratoga entbehrlich geworden waren, zur Unterstützung Washingtons etwas mehr nach dem Süden in die Gegend von* Philadelphia zu ziehen, zeigt die unerquicklichen Verhältnisse ganz deutlich. Jeder General hatte seinen eigenen Plan, der ihm allen anderen weit überlegen dünkte.81) Zu förmlichen Parteiungen für und gegen Washington kam es schließlich. Was man an ihm auszusetzen hatte, war vor allem seine vorsichtige und zögernde Haltung, die man für Feigheit oder Schwäche auslegte. „Aber wer schärfer sieht," schreibt Hamilton. schon im Juni 1777 22 ), „wird unschwer einsehen, daß sie von der richtigsten Politik ausgeht und ein Argument weder für die eine (Feigheit) noch die andere (Schwäche) ist". Denn die Freiheit Amerikas sei ein zu großer Einsatz, als daß man waghalsig sein könne. Wenn die Engländer auf großen Machtzuwachs bauen könnten, die Amerikaner mit dem Ausbleiben von Truppen ) J . c. H., I, 69. ) In der Erzählung weiterer Ereignisse soll hier nur das erwähnt werden, was aus Hamiltons Korrespondenz ersichtlich ist. Dies allein läßt erkennen, wie stark einzelne Ereignisse nind Zustände auf ihn wirkten. 21 ) J . C. H., I, S. 95. Atherton, A few letters, S. 17/42 (dort auch die Instruktion Washingtons vom 30. Oktober). Works, VII, 521 ff. 22 ) Brief vom 28. Juni 1777. Works, VII, 502 ff. 18

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— 49 — rechnen müßten, dann müßte man auf rasches Vorgehen drängen. Aber es sei ja umgekehrt. Die Amerikaner hätten als sichersten Bundesgenossen die Zeit; denn die politische Lage müsse sich immer stärker zu ihren Gunsten entwickeln. „Alle europäischen Seemächte sind an der Niederlage der britischen Waffen in Amerika interessiert und werden sie unterstützen." Damit wendet er sich der Außenpolitik zu, deren wesentlichste Züge er wieder klar zeichnet. Von der Unterstützung der Engländer durch deutsche Truppen geht er auf Friedrich den Großen über, dessen Macht er so hoch einschätzt, daß er dies „durch einen Wink" unterbinden könne. Durch die Teilung Polens habe er auch maritime Interessen bekommen. England selbst habe keine unbegrenzte Truppenmacht und könne wegen der drohenden politischen Zuspitzung in Europa nicht die gesamte Macht auf Amerika konzentrieren. Da Amerikas Heer derweilen im Wachsen begriffen sei, könne es durch Verzögerung nur gewinnen. Die Zwischenzeit sei allerdings schmerzlich für die Bewohner der Städte, die die Beute des Feindes würden, für die Soldaten, die sich vom Kampf zurückhalten müßten: „Aber ein Teil muß eben dem Ganzen aufgeopfert werden," schließt er mit bestimmten Worten, „und Leidenschaft muß der Vernunft Platz machen". — So fließen in den Briefen Krieg, Außenpolitik und innere Verhältnisse ineinander, stehen in gegenseitigem Zusammenhang. Wie sehr der Sieg von Saratoga auf den endgültigen Abschluß des Bündnisvertrages mit Frankreich gewirkt hatte, und wie sehr dieses Bündnis wieder numerische Stärke und zugleich Zuversicht des amerikanischen Heeres erhöhte, war jedem erkennbar. Auch die Finanzen standen mit den Kriegsereignissen naturgemäß in Zusammenhang. Die Folge einer Einnahme Philadelphias, heißt es einmal in einem Briefe23), wäre „Entwertung unserer Währung, die durch die Bedeutung, die man Philadelphia beilegt, nicht ausbleiben könnte". Mit den Finanzen stand es ja in der Tat übel; da der Kongreß keine großen Steuern erheben konnte, um sich nicht dem Vorwurf auszusetzen, er verlange mehr als das Mutterland, mit dem man darum in den Kampf geraten war, mußte er zur Druckerpresse seine Zuflucht nehmen.24) Im August 1776 hatte er bereits 20 Millionen Dollar Papiergeld in Umlauf gebracht. Dazu kamen noch die Scheine, die die Einzelstaaten ausgaben. Eine Entwertung des Geldes ließ sich damit — trotz aller Versuche des Kongresses, einen Zwangskurs zu halten — auf die Dauer nicht " ) 22. Juli 1777. Works, VII, S. 512. 24

) Luckwaldt, I, 119/20. Channing, III, Kap. 12, bes. Tabelle, S. 393.

Beiheft d. H. Z. 12.

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— 50 — vermeiden. Die Folgen mußten sein: Spekulation auf der einen Seite, Entwertung des Besitzes der Reichen auf der anderen. Luckwaldt hat die Umwandlung der Besitzverhältnisse mit der durch die Assignatenwirtschaft während der französischen Revolution geschaffenen verglichen, und wahrscheinlich ist dieser Vergleich für die späteren Jahre richtig. Zunächst war die Wirkung allerdings kaum so groß. Aber zur Verschärfung der Gegensätze zwischen Patrioten und Loyalisten mochte sie beitragen. Und deutlich spiegelte sich auch das Kriegsglück in dem Schwanken der Bewohner zwischen den beiden Parteien. Alle diese Einzelfaktoren und die Wirkung, die sie auf den Gang der „großen militärischen und politischen Maschine"25) ausübten, treten in der Korrespondenz immer wieder hervor. Und jeder Umstand wird nach seiner Bedeutung erwogen, und zugleich werden Kritik und Gedanken zur Änderung vorgetragen. Da wird ihm von New York von dem Treiben der Tories berichtet und von strengen Maßnahmen, die gegen sie geplant sind. Er billigt ein scharfes Vorgehen; Milde und Nachsicht seien zu lange ohne Erfolg versucht worden.28) Aber man solle vorsichtig und überlegt dabei handeln und nur bei starken Vergehen strafen, um nicht unnötige Verbitterung zu erzeugen. Er halte es für eine auch allgemein richtige Regel, entweder überhaupt nicht oder ganz exemplarisch zu strafen, begründet er dabei ganz im Sinne Machiavellis, um dann mit einem Beispiel aus Livius zu illustrieren, das auch Machiavelli schon zu diesem Zweck benutzt hatte, das aber bei Hamilton wahrscheinlich aus Livius selbst stammt. 27 ) „Der Rat, den ein gewisser General seinem Sohne gab, als der letztere die römische Armee in seiner Macht hatte, war sicher politisch sehr klug: Er riet ihm, sie völlig zu vernichten oder sie mit allen Zeichen von Ehre und Achtung ziehen zu lassen. Auf die erste Weise, sagt er, setzt du die Römer außerstande, deine Feinde zu sein; auf die andere machst du sie zu deinen Freunden. Ebenso ist es mit den Tories; ich würde sie entweder außerstand setzen, uns irgend etwas anzutun, oder ich würde versuchen, ihre Freundschaft durch Milde zu gewinnen. Geringfügige Strafen verbittern nur die Gesinnung derjenigen, " ) Works, V I I , 482. 2«) 20. April 1777. Works, V I I , 486/87. *') S. darüber: Machiavelli, Discorsi II, 23 und III, 40 und Livius Buch I X , Kap. 3. E s handelt sich um den Hat des Pontius betr. der in den kaudinischen Pässen von den Samnitern eingeschlossenen Römer (321 v. Chr.), der ausführlich und in Form der direkten Rede nur bei Livius, nicht bei Machiavelli erscheint. S. auch Beilage B.

— 51 — auf die sie fallen, und erhöhen ihre Neigung, Schaden anzurichten, ohne die Macht zur Ausführung zu beseitigen." Und als er ein paar Wochen später hört, die Tories hätten sich zu einem Bund zusammengeschlossen, um loszuschlagen, schreibt er zurück, das sei für die Patrioten nur günstig, denn jetzt habe man ein Recht, scharf gegen die Gegner vorzugehen.28) Die Mahnung zu scharfem Vorgehen gegen alle, die sich der allgemeinen Sache widersetzen, tönt nicht nur aus diesem Brief. In einem anderen, offenbar in Washingtons Auftrag geschriebenen, an den Gouverneur von New Jersey, fordert er strenge Aburteilung von des Verrats Verdächtigen. Exemplarische Strafen seien nötig, um „den unverschämten Geist offener und eingestandener Feindschaft der amerikanischen Sache gegenüber zu unterdrücken, der unglücklicherweise nur zu sehr in diesem und in anderen Staaten vorherrscht". 29 ) Das zeigt deutlich die Schwierigkeiten und die Art, wie er sie zu bekämpfen wünschte. „Mehr Entschiedenheit" ist ein Wort, das immer häufiger bei ihm wiederkehrt, je mehr sich die inneren Zustände verwirren. — Es sei mehr Kraft in der Exekutive nötig, bemerkt er zum Entwurf einer neuen Verfassung New Yorks. 30 ) Sie müsse von „der überlegten Weisheit einer auserlesenen Körperschaft ausgeübt werden", setzt er dazu. Im übrigen aber ist er für „repräsentativeDemokratie', mit der Dreiteilung der Gewalten, die um diese Zeit allenthalben nach Montesquieuschen Ideen und auf alten Ansätzen in Amerika eingeführt wurden. Das Wort von der „unsteten Demokratie", das stets im Munde der Politiker sei, lehnt er ab. 81 ) Gerade die viel gepriesenen zusammengesetzten Regierungen, die zwar im Anfang gut funktionierten, müßten schließlich durch den Widerstreit der verschiedenen, darin vertretenen Interessen in Verwirrung und Auflösung geraten. Aus ähnlichem Grund steht er der Einrichtung eines Senats skeptisch gegenüber, der „schon rein durch seinen Namen und aus dem bloßen Umstand, daß er ein gesondertes Glied der Legislatur ist, zu leicht in eine aristokratische Körperschaft entarten wird". Man erkennt die erst 28)

12. Mai 1777. Works, VII, 495. April 1777. Works, VII, 488/89. 30) 19. Mai 1777. VII, 497 ff. 31 ) Ebenda, S. 498: „Eine repräsentative Demokratie, wo das Wahlrecht richtig gesichert und reguliert ist und die Ausübung der legislativen, exekutiven und richterlichen Vollmachten (authorities) in den Händen getrennter Personen liegt, die wirklich, nicht nur dem Namen nach, durchs Volk gewählt sind, wird meiner Meinung nach wahrscheinlich glücklich, geregelt und dauerhaft sein.'' 2»)

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— 52 — neue und theoretische Beschäftigung mit diesen Fragen, das Suchen nach der besten und möglichste Gleichheit und Freiheit verbürgenden Regierungsform, wie es der Zeit eignete und wie es hier in Amerika aus der Theorie in die Praxis übergeleitet werden sollte. Doch die Frage des Einzelstaates — wenn es nicht gerade New York war, „das ich in einem großen Maße als meine politische Vaterstadt betrachte" — stand doch nicht im Vordergrund seines Interesses. Früh wurde er darauf hingeführt, daß das, was am meisten fehlte und dessen Mangel das größte Unheil schuf, eine starke Zentralregierung war. „Es ist eine traurige Wahrheit, deren Wirkungen wir täglich sehen und spüren, daß in einer gewissen Körperschaft nicht soviel Weisheit liegt, wie darin sein sollte und wie zum Erfolg unserer Angelegenheiten nötig wäre", so spricht er sich zum ersten Male 1778 in einem Briefe voll Unmut an den New Yorker Gouverneur Clinton aus.82) Einzelne Mitglieder des Kongresses seien wohl tüchtig, „aber das kann nicht von ihm als Körperschaft gesagt werden. Torheit, Laune, Mangel an Voraussicht, Fassungskraft und Würde charakterisieren die Art seines Handelns". Besonders beträfe dies die Armee; da sei der Kongreß „schwächlich, unentschlossen, ohne Vorsorge, so daß wir uns jetzt in einer schlimmeren Lage befinden, als Sie sich vorstellen können". Man sorge für die eigenen Offiziere zu wenig, fremde würden stets vorgezogen, wenn sie nur ihren Mund gehörig vollnähmen und mit Ausdauer von ihren Verdiensten sprächen. „Diese Dinge verletzen meine Gefühle als Republikaner mehr, als ich es ausdrücken kann, und machen mich in gewissem Grade verächtlich in meinen eigenen Augen."33) Dazu käme die ungleichmäßige Proviantbeschaffung, wodurch die Armee oft der „Gefahr der Auflösung aus absoluter Hungersnot" ausgesetzt sei. Auch jetzt höre man klagen, und wenn nicht bald Abhilfe geschaffen werde, werde man die Armee, die sich schon geduldiger gezeigt habe, als man es erwarten konnte, schwer zusammenhalten können. Und wende man sich nun von den militärischen den zivilen Angelegenheiten zu, fährt er fort, so müsse man dem Kongreß auch hier „Mangel an Energie, Würde und Weite des Gesichtskreises" vorwerfen. „Amerika hatte einmal eine Vertretung, die jeder Zeit oder Nation Ehre antun würde", ruft er bitter aus; woher stammt denn die jetzige „Entartung" (degeneration) ? " ) 13. Februar 1778. Works, VII, 536 ff. ss ) Ebenda, 537. Man muß dieses Wort, das vielleicht einen ersten Umschlag seines GefQhls zeigt, im Auge behalten.

— 53 — Ihr Grund sei eine unrichtige Verteilung der Kräfte. Die besten Männer würden statt im Kongreß in den Einzelstaaten verwendet und ein falscher Lokalpatriotismus lasse sie dort mehr für die partikularen Interessen sorgen als für die des Bundes. „Das ist ein sehr verderblicher Fehler, der korrigiert werden muß." Gute Einzelregierungen seien zwar wichtig, wichtiger aber sei eine kluge und starke Zentralregierung. Denn bei deren Versagen würden auch alle Arbeiten für die Einzelstaaten unnütz und die gemeinsame Sache erfolglos sein.34) Diese Meinung sei zwar noch nichts für „die Ohren des Volks". Aber Männer von Einfluß und Verstand sollten an eine Änderung denken und sich gegenseitig dazu anregen. „In der Tat, mein Herr, eine Änderung tut not", schließt jener Brief, der im Keime alles enthält, was in den nächsten Jahren sein Denken und Handeln bestimmte: Die klare Erkenntnis von der Unfähigkeit des Kongresses85), die Einsicht in die Gründe dieses Versagens, den Willen zur Neuordnung. Eine Zentralregierung zu schaffen, die Energie, Würde und Weite des Gesichtskreises haben müßte, das beginnt jetzt Ziel seines Strebens zu werden. Was er dabei unter Würde versteht, führt er in einem kurz darauf geschriebenen Brief aus, in dem er sich mit Schärfe gegen das „System der Untreue" wendet, das durch die Verletzung der Abmachungen von Saratoga hervorgetreten sei. Die englische Armee hatte sich dort unter der Bedingung ergeben, daß ein baldiger Austausch der Gefangenen vorgenommen werde. Das war feierlich zugesichert, vom Kongreß aber dann nicht eingehalten worden. Die Austauschpolitik könne ja falsch sein, wie man behaupte, meint Hamilton; aber „es ist doch eine noch viel schlechtere Politik, so häufig Treubruch zu begehen und dadurch unseren nationalen Ruf (character) zu ruinieren".36) Was raffinierte Politiker auch immer darüber denken mögen, es sei nach seiner Ansicht von großer Bedeutung, den nationalen Ruf (character) zu achten. Und wenn man von einem Staat einmal die Meinimg habe, er breche systematisch sein Wort, wenn es ihm nur im geringsten unbequem sei, es zu halten, so werde das fraglos Verhandlungen mit dem Ausland sehr beeinträchtigen, zugleich aber die Regierung im Innern in Verruf bringen und dadurch natürlich ihren Einfluß M)

Ebenda, VII, 538. **) Dabei ist nicht zu untersuchen, ob die Verhältnisse hier nicht im Unmut allzu schwarz gezeichnet sind. Er sah sie jedenfalls so und wurde von diesem Bild bestimmt. Auch andere dachten ähnlich. S. u. a. Luckwaldt, I, 125. '•) 12. März 1778. Works, VII, 540/43.

— 54 — zerstören. „Die allgemeinen Begriffe von Recht (justice) und Humanität (humanity) sind in fast jede menschliche Brust eingepflanzt und sollten nicht zu leichthin verletzt werden." Zudem habe er soviel „von dem Geist der Humanität in sich, als daß er nicht solche „neronischen Maximen" verabscheue, mit denen man „in einem republikanischen Staate und einer republikanischen Armee" die tapfersten Soldaten hoffnungsloser Gefangenschaft aussetze. Eine solche Politik könne keinen Erfolg haben. Für ihn gelte immer noch das Sprichwort: „Ehrlichkeit ist die beste Politik" (honesty is the best policy), trotz der Meinung amerikanischer Politiker, die — wenigstens ihrer Praxis nach — einem „national character" und den Gesetzen von Treu und Glauben keinen Wert beimäßen. Auffallend in diesen Briefen ist der entrüstete Ton über die Verletzung primitiver Regeln des Rechts und politischen Anstands, über den Mangel an Humanität. Abgelehnt wird der kleinliche Politiker, dem nichts anderes gilt, wenn er nur momentane Vorteile erringen kann. Es gibt Werte, die über diesen momentanen Erfolgen stehen, Recht, Humanität, nationaler „Charakter". Aber die Bedeutung, die dieses Wort Charakter hier hat, das zugleich eine aus innerer Würde entspringende konsequente Handlungsweise bezeichnet, und den Ruf, der aus dieser Handlungsweise erwächst und bestimmte politische Wirkungen hervorbringt, diese Doppelseitigkeit des Wortes, gibt doch auch einen Hinweis auf die Doppelseitigkeit der Betrachtungsweise, die rechtliche und die politische: deren Vereinigung wird vom praktischen Handeln gefordert; ob mehr aus ethischen Gründen oder aus den Postulaten politischer Zweckmäßigkeit, ist dabei nicht klar zu entscheiden, die beiden Betrachtungsweisen gehen ineinander über. Die feine Kantische Unterscheidung zwischen der Erfüllung strenger moralischer Forderung um ihrer selbst willen, wobei die Sicherheit, daß daraus Glücksgefühl ströme, kein bestimmendes Moment des Handelns ist, und jener anderen, viel geläufigeren Forderung der Erfüllung des Sittengesetzes, weil nur sie Glück bringe, ist der englischen Rasse ja an und für sich schwer verständlich. Wenn also der Primat der einen oder der anderen Betrachtungsweise nicht streng zu erweisen ist, so drängt sich doch, je mehr Beispiele man betrachtet, die Vermutung auf, als sei der politische Gesichtspunkt der erregende, wie ja auch die Einsicht in Fragen der Politik sich schon früher als die reifere und sicherere erwies. Andere von Rechtsempfinden geleitete Gesichtspunkte treten dann voll innerer Wärme hinzu und allerdings durch sie erst gewinnt der erste volle Berechtigung.

— 55 — So etwa, wenn er in einem Briefe an den Präsidenten des Kongresses die Errichtung von Negerbataillonen empfiehlt 37 ); da erweist er zunächst ihre Brauchbarkeit als gute Soldaten; daß sie stupid seien, wie man dagegen einwende, sei hier nur ein Vorzug. Es sei eine Maxime bei militärischen Sachverständigen, der auch der König von Preußen beipflichte38), daß Offiziere verständig sein müssen, Soldaten aber kaum stupid genug sein könnten: „Je mehr sie einer Maschine gleichen, vielleicht desto besser." Im übrigen sage man den Negern aus Vorurteil und Eigennutz vieles nach, was „weder auf Vernunft noch Erfahrung gegründet" sei. — Freilich sei es ein wesentlicher Teil des Plans, ihnen „mit den Schwertern ihre Freiheit zu geben". „Das wird ihre Treue sichern, ihren Mut beleben" und außerdem wird es eine Tür zur Emanzipation auch der übrigen Sklaven öffnen. „Dieser Umstand, bekenne ich, trägt wesentlich dazu bei, daß ich dem Projekt Erfolg wünsche; denn die Forderungen der Humanität und wahrer Politik bestimmen mich gleicherweise zugunsten dieser armen Menschenklasse." Auch hier wieder ein Durchscheinen warmen, humanen Gefühls, das die verstandesmäßige Überlegung belebt. Am stärksten klingt dies an, in einer ausführlichen, meisterhaft geschriebenen Schilderung der Verurteilung und Hinrichtung des englischen Majors André, der als Spion gefangengenommen wurde, als er Verabredungen mit dem amerikanischen General Arnold zwecks Verrats der Stellungen traf.39) Wie er hier die Notwendigkeit der Verurteilung einsieht, weil das Kriegsgesetz es vorschreibe, zugleich aber sich gegen dieses strenge Gesetz empört, da es gerade Menschen treffe, die am tapfersten für ihr Vaterland sich einsetzten, wie er voll Achtung, ja Bewunderung von dem Auftreten des feindlichen Offiziers spricht, der ganz seinem Ideal von Männlichkeit und antikem Heldentum entspricht, legt ernstes Zeugnis für sein Menschentum ab. — Auch die hingebungsvolle, bisweilen leidenschaftliche Freundschaft zu einigen Menschen, die aus den Briefen zu entnehmen ist, spricht die gleiche Sprache. Umso schärfer kontrastiert damit eine sich stets steigernde Verachtung allen anderen Menschen gegenüber, die manchmal aus 37 ) Works, V I I , 564/67, Brief vom 14. März 1779. Dieser Plan war von seinem Freunde Laurens vorgeschlagen worden. Hamilton befürwortete ihn nur. S8) Ebenda: Der König von Preußen „hat eine emphatische Äußerung darüber gemacht, auf die ich mich nicht genau besinne". 3") Oktober 1780 an John Laurens, Works, V I I I , 18/29. S. auch Briefe an seine Braut vom 25. September und 2. Oktober 1780. Works, V I I I , 16/17.

— 56 — dem gleichen Briefe tönt. „Du kennst doch die Meinung, die ich von der Menschheit unterhalte und wie sehr es mein Wunsch ist, mich von allen besonderen Bindungen frei zu halten", schreibt er an Laurens4®), um ihn in desto überschwenglicheren Worten seiner Freundschaft zu versichern. Aber diese rein privaten Äußerungen sind doch selten. Immer stärker beschäftigen ihn die Mißstände in Staat und Gesellschaft und da kann ihn Zorn und Verachtung, mit denen er Gesinnungen und Taten von einzelnen und der Gesamtheit geißelt, hier und da bis hart an die Grenzen des noch Zulässigen treiben. Aber auch da spricht doch ein edles Hassen, wenn man es so nennen darf, geboren aus dem klaffenden Gegensatz von Ideal und Wirklichkeit. Denn immer setzt er dem Getadelten das von ihm gewünschte Bild gegenüber. Ende 1778 wendet er sich in ein paar Briefen an die Öffentlichkeit, um das schamlose Treiben eines Kongreßmitgliedes zu brandmarken, der die Informationen, die er durch seine Stellung bekam, zum Ankauf und zur Verteuerung der wichtigsten Lebensmittel benutzte. Er verurteilt das Verhalten in den bissigsten Worten und fordert sofortigen Rücktritt. Kongreßmitglieder könnten nur Leute von „Tugend und Fähigkeit" sein. Denn sie sind „nicht nur als Gesetzgeber zu betrachten, sondern als Gründer eines großen Staatswesens (Empire)".41) Wie dieses aussehen müsse, das tritt, wie schon erwähnt, immer stärker in den Vordergrund und spannt sein Denken und Wollen an. Die immer schwierigere Lage in den Finanzen, im Militärwesen, in der Verwaltung schreckt ihn nicht ab, er malt sie in seinen Schilderungen eher noch schwärzer, als sie ist. Nur den Schwächling entmutigt die Größe der Aufgabe, den Fähigen und Mutigen spornt sie an; wenn alles neu zu ordnen ist, dann heißt es eben, alle Kraft einsetzen, den Teilen und dem Ganzen die Aufmerksamkeit zuwenden, die Fehler erkennen und die Mittel zu ihrer Beseitigimg. Als erstes wendet sich Hamilton den Finanzverhältnissen zu. Sie bedurften am dringendsten einer Änderung. Die übermäßige Inanspruchnahme der Notenpresse wurde schon erwähnt. Im Herbst 1779 waren 160 Millionen Papiergeld im Umlauf, dazu kam eine Schuldenlast von 40 Millionen bei 3 Millionen Steuereinkünften.42) Eine Entwertung des Geldes ließ sich dadurch bald nicht mehr hintanhalten. 1778 galt ein Papierdollar 1 / 5 bis 1/6, 40

) Dezember 1779 an John Laurens. Works, VII, 583 ff. " ) Works, I, 191 ff. " ) J. C. H., I, 242/43 und Anm. 24 dieses Abschnittes.

— 57 — 1779 etwa 1/20, 1780 schon weniger als VM eines Silberdollars.48) Auf die demoralisierende Wirkung, die dieser Geldverfall auf die Gesellschaft ausübte, wurde bereits hingewiesen, und in dem oben zitierten Briefe Hamiltons spiegelte sich dies sehr deutlich wieder. Jetzt im Winter 1779/80 wendet er sich in einer ausführlichen anonymen Denkschrift an Robert Morris, einen pensylvanischen Kongreß-Delegierten, den späteren Finanzminister Amerikas in seiner kritischsten Zeit.44) Der besorgniserregende Stand der Währung veranlasse ihn zur Äußerung und zwar zunächst in privater Form an einen einflußreichen Mann, öffentliche Diskussion sei jetzt nur schädlich, sie zeige dem Volke zu deutlich die schwachen Stellen und füge „dadurch den wohlbegründeten Befürchtungen noch falsche Ängste hinzu". Das hätte dann wieder eine gefährliche Rückwirkung auf die Währung selbst, deren Bewertung von Meinungen und Stimmungen stark beeinflußt werde. — Einzelne also können nur helfen, wenn Gefahr droht, das ist seine Meinung; an das Volk kann man sich erst wenden, wenn man klare Pläne hat und um Unterstützung zu deren Durchführung werben will. Einzelne Menschen aber, die Einblick haben, müssen solche Pläne erst zu fassen suchen. Der erste Weg dazu ist, zu erkennen, was eigentlich die letzte Ursache dieser Mißstände sei. Diese nun, meint er, sei eine Überschätzung der eigenen Kräfte.45) Man habe geglaubt, alles selbst ohne fremde Hilfe schaffen zu können. Daß das falsch sei, habe sich im Krieg bald gezeigt: die geringe Dichte der Armee, die Unmöglichkeit, sie anders als durch Zwang zu rekrutieren, der Mangel an Arbeitskräften für 4ie Landwirtschaft und für andere Erwerbszweige, die Kargheit der Warenvorräte und die Schwierigkeit der Heeresversorgung — alles das " ) Luckwaldt, I, 120. **) Works, III, 61 ff. Genaue Datierung ist nicht möglich. Nach J . C. H., I, 254 im Winter 1779/80 geschrieben; dem Kongreß lag der Plan am 22. Juni 1780 vor (J. C. H. 255). „Der gegenwärtige Plan ist das Produkt einiger Lektüre über Gegenstände des Handels und der Finanzen und gelegentlichen Nachdenkens über unsere besondere Lage", bemerkt Hamilton zum Schluß. Oliver meint dazu (S. 85), die Grundlage war die frühe Geschäftstätigkeit und die Not der Armee. „Aber er betrachtete diese Fetzen der Realität in einem Licht von so eindringendem Verständnis, daß sie genügend für seinen Zweck waren." Das macht ja gerade das Genie aus, daß es die kleinen persönlichen Erlebnisse in den großen allgemeinen Zusammenhang einzureihen versteht. S. darüber auch bei Oncken: Lasalle (Gerichtsreden) und vor allem Brandes, Lassalle, 1900, S. 24. Über Robert Morris s. die Biographie von W. G. Sumner: The financier and the finances of the American Rev. 1891. " ) Ignorance of the real extent of our resources.

— 58 — sei ein Beweis dafür. Die Entwertung des Geldes habe darauf natürlich Einfluß gehabt, „aber sie war ursprünglich eine Wirkung, nicht eine Ursache, obwohl sie jetzt zu beiden Kategorien gehört". 46 ) Der Hauptgrund der bestehenden Schwierigkeiten sei der Mangel an Menschen; diese bewirke eine Steigerung des Arbeitswertes, des Lohnes, damit auch eine Erhöhung der Warenpreise und ein Sinken des Geldwertes; denn „der Geldwert wird bestimmt durch die größere oder geringere Menge an Arbeit und an Waren, die man dafür erhält". 47 ) Durch diese Steigerung der Preise aber wachsen die Ausgaben weit über die „natürliche Kapitalien des Staates hinaus". Um dieses Defizit zu decken, griffen alle Staaten mit Ausnahme von Preußen48) zu Anleihen. Auch Amerika müsse sich dazu entschließen. „Die Räder der Regierung können ohne sie nicht länger in Bewegung gehalten werden." Denn mit Steuern allein läßt sich nicht alles schaffen. Steuern, meint er, indem er die Montequieusche Theorie von der Abhängigkeit der Verfassung von Volk und Land auf das Finanzwesen überträgt, „werden nicht nur durch die Größe des Reichtums in einem Staate bestimmt, sondern durch das Naturell, die Gewohnheiten und den Geist eines Volkes" 49 ), das alles aber wirke in Amerika zusammen, um sie in mäßiger Höhe zu halten. — Anleihen aber bekomme man nicht, wenn keine Deckung dafür da sei und der Verleiher sein Geld auf andere Weise vorteilhafter verwenden könne. Bis zu diesem Punkte beginne man ja nun allmählich übereinzustimmen, aber die zur Abhilfe vorgeschlagenen Mittel seien falsch oder zweifelhaft in ihrer Auswirkung. Man dürfe bei derartigen Untersuchungen nie vergessen, daß Pläne die theoretisch richtig seien, oft in der Praxis zu anderen Resultaten führten, da sie von den Stimmungen und Meinungen des Volks abhängig seien.50) Der einzige Weg, der zum Erfolg führe, 4«)

Works, III, 63.

*') Diese Definition stammt aus Hnme, dessen nationalökonomische Abhandlungen er um diese Zeit las, wie aus dem pay-book und Zitierung im Report selbst hervorgeht. S. darüber Beilage A. 48) Daß Preußen keine Anleihen braucht, geschieht durch ,,a wise administration", „ b y judicious arangements", ,,by a rigid economy" und durch die „public manufactures" mit Hilfe derer „the money paid out with one hand is taken in b y the other". Man merkt dabei, daß eine straff organisierte Verwaltung, wie die Preußens, ihm durchaus sympathisch ist. 4*) Taxes are limited not only b y the quantity of wealth in a state, but by the temper, habits, and genius of a people. 50) Works, III, 69. Über die Abhängigkeit dieses Gedankens, der hier zum erstenmal klar formuliert wird, von Hume s. Beilage A (dort auch wörtliche Zitierung).

— 59 — sei einer, der „es zum unmittelbaren Interesse der Besitzenden mache, mit der Regierung in deren Unterstützung zusammenzuarbeiten". Amerika befinde sich in ähnlicher Lage wie Frankreich vor dem Mississipi-Plan.51) Law, der „mehr Scharfsinn als Redlichkeit besaß", hatte mit seinem Plane im Grunde ganz recht, nur durch die übersteigerte Durchführung sei er zu Schaden gekommen62); Amerika müsse eben aus allen Ländern das Gute auswählen, ohne das Schlechte mitzuübernehmen. Auch auf die Bank von England sei hinzuweisen. Kurzum: „Der Plan, den ich vorschlagen würde, ist der einer amerikanischen Bank, errichtet auf 10 Jahre durch die Autorität des Kongresses, unter dem Namen ,Die Bank der Vereinigten Staaten von Amerika'." 53 ) Die Basis der Bank sollte eine Anleihe im Ausland über 2 Millionen Pfund sein, außerdem sollten durch eine Subscription etwa 200 Millionen Dollars aus dem Inlande zugezogen werden. Die Einzelheiten interessieren hier nicht; wichtig ist nur, wie von hier aus die Gedanken weiterführen. Diese Bank, sagt er nämlich in einem der beigefügten 12 Artikel, müsse unter der Aufsicht eines Board of Trade (Ausschuß für Handelsangelegenheiten) stehen 54 ),ja diesen Board of Trade, fügt er in einer, wie es scheint, rasch hingeworfenen Anmerkung unterstreichend hinzu, solle man auf jeden Fall gründen, etwa ähnlich dem Conseil Royal de Commerce in Frankreich, der mit den untergeordneten Kammern in jeder Provinz „eine ausgezeichnete Einrichtung" bilde. Und damit wird er nun auf die Verwaltung im allgemeinen geführt, die er mit ein paar skizzierenden Worten berührt. Der Kongreß habe es zu lange unterlassen, „ein gutes Verwaltungsschema zu organisieren, und die öffentlichen Geschäfte geeigneten Exekutiv-Departements zuzuweisen". Für den Handel gäbe er einem Ausschuß den Vorzug; denn hierfür sei mehr Klugheit und Erfahrung als rasches Handeln nötig. Aber für die meisten anderen Dinge wünsche er einzelne Männer. „Wir brauchen einen Kriegsminister, einen Minister für auswärtige Angelegenheiten, einen Finanzminister und einen Marineminister. » ) Works, III, 72. 52 ) S. dazu auch Max Weber, Wirtschaftsgeschichte, S. 249 ff.; die Folgen des Lawschen Bankrottes waren nach Max Weber dauernde Entmutigung des französischen Publikums, „aber gleichzeitig war doch auch die freie veräußerliche, auf den Inhaber lautende Aktie populär geworden". Kurze Darstellung und Kritik der Lawschen Gedanken s. Spann, S. 31/32. Vgl. auch Oliver, S. 84. 53 ) Works, III, 74. " ) Works, III, 76.



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Es herrscht stets mehr Entschiedenheit, mehr Eile, mehr Verschwiegenheit, mehr Verantwortlichkeit, wo einzelne Männer in Betracht kommen, als wo Körperschaften interessiert sind." Auf diese Weise vereinige man die Vorteile von Republik und Monarchie, bemerkt er dazu. Wie in der Monarchie wäre der einzelne enger an den Staat gefesselt und strebe in stärkerem Maße danach, Aufgaben zu übernehmen, und mit Einsatz aller Kraft durchzuführen. „Die Menschen widmen ihr Leben und ihre Aufmerksamkeit nur der Meisterung eines Berufs, auf den sie Ansehen und Einfluß bauen können, die sie nicht mit anderen teilen." Da aber der Kongreß Emennungs- und ständiges Kontrollrecht über die Minister habe, bleibe zugleich der republikanische Charakter der Regierung in ihren Vorzügen gewahrt.65) — Die Ausführung dieses letzten Gedankens stammt schon aus einem dreiviertel Jahre später geschriebenen Brief.66) Man hatte inzwischen den Plan gefaßt, die Exekutive wohl zu teilen, die einzelnen Abteilungen aber von Kommissionen (boards) verwalten zu lassen. Hier wiederholt Hamilton noch entschiedener und in überlegterer Form seine Abneigung gegen ein solches System, das wieder dem Streit der Meinungen Tür und Tor öffne. „Ein einzelner Mann in jedem Verwaltungsdepartement wäre weit vorzuziehen", sagt er da noch bestimmter. „Das würde uns die Aussicht geben auf mehr Kenntnis, mehr Aktivität, mehr Verantwortlichkeit und natürlich auch mehr Eifer und Aufmerksamkeit. Boards haben einen Teil der Unannehmlichkeiten größerer Versammlungen. Ihre Entscheidung ist langsamer, ihre Energie geringer, ihre Verantwortlichkeit zerstreuter."67) Er fürchte, die Eitelkeit stünde den Plänen im Wege, bemerkt er dazu; der Kongreß glaube, seine Bedeutung zu verlieren, ausgeschaltet zu werden. Aber er behielte ja alle seine Rechte, nur die Details würden glücklicherweise ihm abgenommen. Man spürt es deutlich: Er hatte einen Überdruß an dem einfachen Majoritätsregiment, an den Entscheidungen des Kongresses über Fragen, von denen er nichts verstand. Er kannte es aus allen Gebieten, vor allem aus Washingtons Generalstab; öfter kehrt der Unwille darüber in seinen Briefen wieder. Im Mai 1780 fragt er " ) I, 210. Hier beginnt der Gedanke des „mixed government", den er zuvor abgelehnt hatte, in gttnstigerem Lichte zu erscheinen. Vgl. dazu auch unten S. 208. " ) 3. September 1780 an James Douane. Der Herausgeber hat ihn mit Recht aus der Korrespondenz herausgenommen und unter dem Titel „Government and Constitution" den politischen Schriften eingereiht. Works, I, 203/223. (Auch Atherton, a few letters, S. 77 ff.) " ) I, 209.



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bei einem Kongreßmitglied an, wie es mit der Forderung Washingtons stehe, ein Komitee zu bilden mit der Vollmacht, Truppen auszuheben, für Verpflegung zu sorgen und ein enges Zusammenwirken mit den angekündigten und sehnlichst erwarteten französischen Truppen zu ermöglichen . „Um Gottes willen, lieber Herr, bestimmen Sie den Kongreß, die Forderung anzunehmen. Wir haben keinen Moment zu verlieren." Aber zugleich warnt er davor, dem Kongreß zuviel Mitbestimmungsrecht bei Feldzugsangelegenheiten zu geben. „Der General (Washington) wird oft froh sein, das Komitee in einzelnen Punkten zu befragen, aber es würde hinderlich sein, wäre er verpflichtet, es öfter zu tun, als ihm recht scheint oder irgend ein Spezialfall es erfordert. Danach sollten seine Vollmachten ausgebildet werden."58) In dem oben zitierten Brief vom 3. September59) bilden die Gedanken über den „Mangel an Methode und Energie in der Verwaltung", wie er es hier nennt, nur einen kleinen Teil des Ganzen. In diesem 25 Druckseiten starken „Brief" wendet sich Hamilton an James Douane, ein einflußreiches und mit ihm in ständiger brieflicher Verbindung stehendes Kongreßmitglied, um ihm seine „Ideen zu geben von den Fehlern des bestehenden Systems und den Änderungen, die nötig sind, um es vor dem Zusammenbruch zu retten." „Sie mögen vielleicht eher die Träumerei eines Projektenmachers sein, als die kühlen Ansichten eines Politikers", meint er mit ähnlichen Worten, wie in dem eingangs erwähnten Jugendbrief.60) Der Empfänger möge darüber urteilen und Gebrauch davon machen, wie es ihm gut dünke. Und doch spricht aus dem ganzen Brief der gleiche Glaube an die Ausführbarkeit, der auch in jenen Äußerungen des Knaben die Zweifel übertönte. Die in diesem Entwürfe ausgesprochenen Gedanken wurden auch tatsächlich verwirklicht, weil Menschen sich dafür einsetzten. Sie bereiteten die Zukunft vor für Amerika; sie bildeten auch einen Markstein in der Entwicklung des Staatsbildes Alexander Hamiltons. Hier sind zum ersten Mal die Erkenntnisse auf einzelnen Gebieten in ein einheitliches System gebracht; hier waren die Vorstellungen der Umwelt bereits in einem weiten Maße überwunden; bittere Enttäuschungen hatten, wie meistens im Leben, die Forderungen für die Zukunft geboren. Gehen wir zur Betrachtung dieses Briefes über! Er ist wohl disponiert, die Gliederung im allgemeinen scharf eingehalten. Nur, M ) 14. Mai 1780. An James Douane. Works, V I I I , 5/6. *•) S. Anm. 56. ,0 ) I, 203 ff. und oben S. 16.



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wo die Natur der Sache von dem einen Teil unmittelbar in den anderen führt, sind Abweichungen von der vorgesetzten Einteilung zu konstatieren. Der erste Abschnitt beschäftigt sich wesentlich mit den Fehlern, der zweite mit den Mitteln zu deren Behebung. Doch wird auch im ersten gleich auf die Änderungsmöglichkeit hingewiesen, im zweiten die Fehlerhaftigkeit wiederholt und oft ausgeführt. In unserer Untersuchung wird also eine strenge Scheidung nicht durchzuführen sein. „Der Fundamentalfehler", beginnt er unvermittelt nach den oben zitierten Einleitungsworten, „ist ein Mangel an Macht im Kongreß (a want of power in Congress)". Woher stammt diese zu geringe Macht des Kongresses? Sie hat drei Gründe: Erstens, „eine Übersteigerung des Freiheitsgeistes (an excess of the spirit of liberty)", die die Einzelstaaten eifersüchtig auf jede Macht, die nicht in ihrer Hand ist, gemacht habe. Diese Eifersucht habe die Staaten dazu gebracht, sich das Recht anzumaßen, in letzter Instanz über die vom Kongreß empfohlenen Maßnahmen zu urteilen und sie nach ihrer eigenen Meinung über ihre Richtigkeit oder Notwendigkeit auszuführen. Zweitens, ein zu geringes Vertrauen des Kongresses zu seinen eigenen Befugnissen: dadurch sei er furchtsam und unentschieden in seinen Beschlüssen gewesen und habe den Staaten beständig Konzessionen gemacht, bis diese ihm kaum mehr den Schatten von Macht gelassen hätten. Drittens, nicht genügend Mittel zur Verfügung des Kongresses, um den öffentlichen Anforderungen zu entsprechen, und nicht genügend Kraft, solche Mittel aus dem Lande zu ziehen, wodurch der Kongreß davon abhängig wurde, daß die Einzelstaaten die eingegangenen Verpflichtungen der Armee gegenüber erfüllten. Dadurch aber sei die Armee von den Einzelstaaten abhängig und damit auch deren Einfluß auf sie größer geworden als der des Kongresses, d. h. des Gesamtstaates. Den ganz berechtigten Einwand, der Kongreß habe doch von Anfang an keine bestimmte Macht zugebilligt bekommen, sucht Hamilton mit dem Argument abzutun, eben diese Unbegrenztheit bedeute volle Macht zur Erreichung des nötigen Ziels41), d. h. der Unabhängigkeit und Freiheit Amerikas. Souveräne Handlungen, wie der Erlaß der Unabhängigkeitserklärung, die Schaffung von Heer und Flotte etc. hätten „einen Standard für die gesamte Führung der Verwaltung" bilden müssen. — Das war aber offenbar " ) "Vested with full power to preserve the republic from harm." Mit dieser Theorie der „implied powers" hat Hamilton auch in den Jahren nach 1789 viel gearbeitet.

— 63 — falsch. Die Konföderationsartikel gaben dem Kongreß rechtlich nicht die Möglichkeit, seine Macht zu sehr auszudehnen, sie waren sichtlich unter der Bemühung der Einzelstaaten entstanden, möglichst wenig von ihrer Macht abzugeben. Allerdings wäre es vielleicht — und das meint Hamilton wohl hier — während der Begeisterung der ersten Revolutionsjahre entschlossenen Männern möglich gewesen, durch das Schaffen von Präzedenzfällen, die ja im englischen Recht die bedeutendste Rolle spielen, die Entwicklung vorwärts zu treiben. Das war jedenfalls nicht geschehen; jetzt war es zu spät; tadelnde Kritik hatte keinen Sinn, das erkannte Hamilton. Die Wurzel lag doch auch tiefer. „Die Konföderation selbst ist fehlerhaft und bedarf der Änderung." 62 ) „Die Idee einer unkontrollierbaren Souveränität in jedem Staate über seine innere Politik" muß zur Vernichtung aller Macht des Kongresses führen. So wird jetzt das Problem gefaßt. Es klingt wie das prägnante Anschlagen des Leitthemas in einer Fuge. Bald wird es sich variieren, neue Seitenthemen aufnehmen, die es umschlingen und zuweilen verdecken. Aber es setzt sich wieder durch, wird mächtiger und voller, um schließlich alle anderen Stimmen sieghaft zu übertönen. Es gäbe unzählige Fälle, fährt Hamilton hier fort, wo notwendige und aus dem Machtbereich des Kongresses entspringende Akte in die innere Politik der Staaten eingriffen, und ebenso umgekehrt. Tatsächlich vorgekommene Beispiele ließen sich aufzählen. — Dieser ungebührlich große Einfluß der Einzelstaaten äußere sich auch im Heerwesen, das Hamiltons Sorge, der drängenden Kriegslage wegen, immer am stärksten in Anspruch nimmt. „Sie (die Einzelstaaten) sollten nichts damit zu tun haben. Formierung der Streitkräfte und Verfügung darüber sollte völlig dem Kongreß zugehören." Das gerade kitte die Union fest zusammen63) ; es müsse deshalb die Politik des Kongresses sein, die Armee von allen Bindungen an die Einzelstaaten zu lösen und ihre Blicke nur auf sich zu lenken. Alle Ernennungen, Beförderungen und was sonst dazu gehöre, seien deshalb vom Kongreß vorzunehmen. Bisher sei all dies umgekehrt, sodaß die Armee auf Befehl der Staaten auch gegen den Kongreß ziehen würde. — Der einzige Hinderungsgrund für sie wäre vielleicht nur die Person Washingtons. Gegen diese Forderung wende man gern ein, die Freiheit werde dadurch bedroht. „Aber nichts scheint mir offenbarer, als daß ,2)

I, 205.

•3) Ebenda, „ i t is a powerful cement of our union".

— 64 — wir viel größere Gefahr laufen, eine schwache und uneinige Bundesregierung zu haben, als eine, die imstande sein wird, die Rechte des Volks zu usurpieren."64) Denn die bestehende Regierungsform mache es den Staaten nur allzu leicht, zugunsten ihrer eigenen dem Gesamtinteresse entgegenzuarbeiten. Es bestehe doch ein großer Unterschied zwischen der Lage Amerikas „und der eines Reiches (empire), unter einer einfachen Regierungsform, welche das Land in Grafschaften, Provinzen oder Distrikte einteilt, die keine Legislaturen sondern nur Verwaltungsbehörden haben, um die Gesetze eines gemeinsamen Souveräns auszuführen. In diesem Falle besteht die Gefahr, daß der Souverän zu viel Macht hat und die einzelnen Teile unterdrückt. In unserem Falle, dem eines Reiches (empire), das sich aus verbündeten (confederate) Staaten zusammensetzt, von denen jeder mit einer völlig in sich ausgebildeten Regierung ausgestattet ist und alle Mittel hat, um seine Untertanen in vollkommene Abhängigkeit von sich zu bringen, ist die Gefahr gerade umgekehrt. Sie besteht darin, daß der gemeinsame Souverän nicht genügend Macht haben wird, um die verschiedenen Glieder zusammenzuhalten (unite together) und die gemeinsamen Kräfte nach dem Interesse und Glück des Ganzen zu lenken." Damit ist das Problem Staatenbund — Bundesstaat oder gar Einheitsstaat fixiert, ohne daß es hier schon allgemeiner ausgeführt und begründet würde. Nur Beispiele werden zum Beweis herangezogen: Die Staatenbünde der Griechen; sie hatten wohl häufig gemeinsame Beratungen, meint er, „aber ihre Beschlüsse wurden nur insoweit beachtet, als sie den Interessen und Neigungen aller Parteien entsprachen. Und schließlich wurden sie gänzlich mißachtet". Die Folgen waren häufige Kriege der einzelnen Staaten, in deren Verfolg sie schließlich die Beute der Nachbarn wurden. — Die „Schweizer Kantone" hätten es nur der Eifersucht der sie umgebenden Mächte zu verdanken, und ihrer eigenen Armut und Schwäche, daß sie während ihrer gegenseitigen Befehdungen dem Feinde nicht zum Opfer gefallen und zugleich zu deren Abwehr geeint geblieben seien. Dieser Zwang zum Zusammenhalt werde in Amerika nicht bestehen. „In kurzer Zeit werden einige der Staaten mächtige Reiche sein, und wir sind so entfernt von anderen Nationen, daß wir alle nur wünschenswerte Muße und Gelegenheit haben werden, uns einander die Kehle zu durchschneiden."65) — Auch das deutsche Reich (Germanic corps) sei ein Beispiel, das er indes nicht weiter ausführt. Sehr richtig ") I, 206. ") I, 207.

— 65 — bemerkt er bei den „Vereinigten Provinzen" (Holland), man könne sie gegen seine These anführen. Aber abgesehen von der Schwäche der einzelnen Provinzen und den mannigfachen Verknüpfungen in der Verfassung bilde hier die Familie der Statthalter ein Bindeglied, das alles zusammenhalte. — A m meisten aber sollte doch die eigene Erfahrung zu denken geben, besonders die letzte Niederlage.66) Eine solche Gliederung sei also fehlerhaft und müsse geändert werden. Diese falsche Verteilung der Macht, die den Einzelstaaten zu großes Übergewicht gebe, zeige sich nun auch besonders im Finanzwesen. Mit dem System der Kontributionen, das den Kongreß den Staaten ausliefere, müsse gebrochen werden. Der Kongreß müsse ständige Einkünfte zur Verfügung haben, für die durch Land-, Kopfsteuern oder ähnliches gesorgt werden müsse. Alle Handelsabgaben müßten vom Kongreß aufgelegt und eingezogen werden. „Denn ohne sichere Einkünfte kann eine Regierung keine Macht haben . . . die Macht, die die Schnüre des Geldbeutels absolut in der Hand hat, muß herrschen." 67 ) Diese Stärkung seiner finanziellen Kraft sei ein Weg, der, ohne den Kongreß völlig unabhängig zu machen, dazu hinführe, „seiner Autorität Wirklichkeit zu verschaffen". Das also seien die Fehler, soweit sie die Macht der Zentralinstanz betreffen. Aber das System zeigte noch mehr wunde Punkte. Was an der Art der Administration ausgesetzt wird, wurde hier schon erwähnt. Dazu käme „die fluktuierende Verfassung" der Armee, deren Mängel Washington in einem Briefe an den Kongreß so klar dargestellt habe, daß er sich in allen Punkten darauf beziehen könne. 68 ) „Alle militärischen Mißerfolge, dreiviertel unserer zivilen Hindernisse, sind ihr zuzuschreiben." Und last not least die unvollkommene und ungleichmäßige Versorgung des Heeres, die in jenem Briefe ebenfalls geschildert sei. 6t)

I, 208. Nach Oliver 84/85 Niederlage bei Monmouth. I, 207. *l) I, 2ii. Den zitierten Brief — dessen Original übrigens Hamiltons Handschrift zeigt (Calendar of the Corr. of G. Washington I, 450) — s. „The writings of George Washington" ed. Sparks. Boston 1835. Bd. VII, S. 156—168 vom 20. August 1780. In ihm sind manche Gedanken über die poStische Lage, die Hamilton später im „Continentalist" übernimmt. Was Washington im wesentlichen beanstandete, war die mangelhafte und in den einzelnen Staaten verschiedene Fürsorge für das Heer, das völlig in der Auflösung begriffen sei; verstärkt werde dies durch die Anwerbungen auf kurze Zeit, mit denen man von Anfang an hätte Mißerfolg haben müsset. Durch die schlechte Armee seien alle Mißerfolge zu erklären. t7)

Beiteft d. H. Z. 12.

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„Es ist jetzt mehr ein Pöbel (Mob) als eine Armee; ohne Kleidung, ohne Bezahlung, ohne Verpflegung, ohne Moral, ohne Disziplin. Wir beginnen das Land zu hassen, weil es uns vernachlässigt. Das Land beginnt uns zu hassen, weil wir es bedrücken. Der Kongreß ist lange eifersüchtig auf uns gewesen. Wir haben jetzt alles Vertrauen zu ihm verloren und geben allem, was er tut, die schlechteste Auslegung. Nur noch durch schwächste Bande zusammengehalten, treiben wir einer Auflösung entgegen." Die Versorgung durch die Einzelstaaten vor allem sei das Verkehrte, jeder Staat richte sich dabei nach seinem eigenen Belieben, das Geld laufe durch zu viele Hände und erhöhe dabei die Unkosten und durch den „populär spirit", von dem die meisten Staaten abhängig seien, seien die Agenten der Staaten „Männer geringeren Charakters und Könnens", die Verantwortlichkeit, Sorgfalt und Sparsamkeit werde bei ihnen nie so groß sein, wie bei Beamten des „Kontinents". Zugleich gebe die Heeresversorgung den Staaten die willkommene Ausrede, wenig Geld an den Kongreß zu senden. Hier liege der Angelpunkt alles anderen69), hier müsse also die Reform am ersten einsetzen. Die Armee müsse aufgefrischt werden70), etwa auf ähnliche Weise, wie in Schweden, wo je 16 Mann der Bevölkerung einen Rekruten zu stellen hätten. Die Truppen müßten in allem durch den Kongreß versorgt werden. Besondere Aufmerksamkeit sei den Offizieren zuzuwenden, die sich und ihre Laufbahn dem Staatsdienst geopfert hätten. Man müsse ihnen ordentliche Kleidung verschaffen, für reguläre Beförderungsmöglichkeit sorgen und ihnen eine Pension in der Höhe ihres halben Gehaltes auf Lebenszeit gewähren. Eine so zu schaffende gute Armee wirke stärkend auf Beständigkeit und Einfluß des Kongresses zurück. Um all dies zu ermöglichen gäbe es vier Wege, die alle zugleich begangen werden müßten. Und nun komNotwendig sei: i. ein dauerndes Heer mit besonderer Fflrsorge für Offiziere (Pensionen), die sich immer mehr vom Dienst zurückzögen, und 2. die Übernahme aller Pflichten zentral durch den KongreB. Bei Weiterbestehen der gegenwärtigen Versorgung durch die Einzelstaaten werde die Union immer schwächer, „da sie aus uns 1 3 Armeen macht, anstatt einer". Auch baldiger Frieden sei nur durch eine starke Armee zu erreichen. — Man sieht, wie der Gedanke der Einheit aus den Bedflrfnissen der Armee entsprang. — (Die Furcht vor einer Bedrohung der Freiheit durch eine stehende Armee hatte zu jener Anwerbung auf nur kurze Zeit geführt. Auch auf den Brief Washingtons hin wurden nur einjährige Anwerbungen bewilligt. S. Brief vom 4. Oktober 1780, Sparks VII, 226 f.) Vgl. dazu auch unten S. 99. ••) I, 218. The providing of supplies is the pivot of every thing eise. '«) I, 216 f.

— 67 — men die Forderungen, die zum Teil schon in dem Brief an Morris entgegentraten und zu Anfang dieses Exposés schon erwähnt wurden: Anleihe im Ausland, hohe Geldsteuer, Warensteuer und Errichtung einer auf öffentlichem und privatem Kredit fundierten Bank. 71 ) Was die Anleihe betreffe, so müsse man Frankreich ohne Drohung klar machen, man sei ohne sie zu einem baldigen Friedensschluß gezwungen. Dessen Interessen seien so stark mit denen Amerikas verwoben, daß man die Befürchtung, es werde Amerika im Stiche lassen, keineswegs zu hegen brauche.72) Das sei das drängendste für den Moment. Das weitere aber, zum endgültigen Erfolg und für den späteren Bestand Amerikas ebenso wichtige, sei, eben jene Mängel in der Bundesverfassung, die ja letzten Endes eine durchgreifende Änderung im Heerwesen auch unmöglich machten, zu beseitigen. Der Kongreß muß Macht erhalten, die den öffentlichen Anforderung entspricht.78) Zwei Wege dazu seien an sich gangbar: Der erste, daß der Kongreß sich einfach die Macht nehme, die ihm unausgesprochen gebühre, würde jetzt aus den anfangs angegebenen Gründen zu schwierig sein. Es bleibe also nur die zweite, sofort eine Konvention einzuberufen, die volle Autorität besitze, über einen festeren und mächtigeren Bund Beschluß zu fassen.74) Nur eine Konvention könne zu einem solchen Bunde führen, die Einzelstaaten würden kaum je sich zu einem derartigen Zusammenschluß bestimmen lassen. „Wir müssen aber auf jeden Fall einen Bund haben, und zwar einen starken, wenn wir im Kampfe gewinnen und danach glücklich werden wollen." Aufgabe dieser so schnell wie möglich zustande zu bringenden Konvention sei es, dem Kongreß „volle Souveränität" zu geben. Gesetzgebung über Eigentum und Leben der Individuen und gewisse Steuerrechte sollten den Einzelstaaten verbleiben.76) Aber alle andere Macht sei dem Kongreß zu übertragen. Außerdem müsse der Kongreß Besitz und Verfügungsrecht über die noch freien Ländereien und über Bergwerke erhalten, denn es sei nötig, " ) I. 218 f. " ) I, 219. " ) I, 212 f. Powers competent to the public exigencies. 74) I, 213. '*) 1,214. It is necessary, that every thing belonging to this (=rights of property and life among individuals und raising money by internal taxes) should be regulated by the States Legislatures." L o d g e bemerkt dazu, es sei ein interessanter Plan der Verfassung, der dem später angenommenen sehr gliche. Vgl. dazu Hamiltons spätere Ansichten in der von ihm geforderten Konvention 1787, die viel mehr nach einer v ö l l i g e n Einheit hinstrebten. Dazwischen lagen eben die schwersten Krisenjahre.





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daß er Eigentum besitze als Grundlage für die Ordnung der Finanzen, „und ich weiß keine andere Art, es ihm zu verschaffen". 76 ) Erfülle man alle diese Forderungen, d. h. schaffe man „einen festen Bund und eine beständige Armee mit der Aussicht, sie auch ordnungsgemäß erhalten zu können", so sei er überzeugt, das Ansehen Amerikas in Europa werde sich verdreifachen und Friede noch im Winter des Jahres geschlossen werden.77) Und eine weitere, nicht minder wichtige Wirkung verspricht er sich von der Neuordnung und besonders der Einberufung der Konvention. Er finde leider, schreibt er ungefähr zur gleichen Zeit an einen New Yorker Patrioten, daß dort „der gleiche Geist der Gleichgiltigkeit den öffentlichen Angelegenheiten gegenüber"78) wie überall herrsche. Diesen Geist gelte es zu bekämpfen, wenn der Krieg erfolgreich sein solle. Der Gedanke der Konvention, meint er nun gegen Ende des besprochenen Briefes an Douane, würde das Interesse des Volkes neu beleben. Man müsse dafür werben, Stimmen für und gegen würden erhoben und das allgemeine Interesse würde dadurch wieder erregt werden.79) Außerdem aber gebe es „Epochen in menschlichen Angelegenheiten, wo gerade eine Neuheit nützlich ist. Wenn eine allgemeine Meinung vorherrscht, daß der alte Weg schlecht ist, ob nun mit Recht oder nicht, und diese Stimmung die Handlungen der öffentlichen Organe behindert oder verzögert, ist ein Wechsel notwendig und wenn es nur des Wechsels wegen wäre". Das treffe auch hier zu, und danach müsse man handeln. Meinungen hätten ja überhaupt einen größeren Einfluß auf die Menschen, als man gewöhnlich annehme. „Die Menschen werden durch ihre Meinungen regiert: Diese Meinung ist ebenso durch den Anschein wie durch die Wirklichkeit beeinflußt." Die Art, wie eine Regierung auftritt, wie Maßnahmen durchgeführt werden, ist also von größter Bedeutung. '•) I, 216. Bei der Verwaltung, die hier nochmals behandelt wird, heißt es u. a.: Die Minister sollten „dieselben Befugnisse und Funktionen haben, wie die ihnen analogen in Frankreich; und jeder sollte Chef in seinem Departement sein, mit untergeordneten Behörden, bestehend aus Hilfsbeamten (assistants) und Schreibern (clerks) usw., die seine Befehle auszufahren hätten". Das bedeutet also ein zentralistisches Verwaltungssystem, wie es in den absolutistischen Staaten Europas durchgeführt war. Vgl. auch unten S. 71. " ) I, 226. Diese Ansicht wurde ja auch in dem oben zitierten Brief Washingtons ausgesprochen. ™) Brief vom 12. Oktober 1780 an Isaac Sears, New York. Works, VIII, 29. '•) I, 226/27.

— 69 — „Scheint eine Regierung Zutrauen zu ihrer eigenen Macht zu besitze^ so ist das der sicherste Weg, dasselbe Zutrauen anderen einzuflößen. Ist sie sich selbst gegenüber mißtrauisch, so kann sie sicher sein, daß ein noch größeres Mißtrauen bei anderen herrschen wird, und daß man ihrer Autorität nicht nur mißtrauen, sondern sie mißachten wird." 80 ) Das müsse der Kongreß vor Augen haben, wenn er in Zukunft handele. Zwei Dinge empfehle er ihm also: Auf jede Weise die Armee an sich zu fesseln und bei allen seinen Maßnahmen den Staaten gegenüber seine Autorität zu wahren, ohne freilich dabei in Herrschsucht auszuarten. Das allein könne zu einem kräftigen und gesunden Staatswesen führen. Diese Gedanken, einmal ausgesprochen, gewinnen für ihn nun immer stärkere Überzeugungskraft und Notwendigkeit. Sie werden, so scheint es, beinahe zur fixen Idee. Ständig kehren sie in seiner Korrespondenz wieder, mit ängstlich besorgtem Unterton, mit mahnendem Vorwurf, daß nichts oder alles nur halb ausgeführt werde, immer drängender und bestimmter fordert er ihre Durchführung als einzige Möglichkeit, den Kampf siegreich zu beenden. „Doch was wird vom Kongreß geschehen ?", fragt er ungeduldig schon ein paar Tage später den Empfänger jenes Briefes, nachdem er ihm von Mißerfolgen im Süden berichtet hat. „Wird man zu Änderungen schreiten oder nicht ?" 81 ) Er fürchte, bei den jetzigen Beratungen des Kongresses über die militärischen Angelegenheiten werde der alte Geist wieder hervortreten, bemerkt er kurz danach.82) Die Republik aber sei krank, fügt er in einem anderen Briefe hinzu, und bedürfe einer starken Medizin.83) Man müsse ernstlich mit der alten Gewohnheit, alles nur halb zu tun, aufräumen, man müsse aus seiner Untätigkeit aufwachen und die Aufgaben mit Ernst erfüllen, sonst habe man bald verlorenes Spiel. „Wir müssen eine Regierung mit mehr Macht haben. Wir müssen eine allgemeine Warensteuer haben. Wir müssen eine Anleihe im Ausland haben. Wir müssen eine Bank haben nach den wahren Prinzipien einer Bank. Wir müssen eine Verwaltung haben, die vom Kongreß getrennt ist und in den Händen einzelner von ihm beauftragter Männer liegt. Wir müssen vor allem eine Armee 80) I, 227. Dieser Gedanke, der zunächst nur auf das Kreditwesen angewendet wurde (s. Anm. 50), wird hier allgemein auf Volk und Staat übertragen. 61 ) Brief vom 6. September 1780 an Douane. Works, VIII, 14. 82) An Sears, 12. Oktober 1780. Works, VIII. 29. 8S) 7. 2. 81. Works, VIII, 34. Anfang des Briefes: The first step to reformation, as well in an administration as in an individual is to be sensible of our faults. („Administration" ist gleich „Staatswesen"!)

— 70 — für den Krieg haben und eine Einrichtung, die den Offizieren Interesse für den Dienst gibt." So faßt er hier seine Forderungen scharf zusammen. Bald genügt es ihm nicht mehr, einzelnen seine Gedanken mitzuteilen ; er war kein Mensch, der warten konnte, bis die Dinge sich von selbst entfalteten. Seine politische Natur trieb ihn, stärker das Werden zu beeinflussen, gestaltend auf die Wirklichkeit einzuwirken.84) Dem Plan gemäß, den er am Schlüsse jenes Exposés ausgesprochen hatte, mußte er sich ans Volk wenden, sobald die Zeit sich ihm bot. Dabei mußten sich seine Gedanken weiten, und, um anderen begreiflicher zu sein, tiefer fundiert werden. Auf diese Weise entstand die Aufsatzreihe des Continentalist. Doch bevor wir uns zu deren Betrachtung hinwenden, ist es nötig, den bisherigen Entwicklungsgang noch einmal zu überblicken und die Ergebnisse bis zu dieser Stufe klarzustellen. Sehr verändert haben sich zunächst Hamiltons Vorstellungen von der Regierungsform. In den ersten Schriften, das wurde zu zeigen versucht, standen sie sehr im Hintergrund der Betrachtung ; nicht wie eine Regierung sein solle, war die Frage, sondern wie sie n i c h t sein solle. Ablehnung eines willkürlichen Absolutismus war der Kernpunkt. Mit einer beschränkten Monarchie, wenn sie gesetzlich gehandhabt würde, konnte man sich dabei abfinden, so lange man noch an eine Versöhnung mit dem Mutterlande denken durfte. Als diese Möglichkeit nicht mehr bestand, war die natürliche Konsequenz der Loslösungsideen die Forderung und Konstituierung der Republik in Einzel- und Gesamtstaat. Auch Hamilton hatte sich dazu bekannt — ein Zeugnis dafür wurde zitiert — und sich deutlich gegen „gemischte Verfassungen" ausgesprochen. Jetzt nun hatte er gerade gegen diese Verfassungen hin einen Schritt getan. Einzel- und Majoritätsregiment, absolutistische und demokratische Elemente sollten vereinigt und durcheinander ausgeglichen werden. Ein stärkeres Verantwortungsgefühl sollte dadurch in die Regierung einziehen, die Verwaltung gestrafft und zentralisiert werden. Diesem Willen zur Zentrali84) In dem oben erwähnten pay-book findet sich folgender charakteristischer Auszug aus der ersten Philippischen Rede des Demosthenes: As a general marches at the head of his troops, so ought wise politicians, if I dare use the expression, to march at the head of affairs; in so much that they ought not to await t h e e v e n t , to know what measures to take; but the measure which they have taken ought to produce the event." Die Stelle ist aus den Philippischen Reden, I, § 39. Die Übersetzung ist nicht wörtlich; stammt sie von Hamilton, so ist sie um so charakteristischer. Entnommen aus Works, ed. I. C. H. 1851, I, 6; s. Beilage C.

— 71 — sierung der Verwaltung scheint, wenn nicht als Vorbild, so doch als Anregung, Frankreich zu dienen, dem sich ja in der Hoffnung auf finanzielle und militärische Unterstützung die Blicke Amerikas um diese Zeit mit besonderem Interesse zuwandten. Ein klares Bild und ein in Einzelheiten durchkomponiertes ist dabei auch jetzt noch nicht zu erkennen. Nur ein wesentlicher Grundzug fällt auf: Eine Regierung ist nötig, die mehr Macht hat, eine kraftvolle, ihrer Autorität bewußte Leitung des Staates tut not. Was man zuvor von England abgelehnt hatte, das gerade wird jetzt von Hamilton gefordert. Es wurde gefordert unter dem Zwang der Verhältnisse. Und der Weg, den dabei die drängende Not des Tages seinem Denken und Wollen vorschrieb, ist interessant und lehrreich. Er wiederholt gewissermaßen die Entwicklung, die sich in den europäischen Staaten in einem langen Werden konsequent vollzogen hatte und weiter vollzog. Der Ausgangspunkt war die Verteidigung des Landes gegen äußere Feinde. Zu dieser Verteidigung war ein Heer nötig; wie man dieses versorge und kampffähig halte, war die eigentliche Frage. Es war also natürlich, daß Hamiltons Denken sich zunächst mit dem Finanzwesen beschäftigte, das die Voraussetzung für die Erhaltung der Armee war. Anleihe, Bank und Steuern waren die Forderungen; zu deren Verwirklichung aber, wie auch zur Durchführung aller anderen Maßnahmen war eine gut arbeitende Verwaltung nötig; das war also das nächste, was zu schaffen war. Damit diese aber einheitlich und nach klarem Plane arbeite, bedurfte es einer mächtigen Zentralinstanz, von der Kraft und Wille in alle Teile drang. Darin also mußte alles gipfeln, einen Staat zu schaffen, der Autorität, Kraft und Würde in allen seinen Handlungen zeige: Autorität besonders den zentrifugalen Tendenzen der Einzelstaaten gegenüber; Kraft in der Niederwerfung aller Gegner, der äußeren wie der inneren Feinde, mit jedem nur möglichen Mittel; Würde in der Einhaltung eingegangener Verpflichtungen, in dem Bemühen, Ehre und Ruf der Nation zu wahren und zu erhöhen. Uber das Verhältnis von Staat und Volk ist dabei noch wenig gesagt. Und auch dieses Wenige ist nur angedeutet. Der Staat braucht das Volk, vor allem die besitzenden Klassen. Um sie zu gewinnen, gilt es, Einrichtungen zu schaffen, die ihr persönliches Interesse mit dem des Staates vereinen. Dazu dient die Gründung der Staatsbank. — Ebenso wie sie benötigt der Staat Offiziere und höhere Beamte. Beide können nur gewonnen werden, indem man ihnen ein genügend freies Betätigungsfeld gibt, ihnen

— 72 — die Sorgen um die Erhaltung ihrer Existenz nimmt und ihrem Drang nach Anerkennung und Ehre in richtiger Form Rechnung trägt. 85 ) Aber auch um das übrige Volk muß man werben. Schon weil sie es als Steuerquelle und für die Rekrutierung des Heeres benötigt, muß es die Regierung zu gewinnen suchen; besonders aber auch deshalb, weil sie eigentlich in allem von ihm abhängig ist: es ist der oberste Herrscher und hat das Recht, die Regierung zu stürzen und eine neue, ihm genehmere einzusetzen. Auch die Durchführung jeder Maßnahme ist ja vom Willen des Volks zu einem beträchtlichen Teile abhängig. Es ist also wichtig, was für eine Meinung das Volk über seine Regierung hat: Dem Volk Glauben und Vertrauen zu seiner Regierung einzuflößen, und es dadurch zu willigerer Unterstützung zu bringen, ist deren Aufgabe. Das soll aber nicht dadurch geschehen, daß man seinem Instinkt schmeichle, vielmehr eben durch ein sicheres und entschlossenes Auftreten, das es von der Tüchtigkeit und Nützlichkeit der Regierung überzeugt. Was aber als wichtigste Erkenntnis alles durchdringt, ist der enge Zusammenhang zwischen allen Faktoren des Staatslebens, angefangen von der Außenpolitik, über Heer und Finanzen zur Innenpolitik. Durch die Erfahrungen des Krieges, die Verhandlungen um den Anschluß Frankreichs und um eine Anleihe im Ausland, die Einwirkung der inneren Uneinigkeit und der mangelhaften Organisation auf diese Angelegenheiten mußten die Verschlingungen immer offensichtlicher an den Tag treten. Hinter all diesen Gedanken und Projekten steht dabei — das spürt der Betrachter in jedem Satze — ein Mensch mit starker politischer Leidenschaft, mit reinem, glühendem Wollen und einer fast antik anmutenden Staatsgesinnung. Der Mensch ist verpflichtet, sich ganz für den Staat einzusetzen, mit seinem Verantwortungsgefühl den Staat zu erfüllen, mit all seinen Fähigkeiten dem Staat zu dienen. Das verlangt Hamilton von sich und verlangt er von anderen. Und wie sehr ihn immer wieder das Getriebe der Menschen und die Erfolglosigkeit seiner Anstrengungen unmutig machen, ja anekeln wollen, und wie sehr andere persönliche Momente ihn von der Politik abzuziehen drohen, immer wieder treibt ihn Leidenschaft oder Ehrgeiz und Pflichtbewußtsein, die kaum von einander zu lösen sind, zu politischem Handeln. Er habe es satt, Zeit und Ruhe durch ein eitles Streben nach Macht und 8i ) Men will only devote their lives to the mastering a profession on which they can build reputation and consequence which they do not share with others. I l l , 76, A i m .

— 73 — Ruhm zu vergeuden, schreibt er an seine junge Frau. 86 ) Doch um die gleiche Zeit waren die ersten Nummern des „Continentalist" erschienen. 2. Weitere A u s g e s t a l t u n g e n .

Der C o n t i n e n t a l i s t .

Der Continentalist ist eine Sammlung von Aufsätzen, die in verschiedenen Abständen in einer New Yorker Zeitung zwischen dem 12. Juli 1781 und dem 4. Juli 1782 erschienen.1) Obwohl als zusammenhängende Folge gedacht, sind sie von Hamilton selbst doch nie in Buchform vereinigt worden; sie wurden geschrieben, um politische Wirkungen auszuüben und damit sollte ihr Zweck erfüllt sein. Sie blieben nicht ohne Einfluß auf die Öffentlichkeit, ja für die amerikanische Geschichte sind sie recht bedeutsam geworden. Sie bezeichnen, wie der Herausgeber von Hamiltons Schriften bemerkt2), den Beginn der öffentlichen Bewegung für ein neues Regierungssystem, jener Bewegung, die dann über die Konventionen von Annapolis und Philadelphia zur Schaffung und Annahme der neuen amerikanischen Bundesverfassung führte und darüber hinaus zur Gründung der Partei der Föderalisten, die bei der Handhabung der Verfassung noch schärfere Zentralisierung und schärfere Betonung der Staatsautorität zu erreichen suchten. Auch auf bestimmte Kreise in dem Deutschland des Deutschen Bundes hat ihre Tendenz zur Einheit und der leidenschaftliche politische Wille später gewirkt; bekannt ist insbesondere die ausführliche Zitierung bei Treitschke.3) Ihrem Inhalte nach schließen sich diese Aufsätze eng an die im Vorangegangenen besprochenen Briefe und Denkschriften an; sie greifen einen Teil des dort aufgestellten Programms heraus, um für seine Verwirklichung in der Öffentlichkeit zu werben, sie wiederholen also öfter dort ausgesprochene Gedanken. Der Zweck, dem sie dienen, bedingt dabei eine vorsichtigere Auswahl und eine für weitere Kreise faßbare Formulierung und Begründung. Das bedeutet nun nicht, daß die Ideen hier in flacher Weise popularisiert werden; nichts liegt Hamilton ferner, als nach billiger Popularität zu streben; wer, wie er dem Denken der Zeit widerspricht, wird sich das von vornherein nicht zum Ziel setzen kön8

«) 6. September 1781. Works, VIII, 45/46. ') Works, I, 231—273. Es erschienen Nr. 1 : 12. Juli 1 7 8 1 ; Nr. 2: 19. Juli 1 7 8 1 ; Nr. 3: 19. August 1 7 8 1 ; Nr. 4: 30. August 1 7 8 1 ; Nr. 5 : 18. April 1782; Nr. 6: 4. Juli 1782. 2 ) Works, I, 231, Anm.; s. auch J . C. H. I, Kap. 13. s ) Treitschke, Bundesstaat und Einheitsstaat, s. Schlußkapitel Anm. 39.

— 74 — nen. Aber im Vergleich zu den ersten straffen Konzeptionen ist die Darstellung hier doch entspannter und lockerer. Jene scheinen geradezu mit Explosivkraft geladen, sie waren auf einen Wurf geschrieben, fast herausgeschleudert worden, die Worte in Eile hingesetzt, manches überhaupt nur stichwortartig angedeutet. In der Hast der täglichen Arbeit waren sie entstanden, als wollte sich der Schreiber der Qual der Erfahrungen der letzten Jahre in diesen Bildern entledigen. Er habe nicht einmal Zeit zum Kopieren gefunden, schreibt er selbst an Douane und entschuldigt sich ob seiner Flüchtigkeit. 4 ) Anders im Continentalist: Hier wirkt alles ruhiger, überlegter, auch ausgereifter. Als richtig erkannte Gedanken werden hier in Einzelheiten ausgebaut und erweitert. Dazu kam, daß Hamilton nun auch persönlich in freierer und unabhängigerer Lage war. 5 ) Die Sehnsucht danach, und der Wunsch, sich als Offizier im Heere auszeichnen zu können, waren ja wahrscheinlich auch der tiefere Grund, der ihn zum Austritt aus dem Generalstab trieb. Daß er sich nach einem unbedeutenden Wortwechsel mit Washington, bei dem sein Stolz sich verletzt fühlte, dazu entschloß, und den Entschluß nicht mehr rückgängig machte, weist darauf hin.6) Die Zeit, in der er auf Übertragung eines Kommandos wartete, — gegen seinen Willen dauerte sie einige Monate — und die ersten ruhigen Wochen nach der Übernahme seiner Truppe nützte er aus, um ein ausgedehntes zweites Memorandum an Morris über die Errichtung einer Nationalbank auszuarbeiten7) und die vier ersten Nummern des Continentalist zu schreiben8) ; */4 Jahre später erst, nachdem er sich vom Militärdienst zurückgezogen hatte, erschien die fünfte Nummer, ein paar Monate danach der sechste und letzte der Aufsätze, welche die Unterschrift „der Continentalist" trugen. Das Exposé über die Nationalbank kann hier übergangen werden : es enthält, freilich in vorzüglicher Form, im wesentlichen 4) I, 228. Er habe nur oberflächlich die wichtigsten GrundzQge angegeben, bemerkt er dazu, I, 226. Nur auf eine Gesamtskizzierung sei es ihm angekommen, zu weiteren Ausfahrungen sei er nötigenfalls bereit. *) Er hatte im Dezember 1780 geheiratet, Elisabeth Schuyler, die aus alteingesessener holländischer Kaufmannsfamilie New Yorks stammte; Charakteristik s. Int. Life, Kap. I V ; auch Kap. V ebenda. •) Er habe sich in der letzten Zeit nur noch durch Pflichtgefühl im Stabe halten lassen, sagt er im Brief an seinen Schwiegervater, in dem er von dem Austritt aus dem Stab berichtet. Brief vom 18. Februar 1781 an Philipp Schuyler, Works, VIII, 35/39. ') Datiert 30. April 1782. Works, III, 84 ff. Diesmal mit Unterschrift (das erste war anonym). 8) S. Anm. 1.

— 75 — eine Detaillierung der Vorschläge, die schon früher vorgebracht wurden, und volkswirtschaftliche Anschauungen, die in ähnlicher Weise im Continentalist wiederkehren. Was an allgemeinen Gedanken oder Formulierungen für unsere Untersuchung wichtig ist, wird an gegebener Stelle bei der Behandlung des Continentalist beigezogen werden. Wenden wir uns jetzt diesem zu. Zunächst zum Inhalt. Nicht gesprochen wird hier mehr von der Organisation der Verwaltung — sie war zum Teil bereits durchgeführt worden; nicht vom Heerwesen — das war eine zu prekäre Angelegenheit für die Öffentlichkeit, wo der Unwille über die Bedrückungen durch das Militär nur noch erhöht worden wäre, hätte man offen zugegeben, man wolle es enger an den Kongreß binden zur Festigung seiner Macht. Die Besorgnis vor einem stehenden Heere dem Werkzeug des Absolutismus oder im Ausdruck der Zeit des Despotismus wäre dadurch nur erhöht worden.9) Auch die Versorgung des Heeres wird kaum behandelt. — Was konnte die Öffentlichkeit hier zu einer Besserung beitragen ? Zwei Ziele verfolgen die Aufsätze nach ihrer eigenen Angabe: Erstens „eine jetzt fast schon allgemein angenommene Meinung zu bekräftigen, nämlich, daß es notwendig ist, die Machtvollkommenheiten des Bundes zu vermehren". 10 ) Das geschieht in den ersten drei Nummern. Zweitens „das öffentliche Urteil genau auf die Punkte zu lenken, aus denen diese Vermehrung bestehen sollte"; damit, d. h. besonders mit der Frage der Besteuerung und der Handelspolitik, beschäftigt sich der etwas umfangreichere Rest. Am Anfang der Revolution, beginnt Hamilton ganz richtig, habe es auf amerikanischer Seite wenig Männer gegeben, die eine klare Vorstellung von den praktischen Regierungsgeschäften besaßen. 11 ) Diejenigen, die unter der englischen Oberhoheit die Geschäfte geleitet hätten, die Gouverneure und deren Beamte, hielten zum großen Teil zu England; den wenigen unter ihnen, die sich zur Unabhängigkeit bekannten, war man mit Mißtrauen begegnet und hatte sie von Staatsämtern fern gehalten; und wenn nicht, „wurde ihr Einfluß nur zu regelmäßig überwältigt von dem vorherrschenden Strome von Unwissenheit und Vorurteil". 12 ) So sei es eigentlich erstaunlich, daß alles noch so gut gegangen sei. Aber daß es „viel falsche Schritte, viel schimärische Projekte *) S. dazu Anfang n ) Works, 12 ) Works, 10)

auch Anm. 68 des vorangegangenen Abschnitts. von Nr. 4. Works, I, 248. I, 231/32. I, 232.

— 76 — und utopische Spekulationen" gegeben habe, müsse man doch jetzt erkennen. Denn im ersten Stadium der Kontroverse sei ein Irrtum entschuldbar gewesen; damals habe man „eher gute Absichten als große Geschicklichkeit" erwarten dürfen. Nun aber habe man genügend Zeit zur Überlegung und auch nur zu viel unglückliche Erfahrungen gehabt, um die Irrtümer berichtigen zu können. In ihnen zu beharren, wäre jetzt „schmachvoll, ja verbrecherisch und würde jenen Ruf einer gesunden Auffassung (character of good sense) und einer raschen Erkenntnis unserer Interessen Lügen strafen, den man uns bis jetzt trotz unserer Fehler zugebilligt hat. Es würde beweisen, daß unsere Klugheit auf Interessen von geringerer Bedeutung beschränkt ist und daß wir unfähig zu so aufgeklärter und freier Betrachtung sind, die nötig ist, um uns zu einem großen und blühenden Volke zu machen." 13 ) Aus diesen Sätzen läßt sich schon einiges Charakteristische erkennen. Zunächst ganz äußerlich der Versuch, nicht zu scharf anzugreifen, nicht zu verletzen, manches zuzugeben, um umso schärfer dann das Gegensätzliche hervorheben zu können: die Taktik, die der Redner anwenden muß, der zu der Masse spricht und zu der auch der greifen muß, der bei einem ihm unsichtbaren Publikum für seine Meinung werben will. Dabei wird doch von vornherein scharfe Kritik angelegt an der Unwissenheit und den Vorurteilen, die in den councils die Oberhand hätten. Es genügt nicht, gute Absichten zu haben und mit ihnen „utopische Spekulationen" hervorzubringen. Fähigkeit und Geschicklichkeit (ability and skill) wird vom Staatsmann verlangt und vor allem, daß er aus den Erfahrungen zu lernen versteht. 14 ) Er muß die wirklichen und dauernden Interessen des Volkes erkennen und wahrnehmen und sich durch momentane Teilinteressen oder Leidenschaften nicht davon ablenken lassen. — Die Bedeutung der Erfahrung für die Erkenntnis war ja auch der Philosophie in immer stärkerem Maße zum Bewußtsein gekommen: auf Bacon, Montaigne, Locke und anderen weiterbauend, hatte sie Hume zum Ausgangspunkt und einzigen Kriterium der Wahrheit gemacht. Alle unsere 18 ) Works, I, 233. " ) Das Bild des Staatsmannes läßt sich aus den Voraussetzungen erkennen, die er für den Leiter der Finanzen im ersten Report über die Nationalbank fordert: „ H e ought to be a man of ability to comprehend it (sein Gebiet) in all its consequences; and of eloquence, to make others comprehend and relish it. He ought, beside, to have some general knowledge of the science." (Ein Bild, das j a seiner eigenen Person entsprach.)



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Vorstellungen und Ideen sind letzten Endes nur verarbeitete Abbildungen der Sinnenwelt; um sie auf ihren Wahrheitsgehalt zu prüfen, gilt es also ihre Wurzel in der Wirklichkeit aufzusuchen; das waren die Folgerungen, zu denen er gekommen war. Mit apriorischen Ideen an die Wirklichkeit heranzugehen, wurde damit im Prinzip abgelehnt. Aus sorgfältiger Beobachtung der Tatsachen, aus Vergleich der Beobachtungen untereinander, sollten Schlüsse gezogen werden; nach den so gefundenen Maßstäben — nicht nach außer-empirischen, die man in sie hineintrug — sollten die Erkenntnisse gruppiert werden. Wandte man das auf die Staatsphilosophie an, so mußten sich auch hier bald veränderte Gesichtspunkte ergeben. Das Naturrecht, das hier allgemein galt, behauptete ja auch von der Wirklichkeit auszugehen; aber mit naivem Glauben an die Fähigkeit der menschlichen Vernunft und mit der kecken und vorschnellen Sicherheit des Urteils, die eine Zeit leicht annimmt, wenn große Entdeckungen und Erfindungen die bisherigen Anschauungen von heute auf morgen umzustoßen scheinen, hatte man in der Wirklichkeit die Gesetze zu finden geglaubt, die ein gesteigertes Bewußtsein vom Wert der Persönlichkeit forderte und in die zu beobachtende Tatsachenwelt hineinspiegelte. Die Resultate der Erkenntnistheorie, der Zweifel an der Fähigkeit des menschlichen Geistes alles erkennen zu können 15 ), mußte nun auf reifere Geister bald auch ernüchternd den Theorien vom Staatsleben gegenüber wirken, besonders, wenn eigene trübe Erfahrungen deren Unwirklichkeit und Unbrauchbarkeit für das politische Handeln zum Bewußtsein gebracht hatten. Es ist nicht zu verkennen, daß Hamilton sich gerade jetzt mit Hume besonders beschäftigte; er ist der einzige Schriftsteller, den er in allen Schriften dieser Zeit zitiert; in dem erwähnten Zahlbuch seiner Kompagnie finden sich Auszüge aus seinen Essays; auch mit seinen volkswirtschaftlichen Anschauungen setzt er sich im Continentalist und im zweiten Report an Morris auseinander. — Ein Einfluß auf die Ausbildung seines Denkens ist sicherlich Hume, wie 15 ) Zweifel an der Erkennbarkeit aller Gesetze waren ja schon allenthalben aufgetreten. Aber durch einen festen Glauben an die Harmonie der Welt wurden sie meist ausgeschaltet. Konnte die Vernunft nicht alles erkennen, so doch das Gefühl: Das Gefühl des Glücks galt Blackstone als von Gott gegebener Maßstab für die Richtigkeit einer Handlung. (Siehe Einleitung zu den Commentaries.) Ähnlich Pope im „Essay on m a n " : Leidenschaft trage einen Sinn in sich, der zum Richtigen hinführe; Vernunft sei nur ihr Korrektiv. (Tauchnitz Nr. 152, bes. 190 ff.) Man kann darin einen Übergang zum 19. Jahrhundert sehen, aber für den Staatsmann waren solche glatten Lösungen doch wenig brauchbar.

— 78 — sonst keinem anderen, zuzugestehen.16) Damit ist nun nicht gemeint, erst unter der Lektüre dieses Philosophen und Schriftstellers habe er sich der Wirklichkeit zugewendet. Er hatte das schon früher getan, und hätte es auch weiterhin tun müssen, aus der ganzen Art seiner Veranlagung heraus. Literatur hat bei selbständigen und schöpferischen Naturen ja meist nur insofern Bedeutung, als sie unbewußt und instinktiv geübte Methoden zu klarerem Bewußtsein und dadurch wieder zu bewußterer Anwendung bringt. Einen solchen Einfluß scheint aber Hume auf ihn ausgeübt zu haben. Schon in seinen ersten Schriften hatte er sich ihm zugewendet, unsicher noch und mit Scheu; er mußte ihm dazu dienen, die der gültigen Moral widersprechenden Anschauungen zu rechtfertigen. Im Verlauf der Kriegsjahre waren ihm diese Ansichten selbstverständlicher geworden; Hume konnte jetzt auf ihn wie ein geistiger Verwandter wirken, ihm ähnlich in dem Trieb nach rücksichtsloser Selbsterkenntnis und Vermeidung jeder unwahren Beschönigung; in der Geringschätzimg ja oft Verachtung den Menschen gegenüber17), der eine überschwängliche und gern bekannte Hochschätzung und Freundschaft für einige Wenige gegenübersteht; ihm allerdings völlig entgegengesetzt in Temperament und Wille, die ihn immer mächtiger zur Arbeit für den Staat trieben, und ihn — natürlich auch aus den Notwendigkeiten der Zeit heraus, die er aber wieder besonders betonte — einen machtvollen, jeden einzelnen in seinen Bann ziehenden Staat wünschen ließen, während jener letzten Endes, gleich den meisten seiner Zeitgenossen — nur durch einen besser konstruierten Apparat — „möglichst wenig Staat und möglichst viel Individuum", wie man es formuliert hat18), schaffen wollte. Sicherlich drang Hume auch in weitere Kreise Amerikas allmählich ein; wäre er nicht bekannt gewesen, könnte Hamilton i e ) Über Hamilton und Hume s. auch Beilage A. Ob er den „Inquiry on human understanding" gelesen hat, ist sehr zweifelhaft. Aber dessen Gedanken durchzogen ja alle anderen Schriften Humes.

" ) S. Brief vom 27. August 1782. Works, V I I I , 73. „Erfahrung ist ein beständiger Kommentar über die Wertlosigkeit der menschlichen Rasse." So scharf war das allerdings bei Hume nicht zu finden; als Erklärung f ü r diese Menschenverachtung, die bei großen Menschen ja häufig entgegentritt, s. auch Meinecke, Weltbürgertum und Nationalstaat, S. 103 ff. In der europäischen Aufklärung waren diese Gedanken wohl allgemeiner (Friedrich der Große!), in Amerika herrschte meist optimistischere Stimmung. Ausnahmen gab es natQrlich: S. besonders Washington in vielen Stellen seiner Briefe. 18 )

Meinecke, Deutsche Erhebung, S. 23. Vgl. auch Stephen II, 184.

— 79 — nicht von ihm als einem berühmten Schriftsteller reden. Seine volkswirtschaftlichen Anschauungen waren, wie aus einer später zu erwähnenden Bemerkung hervorgeht, sogar ziemlich allgem e i n bekannt. Der Masse lag doch noch immer die naturrechtliche Denkweise eines Locke (immer mehr wohl auch Rousseaus) näher: Sie lernt nicht so schnell um, selbst Erfahrungen vermögen ihre Anschauungen nicht umzukehren, im besten Falle machen sie geneigt zu Kompromissen. Und natürlich entnimmt auch sie aus der Literatur nur, was ihrem eigenen Streben entspricht: Aus Hume konnte man alles, was für Freiheit des einzelnen sprach, verwenden, aus Montesquieu etwa die Dreiteilung der Gewalten, während viele andere Gesichtspunkte, die zu einer fruchtbaren Umgestaltung des ganzen Weltbildes führen konnten, meist unbeachtet blieben. Und vor allem tritt dann sofort eine Tendenz auf, jene angenommenen Sätze als absolute Wahrheiten anzusehen, und nicht die Bedingtheit anzuerkennen, unter der sie entstanden und durch die ihre Gültigkeit begrenzt wird. Ein wesentlicher Gesichtspunkt bei der Entstehung dieser ganzen Literatur war ja, ein Übergreifen der Staatsmacht in die persönliche Lebenssphäre des Individuums zu verhindern. Wie gefährlich konnte eine solche Tendenz hier in Amerika wirken, wo der Staat kaum die notwendigste Macht besaß, und wo die Leidenschaften der Bevölkerung schon an und für sich in dieser Richtimg wirkten. „Eine extreme Eifersucht auf Macht (jealousy of power) ist die Begleiterscheinung aller Volksrevolutionen und ist selten ohne üble Auswirkungen geblieben", formuliert Hamilton diese Strömung nun allgemein. Die Geschichte sei voller Beispiele, wo es eben durch jene „jealousy of power" unmöglich gewesen sei, einen mächtigen Staat aufzurichten oder zu erhalten.19) Wolle man eine Regierung bilden, die die Freiheit auf die Dauer erhalten könne, so müsse man „nicht weniger darauf achten, der Behörde ein richtiges Maß von Autorität zu geben, um Gesetze zu machen und sie streng durchzuführen, als darauf, sich gegen Übergriffe auf die Rechte der Allgemeinheit zu schützen". 20 ) Denn „wie zu viel Macht zu Despotismus, so führt zu wenig Macht zu Anarchie und schließlich zum Untergang des Volks". „Ordnung und vernünftige Freiheit" also muß eine Regierung garantieren.21) Und danach sind ihre Formen einzurichten. ") i, 232. ") I. 233/3421 ) „Order and rational liberty" waren auch zu Beginn der Revolution schon in dem zitierten Briefe an Jay gefordert worden. Das bleibt also Grundtendenz.



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Betrachte man von diesem Standpunkt aus die Geschichte „der Gemeinwesen Griechenlands", so ergreife Schmerz und Widerwillen den Beschauer. „Allgemein gesagt waren sie ein beständiger Schauplatz der wechselnden Tyrannei eines Teils des Volks über den anderen oder von ein paar usurpierenden Demagogen über alle anderen." Die innere Uneinigkeit ist also das einzige, was ihm an der griechischen Geschichte auffällt. Für die positiven Seiten jenes freiheitlichen Geistes hat er dabei kaum Verständnis, er betrachtet ihn von rein politischer Warte aus. So gibt er denn ganz entschieden den Regierungsformen seiner Zeit denen der „alten Republiken" gegenüber den Vorzug, „da jede Macht bei uns durch Vertretung ausgeübt wird und nicht in lärmenden Versammlungen des ganzen Volkskörpers" 22 ), wo die „Kunstfertigkeit oder Unverschämtheit des Orators oder des Tribunen" mehr die Handlungen bestimmten als „Nützlichkeit oder Gerechtigkeit". 23 ) Aber nicht nur das Repräsentativ-System unterscheidet die Gegenwart von der Antike. „Es besteht gänzliche Unähnlichkeit in den Verhältnissen, wie Sitten der Gesellschaft' ', sagt er an anderer Stelle 24 ),, ,und es ist deshalb ebenso lächerlich, Vorbilder in den kleinen Zeiten Griechenlands und Roms zu suchen, als wenn man auf die Suche danach bei Hottentotten und Lappländern ginge." Diese Ablehnung des Vorbilds der Antike darf man kaum auf jenen geistigen Hochmut zurückführen, der die ganze Zeit beherrschte; denn diese Zeit war doch trotz ihres stolzen Vernunftglaubens immer besonders beglückt, wenn sie ein Beispiel aus der Antike zum Beweis beiziehen konnte. Die " ) I. 23523)

Ebenda. I, 268. Diese Abwendung von der Antike lag dabei doch schon in der Zeit: Die Gestalten des Altertums beherrschten zwar noch die Vorstellungswelt der Menschen, das Denken wandte sich aber doch schon selbständiger und unvoreingenommener der Moderne zu. In diese Richtung wiesen letzten Endes auch die Bemühungen führender Männer in England, wie Bolingbroke's, Blackstone's und Hume's, sich mit moderner Geschichte zu beschäftigen. (S. besonders Hume: Über das Studium der Geschichte (IV, 388 ff.).) Vgl. auch die Kritik Friedrichs des Großen an Karl X I I . im Antimachiavell, Kap. V I I I . Seine Fehler seien aus der Nachahmung Alexanders des Großen entstanden: „ U n d viele Leute, die diesen nordischen Alexander genau gekannt haben, versichern, Quintus Curtius habe Polen verheert, Stanislaus sei nach dem Beispiel des Abdolonymus König geworden, und die Schlacht bei Arbela habe die Niederlage bei Pultava veranlaßt." S. auch Blackstone, I, 5; Bolingbroke, A Dissertation upon paxties, Letters on the study and use of history, Letter VI, Wks. (Mallet), I I 358 ff., bes. S. 360, u. a. 24)



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Abkehr von dieser allgemeinen Gewohnheit entspricht hier doch dem tatsächlichen Bewußtsein von der Verschiedenheit alter und neuer Welt. Ein fruchtbarer Ansatz zu historischem Denken zeigt sich hier, und es bestätigt sich dabei wieder die Einsicht, daß der Wirklichkeitssinn der Staatsmänner es war, der den Weg zu historisch gerechterer Betrachtung bahnte. 25 ) Das hat hier natürlich nur ganz untergeordnete Bedeutung: Hamilton kam es doch dabei darauf an, den Blick seiner Zeitgenossen direkt und nicht erst durch die Brille vergangener Zeiten auf die Betrachtimg der Gegenwart zu lenken und sie zu deren voraussetzungsloserer und nicht durch Tradition getrübter Prüfung zu veranlassen. Man müsse auch die eigenen Erfahrungen nicht „nach momentanen Vorurteilen" bewerten24), sagt er, nicht nach den Theorien, Doktrinen, die gerade vorherrschen, sondern nach „Erfahrung und Vernunft". Dabei müsse man zu der Überzeugung kommen, daß auch in Amerika die „jealousy of power" eine ungebührliche Rolle spiele und verhindere, daß „wir alle die Vorteile aus dem Beispiel der anderen Nationen ernteten, die wir hätten ernten sollen". Auch in diesen letzten Worten spricht sich eine von der der meisten seiner amerikanischen Zeitgenossen verschiedene Gesinnung aus: eine Abweisung jenes nationalen Hochmuts, der gerade junge Völker dazu verleitet, nur eigene Einrichtungen, eigene Erfahrungen und Erkenntnisse für beachtenswert zu halten. Aus der Geschichte aller Zeiten gilt es zu lernen. Und eben jene Geschichte anderer Völker liefert ihm Beispiele zu allen seinen Vorschlägen, zu Fragen der Steuer- und Finanzpolitik und vor allem, wenn er nun wieder auf das Hauptthema kommt, das ihn beschäftigt, die Schwäche der Bundesregierung. Wir sahen, wie sich seine Meinung über die falsche Verteilung der Macht in den Jahren seines Dienstes in Washingtons Stab allmählich bildete und zu immer stärkerer Gewißheit wurde. Zu dieser Ansicht bekennt er sich auch im Continentalist. Nur ist sie hier erweitert, allgemeiner gefaßt; sie gilt nicht nur für Amerika, sie wird jetzt zur politischen Theorie, die ebenso für alle ähnlichen Verhältnisse gilt. Schwäche der Zentralregierung ist nicht ein Zeichen des Verfalls des Landes, sondern die gesetzmäßige Auswirkung von Kräften, die in allen Staatenbünden auftreten und besonders in Demokratien; sie liegen geradezu in der menschlichen Natur verankert, man muß also mit ihnen rechnen — aber man muß sie nicht treiben lassen, son26) 2e)

Vgl. Meinecke, Die Idee der Staatsraison, besonders S. 23/24. Works. I, 235.

Beiheft d. H. Z . 12.

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dem klug in die rechten Bahnen lenken. „Von den einfachsten Grundsätzen der menschlichen Natur kann man zwei Folgerungen ziehen: Einmal, daß jedes Glied eines politischen Bundes geneigter sein wird, seine eigene Autorität auf den Ruinen der Bundesautorität zu fördern, als irgendein unrechtes Zugeständnis zu deren Gunsten zu machen oder sie in unvernünftigen Ansprüchen zu unterstützen; zum anderen, daß die Untertanen jedes Gliedstaates ihren eigenen Sonderregierungen mehr zugetan und gehorsamer sind, als der der Union." 27) Alle Furcht, eine Bundesregierung könne jemals zu mächtig werden, ist also unbegründet. Zwei starke Hemmungen treten einer allzu großen Machtentfaltung der Zentralinstanz immer entgegen: erstens, die Tendenz bei den Einzelstaaten von ihrer Autorität möglichst wenig aufzugeben, eine Tendenz, die noch verstärkt wird „durch den Ehrgeiz der Beamten in jedem Staate, die ihre eigene Bedeutung mit der Macht der Regierung, deren Teil sie sind", verknüpft halten.28) Zweitens aber, Anhänglichkeit des Volks an die partikularen Gewalten. Diese naturhafte Bindung des einzelnen an sein Land fällt Hamilton immer wieder besonders auf; eigentlich — so hat man den Eindruck — weiß er nichts Rechtes damit anzufangen, aus primitivem Gefühl ist ihm die Liebe zu dem engen Umkreis der Heimat unverständlich. Er konstatiert sie wohl, aber mehr als ein Übel, mit dem der Politiker rechnen muß; er rechtfertigt sie schließlich bis zu einem gewissen Grade, aber mehr mit seiner verstehenden Vernunft als mit seinem Gefühl.29) Dieses wandte sich vielmehr weg von den Einzelstaaten, fast scheint es mit einem gewissen Bedauern für das Volk, das nun einmal diese Anhänglichkeit hatte. Sein Gefühl konnte sich nur erwärmen, wenn er auf den Gesamtstaat zu sprechen kämm; dann freilich konnte es ihn zu Begeisterung und edlem Pathos bringen. So etwa wenn er gegen Schluß des Continentalist alles Vorhergehende in die viel zitierten Worte zusammenfaßt: „Es liegt etwas Edles und Prachtvolles im Anblick einer großen Bundesrepublik, die eng verbunden ist in der Verfolgung eines gemeinsamen Interesses, ruhig und blühend im Innern, achtunggebietend nach außen; aber es liegt etwas ebenso Winziges und Verächtliches in dem Anblick einer Anzahl von Zwergstaaten, mit dem bloßen Schein einer Union, streitend» ") I, 238. 28 ) I, 238. M

) Ganz im Gegensatz dazu etwa Bismarck, dem bei allem Streben nach Einheit doch das Naturhafte viel bewußter blieb, und der ja auch die Idee der Einheit zunächst aus dem Interesse des Einzelstaates Preulßen heraus konzipierte.

— 83 — eifersüchtig, eigensinnig, ohne bestimmte Leitung, schwankend und unglücklich im Innern, schwach und unbedeutend durch ihre Unstimmigkeiten in den Augen anderer Nationen." 30 ) Ein mächtiges großes Staatswesen ist es also, das immer als Ziel seiner Wünsche entgegentritt. Schon früher sahen wir das und versuchten dabei, die Notwendigkeiten zu erkennen, die ihn dieses Ziel anstreben ließen. Man wird aber doch nicht fehlgehen, wenn man zu den angeführten Gründen noch einen Punkt hinzufügt, der den vernünftigen Überlegungen erst den gefühlsmäßigen Unterton gibt. Er war als Fremder in diesen Kontinent gekommen, war nicht von Jugend auf mit irgendeinem Teil des Landes verwachsen, wie die meisten anderen, der „Kontinent" war eigentlich seine Heimat geworden. Diese Tatsache, daß Amerika das Vaterland nicht seiner Geburt, sondern seiner Wahl war, prädestinierte ihn von vornherein dafür, den Gesamtstaat schärfer ins Auge zu fassen, die partikularen Tendenzen nicht in romantischer Spiegelung, sondern lediglich als politisches Hemmnis zu betrachten, das zu überwinden wäre. 31 ) Sie konnte ihn aber auch dazu führen, einen Staat zu wünschen, der das Individuum enger an sich band, gewissermaßen um die fehlende naturhafte Grundlage auf diese Weise zu ersetzen. Das Gefühl, das der mit dem Land Verwachsene diesem seinem Geburtslande zuwendet, trägt der Unverwurzelte dem Staat entgegen, erfüllt ihn damit und erhöht ihn dadurch in seinem Werte und seiner Bedeutung. Ihm kann es nicht genügen, daß der Staat jene „Freiheit" des Individuums schützt. Er wünscht, daß der Staat ein lebendiges, machtvolles Wesen sei, dem man dienen kann mit ganzer Kraft, das man lieben und für das man kämpfen kann. Es war vielleicht eine ähnliche Grundstimmung, die später Lasalle die liberale Staatsidee verhöhnen und ablehnen ließ mit jenem bekannten Worte von der , .Nachtwächteridee''.32) Solche Konsequenzen zog Hamilton bewußt nun noch nicht. Aber einen Gedanken entwickelt er in Ausführung seiner Ideen, 30

Works, I, 272/73.

31 ;

Siehe Oliver, S. 88: „Die künstliche und schädliche Lagerung der Staaten war ohne Zweifel leichter zu erkennen und schwerer zu entschuldigen von einem, der Amerikaner nur durch seine Wahl war und Bürger dieser rivalisierenden Gemeinwesen fast nur durch einen Zufall geworden war. Seine fremde Abstammung war deshalb ein Vorteil, da sie ihm ermöglichte, mit einem freien Geiste ohne die Hitze lokaler Voreingenommenheit, dii Probleme und Kräfte der Zeit zu betrachten." Vgl. auch Hanke, Franz. Geschichte II, S. 25. 32]

S. Lasalle, Arbeiterprogramm, in Klass. d. Pol. X V , S. 141.

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— 84 — der in ähnlicher Richtung liegt und der in dem ersten Plan noch nicht so deutlich hervorgetreten war. — Nicht nur die natürliche Anhänglichkeit bindet das Volk an die Einzelregierung, meint er nun, diese erhält „auch mehr Macht über die Gesinnungen ihrer Untertanen, als die gemeinsame, weil ihr Wirken direkter sein wird, einheitlicher und offensichtlicher. Das Volk gewöhnt sich daran, sie als gerechte Beurteilerin und Hüterin seiner persönlichen Belange zu betrachten, durch die die Leidenschaften des Pöbels, wenn nicht aller Menschen, am stärksten erregt werden".33) Es wird sie deshalb immer gegen die Bundesregierung unterstützen. Dagegen gibt es nur ein Mittel, nämlich: „daß man in jedem Staat eine solche Anzahl von Individuen an der Unterstützung der Bundesregierung interessiert, daß sie das Gegengewicht zum Ehrgeiz anderer hält und es diesem unmöglich macht, das Volk im Widerstand gegen die ersten und notwendigsten Maßnahmen der Union zu vereinigen".34) Um diese „Einflußmasse" (mass of influence) innerhalb jedes Staates zu schaffen, muß der Kongreß das Ernennungsrecht für alle „Zollbeamten, Steuereinzieher und Offiziere jedes Ranges" erhalten, d. h. also, das Recht, sich eine eigene ihm ergebene Beamtenschaft aufzubauen. Das war ein sehr fruchtbarer Gedanke, wenn auch im Continentalist noch nicht alle Konsequenzen aus ihm gezogen werden. Die Beamten sollen hier zunächst lediglich durch ihr persönliches Interesse an den Gesamtstaat gebunden sein, und für dessen Ziele dadurch werbend eintreten. Die weitere Folge war doch, daß das Volk enger mit den Organen der Bundesregierung in Fühlung kam und dadurch sich seine gefühlsmäßige Zuneigung zu einem Teil wenigstens auch auf diese hinwenden konnte. Das wird hier noch nicht ausgesprochen. In späteren Schriften werden wir diesem Gesichtspunkt in Ausführlichkeit begegnen.36) Alle Einzelfragen gipfeln also immer in der Erkenntnis, daß eine starke Zentralmacht nötig sei. „Politische Gesellschaften in enger Nachbarschaft müssen entweder stark unter einer Regierung vereint sein, oder es werden unabänderlich Wirren und Streitigkeiten bestehen:36) Das liegt nun einmal in der ss)

I. 239. I, 272. Auch hier wieder ein Hinneigen zur Bureaukratie des absolutistischen Staates. S6) S. die Reden in der Konvention von Philadelphia und den Federalist. *•) D a ß auch andere um diese Zeit für den Gedanken der Einheit einzutreten begannen, und wem dabei die Priorität zuzusprechen sei, ist hier nur von geringer Bedeutung. Indes scheint mir die Feststellung Channings (III, 475), daß Peletiah Webster der erste gewesen sei, der ihn ausS4)

— 85 — menschlichen Natur, und wir haben keinen Grund, uns selbst für weiser oder besser als andere Menschen zu halten." 37 ) Wie ist nun diese Vermehrung der Macht des Kongresses zu erreichen, worin soll sie bestehen? Aus den Forderungen, die Hamilton in dem Brief an Douane aufgestellt hatte, wird hier nur eine einzige herausgegriffen und durchgeführt: Keine Konvention zur Umgestaltung der Verfassung wird hier verlangt — das konnte man in dieser Zeit wohl kaum noch offen aussprechen — alle Kraft wird auf einen Punkt konzentriert, der am dringlichsten schien: dem Kongreß angemessene Einkünfte zu verschaffen. Denn „Macht ohne Einkünfte ist in einer politischen Gesellschaft nur ein leerer Name". 38 ) So lange deshalb der Kongreß zur Bestreitung der Kosten der Bundesregierung von den gelegentlichen Bewilligungen der einzelnen Staaten völlig abhängig ist, „kann er weder Würde noch Kraft noch Kredit haben". Ist überhaupt Kredit nötig ? Mit diesem Einwurf setzt sich Hamilton zuerst auseinander. Nur wer die wirklichen Einnahmen und Ausgaben des Staats nicht kenne, könne dies bezweifeln. Wie schon früher, beweist er auch jetzt, nur mit genaueren Zahlen, den „Ergebnissen von Erfahrung und Errechnung", daß ein Defizit im Staatshaushalt immer eintreten müsse.39) (Für Amerika schätzt er es auf 5—6 Millionen.) Das sei bei allen Nationen so, „sogar die mächtigsten und reichsten sind in Kriegszeiten gezwungen, zu Anleihen zu greifen, und daher stammt auch die tiefe Verschuldung der meisten Staaten Europas". 40 ) Wenn das reiche, dicht bevölkerte Frankreich, England und die Niederlande „bei all ihrer Klugheit und Sparsamkeit" große Schulden hätten, dann könne sich Amerika, wo es „wenig Leute mit großem Vermögen gibt und dieses meist in Grundbesitz liegt", über die eigenen trösten. Bei dem zu erwartenden raschen Aufschwung des Landes könne dies „ohne das Volk zu überlasten, innerhalb von 20 Jahren nach dem Friedensschluß abgezahlt sein". Wenn es also auch ein richtiger Grundsatz sei, daß man sich zur Vermeidung gesprochen habe, irrtümlich; dessen Schrift erschien erst 1783. Vgl. darüber auch die Kritik Farrands in Am. hist. Rev. X V I I , 162. Der Titel der Schrift von Peletiah Webster lautet: „Dissertation on the Political Union and Constitution of the Thirteen United States of North-America. 1 7 8 3 . " Beck (S. 94) gibt irrtümlich 1781 an! (s. Kap. I I I Abschn. 2 Anm. 12). Vgl. auch Curtis, I, 237, u, Anm. 75 des vorigen Abschnitts. »') Works, I, 241.

" ) I. 249.

*•) I. 251.

" ) I, 252-



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gegenwärtiger Ausgaben nicht in Schulden, d. h. in zukünftige Ausgaben, stürze, solange die eigenen Mittel ausreichten, so könne man die Richtigkeit, es zu tun, doch nicht leugnen, wenn diese den öffentlichen Anforderungen nicht entsprächen. „Anstrengungen über unser Vermögen können nur zu individueller Not und nationaler Enttäuschung führen" 41 ) — eine Maxime der Selbstbeschränkung, die ja nicht nur für finanzielle Verhältnisse gilt. Eine nationale Schuld aber kann sogar, wenn sie nicht übermäßig ist, ein nationaler Segen sein, meint Hamilton — allerdings bezeichnenderweise nicht im Continentalist, sondern in der zweiten Denkschrift über eine Nationalbank an Morris.42) „Sie wird ein mächtiger Kitt für unsere Union sein." Außerdem werde sie dazu zwingen, die Steuern in einer gewissen Höhe zu halten, was den Fleiß und die Arbeitskraft des Volkes anspanne.42®) „Wir arbeiten jetzt weniger als irgendeine zivilisierte Nation Europas, das Volk an Arbeit zu gewöhnen, ist aber ebenso wesentlich für die Gesundheit und Kraft seines Geistes und Körpers, als es zur Wohlfahrt des Staates beiträgt." Aus finanziellen wie aus staatspolitischen Gründen ist also eine Anleihe zu wünschen. Erhalten kann man sie aber nur, wenn man die nötigen Sicherheiten für die Zinsendeckung und Rückzahlung hat. „Kredit setzt ganz bestimmte dauernde Fonds für die pünktliche Bezahlung der Zinsen voraus, und moralische Sicherheit für die schließliche Tilgung der Schuld selbst." 43 ) Wie kann man dem Staat solche Fonds schaffen ? Nur dadurch, daß man ihm gewissen Besitz und gewisse ständige Steuern gewährt. Als Besitz muß man ihm einen Teil des Ertrags der Bergwerke zuweisen, und das Verfügungsrecht über alle unbesiedelten Ländereien, wobei bei diesen die „Rechtsprechung dem Staate vorbehalten bleibt, in dessen Grenzen sie liegen." 44 ) Was aber dringender für die Gegenwart ist und sofortiges Einkommen garantiert, ist die Einführung eines ergiebigen Steuersystems. Da erscheint als erster und wichtigster Punkt, dem Kongreß die Regulierung des Handels zu übertragen. „Sie ist nötig für Handel-, wie für Steuerzwecke" 45 ), begründet er diese Forderung. " ) I. 271. 42) Also in privaterer Form! Siehe Works, III, 124. 42 *) Über die Abhängigkeit dieses letzten Gedankens von Hume s. Beilage A. 43)

I. 249.

**) I, 249. 4 und 5. «) I, 248. 1 und I, 254 ff.

— 87 — Damit kommt er auf die Frage der Handelspolitik zu sprechen. Zunächst setzt er sich mit der Freihandelstheorie auseinander. Der Merkantilismus war — das darf man nicht vergessen — eine der Ursachen der Unabhängigkeitsbewegung gewesen. Gegen die merkantilistische Steuerpolitik Englands, die eine Beschränkung der eigenen Handels- und Gewerbefreiheit bedeutete, hatten sich die Kolonien aufgelehnt.46) Zuerst glaubte man England noch gewisse Überwachungsrechte über den Handel zugestehen zu müssen, aus politischen wie aus kommerziellen Erwägungen. Als der Bruch vollzogen war, konnte sich jene Theorie des laisser faire, laissez passer, die die Physiokraten ausgesprochen hatten und bewußter und begründeter Adam Smith im Jahre der Unabhängigkeitserklärung immer weiteren Eingang und größere Anerkennung verschaffen. Sie sei zu einer Art Mode geworden, sagt Hamilton. „Solche Personen bilden sich ein, eine gemeinsame leitende Macht sei nicht notwendig." 47 ) Er lehnt diese Lehre mit aller Schärfe ab. „Das ist eine jener ausschweifend spekulativen Paradoxe, die bei uns in Kredit gekommen sind und im Gegensatz zur allgemeinen Praxis und Anschauung der aufgeklärtesten Nationen stehen." Denn diese hätten sich gerade „durch zahlreiche Institutionen und Gesetze" mit Erfolg Mühe gegeben, den Handel zu heben, bestimmte Zweige zu kultivieren; die Vorteile dieser Politik und die Schäden, die ganz offenbar bei einer entgegengesetzten auftreten müßten, zwängen jeden Kenner der Wirtschaftsgeschichte zur Ablehnung der neuen Theorie. „Der Handel hat, wie andere Dinge, seine ganz bestimmten Grundgesetze, nach denen er geregelt werden muß. Wenn diese verstanden und beachtet werden, so wird er durch die Beihilfe der Regierung gefördert Sind sie unbekannt, oder werden sie verletzt, so wird man ihn schädigen." — Aber das sei ja ebenso bei „jedem anderen Teil der Verwaltung". 48 ) Ganz offen bekennt er sich also zur merkantilistischen Politik.49) „Die Handelsbilanz für eine Nation **) Gerade daß die amerikanische Loslösung sich gewissermaßen als Protest gegen die merkantilistische Handelspolitik vollzog und den Mißerfolg jener Politik zu beweisen schien, trug viel zur Verbreitung der Smithschen Lehre bei, die ja im gleichen Jahre publiziert wurde. Siehe Gide und Rist, S. 112.

") I. 254") I. 255a ) Er will sie nur rationaler durchgeführt wissen, als es in der meist recht instinktiven Praxis des Absolutismus geschah. Erst die Physiokraten hatten ja ein durchdachtes System der Nationalökonomie aufgestellt. Siehe Handwörterbuch der Staatswissensch. VI, 1038/42. Das allmähliche Her-



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günstig zu halten, sollte das führende Ziel ihrer Politik sein." Beschränkungen und Begünstigungen einzelner Handelszweige müßten davon bestimmt werden. Dabei erkennt er ganz richtig, daß die neue Theorie durch eine falsche Durchführung und Übersteigerung der alten veranlaßt war.50) Sie habe dem Staate nur sagen wollen, daß der Handel „seine fundamentalen Gesetze habe, im Einklang mit welchen sein Wirken geleitet werden müßte und daß jeder gewaltsame Versuch im Widerspruch dazu ihn meistens irrleiten würde". In diesem Sinne, meint er, sei die Maxime auch vernünftig gewesen; „aber seitdem hat man sie soweit ausgedehnt, daß sie nun jede Einmischung von Seiten der Staatsgewalt verwirft: ein Extrem, das ebensowenig mit Erfahrung oder gesunden Menschenverstand vereinbar ist, wie die Praxis, zu deren Diskreditierung es aufgebracht wurde." Ein vernünftig und mit kluger Beschränkung durchgeführter Merkantilismus also ist das richtige. In ähnlicher Weise habe ja auch Hume, den man gewöhnlich mißverstehe 51 ), nur die übertriebene kommerzielle Eifersucht der Staaten und die dadurch auftretenden Kriege zur „Bewahrung des Gleichgewichts" bekämpfen wollen, indem er darauf hinwies, „daß der Handel von allen möglichen psychischen und physischen Eigenschaften eines Volks" abhänge. Aber „die Natur der Regierung, ihr Geist, ihre Maximen und Gesetze in bezug auf den Handel gehören zu jenen konstanten geistigen Ursachen, die seine allgemeinen Ergebnisse beeinflussen". Auch Hume sei also durchaus nicht der Ansicht gewesen, „daß die regulierende Hand der Regierung nutzlos oder schädlich sei".62) Vor allem aber müsse man doch aus der Praxis anderer Nationen lernen: Englands Handel sei in weitem Maße durch die Fürsorge der Regierung seit Elisabeth gewachsen; Frankreich sei durch „einen anderen Geist in der Regierung . . . trotz überlegener Vorzüge" viel später zu kommerziellen Fortschritten gelangt. Aber durch die „Fähigkeit und unermüdlichen Versuche des großen Colbert" sei dann die Grundlage für den französischen Handel gelegt worden und durch die Politik, die seitdem weitergeführt wurde, sei er auf ungeahnte Höhe gestiegen; die Holländer, denen auswachsen aus der politischen Praxis klingt noch in der Smithschen Definition nach: „Ihr Zweck ist, das Volk und den Herrscher zu bereichern." (Gide und Rist, S. i.)

" ) I. 255/56. 61 ) Humes Essay „of the jealousy of trade", Works, III, 345, und „of the balance of trade", S. 330 ff.

") I, 257.

— 89 — man doch eine ganz besondere Kenntnis des Handels zugestehen dürfe, hätten ihn zu einem wesentlichen Gegenstand des Staates gemacht und ihn dadurch in einem weit über die natürlichen Voraussetzungen hinausgehenden Maße ausgedehnt. Der Handel brauche also eine Oberleitung und bei einem so eng verbundenen Staatensysteme könne diese nur bei der Zentralinstanz, der Bundesregierung liegen.53) Zugleich aber ergebe sich dadurch für diese die bequemste Steuerquelle. Handelssteuern, meint er weiter, sind aber auch für den Steuerzahler am wenigsten drückend. Sie werden unbemerkbar wenigstens zum Teil mit dem Preis der Ware mitbezahlt und fallen zumeist auf Artikel von nicht absoluter Lebensnotwendigkeit. Man müsse also diesen indirekten Steuern den Vorzug vor allen anderen geben. Dabei verbiete es sich für den Staat von selbst, sie zu hoch zu halten: „Die Erfahrung hat gezeigt, daß mäßige Steuern mehr einbringen als hohe." Das Land kann dadurch unter besseren Bedingungen mit dem Ausland handeln, Ein- und Ausfuhr werden steigen und dadurch mehr Waren zur Besteuerung kommen; zugleich werde sich die Versuchung, sie durch Schmuggel zu umgehen, verringern. Der Staat fahre also durchaus besser, wenn er sich in der Höhe der Auflagen beschränke. — Auch den Einwand, der Kongreß werde seine Macht parteiischer verwenden als die Staatenparlamente, weist er als grandlos zurück. Man könne eher das Gegenteil annehmen.54) Zudem ließe sich ja ein Modus finden, der eventuelle Überbelastung eines Staates in Handelssteuern durch Verrechnung bei anderen Steuerarten ausgleichen ließe. Nun wende man noch ein, die Handelssteuern wirkten nachteilig für die mehr agrarischen Staaten; denn da der Konsument die Steuern bezahle, so bezahlten diese Staaten gewissermaßen den Steueranteil der Handelsstaaten zum guten Teil mit.56) Diese Theorie sucht Hamilton mit zwei Argumenten zu widerlegen: i . Ob und inwieweit der Konsument die Steuern des Kaufmanns bezahlen müsse, hänge von der Marktlage ab, vom Verhältnis, von Angebot und Nachfrage. 2. Selbst wenn er sie bezahle, sei der Schaden nicht groß, da ein „starker gegenseitiger Einfluß zwischen den Preisen aller Waren in einem Staate" bestehe, „durch den sie früher oder später ziemlich genauen Ausgleich und richM

) I, 258. " ) I, 259.

" ) I, 260. Diese Auseinandersetzung wird hier nur deshalb angeführt, weil sie zeigt, wie immer wieder als Schluß Einheit und Macht der Zentralinstanz erscheint.

— 90 — tiges Verhältnis zueinander erlangen". Eine Erhöhung auf Importwaren werde also durch eine Steigerung der Preise für „Erzeugnisse von Land und Arbeit" aufgewogen werden. Diese Beweisführung lasse sich bei getrennten, sehr verschiedenen Nationen vielleicht nicht in vollem Umfang anwenden; in Amerika aber würden „durch die innere Verknüpftheit dieser Staaten, die Ähnlichkeit der Regierung, der Lage, der Sitten und Gewohnheiten . . . politische und kommerzielle Ursachen fast die gleiche Wirkung im Verkehr zwischen den Staaten haben, als zwischen den verschiedenen Teilen desselben Staates." 56 ) Man sieht, wie hier die verschiedensten Faktoren des Staatslebens zusammentreten und in ihrer Wirkung als Einheit gesehen werden. Und wie die Verschiedenheit zwischen einzelnen Staaten, die diese mit dem Selbstbewußtsein und dem Stolz des „native" stets betonten, zugunsten der Gemeinsamkeiten vor seinem Blicke beinahe verschwinden, die Grenzen gewissermaßen fallen, um einem Gesamtstaat Platz zu machen. Das ist auch schließlich das wesentliche an der Untersuchung : so stolz er auf diese seine Theorie ist, die er hier und später gern wiederholt, allzu große Bedeutung mißt er derartigen Doktrinen nicht bei. „Allgemeine Prinzipien in Gegenständen dieser Art sollten immer nur mit Vorsicht vorgebracht werden; bei experimenteller Analyse findet man Ausnahmen in einer Anzahl, die sie leicht zweifelhaft machen; und in Fragen, die das Bestehen und gemeinsame Glück dieser Staaten berühren, sollten alle hübschen und abstrakten Unterscheidungen klareren Interessen weichen und einleuchtenderen und einfacheren Regeln des Verhaltens." 67 ) Treten damit alle theoretischen Erwägungen zugunsten der Praxis und der Erfahrung anderer Staaten zurück, die seine Ansicht nur stützen konnten58), so fehlen doch auch in Amerika, meint er, alle Voraussetzungen zu den Einwänden. Gäbe es bis jetzt noch einige Staaten, die wenig Handel trieben, so seien doch die Bedingungen dafür so günstig, daß sich, wenn sie auf andere Weise Schaden erlitten, auch diese Staaten bald dem Handel zuwenden würden. Auch große Handelsstädte, die jetzt fehlten, würden bald entstehen. Die Niederländer hätten viel ungünstigere " ) I, 261. " ) I, 262. S. auch Anm. 50 des vorigen Kapitels. Vgl. dazu auch in einem Bericht an Morris, Works, V I I I , S. 70: ,,Ich hielt es für meine Pflicht, die Dinge so darzustellen, wie sie sind, nicht wie sie sein sollten," Worte, die an die bekannten Sätze in Kap. X V des Principe Machiavellis anklingen. " ) Denn außer einigen kleinen Versuchen hatte man ja die neuen Theorien noch nirgends erprobt.

— 91 — Vorbedingungen gehabt, und doch „Jahrhundertelang den ersten Rang unter den Handelsvölkern eingenommen". Die Förderung des Handels liegt ihm, so scheint es, bei seinen Erwägungen innerlich näher als die des Ackerbaues. Amerika ist für den Handel prädestiniert. Das ist seine Überzeugung, die öfter hervortritt. Seine geringe Verbindung mit dem Boden, seine frühe Tätigkeit im Geschäft mögen ihn in dieser Vorliebe bestärkt haben. Daß es nicht unrichtig war, was er wollte, hat ja die weitere Entwicklung seitdem bewiesen. Eine Begünstigung der Kaufleute hat er bewußt jedenfalls keineswegs damit gewollt. Im Gegenteil sucht er immer einen Ausgleich zwischen Land und Stadt zu schaffen. Es gäbe nichts Falscheres, als das ewige Gerede von einem Gegensatz zwischen Land und Handelsinteressen, meint er.59) Beide seien so eng miteinander verbunden, daß die einen nicht ohne Schädigung der anderen benachteiligt werden könnten. So würden auch gerade durch Handelsabgaben die Steuern, die sonst auf das Land fallen müßten, erniedrigt werden. Steuerfrei soll dieses freilich dabei nicht werden; denn Handelssteuern allein würden zur Deckung des Staatshaushalts nicht genügen. Hinzu treten soll eine Landsteuer und eine Kopfsteuer. Alle Klassen müssen den Staat unterstützen. „Den öffentlichen Notwendigkeiten muß genügt werden; das kann nur durch Beiträge der ganzen Gesellschaft geschehen. Einzelne Klassen sind weder fähig noch willig, für Schutz und Sicherheit der anderen zu bezahlen." Die Theorie der Physiokraten, daß die Steuern letzten Endes, auf welchen Stand man sie auch auflege, „durch einen unmerklichen Kreislauf schließlich doch auf dem Lande haften bleiben, der Quelle der meisten verwendeten Waren", habe zwar viel für sich, werde auch bis zu einem gewissen Grade durch die Erfahrung bestätigt — aber sie sei eben auf ein Extrem gebracht, wenn man deshalb den Handel abgabenfrei halten und das Land mit der Gesamtsteuer belasten wolle60), selbst wenn man mit seiner Theorie auch annehme, daß sie sich schließlich in den Preisen aller anderen Waren auswirken würde. Es sei doch von großer Wichtigkeit, daß keine Klasse „unter einem unmittelbaren Druck sinke". 61 ) Die große Kunst des Staates bestehe gerade darin, die öffentlichen Lasten so zu verteilen, „daß sie weder zuerst noch zuletzt zu schwer «•) I, 267. I, 266. S. auch Humes Essay: Of taxes. Hume, III, 359 und Beilage A. " ) I, 265 unten.

— 92 — auf Teile der Gesellschaft fallen, sonst müsse Not und Unordnung folgen". Und nun folgt ein Satz, der vielleicht am bezeichnendsten für seine Auffassung ist, und die Verflechtung aller Faktoren des Staatslebens zeigt: „Eine Erschütterung, die man einem Teile der politischen Maschine gibt, vibriert durch die ganze."82) Solche Erschütterungen zu vermeiden, ausgleichend zu wirken, ist also Aufgabe des Staates. Damit fällt nach Hamiltons Ansicht auch der Einwand weg, den man etwa gegen eine einheitliche Kopfsteuer mache, sie sei ungerecht gegen die Minderbemittelten, da sie von den Reichen nicht mehr als von ihnen verlange. Es sei eben unmöglich, meint er, „irgendeine Steuerart zu erfinden, die auf die ganze Gesellschaft gleichmäßig wirken würde.63) Es muß die Aufgabe der Legislatur sein, die Wagschale mit gerechter Hand zu halten, und eine durch die andere zu balancieren." Den Reichen könne man stärker heranziehen, indem man die Luxusartikel besteuere, das sei der einzige Weg, seinen Reichtum zu erfassen. Glaube man etwa, das bestehende Steuersystem mit seinen Einschätzungen arbeite gerechter? Es gebe ja geradezu in die Hände einzelner die Macht, über das Vermögen der Mitbürger zu verfügen. Dadurch widerspreche es offensichtlich der Freiheitsidee, nach der jeder Bürger von vornherein wissen müsse, welchen Prozentsatz seines Vermögens der Staat von ihm verlange. Die Zulassung dieses Systems sei wieder einmal ein Beweis, „wie oft menschliches Handeln die offenbarsten Gegensätze versöhnt. Im gegenwärtigen Falle die lasterhafteste Praxis despotischer Regierungen mit den freiesten Verfassungen und der größten Liebe zur Freiheit."64) Woher stammt diese geradezu leidenschaftliche Ablehnung des Einschätzungssystems? Ein wesentlicher Grund war sicherlich das Mißtrauen den Menschen gegenüber, verstärkt durch die tatsächlichen Vorkommnisse der letzten Jahre: „Steuerabschätzer werden immer eine Sippe kleiner Tyrannen sein, zu ungeschickt, wenn ehrlich, um ein so feines Vertrauen zu genießen und nur zu selten ehrlich, um sie mit Mangel an Geschicklichkeit entschuldigen zu können."66) Er hielt also den Gerechtigkeitssinn des «) Ebenda. ,3 ) I, 269/70. Die völlig Besitzlosen waren dabei ja in Pflichten und Rechten ausgeschaltet. " ) I, 270. " ) I, 270. Ihre Entscheidungen sind immer abhängig von „passions, prejudices, partialities, dislikes". Die Mängel dieses Steuersystems waren ihm kurz zuvor aufgefallen, als er seine Arbeit als „Continental receiver of taxes" für den Staat New York zu beginnen hatte. S. Brief an Robert

— 93 — einzelnen Privatmannes für geringer als den des Staates. Dieser hat ein Interesse daran, gerecht zu sein; jene aber werden aus ihren Eigeninteressen heraus nur zu gern den Nächsten benachteiligen. Daß ein Volk sich lieber von Leuten aus seiner Mitte, die es gewählt hat, besteuern läßt, als von der ihm fremden Regierung, ist Hamilton danach unverständlich: ihm stand der Staat primär näher; dieser allein konnte entscheiden, was für den Staatshaushalt notwendig sei, danach mußte sich die Besteuerung richten und von der Regierung festgelegt werden; das mußte sowohl dem einzelnen als auch dem Staate die größtmöglichste Sicherheit im Wirtschaften geben. Der Staat muß in normalem Zustande wissen, mit welchen Mitteln er rechnen kann, er muß also dauernde Einkunftsmöglichkeiten haben, die von Bewilligungen unabhängig sind. Dagegen richtet sich die schärfste Opposition — die alte Opposition, die die Parlamente gegen das Königtum führten. Sie gehe von der Voraussetzung aus, entgegnet ihr Hamilton, daß irgendeine Zeit kommen könne, „in der der Staat keine Einkünfte mehr brauchte und Steuern unnötig würden". Diesen Wahn müsse man entlarven und „die Augen des Volks der Wahrheit öffnen". 66 ) „Mit Kosten sind im gegenwärtigen Stand der Dinge alle Regierungen behaftet." Amerika sei zwar später sicher weniger Kriegen ausgesetzt als andere Nationen. Mächtige Nachbarn habe es aber auf allen Seiten und außerdem in nächster Umgebung die Wilden, deren Bündnis Feinde jederzeit erreichen können. Die „üblichen Vorsichtsmaßregeln" für die innere Sicherheit seien also auch hier nötig. 67 ) „Da wir ein Handelsvolk sind, muß Macht zur See der erste Gegenstand unserer Aufmerksamkeit sein und eine Kriegsflotte kann man nicht schaffen oder erhalten, ohne reichliche Einkünfte." Außerdem aber, und darauf legt er den größten Wert, erfordere „die Natur unserer populären Einrichtungen", d. h. die demokratische Organisation, eine zahlreiche Beamtenschaft, die man ausreichend besolden müsse. — Andernfalls würden die Geschäfte sicherlich immer in die unrechten Hände kommen. „Wir können, bis wir des Themas müde sind, über die Notwendigkeit der Uneigennützigkeit in Republiken predigen, Monis vom 17. Juni 82, VIII, 55. „Das ganze System, wenn man es so nennen kann, der Besteuerung in diesem Staate ist von Grund auf verdorben, drückend für das Volk und unproduktiv für die Regierung." Unter diesem Eindruck scheint dann Nr. 6 des Continentalist am 4. Juni geschrieben zu sein. S. auch die Briefe VIII, S. 57, 59 u. 66ff. " ) I, 267/68. •') I, 268.

— 94 — ohne einen einzigen Proselyten zu machen. Der tugendhafte Verkünder wird weder sich noch irgendeinen anderen überreden können, mit einer doppelten Portion Suppe zufrieden zu sein, an Stelle einer vernünftigen Entlohnung für seine Dienste. Wir könnten", fügt er spöttisch hinzu, „ebenso bald zum spartanischen Gemeinbesitz an Gütern und Frauen übergehen, zu ihrem eisernen Geld, ihren langen Bärten und ihrer schwarzen Suppe." 68 ) Und dann folgen jene eingangs des Kapitels zitierten Sätze von der Verschiedenheit der Verhältnisse in alter und neuer Zeit, mit denen er sich freimacht von einer falsch verstandenen Idealisierung der Antike, die nur den Blick für die wirklichen Verhältnisse der Gegenwart verdunkeln kann. Montesquieus These69), das leitende Prinzip der Republiken sei die Tugend, wird also von Hamilton nur sehr bedingt anerkannt. Fordern muß man sie immer, vor allem von sich, dann auch von anderen. Aber mit ihr zu rechnen, als der alleinigen bewegenden Kraft, ist für den Staatsmann nicht erlaubt. Die Menschen werden von Interessen getrieben, man muß schon zufrieden sein, wenn sie aus „wohlverstandenen Interessen" handeln und nicht aus „Leidenschaft und Vorurteilen". Diesen Interessen die für den Staat dienlichste Richtung zu geben, ist Aufgabe seiner Leiter. Wenn eine Beamtenschaft dem Staate dienen soll, dann muß dieser in ausreichender Weise für ihr Leben sorgen — sonst muß sie sich auf andere Weise schadlos halten, nicht zu seinem Vorteil. Gerade dadurch dringt Ungerechtigkeit und Willkür in den Staatskörper ein, die man doch vermeiden will. Und gerade durch eine Sparsamkeit an der falschen Stelle werden die Geschäfte ohne genügende Sorgfalt verwaltet, „und Erfahrung wird uns lehren, daß keine Regierung so viel kostet wie eine schlechte".70) Immer wieder also und immer stärker ist es der Politiker, der die Oberhand behält; immer mehr werden allgemeine Betrachtungen in den Hintergrund geschoben — sie werden wohl angestellt, aber doch zugleich in ihrer Bedeutung sehr eingeschränkt. Alle Theorien haben für ihn nur Bedeutung, wenn sie geeignet sind, die Wirklichkeit in richtiger Weise umzugestalten, die „politische Maschine", wie er sich ausdrückt, zu möglichst reibungslosem Funktionieren zu bringen. Die politische Maschine, die in ordentlichem Gang gehalten werden soll und der politische Körper, der krank ist und geheilt werden muß, das sind die beiden Ver68)

Ebenda. S. auch Anm. 24. Montesquieu, Esprit des lois. Buch III, Kap. 3. '») Works, I, 268. 69)

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gleiche, die in dem Briefen wechselnd gebraucht werden. Als Arzt und als Ingenieur steht er dem Staatsleben gegenüber und in beiden Eigenschaften will er eigentlich das gleiche: die Störungen beseitigen, die Krankheiten heilen und das ganze Leben so organisieren, daß es nun möglichst ungestört verläuft. Das Ideal wäre, wenn es zu einem perpetuum mobile würde, das sich ohne fremden Eingriff in alle Ewigkeit gesetzmäßig bewegte. So eigentlich sahen es auch die Physiokraten und mehr noch die Smithsche Schule: bei jenen ist es die Natur selbst, bei dieser das self-interest des Menschen, die die ewig bewegenden Kräfte abgeben. Das eigene Interesse des Menschen sieht auch Hamilton als die wesentlichste Triebfeder des Geschehens an. Aber er glaubt nicht, daß es von selbst in die rechten Bahnen treibe; denn außer dem Selbstinteresse sieht er doch immer noch andere Kräfte auftreten, die dessen rationale Auswirkung hindern: Leidenschaften, Vorurteile, Gewohnheiten; er bedauert, daß dies so ist, aber er kann diese nichtvernünftigen Gewalten nicht übersehen, zu oft sind sie während der Kriegsjahre störend aufgetreten. Der Mensch, das ist die weiterführende Erkenntnis, wird nicht allein von der Vernunft getrieben. Er ist — leider — kein so aufgeklärtes oder auch nur aufklärbares Wesen, wie es sich die optimistische Stimmung des 18. Jahrhunderts denkt. Es ist also eine Illusion, daß seine Handlungen, die er aus persönlichen Antrieben vollführt, von selbst im Einklang mit seinen wirklichen Interessen und vor allem mit den Interessen der Gesamtheit stehen.71) Es sind Zick-Zack-Wege, die er geht, die sich mit anderen überschneiden, andere durchkreuzen, oder von ihnen weitab führen. Es muß also eine Instanz geben, die die Wege genau vorzeichnet und die einzelnen leitet oder zwingt, sie zu benutzen. Kann aber nicht einmal Eigeninteresse, vernünftige Erkenntnis des eigenen Nutzens die Menschen zu richtigem Zusammenwirken bringen, um wieviel weniger kann man das dann von einer ethischen Forderung, von einem Tugendideal oder ähnlichem erwarten. „Die politische Tugend ist Selbstentsagung, die immer schwer zu erwerben ist", hatte schon Montesquieu gesagt.72) Eine starke Staatsmacht ist nötig, die die Fähigkeit und die Kraft hat, die einzelnen zu einheitlichem Wirken zu bringen, nötigenfalls auch durch Gewalt. Auch um des einzelnen willen ist sie also zu fordern. Damit schließt sich der Ring. Für das Individuum wie für die Gesamtheit, für die Führung des Krieges, für allgemeine, Fi71 72

) S. dazu Anm. 15. ) Montesquieu, Esprit des lois, Buch IV, Kap. 6.

— 96 — nanz- und Handelspolitik ist ein mächtiges Staatswesen notwendig, das alle auseinanderstrebenden Kräfte — der Einzelpersonen wie der Einzelstaaten — zusammenfaßt und zu einem dem Individuum und der Gesamtheit gleich förderlichen Wirken bringt. Der Wille zu einem solchen Gesamtstaat ist die Voraussetzung alles späteren Gedeihens, ohne ihn „werden wir niemals ein großes oder ein glückliches Volk werden, wenn wir überhaupt ein Volk bleiben". 73 ) Kapitel III.

Die Opposition gegen das herrschende System vom Friedensschluß bis zur Konvention von Philadelphia (1787). i. D e r Gedanke des R e c h t s in den P h o c i o n b r i e f e n . Faßt man die gedankliche Entwicklung Hamiltons bis zum Abschluß des Continentalist zusammen, so wird man feststellen können, daß sie bestimmt ist, durch die Auseinandersetzung mit den Ideen der amerikanischen Revolution. Er kommt ohne große Kenntnis der Verhältnisse, eher mit einer Voreingenommenheit für das englische Regierungssystem nach Amerika. Die neuen revolutionären Ideen stürmen auf ihn ein, er nimmt sie auf, ohne sich freilich dabei völlig von ihnen gefangen nehmen zu lassen. Ein politischer Instinkt wendet sich sogleich gegen Übersteigerungen — zunächst freilich nur, um Kritik an englische Verhältnisse anzulegen. Die Erfahrungen des Krieges lassen seine eigenen Gedanken immer mehr reifen; Kritik an einzelnen Gegenständen des politischen Lebens setzt ein, sie weitet sich zu einer Ablehnung des ganzen Regierungssystems, eigene Pläne zur Umgestaltung der politischen Wirklichkeit treten auf und werden ausgebaut. Der Continentalist bedeutet — kann man sagen — den Schlußstein in dieser Entwicklung. Die Erkenntnis von der Fehlerhaftigkeit der Regierungspraxis, des Staatsaufbaus und der zugrunde liegenden Anschauungen wird hier, wenigstens in wesentlichen Teilen, vertieft, zugleich wird damit begonnen, die notwendigsten Reformen zu propagieren, der öffentlichen Meinung in wichtigen Punkten zu widersprechen. Diese Entwicklung setzen die nächsten Jahre bis zur endgültigen Schaffung der neuen Verfassung fort. Waren die Jahre bis 1782 bestimmt von einem Durchringen zu eigener Meinung, so sind die nun folgenden charakterisiert durch eine immer heftigere Opposition gegen das bestehende System. Mit stets wachsender Schärfe, Bewußtheit und Uber" ) Works, I, 263.

— 97 — zeugungskraft wendet er sich gegen die Herrschaft des Volks bei den wichtigsten Entscheidungen; eine aristokratische Gesinnung, die ihm wohl von vornherein zu eigen sein mochte und die wir zuweilen schon durchscheinen sahen, gewinnt immer mehr die Oberhand. Bis er schließlich 1787 sich offen dazu bekennt, an ein gutes republikanisches Regierungssystem nicht zu glauben und die englische Verfassung für die beste und vernünftigste zu halten, da sie den richtigen Ausgleich zwischen Tradition und Neubildung, zwischen Autorität des Staates und Freiheit des einzelnen, zwischen Macht und Recht gewährleiste. Denn das sind die beiden Pole, um die sich sein Denken in diesen Jahren immer bewegt: Recht und Macht. Beide Kräfte arbeiten in gleicher Richtung: gegen Volkswillkür1), wie er es nennt, oder, wie man es vielleicht formulieren könnte, sie wenden sich gegen die Fortdauer der Revolution und kämpfen für ein geordnetes und Dauer versprechendes politisches System. Gesetzlichkeit als Grundlage politischen Handelns und Kraft und Machtbewußtsein bei der Durchführung sind die beiden Forderungen an den Staat, in denen alle Einzelheiten gipfeln. Die stärksten Beweggründe für diese Forderung, die mächtigsten Antriebe für sein Denken, gibt ihm dabei das Leben selbst. Einen guten Einblick in die Verhältnisse im Innern und die Verhandlungen mit dem Ausland erhält er zunächst durch die Zusammenarbeit mit der New Yorker Legislatur als Steuereinnehmer von New York, dann dadurch, daß er vom Staate New York als Delegierter zum Kongreß gewählt wird, dem er von November 1782 bis Ende Juli 1783 angehört.2) Doch auch Literatur ist in jener Zeit nicht ohne Einfluß: Da er sich auf die Zulassung zum Gericht als Rechtsanwalt vorbereitet, ist er zu eingehender Beschäftigung mit der Rechtsliteratur gezwungen.3) Ende 1782 *) Brief an Morris vom 13. August 1782. Man finde in der Regierung New Yorks „the general disease which infects all our constitutions, an excess of popularity". E r wendet sich gegen die Politik, die immer fragt: „What will please not what will benefit the people." Es gäbe keine Behörde, die einen eigenen Willen habe. (Works, VIII, 66.) *) Seine Tätigkeit im Kongreß, zu beschreiben ist hier unwichtig. .Seine Bestrebungen gehen, wie die Reden und Anträge (Works, I, 283/307) zeigen, in gleicher Richtung wie die im Continentalist, dabei vor allem gegen jede Halbheit. — Die Erfolglosigkeit seiner Bemühungen im Kongreß hat ihn dann offenbar zu immer radikaleren Forderungen zur Neugestaltung gebracht. *) J . C. H. (I, 398) erwähnt einen Kommentar zum englischen Recht, den Hamilton zu seiner eigenen Übung anfertigte und der längere Zeit an Schulen benutzt wurde. Beiheft d. H.Z. Iz.

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— 98 — schon legt er seine Prüfung ab, nach seiner Rückkehr aus dem Kongreß übt er seinen Beruf aus. Auch hier verbindet sich sofort privates und politisches Interesse: in dem Streit um die Auslegung des Friedensvertrags gegenüber den Loyalisten ergreift er deren Partei, in privater Verteidigung vor Gericht und zugleich als öffentlicher Ankläger in der Presse. So entstehen die beiden offenen Briefe „an die Bürger von New York", die die Signatur „Phocion" 4 ) tragen und deren Thema die „Politik der Zeit infolge des Friedens" ist. Über diesen Frieden und die durch ihn geschaffenen Verhältnisse zunächst ein paar Worte. Mit der größten Besorgnis hatten denkende Amerikaner einem weiteren Fortgang des Krieges entgegengesehen. Dessen Verlauf hatte sich indes während des Jahres 1781 — besonders durch französische Hilfe6) und durch ungeschickte Führung seitens der Engländer — über Erwarten günstig gestaltet. Schließlich war es am 19. Oktober 1781 zur letzten großen Entscheidung bei York-Town gekommen: der englische General Cornwallis war mit seiner gesamten Armee von Washington eingeschlossen und zur Übergabe gezwungen worden. Diese Schlacht, an der Hamilton als Anführer der Truppe, die die ersten Schanzen nahm, rühmlichen Anteil hatte, entschied schließlich den Ausgang des Krieges; danach geschah in militärischer Beziehung nur noch wenig von Bedeutung. Schon im April 1782, nachdem in England durch einen Ministerwechsel die Basis für Verhandlungen geschaffen war, begann die Arbeit der Diplomaten für einen Frieden. Die Verhandlungen zogen sich längere Zeit hin und wurden — das muß man wohl trotz aller gegenteiligen Feststellungen sagen — von amerikanischer Seite in echt machiavellistischer Weise6) unter Umgehung des bisherigen Bundesgenossen geführt. Der Frieden, der *) Der genaue Titel: To the Considerate Citizens of the State of New York, on the Politics of the Times in Consequence of the Peace. 1784. Unterzeichnet: Phocion. Works, III, 448—505. *) Luckwaldt, S. 127 f. und besonders S. 143 ff.: „Man kann es nicht stark genug betonen, der Unabhängigkeitskrieg ist . . . . durch Frankreich entschieden worden." Das ist heute auch die Auffassung der meisten amerikanischen Historiker. Schon Washington äußerte ähnliches. S. bei Rein, S. 158. Vgl. auch H. Oncken: Amerika und die großen Mächte, besonders S. 424/25. ') Das muß kein Vorwurf sein, aber es klaffte doch ein Widerspruch zwischen dieser Politik und den Erklärungen von Treue und Recht, die die Zeit beherrschten. S. Luckwald I, 147/48. Über die Verhandlungen Channing III, Kap. X I I und Winsor, V I I , Kap. II (von Jay, der an den Verhandlungen teilnahm, geschrieben).

— 99 — dann bald darauf abgeschlossen wurde, übertraf in seinen für Amerika günstigen Bedingungen, meinte Hamilton wenigstens, die größten Hoffnungen, die man sich gemacht hatte: er erkannte die Unabhängigkeit der Kolonien an7) und überließ ihnen das ganze Gebiet bis zum Missisippi mit Ausnahme freilich von Canada im Norden, das englisch blieb, und Florida im Süden, das wieder an Spanien zurückfiel; er gestand den Vereinigten Staaten die wichtigen Fischereirechte an den Neufundlandküsten zu. So war das Ziel des Unabhängigkeitskampfes erreicht. Die Kolonien waren als „Vereinigte Staaten" anerkannt und ihnen ein Gebiet zugewiesen, das mindestens für längere Zeit genügen mußte. War es doch mit seinen 1,8 Millionen qkm mehr als dreifach so groß als das Deutsche Reich vor dem Kriege.8) Die Folge dieses Sieges nun war ein Steigen des amerikanischen Selbstbewußtseins ins Ungemessene. Es war ein ähnlicher Vorgang, wie 1763 nach Vertreibung der französischen Macht: das gleiche unbändige Sicherheits- und Freiheitsgefühl, das sich damals gegen jeden Eingriff des englischen Parlaments wandte, trat auch jetzt auf; nun aber wandte es sich gegen den eigenen Kongreß. Man begann in den Einzelstaaten diese zentrale Macht jetzt als ebenso störend und mit den Freiheitsrechten in Widerspruch stehend, zu empfinden, wie zuvor das englische Parlament. Dessen Oberhoheit hatte man abgeschüttelt, dadurch, so argumentierte man, sei die Souveränität, die zuvor bei ihm gelegen habe, den Einzelstaaten zugefallen9); wieviel sie von ihrer Macht dem Kongreß übertragen wollten, das stünde in ihrem Belieben. Diese Theorien waren ja schon zu Beginn der Bewegung und während des Krieges aufgetreten, auch die Conföderationsartikel hatten sie eigentlich ausgesprochen; der Zwang der Umstände hatte ihre volle Auswirkung bisher noch hintangehalten. Jetzt, da man ohne Gegner zu sein glaubte, konnte man sich dieser Strömung ungehemmter hingeben. Was dadurch entstehen mußte, war ein Zustand der Unordnung in allen Dingen. Der Kongreß war faktisch machtlos geworden. Selbst bei der Ausführung des soeben abgeschlossenen Friedens glaubte man sich von seiner Bevormundung frei machen zu können. Man ließ sich die Vorteile des Vertrags gern gefallen, ohne sich dadurch zur Erfüllung eingegangener Verpflichtungen für gebunden zu erachten. — Eine der wichtigsten Bedingungen, die ') Die Akte bei Macdonald, II, 16/21. ») Dänell, S. 40. •) S. Brief Hamiltons an Jay vom 25. Juli 83. Works, VIII, 147/48 und Van Tine: Sovereignty in the American revolution. Am. hist. Rev., Bd. XII, 529/545-





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England gestellt hatte, war ja die Tolerierung der durch ihre Parteinahme für England verhaßten Loyalisten gewesen.10) Offenbar kam es England darauf an, auf diese Weise sich einen gewissen Einfluß auf einen Teil der Bevölkerung zu sichern. Zur Rückerstattung der konfiszierten Güter hatte man sich indes nicht verpflichtet, der Kongreß sollte sie lediglich den Einzelstaaten empfehlen. Den Verzicht auf alle weiteren Verfolgungen wegen Beteiligung am Kriege hatte man sich aber gegenseitig ausdrücklich versprochen. Dagegen begann man bald nach Abschluß des Friedens in New York und anderen Staaten zu verstoßen. Man bereitete Gesetze vor, um die Loyalisten von den bürgerlichen Rechten auszuschließen und ihr Vermögen zu konfiszieren.11) Gegen diese Gesetzesvorlagen richten sich die oben erwähnten Pamphlete Hamiltons, die in ihren wichtigsten Zügen nun zu besprechen sind. Auf den Geist des Whiggismus berufen sich die Befürworter der Maßnahmen, beginnt Hamilton nach einigen einleitenden Worten, in denen er betont, daß er nur aus Pflichtgefühl, zur Verteidigung der Errungenschaften der Revolution das Wort ergreife.12) Und gleichzeitig setzen sie „alle die wilden und dunklen Leidenschaften der Menschen in Bewegung". „Rache, Grausamkeit, Verfolgung und Treulosigkeit" fordern sie. Das widerspreche ganz dem wirklichen Geist des Whiggismus, zu dem auch er sich bekenne. Dieser verlange gesetzliche Freiheit, halte die Rechte jedes Individuums heilig, verdamme oder bestrafe niemanden ohne reguläre Untersuchimg und ohne daß er eines Verbrechens nach einem schon z u v o r gültigen Gesetzes überführt worden sei; gleicherweise würde dadurch die Bestrafung eines Bürgers „durch willkürliche Akte der Gesetzgebung wie durch illegale Bünde von 10 )

Friedensvertrag § 5 und 6. S. Anm. 7. ) Eine gerechtere Beurteilung der Loyalisten von Seiten der Amerikaner hat erst in ziemlich neuer Zeit eingesetzt. S. darüber Am. bist. Rev., Bd. I, S. 20 ff. Auch heute gibt es danach noch zahlreiche Amerikaner, die ihnen Patriotismus und edle Gesinnung absprechen. Soweit sie nicht von persönlichem Interesse getrieben wurden, waren es aber doch die Ideen des englischen Imperiums, die sie verfochten. Vgl. dazu auch Anfang des Kap. I, 3 (oben S. 28), ferner George £ . Ellis: The loyalists and their fortunes (Winsor, V I I , 185/214). n

12 ) Works, III, 448/49 und 487. (Ich ziehe hier die Gedanken aus dem ersten und zweiten Brief zusammen.) E r wendet sich besonders gegen das sog. ex post facto-law: Das ist ja eine Frage, die besonders nach Revolutionen oft auftaucht. Vgl. Lasalles „System der erworbenen Rechte" (Beurteilung bei Brandes, S. 41 ff. und 57 ff., und H. Oncken, S. 187) und auch heute die Frage der Fürstenabfindung.



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dazu nicht ermächtigten Individuen" 12 *) verworfen. Diese Prinzipien seien sogar in der Verfassung New Yorks festgelegt; der Versuch der Fürsprecher der geplanten Maßnahmen einen Teil der Bürger besitzlos zu machen, zu vertreiben oder wenigstens ihres Wahlrechts als Bürger zu berauben, stelle also einen offenen Verfassungsbruch dar. Er stehe aber auch im Widerspruch zu den Ideen, für die man gekämpft habe. 13 ) Jener Begriff der Freiheit, auf den man sich immer dabei berufen habe, bedeute doch im eigentlichsten Sinne, daß jeder Bürger zur Verteidigung seines Lebens und Besitzes Anteil an der Regierung habe. Dieser „Anteil an der Souveränität, zu dem jedes Individuum berechtigt ist 1 4 )", muß also unter allen Umständen gewahrt bleiben; ob er diesen Grundsatz anerkenne oder nicht, sei das wahre Kriterium des Whig. Man habe hier wieder ein Musterbeispiel, wie leicht Menschen ihre Prinzipien nach den Verhältnissen änderten: so lange sie angegriffen sind, sind sie eifrige A d v o k a t e n für Bürgerrechte, die sich gegen die Übergriffe der Macht wehren; sobald sie aber die Macht selbst besitzen, verletzen sie die Rechte anderer härter, als es zuvor ihre Bedrücker getan hatten. 15 ) Kann man, so fragt er, solche Männer, die „ihre Leidenschaften, Vorurteile und Interessen zum einzigen Maßstab ihrer und anderer Rechte" machen, noch Patrioten nennen ? „Die Geschichte der Menschheit ist voll von diesen traurigen Beispielen menschlichen Widerspruchs" 16 ), setzt er bitter hinzu. Diese Praxis aber, die freien Völkern nur zu gemeinsam sei, in Zeiten der Erregung den Leidenschaften des Augenblicks nachzugeben, könne — besonders für ein junges Staatswesen — sehr gefährlich werden: sie schafft Prinzipien und Präzedenzfälle, die in ihrer Rückwirkung früher oder später sich für das Volk selbst verhängnisvoll erweisen.17) Von Freiheit könne man in einem solchen Staatswesen jedenfalls bald nicht mehr sprechen. Die Staatsmänner Amerikas hätten deshalb eine besonders große Verantwortung: „Es ist mit Regierungen wie mit Individuen: erste Eindrücke und frühe Gewohnheiten geben eine dauernde Grundlage für Gemütsart und Charakter. Unsere Regierungen haben bis " • ) III, 448: ,,by arbitrary arts of legislation, as by lawless combinations of unauthorized individuals." " ) III, 487 und auch III, 466 ff. mit Zitierung Blackstones. " ) III, 453; III. 487. " ) III, 483. Vgl. dazu Machiavelli, Discorsi, I, Kap. 46. (Italienische Ausgabe, S. n o f . ) und Beilage B. " ) III, 483. " ) III, 450.



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jetzt keine Gewohnheiten. Wie wichtig für das Glück nicht nur Amerikas, sondern der ganzen Menschheit, daß sie gute annehmen I"18) Damit ist eigentlich alles wesentliche gesagt: der Staat muß auf strenge Gesetzlichkeit aufgebaut sein, ein „government of laws, not of men" ist zu fordern. Die strenge Einhaltung von Verfassungsbestimmungen ist die Voraussetzung jedes geordneten Lebens.19) Das Volk hat diese Verfassung geschaffen, so lange es nicht ausdrücklich deren Gültigkeit aufgehoben hat, muß es sich den selbstgewählten Gesetzen fügen. Nur in Fällen außerordentlicher Not, wenn das ganze Gemeinwesen in Gefahr ist, sind Ausnahmen gestattet. 20 ) Sonst aber müssen alle Gesetze im Einklang mit den Prinzipien der Verfassung stehen 21 ), — ein Grundsatz, der ja die Grundlage jedes Rechtsstaates bilden muß. Verstoßen also die Maßnahmen zur Entrechtung der Loyalisten gegen die Verfassung und damit gegen die eigene innere Sicherheit, so verletzten sie gleicherweise die Bestimmungen des Vertrags, deren Erfüllung so sehr im Interesse der Vereinigten Staaten gelegen und zu deren Einhaltung Amerika nach dem „Völkerrecht und den Regeln der Gerechtigkeit" verpflichtet sei.22) Diese Verletzung müsse zwei Folgen haben. Erstens, daß auch England die ihm ungünstigen Teile des Vertrags, soweit es in seiner Macht liege, nicht ausführe.23) Es könne sich weigern, seine Grenzposten zurückzuziehen, es könne Handel und Fischerei lahmlegen und auf eine Unterstützung in einem solchen neuen Konflikt könne Amerika bestimmt nicht rechnen.24) Denn das sei l8)

III, 503 und III, 499. Vgl. auch oben S. 14, Anm. 25. " ) III, 495 f. 20) III, 492. 21 ) Die entgegengesetzten Doktrinen werden scharf abgelehnt. Über solche Strömungen, die während der Revolution auftraten und — im Sinne Rousseaus und der Blackstoneschen Theorie von der Omnipotenz des Parlaments — dem Willen des Volks unbedingte Gesetzeskraft zusprachen, vgl. E. S. Corvin in Am. hist. Rev., Bd. X X X , S. 518. In einer in Boston 1777 gehaltenen Rede wurde z. B. erklärt, daß bürgerliche Freiheit nicht sei ,,a government of laws", sondern ,,a power existing in the people at large", „ t o alter or annihilate both the mode and essence of any form of government for any cause or for no cause but their own sovereign pleasum". « ) III, 451. 23) III, 459. Dabei Zitierung von Grotius. M ) Den Einwand, das sei gegen Englands eigenes Interesse, widerlegt er in einem Briefe mit dem eindringlichen Hinweis, daß sich auch die englische Politik stark von Affekten (passions) abhängig gezeigt habe, daß

— 103 — die zweite Folge des Vertragsbruchs, der Ruf (character) Amerikas werde bei den europäischen Staaten sinken, „das größte Unglück, das eine Nation befallen kann", wie er an anderer Stelle meint.25) Denn die Meinung, daß auf die Ausführung eingegangener Verpflichtungen kein Verlaß ist, der Mangel an Vertrauen im Ausland, habe ja seine Rückwirkung auch auf alle anderen Faktoren, insbesondere auf die Finanzen; das hatte man nun gewiß schon oft genug erfahren. Die Finanzen aber lagen gerade um diese Zeit so trostlos wie nie zuvor. Auch von diesem finanziellen Gesichtspunkt aus sei die Ausschaltung und damit wohl Entfernung der Loyalisten für den Staat schädlich. Sie entziehe dem Staat große Kapitalien, die doch zur Entwicklung eines nationalen Handels so wichtig seien.26) Gerade auch durch solche privaten Interessen, könne man die Tones, die jetzt noch dem neuen Staatswesen fern ständen, an den Staat binden.27) Daß man die Verfolgung schließlich noch mit der Zugehörigkeit zur anglikanischen Hochkirche (established church) begründe, widerspreche erst recht den Grundsätzen der Toleranz, die sich selbst in den despotischsten Staaten durchgesetzt hätten. Toleranz, das hätte man nun doch allgemein erkannt, sei die beste Politik in religiöser wie in jeder anderen Hinsicht. Frömmelei, Festlegung auf eine bestimmte, allein gültige Ansicht, sei schon in der Religion schädlich — um wieviel verderblicher noch, wenn sie in die Politik eindringe.28) Die wesentlichsten Züge der beiden Schriften sind damit gezeigt; eine zu eingehende Besprechung lohnt sich kaum — es kehren viel alte Gedanken wieder, die später konsequenter weitergeführt werden. Überhaupt hat es auf den ersten Anblick den Anschein, als sei Hamilton hier in seiner Gedankenentwicklung einen Schritt rückwärts gegangen. Als breche hier ein Rechtsgefühl durch, das man früher wohl schon erkannte, das aber doch verdrängt worden war von dem Ruf nach Macht. Auch daß Grotius, Vattel, Blackstone mehrfach zitiert werden, könnte diese Vermutung bestärken. Und in gewisser Hinsicht ist sie sicher auch sie von Menschen geführt würde, die ebenso von Affekten geleitet werden könnten wie die. Amerikaner. Brief vom Kongreß Juni 1783. Works, VIII, 119 ff. S. auch Brief vom 3. Oktober. VIII, 153 ff. " ) Works, III, 459 f. und Brief vom 24. Februar 1783. Works, VIII, 96 f. III, 501. i7 ) III, 462. Auch hier wieder: ,,die sicherste Stütze jedes Staatswesens ist das Interesse des Menschen usw." «) III, 500 f.

— 104 — richtig: das Rechtsstudium, dem er sich in den letzten Jahren gewidmet hatte, hatte offenbar seine Aufmerksamkeit auf und sein Gefühl für juristische Fragen erhöht, alte Vorstellungen mit größerer Kenntnis gestützt. Verändert hat sich dabei die Blickrichtung indes keineswegs, im Gegenteil: die politische Betrachtungsweise tritt offen zutage. „Daß Ehrlichkeit die beste Politik ist, daß Gerechtigkeit und Mäßigkeit die sichersten Stützen jeder Regierung sind, sind Maximen, die zu allen Zeiten wahr sind, wie sehr man auch immer sie abgenutzt nennen mag; obgleich nur zu selten beachtet, werden sie nie ungestraft vernachlässigt."29) Die Politik fordert das Recht. Das ist die eigentliche Grundlage auch hier; daß dabei ein persönlich starkes Rechtsbewußtsein mitspricht, das dann die Worte zu ungewöhnlicher polemischer Schärfe treibt, ist unverkennbar, ändert aber nicht die Tatsache, daß der Primat der Politik zukommt. Aus Briefen, die um diese Zeit geschrieben wurden, geht das ganz deutlich hervor:30) Humanität, Sinn für Recht und Gesetz machen nun einmal den Geist jener Zeit aus, man muß sich auf sie stützen, will man nicht isoliert unter anderen Mächten stehen. In einer anderen Zeit könnte man vielleicht eine andere Politik führen, heute ist dies die einzig mögliche — so könnte man etwas übertreibend vielleicht den zugrunde liegenden Gedankengang charakterisieren. Und freilich ist dies für Hamilton ein besonderer Vorzug der Zeit, daß sie forderte, Ethik und Politik in Einklang zu bringen — weil es für die Politik am besten sei. Er war wohl bereit, auch gegen das Recht *») Works, I I I , 465 f. ,0)

S. besonders den Brief v o m 7. Juni 1782 an General K n o x . Works,

V I I I , 53/54,

der

seine

Betrachtungsweise

deutlich

erkennen

läßt.

Als

Vergeltung für die Ermordung eines amerikanischen Generals (durch A n hänger

der

Engländer),

dessen

Mörder

die

Engländer

nicht

ausliefern

wollten, h a t t e Washington die Hinrichtung eines englischen Generals beschlossen. Hamilton wendet sich in einem Brief an General K n o x , einem Vertrauten Washingtons, in scharfen Worten gegen diese Maßnahme. erscheint

ihm

als

„unzeitgemäßes

Vorgehen

und

dem

nationalen

Sie Ruf

(character) a b t r ä g l i c h " ; sie widerstrebe dem „ G e i s t der Zeit, in der wir leben".

I n ganz E u r o p a gebe es in moderner.Geschichte kein ähnliches

Beispiel. Selbst der Feind habe seine Methode geändert, „aus Notwendigkeit, wie ich zugebe, aber die W i r k u n g ist die gleiche". maßte ein „so feierliches und wohlüberlegtes

Opfern des

A u c h ohnedies Unschuldigen

für den Schuldigen" verurteilt werden „ o n the present received notions of h u m a n i t y " ; es würde die Meinung a u f k o m m e n lassen, „ d a ß wir uns i n einem gewissen Grade noch i m Zustand der Barbarei b e f ä n d e n " ; eine s o gewaltsame Maßnahme brauchte den „ V o r w a n d der N o t w e n d i g k e i t " („plea

— 105 — zu verstoßen, wenn die Notwendigkeit dazu drängte. Ein solcher Zwang schien ihm auf jeden Fall immer zu einem Rechtsbruch nötig; mit leichten Ausflüchten, sobald sich die ersten Unannehmlichkeiten zeigten, den Rechtsweg zu verlassen, war nicht seine Art: aus einem Gefühl für Recht sicherlich, mehr noch aus dem Streben, die schwankenden Verhältnisse zu stabilisieren, Ordnung zu schaffen, die sicheren und Dauer versprechenden Grundlagen für ein großes Staatswesen zu legen. Er verfechte nur die Sache der nationalen Ehre, Sicherheit, des nationalen Vorteils, schreibt er in der gleichen Angelegenheit an den Präsidenten von New York. „Wir haben eine unabhängige Stellung eingenommen. Wir sollten in einer Weise fühlen und handeln, die im Einklang mit der Würde dieser Stellung ist." 31 ) Ein Staatswesen, das die Grundsätze, für die man gekämpft hatte, in fester und dauernder Form in sich faßt und verkörpert, wird aber auch von Einfluß auf die übrige Welt sein: Dieser Gedanke wird im Schlußwort des „Phocion" mit großem Schwung vorgetragen. Er war sicherlich nicht der einzige und erste, der ihn aussprach; dieses Bewußtsein, der Welt ein Beispiel zu geben, im Kampf für die Freiheit, war es ja, was der Unabhängigkeitsbewegung erst die Begeisterungskraft gegeben hatte. In allen Erklärungen und Dokumenten der Revolutionszeit kehrt dieser Gedanke wieder. Hier aber hat er doch eine ganz bestimmte, neue Prägung. Die Forderung, der Kampf hatte die Aufmerksamkeit Europas geweckt. Er hat eine „Revolution im menschlichen of necessity"). Gerade am Ende eines Krieges, bei dem man bisher humaner war, solle man eine solche Handlung vermeiden. Es könne die Meinung entstehen, „daß wir Hinrichtungen zu sehr lieben". Selbst daß Washington sich bereits dazu verpflichtet habe, sei kein Einwand: Inkonsequenz sei hier richtiger als Konsequenz. Vorwände ließen sich ja auf jeden Fall „zugunsten der Humanität" finden. Glaube man aber, eine Vergeltung sei unbedingt notwendig, so mfisse man einen anderen Modus dafür anwenden. — Und nun folgt ein Vorschlag, der Machiavelli alle Ehre gemacht haben würde. Man solle „under actors" verwenden und die Autorität, durch die es geschehe, in Dunkelheit hüllen (wrapt in obscurity and doubt). Nicht der Oberkommandant, der angesehendste Charakter Amerikas, solle Urheber eines Aktes sein, dem sich menschliches Fühlen widersetze. „Haben wir wenigstens ebensoviel Anstand als der Feind; und wenn wir Opfer haben müssen, bestimmen wir irgendwelche dunklen Agenten, um die Handlung auszuführen und das Odium zu tragen, das selbst der Gerechtigkeit immer folgen muß, wenn sie mit übertriebener Strenge durchgeführt wird." " ) Works, VIII, 123. S. auch Anm. 24.



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Denken" hervorgerufen, meint Hamilton, er hat den „Weg gebahnt zu Untersuchungen" über das Wesen des Despotismus, die ihn schließlich „in seinen Grundlagen erschüttern können". 32 ) „Daß aber (theoretische) Untersuchungen zu Handlungen reifen", dazu ist es nötig, „die Revolution durch ihre Früchte zu rechtfertigen." Gelinge dies nicht, so wäre der Glaube allgemein, daß die Völker einen Herrn brauchten, und nur „für Zügel und Sporen geschaffen" seien. Mit der größten Chance, sie zu fördern, habe Amerika „die Sache der menschlichen Natur" verraten. Nur der Bau eines festen und zugleich freiheitlichen Staatswesens kann die Welt von der Richtigkeit und Brauchbarkeit der Ideen überzeugen. — Man denkt an jene berühmten Sätze Rankes, in denen er darauf hinweist, daß „die Repräsentationstheorie ihre volle Bedeutung" erst bekam, „nachdem sie einen Staat gebildet hatte. Denn die Ideen greifen alsdann am schnellsten um sich, wenn sie eine bestimmte, ihnen entsprechende Repräsentation gefunden haben." 33 ) Es war also wichtig, einen solchen Staat zu schaffen, der die Ideen der Revolution repräsentierte und zugleich Lebensfähigkeit bewies. Das war von Bedeutung für die Weiterwirkung der Ideen — es war aber auch ohnehin unumgänglich notwendig, einen geschlossenen Staat zu schaffen: ohne ihn, so schien es, trieben die Vereinigten Staaten mit ihrer eben erst errungenen Unabhängigkeit ins Verderben.34) Von der stets abnehmenden Macht des Kongresses85), von dem immer weiteren Überhandnehmen der partikularen Tendenzen wurde schon gesprochen. Mit den Finan" ) Works, III, 504 f. 33 ) Ranke, Epochen der neueren Geschichte, S. 128/130. a4 ) Dieser seiner Aufgabe ist sich Hamilton in jedem Augenblick bewußt. Er lehnt eine herzliche Einladung eines französischen Generals, ihn in Frankreich zu besuchen, damit ab, daß er erst „solid establishments" in Amerika schaffen müsse, bevor er ins Ausland reisen könne. Dieser Ausdruck „solid establishments" kehrt immer wieder. Es seien nur noch „solid establishments" im Innern zu schaffen, schreibt er an Washington, als er ihm zum Abschluß des Präliminarfriedens gratuliert, „ u m unsere Union dauerhaft zu machen, um zu verhfiten, daß wir ein Spielball in den Händen europäischer Mächte sind, den sie einander nach Belieben zuwerfen; kurz, um unsere Unabhängigkeit wirklich zu einem Segen zu machen. Das ist leider ein schwieriges Werk; denn, um ein Bild aus der Mechanik zu gebrauchen, die Zentrifugalkraft ist in diesen Staaten viel stärker als die zentripetale, die Herde der Uneinigkeit sind viel zahlreicher als die der Einheit" (24. III. 1783. Works, VIII, 106). 35) Von 16 Millionen Steuern, die für 1781/88 ausgeschrieben waren, kamen nur 3 % Millionen ein.

— 107 — zen ging es rettungslos bergab, es fehlte das Geld, um den dringendsten Verpflichtungen nachzukommen. Das Militär konnte man nicht bezahlen, Unruhen entstanden hier und dort, Teile der empörten Armee wandten sich sogar gegen den Kongreß, um ihre — wohl gerechten — Forderungen mit Gewalt durchzusetzen. Und dieser fand dabei — auch das war ein Zeichen der Zeit — nicht einmal sofortige und wirksame Unterstützung durch die Milizen der Stadt Philadelphia, wo er tagte. 36 ) Man hütete sich in den Staaten, sich mit der Volksmeinung in Widerspruch zu setzen. Die Währung verfiel dabei immer mehr, an vielen Orten war sie überhaupt nicht mehr in Gültigkeit; alles trieb einem Chaos entgegen. Diese Verhältnisse können hier nicht eingehend geschildert werden, sie sind oft und ausführlich genug dargestellt worden. Nicht umsonst trägt diese Periode in der amerikanischen Geschichtsschreibung den Namen der „kritischen Periode". Es war nicht nur Hamilton, der damals pessimistisch in die Zukunft sah; Washington und andere dachten wie er. Immer größere Kreise waren allmählich überzeugt, daß es auf diese Weise nicht weitergehen könne. Wie sooft in der Geschichte der Völker war es die Not, die die Entwicklung weitertrieb. Schon früh hatte Hamilton erkannt, daß das die einzige Kraft war, die den Boden für eine Durchführung seiner Gedanken vorbereiten konnte.37) „Die Not allein kann eine Reform schaffen", das klingt immer wieder an. Ja, manchmal steigert sich dieser Glaube an die necessity in einer Weise, daß man an die necessità Machiavellis erinnert wird. „Wie diese Notwendigkeit schaffen, wie sie anwenden, und wie in richtigen Grenzen halten ?" fragt er einmal.38) Und als Morris von der Leitung der Finanzen zurücktritt, weil der Kongreß seine Pläne, Fonds als Grundlage für einen ordentlichen Staatshaushalt, für die Schuldenregelung und für den so notwendigen Kredit zu schaffen, nicht genügend unter3e ) So berechtigt Hamilton die Ansprüche der Armee findet, ja verbittert einmal (Works, V I I I , 109/10) schreibt, er würde zur Gewalt raten, wenn er wüßte, sie habe Erfolg, so energisch fordert er doch ein scharfes Vorgehen gegen die meuternden Teile des Heeres, die den Kongreß bedrohen. Dabei fallen die charakteristischen Sätze: The rights of government are as essential to be defended as the rights of individuals. The secnrity of the one is unseparable from that of the other." (Brief an John Dickinson. Works, V I I I , 1 2 4 f f . ; zit. Stelle S. 138.) 37 ) Schon 1780 taucht dieser Gedanke auf. S. Brief vom 6. September 1780 an seine Braut. Works, V I I I , S. i 3 f . 3S ) Brief an Washington vom 17. März 1783. Works, V I I I , 104 ff. Für Machiavelli vgl. Meinecke, Staatsraison, S. 47.



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stützte, meint Hamilton, so schlimm das für die Finanzen wäre, gerade die Vermehrung der Schwierigkeiten werde vielleicht zu einer vernünftigeren Politik zwingen.39) Es ist hier nicht die Aufgabe, zu untersuchen, welchen Anteil Hamilton an den sich nun vollziehenden Ereignissen hatte. Sicherlich wirkte sein Einfluß mit, daß aus jenem ersten Versuch die Handelsbeziehungen einiger Staaten zu regeln, schließlich nach eifriger Propaganda für und wider Änderung, die Konvention von Philadelphia entstand, die dann schließlich, ihre Vollmachten überschreitend, eine neue Verfassung schuf. Was am stärksten wirkte, war das Leben selbst, das Hamiltons Gedanken bestätigte. Man hatte in Annapolis, wo die Vertreter einiger Staaten zur Regelung von Handelsfragen 1786 zusammenkamen, eingesehen, daß sich eine gemeinsame Handelspolitik nicht durchführen lasse, wenn nicht gleichzeitig grundlegende Änderungen in der Verfassung vorgenommen würden.40) Daß England das ungeordnete Zollwesen ausnutzte, um seine eigenen Waren mit Vorteil in Massen ins Land zu werfen41), und dadurch die im Entstehen begriffene heimische Industrie schädigte; daß Konflikte mit England drohten, wegen der erwähnten Nichterfüllung der Verpflichtungen; daß man überhaupt die Gefahr erkannte, die durch die Nachbarschaft des ehemaligen Mutterlandes latent vorhanden war, da es ja nun die Stellung eingenommen hatte, die ehemals die Franzosen in Canada hatten42); daß auch die Indianer immer Grund zur Beunruhigung boten, all das führte schließlich dazu, daß die „Kontinentalpolitiker" mit ihrer Ansicht soweit durchdrangen, daß auf den Antrag Virginias eine Konvention zur Revision der Konföderationsartikel einberufen wurde. Sie wurde am 25. Mai 1787 eröffnet. Ihr Ergebnis war die neue amerikanische Verfassung, die das staatenbundliche Gefüge in ein bundesstaatliches umgebildet hat. " ) Brief an Washington. April 1783. Works, VIII, n o f f . 40 ) Die dort gefaßten und allen Staaten mitgeteilte Resolution, deren (allerdings gemilderter) Entwurf von Hamilton stammt, s. Works, I, 319/23. Vgl. besonders S. 322. 41 ) 1784 wurden für 1,7 Millionen Pfund eingeführt. Die Ausfuhr aber betrug nur 0,7 Millionen Pfund. Und der Unterschied wurde nicht wie früher kreditiert, sondern mußte in bar bezahlt werden. (Luckwaldt, I, 155 f ) 4: ) Über die Bedeutung der Außenpolitik für die Einigung Amerikas s. besonders Rein, S. 21. Auf die außenpolitische Gefahr durch Canada hatte Hamilton schon gleich nach dem Friedensschluß hingewiesen. Siehe Brief an Clinton vom 3. Oktober 83. V I I I , 153.

— 109 — 2. Der Gedanke zentraler Macht in der Konvention von Philadelphia. Die Rede, die Alexander Hamilton am 18. Juni 1787 in der Konvention von Philadelphia hielt1), ist eigentlich der klarste Ausdruck seines Staatsbildes, wie es sich im Laufe der Jahre geformt hatte. Um seine Ablehnung der vorgeschlagenen Pläne zu begründen, einen eigenen Entwurf zu kommentieren, holte er weit aus und gab in 5—6 stündiger Rede die staatsphilosophischen Grundlagen seiner Anschauungen. Ob diese Gedanken auf die Einzelheiten der späteren Verfassimg großen Einfluß hatten, ist umstritten. Man kann mit James Beck2) wohl annehmen, und die Diskussionen vor und nachher scheinen das zu beweisen, daß sie den meisten zu extrem waren, in ihren Grundsätzen und noch mehr in ihren Folgerungen. Einen starken Eindruck hinterließen sie auf jeden Fall. Und irgend etwas blieb sicher davon als Grundstimmung zurück. In diesem Zusammenhang ist das nicht des näheren zu untersuchen, — so reizvoll und wichtig es auch für die Klärung der Frage der Entstehung der amerikanischen Verfassung sein könnte.3) Hier ist nur zu fragen: Worin führen die dort ausgesprochenen Gedanken Hamiltons über die früheren hinaus, worin erweiterten sie oder fundierten sie tiefer ? Einige Züge wurden bereits angedeutet, jetzt sind sie genauer auszuführen. Eine Schwierigkeit besteht dabei allerdings: die Reden sind nicht in wörtlicher Fassung erhalten, sondern nur in zwei auszugsweisen Berichten, von denen der eine knapper und farbloser, aber von Hamilton autorisiert4), der andere oft weitläufiger, lebendiger den Tonfall wieder*) Über die Verhandlungen der Konvention gibt es eine ganze Literatur. S. u. a. Channing, III, Kap. 16 (auch die vorhergehenden Kapitel mit Tabelle der Verfassungen in den Einzelstaaten, S. 459 f). McLanghlin, The Confederation and the Constitution, 1905. James Beck: Die Verfassung der Vereinigten Staaten (deutsche Übersetzung von Dr. Georg Fischer, Berlin-Leipzig 1926). An deutschen Werken das erwähnte Buch von Kieselbach, (II S. 158 ff.), und von Reimann. Von geringerer Bedeutung Charles Meyerholz, Die Föderalkonvention von 1787. S. auch die entsprechenden Kapitel bei Luckwald und in den Biographien Hamiltons. Besonders Oliver, S. 461 f. 2 ) Beck, S. 126. 3 ) Die Frage ist unter dem Einfluß der Parteikämpfe zwischen den Föderalisten und Republikanern sehr verschieden in der Literatur beantwortet worden. 4 ) Madison, The Debates in the Federal Convention of 1787, Phil. 1901, New York 1920. ( E r s t m a l i g 1840.) S. Anm. Lodge, Works, I, 375.



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gebend, aber von einem Gegner Hamiltons geschrieben ist.5) Indem wir beide miteinander vergleichen und zugleich als wertvolle Ergänzung die eigenhändige Disposition6) Hamiltons zu dieser Rede heranziehen, wird es gelingen, ein ziemlich einwandfreies Bild von seinen Ideen zu jener Zeit zu erhalten. Das ist um so wichtiger, als gerade jene Rede schon von den Zeitgenossen mißverstanden wurde und nach Veröffentlichung der Sitzungsberichte erst recht eine oft zu scharfe und bisweilen ungerechte Kritik herausgefordert hat.7) Und Grund zum Angriff lag gewiß genug in ihr: Widersprach sie doch in fast allem den herrschenden Meinungen von links und zum guten Teil auch von rechts.8) Es gehörte großer Mut dazu, sie in dieser Freimütigkeit zu halten. Er beginnt mit einer Kritik der bereits vorgelegten Pläne. Er habe bis jetzt geschwiegen, aus Respekt vor den anderen älteren und überlegeneren Männern, und weil er mit den übrigen Vertretern seines Landes nicht übereinstimme. Die eingetretene Krisis zwinge ihn, seine Meinung zu äußern. Den beiden vorgelegten Plänen stehe er ablehnend gegenüber.9) Zunächst dem einen, unter dem Namen „New Jersey-Entwurf" bekannten, der Beibehaltung der bisherigen staatenbundlichen Verfassung verlangte und nur der Zentralmacht einige wichtige Zugeständnisse machte, „da er überzeugt sei, daß keine Verbesserung der Konföderation ihren Zweck erfüllen könne, wenn man die Staaten im Besitz ihrer Souveränität lasse". Den Einwand, die Konvention sei zu so weittragender Änderung nicht ermächtigt, schiebt er mit dem gleichen Argument beiseite, das schon in früheren Schriften entgegentrat. Man habe den Auftrag, „für die Erfordernisse der Union zu sorgen". J. C. H. hat allerdings nicht ganz unberechtigte Zweifel an der Behauptung Madisons geäußert, daß Hamilton seine Berichte gebilligt habe. S. J. C. H., II. 90/92, Anm. 6) Yates, Rob., The notes of the secret Debates of the Fed. Conv. of 1787, Phil. 1901. Die Auszüge aus Hamiltons Reden aus beiden Werken sind in Works, Bd. I, 363/403, wiedergegeben. Danach wird hier zitiert. *) Dieser Plan: Works, I, 353 f., J. C. H., II, 481 f.; er scheint vor der Konvention entworfen zu sein, da kein Bezug auf die vorgebrachten Pläne darin genommen ist. Manches scheint dann auch in der Rede ausgelassen worden zu sein. Für die Übersetzung wurde zum Teil die der deutschen Ausgabe des Beckschen Werkes benatzt. . 7 ) Vgl. Beck, S. 425 und Hamiltons Brief v. 20. Aug. 1787, Works, VIII, 179, und aus späterer Zeit (1804), Works, VIII, 610 ff. *) Es gab im wesentlichen zwei Parteien, die State rights party und die national oder continental party. Hamiltons Plan.ging noch über die Ideen der zweiten hinaus. •) Works, I, 363 (Madison).

— 111 — Was danach als richtig erscheine, müsse getan werden. Wichtige Änderungen nicht durchzuführen, weil die Vollmachten nicht ausreichten, hieße den Zweck den Mitteln opfern.10) Glaube man, die Einzelstaaten würden weitergehendere Reformen nicht ratifizieren, so müsse man sich eben ans Volk direkt wenden und für die Annahme jener Pläne werben.11) Darin also, daß man alles tun müsse, was man für das Glück des Volks für wesentlich halte, stimme er mit dem Vertreter des anderen Entwurfs überein — des sog. Virginia-Entwurfes, der einem nationalen Gesamtstaat zustrebte, aber doch im Sinne der späteren Verfassung den Einzelstaaten wichtige Souveränitätsrechte beließ, die Souveränität, wie man es aussprach, zwischen Einzel- und Gesamtstaat teilen wollte.12) Gegen eben jene Teilung der Souveränität aber glaubte sich Hamilton wenden zu müssen. Zwei Souveränitäten meinte er könnten innerhalb der gleichen Grenzen nicht zusammen existieren.13) — Doch bevor er die Fehler der einzelnen Vorschläge weiter bespricht, holt er weiter aus, um erst einmal allgemein klarzulegen, auf welchen Grundlagen sich Staat und Regierung überhaupt aufbauen lassen. Fünf Prinzipien unterscheidet er, die zur Stütze der Regierung notwendig seien. Erstens „ein aktives und konstantes Interesse, sie (die Regierung) zu unterstützen".14) Diese Grundlage fehle in den Vereinigten Staaten, wo der „esprit du Corps" die Staaten ihre eigenen Interessen auf Kosten des Gesamtinteresses verfolgen lasse. — In gleichem Sinne aber zur Stärkung der Sonderinteressen gegenüber denen der Gesamtheit, wirke das zweite Prinzip, das immer wirksam sei, die Liebe zur Macht.15) „Die Menschen lieben stets Macht", die Demagogen in den Einzel10)

I, 364 (Madison). Wie es dann ja auch geschah. S. dazu die früheren Äußerungen im 1. Entwurf an Douane. l s ) Nach Beck, S. 94/95 trat diese Definition zum erstenmal in einer Schrift von Peletiah Webster 1781 (muß 1783 heißen! Vgl. oben S. 84 Anm. 36) auf und wurde dann von Madison übernommen und in den Plan eingefügt. Über die Entwürfe s. ebenda, S. 116 ff. Die Entwürfe selbst bei Elliot, Debates, Bd. V, in Übersetzung bei Beck, S. 387 ff. M ) Works, I, 369 (Madison). 14 ) Works, I, 365, Madison; I, 377, Yates. 15 ) I, 365, Madison; bei Yates (I, 377) wird dieses Prinzip bezeichnet mit Utility and necessity, im Entwurf (I, 354) opinion of utility and necessity. Gemeint ist also offenbar, Nutzen und Notwendigkeit oder die Meinung, daß sie nützlich und notwendig sei, müsse zur Regierung hinführen; das Prinzip der Machtliebe aber, das eben immer wirksam sei, arbeite dagegen. S. auch J. C. H., II, 490/92, Anm. 11 )



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Staaten wollen Macht im Staate, daran hindert sie die Zentralinstanz; die Staaten selbst wollen eher die übertragenen Machtbefugnisse zurückgewinnen, als weitere Macht abgeben. Notwendig für eine Regierung sei aber, daß die Sonderbestrebungen überwunden würden und eine allgemeine Meinung von der Notwendigkeit und Nützlichkeit der Regierung vorherrsche. Dazu müsse kommen, drittens, die „gewohnte Anhänglichkeit des Volks".18) Auf eine solche enge Verbindung müsse sich die Staatsmacht stützen können. Da aber das Volk direkt nur mit den Einzelstaaten in Beziehung komme, wende sich Dankbarkeit und Liebe nur diesen zu. Nötig sei ferner für eine Regierung (viertens) Gewalt, „worunter erZwang durch Gesetze und Zwang durch Waffen verstehe."17) Beides sei nötig: durch Gesetze, und wenn nötig durch Waffen müsse es möglich sein, den Staatswillen durchzusetzen. Die gesetzliche Macht vor allem sei in der Union zu gering. Diese aber sei am wichtigsten. Die Anwendung von Waffen führe leicht zu Bürgerkriegen, die dann durch auswärtige Nationen ausgenützt werden könnten. Dagegen und gegen jede äußere Gefahr sei eine bestimmte militärische Macht für große Gemeinschaften imbedingt notwendig. Wichtig sei aber auch fünftens, daß die Regierung „Einfluß" auf die einzelnen habe18); „er meine damit nicht Bestechung, aber die Verteilung jener regelmäßigen Auszeichnungen und Vorteile, die eine Anhänglichkeit an die Regierung hervorbrächten". Aller darauf beruhende Einfluß liege jetzt bei den Einzelstaaten und müsse bei ihnen liegen, solange sie weiter bestehen blieben. „Alle Leidenschaften", faßt er zusammen, „Habsucht, Ehrgeiz, Interesse, die die meisten Individuen und alle öffentlichen Körperschaften regieren", kommen den Einzelstaaten nicht dem Gesamtstaate zugute. Konsequente Folgerung also: Will man diesen Gesamtstaat schaffen, will man die Leidenschaften in diesen Strom lenken, so müssen die hindernden Zwischengewalten fallen, nur eine „vollständige Souveränität in der Gesamt-Regierung" kann aus der Notlage helfen. So fließen hier wieder die alten Gedanken zusammen, werden ergänzt und durch die bekannten Beispiele anderer Staatenbünde erläutert, um die Notwendigkeit eines einheitlichen nationalen Staates zu begründen, alle halben Versuche abzulehnen. l t ) Madison, I, 265: An habitual attachement of the people; Yates, I, 377, und Entwurf, I, 355: habitual sense of Obligation. l ? ) I, 366, Madison; I, 377, Yates; I, 355, Entwurf. " ) Madison, I. 366. Entwurf, I, 355: „Um irgend etwas zu vollbringen, müssen die Leidenschaften auf die gemeinsame Regierung hingelenkt werden."



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Hier aber stockt er; sein politischer Instinkt sagt ihm, daß diese Forderung für die öffentliche Meinung zu weit gehe. Er wolle diese nicht durch eine so radikale Forderung, wie es die völlige Beseitigung der Einzelstaaten darstelle, verletzen. Aber diese allgemeine Gegnerschaft ist für ihn auch der einzige Grund, weshalb er nicht die völlige Beseitigung der Einzelstaaten im Ernst fordert. Denn nötig, meint er in völlig rationaler Beweisführung, sind sie keineswegs „für irgendeinen der großen Zwecke der Regierung, weder für Handel noch für Ackerbau, noch für Steuerregelung." 19 ) Untergeordnete Autoritäten sind freilich nötig: Distriktsgerichte, lokale Verwaltungsbehörden. „Aber cui bono der weite und ausgedehnte Apparat", der mit dem System der Einzelstaaten verbunden ist? Er komme nur teurer; durch Beseitigung der Einzelstaaten, könnten Ersparnisse entstehen. — Das ist der eine Gedanke, in dem seine Ansicht der aller anderen widerspricht, den er vorträgt und begründet, ohne doch seine konsequente Durchführung für möglich zu halten. Jedes bundesstaatliche oder gar staatenbundliche Gefüge scheint ihm unzweckmäßig, also ist die einzig richtige Organisation, so scheint es ihm, der Einheitsstaat. Ähnlich wie in der Frage der Staatenverbindung geht es ihm in der der Staatsform. Er äußert starke Zweifel, ob man eine „republikanische Regierung" über ein so weit ausgedehntes Land errichten könne, bemerkt aber gleich, daß es trotzdem unklug sein würde, eine andere Form vorzuschlagen. Er scheue sich indes nicht, als seine private Meinung zu erklären, daß „die britische Regierung die beste in der Welt ist und . . . ich zweifle sehr, ob irgend etwas Geringeres als diese für Amerika geeignet sein wird." 20 ) Er erinnert dabei an die Wandlung der Anschauung, die in Amerika in den letzten Jahren stattgefunden habe und weiter stattfinde. „Die Mitglieder, die am zähesten am Republikanertum hängen, eifern so laut wie nur irgend jemand gegen die Fehler der Demokratie." Er sei der Überzeugung, daß die Ansicht Neckers, des französischen Staatsmannes, immer mehr durchdringe, daß die englische die einzige Regierungsform sei, „die Staatsmacht mit Sicherheit für den einzelnen verbindet." 21 ) In jedem Gemeinwesen, führt er zur Begründung weiter aus, in dem man das Aufkommen des Gewerbes fördere, finde eine Teilung in „the few and the many" statt, eine Teilung in eine w

) I, 369, Madison. ) I, 370, Madison.

20 21

) I, 3 7 1 , Madison; I, 382, Y a t e s .

Beiheft d. H. Z. 12.

8

— 114 — Minderheit von Reichen und die Masse des Volks. Dadurch entständen getrennte Interessen, die gegenseitig das Bestreben hätten, sich auf Kosten des anderen durchzusetzen. Beide Arten von Interessen müßten sich legal in der Regierung auswirken können, keines dürfe die alleinige Herrschaft haben; da jede Klasse, wenn sie die Macht habe, nach der Unterdrückung der anderen strebe, müßten beide zugleich Macht haben, „damit sich die eine gegen die andere verteidigen kann". 22 ) Diese gegenseitigen „checks" seien es, die die englische Verfassung so sehr auszeichneten. Das Volk dränge immer auf Veränderung, denn das liege in seinem Interesse und entspreche seinen Leidenschaften. Wie oft man auch behaupte, Volkes Stimme sei Gottes Stimme, es sei in der Tat doch falsch. Das Volk sei unruhig (turbulent) und wechselnd, sein Urteil treffe selten das Richtige. 23 ) Als Ausgleich müsse also die Klasse der „Wenigen" wirken, deren Interesse auf Erhaltung des bestehenden Zustandes hinauslaufe und die deshalb Stetigkeit im Staatswesen verbürge. Deshalb sei das britische Oberhaus eine so treffliche Einrichtung 24 ), da es verderbliche Neuerungen vom Unterhaus wie von der Krone her einschränke. Einen ähnlichen lebenslänglichen Senat brauche man also auch in Amerika, selbst siebenjährige Amtsdauer wie man vorgeschlagen hatte, sei zu gering, man vergäße dabei die „erstaunliche Heftigkeit des demokratischen Geistes". Bezüglich der Exekutive gebe man zu, daß „auf republikanischen Grundsätzen", d. h. durch gewählte Körperschaften, eine gute Exekutive nicht gebildet werden könne. „Heißt das nicht", fragt Hamilton, „die Hauptpunkte der Frage zugeben, kann es denn eine gute Regierung ohne eine gute Exekutive geben?" 25 ) Auch darin sei das englische Muster wieder " ) I, 371, Madison. 25) I, 382, Yates; im Entwurf S. 358 noch: „ Q u e l l e der R e g i e r u n g — die U n v e r n t t n i t i g k e i t des V o l k s . " S. auch die Auseinandersetzung Aber die Urteilsfähigkeit des Volks bei Hegel, Philosophie des Rechts, § 317 und 318 (Ausgabe Lasson, Leipzig 1911, S. 257 und 258). Dort auch Zitierung des Goetheschen Epigramms: „Zerschlagen kann die Masse, da ist sie respektabel, urteilen gelingt ihr miserabel." Anmerkung des Herausgebers (Lasson): „Die Frage wurde schon im Altertum verhandelt und im 18. Jahrh. mit Vorliebe bejahend beantwortet." (Preisfrage Friedrichs des Großen.) 24) I, 371, Madison. 26) So bei Madison, I, 372. Im Entwurf (I, 359) noch schärfer: „Man sagt, eine republikanische Regierung lasse eine kraftvolle Exekutive nicht zu. Sie ist deshalb schlecht; denn die Gate einer Regierung besteht in einer kraftvollen Ausführung." Im Federalist dann gemildert. Vgl. u. S. 142, Anm. 61.

— 115 — vorzüglich. Der König sei durch sein monarchisches Interesse und durch große persönliche Vorteile so eng mit der Nation verbunden, daß er über Bestechungsversuche des Auslands erhaben sei; „zu gleicher Zeit aber ist er unabhängig genug, und doch unter genügender Kontrolle, um dem £weck der Einrichtung im Innern zu entsprechen." Dieser Zweck ist neben der wirksamen Ausführung der Gesetze, einen Ausgleich zwischen Ober- und Unterhaus zu schaffen, einen weiteren „check" in das Regierungssystem einzufügen. Die Gefahr ausländischer Einflußnahme durch Bestechung sei gerade in Republiken besonders groß, wie das Beispiel Athens und Hollands zeige. Was für eine Folgerung könne man daraus ziehen ? „Daß wir um Festigkeit und Dauer zu erreichen, so weit gehen müssen, wie es die republikanischen Grundsätze nur irgendwie zulassen." Eine der beiden Kammern der Legislative solle ihren Sitz für Lebenszeit oder wenigstens während der Zeit guten Verhaltens haben. Ebenso solle die Exekutive auf Lebenszeit bestimmt werden. Eine Amtszeit von nur sieben Jahren werde kaum Leute veranlassen, ihre privaten Geschäfte zu opfern und dem Staate ganz zu dienen. Will man sich die besten Bürger sichern, so muß man ihnen Stellungen geben, die sich für sie lohnen. Und gerade, indem man dem Senat und der Exekutive eine solche unbegrenzte Amtsdauer gebe, beuge man den Versuchen vor, das Amt durch ungesetzliche Mittel länger als bestimmt sich zu erhalten und vermeide dadurch viele Parteiungen und Wirren, die daraus entstehen müßten. Republikanisch bleibe dabei die Staatsform weiterhin, da „vom Volk alle Beamten angestellt und alle Lücken ausgefüllt werden oder doch durch ein Wahlverfahren, das vom Volk ausgeht." 26 ) Im übrigen sei die Wahlmonarchie, der sich dieser Plan zu nähern scheine, von „gerechten Schriftstellern" als die beste Regierungsform anerkannt worden, wenn man — was sich doch bewerkstelligen lasse — durch irgendein Wahlverfahren die Tumulte bei der Wahl vermeiden könnte. Diese seien nicht mit dem Prinzip der Wahlmonarchie selbst verbunden, sie seien nur einzelnen Beispielen — Rom, Polen, dem Deutschen Reich — entnommen, wo unabhängige Macht und reiche Mittel der Wähler Parteiungen und Unruhen ermöglichten.27) Fassen wir zunächst noch einmal seine Forderungen für die Umgestaltung des amerikanischen Staatswesens zusammen, um daran die allgemeinen Grundsätze, die dieser Forderung zu Grunde liegen, 2e ) I. 373. Madison. Er weist dabei darauf hin, daß das Wort Monarchie, Republik usw. vieldeutig sei. S. darüber auch Bern. Olivers, S. 155/56. 27 ) Madison, I, 374. S. das Wahlverfahren im Entwurf (I, 331/33).





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zu erkennen. Als erstes: statt eines Staatenbundes oder Bundesstaates soll ein Einheitsstaat gebildet werden. Die Souveränität der Einzelstaaten soll fallen, die Regierungen sollen zu administrativen Körperschaften degradiert werden. Sie sind nur ausführende Organe der Gesamtregierung, die über ihnen steht und souveräne Macht erhält. Sie wird vom Volk gewählt, nicht von den Staaten-Legislaturen, die ja in Wegfall kommen, oder nur untergeordnete Bedeutung haben sollen. Sie wendet sich auch direkt ans Volk, kommt durch ihre eigenen Organe direkt mit dem Volk in Berührung, und lenkt auf diese Weise Interesse, Vertrauen und Anhänglichkeit'des Volks auf sich. Wieweit die einzelstaatlichen Behörden dabei noch eigene Machtvollkommenheiten behalten, ist nicht klar ausgesprochen, vielleicht bewußt, um die Öffentlichkeit nicht zu sehr abzuschrecken, vielleicht auch, weil ihm die Ausführung von Details damals nicht sehr wichtig war. Denn da er sich bald bewußt werden mußte, wenn er es sich nicht von vornherein war, daß er mit der Durchsetzung seines Planes keinen Erfolg haben würde, kam es ihm wohl stärker darauf an, die Gesamtrichtung zu markieren, in die er die Entwicklung getrieben wissen wollte, als das Endziel in allen Einzelheiten zu zeichnen.28) Und diese Richtung ist ganz klar und ein eindeutiger Abschluß der früheren Gedanken: sie geht geradeswegs auf einen geschlossenen, zentralisierten, rational gegliederten und verwalteten Einheitsstaat. Nur ein politischer Instinkt hielt ihn vielleicht davon ab, etwa auch die Grenzen der einzelnen Länder zu verwischen — ähnlich wie das die in der französischen Revolution durchbrechende zentralistische Tendenz des französischen Staates tat — manche Andeutungen sind in dem Verfassungsplan zu finden, den er der Konvention zur Verdeutlichung seiner Ideen, wie er sagte, übergab; 29 ) so scheint es, daß er bei der Wahl des Präsidenten an die Einteilung in Wahlkreise dachte, die von der staatlichen Grenze unabhängig waren. Sei dem wie auch immer, ein so einheitlich wie 2S )

E s sei seine Politik stets gewesen, über das Ziel hinauszuschießen

und dadurch die Zögernden wenigstens ein S t o c k vorwärts zu treiben, bemerkt Oliver, S. 142. *•) Siehe Works, I, 331/33, und den ausgearbeiteten Verfassungsentwurf, der nicht eingereicht, nur später Madison gegeben wurde (I, 334/52), und A n m . Lodges, Works, I, 331. Vgl. auch die späteren Brie. (1799), Works, V I I I , 521.

Diese Neigung zum Zentralismus, die mit reinen Nützlichkeits-

erwägungen begründet wird, kann doch eigentlich völlig aus diesen rationalen Gründen nicht erklärt werden.

Soweit mußte sie dadurch nicht geführt

werden. D a ß er im Inneren gar nicht so weit habe gehen wollen, wie man gemeint h a t (s. A n m . 28), ist auch kaum anzunehmen.

I m Gegenteil darf m a n

- 117 — möglich organisiertes Staatswesen war sein eigentlicher Wunsch. Diese Verkennung und Ablehnung des organisch Gewordenen in den Einzelstaaten, trat bereits früher auf, gelangt aber hier erst zu schärfster Durchbildung und Formulierung. Die gleiche Abwendung von dem Gewordenen, die Forderung einer Neubildung nach klar erkannten und bewußten Grundsätzen tritt auch bei dem Plan entgegen, den er für die Regierung dieses Einheitsstaates entwirft. 30 ) Zugleich zeigt sich hier wieder eine starke Abhängigkeit von der englischen Verfassung oder besser von ihren Interpreten, vorzüglich von Hume, den er im Verlauf der Debatte zwar nur einmal zitiert, dessen Gedanken aber des öfteren ohne wörtliche Zitierung wiederkehren. Die Menschen und Staaten werden von Leidenschaften, Interessen und vom Streben nach Macht getrieben, diese Ansicht kehrt auch hier wieder und bildet den Unterton aller Ausführungen. Diese Anlage des Menschen muß der Politiker kennen, mit ihr rechnen, sie benützen. „Die Wissenschaft der Politik ist die Kenntnis der menschlichen Natur" 31 ), kann er jetzt sagen. Ja, selbst das System der Ämterverteilung und Verleihung von Geldgeschenken an Mitglieder des Unterhauses von Seiten der Krone, das man mit dem Namen Korruption bezeichne, kann er jetzt mit Hume rechtfertigen als wesentliches Recht der Krone, das „das Gleichgewicht der Verfassung erhält". 32 ) Man habe in Amerika viele Ideen über Vertrauen, Patriotismus etc. aufgenommen, man habe Gefallen an der eigenen Meinung gefunden und stelle sie nun als, .unbezweifelbare Wahrheiten" auf. Für einige wenige, meint er, mögen diese Doktrinen wohl zutreffen. Für die Gesamtheit der Menschen seien sie falsch. Das ist schließlich auch der tiefere Grund für seine Ablehnung der Republik. Auf idealen Tugenden hatte man sie in der Theorie begründet 33 ); da diese für ihn nicht existierten, war auch die Regierungsform, die ein solches Tugendprinzip als Grundlage in aller vielleicht vermuten, daß hier sein Gefühl stärker mitsprach, als es in der Begründung scheint. Auf die Wurzeln seines Patriotismus wurde früher schon (im Continentalist) hingewiesen; vielleicht kann man noch hinzufügen, daß es das französische Blut in ihm war, das nach Formung, einheitlicher, klar übersehbarer Gestaltung drängte. Natürlich ist eine solche Vermutung nur mit aller Vorsicht zu äußern, wir erkennen ja stets mehr die Auswirkungen als die Ursachen, die sie veranlaßten. 30) S. Anm. 29. «) I, 388, Yates. S2) I, 290, Madison; I, 289, Yates. Siehe Hume, Of the independency of Parliament. (Hume, Phil., Works, III, 120 f. u. Beilage A.) 33) S. Abschnitt Continentalist oben S. 94 ff.



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Meinung — seit Montesquieu — hatte, falsch. Auch das Volk, meinte er, werde durch die täglichen Erfahrungen und durch den Zwang der Umstände bald von seiner Vorliebe für die Demokratie geheilt werden. Das wichtigste sei schließlich, daß eine Regierung richtig regiere. Darum auch wird ihm die englische Verfassung so sehr zum Vorbild. Sie vertritt, so scheint es, die Interessen des Volks wie der Besitzenden, sie wahrt die Rechte der Gesamtheit, an der Regierung teilzuhaben, sie läßt die wechselnde Meinimg des Volks bis zu einem gewissen Grade in die Gesetzgebung eindringen, setzt ihr aber einen Hemmschuh in dem auf Konstanz und Tradition gerichteten Oberhaus entgegen. Ähnlich muß man jede neue Regierung konstruieren, die auf nicht sehr verschiedenen sozialen Grundlagen errichtet ist, also auch die Amerikas34): die Legislatur, bestehend aus Assembly und Senat. Die Assembly, die mindestens 100 Mitglieder haben soll, um die breite Masse genügend vertreten zu können und nicht so leicht der Bestechung ausgesetzt zu sein, soll von allen freien männlichen Einwohnern über 21 Jahren gewählt werden mit einer Amtsdauer von drei Jahren, um nicht zu wenig und nicht zu viel unter dem Einfluß des Volks zu stehen. Die Mitglieder des Senats — etwa 2/B der Zahl der Abgeordneten der Assembly — sollen auf Lebenszeit gewählt werden (falls sie sich nichts bei der Amtsführung zuschulden kommen lassen; denn sie sind dem „impeachment" unterworfen). Als Qualifikation für aktives und passives Wahlrecht zum Senat ist ein bestimmter Besitz nötig. Die Exekutive hat wie der Monarch in England das Veto-Recht für alle Gesetze; dadurch ist sie mit der Legislatur verbunden, eine völlige Trennung scheint Hamilton falsch. Ihr liegt die Ausführung aller Gesetze ob, sie hat das Oberkommando über alle Streitkräfte, gemeinsam mit dem Senat schließt sie Verträge mit anderen Mächten. Sie ernennt die obersten Beamten, sie besitzt das Amnestie-Recht, weite Machtbefugnisse also, wie sie dann ja in ähnlichem Umfang der Präsident der Vereinigten Staaten wirklich erhielt. Die Wahl des Präsidenten soll vom Volk ausgehen, aber in indirekter Weise: durch ein doppeltes System von Wahlmännem soll eine sorgfältige und gewissenhafte Wahl erreicht werden. Als höchste richterliche Gewalt soll der Supreme Court gebildet werden, der aus sechs bis zwölf auf Lebenszeit bestimmten Richtern bestehen soll. Alles in allem ein „moderate government"85), das die wirkenden Kräfte gegeneinander ausbalanciert und dadurch die einzige Möglichkeit bietet, ,4)

S. die Propositions, I, 331 f., und die Constitution, I, 334 ff.

" ) I, 391, Yates.

— 119 — ein Fallen von einem Extrem ins andere zu verhüten. — Es respektiert bewußt die sozialen Grundlagen, die Verschiedenheit des Besitzes. Diese Verschiedenheit bestehe nun einmal und werde sich durch Handel und Gewerbe immer weiter auswachsen. Sie sei geradezu bedingt durch die Freiheit selbst und würde so lange bestehen, als diese erhalten bliebe.36) In Rom habe man den Standesunterschied zwischen Patriziern und Plebejern durch Tribunenmacht verwischen wollen. Aber danach sei die Kluft zwischen Arm und Reich gefolgt. Der Staatsmann müsse sich also auf den Boden der Tatsachen stellen und auf diese Ungleichheit das Regierungssystem aufbauen. Es ist also auch hier, wie wir schon früher sahen, der praktische Politiker, der das letzte Wort spricht. Daß sein Temperament ihn dabei — wenigstens an der späteren Entwicklung gemessen — ein gutes Stück über das Ziel hinausschießen läßt, will dagegen nichts besagen. Seinem Bewußtsein nach handelte er nach reinen Zweckmäßigkeitserwägungen. Allerdings — und das unterscheidet ja den wahrhaft politischen Charakter von dem bloßen routinierten politischen Praktiker — verstand er unter der politischen Nützlichkeit einer Handlung nicht, daß sie momentane Schäden flickte, sondern daß sie dauernde gute Wirkung versprach. Vor allem verlangte er jenes dauernde, segensreiche Arbeiten von einer Verfassung, die, am Beginn der Geschichte eines Volks stehend, deren weiteren Verlauf bestimmte oder beeinflußte. Er schätzte den Einfluß des Staates auf das ganze Volksleben hoch ein : „Die Regierung formt die Sitten wie die Sitten die Regierung formen", sagte er schon in den Phocion-Briefen.88) Er weiß vor allem, daß es für die Sicherung des Staates als Macht unter Mächten nötig ist, eine feste Regierung zu haben. Die europäischen Mächte, sagt er in einer Diskussions-Bemerkung während der Konvention, zeigten nur deshalb so viel Interesse für die demokratische Gestaltung Amerikas, weil sie wüßten, daß durch die daraus erwachsende innere Uneinigkeit Amerika dem Ausland gegenüber immer machtlos sein und damit dessen Einfluß offen stehen werde.89) Für die gebildete Welt Europas war das sicher unrichtig, für die Regierungen traf es aber offenbar zu. Man solle die Amerikaner nur allein lassen, meinte etwa Georg III., dann würde bald alles in Unordnung geraten und die Kolonien würden schließlich an England zurückfallen.40) M ) I. 392. Yates; I, 290, Madison. *») Works, III, 499. 3 ») I. 394