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German Pages 429 Year 1985
D I E T R I C H MURSWIEK Die staatliche Verantwortung für die Risiken der Technik
Schriften
zum
Umweltrecht
Band 3
Die staatliche Verantwortung für die Risiken der Technik Verfassungsrechtliche Grundlagen und immiseioneschutzrechtliche Ausformung
Von P r i v . - D o z . D r . Dietrich Murswiek
D U N C K E R
&
H U M B L O T
/
B E R L I N
Als Habilitationsschrift auf Empfehlung des Fachbereichs 1 der Universität des Saarlandes gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft
CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Murswiek, Diet ridi: Die staatliche Verantwortung für die Risiken der Technik: verfassungsrechtl. Grundlagen u. immissionsschutzrechtl. Ausformung / von Dietrich Murswiek. — Berlin: Duncker und Humblot, 1985. (Schriften zum Umweltrecht; Bd. 3) ISBN 3-428-05868-2 NE: GT
Alle Redite vorbehalten © 1985 Duncker & Humblot GmbH, Berlin 41 Gedruckt 1985 bei Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin 61 Printed in Germany I S B N 3-428-05868-2
Inhaltsverzeichnis § 1 Einleitung
19 Erster Teil
Verantwortung und technisches Risiko: Grundbegriffe
29
§ 2 Verantwortung
29
A. Verantwortung als ethisches Prinzip
29
I. Verantwortung als Rede und Antwort stehen
29
II. Verantwortung als Zurechnung
31
III. Verantwortung als Pflichtgemäßheit des Verhaltens und als besondere Form der Verpflichtung
32
IV. Verantwortung und Haftung
34
V. Verantwortung als materiales Prinzip?
34
VI. Gesinnungs- und Verantwortungsethik
36
VII. Technik und Verantwortungsethik
38
B. Verantwortung im Rechtssinne
39
I. Verantwortung im formalen Sinne
40
II. Verantwortung im materiellen Sinne
41
1. Verantwortung und Haftung
41
2. Verantwortimg für einen Gegenstand
43
3. Haftung ohne Verantwortimg?
44
a) Verantwortung für das Handeln anderer?
45
b) Verantwortimg für Gefährdungspotentiale
46
c) Verantwortlichkeit für erlaubte Eingriffe
47
d) Die Verursacherverantwortlichkeit
48
4. Die Verantwortung juristischer Personen
49
5. Verantwortung mehrerer Subjekte
50
III. Verantwortung und Entlastung
50
IV. Die Eigenverantwortlichkeit
51
V. „Politische" Verantwortung als demokratische Verantwortung 1. Die parlamentarische Verantwortlichkeit der Regierung 2. Rechtliche und „politische" Verantwortung
...
.
53 53 55
6
nsverzeichnis C. Der Staat als Subjekt von Verantwortung für technische Risiken I. Rechtliche und politische Verantwortung von Staatsorganen . . . II. Staatliche Verantwortung für privatwirtschaftlich Technik?
57 57
betriebene 58
1. Verantwortung durch Identifikation?
58
2. Zurechnung kraft Veranlassung
59
3. Zurechnung kraft Rechtsetzung
61
a) Verantwortung aufgrund konkreter Genehmigung?
61
b) Zurechnung aufgrund normativer Regelung?
62
c) Resümee
69
4. Zurechnung wegen Unterlassens
70
5. Rechtliche und politische Verantwortlichkeit
70
§ 3 Technik und Technologie
71
A. Technik
71
B. Technologie
79
§ 4 Risiko
80
A. Der Begriff des Risikos
81
B. Risiko und Gefahr
83
C. Sicherheit
86
D. Restrisiko
87
Zweiter Teil
Die staatliche Verantwortung für die Risiken der Technik nach dem Grundgesetz
88
1. Kapitel Verfassungsrechtliche Pflichten
88
1. Abschnitt Verfassungsrechtliche Pflichten zum Schutz von Individualrechtsgütern
88
§ 5 Grundrechtliche Unterlassungspflichten als Grenzen der Ermächtigung zu privaten Grundrechtsbeeinträchtigungen
89
A. Ermächtigung zur privaten Grundrechtsbeeinträchtigung als Grundrechtseinschränkung
89
nsverzeichnis
7
I. Die These des Bundesverfassungsgerichts
89
II. Die Grenzen der Ermächtigung zu privaten Grundrechtsbeeinträchtigungen
91
1. Eingriffsermächtigung als Duldungsverpflichtung .
91
2. Relativität der grundrechtlichen Schutzgüter?
93
B. Kriterien für die Grundrechtseinschränkung zugunsten Privater . . . . § 6 Grundrechtliche Schutzpflichten als Störungsabwehrpflichten
99 101
A. Schutzpflichten als Gewährleistungspflichten
102
I. Die Pflicht zum Schutz der Individualrechtsgüter
102
II. Die grundrechtliche Bedeutung der staatlichen S c h u t z p f l i c h t . . . 106 B. Einzelne Schutzpflichten
108
I. Die Pflicht zum Verbot privater Grundrechtsbeeinträchtigungen als primäre Schutzpflicht 108 II. Sekundäre Schutzpflichten als Schutzgewährungspflichten
...
111
1. Streitentscheidungs-und Rechtsdurchsetzungspflichten
...
112
a) Rechtsschutz und Zwangsvollstreckung
112
b) Unterlassungsansprüche
112
c) Störungsbeseitigungs- und Schadensersatzansprüche
...
2. Schutz der öffentlichen Sicherheit a) Die Pflicht zur Wahrung der öffentlichen Sicherheit
113 113
...
114
b) Die Pflicht zum Einschreiten im konkreten Fall
115
c) Die Pflicht zur Überwachung
117
aa) Allgemeines
117
bb) Die Pflicht zum Grundrechtsschutz durch Verfahren . 118 3. Schutz durch Sanktionen
119
4. Schutz durch fördernde oder erzieherische Verhaltensbeeinflussung 120 C. Schutzpflichten als Leistimgspflichten?
123
D. Die Pflicht zum Schutz der Menschenwürde
125
E. Völkerrechtliche Schutzpflichten
126
§ 7 Grundrechtlich begründete Pflicht zur Risikovorsorge? A. „Grundrechtsgefährdung" als Grundrechtsverletzung?
127 127
B. Der Vorbehalt des Gesetzes im Hinblick auf „Grundrechtsgefährdungen" 134 C. Die Pflicht zum Schutz gegen „Grundrechtsgefährdungen" seitens Privater 138
8
nsverzeichnis § 8 Schutz und Freiheit: Der Umfang der verfassungsrechtlichen Pflicht zur Risikoabwehr 138 A. Schutz und Freiheit
139
I. Freiheit von „Gefahren" als Mindestposition gegenüber der Freiheit zur Beliebigkeit und die Sozialadäquanz von Risiken unterhalb der Gefahrenschwelle 140 II. Die Erforderlichkeit der allgemeinen R i s i k o t r a g u n g s p f l i c h t . . . .
143
B. Ausschluß von „Gefahren" oder von „erheblichen Gefahren" als verfassungsrechtlicher Sicherheitsstandard? 145 C. Grundrechtsgewährleistimg nach Maßgabe technologischer „Situationsprägung"? 146 § 9 Der relationale Gefahrenbegriff als Maßstab der Schutzpflicht
149
A. Die Bezugsgröße für die Konkretisierung der Schutzpflicht: Individualrisiko oder Kollektivrisiko? 151 I. Individualrechtlicher Bezug der Schutzpflicht und kollektives Risiko 151 1. Zum Meinungsstand
152
2. Steigerung der Pflicht zum Schutz des im Kollektiv betroffenen einzelnen? 153 3. „Objektive Funktion" der Grundrechte und Kollektivrisiko . . .154 a) „Objektive Funktion" und Vielzahl von einem potentiellen Schadensereignis Betroffener 154 b) „Objektive Funktion" und Wahrscheinlichkeit der Schädigung einzelner 155 aa) Individualrechtsschutz und Individualisierbarkeit . . . 155 bb) Objektive Pflicht zum Individualrechtsschutz, Bevölkerungsrisiko und objektives Individualrisiko 159 II. Die Berücksichtigung des Kollektivrisikos als Gebot des Gleichheitssatzes 161 B. Grenzen der Quantifizierbarkeit und Wertungskompetenz des Gesetzgebers 165 I. Verfassungsrechtliche Kriterien für die Bewertung des Schadenspotentials 167 1. „Wertordnimg" als ordinale Wertskala?
167
2. Die Unzulänglichkeit einer ordinalen Rangskala der Schutzgüter und die Unmöglichkeit ihrer vollständigen Herstellung. . 170 3. Subjektive Begründung einer Kardinalskala der Schutzgüter unter Berücksichtigung der Beeinträchtigungsintensität?. . . . 172 4. Objektive Schadensbewertung aufgrund der Beeinträchtigungsintensität 175
nsverzeichnis
9
a) Differenzierung nach der Beeinträchtigungsintensität bezug auf ein Schutzgut
in 175
b) Rechtsgutübergreifende Quantifizierung
177
c) Rechtssubjektübergreifende Quantifizierung
178
II. Die Wertungskompetenz des Gesetzgebers
179
§ 10 Pflicht zum „dynamischen Rechtsgüterschutz"?
181
A. Die Pflicht zum „dynamischen Rechtsgüterschutz" und ihre Grenze . 181 B. Zur „Nachbesserungspflicht" des Gesetzgebers
184
§11 Die Bedeutung der Unterscheidung von Normalbetriebs- und Störfallrisiken für die Schutzpflichten des Staates 188 A. Das Störfallrisiko als Ingerenzverursachungsrisiko
189
B. Ingerenzrisiken als Beeinträchtigungen mit dem Risiko der Schädigung oder der SchadensVergrößerung 190 I. Die Ingerenz als Eingriff
190
1. Allgemeines
190
2. Insbesondere: das Recht auf Freiheit von Einwirkungen auf den Körper 192 3. Bagatelleingriff und Eingriffsrechtfertigung
193
II. Ingerenz, zumutbare Beeinträchtigung und Schaden
196
III. Das Ingerenzrisiko
198
§ 12 Sekundäre Schutzpflichten und sekundäre Risiken
199
A. Die Pflicht zur Störungsbeseitigung
200
B. Die Pflicht zum Schutz durch Überwachimg oder Sanktionen
....
§13 Langzeitrisiken und zeitliche Dimension der Schutzpflichten
201 206
A. Grundrechtsschutz für künftige Generationen
207
I. Objektive Schutzpflicht und zeitliche Auswirkungen heutiger Maßnahmen 207 II. Einwände gegen die Zukunftswirkung pflichten
staatlicher
B. Langzeitrisiken und Grundrechtsschranken §14 Staatliche Schutzpflicht und subjektiver Schutzanspruch
Schutz209 212 216
A. Die grundsätzliche Entsprechung von Schutzpflicht und Schutzanspruch 216 B. Risiko und subjektive Beeinträchtigung
217
10
nsverzeichnis I. Risiko und subjektive Betroffenheit II. Risiko und Rechtfertigung III. Schutzanspruch und Gleichheitssatz
218 219 222
2. Abschnitt Verfassungsrechtliche Pflichten zum Schutz von Gemeinschaftsgütern
225
§15 Die Pflicht zum Schutz verfassungsrechtlicher Gemeinschaftsgüter als verfassungsrechtliche Pflicht 225 A. Der Schutz originärer verfassungsrechtlicher Gemeinschaftsgüter . . . 225 B. Der Schutz der realen Voraussetzungen verfassungsrechtlicher Schutzgüter 227 I. Die staatliche Schutzpflicht 227 II. Individueller Anspruch auf Sicherung von „Grundrechtsvoraussetzungen"? 228 §16 Probleme der Bewertimg von Gemeinschaftsgütern
230
A. FundamentalitätsVerhältnisse als Bewertungsrahmen
230
B. Beeinträchtigungsintensität und Kollektivrisiko
231
C. Bewertungskompetenz und Prognosespielraum
231
2. Kapitel Verfassungsrechtliche Grenzen der Schutzbefugnisse §17 Grundrechte des Risikoverursachers und Verhältnismäßigkeit
233 233
A. Staatliche Schutzpflichten, Freiheit des Risikoerzeugers und Verhältnismäßigkeit 236 B. Risikoabwehr unterhalb der Gefahrenschwelle und Verhältnismäßigkeit 242 I. Ingerenzverursachungsverbot und Verhältnismäßigkeit II. Risikoabwehr und Verhältnismäßigkeit 1. Starre Sicherheitsstandards
245 249 250
2. Bestimmte Sicherheit s Vorkehrungen
252
3. Risikominimierung
252
III. Der „Grundsatz der Ausgewogenheit"
254
C. Risikovorsorge unterhalb der Gefahrenschwelle und Gleichheitssatz 255 D. Besitzstandsschutz als Vertrauensschutz
256
nsverzeichnis
11
I. Eigentumsgarantie als Besitzstandsschutz
256
1» Die zwei Dimensionen der Eigentumsgarantie
256
2. Besitzstandsschutz durch andere Freiheitsrechte
257
II. Eigentumsgarantie als Eigentumswertgarantie
260
III. Besitzstandsschutz als Dispositionsschutz
262
§18 Sonstige Schranken der Schutzbefugnisse
268
A. Überblick
268
B. Insbesondere: Der Auftrag zur WohlstandsVorsorge
270
C. Pflichten und Pflichtbegrenzungen aus Kompetenznormen?
271
I. Pflicht zur 2ulassung von Risiken aus Kompetenznormen?
...
II. Kompetenznormen als „Grundrechtsschranken"?
271 272
§19 Resümee: Der Umfang der verfassungsrechtlichen Schutzpflichten und die politische Verantwortimg des Gesetzgebers für technische Risiken . . . .
276
A. Zusammenfassende Thesen zum Zweiten Teil
276
I. Begründung der Schutzpflichten
276
II. Schutzpflichten gegenüber Risiken
277
III. Subjektiver Schutzanspruch
279
IV. Grenzen der Schutzbefugnisse
279
B. Folgerungen hinsichtlich der politischen Verantwortung des Gesetzgebers 280
Dritter Teil
Probleme der Verwaltungsverantwortung im technischen Sicherheitsrecht am Beispiel der immissionsschutzrechtlichen Genehmigungsvoraussetzung der §§ 6 N r . l , 5 N r . l BImSchG
288
§ 20 Der Sicherheitsstandard des § 5 N r . l BImSchG
291
A. Gegenstand der „Grundpflicht" des § 5 N r . l
291
I. Allgemeines
. . .
291
II. Verursachungs- und Wirkungsstandard
295
B. Die Pflicht zur Duldung „unerheblicher" Beeinträchtigungen: Das Bundes-Immissionsschutzgesetz als Industrieförderungsgesetz 301 I. „Erheblichkeit" - Deutungsmöglichkeiten
...
302
II. Interpretation eines unbestimmten Rechtsbegriffs bei kontradiktorischer Zwecksetzung 306
nsverzeichnis 1. Schutzzweck und Förderungszweck
306
2. Die Begrenzung des Schutzzwecks durch den Förderungszweck 310 3. Die maximal zulässige Beeinträchtigung
314
a) Unzumutbarkeit beziehungsweise Gemeinschädlichkeit als Grenze der maximal zulässigen Beeinträchtigung . . . 314 b) Zumutbarkeit und Zweck der Beeinträchtigung
316
4. Die Zumutbarkeitsgrenze als Grenze der maximal zulässigen Beeinträchtigimg und „Erheblichkeit" im Sinne der herrschenden Meinung 318 a) „Einfachgesetzliche Zumutbarkeitsschwelle" als Kompromißlinie? 319 b) Gewerbefreiheit heit?
als
Beeinträchtigungsverursachungsfrei323
c) Güterabwägung zwischen dem öffentlichen Interesse an der Genehmigung von Industrieanlagen und der privaten Sicherheit? 325 d) Das Gebot der gegenseitigen Rücksichtnahme im Nachbarschafts Verhältnis 326 aa) Gegenseitigkeit und Zumutbarkeit
326
bb) Das Gebot der „Rücksichtnahme auf die Umgebung" 328 e) Übernahme des Unzumutbarkeitskriteriums aus dem Polizeirecht? 329 f) „Erheblichkeit" und § 22 BImSchG C. Das erlaubte Risiko I. Wortlaut und Meinungsstand
330 331 332
II. Einschränkung des Sicherheitsstandards aus dem Gesetzeszusammenhang 335 1. Die vom Gesetz akzeptierte technische Realität
335
2. Vermeidung von Gefahren als Mindestsicherheitsstandard 335 3. Risikoabwehr unterhalb der Gefahrensch welle als Optimierungsgebot 336 4. Kein Schutz gegen „unerhebliche" Risiken
338
5. Vereinbarkeit der Auslegung mit § 5 Nr. 2 BImSchG
340
III. Beschränkung der Sicherheitspflichten durch das Verhältnismäßigkeitsprinzip 342 D. Immissionsvorbelastung und Luftbewirtschaftung
343
I. Kontradiktorische Zweckprogrammierung und Unanwendbarkeit des Optimierungsmodells 344 II. Das Fehlen materiell-rechtlicher Konkretisierungskriterien . . . .
347
III. Bipolare Zweckprogrammierung der Interpretation doppelseitiger Rechtssätze und Luftbewirtschaftungsermessen 353
nsverzeichnis
13
1. Das Modell der bipolaren Zweckprogrammierung der Interpretation doppelseitiger Rechtssätze 354 2. Die Divergenz von Immissionsvermeidungs- und Immissionsduldungspflicht in § 5 N r . l BImSchG und das Luftbewirtschaftungsermessen der Verwaltung 357 3. Ermessensbindungen
362
4. Luftbewirtschaftungsermessen und Grundgesetz
365
IV. Konsequenzen des Interpretationsvorschlags, insbesondere für die Funktion der TA Luft 369 1. Tendenzielle SicherheitsVerbesserung
369
2. Ermöglichung von Immissionsvorsorge
370
3. Dogmatische Grundlegung für bereits etablierte Bewirtschaftungspraxis 371 4. Beitrag zur Harmonisierung des Umweltrechts
372
5. Bewirtschaftungsermessen und Rechtssicherheit: Zur Verbindlichkeit der TA Luft 372 §21 Gefahr, Gefahrenverdacht, Gefährlichkeitsverdacht
378
A. Das Problem: Gefahrenprognose ohne empirisch „gesicherte" Grundlage? 378 B. Gefahr und Erkenntnis
382
C. Bundes-Immissionsschutzgesetz und Gefährlichkeitsverdacht
390
§22 „Sicherstellung" der „Grundpflichten"-Erfüllung gemäß § 6 Nr. 1 BImSchG 392 A. Die Funktion der „Sicherstellung" gemäß § 6 Nr. 1 BImSchG
....
392
B. Der Zeitraum, auf den sich die Prognose bezieht
394
C. Der Sicherheitsstandard des § 6 BImSchG
397
§23 Schlußbemerkung
399
Literaturverzeichnis
404
Sachregister
420
Abkürzungsverzeichnis a. Α.
= anderer Ansicht
a.a.O.
= am angegebenen Ort
AMG
= Gesetz über den Verkehr mit Arzneimitteln (Arzneimittelgesetz) v. 24.8.1976, BGBL I S. 2445, geänd. 24.2.1983, BGBl. I S. 169
AöR
= Archiv des öffentlichen Rechts, Zs.
Art.
= Artikel
AtG
= Gesetz über die friedliche Verwendung der Kernenergie und den Schutz gegen ihre Gefahren (Atomgesetz) i. d. F. der Bekanntmachimg v. 31.10.1976, BGBl. I S . 3053, zul. geänd. 20.8.1980, BGBl. I S . 1556
atw
= atomwirtschaft - atomtechnik, Zs.
Aufl.
= Auflage
BauR
= Baurecht, Zs.
BayVBl.
« Bayerische Verwaltungsblätter, Zs.
BB
Betriebsberater, Zs.
Bd.
= Band
Beil.
= Beilage
BGB
= Bürgerliches Gesetzbuch v. 18.8.1896, RGBl. S. 195, zul. geänd. 27.1. 1983, BGBl. I S. 375
BGBl.
= Bundesgesetzblatt
BGH
= Bundesgerichtshof
BGHZ
= Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Zivilsachen
BImSchG
= Gesetz zum Schutz vor schädlichen IJmwelteinwirkungen durch Luftverunreinigungën, Geräusche, Erschütterungen und ähnliche Vorgänge (Bundes-Immissionsschutzgesetz) v. 15.3.1974, BGBl. I S. 721, zul. geänd. 4.3.1982, BGB1.1 S. 281
BR-Drs.
= Bundesratsdrucksache
BT-Drs.
= Bundestagsdrucksache
Buchholz
= Sammel- und Nachschlagewerk der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, hrsg. ν. K. Buchholz (Loseblattsammlung 1957 ff.)
BVerfG
= Bundesverfassungsgericht
BVerfGE
= Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts
BVerfGG
= Gesetz über das Bundesverfassungsgericht i. d. F. d. Bekanntmachung ν, 3.2.1971, BGB1.1 S. 105, zul. geänd. 20.3.1979, BGBL I S. 357
BVerwG
= Bundesverwaltungsgericht
Abkürzungsverzeichnis BVerwGE
15
= Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts
DB
Der Betrieb, Zs.
DÖV
Die Öffentliche Verwaltung, Zs.
DVBl.
Deutsches Verwaltungsblatt
E
Entscheidungen
EMRK
Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (Europäische Menschenrechtskonvention) v. 4.11.1950
ESVGH
Entscheidungssammlung des Hessischen Verwalturigsgerichtshof s und des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg mit Entscheidungen der Staatsgerichtshöfe beider Länder
ET
Energiewirtschaftliche Tagesfragen, Zs.
EuGRZ
Europäische Grundrechte Zeitschrift
Festg.
Festgabe
Festschr.
= Festschrift
Fn.
Fußnote(n)
FStrG
Bundesfernstraßengesetz i.d.F. v. 1.10.1974, BGBl. I S. 2413, zul. geänd. 1.6.1980, BGBl. I S. 649
G 10
= Gesetz zur Beschränkung des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses (Gesetz zu Artikel 10 Grundgesetz) v. 13.8.1968, BGBl. I S. 949, geänd. 13.9.78, BGBl. I S. 1546
geänd.
= geändert
GG
= Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland v. 23.5.1949, BGBl. I S. 1, zul. geänd. 23.8.1976, BGBl. I S. 2383
GewArch.
= Gewerbearchiv, Zs.
GewO
= Gewerbeordnung
GfU
= Gesellschaft für Umweltrecht
GMBl.
= Gemeinsames Ministerialblatt
h. M.
= herrschende Meinung
i. d. F.
= in der Fassung
i. e. S.
= im engeren Sinne
i. V. m.
= in Verbindung mit
Jb.
= Jahrbuch
JR
= Juristische Rundschau, Zs.
JuS
= Juristische Schulung, Zs.
JZ
= Juristenzeitung
LMBG
= Gesetz über den Verkehr mit Lebensmitteln, Tabakerzeugnissen, kosmetischen Mitteln und sonstigen Bedarfsgegenständen (Lebensmittelund Bedarfsgegenständegesetz) v. 15.8.1974, BGBl. I S. 1945, zul. geänd. 24.8.1976, BGBl. I S. 2445
Lit.
= Literatur
16
Abkürzungsverzeichnis
MBliV
= Ministerialblatt f. d. gesamte innere Verwaltung in den Kgl. Preußischen Staaten
m. w. N.
= mit weiteren Nachweisen
Nachw.
= Nachweise
NJW
= Neue Juristische Wochenschrift
NuR
= Natur + Recht, Zs.
NVwZ
= Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht
OVG
= Oberverwaltungsgericht
OVGE
= Amtliche Sammlung der Entscheidungen der Oberverwaltungsgerichte für das Land Nordrhein-Westfalen in Münster sowie für die Länder Niedersachsen und Schleswig-Holstein i n Lüneburg
PrOVG
= Preußisches Oberverwaltungsgericht
PÜ
= Übereinkommen über die Haftimg gegenüber Dritten auf dem Gebiet der Kernenergie i. d. F. d. Bekanntmachung v. 5.2.1976, BGBl. I I S. 310 (Pariser Übereinkommen)
RGBl.
= Reichsgesetzblatt
Rspr.
= Rechtsprechung
StGB
= Strafgesetzbuch i. d. F. d. Bekanntmachung v. 2.1.1975, BGBl. I S. 1, zul. geänd. 8.12.1981, BGBl. I S. 1329
StPO
= Strafprozeßordnung i. d. F. d. Bekanntmachung v. 7.1.1975, BGBl. I S. 129, zul. geänd. 8.12.1981, BGBl. I S. 1329
StörfallV
= Zwölfte Verordnung zur Durchführung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes (Störfall-Verordnung) - 12. BImSchV v. 27.6.1980, BGBl. I S. 772
StrlSchV
= Verordnung über den Schutz vor Schäden durch ionisierende Strahlen (Strahlenschutzverordnung) v. 13.10.1976, BGBl. I S . 2905, zul. geänd. 22.5.81, BGBl. I S . 445
StVG
Straßenverkehrsgesetz v. 19.12.1952, BGBl. I S. 837, zul. geänd. 28.12.1982, BGBl. I S. 2090
StVO
Straßenverkehrs-Ordnung v. 16.11.1970, BGBl. I S. 1565, zul. geänd. 28.4.1982, BGBl. I S . 564
StVZO
Straßenverkehrs-Zulassungs-Ordnung i. d. F. d. Bekanntmachung v. 15.11.1974, BGBl. I S. 3193, zul. geänd. 15.5.1983, BGBl. I S. 602
TA Lärm
= Allgemeine Verwaltungsvorschrift über genehmigungsbedürftige Anlagen nach § 16 der Gewerbeordnung - GewO. Technische Anleitung zum Schutz gegen Lärm v. 16.7.1968, Beil. Bundesanzeiger Nr. 137 (Übergeleitet gem. § 66 I I BImSchG)
TA Luft
Erste Allgemeine Verwaltungsvorschrift zum Bundes-Immissionsschutzgesetz (Technische Anleitung zur Reinhaltung der Luft) v. 28.8. 1974, GMB1. S. 426; geänd. 23.2.1983, GMB1. S. 94
UPR
Umwelt- und Planungsrecht, Zs.
UZwG
Gesetz über den unmittelbaren Zwang bei Ausübung öffentlicher Gewalt durch Vollzugsbeamte des Bundes v. 10.3.1961, BGBl. I S . 165, zul. geänd. 2.3.1974, BGBl. I S. 469
Abkürzungsverzeichnis
17
VB1BW
= Verwaltungsblätter für Baden-Württemberg
VEnergR
= Veröffentlichungen des Instituts für Energierecht an der Universität zu Köln, Schriftenreihe
VerwArch. = Verwaltungsarchiv, Zs. VG
= Verwaltungsgericht
VGH
= Verwaltungsgerichtshof
VR
= Verwaltungsrundschau
WDStRL
= Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer, Schriftenreihe
VwGO
= Verwaltungsgerichtsordnung v. 21.1.1960, BGBl. I S. 17, zul. geänd. 20.12.1982, BGBl. I S. 1834
VwVfG
= Verwaltungsverfahrensgesetz v. 25.5.1976, BGBl. I S. 1253, geänd. 2. 7.76, BGBL I S. 1749
WHG
= Gesetz zur Ordnimg des Wasserhaushalts (Wasserhaushaltsgesetz) i. d. F. d. Bekanntmachung v. 16.10.1976, BGB1.1S. 3017, zul. geänd. 28.3.1980, BGB1. I S . 373
WiVerw.
= Wirtschaft und Verwaltung. Vierteljahresbeilage zum Gewerbearchiv
ZaöRV
= Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht
ZfU
= Zeitschrift für Umweltpolitik
ZRP
= Zeitschrift für Rechtspolitik
Zs.
= Zeitschrift
zul.
= zuletzt
§ 1
Einleitung* Die moderne Technik prägt wie kaum ein anderer Faktor die Lebenswelt des Menschen in der Industriegesellschaft 1 , in denjenigen Gemeinwesen also, die ihre Produktivkräfte auf ein hochindustrielles Niveau gesteigert, die permanente Revolution des technischen Fortschritts zur Quintessenz ihrer Existenz gemacht haben und sich deshalb als „entwickelt" betrachten. Die moderne Technik ist ein Mittel, das dem Menschen die Macht gibt, in einem nie gekannten Ausmaß sich „seine" Welt zu gestalten, umzugestalten und auch zu zerstören. Wenn die Welt, in der wir heute leben, sich fundamental von der Welt unserer Großeltern unterscheidet, so ist das eine Konsequenz des technischen Fortschritts, eine Konsequenz, die neben immittelbarem Nutzen und Nachteil der von uns angewandten technischen Systeme weitreichende Auswirkungen hat auf die Beziehungen zwischen den einzelnen Menschen wie zwischen den Staaten, auf soziale Strukturen wie auf das Verhältnis zwischen den Generationen. Das Tempo des technischen Wandels hat eine solche Rasanz angenommen, daß die kulturell-institutionellen Stützen menschlichen Verhaltens oft ihre Funktion verlieren, weil sie sich nicht hinreichend schnell an die veränderten Umstände anpassen lassen. Die vom technischen Wandel erzeugten Traditionsbrüche können durch Herausbildung neuer orientierungsgebender, verhaltensstabilisierender Traditionen nicht aufgefangen werden - erst recht nicht durch Parlamentskommissionen oder Sachverständigenanhörungen zum Thema „Jugendprotest" 2 , die die Hilflosigkeit gegenüber dieser Lage nur dokumentieren. Die * Die vorliegende Arbeit wurde im Oktober 1983 der Rechts- und Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität des Saarlandes als Habilitationsschrift vorgelegt. Sie soll als Beitrag zur Klärung verfassungs- und verwaltungsrechtlicher Grundsatzfragen verstanden werden. Nach dem genannten Zeitpunkt erschienene Literatur wurde nur ausnahmsweise noch berücksichtigt. Angesichts der Vielzahl ständig neu publizierter Abhandlungen und Gerichtsentscheidungen zum Umweltschutzrecht und zum Recht der technischen Sicherheit kann eine Monographie nicht bezwecken, bezüglich des Nachweises der neuesten Rechtsprechung und Literatur i n Konkurrenz mit Loseblattwerken oder in kurzer Auflagenfolge erscheinenden Kommentaren zu treten. Die Aktualität der vorliegenden Schrift liegt im Grundsätzlichen. Sie wird hierdurch ebensowenig berührt wie durch die eventuelle Änderung von Vorschriften, etwa der TA Luft, deren Erörterung hier eher exemplarischen Charakter hat. 1 Vgl. z.B. Frey er, Über das Dominantwerden technischer Kategorien in der Lebenswelt der industriellen Gesellschaft; weitere Nachw. § 3 Fn. 1. 2 Vgl. Schlußbericht 1983 der Enquête-Kommission „Jugendprotest im demokratischen Staat" des 9. Deutschen Bundestages, BT-Drs. 9/2390 = Zur Sache 1/83. 2*
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weitverbreitete existentielle Verunsicherung als Folge technikinduzierter Traditionsbrüche und Orientierungskrisen 3 erzeugt Ängste, die sich nicht zufällig in Aggressionen gegen das technische System im ganzen zu entladen beginnen. Mag man auch im einzelnen über kulturelle und soziale Wirkungen des technischen Wandels streiten: Daß die permanente, mit steigender Geschwindigkeit 4 sich vollziehende Umwälzung der Lebensverhältnisse nachhaltige Wirkungen auf die realen Bedingungen entfaltet, unter denen staatliche Politik wie individuelle Lebensgestaltung und Freiheitsverwirklichung stattfinden können, liegt auf der Hand. Der Entwicklungsstand der Technik, Art und Weise sowie Tempo ihres Fortschreitens prägen die tatsächliche Lage, die von der rechtlichen Verfassung des Gemeinwesens vorgefunden w i r d und deren Berücksichtigung zu den realen Bedingungen effektiver Rechtsgeltung gehört. Die tatsächliche Grund-Lage jedes GrundGesetzes begrenzt die tatsächlichen Möglichkeiten rechtlicher Normierung. Zu dieser Grund-Lage kann die rechtliche Verfassung sich in verschiedener Weise verhalten: Sie kann von ihr ausgehen, auf ihr aufbauen; sie kann normativ auf sie einwirken, indem sie ein Programm zur gestaltenden Veränderung oder Überwindung der vorgefundenen Lage formuliert; sie kann Kompetenzen zur Einwirkimg auf die gegebene Lage verleihen; sie kann schließlich die reale Lage ignorieren. Sie kann nur nicht die gegebene Lage i n einem Rechtssatz aufheben. Eine Verfassung, die die reale Lage ignoriert, w i r d von ihr überwältigt. Sie begibt sich der Chance rechtlicher Gestaltung. Die Kraft der Fakten, denen die rechtliche Normierung sich nicht entziehen kann, wächst. Entsprechendes gilt für die Interpretation. Dazu ein Beispiel: In seinem Vorlagebeschluß betreffs des Schnellen Brüters SNR 300 in Kalkar hatte das OVG Münster die Befürchtung geäußert, der Aufbau einer „Plutoniumwirtschaft" könnte wegen der damit verbundenen außerordentlich großen Gefahren Überwachungsmaßnahmen von einer solchen Intensität notwendig machen, daß die Aufrechterhaltung der bürgerlichen Freiheiten womöglich nicht mehr gewährleistet werden könne. 5 Den hierauf gestützten verfas3 Vgl. dazu Hermann Lübbe, Traditionsverlust und Fortschrittskrise. Sozialer Wandel als Orientierungsproblem, in: ders., Fortschritt als Orientierungsproblem. Freiburg 1975, S. 32 ff. 4 Nach dem immer wieder zitierten Paradebeispiel Hübners, in: Sprache im technischen Zeitalter, H. 25, Januar/März 1968, S. 32, produziert und vertreibt in den USA gegenwärtig die Hälfte aller Arbeitskräfte Gegenstände, die um die Jahrhundertwende noch völlig unbekannt waren. Der größte private Arbeitgeber in der BRD, der Elektrokonzern Siemens, teilt in einer Anzeigenserie (z.B. in Bild der Wissenschaft 5/ 1983, S. 67) mit, daß er über 50% seines Umsatzes mit Produkten macht, die erst i n den letzten fünf Jahren entwickelt wurden. Der Computerhersteller I B M Deutschland hat 1982 70% seines Umsatzes mit Produkten erzielt, die erst i n den letzten drei Jahren auf den Markt gebracht wurden (FAZ v. 20.8.1983, S. 11). 5 18.8.1977, NJW 1978, 439 (442); vgl. auch die Stellungnahme des Klägers des Ausgangsverfahrens im Vorlageverfahren, BVerfGE 49, 114 f.
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sungsrechtlichen Bedenken gegen das die Genehmigung des Schnellen Brüters ermöglichende Atomgesetz hielt das Bundesverfassungsgericht entgegen: Eine Entwicklung in Richtung auf totalitäre, mit der freiheitlichrechtsstaatlichen Verfassungsordnung nicht zu vereinbarende Überwachungsmaßnahmen werde durch § 7 A t G nicht i n Kauf genommen, weil diese Bestimmimg zu derartigen Maßnahmen nicht ermächtige. 6 - Müßte man dieses Argument i n dem Sinne verstehen, daß das Fehlen einer Ermächtigung dafür Gewähr biete, daß es nach Genehmigung von Schnellen Brütern zu derartigen Überwachungsmaßnahmen nicht kommen werde, dann wäre dies in gefährlichem Maße naiv. Es mag hier dahinstehen, ob der „Plutonium-Kreislauf " tatsächlich die vom OVG Münster beschriebenen Gefahren mit sich bringt, oder ob - wie die Gegenseite meint - die Gefahren des Brennstoffkreislaufs auch bei Einsatz Schneller Brüter auf rechtsstaatlich einwandfreie Weise sicher beherrschbar sind. 7 Wären die Befürchtungen des OVG Münster berechtigt, dann würde es jedenfalls überhaupt nichts nützen, daß das Atomgesetz Polizeimaßnahmen der vom OVG Münster befürchteten Art nicht zuläßt; nach Etablierung des Plutonium-Kreislaufes bliebe dem Staat nämlich gar nichts anderes übrig, als derartige Maßnahmen anzuwen^ den, wenn er seine Verpflichtung, Leben und Gesundheit der Bevölkerung vor den Gefahren des Plutoniummißbrauchs ausreichend zu schützen, anders nicht wirksam erfüllen könnte. Er hätte keine Wahl mehr, es sei denn die Entscheidung für die verfassungswidrige Verletzung der Schutzpflicht. Im Zweifel müßte der Schutz des Lebens den Vorrang haben und die hierfür erforderlichen Freiheitseinschränkungen mit „Notrechtsgesichtspunkten" gerechtfertigt werden; schafft man große Gefahren, dann lassen sich hinterher unter dem Aspekt der „Erforderlichkeit" auch große Freiheitseinschränkungen rechtfertigen. Solche Fakten, die den Zwang zu freiheitsmindernden Maßnahmen begründen, begrenzen die Entscheidungsfreiheit der zuständigen Organe, sobald sie i n der Welt sind; sie zwingen gegebenenfalls auch zur Schaffung von Ermächtigungsnormen. Derartige Folgezwänge zu bedenken, bevor ein fait accomplit die Entscheidung vorwegnimmt, macht verantwortliches Handeln aus. Dies heißt freilich nicht, daß auch das kleinste Risiko verfassungsrechtlich unerwünschter Folgen vermieden werden müßte - schon deshalb nicht, weil das eine Risiko oft nur um den Preis der Inkaufnahme eines anderen Risikos abgewendet werden kann. Verantwortlich zu handeln, heißt auch, die Risiken der Risikovermeidung zu bedenken, im Fall des Schnellen Brüters also: die Vorteile und Notwendigkeiten dieses technischen Systems abzuschätzen und zu bewerten, ihnen das Risiko rechtsstaatlich unerwünschter Folgezwänge gegenüberzustellen und zu prüfen, ob dieses Risiko so gering ist, daß es angesichts der mit dem techni-
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BVerfGE 49, 89 (141). Vgl. die Stellungnahme der Bundesregierung, BVerfGE 49, 99ff.
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sehen System verfolgten Ziele in Kauf genommen werden kann. Soviel zunächst zu den möglichen Folgen von Blindheit gegenüber der faktischen Lage, die freilich dem Bundesverfassungsgericht nicht nachgesagt werden kann, denn das Bundesverfassungsgericht hat die verfassungsrechtliche Relevanz von Folgezwängen durchaus erkannt, allerdings die prognostische Einschätzung von solchen „politischen Entwicklungen allgemeinster A r t " der „politischen Verantwortung des Gesetzgebers und der Regierung" überlassen.8 Die Ignoranz des Grundgesetzes gegenüber der Technik scheint bemerkenswert groß. Die konstitutionelle Konzeption unserer Verfassung ist über hundert Jahre alt. Soweit das Grundgesetz neuere Erfahrungen verarbeitet, sind es solche, die zur technischen Grund-Lage keinen unmittelbaren Bezug haben. Um die realen Bedingungen der Freiheitsverwirklichung kümmert das Grundgesetz sich - über das Sozialstaatsprinzip - nur im Hinblick auf die materielle Sicherung zumindest des Existenzminimums, darüber hinaus auch von materiellem Wohlstand. Beides wird - auch - durch Förderung des technischen Fortschritts, durch „Fortschrittsvorsorge" 9 bewirkt. Daß dagegen die „technische Realisation" 10 den effektiven Freiheitsraum nicht nur erweitert, sondern auch in vielfacher Hinsicht beschränkt, daß die technisch induzierte Umwälzung der Lebensverhältnisse den einzelnen in viel intensiverer Weise belasten kann als die staatlichen Freiheitseingriffe, gegenüber denen die Grundrechte als Abwehrrechte ihre Gewährleistungsfunktion entfalten sollen, hat der Verfassunggeber nicht gesehen. Solange ein allgemeiner Konsens den technischen Fortschritt trägt, fällt die konstitutionelle Ignoranz nicht weiter auf; sie wirkt als stille Bejahimg. Wo hingegen politischer Widerstand gegen technische Entwicklungen oder spezifische Anwendungsweisen technischer Systeme wach wird, kann das Fehlen materieller Entscheidungskriterien prekär werden. Zwar hat das Bundesverfassungsgericht gezeigt, daß die Grundrechte auch gegenüber der technischen Realisation zur Geltung gebracht werden können. 11 Doch ist der materielle Direktivgehalt um so geringer, je allgemeiner die als Entscheidungsbasis in Betracht kommenden Verfassungsnormen oder -prinzipien sind. Dem Bundesverfassungsgericht fällt dann die heikle Aufgabe zu, das Grundgesetz richterrechtlich den neuen technischen Gegebenheiten anzupassen. So hat das Gericht der technischen Entwicklung auf dem Sektor der Massenmedien durch Umwandlung eines als „Freiheit" formulierten Grundrechts, der „Rundfunkfreiheit", in eine „dienende" Gemeinwohl8
BVerfGE 49, 89 (131, 143f.). Herzog, Allgemeine Staatslehre, S. 117. 10 Zu diesem Begriff vgl. Forsthoff, Der Staat der Industriegesellschaft, S. 30ff. 11 Vgl. zur Kernenergie BVerfGE 49, 89 - Kalkar; 53, 30 - Mühlheim-Kärlich; zum Fluglärm 56, 54 - Düsseldorf-Lohausen. 9
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funktion Rechnung getragen 12 . Freilich läßt sich darüber streiten, ob dies eine geglückte und notwendige Anpassung an die veränderte technische Lage war. Die Spärlichkeit materieller Kriterien, die das Grundgesetz zur Gestaltung oder wenigstens zur Begrenzung negativer Folgen des technischen Fortschritts bereithält, muß nicht nur nachteilhaft sein, wenn sie durch entsprechende Regelungskompetenzen und -befugnisse kompensiert wird. Wenn der Gesetzgeber die von der konkreten Lage geforderten Entscheidungen treffen darf und sich seiner mit der Entscheidungskompetenz verbundenen Verantwortung nicht entzieht, kann die Rechtsordnung flexibel auf den durch den technischen Fortschritt bewirkten Wandel der Lage reagieren. Dies geht freilich zugunsten der Mehrheitsherrschaft und zu Lasten verfassungsrechtlicher Gewährleistung von Minderheitsinteressen. Aber inwieweit hat der Gesetzgeber und haben andere Staatsorgane überhaupt eine Verantwortung für den technischen Fortschritt, seine erwünschten und seine unerwünschten Folgen? Was die erwünschten Folgen angeht, so hat man den Versuch gemacht, eine Pflicht zur Fortschrittsförderung aus dem Sozialstaatsprinzip abzuleiten. 13 Die negativen Folgen - soweit ihre Bewältigung über Gefahrenabwehr auf technischem Gebiet hinausgeht haben erst in letzter Zeit größere Aufmerksamkeit im juristischen Schrifttum gefunden - eine Konsequenz des allgemeinen Wandels gesellschaftlicher Einstellungen gegenüber dem technischen Fortschritt. Schon bevor die Auseinandersetzung um die Kernenergie auch die juristische Diskussion um technische Risiken entfachte, hat Ernst Forsthoff die unerwünschten Folgen der „technischen Realisation" beleuchtet und die These aufgestellt, daß als einzige Instanz, die den einzelnen vor der Überwältigung durch die technische Realisation bewahren könne, der Staat in Betracht komme. 14 Diese These ist sehr allgemein gehalten. Ihr zuzustimmen, heißt nicht, die Bedeutung von Verbänden, Bürgerinitiativen oder Parteien zu verkennen. Es geht nicht nur darum, ob jedenfalls im allgemeinen allein der Staat das Gewicht hätte, sich gegen die „technische Realisation" durchzusetzen. 15 Entscheidend ist, daß nur der Staat befugt ist, Konflikte zwischen der Technik beziehungsweise den die Technik tragenden sozialen Mächten einerseits und den 12 BVerfGE 57, 295 (319ff., insbes. 320) - FRAG: Die Rundfunkfreiheit soll dem Prozeß der freien Information und Meinungsbildung dienen. Die spezifischen organisatorischen Bedingungen, die diese Funktion sicherstellen sollen - zu ihnen gehört auch die Freiheit von staatlicher Einflußnahme - werden als „Freiheit" bezeichnet. 13 Herzog, Allgemeine Staatslehre, S. 117; vgl. auch Grawert, Festschr. für Broermann, S. 457 ff., insb. S. 472 ff., der sich zur Begründimg einer Verantwortung für den technischen Fortschritt auch auf Grundrechte und Kompetenznormen beruft. 14 Der Staat der Industriegesellschaft, S. 27, 43 ff., insb. 46. 15 Hier liegt der Akzent bei Forsthoff (o. Fn. 2), der die faktische Durchsetzungsfähigkeit des „Staates der Industriegesellschaft" gegenüber der technischen Realisation sehr skeptisch beurteilt.
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von den Folgen der Technik negativ betroffenen Individual- oder Gemeinschaftsinteressen andererseits verbindlich zu entscheiden. Nur der Staat kann durch die verbindliche Konfliktentscheidimg den inneren Frieden und damit die grundlegenden Realbedingungen bürgerliche Freiheit sichern vorausgesetzt, daß er in der Lage ist, seine Entscheidung gegenüber den Konfliktbeteiligten auch faktisch durchzusetzen. Und nur der Staat kann für die Streitentscheidung verbindliche rechtliche Kriterien zur Verfügung stellen. Im Streit um die Risiken der Technik ist herausgefordert die Rechtsetzungsfunktion, die Friedensfunktion des Staates. Diese Funktion w i r d i m Hinblick auf die technische Realisation heute von zwei Seiten in Frage gestellt: von einer technikfeindlichen „grünen" Bewegung in offener Kampfansage an das staatliche Gewaltmonopol als der Grundlage der Friedensfunktion 16 ; und von einer Technokratie, die unter dem Mantel „technischen Sachverstands" den Einbruch in das staatliche Rechtsetzungs- und Streitentscheidungsmonopol längst geschafft hat, indem sie beispielsweise in die technischen oder naturwissenschaftlichen Standards 17 , auf die der Staat bei der Regelung technischer Sachverhalte angewiesen ist, ihre eigenen politischen Wertentscheidungen einfließen läßt. Von sachverständigen Gremien aufgestellte Grenzwerte beispielsweise für die Belastung von Lebensmitteln mit Schadstoffen oder Immissionswerte für Luftverunreinigungen oder Lärm enthalten nicht etwa nur sachverständige Aussagen über Wirkungen technischer Systeme etwa auf die menschliche Gesundheit; sie enthalten zugleich - notwendigerweise - eine Wertentscheidimg darüber, welches (Gesundheits-)Risiko in Kauf genommen werden soll. 18 Staatliche Ignoranz gegenüber dem dezisionistischen Element technischer Normung w i r k t faktisch wie eine Verleihung von Rechtsetzungskompetenzen an technische Sachverständigengremien. Als „Sachverständigengutachten" getarnte Wertentscheidungen erhalten so den Charakter apokrypher Rechtsnormen. 19 Ob auf der anderen Seite die antitechnische Kampfansage an das staatliche Monopol verbindlicher Rechtsetzung geeignet ist, ein Gegengewicht gegen den technokratischen Einbruch in die staatliche Souveränität zu schaffen und so die Position des Staates gegenüber der Technik zu stärken, muß bezweifelt werden. Wer sich nicht stark genug 16
Dazu vgl. Isensee, DÖV 1983, 565ff. Gemeint sind konkrete Standards, die eine Norm in meßbaren Größen ausdrükken. Vgl. zu dieser Bedeutung von „Standard" Feldhaus, UPR 1982, 138f. 18 Vgl. z.B. Feldhaus, UPR 1982, 144; Kutscheidt, in: Salzwedel, Grundzüge des Umweltrechts, S. 259f. 19 Vgl. die Anwendung von VDI-Normen als „antizipierte Sachverständigengutachten" durch das OVG Münster, 12.4.1978, NJW 1979, 772 (773). Nicht völlig vergleichbar ist die Anwendung der Immissionswerte der TA Luft als „antizipierte Sachverständigengutachten" - so BVerwG, 12.2.78, DVB1.1978, 591 (593) - , weil es sich hier um staatliche Vorschriften handelt. Allerdings verdeckt auch hier die Berufung auf den „Sachverstand", daß den Immissionswerten auch eine (politische) Wertentscheidung zugrunde liegt. Dazu § 20 D. IV. 5. 17
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fühlt, seine Überzeugungen innerhalb der Institutionen des demokratischen Verfassungsstaates durchzusetzen, und deshalb eine Bürgerkriegsposition bezieht, schwächt die einzige Instanz, die zur Problemlösung fähig wäre und provoziert damit zusätzliche, unübersehbare Folgeprobleme. Doch dies ist hier nicht das Thema. Das hier gewählte Thema, die staatliche Verantwortung für die Risiken der Technik, geht von der Evidenz der Forsthoffschen These aus. Kann nur der Staat dem einzelnen wirksamen Schutz gegen unerwünschte Technologiefolgen bieten, so erhellt dies die praktische Relevanz der Frage nach der staatlichen Verantwortimg für technische Risiken. Doch worauf gründet sich eine solche Verantwortung? Wie weit reicht sie? Und warum überhaupt die Frage nach der Verantwortung statt einfach nach den Pflichten des Staates zum Schutz vor technischen Risiken? Der Verantwortungsbegriff w i r d in der politischen Auseinandersetzung um technische Risiken zwar häufig gebraucht, doch kaum je präzisiert; man spricht sehr allgemein und juristisch unbrauchbar von der Verantwortung der Wirtschaft, der Parteien, Bürgerinitiativen, Techniker, Wissenschaftler, der Regierung oder des Gesetzgebers, kurz: aller, die in irgendeiner Weise mit der Technik befaßt sind. Welches Subjekt in welcher Hinsicht und mit welchen Konsequenzen Verantwortung tragen soll, was also mit der Zuweisung von Verantwortung überhaupt gemeint ist, w i r d dabei kaum deutlich. 20 Im juristischen Schrifttum dagegen w i r d die Verantwortungsfrage nur selten aufgeworfen. Statt dessen fragt man nach Verhaltenspflichten, Handlungsbefugnissen und Kompetenzen. Dies hat plausible Gründe: Die juristische Argumentation zielt auf die Herausarbeitung von Entscheidungskriterien ab, und sie orientiert sich meist an der Problemstellung der richterlichen Streitentscheidung. Vor den Richter aber gelangt die Verantwortung für technische Risiken - wenn man den Verantwortungsbegriff nicht von vornherein auf den Begriff der Haftung reduziert - nie als umfassendes Problem, sondern nur unter dem jeweils entscheidungsrelevanten Partialaspekt, vornehmlich unter dem Aspekt der Frage nach der Rechtmäßigkeit der Zulassung bestimmter Risiken oder der Verpflichtung zum Schutz gegen bestimmte Risiken. Dennoch hat das Bundesverfassungsgericht den Verantwortungsbegriff in die juristische Diskussion über die Risiken der Technik eingeführt, indem es eine „Mitverantwortung" des Staates für die Risiken der Kernenergie bejaht hat, ohne freilich über juristische Gründe und Konsequenzen dieser „Mitverantwortung" sich näher zu äußern. 21 Ebenso unbestimmt blieb der Verantwortungsbegriff in der hieran geübten K r i t i k . 2 2 Des20 Vgl. z.B. Helmut Schmidt, Bulletin Nr. 48 v. 26.5.1982, S. 417ff.; Andreas von Schoeler, Umwelt Nr. 89 v. 8.6.1982, S. 26, 27, 29, 30. 2 1 BVerfGE, 53, 30 (58) - Mühlheim-Kärlich, dazu unten § 2 C. II. 3. 22 Vgl. Rauschning, DVB1.1980, 832.
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halb muß zunächst der hier zugrunde gelegte Verantwortungsbegriff geklärt und erläutert werden. Wie im Ersten Teil ausführlich dargelegt wird, geht die Arbeit von einem umfassenden, nicht auf die deliktsrechtliche Haftung für rechtswidriges Verhalten beschränkten Verständnis von Verantwortung aus. Der enge deliktsrechtliche Verantwortungsbegriff ist mit dem Thema der Arbeit gerade nicht gemeint. „Verantwortung" w i r d hier nicht als Hechtsbegriff verwendet, sondern als heuristischer Begriff, der das Erkenntnisinteresse auf die rechtlichen Kriterien sowohl rechtlicher als auch politischer Verantwortung lenken soll. Die rechtlichen Kriterien politischer Verantwortung sind negativ: Politisch zu verantworten haben sich die handelnden Staatsorgane gerade dort, wo sie rechtlich nicht gebunden sind. Bei den materialen Kriterien rechtlicher Verantwortung dagegen handelt es sich um nichts anderes als um die jeweils einschlägigen Rechtssätze: Rechtlich verantwortet werden kann das, was pflichtgemäß, was rechtmäßig ist, und nicht verantwortet werden kann das, was pflichtwidrig (rechtswidrig) ist. Für die materielle Verantwortung im Rechtssinne kommt es auf die Rechtmäßigkeit des Verhaltens an. Sie ist anhand der verschiedenen Kriterien formeller und materieller Rechtmäßigkeit wie Kompetenz, Beachtung von Grundrechten und von einfachgesetzlichen Regelungen zu beurteilen. Wozu also dann die Frage nach der Verantwortung? Erstens ist Verantwortung nicht nur materielle Verantwortung, also nicht nur Pflichtgemäßheit des Verhaltens. Daneben gibt es die formelle Verantwortung, die Verpflichtung, Rede und Antwort zu stehen für sein Verhalten und für die zurechenbaren Folgen seines Verhaltens. Sich verantworten, Rechenschaft geben, Rede und Antwort stehen für ihr Verhalten muß die parlamentarisch verantwortliche Regierung auch und gerade dort, wo sie rechtlich nicht gebunden ist. Entsprechendes gilt für den Gesetzgeber und für die Verwaltung. 2 3 Rechtfertigungsbedürftig ist im demokratischen Verfassungsstaat auch das rechtmäßige Verhalten staatlicher Organe innerhalb ihrer Kompetenzen, auch der pflichtgemäße Gebrauch von Ermessen, auch die Ausfüllung von Gestaltungsspielräumen. Die Frage nach der rechtlichen Verantwortung lenkt den Blick nicht nur auf die Pflichten des Staates zum Schutz · Vor technischen Risiken, sondern auch auf die Grenzen der Schutzbefugnisse; die Antwort umreißt daher zugleich den Raum, der für rechtlich ungebundene Entscheidungen offen steht und innerhalb dessen die jeweils zuständigen Organe politisch dafür einzustehen haben, i n welchem Umfang sie den einzelnen vor technischen Risiken schützen und mit welchen Risiken sie ihn belasten. Diese politische Verantwortung und damit die politische 23 Dagegen ist die Judikative durchgehend an das Gesetz gebunden und muß sich daher - in den Entscheidungsgründen - nur i m Hinblick auf die Rechtmäßigkeit ihrer Entscheidung rechtfertigen.
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Gestaltungsaufgabe des Staates hervorzuheben und so der Tendenz entgegenzuwirken, daß Gestaltungsorgane ihre politische Verantwortung auf Rechtskontrollorgane abwälzen, ist ein Anliegen dieser Arbeit. - Zweitens richtet der Verantwortungsbegriff die Fragestellung auf die Folgen menschlichen Verhaltens aus. Für sein Verhalten verantwortlich sein heißt nämlich, für die Folgen eigenen Verhaltens auch dann einstehen zu müssen, wenn sie nicht gewollt sind. Weder die gewollten Vorteile noch der gezielte Mißbrauch, sondern die ungewollten Folgelasten machen die technische Realisation zu einem besonderen Problem der Rechtsetzung und der Rechtsanwendimg. Nicht alle negativen Technikfolgen werden hier eingehend in Betracht gezogen. Die Arbeit konzentriert sich auf negative Folgen für unumstrittene verfassungsrechtliche Schutzgüter, vor allem Leben und Gesundheit des einzelnen - so interessant es auch wäre, die staatliche Verantwortung im Hinblick auf kulturelle, soziale, sozialpsychologische, außen- oder verteidigungspolitische Folgen oder (verfassungs)rechtliche Folgezwänge der Technik zu untersuchen. Zur Begrenzung des Stoffes mußte aber die Risikoproblematik von rechtlichem Streitstoff entlastet werden, der weder techniknoch risikospezifisch ist. Dennoch ist die Frage nach der staatlichen Verantwortung für technische Risiken ein sehr weit gefaßtes Thema. Dieses Thema kann von verschiedenen Seiten her angegangen werden. So könnte man in einer Bestandsaufnahme des Rechts der technischen Sicherheit, des technischen Sicherheitsrechts, Tausenden von Detailregelungen nachgehen und den Umfang der rechtlichen Verantwortung von hier aus zu erfassen versuchen. Man könnte die Betrachtung auf einige als typisch geltende Gebiete des technischen Sicherheitsrechts beschränken und auf dieser Basis sich bemühen, eine gesetzesübergreifende Systematik des technischen Sicherheitsrechts auf die systematische Ordnung und Analyse der zu regelnden und zu entscheidenden Sachprobleme aufzubauen. In jedem Fall würde sich die Frage nach den verfassungsrechtlichen Grenzen rechtlicher Regelungsbefugnisse nur sekundär stellen, nämlich im Rahmen der Überprüfung der gesetzlichen Regelungen auf ihre Verfassungsmäßigkeit. Auf diese Weise könnte die verfassungsrechtliche Verantwortung des Staates, insbesondere des Gesetzgebers, weder systematisch noch annähernd umfassend dargestellt werden. In der vorliegenden Arbeit werden dagegen verfassungsrechtliche Fragen der technischen Sicherheit nicht - wie bisher üblich - nur im Hinblick auf Spezialprobleme des Atomrechts, des Immissionsschutzrechts oder anderer Spezialmaterien erörtert, sondern die Arbeit geht von einem verfassuhgsrechtlichen Ansatz aus. Sie stellt die Frage nach der rechtlichen Verantwortung des Staates für technische Risiken zunächst auf der Ebene der Verfassung und kommt auf diese Weise zu einem „verfassungsrechtlichen Teil" des technischen Sicherheitsrechts, zu einer allgemeinen, für alle technischen
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Sachbereiche gleichermaßen geltenden Darstellung der verfassungsrechtlichen Pflichten und Befugnisse des Staates zum Schutz vor technischen Risiken (Zweiter Teil). Dabei erwies es sich als notwendig, grundlegenden Fragen der Grundrechtsdogmatik nachzugehen, die keineswegs nur für die Technik und ihre Risiken von Bedeutung sind, nämlich der Frage nach der staatlichen Verantwortung für das Handeln Privater, die angesichts der bei uns vornehmlich privatwirtschaftlich betriebenen Großtechnik zu stellen war, und der Frage nach den staatlichen Schutzpflichten im allgemeinen sowie insbesondere im Hinblick auf die Abwehr von Risiken. Die spezifischen Risiken der Technik konnten dabei nur problemorientierend die Fragestellung leiten. Der Dritte Teil geht dem Thema auf der Ebene des einfachen Gesetzes weiter nach, aber nicht mehr mit einem systematischen Zugriff, sondern beschränkt auf einen speziellen Sicherheitsstandard des Immissionsschutzrechts. Die Analyse des § 5 Nr. 1 BImSchG unter dem Leitgesichtspunkt der Verantwortung, die bislang verborgene politische Gestaltungsspielräume zutage fördert, soll typische Probleme der rechtlichen Verantwortung im technischen Sicherheitsrecht an einem Beispiel verdeutlichen und mögliche Konsequenzen aus den im Zweiten Teil gewonnenen Erkenntnisse aufzeigen; sie kann wegen der Typik der Problemlage unter Umständen auch für andere Bereiche des technischen Sicherheitsrechts fruchtbar gemacht werden. Allen mit dem Thema der staatlichen Verantwortung für technische Risiken verbindbaren Assoziationen kann und w i l l die vorliegende Arbeit also nicht nachgehen. Viele Einzelfragen, die sich im Zusammenhang mit dem Thema aufdrängen, können hier nur am Rande berührt oder überhaupt nicht behandelt werden, darunter so vieldiskutierte Probleme wie der individuelle Rechtsschutz gegen technische Risiken durch die Verwaltungsgerichtsbarkeit, die „Kontrolldichte" bei der gerichtlichen Überprüfung von Verwaltungsentscheidungen im technischen Sicherheitsrecht, die Konkretisierung technischer und naturwissenschaftlicher Standards, die technische Normung durch private Organisationen oder eines der Zentralthemen des technischen Sicherheitsrechts: das Verhältnis von staatlicher Entscheidung und technischem Sachverstand. Jedes dieser Einzelthemen kann Bücher füllen oder hat schon Bücher gefüllt. Der Verzicht auf die Auswalzung des Themas in die Breite der mannigfaltigen Detailprobleme ist, so hoffe ich, der Gründlichkeit in der Behandlung der hier zum Gegenstand gewählten Grundsatzfragen zugute gekommen.
ERSTER TEIL
Verantwortung und technisches Risiko: Grundbegriffe § 2 Verantwortung Das Wort „Verantwortung" w i r d in der Umgangssprache sowie in der philosophischen und juristischen Terminologie in sehr verschiedenen Bedeutungen und Sinnzusammenhängen, mit unterschiedlichen Bezügen gebraucht. So spricht man von „Verantwortung vor einer Instanz" oder von Verantwortung für etwas: für eigenes Handeln, für ein Ereignis, etwa einen Unfall, oder für einen Verantwortungsbereich. Schon diese Beispiele der sprachlichen Anwendung zeigen, daß es nicht eine, sondern mehrere Bedeutungen von Verantwortung gibt, die allerdings in einem gemeinsamen Kontext zueinander stehen. Die folgenden Ausführungen sollen nicht dazu dienen, das „Phänomen der Verantwortung" 1 umfassend zu beschreiben oder das „Wesen der Verantwortung" 2 zu ergründen; es geht nur darum zu klären, was in der vorliegenden Arbeit mit „Verantwortimg" gemeint ist, also um die Präzisierung und sachliche Abgrenzung des Themas. Dazu ist ein Überblick über die juristische Verwendung des Verantwortungsbegriffs erforderlich, denn die rechtliche Verantwortung für technische Risiken ist der Gegenstand dieses Buches. Der Begriff der Verantwortung weist aber auch dort, wo er als Rechtsbegriff gebraucht wird, über das positiv geltende Recht hinaus, deutet auf die ethischen Grundlagen des Rechts hin 3 und auf sittliche Ansprüche, mit denen man auch dort noch konfrontiert wird, wo das eigene Verhalten gegen Rechtspflichten nicht verstößt. Die ethische Dimension von „Verantwortung" soll deshalb zunächst wenigstens angedeutet werden. Dabei lassen sich schon die unterschiedlichen Bedeutungen von „Verantwortung" herausarbeiten, die sich in der Umgangssprache und in den verschiedenen Fachsprachen im wesentlichen entsprechen. A. Verantwortung als ethisches Prinzip
I. Verantwortung
als Rede und Antwort stehen
Der Ausdruck „verantworten", eine erst im Mittelhochdeutschen auftretende Prägung, stammt aus dem Rechtsleben.4 Wer sich für eine Sache zu 1 2 3
Vgl. Ryffel, Verantwortung als sittliches Phänomen. Vgl. Weischedel, Das Wesen der Verantwortung. Vgl. Larenz, Allgemeiner Teil, S. 69, 70.
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§ 2 Verantwortung
verantworten hat, muß Antwort geben, antworten auf eine Anklage. Sich verantworten heißt also sich rechtfertigen, verteidigen. 5 Haftung für die Tat, derentwegen man sich zu verantworten hat, ist mit dem Begriff insofern verknüpft, als die Anklage den Zweck hat, den Verantwortlichen haftbar zu machen.6 Die Übertragung des Verantwortungsbegriffs aus dem juristischen Bereich auf den Bereich der gesamten Ethik - sowohl im Deutschen als auch im Englischen und Französischen - scheint christlichen Ursprungs zu sein: Von „Verantwortung" wurde auch im Sinne von Rechtfertigung vor Gottes Richterstuhl gesprochen. 7 „Verantwortung" heißt also zunächst Rede und Antwort stehen und zwar im Hinblick auf einen Vorwurf. Dieser Vorwurf kann rechtlicher, moralischer oder religiöser Natur sein. Ethische Verantwortung in diesem Sinne bedeutet demnach Rechtfertigung des eigenen Verhaltens gegen den Vorwurf, dieses Verhalten genüge nicht den von der Ethik gestellten Ansprüchen. „Rechtfertigen" ist hier noch formal zu verstehen, also unabhängig davon, ob die Rechtfertigung gelingt. Dieser Begriff von Verantwortung wird deshalb als „Verantwortung im formalen Sinne" bezeichnet.8 Je nachdem, wer mir den sittlichen Anspruch entgegenhält, an dem ich mein Verhalten zu messen habe, wem ich also in diesem Sinne eine Antwort zu geben, vor wem oder wem gegenüber ich mich zu verantworten habe, lassen sich drei „Grundarten" ethischer Verantwortung unterscheiden: Verantwortung vor sich selbst als „Selbstverantwortung", Verantwortung vor Gott als „religiöse Verantwortung" und Verantwortung vor anderen Menschen als „soziale Verantwortimg". 9 Der Vorwurf, sich sittlich fehlsam verhalten zu haben, setzt zweierlei voraus: erstens eine ethische Norm, an der das Verhalten gemessen wird, und zweitens die Möglichkeit, sich entsprechend der Norm zu verhalten. Von dieser Möglichkeit hängt die Vorwerfbarkeit normwidrigen Verhaltens ab. Damit ist auf einen weiteren Begriff von Verantwortung verwiesen: Verantwortung als Zurechnung.
4 Grimm, Deutsches Wörterbuch, 12. Bd., 1. Abt., bearb. v. E. Wülcker, Leipzig 1886, Neudr. 1956. 5 Das entspricht der römisch-rechtlichen Verwendung der Begriffe „respondere", „responsio", „responsum"; gleiches gilt für die davon abgeleiteten Wörter i m Englischen und iYanzösischen. 6 Vgl. Picht, Wahrheit, Vernunft, Verantwortung, S. 319. 7 Picht, S. 319. 8 Vgl. Weischedel, S. 30. 9 Weischedel, S. 25 ff.
Α. Verantwortung als ethisches Prinzip
II. Verantwortung
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als Zurechnung
Menschliches Verhalten durch ethische oder rechtliche Normen zu steuern, ist nur möglich, wenn der Mensch die Freiheit hat, sein Verhalten an diesen Normen auszurichten. Und nur unter dieser Voraussetzung, daß der Person ihr Verhalten als eigenes, als - wie Kant sagt - „aus der Freiheit der Person entstanden" 10 , zugerechnet werden kann, läßt sich die Pflichtwidrigkeit verurteilen. Die Frage nach der Willensfreiheit ist für viele Autoren daher das Zentralproblem der Verantwortung. 11 Der Streit um Determinismus und Indeterminismus verfehlt jedoch das Problem. Selbst wenn der Mensch bis ins letzte motivbestimmt sein sollte, so erfährt er sich doch als ein der Entscheidung fähiges Subjekt, das unter verschiedenen Zielen und Mitteln wählen kann und sich deshalb mit seinem Tim identifiziert. 12 Ist der Mensch also ein „der Zurechnung fähiges Wesen" 13 , so kann man von ihm auch verlangen, sich zu verantworten, im formalen Sinne also zunächst sein eigenes Verhalten zu rechtfertigen mit Gründen, die in seiner Person liegen, statt es von sich zu weisen als etwas, das mit ihm passiert. „Zurechnung" wird daher häufig mit „Verantwortung" synonym gebraucht. 14 Die Zurechnungsfrage stellt sich auf zwei Ebenen. Zunächst geht es um das Verhalten als solches. Nicht verantwortlich ist, wem sein Verhalten nicht als eigenes zugerechnet werden kann, weil er etwa durch vis absoluta gezwungen wurde oder als Kind, als psychisch Kranker oder wegen Bewußtseinsstörung die erforderliche Einsicht nicht besitzt. 15 Zugerechnet werden können dem einzelnen aber auch die Folgen seines Verhaltens. Hat er diese herbeiführen wollen, so hat er sie in sein Verhalten aufgenommen, wie das die doppelte Bedeutung von „Tat" zum Ausdruck bringt: Die „Tat" ist nicht nur die Handlung als solche, sondern auch ihr Ergebnis, ihr Erfolg; der „Totschlag" ist nicht nur der Schlag mit dem Hammer, sondern auch der Tod eines Menschen. 16 Schwieriger ist die Zurech10
Eine Vorlesung Kants über Ethik, S. 69. Vgl. Friedrich Wilhelm Foerster, Willensfreiheit und sittliche Verantwortlichkeit. Berlin 1898; C. F. Fernkorn, Willensfreiheit und Verantwortlichkeit. Greifswald 1927; Max Offner, Willensfreiheit, Zurechnung und Verantwortung, 1904; weitere Nachw. bei Weischedel, S. 21. 12 Vgl. Larenz, Allgemeiner Teil, S. 68; Weischedel, S. 22 f., 88. 13 Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, Werke, Bd. 7, S. 673; ders., Einleitung in die Metaphysik der Sitten, Werke Bd. 7, S. 329; dazu von Schenck, Studia Philosophica XVI, 166ff. 14 Vgl. Nicolai Hartmann, Ethik, 2. Aufl. Berlin 1935, S. 659ff.; Larenz, Allgemeiner Teil, S. 68ff.; zum Sprachgebrauch Kants: von Schenck, Studia Philosophica XVI, S. 167; kritisch dagegen Schwartländer, Handbuch philosophischer Grundbegriffe, S. 1579f.; Max Scheler, Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik, 5. Aufl. Bern, München 1969, S. 478f. 15 Vgl. z.B. §§ 827, 828 BGB. 16 Vgl. Larenz, Allgemeiner Teil, S. 68: „Es· ist die Vorwegnahme des gewünschten Erfolgs in der Vorstellung und die Orientierung des Handelns an dem vorgesetzten 11
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nung der Herbeiführung eines Erfolgs durch Unterlassen. Sie setzt eine Pflicht zum Handeln voraus, und zwar auch dann, wenn der Erfolg gewollt war. Anderenfalls würden ethische Pflichten uferlos und unerfüllbar. Können dem Menschen aber auch solche Folgen seines Verhaltens zugerechnet werden, die er nicht bedacht oder nicht gewollt hat? Sofern diese Folgen vorhersehbar und vermeidbar waren, ist diese Frage grundsätzlich zu bejahen. Die Möglichkeit der Entscheidung für ein Verhalten, das die ethisch mißbilligte Folge vermeidet, also die Voraussetzung von Zurechnung überhaupt, ist ja auch hier gegeben. Allerdings fragt sich, ob man über mögliche unerwünschte Nebenfolgen seines Verhaltens überhaupt nachdenken muß und seine Entscheidung erst aufgrund solcher Folge-Überlegungen treffen darf. Und wie weit reicht die Zurechenbarkeit unerwünschter Verhaltensfolgen? Kann man auch für zwar als Möglichkeit voraussehbare, aber doch sehr unwahrscheinliche, erst durch das vermittelnde Eintreten weiterer Umstände provozierte Folgen verantwortlich gemacht werden? 17 Hier zeigt sich, daß die Zurechenbarkeit von Verhaltensfolgen nicht nur eine anthropologische, sondern auch eine (ethisch-)normative Seite hat. Welche ethisch mißbilligten Folgen seines Verhaltens dem Menschen zugerechnet werden können, hängt nicht nur davon ab, welche Folgen er hätte vermeiden können, sondern auch davon, welche Anforderungen an die Sorgfalt des Handelnden gestellt werden und wie weit man den Bereich der Folgen faßt, die ihm noch zugerechnet werden sollen. Oder, um die Verantwortlichkeit von der Zurechnung als ihrer anthropologischen Voraussetzung begrifflich zu trennen: Zwar ist die Zurechnung der Verhaltensfolgen immer Voraussetzung der Verantwortung; aber nicht für alle Folgen seines Verhaltens, die einem zugerechnet werden können, ist man auch ethisch verantwortlich. Das eben ist eine Frage der Reichweite ethischer Verpflichtung. III. Verantwortung als Pflichtgemäßheit des Verhaltens und als besondere Form der Verpflichtung Wurde als „Verantwortung im formalen Sinne" das Antworten auf den Vorwurf pflichtwidrigen Verhaltens bezeichnet und ist man verantwortlich für sein eigenes Verhalten, sofern es einem zugerechnet werden kann, so ist ein zurechenbares Verhalten verantwortlich im materiellen Sinne dann, wenn es den ethischen Ansprüchen entspricht, die an dieses Verhalten gestellt werden. 18 Der Verantwortungsbegriff selbst bleibt auch in diesem Zweck, die den Menschen i n seinem eigenen Bewußtsein dazu nötigt, sich den von ihm willentlich herbeigeführten Erfolg als seine Tat, sein Werk zuzurechnen." 17 Beispiele bei Larenz, Allgemeiner Teil, S. 75f. 18 Weischedel, S. 30, 108f., bezeichnet den „Ent-Spruch" auf den sittlichen Anspruch als „Verantwortung im eigentlichen Sinne".
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Zusammenhang formal; er gibt keine Kriterien für die ethische Bewertung des Verhaltens ab. Indem er allgemein auf die Pflichtgemäßheit des Verhaltens hinweist, bleibt er unspezifisch und gibt weder für eine Systematisierung noch gar für eine Begründung ethischer Normen etwas her. „Verantwortung" steht in diesem Zusammenhang nur für die Verwurzelung ethischer Verpflichtungen in ihrem anthropologischen Urgrund, der Möglichkeit von Zurechnung, und zwar auch gedanklich antizipierter Zurechnung künftiger Taten. Mit „Verantwortung" kann aber auch eine spezifische Art von (ethischer) Pflicht gemeint sein. Verhaltenspflichten können so formuliert werden, daß ein bestimmtes Verhalten ge- oder verboten wird, oder so, daß die Herbeiführung oder die Verhinderung eines bestimmten Erfolges ge- oder verboten wird. Zurechenbar sind - wie schon gezeigt - nicht nur das Verhalten selbst, und die gewollten Folgen, sondern auch diejenigen Folgen des Verhaltens, die zwar nicht gewollt, aber doch vorhersehbar und vermeidbar sind. Ob wegen der Herbeiführung solcher Folgen dem Subjekt ein Vorwurf zu machen ist, hängt davon ab, ob es verpflichtet war, sich so zu verhalten, daß die mißbilligten Folgen nicht eintreten. Eine solche Verpflichtung begründet die Verantwortung des einzelnen für die Folgen seines Verhaltens in dem Sinne, daß er für diese Folgen einzustehen hat. Verantwortlich verhält er sich dann, wenn er dieser Verpflichtung genügt, wenn er sich also so verhält, daß er für die voraussehbaren Folgen seines Verhaltens einstehen kann. 1 9 Mit „Verantwortung" w i r d hier eine besondere Art von ethischer Pflicht charakterisiert, nämlich eine solche, die allein auf die Folgen des Verhaltens abstellt. Dem entspricht eine besondere Art des moralischen Urteils: Ob ein Verhalten verantwortlich ist, hängt nicht davon ab, was man damit will, sondern was man damit bewirkt, oder genauer: was man damit voraussichtlich bewirken wird. Da das Urteil ex ante zu treffen ist, kann es nicht darauf ankommen, ob die in Betracht zu ziehenden Folgen bei der Ausführung der Handlung tatsächlich eintreten oder nicht. „Verantwortung für etwas" kann noch einen anderen Bezug haben. Verantwortung kann man nicht nur für die Folgen seines Verhaltens haben, sondern auch für einen Gegenstand, für den man zu sorgen hat. 2 0 Wer die Verantwortung z.B. für das Wohl seiner Kinder oder für die Sicherheit einer technischen Anlage trägt, ist verpflichtet, alles zu tun, was zur Erreichimg des ihm vorgegebenen Ziels erforderlich ist. Verantwortung in diesem Sinne ist ebenfalls eine besondere Art von Pflicht; von anderen auf ein positives Tun oder die Erreichung eines Ziels gerichteten Pflichten unterscheidet sie 19 Welches Maß an Sorgfalt im Hinblick auf die Vermeidung von unerwünschten Verhaltensfolgen vom einzelnen verlangt wird, kann ebenfalls Gegenstand von Verhaltensnormen sein, die insoweit für unterschiedliche Folgen differieren können. 20 Zu diesem Begriff von Verantwortung vgl. Freyer, Gedanken zur Industriegesellschaft, S. 197ff.; Jonas, Das Prinzip Verantwortung, S. 174ff.
3 Murswiek
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sich dadurch, daß sie nur „rahmenmäßig" vom Gegenstand her bestimmt ist. Der Zweck der Verpflichtung ist mehr oder weniger genau umschrieben; aber was konkret zu tun ist, um den Auftrag zu erfüllen, ist nicht vorgegeben, sondern hängt von den - im einzelnen oft nicht vorhersehbaren - Situationen ab, mit denen man im Hinblick auf den Gegenstand seiner Verantwortung konfrontiert wird. Man hat also nicht Weisungen, Befehle, inhaltlich genau bestimmte Gebote zu vollziehen, sondern selbst zu erkennen, was zu tun ist, was nämlich die Situation im Hinblick auf die Erfüllung des Auftrags verlangt. 21 Verantwortung in diesem Sinne kann sich immer nur auf bestimmte Verantwortungsbereiche beziehen, welche die Pflicht begrenzen. Man kann nicht für alles das verantwortlich sein, was man durch sein Verhalten tatsächlich beeinflußt oder beeinflussen könnte, sondern nur für bestimmte Gegenstände.22 IV. Verantwortung
und Haftung
Für sein Verhalten und für die Folgen seines Verhaltens einstehen müssen, heißt vor allem, für den Schaden, den man angerichtet hat, zu haften. Die Forderung, den 'Schaden, für den man im oben dargelegten Sinne verantwortlich ist, der einem also zugerechnet werden kann und den man zu vermeiden verpflichtet war, „wieder gut zu machen", ist eine Konsequenz aus der materiellen Verantwortlichkeit: Hat man den Schaden schon in pflichtwidriger Weise verursacht, dann muß man auch dafür aufkommen. Deshalb w i r d der Begriff der Verantwortlichkeit häufig auch im Sinne von Verpflichtung zum Schadensersatz gebraucht. Versteht man unter „Verantwortlichkeit" dagegen „die der Verantwortung zugehörende Haltung" 2 3 , so ist derjenige, der sich verantwortlich weiß, nicht nur bemüht, sich so zu verhalten, daß er keinen Schaden anrichtet, sondern auch bereit, für dennoch von ihm verursachte Schäden einzustehen, die Folgen seines Verhaltens „auf sich zu nehmen", für Schäden zu haften. 24 V. Verantwortung
als materiales Prinzip?
Der Begriff der Verantwortung in jeder der bisher vorgestellten Bedeutungen ist „formal" in dem Sinne, daß er selbst kein Kriterium dafür enthält, wie man sich verhalten soll. 25 Er ist genauso „formal" wie der Begriff der 21
Dazu Freyer, S. 198 f. Freyer, S. 199, spricht anschaulich von „Verantwortungsraum". Dagegen ist eine „universale Verantwortung", wie sie von Picht, S. 334 (vgl. aber S. 335), oder Schwartländer, S. 1581, postuliert wird, nicht vollziehbar. « Weischedel, S. 17. 24 Vgl. Larenz, Allgemeiner Teil, S. 70. 25 Vgl. Jonas, S. 174. 22
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Pflicht, aus dem ja auch nicht folgt, was man zu tun oder zu unterlassen hat. Dies ergibt sich erst aus den konkreten Pflichten und Maximen - nicht etwa aus dem Begriff der Maxime. Diese enthalten die materiellen Kriterien der Ethik. Auf die materiale Ethik verweist der Verantwortungsbegriff wiederum nur in einem formalen Sinne, nämlich mit der Verweisung auf die Instanzen, gegenüber denen man sich zu verantworten hat. Möglicherweise machen sie nicht nur die Verpflichtung geltend, die ihnen gegenüber besteht, sondern sind sie auch pflichtbegründende Instanzen. So kann „soziale Verantwortung" deshalb bestehen, weil die Pflichten gegenüber anderen Menschen durch Vertrag mit diesen oder durch „gesellschaftlichen Konsens" begründet oder durch gesellschaftliche Institutionen gesetzt worden sind. Die Verantwortung vor Gott wurzelt in der göttlichen Offenbarung, und die Selbstverantwortung kann darauf beruhen, daß das autonome Individuum die Kriterien seines Verhaltens selber setzt oder als vernünftiges Wesen ergründet. Nun ist allerdings in neuerer Zeit versucht worden, den Begriff der Verantwortung oder „das Prinzip Verantwortung" zur Begründung materieller ethischer Normen heranzuziehen. Auf diese Versuche kann hier nicht näher eingegangen werden. Die Begründimg ethischer Normen ist nicht Thema dieser Arbeit, und die sich an den Topos „Verantwortung" anlehnenden Versuche sind vom oben dargestellten „formalen" Verantwortungsbegriff her gesehen allenfalls eine von mehreren Möglichkeiten - nämlich eine zur „herkömmlichen Ethik" in Konkurrenz tretende Möglichkeit 2 6 - , das materielle Substrat von Verantwortung zu begründen. Daher mögen einige Hinweise hier genügen. Zum einen bietet man unter dem Stichwort „Verantwortung" eine neue Methode der Normenbegründung an, die im Unterschied zur „Pflicht" dem einzelnen nicht als einseitige Setzung oder schon immer geltende Norm mit dem Anspruch auf „Gehorsam" gegenübertrete; ihre Verbindlichkeit beruhe vielmehr auf „Gegenseitigkeit", auf dem „dialogischen Prinzip". 2 7 Zum anderen w i r d das Phänomen der Verantwortung für einen Gegenstand (Verantwortungsbereich), das oben als eine Form von Verpflichtung dargestellt wurde, zu einem „Prinzip Verantwortung" materiell aufgeladen: Aus der „Natur" oder der „Natur der Sache" wird konkrete Verantwortung für konkrete Gegenstände abgeleitet, von der Verantwortung der Eltern für ihre Kinder über die Verantwortung des Staatsmannes für seinen Machtbereich, bis hin zur Verantwortung für die Existenz der Menschheit, ja für die Welt schlechthin. 28 Aus der tatsächlichen Einwirkungsmöglichkeit auf das 26 Meist mit dem Anspruch, moderne Probleme lösen zu können, mit denen die herkömmliche Ethik nicht fertig werde, vgl. Jonas, S. 7,15, 47; ähnlich Lenk, in: Bitburger Gespräche, Jb. 1981, S. 22 ff. 27 Vgl. Schwartländer, S. 1578, 1585f.
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Geschehen oder auf bestimmte Zustände leitet man nicht nur die Verpflichtung ab, von der Möglichkeit zum Einwirken Gebrauch zu machen, sondern versucht außerdem, aus dem „Prinzip Verantwortung" zu folgern, in welchem Sinne eingewirkt werden soll. 29 VI. Gesinnungs- und Verantwortungsethik Moralische Urteile können sich darauf beziehen, was eine Person mit ihrem Handeln beabsichtigt und darauf, was sie bewirkt. Dem entsprechen gesinnungs- bzw. folgenbezogene Maximen und Pflichten. Das gesinnungsund folgenbezogene Urteil über ein Verhalten kann in vielen Fällen zu demselben Ergebnis führen, wenn nämlich das Verhalten sowohl hinsichtlich der Gesinnung, insbesondere des angestrebten Ziels, als auch hinsichtlich der tatsächlich bewirkten Folgen sittlich zu billigen oder zu mißbilligen ist. Aber sie geraten in Widerstreit, wenn das gut gemeinte Verhalten schlechte Folgen nach sich zieht. Dann muß entschieden werden: Kommt es auf die gute Gesinnung oder auf die schlechten Folgen an? Max Weber bezeichnet die absolute Ethik, der es auch in diesem Konfliktfall darauf ankommt, gute Ziele anzustreben, das „Gute" zu tun, Gutes zu wollen - ohne Rücksicht auf die schlechten Folgen, als „Gesinnungsethik" und stellt ihr die „Verantwortungsethik" gegenüber; für diese sind die Folgen entscheidend. 30 Diesen Unterschied hat Odo Marquard im Sinne der Verantwortungsethik auf die Pointe zugespitzt: „Das Gegenteil von gut ist gut gemeint." 31 Für die Verantwortungsethik gilt die Maxime: Handle so, daß du für die voraussehbaren Folgen deines Handelns aufkommen kannst! 3 2 Das heißt nun nicht, daß man sich ausschließlich an den unerwünschten Folgen, den unbeabsichtigten negativen Nebenwirkungen seines Verhaltens orientieren sollte. Es heißt nur, daß diese Folgen bedacht und gegen die erstrebten positiven Folgen in die Bilanz zu stellen sind. Andernfalls müßte die Orientierung des Verhaltens an den Folgen wieder in eine - negativ 28 In diesem Sinne vor allem Jonas, S. 174ff., 186f. u. pass; vorher schon Picht, S. 324ff., 334, 340. 29 Das ist das große Thema von Jonas, der m. E. in überzeugender Weise Sachprobleme der durch die technisch-industrielle Zivilisation geprägten Welt vorführt, die geradezu nach einer Lösung „drängen". Das Buch ist eine imposante Mahnung an die „Verantwortlichen", also an diejenigen, die kraft Amt, Kompetenz und Macht berufen sind, sich dieser Probleme anzunehmen. Aber daß es sich dabei um Probleme handelt und daß diese mit je bestimmten Zielen gelöst werden müssen, ergibt sich m.E. aus vorausgesetzten, allgemein anerkannten, ethischen Überzeugungen. Jonas' Versuch, diese aus dem „Prinzip Verantwortung" als „geltend" zu begründen, scheint mir fehlzugehen. 30 Politik als Beruf, S. 550 ff. 31 In: Symposion „Gruppenuniversität", Forum des Hochschulverbandes Heft 26, Bonn-Bad Godesberg 1981, S. 197. 32 M. Weber, S. 552.
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bestimmte - Gesinnungsethik umschlagen: Statt ein positiv bewertetes Ziel unter Vernachlässigung negativer Folgewirkungen anzustreben, wird jetzt die Vermeidung von Risiken gesinnungsethisch verabsolutiert und nicht berücksichtigt, daß der Verzicht auf die risikobehaftete Handlung möglicherweise weit schwerwiegendere Risiken mit sich bringen könnte. Die Verantwortungsethik verlangt dagegen, alle in Betracht kommenden Folgewirkungen zu analysieren und sein Urteil aufgrund dieser Gesamtanalyse zu fällen. Die Entscheidung zwischen Gesinnungs- und Verantwortungsethik ist eine ethische Fundamentalentscheidung. Daß jedenfalls das politische Handeln an seinen (voraussehbaren) tatsächlichen Ergebnissen, nicht an der guten Absicht zu messen sei, ist bei uns heute weit verbreitete, parteiübergreifende Meinimg. 33 Hier scheint tatsächlich die Verwendung des viel mißbrauchten Wortes „Konsens" angebracht. 34 Das darf freilich nicht darüber hinwegtäuschen, daß die verantwortungsethische Maxime noch nichts darüber aussagt, welche Folgen denn verantwortet werden können und welche nicht. Insofern ist auch die Verantwortungsethik ein formales Prinzip. Ihre Maxime ermöglicht ein Urteil nur auf der Basis vorausgesetzter ethischer Werte (Wertentscheidungen). Wo diese Basis fehlt, kann der Streit der politischen Richtungen sich trotz des Konsenses über die Verantwortungsethik ungebremst entfalten: Man streitet eben über die Verantwortbarkeit der Folgen. Politischer Streit findet freilich auch dort noch statt, wo man sich über die Bewertimg der Ziele und Folgen einig ist: Hier kann noch darüber gestritten werden, was die Sachlage erfordert, insbesondere welche tatsächlichen Folgen die Vornahme oder Unterlassung bestimmter Maßnahmen haben wird. Dieser Streit geht um die bessere Prognose und kann ethisch nicht entschieden werden. Dies verkennt, wer Max Weber dahingehend korrigieren möchte, daß der Politiker auch noch für die nicht voraussehbaren Folgen seines Handelns aufzukommen habe. 35 Das mag für das politische Schicksal des Politikers zutreffen wie für das Schicksal der Menschen und Völker überhaupt, die ja nicht nur für die Folgen ihres eigenen Handelns aufzu33
Repräsentativ Bundeskanzler Helmut Schmidt, Maximen politischen Handelns, S. 16, 18. 34 Der Frage, ob die Entscheidung für die Verantwortungsethik für alle Lebensbereiche und für alle Subjekte gelten muß - Max Weber, S. 549 f. bezweifelt das und hebt die Besonderheit der Politik hervor; im gleichen Sinne Arnold Gehlen, Moral und Hypermoral. Eine pluralistische Ethik. Frankfurt/M., Bonn 1969 - , oder ob etwa der Heilige im Unterschied zum Politiker sich eine reine Gesinnungsethik einfach deshalb leisten kann, weil i m Unterschied zu diesem sein Verhalten keine praktischen Folgen für andere Menschen hat, soll hier nicht nachgegangen werden. Auch soll hier offenbleiben, ob - wie Max Weber, S. 558 f. annimmt - die Verantwortungsethik der Begrenzung von der Gesinnungsethik her bedarf, oder ob sich dieses Problem schon von der notwendigen Bewertimg der Verhaltensfolgen her lösen läßt. 35 So Helmut Schmidt, Maximen politischen Handelns, S. 19.
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§ 2 Verantwortung
kommen haben. Aber mit Verantwortungsethik hat das nichts zu tun. Sein Schicksal hat man zu tragen, nicht zu verantworten. 36 Es bestimmt freilich die Lage mit, in der man zu handeln und sich zu verantworten hat, und es wäre unverantwortlich, dies zu verleugnen. Gegenstand einer Verhaltensmaxime kann dagegen nur sein, was beherrschbar, beeinflußbar und also erkennbar ist. VII. Technik und Verantwortungsethik Technischer Fortschritt galt lange Zeit per se als „gut". 3 7 Inzwischen hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, daß die Technik auch Nachteile und Risiken mit sich bringt und daß diese unter Umständen schwerer wiegen können als die Vorteile. So mancher richtet heute seinen Blick allein noch auf die Risiken und schädlichen Folgewirkungen. Wer über die Nutzimg technischer Anlagen und Produkte, insbesondere über die Einführung neuer Technologien zu entscheiden und sich für die Folgen zu verantworten hat, muß zwischen Nutzen und Nachteil abwägen. 38 Das ist die von der Verantwortungsethik an die Technik gestellte Grundsatzforderung. Was „Fortschritt" ist, kann hiernach allein unter technischen Gesichtspunkten nur noch im Hinblick auf die technische Funktionalität selbst beurteilt werden. Ob die Entwicklung im ganzen als „Fortschritt" angesehen werden kann, hängt von einem Urteil über die Gesamtheit ihrer gewollten und nicht gewollten Wirkungen ab. Ein solches Gesamturteil zu treffen, auch die Folgewirkungen in die Betrachtung einzubeziehen und Lösungen zu finden, die Vorteile möglichst auf eine solche Weise bringen, daß Schäden vermieden und Risiken klein gehalten werden, ist als Aufgabe von Technikern und Politikern erkannt. Diese Aufgabe mag an die technische und an die politische Praxis neue Anforderungen stellen - für die Ethik ergeben sich aus ihr keine neuen Probleme. Allerdings fordert die moderne Technik die Verantwortung des Menschen auch unter einem anderen Aspekt in besonderer Weise heraus: Sie gibt dem Menschen Mittel in die Hand, die Welt, in der er lebt, in kürzlich noch unvorstellbar scheinender Weise zu verändern; sie verleiht ihm außerordentlich große Macht, auf seine Umwelt einzuwirken, sie zu gestalten. Mit der Reichweite dieser Einwirkungsmöglichkeiten dehnt sich auch der Bereich der Verantwortung aus. Je mehr man bewirken kann, desto mehr hat man auch zu rechtfertigen. 39 Das gilt hinsichtlich der Objekte, auf die se A. A. Picht, S. 329 ff. 37 Der Technik gegenüber skeptische Kulturkritiker wie Friedrich Georg Jünger („Die Perfektion der Technik", 1946, 5. Aufl. Frankfurt/M. 1968) wurden als „Reaktionäre" kaum beachtet. 38 Sachsse, Technik und Verantwortung, S. 25 f. 39 Vgl. Picht, S. 334; Jonas, S. 27, 222ff.
Β. Verantwortung im Rechtssinne
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man jetzt einwirken kann, hinsichtlich des Raumes, auf den sich die Handlungen auswirken und hinsichtlich der Zeit, in die hinein die Wirkungen sich erstrecken. Hinzu kommt, daß Veränderungen so einschneidend sein können, daß sie nicht mehr reversibel sind, wenn sie sich als verhängnisvoll erweisen: Wo die Möglichkeit der Korrektur nach der Methode des „trial and error" abgeschnitten ist, muß ein besonderes Maß an Sorgfalt in der Prognose und an Vorsicht bei der Einschätzung der Risiken verlangt werden. 40 A l l dies hat zwar nicht uneingeschränkt im Alltagsleben, aber überall dort, wo mit den Mitteln moderner Technik auf die Welt verändernd eingewirkt wird (oder auch dort - das w i r d oft übersehen - , wo man dies unterläßt) die Anforderungen an verantwortliches Verhalten im höchsten Maße gesteigert. Denn mit den Möglichkeiten gezielten Einwirkens wachsen die Möglichkeiten ungewollter Nebenwirkungen nicht etwa proportional, sondern exponentiell. Schon das gedankliche Erfassen und Analysieren der voraussehbaren Möglichkeiten kann dann an die Grenzen menschlichen Leistungsvermögens führen. Ob das Bewußtsein von dieser Verantwortung im selben Maße gewachsen ist, ob all diejenigen, die mit technischen Mitteln auf die Welt verändernd einwirken, überhaupt zur Kenntnis nehmen, welche Last an Verantwortung die Technik ihnen als Gegengewicht zur Macht aufgeladen hat, die sie ihnen schenkt, das muß bezweifelt werden. Gesinnungsethisch kann man das Problem verdrängen. Aber das gehört hier nicht mehr zum Thema. Es ging nur darum anzudeuten, wo die ethischen Probleme liegen, vor deren Hintergrund hier die rechtliche Verantwortung darzustellen ist. 4 1 B. Verantwortung im Rechtssinne
Wie die Umgangssprache, so verwendet auch die Rechtssprache den Begriff der Verantwortung in unterschiedlichen Bedeutungen und Bezügen. ' 4 0 Vgl. Jonas, S. 27. 41 Daß der Begriff Verantwortung erst durch die Dynamik der technisch-industriellen Entwidmung zu einem ethischen Zentralbegriff geworden ist, wird i n der Literatur zu Recht hervorgehoben. Der vortechnischen statischen Welt mochten statische Pflichten angemessen sein. Verantwortung in ihrer Folgenbezogenheit ist dagegen dynamischer Natur. Vgl. Jonas, S. 222ff.; Hofmann, Rechtsfragen, S. 265f.; Ryffel, Der Staat 6 (1967), 284ff. Die technische Entwicklung schafft permanent neue Situationen, in denen sich die Frage, was man tun muß oder darf, in vollkommen neuer Weise stellt. Die Ansicht, diese neue Lage erfordere eine neue Ethik (so Jonas, S. 7, 15, 47), scheint mir dagegen nicht begründet zu sein: Die Kriterien des Urteils über menschliches Verhalten sind auf völlig neue Situationen anzuwenden, und das macht in verschiedener Hinsicht große Schwierigkeiten; aber daraus folgt nicht, daß wir neue Kriterien brauchen, und es ist nicht einmal ersichtlich, welche neuen Kriterien denn diese Schwierigkeiten bewältigen könnten. Problematisch geworden ist nicht die Ethik, nicht die Kriterien moralischer Urteile, sondern die tatsächliche Einschätzung menschlichen Verhaltens, insbesondere die Prognose seiner Folgen. Vgl. in diesem Sinne Hofmann, Rechtsfragen, S. 265 Fn. 29; Sachsse, S. 133, 144: nicht die Grundprinzipien müßten sich ändern, sondern die Verhaltensregeln, die „Durchführungsregeln" ethischer Grundsätze.
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So spricht man vom verfassungsrechtlichen Prinzip der „verantwortlichen Regierung" („responsible government"), von „Staatenverantwortlichkeit" („State responsibility"), von strafrechtlicher, zivilrechtlicher oder „polizeilicher" Verantwortlichkeit. Hier einige Beispiele aus der Gesetzessprache: Der Bundeskanzler „trägt die Verantwortung" für die Richtlinien der Politik (Art. 65 S. 1 GG), und die Minister leiten ihren Geschäftsbereich „unter eigener Verantwortung". Nach dem Entwurf für eine neue schweizerische Bundesverfassung stehen die Staatsauf gaben „ i n der Verantwortung des Bundes oder der Kantone" (Art. 48 I). 4 2 § 3 JGG bestimmt die Voraussetzungen, unter denen ein Jugendlicher „strafrechtlich verantwortlich" ist. Die Gründer einer Aktiengesellschaft sind z.B. „verantwortlich" für die Richtigkeit und Vollständigkeit der Angaben, die zum Zwecke der Gründung der Gesellschaft über Einzahlung auf die Aktien oder Verwendung eingezahlter Beiträge gemacht worden sind" (§ 46 I AktG). Wer im Zustande der Bewußtlosigkeit einem anderen Schaden zufügt, ist nach § 827 S. 1 BGB „für den Schaden nicht verantwortlich". 4 3 Von „Verantwortung" kann man im Rechtssinne in den gleichen Zusammenhängen und Bezügen sprechen wie im ethischen Sinne. Der Unterschied liegt allein in den Normen, welche bestimmen, was „Verantwortlichkeit" ausmacht. Während aber die ethische Verantwortung der Problematik ethischer Normenbegründung ausgesetzt ist, läßt sich der Rechtsordnung aufgrund der Positivität ihrer Geltung mit weit größerer Eindeutigkeit und Präzision entnehmen, vor welcher Instanz man sich zu verantworten hat und wofür man verantwortlich ist. I. Verantwortung
im formalen
Sinne
Als rechtliche Verantwortung im formalen Sinne läßt sich das Rede-undAntwort-Stehen im Hinblick auf den Vorwurf rechtswidrigen Verhaltens bezeichnen. Wer sich rechtlich zu verantworten hat, muß zu dem Vorwurf Stellung nehmen, Recht verletzt zu haben. Rechtliche Verantwortung wird vor allem dadurch sozial wirksam, daß die Rechtsordnung Instanzen zur Verfügung stellt, die dazu berufen sind, solche Vorwürfe verbindlich zu klären. 44 Das sind bei uns die Gerichte. 42 Expertenkommission für die Vorbereitimg einer Totalrevision der Bundesverfassung: Verfassungsentwurf. Bern 1977. Den Verantwortungsbegriff definiert Art. 48 II: „Wer eine Verantwortung trägt, hat das Recht und die Pflicht, die geeigneten Vorkehrungen zur Erfüllung der Staatsaufgaben zu treffen." Dazu vgl. den Bericht der Expertenkommission für die Vorbereitung einer Totalrevision der Bundesverfassung, Bern 1977, S. 113. 43 Einen umfassenden Überblick über die Verwendung des Verantwortungsbegriffs i n der deutschen Gesetzessprache bietet Pfuhlstein, Verantwortung als Verfassungsgrundsatz, S. 9ff.; vgl. auch Wilke, DÖV 1975, 509ff. 44 Vgl. für den soziologischen Verantwortungsbegriff Gehlen, o. Fn. 34, S. 151.
Β. Verantwortung im Rechtssinne
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Diese Instanzen sind in der Regel nicht identisch mit dem Subjekt, das den Vorwurf erhebt und dem gegenüber man sich zu verantworten hat. Zu unterscheiden ist also, vor welcher Instanz und wem gegenüber man sich zu verantworten hat. Man ist demjenigen gegenüber verantwortlich, dem man rechtlich verpflichtet ist. Das ist eine Frage des materiellen Rechts. Formell muß man sich gegenüber demjenigen verantworten, der vor Gericht die Behauptung erhebt, man habe ihm gegenüber bestehende Pflichten verletzt. Das Gegenüber der rechtlichen Verantwortung kann also - im Unterschied zur ethischen Verantwortung - immer nur eine andere Person sein. Zwar kann man sich selbst vor dem „forum internum" auch im Hinblick auf die Beachtung rechtlicher Pflichten zur Rede stellen, aber diese Selbstverantwortung ist immer eine Art von moralischer Verantwortung. Sich selbst gegenüber kann man nicht rechtlich verpflichtet sein. 45 II. Verantwortung
im materiellen Sinne
1. Verantwortung und Haftung Wer den Vorwurf rechtswidrigen Verhaltens ausräumen kann, wer sich also rechtmäßig verhalten hat, der hat sich materiell „verantwortlich" verhalten. Als „rechtliche Verantwortung im materiellen Sinne" könnte man also ganz allgemein die Rechtmäßigkeit des Verhaltens bezeichnen. Dieser unspezifische Verantwortungsbegriff ist allerdings kein juristischer Terminus. In der juristischen Terminologie wird der Verantwortungsbegriff meist im Sinne von „Haftung" oder im Zusammenhang mit irgendeiner Art von rechtlichem Einstehenmüssen für sein Verhalten gebraucht. Das BGB verwendet den Begriff der Verantwortlichkeit 46 in einer doppelten Bedeutung: Einerseits steht „Verantwortlichkeit" synonym für „Verpflichtetsein zum Schadensersatz" und andererseits zugleich für „Schuld" bzw. „Zurechnung". „Verantwortlichkeit" w i r d abkürzend für beide Regelungsgegenstände in solchen Normen verwendet, die auf die ausdrückliche Normierimg sowohl der Zurechnungskriterien als auch der Schadensersatzpflicht in vorausgehenden Bestimmungen Bezug nehmen können. 47 Beides hängt in diesen Bestimmungen untrennbar miteinander zusammen: Haftung setzt hier Vorwerfbarkeit der Schadensverursachung voraus und folgt umgekehrt aus dieser. 48 Vorwerfbar ist die Herbeiführung eines Schadens, wenn sie 45 Zur Heteronomie des Rechts vgl. Murswiek, Die verfassunggebende Gewalt nach dem Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, S. 180 ff. m.w.N. 46 Die Literatur hierzu spricht ohne erkennbaren Bedeutungsunterschied sowohl von „Verantwortimg" als auch von „Verantwortlichkeit", vgl. Larenz, Allgemeiner Teil, S. 68 ff. 47 Vgl. ζ. B. §§ 832 I I in bezug auf I, 831 I I in bezug auf I, 827 ff. in bezug auf 823 ff. 48 Zu den Ausnahmen von diesem Prinzip s.u. III.
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§ 2 Verantwortung
schuldhaft, also vorsätzlich oder fahrlässig erfolgte. 49 Vorsatz und Fahrlässigkeit sind die regelmäßigen Zurechnungskriterien, welche die rechtliche Zurechnung eines „kausal" herbeigeführten Schadens ermöglichen. Nicht nur ein Tun, sondern auch ein Unterlassen kann conditio sine qua non für den Eintritt eines Erfolges sein, wenn nämlich dieser Erfolg durch Handeln hätte abgewendet werden können. Die Zurechnung 'der Unterlassensf olgen ist nach einem allgemeinen Rechtsgrundsatz aber eingeschränkt: Für die Folgen seines Unterlassens ist man nur dann verantwortlich, wenn man rechtlich verpflichtet war, den Erfolg abzuwenden. 50 Voraussetzung für schuldhaftes Handeln, für die Zurechnung der Verursachung eines Schadens, ist, daß die Person überhaupt „zurechnungsfähig" bzw. „schuldfähig" ist. 5 1 Diese generelle Fähigkeit zu schuldhaftem Handeln wird im Strafrecht auch als „strafrechtliche Verantwortlichkeit" bezeichnet. 52 „Schuldhaft", „vorwerfbar" kann nur ein widerrechtliches Verhalten sein. Wo Haftung an Schuld anknüpft, ist daher Pflichtwidrigkeit des Verhaltens notwendige Voraussetzung für die Begründung der Haftung. Die . Verhaltenspflichten, deren Verletzung die Haftung für zurechenbare Schäden oder auch eine strafrechtliche Sanktion zur Folge hat, können in besonderen Bestimmungen geregelt sein. Häufig müssen sie den haftungsbegründenden Normen konkludent entnommen werden. So sagt § 823 I BGB, unter welchen Voraussetzungen man Schadensersatz zu leisten hat. Wie man sich verhalten muß bzw. nicht verhalten darf, wann also ein Verhalten rechtswidrig ist, ergibt sich aus dieser Norm nicht ausdrücklich, aber implizit. Man hat sich nämlich so zu verhalten, daß man nicht den haftungsbegründenden Tatbestand auslöst. Freilich ist unter Zivilrechtlern umstritten, ob die Außerachtlassung der „ i m Verkehr erforderlichen Sorgfalt", die nach § 276 I 2 BGB die Fahrlässigkeit ausmacht, ein Merkmal der Rechtswidrigkeit oder der Schuld ist. 5 3 Dieser Streit kann hier auf sich beruhen. Entscheidend ist in unserem Zusammenhang, daß das Einstehenmüssen für ein Verhalten oder seine Folgen im Strafrecht immer, im Zivilrecht in der Regel die Rechtswidrigkeit des Verhaltens voraussetzt, und daß nur unter dieser Voraussetzung ein Verhalten als solches oder im Hinblick auf seine Folgen vorwerfbar sein kann.
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Vgl. zum Begriff der Schuld Larenz, Allgemeiner Teil, S. 74. Dieser Rechtsgrundsatz gilt gleichermaßen im Straf recht (vgl. § 13 I StGB), im Zivilrecht (vgl. Larenz, Schuldrecht Bd. I, § 27 I I I 5c) und im öffentlichen Recht (vgl. Drews / Wache / Martens II, S. 186 m.w.N.). 51 Vgl. §§ 827f. BGB, 19 - 21 StGB. 52 Vgl. Jugendgerichtsgesetz (JGG) § 3. 53 Vgl. Larenz, Allgemeiner Teil, S. 73ff. m.w.N.; Schuldrecht I, § 20 IV; II, § 72 Ic; Esser, Schuldrecht I, S. 244ff. m.w.N. 50
Β. Verantwortung im Rechtssinne
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Haftung im Sinne von Verpflichtung zur Schadensersatzleistung oder zur Duldung einer Sanktion ist in der Regel die Reaktion der Rechtsordnung auf ein Verhalten, das gegen Rechtspflichten verstößt und - auch im Hinblick auf die Folgen - dem Betreffenden zugerechnet werden kann. Daher kann der Verantwortungsbegriff auch zur Bezeichnung dieser Haftungsvoraussetzungen verwendet werden, etwa mit der Wendung, die „privatrechtliche Verantwortimg" begründe die Pflicht zum Schadensersatz. 54 „Verantwortlich für einen Schaden" wäre man hier grundsätzlich dann, wenn man ihn pflichtwidrig und schuldhaft verursacht hat. Der Begriff der Verantwortlichkeit in diesem Sinne umfaßt also zwei Elemente: die Zurechnung des eigenen Verhaltens und der Folgen dieses Verhaltens sowie die Vorwerfbarkeit, also die Pflichtwidrigkeit, dieses Verhaltens. 55 Und die rechtliche Konsequenz dieser Verantwortlichkeit scheint dem sittlichen Bewußtsein so unausweichlich 56 , daß sie sich im Doppelgesicht des Verantwortungsbegriffs widerspiegelt: „Verantwortlich für einen Schaden sein" heißt eben auch „für den Schaden haften". Mit einem anderen Ausdruck: Wer sich rechtlich unverantwortlich verhält, ist für den daraus resultierenden Schaden verantwortlich. Das ist ein allgemeiner Rechtsgrundsatz, der der Ausgestaltung durch den Gesetzgeber bedarf, aber als solcher nicht zur Disposition steht. 57 2. Verantwortung für einen Gegenstand Auch in der juristischen Terminologie spricht man nicht nur von Verantwortung „für einen Schaden" oder „für das eigene Verhalten", sondern auch „für einen Gegenstand", für den zu sorgen man verpflichtet ist. In diesem Sinne w i r d der Verantwortungsbegriff z.B. im Zusammenhang mit Verkehrssicherungspflichten verwendet. Wer etwa für den ordnungsgemäßen Zustand einer Straße oder eines Gebäudes verantwortlich ist, hat alles zu tun, was erforderlich ist, um zu vermeiden, daß Dritte durch den Zustand der Sache zu Schaden kommen. 58 Charakteristisch für derartige Handlungs54
Latenz, Allgemeiner Teil, S. 70. Diese Zusammenfassung von Rechtswidrigkeit und Schuld in einem Begriff entspricht übrigens auch dem Sprachgebrauch anderer Rechtsordnungen, vgl. z.B. für ïYankreich: Constantinesco / Hübner, Einführung in das französische Recht. München 1977, S. 132; Geneviève Viney, Traité de droit civil, Tome IV: Les obligations. La responsabilité: conditions. Paris 1982. 56 Vgl. Larenz, Allgemeiner Teil, S. 70. 57 Das ergibt sich aus den verfassungsrechtlichen Schutzpflichten des Staates, dazu unten § 6 Β. II. 1. c). 58 Auf Einzelheiten hinsichtlich der Reichweite und Intensität solcher Pflichten braucht hier nicht eingegangen zu werden. Zu den Verkehrssicherungspflichten und der Verwendung des Verantwortungsbegriffs in diesem Zusammenhang vgl. z.B. Esser, Schuldrecht II, §108; Esser / Weyers 112, § 55 V; Larenz, Schuldrecht II, § 72 Id, jeweils m. w. N. Ein anderes Beispiel für einen gegenstandsbezogenen Verantwortungsbegriff bietet Art. 48 I I des Verfassungsentwurfs der Expertenkommission 55
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§ 2 Verantwortung
pflichten ist, daß sie vom Ziel her bestimmt sind. Sie schreiben also nicht konkret vor, was zu tun ist. Wie man sich zu verhalten hat, ergibt sich erst aus der konkreten Situation: Geboten ist, was zur Erreichung des gegebenen Ziels - etwa zur Vermeidung der Gefährdung Dritter - angesichts der jeweiligen Lage jeweils erforderlich ist. Der Gegenstand, für den man die Verantwortung trägt, kann sehr eng gefaßt sein - Verantwortlichkeit des Vorstandes einer Aktiengesellschaft dafür, daß die eingezahlten Beträge zur freien Verfügung des Vorstandes stehen, § 48 AktG - oder sehr weit - Verantwortung der Kantone für die öffentliche Ordnung, Art. 50 I a schweizerischer Verfassungsentwurf 1977. Die Struktur der Verantwortung als einer vom Gegenstand, vom Ziel her bestimmten, hinsichtlich der Durchführung, der Wahl der Mittel aber nicht determinierten Handlungspflicht ist immer dieselbe. Diese Struktur weisen auch solche Pflichten auf, die nicht von einem positiven, sondern von einem negativen Ziel her bestimmt sind, die also nicht fordern, ein Soll zu erfüllen, sondern verlangen, sich so zu verhalten, daß man bestimmte unerwünschte Folgen vermeidet. Prototyp hierfür ist § 1 I I StVO: „Jeder Verkehrsteilnehmer hat sich so zu verhalten, daß kein Anderer geschädigt, gefährdet oder mehr, als nach den Umständen unvermeidbar, behindert oder belästigt wird." Diese Struktur haben - auch wenn das in der gesetzlichen Formulierung nicht zum Ausdruck kommt - alle Sorgfaltspflichten, welche die deliktsrechtliche Grundnorm „Neminem laedere!" konkretisieren. Die Orientierung des Verhaltens an den möglichen Folgen des Verhaltens, die „Verantwortung" als ethisches Prinzip kennzeichnet, w i r d auf diese Weise rechtlich formuliert. „Verantwortung" in diesem Sinne ist also eine besondere Form der Rechtspflicht. Eine Verletzung dieser Pflicht begründet die Haftung (insbesondere die „Verantwortlichkeit" für Schäden) unter den gleichen Voraussetzungen wie sonstiges pflichtwidriges Verhalten.
3. Haftung ohne Verantwortung? Bisher hatten w i r gesehen, daß „Verantwortlichkeit" für ein Verhalten oder einen Verhaltenserfolg rechtliche Vorwerfbarkeit des eigenen Verhaltens und zugleich das Einstehenmüssen hierfür bezeichnet. Nun gibt es aber auch rechtliche Haftungstatbestände, die zum Einstehenmüssen für Umstände verpflichten, die man nicht selber in vorwerfbarer Weise verursacht hat. Daher soll kurz geprüft werden, ob derartigen Haftungstatfür die Vorbereitung einer Totalrevision der Bundesverfassung, Bern 1977: „Wer eine Verantwortung trägt, hat das Recht und die Pflicht, die geeigneten Vorkehrungen zur Erfüllung der Staatsaufgaben zu treffen."
Β. Verantwortung im Rechtssinne
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beständen ein weiterer Verantwortungsbegriff zugrunde liegt, oder ob sie auf anderen Rechtsgedanken beruhen. a) Verantwortung
für das Handeln anderer?
In allen bislang behandelten Zusammenhängen hatten die verschiedenartigen Verwendungen des Wortes „Verantwortung" eines gemeinsam: das Verantwortenmüssen des eigenen Verhaltens, welches in der Möglichkeit der Geschehensbeeinflussung durch Entscheidung unter verschiedenen Verhaltensalternativen, kurz: im Verantwortenkönnen wurzelt. 5 9 Ließe man dies als Grundlage des Verantwortungsbegriffs fallen, dann verlöre dieser sein ethisches Fundament, auf das ja die Wortbedeutung hinweist. Hat man zu haften für etwas, das man in Wirklichkeit nicht zu verantworten hat, was einem selbst nicht als Folge seines eigenen Verhaltens zugerechnet werden kann, dann muß dieses Einstehenmüssen eben anders gerechtfertigt werden. Und deshalb sollte man für die Zurechnung des Handelns anderer und die darauf gestützte Haftung auch auf den Verantwortungsbegriff verzichten. Wo das BGB im Zusammenhang mit der Haftung für von anderen verursachte Schäden von „Verantwortlichkeit" spricht (§§ 831, 832), ist aber in Wirklichkeit für eigenes Verschulden - nämlich schuldhafte Verletzung der Pflicht zur sorgfältigen Auswahl, Anweisung und Beaufsichtigung des Verrichtungsgehilfen bzw. der Aufsichtspflicht - zu haften. 60 Der Geschäftsherr dagegen, der nach § 278 BGB das „Verschulden" des Erfüllungsgehilfen wie eigenes Verschulden „zu vertreten" hat, haftet ohne Verschulden, ohne daß ihm sein Verhalten i n irgendeiner Weise zum Vorwurf gemacht werden könnte. Dem Einstehenmüssen für das Handeln eines anderen liegt ein gegenüber der Verantwortung verschiedener Rechtsgedanke zugrunde: Verantwortlich ist der Geschäftsherr für die Erfüllung seiner eigenen Verbindlichkeit. Wenn er sich zur Erfüllung dieser Verbindlichkeit Dritter bedient, dann muß er auch das daraus resultierende Risiko tragen. Das Prinzip „Qui facit per alium, facit per se" ist also eine interessengerechte Risikoverteilung zwischen Schuldner und Gläubiger. 61 Die Verantwortlichkeit einer juristischen Person für das Verhalten ihrer Organe (§31 BGB) oder des Staates für seine Amtswalter (Art. 34 GG) ist dagegen nicht als Verantwortlichkeit für das Handeln Dritter, sondern als Verantwortlichkeit für eigenes Handeln anzusehen.62 59 „Verantwortlichkeit" heißt eben nicht nur „Haftung", sondern enthält zugleich die Begründung, die Rechtfertigung für dies Einstehenmüssen. 60 Vgl. z.B. Esser, Schuldrecht II, §1101; Schuldrecht I, §391; Esser / Weyers, Schuldrecht I I 2, § 58 11. 61 Dazu im einzelnen Esser, Schuldrecht I, § 39 I. 62 Vgl. zur Organhaftung Esser, Schuldrecht I, § 39 VI.
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b) Verantwortung
§ 2 Verantwortung
für Gefährdungspotentiale
Wer ein Kraftfahrzeug (§ 7 StVG) oder ein „Luxustier" hält (§ 833 BGB), eine Eisenbahn (§ 1 HaftpflichtG) oder eine Kernanlage betreibt (Art. 3 ff. PÜ i.V.m. §§25 ff. AtG), haftet für die aus der spezifischen Tier- oder Betriebsgefahr resultierenden Schäden ohne Verschulden. Eine solche Gefährdungshaftung wird begründet mit dem Grundsatz, „daß derjenige, in dessen Interesse ein gefahrdrohender Betrieb gestattet w i r d und der die Gefahrenquelle beherrscht, auch die Wagnisse dieses Betriebs auf sich nehmen muß". Es gehe hier nicht um die Zurechnung menschlichen Individualverhaltens, sondern um den Ausgleich sozial unentrinnbarer Zwangsrisiken, die dem einzelnen im überwiegenden Allgemeininteresse auferlegt worden seien. 63 Die Haftung knüpft also daran an, daß der Haftpflichtige eine besondere Risikoquelle unterhält und seinen Nutzen daraus zieht. Haftungsgrund ist die Betriebseigentümlichkeit des jeweiligen Risikos, das nicht der Außenstehende, sondern der Betreiber tragen soll. 64 Das Verhalten des Haftpflichtigen, der die Risikoquelle schafft oder unterhält, ist nicht rechtswidrig. Es ist ausdrücklich erlaubt. Dieses Verhalten kann ihm rechtlich nicht vorgeworfen werden, auch dann nicht, wenn das betriebsimmanente Risiko sich realisiert und zu einem Schaden führt. Der Schaden ist zwar Folge eines Verhaltens, nämlich der Unterhaltung der Risikoquelle, aber eben eines nicht vorwerfbaren Verhaltens. Begründet man das Einstehenmüssen für solche Schäden in der erwähnten Weise mit einer Risikoverteilung als Forderung der iustitia distributiva 6 5 , dann sollte man dafür den Ausdruck „Verantwortlichkeit" vermeiden 66 , denn dieser wurzelt in der persönlichen Zurechenbarkeit des Geschehens. Sofern jedoch die Gefährdungshaftpflicht dem Betreiber oder Halter als Kompensation dafür auferlegt wird, daß man ihm ein Verhalten gestattet, das er nach den allgemeinen Rechtsgrundsätzen des Deliktsrechts oder des Polizeirechts nicht verantworten könnte 67 , kann man die Gefährdungshaftung auch als eine residuelle Verantwortlichkeit betrachten: Das Betreiben 63 Esser, Schuldrecht II, § 114 I; Schuldrecht I, § 10 I; vgl. auch ders., Grundlagen und Entwicklung der Gefährdungshaftung, 2. Aufl. 1969, pass.; vgl. auch Eike Schmidt, VersicherungsR 1968, 626 (628); Larenz, Allgemeiner Teil, § 6 III; Esser/ Weyers, Schuldrecht I I 2, § 63. 64 Also nicht schon die besondere Gefährlichkeit, die Außergewöhnlichkeit oder Intensität des Risikos begründen die Gefährdungshaftimg, vgl. Esser, Schuldrecht II, §114 I. 65 Larenz, Allgemeiner Teil, § 6 III; Esser, Schuldrecht I, § 10 I. 66 Verwendet wird dieser Begriff aber auch hier z.B. von Esser, Schuldrecht II, § 114 I, IV; Schuldrecht I, § 10 I; Larenz, Allgemeiner Teil, § 6 III. Das mag an der zivilistischen Gleichsetzung von „Verantwortlichkeit" und „Haftung" liegen. 67 Oder das jedenfalls wegen seiner Unbeherrschbarkeit vom Gesetzgeber verboten werden könnte, vgl. Esser, Schuldrecht I, § 10 I.
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einer gefährlichen Anlage oder das Halten eines gefährlichen Fahrzeugs ist ein dem Betreiber oder Halter zurechenbares Verhalten. Der durch den Betrieb, durch die Realisierung des immanenten Risikos, entstehende Schaden ist auch dann vorhersehbar, wenn der konkrete Geschehensablauf nicht vorhersehbar war, sofern mit Ereignisabläufen dieser Art gerechnet werden muß. Und der Schaden ist selbst dann vermeidbar, wenn die technischen Sicherheitsvorkehrungen optimal, die Anlage in bestem Zustand ist und beim Betrieb die gebotene Sorgfalt beachtet wird, denn man könnte einen Betrieb, bei dessen Durchführimg erfahrungs- oder erwartungsgemäß unvermeidbar Schäden entstehen, ganz unterlassen. An der tatsächlichen Zurechenbarkeit scheitert die Verantwortung des Betreibers nicht. Ob er rechtlich verantwortlich ist, hängt von den rechtlichen Verhaltenspflichten ab, also davon, welcher Standard an Sicherheit rechtlich gefordert wird. Dieser Sicherheitsstandard für das Verhalten von jedermann ist allgemein mit der polizeilichen Generalklausel vorgegeben, deliktsrechtlich durch § 823 I BGB. Wenn nun aufgrund von Spezialnormen die Unterhaltung solcher Gefährdungspotentiale gestattet wird, die nach den allgemeinen Normen unzulässig wäre, dann wird der Betreiber zwar von der Verantwortung für sein Verhalten als solches, also für die Schaffung und Unterhaltung des Gefährdungspotentials rechtlich entlastet, muß aber weiterhin für die schädlichen Folgen dieses Verhaltens aufkommen, sofern ihm die Gefährdungshaftung auferlegt ist. Das spezielle Betriebsrisiko w i r d nur partiell, nicht generell privilegiert, nur auf der Seite der Verhaltenspflichten, nicht auf der Seite des Einstehenmüssens, der Haftung, und dies w i r d rechtstechnisch so formuliert, daß man einerseits das Verhalten ausdrücklich gestattet - was angesichts des Freiheitsprinzips sonst unüblich ist - und andererseits die Haftimg im Wege der Gefährdungshaftung aufrechterhält. 68 Selbst wo keine Privilegierung gegenüber dem allgemeinen Recht gegeben ist, läßt sich die Gefährdungshaftung dann noch als residuelle Verantwortlichkeit verstehen, wenn die Verantwortlichkeit des Haftpflichtigen für die Vermeidung des Schadens gesetzlich begründet werden könnte, wenn also der Schaden dem Betreffenden in vorwerfbarer Weise zugerechnet werden könnte. c) Verantwortlichkeit
für erlaubte Eingriffe
Als residuelle Verantwortlichkeit läßt sich auch die Haftung für erlaubte Eingriffe in Rechte Dritter betrachten. Wem das Gesetz die Abwehransprüche gegen Eingriffe Dritter in seine Rechte nimmt und ihn zur Duldung verpflichtet, der soll dafür jedenfalls einen Ausgleich in Geld erhalten. Und der Schädiger, der durch Gesetz oder durch Genehmigung oder Konzession zu 68 Ob diese Konsequenz nicht verfassungsrechtlich geboten ist, wäre ein nachdenkenswertes Thema.
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§ 2 Verantwortung
dem schädigenden Verhalten ermächtigt wird, bleibt für den Schaden verantwortlich. 6 9 d) Die Verursacherverantwortlichkeit Wer die öffentliche Sicherheit oder Ordnung bedroht oder stört, kann nach den Polizeigesetzen als „Störer" polizeilich „ i n Anspruch genommen" werden. Er hat für die von ihm verursachte Gefahr oder Störung zu „haften". Diese „polizeiliche Haftung" w i r d auch als „polizeiliche Verantwortlichkeit" bezeichnet. Je nachdem, ob die Gefahr oder Störung von dem Verhalten des Störers ausgeht oder vom Zustand einer Sache, spricht man von „Verhaltens-"(auch „Handlungs-") oder „Zustandshaftung" bzw. „-Verantwortlichkeit". 7 0 Diese Verantwortlichkeit w i r d allein durch die Verursachung 71 ausgelöst. Das Verhalten oder der Zustand der Sache muß ursächlich für die Gefahr oder Störung sein. Dagegen ist es nicht erforderlich, daß der Störer sich schuldhaft verhalten hat oder überhaupt schuldfähig ist. 7 2 Dennoch läßt sich die Verwendimg des Verantwortungsbegriffs hier rechtfertigen. Die polizeiliche Inanspruchnahme impliziert ja nicht einen rechtlichen Vorwurf und ist weder Sanktion noch Schadensersatzpflicht. Durch sie w i r d der Störer nur „ i n die Schranken seiner Rechte zurückgewiesen". 73 Die „Haftung" des Störers kann man sich als Verlängerung der allgemeinen Polizeipflicht vorstellen. Diese verpflichtet jeden Rechtsgenossen, „sein Verhalten und den Zustand seiner Sachen so einzurichten, daß daraus keine Störungen oder Gefahren für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung entstehen." 74 Die Polizeipflicht ist also eine allgemeine Verhaltenspflicht, welche die typische, oben dargelegte Verantwortungsstruktur aufweist, und zwar sowohl im positiven wie i m negativen Sinne: Sie verbietet die Verursachung von Gefahren, und sie macht den Inhaber der tatsächlichen Sachherrschaft verantwortlich für den gefahrfreien Zustand seiner Sachen. Diese dauernde Verpflichtung hört mit ihrer Verletzung nicht auf; vielmehr ist bei einer einmal eingetretenen Gefahr oder Störung die Gefahrfreiheit wieder herzustellen. Diese Verpflichtung w i r d durch die Inanspruchnahme des Störers mittels Polizei Verfügung lediglich konkretisiert. „Verantwortlich" verhält sich, wer diese Verpflichtung nicht verletzt. Verhaltenspflich-
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Vgl. z.B. § 906 I I BGB, § 14 BImSchG, dazu Esser, Schuldrecht I, § 10 II. Zum Sprachgebrauch vgl. z.B. Götz, Polizeirecht, S. 95ff.; Drews / Wacke / Martens II, S. 170 ff. 71 Zum polizeirechtlichen Verursachungsbegriff vgl. Drews / Wacke / Martens II, S. 189 ff. 7 ? Vgl. Drews / Wacke / Martens II, S. 172 f. 73 Drews / Wacke / Martens II, S. 172 m.w.N. 74 Drews / Wacke / Martens II, S. 172. 70
Β. Verantwortung im Rechtssinne
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ten 7 5 gelten auch für Personen, die schuldunfähig sind, und können gegen jedermann durchgesetzt werden, auch gegen jene, denen man die objektive Pflichtwidrigkeit ihres Verhaltens nicht vorwerfen kann. Die Durchsetzung rechtlicher Verpflichtungen ist nicht vergleichbar mit dem Einstehenmüssen für die Folgen rechtswidrigen Verhaltens. Die polizeiliche Inanspruchnahme ist eine solche Pflichtendurchsetzung und - auch bei Beseitigung bereits eingetretener Störungen - mit der Verpflichtung zum Schadensersatz nicht vergleichbar. 76 i ί Mit dem Begriff der „polizeilichen Verantwortlichkeit" w i r d somit zu Recht deutlich gemacht, daß die Inanspruchnahme des Störers durch die Polizei die Konkretisierung seiner Polizeipflicht, also seiner Verantwortung für die Ungefährlichkeit seines Verhaltens und des Zustands seiner Sachen, bedeutet. Wo dagegen - wie in § 22 I WHG - eine echte Schadensersatzhaftung an die zwar--rechtswidrige, aber verschuldensfreie Verursachung geknüpft wird 7 7 , läßt sich das Einstehenmüssen nicht auf den Verantwortungsgedanken stützen, soweit es an der subjektiven Vorwerfbarkeit fehlt. 7 8 4. Die Verantwortung juristischer Personen Juristischen Personen fehlt das die Verantwortung prägende'personale Element. Da sie aber im Rechtsverkehr wie natürliche Personen handlungsfähig sind, müssen sie auch juristisch verantwortlich sein können. Diese Verantwortlichkeit w i r d durch die natürlichen Personen vermittelt, welche als Organe für die juristische Person handeln 79 , oder anders ausgedrückt: durch welche die juristische Person handelt. Das Handeln der Organe w i r d der juristischen Person als eigenes zugerechnet. Somit ist die Verantwortung juristischer Personen grundsätzlich nicht anders als diejenige natürlicher Personen zu beurteilen. Insbesondere gilt das Verschulden der Organe als eigenes Verschulden der juristischen Person.
75 Auch die Verantwortlichkeit für den Zustand einer Sache ist eine Verhaltenspflicht. 76 Auch wenn es im Einzelfall im Ergebnis Annäherungen geben kann, insbesondere bei der Pflicht zur Kostenerstattung für die Ersatzvornahme. 77 Dazu Esser, Schuldrecht II, § 114 VI. 78 Insoweit wird als Haftungsgrund die besondere Gefährlichkeit genannt, vgl. Esser, ebd. Wie bei der Gefährdungshaftung, zu der § 22 I WHG von einem großen Teil der Lit. gerechnet wird (vgl. z.B. Larenz, Schuldrecht II, § 77 I X ; Weitnauer, ZfWasserR 1965, 1 (4) m.w.N.), geht es also um eine gerechte Risikoverteilung. 79 Vgl. § 31 BGB, der die Verpflichtung zum Schadensersatz regelt und den Begriff der Verantwortlichkeit verwendet.
4 Murswiek
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§ 2 Verantwortung
5. Verantwortung mehrerer Subjekte Für ein und denselben Gegenstand und auch für ein und dasselbe Ereignis, etwa einen Schaden, können zugleich mehrere Subjekte verantwortlich sein. Verantwortungsbereiche können sich überschneiden und überdecken. Es kann Verantwortungshierarchien geben, in denen nicht notwendig die Verantwortung einer untergeordneten Stelle jede Verantwortung der übergeordneten Stelle ausschließt. Auch bei Verantwortungsdelegation bleibt zumeist eine Verantwortlichkeit der delegierenden Stelle in vollem oder etwa auf Überwachungspflichten beschränkten - Umfange bestehen. Das ist im einzelnen den einschlägigen gesetzlichen Regelungen zu entnehmen. 80 Allein aus dem Umstand beispielsweise, daß die Verantwortung für. die Risiken einer technischen Anlage der Betreiber trägt, läßt sich demnach noch nicht folgern, daß der Staat hinsichtlich dieser Risiken von jeder Verantwortung frei ist. III. Verantwortung
und Entlastung
Rechtliche Verantwortung ist Verantwortung für eigenes Verhalten mit der Konsequenz des Einstehenmüssens für dieses Verhalten und seine zurechenbaren Folgen. Mit dieser Verantwortimg ist das Verhalten belastet: Man darf eben nicht einfach tun und lassen, was man will, sondern muß auch an die Folgen denken. Verantwortung im Sinne von Verantwortung für einen Gegenstand, für den zu sorgen einem obliegt, also auch im Sinne von negativer Folgenorientierung des Verhaltens, etwa im Sinne der Verpflichtung zu derjenigen Sorgfalt, die zur Schadensvermeidung erforderlich ist, eine solche Verantwortung ist unbequem. Sie stellt Anforderungen an die Person, die ihr lästig sein können, verlangt sie doch selbständiges Nachdenken darüber, was angesichts der Situation zu tun ist, oder welche Kausalverläufe durch ein beabsichtigtes Verhalten ausgelöst werden könnten. Diese Anforderungen können dort, wo es um komplexe Vorgänge geht, wie gerade im Zusammenhang mit der Wirkungsweise technischer Vorrichtungen, so groß sein, daß der Verantwortliche sie entweder gar nicht, nicht in der zur Verfügung stehenden knappen Zeit oder nicht zu zumutbaren w i r t schaftlichen Bedingungen bewältigen kann. Aus diesen oder anderen Gründen mag sich der Gesetzgeber veranlaßt sehen, ihn von seiner Verantwortung zu entlasten. 81 Dies geschieht dadurch, daß er für den betreffenden Sachbereich Spezialregelungen erläßt, die nicht die verantwortungsspezifische folgenorientierte Struktur aufweisen, sondern ein bestimmtes Verhal80
Vgl. z.B. §§ 831 II, 834 BGB. Zur Entlastung als anthropologischem Begriff vgl. Gehlen, Anthropologische Forschung, S. 70ff.; ders., Der Mensch, seine Natur und seine Stellung in der Welt. ' Berlin 1940, 9. Aufl. 1971, Kap. 8. 81
Β. Verantwortung im Rechtssinne
51
ten gebieten oder zulassen. Wer mit seinem Tun oder Unterlassen im Rahmen des rechtlich Erlaubten bleibt, handelt rechtlich gesehen verantwortlich und braucht sich um die Folgen nicht weiter zu kümmern, falls er nicht trotzdem im Wege der Gefährdungshaftung für sie einzustehen hat. Das Gesetz nimmt ihm die Verantwortung für die Folgen ab. Diese Entlastungsfunktion kann auch von Rechts Verordnungen, Verwaltungsakten (Genehmigungen) und sogar von außerrechtlichen Normen erfüllt werden, falls das Gesetz auf diese verweist. IV. Die Eigenverantwortlichkeit Nach Art. 28 I I muß den Gemeinden das Recht gewährleistet sein, alle Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft im Rahmen der Gesetze „ i n eigener Verantwortung" zu regeln. Das Ressortprinzip ist dadurch gekennzeichnet, daß innerhalb der vom Bundeskanzler bestimmten Richtlinien jeder Bundesminister seinen Geschäftsbereich „selbständig und unter eigener Verantwortung" leitet (Art. 65 GG). Eigenverantwortimg darf nicht mit „Selbstverantwortung" verwechselt werden. Diese ist als Verantwortung vor und gegenüber sich selbst nur als ethisches, nicht als rechtliches Prinzip denkbar. „Eigenverantwortung" dagegen ist ein Rechtsbegriff. Dieser weist dem Verantwortungsträger einen Verantwortungsbereich zu, innerhalb dessen er befugt und verpflichtet ist, seine Aufgaben weisungsunabhängig zu erfüllen. 82 Weisungsfreiheit ist freilich charakteristisch für jede Verantwortung im spezifischen, also folgenbzw. zielorientierten Sinne. 83 Gebunden ist man lediglich an die vorgegebenen Aufgaben oder Ziele, im Hinblick auf welche man sich zu verantworten hat, sowie an die Normen, die die Auswahl der erlaubten Mittel begrenzen. Rechtlich zu verantworten hat man sich also nur dafür, daß man die vorgegebene Aufgabe erfüllt, das Ziel erreicht; mit welchen (erlaubten) Mitteln, auf welchem Wege, das ist die „eigene Sache" des Verantwortlichen - hierfür hat er rechtlich nicht einzustehen. 84 Wenn diese „eigene Sache" nach gängiger Redeweise in die „eigene Verantwortung" des Verantwortlichen fällt, so wird damit akzentuiert, daß er insoweit frei von rechtlicher Verantwortlichkeit ist, zugleich aber auf die Risiken dieser Freiheit hingewiesen: denn rechtlich zu verantworten hat er sich dafür, daß er seine Sache zum 82 Die Formulierung des Art. 65 S. 2 GG ist eine Tautologie, während sie in Art. 56 Weimarer ReichsVerfassung eine besondere Bedeutung hatte: „Selbständig" hieß weisungsunabhängig gegenüber dem Reichskanzler, während „eigene Verantwortung gegenüber dem Reichstag" die schon in Art. 54 begründete Ministerverantwortlichkeit nochmals hervorhob. 83 Vgl. schon oben A. III. 84 Das BVerfG bezeichnet mit der „eigenen Verantwortung" staatlicher Organe den Bereich, in dem diese nicht der Kontrolle des BVerfG unterliegen, vgl. BVerfGE 56, 54 (80 f.) - Düsseldorf-Lohhausen.
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§ 2 Verantwortung
rechtlich vorgegebenen Ziel führt, und dafür, daß er dabei nicht sonstige Rechtspflichten verletzt, insbesondere nicht mit seinen Aktionen rechtlich mißbilligte Nebenwirkungen erzeugt. Der den Verantwortungsträger rechtlich bindende Verantwortungsrahmen ergibt sich für die Eigenverantwortung der Gemeinden aus den Gesetzen, für die Ressortminister auch aus den Richtlinien des Bundeskanzlers. „Eigfenverantwortung" weist aber auf mehr hin als auf die verantwortungstypische Weisungsfreiheit im Hinblick auf die Verwirklichung vorgegebener Aufgaben und Ziele. Sie impliziert auch die Kompetenz, unabhängig von solchen Aufgaben und Zielen sich innerhalb des zugewiesenen Verantwortungsbereiches eigenständig Aufgaben zu stellen und Ziele zu setzen.85 Wenn also das „Eigene" der Eigenverantwortung darin besteht, daß der Träger dieser Verantwortung die Aufgaben und Ziele selbst bestimmt, zu deren Erfüllung er tätig wird, dann ist er rechtlich nicht verantwortlich, soweit die Eigenverantwortlichkeit reicht. Für diese hat er rechtlich nicht einzustehen. Sie hat gerade die Funktion, aus seinen Pflichten und Verantwortlichkeiten einen Bereich auszugrenzen, für den er sich vor anderen Instanzen rechtlich nicht zu verantworten hat. Eben dies gilt für den status negativus der Bürgerfreiheit generell: Die private Freiheitssphäre ist der Raum der eigenen Verantwortlichkeit, der rechtlichen Verantwortungsfreiheit. Und Pflichten, rechtliche Verantwortlichkeiten müssen erst durch Gesetz begründet werden, grenzen diese Freiheitssphäre ein. Ein Bereich „eigener Verantwortung" kann also nur dort durch besondere Bestimmungen geschaffen werden, wo prinzipiell keine Freiheit, sondern rechtliche Bindung besteht: im Bereich der staatlichen Organisation. „Eigenverantwortung" heißt hier also Freiheit von rechtlicher Verantwortlichkeit, nicht aber Verantwortungsfreiheit schlechthin. Insbesondere bleibt die „politische Verantwortung" 8 6 bestehen. Und die rechtliche Verantwortungsfreiheit reicht - um das nochmals zu betonen - nicht weiter als der rechtlich zugewiesene Bereich der Eigenverantwortung. Die Gemeinden haben sich (vor der Rechtsauf sicht) hinsichtlich der Beachtung und Vollziehung der Gesetze rechtlich zu verantworten, die Minister gegenüber dem Bundeskanzler hinsichtlich der Beachtung und Vollziehung der Richtlinien der Politik nicht nur politisch, sondern auch rechtlich. 87 85 Diese Möglichkeit besteht z.B. auch dann, wenn die vorgegebene Aufgabe so unbestimmt ist, daß sie eigenständiger - d. h. normativ nicht überprüfbarer - Konkretisierung bedarf, also nur den äußeren Rahmen freier Aufgaben- und Zielbestimmung abgibt, so z.B. die Verantwortung der Eltern für die Pflege und Erziehung der Kinder gem. Art. 6 I I GG. 86 Dazu unten V. 87 § 1 Geschäftsordnung der Bundesregierung, theoretisch auch im Organstreit vor dem BVerfG, §§ 63, 64 BVerfGG. - Zur Eigenverantwortung der Verwaltung und zum Begriff der „Verwaltungs ver antwortung" vgl. Scholz, W D S t R L 34 (1975), 145 ff., insb. 149 m.w.N.; Schmidt-Aßmann, ebd. S. 221f., insb. 227f. m.w.N., 231ff.; Wilke, DÖV 1975, 509ff.
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Β. Verantwortung im Rechtssinne
V. „Politische"
Verantwortung
als demokratische
Verantwortung
1. Die parlamentarische Verantwortlichkeit der Regierung Unter parlamentarischer Verantwortlichkeit der Regierung versteht man die Abhängigkeit der Regierung vom Vertrauen des Parlaments. 88 Diese Abhängigkeit wird im Grundgesetz gewährleistet durch die Wahl des Bundeskanzlers durch den Bundestag (Art. 64) zum einen, die Möglichkeit des konstruktiven Mißtrauensvotums (Art. 67) zum anderen. 89 Die Angewiesenheit auf das Vertrauen des Parlaments hat zur Konsequenz, daß die Regierung ihre Politik im ganzen vor und gegenüber dem Parlament zu rechtfertigen hat, also nicht nur dort, wo sie zur Durchführung ihrer Politik ohnehin auf das Parlament angewiesen ist, nämlich bei der Gesetzgebung und bei der Feststellung des Haushaltsplans. So wie die Regierung eine Gesetzesvorlage oder den Haushaltsplan begründen, vor dem Parlament erläutern und rechtfertigen sowie zu Fragen und K r i t i k aus dem Parlament Stellung nehmen muß, wenn sie die Zustimmung des Parlaments für ihre Vorlagen erhalten will, so hat sie auch für ihre sonstige Politik gegenüber dem Parlament Rechenschaft abzulegen und vor dem Parlament Rede und Antwort zu stehen, um sich das Vertrauen des Parlaments zu erhalten bzw. um die Übereinstimmung mit der Parlamentsmehrheit, von der sie abhängig ist, sicherzustellen. Diese sich aus der Sache faktisch ergebende formelle Verantwortlichkeit der Regierung beschränkt sich nicht auf den Bundeskanzler; ihr sind alle Bundesminister unterworfen. Sie alle müssen vor dem Parlament Rede und Antwort stehen, um die Regierungspolitik und auch die Politik der einzelnen Ressorts zu rechtfertigen. Diese formelle 88 Diese Abhängigkeit mit der Folge der Pflicht zum Rücktritt bei Entzug des Vertrauens wurde in verschiedenen europäischen Verfassungen mit dem Begriff „Verantwortlichkeit" beschrieben - vgl. die Verfassimg der Französischen Republik vom 28.9.1958, Art. 20 I I I i. V.m. 49, 50 - während die Formel des deutschen Parlamentarismus lautete: „Der Reichskanzler bedarf zu seiner Amtsführung des Vertrauens des Reichstages." So in der Verfassungsreform vom 28.10.1918 (RGBl. S. 1273f.) und entsprechend in Art. 54 der Weimarer Reichsverfassung unter Einbeziehung der Reichsminister. Diese Formulierung mag daraus resultieren, daß der Begriff der Verantwortlichkeit in der konstitutionellen Monarchie eine Verantwortlichkeit gegenüber dem Parlament noch nicht begründet hatte. Vgl. Art. 17 S. 2 der Reichsverfassung von 1971 und dazu Paul Laband, Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. 5. Aufl., Tübingen 1911 - 14, Bd. 1, S. 309, und C. Schmitt, Verfassungslehre, S. 332f., sowie zu den Verfassungen der Bundesstaaten S. 330 ff. Zum Begriff der Verantwortlichkeit der Regierung in kontinentaleuropäischen Verfassungen vgl. den Überblick bei C. Schmitt, ebd. S. 327 ff. 89 Sie ist im Interesse stabiler Regierungsverhältnisse dahingehend eingeschränkt, daß der Bundeskanzler auch ohne das Vertrauen des Parlaments regieren kann, solange dieses keinen Nachfolger wählt. Die Verantwortlichkeit des Bundeskanzlers vermittelt die Verantwortlichkeit der gesamten Regierung und der einzelnen Minister, die ihrerseits auf das Vertrauen des Bundeskanzlers angewiesen sind (Art. 64 I) und in jedem Fall mit dem Bundeskanzler ihr Amt verlieren (Art. 69 II).
54
§ 2 Verantwortung
V e r a n t w o r t l i c h k e i t ist v o n der Verfassung z u r r e c h t l i c h e n V e r p f l i c h t u n g ausgestaltet w o r d e n . 9 0 „Parlamentarische
Verantwortlichkeit
der Regierung"
bedeutet
also
zweierlei: z u m einen die V e r p f l i c h t u n g , v o r u n d gegenüber dem Parlament über die R e g i e r u n g s p o l i t i k Rechenschaft abzulegen, Rede u n d A n t w o r t zu stehen, z u m anderen die A b h ä n g i g k e i t v o m V e r t r a u e n des P a r l a m e n t s . 9 1 Daß das P a r l a m e n t die Regierung stürzen k a n n , ist n i c h t e i n Z w a n g s m i t t e l zur G e l t e n d m a c h u n g irgendeiner schon bestehenden V e r a n t w o r t u n g 9 2 , sondern m a c h t i m K e r n die parlamentarische V e r a n t w o r t l i c h k e i t aus. P a r l a m e n t a r i sche V e r a n t w o r t l i c h k e i t k e n n t keine K r i t e r i e n , i m H i n b l i c k auf welche die Regierung sich z u v e r a n t w o r t e n hätte, a n h a n d derer sich entscheiden ließe, ob sie sich v e r a n t w o r t l i c h v e r h a l t e n h a t oder n i c h t . D i e Regierung h a t n i c h t einzustehen f ü r ein Verhalten, das vorgegebenen Forderungen oder N o r m e n n i c h t entsprach, n i c h t f ü r Folgen ihres Verhaltens, die z u vermeiden sie verp f l i c h t e t gewesen wäre, n i c h t f ü r das Scheitern i m H i n b l i c k auf Ziele, die sie hätte erreichen müssen. Dies alles kann
z w a r Gegenstand p a r l a m e n t a r i -
scher V e r a n t w o r t u n g sein, w e n n e t w a das Parlament der Regierung v o r h ä l t , seinen Beschlüssen n i c h t entsprochen z u haben, seinen Forderungen n i c h t nachgekommen z u sein. A b e r es m a c h t das Wesen der parlamentarischen V e r a n t w o r t u n g n i c h t aus, w e i l das P a r l a m e n t ü b e r h a u p t keine G r ü n d e 90 Zitierungs- und Interpellationsrecht des Bundestages und seiner Ausschüsse, Art. 43. Dazu vgl. Maunz, in: Maunz / Dürig, Art. 43 m.w.N. Die Ansicht von Maunz, ebd. Rn. 1, das Interpellationsrecht sei auch ohne das parlamentarische Regierungssystem sinnvoll, trifft zu und läßt sich auch historisch bestätigen. Aus dem Angewiesensein der Regierung auf das Vertrauen des Parlaments folgt aber die formelle Verantwortlichkeit als Verpflichtung zum Rede- und Antwort-Stehen mit notwendiger Konsequenz. 91 Beide Elemente bringt die Weimarer Reichsverfassung durch unterschiedliche Formulierungen in Art. 54 und 56 zum Ausdruck: Wenn Art. 54 das Vertrauen des Parlaments zur Grundlage der Amtsführung erklärt und zum Rücktritt bei Vertrauensentzug verpflichtet, kann die „Verantwortimg gegenüber dem Reichstag" in Art. 56 nur noch als formale Verantwortung, also als Verpflichtung zur Rechtfertigung der Politik, verstanden werden. Das Zitierungs- und Interpellationsrecht des Parlaments (Art. 33) ist der dieser Verpflichtung korrespondierende Anspruch. Entsprechendes gilt für die vom Wortlaut her weniger deutlichen Bestimmungen des Grundgesetzes (Art. 67, 65, 43 I). - Die Streitfrage, ob außer dem Bundeskanzler auch die einzelnen Minister parlamentarisch verantwortlich sind (dazu vgl. Liesegang, in: v. Münch, GG, Art. 65 Rdnr. 21, bejahend, und Maunz, in: Maunz / Dürig, Art. 65 Rn. 4, verneinend, jeweils m.w.N.), ist m.E. so zu entscheiden, daß die Minister zwar formell auch gegenüber dem Parlament verantwortlich sind, während die andere Seite der Verantwortlichkeit, das Einstehenmüssen für die Politik mit dem Amt, nicht gegenüber dem Parlament, sondern gegenüber dem Bundeskanzler besteht, der wiederum die Verantwortung gegenüber dem Parlament trägt. - Zur Ministerverantwortlichkeit vgl. die ausführlichen Darstellungen zur Weimarer Reichsverfassung von Fritz Freiherrn Marschall von Bieberstein, Die Verantwortlichkeit der Reichsminister, in: Handbuch des Deutschen Staatsrechts, Bd. 1. Hrsg. von Anschütz / Thoma. Tübingen 1930, S. 520ff., und zum Grundgesetz von Klaus Kröger, Die Ministerverantwortlichkeit in der Verfassungsordnung der Bundesrepublik Deutschland. Frankfurt/M. 1972. 92 So aber Liesegang, in: von Münch, GG, Art. 65 Rn. 21.
Β. Verantwortung im Rechtssinne
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dafür angeben muß, wenn es die Regierung stürzen will. Die Parlamentsmehrheit wird immer Gründe haben und vorbringen für ihr Mißtrauensvotum. Aber diese Gründe können beliebig sein, und es kommt nicht darauf an, ob sie sachlich zutreffen. Es genügt einfach, daß die Mehrheit diese Regierung nicht mehr stützen will, daß die Regierung ihre Mehrheit verloren hat. Das „Vertrauen des Parlaments" ist kein materielles Kriterium. Die Verantwortung der Regierung ist keine Verantwortung im materiellen Sinne; sie ist formale Verantwortung und Einstehenmüssen ohne Maßstab. Während die Frage nach der Verantwortung sowohl im ethischen wie i m rechtlichen Sinne immer die Frage nach dem „richtigen" Verhalten ist, hat die „parlamentarische Verantwortlichkeit der Regierung" eine andere Funktion. Welche Politik die „richtige", welche „falsch" ist, darum geht der Streit, und darum kann der Streit auch zwischen Regierung und Parlament gehen. Und die Parlamentsmehrheit kann ihre Ansicht von „richtiger" Politik von heute auf morgen ändern. Die parlamentarische Verantwortlichkeit hat daher nicht die Funktion, das „politisch richtige Verhalten" durchzusetzen, sondern die Regierung vom Parlament abhängig zu machen, an den politischen Willen des Parlaments zu binden, also in der parlamentarischen Demokratie: demokratische Legitimation zu vermitteln. 93 2. Rechtliche und „politische" Verantwortung Die Verantwortung der Regierimg gegenüber dem Parlament ist zwar Verantwortung im Rechtssinne; sie ist ein verfassungsrechtliches Prinzip. Aber sie ist keine rechtliche Verantwortung: Sie orientiert sich nicht an rechtlichen Kriterien, sondern am politischen Erfolg. 94 Die Frage lautet hier nicht: Ist meine Politik rechtmäßig, verstößt sie gegen rechtliche Verpflichtungen?, sondern: Kann ich mit dieser Politik vor das Parlament - oder vor den Wähler - hintreten, genauer: Kann ich mit Aussicht auf Erfolg diese Politik vor dem Parlament / vor dem Wähler vertreten? Ob das der Fall sein wird, kann man zwar abschätzen, aber nie genau im voraus wissen. Die Beurteilung der Politik und selbst die Kriterien für diese Beurteilung sind ja eine Frage der politischen Entscheidung* eben der Entscheidimg derjeni93 Zwar ließe sich aus der Abhängigkeit vom Vertrauen des Parlaments die Forderung ableiten: Die Regierung soll sich so verhalten, daß sie sich das Vertrauen des Parlaments erhält! (Nicht etwa: ... daß sie das Vertrauen des Parlaments verdient, denn damit würde sachwidrigerweise ein „objektives" Kriterium eingeführt.) Diese Forderung hätte zwar die zielorientierte Struktur der Verantwortung. Aber sie wäre eine politische Klugheitsregel, die bloß ein kluges, nicht aber i n irgendeinem materiellen Sinne „richtiges" Verhalten verlangt. Und schon gar nicht kann man das Mißtrauensvotum mit der Folge des Regierungssturzes als eine Sanktion für eine in irgendeiner Weise unverantwortliche Politik ansehen, vgl. aber Liesegang, in: von Münch, GG, Art. 65 Rn. 21. 94 Das schließt nicht aus, daß für den politischen Erfolg auch moralische oder rechtliche Gesichtspunkte entscheidend sein können.
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§ 2 Verantwortung
gen Instanz, die über das politische Schicksal des handelnden Politikers befindet. Diese Art von Verantwortung, die dem Prinzip der parlamentarischen Verantwortlichkeit der Regierimg zugrundeliegt, w i r d deshalb auch „politische Verantwortung" genannt. 95 Das darf nicht dahingehend mißverstanden werden, daß die rechtliche Verantwortung immer „unpolitisch" sei. Mit der Bezeichnung „politische Verantwortung" w i r d nur klargestellt, daß es insoweit keine rechtlichen Entscheidungsmaßstäbe gibt oder daß es auf sie nicht ankommt; die formale Verantwortung erfolgt hier im Hinblick auf die Rechtfertigung der Politik ohne vorgegebene Kriterien, und das Einstehenmüssen kann nicht anhand von rechtlichen Kriterien, sondern allein politisch entschieden werden. 96 Eine solche „politische Verantwortung" trägt im Organisationsgefüge des parlamentarisch-demokratisch verfaßten Staates jeder politische Funktionsträger. Hat die „politische Verantwortlichkeit" die Funktion, demokratische Legitimität zu vermitteln, dann sind insbesondere nicht nur die Regierung gegenüber dem Parlament, sondern auch das Parlament 97 bzw. die Fraktionen und Abgeordneten gegenüber dem Volk politisch verantwortlich. 9 8 Auch wenn es keine rechtliche Verpflichtung zur Rechenschaftslegung gegenüber dem Volk gibt 9 9 und der verfassungsrechtliche Rahmen dieser Verantwortlichkeit anders aussieht als derjenige, der das Verhältnis zwischen Regierung und Parlament prägt, so sind doch die im Parlament vertretenen Politiker politisch gezwungen, ihre Politik gegenüber dem Volk zu rechtfertigen, wenn sie wiedergewählt werden wollen. Diese politische Verantwortung w i r d insbesondere durch den Prozeß der freien Meinungsbildung und die von den Massenmedien verstärkte öffentliche K r i t i k herausgefordert. Politische Verantwortung im demokratischen Staat ist also geprägt durch die Notwendigkeit, Politik öffentlich zu begründen, zu rechtfertigen, gegen K r i t i k zu verteidigen, mit der Chance, ein politisches Amt zu behalten, und dem Risiko, es zu verlieren. 100 Nur das Volk selbst muß sich vor niemandem verantworten. Eben das ist der Ausweis seiner Souveränität. 95 Vgl. C. Schmitt, Verfassungslehre, S. 331; Scheuner, Festschr. f. Gebhard Müller, S. 379ff, insb. 386ff. 96 Das heißt natürlich nicht, daß die parlamentarisch verantwortliche Regierung von rechtlicher Verantwortung frei sei. Vielmehr hat sie sich nicht nur gegenüber dem Parlament politisch, sondern hinsichtlich der Beachtung des geltenden Rechts, insbesondere der Verfassung, auch rechtlich zu verantworten - gegebenenfalls vor dem Verfassungsgericht. 97 Von der „politischen Verantwortung" des Gesetzgebers spricht das BVerfG i n E 49, 89 (129) - Kalkar, und E 53, 30 (56) - Mühlheim-Kärlich. 98 Carl J. Friedrich, Der Verfassungsstaat der Neuzeit, Berlin, Göttingen, Heidelberg 1953, S. 298, bezeichnet es als den Hauptzweck der Repräsentationssysteme, die staatliche Verantwortlichkeit insbesondere gegenüber der Wählerschaft zu gewährleisten. 99 Die Öffentlichkeit der Parlamentssitzungen, Art. 42 I GG, hat eine andere Funktion und gewährleistet für sich allein noch nicht die Rechtfertigung der Politik gegenüber dem Volk.
C. Der Staat als Subjekt von Verantwortung für technische Risiken
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C. Der Staat als Subjekt von Verantwortung für technische Risiken
I. Rechtliche und politische Verantwortung
von Staatsorganen
Daß auch juristische Personen Träger von Verantwortung sein können, wurde schon dargelegt. 101 So ist der Staat völkerrechtlich verantwortlich gegenüber anderen Völkerrechtssubjekten. Innerstaatlich unterscheidet den Staat von anderen Trägern rechtlicher Verantwortung, daß das Recht, welches die Kriterien für diese Verantwortung liefert, staatliches Recht ist, also vom Staat gesetzt wird. Deshalb kann hier nicht pauschal die Frage gestellt werden, welche rechtliche Verantwortung „der Staat" im Hinblick auf technische Risiken hat, sondern die Frage kann immer nur auf bestimmte Staatsorgane oder -funktionen zielen, welche durch das innerstaatliche Recht in unterschiedlicher Weise gebunden werden. So ist die verfassunggebende Gewalt rechtlich ungebunden, der verfassungsändernde Gesetzgeber unterliegt der Änderungsschranke des Art. 79 I I I GG, der einfache Gesetzgeber hat die Verfassung zu beachten, ist aber Herr über die Gesetze, welche Regierung und Verwaltung binden. Diese kann außerdem an Rechtsverordnungen gebunden sein. Die rechtlichen Verpflichtungen der Verwaltung sind also in ungleich stärkerem Maße ausgeprägt als diejenigen des Gesetzgebers. Entsprechendes gilt für die politische Verantwortung. Der Bereich dessen, was politisch verantwortet werden muß, findet seine Grenzen im geltenden Recht. Solange die Legitimität der Rechtsordnung als solcher nicht in Frage steht, hat das geltende Recht eine Entlastungsfunktion für die politische Verantwortung: Was zu tun rechtlich geboten ist, oder was zu tun rechtlich untersagt ist, das hat man politisch nicht zu verantworten. Politisch zu rechtfertigen hat man nur das, was im Rahmen des rechtlich Erlaubten liegt. Mit dieser Feststellung wird kein politischer Quietismus gegenüber geltendem Recht verlangt. Im demokratischen Staat kann auch geltendes Recht politisch in Frage gestellt werden, aber diese K r i t i k hat sich dann an die Instanz zu richten, die das geltende Recht politisch zu verantworten hat. Während etwa die Verwaltung die rechtliche Verantwortung dafür trägt, die geltenden Gesetze richtig anzuwenden, hat der Gesetzgeber sich der politischen Frage zu stellen, ob diese Gesetze „gut" oder „richtig" sind, tragt also die politische Verantwortung hierfür. Die Verwaltung ist durch das Gesetz hiervon entlastet. Der Gesetzgeber kann sich von seiner politischen Verantwortung nur unter Berufung auf die Verfassung entlasten.
100
Einer entsprechenden politischen Verantwortung unterliegen auch politische Entscheidungsträger außerhalb der Staatsorganisation in mehr oder minder ausgeprägter Weise, also z.B. Funktionsträger in Parteien oder Verbänden, ιοί Oben B . I I . 4.
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§ 2 Verantwortung
II. Staatliche Verantwortung für privatwirtschaftlich betriebene Technik? „Verantwortung für etwas haben" kann, wie gezeigt, heißen: Verantwortung für das eigene Verhalten und seine Folgen oder Verantwortung für einen Gegenstand haben. „Verantwortung für technische Risiken", diese bewußt allgemein gefaßte Formulierung, soll beide Bezüge umfassen: Verantwortung für die Erzeugung technischer Risiken und die Verwirklichung dieser Risiken als Folge davon sowie Verantwortung für den Schutz vor technischen Risiken. Diese kann, wie zu zeigen sein wird, jene begründen. Daß der Staat für die Hervorrufung technischer Risiken und für die durch die Technik entstehenden nachteiligen Folgen dort die Verantwortung trägt, wo er selber diese Risiken hervorruft, indem er selbst - z.B. durch Staatsunternehmen - technische Anlagen errichtet und betreibt, braucht nicht näher begründet zu werden. Insoweit bliebe nur zu klären, wie weit die rechtliche Verantwortung hier reicht. Jedoch werden gefährliche technische Anlagen in der Regel nicht vom Staat, sondern von privaten Unternehmern betrieben, technische Produkte von Privatunternehmen erzeugt und in Verkehr gebracht. 102 So fragt sich, ob und inwieweit der Staat überhaupt Subjekt von Verantwortung für das Verhalten Privater sein kann. Verantwortung das hatten wir ja gesehen - ist immer Verantwortung für eigenes Verhalten, und für den Staat kann nichts anderes gelten. Daraus folgt aber noch nicht, daß das Verhalten Privater dem Staat unter keinen Umständen zugerechnet werden kann. 1. Verantwortung durch Identifikation? Man könnte versucht sein, den Zurechnungstatbestand in einer „Identifikation" des Staates mit der Technik zu suchen, gibt es doch im Verhältnis. von Staat und Technik viele Gesichtspunkte, die für eine solche Identifikation sprechen: So macht der Staatsapparat sich selbst die moderne Technik zunutze. Seine militärische und polizeiliche Macht beruht auf moderner Technik. Ohne diese wäre er zur Selbstbehauptung nicht fähig. Er ist in solchem Maße auf sie angewiesen, daß er sich nicht gegen sie entscheiden kann. Die Staatsaufgabe der Daseinsvorsorge läßt sich nur mit Hilfe der Technik erfüllen, die Wohlfahrt der Bürger, für die der Staat die Rahmenbedingungen schafft und die zu sichern er - insbesondere mit seiner Wirtschafts- und 102 Auf die sich gerade bezüglich der Energieversorgungsunternehmen - Betreiber risikobeladener Anlagen - aufdrängende Frage, wie groß der staatliche Einfluß auf ein Unternehmen sein muß, wie groß etwa die Beteiligung am Aktienkapital, damit man es als Staatsunternehmen betrachten und den rechtlichen Kriterien staatlichen Handelns unterwerfen kann, soll hier nicht eingegangen werden. Zumindest ist das dann der Fall, wenn der Staat Alleinaktionär ist, vgl. BVerfGE 45, 63 (79f.).
C. Der Staat als Subjekt von Verantwortung für technische Risiken
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Finanzpolitik - unterstützend eingreift 103 , hängt weitgehend vom technischen Fortschritt ab. Die internationale Konkurrenzfähigkeit wäre anders nicht zu erhalten, Arbeitsplätze können davon abhängen. So sind es eine Vielzahl von Gründen, die den Staat nicht nur bewegen, die moderne Technik und insbesondere den technischen Fortschritt zu begrüßen, sondern darüber hinaus ihn zu unterstützen, zu fördern und gezielt voranzutreiben. Dies kann durch die Schaffung für die Technik günstiger rechtlicher Rahmenbedingungen geschehen, und es geschieht z.B. durch finanzielle Förderung oder sogar Alleinfinanzierung von Forschungsprojekten, von der Neuentwicklung einer Technologie bis zur Anwendungsreife. Man denke nur an die Milliardenbeträge, die der Staat für die Entwicklung der Prototypen des Schnellen Brüters und des Hochtemperaturreaktors zuschießt. So ließen sich noch viele Beispiele und Argumente zusammentragen, die für eine „Identifizierung" des Staates mit der Technik sprächen. 104 Und gründet sich nicht Verantwortung auf Identifikation mit dem, was man sich selbst als eigenes zurechnet und zurechnen läßt? 105 Die „Identifizierung" ist eine psychologische Kategorie. Sie mag dem Phänomen der Verantwortung psychologisch gesehen zugrunde liegen und mag daher auch Menschen bewegen, die Verantwortung für etwas „zu übernehmen", das sie sich selber zurechnen. Aber „Identifizierung" ermöglicht nicht die rechtliche Zurechnung von Handlungen und deren Folgen, kann nicht rechtliche Verantwortung begründen. Worauf es juristisch ankommt, ist die Frage, ob technische Risiken dem Staate rechtlich zugerechnet werden können. Und diese Frage läßt sich eben nicht psychologisch, sondern nur juristisch beantworten. 2. Zurechnung kraft Veranlassung Wenn der Staat dem Bürger bestimmte Handlungen gebietet, sind die dem Gebot entsprechenden Handlungen und ihre Folgen dem Staat zuzurechnen. Der Bürger, der nur eine staatliche Anordnung ausführt, geltendes Recht womöglich unter Strafandrohung - befolgt, handelt hinsichtlich der Folgen seines Tuns nicht „auf eigene Verantwortung". Die Verantwortung hierfür trägt der Staat, der den Bürger zu seiner Handlung veranlaßt und damit die 103 Vgl. z.B. Stern, Staatsrecht I, S. 703ff. - Zur Identifikation des Staates mit der Wirtschaft vgl. z.B. Böckenförde, Staat, Gesellschaft, Freiheit, S. 206ff. 104 Forsthoff, Der Staat der Industriegesellschaft, S. 42 ff., versteht unter „Identifizierung des Staates mit der Technik" die Verstaatlichung der Technik und stellt dem als Möglichkeit gegenüber, daß der Staat der technischen Entwicklung freien Lauf lasse. Aber gerade dadurch, daß der Staat der Technik freien Lauf läßt (und diesen freien Lauf noch unterstützt), kann sich der Staat mit der Technik identifizieren. Verstaatlichung ist eine Frage der rechtlichen Organisation, aber Technikbejahung und Technikförderung, Nutzbarmachung und Angewiesensein, all dies ist von der rechtlichen Zuordnung unabhängig. 105 Vgl. Larenz, Allgemeiner Teil, S. 68, 77.
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§ 2 Verantwortung
Ursache für die Handlung und ihre Folgen gesetzt hat. 1 0 6 Hier handelt der Staat selbst, indem er gebietet. Der Bürger führt nur aus, was der Staat von ihm verlangt. Damit steht er zwar in der Kausalkette näher am Schaden, den er selbst unmittelbar verursacht, aber rechtlich kann es darauf nicht ankommen: Wer rechtlich verpflichtet ist, ist für die Erfüllung dieser Pflicht verantwortlich, nicht aber dafür, was aus der Erfüllung dieser Pflicht folgt, wenn er die Verpflichtung nicht freiwillig eingegangen ist. Wurde die Verpflichtung ihm einseitig auferlegt, so entlastet sie ihn; erfüllt er sie, handelt er verantwortlich im Rechtssinne. 107 Und die notwendige Kehrseite des staatlichen Anspruchs auf Gehorsam ist die Verantwortung für das, was aus der erteilten Weisung, aus der dem Bürger auferlegten Norm in ihrem Vollzuge wird. Eigenes Handeln des Staates liegt auch dort vor, wo der Staat Einrichtungen schafft, deren bestimmungsgemäße Nutzung durch Private Risiken mit sich bringt. So ist der Staat nicht nur für die Risiken verantwortlich, welche die von ihm gebauten und dem öffentlichen Verkehr gewidmeten Straßen durch ihre fehlerhafte Beschaffenheit für den Verkehr mit sich bringen; die staatliche Verantwortlichkeit erstreckt sich auch auf die Immissionsbelastungen des auf der jeweiligen Straße stattfindenden Verkehrs, obwohl diese von privaten Verkehrsteilnehmern ausgehen. 108 Die bestimmungsgemäße Nutzimg ist unmittelbare Folge der Einrichtung und ihrer Widmung, und daß die Verkehrsimmissionen an einem konkreten Ort und in einem bestimmten Umfang auftreten, ist nicht auf das Verhalten des einzelnen Verkehrsteilnehmers zurückzuführen, sondern darauf, daß der Staat die Straße an dem bestimmten Ort in bestimmter Weise gebaut hat. Damit ist zunächst nur Verantwortlichkeit im Sinne von Zurechnung begründet; inwieweit der Staat für die Vermeidung solcher Risiken sorgen muß, ist eine andere Frage. Abgesehen von den praktisch bedeutsamen Verkehrsimmissionen, deren Auftreten am jeweils bestimmten Ort durch die staatliche Straßenplanung bedingt ist, sind durch Private verursachte technische Risiken in aller Regel nicht staatlich veranlaßt. So fragt sich, ob es andere Zurechnungsmöglichkeiten gibt.
106
So auch Rauschning, W D S t R L 38 (1980), 182. s. o. III. - Hierbei wird vorausgesetzt, daß es sich um eine rechtlich wirksame Verpflichtung handelt. Eine andere Frage, die hier nicht behandelt werden muß und nicht allgemein beantwortet werden kann, ist die, ob der Bürger auch bei Befolgung unwirksamer staatlicher Normen oder Anordnungen von seiner eigenen Verantwortung entlastet ist, vgl. z.B. die Pflicht zur Gehorsamsverweigerung i n § 11 I I SoldatenG. 108 Vgl. Rauschning, W D S t R L 38 (1980), 182; BGHZ 64, 220 (222); BGH, 13.1. 77, DVB1. 1977, 523 (524). 107
C. Der Staat als Subjekt von Verantwortung für technische Risiken
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3. Zurechnung kraft Rechtsetzung Im Mühlheim-Kärlich-Beschluß hat das Bundesverfassungsgericht die Auffassung vertreten, mit der Genehmigung eines Kernkraftwerks übernehme der Staat „eine eigene Mitverantwortung" für die in ihm verkörperten Gefährdungen. 109 Die staatliche Genehmigung ist fraglos conditio sine qua non für die Errichtung und den Betrieb eines Kernkraftwerks; ohne Genehmigung darf es nicht gebaut werden, § 7 I AtG. Umgekehrt gehören daher Bau und Betrieb des Kraftwerks sowie die damit verbundenen Risiken prinzipiell zu den zurechenbaren Folgen der Genehmigung. Es liegt auf der Hand, daß das Bundesverfassungsgericht den Begriff der Verantwortung hier im Sinne von „Zurechnung" gebraucht, nicht etwa bereits im Sinne von rechtlicher Vorwerfbarkeit der Verursachung der zurechenbaren Verhaltensfolgen oder gar im Sinne von Haftung, denn mit der Feststellung, daß eine Mitverantwortung des Staates gegeben sei, beginnt erst die Prüfung einer Grundrechtsverletzung. Der Einwand, das Bundesverfassungsgericht lasse ungeklärt, welche grundrechtliche Bedeutung die Mitverantwortung haben solle 110 , ist mit dieser Interpretation der Entscheidung ausgeräumt: Daß der Staat für die Risiken eines genehmigten Atomkraftwerks verantwortlich ist, heißt in diesem Zusammenhang, daß sie ihm als Folgen eigenen Verhaltens zugerechnet werden. Ob dieses Verhalten deshalb einen Grundrechtseingriff oder gar eine Grundrechtsverletzung darstellt, ist eine zweite Frage; Verantwortlichkeit im Sinne von Zurechnung ist lediglich Voraussetzung hierfür. a) Verantwortung
aufgrund konkreter Genehmigung?
Dieser Zurechnung des Verhaltens Privater aufgrund staatlicher Genehmigung 1 1 1 hat Rauschning widersprochen: Das Bundesverfassungsgericht verkenne die Funktion des „Verbots mit Erlaubnis vorbehält" : Im Interesse der Allgemeinheit und der einzelnen unterwerfe der Staat den Betreiber einer engen Kontrolle, um Gefahren auszuschließen und das Restrisiko jenseits der Gefahr im Rechtssinne zu mindern. Gerade aus diesem schützenden Bemühen könne nicht eine staatliche Verantwortung hergeleitet werden. 112 !09 BVerfGE 53, 30 (58). 110 Rauschning, DVB1. 1980, 832. 111 Auf weitere Einzelheiten der Begründung des BVerfG, insbesondere auf die Frage, ob es in diesem Zusammenhang auf die Größe des Gefährdungspotentials ankommen kann, ist an dieser Stelle noch nicht einzugehen. 112 DVB1. 1980, 832; vgl. ders., in: Individualrecht oder Verpflichtung des Staates?, S. 35, und W D S t R L 38 (1980), 184. - Dagegen vertritt Baltes , BB 1978, 131, die Ansicht, es könne kein entscheidender Unterschied sein, ob der Staat Immissionen selbst verursache oder ob er unterlasse, gegen sie zu schützen, befaßt sich aber nicht mit dem Problem der Zurechnung. Können die von Privaten verursachten Immissio-
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§ 2 Verantwortung
I n der Tat wäre die Ableitung der staatlichen Verantwortung von der verwaltungsbehördlichen Genehmigungsentscheidung fragwürdig: Zumindest ein präventives Verbot mit Genehmigungsvorbehalt dient nur der effektiven Kontrolle der Rechtmäßigkeit privaten Verhaltens, der Aufsicht über die Erfüllung der gesetzlichen Voraussetzungen für die Durchführung des Projekts. Hat die Genehmigungsbehörde kein Versagungsermessen, so ist sie rechtlich verantwortlich nur für die Rechtmäßigkeit der Genehmigungsentscheidung und für die Folgen einer rechtswidrigen Genehmigung 113 , nicht aber für die Folgen einer rechtmäßig erteilten Genehmigung. Hinsichtlich der erlaubten Risiken gibt es eine eigene Verantwortung der Genehmigungsbehörde allenfalls im Rahmen eines gesetzlichen Konkretisierungsspielraums. Etwas anderes könnte gelten, wenn das Gesetz der Behörde ein Versagungsermessen einräumt wie in § 7 I I AtG. In einem solchen Fall ist die Behörde nicht durch die Verpflichtung zur Genehmigung von eigener Verantwortung entlastet. Aber auf diesen Gesichtspunkt w i r d das Bundesverfassungsgericht seine These von der Mitverantwortung des Staates schon deshalb nicht gestützt haben, weil es den § 7 I I AtG einengend dahingehend auslegt, daß die Versagung der Genehmigung nur in besonderen Ausnahmefällen zulässig sei. 114 So bleibt für die Zurechnungsfrage festzuhalten, daß die Genehmigungsbehörde jedenfalls insoweit keine Verantwortung für die Risiken der genehmigten Anlage „übernimmt", als sie rechtlich verpflichtet ist, die Genehmigung zu erteilen. b) Zurechnung aufgrund normativer Regelung? Mit dieser Feststellung ist freilich die Frage nach der staatlichen Verantwortung für von Privaten verursachte technische Risiken nicht erledigt. Festgestellt ist nur, daß nicht die Genehmigungsbehörde die Verantwortung trägt und daß der Staat mit der Genehmigungsentscheidung nichts an Verantwortimg „übernimmt", was er nicht schon zuvor an Verantwortung hatte 1 1 5 , denn die Genehmigung ist mit der Festlegung der gesetzlichen nen dem Staat nicht zugerechnet werden, besteht sehr wohl ein Unterschied, denn die Schutzpflichten müßten den Normbereichen der Grundrechte nicht entsprechen. Schmidt-Aßmann, AöR 106 (1981), 215, hält den Vorschlag, bei Immissionen von genehmigten Anlagen in dem Genehmigungsakt den staatlichen Eingriff zu sehen, mit Berufung auf Schwabe und ohne weitere Begründung für beachtlich. Schwabe, Grundrechtsdogmatik, S. 213 ff., knüpft aber nicht an den konkreten Genehmigungsakt an, sondern allgemein an die Rechtmäßigkeit des privaten Tuns. 113 Deshalb führt die Anfechtung der Genehmigungsentscheidimg in diesem Fall zu ihrer Aufhebung. 114 Beschl. d. 2. Senats v. 8.8.78, BVerfGE 49, 89 (145ff.) - Kalkar. Auf die Problematik dieser Interpretation, welcher der 1. Senat im Mühlheim-Kärlich-Beschluß nicht entgegengetreten ist, w i r d noch einzugehen sein. 115 Dies gilt mit den erwähnten Einschränkungen bezüglich des Konkretisierungsspielraums und des Ermessens der Genehmigungsbehörde.
C. Der Staat als Subjekt von Verantwortung für technische Risiken
Genehmigungsvoraussetzungen vorentschieden. Damit verlagert sich die Zurechnungsfrage von der konkreten Genehmigungsentscheidung weg auf die allgemeine Ebene des Gesetzes. Schaut man sich unter diesem Aspekt die Mühlheim-Kärlich-Entscheidung 116 noch einmal an und stellt die Frage: Wer ist denn hier „der Staat", der mit der Genehmigung eine „Mitverantwortung" übernimmt - die Genehmigungsbehörde oder der Gesetzgeber?, so zeigt sich jedenfalls auf den zweiten Blick, daß das Bundesverfassungsgericht trotz der konkret gefaßten Formulierung des Verantwortungs-Passus, der an die konkrete Genehmigungsentscheidung denken läßt 1 1 7 , die Verantwortung auf das zur Genehmigung ermächtigende Gesetz, das insoweit einem „Eingriffsgesetz" gleichgestellt wird, zurückführt: Nach Feststellung der „Mitverantwortung" des Staates prüft das Bundesverfassungsgericht die Verfassungsmäßigkeit des Atomgesetzes. 118 Das führt zur Kernfrage des Zurechnungsproblems. Unabhängig von einer eventuellen, mehr oder weniger stark ausgeprägten Mitverantwortlichkeit der Genehmigungsbehörde in Fällen, in denen das Gesetz ein Verbot mit Genehmigungsvorbehalt normiert, lautet diese Frage ganz allgemein: Ist der Staat für das verantwortlich, was er erlaubt? Trägt er die Verantwortung für diejenigen Risiken, deren Verursachung er gestattet? Auch auf der Ebene des Gesetzes gilt, was schon für die verwaltungsbehördliche Genehmigungsentscheidung gesagt wurde: Die Erlaubnis ist conditio sine qua non für die Verursachung des Risikos. Sie ist zwar nicht notwendige Bedingung für die Verursachung jedes Risikos. Risiken können ja auch ohne Erlaubnis verursacht werden oder die Grenze des Erlaubten überschreiten. Aber gegen solche Risiken kann derjenige, der ihnen ausgesetzt ist, sich rechtlich zur Wehr setzen; er hat einen Unterlassungsanspruch, den er gerichtlich durchsetzen kann, wenn er durch die Risiken in seinen Rechten verletzt ist. 1 1 9 Erlaubte Risiken hingegen hat er zu dulden. 1 2 0 116 BVerfGE 53, 30 (58). 117 Wörtlich: „Wird aber ein Kernkraftwerk trotz des in ihm verkörperten außerordentlichen Gefährdungspotentials im Allgemeininteresse an der Energieversorgimg genehmigt, so bedeutet dies, daß die körperliche Integrität Dritter Gefährdungen ausgesetzt werden kann, die diese nicht beeinflussen und denen sie kaum ausweichen können. Damit übernimmt der Staat seinerseits eine eigene Mitverantwortung für diese Gefährdungen." 118 Man kann also davon ausgehen, daß nach Ansicht des BVerfG der Gesetzgeber die „Mitverantwortung" für die Folgen der von ihm normierten Genehmigungsvoraussetzungen trägt. Diese Auslegung wird bestätigt durch BVerfGE 56, 54 (79) - Düsseldorf-Lohausen, wo es unter Bezugnahme auf den Mühlheim-Kärlich-Beschluß ausdrücklich heißt, daß „der Staat durch die Schaffung von Genehmigungsvoraussetzungen und durch die Erteilung von Genehmigungen eine eigene Mitverantwortung für etwaige Grundrechtsbeeinträchtigungen" übernehme. Hiernach ist es auch nicht mehr möglich, in dieser Mitverantwortung etwa eine atomrechtliche Besonderheit zu sehen. 119 Das ist nicht denknotwendig der Fall, entspricht aber dem geltenden Recht. Vgl. Schwabe, Grundrechtsdogmatik, S. 48 ff. 120 Vgl. Schwabe, Grundrechtsdogmatik, S. 213 ff.
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§ 2 Verantwortung
Die staatliche Erlaubnis ist notwendige Bedingung für die rechtmäßige Risikoerzeugung, also für die Erzeugung solcher Risiken, die zu dulden der Betroffene verpflichtet ist. Wenn nicht im naturwissenschaftlichen Sinne, so ist sie doch im Rechtssinne conditio sine qua non für die Erzeugung des Risikos 1 2 1 : Der Kausalität der rechtlichen Gestattung läßt sich nicht entgegënhalten, der - kaum jemals mögliche - Beweis dafür, daß dasselbe Risiko nicht auch verbotenerweise erzeugt worden wäre, sei nicht erbracht. Wenn die Rechtsordnung absolute Verbindlichkeit rechtlich beansprucht, muß zur rechtlichen Beurteilung der Wirkungen eines Rechtssatzes die Verwirklichung dieses - mit den staatlichen Zwangsmitteln ja auch durchsetzbaren Anspruchs unterstellt werden. Die voraussehbaren Wirkungen seiner rechtlichen Normsetzung aber muß der Staat sich zurechnen lassen. Daß das rechtlich Erlaubte und faktisch Mögliche auch getan wird, damit ist zu rechnen. Also sind die rechtmäßig von Privaten produzierten Risiken dem Staat als Folgen seiner eigenen Handlung, nämlich als Folgen der Erlaubniserteilung, rechtlich zuzurechnen. Da eine Zurechnung privaten Verhaltens kraft staatlicher Genehmigung nur dann in Betracht kommt, wenn der Bürger rechtmäßig handelt, ist von diesem Normalfall hier zunächst auszugehen. Ob und unter welchen Voraussetzungen auch die rechtswidrige Verursachung von Risiken durch Private dem Staat zugerechnet werden kann, ist ein weiteres Problem, das nicht in diesen Zusammenhang gehört. 122 Der Gedanke, daß der Staat mit einer Rechtsnorm, welche die Verursachimg bestimmter Risiken erlaubt, eine Bedingung für den Eintritt dieser Risiken setze, so daß diese ihm als voraussehbare und vermeidbare Folgen seines eigenen Handelns auch zugerechnet werden könnten, sieht sich mit folgendem Einwand konfrontiert: Wenn der Gesetzgeber bestimmte Risiken ausdrücklich zulasse, indem er etwa Immissions- oder Emissionsgrenzwerte festsetzt, so wolle er damit nicht die Verantwortung für die erlaubten Risiken übernehmen, sondern der Sinn der Regelung bestehe gerade darin, die über diese Grenzwerte hinausgehenden Risiken zu verbieten und den Bürger vor ihnen zu schützen. 123 Richtig ist, daß der Staat mit der ausdrücklichen Erlaubnis eines Risikos nicht mehr Verantwortung übernimmt, als er ohne diese Erlaubnis hätte, denn erlaubt wäre die Verursachung des Risikos auch ohne ausdrückliche Erlaubnis, wenn sie nicht verboten wäre. 1 2 4 So spitzt 121 So auch EGMR, Series A, Vol. 44, S. 5 (S. 20 § 48) - Fall Young, James und Webster, und EKMR, EuGRZ 1980, 450 (453). Vgl. dazu die Darstellung dieser Entscheidungen am Schluß dieses Abschnitts (b). 122 Dazu s.u. 4. 123 Vgl. Rauschning, W D S t R L 38 (1980), 184; ders., DVB1. 1980, 832. 124 Rechtstheoretisch kann man die Erlaubnis auch als Negation eines Verbots verstehen. Wer Rechtsnormen nur als Imperative betrachtet, für den ist die Erlaubnis als Freisein von Imperativen ohne eigenständige normative Bedeutung. Vgl. Engisch, Einführung, S. 23f.; Schwabe, Grundrechtsdogmatik, S. 43ff. m.w.N.
C. Der Staat als Subjekt von Verantwortung für technische Risiken
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sich das Zurechnungsproblem auf die Frage zu: Kann es rechtlich einen Unterschied machen, ob der Staat durch ausdrückliche Genehmigung Verbote aufhebt, die der Risikoerzeugung entgegenstehen 125 , oder ob er die Risikoerzeugung von vornherein nie verboten hat? Ist der Staat für das verantwortlich, was er nicht verbietet? Das Nicht-Verbieten aber ist, so scheint es, i m Gegensatz zum Erteilen einer Erlaubnis kein Tun, sondern ein Unterlassen, und der allgemeine Rechtsgrundsatz, daß nur eine rechtliche Verpflichtung zum Tun die Zurechnung von Unterlassungsfolgen ermöglicht, während die Zurechnung der Folgen aktiven Tuns ohne weiteres möglich ist 1 2 6 , gilt auch für den Staat. Jedes menschliche Subjekt, selbst eine für „omnikompetent" gedachte Organisation 127 wäre überfordert, würde man es für alles verantwortlich machen, wofür sein Unterlassen Bedingung ist, was es also durch Tun hätte beeinflussen können. Damit wäre die Zurechnungsfrage erledigt, die Folgen des Nicht-Verbietens von Risiken und auch - weil das nur Sache der rechtstechnischen Formulierung wäre - die Folgen der ausdrücklichen Genehmigung könnten dem Staat nur bei Verletzung einer entsprechenden Handlungspflicht zugerechnet werden - wenn nicht hinter dem Unterlassen doch ein Tun stände, das die Zurechnung privaten Verhaltens ermöglicht. Nun unterscheidet sich der Staat von einem imaginären „Naturzustand" dadurch, daß er die Konflikte unter Privaten nicht der Entscheidung durch das Faustrecht überläßt, sondern selbst rechtliche Entscheidungskriterien zur Verfügung stellt und das Recht mit Hilfe seines Zwangsapparats durchsetzt. Die rechtliche Regelung dessen, was Private tun oder lassen dürfen oder müssen, insbesondere - darauf kommt es hinsichtlich der Verursachung technischer Risiken an die Regelung dessen, wie Private sich i m Verhältnis zueinander zu verhalten haben oder nicht verhalten dürfen, die Regelung dessen, was der eine Bürger dem anderen antun darf und was nicht, diese Regelung ist in der staatlichen Rechtsordnimg umfassend getroffen worden. Sie ist in diesem Sinne total: Was rechtlich nicht verboten ist, das ist erlaubt und umgekehrt. Es gibt hier kein Drittes. 1 2 8 Für das Zurechnungsproblem entscheidend ist nun, daß 125 Für diesen Fall hat ja das BVerfG die Mitverantwortung des Staates für die Folgen anerkannt, BVerfGE 56, 54 (79). 126 s.o. Β . Π . 1. 127 Zur Omnikompetenz als Kriterium der Souveränität vgl. Helmut Quaritsch, Staat und Souveränität, S. 443 ff. 128 Dies folgt schon zwingend aus der Logik rechtlicher Normierung. Normlogisch gesehen ist das Dürfen immer identisch mit der Abwesenheit entgegenstehenden Sollens; erlaubt ist schon logisch alles, was nicht verboten ist (vgl. z.B. Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 15 f.). Eine Erlaubnis hat nur Sinn als Ausnahme zu einem Verbot (vgl. Engisch, Auf der Suche nach der Gerechtigkeit, S. 46; ders., Einführung, S. 25). Was nicht verboten ist, bedarf keiner ausdrücklichen Erlaubnis. Deshalb mag es naheliegen, das durch das Fehlen normativer Imperative bloß negativ bestimmte Erlaubtsein in einen „rechtsfreien Raum" zu verweisen (so die Vertreter der „Imperativentheo-
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die Rechtsordnung alles unverbotene Verhalten durch Störungsverbote absichert. Was nicht verboten ist, daran darf man nicht gehindert werden. Das unverbotene Verhalten w i r d also durch - rechtlich durchsetzbare Störungsverbote - rechtlich gewährleistet. Was der eine tun darf, muß der andere dulden, und was dieser nicht zu dulden braucht, hat jener zu unterlassen. Das Dürfen des einen ist jeweils die Kehrseite der Verpflichtimg des anderen. Deshalb mag das Dürfen - als negative Regelung - in einem „rechtssatzfreien Raum" stehen - in einem „rechtsfreien Raum" steht es nicht. 1 2 9 Was nicht verboten ist, spielt sich im liberalen Verfassungsstaat in der Sphäre bürgerlicher Freiheit ab, in der Sphäre privater Beliebigkeit, wenn es sich unter Privaten abspielt. Aber es ist nicht nur nicht rechtlich verboten, sondern auch im Rechtssinne erlaubt, rechtlich gewährleistet, oder anders gesagt: Was nicht gegen geltendes Recht verstößt, ist rechtmäßig und nicht etwa nur gegenüber dem Recht indifferent. 1 3 0 Deshalb wird das nicht verbotene Verhalten Privater von der Rechtsordnung in der Regel auch als subjektives Recht ausgestaltet: Wer in seinem unverbotenen Verhalten von Dritten gestört wird, hat einen gerichtlich durchsetzbaren Abwehranspruch. 131 Die Unterscheidimg zwischen Tun und Unterlassen ist hinsichtlich der staatlichen Normierung von an die Bürger gerichteten Verhaltensregeln also nicht vollziehbar: Wo der Staat nicht verbietet, hat er schon erlaubt, wo er unterläßt, hat er schon getan - indem er das unverbotene Verhalten z.B. durch Störungsverbote und Störungsabwehransprüche rechtlich gewährleistet hat. Diese Gewährleistung des nicht verbotenen Verhaltens durch an Dritte gerichtete Störungsverbote macht es möglich, dem Staat das unverbotene Verhalten Privater als Folge seiner Rechtsetzung zuzurechnen. Der Staat muß sich also die voraussehbaren Folgen seines Nicht-Verbietens ebenso zurechnen lassen wie die Folgen einer ausdrücklich erteilten rie", vgl. z.B. Nawiasky, Allgemeine Rechtslehre, S. 109; Engisch, Einführung, S. 24) und seine Zurechnung zum Staat und seiner rechtlichen Regelung abzulehnen. Aber diese Argumentation trifft nur die rechtstechnische Seite der staatlichen Rechtsordnimg. Das Nicht-Verbotene, das Dürfen ist zwar nicht Gegenstand rechtlicher Imperative, nicht Gegenstand eines positiven Rechtssetzungsakts - das gilt für die „positive Erlaubnis", die sich als Aufhebung oder Einschränkung eines Verbots begreifen läßt, ebenso wie für die „negative Erlaubnis" (für diese Termini vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 16), die von vornherein rechtstechnisch das Nicht-Verbotene ist - , aber es ist dennoch materiell Gegenstand des Rechts. Der Staat regelt auch, indem er nicht regelt: Was nicht verboten und somit erlaubt ist, ergibt sich als Kehrseite aus den positiv geregelten Verboten. Es ist, normtechnisch negativ, rechtlich geregelt und somit als Bestandteil der staatlichen Rechtsordnung der staatlichen Rechtssetzung zuzurechnen. (Vgl. W. Jellinek, Gesetz, Gesetzesanwendung und Zweckmäßigkeitserwägung, S. 119; E. Kaufmann, Das Wesen des Völkerrechts, S. 51 f.; Schwabe, Grundrechtsdogmatik, S. 47 f.) 129 Zur K r i t i k an der Vorstellung eines „rechtsfreien Raumes" in diesem Zusammenhang vgl. Schwabe, Grundrechtsdogmatik, S. 46 ff. 130 So Schwabe, NJW 1981, 556, gegen Schlink, ebd. 131 Vgl. Schwabe, Grundrechtsdogmatik, S. 46 ff.
C. Der Staat als Subjekt von Verantwortung für technische Risiken
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Erlaubnis. Die daraus folgende staatliche Verantwortung ist zweifellos außerordentlich groß. Der mit Verboten zurückhaltende freiheitliche Staat muß sie tragen; das gehört zu den Kosten des Freiheitsprinzips. Zu bedenken ist auch, daß der Staat nicht für alles Verantwortung trägt, was im Bereich der privaten Freiheitssphäre passiert. Aufgrund der Zurechnung kraft rechtlicher Erlaubnis kommt von vornherein nur eine Verantwortung für rechtmäßiges Verhalten Privater in Betracht. Im übrigen muß dem Mißverständnis vorgebeugt werden, daß Zurechenbarkeit hier bedeute, der Staat würde alles das billigen, positiv bewerten, was aufgrund seines NichtVerbietens rechtmäßig ist. 1 3 2 Zwar gilt für die Inpflichtnahme das Gegenteil: Gebieten darf der Staat nur, was einem positiv bewerteten Zweck dient, und verbieten nur, was er mißbilligt. 1 3 3 Hat er keinen sachlichen Grund für diese Negativbewertung des Verbotenen, darf er das Verbot nicht aussprechen. Gegenüber dem, was nicht verboten ist, verhält sich der Staat dagegen grundsätzlich nicht wertend, sondern wert-indifferent. Die Wertentscheidimg, die der Rechtmäßigkeit des nicht Verbotenen zugrundeliegt, ist die Entscheidung für das private Belieben 134 , für das Freiheitsprinzip. Dieses wird vom Staat, von der Verfassung positiv bewertet, nicht aber all das, was die Bürger mit ihrer Freiheit anfangen. Wie die Bürger ihre Freiheit gebrauchen, geht den Staat grundsätzlich nichts an, solange sie dabei die rechtlichen Grenzen der Freiheit nicht überschreiten. Diese Indifferenz ist gerade Bestandteil des Freiheitsprinzips, des den liberalen Verfassungsstaat auszeichnenden „Prinzips der Nicht-Identifikation" 1 3 5 . Aber die prinzipielle staatliche Wertungsabstinenz gegenüber gesellschaftlichem Handeln verweist dieses nicht in ein rechtliches Vakuum und ändert nichts an seiner Rechtmäßigkeit. Die Grundentscheidung für die Freiheit ist es, die diese Rechtmäßigkeit rechtfertigt. Daß die Sphäre der Freiheit die Sphäre bürgerlicher Beliebigkeit ist und daß der Staat sich prinzipiell nicht darum zu kümmern hat, was die Bürger aus ihrer Freiheit machen, w i r d - um es nochmals zu betonen - mit der These, der Staat müsse sich zurechnen lassen, was seine Bürger rechtmäßigerweise tun, nicht in Frage gestellt. Aus dieser Zurechnungsmöglichkeit resultiert freilich eine Verantwortung, die den Staat nötigt, der Freiheitssphäre Grenzen zu ziehen. 136 Diese Aufgabe des Gesetzgebers, die Rechtssphären der Bürger untereinander abzugrenzen
132
Diesem Mißverständnis unterliegt Schlink, NJW 1981, 566. Zur Bewertungsnorm als Grundlage der Bestimmungsnorm vgl. Engisch, Einführung, S. 27f. m.w.N.; ders., Auf der Suche nach der Gerechtigkeit, S. 33ff. 134 Dieses liegt deshalb entgegen Karl Bergbohm, Jurisprudenz und Rechtsphilosopie. Leipzig 1892, S. 374f., nicht außerhalb des Rechts, sondern wird vom Recht geschützt, vgl. E. Kaufmann, Das Wesen des Völkerrechts, S. 51 f.; Schwabe, Probleme der Grundrechtsdogmatik, S. 49. 135 Hierzu vgl. H. Krüger, Allgemeine Staatslehre, S. 178ff. 136 Darauf ist noch ausführlich einzugehen, s.u. §§ 5, 6. Dabei wird sich zeigen, daß die Rspr. des BVerfG der Sache nach die hier vertretene Auffassung bestätigt. 133
5*
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und der Freiheit die auch von der Verfassung geforderten Grenzen zu setzen, ist auch für den freiheitlichen Rechtsstaat eine Selbstverständlichkeit; in ihr hat sich die Friedensfunktion des Staates zu bewähren. Der Gedanke, daß der Staat sich die voraussehbaren Folgen rechtlich erlaubten Handelns seiner Bürger zurechnen lassen muß, mag aus der Perspektive des innerstaatlichen Verfassungsrechts auf den ersten Blick einfach deshalb als befremdlich erscheinen, weil die praktischen Probleme, die es hier insoweit gab, bislang im wesentlichen durch richterliche Interpretation der einschlägigen Gesetze behoben werden konnten und das Problembewußtsein noch nicht genügend herausgefordert worden ist. Auf der Ebene des internationalen Menschenrechtsschutzes dagegen hat dieselbe Zurechnungsfrage größere praktische Bedeutung, weil Mängel in der innerstaatlichen Rechtsordnung von einem staatlichen Gericht nicht mehr „ausgebügelt" werden können, wenn der Fall erst einmal vor einem internationalen Gericht zur Entscheidung steht. Und hier zeigt sich, daß die Funktionslogik staatlicher Rechtsetzung unausweichlich zur Zurechnung der Folgen geltenden Rechts führt. So hatte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) im Fall Young, James und Webster 137 zu entscheiden, ob das Vereinigte Königreich die Beschwerdeführer, die wegen ihrer Weigerung, einer Gewerkschaft beizutreten, von ihrem Arbeitgeber, British Rail, entlassen worden waren, in ihrem Recht aus Art. I I I EMRK verletzt hatte. Der Gerichtshof ließ offen, ob British Rail ein Staatsunternehmen sei und ob aus diesem Grunde die Entlassung der Beschwerdeführer dem britischen Staat zuzurechnen sei. Vielmehr stellte er darauf ab, daß das Gewerkschaftsgesetz 138 den „closed shop" zuließ, daß also die Entlassimg der Beschwerdeführer dem englischen Recht entsprach. In Übereinstimmung mit der Kommission 1 3 9 ging der Gerichtshof davon aus, daß die Entlassung eine Folge der Gewerkschaftsgesetze sei, die den Eingriff rechtlich ermöglichten. Wenn aber die Verletzung der Rechte und Freiheiten der Konvention durch einen Dritten daraus resultiere, daß der Staat i n seiner Gesetzgebung die Verpflichtung mißachte, allen seiner Herrschaftsgewalt unterworfenen Personen die Rechte und Freiheiten der Konvention zu gewährleisten (Art. 1 EMRK), dann sei der Staat für diese Konventionsverletzung verantwortlich. 1 4 0 Oder, wie die Kommission formuliert hat: Der Staat ist verantwortlich, wenn sein Rechtssystem einen Verstoß gegen Art. 11 EMRK als rechtmäßig erscheinen läßt. 1 4 1 Der EGMR und die EKMR wenden also den hier 137 Series A, Vol. 44, S. 5 = EuGRZ 1981, 559 = NJW 1982, 2717; dazu Murswiek , JuS 1982, 58f.; ders., in: Grundrechtsschutz, S. 218ff. 138 Schedule I Part I I para 6 (5) Trade Union and Labour Relations Act 1974 i.d.F. des Trade Union and Labour Relations (Amendment) Act 1976. 139 Europäische Kommission für Menschenrechte (EKMR), Bericht vom 14.12.1979, EuGRZ 1980, 450 (453). 140 Series A, Vol. 44, S. 20 § 48.
C. Der Staat als Subjekt von Verantwortung für technische Risiken
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vorgeschlagenen Zurechnungsmodus genauso selbstverständlich an, w i e er eigentlich ist. I n der wissenschaftlichen D i s k u s s i o n u m diesen F a l l sind, soweit ersichtlich, keine E i n w ä n d e gegen diese Z u r e c h n u n g p r i v a t e n H a n delns als Folge einer r e c h t l i c h e n Regelung erhoben w o r d e n . 1 4 2
c)
Resümee A u c h f ü r den Staat g i l t das allgemeine Z u r e c h n u n g s p r i n z i p : E r ist f ü r die
voraussehbaren u n d v e r m e i d b a r e n Folgen seines Handelns v e r a n t w o r t l i c h u n d deshalb auch f ü r die Folgen seiner Rechtsetzung. Das V e r h a l t e n v o n Privaten, das n a c h der staatlichen Rechtsordnimg rechtmäßig ist, sowie die voraussehbaren Folgen dieses Verhaltens muß er sich zurechnen lassen als Folgen seiner Gesetzgebung. W o i n diesem Z u s a m m e n h a n g v o n „ V e r a n t w o r t u n g " gesprochen w i r d , w i e i m M ü h l h e i m - K ä r l i c h - B e s c h l u ß des B u n desverfassungsgerichts, ist aber n u r Z u r e c h n u n g gemeint. Z u r e c h n u n g ist das n o t w e n d i g e erste Element v o n V e r a n t w o r t l i c h k e i t . V e r a n t w o r t l i c h k e i t f ü r negative Folgen des Handelns i m Sinne v o n V o r w e r f b a r k e i t m i t der Folge des Einstehenmüssens h a t neben der Z u r e c h n u n g ein zweites E l e ment: die P f l i c h t w i d r i g k e i t dessen, was d e m h a n d e l n d e n S u b j e k t zugerechnet w i r d . V e r a n t w o r t l i c h i n diesem Sinne ist der Staat f ü r die i h m zurechenbaren Folgen p r i v a t e n Handelns, w e n n diese eine den Staat bindende 141 EuGRZ 1980, 450 (453). - Wenn der EGMR und die EKMR in diesem Zusammenhang auf die Verletzung der Verpflichtung aus Art. 1 EMRK abstellen und die EKMR aus Art. 1 eine „Schutzpflicht" ableitet - diesen Terminus habe ich in JuS 1982, 58, übernommen - , könnte das dahingehend mißverstanden werden, daß die Verletzung einer aus der EMRK folgenden Pflicht des Staates die Zurechnung unproblematisch begründet, vgl. unten 4. („Zurechnung wegen Unterlassens"). Jedoch enthält Art. 1 EMRK nur die allgemeine Pflicht zur Gewährleistung der Rechte und Freiheiten der EMRK im innerstaatlichen Recht. Eine solche Verpflichtung entspricht dem Charakter der EMRK als eines völkerrechtlichen Vertrages, der - anders als die Staatsverfassungen - nicht unmittelbar als innerstaatliches Recht gilt. Aus dieser Verpflichtung, den Rechten und Freiheiten der EMRK innerstaatlich Geltung zu verschaffen, läßt sich aber nicht ableiten, in welchem Umfang sie gelten und inwiefern Handlungen Dritter dem Staat zugerechnet werden können. Eine besondere Verpflichtung der Staaten, die über die aus den einzelnen Rechten und Freiheiten folgenden Verpflichtungen hinausgeht, begründet Art. 1 EMRK nicht. Angesichts der Möglichkeit, die Folgen des geltenden Rechts dem Staat zuzurechnen, war die Berufung auf Art. 1 EMRK in diesem Zusammenhang überflüssig. - Zur staatlichen Verantwortung für privates Handeln nach der EMRK ausführlich Murswiek, in: Grundrechtsschutz, S. 214 ff. 142 Vgl. z.B. Scholz, AöR 106 (1981), 83f. (zustimmend); der Umstand, daß die englische Gesetzgebung den closed shop ausdrücklich gestattet, kann für den Zurechnungsmodus nicht von Bedeutung sein, denn die Gestattung war rechtstechnisch nur deshalb erforderlich, weil allgemein sonst der Zwang zum Vereinigungsbeitritt untersagt ist. Ein Staat, der alle Schutzvorschriften gegen den Zwang zum Vereinigungsbeitritt generell aufhöbe oder von vornherein solche Vorschriften nicht aufgestellt hätte, so daß aufgrund dieses Nicht-Verbots der Koalitionszwang rechtmäßig wäre, würde mit Sicherheit i n gleicher Weise vom EGMR für nun rechtmäßig stattfindende Zwangsmaßnahmen unter Privaten verantwortlich gemacht, wenn er hierüber zu entscheiden hätte.
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Rechtsnorm verletzen. Wann das im Hinblick auf technische Risiken der Fall ist, wird zu untersuchen sein. 4. Zurechnung wegen Unterlassens Wo der Staat das Verhalten Privater nicht veranlaßt und auch nicht durch seine Rechtsetzung rechtlich ermöglicht hat, wo es ihm also nicht als Folge seines eigenen Tuns zugerechnet werden kann 1 4 3 , kommt noch eine Zurechnung wegen Unterlassens in Betracht. Für von Privaten verursachte technische Risiken könnte der Staat deshalb verantwortlich sein, weil er die Entstehung dieser Risiken nicht verhindert hat. Auch dadurch würde der Staat nicht für das Verhalten Dritter verantwortlich gemacht, sondern für sein eigenes Verhalten, nämlich für seine Unterlassung. Aber Nichts-Tun kann Verantwortlichkeit nur dann begründen, wenn man zum Handeln verpflichtet ist. Der Staat ist für von Privaten verursachte technische Risiken also insoweit rechtlich verantwortlich, als er selbst für die Verhinderung solcher Risiken die Verantwortung trägt oder - anders formuliert - als er selbst verpflichtet ist, solche Risiken zu verhindern. 144 Ob und inwieweit eine solche Verpflichtung besteht, kann nicht pauschal, sondern nur differenziert für unterschiedliche Problemkreise und unterschiedliche Staatsorgane aufgrund einer eingehenden Analyse des geltenden Rechts festgestellt werden. Eben dies ist der Gegenstand dieser Arbeit. 5. Rechtliche und politische Verantwortlichkeit Wie weit die rechtliche Verantwortimg des Staates für von Privaten verursachte technische Risiken geht, hängt also von der Beantwortung zweier Fragen ab: Inwieweit verstößt der Staat gegen ihn bindendes Recht, wenn er die Verursachung technischer Risiken durch Private rechtlich zuläßt, und 143 Als weiteres Beispiel für zurechnungsbegründendes eigenes Tun käme die staatliche Förderung risikobehafteter technischer Projekte in Betracht, dazu vgl. Ernst, BauR 1978, 7. Darauf soll hier nicht näher eingegangen werden, weil die Zurechnung kraft Rechtsetzung das Spektrum der Zurechnungsmöglichkeiten privaten Verhaltens als Folge staatlichen Tuns praktisch ganz abdeckt: Es w i r d kaum Fälle geben, in denen der Staat private Aktivitäten veranlaßt oder fördert, die nach seiner Rechtsordnung illegal sind. Nur i n solchen Fällen aber muß man auf diese Zurechnungsmöglichkeiten zurückgreifen. 144 Dieser Zurechnungsmodus ist für die völkerrechtliche Staatenverantwortlichkeit allgemein anerkannt, vgl. z.B. IGH, Entsch. v. 15.12. 79,1.C.J. Reports 1979, 7 = EuGRZ 1980, 26, und Urt. v. 24. 5.80,1.C. J. Reports 1980, 3 = EuGRZ 1980, 394 - Fall des amerikanischen diplomatischen und konsularischen Personals in Teheran; Knut Ipsen, in: Menzel / Ipsen, Völkerrecht. 2. Aufl. München 1979, S. 364ff.; außerdem den Kodifikationsvorschlag der International Law Commission Art. 11, in: Yearbook of the International Law Commission (YBILC) 1975 II, 60 sowie den Kommentar dazu S. 70 ff. m.w.N. Zum Meinungsstand i n der Lehre vgl. außerdem die Nachweise in YBILC 1972 II, 123 f.
Α. Technik
71
inwieweit ist der Staat darüber hinaus verpflichtet, die Entstehung oder Realisierung technischer Risiken zu verhindern? Was die politische Verantwortung des Staates hinsichtlich technischer Risiken angeht, so gibt es dafür keine vorgegebenen Kriterien, aber rechtliche Grenzen. Auch auf diese Grenzen ist hier einzugehen, um den Raum aufzuzeigen, den die Rechtsordnung der politischen Verantwortung offen läßt. Während die Frage nach der rechtlichen Verantwortung also lautet: Ist der Staat zum Schutz vor technischen Risiken verpflichtet und wie weit reicht diese Schutzpflicht im einzelnen?, ist hinsichtlich der Reichweite der politischen Verantwortung zu fragen: Was darf der Staat - genauer: das jeweilige Staatsorgan im Rahmen seiner Kompetenz - zum Schutz vor technischen Risiken tun? Wo liegen die Grenzen des rechtlich Zulässigen? Zwischen diesen Grenzen des rechtlichen Müssens und des rechtlichen Dürfens erstreckt sich der Raum dessen, was politisch verantwortet werden muß. Die Fragestellung beschränkt sich also auf die rechtlichen Verhaltenspflichten des Staates hinsichtlich des Schutzes vor technischen Risiken einschließlich der Grenzen rechtlicher Befugnisse zum Schutz vor diesen Risiken. Die Frage des Einstehenmüssens für die Verwirklichimg technischer Risiken im Sinne von Haftung für Schäden dagegen w i r d hier ausgeklammert. 1 4 5 § 3 Technik und Technologie A. Technik
Die technisch-industrielle Zivilisation prägt wie kaum ein anderer Faktor unsere Lebenswelt. „Technik" ist einer der Zentralbegriffe zum Erfassen der Lage, in der w i r uns befinden und mi* der w i r fertig werden müssen.1 Freilich ist der Begriff der Technik so weit und konturenlos, daß man geneigt ist, dem Wort den Charakter eines Begriffs im prägnanten Sinne abzusprechen. Das liegt an der Fülle und Mannigfaltigkeit der technischen Phänomene, vom Schraubenzieher bis zum Kernkraftwerk, vom Fahrrad bis zur Weltraumrakete, die alle unter das Dach eines einheitlichen Begriffes zu bringen größte Schwierigkeiten bereitet. Dennoch weiß jeder assoziativ und jedenfalls ungefähr, was man mit „Technik" meint, wenn man von ihr spricht, und je konkreter der Sachzusammenhang, innerhalb dessen von „Technik" gesprochen wird, desto geringer die Gefahr, daß der Zuhörer 145
Haftung ist nach dem oben unter Α. IV. vorgetragenen Verständnis von Verantwortung ja eine Folge der Verantwortung und nicht mit dieser identisch. 1 Vgl. z.B. Freyer, Über das Dominantwerden technischer Kategorien in der Lebenswelt der industriellen Gesellschaft; ders., Die Technik als Lebensmacht, Denkform und Wissenschaft; Frey er / Papalekas / Weippert (Hrsg.), Technik im technischen Zeitalter; Jaspers, Vom Ursprung und Ziel der Geschichte, S. 127 ff.
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§ 3 Technik und Technologie
etwas assoziiert, das nicht gemeint war. Das zeigt sich schon, wenn man die Technik in Bereiche einteilt oder in Fächer, wie sie an den Technischen Hochschulen und Universitäten gelehrt werden, beispielsweise Berg- oder Hüttentechnik, Fördertechnik, Maschinenbau- oder Elektrotechnik, Feinwerktechnik, Regelungs- und Informationstechnik, Kunststofftechnik oder Lebensmitteltechnik, Agrartechnik oder Raumfahrttechnik. Doch begriffliche Präzision erleichtert die Verständigung, und die Bemühung um den Begriff sollte auch dann nicht vorschnell aufgegeben werden, wenn Umgangssprache und Assoziationen hinreichende Verständlichkeit zu verbürgen scheinen. Eine allgemeine juristische Definition von „Technik" ist schon deshalb nicht möglich, weil es einen allgemeinen juristischen Technik-Begriff nicht gibt. „Die Technik" als solche ist nicht Gegenstand rechtlicher Regelungen. In Gesetzen und Verordnungen, i m „technischen Recht", w i r d der Begriff der Technik immer in konkreten Sachzusammenhängen verwendet, und nur auf die Bedeutimg des Begriffs i m jeweiligen Sachzusammenhang kommt es an. Diese Bedeutung ist aber jeweils viel leichter zu bestimmen als „Technik als solche" oder „ i m allgemeinen", zumal der Jurist hinsichtlich der juristischen Bedeutimg von Technik als Rechtsbegriff nicht die terminologischen Probleme der Techniker und Technikphilosophen lösen muß, sondern sich der juristischen Auslegungsmethoden bedienen kann. Wenn also juristische Technik-Begriffe konkrete Begriffe sind, dann muß die Begriffsbestimmung i m je konkreten Zusammenhang erfolgen; der Versuch einer abstrakten juristischen Definition mit dem Anspruch, für alle Fälle der juristischen Verwendung dieses Wortes gültig zu sein, wäre nutzlos. Dies gilt selbst für so allgemeine Formeln wie „Stand der Technik": Wo das Gesetz dem „Stand der Technik" entsprechende Maßnahmen fordert, ist ja nie „die Technik" als solche gemeint, sondern immer eine konkrete Technik, zum Beispiel die Technik der Emissionsbegrenzung (§ 5 Nr. 2 BImSchG) oder die Sicherheitstechnik (§ 3 IV StörfallV), die als Technik „zur Verhinderung von Störfällen oder zur Begrenzung ihrer Auswirkungen" definiert w i r d (§ 2 I I I StörfallV). In beiden Fällen werden die Maßnahmen nach dem Stand der Technik im Hinblick auf technische „Anlagen" verlangt, welche ihrer Art nach wiederum näher konkretisiert sind. 2 Weiter wird das Verständnis des Begriffs durch gesetzliche Definitionen erleichtert, wie in § 3 V I BImSchG mit der Definition des „Standes der Technik" oder § 2 I I I StörfallV mit der Definition des Standes der Sicherheitstechnik. Aus beiden Vorschriften erfahren wir, daß der Begriff der Technik „Verfahren, Einrichtungen und Betriebsweisen" umfaßt. Das sollte man, bei allen Vorbehalten gegen Ver-
2 Vgl. §§5, 4 BImSchG i.V.m. VO über genehmigungsbedürftige Anlagen - 4. BImSchV bzw. § 1 StörfallV i.V.m. § 4 BImSchG, 4. BImSchV und Ani. I und I I zur StörfallV.
Α. Technik
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allgemeinerungen, auch für das Verständnis der Verwendung des TechnikBegriffs in anderen Zusammenhängen im Gedächtnis behalten. Kann also der juristische Technik-Begriff immer nur als konkreter Begriff in konkreten rechtlichen Zusammenhängen bestimmt werden, bleibt zu prüfen, ob nicht die Beschäftigung mit der Materie des „Rechts der Technik", mit „technischen Risiken" und „technischer Sicherheit" wenigstens eine vorjuristische - technische, philosophische oder soziologische Begriffsbestimmung voraussetzt. Kann man sich mit Aussicht auf aussagekräftige Ergebnisse diesem Gebiet zuwenden, ohne vom sicheren Boden einer allgemeinen Definition des Technik-Begriffs auszugehen?3 Gäbe es einen allgemein anerkannten allgemeinen Technik-Begriff, dann bräuchte man diese Frage nicht zu problematisieren. Doch den gibt es nicht. Stattdessen konkurrieren vielfältige Definitionen von Technik um den Beifall der Fachleute, und in der technik-philosophischen Literatur w i r d die Auffassung vertreten, daß man auf einen allgemeinen Begriff von Technik ganz verzichten solle.4 Da fragt sich, ob der Jurist das versuchen sollte, was den Technikern selbst nicht gelingt, und was diejenigen, die berufsmäßig über Technik nachdenken, die Technik-Philosophen, für unmöglich halten, nämlich einen allgemeinen Begriff von Technik zu formulieren. Solange „Technik" nur das Thema bezeichnet, über das hier juristisch zu reden ist, scheint eine randscharfe Begriffsbestimmung nicht erforderlich; diese ist erst dort nötig, wo Rechtssätze im Hinblick auf technische Problemstellungen ausgelegt, technisches Recht interpretiert und rechtliche Lösungsvorschläge entwickelt werden - also in den je konkreten Zusammenhängen, in denen es wenn überhaupt - nur auf konkrete Begriffe von Technik ankommt. Zur Eingrenzung des Themas reicht es aus, wenn der Leser versteht, wovon die Rede ist, wenn von „technischen Risiken" geredet wird. Dazu mag - neben dem schon gegebenen Hinweis auf die üblichen Assoziationen des allgemeinen Sprachgebrauchs - ein knapper Überblick über einige der im Fachschrifttum vertretenen Definitions- und Erklärungsversuche genügen.5 „Technik" wird z.B. definiert als „angewandte Naturwissenschaft" 6 eine Definition, die zu kurz greift, weil auch die moderne Technik, die hier 3 Marburg er hat für sein Thema „Die Regeln der Technik im Recht" diese Frage verneint, S. 7. 4 Vgl. Hübner, in: Lenk / Moser, S. 133; Lenk, ebd., S. 205, 210. 5 „Technik" hat eine doppelte Bedeutung: Neben den Verfahren, Einrichtungen und Systemen, mit denen der Mensch in die Natur eingreift („objektiver TechnikBegriff"), bezeichnet „Technik" auch eine subjektive Fertigkeit im Hinblick auf eine bestimmte Tätigkeit („subjektiver Technik-Begriff"), also die Kunstfertigkeit i.S. des griechischen „techne". So redet man von der Technik des Fußballspielers, Malers oder Pianisten. Daß dieser „subjektive Technikbegriff" hier nicht gemeint ist, liegt auf der Hand. Zur Unterscheidung von „objektivem" und „subjektivem" Technikbegriff vgl. Marburger, S. 7f. Zum Begriff der techne vgl. Moser, in: Lenk / Moser, S. 44ff.; Schadewaldt, Natur-Technik-Kunst, S. 49 ff.
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§3 Technik und Technologie
nur gemeint sein kann, nicht nur wissenschaftliche Erkenntnisse anwendet, sondern vielfach mit praktischen Konstruktionen der wissenschaftlichen Erklärung der zugrundeliegenden naturgesetzlichen Zusammenhänge vorausgeht.7 Zutreffend aber stellt das Kriterium „angewandt" darauf ab, „daß es bei der Technik nicht um zweckfreie, reine Erkenntnis, sondern um finale Gestaltung, Hervorbringung, Erzeugung, Veränderimg im Bereich des realen Seins geht". 8 „Technik" läßt sich allgemein definieren als „jenes Handeln ..., durch das der Mensch naturgegebene Stoffe und Energien intelligent so umformt, daß sie seinem Bedarf und Gebrauch dienen (technisches Tun); dieses Handeln führt zu einer ständig wachsenden Summe von Dingen und Verfahren (technische Gegenstände)".9 Eine andere Definition lautet: Technik ist „die Gesamtheit der Verfahren, Einrichtungen und Systeme, mit denen der Mensch schöpferisch und reproduzierend, aufbauend und sanierend, aber auch zerstörend in die Natur eingreift und seine Umwelt gestaltet". 10 „Techn i k " bezeichnet die Sphäre des intentionellen 11 menschlichen Herstellens, des Machens, durch das der Mensch die vorgefundene Natur umgestaltet. Das läßt sich sicherlich so allgemein sagen und trifft die Technik der Steinzeit ebenso wie die des Atomzeitalters. Technik setzt Bewußtsein voraus, instrumentales Denken. Konstruktive Idee 12 und Konstruktion, Schaffung und Anwendung von Instrumenten gehören unabdingbar zur Technik, wenn sie auch nicht jede technische Handlung kennzeichnen; aber kein technisches Produkt ohne Herstellung, Konstruktion, konstruktive Idee. Technik ist nicht nur Konstruktion, aber wo sie es nicht ist, setzt sie Konstruktion voraus. Technik ist bewußtes menschliches Gestalten, ist gezieltes Umgestalten der Natur. Mit „Kunst" hat „Technik" die Künstlichkeit gemein; damit ist sie - als „Kultur"-Phänomen - einer der großen Gegenbegriffe zu „Natur". Von der Kunst unterscheidet sie sich insbesondere durch ihre Zweckhaftigkeit, ihre Funktionalität. 1 3 Die Gegenüberstellung von „ K u l t u r " und „Natur" hat ihre begrenzte Berechtigung: Sie hebt die Besonderheit menschlichen Gestaltens ins Bewußtsein. Das intentional geformte Sein, gesteuert vom menschlichen Geist, ist immer der Frage nach dem Warum und Wozu ausgesetzt. Im 6 z.B. von M. Bunge, Technology as Applied Science, in: Technology and Culture, 1966, S. 329ff.; vgl. auch Duden, Das große Wörterbuch der deutschen Sprache, Bd. 6, Mannheim u.a. 1981, S. 2572. 7 Hübner, in: Lenk / Moser, S. 134f.; Marburger, S. 12 m.w.N. 8 Marburg er, S. 12. 9 Stork, Einführung in die Philosophie der Technik, S. 1. 10 Marburger, S. 8. 11 Vgl. Hübner, Von der Intentionalität der modernen Technik. 12 Vgl. Brockhaus Enzyklopädie, 18. Bd. Wiesbaden 1973, S. 517. 13 Zum Verhältnis von Technik und Kunst vgl. Müller, Dt. Ztschr. f. Philosophie 15 (1967), 1442; Schadewaldt, Natur-Technik-Kunst; Marburger, S. 17f.
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Unterschied zur Natur ist es der Rechtfertigung fähig und der Rechtfertigung bedürftig. Damit ist freilich nicht geleugnet, daß der Mensch von Natur aus ein Kulturwesen 14 ist, daß also das gezielte Umgestalten der Natur zu „seiner Natur" gehört. Das gilt auch für die Technik. Die Anthropologen, die die Geschichte des Menschen mit der Geschichte der Technik beginnen lassen, die als Kriterium der Menschwerdung den Gebrauch des Werkzeugs ansetzen 15 , dürften im Recht sein: Technik, in dem allgemeinen oben definierten Sinne, ist ein Urhumanum; der Mensch ist „homo faber", „homo technicus" 16 . Eine so allgemeine Fassung des Technik-Begriffs sieht sich freilich dem Einwand ausgesetzt, ein solcher Begriff sei unhistorisch. 17 Dies trifft zu. Als Vorwurf kann sich der Einwand aber nur gegen diejenigen richten, die mit der unhistorischen Fassung von „Technik im allgemeinen" ausschließen, daß es auch konkrete und insoweit historisch kontingente Technik gibt. 1 8 Unbestreitbar hat die Technik des Atomzeitalters mit der Technik der Bronzezeit nicht viel zu tun, und es könnte nicht weit führen, Funktion und Bedeutung der heutigen Technik von einem beide Zeitalter übergreifenden Technik-Begriff zu deuten. 19 Ein Technik-Begriff, der die Weltraumrakete oder den Mikroprozessor ebenso umfaßt wie das Steinbeil, kann als inhaltsarm und wenig aussagekräftig kritisiert werden; er ist aber deswegen nicht falsch. Er mag leistungsschwach sein, aber leistet auch etwas, was ein historisch spezifizierter Technik-Begriff nicht leisten könnte. Die K r i t i k sollte sich also nicht gegen den Begriff richten, sondern gegen seine Überforderung. Von „Technik im allgemeinen", von „der Technik" läßt sich mit derselben - begrenzten - Berechtigung sprechen wie beispielsweise von „dem Menschen". Deshalb ist es unzweckmäßig, in den Begriff der Technik Bestandteile der historischen Jeweiligkeit ihrer Ausformungen hineinzupacken, wie das gelegentlich vorgeschlagen wird. 2 0 Was die Technik als konkrete, also lokal und temporal verortete Technik kennzeichnet, sollte auch begrifflich durch entsprechende Zusatzbezeichnungen deutlich gemacht 14 Gehlen, Über Kultur, Natur und Natürlichkeit, in: ders., Anthropologische Forschung, S. 78. 15 Vgl. Gehlen, Die Technik i.d. Sichtweise der Anthropologie, in: ders., Anthropologische Forschung, S. 93 ff. 16 Vgl. Dessauer, Streit um die Technik, S. 140ff.; Sachsse, Technik und Verantwortung, S. 51, 57; weitere Nachweise bei Hübner, in: Lenk / Moser, S. 146. 17 Vgl. Hübner, in: Lenk / Moser, S. 145 ff. 18 Wenn Hübner, in: Lenk / Moser, S. 145, sagt, „die Technik" sei ein historisch kontingentes Phänomen, verfällt er in den Fehler derjenigen, die er angreift, indem er unzulässig verallgemeinert: Nicht „die Technik" ist kontingent, sondern die jeweils historisch konkrete Technik. 19 Vgl. Marburger, S. 14f. m.w.N. 20 So z.B. Marburger, S. 23, der mit seiner Technik-Definition die heutige Technik erfassen will, wenn er in ihr z.B. die Merkmale „Exaktheit", „Rationalität", „Planmäßigkeit", auf „permanenten Fortschritt" gerichtete Intentionalität zuordnet.
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§ 3 Technik und Technologie
werden. Was „moderne Technik" oder „mittelalterliche Technik" „industrielle" oder „vorindustrielle Technik" ist, was die „Technik der Steinzeit" auszeichnet oder die „Technik des technischen Zeitalters", dies alles läßt sich sehr viel präziser fassen als ein übergreifender Allgemeinbegriff von Technik. Aus der unterschiedlichen Funktion von „Technik" als Allgemeinbegriff einerseits und historisch-konkreten Technikbegriffen andererseits ergäbe sich, was zur K r i t i k an gängigen Technikdefinitionen zu sagen wäre. Diese K r i t i k soll hier nicht entfaltet werden. Zu fordern ist jedenfalls, daß ein historisch-konkreter Technik-Begriff nicht Anspruch auf allgemeine Geltung erhebt. Dann läßt sich auch die Mißdeutung anthropologischer Aussagen über die Technik vermeiden, etwa der Kurzschluß, wenn der Mensch ein „homo technicus" sei, dann sei auch die heutige Technik in ihrer wissenschaftlich-rationalen, auf Fortschritt gerichteten Prägung und in ihrer industriellen Organisation dem Menschen „angeboren" und historisch nicht verfügbar. 21 Um es noch einmal zu betonen: Mit der Verwendung eines allgemeinen Begriffs der Technik wird hier weder die Geschichtlichkeit von Technik geleugnet 22 noch die Behauptung aufgestellt, daß die Definition dieses Allgemeinbegriffes die Spezifika der heutigen Technik erfaßt oder gar, daß etwa mittelalterliche und neuzeitliche Technik keine wesentlichen Unterschiede aufwiesen. Marburger hat versucht, den allgemeinen Begriff von Technik präziser zu fassen. Nach seiner Definition ist Technik „das Hervorbringen und Verwenden von Sachen, Verfahren und Informationen zur Umwandlung, Speicherung oder zum Transport von Materie, Energie und Informationen". 23 Das Beispiel zeigt, wie schwierig es ist, „Technik" allgemein und umfassend zu definieren, ohne dem Begriff zugleich jede Kontur zu nehmen. Die „Speicherungsfunktion" beispielsweise muß schon sehr weit interpretiert werden, wenn man alle technischen Phänomene unter diese Definition bringen w i l l . 2 4 Auch die neueren Bemühungen, den Begriff der Technik „systemfunktional" zu formulieren, helfen über solche Schwierigkeiten kaum hinweg. Immerhin kann aber der Systembegriff, wie er in der Kybernetik ver21 Derartige Mißverständnisse liegen zum Teil der im übrigen zutreffenden K r i t i k an anthropologischer Überinterpretation der Technik zugrunde bei Lenk, in: Lenk / Moser, S. 213, oder Marburg er, S. 15. 22 Daß die Technik nicht unveränderlich ist, sondern auch in ihrer Struktur historischen Wandlungen unterliegt, erscheint uns heute als so selbstverständlich, daß es befremdend anmutet, wenn die Erkenntnis der Geschichtlichkeit der Technik immer noch als neuartige Entdeckung gefeiert wird, vgl. Lenk, in: Lenk / Moser, S. 213. 23 S. 18. 24 Die Funktion der „Speicherung von Materie" haben nach Ansicht Marburg er s z.B. auch Wohnhäuser, der „Speicherung von Energie" auch Deiche, S. 18. Dagegen nennt Hübner, in: Lenk / Moser, S. 136f., als Zwecke technischer Produkte neben der Nutzung von Energie und der Gewinnung von Informationen die „Erhaltung von Zuständen" ; als Beispiele hierfür gibt er Bunker oder Deiche an.
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wendet wird 2 5 , das Verständnis gerade der modernen Technik erleichtern. Jeder technische Prozeß und jedes technische Produkt läßt sich nämlich als „Übertragungssystem" beschreiben, in dem „Eingangsgrößen (Inputs) der Kategorien Materie, Energie und Information in Abhängigkeit von Raum und Zeit in Zustände oder Ausgangsgrößen (Outputs) der Kategorien Materie, Energie und Information transformiert" werden. 26 So kommt Marburger, ausgehend von den „sinnlich wahrnehmbaren Manifestationen" der Technik und deren Funktionen zu folgender Definition: Technik ist „die Erzeugung (Produktion) und Verwendung (Konsumtion) materieller, energetischer und informationeller Umwandlungs-, Speicherungs- oder Transportsysteme". 27 Die Problematik dieser und weiterer Definitionen von Technik soll hier nicht erörtert werden. 28 Es dürfte klar geworden sein, daß der Begriff der Technik nicht nur Konstruktion und Produktion umfaßt, sondern auch die technischen Produkte und ihre Verwendung. 29 Von diesem umfassenden allgemeinen Technik-Begriff soll hier ausgegangen werden. Dieser Begriff ist freilich viel zu weit, um den Gegenstand der vorliegenden Untersuchimg genau zu bestimmen. Hier soll es ja um Risiken gehen, die neuartige Anforderungen an die Rechtsordnung stellen, also um Risiken der modernen Technik. 30 Dennoch wäre es unzweckmäßig, das Thema von einem historisch-unspezifischen Begriff der „modernen Technik" her einzugrenzen, charakterisiert etwa durch ihre Rationalität, ihre Exaktheit, ihre 25
Dazu vgl. Ropohl, in: Lenk / Moser, S. 158f.; Marburger, S. 20f. Marburger, S. 20f., im Anschluß an Ropohl, in: Lenk / Moser, S. 160; ders., Einleitung in die Systemtechnik, in: ders. (Hrsg.), Systemtechnik - Grundlagen und Anwendung, München, Wien 1975, S. 25ff., 40; Hübner, Intentionalität, S. 33f.; ders., in: Lenk / Moser, S. 136f. - Marburger, S. 20f., definiert „System" (mit Hinweis auf Ropohl, in: Lenk/Moser, S. 158; ders., Einleitung, S. 25 ff.) als „die strukturierte Ganzheit miteinander verknüpfter Teile, die von ihrer Umgebung in bestimmter Weise abgegrenzt ist und Beziehungen zwischen bestimmten Attributen aufweist" 27 S. 21, auch S. 22. 28 Als Einstieg in die Probleme des Technik-Begriffs sind die Ausführungen Marburgers, Die Regeln der Technik im Recht, S. 7 ff. zu empfehlen. Dort finden sich auch die nötigen Nachweise für eine vertiefende Beschäftigung mit diesem Thema. 29 Die Streitfrage, ob die konsumtive Verwendung technischer Produkte, insbesondere der unmittelbare individuelle Konsum, noch in den Bereich der Technik gehört - v g l . Marburger, S. 18, und Müller, Dt. Ztschr. f. Philosophie 15 (1967), 1441 f. - kann hier offenbleiben: Hier geht es um technische Risiken, also auch um die Risiken technischer Produkte, und die können auch beim Konsum dieser Produkte auftreten. 30 Die Neuartigkeit der modernen Technik und den Beschleunigungscharakter ihrer Entwicklung hat Arnold Buchholz, Die große Transformation, Stuttgart 1968, in folgendem Bild ausgedrückt: „Wenn man sich die Menschheitsgeschichte seit der »Erfindung 4 der ersten Steinwerkzeuge, welche vor einer Zeit von 500 000 Jahren gelegen haben mag, auf einen Tag ,verkürzt' denkt, so liegt die Erfindung der ersten Eisenaxt ungefähr in den letzten zehn Minuten, die Erfindung der Dampfmaschine in der letzten halben Minute, und danach setzt eine so stürmische Entwicklung von technischen Produkten in der Welt ein, daß die Erde innerhalb der letzten Sekunden blitzartig umgewühlt wird und ihr Antlitz verändert." 26
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§ 3 Technik und Technologie
Fortschrittsgerichtetheit, die Planmäßigkeit ihres Vollzugs, ihre Verschmelzung mit den Naturwissenschaften, das gesteigerte Tempo der durch sie bewirkten Weltveränderung. Derartige Merkmale 31 bestimmen zu Recht die Perspektive der philosophischen, soziologischen oder historischen TechnikDiskussion. Zur juristischen Beurteilung steht dagegen nie der technische Progreß-Prozeß im ganzen, sondern immer nur Ausschnitte daraus, meist technische Einzelphänomene, und zwar unabhängig davon, ob auch in ihnen die Merkmale des Gesamtprozesses erkennbar sind. 32 Die hier juristisch zu erörternde Sache ist nicht „die Technik", sondern die „Risiken der Technik", und so liegt es nahe, eine Eingrenzung des Themas nicht unter dem Aspekt der „Struktur der modernen Technik" vorzunehmen, sondern unter dem Gesichtspunkt, welcher Art die technischen Risiken sind, die heute besondere rechtliche Probleme aufwerfen. Schon mit dieser Fragestellung ist eine wesentliche Eingrenzung vorgenommen: Solange der Mensch sich der Technik nur als eines Hilfsmittels, „Organersatzes" oder zur „Organüberbietung" 33 in einer insofern unproblematischen Weise bediente, als er die Wirkungen seiner technischen Hilfsmittel im wesentlichen kannte und beherrschte, solange konnte die Rechtsordnimg sich im wesentlichen damit begnügen, zielorientierte Normen für menschliches Verhalten aufzustellen von der Struktur des „neminem laedere". In dem Maße aber, in dem die Überschaubarkeit der Wirkungen der Technik und damit die Fähigkeit des einzelnen Menschen abnimmt, im Umgang mit der Technik das jeweils Richtige zu tun, um die Herbeiführung von Schäden zu vermeiden, wird es erforderlich sein, durch Rechtsnormen inhaltlich vorzuschreiben, welches Verhalten hier als richtig gilt. Daß die Entwicklung der Technik mit zunehmender Beschleunigung in diese Richtung geht, liegt auf der Hand, und ebenso unbestritten folgen aus dieser Entwicklung immer neue, früher unbekannte Risiken. Ihre Ursachen können hier nicht umfassend beschrieben, sondern vorerst nur andeutungsweise skizziert werden: 1. Mit der Geschwindigkeit der technischen Entwicklung 3 4 kann der Gewinn an Erfahrung über uner31 Dazu vgl. Hübner, in: Lenk/Moser, S. 133 ff.; daran anknüpfend Marburger, S. 22 f. 32 Ein Werkstück ist auch heute noch selbst dann ein technisches Produkt, wenn es nicht „exakt" gearbeitet ist oder hinter dem „Fortschritt" zurückbleibt. Es muß sich, gerade weil es technisches Produkt ist, an modernen technischen Standards messen lassen, gegebenenfalls an solchen, die an den fortschrittlichsten Entwicklungsstand anknüpfen. Wenn Marburger, S. 23, Kriterien „moderner" Technik, wie Planmäßigkeit des auf permanenten Fortschritt gerichteten Prozesses - die Planmäßigkeit des Gesamtprozesses übrigens ein sehr fragwürdiges Kriterium - , Rationalität und Exaktheit in seine Definition der Technik aufnimmt, dann bleibt die Relevanz dieser Kriterien für eine juristische Erörterung von Problemen der Technik im Dunkeln. Mit dieser Feststellung wird nicht geleugnet, daß einzelne dieser Kriterien in bezug auf konkrete rechtliche Probleme eine Rolle spielen können. 33 Vgl. Gehlen, Anthropologische Forschung, S. 93 ff.; ders., Die Seele im technischen Zeitalter, Hamburg 1957, S. 8ff. m.w.N. 34 s.o. § 1 Fn. 4.
Β. Technologie
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wünschte Neben- und Folgewirkungen neuer technischer Verfahren und Produkte nicht Schritt halten. 35 2. Technische Anlagen und Produkte werden komplizierter; die Zahl gleichartiger und die Zahl verschiedenartiger technischer Produkte wächst rasant 36 . Wenn es auch mitunter Fortschritt zur Vereinfachung geben mag, läuft die Gesamttendenz auf eine Zunahme der Komplexität sowohl der einzelnen technischen Anlagen, Verfahren, Produkte, als auch und erst recht ihrer Folgewirkungen hinaus. Dasselbe gilt für die Interdependenz technischer Systeme und schließlich der technischen Lebenswelt im ganzen. Auch auf diese Weise nimmt die Beherrschbarkeit der Wirkungen technischer Gegenstände ab. 3. Die Gefährlichkeit und Schadensträchtigkeit steigt. 37 Die Technik potenziert nicht nur die Fähigkeit des Menschen, Nutzen zu erzeugen, sondern auch seine Fähigkeit, Unheil zu stiften; sie steigert seine Vernichtungskraft ins Unermeßliche. 4. Die moderne Technik verlängert die Veränderungs- und Gefährdungskapazität des Menschen in einer früher nicht gekannten Weise in die Zukunft hinein. - Mit diesen Stichworten ist die Besonderheit der Risiken moderner Technik weder umfassend beschrieben noch analysiert. Zur Abgrenzimg des Themas müssen diese Hinweise aber ausreichen, denn über die rechtliche Relevanz technischer Entwicklungen läßt sich immer nur im Hinblick auf konkrete rechtliche und tatsächliche Probleme reden. Im übrigen ist eine randscharfe Abgrenzung des Sachbereichs, der hier unter dem Stichwort „Risiken der Technik" erfaßt werden soll, weder möglich noch notwendig: Das Grundgesetz kennt kein Sonderrecht der Technik oder des technischen Risikos. Es kann nur umgekehrt sein, daß unter dem Aspekt einer allgemeinen verfassungsrechtlichen Regelung besondere Probleme der Technik den Gesetzgeber zu besonderen rechtlichen Regelungen zwingen. Vom Verfassungsrecht her ist also eine scharfe thematische Eingrenzung nicht geboten, und was das technische Sicherheitsrecht auf einfachgesetzlicher Ebene angeht, so sind es die Gesetze selbst, die ihren Gegenstand bestimmen; das kann hier nicht in allgemeiner Form vorweggenommen werden. B. Technologie
Von „Technologie" spricht man in verschiedenen Bedeutungen. Zunächst ist „Technologie" die Wissenschaft von der Technik im ganzen, die sowohl 35
Hübner, in: Lenk / Moser, S. 149f., führt die zunehmende Unberechenbarkeit der technischen Entwicklung auf die Inhalten gegenüber gleichgültige technische Rationalität zurück, die notwendigerweise die „Leidenschaft zum Wandel" sei, „zur permanenten technischen Revolution, zum Ausprobieren von Möglichkeiten und damit zur ständigen Aufhebung jener Bezugsysteme, auf die sich alle Erwartung und alle Berechnung in der Selbstbewältigung der Technik beziehen könnten". 36 Vgl. z.B. Lukes, NJW 1978, 242. 37 Lukes, NJW 1978, 242, bezeichnet das als „evident".
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§4 Risiko
die allgemeinen Prinzipien der Technik zu erfassen sucht als auch die gesellschaftlichen Zusammenhänge, in denen die Technik steht, insbesondere die Wechselwirkungen zwischen Technik und Wirtschaft, Sozialordnung und Politik. In diesem Sinne steht „Technologie" für „allgemeine Technikwissenschaft". 38 In den Ingenieurwissenschaften spricht man von „Technologie" im Sinne von „Verfahrenskunde" oder „Verfahrenstechnik". 39 Heute w i r d „Technologie" auch häufig als Synonym für „Technik" verwendet. Dabei liegt der Akzent gelegentlich auf den technischen Kenntnissen und Fähigkeiten, gelegentlich auf den Objektivationen technischen Handelns, den technischen Einrichtungen, Produkten oder Verfahren. In diesem Sinne spricht man z.B. von „Brüter-Technologie" oder von „Technologiefolgenabschätzung". Dieser Sprachgebrauch w i r d hier übernommen. Dabei erscheint es als zweckmäßig, den Begriff der Technik allenfalls dann durch den der Technologie zu ersetzen, wenn man nicht über konkrete technische Objekte, sondern abstrakt über eine bestimmte Gattung technischer Objekte spricht. §4 Risiko „Risiko" ist i m Unterschied zu „Gefahr" kein Rechtsbegriff. Die Gesetzessprache verwendet den Risikobegriff nicht. 1 Deshalb wird gelegentlich vorgeschlagen, bei der juristischen Problemerörterung auf den Begriff des Risikos ganz zu verzichten; der Gefahrenbegriff sei rechtlich allein maßgeblich und zur Bewältigung auch der Probleme des Rechts der technischen Sicherheit ausreichend. 2 Jedoch erscheint der Begriff des Risikos zur Erfassimg technischer Sachverhalte, auf die dann Rechtsnormen und Rechtsbegriffe erst anzuwenden sind, als unerläßlich. Eine völlig andere Frage ist es, ob das geltende Recht neben der Gefahrenabwehr auch Risikovorsorge in dem Sinne gebietet, daß auch gegen solche Risiken, die nicht zugleich 38
Vgl. Christian Wolff j Philosophia rationalis sive Logica. Frankfurt/O., Leipzig 1728, § 71, S. 33 (zit. nach Ropohl, in: Lenk / Moser, S. 152), definiert „Technologie" als „Wissenschaft von den Künsten und deren Erzeugnissen", „Wissenschaft von dem, was die Menschen mit Hilfe ihrer Körperorgane, vor allem der Hände, hervorbringen". Der Göttinger Ökonom Johann Beckmann, Anleitung zur Technologie. 2. Aufl. Göttingen 1780, und ders., Entwurf der allgemeinen Technologie. Göttingen 1806, bezog insbesondere die ökonomische, soziale und politische Dimension in sein Technologieverständnis ein. Dazu Ropohl, in Lenk / Moser, S. 152 f. Das Programm einer Technologie als allgemeiner Technikwissenschaft wird neuerdings wieder stärker verfolgt, nachdem es lange von den spezialisierten Ingenieurwissenschaften verdrängt war, z.B. von A. Timm, Kleine Geschichte der Technologie. Stuttgart 1964, S. 62f., oder von Ropohl, Prolegomena zu einem neuen Entwurf der allgemeinen Technologie, in: Lenk / Moser, S. 152 ff. 39 Brockhaus Enzyklopädie, Stichwort „Technologie". 1 Vgl. Marburger, WiVerw. 1981, 249; ders., in: Bitburger Gespräche, Jb. 1981, S. 40. 2 Vgl. Ossenbühl, in: Blümel / Wagner (Hrsg.): Technische Risiken und Recht, S. 46.
Α. Der Begriff des Risikos
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Gefahren im Rechtssinne sind, Sicherheitsvorkehrungen rechtlich geboten sind. Diese umstrittene Frage läßt sich nicht generell beantworten, sondern nur im Hinblick auf die unterschiedlichen Sicherheitsstandards des technischen Sicherheitsrechts. 3 Hier ist zunächst zu klären, was unter „Risiko" im Unterschied zur „Gefahr" verstanden werden soll. A. Der Begriff des Risikos
In der Umgangssprache und auch im wirtschaftlichen Leben spricht man von „Risiko" oft im selben Sinne wie von „Gefahr". Da im öffentlichen Recht „Gefahr" ein normativer Begriff ist, der nur bestimmte Risiken umfaßt, die rechtlich mißbilligt werden, muß hier vom normativen Gefahrenbegriff das Risiko als deskriptiver Begriff unterschieden werden. Ein Risiko ist - allgemein gesagt - die Möglichkeit des Eintritts eines Nachteils, bezogen auf ein bestimmtes Geschehen4 oder, um den Risikobegriff in Anlehnung an die üblichen Gefahrendefinitionen zu formulieren: Das Risiko ist eine Lage, in der bei ungehindertem Ablauf des Geschehens ein Zustand oder ein Verhalten möglicherweise eine unerwünschte Folge haben wird. Wer ein Risiko eingeht, muß also damit rechnen, daß er Verlust, Schaden oder sonst eine Beeinträchtigung erleidet. Mit „technischem Risiko" bezeichnet man den möglichen, aber ungewissen Eintritt von unerwünschten Wirkungen infolge der Herstellung oder Verwendung technischer Systeme.5 Der Begriff des Risikos bezieht sich also - wie der Begriff der Gefahr nicht auf einen statischen Sachverhalt, sondern auf ein Geschehen; er ist ereignis- und zukunftsgerichtet. Im Augenblick besteht kein Nachteil, kein Schaden. Aber der augenblickliche Zustand verändert sich, und man kann nicht genau übersehen, in welcher Weise er sich verändert. I m Zuge dieser unüberschaubaren Entwicklung kann es zu einem Nachteil, einem Schaden kommen. W i l l man den Begriff des Risikos negativ umschreiben, so kann man sagen, daß ein Risiko dort nicht besteht, wo ein Zustand absolut statisch ist, wo keine Änderung zu erwarten ist oder eine mögliche Änderung jedenfalls nicht zu einem Nachteil führen kann. Wo alles bleibt, wie es ist, kann auch nichts „passieren". Wer nicht setzt, riskiert nichts. Aber viele an sich statische Zustände können sich durch Einwirkungen von außen verändern, so daß ein an sich risikofreier Zustand in Verbindimg mit einem dynamischen Geschehen riskant werden kann. Auf menschliches Verhalten bezogen: 3
s.u. zum immissionsschutzrechtlichen Sicherheitsstandard § 20 C. Vgl. Birkhofer, Bitburger Gespräche, Jb. 1981, S. 64. 5 Vgl. Marburger, in: Blümel / Wagner (Hrsg.), Technische Risiken und Recht, S. 27; ders., WiVerw. 1981, 249. 4
6 Murswiek
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§4 Risiko
Auch Untätigkeit kann riskant sein. Die Dynamik des Geschehens, die Risiken mit sich bringt, entwickeln andere. Nichts bleibt, wie es ist, und absolut statische - also risikofreie - Zustände gibt es allenfalls in der Theorie. Nach der anderen Seite hin läßt sich der Begriff des Risikos eingrenzen, indem wir auf die Kontrollierbarkeit des Geschehens abstellen. Ein sich in Entwicklung befindlicher, dynamischer „Zustand", ein Geschehen, ist dann nicht riskant, wenn man alle Elemente des Geschehensablaufs kennt, wenn man also mit Sicherheit weiß, wohin sich der Geschehensablauf entwickelt. Wo jede Ungewißheit ausscheidet, spricht man nicht mehr von „Risiko", auch dann nicht, wenn der Geschehensablauf zu einem Schaden führen wird. Risiko ist demnach alles, was zwischen diesen Extremen liegt, zwischen absoluter Statik einerseits und absoluter Gewißheit über einen Geschehensablauf andererseits. Ein Risiko läßt sich also jedem Geschehen zurechnen, dessen Auswirkungen w i r nicht genau übersehen. Risiko ist aber nicht etwa ein Attribut des tatsächlichen Geschehens, sondern ein Attribut unserer Erkenntnis. Mit dem Begriff des Risikos w i r d die Ungewißheit ausgedrückt, die w i r über den Ablauf des Geschehens haben, und zwar unabhängig davon, worauf diese Ungewißheit beruht - auf mangelnder Erkennbarkeit oder etwa auf nicht wahrgenommener Erkenntnismöglichkeit. Da es nun absolute Gewißheit über die Wirklichkeit schon aus erkenntnistheoretischen Gründen niemals gibt - unser begrenztes Erkenntnisvermögen läßt hier immer Ungewißheiten offen - , gibt es, streng genommen, auch keinen risikofreien Zustand. Angenommen, es gäbe beispielsweise Salzstöcke, die für den zur Endlagerung von Atommüll erforderlichen Zeitraum tatsächlich absolut statisch wären, so daß also Veränderungen im Salzstock die Sicherheit des Endlagers nicht gefährden könnten, so wüßten w i r doch dies niemals mit absoluter Gewißheit; für uns bliebe selbst hier noch ein - je nach dem Grad unserer Gewißheit mehr oder weniger großes - Risiko bestehen. Trotz der Beschränktheit unseres Erkenntnisvermögens können w i r freilich in vielen Fällen ein so hohes Maß an Gewißheit erlangen, daß w i r auf diese Gewißheit bauen können, ohne noch ein Risiko einkalkulieren zu müssen. Soviel zum Bedeutungsfeld des Risikobegriffs. Zurück zum Begriff selbst: „Risiko" wird häufig definiert als „das Produkt aus Schadensausmaß und Eintrittswahrscheinlichkeit". 6 Ein solcher quantitativer Risikobegriff wird üblicherweise im technischen und sicherheitswissenschaftlichen Schrifttum 6 Vgl. z.B. Storm , ZfU 1980, 907; Birkhofer, in: Bitburger Gespräche, Jb. 1981, S. 64. - Zum Risikobegriff in der Technik vgl. im übrigen Deutsche Risikostudie Kernkraftwerke, S. 9ff.; Birkhofer, in: Bitburger Gespräche, Jb. 1981, S. 64f.; Kuhlmann, ZfU 1980, 664 ff. - Auch andere quantitative Definitionen sind in der Sicherheitswissenschaft üblich, vgl. z.B. Kuhlmann, Einführung, S. 11.
Β. Risiko und Gefahr
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verwendet. 7 A l s zweckmäßiger erscheint es m i r , m i t „ R i s i k o " den m ö g l i c h e n E i n t r i t t eines Schadens 8 z u bezeichnen, w ä h r e n d das P r o d u k t aus p o t e n t i e l l e m Schadensausmaß u n d E i n t r i t t s w a h r s c h e i n l i c h k e i t
das Ausmaß, die
Größe des Risikos a n g i b t . 9 B. Risiko und Gefahr Jede Gefahr i m Sinne des Rechts der technischen S i c h e r h e i t 1 0 sowie i m Sinne des Gefahrenabwehrrechts allgemein ist zugleich e i n Risiko, aber n i c h t jedes Risiko ist eine Gefahr. D e r d e s k r i p t i v e B e g r i f f des Risikos w i r d i m B e g r i f f der Gefahr n o r m a t i v angereichert. N u r b e s t i m m t e Risiken, die den n o r m a t i v e n Tatbestandselementen des Gefahrenbegriffs
entsprechen,
s i n d Gefahren. D i e D e f i n i t i o n e n , die m a n i n L i t e r a t u r u n d Rechtsprechung f ü r
den
B e g r i f f der Gefahr i m p o l i z e i r e c h t l i c h e n Sinne findet, lassen sich auf folgenden gemeinsamen Nenner b r i n g e n : D i e Gefahr ist eine Lage, i n der b e i ungeh i n d e r t e m A b l a u f des Geschehens ein Z u s t a n d oder ein V e r h a l t e n m i t h i n reichender W a h r s c h e i n l i c h k e i t z u einem Schaden an einem p o l i z e i l i c h geschützten Rechtsgut f ü h r e n w i r d . 1 1 Diese D e f i n i t i o n läßt sich f ü r das Recht der technischen Sicherheit e n t sprechend den spezielleren Schutzzwecken der j e w e i l i g e n Gesetze a b w a n 7
Dort wird deshalb auch „Risiko" definiert als „Ausmaß" oder „Höhe der Gefahr", vgl. Kuhlmann, Einführung, S. 11. Diese Definition kommt für den juristischen Sprachgebrauch nicht in Betracht, weil „Gefahr" hier ein normativer Begriff ist. 8 „Schaden" ist hier nicht rechtstechnisch zu verstehen, sondern kann jede als unerwünscht bezeichnete Folge eines Geschehens bezeichnen. 9 Ebenso Marburger, in: Blümel / Wagner (Hrsg.), Technische Risiken und Recht, S. 27; Bender, NJW 1979, 1425f. 10 Synonym für „Recht der technischen Sicherheit" werden „technisches Sicherheitsrecht" (vgl. z.B. Plischka, Technisches Sicherheitsrecht, oder Hansen-Dix, Die Gefahr im Polizeirecht, im Ordnungsrecht und im Technischen Sicherheitsrecht) und „Recht der Sicherheitstechnik" (Marburger, Die Regeln der Technik im Recht, S. 53 ff.) gebraucht. Letzteres ist eine m.E. zu enge Wortprägung, weil Gegenstand dieses Rechtsbereichs nicht nur die Sicherheitstechnik, sondern allgemein die Sicherheit der Technik ist. Zum Gegenstand des technischen Sicherheitsrechts vgl. Marburger, S. 53 ff. 11 Vgl., ausgehend von der Rspr. des preußischen OVG (z.B. PrOVGE 77, 333 (338); 77, 341 (345); 78, 272 (278); 87, 301 (310); 98, 81 (86)) z.B. BVerwGE 28, 310 (315f.); 45, 51 (57); Drews / Wacke / Martens II, S. 106; Wolff/ Bachof III, § 125 Rdnr. 18, 25; Götz, Polizei- und Ordnungsrecht, S. 56f.; Rehbinder, BB 1977, 1; Lukes, Gefahren und Gefahrenbeurteilungen im Recht I, S. 21 f. - Wer statt von „hinreichender Wahrscheinlichkeit" von „nicht entfernter Möglichkeit" des Schadenseintritts spricht, vgl. Götz, S. 56f.; Wolff / Bachof III, § 125 Rdnr. 25, meint damit dasselbe (Götz, S. 57). Auf weitere Differenzen, etwa auf die Streitfrage, ob man der Definition noch d.as Merkmal „objektiv" hinzufügen muß, also die „objektive Möglichkeit" oder das „objektiv zu erwartende Geschehen" (so z.B. Götz, S. 56, bzw. Wolff / Bachof III, § 125 Rdnr. 18), ist hier nicht einzugehen. - Zur historischen Entwicklung des Gefahrenbegriffs vgl. Ronellenfitsch, Das atomrechtliche Genehmigungsverfahren, S. 241 ff. m.w.N. 6*
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§4 Risiko
dein. Welche Güter vor Schädigungen zu schützen sind, kann in Spezialgesetzen abweichend von den polizeilichen Generalklauseln bestimmt sein. 12 Allgemein formuliert kommt es also auf die hinreichend wahrscheinliche Schädigung rechtlich geschützter Güter an. Es ist aber nicht erforderlich, den Schutzzweck des jeweiligen Gefahrenabwehrgesetzes in die Gefahrendefinition aufzunehmen, denn daß nicht jede beliebige Gefahr, sondern nur Gefahren für die nach dem Gesetz zu schützenden Güter abzuwehren sind, ergibt sich ohnehin aus dem Gesetz. Wenn die polizeiliche Generalklausel der Polizei die Aufgabe zuweist, „Gefahren abzuwehren, durch die die öffentliche Sicherheit oder Ordnung bedroht w i r d " 1 3 , so legt sie einen allgemeinen Gefahrenbegriff zugrunde; nicht jede beliebige Gefahr ist abzuwehren, sondern nur Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung. Wäre diese Einschränkung dem Gefahrenbegriff immanent, so wäre sie im Gesetzestext überflüssig. Deshalb ist es möglich und zweckmäßig, einen allgemeinen sicherheitsrechtlichen Gefahrenbegriff unter Verzicht auf die Einbeziehung der rechtlichen Schutzgüter zu formulieren. Sachlich ändert sich dadurch nichts. Auch „Schaden" ist in der polizeirechtlichen Gefahrendefinition ein normatives Element: Er umfaßt nur erhebliche Beeinträchtigungen, nicht aber bloße Belästigungen, Nachteile, Unbequemlichkeiten oder Geschmacklosigkeiten. 14 Wenn nun einzelne Spezialgesetze sich auch der Abwehr von „erheblichen Nachteilen" oder „erheblichen Belästigungen" annehmen 15 , mag es zweckmäßig sein, bei der Formulierung eines allgemeinen sicherheitsrechtlichen Gefahrenbegriffs statt auf den „Schaden" allgemein auf den rechtlich mißbilligten Erfolg abzustellen. „Gefahr" wäre hiernach eine Lage, in der bei ungehindertem Ablauf des Geschehens ein Zustand oder ein Verhalten mit hinreichender Wahrscheinlichkeit zu einem rechtlich mißbilligten Erfolg führt, genauer: zu einem durch das jeweilige Gefahrenabwehrgesetz mißbilligten Erfolg. Die Gesetzessprache ist diesen Weg jedoch nicht gegangen. So hat das Bundes-Immissionsschutzgesetz den polizeirechtlichen Gefahrenbegriff übernommen, der ja den Schadensbegriff impliziert, und in etwas unglücklicher Weise 16 den Schutz vor Gefahren neben den Schutz vor erheblichen Nachteilen und erheblichen Belästigungen gestellt. 17 Deshalb empfiehlt es sich, in der juristischen Terminologie vom polizei12 Vgl. Hansen-Dix, Die Gefahr im Polizeirecht, im Ordnungsrecht und im Technischen Sicherheitsrecht, S. 22. 13 So, in Anlehnung an § 14 I PrPVG, z.B. § 3 PolG BW; § 11 NdsSOG; Musterentwurf eines einheitliche?! Polizeigesetzes, 2. Aufl. 1978, § I I . 14 Vgl. Drews / Wacke / Martens II, S. 106ff.; Wolff/ Bachofm, § 125 Rdnr. 19-21; ausführlich Hansen-Dix, S. 23ff. m.w.N. 15 Vgl. z.B. BImSchG §§ 1, 3 I, 4 I, 5 Nr. 1; StVG § 6 Nr. 3; StVO §§ 1 II; 30 I 3, 45 I 2; StVZO § 30 I Nr. 1. 16 Vgl. z.B. Jarass, DVB1. 1983, 727f. 17 Vgl. §§ 1, 3 I, 4 I, 5 Nr. 1 BImSchG.
Β. Risiko und Gefahr
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liehen Gefahrenbegriff auszugehen und ihn zur Vermeidung umständlicher Formulierungen bei der Erörterung von Problemen des technischen Sicherheitsrechts repräsentativ auch für diejenigen rechtlich mißbilligten Risikofolgen zu verwenden, die - wie die erheblichen Beeinträchtigungen und Nachteile nach dem Bundes-Immissionsschutzgesetz - vom Gefahrenbegriff nicht erfaßt, in den Schutzzweck des Fachgesetzes jedoch einbezogen sind. Dieselbe Repräsentativfunktion hat im Rahmen der Erörterung von Rechtsfragen der technischen Sicherheit der Begriff des Schadens. Wenn also hier vom „Schadensausmaß", vom „Schadenspotential" oder von „Schädigimg" die Rede ist, gilt das Gesagte entsprechend auch für Belästigungen oder Nachteile, sofern der gesetzliche Schutzzweck sich auf sie erstreckt. Ausdrücklich zu differenzieren ist nur dort, wo es rechtlich auf diesen Unterschied ankommt. 18 Als erster Unterschied zwischen Risiko und Gefahr bleibt jedenfalls festzuhalten, daß „Risiko" sich auf jeden beliebigen (subjektiv) unerwünschten Erfolg beziehen kann, „Gefahr" dagegen nur auf den rechtlich mißbilligten Erfolg. Das zweite normative Element, das die Gefahr gegenüber sonstigen Risiken auszeichnet, ist die „hinreichende Wahrscheinlichkeit" des mißbilligten Erfolgs. Während jede Möglichkeit des Schadenseintritts - und sei sie noch so gering - ein Risiko darstellt, ist eine Gefahr erst dann gegeben, wenn die Schädigungswahrscheinlichkeit hinreichend groß ist. Wie groß die Wahrscheinlichkeit sein muß, hängt vom Umfang des potentiellen Schadens ab. 19 Bei einem außerordentlich großen Schaden kann ausnahmsweise die entfernte Möglichkeit der Schädigung ausreichen. 20 Diese Relation wird mit 18
Dies entspricht der allgemeinen terminologischen Praxis in der Fachliteratur. BVerwG, NJW 1970, 1890 (1892) = DÖV 1970, 714; Scholz, VerwArch 27 (1919), 26; Drews / Wacke / Martens II, S. 109. - Es wird auch die Ansicht vertreten, daß es bei der Konkretisierung des Gefahrenbegriffs in bezug auf die „hinreichende Wahrscheinlichkeit" nicht nur auf die Größe des potentiellen Schadens, sondern außerdem darauf ankomme, welche Nachteile die in der Risikovermeidungspflicht liegende Freiheitsbeschränkung auf Seiten des Verursachers mit sich bringe, z.B. Ronellenfitsch, Das atomrechtliche Genehmigungsverfahren, S. 243ff.; Neil, Wahrscheinlichkeitsurteile in juristischen Entscheidungen, S. 183 ff. Dies entspricht jedoch nicht dem Zweck der allgemeinen Polizei- und Ordnungsgesetze, der ja darin besteht, Gefahren für die geschützten Güter abzuwehren. Deshalb muß die Größe des nicht mehr akzeptablen Risikos auf die geschützten Güter bezogen werden. Wann diese gefährdet, also mit einem nicht mehr hinnehmbaren Risiko belastet sind, kann nicht von einer weiteren Variablen abhängen, die vom Gesetzeszweck nicht umfaßt wird. Die so verstandene gesetzliche Regelung ist mit dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz vereinbar: Die Pflicht, die Gefährdung Dritter zu unterlassen, dürfte auch ohne Berücksichtigimg der Interessen des „Störers" bei der Konkretisierung des Gefahrenbegriffs für diesen niemals unzumutbar sein. Die abstrakte Abwägimg zwischen Freiheit und Sicherheit, die der Gesetzgeber mit dem Gefahrenbegriff getroffen hat, schließt dies aus, abgesehen vielleicht von einigen Bestandsschutzproblemen (Stichwort: „latenter Störer"), die aber ohne die erörterte Relativierung des Gefahrenbegriffs befriedigend gelöst werden können. 20 BVerwG, NJW 1970, 1890 (1892); Götz, Polizei- und Ordnungsrecht, S. 57; Wolff/ Bachoff III, § 125 Rdnr. 25. 19
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§ 4 Risiko
der „Je-desto-Formel" zum Ausdruck gebraucht: Je größer das potentielle Schadensausmaß, desto geringer die erforderliche Eintrittswahrscheinlichkeit. 2 1 Die Größe der Gefahr läßt sich wie die Größe des Risikos mit dem Produkt aus Schadensausmaß und Eintrittswahrscheinlichkeit angeben 22 , aber nur Risiken von „hinreichender" Größe, Risiken oberhalb der „Gefahrenschwelle" 23 sind Gefahren. 24 Zu bestimmen, wo diese „Gefahrenschwelle" auf einer durch Schadensausmaß und Wahrscheinlichkeit definierten Risikoskala liegt, ist eines der schwierigsten Konkretisierungsprobleme des technischen Sicherheitsrechts. Im allgemeinen Polizei- und Ordnungsrecht markiert die „Gefahrenschwelle" die Grenze, bis zu der hin die Abwehr von Risiken rechtlich geboten und unterhalb derer Risiken rechtlich erlaubt sind. Gefahren sind hiernach solche Risiken, deren Verursachung rechtlich verboten ist und gegen die erforderlichenfalls Abwehrmaßnahmen zu ergreifen sind. Gegen sonstige Risiken darf die Polizei nicht einschreiten; sie sind rechtlich zulässig. Ob sich dieser polizeirechtliche Befund verallgemeinern und auf das gesamte technische Sicherheitsrecht ausdehnen läßt 2 5 , hängt davon ab, ob es im technischen Sicherheitsrecht Gesetze gibt, die den mit dem Gefahrenbegriff markierten Sicherheitsstandard überbieten. 26 C. Sicherheit „Sicherheit" ist der Gegenbegriff zu „Risiko" 2 7 . Sicherheit besteht da, wo es kein Risiko gibt, und umgekehrt. Da es in der Technik keine absolute Risikofreiheit gibt, kann es auch keine absolute Sicherheit geben, sondern nur mehr oder weniger große Annäherungen an dieses Ideal. Als „sicher" bezeichnet man daher solche technischen Systeme, deren Risiken man als 21 BVerwGE 45, 51 (61); BayVGH, DVB1. 1979, 673 (675); OVG Lüneburg, DVBL 1977, 347 (351) m.w.N.; VGH Mannheim, ESVGH 32, 161 (191); VG Würzburg, NJW 1977, 1649 (1650) m.w.N.; VG Freiburg, NJW 1977, 1645 (1646) m.w.N.; Scholz, VerwArch 27, 26; Drews / Wacke / Martens II, S. 109; Wolff / BachofUI, § 125 Rdnr. 25; Rehbinder, BB 1976, 2; Breuer, DVB1. 1978, 833; Ronellenfitsch, S. 242ff. m.w.N. Diese umgekehrte Proportionalität von Schadensausmaß und -Wahrscheinlichkeit wird gelegentlich verkürzt und etwas mißverständlich als „Besorgnisproportionalität" bezeichnet. 22 Vgl. z.B. Marburger, in: Blümel / Wagner (Hrsg.), Technische Risiken und Recht, S. 27. 23 Zu diesem Ausdruck vgl. z.B. Joschek, in: Blümel / Wagner (Hrsg.), Technische Risiken und Recht, S. 13. 24 Marburger, in: Bitburger Gespräche, Jb. 1981, S. 41, beschränkt dagegen den Begriff des Risikos auf Risiken unterhalb der Gefahrensch welle; ebenso ders., in: Blümel / Wagner (Hrsg.), Technische Risiken und Recht, S. 27. 25 So Marburger, in: Bitburger Gespräche, Jb. 1981, S. 41; ders., in: Blümel / Wagner (Hrsg.), Technische Risiken und Recht, S. 27; vgl. auch Ossenbühl, ebd., S. 46. 26 Zum Bundes-Immissionsschutzgesetz s.u. § 20. 27 Vgl. Marburger, Die Regeln der Technik im Recht, S. 122.
D. Restrisiko
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vernachlässigenswert gering, als akzeptabel betrachtet. 28 Wie sicher ein technisches System sein muß, damit es in diesem Sinne „sicher genug" ist, läßt sich nicht allgemein beantworten. Juristisch ergibt sich die Antwort aus denjenigen Rechtsnormen, die das Maß der rechtlich gebotenen Sicherheit, den rechtlich gebotenen Sicherheitsstandard, bestimmen. 29 Ihnen gegenüber hat der Begriff der Sicherheit keine selbständige rechtliche Bedeutung. Eine unterhalb des rechtlichen Sicherheitsstandards verbleibende Unsicherheit ist rechtlich nicht zu beanstanden. D. Restrisiko
Als „Restrisiko" oder auch „Risikorest" 3 0 bezeichnet man das unterhalb des rechtlich gebotenen Sicherheitsstandards liegende und deshalb rechtlich erlaubte Risiko. Der Streit um die Bestimmimg der Größe des akzeptablen Restrisikos ist also identisch mit dem Streit um die Konkretisierung des gesetzlichen Sicherheitsstandards.
28
Vgl. z.B. Birkhofer, in: Bitburger Gespräche, Jb. 1981, S. 61. Zum Begriff des Sicherheitsstandards vgl. Marburger, Die Regeln der Technik im Recht, S. 121 f. 30 Zu diesen Begriffen vgl. z.B. BVerfGE 49, 89 (137f.); Storm, ZfU 1980, 903ff.; Wagner, NJW 1980, 670 f. - Sellner, in: Risiko - Schnittstelle zwischen Recht und Technik, S. 186, w i l l mit dem Begriff des „Restrisikos" dagegen jedes Risiko unterhalb der Gefahrenschwelle bezeichnen. 29
ZWEITER TEIL
Die staatliche Verantwortung für die Risiken der Technik nach dem Grundgesetz 1. Kapitel Verfassungsrechtliche Pflichten 1. Abschnitt
Verfassungsrechtliche Pflichten zum Schutz von Individualrechtsgütern Inwieweit ist der Staat von Verfassungs wegen verpflichtet, den einzelnen vor negativen Folgen der Technik zu schützen? Da das Grundgesetz keine spezifisch technikbezogenen Pflichten normiert, ist die Frage identisch mit derjenigen nach den verfassungsrechtlichen Pflichten des Staates zum Schutz der von der Technik möglicherweise bedrohten Individualrechtsgüter. Diese Individualrechtsgüter - in Betracht kommen als potentielle Opfer technischer Einwirkungen vor allem Leben und körperliche Integrität, daneben das Eigentum - sind auf der Verfassungsebene durch Grundrechte geschützt. Diese Grundrechte aber sind nach der liberal-rechtsstaatlichen Grundrechtskonzeption Abwehrrechte gegen staatliche Eingriffe, nicht gegen Eingriffe Dritter. Von dieser Grundrechtskonzeption soll hier ausgegangen werden. 1 Die Grundrechte sind hiernach staatsgerichtete Unterlassungsansprüche des einzelnen, und diesen subjektiven Rechten entsprechen notwendigerweise jeweils kongruente Unterlassungspflichten des Staates.2 Das hier zu bewältigende Problem besteht darin, daß w i r technische Risiken und Technikfolgen allgemein nur als von Privaten verursachte Technikfol1
Der Streit um das richtige Grundrechtsverständnis, die richtige Grundrechtstheorie, kann hier weder dargestellt noch gar zu einer Lösung geführt werden. Die liberal-rechtsstaatliche Konzeption zumindest zum Ausgangspunkt der Überlegungen zu nehmen und ihre Leistungsfähigkeit voll auszuschöpfen, bevor man zu Ergänzungen, Neuansätzen oder gar neuen Konzeptionen greift, dafür spricht m.E. nicht nur die Ideengeschichte der Grundrechte, sondern auch der Vorsprung an Rationalität und Operationalisierbarkeit, den die Grundrechte nach dieser Konzeption im Vergleich zu anderen Konzeptionen aufweisen. Zur Begründung für diesen Ansatz beziehe ich mich außerdem auf Böckenförde, Grundrechtstheorie und Grundrechtsinterpretation, in: ders., Staat, Gesellschaft, Freiheit, S. 221 ff., insb. 243ff. 2 Vgl. Schwabe, Grundrechtsdogmatik, S. 13 ff.
Α. Ermächtigung zur privaten Grundrechtsbeeinträchtigung
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gen i n Betracht ziehen wollen. Werden Leben oder Gesundheit nicht vom Staat, sondern von Privaten beeinträchtigt, so fragt sich, ob die als staatsgerichtete Abwehrrechte verstandenen Grundrechte überhaupt einen Maßstab für staatliche Pflichten zur Verhütung dieser Beeinträchtigungen abgeben können. 3 Dies soll zunächst unter dem Aspekt staatlicher Unterlassimgspflichten (§ 5), sodann im Hinblick auf positive Schutzpflichten untersucht werden (§ 6). Anschließend w i r d die Fragestellung auf den Schutz vor Risiken eingeengt (§ 7), im Anschluß an diese Darstellung und dogmatische Differenzierung staatlicher Schutzpflichten w i r d der Umfang dieser Pflichten im Hinblick auf technische Risiken eingehend untersucht. § 5 Grundrechtliche Unterlassungspflichten als Grenzen der Ermächtigung zu privaten Grundrechtsbeeinträchtigungen A. Ermächtigung zur privaten Grundrechtsbeeinträchtigung als Grundrechtseinschränkung
I. Die These des Bundesverfassungsgerichts Im Kalkar-Beschluß führt das Bundesverfassungsgericht aus, das Atomgesetz lasse die Genehmigung eines Kernkraftwerks nicht zu, „wenn die Errichtung oder der Betrieb der Anlage zu Schäden führt, die sich als Grundrechtsverletzungen darstellen". Anderenfalls hätte das Atomgesetz gemäß Art. 1912 GG das entsprechende Grundrecht ausdrücklich einschränken müssen. Da dies nicht der Fall sei, könne nicht die Genehmigungsvorschrift des § 7 I I AtG, sondern allenfalls die behördliche Entscheidung im Einzelfall Grundrechte Dritter verletzen 1 , dann nämlich - muß man hinzufügen - , wenn die Genehmigungsbehörde eine Genehmigung erteilt, obwohl die gesetzlichen Genehmigungsvoraussetzungen nicht erfüllt sind. Das Bundesverfassungsgericht nimmt also an, daß von Privaten verursachte Schäden „sich als Grundrechtsverletzungen darstellen" können. Das ist keine sonderlich präzise Formulierung. Sie klingt nach Drittwirkung, aber was „sich als Grundrechtsverletzung darstellt", muß noch keine Grundrechtsverletzung sein. Geht man von der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts aus, derzufolge Art. 2 GG primär Abwehrrechte gegen staatliche Eingriffe enthält - die „objektive" oder „Wert"3 Daß die Schutzpflichten aus dem „objektiv-rechtlichen" Gehalt der Grundrechte folgen, wie die Rspr. des BVerfG und die h. M. annehmen - vgl. BVerfGE 39,1 (41); 46, 160 (164); 49, 89 (141 f.); 53, 30 (57); 56, 54 (73); und z.B. Rauschning, W D S t R L 38 (1980), 183; Schmidt-Aßmann, AöR 106 (1981), 215; Badura, Festschr. Eichenberger, S. 490; Hesse, Verfassungsrecht, S. 147; Benda, UPR 1982, 243 - , ist jedenfalls dann eher eine These als eine Begründung, wenn nicht zugleich Art. 112 GG als Begründungselement herangezogen wird. 1 BVerfGE 49, 89 (140f.).
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§ 5 Grundrechtliche Unterlassungspflichten
Funktion, die das Bundesverfassungsgericht den Grundrechten im übrigen zuspricht, ist in diesem Zusammenhang ja nicht angesprochen - , so wird man die zitierten Ausführungen im Kalkar-Beschluß wie folgt zu verstehen haben: Wenn der Staat Private zu Grundrechtseingriffen ermächtigt, ist das eine Einschränkung des betreffenden Grundrechts. 2 Und für eine solche Einschränkung ist - wie das Bundesverfassungsgericht für die Zulassung des Schnellen Brüters ausdrücklich feststellt 3 - eine gesetzliche Ermächtigungsgrundlage erforderlich. Zwischen der Ermächtigung zu staatlichen oder zu privaten Grundrechtseingriffen besteht insofern kein Unterschied. Ein Privater kann - exakt gesprochen - nicht in ein „Grundrecht" eingreifen und nicht ein „Grundrecht" verletzen, weil die Grundrechte nicht an ihn adressiert sind. Sie verpflichten den Staat, nicht den Privatmarin. Aber der Private kann die Güter beeinträchtigen, die durch die Grundrechte gegen staatliche Beeinträchtigungen geschützt werden. Die Beeinträchtigimg dieser Güter durch Private ist keine private Grundrechtsverletzung. Wenn nun das Bundesverfasungsgericht sagt, eine solche Beeinträchtigung könne „sich als Grundrechtsverletzung darstellen", zielt das auf folgende Konstellation: 1. Das durch ein Grundrecht geschützte Gut (hier: Leben und Gesundheit, Art. 2 I I GG) w i r d von einem Privaten beeinträchtigt. 2. Dieser private Eingriff ist dem Staat zuzurechnen, weil er ihn genehmigt hat. 3. Die Genehmigung genügt nicht den verfassungsrechtlichen Anforderungen, weil entweder die Genehmigungsbehörde sich über die gesetzlichen Genehmigungsvoraussetzungen hinweggesetzt hat oder weil die Genehmigungsvorschrift selbst verfassungswidrig ist. Die Grundrechtsverletzung liegt also nicht in der Beeinträchtigung des grundrechtlich geschützten Guts durch einen privaten Kraftwerksbetreiber, sondern in der staatlichen Genehmigung des privaten Eingriffs, der staatlichen Erlaubnis der privaten Verletzung des Schutzguts. Das Bundesverfassungsgericht hat seine These, daß die Genehmigung privater 4 Grundrechtseingriffe eine Grundrechtsverletzung sein könne, nicht 2 Vgl. auch BVerfGE 53, 30 (58); 56, 54 (79). - I n diesem Zusammenhang von „Grundrechtseingriffen" oder „Grundrechtseinschränkungen" zu reden, ist dogmatich ungenau, entspricht aber der Sprache des Grundgesetzes, die vom Bundesverfassungsgericht ohne Bedenken übernommen und auch in der wissenschaftlichen Literatur nahezu ausnahmslos verwendet wird. Zu den Fehlschlüssen, die sich daraus ergeben können, wenn man diese Redeweise wörtlich nimmt, s. unten II. 2. 3 BVerfGE 49, 89 (129). 4 Erwägungen darüber, daß der Staat selbst Errichter und Betreiber des Schnellen Brüters Kalkar sei, hat das BVerfG nicht angestellt; im Sachverhalt des Beschlusses finden sich keine Angaben darüber, ob die*Betreibergesellschaft, die Schnell-BrüterKernkraftwerksgeseUschaften mbH Essen, ganz oder teilweise in staatlicher Hand ist, so daß ihr Verhalten an den Grundrechten zu messen wäre. Daß das BVerfG die Betreibergesellschaft als privates Rechtssubjekt ansieht, ergibt sich auch daraus, daß es auch die Grundrechte der Gesellschaft aus Art. 12 und 14 GG in Betracht zieht, BVerfGE 49, 89 (144ff.). Demnach geht das BVerfG offenbar vom Vorliegen einer „Drittwirkungs"-Konstellation aus. Degenhart, Kernenergierecht, S. 147, geht dagegen davon aus, daß die Risiken der Kernenergie wegen der staatlichen Förderung,
Α. Ermächtigung zur privaten Grundrechtsbeeinträchtigung
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begründet und dogmatisch untermauert. Es verließ sich auf die Evidenz der These, was insofern etwas verwundert, als die wissenschaftliche Literatur immer noch überwiegend die Gegenthese vertritt 5 und das Bundesverfassungsgericht selbst die Grundrechte zum Schutz gegen Eingriffe Dritter bislang nur über das Medium der Schutzpflichten aktiviert hatte. 6 Auch im Kalkar-Beschluß greift das Bundesverfassungsgericht auf die von ihm aus den „objektiven Wertentscheidungen" abgeleiteten Schutzpflichten zurück, wenn es darum geht, die Pflicht zum Schutz gegen private Grundrechtsgefährdungen zu begründen. 7 Nach dem Kalkar-Beschluß ist also zu unterscheiden, ob der Staat verpflichtet ist, zum Schutz gegen .Grundrechtsgefährdungen seitens Dritter tätig zu werden, oder ob er selbst die Grundrechte einschränkt und unter Umständen verletzt, indem er Dritte zu Grundrechtseingriffen ermächtigt. II. Die Grenzen der Ermächtigung zu privaten Grundrechtsbeeinträchtigungen 1. Eingriffsermächtigung als Duldungsverpflichtung Daß die Genehmigung privater Grundrechtseingriffe, wie das Bundesverfassungsgericht im Kalkar-Beschluß konkludent behauptet, als Grundrechtseinschränkung aufzufassen ist, folgt aus den Zurechnungszusammenhängen, die bereits im Abschnitt „Verantwortung kraft Rechtsetzung" erörtert worden sind 8 : Wenn der Staat seine Bürger verpflichtet, das erlaubte Verhalten ihrer Mitbürger zu dulden, dann muß er sich dies erlaubte Verhalten auch als Folge seiner Rechtsetzung zurechnen lassen. Die staatliche Grundrechtseinschränkung liegt genau genommen nicht in der Genehmigung privater Eingriffe. Sie liegt in der Verpflichtung, solche Eingriffe zu dulden. 9 Entwicklung, Kooperation mit der weitgehend von der öffentlichen Hand beherrschten Energiewirtschaft (vgl. auch S. 107ff., 184ff.) „maßgeblich auch" von staatlicher Seite herbeigeführt würden. Dies trifft der Sache nach zu (so auch Hofmann, BayVBl. 1983, 33 f.; ders., Rechtsfragen S. 21f., 25, 27, 295f. m.w.N.), entspricht aber-entgegen Degenhart, ebd. - nicht der Perspektive des BVerfG, das die staatliche „Mitverantwortung" auch im Mühlheim-Kärlich-Beschluß, BVerfGE 53, 30 (58), schlicht auf die Genehmigung der Anlage stützt. 5 Ausdrücklich z.B. Rauschning, W D S t R L 38 (1980), 184; ders., in: Individualrecht oder Verpflichtung des Staates? S. 35; ders., DVB1. 1980, 832; vgl. auch Herzog, JR 1969, 443; Lücke, DÖV 1976, 290f.; Kloepfer, Zum Grundrecht auf Umweltschutz, S. 19, 29; Scholz, DB, Beil. 10/79, S. 14; H. H. Klein, Festschr. f. W. Weber (1974), S. 651; Degenhart, Kernenergierecht, S. 147, 149, der Besonderheiten nur für den Kernenergiebereich annimmt. 6 Vgl. BVerfGE 39, 1 (41); 46, 160 (164). 7 BVerfGE 49, 89 (141 f.). 8 s.o. § 2 C . II. 3. b). 9 Vgl. BGHZ 54, 384 (387f.); Schwabe, Grundrechtsdogmatik, S. 213ff.; ders., DVB1. 1973, 103ff., insb. 109f.; Murswiek, in: Grundrechtsschutz, S. 224ff.
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§ 5 Grundrechtliche Unterlassungspflichten
Eine solche Duldungspflicht w i r d freilich meist nicht ausdrücklich normiert. 1 0 Die Pflicht zur Duldung unverbotenen Verhaltens anderer gilt vielmehr schon allgemein aufgrund derjenigen Normen, die das allgemeine Gewaltverbot, das der Staat seinen Bürgern auferlegt, in unterschiedlicher Weise zum Ausdruck bringen. 11 Ist jemand zur Duldung eines ihn beeinträchtigenden Verhaltens Dritter verpflichtet, so heißt dies: Er darf sich nicht selbst verteidigen, und dieses Selbstverteidigungsverbot ist auch nicht durch rechtliche, gerichtlich durchsetzbare und vollstreckbare Abwehransprüche kompensiert. Unterlassungsansprüche kann man nur gegen ein verbotenes, nie gegen ein erlaubtes Verhalten Dritter haben, und das allgemeine Selbstverteidigungsverbot ist für Notwehrsituationen nur zur Abwehr rechtswidriger, also verbotener Angriffe durchbrochen. 12 Also gibt es nach geltendem Recht eine allgemeine Pflicht zur Duldung jedes nicht verbotenen Verhaltens anderer. Diese Duldungspflicht ist grundrechtlich irrelevant, solange das zu duldende Verhalten anderer die grundrechtlich geschützten Güter des Betroffenen nicht berührt. Der materielle Umfang der Duldungspflicht hängt davon ab, was andere tun dürfen und was ihnen verboten ist. In der Regel verbietet die Rechtsordnung in zivilrechtlichen und strafrechtlichen Vorschriften private Eingriffe in grundrechtlich geschützte Güter; dieses Eingriffsverbot w i r d durch diejenigen Vorschriften implizit statuiert, die Gewalt unter Privaten überhaupt untersagen oder Unterlassungs- oder Schadensersatzansprüche im Hinblick auf private Eingriffe in solche Rechtsgüter gewähren, welche das Grundgesetz gegen staatliche Eingriffe schützt. Soweit solche Eingriffe verboten sind, läuft die allgemeine Pflicht zur Duldung unverbotenen Verhaltens anderer leer, denn was man zu „dulden" hat, berührt hier gar nicht die eigenen Rechtsgüter. Anders ist die Lage jedoch, wenn der Staat ein solches Eingriffsverbot aufhebt, also einen Eingriff ausdrücklich erlaubt, oder wenn ausnahmsweise von vornherein ein Verhalten Privater nicht verboten ist, welches notwendig zur Beeinträchtigung von grundrechtlich geschützten Gütern führt: Dann erstreckt sich die allgemeine Duldungspflicht auch auf Eingriffe i n grundrechtlich geschützte Güter. Angesichts einer bereits bestehenden allgemeinen Verpflichtung, unverbotenes Verhalten anderer zu dulden, ist in der Genehmigung privater Eingriffe immer zugleich eine materielle Erweiterung dieser Duldungspflicht zu sehen, während ein von vornherein fehlendes Verbot privater Eingriffe der Duldungspflicht von vornherein grundrechtseinschränkenden Charakter gibt.
10 Beispiele für ausdrückliche Duldungspflichten bieten § 906 BGB oder § 14 BImSchG. 11 Vgl. z.B. § 823 BGB, §§ 223, 240 StGB. ι 2 Vgl. § 227 BGB, § 32 StGB; entsprechendes güt für die Selbsthilfe, § 229 BGB. Die übrigen Ausnahmen vom Gewaltverbot - vgl. § 34 StGB, § 228 BGB - sind in unserem Zusammenhang irrelevant.
Α. Ermächtigung zur privaten Grundrechtsbeeinträchtigung
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Gegen die These, die Ermächtigung zu privaten Grundrechtseingriffen sei eine Gnindrechtseinschränkung, kann deshalb der Einwand nicht durchgreifen, eine solche Ermächtigung sei rechtlich unerheblich, weil privates Verhalten keiner Erlaubnis oder Ermächtigung bedürfe. 13 Freilich darf jeder tun, was nicht verboten ist; darin unterscheidet sich bürgerliche Freiheit von staatlicher Kompetenz. Aber die Erlaubnis privater Grundrechtseingriffe impliziert die Auferlegung einer entsprechenden Duldungspflicht für den Betroffenen, vorausgesetzt, daß die allgemeine Pflicht zur Duldung unverbotenen Verhaltens anderer gilt, und diese Voraussetzung ist - wie oben dargelegt - nach geltendem Recht gegeben.14 Kurz gesagt: Wenn der Staat private Selbstverteidigung verbietet, und das tut er, dann muß er auch private Eingriffe verbieten; unterläßt er dies, dann ist das Selbstverteidigungsverbot eine Einschränkung der Grundrechte, in die nach geltendem Recht durch Private eingegriffen werden darf. 2. Relativität der grundrechtlichen Schutzgüter? Daß die staatliche Ermächtigung Privater zum Eingriff in die Grundrechte Dritter eine staatliche Grundrechtseinschränkung ist, erscheint nach der oben entwickelten Konzeption als logisch zwingend. Wenn diese - durch den Kalkar-Beschluß bestätigte - Konzeption 15 sich dennoch heftiger K r i t i k ausgesetzt sieht 16 , so nicht etwa deshalb, weil man ihr logische Fehler nachweisen könnte. Vielmehr versucht die Kritik, welche die in der Literatur noch vorherrschende Meinung repräsentiert, der ganzen Konzeption den Boden zu entziehen, indem sie darauf hinweist, daß die Grundrechte nur im Verhältnis Staat - Bürger gelten: Folglich - so wird man die K r i t i k wohl verstehen müssen - könne überhaupt nur der Staat, nicht der Bürger in Grundrechte eingreifen. Und daraus ergebe sich wiederum, daß die staat13
Vgl. dazu schon oben § 2 C. II. 3. b. Dieser Duldungspflicht korrespondiert der nach geltendem Recht ebenfalls gegebene subjektive Unterlassungsanspruch des unverbotenerweise Eingreifenden gegen Versuche des Betroffenen, den Eingriff zu verhindern. Er kann sich auf den allgemeinen Anspruch auf Unterlassimg von Störungen seiner Freiheit berufen, §§ 1004 analog i.V.m. 823 1 BGB. Diesen Unterlassungsanspruch kann der Eingreifende gerichtlich durchsetzen, vgl. Schwabe, Grundrechtsdogmatik, S. 213. Es ist also richtig, daß der Bürger zur Betätigung seiner Freiheit keiner Ermächtigung bedarf; aber nur aufgrund einer Ermächtigung kann er einen Eingriff i n Güter Dritter rechtlich durchsetzen. 15 Sie wird - cum grano salis - seit langem von Schwabe vertreten, dem ich allerdings nicht in allen Konsequenzen folgen kann, welche er aus diesem Ansatz zieht. Vgl. ders., Die sogenannte Drittwirkung der Grundrechte; Probleme der Grundrechtsdogmatik, S. 211ff., 22Iff.; AöR 100 (1975), 442ff.; NVwZ 1983, 524ff.; vgl. auch bereits Schnur, W D S t R L 22 (1965), 140 f. 16 Vgl. z.B. Hans Heinrich Rupp, Grundgesetz und „Wirtschaftsverfassung". Tübingen 1974, S. 12; Rauschning, W D S t R L 38 (1980), 184; Düng, in: Maunz / Diirig, Art. 3 I Rdnr. 506. 14
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liehe Erlaubnis privater „Grundrechtseingriffe" nicht als Grundrechtseinschränkung verstanden werden könne. Was da eingeschränkt werde, sei eben nur im Verhältnis zum Staat, nicht aber zu einem privaten Dritten ein Grundrecht. 17 Der Ausgangspunkt dieser K r i t i k ist zutreffend: Daß die negatorischen Grundrechte Unterlassungsansprüche gegen staatliche, nicht aber gegen private Eingriffe geben, w i r d durch die hier vertretene Konzeption aber nicht in Frage gestellt, sondern von ihr vorausgesetzt. Es wurde ja schon gesagt, daß man allenfalls im übertragenen Sinne von „privaten Grundrçchtseingriffen" sprechen könne, daß dies aber unpräzis sei, weil die Grundrechte nicht drittgerichtet seien. Der Privatmann kann nicht in Grundrechte eingreifen, weil diese nicht an ihn adressiert sind. Der hieraus gezogene Schluß aber, die staatliche Ermächtigung zum privaten Eingriff könne keine Grundrechtseinschränkung sein, beruht anscheinend auf einer unscharfen Terminologie. Die übliche Grundrechtsterminologie wie auch die Sprache des Grundgesetzes unterscheidet nämlich nicht zwischen negatorischem Grundrecht (Abwehrrecht) und dem Schutzgut, das durch dieses Abwehrrecht geschützt wird. 1 8 Wer aber sprachlich nicht unterscheidet, übersieht leicht,· daß in der Sache ein wesentlicher Unterschied besteht: Beispielsweise ist das nur in der Relation Staat - Bürger bestehende Grundrecht aus Art. 2 I I 1, X.Alt. GG nicht das „Leben", sondern das „Recht auf Leben", also der Anspruch gegen den Staat, Eingriffe in das geschützte Gut, das Lebei}, zu unterlassen. Das Schutzgut ist der Gegenstand des Unterlassungsanspruchs; es ist nicht mit diesem identisch. Das Grundrecht, nämlich der Abwehranspruch ist es, der nur im Verhältnis Bürger - Staat existiert. Das durch das Grundrecht geschützte Gut jedoch existiert „absolut". 1 9
17 Soweit die K r i t i k Dürigs (o. Fn. 16) an Schwabe außerdem geltend macht, die zentralen privatrechtlichen Institute wie Vertragsfreiheit und Haftungsgrundsatz könnten nicht über den rechtsstaatlichen Leisten des Grundrechtseingriffs gespannt werden, trifft sie jedenfalls nicht die hier vertretene Konzeption: Die Vertragsfreiheit ist grundrechtlich gewährleistet und nur privatrechtliche Einschränkungen der Vertragsfreiheit können in Grundrechte eingreifen. Ansonsten können im Rahmen der Privatautonomie allenfalls sozialstaatlich oder aus Art. 112 GG begründete Schutzpflichten zum Tragen kommen (anders Schwabe, Die sogenannte Drittwirkung, S. 67 ff.). Und das hier geforderte Verbot privater Eingriffe ist gerade die Grundlage der auf Freiwilligkeit beruhenden Privatautonomie. - Auch das Argument, die Theorie sei nicht haltbar, wenn sie sich nicht auch gegenüber dem Gleichheitssatz bewähre (Düng, ebd.), trifft den hier vertretenen Ansatz nicht. Die Annahme, daß der Staat nicht Art. 3 GG verletze, wenn er Ungleichbehandlungen unter Privaten zulasse, stellt nicht, wie Dürig annimmt, einen Bruch in der Konzeption dar. Das kann hier, mangels Zusammenhang mit unserem Thema, nicht ausgeführt werden. Deshalb sei nur die Gegenthese vorgestellt: Daß das Nichtverbotensein der Ungleichbehandlung Privater durch Private nicht zu einer staatlichen Verletzung des Art. 3 GG führt, ergibt sich logisch aus der hier vertretenen Konzeption. Und diese Konsequenz wird durch die verfassungssystematische Interpretation des Gleichheitssatzes bestätigt. 18 Kritisch zu dieser Terminologie Schnur, DVB1. 1965, 490; Schwabe, Grundrechtsdogmatik, S. 64ff. m.w.N.
Α. Ermächtigung zur privaten Grundrechtsbeeinträchtigung
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Der Bürger, der in ein „Grundrecht" eines anderen eingreift, greift nicht in ein Recht eines anderen ein, sondern er beeinträchtigt ein rechtlich geschütztes Gut. Dieser Eingriff als solcher ist grundrechtlich irrelevant, weil das Grundrecht, welches das beeinträchtigte Gut schützt, diesen Schutz nur gegen staatliche Eingriffe bietet. Aber der Gesetzgeber, der zu diesem Eingriff ermächtigt, muß ihn sich als Folge seiner Rechtsetzung zurechnen lassen. Die Ermächtigung zum privaten Eingriff ist zwar - terminologisch exakt - keine „Grundrechtseinschränkung", weil sie nicht das (nur staatsgerichtete) Abwehrrecht einschränkt. Aber die Grundrechte als Abwehrrechte richten sich auch an den Gesetzgeber selbst (Art. 1 I I I GG). Daß der Gesetzgeber selbst an die Grundrechte gebunden ist, bedeutet zunächst, daß auch er selbst die Schutzgüter nicht unmittelbar verletzten darf. Aber darin kann sich die Bedeutimg der Grundrechtsbindung des Gesetzgebers nicht erschöpfen. Denn der Gesetzgeber greift nie unmittelbar in grundrechtlich geschützte Güter - z.B. Leben, körperliche Unversehrtheit, individuelle Entschließungsfreiheit - ein, sondern nur in der Weise, daß er den Grundrechtsträger durch Ge- oder Verbote in Pflicht nimmt. Wenn diese Verpflichtung sich beeinträchtigend auf das Schutzgut auswirkt und durch ausdrückliche oder verfassungsimmanente Gesetzesvorbehalte nicht gedeckt ist, verletzt sie das Grundrecht als an den Gesetzgeber adressiertes Abwehrrecht. Eine solche Pflicht ist auch die Pflicht zur Duldung von Eingriffen: Die tatsächliche Verletzung des Schutzgutes beruht auf der gesetzlichen Eingriffsermächtigung. In diesem Sinne schränkt die Eingriffsermächtigung das Grundrecht ein. 20 Der Gesetzgeber selbst verletzt das Grundrecht, wenn die Ermächtigung nicht den verfassungsmäßigen Anforderungen entspricht. Ob der Gesetzgeber aber zu staatlichen oder zu privaten Eingriffen in das geschützte Gut ermächtigt, kann unter diesem Aspekt keinen Unterschied ausmachen. 21 In jedem Fall schränkt er selbst das Grundrecht ein. 19 Wenn hier gelegentlich von „privaten Grundrechtseingriffen" die Rede ist, so ist damit also exakt gesprochen ein privater Eingriff i n das grundrechtlich gegen staatliche Eingriffe geschützte Gut gemeint. Dies ist aber aus dem Kontext heraus so klar, daß Mißverständnisse eigentlich ausgeschlossen sein müßten. Auch was staatliche Eingriffe angeht, spricht man ja üblicherweise von „Grundrechtseingriffen", wenn genau genommen Eingriffe in Schutzgüter - gegebenenfalls unter Verletzung der diese Güter schützenden Abwehrrechte - gemeint sind. 20 Dies entspricht zwar nicht einer präzisen, zwischen Schutzgut und Grundrecht als Abwehrrecht differenzierenden Terminologie, aber es entspricht der Terminologie des Grundgesetzes, das in Art. 19 I nicht nur die Einschränkung der Abwehrrechte, sondern auch die Verkürzung des Schutzgutes selbst als „Grundrechtseinschränkung" bezeichnet. Auch aus Zweckmäßigkeitsgründen empfiehlt es sich, die Kehrseite der Ermächtigung zum privaten „Grundrechtseingriff" zunächst als „Grundrechtseinschränkung" zu bezeichnen, wie das BVerfG es im Kalkar-Beschluß getan hat (BVerfGE 49, 89 (141): „... völlig neuartige Grundrechtseinschränkungen".). Denn nicht jede Einschränkung in diesem Sinne ist schon eine Grundrechtsverletzung. - Gegen die Verwendung des Begriffs „Grundrechtseinschränkung" Schwabe, Grundrechtsdogmatik, S. 64ff., der die Einschränkung von Abwehrrechten für logisch unmöglich hält.
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§ 5 Grundrechtliche Unterlassungspflichten
Die Staatsgerichtetheit der negatorischen Grundrechte, auf die allein die K r i t i k an der hier vertretenen Konzeption sich stützt, schließt also keinesfalls aus, die Ermächtigung zur privaten Beeinträchtigung von Schutzgütern als staatliche Grundrechtseinschränkung zu verstehen. Diese Feststellung setzt freilich voraus, daß die durch die Grundrechte geschützten Güter nicht nur relativ, nämlich im Verhältnis zum Staat, sondern absolut dem Grundrechtsträger rechtlich zugeordnet sind. Anderenfalls könnte man argumentieren, die staatliche Ermächtigimg zum privaten Eingriff könne deshalb keine Grundrechtseinschränkung sein, weil das geschützte Gut nur in Relation zum Staat dem Grundrechtsträger rechtlich zustehe. Der private Eingriff sei gar kein Eingriff in ein Gut des Grundrechtsträgers, denn im Verhältnis zwischen Privaten sei dieses Gut dem Grundrechtsträger nicht von Verfassungs wegen rechtlich zugeordnet. Die rechtliche Zuordnung von Rechtsgütern zwischen Privaten ergebe sich nur aus dem Privatrecht. Wenn der Gesetzgeber das Privatrecht gestalte und die in Betracht kommenden Güter den Privatrechtssubjekten zuweise, könne er somit nicht gegen Grundrechte verstoßen. Und wenn der Gesetzgeber zum privaten Eingriff in ein „Grundrecht" ermächtige, dann ändere er in Wirklichkeit nur die privatrechtliche Zuweisung eines Gutes. Die Grundrechte, so würde diese Argumentation zusammenfassend lauten, verpflichteten den Staat nur zur Unterlassung von Eingriffen in Schutzgüter, die dem Grundrechtsträger rechtlich zugeordnet sind. Aber die Schutzgüter der Grundrechte seien ihrem Träger nur im Verhältnis zum Staat verfassungsrechtlich zugeordnet, nicht im Verhältnis zu Privaten, so daß die Ermächtigung zum privaten Eingriff nicht Ermächtigung zu diesem Eingriff in ein Schutzgut des Grundrechtsträgers und damit keine Grundrechtseinschränkung sei. Dem stelle ich die These entgegen: Aus der Relativität der Grundrechte folgt nicht die Relativität der Schutzgüter. Zwar gelten die Grundrechte nur im Verhältnis zum Staat, aber die Güter, die sie schützen, sind von der Verfassung dem Grundrechtsträger nicht nur in Ansehung seines Verhältnisses zum Staat, sondern absolut zugeordnet. Die Begründung dieser These ergibt sich für das Eigentum einfach daraus, daß das Eigentum auch dadurch definiert ist, daß der Eigentümer alle anderen - also nicht etwa nur den Staat - von der Herrschaft über die ihm gehörende Sache ausschließen kann. 2 2 Daraus folgt keine unmittelbare Drittwirkung der Eigentumsgarantie. Aber der Gesetzgeber, der das Eigentum als Privatrechtsinstitut einzurichten hat, ist auch verpflichtet, dem Eigentümer Abwehransprüche gegen Einwirkungen Privater auf die in seinem Eigentum 21
Vgl. Schnur, W D S t R L 22 (1965), 140f.; Schwabe, Grundrechtsdogmatik, S. 218 in Fn. 19; Baltes, BB 1978, 132; Kölble, in: Individualrecht oder Verpflichtung des Staates, S. 49. 22 Vgl. § 903 BGB.
Α. Ermächtigung zur privaten Grundrechtsbeeinträchtigung
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stehenden Sachen einzuräumen. 23 Nimmt er ihm diese Unterlassungsansprüche, so nimmt er ihm das Eigentum. 24 So geht auch das Bundesverfassungsgericht, das ansonsten die Grundrechte nur mittelbar über „objektive" Funktion und „Ausstrahlungswirkung" im Privatrecht zur Geltung bringt 2 5 , ganz selbstverständlich davon aus, daß auch privatrechtliche Gesetze an Art. 14 I GG zu messen sind, wenn sie das Eigentum - zugunsten Privater beschränken. 26 Das Eigentum als Schutzgut ist ein absolutes Recht. Es existiert nur als Recht, nämlich als die Befugnis, andere von der Herrschaft über die dem Eigentümer rechtlich zugeordnete Sache auszuschließen. Die übrigen Schutzgüter der negatorischen Grundrechte - Leben, körperliche Unversehrtheit, Freiheit - sind dagegen nicht Rechte, sondern „natürliche" Gûtèr; ihnen ist als solchen ein Abwehranspruch gegen Beeinträchtigungen nicht immanent. Denkt man sich aber in der heute bei uns insoweit ganz unangefochten geltenden Tradition der Aufklärung den einzelnen Menschen als Individuum, das Individuum als Person, so sind ihm diese „höchstpersönlichen" Güter unabtrennbar zugeordnet. Eine Rechtsordnung, die den einzelnen als Person begreift, kann diese Zuordnung nicht ändern, ohne die Personalität des Menschen zu vernichten. 27 Eben dies läßt das Grundgesetz nicht zu. Das Grundgesetz setzt voraus, daß die Person immer Subjekt und niemals nur Objekt ist. Das ergibt sich aus dem Bekenntnis zur Menschenwürde, das bei aller inhaltlichen Unbestimmtheit doch jedenfalls dies zum Inhalt hat. 2 8 Jeder Mensch ist nach dem Menschenbild des Grundgesetzes von Natur aus Subjekt seines Lebens, seines Körpers, seiner Freiheit; diese Güter besitzt er nicht kraft rechtlicher Zuweisimg. Und die natürliche Zuordnung ist rechtlich nicht verfügbar. Das Grundgesetz läßt zwar Eingriffe in diese Güter zu, nicht aber die rechtliche Zuweisung dieser Güter an ein anderes Subjekt, denn der Staat ist verpflichtet, die Menschenwürde zu achten (Art. 112 GG). Folglich kann es sich auch bei Leben, Körper und Freiheit nicht um Güter handeln, die dem jeweiligen Subjekt nur relativ, 23 Wie weit diese dem Eigentümer zu gewährleistenden Unterlassungsansprüche gehen, kann freilich im einzelnen der Gesetzgeber entscheiden, der nach Art. 14 I befugt ist, den Inhalt des Eigentums, also der auch und in erster Linie gegen Private gerichteten Unterlassungsansprüche, zu bestimmen. 24 Vgl. BVerwG, DÖV 1969, 283. 25 Vgl. BVerfGE 7, 198 (204f.). 26 Vgl. BVerfGE 14, 263 (276f.); 18, 121 (132); 20, 351 (356); 25, 371 (407); 31, 229 (240ff.); 31, 248 (251 ff.); 37, 132 (140ff.); 56, 249 (260). 27 Vgl. z.B. § 16 des österreichischen Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuchs von 1811: „Jeder Mensch hat angeborene, schon durch die Vernunft einleuchtende Rechte, und ist daher als eine Person zu betrachten. Sklaverei und Leibeigenschaft... w i r d ... nicht gestattet." 28 Vgl. z.B. BVerfGE 27, 1 (6); 30, 1 (26); dazu das Sondervotum von Geller, v. Schlabrendorff und Rupp, 33ff.; 45, 187 (228); 50, 205 (215); BVerwGE 1, 159 (161); Dürig, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 1 Rdnr. 28; v. Münch, GG, Art. 1 Rdnr. 15 ff.
7 Murswiek
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nämlich in Ansehung dieser Beziehung zum Staat, nicht jedoch in Ansehung seines Verhältnisses zu Dritten zugeordnet sind. Bestätigt wird diese Auffassung außerdem dadurch, daß das Grundgesetz sich zu „unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft" bekennt (Art. 1 II). Die Menschenrechte werden vom Grundgesetz in Übereinstimmung mit den Naturrechtslehren, auf denen die klassischen Erklärungen der Menschenrechte beruhen, als dem Staate vorgegebene, überpositive Rechte verstanden. Leben und Freiheit sind hiernach nicht einfach dem Individuum von Natur aus zustehende Güter, sondern zugleich „natürliche", „angeborene", „unveräußerliche" Rechte. 29 Das bedeutet vor allem, daß diese Güter rechtlich nicht verfügbar sind, also insbesondere von der staatlichen Rechtsordnimg dem Individuum nicht genommen und nicht einem anderen Subjekt zugewiesen werden dürfen. Hat der Mensch „von Natur aus" ein Recht auf Lieben, Freiheit und Eigentum, also auf den Bestand, die Wahrung der Unversehrtheit dieser Güter, dann ist dieses Recht in seiner Schutzrichtung denknotwendig „absolut". Sind die Menschenrechte als vor- und überstaatliche Rechte in ihrer Geltung von der Existenz des Staates unabhängig, dann ist es nicht möglich, sie als nur staatsgerichtet zu denken. Ihrer Begründung aus der Natur des Menschen nach kann ihr Geltungsanspruch sich nicht auf das Verhältnis zum Staat beschränken. Der Achtungsanspruch der Menschenrechte richtet sich logisch an jedermann, der ihre Schutzgüter beeinträchtigen könnte. Eine Verfassung, welche die „unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechte" anerkennt, inkorporiert sie mit ihrer naturrechtlichen Bedeutung mit ihrem „absoluten" Geltungsanspruch in das positive Verfassungsrecht. Daß die Menschenrechte als verfassungsrechtlich positivierte Grundrechte sich ausschließlich gegen den Staat richten, steht dazu nicht im Widerspruch. Man muß nämlich unterscheiden zwischen dem materiellen Gehalt und der rechtstechnischen Funktion der Grundrechte. Die verfassungsrechtliche Gewährleistung der Grundrechte hat die Funktion, die naturrechtlich postulierten Menschenrechte positivrechtlich zur Geltung zu bringen und ihnen einen besonderen Rang in der staatlichen Rechtsordnung zu geben, insbesondere also auch den Gesetzgeber an diese Rechte zu binden. Diese rechtstechnische Funktion aber betrifft nur das Verhältnis zwischen Staat und Bürger, nicht auch das Verhältnis zwischen den Bürgern. Die rechtlichen Beziehungen zwischen den Bürgern werden durch das staat29 So die Formulierungen z.B. Virginia, B i l l of Rights v. 12.6.1776, Section 1; Frankreich, Déclaration des droits de l'homme et du citoyen ν. 26.8.1789, Art. 2. Genau formuliert müßte es heißen, daß jeder Mensch ein natürliches Recht auf Leben usw. hat.
Β. Kriterien für die Grundrechtseinschränkung zugunsten Privater
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liehe Gesetz geregelt. 30 Zur Sicherung des absoluten Schutzgehalts der Menschenrechte reicht es aus, den Staat an diese Rechte verfassungsrechtlich zu binden, denn Beeinträchtigungen der Schutzgüter durch Private sind ja nur dann rechtmäßig, wenn die staatliche Rechtsordnung dies zuläßt. Bei der Entscheidung, ob der Staat solche Beeinträchtigungen zuläßt, ist er selbst an die Grundrechte gebunden. Die These von der Relativität der grundrechtlichen Schutzgüter e;rweist sich damit als unhaltbar. Sie kann aus der liberalen Grundrechtskonzeption, also aus dem Verständnis der negatorischen Grundrechte als staatsgerichtete Abwehrrechte nicht abgeleitet werden. Nein, sie ist mit dem liberalen Grundrechtsverständnis sogar unvereinbar, weil sie den SubjçktCharakter des Individuums, der dieser Konzeption zugrunde liegt, in Frage stellen müßte. 31 Somit kann der Umstand, daß die Grundrechte nur im Staat-Bürger-Verhältnis gelten, kein Argument gegen die hier vertretene und begründete These abgeben, der Staat schränke die Grundrechte ein, wenn er Private zu Grundrechtseingriffen ermächtigt. B. Kriterien für die Grundrechtseinschränkung zugunsten Privater
Ist es das Verhalten des Gesetzgebers, das am Maßstab der Verfassung zu überprüfen ist, dann müssen für die Ermächtigung zu privaten Grundrechtseingriffen prinzipiell dieselben Kriterien gelten wie für die Ermächtigung zu exekutivischen Grundrechtseingriffen. Zunächst ist der jeweilige Gesetzesvorbehalt zu beachten. Zur Einschränkung von Art. 2 I I GG - dieses Grundrecht kommt im Hinblick auf technische Risiken vor allem in Betracht - genügt ein nicht weiter qualifiziertes Gesetz. Sodann muß die Einschränkung einem Ziel des Gemeinwohls dienen. Dies schließt nicht aus, daß das Unternehmen, zu dessen Gunsten die Einschränkung erfolgt, auch privaten Zwecken dient. Aber dieses Unternehmen darf nicht ausschließlich 30
Vgl. Schnur, W D S t R L 22 (1965), 140 f. - Diese Ansicht findet ihre exakte Bestätigung in der Déclaration des droits de l'homme et du citoyen vom 26.8.1789. Nach Art. 4 besteht die Freiheit darin, alles tun zu können, was einem anderen nicht schadet. Aber diese Grenze der Freiheit könne allein durch Gesetz bestimmt werden. Dies wird dann i n Art. 5 nochmals hervorgehoben: Nur durch Gesetz dürften Handlungen, die der Gesellschaft schädlich sind, verboten werden. Alles, was nicht durch Gesetz verboten sei, könne nicht verhindert werden, und niemand könne gezwungen werden zu tun, was das Gesetz nicht befiehlt. Also: Die Menschenrechte verlangen zwar Achtung durch jedermann, aber positivrechtlich sind Private nur an das Gesetz gebunden. Vgl. auch die französische Verfassung vom 3.9.1791. 31 Wenn es dies wäre, was das BVerfG mit dem „objektivrechtlichen Gehalt" der Grundrechte oder mit den Grundrechten als „Wertentscheidungen" meint, dann hätten diese Bezeichnungen einen juristisch prägnanten Sinn, der die häufig geäußerten Bedenken gegen die mangelnde Rationalität dieser Wendungen und den daraus resultierenden richterlichen Wertimgssubjektivismus entfallen ließe. 7:
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privatnützig sein, sondern die Durchführung des privaten Unternehmens muß objektiv im öffentlichen Interesse liegen 32 - mag auch der Unternehmer subjektiv nur eigene „Profitinteressen" verfolgen. 33 Und schließlich muß die Grundrechtseinschränkung im Hinblick auf das in dem Unternehmen liegende Ziel des Gemeinwohls verhältnismäßig sein. Auch im Hinblick auf das private Vorhaben, dem die Gnmdrechtseinschränkung dient, muß also wie bei einem staatlichen Eingriff geprüft werden, ob die Einschränkung geeignet und erforderlich ist, das öffentliche Ziel zu erreichen, und ob sie nicht in unverhältnismäßig gravierender Weise die Grundrechtsposition derart schmälert, daß dies im Hinblick auf den erzielten öffentlichen Nutzen unzumutbar ist. 3 4 Wird aber hier nicht ein privates Unternehmen ebenso wie ein staatliches auf seinen öffentlichen Zweck und auf seine Erforderlichkeit zu diesem Zweck abgefragt? Und ist nicht der Bereich der privaten Freiheit derjenige, in dem man nach Belieben tun und lassen kann, was man will, in dem man folglich die Ziele, die man verfolgt, und die Mittel, die man einsetzt, nicht zu rechtfertigen braucht? Grundsätzlich ja! Doch hier ist es in Wirklichkeit nicht der Unternehmer, sondern der Gesetzgeber, der sich im Hinblick auf die gesetzliche Eingriffsermächtigung zu rechtfertigen hat. 3 5 Freilich: Der Gesetzgeber hat, wenn er betroffenen Bürgern Duldungspflichten auferlegt, diese auch dann im Hinblick auf ihre Erforderlichkeit zur Erreichung eines Gemeinwohlziels zu rechtfertigen, wenn die Eingriffsermächtigung eitlem Privaten erteilt wird. Dadurch aber w i r d dem begünstigten Unternehmer nichts von seiner rechtlich geschützten Freiheit genommen, sondern ihm w i r d etwas gegeben. Die Sphäre der bürgerlichen Freiheit zur Beliebigkeit ist nämlich eine Sphäre, in der sich die Bürger auf der Ebene der Freiwilligkeit begegnen. Das Mittel der Gewalt, des einseitigen Zwangs, ist hier grundsätzlich ausgeschlossen. Die Freiwilligkeit der Beziehungen unter den 32 Vgl. BVerwG, NJW 1978, 2308 (2310); Suhr, JZ 1980, 171; Bullinger, Der Staat 1 (1962), 449 ff. - Zur Einschränkung dieses Grundsatzes hinsichtlich der Belastung mit Risiken s.u. § 8 A. 33 Böhmers gegenteilige Ansicht, BVerfGE 56, 266 (284ff.), beruht auf der Annahme, daß nur der Staat selbst zum Wohle der Allgemeinheit tätig werden könne. Das ist m.E. nicht haltbar. Selbst beliehene Unternehmer, die objektiv nur öffentliche Aufgaben wahrnehmen, können subjektiv ausschließlich im Profitinteresse tätig sein. Die Legitimation für den Grundrechtseingriff kann nur der objektive Gemeinwohlzweck abgeben; kommt es auf ihn an, dann muß das subjektive Interesse des Ausführenden unerheblich sein. Allerdings ist sicherzustellen, daß der objektive Gemeinwohlzweck auch tatsächlich, und zwar dauernd, verfolgt wird. Vgl. die K r i t i k Breuers an Böhmer, DVB1.1981, 974 f.; zur Pflicht des Staates, sicherzustellen, daß zugunsten Privater enteignete Sachen im öffentlichen Interesse verwendet werden, ausführlich Bullinger, Der Staat 1 (1962), 449ff.; BVerfG, 20.3.84, NJW 1984,1872f. - D e r öffentliche Zweck der Gestattung von Bagatelleingriffen kann freilich auch in der Hebung des Standards allgemeiner privater Freiheitlichkeit liegen, s.u. § 11 Β. I. 3. 34 Vgl. BVerfGE 53, 30 (58). 35 Dies verkennt Schlink, NJW 1981, 566, mit seiner K r i t i k an Schwabe.
Β. Kriterien für die Grundrechtseinschränkung zugunsten Privater
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Bürgern ist die Basis der Staatsfreiheit dieser privaten, gesellschaftlichen Sphäre. Das freie Übereinkommen unter Bürgern ist grundsätzlich nicht rechtfertigungsbedürftig; für den einseitigen Eingriff gilt das nicht. § 6 Grundrechtliche Schutzpflichten als Störungsabwehrpflichten Die in ständiger Rechtsprechimg vertretene Ansicht des Bundesverfassungsgerichts, daß der Staat verpflichtet ist, die Grundrechte gegen Eingriffe Dritter zu schützen 1 , hat sich allgemein durchgesetzt. 2 Die meisten Autoren folgen dem Bundesverfassungsgericht auch in der Auffassung, daß diese Schutzpflicht aus der „objektivrechtlichen Funktion" der Grundrechte abzuleiten sei. Diese Ansicht hat jedenfalls dann einiges für sich, wenn man die Grundrechte mit dem Bundesverfassungsgericht nicht nur als Abwehrrechte, sondern zugleich als „Werte" oder als „objektivrechtliche Wertentscheidungen" versteht 3 . Objektive Werte nämlich gelten absolut. Ihre Geltung läßt sich nicht auf die Relation zwischen Träger des Wertes und Staat beschränken. 4 Die Folgerimg, daß den Grundrechten unmittelbare Drittwirkung zukomme, hat das Bundesverfassungsgericht hieraus aber nicht gezogen.5 Statt dessen leitet es aus den „Wertentscheidungen" „Richtlinien und Impulse" für die Staatsfunktionen ab, eine „Ausstrahlungswirkung" auf alle Bereiche der Rechtsordnung. 6 Aus diesen „Richtlinien" können sich nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts auch Schutzpflichten ergeben. 7 Diese Begründung w i r d kaum den Anspruch dogmatischer Stringenz erheben können. Sie läßt nicht nur im Dunkeln, woraus die Pflicht des Staates zum Schutz der als Werte verstandenen Grundrechte letztlich folgt, sondern auch, wie weit diese Schutzpflicht reicht, ja sogar, ob überhaupt immer oder nur gelegentlich dem Grundrecht eine Schutzpflicht 1
BVerfGE 39, 1 (41); 46, 160 (164); 49, 89 (141f.); 53, 30 (57); 56, 54 (73). Vgl. z.B. Rauschning, W D S t R L 38 (1980), 183; E. Klein, Bundesverfassungsgericht und Ostverträge, S. 9ff.; ders., DÖV 1977, 704ff.; Doehring, Staatsrecht, S. 291 f.; Benda, UPR 1982, 243f.; ders., in: Technische Risiken und Recht, S. 6; Marburger, WiVerw. 1981, 245; Schmidt-Aßmann, AöR 106 (1981), 215f.; Ossenbühl, DÖV 1981, 4f.; Hofmann, Rechtsfragen, S. 75, 87, 310f.; Hesse, Verfassungsrecht, S. 147. 3 Vgl. BVerfGE 7, 198 (205); 35, 79 (114) m.w.N.; 39, 1 (41f.); 49, 89 (141f.). - Zur Kritik am Wertverständnis der Grundrechte vgl. z.B. C. Schmitt, Die Tyrannei der Werte, in: Säkularisation und Utopie (1967), S. 37ff.; Forsthoff, Rechtsstaat im Wandel, S. 133ff., 206ff.; Hesse, Verfassungsrecht, S. 127f.; F. Müller, Juristische Methodik, S. 48f.; Roellecke, Festg. BVerfG II, S. 42; Ossenbühl, NJW 1976, 2102f. 4 Vgl. Forsthoff, Die Umbildung des Verfassungsgesetzes, in: Festschr. f. C. Schmitt, S. 45; ders., Der Staat der Industriegesellschaft, S. 149; E. Klein, Bundesverfassungsgericht und Ostverträge, S. 9. 5 Kritisch gegen diese dem Wert-Verständnis der Grundrechte immanente Folgerungsmöglichkeit z.B. Forsthoff, Festschr. f. C. Schmitt, S. 44ff.; ders., Der Staat der Industriegesellschaft, S. 149. 6 Vgl. BVerfGE 7, 198 (205, 207); 49, 89 (142) m.w.N. 7 Vgl. BVerfGE 49, 89 (142), allerdings mit zusätzlicher Abstützimg auf die Pflicht zum Schutz der Menschenwürde, Art. 112 GG. 2
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§ 6 Grundrechtliche Schutzpflichten als Störungsabwehrpflichten
entspricht. Der Umfang der Schutzpflichten bleibt jedenfalls undeutlich und der gerichtlichen Kasuistik überlassen. 8 Wie also lassen sich die jedenfalls i m Grundsatz allgemein anerkannten Schutzpflichten aus der Verfassung heraus begründen, und wie läßt sich der Umfang dieser Pflichten präzisieren? Diese Fragen sollen im folgenden untersucht werden. A. Schutzpflichten als Gewährleistungspflichten
Die im Grundgesetz ausdrücklich normierten Schutzpflichten reichen nicht aus, um einen umfassenden Schutz der grundrechtlichen Schutzgüter vor Beeinträchtigungen Dritter zu begründen. Die Pflicht zum Schutz von Ehe und Familie (Art. 6 I GG) soll hier außer Betracht bleiben, weil die von der Technik drohenden Beeinträchtigungen vor allem Leben und Gesundheit betreffen und weil der Schutz einer Institution nicht ohne weiteres mit dem Schutz von Individualrechtsgütern vergleichbar ist. Die Pflicht zum Schutz der Menschenwürde (Art. 11 GG) kommt zwar in unserem Zusammenhang in Betracht. Aber da nicht jede Beeinträchtigung etwa der körperlichen Unversehrtheit durch Technikfolgen zugleich die Menschenwürde verletzt, ist es erforderlich, zunächst einen allgemeineren Ansatz für die ¥ Begründung von Schutzpflichten zu suchen. I. Die Pflicht zum Schutz der Individualrechtsgüter Der Staat ist Friedensordnung. Von einem gedachten Naturzustand unterscheidet er sich dadurch, daß er die Verhältnisse zwischen seinen Bürgern rechtlich ordnet, Gewaltanwendung unter Privaten grundsätzlich verbietet und dieses Verbot mit Hilfe seines eigenen Gewaltmonopols durchsetzt. 9 Daß der Staat Gewaltanwendung unter den Bürgern nicht nur faktisch untersagt, sondern zum Verbot privater Gewalt - mit Ausnahme der Notwehr gegen rechtswidrige Angriffe - grundsätzlich verpflichtet ist, gehört zum Kernbestand neuzeitlichen europäischen Staatsdenkens. Die Pflicht der Bürger zum Gehorsam gegenüber dem staatlichen Recht rechtfertigt sich nur daraus, daß der Staat den inneren Frieden sichert, also dem Bürger Schutz bietet gegen gewaltsame Eingriffe anderer. Die Treuepflicht der Bürger und die Schutzpflicht des Staates bedingen einander. 10 8 Vgl. z.B. Hesse, Verfassungsrecht, S. 147. - Eine Auseinandersetzung mit den Voraussetzungen dieser Ableitung, dem Verständnis der Grundrechte als „Wertentscheidungen" oder „objektiven Prinzipien", kann im Rahmen dieser Arbeit nicht geleistet werden. Zur K r i t i k vgl. die oben Fn. 3 zitierte Lit. 9 Vgl. z.B. Herzog, Allgemeine Staatslehre, S. 110ff.; Merten, Rechtsstaat und Gewaltmonopol, S. 33; Scholz, NJW 1983, 705ff. 10 So ausdrücklich Art. I I I der Verfassung von New-Hampshire vom 31.10.1783: "When men enter into a state of society, they surrender up some of their natural rights
Α. Schutzpflichten als Gewährleistungspflichten
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D i e V e r p f l i c h t u n g des Staates, G e w a l t a n w e n d u n g u n t e r P r i v a t e n g r u n d sätzlich z u verbieten u n d dieses Verbot auch durchzusetzen, folgt n i c h t n u r aus E r w ä g u n g e n der p o l i t i s c h e n Philosophie oder der allgemeinen Staatslehre, die j a - f ü r sich genommen - keine p o s i t i v - r e c h t l i c h e V e r b i n d l i c h k e i t beanspruchen k ö n n t e n ; diese V e r p f l i c h t u n g w i r d auch v o m Grundgesetz als r e c h t l i c h geltend vorausgesetzt u n d d a m i t p o s i t i v r e c h t l i c h anerkannt. Das Grundgesetz n ä m l i c h steht i n der T r a d i t i o n dieses Staatsdenkens: Es h a t auf der Ebene des einfachen Rechts eine Rechtsordnung - i n s o w e i t u n v e r ä n d e r t - übernommen, die den A n f o r d e r u n g e n der P f l i c h t z u m G e w a l t v e r b o t e n t spricht, u n d es h a t die I n s t i t u t i o n e n , die dieses G e w a l t v e r b o t gewährleisten u n d erst aus seiner G e l t u n g heraus i h r e n S i n n beziehen, v o r a l l e m die
to that society, in order to insure the protection of others; and without such an equivalent, the surrender is void." Ähnlich Virginia, B i l l of Rights, Section 3. - Andere klassische Erklärungen der Menschen- und Bürgerrechte garantieren neben den Freiheitsrechten ein Recht auf „Sicherheit" (Virginia, B i l l of Rights v. 12.6.1776, Section 1; Frankreich, Déclaration des droits de l'homme et du citoyen ν. 26.8.1789, Art. 2), welches gleichbedeutend sein dürfte mit dem Recht jedes Individuums "to be protected by it (the society) in the enjoyment of his life, liberty, and property, according to standing laws", das die B i l l of Rights von Massachusetts v. 2.3.1780 in Art. X garantiert (vgl. auch ebd. die Präambel). - Die amerikanische Unabhängigkeitserklärung vom 4.7.1776 bezeichnet es als „self-evident", daß die Staatsgewalt den Zweck hat, die unveräußerlichen Menschenrechte zu schützen, und "that whenever any Form of Government becomes destructive to these ends it is the Right of the People to alter or to abolish it". - In der Staatslehre wird der unauflösliche Zusammenhang von Schutz und Gehorsam allgemein betont. Nach einhelliger Auffassimg ist die Sicherung des inneren Friedens notwendige Bedingung für die Rechtfertigung des Staates, wenn auch nicht nach allen Auffassungen hinreichende Bedingung. Der Schutz des Bürgers ist also, anders ausgedrückt, notwendiger Staatszweck, notwendige oder primäre Staatsaufgabe. Dies gilt für die liberalen Theoretiker ebenso wie für die absolutistischen. Vgl. z.B. Jean Bodin, Les Six Livres de la République. Paris 1583, 1 1 (S. 5); dazu Quaritsch, Staat und Souveränität, S. 279ff.; Thomas Hobbes, Vom Bürger, 5. Kap. (Ausg. Hamburg 1959); ders., Leviathan, 17. Kap. (Ausg. Darmstadt, Neuwied 1966); Samuel Pufendorf, De jure naturae et gentium l i b r i octo lib. VII, cap. 2, §§ 3ff. (Ausg. 1688); John Locke, The Second Treatise of Government, I X 131; dazu Helmut Steinberger, Konzeption und Grenzen freiheitlicher Demokratie. Berlin u.a. 1974, S. 68ff.; Gottfried Wilhelm Leibniz, Textes Inédits, hrsg. v. G. Grua, Paris 1948, S. 596, 632, 716, 723; dazu Hartmut Schiedermair, Das Phänomen der Macht und die Idee des Rechts bei Gottfried Wilhelm Leibniz, Wiesbaden 1970, S. 120ff.; Erwin Ruck, Die Leibniz'sche Staatsidee. Tübingen 1909, S. 64f., 86; Immanuel Kant, Über den Gemeinspruch, Werke Bd. 9, S. 144,150; Paul Laband, Das Staatsrecht des Deutschen Reiches, 5. Aufl., 1. Bd., Tübingen 1911, S. 140, 142, 152f.; Heinrich Pohl, in: Die Grundrechte und Grundpflichten der Reichsverfassung I, Berlin 1929, S. 255; Glanville L. Williams, The correlation of allegiance and protection, The Cambridge Law Journal, Vol.10 (1948- 1950), 54ff.; Hans Nawiasky, Allgemeine Staatslehre, Teil 2, Bd. 1, Einsiedeln u.a. 1952, S. 157, 160; Geck, ZaöRV 17 (1956/57), 510f. m.w.N.; Krüger, Allgemeine Staatslehre, S. 769; Oberthür, u. Fn. 53, S. 11 ff. m.w.N.; Quaritsch, Staat und Souveränität, S. 202; Isensee, in: Festschr. Eichenberger, S. 23ff., insb. 26f.; ders., Das Grundrecht auf Sicherheit, S. 4, lOff.; Merten, Rechtsstaat und Gewaltmonopol, S. 36 u. pass.; ders., in: Festschr. f. Samper, S. 40ff.; Scholz, NJW 1983, 705ff.; Doehring, Die Pflicht des Staates zur Gewährung diplomatischen Schutzes, S. 46. Wie Doehring, S. 47 ff., 89, am Beispiel der USA, Großbritanniens, der Schweiz und Frankreichs nachgewiesen hat, handelt es sich bei der Rechtspflicht des Staates zum Schutz seiner Staatsbürger um ein principe générale des nations civilisées.
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§6 Grundrechtliche Schutzpflichten als Störungsabwehrpflichten
Gerichtsbarkeit 11 , verbürgt. Und schließlich gehört zu den Elementen des Art. 20 I GG eines, das oft übersehen wird: Die Bundesrepublik Deutschland ist nicht nur Bundesstaat, Sozialstaat, Republik oder Demokratie - sie ist auch Staat. Dies ist zwar kein Element der Verfassungsform, aber es ist Verfassungsvoraussetzung. Ein Staat, der die Beziehungen unter seinen Bürgern dem Faustrecht überließe, wäre keiner. Außerdem läßt sich die Pflicht zum grundsätzlichen Verbot privater Gewalt auch auf die Anerkennung der Menschenrechte (Art. 1 I I GG) stützen, deren Geltungsanspruch sich, wie bereits ausgeführt 12 , auch gegen gewaltsame Eingriffe Privater richtet. Aus dieser, von der Verfassung vorausgesetzten und anerkannten Pflicht, Gewalt unter Bürgern grundsätzlich zu verbieten 13 , ergeben sich notwendig weitere Pflichten, die auf denselben Grundgedanken zurückgehen: Ist Gewalt zwischen Bürgern verboten, so muß der Staat Regeln zur Verfügung stellen, anhand deren Konflikte unter Privaten zu entscheiden sind; er muß die Rechtssphären der Bürger voneinander abgrenzen. Sodann impliziert das Gewaltverbot das grundsätzliche, nur für Notsituationen durchbrochene Verbot der Selbstverteidigung und der Selbsthilfe. Verbietet der Staat dem Bürger, sich rechtswidriger Angriffe gewaltsam zu erwehren oder seine Ansprüche notfalls mit Gewalt durchzusetzen, dann läßt sich dies nur rechtfertigen, sofern und soweit der Staat die Durchsetzung der Rechte für den Bürger übernimmt. 14 Wenn der Staat diesen Schutz nicht bietet, beeinträchtigt das Selbstverteidigungsverbot diejenigen Rechte, die auf diese Weise schutzlos den Angriffen Dritter preisgegeben wären. Aus der Pflicht zum Gewaltverbot folgt also die allgemeine Verpflichtung des Staates, seine Bürger gegen rechtswidrige Angriffe Dritter zu schützen. 11 Zum Zusammenhang von Gerichtsbarkeit und Gewaltverbot vgl. Herzog, Allgemeine Staatslehre, S. U l f . ; H. Krüger, Allgemeine Staatslehre, S. 769. 12 s.o. § 5 A . II. 2. 13 Die verfassungsrechtliche Verbindlichkeit von rechtlichen VerfassungsVoraussetzungen ergibt sich aus ihrer impliziten Anerkennung im Verfassungsgesetz. Vgl. in einem nicht völlig vergleichbaren Zusammenhang BVerfGE 2, 380 (403): Das Verfassungsrecht bestehe auch aus allgemeinen Grundsätzen und Leitideen, die der Verfassungsgesetzgeber, weil sie das vorverfassungsmäßige Gesamtbild geprägt haben, von dem er ausgegangen ist, nicht in einem besonderen Rechtssatz konkretisiert habe. Zum Bürgerfrieden als Verfassungsvoraussetzung vgl. auch Isensee, Festschr. Eichenberger, S. 31 f.; Merten, Rechtsstaat und Gewaltmonopol, S. 38 u. pass.; Scholz, NJW 1983, 705 f., 710. - Bei der Pflicht zum Gewaltverbot handelt es sich um eine rechtliche Verfassungsvoraussetzung im Unterschied zu faktischen Verfassungsvoraussetzungen, die Herbert Krüger in seiner Abhandlung über „VerfassungsVoraussetzungen und Verfassungserwartungen", Festschr. f. U. Scheuner, Berlin 1973, S. 285ff., in erster Linie im Auge hat. 14 Die Bestimmungen über Selbsthilfe und Notwehr, die Ausnahmen vom allgemein geltenden Gewaltverbot zulassen, bestätigen dies, indem sie ausdrücklich oder implizit die private Gewaltanwendung nur dann zulassen, „wenn obrigkeitliche Hilfe nicht rechtzeitig zu erlangen ist" (§ 229 BGB). Daraus ergibt sich, daß der Staat zu „obrigkeitlicher Hilfe" verpflichtet ist. - Wie hier auch Merten, Rechtsstaat und Gewaltmonopol, S. 60 ff.
Α. Schutzpflichten als Gewährleistungspflichten
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D i e P f l i c h t e n des Staates z u m Schutz v o n I n d i v i d u a l r e c h t s g ü t e r n s i n d h i e r n a c h Gewährleistungspflichten. D e r Staat h a t die Rechte der B ü r g e r auch gegen E i n g r i f f e D r i t t e r effektiv z u gewährleisten. Diese V e r p f l i c h t u n g ist auch f ü r den l i b e r a l e n Rechtsstaat, der auf Ausgrenzung der p r i v a t e n Freiheitssphäre gegen Staatsinterventionen u n d auf Machtbegrenzung des Staates h i n k o n z i p i e r t ist, eine S e l b s t v e r s t ä n d l i c h k e i t . 1 5 D i e klassische l i b e rale Staatstheorie w o l l t e den Staat auf die R e c h t s b e w a h r f u n k t i o n reduzieren, aber sie h a t diese F u n k t i o n nie i n Frage gestellt. I m Gegenteil: D i e G e w ä h r l e i s t u n g v o n Leben, k ö r p e r l i c h e r
Unversehrtheit,
Freiheit
und
E i g e n t u m gegen E i n g r i f f e D r i t t e r w a r f ü r diese Theorie der wesentliche, w e n n n i c h t der einzige Z w e c k des Staates. 1 6 Dagegen ist die G e w ä h r l e i s t u n g dieser G ü t e r gegen staatliche
E i n g r i f f e n i c h t Staatszweck, sondern Begren-
zung der staatlichen M i t t e l , A u s d r u c k der p r i n z i p i e l l e n Begrenztheit der staatlichen Befugnisse. D i e G r u n d r e c h t e setzen den Staat voraus, gegen den sie sich r i c h t e n u n d der die Freiheitssphäre als solche garantiert. D i e ausschließliche Staatsgerichtetheit der negatorischen G r u n d r e c h t e e r k l ä r t sich n u r daraus, daß a l l e i n der Staat G e w a l t anwenden, sich d u r c h einseitigen Z w a n g durchsetzen darf. P r i v a t e n ist G e w a l t o h n e h i n verboten. Das P r i n z i p des Gewaltverbots h a t der neuzeitliche Staat schon i n v o r k o n s t i t u t i o n e l l e r Z e i t realisiert. V o n i h m g i n g der europäische K o n s t i t u t i o n a l i s m u s aus. 1 7 E r
15 Vgl. E. R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. IV, Stuttgart u.a. 1969, S. 817; Schnur, DVB1. 1965, 490; zur Bedeutung der Menschenrechte für das Privatrecht seit ihrer Entstehung vgl. Leisner, Grundrechte und Privatrecht. - Die grundrechtliche Schutzpflicht ist materiell keine neue Rechtsschöpfung des BVerfG, sondern die Aktualisierung einer im deutschen Konstitutionalismus schon immer bestehenden Pflicht, die nur deshalb in Vergessenheit geraten war, weil der Staat sie unproblematisch beachtet hatte (abgesehen von Fällen, die die Rechtsprechung durch „verfassungskonforme Auslegung" lösen konnte), bis er die Strafbarkeit der Abtreibung partiell aufhob und bis die technische Entwicklung die Frage aufwarf, ob der Staat auf diesem Sektor der Schutzpflicht hinreichend nachgekommen sei. Vgl. zur „objektiven Grundsat ζWirkung" der Grundrechte Böckenförde, in: Freiheit in der sozialen Demokratie, S. 80; zustimmend Ossenbühl, NJW 1976, 2101. 16 Vgl. John Locke, The Second Treatise of Government, I X 123, 131. - Wie Georg Jellinek, Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte, S. 56, zutreffend bemerkt, liegt es deshalb in der Konsequenz des von John Locke repräsentierten liberalen Naturrechtsdenkens, daß das Recht auf Sicherheit als ein natürlicher Anspruch an den Staat verstanden wird. - Zum Sicherheitszweck in der liberalen Staatstheorie näher: Isensee, Das Grundrecht auf Sicherheit, S. 10 f. 17 Dieser hatte - was die Menschenrechtsgeltung unter Privaten betraf - nicht das grundsätzliche Verbot privater Gewaltsamkeit zu erstreiten, sondern die allgemeine Rechtsgleichheit der Bürger, die Abschaffimg von Privilegien und privaten Herrschaftsverhältnissen. Das ist aber eine Frage des staatsgerichteten Gleichheitssatzes, nicht etwa der Drittwirkung des Gleichheitsgebots. - Nicht so unproblematisch konnten dagegen die Verfassungsväter der neu gegründeten amerikanischen Staaten vom Verbot privater Gewalt und seiner effektiven Durchsetzung ausgehen. So mag es sich erklären, daß man i n amerikanischen Menschenrechtserklärungen das Recht auf Sicherheit, also den Anspruch auf Schutz durch den Staat, ausdrücklich verankert findet (s.o. Fn.10). Wenn die französische Déclaration des droits de l'homme et du citoyen von 1789 und die französische Verfassung von 1793 ebenfalls ausdrücklich das Recht auf Sicherheit normieren, so wohl deshalb, weil die französische Menschen-
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§ 6 Grundrechtliche Schutzpflichten als Störungsabwehrpflichten
brauchte aus diesem Grunde die individuelle Freiheit nur gegen den Inhaber des Monopols legitimer Gewaltsamkeit, den Staat, mit subjektiven Abwehrrechten zu schützen. Die durch die Grundrechte vom Staat ausgegrenzte private Freiheitssphäre ist nach der liberalen Grundrechtskonzeption kein Naturzustand, sondern ein bürgerlicher Rechtszustand. 18 In der Privatsphäre darf man zwar prinzipiell tun und lassen, was man will, aber das Mittel der Gewalt, des Zwanges, ist dabei ausgeschlossen. Die Sphäre der bürgerlichen Freiheit ist die Sphäre der Freiwilligkeit, der Privatautonomie., Einseitig durchsetzbar ist privater Wille nur aufgrund vorheriger - vertraglicher - Zustimmung des Betroffenen oder aufgrund staatlicher Ermächtigung. Die Pflicht des Staates zum Schutz der Bürger gegen Eingriffe Dritter ist demnach kein Widerspruch zur liberal-rechtsstaatlichen Grundrechtskonzeption 19 , sondern w i r d von dieser vorausgesetzt. 20 II. Die grundrechtliche
Bedeutung der staatlichen Schutzpflicht
Die Pflicht des Staates zur Gewährleistung der individuellen Rechte hat - wie gezeigt - Verfassungsrang. Kann aber - wie das Bundesverfassungsgericht annimmt - ein Verstoß gegen diese Schutzpflicht auch zu einem Verstoß gegen Grundrechte führen, mit der praktisch wichtigen Konsequenz, daß der einzelne insoweit einen subjektiven Schutzanspruch hätte, den er auch im Wege der Verfassungsbeschwerde geltend machen könnte? Und wie wäre dieser Grundrechts verstoß zu begründen? 21 rechtserklärung sich stark an den amerikanischen Vorbildern orientiert hat. Hierzu vgl. Georg Jellinek, Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte, S. 8 ff. 18 Vgl. Kant, Über den Gemeinspruch, Werke Bd. 9, S. 143 ff. 19 So aber Morvey, ZaöRV 21 (1963), 321. 20 Dazu sei nochmals auf den Klassiker des liberalen Konstitutionalismus, John Locke, hingewiesen, der im Second Treatise die Schutzpflicht des Staates für Leben, Freiheit und Eigentum postuliert hat (IX 131), s.o. Fn. 16, sowie auf die oben Fn. 10 zitierten klassischen Verfassungen. Vgl. außerdem E. R. Huber, o. Fn. 15, S. 817; Merten, Rechtsstaat und Gewaltmonopol, S. 57f.; Isensee, Festschr. Eichenberger, S. 28; Scholz, NJW 1983, 705f., 710; Murswiek, in: Grundrechtsschutz, S. 227f.; BVerfGE 49, 24 (56 f.) - KontaktsperreG; 54, 341 (358). - Isensee, Diskussionsbeitrag W D S t R L 41 (1983), 131, bezeichnet das Verbot der privaten Gewalt zutreffend als „das Apriori des modernen Staates schlechthin". Seiner Auffassung, daß die Friedenspflicht des Bürgers unabhängig davon gelte, ob sie gesetzlich geregelt sei, kann jedoch nicht gefolgt werden. 21 Das BVerfG begnügt sich mit dem Hinweis auf den Charakter der Grundrechte als „objektiv-rechtliche Wert en t Scheidungen", vgl. BVerfGE 49, 89 (142). Doch dieser Hinweis kann eine dogmatische Begründung nicht ersetzen. Das Verhältnis zwischen „objektiver" Schutzpflicht und subjektiver Grundrechtsverletzung bleibt hier ungeklärt. Obwohl das BVerfG offenbar davon ausgeht, daß man mit der Rüge, die Schutzpflicht sei verletzt, Verfassungsbeschwerde erheben kann, bleibt offen, wie das BVerfG sich die Verbindung zwischen „objektiver" Grundrechtsfunktion und subjektivem Anspruch vorstellt.
Α. Schutzpflichten als Gewährleistungspflichten
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Da der Staat für die Folgen seiner Untätigkeit verantwortlich ist, sofern er zum Handeln verpflichtet 22 war, sind ihm auch die Folgen einer Verletzung seiner Schutzpflicht zuzurechnen. Demnach ist die Verletzung der Schutzpflicht dann zugleich ein Grundrechts verstoß, wenn sie zur Beeinträchtigung des grundrechtlich geschützten Gutes führt. Mit der Verletzung der Schutzpflicht verletzt der Staat dann das Grundrecht als Abwehrrecht, denn es liegt ein staatlicher Eingriff (durch Unterlassen) vor. Es ist also gar nicht nötig, zur Begründung der Grundrechtsverletzung die „objektivrechtliche Wertentscheidung" zu bemühen. Allerdings: Unterlassener Schutz begründet eine Grundrechtsverletzung nur dann, wenn der Staat zum Schutz verpflichtet war. Da der Staat zum Schutz der bestehenden Rechte des Individuums verpflichtet ist (Rechtsbewahrfunktion der Gewährleistungspflichten), fragt sich, ob er sich der Schutzpflicht nicht einfach dadurch entledigen kann, daß er dem einzelnen die Rechte entzieht, die er gegen Beeinträchtigungen durch Dritte zu schützen hat. Da die gesetzliche Erteilung der Erlaubnis zum Eingriff in Rechte anderer zugleich eine Verkürzung der Rechte des Betroffenen ist, könnte sie niemals die Schutzpflicht verletzen, wenn der Staat nur die jeweils im Privatrecht oder im Strafrecht gewährleisteten Rechte zu schützen hätte. Die Frage ist also, ob der Staat nur verpflichtet ist, den einzelnen vor rechtswidrigen Eingriffen anderer zu bewahren 23 , oder ob er darüber hinaus verpflichtet ist, bestimmte Rechtsgüter unter den Schutz des Gesetzes zu stellen. Ob ein Eingriff durch Dritte rechtswidrig ist, ergibt sich ja aus dem einfachen Recht. Ist also der Gesetzgeber verpflichtet, Beeinträchtigungen bestimmter Güter zu untersagen und sie damit rechtswidrig zu machen? Die oben gegebene Begründung der Schutzpflichten gilt für den Staat in allen seinen Funktionen, also auch für den Gesetzgeber. Die allgemeine Gewährleistungspflicht bezieht sich demnach nicht nur auf die aus dem einfachen Recht folgenden subjektiven Rechte der Bürger, sondern auf die Integrität des Individuums als Person. Somit ist der Gesetzgeber verpflichtet, dem einzelnen zum einen diejenigen Rechte gesetzlich einzuräumen, von denen die Verfassung dies verlangt, zum anderen aber auch diejenigen Güter rechtlich gegen Beeinträchtigungen seitens Dritter zu schützen, die dem Grundgesetz zufolge dem einzelnen kraft seines Menschseins gegeben sind. Dabei handelt es sich - wie bereits gezeigt 24 - um die Schutzgüter der Menschenrechte, nämlich Leben, körperliche Unversehrtheit, Freiheit und Eigentum. Somit verhalten sich die als Gewährleistungspflichten verstandenen Schutzpflichten zu den negatorischen Grundrechten komplementär: Dieselben Güter, 22
s.o. § 2 C . II. 4. So die wohl nicht problembewußte Formulierung in BVerfGE 39, 1 (42); 46, 160 (164); 53, 30 (57); Rauschning, W D S t R L 38 (1980), 183; Hesse, Verfassungsrecht, S. 147; Schmidt-Aßmann, AöR 106 (1981), 215. 24 s.o. §5 A . I I . 2. 23
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§ 6 Grundrechtliche Schutzpflichten als Störungsabwehrpflichten
welche die negatorischen Grundrechte gegen staatliche Eingriffe schützen, hat der Staat auch gegenüber Dritten zu gewährleisten. 25 Die Pflicht, diese Schutzgüter gegen Eingriffe Dritter rechtlich abzuschirmen, kann als „primäre Schutzpflicht" bezeichnet werden. Die anderen, die sekundären Schutzpflichten, dienen der Durchsetzung dieses Eingriffsverbots. Sie sind der primären Schutzpflicht logisch nachgeordnet und letztlich in ihrem Bestand von ihr abhängig. Über diese Schutzpflichten im einzelnen, insbesondere ihren Umfang, ist im folgenden zu reden. B. Einzelne Schutzpflichten I. Die Pflicht zum Verbot privater Grundrechtsbeeinträchtigungen als primäre Schutzpflicht Wie gezeigt (§ 5), greift der Gesetzgeber in den Schutzbereich eines Abwehr-Grundrechts ein, wenn er dem Grundrechtsträger die Pflicht zur Duldung von Eingriffen Dritter auferlegt, also ihm die Selbstverteidigung verbietet, ohne zugleich den Eingriff zu untersagen. Ist der Gesetzgeber nicht schon aus diesem Grunde verpflichtet, den Eingriff insoweit zu verbieten, als die Verpflichtung zur Duldung dieses Eingriffs verfassungswidrig wäre? Ergäbe sich diese Pflicht schon allein aus der Abwehrfunktion des Grundrechts, dann wäre es eher verwirrend, in diesem Zusammenhang von „Schutzpflicht" zu sprechen. In der Regel wird die Eingriffsermächtigung als Ausnahme von einer Norm formuliert, die Ausdruck des allgemeinen Gewaltverbots ist, während die Pflicht zur Duldung erlaubten Verhaltens anderer schon allgemein gilt. Ist die Ermächtigung zum Eingriff wegen Verstoßes gegen das Grundrecht nichtig, so gilt der vorherige Rechtszustand, also die allgemeine Verbotsnorm wieder. Einer Verpflichtimg des Gesetzgebers zum Erlaß einer Norm, die private Eingriffe verbietet, bedarf es hier gar nicht. Denkbar sind jedoch auch Fälle, in denen das allgemeine Eingriff sverbot von vornherein nicht umfassend formuliert war, weil der auf diese Weise unverbotene Eingriff als sozial üblich und adäquat hinzunehmen war. In solchen Fällen könnte sich später herausstellen, daß der Eingriff gravierender ist, als man ursprünglich angenommen hatte, so daß er das im Allgemeininteresse hinzunehmende Belastungsquantum übertrifft. Die dem Grundrechtsträger auferlegte Duldungspflicht erweist sich dann als verfassungswidrig. Derartige Fallkonstellationen können z.B. im Immissionsschutzrecht auftreten, wenn die Immissionen eines zunächst als harmlos geltenden Stoffes sich später als gesundheitsschädlich erweisen. 26 In einer solchen Konstellation folgt aus 25
Vgl. Benda, in: Blümel / Wagner, Technische Risiken und Recht, S. 6.
Β. Einzelne Schutzpflichten
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der Nichtigkeit der Duldungspflicht nicht ohne weiteres das Verbot des Eingriffs. Die Grundrechtsbeeinträchtigung seitens des Gesetzgebers besteht ja in der Auferlegung der Duldungspflicht, und diese hat zwei Elemente: das an den Grundrechtsträger gerichtete allgemeine Verbot, sich gegen unverbotene Handlungen Dritter zu verteidigen, sowie das Fehlen des Eingriffsverbots, aus dem sich der materielle Umfang der Duldungspflicht ergibt. 27 Die Duldungspflicht, also die staatliche Gnmdrechtseinschränkung, ließe sich demnach nicht nur durch den Erlaß eines Eingriffsverbots beseitigen, sondern auch durch Aufhebung des Selbstverteidigungsverbots. Allein aus der Abwehrfunktion des Grundrechts läßt sich also die Pflicht zum Verbot privater Eingriffe nicht begründen. 28 Dennoch steht dem Gesetzgeber die Alternative, statt den Eingriff Dritter zu verbieten, das Verbot der Selbstverteidigung gegen diesen Eingriff aufzuheben, rechtlich nicht offen. Das ergibt sich aus der oben begründeten Pflicht des Gesetzgebers zum Verbot privater Gewaltanwendung. Wegen dieser, von der Verfassimg vorausgesetzten Pflicht, Gewalt unter Bürgern grundsätzlich zu verbieten, kann der Gesetzgeber sich in der erörterten Fallkonstellation nicht dadurch aus der Affäre ziehen, daß er die Duldungspflicht aufhebt, indem er dem betroffenen Grundrechtsträger gestattet, sich gegen den nicht verbotenen Eingriff eines Dritten zur Wehr zu setzen. Das allgemeine Verbot der gewaltsamen Verteidigung gegen nicht verbotene Handlungen anderer darf nicht aufgehoben werden 29 , denn damit höbe der Staat die Friedens-, die Rechtsordnung und schließlich sich selber auf. Ist also in einem konkreten Fall die Auferlegung der Pflicht zur Duldung privater Eingriffe verfassungswidrig, weil z.B. unverhältnismäßig, dann kann der verfassungsmäßige Zustand nur durch Verbot des Eingriffs hergestellt werden. Damit ist schon implizit der Umfang der Schutzpflicht bestimmt worden. Dieser ergibt sich nämlich aus der Reichweite des negatorischen Grundrechts. Das liegt an folgendem: Der Gesetzgeber ist zwar prinzipiell verpflichtet, die grundrechtlichen Schutzgüter gegen Eingriffe Dritter durch Eingriffsverbote zu schützen. Aber soweit die Grundrechte unter (explizitem oder immanentem) Gesetzesvorbehalt stehen, ist der Gesetzgeber durch 26 Zum Eingriffscharakter von Immissionen s.u. § 11. - Eine gleichartige Konstellation bieten die Fälle, in denen vorkonstitutionelles Gesetzesrecht bestimmte Eingriffsverbote noch nicht enthält, weil die Verfassung neue Schutzgüter gewährleistet - so z.B. der fehlende privatrechtliche Schutz des allgemeinen Persönlichkeitsrechts, der allerdings durch die Rechtsprechimg korrigiert wurde, so daß sich die Frage nach der Pflicht des Gesetzgebers nicht stellte. Dieselbe Problematik könnte sich bei Aufnahme neuer Schutzgüter i n die bestehende Verfassung stellen, z.B. bei Einfügung des vieldiskutierten „Umweltgrundrechts". 27 s.o. §5 Α . Π . 1. 28 Dies verkennt Schwabe, Grundrechtsdogmatik, S. 213 ff. 29 Und sollte es noch nicht bestehen, müßte es erlassen werden. Ausgenommen ist natürlich die Selbstverteidigungsbefugnis für Notrechtssituationen.
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§6 Grundrechtliche Schutzpflichten als Störungsabwehrpflichten
die Verfassung ermächtigt, die G r u n d r e c h t e einzuschränken. S o w e i t also der Gesetzgeber die Grundrechte einschränken darf, d a r f er sie a u c h z u g u n sten v o n p r i v a t e n D r i t t e n einschränken. 3 0 D e m n a c h k a n n die P f l i c h t des Gesetzgebers, p r i v a t e E i n g r i f f e i n G r u n d r e c h t e z u verbieten, n i c h t w e i t e r gehen als seine V e r p f l i c h t u n g , Grundrechtseinschränkungen zu unterlassen. A u c h hier bestätigt sich die K o m p l e m e n t a r i t ä t v o n negatorischem G r u n d recht u n d S c h u t z p f l i c h t . A u s der v o m Grundgesetz vorausgesetzten P f l i c h t z u m Verbot p r i v a t e r G e w a l t , v e r b u n d e n m i t der A b w e h r f u n k t i o n der G r u n d r e c h t e 3 1 , folgt also die P f l i c h t des Staates, p r i v a t e Grundrechtseingriffe zu v e r b i e t e n 3 2 , soweit sich die E i n g r i f f s e r m ä c h t i g u n g n i c h t aus G r ü n d e n des Gemeinwohls r e c h t fertigen l ä ß t . 3 3 D a b e i ist insbesondere der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz z u beachten. Soweit ein G r u n d r e c h t t a n g i e r t ist, das n i c h t u n t e r einfachem Gesetzesvorbehalt steht, müssen die besonderen Einschränkungsvoraussetzungen gegeben sein. 30
Zur Gegenmeinung Böhmers s.o. § 5 Fn. 33. Die Begründung von Schutzpflichten aus der Abwehrfunktion von Grundrechten heraus kommt ohne diese Voraussetzung nicht aus. Eine argumentative Schwäche wäre das aber nur dann, wenn die Voraussetzung schwach begründet wäre. Im übrigen ist zu bedenken, daß die Ableitung der Schutzpflichten aus der „objektivrechtlichen" Funktion der Grundrechte in der Argumentation der h.M. sich auf dieselbe Voraussetzung stützt und dies nur nicht ausspricht. Denn auch dann, wenn die Grundrechte „Werte" oder „Wertentscheidungen" sind, die als „objektives Recht" gelten und „auf alle Rechtsbeziehungen ausstrahlen", läßt sich die staatliche Pflicht zum Schutz dieser objektiven Werte daraus nicht logisch ableiten. Die „Folgerung" dieser Pflicht aus der „objektivrechtlichen Funktion" der Grundrechte bleibt eine unbegründete Behauptung, sofern man nicht von der allgemein geltenden Verpflichtimg des Staates ausgeht, das geltende Recht gegen seine Verletzung durch Private zu schützen, insbesondere private Rechtsgüter gegen private Gewaltsamkeit. Daß das BVerfG diese Voraussetzung seiner Argumentation nicht ausdrücklich darlegt und begründet, gereicht ihm eher zur Ehre denn zum Vorwurf - so selbstverständlich sollte diese Voraussetzung sein. Wer aber die Schutzpflichten dogmatisch gründlich begründen will, kann sich eine derart abgekürzte Argumentation schon deshalb nicht leisten, weil die Tragweite der Argumente nur dann geklärt werden kann, wenn man ihre Voraussetzungen sichtbar macht. 32 Mit „DrittWirkung" hat das nichts zu tun. Die Ansicht, daß auf diese Weise mittelbar die Grundrechte doch eine Drittwirkung bekämen - vgl. z.B. Herzog, JR 1969, 443 - , ist zu undifferenziert: Zum einen gilt das Gesagte nur für die Abwehrrechte, also nicht für den Gleichheitssatz. Zum anderen hat der Gesetzgeber Spielraum hinsichtlich des Umfangs des Eingriffsverbots, da er aus öffentlichen Gründen Grundrechtseinschränkungen auch hier vornehmen darf. Von einer Umfunktionierung der Grundrechte in Pflichtbindungen, wie das bei einer Drittwirkung der Fall wäre - vgl. z.B. Forsthoff, Festschr. für C. Schmitt, S. 47; Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, S. 149 - , kann hier keine Rede sein, denn die Grundrechte gewährleisten ohnehin nicht die Freiheit zur Gewalt gegenüber anderen. 33 Zum allgemeinen Rechtfertigungsgrund der „Sozialadäquanz" s.u. § 11 Β. I. 3. Um Mißverständnisse auszuschließen, muß betont werden, daß die privaten Eingriffe, die zu verbieten der Staat grundsätzlich gehalten ist, einseitige Interventionen in den Schutzbereich von Grundrechten, gewaltsame Lädierungen von Schutzgütern sind. Ob und inwieweit der Staat verpflichtet ist, den einzelnen auch vor bestimmten vertraglichen Abmachungen grundrechtsrelevanten Inhalts zu schützen, ist eine andere Frage. 31
Β. Einzelne Schutzpflichten
II. Sekundäre Schutzpflichten
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als Schutzgewährungspflichten
Mit dem Verbot privater Grundrechtsbeeinträchtigungen schafft der Staat die rechtliche Voraussetzung für den Schutz der grundrechtlichen Schutzgüter, gewährleistet aber noch nicht effektiven Schutz. Das Beeinträchtigungsverbot muß auch durchgesetzt werden. Daß der Staat auch hierzu prinzipiell verpflichtet ist, wurde schon begründet. 34 Die effektive Durchsetzung des Eingriffsverbots erfordert weitere rechtliche Regelungen, institutionelle und organisatorische Vorkehrungen und Maßnahmen, sowie die Androhung und Verhängung von Sanktionen. Der Staat muß durch Einsatz derartiger Mittel zum Schutz des einzelnen aktiv tätig werden. Deshalb kann man die sekundären Schutzpflichten auch unter der Bezeichnung „Schutzgewährungspflichten" zusammenfassen. Daß alle staatlichen Schutzvorkehrungen, seien sie noch so umfangreich und perfektioniert, niemals ausreichen können, jede Grundrechtsbeeinträchtigung seitens Dritter zu verhüten, liegt auf der Hand. Absoluten Schutz vor Eingriffen Dritter kann der Staat nicht bieten, und dazu kann ernicht verpflichtet sein. Aber was muß er tun, wie umfangreich ist die Schutzverpflichtung? Der Staat, so liest man als Antwort auf diese Frage, sei zwar zum Schutz der Grundrechte verpflichtet, aber wie er im einzelnen dieser Pflicht nachkomme, welche Mittel er einsetze, das sei rechtlich nicht vorgeschrieben; das falle in den politischen Gestaltungsspielraum der zuständigen Staatsorgane. 35 Daß die These in dieser Allgemeinheit nicht haltbar ist, hat schon die Erörterung der primären Schutzpflicht gezeigt: Der Staat ist nämlich zum Erlaß ganz bestimmter Rechtsnormen verpflichtet, nämlich zum Verbot von Grundrechtseingriffen seitens Dritter, und der politische Gestaltungsspielraum, der dem Gesetzgeber hier bleibt, ist nicht größer als derjenige, den der Gesetzgeber dort hat, wo er die Exekutive zu Grundrechtseingriffen ermächtigt. 36 Auch was die sekundären Schutzpflichten angeht, w i r d man differenzieren müssen. Da es keine einheitliche Schutzpflicht, sondern materiell unterschiedliche Schutzpflichten gibt, könnte auch die Reichweite dieser Pflichten im einzelnen unterschiedlich sein. Nach den in Betracht kommenden Mitteln des Schutzes lassen sich drei Gruppen von Schutzgewährungspflichten unterscheiden: 1. Streitentscheidungs- und Rechtsdurchsetzungspflichten, 2. Pflichten zum Schutz der öffentlichen Sicherheit und 3. Sanktionspflichten.
34
s.o. Α. I. Vgl. BVerfGE 39, 1 (44); 46, 160 (164); Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, S. 147; Rauschning, W D S t R L 38 (1980), 183. 38 Vgl. BVerfGE 53, 30 (58). 35
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§ 6 Grundrechtliche Schutzpflichten als Störungsabwehrpflichten
1. Streitentscheidungs- und Rechtsdurchsetzungspflichten a) Rechtsschutz und Zwangsvollstreckung Als unmittelbare Folge aus dem Verbot gewaltsamer Selbsthilfe ergibt sich die Pflicht des Staates, dem Bürger zur Durchsetzung seiner Rechte Rechtsschutz zur Verfügung zu stellen. Der Rechtsstaat ist also verpflichtet, den rechtsstaatlichen Anforderungen entsprechende Gerichte einzurichten, welche die Konflikte unter Bürgern verbindlich entscheiden. Weiterhin ist der Staat verpflichtet, diese Entscheidungen auch - gewaltsam - durchzusetzen, wenn der Verpflichtete sie nicht freiwillig befolgt. 37 Die Verpflichtung zur Gewährung von Rechtsschutz und zur Vollstreckung der gerichtlichen Entscheidungen ist strikt. Der Staat ist also verpflichtet, die Gerichte als Institutionen sowie eine Institution der Zwangsvollstreckung zu schaffen und die zum effektiven Funktionieren dieser Institutionen erforderlichen rechtlichen Regelungen zu erlassen. Er ist aber weitgehend ungebunden in der Entscheidung darüber, wie er diese Verfahrensregeln im einzelnen gestaltet, wie die zu schaffenden Institutionen im einzelnen ausgeformt werden und welche Anzahl an Gerichten etwa einzurichten ist. Unter dem Gesichtspunkt der Schutzpflicht ergibt sich eine äußere Grenze daraus, daß der Rechtsschutz effektiv sein muß. 38 Dazu gehört insbesondere die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes.39 Im übrigen wird den Belangen desjenigen, der wegen einer eingetretenen oder zu befürchtenden Beeinträchtigung seiner Grundrechte Rechtsschutz begehrt, bereits durch die rechtsstaatlichen Anforderungen an das gerichtliche Verfahren hinreichend Rechnung getragen, so daß die Frage dahinstehen kann, inwieweit sich aus der Schutzpflicht weitere Kriterien für die Ausgestaltung des Prozeßrechts ableiten ließen. b) Unterlassungsansprüche Der durch das Verhalten Dritter in seinen Rechten betroffene Bürger muß einen Anspruch darauf haben, daß der Staat seine Rechte durchsetzt. Dieser Anspruch ist das notwendige subjektive Gegenstück zur staatlichen Rechtsschutzverpflichtung. Aber welches sind die Rechte des Bürgers? Diejenigen, 37 Vgl. H. Krüger, Allgemeine Staatslehre, S. 769; Herzog, Allgemeine Staatslehre, S.111. 38 Das BVerfG leitet in ständiger Rspr. die Pflicht zum effektiven Rechtsschutz auch aus den Grundrechten ab, vgl. die Nachw. i n BVerfGE 53, 72 f. - Zur Verfahrensdauer vgl. Art. 6 I EMRK; dazu EGMR, Urt. v. 28.6.1978, EuGRZ 1978, 406 = NJW 1979, 477 - Fall König. 39 Was das BVerfG für den Rechtsschutz gegen die öffentliche Gewalt aus Art. 19 IV GG ableitet - vgl. BVerfGE 37,150 (153) - , muß entsprechend auch für die Verpflichtimg zum Rechtsschutz gegenüber Privaten gelten.
Β. Einzelne Schutzpflichten
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w i r d man sagen, welche die Rechtsordnung ihm als subjektive Rechte zuweist. Die Grundrechte aber sind subjektive Rechte nur in Relation zum Staat. Soweit der Staat objektiv verpflichtet ist, die grundrechtlichen Schutzgüter gegen Eingriffe Dritter zu schützen, ist er deshalb auch verpflichtet, diese Schutzgüter im einfachen Recht durch subjektive Rechte gegen Eingriffe Dritter abzuschirmen: Soweit der Eingriff verboten ist, muß der Betroffene einen - gerichtlich durchsetzbaren - Unterlassungsanspruch haben. 40 c) Störungsbeseitigungs- und Schadensersatzansprüche Soweit grundrechtliche Schutzgüter gegen Beeinträchtigungen seitens Dritter zu gewährleisten sind, muß dem betroffenen Grundrechtsträger auch ein Anspruch auf Beseitigung einer eingetretenen Beeinträchtigung des Schutzgutes beziehungsweise auf Schadensersatz für die Verletzung des jeweiligen Schutzguts eingeräumt werden. Anders wäre die rechtliche Gewährleistung des Schutzguts nicht effektiv. Der Schadensersatz dient der - kompensatorischen - Wiederherstellung des verletzten Guts. Daß es einen Anspruch darauf geben muß, folgt schon daraus, daß Verletzungen des Gutes verboten sind. 41 2. Schutz der öffentlichen Sicherheit Die gerichtliche Durchsetzung individueller Ansprüche allein bietet noch keinen hinreichenden Schutz für die zu schützenden Individualrechtsgüter. Der gerichtliche Rechtsschutz käme oft zu spät, um Angriffe abzuwehren. Und Schadensersatzansprüche, auch wenn sie realisiert werden können, kompensieren die Verletzung des Schutzgutes jedenfalls dann nicht vollständig, wenn es sich um Leben oder Gesundheit handelt. Sie können die Verhütung von Schäden nur in gewissem Sinne ausgleichen, aber nicht ersetzen. Sie dispensieren den Staat nicht von seiner Pflicht zum effektiven Schutz.
40 Anspruch bedeutet nach Nawiasky, Allgemeine Rechtslehre, S. 155ff., Verfügungsbefugnis über den staatlichen Zwang. Der Anspruch ist also die notwendige Kompensation des Selbsthilfeverbots. 41 Das ist als allgemeiner Rechtsgrundsatz anerkannt, vgl. Larenz, Allgemeiner Teil, S. 70; ders., Schuldrecht I, § 27 I („Ausgleichsgedanke"). Der Gesetzgeber hat hier nur hinsichtlich der Modalitäten und des Umfangs des Schadensersatzes einen gewissen Gestaltungsspielraum. Daß die Pflicht zur Einräumimg von Schadensersatzansprüchen aus der Verfassimg folgt, hat die Rechtsprechimg anerkannt, als sie aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht des Art. 2 I i.V.m. 11 GG einen Schadensersatzanspruch ableitete, zuerst BGHZ 26, 349 (345ff.) - Herrenreiter; vgl. auch z.B. BGHZ 35, 363 (366ff.); 39,124. Die ständige Rspr. des BGH wird referiert in BVerfGE 34, 269 (273ff.) - Soraya. - Zustimmend Dürig, in: Maunz / Dürig, Art. 2 I Rdnr. 27.
8 Murswiek
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§6 Grundrechtliche Schutzpflichten als Störungsabwehrpflichten
Was also muß der Staat tun, um die Beeinträchtigung der zu schützenden Güter zu verhüten? Welche Mittel muß er einsetzen, um das Verbot privater Grundrechtsbeeinträchtigungen effektiv durchzusetzen? In Betracht kommen Sanktionen, deren Androhung dazu dient, von der Beeinträchtigung der Schutzgüter abzuschrecken 42 , und in Betracht kommen Vorkehrungen und Maßnahmen, die der Überwachung des Verhaltens Privater im Hinblick auf seine Rechtmäßigkeit dienen, sowie das Einschreiten, gegebenenfalls mit Zwangsmitteln, gegen verbotenes Verhalten oder eingetretene Störungen. a) Die Pflicht zur Wahrung der öffentlichen
Sicherheit
Derartige Schutzvorkehrungen können nicht jede Schutzgutbeeinträchtigung verhindern, aber sie können einen Zustand öffentlicher Sicherheit schaffen und erhalten, in dem die dem Schutz anderer dienenden Verhaltenspflichten von den Bürgern prinzipiell beachtet werden und in dem die Regelverletzung die Ausnahme bleibt. Die Wahrung dieses Zustandes dient nicht nur der Selbsterhaltung des Staates, sondern zugleich der individuellen Sicherheit. Die Herstellung und Wahrung dieses Zustandes gehört zu den notwendigen Staatsaufgaben, zu deren Erfüllung die zuständigen Organe auch rechtlich verpflichtet sind. 43 Der Staat muß also die zur Erfüllung dieser Aufgaben erforderlichen personellen und sachlichen Mittel und Organisationen bereitstellen, also Überwachungsbehörden und Polizei. Hier ist der politische Gestaltungsspielraum allerdings groß: Welche Behörden einzurichten sind, welche personelle Stärke die Polizei haben muß usw., läßt sich nicht zwingend aus der vorgegebenen Aufgabe ableiten, zumal die Aufgabe selbst sich nicht ganz scharf bestimmen läßt. Die Konkretisierung der zu erfüllenden Aufgabe fällt daher ebenso in die Kompetenz der zuständigen Staatsorgane wie die Entscheidung über die einzusetzenden Mittel. Die ? allgemeine Pflicht zur Wahrung der öffentlichen Sicherheit ist nur im Extremfall verletzt, wenn also der Staat zur Bekämpfung bestimmter Gefahren gar keine oder völlig unzureichende Mittel zur Verfügung stellt. Wann dieser Extremfall vorliegt, unter welchen Voraussetzungen der Staat also verpflichtet sein kann, bestimmte organisatorische Vorkehrungen zu treffen, z.B. das zur Gefahrenabwehr zur Verfügung stehende Personal zu verstärken, wird noch zu erörtern sein. 44
42 43 44
Dazu unten 3. Zur Begründung dieser Pflicht s. ο. Α. I. s.u. § 12.
Β. Einzelne Schutzpflichten
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b) Die Pflicht zum Einschreiten im konkreten Fall Eine andere Frage ist, unter welchen Voraussetzungen der Staat verpflichtet ist, die zur Verhütung von RechtsgutVerletzungen zur Verfügung stehenden Mittel auch tatsächlich in bestimmter Weise einzusetzen. Diese Frage wird unter dem Aspekt des polizeilichen Opportunitätsprinzips diskutiert. Den zutreffenden Erwägungen, die in Literatur und Rechtsprechung dazu geführt haben, eine Pflicht zum Einschreiten zu bejahen, wenn eine schwere Gefahr für Leib und Leben oder die Gefahr erheblicher Vermögensschäden besteht, ist hier im Ergebnis nichts hinzuzufügen. 45 Allerdings ist diese Pflicht bislang meist nur auf die Polizeigesetze gestützt worden, nämlich auf die Aufgabe der Polizei und ihre Verpflichtung, von dem ihr eingeräumten Ermessen in zweckmäßiger Weise Gebrauch zu machen. Im hier erörterten Zusammenhang zeigt sich jetzt, daß die Verpflichtung zum Einschreiten sich aus der Verfassung ableiten läßt 4 6 und daß die Verletzung dieser Pflicht gegen das Grundrecht verstößt, zu dessen Schutz die Polizei hätte tätig werden müssen. Damit ist auch die dogmatische Grundlage für den subjektiven Anspruch auf polizeiliches Eingreifen gelegt. 47 Auch der Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidungen dort, wo kein Anspruch auf Einschreiten besteht, kann auf die Schutzpflicht gestützt werden: Die ermessensfehlerhafte Versagung des Schutzes verletzt die Schutzpflicht und damit das einschlägige Grundrecht. Ist die zuständige Behörde zum Einschreiten verpflichtet, so bleibt ihr selbst die Wahl unter den geeigneten und rechtlich zulässigen Mitteln überlassenen, wenn nicht im Einzelfall der Schutz nur durch eine bestimmte Maßnahme möglich ist. Wenn der Staat in einem konkreten Fall zum Einschreiten an sich verpflichtet ist, kann es aber vorkommen, daß ihm die Mittel fehlen, die erfor45 Vgl. BVerwG E 11, 95 (97); DVB1. 1969, 586 = DÖV 1969, 465; Drews / Wacke / Vogel I, S. 162ff., 169ff.; Ossenbühl, DÖV 1976, 467ff.; Götz, Allgemeines Polizeiund Ordnungsrecht, S. 79ff. 46 Die Reichweite der verfassungsrechtlichen Verpflichtung ist noch zu begründen, s.u. § 12. 47 Dieser Anspruch ist zwar in dem Umfang anerkannt, in dem auch die Pflicht zum Einschreiten bejaht wird, aber die dogmatische Begründung war zweifelhaft, vgl. Götz, Polizei- und Ordnungsrecht, S. 75f.; Erichsen, W D S t R L 35 (1977), 210ff. m.w.N.; Knemeyer, ebd. S. 252f. - Auch Breuer, Festg. BVerwG, S. 104f., stützt den Anspruch auf polizeiliches Einschreiten auf die Grundrechte, begründet dies aber mit einem aus dem Sozialstaatsprinzip abgeleiteten Anspruch auf Leistimg des zur Erhaltung der grundrechtlichen Freiheit notwendigen Minimums. Zur K r i t i k an diesem Ansatz s.u. C. Teilhaberechtlich argumentieren auch Henke, DVB1. 1964, 654f.; Buschlinger, DÖV 1965, 377. Der hier vertretenen Auffassung entspricht die Begründung von Merten, Rechtsstaat und Gewaltmonopol, S. 65 f., und Isensee, Das Grundrecht auf Sicherheit, S. 52 ff. Ansonsten dürfte ihr am nächsten kommen, was Kloepfer, Grundrechte als Entstehungssicherung und Bestandsschutz, S. 8, 19f., unter dem Stichwort „sachverhaltssichernder Grundrechtsvoraussetzungsschutz" skizziert hat, ohne allerdings eine Begründung dafür zu bieten.
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§6 Grundrechtliche Schutzpflichten als Störungsabwehrpflichten
derlich wären, um die konkrete Gefahr zu beseitigen. Wenn der Schutz praktisch unmöglich ist, liegt keine Pflichtverletzung vor. Dasselbe gilt auch dann, wenn zwar ein Mittel zur Abwendung der Gefahr zur Verfügung stünde, der Gebrauch dieses Mittels jedoch rechtlich untersagt ist. 4 8 Ist die Abwendung der Gefahr nur mit Hilfe eines bestimmten Mittels faktisch möglich und ist der Gebrauch dieses Mittels rechtlich zulässig, so ist der Staat zum Einsatz dieses Mittels verpflichtet, wenn nicht hierdurch andere Belange des Staates beeinträchtigt werden können. 49 Dafür, daß andere Belange beeinträchtigt werden können, trägt das zuständige Staatsorgan die Begründungslast. „Belang" kann jede Staatsaufgabe sein. Und was „Staatsaufgäbe" ist, darüber entscheiden der Gesetzgeber oder die Exekutive im Rahmen ihrer Kompetenzen, sofern die Verfassung bestimmte Aufgaben nicht vorgibt und ausschließt. 50 Eine abstrakte Gewichtung oder Rangordnung der Belange des Staates ist nicht möglich. Kann ein anderer Belang beeinträchtigt werden, so hat die zuständige Stelle über die Frage, ob sie das Mittel einsetzt, nach pflichtgemäßem Ermessen zu entscheiden. Ist das einzige - rechtlich zulässige - Mittel, mit dem die Gefahr abgewendet werden kann, eine gegen den Störer gerichtete Maßnahme, so besteht die Pflicht zur Durchführung dieser Maßnahme - die Pflicht zum Einschreiten natürlich vorausgesetzt - ausnahmslos, denn soweit sich eine rechtlich zulässige Maßnahme gegen den (privaten) Störer richtet, ist von vornherein ausgeschlossen, daß die Durchführung dieser Maßnahme andere Belange des Staates beeinträchtigen kann. Würde man nämlich eine faktisch mögliche und rechtlich zulässige Maßnahme gegen den Störer unterlassen, müßte man die Störung selbst als aus sonstigen Gründen erforderlich rechtfertigen. Das aber ist logisch ausgeschlossen. Umgekehrt formuliert: Läßt sich die Störung aus Gründen des Gemeinwohls rechtfertigen, kann von vornherein keine Pflicht zum Einschreiten gegeben sein. Dies setzt die Einschränkung des beeinträchtigten Rechts voraus. Wo diese Voraussetzung fehlt, darf also die Maßnahme gegen den Störer nicht mit der Begründung unterbleiben, daß ihr sonstige Belange des Staates entgegenstünden. Diese Grundsätze gelten nicht nur für die Schutzpflicht der Polizei, sondern für alle zum Schutz des einzelnen zuständigen Stellen. Was den Schutz gegenüber Beeinträchtigungen im Ausland oder seitens einer auswärtigen 48 Ist das Mittel nicht von Verfassungs wegen verboten, sondern durch einfaches Gesetz, kann allerdings unter Umständen eine Verletzung der Schutzpflicht durch den Gesetzgeber vorliegen. 49 So im Ergebnis BVerfGE 46, 160 (164f.) - Schleyer. Das BVerfG konfrontiert hier die Schutzpflicht gegenüber dem einzelnen mit der Schutzpflicht gegenüber der Gesamtheit. Die rechtliche Verpflichtung zum Einsatz eines bestimmten Mittels stünde im Widerspruch zur Verpflichtung, effektiven Schutz für die Gesamtheit zu bieten. 50 Vgl. Krüger, Allgemeine Staatslehre, S. 759ff.; Ossenbühl, W D S t R L 29 (1971), 153f. m.w.N.
Β. Einzelne Schutzpflichten
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Macht angeht, ist allerdings der Staat zu einer tatsächlich möglichen oder rechtlich zulässigen Maßnahme auch dann nicht ohne weiteres verpflichtet, wenn sie zur Abwendung der Gefahr unbedingt erforderlich ist 5 1 und sich gegen den Störer richtet. Auch bei einer solchen Maßnahme ist hier - im Unterschied zum innerstaatlichen Schutz - zu berücksichtigen, ob sie andere Belange des Staates tangiert. 52 Das Beispiel des diplomatischen Schutzes zeigt im übrigen besonders deutlich, daß die zuständigen Stellen selbst die Kompetenz haben, darüber zu entscheiden, was in diesem Sinne Belange des Staates sind. 53 c) Die Pflicht zur Überwachung aa) Allgemeines Effektiver Schutz setzt Kontrolle voraus. Der Staat ist daher grundsätzlich auch verpflichtet, die Beachtung der Vorschriften zu überwachen, die er zum Schutz vor Beeinträchtigungen der zu schützenden Güter seitens Dritter erlassen hat. Eine lückenlose Überwachung der Bürger i m Hinblick darauf, ob sie diese Vorschrift beachten, wäre nicht nur faktisch unmöglich, sondern auch unerwünscht: Schon das Anstreben totaler Kontrolle wäre verfassungswidrig; es führte in den totalen Polizeistaat. Daraus folgt aber nicht, daß umgekehrt der Staat auf Überwachimg ganz verzichten müßte oder auch nur dürfte. Er darf sich auf die prinzipielle Rechtstreue seiner Bürger verlassen, aber er darf sich nicht ausschließlich darauf verlassen. Vielmehr ist dasjenige Maß an Kontrolle geboten, das erforderlich ist, die Beachtung der Schutzvorschriften aufs Ganze gesehen zu gewährleisten. So 51 Daß dies für eine konkrete Maßnahme zutrifft, wird auf der zwischenstaatlichen Ebene kaum je der Fall sein, vgl. Geck, ZaöRV 17 (1956/57), 495f.; Ress, ZaöRV 32 (1972), 469. 52 Das liegt an der besonderen Natur der internationalen Beziehungen, wo - anders als innerhalb des Staates - auch eine Maßnahme gegen den Störer andere Belange des Staates beeinträchtigen, zum Beispiel die Beziehungen zu dem anderen Staat verschlechtern oder den Frieden gefährden kann. - Wird der Auslandsschutz in einer solchen Situation um anderer Interessen willen versagt, kann aber ein Aufopferungsanspruch bzw. ein enteignungsrechtlicher Entschädigungsanspruch gegeben sein. Dazu vgl. Pohl, o. Fn. 10, S. 261; Carl Schmitt, Verfassungsrechtliche Aufsätze. Berlin 1958, S. 128f.; a.A. Doehring, Die Pflicht des Staates zur Gewährung diplomatischen Schutzes, S. 119ff.; Ress, ZaöRV 32 (1972), 468f.; E. Klein, DÖV 1977, 708, 711. 53 Zur Frage der Pflicht zur Gewährung diplomatischen Schutzes vgl. BVerfGE 4, 299 (304); 6, 290 (299); 29, 183 (192f.); 36, 1 (31f.); 37, 217 (241); 40, 141 (177f.); 41, 126 (182); 55, 349 (364ff.); Karl Doehring, Die Pflicht des Staates zur Gewährung diplomatischen Schutzes; Wilhelm Karl Geck, Der Anspruch des Staatsbürgers auf Schutz gegenüber dem Ausland nach deutschem Recht, ZaöRV 17 (1956/57), S. 476ff.; Georg Ress, Mangelhafte diplomatische Protektion und Staatshaftung, ZaöRV 32 (1972), 420ff.; E. Klein, DÖV 1977, 704ff.; ders., Bundesverfassungsgericht und Ostverträge, S. 14ff.; Karlheinz Oberthür, Der Anspruch des deutschen Staatsangehörigen auf diplomatischen und konsularischen Schutz gegenüber anderen Staaten, Diss. Köln 1965.
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§6 Grundrechtliche Schutzpflichten als Störungsabwehrpflichten
braucht beispielsweise nicht an jeder Straße eine „Radarfallë" installiert zu sein, aber der völlige Verzicht auf Geschwindigkeitskontrollen könnte zur Verletzung der Schutzpflicht gegenüber Fußgängern führen, wenn sich herausstellen sollte, daß innerörtliche Geschwindigkeitsbegrenzung allgemein erheblich überschritten wird. Ob sich ein allgemeines Kriterium dafür finden läßt, in welchen Fällen die Pflicht zur Überwachung einsetzt, wird noch in einem besonderen Abschnitt untersucht. 54 Hier kann aber als Leitlinie schon festgehalten werden, daß die Intensität der Überwachung von der Größe der mit einem bestimmten Verhalten verbundenen Gefahr abhängig sein muß, denn mit der Größe der Gefahr wächst das Schutzbedürfnis. Wo keine abstrakte Gefahrenlage gegeben ist, ist Überwachung nicht erforderlich. In Lebensbereichen, die gefahrengeneigt sind, ist dagegen Überwachung geboten. Je nach den Umständen des zu beurteilenden Sachbereichs können gelegentliche Stichproben genügen oder auch häufigere Kontrollen erforderlich sein. Die Anforderungen an die Überwachung können sich bis hin zur Pflicht zu konkreten Kontrollmaßnahmen steigern, wenn nur auf diese Weise ein hinreichendes Maß an Sicherheit erreicht werden kann. So hat das Bundesverfassungsgericht das Verbot mit Erlaubnisvorbehalt für die Errichtung und Inbetriebnahme kerntechnischer Anlagen als Mittel zur Erfüllung der Schutzpflicht verstanden 55 , und das zu Recht, denn bei Anlagen, die ein hohes Gefährdungspotential in sich bergen und technisch hochkomplex sind, läßt sich anders als durch eingehende Kontrolle vor Inbetriebnahme nicht gewährleisten, daß der verfassungsrechtlich gebotene Sicherheitsstandard gewahrt wird. bb) Die Pflicht zum Grundrechtsschutz durch Verfahren Auf die insbesondere durch den Mühlheim-Kärlich-Beschluß des Bundesverfassungsgerichts 56 ausgelöste Diskussion über die Pflicht des Staates, die Grundrechte gegen Beeinträchtigungen seitens Dritter auch durch ein den Belangen des Betroffenen in besonderer Weise Rechnung tragendes Verwaltungsverfahren zu schützen 57 , soll hier nicht im einzelnen eingegangen werden. Schon die hier getroffene systematische Einordnung dieser Pflicht mag 54
s.u. § 12. BVerfGE 53, 30 (57, 59, 65f.). 56 BVerfGE 53, 30 (62 ff.), insbesondere das Sondervotum Simon / Heußner, S. 69ff. 57 Vgl. z.B. Haberle, W D S t R L 30 (1972), 86ff., 125ff. u. pass.; Hesse, EuGRZ 1978, 427ff., 434ff.; Redeker, NJW 1980, 1593ff.; Ossenbühl, DÖV 1981, 5ff.; ders., in: Festschr. Eichenberger, S.183ff.; ders., NVwZ 1982, 465ff.; Blümel, Grundrechtsschutz durch Verfahrensgestaltung, in: ders. (Hrsg.), Frühzeitige Bürgerbeteiligung bei Planungen, Berlin 1982, S. 23ff.; Bethge, NJW 1982, Iff.; Degenhart, DVB1. 1982, 872ff.; Laubinger, VerwArch. 73 (1982), 60ff.; Hufen, NJW 1982, 2160ff.; v. Mutius, NJW 1982, 2150ff.; Steinberg, DÖV 1982, 619ff.; Schenke, VB1BW 1982, 313ff.; Wahl, W D S t R L 41 (1983), 166ff.; Pietzcker, W D S t R L 41 (1983), 207ff. 55
Β. Einzelne Schutzpflichten
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genügen, übersteigerte Anforderungen und Erwartungen an die „Grundrechtsverwirklichung durch Verfahren" 58 zu dämpfen. 59 Die Pflicht, die zu schützenden Güter durch eine besondere Gestaltung des Verwaltungsverfahrens zu schützen, setzt voraus, daß ein Verwaltungsverfahren überhaupt stattzufinden hat. Nur wenn sich die Überwachungspflicht des Staates dahingehend verdichtet, daß ein Vorhaben nur nach vorheriger Genehmigimg, also nach Überprüfung der Unbedenklichkeit, durchgeführt werden darf, kommt zusätzlich in Betracht, daß das Verfahren der Unbedenklichkeitsprüfung, also das Genehmigungsverfahren, bestimmten Anforderungen entsprechen muß, durch die sichergestellt wird, daß diese Kontrolle wiederum effektiv ist und zu einer richtigen Entscheidung führt und daß insbesondere die Belange des potentiell Betroffenen hinreichend berücksichtigt werden. 3. Schutz durch Sanktionen Erfahrungsgemäß läßt sich die generelle Beachtung von Verhaltensvorschriften in der Regel durch Überwachung und individuellen Rechtsschutz gegen rechtsbeeinträchtigendes Verhalten noch nicht gewährleisten. Effektiver Schutz eines Gutes vor Beeinträchtigungen ist in der Regel nur dadurch möglich, daß - neben den bereits erörterten Schutzvorkehrungen die Beeinträchtigung des Gutes eine Sanktion nach sich zieht. Ohne die Sanktionsdrohung läßt sich nach aller Erfahrung bei zu vielen Menschen das notwendige Bewußtsein dafür nicht herstellen, daß man für die Folgen des eigenen Verhaltens die Verantwortung trägt. Verantwortliches Verhalten, das ist menschlich - allzu menschlich, kann man oft nur dann erwarten, wenn der Betreffende für die Folgen seines Verhaltens auch in der Weise einzustehen hat, daß auf das Fehlverhalten Strafe folgt. Die Schutzpflicht des Staates umfaßt daher grundsätzlich auch die Pflicht zum Schutz durch Sanktionen. Das bedeutet nicht, daß jede einzelne Verhaltensnorm, die dem Schutz des einzelnen dient, straf- oder bußgeldbewehrt sein muß. Die Pflicht zur Androhung und Verhängung von Strafen oder Bußgeldern besteht nur insoweit, als die Sanktionsdrohung erforderlich ist, die Sicherheit der zu schützenden Güter zu gewährleisten. 60 Demnach w i r d beispielsweise in solchen Bereichen eine Sanktionsdrohung überflüssig sein können, wo die Kontrolle so intensiv ist oder wo durch andere Maßnahmen sichergestellt ist, daß praktisch keine Verletzung der Schutzvorschriften vorkommen kann. Das dürfte aber nur im Hinblick auf die Beachtung technischer Spezialvorschriften oder anderer Normen möglich sein, die sich auf einen 58 59 60
Vgl. Simon / Heußner, BVerfGE 53, 71 f. Zurückhaltend z.B. auch Ossenbühl, in: Festschr. Eichenberger, S. 189ff. Vgl. BVerfGE 39, 1 (46 f.).
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§ 6 Grundrechtliche Schutzpflichten als Störungsabwehrpflichten
sehr eng begrenzten Lebensbereich beziehen oder nur mittelbar dem Grundrechtsschutz dienen. Der Schutz der grundrechtlichen Schutzgüter als solcher kommt aber ohne Strafdrohung für die Verletzimg dieser Güter prinzipiell nicht 6 1 aus. 62 4. Schutz durch fördernde oder erzieherische Verhaltensbeeinflussung Die bisher in Betracht gezogenen Mittel des Schutzes waren Befehl - nämlich gesetzliches oder durch Einzelakt konkretisiertes Eingriffsverbot - und 61 Dieser Grundsatz geht davon aus, daß die Strafdrohung zum Schutz grundsätzlich geeignet und erforderlich ist. So entfällt die Sanktionspflicht, wenn die Strafdrohung zum Schutz bestimmter Güter kein geeignetes Mittel ist. (Das wurde z.B. von den Befürwortern der „Fristenlösung" behauptet, vgl. Rupp-v. Brünneck / Simon, in: BVerfGE 39, (87f.).) Erforderlich ist die Strafdrohung nur dann, wenn die verfassungsrechtlich gebotene Sicherheit nicht auch mit anderen Mitteln erreicht werden kann. Die Ansicht, daß erfahrungsgemäß erzieherische oder sozial-fördernde Maßnahmen die Straf drohung in der Regel nicht entbehrlich machen, muß sich empirischer Überprüfung stellen. Sie beruht aber entgegen Herzog, JR 1969, 445, nicht auf einer Staatstheorie, derzufolge der Staat sich nur durch Befehl und Zwang manifestiere. 62 Dieser Schutzpflicht hat das Strafgesetzbuch immer in unproblematischer Weise entsprochen, so daß die Frage nach der Pflicht zum Schutz durch Strafrecht sich erst bei Aufhebung einer solchen Schutzvorschrift durch den Gesetzgeber stellte. Vgl. dazu BVerfGE 39, 1 (3ff., 45ff.) - „Fristenlösung". Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß z.B. die ersatzlose Streichung der den Schutz des Lebens und der körperlichen Unversehrtheit bezweckenden Straftatbestände wegen Verletzung der Schutzpflicht gegen Art. 2 I I GG verstieße. - Dagegen haben z.B. Rupp-v. Brünneck / Simon in ihrer abweichenden Meinung zum „Fristenlösungs"-Urt. die Ansicht eingewandt, man verkehre die Grundrechte in ihr Gegenteil, wolle man aus ihnen eine Pflicht zum Erlaß von Strafnormen ableiten, BVerfGE 39, 73 f. Abgesehen davon, daß dieses Argument sich zwar gegen die Senatsmehrheit, nicht aber gegen die hier vertretene Konzeption richten kann, weil die Grundrechte m.E. die vom Grundgesetz vorausgesetzte Schutzpflicht nicht begründen, sondern materiell konkretisieren, ist dem entgegenzuhalten: Das Argument, die Grundrechte würden zur Grundlage von Freiheitseinschränkungen umfunktioniert, von Einschränkungen des dem Bürger gewährleisteten „Bereich(s) freier, eigenverantwortlicher Lebensgestaltung" (S. 70), trifft aus zwei Gründen nicht zu. Erstens setzt das Argument voraus, daß es eine grundrechtlich verbürgte Freiheit zum Morden oder Stehlen gibt, die durch eine dagegen gerichtete Strafbestimmung eingeschränkt wurde (vgl. ebd., S. 70). Diese Voraussetzung ist unhaltbar. Richtig ist zwar, daß das Tötungs- und das Diebstahlsverbot die Freiheit einschränken, nämlich die Freiheit zur Beliebigkeit, zur Willkür. Aber die Grundrechte schützen diese Freiheit nur insoweit, als man von ihr friedlich Gebrauch macht, ohne physische Gewaltsamkeit. Das allgemeine Gewaltverbot, die „Friedenspflicht" der Bürger, ist eine Einschränkung der Freiheit, nicht aber der grundrechtlich geschützten Freiheit (vgl. Isensee, Festschr. Eichenberger, S. 31 f.; Merten, Festschr. Samper, S. 41; ders., Rechtsstaat und Gewaltmonopol, S. 44), und zu dieser Einschränkung ist der Gesetzgeber zum Schutz der grundrechtlichen Freiheit (und der anderen grundrechtlichen Schutzgüter) verpflichtet. Eine „ Grundrechts "-einschränkung liegt nur in der Strafe selbst. Zweitens bedarf die durch die Strafnorm begründete Freiheitseinschränkung keiner „Grundlage" i n einem Grundrecht. Die Grundrechte dienen in diesem Zusammenhang nicht dazu, einen solchen Eingriff möglich zu machen, sondern dazu, die Pflicht zur Abwehr von Eingriffen desjenigen zu begründen, gegen dessen Verhalten die Strafnorm sich richten soll. - Ob aus anderen Gründen eine Pflicht zur Bestrafung der Abtreibung zu verneinen ist, muß hier dahinstehen.
Β. Einzelne Schutzpflichten
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Zwang oder Zwangsandrohung zur Durchsetzung dieses Verbots, also die „hoheitlichen" Zwangsmittel des Staates. Daneben kennt der moderne Leistungsstaat eine Fülle anderer Mittel, die er zur Erreichung seiner Ziele einsetzt. 63 Das gilt auch für die Wahrung der öffentlichen Sicherheit durch Gefahrenabwehr und Gefahrenvorsorge. 64 Dem Schutz vor Beeinträchtigungen grundrechtlicher Schutzgüter können z.B. erzieherische Maßnahmen dienen. So versucht der Staat, durch Verkehrserziehung in den Schulen oder im Fernsehen die Verkehrssicherheit zu heben. Die Deliktsrate im Hinblick auf bestimmte Arten von Kriminalität läßt sich möglicherweise durch Hebung des Wohlstands, Verbesserung der Wohnverhältnisse in besonders „anfälligen" Stadtbezirken oder andere soziale Maßnahmen senken. Ein Industriebetrieb muß zur Installierung einer emissionssenkenden Vorrichtimg nicht gezwungen werden, wenn der Staat die Kosten dafür übernimmt. So kann der Staat auf vielerlei Weise ohne Anwendung von Zwang der Entstehung von Gefahren vorbeugen, das Niveau der öffentlichen Sicherheit heben oder unter Umständen sogar konkrete Gefahrenlagen beseitigen. So unterschiedlich diese Mittel sein mögen: In allen Fällen w i r d der Staat nicht durch Zwang, sondern durch positive Leistung tätig. Sofern solche Mittel geeignet sind, die Bürger vor Beeinträchtigungen ihrer Rechtsgüter zu schützen, fragt sich, ob auch die Anwendung dieser Mittel unter Umständen rechtlich geboten sein kann. Um diese Frage zu beantworten, muß man sich zunächst vergegenwärtigen, worauf die Schutzpflichten des Staates rechtlich beruhen. Wie gezeigt, resultieren die sekundären Schutzpflichten letztlich daraus, daß der Staat die Friedenspflicht der Bürger, welche das Verbot der Selbsthilfe impliziert, durch den Einsatz seines Gewaltmonopols zum Schutze der Bürger kompensieren muß. Eine Verpflichtung des Staates zur Gewährung von Leistungen an den potentiellen Störer, zur Wohlfahrtspflege oder zu sonstigen Maßnahmen, die ein gedeihliches, friedliches Zusammenleben der Menschen fördern, kann auf diesen Gedanken also nicht gestützt werden. Diese Mittel hat der Staat den Bürgern, der Gesellschaft, ja nicht entzogen; hier besteht kein Staatsmonopol. Damit w i r d nicht in Abrede gestellt, daß der Staat prinzipiell berechtigt ist, positiv-leistende Maßnahmen zur Abwendung von Gefahren oder zur Vorbeugung gegen ihre Entstehung zu ergreifen, und daß er hierzu unter Umständen aus anderen - etwa sozialstaatlichen - Gründen sogar verpflichtet sein kann. Grundsätzlich unzulässig sind Leistungen an den Störer, die dazu dienen, ihm ein bestimmtes Verhalten, zu dem er nach geltendem Recht ohnehin 63
Vgl. z.B. Herzog, Allgemeine Staatslehre, S. 167ff.; ders., JR 1969, 445. Vgl. z.B. Georg Roth, Die Gefahrenvorsorge im sozialen Rechtsstaat, Berlin 1968; Erichsen, W D S t R L 35 (1977), 180 m.w.N. 64
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§ 6 Grundrechtliche Schutzpflichten als Störungsabwehrpflichten
verpflichtet ist, „abzukaufen", um auf diese Weise den Einsatz von Zwangsmitteln überflüssig zu machen. Derartige Leistungen kommen nur ausnahmsweise in Betracht, wenn sie sich rechtlich aus einem anderen Grunde rechtfertigen lassen. 65 Verfassungsrechtlich unbedenklich ist es dagegen, wenn der Staat es zu seiner Aufgabe macht, durch fördernde Einflußnahme die Entwicklung der Gesellschaft zu lenken mit dem Ziel, soziale Verhältnisse zu schaffen, in denen bestimmte Gefahren erst gar nicht auftreten. Es gibt heute ein praktisches Bedürfnis dafür, daß der Staat die tatsächlichen Voraussetzungen für die unbeeinträchtigte Realisierung individueller Freiheit oder für die Erhaltung anderer Schutzgüter durch positive Lenkungsmaßnahmen verbessert. Nach verbreiteter Auffassung 66 ist der Staat hierzu prinzipiell auch verpflichtet. Aber diese Pflicht ist keine Schutzpflicht. Sie richtet sich nicht auf die Abwehr von Eingriffen oder Beeinträchtigungen, sondern auf positive Leistung. Sie kann deshalb nicht aus der „Grundbeziehung" 67 zwischen Staat und Bürgern, sondern nur sozialstaatlich begründet werden. 68 Es gibt also keine Pflicht zum Schutz durch fördernde oder erzieherische Verhaltensbeeinflussung. Sofern derartige Maßnahmen rechtlich zulässig und geeignet sind, Gefahren abzuwehren oder ihrer Entstehung vorzubeugen, kann der Staat mit ihrer Hilfe repressive Maßnahmen überflüssig machen. Die Pflicht zum Schutz durch Zwangsmaßnahmen entfällt, wenn der Staat die gebotene Sicherheit bereits auf andere Weise gewährleistet hat oder gewährleisten kann. In letzterem Fall liegt es in seinem Ermessen, welches Mittel er wählt, weil es nur auf das Ergebnis, die Gewährleistung der gebotenen Sicherheit ankommt. Auf diese Weise kann sich der Staat aber nie von der primären Schutzpflicht entlasten; auch die sekundären Schutzpflichten bleiben rechtlich unberührt; dies gilt generell für die Pflicht zur Gewährung von Rechtsschutz. I m übrigen kann der Staat durch positive Erziehungs- oder Förderungsmaßnahmen nur dafür sorgen, daß der Tatbestand, dessen Erfüllung die Pflicht zu Schutzmaßnahmen auslöst, faktisch nicht oder nicht so oft erfüllt wird.
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z.B. als Wirtschaftssubventionen. Vgl. z.B. Böckenförde, Staat, Gesellschaft, Freiheit, S. 244 und die Nachw. S. 238. 67 Diesen Ausdruck verwendet das BVerfG in bezug auf den Auslandsschutz, BVerfGE 37, 217 (241). 68 Rechtsstaatlicher Schutz und sozialstaatliche Förderung werden vermischt in der Formel des BVerfG, die Schutzpflicht gebiete dem Staat, sich schützend und fördernd vor die grundrechtlichen Rechtsgüter zu stellen, BVerfGE 39,1 (42); 53, 30 (57). Diese Vermischung ist gefährlich, weil die Pflicht zum Schutz, also zur Abwehr von Beeinträchtigungen, eine andere Rechtsgrundlage und sehr viel präzisere Tatbestandsvoraussetzungen und Rechtsfolgen hat als die Pflicht zur Förderung. Dazu näher unten C. 66
C. Schutzpflichten als Leistungspflichten?
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C. Schutzpflichten als Leistungspflichten?
Ist der Staat zum Schutz verpflichtet, so ist er zum Handeln verpflichtet. Er muß Schutznormen erlassen, Institutionen einrichten, Kontrollen vornehmen, durch Einsatz von Zwangsmitteln Gerichtsurteile durchsetzen oder die Schädigung eines Schutzguts verhüten. In allen Fällen erbringt der Staat gewisse Leistungen. Dennoch gehört all das, was hier zu den Schutzpflichten gerechnet wurde, nicht in den Bereich der Leistungsverwaltung, sondern - sofern es sich um Verwaltung handelt - in den Bereich der sogenannten Eingriffsverwaltung. Klingt das in diesem Zusammenhang vielleicht befremdlich, so liegt das daran, daß die Terminologie aus der Sicht desjenigen geprägt wurde, für den sich die staatlichen Maßnahmen belastend auswirken. Auch wenn dieselben Maßnahmen für den durch sie geschützten Bürger günstig sind, handelt es sich aber nicht um Leistungen im sozialstaatlichen Sinne. Bei den als Gewährleistungspflichten verstandenen Schutzpflichten geht es allein um die Abwehr von Beeinträchtigungen grundrechtlicher Schutzgüter seitens Dritter, nicht aber darum, dem einzelnen durch staatliche Leistungen die rechtlich garantierte Ausübimg seiner Grundrechte auch faktisch möglich zu machen. 69 Dieser Unterschied ist sowohl grundrechtsdogmatisch als auch praktisch von fundamentaler Bedeutung. Die Schutzpflichten sind mit der liberal-rechtsstaatlichen Grundrechtskonzeption voll kompatibel. Sie sind über die negatorischen Grundrechte gerade in ihrer abwehrrechtlichen Funktion vollziehbar. Es geht um den Schutz des status negativus, nicht um die Herstellung eines status positivus. 70 Demgegenüber lassen sich die Grundrechte in Leistungs69 Vgl. BVerfGE 1, 97 (104); Düng, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 1 Rdnr. 2, 3; Isensee, NJW 1977, 547, gegen Kriele, JZ 1975, 223f.; E. Klein, Bundesverfassungsgericht und Ostverträge, S. 11 f. - Diesen Unterschied verkennen Steiger, Mensch und Umwelt, S. 43ff. (vgl. aber zutreffend ebd., S. 60f.); Scholz, DB 1979, Beil. 10/79, S. 13f., 18; Rupp, JZ 1971, 402 und Breuer, Festg. BVerwG, S. 93ff., mit der Folge, daß sie die Pflicht zum Schutz vor Beeinträchtigungen seitens Dritter in unzutreffender Analogie zur sozialstaatlichen Sicherung des Existenzminimums auf einen „Minimalstandard" (Breuer, S. 94f., 105, 119) oder auf Hilfe in „Notlagen" bei „Existenzgefährdungen" (Steiger, S. 52 ff.) reduzieren. Sozialstaatlich auch die Begründimg von Roßnagel, Grundrechte und Kernkraftwerke, S. 52 m.w.N.; Hofmann, Rechtsfragen der atomaren Entsorgung, S. 305. - Kloepfer (Zum Grundrecht auf Umweltschutz, S. 20, 29; ders., Grundrechte als Entstehungssicherung und Bestandsschutz, S. 15ff., 28ff.; ders., Zum Umweltschutzrecht in der Bundesrepublik Deutschland, S. 28) ordnet zwar die Schutzpflichten unter den auch positive Leistungen umfassenden „Grundrechtsvoraussetzungsschutz" ein, betont aber, daß „sachverhaltssichernder Grundrechtsvoraussetzungsschutz" - das ist die Schutzpflicht i.S.d. Gewährleistungspflicht - abwehrenden Charakter habe. 70 Isensee, Das Grundrecht auf Sicherheit, S. 21 f., stellt demgegenüber darauf ab, daß der Staat zum Schutz des Bürgers positiv tätig wird. Die Rechtswahrung konstituiere den status negativus, der Schutz einen status positivus. Im Unterschied zu dem sozialstaatlichen „status positivus socialis" gehe es bei der staatlichen Schutzpflicht aber um den „status positivus libertatis". Gegen diese Begriffswahl ist nichts einzuwenden. Dogmatisch entscheidend ist der auch von Isensee hervorgehobene Unterschied zum leistungsstaatlichen, sozialen status positivus und die Vereinbarkeit mit der liberal-rechtsstaatlichen Grundrechtskonzeption.
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pflichten oder „Teilhaberechte" und Leistungsansprüche nur bei Aufgabe oder Ergänzung ihres negatorischen Gehalts uminterpretieren. So w i r d unter Berufung auf die Sozialstaatsklausel postuliert, daß die Grundrechte „reale Freiheit" garantierten und der Staat demnach die zur „Realisierimg" der garantierten Freiheit erforderlichen Mittel bereitstellen müsse 71 , beispielsweise Ausbildungsplätze zur Realisierung des Rechts auf freie Wahl der Ausbildungsstätte (Art. 12 I GG). 72 Einer Auseinandersetzung mit der sozialstaatlichen, leistungsstaatlichen Grundrechtskonzeption bedarf es hier nicht, weil der Schutz vor technischen Risiken mit der Gewährung von sozialen Leistungen nichts zu tun hat. Um so notwendiger ist eine Abgrenzung, damit die Schutzpflichten nicht mit den dogmatischen Ungewißheiten und Konkretisierungsproblemen des sozialen Grundrechtsverständnisses 73 belastet werden. Charakteristisch für soziale Grundrechte ist die Abhängigkeit der staatlichen Leistungen, die zur Realisierung der Freiheit erbracht werden sollen, von der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit des Staates. Auf positive staatliche Leistung gerichtete Grundrechte können nicht unbedingt gelten. 74 Wegen der damit verbundenen Probleme werden die postulierten Leistungs-Grundrechte insoweit auf Verfassungsaufträge zurückgenommen. 75 Konkrete Pflichten und Ansprüche begründen sie nicht, so daß man auch von „Maßgabegrundrechten" spricht. 76 Die Konjunkturbedingtheit der Grundrechtsgeltung als unumgängliche Konsequenz des leistungsstaatlichen Grundrechtsverständnisses darf auf die Schutzpflichten nicht übertragen werden. Auch wenn der Staat Schutz „leistet", so hat doch diese Leistung eine völlig andere Funktion als die Schaffung der sozialen Voraussetzungen der Grundrechtsverwirklichung. Die Schutzpflichten beziehen sich auf die Abwehr von Grundrechtsbeeinträchtigungen, also auf die Abwehrfunktion der Grundrechte. Zum Schutz w i r d der Staat nicht als Leistungsstaat tätig, sondern als der klassisch-liberale Rechtsbewahrstaat. Das schließt nicht aus, daß der Staat heute außerdem Leistungsstaat ist und vielerlei weitere Leistungen erbringen muß, aber 71 Zum Verständnis der Grundrechte als Teilhaberechte oder Leistungsansprüche vgl. z.B. Kloepfer, Grundrechte als Entstehungssicherung und Bestandsschutz, S. 14ff.; Martens, W D S t R L 30 (1972), 7ff.; Häberle, W D S t R L 30 (1972), 90ff.; Bökkenförde, Staat, Gesellschaft, Freiheit, S. 238ff.; Badura, Der Staat 14 (1975), 17ff.; Breuer, Festg. BVerwG, S. 89 ff. 72 Vgl. dazu das Numerus-clausus-Urteil des BVerfG, E 33, 303 (331 f.). Diese Entscheidung wird man wegen der faktischen Monopolstellung des Staates i m Bereich der Universitätsausbildung nicht verallgemeinern können. 73 Kritisch dazu z.B. Martens, W D S t R L 30 (1972), 29ff. 74 Vgl. C. Schmitt, Verfassungslehre, S. 169; Martens, W D S t R L 30 (1972), 30; Bökkenförde, Staat, Gesellschaft, Freiheit, S. 239. 75 Böckenförde, o. Fn. 74, S. 240. ™ Häberle, W D S t R L 30 (1972), 113 ff.
D. Die Pflicht zum Schutz der Menschenwürde
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die Gewährleistung von Leben, körperlicher Integrität, Freiheit und Eigentum darf dadurch nicht relativiert werden. Gewährleistung von Freiheit gegen ihre Beeinträchtigung durch den Staat oder Dritte ist etwas ganz anderes als die Gewährung von Leistungen, die den einzelnen befähigen sollen, mit seiner Freiheit etwas anzufangen 77 . Ansprüche auf staatliche Leistungen nehmen den Staat in seiner »sozialen Umverteilungsfunktion in Anspruch, Ansprüche auf Abwehr von Beeinträchtigungen dagegen in seiner rechtsstaatlichen Gewährleistungsfunktion. Die Gewährleistung gegen Beeinträchtigungen wird von der Verfassimg strikt gefordert, und die Leistungen, die der Staat zu diesem Zweck ebenfalls zu erbringen hat gerichtlicher Rechtsschutz, Polizei bzw. - können nicht von konjunkturellen Zufälligkeiten abhängig gemacht werden. Wenn der Staat zur Leistimg des hier Gebotenen nicht mehr fähig ist, hört er auf, Staat zu sein. D. Die Pflicht zum Schutz der Menschenwürde
Art. 112 GG verpflichtet den Staat zum Schutz der Menschenwürde. Soweit die einzelnen Grundrechte materiell zugleich die Menschenwürde schützen, erstreckt sich diese Verpflichtung auch auf die Schutzgüter dieser Grundrechte. Kraft der ausdrücklichen Verpflichtung des Art. 112 GG ist der Staat also zum Schutz des jeweiligen „Menschenwürdekerns" der Einzelgrundrechte verpflichtet 78 . Dagegen läßt sich aus Art. 112 GG nicht im Umkehrschluß folgern, daß sich die staatliche Schutzpflicht auf diesen „Menschenwürdekern" beschränke. Die Pflicht zum Schutz der Menschenwürde soll den Schutz des einzelnen verstärken, nicht schwächen. Ihre ausdrückliche Hervorhebung ist vor allem aus dem Willen zur betonten Distanzierung von der nationalsozialistischen Vergangenheit heraus zu verstehen. 79 Art. 112 GG steht also der Annahme einer umfassenden Schutzpflicht, wie sie oben begründet wurde, nicht entgegen. Vielmehr liefert diese Bestimmung ein zusätzliches Argument zur dogmatischen Abstützung der Schutzpflicht in ihrem Kernbereich. Außerdem w i r d überall dort, wo es um den Schutz der Menschenwürde geht, der vom Staat zu fordernde Schutz besonders intensiv sein müssen: Grimdrechtseinschränkungen, welche die Menschenwürde berühren, sind nicht zulässig, und wo die Menschenwürde durch Dritte bedroht wird, kommt beispielsweise die Verweigerung von Schutz unter Berufung auf das Opportunitätsprinzip nicht in Betracht. 80 77 Auch wenn diese Leistungsgewährung im terminologischen Gewände der „Gewährleistung realer Freiheit" daherkommt. 78 Vgl. z.B. Dürig, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 1 Rdnr. 16, 102, 131; Schwabe, Grundrechtsdogmatik, S. 229. 79 Vgl. Badura, JZ 1964, 341. Selbstverständlich erschöpft sich hierin die Bedeutung des Art. 1 GG nicht, vgl. v. Münch, GG, Art. 1 Rdnr. 2, 3. 80 Als zusätzliches, nicht als einziges Argument für die Begründung der staatlichen Pflicht zum Schutz der grundrechtlichen Schutzgüter gegen Eingriffe Dritter verwen-
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§ 6 Grundrechtliche Schutzpflichten als Störungsabwehrpflichten
Darüber hinaus erfaßt die Schutzpflicht des Art. 112 GG Bereiche, die von der allgemeinen negatorischen Gewährleistungspflicht nicht abgedeckt sind. So kann der Staat aufgrund von Art. 112 GG, nicht aber bereits aufgrund der allgemeinen Gewährleistungspflicht, verpflichtet sein, die Vertragsfreiheit zum Schutz vor menschenunwürdigen Vertragsinhalten zu beschränken. 81 Die Einwilligung in den Eingriff Dritter läßt die allgemeine Schutzpflicht, unter Umständen sogar die Schutzberechtigung des Staates entfallen, weil wegen der Freiwilligkeit die Beeinträchtigung dem Betroffenen selbst zuzurechnen ist, also ein Eingriff eines Dritten im strengen Sinne gar nicht vorliegt. Dagegen kann wegen der Unverfügbarkeit der Menschenwürde die Einwilligung in den Eingriff Dritter den Staat von seiner speziellen Schutzpflicht aus Art. 112 GG nicht dispensieren. 82 E. Völkerrechtliche Schutzpflichten
Systematisch nicht in diesen Zusammenhang gehören Schutzpflichten des Staates, die sich aus völkerrechtlichen Normen ergeben. Sie seien aber wegen der sachlichen Vergleichbarkeit ihres materiellen Gehalts hier erwähnt. Pflichten zum Schutz von Individualrechtsgütern gegen Eingriffe Dritter hat die Bundesrepublik Deutschland insbesondere mit der Ratifizierung der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten sowie des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte übernommen. So weit wie der Schutzumfang der Rechte dieser 83 Konventionen reicht, läßt sich eine staatliche Schutzpflicht gegen Eingriffe Dritter ebenso begründen, wie sie oben hinsichtlich der Grundrechte nach dem Grundgesetz begründet wurde. 84 Der UN-Menschenrechtspakt bietet für diese Begründung eine zusätzliche Stütze im Wortlaut des Art. 2 I: Hiernach verpflichten sich die Vertragsstaaten, die in diesem Pakt anerkannten Rechte zu achten und ohne Diskriminierung zu gewährleisten. Die Pflicht zur Gewährleistung kann neben der Pflicht zur Achtung selbständige Bedeutung nur hinsichtlich des Schutzes gegen Eingriffe Dritter haben. 85 det auch das BVerfG den Art. 11 2 GG, vgl. BVerfGE 39, 1 (41). In BVerfGE 46, 160 (164) w i r d die Schutzpflicht auf Art. 2 I I 1 i.V.m. 11 2 GG gestützt, in E 53, 30 (57) nur auf Art. 2 II. 81 Vgl. Murswiek, in: Grundrechtsschutz, S. 230f.; a.A. Schwabe, Die sogenannte Drittwirkung, S. 67 ff. 82 Vgl. BVerwG, 15.12.81, NJW 1982, 664 (665) m. w. N. - Auch die Pflicht zur Verhütung menschenunwürdiger Diskriminierung durch Private läßt sich nur auf Art. 112 GG stützen, nicht etwa auf Art. 3. 83 BGBl. 1973 II, S. 1534. 84 Zu den Schutzpflichten nach der EMRK ausführlich Murswiek, Die Pflicht des Staates zum Schutz vor Eingriffen Dritter nach der EMRK, in: Grundrechtsschutz, S. 213 ff. 85 Zwingend ist dies Argument freilich nicht. Es könnte sich auch um eine ungenaue Formulierung handeln, die nur das Diskriminierungsverbot statuieren soll.
Α. „Grundrechtsgefährdung" als Grundrechtsverletzung?
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Praktische Bedeutung kommt vor allem der Europäischen Menschenrechtskonvention zu, wegen der Möglichkeit der Individualbeschwerde nach Art. 25. 86 Was den Schutz vor technischen Risiken und die diesbezüglichen staatlichen Schutzpflichten angeht, dürfte der nach dem Grundgesetz gebotene Schutz aber intensiver sein. Deshalb soll auf die völkerrechtlichen Schutzpflichten hier nicht näher eingegangen werden. § 7 Grundrechtlich begründete Pflicht zur Risikovorsorge? Die Darstellung der staatlichen Schutzpflichten wurde bis jetzt der Übersichtlichkeit halber auf den Schutz vor finalen Verletzungen grundrechtlicher Schutzgüter, vor gezielten Eingriffen, beschränkt. Nachdem auf diese Weise die rechtliche Grundlage der Schutzpflichten entwickelt wurde, ist nun zu prüfen, inwieweit der Staat auch zum Schutz vor Risiken verpflichtet ist, also vor Verletzungen grundrechtlicher Schutzgüter, deren Eintritt mehr oder weniger wahrscheinlich, keineswegs aber gewiß ist, weil er vom Verursacher nicht bezweckt wird, sondern sich als ungewollte und unvorhergesehene Nebenfolge seines Verhaltens ergibt. Ob die Grundrechte auch vor Risiken schützen, w i r d zunächst bezüglich staatlich verursachter Risiken geprüft (Α.). Aus dem Ergebnis können die Konsequenzen für die Schutzpflichten im Hinblick auf Gefährdungen seitens Privater gezogen werden (C.). Der Begriff der Risikoabwehr und auch der Begriff der Gefährdung werden hier als quantitativ unbestimmte Oberbegriffe gebraucht, die die Gefahrenvorsorge umfassen. 1 Hier geht es nur um das Ob des grundrechtlichen Schutzes vor Risiken. Die Frage, wie groß das Risiko sein muß, um die grundrechtliche Pflicht zur Risikoabwehr auszulösen, wird in den folgenden Paragraphen erörtert. A. „Grundrechtsgefährdung" als Grundrechtsverletzung?
Das Bundesverfassungsgericht vertritt in mittlerweile gefestigter Rechtsprechung die Ansicht, daß bereits „Grundrechtsgefährdungen" verfassungswidrig sein können. 2 Zwar lägen „bloße Grundrechtsgefährdungen im allgemeinen noch im Vorfeld verfassungsrechtlich relevanter Grundrechtsbeeinträchtigungen". Sie könnten jedoch „unter besonderen Voraussetzungen Grundrechts Verletzungen gleichzuachten sein." 3 Diese Ausdrucksweise 86 Zwar gibt es auch ein Individualbeschwerdeverfahren nach dem Fakultativprotokoll zum IPBPR, doch hat die Bundesrepublik dieses Protokoll nicht ratifiziert. Zu den Gründen hierfür vgl. BT-Drs. 7/660, S. 41. 1 Zum Begriff des Risikos s. o. § 4 A. 2 BVerfGE 49, 89 (141 f.) - Kalkar. 3 BVerfGE 51, 324 (346f.); 52, 214 (220); vgl. auch 53, 30 (51, 57); 56, 54 (78). - In E 51, 321 (347) bezeichnet das BVerfG eine solche „Grundrechtsgefährdung" als „Grundrechtsverletzung im weiteren Sinne".
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§ 7 Grundrechtlich begründete Pflicht zur Risikovorsorge?
ist nicht gerade genau. Gemeint ist, daß nicht erst die Verletzung, sondern auch schon die Gefährdung eines grundrechtlich geschützten Gutes gegen das Grundrecht verstoßen, das Grundrecht verletzen kann. Zur Begründung stützt sich das Bundesverfassungsgericht auf die „objektivrechtlichen Wertentscheidungen", die neben den „subjektiven Abwehrrechten" in den grundrechtlichen Verbürgungen enthalten seien. Die daraus folgende staatliche Schutzpflicht könne auch die Pflicht zur Risikoabwehr umfassen und es gebieten, auch die Gefahr von Grundrechtsverletzungen einzudämmen. 4 Auf die Schutzpflicht stützt sich das Bundesverfassungsgericht auch dort, wo es nicht um „Grundrechtsgefährdungen" seitens Privater, sondern seitens des Staates geht 5 oder wo das Bundesverfassungsgericht sonst Verletzungen grundrechtlicher Schutzgüter seitens Privater auch ohne den Umweg über die Schutzpflicht dem Staat zurechnet. 6 Daß die Pflicht zum Schutz vor Grundrechtsverletzungen sich auch auf die „Eindämmung" von „Grundrechtsgefährdungen" bezieht und daß wegen der Schutzpflicht auch Gefährdungen grundrechtlicher Schutzgüter verfassungswidrig sein könnten, ist aber eher eine These, denn eine Begründimg - eine These zumal, die die „Grundrechtsgefährdimg" im Dunstkreis des eher vernebelnden als klärenden Begriffs der „objektivrechtlichen Wertentscheidung" 7 stehen läßt. Da es sich nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts „von selbst versteht", „daß Art. 2 I I 1 GG den staatlichen Organen verbietet, den Beschuldigten im Strafverfahren in eine naheliegende, konkrete Lebensgefahr zu bringen" 8 , müßte sich hierfür auch eine einleuchtende Begründung finden lassen. Wenn sich klären läßt, worauf diese Selbstverständlichkeit beruht, hat das Bundesverfassungsgericht durch die schlichte Konstatierung der Evidenz 9 zur Begründung des grundrechtlichen Schutzes gegen Risiken mehr geleistet als mit dem Hinweis auf den „objektiv-rechtlichen Gehalt" 1 0 der Grundrechte. Geht man vom abwehrrechtlichen Verständnis der Grundrechte aus, so schützen die Grundrechte gegen staatliche Beeinträchtigungen der Schutzgüter. Sie geben dem Individuum einen Anspruch auf Unterlassung von Beeinträchtigungen der grundrechtlich geschützten Güter und verpflichten den Staat, die Grundrechte zu achten, also Beeinträchtigungen der 4
BVerfGE 49, 89 (141 f.); 53, 30 (57); 56, 54 (78). BVerfGE 51, 324 (346f.), in dieser Entscheidung allerdings nur implizit durch Bezugnahme auf den Kalkar-Beschluß. In BVerfGE 52, 214 (220), der höchst problematischen Entscheidung zum Vollstreckungsschutz, die sich ausdrücklich auf die Schutzpflicht stützt, Hegt m.E. weder ein staatlicher noch ein privater Eingriff vor. Nach Ansicht des BVerfG geht es dort aber um einen Eingriff des Staates. 6 BVerfGE 49, 89 (140ff.). 7 Vgl. Schwabe, Grundrechtsdogmatik, S. 286; Martens, W D S t R L 30 (1972), 190. 8 BVerfGE 51, 324 (347). 9 Vgl. auch die ebenso „selbstverständliche" Formulierung in BVerfGE 53, 30 (51). 10 BVerfGE 53, 30 (57). 5
Α. „Grundrechtsgefährdung" als Grundrechtsverletzung?
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geschützten Güter zu unterlassen, soweit nicht ein (ausdrücklicher oder verfassungsimmanenter) Gesetzesvorbehalt die Einschränkung zuläßt und ein Gesetz zum Eingriff ermächtigt. Zweck der Grundrechte ist es, die Schutzgüter gegen Beeinträchtigungen abzuschirmen. „Beeinträchtigung" ist jede nachteilige Einwirkung auf das geschützte Gut. Beeinträchtigt werden können die Schutzgüter durch Eingriffe im prägnanten Wortsinne, also durch Handlungen, die den Nachteil wissentlich und willentlich herbeiführen 11 , aber die Beeinträchtigimg kann auch die ungewollte Folge eines auf andere Zwecke gerichteten Verhaltens sein („Eingriff im weiteren Sinne"). Die entscheidende Frage lautet nun, ob es für den Schutz, den die Grundrechte bieten, auf diesen Unterschied ankommt. Nach der klassischen rechtsstaatlichen Formel bedürfen „Eingriffe in Freiheit und Eigentum" der gesetzlichen Grundlage. Dem entspricht i m wesentlichen die Funktion der negatorischen Grundrechte, in deren Schutzgüter nur - nach Maßgabe der besonderen Gesetzesvorbehalte - aufgrund eines Gesetzes eingegriffen werden darf. Ursprünglich war mit dem „Eingriff" eine gezielte Beeinträchtigung gemeint. Dies entsprach zwar den typischen Ëedrohungen von Freiheit und Eigentum, mit denen man zu rechnen hatte und gegen die die Grundrechte schützen sollten. Der Eingriffsbegriff war aufgrund seiner dogmatischen Klarheit 1 2 zur Bewältigung der hiermit aufgeworfenen Rechtsfragen das angemessene Instrument. Die Grundrechte konnten als - modale - Eingriffsverbote verstanden ψ\ά auf diese Weise unproblematisch vollzogen werden. Aber es gab voii vornherein keinen Grund dafür, daß der grundrechtliche Schutz sich hierin erschöpfen sollte: Den durch die Grundrechte positivierten Menschenrechten kommt es darauf an, daß die Unversehrtheit ihrer Schutzgüter bewahrt wird, nicht darauf, daß ein bestimmter Modus der Verletzung unterbleibt. Nun lassen zwar die Grundrechte - nach Maßgabe des jeweiligen Gesetzesvorbehalts - einen bestimmten Beeinträchtigungsmodus zu, nämlich den des Eingriffs aufgrund eines Gesetzes. Aber daraus läßt sich nicht folgern, daß sie gegen sonstige Beeinträchtigungen überhaupt keinen Schutz bieten. Der Schutz der grundrechtlichen Schutzgüter ist vielmehr nur dann effektiv, wenn er sich auch gegen nicht finale Beeinträchtigungen richtet. Während nicht gewollte Beeinträchtigungen im liberalen Rechtsbewahrstaat eine quantité négligeable gewesen sein mochten und jedenfalls der Verfassungstheorie nicht theoretisierungswert erschienen, schafft der Staat der Daseinsvorsorge und Sozialintervention so vielfältige Gefährdungslagen und bewirkt so viel Unvorhergesehenes 13, daß ein großes praktisches Bedürfnis nach Schutz vor nicht gezielten Beeinträchtigungen entstanden ist. Dies hat im Bereich des 11
Zum Eingriffsbegriff vgl. Forsthoff, Verwaltungsrecht, S. 347, 359. Vgl. Forsthoff, Verwaltungsrecht, S. 347. 13 Vgl. Forsthoff, Verwaltungsrecht, S. 59ff., 360f.; Gallwas, Faktische Beeinträchtigungen im Bereich der Grundrechte, S. 9f. 12
9 Murswiek
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§7 Grundrechtlich begründete Pflicht zur Risikovorsorge?
Entschädigungsrechts schon längst dazu geführt, daß der prägnante Eingriffsbegriff aufgegeben wurde. Die Rechtsprechung läßt eindeutig spätestens seit dem Urteil des Bundesgerichtshofs vom 15.3.1962 14 ungewollte Beeinträchtigungen zur Begründung der Enteignungsentschädigung genügen. Der „enteignende" oder „enteignungsgleiche" Eingriff ist nicht mehr im Sinne des „gezielten Eingriffs" zu verstehen. 15 Diese Rechtsprechung hat im Ergebnis allgemeinen Beifall gefunden, auch bei denjenigen, die für die Begründung dieses Ergebnisses einen anderen dogmatischen Weg vorgezogen hätten. 16 Auch der Aufopferungsanspruch setzt die Finalität der Beeinträchtigung von Leben oder Gesundheit nicht mehr voraus. 17 Da die Entschädigung die Aufopferung eines rechtlich geschützten Guts kompensieren soll 1 8 , kann man daraus schließen, daß jedenfalls Leben, körperliche Unversehrtheit und Eigentum auch gegen ungewollte faktische Beeinträchtigungen geschützt sind. Die heute insoweit unangefochtene Rechtsprechung zum Entschädigungsrecht indiziert also, daß die Grundrechte als Abwehrrechte auch gegen nicht-finale „Eingriffe" zu verstehen sind. 19 Eben dies ist die „Selbstverständlichkeit", auf die das Bundesverfassungsgericht seine These stützen konnte, schon „Grundrechtsgefährdungen" könnten „Grundrechtsverletzungen" sein. Die Einbeziehung von Risiken für grundrechtlich geschützte Güter in den Grundrechtsschutz ist auf der Basis des im Entschädigungsrecht längst entwickelten Grundrechtsverständnisses keine überraschende Neuerung, sondern eine notwendige Konsequenz: Was für die entschädigungsrechtlichen Folgen bereits eingetretener „Grundrechtsverletzungen" - sozusagen auf der „Rückseite" des Grundrechtsschutzes - längst anerkannt war, wird nun auf die „Vorderseite" projeziert: Die nicht-finalen „Grundrechtsverletzungen" - für die Entschädigung zu leisten war - sollen von vornherein vermieden werden. Diese Abwehr von Verletzungen der Schutzgüter ist ja die eigentliche Funktion der Grundrechte, während die Entschädigung nur Kompensationscharakter hat. Erkennt man also an, daß die Grundrechte prinzipiell auch vor nicht finalen Beeinträchtigungen schützen 20 , dann muß man auch den 14 BGHZ 37, 44 (47) - Schießübungen. Ständige Rspr., vgl. BGH NJW 1964, 104 Schützenpanzer; DVB1. 1965, 83 (84). Anders noch BGHZ 12, 52 (57); 23, 235 (240). 15 Vgl. Rüfner, in: Erichsen / Martens, S. 475ff.; Wolff / Bachof I, S. 537. 16 Vgl. z.B. Forsthoff, Verwaltungsrecht, S. 347, 359ff., der die Aufgabe des prägnanten Eingriffsbegriffs ablehnt, aber zugleich für derartige Fälle die öffentlichrechtliche Gefährdungshaftung postuliert. » Vgl. Wolff/ Bachof I, S. 537; Rüfner, in: Erichsen / Martens, S. 483f. 18 Vgl. Wolff / BaçhofI, S. 534f. m.w.N. 19 Vgl. Ramsauer, VerwArch. 72 (1981), 93. Allgemein für den Verzicht auf das K r i terium.des finalen Eingriffs auch Brohm, W D S t R L 30 (1972), 271f. m.w.N. 20 Daß sie nicht vor allen nicht finalen Beeinträchtigungen schützen können, liegt auf der Hand; man denke an das Kriterium der Unmittelbarkeit der Beeinträchtigung in der Entschädigungsrechtsprechung des BGH, vgl. die Nachw. bei Ramsauer, Die faktischen Beeinträchtigungen des Eigentums, S. 166 ff.
Α. „Grundrechtsgefährdung" als Grundrechtsverletzung?
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Schutzbereich der Grundrechte entsprechend weit formulieren. Versteht man die Grundrechte als Unterlassungsansprüche des Bürgers bzw. - als Gegenstück dazu - als Eingriffs- und Beeinträchtigungsverbote für den Staat, so fragt sich, wie der Unterlassungsanspruch bzw. das Eingriffsverbot im Hinblick auf nicht finale Eingriffe zu formulieren ist. Während man finale Eingriffe einfach verbieten kann, ist das bei nicht finalen Beeinträchtigungen nicht möglich. Denn nicht der Erfolg, also der Eintritt des Nachteils für das geschützte Gut, kann verboten werden; Ge- und Verbote können sich nur an menschliches Verhalten richten. Geht es um die Vermeidung eines ungewollten Erfolges, kann die Regelung nur die typische Verantwortungsstruktur haben: Verhalte dich so, daß du mit deinem Verhalten den unerwünschten Erfolg nicht herbeiführst! Vermeide die Verursachung von Risiken für das geschützte Gut! Dem Verpflichteten sind also bestimmte Sorgfaltspflichten in bezug auf das geschützte Gut aufzuerlegen. Genau dies hat das Bundesverfassungsgericht getan, als es den Grundrechtsschutz auf Grundrechtsgefährdungen - scheinbar - ausdehnte: Es hat den Schutzbereich im Hinblick auf den Schutz vor nicht finalen Eingriffen präzisiert. Der Bürger hat einen Anspruch auf Unterlassung auch ungewollter Beeinträchtigungen, der aber als solcher nicht vollziehbar ist. Deshalb formuliert ihn das Bundesverfassungsgericht in der vollziehbaren Form eines Rechtssatzes, der die typische Verantwortungsstruktur auf weist: Der Anspruch geht auf Unterlassung von „Grundrechtsgefährdungen". Der Staat ist auf der anderen Seite verpflichtet, „Grundrechtsgefährdungen" zu vermeiden. Der Schutzbereich der Grundrechte ist also nicht identisch mit dem geschützten Gut bzw. mit dem Bereich der geschützten Freiheit, sondern er ist weiter: Er umfaßt auch die Freiheit von Risiken für das geschützte Gut. Ein „Eingriff" in den so verstandenen Schutzbereich ist eine Grundrechtsverletzung, sofern das Grundrecht nicht durch Gesetz insoweit eingeschränkt ist. Dies ist das dogmatische Konzept, das der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur „Grundrechtsgefährdung" zugrunde liegt. 2 1 Daß die gesetzliche Auferlegung der Pflicht, ein Risiko für ein grundrechtliches Schutzgut zu tragen, das betreffende Grundrecht einschränkt, ergibt sich übrigens auch daraus, daß man jedes zum Eingriff ermächtigende Gesetz unter dem Aspekt des Risikos betrachten kann. Im Falle der Eingriffsermächtigung w i r d dem einzelnen die Pflicht auferlegt, einen eventuellen Eingriff hinzunehmen. Ob jemals ein solcher Eingriff stattfinden wird, ist aber nicht gewiß; das Gesetz selbst ist noch kein Eingriff, sondern begründet für den einzelnen das Risiko eines Eingriffs. Dennoch kann kein 21 Es geht hierbei nicht um „vorbeugenden Grundrechtsschutz", wie gelegentlich mißverständlich formuliert wird. Geschützt werden nicht die Grundrechte, sondern die grundrechtlichen Schutzgüter, und daß sie vorbeugend geschützt werden, daß also die Grundrechte Schutz bieten gegen Beeinträchtigungen und nicht erst Kompensation für bereits erfolgte Verletzungen, ist nichts Neues.
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§7 Grundrechtlich begründete Pflicht zur Risikovorsorge?
Zweifel daran bestehen, daß die Auferlegung dieses Risikos das Grundrecht einschränkt 22 und also den verfassungsrechtlichen Einschränkungsvoraussetzungen entsprechen muß. Eine andere Frage ist, ob das Risiko den Betroffenen bereits belastet. Wenn die Duldungspflicht durch einen besonderen Rechtsakt konkretisiert wird, gegen den der Betroffene Rechtsschutz genießt, oder wenn gegen den Vollzugsakt, den eigentlichen Eingriff, vorbeugender Rechtsschutz möglich ist, dann muß man diese Frage verneinen, so daß ein Rechtsschutzbedürfnis noch nicht besteht. 23 Insofern begründet das Gesetz selbst noch nicht das Risiko eines rechtswidrigen Eingriffs. Anders jedoch, wenn der Betroffene sich gegen den Eingriffsakt nicht im voraus gerichtlich zur Wehr setzen kann, wie im Falle des Gesetzes zur Beschränkung des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses (G 10), das die zuständigen Stellen beispielsweise zum Abhören von Telefongesprächen ermächtigt, ohne den Betroffenen zuvor davon in Kenntnis zu setzen. In einem solchen Fall ist die Verfassungsbeschwerde unmittelbar gegen das Gesetz zulässig und auch begründet, soweit sich die gesetzliche Grundrechtseinschränkimg nicht rechtfertigen läßt - auch wenn der Beschwerdefuhrer nicht geltend macht, Opfer einer Abhörmaßnahme geworden zu sein und obwohl nicht das Gesetz selbst, sondern erst die behördliche Abhörmaßnahme das geschützte Gut, nämlich das Fernmeldegeheimnis, verletzen kann. 2 4 Allein die Möglichkeit, daß aufgrund dieses Gesetzes eine Abhörmaßnahme erfolgt, also das unmittelbar aus dem Gesetz resultierende Abhörrisiko, ist eine Beeinträchtigung des Rechts auf Unverletzlichkeit des Fernmeldegeheimnisses, und die Pflicht, das Abhörrisiko zu tragen, die das Gesetz jedem Bürger auferlegt, schränkt das Grundrecht aus Art. 10 I GG ein. 25 Diese Einschränkimg muß sich - insbesondere im Hinblick auf den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit 26 - verfassungsrechtlich rechtfertigen lassen. Bis hierhin wurde aber nur das Prinzip begründet. Noch nicht geklärt ist damit, warum es nach den Entscheidungen, die sich mit dem Risikoproblem explizit befassen, gerade auf „Gefährdungen" der geschützten Güter ankommen soll. Schutz gegen nicht finale Eingriffe ist nämlich in sehr unterschiedlichen Intensitätsstufen möglich: Dem Verpflichteten könnte auferlegt werden, sich so zu verhalten, daß er Beeinträchtigungen des geschützten Guts mit Sicherheit oder mit an Sicherheit grenzender Wahr22 Vgl. z.B. BVerfGE 30,1 (17f.); Hesse, Verfassungsrecht, S. 133 (§ 10 I I 1). So auch die zum Grundrechtseingriff ermächtigenden Gesetze i n der üblichen, dem Wortlaut des Art. 19 I GG entsprechenden Zitierklausel, vgl. z.B. § 10 I G 10; § 12 I I AtG; § 3 UZwG. - Zur K r i t i k des üblichen Sprachgebrauchs s.o. § 5 Fn. 18, 20. 23 Insbesondere kommt eine Verfassungsbeschwerde noch nicht i n Betracht, vgl. BVerfGE 1, 97 (lOlff.); 20, 283 (290) m.w.N. 24 So BVerfGE 30, 1 (16f., 30ff.) - Abhörurt. 25 Vgl. G 10 § 101. 26 Vgl. zum G10 BVerfGE 30, 1 (20f., 31f.).
Α. „Grundrechtsgefährdung" als Grundrechtsverletzung?
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scheinlichkeit vermeidet, oder z u m Beispiel, daß er m i t seinem V e r h a l t e n die Verletzung des Schutzguts n i c h t m i t großer W a h r s c h e i n l i c h k e i t verursacht. F ü r die B e a n t w o r t i m g der Frage, welche A n f o r d e r u n g e n an die Sorgfaltsp f l i c h t des V e r p f l i c h t e t e n z u stellen sind, m i t anderen W o r t e n : w i e groß das R i s i k o ist, auf dessen U n t e r l a s s u n g der B ü r g e r einen g r u n d r e c h t l i c h e n A n s p r u c h hat, g i b t der U m s t a n d , daß die G r u n d r e c h t e ü b e r h a u p t auch gegen n i c h t finale E i n g r i f f e , also gegen R i s i k e n schützen, k e i n hinreichendes K r i t e r i u m ab. Dies h ä n g t v i e l m e h r davon ab, i n w e l c h e m Maße der Gesetzgeber d u r c h A u f e r l e g u n g v o n R i s i k o t r a g u n g s p f l i c h t e n die G r u n d r e c h t e des Betroffenen einschränken darf. Bevor i n den nächsten Paragraphen h i e r a u f eingegangen w i r d , sollen n o c h die Konsequenzen der bisherigen Feststellungen f ü r den V o r b e h a l t des Gesetzes sowie f ü r die S c h u t z p f l i c h t i n bezug auf E i n g r i f f e D r i t t e r ergründet werden. Festzuhalten b l e i b t zunächst, daß ein E i n g r i f f i m w e i t e r e n Sinne, also u n t e r Einschluß n i c h t finaler E i n g r i f f e , n i c h t erst b e i einer B e e i n t r ä c h t i g u n g des Schutzguts v o r l i e g t , sondern bereits dann, w e n n das Schutzgut einem Risiko ausgesetzt w i r d . 2 7 Z u r B e g r ü n d u n g dieses Schutzumfangs ist es n i c h t 27 Den Unterschied zwischen Eingriff und Grundrechtsverletzung verkennt Degenhart, wenn er erst solche Risiken als Eingriffe betrachtet, auf deren Unterlassung der Betroffene einen Anspruch hat (Kernenergie, S. 147 ff., insb. 149, 155, 158; ET 1981, 204f., 208). Richtig ist, daß Art. 2 I i GG keinen „absoluten" Schutz fordert und daß bestimmte Risiken als „sozialadäquate Lasten" hinzunehmen sind, BVerfGE 49, 89 (143); Degenhart, Kernenergie, S. 146; ET 1981, 204. Wie absolute, schrankenlose Freiheit nur als Chaos, so ist absolute Sicherheit nur als Friedhofsruhe denkbar. Beides bedarf der gesetzlichen Eingrenzimg und Zuordnung. Das Grundgesetz fordert weder das eine noch das andere; im Gegenteil: es schließt beides aus. Aber diese Selbstverständlichkeit darf nicht zu dem Fehlschluß verleiten, daß Freiheit oder Sicherheit durch Beschränkungen nicht berührt würden oder daß erst ab einer bestimmten Intensitätsschwelle ein „Eingriff" vorläge. So wie jedes Verbot, etwas Bestimmtes zu tun, in die Freiheit eingreift, greift jede Belastung mit einem Risiko in die Sicherheit und damit i n den Schutzbereich des bedrohten Grundrechts ein. Dies gibt auch Degenhart zu (ET 1981, 204). Es ist die Aufgabe des Gesetzgebers, die Freiheit, und zwar sowohl die Freiheit von Eingriffen im engeren Sinne (finalen Eingriffen) als auch die Freiheit von Eingriffen i m weiteren Sinne (nicht-finalen Eingriffen), also die Sicherheit, einzugrenzen. Die Grundrechte geben dem einzelnen insoweit keinen absoluten, aber einen modalen Unterlassungsanspruch: Er kann die Unterlassung des Eingriffs nur verlangen, sofern der Eingriff nicht auf einem Gesetz beruht, welches den verfassungsmäßigen Einschränkungsvoraussetzungen entspricht und nicht gegen die Wesensgehaltsgarantie und den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz verstößt. Wer dagegen - wie Degenhart - als „Eingriff" nur einen solchen Eingriff bezeichnet, den der einzelne nicht zu dulden braucht, der ihn also i n seinem Grundrecht verletzt, gibt nicht nur terminologisch die bewährte rechtsstaatliche Grundrechtsdogmatik preis. Die Unterscheidung zwischen Eingriff und Rechtsverletzung ist ja keine dogmatische Zufälligkeit, sondern hat eine rechtsstaatliche Funktion: Sie weist auf die Gesetzesgebundenheit der Exekutive hin und darauf, daß es Sache des Gesetzgebers ist, die erforderlichen Beschränkungen von Freiheit oder Sicherheit vorzunehmen und dabei den Konflikt entgegenstehender Interessen zu entscheiden. Die Selbstverständlichkeit, daß es keine absolute Freiheit und keine absolute Sicherheit geben kann, darf nicht vergessen lassen, daß auch sinnvolle und sogar prinzipiell gebotene Einschränkungen und Eingriffe an verfassungsrechtliche Voraussetzungen gebunden sind. Vgl. auch die K r i t i k an Degenhart von Hofmann, BayVBl. 1983, 36f., Baumann, JZ 1982, 752ff.
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§ 7 Grundrechtlich begründete Pflicht zur Risikovorsorge?
nötig, sondern eher irreführend, auf den „objektiv-rechtlichen Gehalt" der Grundrechte oder die Schutzpflichten zurückzugreifen. Und schon gar nicht ist man darauf angewiesen, sich auf einen so schwammigen Modebegriff wie den der „Grundrechtsrelevanz" 28 zu stützen, von der niemand genau sagen kann, wo sie beginnt und wo sie aufhört - abgesehen von dem Richter, der im Einzelfall dezisionistisch diese Grenze bestimmt. B. Der Vorbehalt des Gesetzes im Hinblick auf „Grundrechtsgefährdungen"
Nach herkömmlichem Verständnis gilt der Vorbehalt des Gesetzes für Eingriffe in die grundrechtlich geschützte Individualsphäre. Ob es sich dabei um Eingriffe im engeren Sinne, also um finale Eingriffe handeln muß, ist kaum geklärt. 29 Gegen die Erstreckung des Vorbehalts auf nicht finale Eingriffe wird eingewandt, die Funktion dieses Grundsatzes bestehe darin, die Verwaltung dort, wo sie zur Durchsetzung staatlicher Zwecke das Mittel des Gebots oder des Verbots einsetze, an entsprechende Vorentscheidungen des Gesetzgebers zu binden; seine ratio sei befehlsorientiert. 30 Dies aber wäre zu beweisen. Das historische Verständnis des Vorbehalts des Gesetzes reicht jedenfalls dann als Beweis nicht mehr aus, wenn man die Auffassimg vertritt, daß der Schutzbereich der Grundrechte sich auch auf nicht finale Eingriffe beziehe. Ist es aber praktisch überhaupt möglich, den Vorbehalt des Gesetzes auf nicht finale Eingriffe zu erstrecken? Zeichnen sich nicht ungewollte Beeinträchtigungen dadurch aus, daß sie häufig gar nicht vorausgesehen werden können? Entziehen sie sich nicht damit jeder Normierbarkeit? Auf diese Weise ist die Frage falsch gestellt. Es geht nicht um die Ermächtigung zur Herbeiführung von untypischen und nicht vorhergesehenen Folgen, sondern es geht um die Frage, ob der Eingriff in den Schutzbereich der Grundrechte durch Verursachung von Risiken, also die Verursachung von Risiken für die grundrechtlichen Schutzgüter, der gesetzlichen Ermächtigung bedarf. Stellt man die Frage so, kann die Antwort nur „ja" lauten, denn Eingriffe in den Schutzbereich eines Grundrechts bedürfen immer einer gesetzlichen Ermächtigung, soweit sich aus der Verfassung nicht ausnahmsweise etwas anderes ergibt. Explizit sieht das Grundgesetz eine Ausnahme für die Verursachung von Risiken nicht vor. Daher ließe sich diese Ausnahme nur 28
Vgl. z.B. BVerfGE 51, 324 (346); Degenhart, Kernenergierecht, S. 144ff. u. pass. Wolff / Bachof I, § 30 III, beziehen den Vorbehalt des Gesetzes nur auf imperative Eingriffe. Im übrigen wird der Eingriffsbegriff in der Lit. in diesem Zusammenhang meist nicht näher erläutert, doch scheint meist an finale Eingriffe gedacht zu sein, vgl· z.B. Dietrich Jesch, Gesetz und Verwaltung. 2. unverä. Aufl. Tübingen 1968, S. 117 ff.; Forsthoff, Verwaltungsrecht, S. 244. 30 Gallwas, Faktische Beeinträchtigungen, S. 96f. m. Hinweis auf Selmer, JuS 1968, 493. 29
Β. Vorbehalt des Gesetzes und „Grundrechtsgefährdungen"
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damit begründen, daß anders der Staat an der Wahrnehmung der verfassungsmäßigen Funktionen gehindert oder wesentlich beeinträchtigt würde. So ist gesagt worden, daß die Verwaltung vor dem Untypischen kapitulieren müsse, wenn man den Vorbehalt des Gesetzes auch auf nicht finale Eingriffe erstreckte; die Verwaltungstätigkeit würde gelähmt, wenn jede Maßnahme, die vom Gesetzgeber nicht vorhergesehene belastende Nebenwirkungen zur Folge haben könnte, verfassungswidrig wäre. 31 Dieser Einwand ist ernst zu nehmen. Man kann davon ausgehen, daß die Verfassung nicht Kompetenzen einräumt und ihre Wahrnehmung zugleich unmöglich macht. Doch bevor man aus diesem Grunde den Vorbehalt des Gesetzes für nichtfinale Eingriffe verwirft, sollte man prüfen, ob dies wirklich nötig ist, um die Kapitulation vor dem Untypischen zu vermeiden. Freilich wäre diese Folge unausweichlich, wollte man für jede unbeabsichtigte nachteilige Nebenfolge einer Verwaltungsmaßnahme eine gesetzliche Ermächtigung verlangen. Die Forderung nach einem in dieser Weise verstandenen Vorbehalt des Gesetzes wäre auf etwas Unmögliches gerichtet. Aus dem Prinzip, daß Eingriffe in grundrechtliche Schutzbereiche der gesetzlichen Ermächtigung bedürfen, läßt sich eine solche Forderung aber gar nicht ableiten. Je nachdem, ob es um finale oder nichtfinale Eingriffe geht, muß das zum Eingriff ermächtigende Gesetz der Natur der Sache nach eine unterschiedliche Struktur haben. Wer die nicht realisierbare Forderung nach einer gesetzlichen Ermächtigung für die Verursachimg bestimmter unvorhergesehener Folgelasten erhebt, überträgt in sachlich nicht gerechtfertigter Weise die Anforderungen, die an ein zum finalen Eingriff ermächtigendes Gesetz zu stellen sind, auf die gesetzliche Einschränkung des grundrechtlichen Schutzbereichs bezüglich nichtfinaler Eingriffe. Nicht realisierbar wäre die Forderung nach einer gesetzlichen Ermächtigung für jeden konkreten nichtfinalen Eingriff /Λνβίΐ -dieser sich als nicht gewollte Nebenfolge auf andere Ziele gerichteten Handelns der Normierbarkeit entzieht. Aber ein Eingriff in den grundrechtlichen Schutzbereich liegt ja bereits mit der Erzeugung von Risiken für das grundrechtliche Schutzgut vor. Gesetzlich normierbar ist ohne weiteres das, was in diesem Bereich die Funktion des Vorbehalts des Gesetzes sein muß: die Bestimmung der Größe desjenigen Risikos, das zu tragen dem einzelnen im Interesse der Funktionsfähigkeit der Verwaltung zugemutet wird. Die Ermächtigung bezieht sich also nicht auf die Verursachung bestimmter unbeabsichtigter Folgen, sondern auf die Erzeugung von Risiken, und es ist nicht erforderlich, daß sie sich auf die Erzeugung ganz bestimmter Risiken für bestimmte Schutzgüter bezieht, sondern sie kann sich generalklauselartig auf alle Arten von Risiken für alle möglichen Schutzgüter beziehen, wenn die auf diese Weise den Bürgern auferlegte allgemeine Risikotragungspflicht erforderlich ist, die Ver31
Gallwas, Faktische Beeinträchtigungen, S. 94.
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§ 7 Grundrechtlich begründete Pflicht zur Risikovorsorge?
waltungsaufgaben zu erfüllen. Der Vorbehalt des Gesetzes verlangt auch nicht, daß die Verwaltung ausdrücklich zur Erzeugung von Risiken ermächtigt wird; es genügt, wenn sich der Umfang dieser Ermächtigung implizit aus einem Gesetz ergibt, das die im Rahmen der Erfüllung öffentlicher Aufgaben zu beachtenden Sorgfaltspflichten festlegt. 32 Besondere Ermächtigungen sind dann nur noch dort erforderlich, wo aus besonderen Gründen eine öffentliche Aufgabe nur unter Verursachung über dieses generell bestimmte Maß hinausgehender Risiken für grundrechtliche Schutzgüter wahrgenommen werden kann. Auch die Beachtimg des Zitiergebots gem. Art. 1912 GG ist bei der gesetzlichen Auferlegung von Risikotragungspflichten grundsätzlich zu verlangen. 33 Allerdings sind hier diejenigen Einschränkungen zu machen, die sich schon aus der zutreffend engen Auslegung des Art. 1912 GG in der Rechtsprechung ergeben. 34 Hiernach entfällt die Zitierpflicht für vorkonstitutionelle Gesetze und für solche nachkonstitutionellen Gesetze, die die in jenen enthaltenen Grundrechtseinschränkungen im wesentlichen bestätigen. Zweck des Art. 19 I 2 GG ist es nach der Rechtsprechung vor allem, neue oder erweiterte Grundrechtseinschränkungen hervorzuheben. 35 Deshalb entfällt die Zitierpflicht bei der gesetzlichen Bestimmung der allgemeinen Sorgfaltspflichten und der sich als Kehrseite daraus ergebenden allgemeinen Risikotragungspflichten, also etwa bei der die allgemeine Polizeipflichtigkeit bestimmenden polizeilichen Generalklausel. Die allgemeinen Vorschriften, aus denen sich die Größe desjenigen Risikos ergibt, das der Gesetzgeber dem einzelnen im Interesse der Möglichkeit sozialer Kontakte, sozialen Verkehrs, der Möglichkeit von Gesellschaftlichkeit überhaupt auferlegt, enthalten lang überlieferte, bewährte Standards; das hiernach zu tragende Risiko wird als Bestandteil des „allgemeinen Lebensrisikos" in der Regel fraglos akzeptiert und kaum als Grundrechtseinschränkung empfunden. Jedenfalls kann es nicht als eine überraschende Einschränkung der persönlichen Sicherheit gelten, also als eine Grundrechtseinschränkung, auf die der einzelne besonders hingewiesen werden müßte. Noch ein weiterer Grund spricht hier gegen die Anwendbarkeit des Zitiergebots: Die unterhalb der generell festgelegten Relevanzschwelle liegenden Risiken sind so vielfältig und so unspezifisch, daß sie potentiell jedes grundrechtliche Schutzgut betreffen, ohne daß man in irgendeiner Weise materiell eingrenzen könnte, welcher Art diese Risiken sind. Dem Zitiergebot könnte hier nur durch eine Generalklausel genügt werden, die alle Grundrechte für eingeschränkt erklärt durch Risiken aller Art, soweit sie unterhalb der Gefahren32
Vgl. BVerfGE 49, 89 (129). Vgl. Hofmann, BayVBl. 1983, 37 f. 34 Vgl. z.B. BVerfGE 16, 194 (199); 15, 288 (293); 28, 36; BVerwGE 43, 48 (54). 35 Vgl. z.B. auch Hendrichs, in: v. Münch, GG, Art. 19 Rdnr. 18; kritisch Herzog, in: Maunz / Dürig, Art. 19 Rdnr. 51, 57. 33
Β. Vorbehalt des Gesetzes und „Grundrechtsgefährdungen"
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schwelle (oder der sonstwie allgemein bezeichneten Relevanzschwelle) bleiben. Mit einem solchen Hinweis wäre aber niemandem gedient. Somit kann man in diesem Zusammenhang Art. 1912 GG nur so verstehen, daß das eingeschränkte Grundrecht dann zu zitieren ist, wenn zu besonderen Zwecken der allgemein geltende Sicherheitsstandard in begrenztem Umfang und im Hinblick auf spezifische Risiken herabgesetzt, wenn die Pflicht, Risiken einer bestimmten Art zu tragen, also verschärft wird. In einem solchen Fall führt die Verletzimg des Zitiergebots zur Nichtigkeit des Gesetzes, das zur Verursachung des erhöhten Risikos ermächtigt. 3 6 Mit diesen Konsequenzen, die sich aus der Erstreckung der grundrechtlichen Schutzbereiche auf nichtfinale Eingriffe für den Vorbehalt des Gesetzes ergeben, wird die Praxis von Gesetzgebung und Verwaltung nicht überfordert: Ein Blick auf die Praxis zeigt, daß sie diesen Anforderungen im wesentlichen seit langem entspricht. So bestimmen die Polizeigesetze, welche die allgemeine Polizeipflichtigkeit materiell nicht nur für Private, sondern auch für die staatlichen Behörden festlegen, daß die Bürger solche Risiken hinzunehmen haben, die unterhalb der Gefahrenschwelle bleiben. Diese Risiken zu tragen, w i r d ihnen im Interesse der Funktionsfähigkeit der Verwaltung allgemein zugemutet. Sofern die Wahrnehmung besonderer Staatsaufgaben dies erfordert, wird die Verwaltung in besonderen Bestimmungen zur Erzeugung größerer Risiken ermächtigt. So hat z.B. die Vollzugspolizei im Straßenverkehr grundsätzlich - wie jeder andere Verkehrsteilnehmer auch - Gefahren zu vermeiden, § 1 I I StVO. Nur für den Fall, daß es „zur Erfüllung hoheitlicher Aufgaben dringend geboten ist", macht § 35 StVO hiervon eine Ausnahme. 37 Oder die allgemeine Schwelle des hinzunehmenden Risikos Unbeteiligter wird für die Fälle zulässigen Schußwaffengebrauchs ausdrücklich heraufgesetzt, § 12 I I 2 UZwG. 3 8 Der Vorbehalt des Gesetzes gilt somit für den gesamten Schutzbereich der Grundrechte. Auch für die Verursachung von Risiken für grundrechtliche 36 Zu dieser Rechtsfolge eines Verstoßes gegen Art. 19 I 2 GG vgl. Hendrichs, in: v. Münch, GG, Art. 19 Rdnr. 19 m.w.N. - Hinsichtlich bereits bestehender Gesetze ist allerdings zu bedenken, daß die „Grundrechtsgefährdung" als Grundrechtsproblem erst in letzter Zeit von der Rechtsprechung erkannt und ins Bewußtsein gehoben wurde. Materiell ist dies ein Verfassungswandel, der die Praxis mit dem Kontinuitätsproblem konfrontiert. Insoweit wäre die Nichtigkeitsfolge verfehlt. Eine Pflicht des Gesetzgebers zur „Nachbesserung", die ihn zugleich zwingt, seine Entscheidung unter dem Gesichtspunkt des gewandelten Grundrechtsverständnisses neu zu überdenken, erscheint hier als sachlich angemessener. 37 Diese Ausnahme ist allerdings so weit, daß sie nur bei einschränkender verfassungskonformer Interpretation mit Art. 2 I I GG vereinbar ist. 38 Allerdings in einer gesetzestechnischen Formulierung, die diese Risikoschwelle als Eingrenzung der Befugnisse erscheinen läßt. Dies ist gesetzestechnisch verständlich, aber gerade deshalb kein durchgreifender Einwand gegen die hier vertretene systematische Einordnung dieser Bestimmung.
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§ 8 Der Umfang der verfassungsrechtlichen Pflicht zur Risikoabwehr
Schutzgüter ist eine gesetzliche Ermächtigung erforderlich, die sich allerdings im Umkehrschluß aus den allgemeinen gesetzlichen Sicherheits- und Sorgfaltspflichten ergeben kann. C. Die Pflicht zum Schutz gegen „Grundrechtsgefährdungen" seitens Privater
Wie oben in § 6 gezeigt, ist der Staat verpflichtet, Eingriffe Dritter in den Schutzbereich der Grundrechte zu verbieten (primäre Schutzpflicht) und dieses Verbot effektiv durchzusetzen (sekundäre Schutzpflichten). Wenn nun der Schutzbereich der Grundrechte so zu bestimmen ist, daß die Grundrechte nicht nur einen Anspruch auf Unterlassung von Verletzungen des Schutzguts, sondern auch von Gefährdungen des Schutzguts enthalten, dann bedarf es keiner weiteren Begründung, daß die staatlichen Schutzpflichten auch diesen Aspekt des grundrechtlichen Schutzbereichs erfassen. Im Unterschied zum Schutz vor gezielten Eingriffen ist hier aber ein besonderer Umstand zu bedenken: Legt der Gesetzgeber zum Schutz der grundrechtlichen Schutzgüter Sicherheitsstandards fest, die von Dritten zu beachten sind, verbietet er also die Verursachung von Risiken ab einer bestimmten Größe, so schränkt er damit die grundrechtlich geschützte Freiheit dieser Dritten ein, obwohl keineswegs feststeht, daß die Verursachung der gesetzlich für unzulässig erklärten Risiken auch tatsächlich zur Schädigung des geschützten Gutes führen würde. Der Gesetzgeber hat also einen Ausgleich zwischen Sicherheit und Freiheit herbeizuführen. Dadurch w i r d die Schutzpflicht in diesem Bereich von vornherein relativiert. Wie weit diese Relativierung geht und welches Mindestmaß an Sicherheit von Verfassungs wegen zu fordern ist, bleibt zu untersuchen. § 8 Schutz und Freiheit: Der Umfang der verfassungsrechtlichen Pflicht zur Risikoabwehr Das Ergebnis der Untersuchung über die staatliche Pflicht zur Risikoabwehr kann man auch so formulieren: Die in den klassischen Erklärungen der Menschenrechte enthaltene Pflicht des Staates zur Gewährleistung von „Sicherheit" 1 ist implizit auch in den Grundrechten des Grundgesetzes enthalten. Aber welches Maß an Sicherheit vor Gefährdungen der grundrechtlichen Schutzgüter fordert das Grundgesetz? Das Bundesverfassungsgericht hat im Kalkar-Beschluß den verfassungsrechtlich zu fordernden Sicherheitsstandard mit den Worten umschrieben, auch Regelungen, die im Laufe ihrer Vollziehung zu einer nicht unerheblichen Grundrechtsgefährdung führten, könnten selbst schon mit dem 1
Vgl. z.B. Virginia, B i l l of Rights v. 12. 6.1776, Section 1, 3.
Α. Schutz und Freiheit
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Grundgesetz in Widerspruch geraten. 2 Und im Mühlheim-Kärlich-Beschluß geht das Bundesverfassungsgericht davon aus, daß Art. 2 I I GG nicht nur gegen „faktische Verletzungen", sondern gegen Gefahren für Leben oder Gesundheit schützt. 3 Der Begriff der „Gefahr" umfaßt, wie gezeigt4, Risiken, die eine rechtliche Relevanzschwelle überschreiten. M i t dem Postulat, „Gefahren" oder „erhebliche Gefahren" müßten ausgeschlossen werden, legt das Bundesverfassungsgericht den Sicherheitsstandard fest, dessen Beachtung geboten ist, um nicht-finale Eingriffe in die grundrechtlichen Schutzgüter zu vermeiden. Freilich bleibt diese Festlegung ungenau. Wenn nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts „Grundrechtsgefährdungen" mit dem Gesetz in Widerspruch geraten können, bleibt offen, ob jede Grundrechtsgefährdung schon eine Grundrechtsverletzung ist, ob also mit dem Begriff der (erheblichen) Gefahr ein absoluter verfassungsrechtlicher Mindestsicherheitsstandard postuliert wird, oder ob und unter welchen Voraussetzungen dieser Standard unterschritten werden darf. Welche dogmatische Funktion hat also der vom Bundesverfassungsgericht postulierte Standard (A.)? Und kommt es auf den Ausschluß von „Gefahren", wie der Erste Senat postuliert hat 5 , oder von „erheblichen Gefahren" an, wie es der Zweite Senat fordert 6 (B.)? A. Schutz und Freiheit
Es gibt eine Dialektik von Freiheit und Sicherheit. Sicherheit ist nur auf Kosten von Freiheit zu haben, Freiheit nur auf Kosten von Sicherheit. Je mehr Schutz der Staat dem einen vor Verletzungen seitens anderer bietet, desto mehr muß er die Freiheit der anderen beschränken. Totale Sicherheit würde auf nahezu totale Unfreiheit hinauslaufen. Wer versuchen wollte, absolute Sicherheit zu schaffen, müßte die Freiheit auf Privatheit in völliger Isolation reduzieren, da jeder soziale Kontakt Risiken mit sich bringt. Dies wäre mit der Freiheitskonzeption des Grundgesetzes unvereinbar, abgesehen davon, daß die Forderung nach absoluter Sicherheit unerfüllbar wäre und auch keinem praktischen Sicherheitsbedürfnis entspräche. 7 Folglich kommt es praktisch darauf an, Freiheit und Sicherheit in ein ausgewogenes 2
BVerfGE 49, 89 (141). BVerfGE 53, 30 (51). 4 s.o. § 4 B. 5 BVerfGE 53, 30 (51). 6 BVerfGE 49, 89 (141), wörtlich: „nicht unerhebliche Gefährdungen". 7 Der einzelne ist i m Alltag, allein dadurch, daß er i n der Gemeinschaft mit anderen Menschen lebt, mannigfachen Risiken ausgesetzt, die er als soziales Wesen als selbstverständlich hinzunehmen gewohnt ist, ja, die er überhaupt erst wahrnimmt, wenn er bewußt über diese Risiken nachdenkt. Er empfindet sie angesichts ihrer Geringfügigkeit entweder gar nicht als Belastung, oder allenfalls als durchaus zumutbaren Tribut an den Umstand, daß sozialer Kontakt ohne jedes Risiko nicht möglich ist. 3
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§ 8 Der Umfang der verfassungsrechtlichen Pflicht zur Risikoabwehr
Verhältnis zu bringen. Dieser Ausgleich von Freiheit und Sicherheit erfolgt in der staatlichen Rechtsordnung. Der Gesetzgeber kann denknotwendig nicht anders, als entweder die Freiheit oder die Sicherheit zu beschränken. Daß er von Verfassungs wegen nicht eines allein auf Kosten des anderen beschränken darf, liegt auf der Hand. Andererseits legt die Verfassung die Grenze zwischen Freiheit und Sicherheit nicht fest, sondern überläßt es dem Gesetzgeber, durch seine politische Entscheidung das Optimum sowohl an Freiheit als auch an Schutz zu bestimmen, das je nach den zu regelnden Sachbereichen und je nach den im Prozeß der politischen Willensbildung sich herauskristallisierenden Präferenzen an unterschiedlichen Punkten auf der Skala der möglichen und verfassungsrechtlich zulässigen Intensitätsgrade gesetzlichen Schutzes liegen mag. Die Verfassung setzt nur äußere Grenzen, sowohl was die Freiheitseinschränkimg zum Zwecke des Schutzes Dritter als auch, was die Beschränkung der Sicherheit zugunsten der Freiheit anderer angeht. Sowohl auf der Seite der Handlungsfreiheit des potentiellen Störers als auch auf der Seite der Sicherheit des von den Auswirkungen dieser Freiheit potentiell Beeinträchtigten garantiert die Verfassung nur eine dem Gesetzgeber entzogene Mindestposition, die durch den Wesensgehalt und den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu bestimmen ist. Zwischen diesen Mindestpositionen hat der Gesetzgeber Entscheidungsspielraum.
I. Freiheit von „Gefahren" als Mindestposition gegenüber der Freiheit zur Beliebigkeit und die Sozialadäquanz von Risiken unterhalb der Gefahrenschwelle Die verfassungsrechtliche Schutzpflicht beschränkt sich also auf die Sicherung des von Verfassungs wegen zu fordernden Mindestsicherheitsstandards. Wenn dieser Mindeststandard anhand der Wesensgehaltsgarantie und des Verhältnismäßigkeitsprinzips zu ermitteln ist, dann hängt die Grenzziehung auch davon ab, welchen Zweck die Einschränkung der Sicherheit erfüllen soll. Es gibt folglich keinen einheitlichen allgemeinen Mindeststandard, weil es unterschiedliche Zwecke gibt, denen die Sicherheitseinschränkung dient. Wir hatten aber gesehen, daß die Einschränkung der Sicherheit bereits zu einem verfassungsimmanenten unspezifischen Zweck unerläßlich ist, nämlich zur Gewährleistung privater Freiheit. Somit ist zu fragen, wie die Mindestposition des von den Risiken privater Freiheitsausübung Betroffenen zu konkretisieren ist. Die Frage lautet also: Wo liegt die Grenze der im Interesse der Freiheit zumutbaren Einschränkung der Sicherheit? In der deutschen Rechtsstaatstradition ist der Ausgleich zwischen Schutz und Freiheit auf der Ebene des einfachen Gesetzesrechts immer durch einen Begriff vermittelt worden, der sich für diese Zuordnungsfunktion hervorra-
Α. Schutz und Freiheit
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gend bewährt hat: durch den Begriff der Gefahr. Die aus den allgemeinen Polizeigesetzen resultierende allgemeine Polizeipflichtigkeit, also die allgemeine Verhaltensnorm: „Verhalte dich so, daß du keine Gefahren verursachst!", ist vom Grundgesetzgeber vorgefunden und akzeptiert worden. 8 Die allgemeine Pflicht, die Gefährdung anderer zu unterlassen, gewährleistet hinreichenden, effektiven Schutz für die potentiell bedrohten Rechtsgüter, ohne die allgemeine Handlungsfreiheit unverhältnismäßig einzuschränken. Nach beiden Seiten, sowohl hinsichtlich der Einschränkimg der Freiheit, als auch hinsichtlich der Einschränkung der Sicherheit, kann die mit dem Gefahrenbegriff materiell bestimmte allgemeine Polizeipflichtigkeit und ihre Kehrseite, die Pflicht zur Tragung des verbleibenden Risikos, vor dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit bestehen. Daraus folgt nicht, daß der Standard der Gefahrenabwehr aus dem Grundgesetz als verfassungsrechtlich verbindlicher genereller Sicherheitsstandard abgeleitet werden kann. Aber da nach der vom Grundgesetz übernommenen Tradition gemeindeutschen Gefahrenabwehrrechts der Standard der Gefahrenabwehr als der billige Ausgleich zwischen Schutz und Freiheit angesehen werden kann und da er zugleich gegenüber von Privaten verursachten Risiken generell gilt und somit als das gesetzlich traditionell gewährleistete Sicherheitsminimum angesehen werden kann, bezeichnet er auf Seiten der Sicherheit die Zumutbarkeitsgrenze für die Belastung mit solchen Risiken, die allein die Folge privater Freiheitsbetätigung sind und deren Verursachung keiner weiteren Rechtfertigung bedarf als daß die Ausübung privater Freiheit i m sozialen Kontakt nicht risikofrei möglich und daß ein freiheitliches Gemeinwesen ohne Inkaufnahme geringfügiger Risiken nicht denkbar ist. Risiken, welche die Gefahrenschwelle überschreiten, können dagegen dem einzelnen nicht mehr im Interesse individueller Freiheitsverwirklichung Dritter zugemutet werden. Daher kommt eine Unterschreitung des mit dem Gefahrenbegriff markierten Sicherheitsstandards nur dann in Betracht, wenn sie sich dadurch rechtfertigen läßt, daß sie zur Erreichung eines besonderen Zwecks des Gemeinwohls erforderlich ist. Demnach sind besondere Gemeinwohlzwecke von dem allgemeinen Gemeinwohlzweck, Sozialität i n einem freiheitlichen Gemeinwesen überhaupt zu ermöglichen, zu unterscheiden. Risiken, die sich allein durch den allgemeinen Zweck des Zusammenlebens in einem freiheitlichen, geordneten Gemeinwesen rechtfertigen lassen, die allein aus Gründen der Sozialität des Lebens vieler Menschen auf begrenztem Raum i n einem freiheitlichen Staat dem einzelnen zugemutet werden können, sind „sozialadäquat". Einer weiteren Rechtfertigimg bedürfen sie nicht. „Sozialadäquanz" heißt hier allerdings nicht soziale Üblichkeit, sondern soziale Notwendigkeit unter 8 Zur Bedeutung von der Verfassung übernommener Gesetze für die Konkretisierung des Wesensgehalts vgl. Schnur, W D S t R L 22 (1965), 131 ff.
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§ 8 Der Umfang der verfassungsrechtlichen Pflicht zur Risikoabwehr
den konkreten Lebensbedingungen unseres freiheitlich organisierten Gemeinwesens.9 Zu diesen Notwendigkeiten gehören die erwähnten Realbedingungen individueller Freiheitsentfaltung. Bezeichnet der Gefahrenbegriff somit diejenigen Risiken, die dem einzelnen nicht mehr als „sozialadäquat" zugemutet werden können, so bezeichnet er zwar keinen absoluten Mindestsicherheitsstandard, aber er bezeichnet denjenigen Sicherheitsstandard, den zu gewährleisten das Grundgesetz die staatlichen Stellen gegenüber solchen Risiken verpflichtet, die Folge rein privatnützigen Handelns sind. In diesem Sinne w i r d man auch das Bundesverfassungsgericht verstehen können, wenn es die Orientierung der Schutzpflicht am Standard der Gefahrenabwehr in nicht ganz verbindlich klingende Formulierungen kleidet 1 0 : Die Schutzpflicht des Staates hinsichtlich der Normierung des Sicherheitsstandards geht dahin, daß grundsätzlich die Verursachung von Gefahren für grundrechtlich geschützte Rechtsgüter zu verbieten ist. Ausnahmen hiervon müssen - unter Beachtung des Art. 1912 GG - durch den Gesetzgeber festgelegt werden 11 , sind an einem Zweck des Gemeinwohls besonders zu rechtfertigen, müssen zur Erreichung dieses Zwecks erforderlich sein und dürfen die Sicherheit nicht unverhältnismäßig beeinträchtigen. Aus dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz folgt insbesondere, daß dem einzelnen die Pflicht, Gefahren für Leib und Leben zu tragen, nur dann auferlegt werden darf, wenn er selbst die Ursache für diesen Eingriff gesetzt hat - etwa als Störer, von dem eine abzuwehrende Gefahr ausgeht - , wenn anders eine wesentlich größere Gefahr für Leib und Leben anderer nicht abgewehrt werden kann oder wenn das Gemeinschaftsgut, zugunsten dessen der Eingriff erfolgt, gegenüber dem individuellen Leben oder der individuellen Gesundheit fundamental ist - also nur in „Notstandslagen", nicht dagegen beispielsweise zur Hebung des Wohlstands oder zur Sicherung von Arbeitsplätzen.
9 Im Straf- und Zivilrecht wird mit dem (von Hans Welzel, ZStrW 58 (1938), 491 ff., geprägten) Begriff der „Sozialadäquanz" allerdings allgemeine Üblichkeit und gesellschaftliche Akzeptanz bezeichnet, vgl. H. H. Jescheck, Lehrbuch des Strafrechts, Allgemeiner Teil, 3. Aufl. 1978, S. 201; E. Deutsch, in: Festschr. f. Welzel, 1974, S. 227ff.; BGHZ 24, 21 (26). Wenn dieser Begriff hier trotz der sich daraus ergebenden Mißverständnisgefahren verwendet wird, so allein deshalb, weil das BVerfG den Begriff der „Sozialadäquanz" zur Bezeichnung des atomrechtlichen „Restrisikos" bemüht hat E 49, 89 (143) - und das atomrechtliche Schrifttum diesen Sprachgebrauch weitgehend übernommen hat. Um so nachdrücklicher ist zu betonen, daß auch in der Entscheidung des BVerfG mit der „sozial-adäquaten Last" keine sozial übliche Last gemeint ist. 10 Vgl. BVerfGE 49, 89 (141); 53, 30 (51). 11 Das ist angesichts des geltenden Gesetzesrechts ohnehin eine Selbstverständlichkeit, da ein abweichender Sicherheitsstandard nur als Ausnahme zu den allgemeinen Polizeigesetzen - oder durch ihre Änderung - normiert werden könnte.
Α. Schutz und Freiheit
II. Die Erforderlichkeit
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der allgemeinen Risikotragungspflicht
Dagegen wird in der Literatur die Ansicht vertreten, daß nicht erst die Gefährdung, sondern bereits die Verursachung jedes noch so geringen Risikos für grundrechtliche Schutzgüter anhand eines Ziels des öffentlichen Wohls gerechtfertigt werden müsse und hierbei dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz unterworfen sei. 12 Diese Auffassung verkennt jedoch die notwendige Zuordnung von Schutz und Freiheit. Sie würde dazu führen, daß jede sozialrelevante Freiheitsausübung - weil sie notwendig risikobehaftet ist nur noch nach Maßgabe öffentlicher Zwecke zulässig wäre. Das wäre eine von den Autoren bestimmt nicht gewollte 13 - Umkehrung des Freiheitsprinzips. W i l l man eine solche Verkehrung des Freiheitsprinzips in ein Prinzip der Gemeinschaftsgebundenheit vermeiden, dann muß man die Erzeugung von Risiken unterhalb der Gefahrenschwelle als durch das Freiheitsprinzip prinzipiell hinreichend gerechtfertigt betrachten. Ist aber die allgemeine Belastung mit Risiken unterhalb der Gefahrenschwelle auch dann gerechtfertigt, wenn es im Einzelfall möglich ist, das Risiko zu verringern? Gebietet nicht der Grundsatz der Erforderlichkeit, das Risiko so gering wie möglich zu halten, so daß eine Belastung mit Risiken unterhalb der Gefahrenschwelle für grundrechtliche Schutzgüter verfassungswidrig wäre, soweit man bestimmte Risiken noch verringern könnte, soweit es zur Erreichung des erstrebten Zwecks genügte, dem Betroffenen die Duldung eines geringeren Risikos aufzuerlegen? Diese Frage führt auf ein falsches Gleis, wenn man die Erforderlichkeit des Risikos im Hinblick auf den konkreten Zweck des konkreten Risikos untersucht. Es wurde ja ausgeführt, daß der allgemeine Zweck der Ermöglichung der Freiheitlichkeit des Gemeinwesens sowie der individuellen Freiheit als solcher ohne die Inkaufnahme von Risiken nicht denkbar ist. I m Hinblick auf diesen allgemeinen Zweck ist die allgemeine Pflicht zum Tragen von Risiken unterhalb der Gefahrenschwelle auch dann erforderlich, wenn im konkreten Fall im Hinblick auf konkrete Zwecke die Minimierung von Risiken durchaus möglich ist. Die Freiheit des Bürgers, der die allgemeine Risikotragungspflicht dient, besteht nämlich gerade darin, daß man ihn nach den Zwecken seines Verhaltens nicht fragt. Hinsichtlich der Erforderlichkeit zur Verwirklichung eines speziellen Zwecks ist ein Risiko also erst dann rechtfertigungsbedürftig, wenn es die Größe einer „Gefahr" erreicht. 14 12 Vgl. z.B. H. Hofmann, Rechtsfragen der atomaren Entsorgung, S. 311 ff.; MayerTasch, ZRP 1979, 60f.; ders., Natur 2/1983, S. 29f., die allerdings nicht zwischen Unfallrisiken und Ingerenzfolgerisiken unterscheiden. Zur Relevanz dieser Unterscheidung s.u. § 11. 13 Vgl. Hofmann, Rechtsfragen, S. 324 f., zur Minderung der Rechte des Art. 2 I I GG unter dem Aspekt der Wirtschaftsfreiheit. 14 Zu demselben Ergebnis gelangen auch diejenigen, für die sich aus Art. 2 I GG oder aus den normalen Funktionsbedürfnissen der Verwaltung „immanente Schran-
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§ 8 Der Umfang der verfassungsrechtlichen Pflicht zur Risikoabwehr
D a m i t w i r d andererseits n i c h t bestritten, daß der Gesetzgeber den g r u n d sätzlich gebotenen Sicherheitsstandard n i c h t n u r aus besonders z u rechtfertigenden G r ü n d e n abschwächen, sondern i h n auch z u r Verbesserung des Schutzes erhöhen darf. Ist n ä m l i c h das E r l a u b t s e i n der Verursachung v o n R i s i k e n u n t e r h a l b der Gefahrenschwelle z u r V e r w i r k l i c h i m g v o n F r e i h e i t generell erforderlich, so folgt daraus n o c h n i c h t , daß die F r e i h e i t insoweit n i c h t n o c h w e i t e r eingeschränkt w e r d e n dürfte. D i e
Gefahrenschwelle
bezeichnet keineswegs i m m e r a u c h schon die unantastbare M i n d e s t p o s i t i o n des Risikoverursachers. Das Bundesverfassungsgericht h a t seine Rechtsprechung z u den „ G r u n d rechtsgefährdungen" a n h a n d v o n A r t . 2 I I G G e n t w i c k e l t . Es ist aber k e i n sachlicher G r u n d ersichtlich, die diesbezüglichen S c h u t z p f l i c h t e n auf die Schutzgüter des A r t . 2 I I G G z u beschränken. S o m i t läßt sich generell festhalten, daß g r u n d r e c h t l i c h e Schutzgüter n u r auf gesetzlicher G r u n d l a g e m i t R i s i k e n belastet w e r d e n dürfen, daß die A u f e r l e g u n g v o n Risikotragungsp f l i c h t e n z u r E r r e i c h u n g eines Ziels des Gemeinwohls e r f o r d e r l i c h sein muß, sofern das R i s i k o die Gefahrenschwelle ü b e r s t e i g t 1 5 , u n d daß dabei die Grenze dessen n i c h t ü b e r s c h r i t t e n w e r d e n darf, was d e m betroffenen einzelnen i m H i n b l i c k auf den verfolgten ö f f e n t l i c h e n Z w e c k zugemutet w e r d e n kann.
ken" für Grundrechte, insbesondere auch für Art. 2 I I GG ergeben: Richtig ist, daß im Interesse der allgemeinen Handlungsfreiheit oder der Ermöglichimg der Wahrnehmung von Verwaltungskompetenzen dem einzelnen Risiken unterhalb der Gefahrenschwelle zugemutet werden können, selbst wenn sie im Einzelfall vermeidbar wären. Diese Rechtslage mit dem Ausdruck „immanente Grundrechtsschranke" zu charakterisieren, könnte aber zu der irrtümlichen Schlußfolgerüng verleiten, daß die Belastung mit Risiken unterhalb der Gefahrenschwelle keiner gesetzlichen Grundlage bedürfte. Die „verfassungsimmanenten Schranken" sind aber exakt gesprochen verfassungsimmanente Gesetzesvorbehalte, vgl. Schwabe, Grundrechtsdogmatik, S. 33ff. m.w.N., 52. Abgesehen davon, daß sie zur Einschränkung ohne ausdrücldichen Vorbehalt gewährleisteter Freiheiten ermächtigen, liegt ihre Bedeutung darin, daß jede Freiheitseinschränkung, die im Rahmen der „immanenten Schranken" bleibt und demnach nur von der Verfassung vorausgesetzte Pflichtbindungen konkretisiert, von vornherein erforderlich und verhältnismäßig ist. Von der verfassungsimmanenten Einschränkungsermächtigung Gebrauch zu machen, ist der Gesetzgeber nur insoweit verpflichtet, als die Unterlassung die grundrechtliche Mindestposition des Dritten berühren und daher die Schutzpflicht verletzen würde. 15 Diese Pflicht zum Ausschluß von Grundrechtsgefährdungen kann sich natürlich nur auf solche Grundrechte beziehen, die ein gegenständliches oder sachlich umgrenztes Schutzgut schützen. Bei Art. 2 I GG ist das nicht der Fall; diese Bestimmung schützt die Freiheit der Willensbetätigung nur gegen gezielte Eingriffe. Nur durch diese Beschränkung erhält Art. 2 I GG seine Konturen als Recht; allenfalls wäre er ein „Recht auf alles", also kein Recht. Diese Einschränkung gilt nicht, soweit bestimmte Rechtsgüter vom Schutzbereich des Art. 2 I GG erfaßt werden, so das „allgemeine Persönlichkeitsrecht" oder der menschliche Körper, sofern sein Schutz nicht durch Art. 2 I I gewährleistet ist, s.u. § 11 Β. I. 2.
Β. Ausschluß von „Gefahren" oder von „erheblichen Gefahren"?
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B. Ausschluß von „Gefahren" oder von „erheblichen Gefahren" als verfassungsrechtlicher Sicherheitsstandard?
Zu klären bleibt noch, ob es verfassungsrechtliche Gründe dafür gibt, den auf diese Weise bestimmten Umfang der Schutzpflicht im Hinblick auf Risiken in der Weise abzuschwächen, daß von Verfassungs wegen grundsätzlich nur der Ausschluß „erheblicher" Gefahren zu fordern ist. Ob den insoweit abweichenden Formulierungen des Ersten und des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts 16 sachliche Meinungsverschiedenheiten zugrunde liegen, erscheint zweifelhaft, da der Erste Senat den Zweiten ohne Einschränkung zustimmend zitiert. So fragt sich zunächst, was der Zweite Senat mit der geforderten Erheblichkeit von Gefährdungen meint. Daß es nicht um den Ausschluß von Bagatellangelegenheiten gehen kann, ergibt sich eigentlich schon aus dem Gefahrenbegriff: Nur die potentielle Schädigung eines Rechtsguts kann eine Gefahr darstellen, und eine unerhebliche Beeinträchtigung des geschützten Guts ist kein Schaden. 17 Möglicherweise hat der Zweite Senat mit seiner Formulierung, „nicht unerhebliche" Gefährdungen könnten mit dem Grundgesetz in Widerspruch geraten, dieses Element des Gefahrenbegriffs nur noch einmal hervorgehoben. Da der Begriff der Gefahr aber ein geläufiger und prägnanter Terminus ist, w i r d man davon ausgehen müssen, daß der Senat nicht achtlos damit umgeht. So muß man annehmen, daß der Umfang der Schutzpflicht durch das Kriterium fehlender Unerheblichkeit der Gefährdimg eingeschränkt, dem Gesetzgeber also ein größerer Spielraum eingeräumt werden sollte. Angesichts der Schwierigkeit, die Pflicht des Gesetzgebers zum Schutz gegen Risiken überhaupt umfangmäßig anhand des Grundgesetzes zu bestimmen, ist eine zurückhaltende Interpretation der Schutzpflicht angebracht. Daß der Schutz der grundrechtlichen Schutzgüter immer noch „effektiv" ist, wenn sehr geringe Gefahren nicht zu unterlassen sind, w i r d man kaum bestreiten können. Die exakte Abgrenzung zwischen „Gefahr" und „Risiko unterhalb der Gefahrenschwelle" ist ohnehin nicht durch einen rein rationalen Erkenntnisakt zu treffen, sondern nur aufgrund einer Wertentscheidung. Hier gibt es eine gewisse „Bandbreite" vertretbarer Entscheidungen, und es entspricht der Funktion des Bundesverfassungsgerichts als Rechtskontrollorgan, die Entscheidung innerhalb dieser „Bandbreite" dem Gesetzgeber als dem zuständigen politischen Gestaltungsorgan zu überlassen. Insofern könnte man die Beschränkung der Schutzpflicht auf „nicht unerhebliche" Gefährdungen als Zurücknahme der verfassungsgericht16
Einerseits BVerfGE « s.o. § 4 Fn. 14. 10 Murswiek
53, 30 (51), andererseits BVerfGE
49, 89 (141).
146
§ 8 Der Umfang der verfassungsrechtlichen Pflicht zur Risikoabwehr
liehen Kontrolldichte hinter die materielle Pflicht, als Zurücknahme der „Kontrollnorm" („nicht unerhebliche Gefährdungen") hinter die „Funktionsnorm" („Gefährdungen"/,,Gefahren") verstehen 18 und auf diese Weise die Formulierungen des Ersten und des Zweiten Senats unter einen Hut bringen. Daß eine Gefährdung „unerheblich" ist, ist aus polizeirechtlicher Sicht unmöglich. „Unerheblich" kann deshalb hier nur bedeuten: Die Gefahr ist so klein, daß sie noch in den Randbereich des Übergangs zum Risiko unterhalb der Gefahrenschwelle gehört und deshalb unter dem Aspekt der Schutzpflicht für das Verfassungsgericht unbeachtlich ist. Das Kriterium der Erheblichkeit leistet hier dasselbe, was in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts in vergleichbaren Fällen problematischer Abgrenzungen das Kriterium der Evidenz leisten muß: Nur wenn „eindeutig" eine Gefahr vorliegt, soll eine Verletzung der Schutzpflicht feststellbar sein. 19 C. Grundrechtsgewährleistung nach Maßgabe technologischer „Situationsprägung"?
Unter Berufung auf das Bundesverfassungsgericht behauptet Degenhart 2 0 , die Grundrechte aus Art. 2 I I GG stünden unter dem „Vorbehalt sozialadäquater zivilisatorischer Risiken". Die Intensität und die Ausgestaltung der grundrechtlichen Schutzanforderungen hänge auch von der Existenz technisch-zivilisatorischer Risiken ab. Somit könne man von einer durch die technisch-zivilisatorische Entwicklung bestimmten „Situationsbedingtheit" der konkreten Ausgestaltung der grundrechtlichen Schutzanforderungen" sprechen. Der „Gewährleistungsgehalt" oder der „Schutzgehalt" des Art. 2 I I GG sei durch die technisch-zivilisatorische Situation bedingt. 21 Gilt also das Recht auf Leben nur in dem Umfang, in dem die „jeweilige technisch-zivilisatorische Situation" dies zuläßt? Ist also nicht die technische Entwicklung, etwa die Einführung einer neuen Kraftwerkstechnologie, am Maßstab der Grundrechte zu messen, sondern hängt umgekehrt die Geltung der Grundrechte davon ab, ob sie mit der durch die Technik bestimmten, den Grundrechten „vorgelagerten Risikosituation" vereinbar ist? Zunächst: Art. 2 I I GG steht nicht unter dem Vorbehalt technischer Risiken, sondern unter dem Vorbehalt des Gesetzes. Dies kann unter Umständen 18 Vgl. zu dieser Technik eines funktionell begründeten judicial restraint Murswiek, DÖV 1982, 534f. 19 Vgl. z.B. BVerfGE 4, 115 (140); 4, 157 (174); 5, 85 (128); 36, 1 (17). 20 Kernenergierecht, S. 148 m. Hinw. auf BVerfGE 49,143. - Vgl. auch Degenharts Darstellung seiner Konzeption i n ET 1981, 204ff. 21 S. 148.
C. Grundrechte und technologische „Situationsprägung"
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im Ergebnis auf dasselbe hinauslaufen. Zumindest verfahrensrechtlich liegt darin ein wesentlicher Unterschied. 22 Der Gesetzgeber darf den Grundrechtsträger im Rahmen der verfassungsrechtlichen Einschränkungsvoraussetzungen mit der Pflicht belasten, „sozialadäquate Risiken" auf sich zu nehmen. Mehr als diese Selbstverständlichkeit läßt sich aber dem von Degenhart zitierten Kalkar-Beschluß des Bundesverfassungsgerichts nicht entnehmen. Materiell entscheidend ist demnach die Frage: Wie weit darf der Gesetzgeber die Grundrechte einschränken? Daß die Grenze verfassungsrechtlich zulässiger Grundrechtseinschränkung nicht starr ist, sondern - über den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz - von dem mit der Einschränkung verfolgten Zweck abhängt, ist ja nichts Neues. Welches Risiko konkret geduldet werden muß, kann davon abhängen, ob der mit der Risikotragungspflicht verfolgte Zweck auch durch Auferlegung eines geringeren Risikos erreichbar ist. Das Übermaßverbot führt i n der Tat dazu, daß der konkrete grundrechtliche Abwehranspruch gegen technische Gefahren an den Stand der Technik gekoppelt ist. So wie demnach die Intensität der hinzunehmenden Einschränkung situationsbezogen zu bestimmen ist, so auch die zur Abwehr von Eingriffen erforderlichen Maßnahmen: Wird ein Kohlekraftwerk errichtet, kann niemand - gestützt auf seine Grundrechte - Vorkehrungen gegen einen Kernschmelzunfall verlangen, bei einem Kernkraftwerk keine Rauchgasentschwefelung. Doch eine derartige „Situationsbedingtheit grundrechtlicher Schutzanforderungen" ist so evident, daß schon der Aufwand an Worten, sie ausdrücklich festzustellen, übertrieben erscheint. Auf „technisch-zivilisatorische Risiken" läßt sie sich unter keinem erdenklichen Gesichtspunkt beschränken. Offenbar meint Degenhart auch etwas anderes, wenn er von der Situationsbedingtheit des „Gewährleistungsgehalts" von Art. 2 I I GG spricht. Daß „grundrechtliche Individualansprüche ihre Schutzwirkung auf der Grundlage der vorgegebenen Grundrechtssituation entfalten" 23 , ließe sich noch als aufwendige Formulierung der eben beschriebenen Realität verstehen. Degenhart schreibt aber auch, subjektive Schutzansprüche könnten „erst auf der Grundlage einer vorgegebenen, durch die technisch-zivilisatorische Entwicklung mit ihren immanenten Risiken bestimmten Grundrechtssituation erwachsen". 24 Und er folgert, die Gestaltung dieser Situation allein beeinträchtige Individualgrundrechte nicht. 2 5 Wann ein Eingriff in die Rechte aus Art. 2 I I GG vorliege, sei in dieser Norm nicht festgelegt, sondern ergebe sich aus der „jeweiligen technisch-zivilisatorischen Grund22 23 24 25
10'
Vgl. dazu Hofmann, BayVBl. 1983, 35ff. und oben Fn. 12. S. 155. S. 178. S. 154, 155.
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§ 8 Der Umfang der verfassungsrechtlichen Pflicht zur Risikoabwehr
rechtssituation". 26 Was Degenhart mit der „Eingriffsschwelle" meint 2 7 , ist anscheinend die Schwelle desjenigen Risikos, das der einzelne nicht mehr hinzunehmen braucht, und an einer Stelle wird diese Schwelle auch als „Gefahrenschwelle" bezeichnet. 28 Aber wieso und in welcher Weise diese Schwelle des nicht mehr akzeptablen Risikos von der technisch-zivilisatorischen Situation abhängen soll, bleibt unklar. Einerseits spricht Degenhart von der „verbindlichen Gestaltung" der Risikosituation seitens des Staates durch grundsätzliche Entscheidungen, etwa für die Nutzung der Kernenergie, mit der Folge, daß bestimmte technische Risiken nicht als „Grundrechtseingriff", sondern „als immanente, sozialadäquate Begrenzimg grundrechtlicher Positionen" erscheinen. 29 Wenn der Gesetzgeber auf diese Weise die Schwelle der Sozialadäquanz bestimmt, an der ein Risiko zum „Eingriff" wird, dann läuft das auf dasselbe hinaus, als ob der Gesetzgeber zulässigerweise das Grundrecht einschränkte. „Sozialadäquat" wären dann diejenigen Risiken, die aufgrund des Gesetzes hinzunehmen sind. Andererseits soll aber die „Sozialadäquanz" das „maßgebliche Kriterium" sein, anhand dessen die (gesetzliche) Gestaltung der „Risikosituation" oder der „Grundrechtssituation" rechtlich zu kontrollieren sei. 30 Könnte der Gesetzgeber über dieses Kriterium verfügen, unterläge er - nach der Konzeption Degenharts - aber keiner verfassungsrechtlichen Kontrolle mehr: Er bestimmte die Grenzen seiner Einschränkungsbefugnisse selbst. 31 Als einzige Grenze der Befugnis zur „Prägung der Situation", durch welche subjektive Schutzansprüche angeblich bedingt sind, bleibt bei Degenhart der „Rahmen allgemein hinzunehmender technisch-zivilisatorischer Risiken" übrig. Risiken, die in diesem Rahmen blieben, bewirkten keinen „Grundrechtseingriff". 32 Aber welche Risiken sind „allgemein" hinzunehmen? Wäre mit „Allgemeinheit" hier „Verallgemeinerungsfähigkeit" gemeint, in Anlehnung an den kategorischen Imperativ Kants, dann liefe die Argumentation auf die oben (A.) erörterte notwendige Beschränkung der Sicherheit zugunsten der Freiheit hinaus. Doch muß man Degenhart wohl so verstehen, daß seiner Ansicht nach jedes technische Risiko unterhalb der „Eingriffsschwelle" bleibt, das „ i m Rahmen sonstiger technisch-zivilisatorischer Risiken gehalten w i r d " . 3 3 Würde man damit ernst machen, dann stellte man die technische Entwicklung über die Verfassung. Je größer die technischen Risi26
S. 155. S. 153, 158. 28 S. 158. 29 S. 154f.; ET 1981, 204. 30 ET 1981, 204; vgl. Kernenergierecht, S. 154f. 31 Degenhart nennt dies zurückhaltend die „Wechselbezüglichkeit grundrechtlicher Aussagen und staatsseitiger technisch-zivilisatorischer Situationsprägung", S. 155. 32 S. 158, vgl. auch S. 179. 33 S. 179. 27
C. Grundrechte und technologische „Situationsprägung"
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ken im allgemeinen würden, desto geringer der subjektive Anspruch auf Schutz des Lebens im konkreten Fall. Nur wenn glücklicherweise der technische Fortschritt zu einer Minderung des allgemeinen Risikos führte, würde der rechtliche Schutzanspruch größer. 34 Zur Begründung dieser Verdrängung der normativen Kraft der Verfassimg durch die behauptete normative Kraft der technisch-zivilisatorischen Entwicklung bezieht sich Degenhart wiederum auf den Kalkar-Beschluß des Bundesverfassungsgerichts. 35 Der „dynamische Rechtsgüterschutz" des Atomgesetzes hätte seiner Meinung nach anderenfalls für verfassungswidrig befunden werden müssen. Abgesehen davon, daß die Forderung nach Minimierung von Gefahren entsprechend dem jeweiligen Stand der Sicherheitstechnik im Übermaßverbot eine einfache verfassungsrechtliche Rechtfertigung findet 3 6 , verkehrt Degenhart damit die Intention des Bundesverfassungsgerichts in ihr Gegenteil: statt einer Verbesserung des Schutzes mit der Verbesserung der Sicherheitstechnik eine Einschränkung der Schutzansprüche mit dem Wachsen der Gefährdungspotentiale. 37 Für die Emanzipation der Technik aus den Bindungen des Verfassungsrechts mag es in der Wirtschaft praktische Bedürfnisse geben; rechtliche Gründe dafür gibt es nicht. § 9 Der relationale Gefahrenbegriff als Maßstab der Schutzpflicht Der Staat verletzt seine Schutzpflicht, wenn er es unterläßt, die Verursachung von „erheblichen Gefahren" zu verbieten (sofern nicht aus Gründen des Gemeinwohls die Auferlegung besonderer Risikotragungspflichten erforderlich ist), oder wenn er dieses Verbot nicht gemäß den für die sekundären Schutzpflichten entwickelten Grundsätzen effektiv durchsetzt. Wann aber liegt eine „Gefahr" vor? Gefahren sind Risiken ab einer bestimmten Größe, nämlich Risiken, die so groß sind, daß sie durch die notwendigen Bedingungen von Handlungsfreiheit (oder z.B. Berufsfreiheit) als solcher nicht mehr als „sozialadäquat" gerechtfertigt werden können. Die Größe eines Risikos - so wurde bereits gezeigt 1 - wird durch zwei Komponenten bestimmt, das potentielle Schadensausmaß und die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts. Wann die Eintrittswahrscheinlichkeit so groß ist, daß das Risiko die Gefahrenschwelle erreicht, hängt demnach vom potentiellen Schadensausmaß ab: Je größer das Schadenspotential, desto geringer die erforderliche Eintrittswahr34 Generell gegen die Legitimierung neuer Risiken mit schon vorhandenen Ossenbühl, in: Blümel / Wagner (Hrsg.), Technische Risiken und Recht, S. 47. 35 S. 155, Fn. 40; BVerfGE 49, 89 (137, 140). 36 Zum „dynamischen Grundrechtsschutz" im einzelnen unten § 10. 37 Vgl. Hofmann, BayVBl. 1983, 35; Baumann, JZ 1982, 753f. 1 s.o. §4.
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§ 9 Der relationale Gefahrenbegriff als Maßstab der Schutzpflicht
scheinlichkeit. 2 Geht man davon aus, daß mit dem Begriff der „Gefahr" auch die Grenze der Zumutbarkeit von rein privatnützig erzeugten Risiken bezeichnet w i r d und daß das Verhältnismäßigkeitsprinzip den Gesetzgeber bei der Abgrenzimg von Sicherheit und Freiheit an diese Zumutbarkeitsgrenze bindet 3 , dann bindet das Verhältnismäßigkeitsprinzip den Gesetzgeber - und den Gesetzesanwender - auch an die genannte Korrelation zwischen Schadenspotential und Wahrscheinlichkeitsgrad 4 : Welche Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts dem Betroffenen zugemutet werden kann, läßt sich nicht starr festlegen, sondern hängt von der Intensität der möglichen Beeinträchtigung ab. Wann ein Risiko so groß ist, daß es die mit dem Gefahrenbegriff benannte Zumutbarkeitsgrenze erreicht, ist also in Abhängigkeit vom möglichen Schadensumfang zu bestimmen. Dabei kann man als Bezugsgröße einen mittleren Schaden, etwa einen nicht gerade geringen Sachschaden, wählen und diesem eine mittlere Wahrscheinlichkeit als „hinreichende Wahrscheinlichkeit" im Sinne des Gefahrenbegriffs zuordnen. Von einem solchen „Alltagsschaden" als Normalfall, als polizeirechtlichem „Standardschaden" ausgehend, könnte man den Wahrscheinlichkeitsgrad mit steigendem Schadenspotential verringern. Das ist freilich nur ein grober Anhaltspunkt für die Konkretisierung des Gefahrenbegriffs. Im einzelnen treten schwierige Quantifizierungsprobleme auf, deren Lösung auf der Verfassungsebene anders aussehen könnte als auf der Ebene des einfachen Gefahrenabwehrrechts, weil die Gefahrenabwehrbehörde engeren rechtlichen Bindungen unterliegt als der Gesetzgeber. Insbesondere ist zu klären, nach welchen Kriterien Schäden an ungleichartigen Rechtsgütern quantifiziert werden können (B.). Zunächst aber ist zu prüfen, welches Schadenspotential für die Bestimmung des gebotenen Sicherheitsniveaus in die Relation einzustellen ist: der einem betroffenen Individuum drohende Schaden oder die Summe der allen betroffenen Individuen (und der Gemeinschaft) von einer bestimmten Gefahrenquelle her drohenden Schäden, also der kollektive Gesamtschaden? Der Gesichtspunkt der individuellen Zumutbarkeit vermag ja die Pflicht zur Korrelierung von Schadensumfang und Wahrscheinlichkeitsgrad nur im Hinblick auf die Wahrscheinlichkeit des Eintritts eines Schadens für ein konkretes Individuum, nicht dagegen etwa für die Gesamtheit zu begründen.
2
s.o. § 4 B. m. Nachw. s.o. § 8 A. 4 Im Ergebnis ebenso diejenigen, für die sich nicht der Mindestsicherheitsstandard, sondern ein ganz bestimmter Sicherheitsstandard aus dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ergibt, vgl. VGH Mannheim, DVB1. 1975, 538 (543); ESVGH 32, 161 (191); Rehbinder, BB 1976, 2; Albers, DVB1. 1976, 23. 3
A. Individualrisiko oder Kollektivrisiko?
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Α. Die Bezugsgröße für die Konkretisierung der Schutzpflicht: Individualrisiko oder Kollektivrisiko?
Die von Verfassungs wegen an den Schutz grundrechtlicher Schutzgüter zu stellenden Anforderungen hängen, wie gezeigt, von der Intensität der Grundrechtsgefährdung, vom Ausmaß des potentiellen Schadens ab. Werden von einer Gefahrenquelle Rechtsgüter einer Mehrzahl von Individuen bedroht, so fragt sich, welches Schadenspotential für die Bestimmimg des zu fordernden Sicherheitsniveaus maßgebend sein soll: der potentielle Schaden jedes einzelnen oder der potentielle Gesamtschaden. Es liegt auf der Hand, daß im zweiten Falle zum Beispiel bei der Beurteilung der Risiken technischer Anlagen, deren Einwirkungsbereich eine mehr oder weniger weit ausgedehnte Nachbarschaft erfaßt, das zu fordernde Sicherheitsniveau um ein Vielfaches höher liegen kann als bei Anwendung der ersten Alternative. Korreliert man die auszuschließende Eintrittswahrscheinlichkeit des Schadens mit der Größe des potentiellen Gesamtschadens, dann steigt die dem einzelnen zu gewährleistende Sicherheit mit der Anzahl der mitbetroffenen Subjekte an. Welchen Grad an Sicherheit z.B. ein Atomkraftwerk gegen die Folgen eines Berstunfalls zu bieten hätte, hinge unter anderem davon ab, wie viele Menschen in der Umgebung der Anlage lebten. 5 Trifft es nun zu, daß von Verfassungs wegen einer großen Anzahl von Menschen - und somit dem einzelnen als Teil dieser Menge - größerer Schutz zu gewähren ist als einem allein betroffenen Individuum? Oder muß bei der Konkretisierung der verfassungsrechtlichen Schutzpflicht auf jedes betroffene Individuum für sich abgestellt werden? I. Individualrechtlicher Bezug der Schutzpflicht und kollektives Risiko Stützt man die staatliche Schutzpflicht auf die Grundrechte, so kommen als Schutzgüter, deren Verletzung als potentieller Schaden in die Korrelation von Schadenspotential und Wahrscheinlichkeitsgrad einzustellen sind, nur die grundrechtlich geschützten Individualrechtsgüter in Betracht, nicht kollektive Gemeinschaftsgüter. Aber zumindest gleichartige Individualrechtsgüter lassen sich quantifizieren. Wenn ein Unfall in einer technischen Anlage hundert Tote zur Folge haben kann, ist das Schadenspotential zweifellos größer, als wenn zehn Tote die größtmögliche Unfallfolge sind. Fraglich ist nur, ob es für die Bestimmung des verfassungsrechtlich geforderten 5 Es liegt auf der Hand, daß die Bevölkerungsdichte sich auch auf das Individualrisiko auswirkt. Z.B. können bei hoher Bevölkerungsdichte die Möglichkeiten schneller Evakuierung erschwert sein, vgl. z.B. OVG Münster ET 1975, 220 (229); Albers, DVB1. 1978, 23. Solche Umstände, die das Risiko des einzelnen erhöhen, sind auf jeden Fall zu berücksichtigen. Darauf ist hier nicht näher einzugehen.
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§ 9 Der relationale Gefahrenbegriff als Maßstab der Schutzpflicht
Mindestsicherheitsstandards hierauf ankommen kann, da Art. 2 I I GG das Leben als individuelles Rechtsgut schützt. 1. Zum Meinungsstand Das Bundesverfassungsgericht bestimmt den Umfang der Schutzpflicht anscheinend - ohne ausdrücklich zu dieser Frage Stellung zu nehmen unter Berücksichtigung des Kollektivrisikos. Anders wäre es kaum verständlich, daß das Gericht in diesem Zusammenhang die „Art und Schwere" möglicher Gefahren oder das „außerordentliche Gefährdungspotential" der friedlichen Nutzung der Kernenergie betont 6 und eine Verletzung der Schutzpflicht durch das Atomgesetz offenbar nur deshalb verneint, weil ein völliger Risikoausschluß wegen der Grenzen des menschlichen Erkenntnisvermögens nicht möglich sei.7 Bezogen auf das Leben des einzelnen Menschen ist der Schaden, den ein Kernkraftwerk hervorrufen kann, ja nicht größer als beispielsweise der aus dem Betrieb eines Autos potentiell resultierende Schaden. I n der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung und in der Literatur w i r d das Problem hauptsächlich im Rahmen der Konkretisierung des atomrechtlichen Sicherheitsstandards erörtert. Dabei herrscht zwar die Ansicht vor, daß es objektiv auf das Bevölkerungsrisiko ankomme 8 , aber zur Frage, ob diese Auslegung des Atomgesetzes auch von Verfassungs wegen geboten sei, w i r d nur vereinzelt Stellung genommen. Hierauf kommt es im Verwaltungsprozeß regelmäßig nicht an, weil der eine atomrechtliche Genehmigung anfechtende Kläger nach der neueren Rechtsprechung nur sein individuelles Risiko geltend machen kann. 9 Wo das Bevölkerungsrisiko ohne Begründung und ohne ausdrückliche Hervorhebung berücksichtigt wird, ergibt sich aus dem Zusammenhang, 6
BVerfGE 49, 89 (142, 146); 53, 30 (58). Vgl. BVerfGE 49, 89 (142 f.). Daß die tödliche Verletzung eines einzelnen Menschen „praktisch ausgeschlossen" sein müsse, w i r d im allgemeinen Gefahrenabwehrrecht im Unterschied zum Atomrecht nicht verlangt. 8 Vgl. z.B. OVG Münster, ET 1975, 220 (227); VGH Mannheim, DVB1. 1976, 538 (544); ESVGH 32, 161 (191, 198, 200); OVG Lüneburg, DVB1. 1979, 686 (689); VGH München, DVB1. 1979, 673 (675); VG Freiburg, NJW 1977,1645 (1648); Breuer, DVB1. 1978, 834f.; Bender, NJW 1979, 1432; Roßnagel, Grundrechte und Kernkraftwerke, S. 92 ff. - Dagegen Lukes / Richter, NJW 1981, 1401 ff. 9 Vgl. BVerwG NJW 1981, 1393 (1394ff.); DVB1. 1982, 960 (963); VGH Mannheim, ET 1973, 248; ESVGH 32, 161 (198, 200); VGH München, DVB1. 1979, 673 (676); OVG Münster, ET 1975, 220 (227, 229); VG Karlsruhe, DVB1.1978, 856 (858); VG Schleswig, NJW 1980,1296 (1299); ebenso Degenhart, Kernenergierecht, S. 178ff., 223; ders., ET 1981, 208; Albers, DVB1. 1978, 23; Rauschning, W D S t R L 38 (1980), 191f. - Dagegen z.B. OVG Lüneburg, DVB1. 1979, 686 (689); U. 20.1.82, UA S. 26; VGH Mannheim, ET 1975, 541 (549); VG Freiburg, ET 1977, 626 (628); Bender, NJW 1979,1432; Winter, NJW 1979, 399f.; Roßnagel, Grundrechte und Kernkraftwerke, S. 96f.; Hofmann, Rechtsfragen, S. 320; Baumann, BayVBl. 1982, 257ff., insb. 250f., 296f. m.w.N. 7
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daß das Gericht oder der Autor den Gefahrenbegriff in der Weise versteht, daß im Rahmen der „Je-desto-Formel" der gesamte potentielle Schaden zu berücksichtigen ist, nicht nur der jeweilige Schaden der einzelnen potentiell betroffenen Individuen. Sofern eine verfassungsrechtliche Pflicht zur Korrelierung von zulässiger Eintrittswahrscheinlichkeit und potentiellem Gesamtschaden begründet wird, geschieht das mit Hinweis auf den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, auf den ja auch die „Je-desto-Formel" als solche gestützt wird. 1 0 2. Steigerung der Pflicht zum Schutz des im Kollektiv betroffenen einzelnen? Wenn sich der Umfang der Schutzpflicht aus den Grundrechten ergibt, dann kann es für die Konkretisierung dieser Pflicht nur auf die individuelle Rechtsposition des jeweiligen Grundrechtsträgers ankommen, dem gegenüber die Pflicht besteht. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, so hatten w i r gesehen11, hat hier die Funktion, die Grenze der zumutbaren Grundrechtseinschränkung zu markieren, die in der gesetzlichen Auferlegung von Risikotragungspflichten besteht. Vor Risiken, die diese Grenze überschreiten, hat der Staat den einzelnen durch Normierung entsprechender Störungsverbote und ihre effektive Durchsetzung zu schützen. Hängt nun die zumutbare Eintrittswahrscheinlichkeit eines Schadens, also die Intensität des gebotenen Schutzes, vom Umfang des Schadens ab, dann kann es nur auf den Schaden ankommen, der dem betroffenen Grundrechtsträger droht. Geht es um den Schutz des Lebens, so ist der Verlust des eigenen Lebens die größtmögliche Grundrechtsbeeinträchtigung, die der einzelne erleiden kann. Der individuelle Schaden w i r d nicht dadurch größer, daß bei einem Unfall auch noch andere ums Leben kommen. 12 Das dem einzelnen auferlegte Risiko erhöht sich nicht dadurch, daß auch andere davon bedroht sind. Also kann die Betroffenheit vieler dem einzelnen das Tragen des Risikos nicht unzumutbar machen. Vom individualrechtlichen Ansatz ausgehend ist der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz daher nicht geeignet, eine Pflicht zur Steigerung der Schutzintensität proportional zur Zahl der von einem Risiko potentiell Betroffenen zu begründen. 13
10 Vgl. VGH Mannheim, DVB1. 1976, 538 (543); ESVGH 32, 161 (191); Rehbinder, BB 1976, 2. Hofmann, Rechtsfragen der atomaren Entsorgung, S. 321, vertritt die Ansicht, es sei eine „unausweichliche Konsequenz" der Risikoformel, daß auf das Kollektivrisiko abgestellt werden müsse. Es ist aber gerade die Frage, was als „Schaden" i.S. der „Je-desto-Formel" anzusehen ist, der individuelle oder der kollektive Schaden. 11 s.o. A I . 12 Vgl. Rauschning, W D S t R L 38 (1980), 191. 13 Vgl. VGH München, DVB1. 1979, 673 (676). Anders Roßnagel, Grundrechte und Kernkraftwerke, S. 96 f.
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3. „Objektive Funktion" der Grundrechte und Kollektivrisiko a) „Objektive Funktion" und Vielzahl von einem potentiellen Schadensereignis Betroffener Da Rechtsprechung und herrschende Lehre die staatliche Schutzpflicht aus der „objektiven Funktion" der Grundrechte ableiten, liegt die Frage nahe, ob sich nicht aus den Grundrechten als „objektivrechtlichen Wertentscheidungen" die Pflicht ergibt, die Intensität des Schutzes mit der Anzahl der von einem Risiko Betroffenen zu steigern. Hofmann hat diese Frage bejaht. 14 Überzeugen könnte dieses Ja aber nur dann, wenn die „objektivrechtliche Funktion" der Grundrechte so zu verstehen wäre, daß das Leben nicht nur als Individualrechtsgut geschützt wird, sondern als überindividueller Wert. Durch die Tötung vieler Menschen bei einem Unfall wäre dann fraglos das Schutzgut des Art. 2 I I GG in seiner objektivrechtlich verstandenen Funktion quantitativ stärker beeinträchtigt als wenn wenige Menschen ums Leben kämen. I n diesem Zusammenhang ist es nicht nötig, auf die Frage der rechtlichen oder gar moralischen Relevanz der Quantifizierimg von „Leben" einzugehen. Stützt man die Schutzpflicht auf Art. 2 I I GG, dann stützt man sie auf ein Recht, welches das Leben als Individualrechtsgut schützt. Auch wenn man Art. 2 I I GG nicht nur als subjektives Recht, sondern auch als „objektivrechtliche Wertentscheidung" versteht, bleibt es doch dabei, daß diese Wertentscheidung sich auf das Leben des einzelnen bezieht. Art. 2 I I GG schützt das Leben als individuelles Rechtsgut, nicht als kollektives Gesamtleben. Überindividuelle Quantifizierungen sind hier rechtlich irrelevant. Daran ändert sich nichts, wenn die „objektive" Pflicht des Staates, das Leben zu schützen, vom Bestehen eines subjektiven Schutzanspruchs unabhängig ist. Das zu schützende Recht bleibt das Leben des einzelnen. Art. 2 I I GG macht zwischen einem und mehreren Leben keinen Wertunterschied. Somit läßt sich aus dieser Bestimmung nicht die Verpflichtimg ableiten, eine Vielzahl von Menschen besser zu schützen als einen einzelnen. 15 14
BayVBl. 1983, 36. Anders Degenhart, Kernenergierecht, S. 179, der die Berücksichtigung des Bevölkerungsrisikos für ein „grundrechtlich fundiertes Erfordernis" hält, auch wenn das Risiko nach Meinung des Autors unterhalb der „Eingriffsschwelle" (S. 153) hegt.. Dieses Erfordernis stützt er auf „das Gebot der Orientierung an objektiven grundrechtlichen Schutzgehalten" (S. 157), an der „ i n Art. 2 Π GG getroffenen Wertentscheidung" (S. 156). Wieso aber diese angeblichen „objektiv-grundrechtlichen Erfordernisse" (S. 157) dem Gesetzgeber weitergehende Schranken auferlegen als die Grundrechte als Individualrechte, bleibt im Dunkel der alles durchflutenden „Grundrechtsrelevanz" (S. 144,145,146,148,150,153,156 u. pass.), die auch dort vorhanden ist, wo - angeblich - die Belastung mit dem Risiko keinen Eingriff (S. 154, 156) bzw. keine Grundrechtsverletzung (S. 153 Fn. 35) darstellt. 15
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Mit dieser Feststellung wird nicht in Abrede gestellt, daß der Gesetzgeber die Schutzintensität entsprechend der Anzahl der Betroffenen steigern darf. Auch ist noch nicht ausgeschlossen, daß die Sicherheitsstandards des einfachen Gesetzesrechts aus Gründen des einfachen Rechts unter Berücksichtigung des Kollektivrisikos zu konkretisieren sind oder daß sich die Pflicht hierzu aus anderen Gesichtspunkten der Verfassung ergibt, insbesondere aus der Pflicht zum Schutz von Gemeinschaftsgütern. 16 b) „Objektive Funktion" und Wahrscheinlichkeit der Schädigung einzelner aa) Individualrechtsschutz und Individualisierbarkeit Bis jetzt wurde der Umfang der staatlichen Schutzpflicht anhand der Grundrechte als individueller Abwehrrechte bestimmt. Die Bezugnahme auf eine „objektivrechtliche" Funktion der Grundrechte erwies sich als überflüssig, und die Bestimmung der staatlichen Pflichten konnte von den rechtlichen Ungewißheiten, die mit der Prägung der „objektiven Wertentscheidungen" verbunden sind, freigehalten werden. Daß die Grundrechte Normen des objektiven Verfassungsrechts sind, und zwar auch insofern, als sie subjektive Ansprüche verbürgen, wurde damit nicht in Frage gestellt. Daß den subjektiven Unterlassungsansprüchen des einzelnen Unterlassungspflichten des Staates entsprechen, wurde betont, und am abwehrrechtlichen Charakter der Grundrechte ändert sich nichts, wenn man diese Unterlassungspflichten als „objektive" Pflichten im Gegensatz zum „subjektiven" Anspruch des einzelnen bezeichnet. Insofern ist die „objektive" Funktion der Grundrechte nichts als das notwendige Gegenstück der „subjektiven" Funktion - eine Selbstverständlichkeit. Wo es um gezielte Eingriffe in Rechtsgüter einer konkreten Person geht, sind subjektives Abwehrrecht des Betroffenen und „objektive" Unterlassungspflicht des Staates die beiden Seiten desselben konkreten Rechtsverhältnisses; sie sind notwendig miteinander verbunden. Wenn hinsichtlich einer konkreten Maßnahme ein subjektiver Unterlassungsanspruch besteht, besteht auch eine Unterlassungspflicht und umgekehrt. Nun schützen aber, wie wir gesehen haben 17 , die Grundrechte auch vor nichtfinalen Eingriffen. Nichtfinale Eingriffe als ungewollte Folgen beispielsweise auf andere Zwecke gerichteter Maßnahmen lassen sich in ihrem Kausalverlauf meist nicht genau voraussehen. Deshalb kann es hier vorkommen, daß in dem Zeitpunkt, in dem eine Maßnahme getroffen wird, niemand subjektiv betroffen ist, obwohl später irgendjemand subjektiv betroffen sein wird. Es 16 17
s.u. § 16 B. s.o. § 7.
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steht d a n n z w a r fest, daß es z u r V e r l e t z u n g eines g r u n d r e c h t l i c h e n Schutzgutes k o m m t , aber ungewiß ist, wen diese V e r l e t z u n g treffen w i r d . Mangels Individualisierbarkeit
des Betroffenen g i b t es n o c h keinen s u b j e k t i v e n
A b w e h r a n s p r u c h . 1 8 Dieser entsteht frühestens dann, w e n n j e m a n d d u r c h die A u s w i r k u n g e n der Maßnahme betroffen ist. Beispiel: Nehmen wir an, der Bundesgrenzschutz errichte zur Sicherung eines Grenzabschnitts gegen illegale Grenzüberschreitungen eine Selbstschußanlage. Durch einen Kontaktdraht werde bei Überschreiten der Grenze ein Schußapparat ausgelöst, der schwere Körperverletzungen oder sogar den Tod herbeiführen kann. Das Gebiet vor der Grenze sei durch Sperreinrichtungen und Warnschilder so gesichert, daß niemand zufällig den mit der Schußanlage gesicherten Abschnitt erreichen kann. - Wären die aus den Grundrechten sich ergebenden staatlichen Unterlassungspflichten in ihrem Bestand davon abhängig, daß jemand einen subjektiven Abwehranspruch hat, dann könnte man hier argumentieren, unter grundrechtlichen Aspekten bestünden keine Bedenken, da hier niemand betroffen sei. Wer nicht die Sperranlagen überwinde und sich der Grenze nähere oder wer nicht zumindest den Entschluß hierzu gefaßt habe, für den gebe es nicht das geringste Risiko. Argumentiert man dagegen nicht aus der Perspektive des einzelnen und seines Anspruchs, sondern aus der Perspektive des Staates und seiner Verpflichtung, dann müßte man sagen, die Wahrscheinlichkeit, daß i m Laufe der Zeit irgendjemand durch die Schußanlage verletzt wird, ist trotz der Absperrung des Vorgeländes groß. Also verstieße die Anlage schon mangels gesetzlicher Grundlage gegen Art. 2 I I 1 GG, abgesehen davon, daß ein zur Installierung der Anlage ermächtigendes Gesetz wegen Verstoßes gegen Art. 11 GG und auch gegen das Verhältnismäßigkeitsprinzip verfassungswidrig wäre. Wenn, w i e i n diesem Beispiel, die o b j e k t i v e G e f ä h r d u n g g r u n d r e c h t l i c h e r Schutzgüter u n d die s u b j e k t i v e Betroffenheit b e s t i m m t e r I n d i v i d u e n auseinanderfallen, trennen sich auch der s u b j e k t i v e A b w e h r a n s p r u c h des einzelnen u n d die Unterlassungspflicht des Staates. D i e P f l i c h t , die G r u n d rechte z u achten, e n t f ä l l t n i c h t deshalb, w e i l mangels Betroffenheit n o c h n i e m a n d einen A b w e h r a n s p r u c h hat. Daß n o c h n i c h t feststeht, welche k o n krete Person Opfer der staatlichen Maßnahme w i r d , d a r a u f k o m m t es n i c h t an. Insofern ist d e m Bundesverfassungsgericht zuzustimmen, w e n n es i n ständiger Rechtsprechung betont, daß die G r u n d r e c h t e z w a r „ i n erster L i n i e " subjektive A b w e h r r e c h t e seien, daß sie aber m e h r seien als dies, n ä m l i c h „ o b j e k t i v r e c h t l i c h e W e r t e n t s c h e i d u n g e n " . 1 9 F r e i l i c h ließe sich auch ohne V e r w e n d u n g dieses problematischen T o p o s 2 0 ausdrücken, daß die 18 Damit ist nicht· der Fall gemeint, daß das handelnde Staatsorgan den durch eine Maßnahme Betroffenen noch nicht kennt, z.B. bei Maßnahmen der Polizei gegen eine Menschenmenge oder wenn bei polizeilichem Einschreiten gegen einen Störer zufällig vorbeikommende Passanten gefährdet werden: Hier steht bereits fest, wer betroffen ist und einen subjektiven Abwehranspruch hat, auch wenn das handelnde Staatsorgan dies noch nicht weiß, so daß hier die Kongruenz von subjektivem Anspruch oder objektiver Pflicht von vorneherein besteht. 19 Vgl. BVerfGE 7, 198 (205); 35, 79 (114) m.w.N.; 39, 1 (41f.); 49, 89 (141f.). 20 Zur K r i t i k s.u. Β. I. 1.
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Pflicht des Staates unabhängig vom Bestehen eines subjektiven Abwehranspruchs existiert. Eine Abkehr vom Verständnis der Grundrechte als Abwehrrechte ist dies nicht. Daß sich aus den Grundrechten Unterlassungspflichten des Staates ergeben, die man als „objektiv" bezeichnen mag, ohne daß dies allerdings sachlich etwas hinzufügte, war für die abwehrrechtliche Grundrechtskonzeption schon immer selbstverständlich. Daß diese Pflicht auch dann besteht, wenn es mangels Voraussehbarkeit des durch eine staatliche Maßnahme ausgelösten Kausalverlaufs einen subjektiv Betroffenen noch nicht gibt, ist nichts als eine logische Konsequenz aus dem Umstand, daß die Grundrechte nicht nur gegen finale Eingriffe schützen, bei denen es von vornherein immer einen subjektiv Betroffenen gibt, sondern auch gegen nichtfinale Eingriffe, die zur Verletzimg eines grundrechtlichen Schutzgutes führen, ohne daß i n jedem Fall von vornherein feststeht, wer von diesem Eingriff betroffen sein wird. Der dem individuellen Rechtsschutz dienende subjektive Unterlassungsanspruch kann erst dann bestehen, wenn jemand konkret betroffen ist; die („objektive") Pflicht des Staates, die Grundrechte zu achten, setzt aber nicht voraus, daß jemand sie einklagen kann. Diese Ansicht w i r d jedenfalls im Ergebnis durch die ständige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts in vollem Umfang bestätigt: Wegen der Möglichkeit des Auseinanderfallens von subjektiver Betroffenheit und nichtfinalem Eingriff sind die Grundrechte „objektiv" mehr als subjektive Abwehrrechte. Ebenso wie es möglich ist, daß ein nichtfinaler Eingriff, die Beeinträchtigung eines grundrechtlichen Schutzguts, vorliegt, ohne daß bereits jemand subjektiv betroffen ist, kann auch die Intensität der Beeinträchtigung davon abhängen, ob man den Sachverhalt aus der Perspektive des einzelnen oder aus der Perspektive des Staates betrachtet. Wie intensiv die Beeinträchtigung durch nichtfinale Eingriffe, also durch Risiken ist, hängt ja nicht nur von dem Umfang des potentiellen Schadens, sondern auch von der Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts ab. Diese kann „subjektiv", bezogen auf ein konkretes Rechtsgut, vernachlässigenswert gering und zugleich „objektiv", bezogen auf ein Rechtsgut dieser Art, außerordentlich groß sein. Die grundrechtliche Unterlassungspflicht des Staates bezieht sich auf jedes grundrechtlich geschützte Individualrechtsgut, aber unabhängig davon, ob das konkrete Individualrechtsgut und sein Träger im Zeitpunkt der staatlichen Handlung individualisierbar sind. Folgt aus Art. 2 I I 1 GG die Verpflichtung des Staates, ohne Rechtfertigung durch ein besonders Gemeinwohlziel die Gefährdung von Leben und Gesundheit zu unterlassen, so kommt es nicht darauf an, ob durch eine staatliche Maßnahme ein bestimmter Mensch mit hinreichender Wahrscheinlichkeit verletzt wird, sondern darauf, ob die Verletzung irgendeines Menschen wahrscheinlich ist. „Objektiv" besteht eine Lebensgefahr, wenn mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ein beliebiger, nicht ein bestimmter Mensch getötet wird. Diese „objektive"
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Perspektive, die derjenigen des Gefahrenabwehrrechts entspricht, ist auch für die Pflicht zur Achtung der Grundrechte maßgeblich. Abgesehen von dem bereits aufgezeigten logischen Zusammenhang spricht für dieses „objektive" Verständnis der aus den Grundrechten folgenden staatlichen Pflichten, daß die grundrechtlichen Schutzgüter, insbesondere Leben und Gesundheit, anderenfalls Verfügungsmasse der Exekutive wären, solange nur das Risiko jedes bestimmten einzelnen, von solchen Verfügungen betroffen zu werden, hinreichend gering bliebe. Daß der Staat auf das menschliche Leben keinerlei Rücksicht zu nehmen hätte, solange es dem Zufall überlassen bliebe, welchen einzelnen aus einer riesigen Menge die Folgen der Rücksichtslosigkeit träfen, wäre mit der Pflicht zur Achtung der Menschenwürde (Art. 11 GG) nicht vereinbar. Diese Pflicht übrigens ist vom Grundgesetz nicht als subjektiver Anspruch, sondern als objektive Verpflichtung formuliert worden. Der Staat ist verpflichtet, den einzelnen Menschen, das Individuum als solches zu achten, nicht nur als konkretes. Folglich ist ein Verhalten, das ein Risiko für ein grundrechtlich geschütztes Rechtsgut darstellt, i m Hinblick darauf zu rechtfertigen, wie groß die Wahrscheinlichkeit ist, daß überhaupt ein Mensch geschädigt wird, und nicht im Hinblick auf die oft um ein Vielfaches geringere Wahrscheinlichkeit der Schädigung eines bestimmten Individuums. „Objektiv" verfassungswidrig ist dieses „objektive" Risiko dann, wenn es sich nicht als zur Erreichung eines Gemeinwohlziels erforderlich rechtfertigen läßt. Eine Zumutbarkeitsschwelle dagegen gibt es auf dieser Ebene nicht, denn unzumutbar kann eine Beeinträchtigung immer nur für konkrete einzelne sein. Deshalb ist es keineswegs ausgeschlossen, daß sich ein „objektives" Risiko auch dann rechtfertigen läßt, wenn die Risikozahl 21 für das objektive Individualrisiko 1 und für das Kollektivrisiko größer als 1 ist, wenn etwa mit Gewißheit die Schädigung eines oder sogar vieler Menschen als ungewollte Nebenfolge eines Verhaltens zu erwarten ist. So gilt die Zulassung des Autoverkehrs als verfassungsgemäß, obwohl man sicher weiß, daß jährlich Tausende dabei getötet werden. Eine absolute Grenze der gesetzlichen Einschränkbarkeit von Grundrechten wird erst dort erreicht, wo entweder bei einer solchen „objektiven" Grundrechtsbetrachtung der Wesensgehalt (Art. 19 I I GG) 21 Mit der Risikozahl beschreibt man die Größe des Risikos, vgl. dazu ζ. B. Deutsche Risikostudie, S. 13 ff. Sie ist - in der einfachsten Rechnung - das Produkt aus Eintrittswahrscheinlichkeit, für die ein Wert zwischen 0 und 1 eingesetzt wird, und Schadensausmaß. Die juristische Bewertungsschwierigkeit besteht in der Festlegung der Zahl für das Schadensausmaß. Gibt man z.B. mit der Größe 1 den Totalverlust bzw. die als schwerstwiegende Verletzung bewertete Schädigung eines Rechtsguts an, dann bedeutet die Risikozahl 1, daß der schwerstmögliche Schaden mit Gewißheit eintreten wird. Bezogen auf das Individualrisiko und auf ein bestimmtes Rechtsgut ist 1 also die größtmögliche Risikozahl. Da beim Kollektivrisiko die möglichen individuellen Risiken addiert werden, kann die Risikozahl hier tausend- oder millionenfach größer als 1 sein, und die Risikozahl 1 muß hier keinesfalls bedeuten, daß ein Schaden mit Gewißheit zu erwarten ist.
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berührt oder wo die Zumutbarkeitsschwelle für den konkreten einzelnen überschritten wird. Was hier für die objektiven Unterlassungspflichten des Staates entwickelt wurde, muß für die Schutzpflichten genauso gelten. 22 bb) Objektive Pflicht zum Individualrechtsschutz, Bevölkerungsrisiko und objektives Individualrisiko Die Wahrscheinlichkeit, daß es überhaupt zur Schädigung eines Individualrechtsguts kommt, kann auch davon abhängen, wieviele Menschen sich im Einwirkungsbereich der Gefahrenquelle aufhalten. 23 Beispiel: Veranstaltet die Luftwaffe gefährliche. Flugübungen, bei denen die Gefahr eines Flugzeugabsturzes besteht, oder fliegt sie mit Gerät durch die Luft, das wegen seiner technischen Beschaffenheit erfahrungsgemäß als absturzgefährdet gelten kann („Starfighter"), so dürfte in der Regel das Risiko, durch den Absturz eines Flugzeuges verletzt zu werden, für den einzelnen, der sich in dem Hunderte Quadratkilometer großen Übungsgebiet aufhält, äußerst gering sein, und zwar unabhängig davon, ob die Übung über See stattfindet, über einem dünnbesiedelten Gebiet oder über einem Ballungsgebiet. Das subjektive Risiko ist in jedem Falle gleich klein. Die Besiedlungsdichte ist aber entscheidend dafür, mit welcher Wahrscheinlichkeit sich gerade beim Absturz des Flugzeuges jemand am Aufschlagpunkt aufhält. Bei gleichbleibender Absturzwahrscheinlichkeit hängt also die Wahrscheinlichkeit, daß ein Mensch geschädigt wird, davon ab, wieviele Menschen potentiell betroffen sind. Das Risiko, daß es zur Verletzung eines Menschen kommt, kann bei großer Bevölkerungsdichte tausendfach oder millionenfach größer sein als in kaum besiedelten Gebieten. Deshalb kann je nach Ort der Übung objektiv eine Gefahr vorliegen oder nur ein marginales Risiko, obwohl das subjektive Individualrisiko in allen Fällen das gleiche ist.
Wenn es zutrifft, daß es für die objektivrechtliche Pflicht des Staates darauf ankommt, wie groß das Risiko für ein beliebiges Individualrechtsgut ist, dann ist auf die Bevölkerungsdichte insofern abzustellen, als hiervon die Wahrscheinlichkeit der Schädigung eines beliebigen einzelnen abhängt. Im Unterschied zu der oben 24 erörterten Frage, ob das Kollektivrisiko bei der Bewertung des Schadenspotentials zu berücksichtigen ist, geht es hier - bei der Berechnung der Eintrittswahrscheinlichkeit - nicht um den Schutz des Kollektivs, sondern um den Schutz von individuellen Rechtsgütern, die sich lediglich im Beurteilungszeitpunkt noch nicht einer bestimmten Person zuordnen lassen. Dennoch liegt hier der Einwand nahe, daß man bei dieser objektivrechtlichen Betrachtung der staatlichen Schutzpflicht in Wirklichkeit nicht Indi22 vgl. §§ 5, 6. 23 Vgl. OVG Münster, ET 1975, 220 (227). 24 2., 3. a).
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vidualschutz, sondern Kollektivschutz betreibe. Stelle man nämlich nicht auf das Individualrisiko ab, das sich hier aus der Wahrscheinlichkeit ergebe, mit welcher der einzelne geschädigt werde, dann komme man zu demselben Ergebnis, als würde man das Bevölkerungsrisiko im Rahmen des Schadenspotentials berücksichtigen: Der dem einzelnen gewährte Schutz hänge von der Anzahl der zugleich mit ihm von dem Risiko Betroffenen ab. Somit gehe es auch hier um den Schutz des Kollektivs, denn die statistische Häufigkeit individueller Schäden werde hier nicht in bezug auf das Individuum, sondern in bezug auf die Gesamtheit berechnet. Richtig ist, daß die Orientierung der Schutzpflicht am „objektiven" Risiko dazu führt, daß tendenziell die Minimierung der Anzahl von Schadensfällen angestrebt wird. Das ist aufs Ganze gesehen ein kollektiver Gesichtspunkt, aber es sind immer individuelle Schäden, die es zu vermeiden gilt. Darin liegt ein wesentlicher Unterschied zur Berücksichtigung der Anzahl der Betroffenen bei der Bewertung des Schadenspotentials. Das Grundrecht auf Leben verpflichtet den Staat zum Schutz jedes einzelnen Lebens. Deshalb ist die objektive Bestimmung der Wahrscheinlichkeit, also die Konkretisierung der Schutzpflicht anhand der Frage, ob überhaupt irgendein Mensch gefährdet sei, kein Widerspruch zum Individualrechtsschutz: Der Schutz nach Maßgabe der objektiven Wahrscheinlichkeitsbestimmimg ist objektiver Individualrechtsschutz. Bezugspunkt für die Bewertung des Risikos ist allein der potentielle individuelle Schaden, nicht ein Kollektivschaden. Deshalb ist es auch irreführend, in diesem Zusammenhang zu sagen, die Risikobewertung stelle auf das „Kollektivrisiko" oder das „Bevölkerungsrisiko" 25 ab und nicht auf das Individualrisiko. Vielmehr geht es sehr wohl um das Individualrisiko 2 6 . Nur muß man zwischen objektivem und subjektivem Individualrisiko unterscheiden. 27 Die Größe des subjektiven (Individual-) Risikos hängt davon ab, mit welcher Wahrscheinlichkeit ein bestimmtes Individuum geschädigt wird, die Größe des objektiven Individualrisikos dagegen davon, mit welcher Wahrscheinlichkeit ein beliebiges Individuum geschädigt wird. Das Bevölkerungsrisiko dagegen stellt auf das sich aus der Zahl der möglicherweise betroffenen Individuen sich ergebende Schadenspotential, also auf einen überindividuellen Gesamtschaden ab. Die Größe des Bevölkerungsrisikos kann zwar im Einzelfall mit der Größe des objektiven Individualrisikos identisch sein. Sie ist es immer dann, wenn durch ein 25 So aber Rspr. u. Lit. zum Strahlenrisiko im Bereich kleiner und kleinster Strahlendosen, vgl. z.B. Lukes / Richter, NJW 1981, 1401ff.; Winter, NJW 1979, 393ff.; OVG Münster, ET 1975, 220 (227); BVerwG, NJW 1981, 1393 (1394f.). 26 Zutreffend OVG Lüneburg, DVB1. 1977, 340 (344). 27 Dieser Unterschied wird von der o. Fn. 25 zitierten Rspr. u. Lit. verkannt. Dies erklärt sich wohl dadurch, daß der Blick dort allein auf den „Drittschutz" fixiert ist, also auf den subjektiven Schutzanspruch und nicht auf die objektive Schutzpflicht, so daß als „Individualrisiko" allein das subjektive Individualrisiko in Betracht gezogen wird. Besonders typisch BVerwG, NJW 1981, 1393 (1394f.).
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zu bewertendes Ereignis immer nur maximal ein Individuum geschädigt werden kann. 2 8 Sie weicht aber vom objektiven Individualrisiko ab, wenn dasselbe Ereignis zugleich mehrere Individuen schädigen kann. Der objektive Individualrechtsschutz kann sich im Einzelfall für den einzelnen dahingehend auswirken, daß sein subjektives Risiko gemindert wird, wenn wegen der Größe der Wahrscheinlichkeit, daß irgendein Mensch verletzt wird, die Sicherheitsvorkehrungen verschärft werden müssen. Auch darin liegt keine Abkehr vom Individualrechtsschutz, sondern ein Vorteil, der dem einzelnen aus der Situation heraus zufließt: Um eine objektive Gefahr auszuschließen, um also zu vermeiden, daß das potentiell schädigende Ereignis überhaupt einen Menschen trifft, muß der Sicherheitsstandard verbessert werden, und damit vermindert sich notwendigerweise auch das subjektive Schadensrisiko des einzelnen. Diese Konsequenz muß übrigens nicht notwendigerweise in allen Fällen eintreten. Aus dem Umstand, daß objektiv eine Gefahr vorliegt, folgt zunächst ja nichts anderes, als daß das Risiko nicht mehr einfach als „sozialadäquat" gerechtfertigt werden kann. Es muß an einem besonderen Ziel des Gemeinwohls gerechtfertigt werden, und es muß zu diesem Ziel erforderlich sein. Gibt es ein solches Ziel und läßt sich dieses Ziel nicht auch mit geringeren Risiken erreichen, dann kann die zulässige objektive Gefahr so groß sein, daß auch das Individualrisiko die Gefahrenschwelle erreicht. Der Unterschied zur Orientierung am subjektiven Risiko liegt in den gesteigerten Anforderungen an die Rechtfertigung des Risikos und in der früher einsetzenden Pflicht zur Risikominimierung am Maßstab des Erforderlichkeitsprinzips. I m Beispielsfall dürfte also die Luftwaffe nur das geringste Risiko verursachen, mit dem sich der Übungszweck erreichen ließe. Jedenfalls dann, wenn es keine zwingenden Gründe dafür gäbe, über einem Ballungsgebiet zu üben, müßte sie auf schwach besiedelte Gebiete ausweichen. II. Die Berücksichtigung des Kollektivrisikos als Gebot des Gleichheitssatzes Wenn der Betrieb einer technischen Anlage im Störfall 100 Menschen das Leben kosten kann, dann ist der mögliche Schaden hundert mal größer als könnte nur ein Mensch zu Schaden kommen. Wenn diese Quantität der Betroffenen auch unter dem Aspekt des von Art. 2 I I GG geforderten Min28 In diesem Fall und nur in diesem Fall ist das objektive Individualrisiko gleich dem kumulierten subjektiven Individualrisiko. Vgl. zu dieser Konstellation OVG Münster, ET 1975, 220 (227). Ansonsten ergibt die Kumulation der subjektiven Individualrisiken das Bevölkerungsrisiko - vgl. Deutsche Risikostudie, S. 16 - , nicht aber das objektive Individualrisiko.
11 Murswiek
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destmaßes an Sicherheit unbeachtlich ist, so hindert dies den Gesetzgeber, der Sicherheitsstandards normiert, oder den Richter, der sie anwendet, nicht daran, das überindividuelle Schadensquantum zu Lasten dessen, der das Risiko erzeugt, zu berücksichtigen. Wer ein großes Gefährdungspotential in die Welt setzt, das auf einen Schlag viele Menschen schädigen kann, der muß sich gefallen lassen, daß man von ihm wesentlich größere Sorgfalt, wesentlich zuverlässigere Sicherheitsmaßnahmen verlangt, als in dem Fall, daß er ein Risiko für nur einen oder wenige Menschen erzeugen würde. 29 Der Schutz des einzelnen w i r d dabei nicht vernachlässigt; er wird nicht dadurch relativiert, daß das Sicherheitsniveau bei einer großen Zahl potentiell Betroffener noch gesteigert wird. Die für den Schutz des einzelnen verfassungsrechtlich gebotenen Sicherheitsanforderungen müssen in jedem Fall gewahrt bleiben. Steigert der Gesetzgeber oder der einen generalklauselartig formulierten Sicherheitsstandard auslegende Richter die Sicherheitsanforderungen mit der Zahl der potentiell Betroffenen, so verstößt dies auch nicht gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz: Wer ein großes Gefährdungspotential schafft und damit potentiell einen großen Schaden verursacht, dem kann auch eine weitergehende Freiheitseinschränkung durch schärfere Sicherheitsanforderungen zugemutet werden. Aber diese Verschärfung der Sicherheitsanforderungen mit steigendem Schadenspotential ist nicht durch den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz verfassungsrechtlich geboten. 30 Der rechtsstaatliche Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ist ein regulatives Prinzip, das staatliche Freiheitseinschränkungen begrenzt; es fordert aber nicht ihre Verschärfung. 31 Damit bliebe es der Entscheidimgsfreiheit des Gesetzgebers überlassen, gegen kollektive Risiken verschärfte Sicherheitsvorkehrungen zu verlangen, wenn es nicht noch andere verfassungsrechtliche Gesichtspunkte gäbe, die für eine Berücksichtigung des Kollektivrisikos sprächen. Als ein solcher Gesichtspunkt kommt der Gleichheitssatz des Art. 3 I GG in Betracht. Hiernach sind die Verursacher von Risiken bei der Auferlegung von Sicherheitspflichten gleich zu behandeln, sofern nicht ein sachlicher Grund die Ungleichbehandlung rechtfertigt. Die gesetzlichen Sicherheitsanforderungen müssen also für alle Risikoerzeuger prinzipiell gleich sein. Das bedeutet, daß die Größe des zu vermeidenden Risikos, durch das der Umfang der Sicherheitspflichten bestimmt wird, für jedermann gleich sein 29
Vgl. Rauschning, W D S t R L 38 (1980), 191. Entgegen Rehbinder, BB 1976, 2; VGH Mannheim, ESVGH 32, 161 (191). 31 Eine solche Verschärfung kann nur mittelbar daraus folgen, daß das Verhältnismäßigkeitsprinzip auf der anderen Seite auch das Maß des dem Betroffenen zumutbaren Risikos bestimmt, s. ο. Α. I. Die auf diese Weise geforderte Einschränkung der Freiheit des potentiellen Störers hängt ihrem Umfang nach aber von der Position des Betroffenen ab; ist dieser ein Individuum, dann ist auch seine durch das Risiko betroffene Position nur eine individuelle. 30
Α. Individualrisiko oder Kollektivrisiko?
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muß - es sei denn, der Gesetzgeber legt aus sachlichen Gründen - z.B. für bestimmte Arten von Risiken - besondere Sicherheitsstandards fest. Da aber die Größe des Risikos sich aus dem Produkt von potentiellem Schadensumfang und Eintrittswahrscheinlichkeit ergibt, fordert der Gleichheitssatz die Berücksichtigung des gesamten potentiellen Schadens, auch wenn dieser sich aus Schädigungen einer Vielzahl von Betroffenen summiert. Würde das Gesetz dagegen das Maß der gebotenen Schadensvorsorge nur am potentiellen Ausmaß des Individualschadens orientieren, dann würde es denjenigen begünstigen, der große Gefährdungspotentiale schafft: Die Größe des erlaubten Risikos wäre nicht mehr für alle Risikoverursacher gleich; sie würde mit dem Umfang des Gefährdungspotentials wachsen. Je größer etwa die möglichen Auswirkungen eines Explosionsunglücks auf die Umgebung einer technischen Anlage, desto größer wäre das Risiko, das der Anlagenbetreiber zulässigerweise erzeugen dürfte. Für eine solche dynamische Zuwachsprämie auf die Erzeugung großer Gefährdungspotentiale gibt es in der Regel keinen sachlichen Grund. Der Gleichheitssatz verlangt daher, daß mit der Erhöhung des - kollektiven - Schadenspotentials die zulässige Eintrittswahrscheinlichkeit des Schadens in der Weise gesenkt werden muß, daß das erlaubte Risiko die für alle Risikoerzeuger gleich festgesetzte Größe nicht überschreitet. Aus Art. 3 I GG folgt somit, daß der Gefahrenbegriff und andere unbestimmt formulierte Sicherheitsstandards nach der „Je-desto-Formel" unter Berücksichtigung des Kollektivrisikos zu konkretisieren sind. Freilich gibt diese Formel ein Ideal an, an dem die Konkretisierung sich zu orientieren hat, das angesichts der noch zu erörternden Quantifizierungsprobleme jedoch kaum vollständig realisierbar ist. Ist aber eine perfekte quantitative Korrelierung von Schadensausmaß und Wahrscheinlichkeitsgrad nicht durchführbar, so kann darin ein sachlicher Grund für eine nach Art. 3 I GG zulässige Differenzierung liegen. Lukes und Richter vertreten die genau entgegengesetzte Ansicht: Sie meinen, daß die Berücksichtigung des Bevölkerungsrisikos bei der Konkretisierung des Sicherheitsstandards des § 7 I I Nr. 3 AtG gegen den Gleichheitssatz verstoße, weil eine Differenzierung der Schutzanforderungen nach der Zahl der Betroffenen zu der in Art. 2 I I 1 sowie Art. 11 und I I I GG zum Ausdruck gekommenen Wertentscheidung in Widerspruch stehe. 32 Sie setzen dabei voraus, daß das Grundgesetz jede wertende Differenzierung zwischen einem und mehreren Leben untersage. Soweit sich diese Voraussetzung auf Art. 2 I I GG und auf den Schutz der Menschenwürde stützen läßt, verdient sie volle Zustimmung. Aus Art. 2 und Art. 1 GG läßt sich aber nicht mehr entnehmen, als daß das Leben als individuelles Rechtsgut geschützt werden muß und daß das Recht auf Leben jedem Menschen in gleicher Weise 32 NJW 1981, 1405. 11
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§ 9 Der relationale Gefahrenbegriff als Maßstab der Schutzpflicht
zusteht und in gleicher Weise zu gewährleisten ist; rechtlich hat das Leben jedes Menschen den gleichen Wert. Aus dem Verbot, insoweit zu differenzieren, folgt zwar, daß in das Leben des einen nicht zugunsten des anderen eingegriffen und daß der einzelne nicht zugunsten vieler geopfert werden darf. Die Berücksichtigung des Kollektivrisikos führt aber nicht dazu, daß dem einzelnen zugunsten der Vielen ein Opfer abverlangt wird. Sie mindert nicht - wie Lukes und Richter meinen 33 - die Sicherheit des einzelnen, sondern erhöht die Sicherheit der Vielzahl Betroffener; das - für alle gleiche - Minimum an Sicherheit, der Ausschluß der Gefahr für jeden einzelnen, w i r d dadurch nicht berührt. 3 4 Tut der Staat zum Schutz des Lebens mehr als er nach Art. 2 I I GG zum Schutz des einzelnen zu tun verpflichtet wäre, kann die Schutzverstärkung als solche nicht gegen diese Bestimmimg verstoßen. Weder Art. 2 I I GG noch die Menschenwürdegarantie schließen eine Differenzierung der Intensität des gewährleisteten Schutzes aus. Sie verbieten lediglich, eine unterschiedliche Bewertung des Lebens zum Grund für die Differenzierung zu machen, schließen es also aus, eine unterschiedliche Bewertung individuellen Lebens als „sachlichen Grund" für eine Ungleichbehandlung im Sinne des Art. 3 I GG anzusehen. Wenn sachliche Gründe es rechtfertigen, dem einen ein geringeres Risiko aufzubürden als dem anderen, bestehen dagegen keine verfassungsrechtlichen Bedenken. 35 Die Steigerung des Schutzes mit der Zahl der Betroffenen stellt nicht auf ein sachfremdes Kriterium ab und ist für den einzelnen keine willkürliche Ungleichbehandlung. 36 Wenn die unter dem Aspekt des Bevölkerungsrisikos gesteigerte Sicherheit dem Großstadtbewohner mehr zustatten kommt als dem Landbewohner, kann darin auch kein Verstoß gegen die Menschenwürde gesehen werden: Diese Wirkung der Berücksichtigung des Bevölkerungsrisikos beruht nicht auf einer unterschiedlichen Bewertung des individuellen Lebens, sondern dient dem verstärkten Schutz von Gemeinschaftsinteressen 37 und der Gleichbehandlung der Risiko verursacher. Ist der Gesetzgeber aus außerhalb von Art. 2 I I GG liegenden Gründen verpflichtet, den von Art. 2 I I GG zum Schutz des einzelnen geforderten Sicherheitsstandard mit der Zahl der Betroffenen noch zu verschärfen, kann 33 Ebd. S. 1404. Deshalb ist das von Lukes / Richter, ebd. S. 1404f., herangezogene Beispiel der Auslegung des § 34 StGB, wonach die Tötung eines Menschen zur Rettung vieler nicht gerechtfertigt ist, fehl am Platze. 35 Daß hinsichtlich der individuellen Mindestposition auch in bezug auf das Lebensrisiko Differenzierungen aus sachlichen Gründen nicht ausgeschlossen sind, zeigt Dürig, in: Maunz / Dürig, Art. 2 I I Rdnr. 16f., 19 mit den Beispielen des Hilfsdienstverpflichteten, des Polizisten oder des Soldaten. 36 Insofern berufen sich Lukes / Richter, NJW 1981,1405, zu Unrecht auf Dürig, in: Maunz / Dürig, Art. 2 I I Rdnr. 11. Dürig sagt sogar ausdrücklich, daß der Staat bei der Schutzgewährung auf die Zahl der Betroffenen abstellen könne, ebd. Rdnr. 13. 37 Genau dies bestätigen Lukes / Richter, NJW 1981, 1406 f., selbst wenn sie die Berücksichtigung des Bevölkerungsrisikos bei der Standortwahl zulassen. 34
Β. Grenzen der Quantifizierbarkeit und Wertungskompetenz
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demnach weder Art. 2 I I in Verbindung mit Art. 11 GG noch Art. 3 I GG dem entgegenstehen. B. Grenzen der Quantifizierbarkeit und Wertungskompetenz des Gesetzgebers
Wie groß die Wahrscheinlichkeit sein darf, daß ein Risiko zur Schädigung eines von der Verfassung geschützten Gutes führt, ist - wie gezeigt - in Relation zu Art und Ausmaß des potentiellen Schadens zu bestimmen. Die Anwendung dieses Verfassungsgrundsatzes begegnet großen Schwierigkeiten, die es erforderlich machen, diesen Grundsatz selbst zu relativieren. Dies soll im folgenden gezeigt werden. Das allgemein mit der „Je-desto-Formel" ausgedrückte Verhältnis von rechtlich zulässiger Eintrittswahrscheinlichkeit und Schadenspotential „je größer der potentielle Schaden, desto geringer die zulässige Eintrittswahrscheinlichkeit" oder ähnlich lauten die Formulierungen 38 - ist von großer Überzeugungskraft und verführerischer Einfachheit. Risikoforscher und Wahrscheinlichkeitstheoretiker können mit solchen Formeln sogar mathematisch umgehen und dabei Erstaunliches leisten. Die Größe des Risikos ist das Produkt aus Schadensumfang und Eintrittswahrscheinlichkeit, R = y · w, so lautet die einfachste Formel zur Errechnung der Risikogröße. Bei der Beurteilung technischer Risiken kommt es häufig auf die Eintrittswahrscheinlichkeit innerhalb eines bestimmten Zeitraumes an. Der Wahrscheinlichkeitsgrad kann ungewiß sein, so daß ein besonderer Quotient als Schätzwert für die Wahrscheinlichkeit zu verwenden ist. Diese und andere Umstände können die Risikoformel sehr viel komplizierter machen. 39 Aber man kann mit ihr rechnen und die Größe eines Risikos dann mit Hilfe der Risikozahl auf einer Skala von 0 bis 1 auf etliche Stellen hinter dem Komma genau angeben. Die Genauigkeit solcher Rechnungen beruht freilich darauf, daß die Faktoren, aus denen man die Risikozahl errechnet, bereits als exakte Zahlenwerte in die Rechnung eingegeben werden. Soweit die Genauigkeit dieser Faktoren von faktischen Fragen abhängt, ist darauf an dieser Stelle nicht einzugehen. Der Umfang eines Risikos hängt aber auch von Wertungsfragen ab, die erst darauf zu prüfen sind, ob sich die Antwort ohne weiteres in einem präzisen Zahlenwert ausdrücken läßt. Man kann das Wertungsproblem umgehen, wenn man die Größe des Risikos nicht absolut, sondern bezogen auf ein bestimmtes Gut ausdrückt, dessen Wert dann imbestimmt bleiben kann. So ist es üblich, die Größe von Unfallrisiken durch die Zahl potentieller Unfalltoter, verbunden mit der Unfallwahrscheinlichkeit anzugeben. Eine quantitative Beschreibung des 38 39
Vgl. die Nachw. o. § 4 Fn. 21. Vgl. den Überblick in: Deutsche Risikostudie Kernkraftwerke, S. 10 ff.
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§ 9 Der relationale Gefahrenbegriff als Maßstab der Schutzpflicht
Schadenspotentials ist hier ohne weiteres möglich, wenn man, wie Art. 2 I I GG für seinen Anwendungsbereich das fordert, jedes Menschenleben als gleichwertig betrachtet. Ein Wirtschaftswissenschaftler, der den potentiellen wirtschaftlichen Schaden errechnen will, der durch denselben Unfall entsteht, wird das Schadenspotential beispielsweise durch „Ausfallzeiten", ausgedrückt in „Mannstunden" darstellen, für die die Unfallopfer dem Arbeitsprozeß entzogen sind. Ein Versicherungsmathematiker wird sich wiederum für andere Aspekte des Schadens interessieren und zwar auch wieder in unterschiedlicher Weise, je nachdem, ob er seine Rechnung für eine Lebens- oder eine Haftpflichtversicherimg aufmacht. Für ihn läßt sich das Lebensrisiko in Währungseinheiten angeben. Solche Risikoberechnungen sind an sich nicht unmoralisch; dazu werden sie nur dann, wenn man sie verabsolutiert, also aus dem begrenzten funktionalen Zusammenhang, in dem sie eine sinnvolle Aussage machen, herausnimmt und damit die absolute Größe des Risikos angeben will. Man muß sich also vergegenwärtigen, daß der Gegenstand des Art. 2 I I GG ein anderer ist als der einer Schadensersatznorm oder einer Versicherungspolice. Gibt man die Größe eines Unfallrisikos mit der Zahl der potentiellen Unfalltoten an, dann mag diese Angabe mathematisch exakt sein - trotzdem hat sie für die juristische Ermittlung des im Hinblick auf dieses Schadenspotential zulässigen Wahrscheinlichkeitsgrades nur begrenzten Wert. Sie erfaßt zum Beispiel nicht den Schaden, der durch denselben Unfall an anderen Rechtsgütern entsteht. Ist ein solcher Schaden zu erwarten, etwa Körperschaden oder Sachschaden, dann fragt sich, wie die Größe des Gesamtschadens quantitativ ausgedrückt werden kann. Ist dagegen nur Schaden an einem bestimmten Schutzgut zu erwarten, erübrigt sich die Frage nach dem absoluten Maßstab für den Schadensumfang keineswegs, denn zur Ermittlung der Gefahrenschwelle müßte ja auch der Wert dieses Rechtsguts als solcher feststehen. Um die „Je-desto-Formel" handhaben zu können, müßte man also nicht nur im Einzelfall die Eintrittswahrscheinlichkeit und den potentiellen Schaden kennen, sondern man müßte auch eine Wertskala besitzen, die man zur Skala der Wahrscheinlichkeitsgrade in Beziehung setzen könnte. Auf dieser Skala müßten alle in Betracht kommenden Schutzgüter wertmäßig einander zugeordnet sein, und zwar nicht nur ihrer WertRangfolge nach (ordinal), sondern auch der nach der Größe ihres Wertes in unterschiedlichen Abständen (kardinal) geordnet. Abgesehen vom Leben können aber alle anderen Schutzgüter in unterschiedlicher Intensität beeinträchtigt werden. Die Beeinträchtigung der körperlichen Integrität kann vom kleinen Kratzer bis zur totalen Lähmung reichen und dementsprechend sehr unterschiedlich zu bewerten sein. Auch solche Intensitätsunterschiede müßten auf der kardinalen Wertskala berücksichtigt werden. Mag man auch die Realisierbarkeit einer solchen Skala aller von Risiken potentiell betroffenen Werte, also das Projekt einer quantitativen Zuordnung aller in
Β. Grenzen der Quantifizierbarkeit und Wertungskompetenz
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Betracht kommenden Werte, von vornherein für utopisch halten - das Wertungsproblem stellt sich dem Rechtsanwender auch jenseits aller Bezifferung unausweichlich; es muß entschieden werden. Unter dem Aspekt des verfassungsrechtlich gebotenen Schutzes vor Risiken stellt sich demnach die Frage, welche Kriterien die Verfassung für die Entscheidung des aufgezeigten Wertungsproblems zur Verfügung stellt. /. Verfassungsrechtliche Kriterien für die Bewertung des Schadenspotentials 1. „Wertordnung" als ordinale Wertskala? Das Bundesverfassungsgericht spricht gern von der „Wertordnung" 4 0 des Grundgesetzes und hat die Grundrechte sogar als „Wertsystem" 41 bezeichnet. Könnte man tatsächlich im Grundrechtskatalog eine Ordnung oder gar eine systematische Ordnung von Werten erkennen, dann müßte es möglich sein, eine Wert-Rangfolge der grundrechtlich geschützten Güter aufzustellen, also die Wertordnung auf einer ordinalen Wertskala zu beschreiben. Eine solche Rangfolge der als Werte verstandenen Grundrechte hat das Bundesverfassungsgericht zwar schon behauptet 42 , aber nie entwickelt 4 3 , abgesehen davon, daß das Leben als „ein Höchstwert" bezeichnet w i r d 4 4 , wobei offenbleibt, ob es weitere „Höchstwerte" gibt und welche das sind. Im übrigen kommt es nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bei „Güterkollisionen" auf die Abwägimg im Einzelfall an. 45 Auch der wissenschaftlichen Literatur, die sich der Wertordnungs- und Wertsystemterminologie des Bundesverfassungsgerichts angeschlossen hat, ist es nicht gelungen, eine Rangfolge der grundrechtlichen Werte zu entwickeln. 46 Dies ist nicht verwunderlich, läßt doch der Grundrechtskatalog des Grundgeset40 Z.B. BVerfGE 6, 32 (41); 10, 59 (81); 12; 4^ (51); 13, 46 (51); 13, 97 (107); 13, 331 (336); 14, 288 (301); 21, 362 (371f.). 41 BVerfGE 5, 85 (139); 7,198 (205); 21, 362 (372) m.w.N.; 37, 57 (65). Der Gedanke, daß die Grundrechte ein „Wert- oder Güter-, ein Kultursystem" normieren, geht auf Rudolf Smend zurück, Verfassung und Verfassungsrecht (1928), in: Staatsrechtliche Abhandlungen und andere Aufsätze, 2. Aufl., Berlin 1968, S. 264. 42 BVerfGE 7, 198 (215): „Wertrangordnung". 43 Vgl. die Rechtsprechungsanalyse von Schlink, Abwägung im Verfassungsrecht, S. 17ff., 43ff, 45ff. 44 BVerfGE 46, 160 (164). 45 Vgl. BVerfGE 7, 198 (210f.); 7, 230 (234); 7, 377 (405); 14, 263 (283); 21, 239 (243 f.). 46 Die zentrale Bedeutimg der Menschenwürde oder die Rolle des allgemeinen Freiheitsrechts aus Art. 2 I GG als „Auffanggrundrecht" begründen entgegen Dürig, in: Maunz / Dürig, Art. 1 Rdnr. 5ff.; Art. 2 I Rdnr. I f f . noch kein Wertsystem. Der von Düng, Art. 2 I Rdnr. 2 behauptete Vorrang der Freiheit vor der Gleichheit ist nur als abstraktes Prinzip plausibel, taugt aber nicht für die Entscheidung konkreter Konflikte.
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zes keinerlei Anzeichen einer systematischen Ordnung erkennen. Die Grundrechte sind je selbständige Gewährleistungen, die sich nicht systematisch aus übergeordneten Rechten ableiten lassen; sie sind daher prinzipiell gleichrangig. 47 So hat denn auch die Redeweise vom Wertsystem oder der Wertordnung, die übrigens ungeklärt läßt, in welchem Verhältnis das Wertsystem der Grundrechte zur allgemeinen Wertordnung der Verfassung stehen soll 48 , heftige K r i t i k erfahren. 49 Auf die Diskussion, mit welcher Berechtigung als Freiheiten konzipierte Grundrechtsgehalte zugleich als „Werte" verstanden werden können und welche Konsequenzen ein solches Verständnis für die'Freiheitsgewährleistung hat 5 0 , kann hier nicht eingegangen werden. Entscheidend ist im vorliegenden Zusammenhang, daß eine Bewertung der Schutzgüter unerläßlich ist, wenn der Umfang des zu gewährenden Schutzes vom Ausmaß des potentiellen Schadens abhängen soll. Läßt sich eine Rangordnung der Werte nicht aus einem „System" der Grundrechte ermitteln, fragt sich, ob die Verfassimg sonstige Bewertungskriterien zur Verfügung stellt. Dabei ist die Relativität der Fragestellung zu beachten. W i l l man Kriterien für eine Differenzierung der gebotenen Schutzintensität gewinnen, ist man auf eine absolute Wertrangbestimmung nicht angewiesen: Es geht ja nicht darum, welchem Wert bei „Güterkollisionen" der Vorzug zu geben ist, welcher Wert hinter dem anderen zurückzutreten hat, sondern nur darum, welches Gut den intensiveren Schutz verdient. Wenn beispielsweise das Bundesverfassungsgericht das Leben als „einen Höchstwert" bezeichnet 51 , ließe sich dagegen etwa einwenden, daß der Soldat auf den Schutz der Freiheit, nicht auf den Schutz des Lebens oder der Gesundheit vereidigt w i r d (§ 9 SG), daß also die Freiheit hier mit Billigung des Grundgesetzes 52 „Vorrang" vor dem Leben erhält. 53 Dagegen widerlegt das Beispiel nicht die These, daß kein Individualrechtsgut intensiveren Schutz 47
Vgl. Scheuner, W D S t R L 22 (1965), 43ff., 55; ders, DÖV 1971, 509; Rüfner, Festg. BVerfG II, S. 461 f. 48 Horst Ehmke, Wirtschaft und Verfassung. Karlsruhe 1961, S. 58f.; ders., W D S t R L 20 (1963), 82ff.; Forsthoff, Rechtsstaat im Wandel, S. 159. 49 Forsthoff, Rechtsstaat im Wandel, S. 132ff.; Hesse, Verfassungsrecht, S. 127f., 129; Scheuner, DÖV 1971, 509;F. Müller, Methodik, S. 49, 52ff., 65, 175f.; ders., Normstruktur und Normativität. Berlin 1966, S. 207ff, 216f.; Helmut Goerlich, Wertordnung und Grundgesetz. K r i t i k einer Argumentationsfigur des Bundesverfassungsgerichts. Baden-Baden 1973; Roellecke, Festg. BVerfG II, S. 42; Roßnagel, Grundrechte und Kernkraftwerke, S. 58; Schlink, Abwägung im Verfassungsrecht, S. 134 ff. u. pass. m.w.N. 50 Vgl. z.B. Forsthoff, Rechtsstaat im Wandel, S. 134ff., 178ff., 206ff. m.w.N. 51 BVerfGE 46, 160 (164). 52 Art. 73 Nr. 1; 87 a, b; 12 a: Daß die „Verteidigung" nicht nur der physischen Existenz der Individuen, sondern auch der freiheitlichen Ordnung des Gemeinwesens dient, w i r d hier als selbstverständlich vorausgesetzt. 53 Darin zeigt sich die Problematik jeder abstrakten Rechtsgüterabwägung: Genau betrachtet, steht hier ja nicht „Leben" gegen „Freiheit", sondern das individuelle Leben gegen die „Freiheit des Volkes", wie es in § 9 SoldatenG heißt, bzw. gegen die Freiheitlichkeit der gesamten Rechtsordnung.
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verdiene als das Leben. Aber wie ließe sich die These des Bundesverfassungsgerichts begründen? Zu den übrigen Schutzgütern der Grundrechte steht das Leben in einem logischen Überordnungsverhältnis. Alle Menschenrechte, soweit sie als subjektive Individualrechte zu verstehen sind, setzen voraus, daß das Subjekt dieser Rechte existiert. 54 Der Schutz des Grundrechts auf Leben geht deshalb allen anderen Grundrechten vor, denn mit dem Leben erlöschen diese als subjektive Rechte 55 . Die Gesundheit ist Funktion des Lebens; Freiheit, Gleichheit und Eigentum sind Rechte eines lebenden Menschen. Ebenso läßt sich die körperliche Unversehrtheit zumindest teilweise in ein logisches - nicht notwendig werthaltiges - Verhältnis zu anderen Grundrechten bringen. Wen Siechtum ans Bett fesselt, für den sind ζ. B. die Grundrechte auf Freiheit der Versammlung unter freiem Himmel, Freiheit der Person, Gleichheit des Zugangs zum öffentlichen Dienst oder Freizügigkeit in der Bundesrepublik trotz unverminderter Geltung völlig oder doch überwiegend obsolet. Ein Vorrang der Gesundheit vor dem Eigentum ist auf diese Weise schon schwieriger zu begründen. Zwar erscheint es als sachgerecht, einen Vorrang dort anzunehmen, wo die Gesundheit so stark beeinträchtigt ist, daß der Kranke nicht mehr in der Lage ist, sein Eigentum in irgendeiner Weise zu genießen, zumindest durch Verfügung darüber. Diese Rangstufung würde aber logisch zwingend nicht alle Funktionen des Eigentums erfassen. Hier bliebe ja nicht nur ein nicht mehr brauchbares Recht bestehen - der Eigentumsschutz - , sondern auch das tatsächlich im Eigentum des Betreffenden stehende Vermögen. Das Eigentumsrecht ist für ihn nicht völlig funktionslos, weil es das bereits erworbene Eigentum schützt. Auch wenn der Kranke sein Vermögen nicht mehr genießen kann, so ist es zumindest noch insofern von faktischer Bedeutung für ihn, als es derjenige Rechtsgüterbestand ist, der bei seinem Tode auf seine Erben übergeht. 56 Man könnte versuchen, weitere Fundamentalitätsverhältnisse logisch abzuleiten, etwa den Vorrang der Freiheit vor dem Eigentum: Wer nicht die Freiheit hat, durch Ausübung eines Berufs (Art. 12 GG) oder durch w i r t schaftliche Betätigung (Art. 2 I GG) Eigentum zu erwerben, dem nützt die Eigentumsbestandsgarantie nichts - es sei denn, er hat schon Eigentum. Damit ist die logische Unterordnung der Eigentums- oder die Freiheitsgarantie stark relativiert. Irgendwelches Eigentum hat fast jeder. Unter dieser Voraussetzung ist die Frage, ob Freiheit oder Eigentum das fundamen54
Vgl. Rüfner, Festg. BVerfG II, S. 462. Abgesehen von juristischen Personen und von der fortwirkenden Ausstrahlung des Persönlichkeitsrechts. 56 Man könnte daran denken, denselben Einwand auch gegen den Vorrang des Lebens vor dem Eigentum zu erheben. Dieser Einwand ist jedoch nicht stichhaltig, denn mit dem Tode hört das Eigentum auf, eine Position des Erblassers zu sein. 55
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talere Interesse ist, nicht mehr eine Frage der Logik, sondern der praktischen Bedürfnisse. - Die Freiheit der Person (Art. 2 I I 2 GG) ist logische Voraussetzung für die Ausübung einiger anderer Grundrechte, doch kann dieses Vorrangverhältnis durch technische Risiken kaum betroffen sein. Mit diesen Überlegungen dürfte schon das Maximum dessen erreicht sein, was sich an Rangstufungen logisch aus dem Grundgesetz ableiten läßt. Es muß nochmals betont werden, daß mit dieser Stufung der logischen Fundamentalität der Schutzgüter keine Wertordnung in dem Sinne begründet wird, daß das oberste Gut bei Güterkollisionen in jedem Fall Vorrang haben müßte. Das Postulat, dem jeweils fundamentaleren Interesse sei bei einer Interessenabwägung der Vorzug zu geben, ist auch jenseits dieser logischen Fundamentalitätsableitung allgemein begründbar. 57 Nur ist dann fraglich, welches Interesse das fundamentalere ist. Kriele fordert, man müsse bei möglichst realistischer Einschätzung der Lebenswirklichkeit ihre Bedingungsund Abhängigkeitsverhältnisse ins Auge fassen: Welche Interessenbefriedigung ist Grundlage und Voraussetzung für welche weitere Interessenbefriedigung? 58 Aber die Antwort hierauf läßt sich nicht abstrakt geben. Der Kampf um das moderne Recht ist nach Kriele zugleich eine geistige Auseinandersetzung um die Klärung der Fundamentalitätsverhältnisse. Weil dies zutrifft, kann die Fundamentalität eines Interesses aber nur insoweit ein verfassungsrechtlich verbindlicher Maßstab für die Intensität der Schutzpflicht sein, als die Wertentscheidung über die Fundamentalität des einen im Verhältnis zu einem anderen Interesse in die Verfassung eingegangen ist. Dies läßt sich abgesehen von der logischen Fundamentalität im Grundgesetz nicht feststellen. Somit bleibt die rechtlich verbindliche Klärung der Fundamentalitätsverhältnisse den zur Rechtsetzung berufenen Organen, also vornehmlich dem Gesetzgeber, überlassen. Nach weitergehender Differenzierung der Schutzwürdigkeit unterschiedlicher Rechtsgüter ist daher nicht in der Verfassung, sondern auf der Ebene des einfachen Rechts zu fahnden. 2. Die Unzulänglichkeit einer ordinalen Rangskala der Schutzgüter und die Unmöglichkeit ihrer vollständigen Herstellung Nicht einmal aus den logischen Fundamentalitätsverhältnissen läßt sich eine absolute Schutzrangordnung ableiten. Das Grundgesetz gibt dem Schutz der Menschenwürde durch die Stellung in Art. 11, durch die Unabänderlichkeit dieser Bestimmung (Art. 79 III) sowie durch die ausdrückliche 57
Vgl. Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, 2. Aufl. Berlin 1976, S. 334ff.; ders., Staatslehre, S. 46, 50ff.; ders., Recht und praktische Vernunft, S. 58f. 58 Recht und praktische Vernunft, S. 58f.
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Betonung der Schutzpflicht eine zentrale Bedeutung. 59 Die Menschenwürde steht aber nicht in einem logisch bestimmbaren Fundamentalitätsverhältnis zu den einzelnen Grundrechten. Man kann daher nicht annehmen, daß das fundamentalere Schutzgut auch dann in jedem Fall intensiveren Schutz beanspruchen kann, wenn das weniger fundamentale Gut auf eine solche Weise verletzt wird, die zugleich die Menschenwürde berührt. Begründet also die logische Fundamentalität, wie sie für das Verhältnis von Leben, körperlicher Unversehrtheit, Freiheit und Eigentum aufgezeigt wurde, keine ausnahmslos geltende Schutzrangordnung, so reicht sie auch aus anderen Gründen nicht aus, die gebotene Schutzintensität nach der „Je-desto-Formel" sozusagen „stufenlos" mit dem Umfang des potentiellen Schadens zu korrelieren. Zum einen ergibt sich aus dem Fundamentalitätsverhältnis noch nicht, um wieviel intensiver der Schutz des jeweils fundamentaleren Schutzguts zu sein hat. Auch wenn die Schutzgüter logisch einen unterschiedlichen Rang haben, so kann der Unterschied des Werts, der ihnen hinsichtlich des zu fordernden Schutzes zugemessen wird, bei rangverschiedenen Schutzgütern sehr gering, aber auch sehr groß sein. Die Rangverschiedenheit sagt hierüber nichts aus. 60 Zum anderen erfaßt die logisch begründete Ordinalskala der Schutzgüter nur einen Teilbereich des Problems. Nur für das Leben gibt sie nämlich eine absolute Fundamentalität an. Alle anderen Schutzgüter sind im Unterschied zum Leben einer unterschiedlich intensiven Beeinträchtigung fähig, und ein logischer Vorrang gegenüber anderen Schutzgütern läßt sich nur dann feststellen, wenn die Beeinträchtigungsintensität so stark ist, daß die Ausübung anderer Grundrechte verhindert wird. Beeinträchtigungen unterhalb dieses Intensitätsgrades führen dagegen nicht zu einem logischen Vorrang. Nicht bereits jede leichte oder mittlere Körperverletzung ist deshalb aus logischen Gründen als schwerwiegend gegenüber einer Freiheitsbeeinträchtigung oder Sachbeschädigung zu bewerten, sondern nur eine solche, die den Betroffenen daran hindert, von den in Betracht gezogenen Freiheiten oder Sachen Gebrauch zu machen. Welches von mehreren Schutzgütern intensiveren Schutz verdient, läßt sich deshalb nicht abstrakt feststellen, sondern nur unter Berücksichtigung der potentiellen Beeinträchtigungsintensität. Deshalb wäre es auch illusorisch, eine vollständige Ordinalskala der Schutzgüter durch empirische Erfassung subjektiver Bewertungen erstellen 59 BVerfGE 6, 32 (36); Düng, in: Maunz / Dürig, Art. 1 Rdnr. 3f.; Rüfner, Festg. BVerfG II, S. 462. 60 Zur K r i t i k an der Verwendung von Ordinalskalen bei der verfassungsrechtlichen Güterabwägung vgl. die überzeugenden Ausführungen von Schlink, Abwägung, S. 136 - 138.
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zu wollen. Ein solches Projekt wäre schon aus logischen Gründen zum Scheitern verurteilt. 6 1 Um das mit der „Je-desto-Formel" beschriebene Korrelationsprogramm zu realisieren, reicht andererseits eine „Güterabwägung im Einzelfall", wie sie von der Rechtsprechung und einem Teil der Literatur für „Grundrechtskollisionen" postuliert w i r d 6 2 , nicht aus. Zwar kommt es auch hier auf die Umstände des Einzelfalls an, nämlich auf die im konkreten Fall möglichen konkreten Schäden, also nicht auf die abstrakte Beeinträchtigung grundrechtlicher Schutzgüter, sondern auf ihre einen konkreten Grundrechtsträger in einer konkreten Situation mit einer bestimmten Intensität treffenden Beeinträchtigung. Aber diese konkrete Beeinträchtigung bedarf der quantitativen Bewertung, wenn man den gebotenen Sicherheitsstandard von ihrer Größe abhängig machen will. Demnach wäre es erforderlich, eine KardinaZskala der Schutzgüter zu erstellen, also eine Skala, welche die unterschiedliche Bewertung in bezug auf den gebotenen Schutz nicht der abstrakten Rangfolge der Schutzgüter nach, sondern unter Berücksichtigung sowohl der quantitativen Wertunterschiede zwischen den einzelnen Gütern als auch einer Differenzierimg zwischen unterschiedlichen Beeinträchtigungsfintensitäten erfaßt. Diese Skala müßte also die Rangstelle der Rechtsgüter nicht als solche, sondern unterteilt in Beeinträchtigungsintensitäten quantitativ verzeichnen. 3. Subjektive Begründung einer Kardinalskala der Schutzgüter unter Berücksichtigung der Beeinträchtigungsintensität? Wie groß das Ausmaß des Schadens ist, läßt sich in jedem konkreten Fall beschreiben. W i l l man das Schadensausmaß mit dem anderer Schadensfälle vergleichen, w i l l man die gebotene Intensität des Schutzes von der Größe des potentiellen Schadens abhängig machen, dann muß man den Schaden anhand eines feststehenden Vergleichsmaßstabes quantifizieren. Man muß den Schaden also bewerten. Diese Bewertung ist dort kein Problem, wo es ein rechtlich verbindliches oder allgemein anerkanntes Wertungskriterium gibt. Bei der Schädigung restituierbarer oder substituierbarer Güter liegt ein solches Wertungskriterium vor: der Wiederherstellungspreis oder der Wiederbeschaffungswert für beschädigte Sachen ausgedrückt in Währungseinheiten oder der zum Ausgleich sonstiger Vermögensschäden erforderliche Geldbetrag. Könnte man den Geldwert jeder beliebigen Beeinträchti61 Zur näheren Begründung sei verwiesen auf Kenneth J. Arrow, Social Choice and Individual Values. 2. Aufl., New York, London, Sydney 1963 (Neudruck 1966), und auf die Darstellung von Arrows Unmöglichkeitssatz bei Schlink, Abwägung, S. 160 ff. m.w.N. 6 2 Vgl. dazu Rüfner, Festg. BVerfG II, S. 465 ff.
Β. Grenzen der Quantifizierbarkeit und Wertungskompetenz
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gung grundrechtlich geschützter Güter objektiv bestimmen, wäre die Korrelation von Wahrscheinlichkeitsgrad und Schadensumfang kein Problem. In bezug auf immaterielle Güter ist dies jedoch nicht ohne weiteres möglich. Sie haben keinen Marktpreis; ihr Wert hat keine intersubjektiv klar erkennbare Quantität. Zwar lassen sich auch immaterielle Güter in Geldeinheiten bewerten, wie die Praxis des Unfallversicherungswesens oder der im Schadensersatzrecht verwendeten Schmerzensgeldtabellen zeigt. Aber diese Bewertungen beruhen auf Gesichtspunkten, die auf die staatliche Schutzpflicht nicht übertragbar sind. Gibt es also Bewertungskriterien, die eine objektive Quantifizierung des Schadens ermöglichen? Kommt es auf die Objektivität der Bewertimg überhaupt an, oder ist vielmehr auf die subjektive Einschätzung der Betroffenen abzustellen? Für eine subjektive Schadensbewertung könnte sprechen, daß die einem Risiko ausgesetzten Schutzgüter ja Rechtsgüter eines je betroffenen Individuums sind. Der Schutz dieser Güter dient dem Schutz des betroffenen einzelnen, und wie intensiv der einzelne von einem Schaden betroffen ist, das hängt auch davon ab, welche Bedeutung das beeinträchtigte Gut für ihn persönlich hat. Deshalb kann die Intensität der Beeinträchtigung, die Zumutbarkeit einer konkreten Belastung, nur im Hinblick auf die konkreten Verhältnisse beurteilt werden, aus denen sich die Bedeutung des Verlustes für den Betroffenen ergibt. Von dieser tatsächlichen Feststellung des konkreten individuellen Beeinträchtigungsausmaßes, der deskriptiven Angabe der konkreten Beeinträchtigung, ist aber die quantitativ-vergleichende Bewertung dieser Beeinträchtigung zu unterscheiden. Würde man hier auf die subjektive Bewertung des Betroffenen abstellen, dann könnte dieser über die Zumutbarkeit der Beeinträchtigung und damit über den Umfang des grundrechtlichen Schutzes selbst entscheiden. Wie weit der Grundrechtsschutz reicht, ist aber eine objektiv zu entscheidende Rechtsfrage. Man könnte deshalb auf die Idee kommen, subjektive Bewertungen zu „objektivieren", indem man etwa demoskopisch ermittelte subjektive Kardinalskalen zu einer intersubjektiven Kardinalskala bewerteter Beeinträchtigungsintensitäten agglomeriert. Wie Schlink gezeigt hat, ist jedoch die Erstellung einer solchen Skala auf rational nachvollziehbare Weise nicht möglich 63 , insbesondere deshalb, weil die Freiheit der Setzung von Zwekken, in bezug auf welche die Beeinträchtigung eines Gutes bewertet werden könnte, der Erstellung einer konstanten Kardinalskala und eines allgemeinen intersubjektiven Nutzenvergleichs entgegensteht.64 Denkbar wäre es zwar, die Bewertung von Schutzgutbeeinträchtigungen auf einen einzigen Zweck zu beziehen, also zu fragen, wie schwer die Beeinträchtigung im Hin63 64
Abwägung im Verfassungsrecht, S. 158ff. m.w.N. Vgl. Schlink, S. 167 mjw.N.
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§ 9 Der relationale Gefahrenbegriff als Maßstab der Schutzpflicht
blick auf die Verwirklichung dieses Zweckes wiegt. Dann hätte man zwar einen Maßstab, der den interindividuellen Schadensvergleich ermöglichte, aber eine so erstellte Skala wäre rechtlich nur verwendbar, wenn sich die Zweckreduktion rechtlich begründen ließe. Gibt es einen solchen Zweck, auf den sich alle individualrechtlichen Schutzgüter rechtlich beziehen? Ein solcher Zweck scheint die freie Entfaltung der Persönlichkeit zu sein, die leitmotivisch über allen Grundrechten steht. Sind nicht alle einzelnen Grundrechte zu dem Zweck gewährleistet, die freie Entfaltung der Persönlichkeit zu sichern? 65 Diese Frage braucht hier nicht beantwortet zu werden. Auch wenn man sie bejaht, hilft das nicht weiter. Die Entfaltung der Persönlichkeit ist ein so abstrakter Zweck, daß er Differenzierungen in der Bewertung verschiedener Schutzgutbeeinträchtigungen erst ermöglicht, wenn er in Unterzwecke aufgegliedert wird. Je nachdem, auf welchen Unterzweck man die Bewertung bezieht, kann sie unterschiedlich ausfallen. W i l l man zu einer einheitlichen Skala kommen, kann man nicht einfach einen von vielen Unterzwecken verbindlich machen, weil die Wahl der Zwecke gerade zur Entfaltung der Persönlichkeit gehört. Abgesehen von der faktischen und methodischen Unmöglichkeit, eine allgemeine intersubjektive Wertskala durch Summierung individueller subjektiver Skalen auf rational überprüfbare Weise zu erstellen, bliebe eine solche Skala doch eine Skala subjektiver Bewertungen. Zwar handelte es sich nicht mehr um individuelle Werturteile, sondern um statistische Mittelwerte aus einer Vielzahl individueller Bewertungen. Aber auch ein statistischer Mittelwert beruht auf subjektiven Wertungen. Er bezeichnet nicht einen objektiv geltenden Wert, sondern günstigstenfalls eine in der Gesellschaft vorherrschende Wertüberzeugung. Wieso aber sollte dann die Ansicht der Masse von der Bedeutung einer Schutzgutbeeinträchtigung oder das statistische Mittel aus weit divergierenden Ansichten den Maßstab dafür abgeben, was dem einzelnen zugemutet werden kann, der ja nicht als Teil einer Masse oder als statistisches Eingangsdatum durch das Grundgesetz geschützt wird, sondern als Individuum? Für den Betroffenen sind die Wertungen anderer auch dann, wenn es sich um Wertungen der Mehrheit handelt und wenn sie im intersubjektiven Gewand demoskopischer Erhebungen daherkommen, zunächst subjektive Setzungen, die sich, sofern sie Verbindlichkeit beanspruchen, zu rechtfertigen haben: entweder durch den Nachweis objektiver Geltung der behaupteten Wertmaßstäbe oder durch den Nachweis der Kompetenz zu verbindlicher heterogener Wertsetzung.
65
Vgl. z.B. BVerfGE
7, 198 (205); Dürig, in: Maunz / Dürig, Art. 2 Rdnr. 1 - 3 .
Β. Grenzen der Quantifizierbarkeit und Wertungskompetenz
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4. Objektive Schadensbewertung aufgrund der Beeinträchtigungsintensität Relativ exakt lassen sich - wie schon gesagt - Schäden an restituierbaren oder substituierbaren Gütern sowie Vermögensschäden quantifizieren. Wertungsprobleme gibt es hauptsächlich bei immateriellen Schäden. So können beispielsweise bei Personenschäden die materiellen Folgekosten verhältnismäßig unproblematisch quantifiziert werden: Heilbehandlungsoder Beerdigungskosten, Unterhaltskosten für Hinterbliebene, Renten bei Invalidität u.s.w. Aber mit dieser Quantifizierung wird nur ein Teil des Schadens erfaßt, nämlich nur die materiellen Folgen der Verletzung eines im Rechtssinne „immateriellen" Gutes. Die Beeinträchtigung des eigentlichen Schutzguts, des Lebens oder der Gesundheit, hat keinen Preis und kann auf diese Weise nicht quantifiziert werden. Somit ist nach verfassungsrechtlichen Kriterien für die Bewertung immaterieller Schäden zu fragen. Diese Frage soll zunächst in bezug auf Schäden unterschiedlicher Intensität an einem bestimmten Rechtsgut erörtert, dann aber auf Schäden an unterschiedlichen Rechtsgütern und schließlich auf Schäden verschiedener Rechtssubjekte ausgedehnt werden. Doch zuvor noch eine relativierende Bemerkung zur Quantifizierimg materieller Schäden: Zwar erscheint die Möglichkeit der Bestimmung des Schadensausmaßes in Währungseinheiten als sehr objektiv und exakt. Die Intensität der Betroffenheit des Grundrechtsträgers erfaßt man aber nur dann treffend, wenn man die Möglichkeit des Schadensersatzes berücksichtigt: In dem Umfang, in dem durch Schadensersatz der materielle Schaden tatsächlich ausgeglichen wird, entfällt die Beeinträchtigung. Bei einer exakten Beurteilung des Risikos ist also auch in Rechnung zu stellen, wie groß die Wahrscheinlichkeit ist, daß im Schadensfalle Ersatzforderungen realisiert werden können. Ist der Schadensersatz - durch Versicherungen oder andere Arten der Deckungsvorsorge - sichergestellt, mindert sich insofern das Ausmaß des potentiellen Schadens. a) Differenzierung nach der Beeinträchtigungsintensität in bezug auf ein Schutzgut In bezug auf ein bestimmtes grundrechtliches Schutzgut lassen sich unterschiedliche Beeinträchtigungsintensitäten in der Regel eindeutig unterscheiden. Zwischen dem vollständigen Entzug der jeweiligen Freiheit, der vollständigen Vernichtung des jeweiligen Schutzgutes einerseits und der völligen Integrität des Schutzguts andererseits sind in der Regel unterschiedliche Intensitäten der Beeinträchtigung klar zu erkennen. 66 Freilich 66 Ausgenommen ist das Leben, das entweder besteht, oder ganz vernichtet wird. Die Vorstufen zur Verletzung des Lebens sind im Grundgesetz durch ein eigenes Grundrecht, das Recht auf körperliche Unversehrtheit, geschützt.
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§ 9 Der relationale Gefahrenbegriff als Maßstab der Schutzpflicht
sind graduelle Unterscheidungen noch längst keine präzisen Quantifizierungen. Eine exakte quantitative Erfassung des jeweiligen Schadensumfangs, der Beeinträchtigungsintensität, etwa in Prozent des Vollentzugs, dürfte faktisch kaum möglich sein. Wären solche Angaben möglich, so sagten sie über die Intensität der Beeinträchtigung im Rechtssinne noch nichts Verbindliches aus: Je knapper ein Gut, desto größer sein „Grenznutzen" 67 und damit sein Wert für die Befriedigung menschlicher Bedürfnisse, so wissen wir aus der wirtschaftswissenschaftlichen Werttheorie 68 . Dieser Gedanke ist über den Umgang mit wirtschaftlichen Gütern hinaus verallgemeinerungsfähig. Auch die Freiheit w i r d als kostbarer empfunden, je mehr sie eingeschränkt ist. Man kann also davon ausgehen, daß die Beeinträchtigung grundrechtlicher Schutzgüter den Betroffenen nicht proportional zum Umfang des Schutzgutentzugs belastet, sondern daß die Belastung bei einer Beeinträchtigimg des Schutzguts i n Randbereichen kaum gespürt wird, aber überproportional anwächst, je mehr sich die Beeinträchtigung dem Kernbereich oder gar dem Vollentzug des Schutzguts nähert. Diese These beruht zwar auf einem subjektivistischen Ansatz, nicht aber auf beliebigen subjektiven Wertungen, sondern auf empirisch überprüfbaren Sachgesetzlichkeiten. Diese sind allerdings so allgemein, daß sie eine exakte Quantifizierung von Beeinträchtigungsintensitäten nicht ermöglichen. Man muß sich daher mit ziemlich pauschalen Angaben begnügen: Darüber, ob die Beeinträchtigung eines Schutzgutes in concreto marginal, schwach, mittelmäßig, schwerwiegend oder äußerst schwerwiegend ist, w i r d sich oft Konsens erzielen lassen. Für genauere Differenzierungen dürfte es regelmäßig an der Evidenz fehlen, ohne die sie nicht mehr als objektive Schadensfeststellung, sondern als subjektive Schadensbewertung erscheinen. I n vielen Fällen ist es aber schwierig, selbst zu so groben Differenzierungen auf rational nachvollziehbare Weise zu kommen, nämlich überall dort, wo es kein faktisches Kontinuum von Beeinträchtigungsintensitäten gibt, sondern (auch) unterschiedliche Arten von Beeinträchtigung. Dies gilt insbesondere für die körperliche Unversehrtheit, deren Verletzung durch die Realisierung technischer Risiken vor allem in Betracht zu ziehen ist. Als Kriterien für eine Bewertung des Beeinträchtigungsumfangs kommen dann in Betracht: 1. Die Fundamentalität der beeinträchtigten Funktion für weitere Teilfunktionen des Schutzguts. 67 Umgekehrte Formulierung des ersten Gossenschen Gesetzes, vgl. Hermann H. Gossen, Entwicklung der Gesetze des menschlichen Verkehrs und der daraus fließenden Regeln für menschliches Handeln. 3. Aufl. Berlin 1927, S. 4f.; dazu Karl Häuser, Volkswirtschaftslehre, Frankfurt/M. 1967, S. 147. 68 Vgl. Andreas Paulsen, Allgemeine Volkswirtschaftslehre I, 8. Aufl. Berlin 1968, S. 140 ff.
Β. Grenzen der Quantifizierbarkeit und Wertungskompetenz
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2. Eine Beeinträchtigung, welche die Menschenwürde tangiert, wiegt prinzipiell schwerer als eine solche, bei der das nicht der Fall ist. 6 9 Dieser Grundsatz gilt jedoch nicht ausnahmslos, wie schon die Möglichkeit zeigt, daß nicht jede Tötung eines Menschen, etwa bei einem Unfall, zugleich seine Menschenwürde verletzt. 70 Auch unter dem Aspekt der Menschenwürde kann man von der Intensität der Beeinträchtigung nicht absehen. Wird durch die Verletzimg eines Schutzgutes die Menschenwürde beeinträchtigt, zeigt dies regelmäßig eine besondere Beeinträchtigungsintensität an, nicht aber im Sinne der Verletzung eines abstrakten Höchstwertes. Andernfalls könnte man zu völlig unbilligen Gewichtungen kommen, wenn man folgenden Punkt bedenkt: 3. Handelt es sich um eine dauernde oder vorübergehende Beeinträchtigung? Grundsätzlich wiegt ein bleibender Schaden schwerer als ein behebbarer, aber auch dieser Grundsatz gilt nicht ausnahmslos und abstrakt, sondern unbedingt nur in bezug auf Schäden ansonsten gleicher Intensität. Ein geringfügiger Dauerschaden, etwa eine kleine Narbe, ist oft weniger gravierend als eine schwere vorübergehende Krankheit. Soweit sich Fundamentalitätsverhältnisse nicht logisch nachweisen oder Intensitätsgrade nicht objektiv feststellen lassen 71 , sind derartige Kriterien plausibel, aber nicht zwingend. Sie können eine Differenzierung in der Bewertung als sachgerecht rechtfertigen, machen sie aber nicht zum Gebot der Verfassung. b) Rechtsgutübergreifende
Quantifizierung
Noch schwieriger ist es, Beeinträchtigungen unterschiedlicher Rechtsgüter auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen. Auch hier kommen die schon erwähnten Bewertungskriterien i n Betracht. Außerdem könnte man daran denken, ob nicht unersetzliche Güter Vorrang vor ersetzbaren oder wiederherstellbaren haben müßten oder ob Personenschäden schwerer wiegen als Sachschäden. Solche Postulate sind zwar abstrakt plausibel. 72 Konkret 69 Dies folgt aus der zentralen Bedeutung, die das Grundgesetz dem Schutz der Menschenwürde gibt, Art. 11, 79 III. Vgl. Rüfner, Festg. BVerfG II, S. 462. 70 Schwabe, Grundrechtsdogmatik, S. 230 f f , trennt Art. 2 I I 1 völlig von Art. 11 GG, während das BVerfG anscheinend in der Tötung zugleich die Verletzung der Menschenwürde sieht, vgl. BVerfGE 39, 1 (41). Wie hier Detlev Merten, Gutachtliche Stellungnahme zu §§ 41 II, 44 des Musterentwurfs eines einheitlichen Polizeigesetzes, Maschinenschrift, vervielfältigt, 1975, S. 25, und Peter Lerche, Rechtsgutachten zu § 41 Abs. 2 und § 44 Musterentwurf eines einheitlichen Polizeigesetzes. Maschinenschrift, vervielfältigt, 1975, S. 32, zit. nach Schwabe, Grundrechtsdogmatik, S. 231. 71 z.B. Schürfwunde am Arm - Fleischwunde - Verlust des Arms; Verlust des kleinen Fingers - Verlust des Daumens; leichter Husten - chronische Bronchitis. Dagegen chronische Bronchitis oder gebrochener Arm? Verlust der Zeugungsfähigkeit oder eines Beins? 72 Vgl. Rüfner, Festg. BVerfG II, S. 462.
12 Murswiek
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§ 9 Der relationale Gefahrenbegriff als Maßstab der Schutzpflicht
fragt sich aber, ob zum Beispiel eine leichte Körperverletzung ein größerer Schaden ist als die Zerstörung wertvoller Sachgüter. Der Betroffene wird den Verlust eines beträchtlichen Vermögens meist als schwerere Beeinträchtigung empfinden als eine vorübergehende Erkrankung oder sogar als einen nicht allzu sehr behindernden bleibenden Körperschaden. Abgesehen von logischen und funktionalen Fundamentalitätsverhältnissen ist ein quantitativer Vergleich der Beeinträchtigung unterschiedlicher Rechtsgüter nicht möglich. c) Rechtssubjektübergreifende
Quantifizierung
Vergleichbare Wertungsprobleme wirft teilweise die quantitative Erfassung des Schadenspotentials in bezug auf eine Vielzahl Betroffener auf, nämlich dann, wenn es um nicht vergleichbare Beeinträchtigungen des gleichen Rechtsguts oder um Beeinträchtigungen unterschiedlicher Rechtsgüter geht. Hier kann sich zusätzlich die Frage stellen, ob die auf individueller Ebene geltenden logischen und funktionalen Fundamentalitätsverhältnisse quantitativ überholt werden können. Während z.B. bezogen auf den einzelnen keine noch so gravierende Beeinträchtigung eines oder mehrerer Schutzgüter so schwer wiegen kann wie die Verletzung des Lebens, sofern sie nicht auf eine die Menschenwürde zutiefst kränkende Weise geschieht, fragt sich hier, ob sich die Schädigung etwa des Eigentums einer Vielzahl von Menschen zu einem so großen Gesamtschaden summieren kann, daß dieser schwerer wiegt als der Tod eines Menschen, und zwar unabhängig davon, ob durch die Schädigung von Sachgütern wiederum Menschenleben gefährdet werden. Eine Entscheidimg im Sinne logischer Fundamentalität ist hier nicht mehr möglich. Allein die Frage verdeutlicht nochmals, daß eine rechtsgutübergreifende Schadensquantifizierung nicht möglich ist. Man kann zwar feststellen, ob ein Sachschaden klein oder groß, ein Körperschaden leicht oder schwer ist, nicht jedoch Sach- und Körperschaden auf den gemeinsamen Nenner eines großen, kleinen oder mittleren absoluten Schadens bringen. Ein absoluter Schadensbegriff ist nicht möglich, sondern nur relative Aussagen in bezug auf relative Schäden, also z.B. eine Aussage darüber, daß der Gesamtschaden größer wird, wenn zum Körperschaden noch ein Sachschaden hinzukommt. Unproblematisch quantifizierbar sind dagegen Schäden gleicher Größe bei einer Vielzahl von Rechtssubjekten. Gleichheit des individuellen Schadensumfangs ist jedenfalls dort feststellbar, wo die Rechtsordnung die Gleichbewertung des Schadens gebietet. So kommt im Rahmen der staatlichen Gefahrenabwehr nur eine Gleichbewertung des individuellen Schadenspotentials in Betracht, wenn es um den Schutz des Lebens geht, denn jeder Mensch hat den gleichen Anspruch auf Schutz seines Lebens. Das kol-
Β. Grenzen der Quantifizierbarkeit und Wertungskompetenz
179
lektive Schadenspotential kann demnach mit der Zahl der potentiell Betroffenen angegeben werden. Bei der kollektiven Quantifizierung anderer Schutzgüter gilt prinzipiell dasselbe. Da es hier jedoch auf eine Beeinträchtigungsintensität im Einzelfall ankommt, ist eine kollektive Schadensquantifizierung nur um den Preis einer kräftigen Komplexitätsreduktion zu erreichen. Diese ist für Risikoabschätzungen unumgänglich; sie macht die Bewertung des Schadenspotentials zugleich weniger zwingend. II. Die Wertungskompetenz
des Gesetzgebers
Wie sich gezeigt hat, läßt sich zwar das in der „Je-desto-Formel" ausgedrückte Postulat, das Sicherheitsniveau sei in Relation zum Ausmaß des potentiellen Schadens zu bestimmen, verfassungsrechtlich begründen. Jedoch ist dieses Korrelationsprogramm auf der Verfassungsebene nur mit großen Einschränkungen realisierbar, da die Verfassung nur wenige Kriterien für die Beurteilung des Schadensumfangs zur Verfügung stellt. Eine durchgehende rechtsgutübergreifende Schadensquantifizierung ist anhand dieser Kriterien nicht durchführbar. Vielmehr sind nur wenige, mehr oder weniger grobe Unterscheidungen aufgrund von logischen oder funktionalen Fundamentalitätsverhältnissen zwingend begründbar. Diese Unterscheidungen geben aber nur wenige rechtsgutübergreifende, im übrigen auf ein bestimmtes Rechtsgut bezogene Intensitätsgrade an, in keinem Fall aber exakte Quantitäten. Mit Bestimmtheit kann man z.B. sagen, daß - sofern nicht die Menschenwürde tangiert ist - die Tötung eines Menschen schwerer wiegt als die intensivste Beeinträchtigung eines oder auch aller seiner anderen Schutzgüter und daß die Beeinträchtigimg der Gesundheit im Grenzfall schwerer wiegt als die noch so intensive Beeinträchtigung von Freiheit oder Eigentum. Wie weit diese Beeinträchtigungsintensitäten aber auseinander liegen, um wieviel intensiver also der Schutz im einen gegenüber dem anderen Fall zu sein hat, ist damit nicht gesagt. An die korrelative Zuordnung von Schadenspotential und zulässigem Wahrscheinlichkeitsgrad muß man also zumindest auf der Verfassungsebene bescheidenere Ansprüche stellen als sie mit der „Je-desto-Formel" erhoben werden. Der von Verfassungs wegen gebotene Mindestsicherheitsstandard läßt sich deshalb kaum genauer formulieren als etwa so: Die mangels einer besonderen Legitimation im öffentlichen Interesse zulässige gesetzliche Einschränkung der Sicherheit w i r d durch die Gefahrenschwelle bestimmt. Eine hiernach auszuschließende Gefahr liegt bei geringem Schadenspotential vor, wenn der Schadenseintritt „wahrscheinlich" ist. Steht das Leben eines Menschen auf dem Spiel oder ein vergleichbar großes Schadenspotential, begründet schon eine „entfernte Wahrscheinlichkeit" die Gefahr. In bezug auf Schäden mittlerer Größe reicht eine mittlere Wahrscheinlichkeit aus. Sehr schwerwiegende bleibende Körperschäden reichen an Intensität nahe an die Beein12*
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§ 9 Der relationale Gefahrenbegriff als Maßstab der Schutzpflicht
trächtigung des Lebens heran, während Sachschäden auf der individualrechtlichen Ebene immer weit weniger schwer wiegen. Für die Beurteilung, wann ein Körper- oder Sachschaden schwerwiegend oder weniger schwerwiegend ist, kann nur auf die bereits genannten Bewertungskriterien Bezug genommen werden. Aus diesen ergeben sich nur grobe Orientierungspunkte, die der Gesetzgeber bei der Normierung von Sicherheitsstandards nicht außer acht lassen darf. Mangels genauerer verfassungsrechtlicher Maßstäbe ist der Gesetzgeber ansonsten in seiner Entscheidung nicht gebunden. Freilich ist das Problem der Schadensbewertimg und der Differenzierung der Schutzintensität im Verhältnis zum Schadenspotential damit nicht erledigt. Ein Bedürfnis nach weitergehender Differenzierung ist offenbar vorhanden, da die möglichen Schadenspotentiale in ihrem Ausmaß weit auseinanderklaffen können. Scheitert diese Differenzierung auf der Verfassungsebene daran, daß objektive Kriterien für die Bewertung von Beeinträchtigungen unterschiedlicher Art und für die quantitativ genaue Erfassimg unterschiedlicher Beeinträchtigungsintensitäten nicht zur Verfügung stehen und demnach nur subjektive Bewertungen diese Quantifizierung ermöglichen, so fragt sich, wer die Kompetenz hat, seine Bewertung des Beeinträchtigungsumfangs allgemein verbindlich zu machen. Diese Kompetenz kommt in erster Linie dem Gesetzgeber zu, der die Freiheitssphären der Individuen gegeneinander abzugrenzen und dabei auch das Maß des zumutbaren Risikos zu bestimmen hat. 7 3 Im Rahmen der von der Verfassung vorgegebenen Orientierungsmarken kann der Gesetzgeber für unterschiedliche Schadenspotentiale unterschiedliche Eintrittswahrscheinlichkeiten zulassen. Dabei kann die „Je-desto-Formel" angesichts der weitgehenden Ungebundenheit bei der Bewertung der Schadenspotentiale nicht mehr als eine Richtschnur sein. Abgesehen von den wenigen zwingenden materiellen Vorgaben für die Bewertung des Schadensumfangs, die den Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers begrenzen, ist die gesetzliche Differenzierung des Sicherheitsstandards im Hinblick auf das Schadenspotential nur dann verfassungswidrig, wenn sie gegen das Willkürverbot des Art. 3 I GG verstößt. Im Rahmen seines politischen Gestaltungsspielraums kann der Gesetzgeber auch die Bedeutung der wirtschaftlichen Interessen des Risikoverursachers bei der Normierung des Sicherheitsstandards berücksichtigen. Inwieweit die Interessen des - potentiellen - Störers den Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers begrenzen, also zwingend zu berücksichtigen sind, ist später zu untersuchen. 74 Aufgabe des Gesetzgebers ist es also, die notwendige Korrelation von Schadenspotential und zulässiger Eintrittswahrscheinlichkeit zu konkreti73 Vgl. für die Entscheidung von „Grundrechtskonflikten" Rüfner, Festg. BVerfG II, S. 47Iff. 74 s.u. § 17 A.
Α. Die Pflicht zum „dynamischen Rechtsgüterschutz"
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sieren. Eine über die verfassungsrechtlichen Mindestanforderungen hinausgehende Differenzierung erscheint dabei als wünschenswert, ist aber nicht zwingend geboten. § 10 Pflicht zum „dynamischen Rechtsgüterschutz"? Im Kalkar-Beschluß hatte das Bundesverfassungsgericht sich mit der Frage zu befassen, ob § 7 I I Nr. 3 AtG dem Bestimmtheitsgebot genügt. Diese Vorschrift macht die Genehmigung einer kerntechnischen Anlage von der Voraussetzung abhängig, daß die „nach dem Stand von Wissenschaft und Technik erforderliche Vorsorge gegen Schäden" getroffen ist. Das Bundesverfassungsgericht rechtfertigt das Fehlen einer gesetzlichen Konkretisierung dieses sehr allgemein formulierten Sicherheitsstandards damit, daß die Vorschrift einem „dynamischen Grundrechtsschutz" oder - wie der Senat auch präziser formuliert - einem „dynamischen Rechtsgüterschutz" diene.1 Mit der Anknüpfung an den jeweiligen Stand von Wissenschaft und Technik lege das Gesetz die Exekutive normativ auf den „Grundsatz der bestmöglichen Gefahrenabwehr und Risikovorsorge" fest. Nur eine laufende Anpassung der für eine Risikobeurteilung maßgeblichen Umstände an den jeweils neuesten Erkenntnisstand vermöge diesem Grundsatz hier zu genügen. Diese Anpassung zu leisten, sei die Exekutive besser als der Gesetzgeber in der Lage. 2 Die relativ unbestimmte Fassimg des § 7 I I Nr. 3 AtG ist hiernach gerechtfertigt, weil sie dem dynamischen Schutz rechtlicher Schutzgüter, nämlich dem jeweils bestmöglichen Schutz dient. Ob der Staat aber auch verpflichtet ist, die jeweils „bestmögliche Gefahrenabwehr und Risikovorsorge" zu leisten und in diesem Sinne „dynamischen Rechtsgüterschutz" zu bieten, hat der Senat nicht entschieden.3 Der Beschluß ist jedoch von manchen in diesem Sinne verstanden worden. 4 Gibt es also eine verfassungsrechtliche Pflicht zum „dynamischen Grundrechtsschutz"? A. Die Pflicht zum „dynamischen Rechtsgüterschutz" und ihre Grenze
Eine verfassungsrechtliche Pflicht, den Schutz der grundrechtlichen Schutzgüter dynamisch zu optimieren, kann von vornherein nur dort gege1
BVerfGE 49, 89 (137 bzw. 140). Ebd., S. 137ff., insb. 139f. 3 Auch aus dem Mühlheim-Kärlich-Beschluß des Ersten Senats, BVerfGE 56, 30 (58 f.), ergibt sich insoweit nichts anderes. 4 Vgl. z.B. Andreas von Schoeler, damals Parlamentarischer Staatssekretär im Bundesministerium des Innern, Umwelt Nr. 89 v. 8.6.1982, S. 29; Benda, in: Blümel / Wagner (Hrsg.), Technische Risiken und Recht, S. 6 („Anspruch auf Risikominimierung"); Ossenbühl, DÖV 1981, 4 („jedenfalls zum Teil ... verfassungskräftig"). 2
Pflicht zum „dynamischen Rechtsgüterschutz"
ben sein, wo überhaupt eine Pflicht zum Schutz besteht. Insoweit kann auf das verwiesen werden, was über die staatlichen Schutzpflichten und ihre Grenzen bereits gesagt wurde. Woraus aber kann die Pflicht zur Optimierung dieses Schutzes folgen? Unterläßt es der Gesetzgeber, gezielte oder ungezielte Beeinträchtigungen grundrechtlicher Schutzgüter durch Dritte zu untersagen, schränkt er dadurch das betreffende Grundrecht ein. Er ist zum Schutz dieser Güter durch Eingriffs- beziehungsweise Risikoverursachungsverbote verpflichtet, soweit die verfassungsmäßigen Einschränkungsvoraussetzungen nicht vorliegen. Insofern besteht kein Unterschied zur Einschränkung von Grundrechten zugunsten staatlicher Eingriffe. Ob die staatliche Exekutive oder ob Dritte zu Eingriffen ermächtigt werden - in jedem Fall sind die Einschränkungsvoraussetzungen zu beachten. Sind sie erfüllt, besteht zu einer „Dynamisierung des Grundrechtsschutzes" kein Anlaß. Ein verfassungsrechtliches Gebot zum „dynamischen Grundrechtsschutz" im Sinne der Pflicht zur Minimierung zunächst erlaubter Rechtsgutbeeinträchtigungen oder Risiken kommt demnach nur insoweit in Betracht, als die anfangs erfüllten Einschränkungsvoraussetzungen im Laufe der Zeit entfallen. Ein Gesetz ist nur dann eine wirksame Grundlage für einen Eingriff, wenn es nicht nur im Zeitpunkt seines Erlasses, sondern auch im Zeitpunkt seiner Anwendung verfassungsmäßig ist. 5 Woraus aber kann sich eine nachträgliche Verfassungswidrigkeit ergeben? Ob die Voraussetzungen für die Einschränkung von Grundrechten erfüllt sind, hängt auch von tatsächlichen Umständen ab, die sich i m Laufe der Zeit ändern können, sowie vom ebenfalls zeitbedingten Stand der Kenntnis relevanter Fakten. Dies gilt vor allem für das Erfordernis der Verhältnismäßigkeit des Eingriffs im Hinblick auf den gesetzlichen Zweck. Der Gesetzgeber kann die Geeignetheit, die Erforderlichkeit und die Proportionalität der Einschränkung nämlich nur aufgrund von - notwendigerweise mit Ungewißheit belasteten - Prognosen über die Wirkungen der gesetzlichen Regelungen oder die Entwicklung der relevanten Umstände beurteilen. 6 Folgende Konstellationen kommen in Betracht 7 : 1. Das Ziel, zu dessen Erreichung die Einschränkung dient, wird aufgegeben. Dann verliert auch der Eingriff seine Berechtigung. 5 Michael Kloepfer, Vorwirkung von Gesetzen. München 1974, S. 55, und der Staat 13 (1974), 459, fordert die „Zeitgerechtigkeit" von Gesetzen. Vgl. auch Grabitz, AöR 98 (1973), 573. 6 Zur legislativen Prognose vgl. BVerfGE 25, 1 (12 f.) - Mühlengesetz; 50, 290 (331 f f , 377f.) - Mitbestimmung m.w.N.; Ossenbühl, in: Festg. BVerfG I, S. 496ff.; Breuer, Der Staat 16 (1977), 21 ff.; Gerontas, BayVBl. 1981, 618ff.; Stettner, DVB1. 1982, 1123ff. 7 Hinsichtlich der Schutzpflichten nicht relevant ist die Gleichheitswidrigkeit einer Regelung, die ebenfalls aus im Laufe der Zeit veränderten Verhältnissen resultieren kann. Vgl. dazu BVerfGE 16, 130 (137ff.); 54, 11 (36ff.).
Α. Die Pflicht zum „dynamischen Rechtsgüterschutz"
183
2. Ein zunächst geeignet scheinendes Mittel erweist sich im Laufe des Gesetzesvollzugs als ungeeignet. Die Prognose über die Geeignetheit des Mittels, die der Gesetzgeber aufgrund des seinerzeit gegebenen Kenntnisstandes treffen durfte, erweist sich als irrig. Die Einschränkungsvoraussetzung der Geeignetheit entfällt. 3. Ein zunächst erforderlich scheinendes oder tatsächlich erforderliches Mittel erweist sich als nicht oder nicht mehr erforderlich. a) Es stellt sich heraus, daß der Zweck auch mit einem weniger belastenden Mittel erreicht werden kann. b) Ein weniger belastendes Mittel, das denselben Zweck erfüllt, w i r d neu entwickelt. 8 Oder die Gefahrenlage, zu deren Bekämpfung das Mittel erforderlich war, ändert sich derart, daß jetzt auch der Einsatz eines weniger belastenden Mittels ausreicht oder überhaupt keine Maßnahmen zur Gefahrenabwehr mehr nötig sind. In jedem Fall entfällt die Einschränkungsvoraussetzung der Erforderlichkeit. 4. Die Auswirkungen gesetzlich erlaubter Maßnahmen auf grundrechtlich geschützte Güter erweisen sich als gravierender, als man zunächst aufgrund des gegebenen Kenntnisstandes annehmen durfte. Die Prognose über die Wirkungen und Folgen dieser Maßnahmen erweist sich als falsch. Die Verhältnismäßigkeit der Einschränkung i. e. S. entfällt, wenn sich herausstellt, daß die Mindestposition des Betroffenen berührt wird. Verfassungswidrig w i r d die Maßnahme auch, wenn sich herausstellt, daß sie den Wesensgehalt des Grundrechts beeinträchtigt. Immer dann, wenn eine zunächst gegebene Einschränkungsvoraussetzung nachträglich entfällt, ist eine Anpassung an die neue Situation erforderlich. Die Einschränkung muß aufgehoben oder i m Sinne des geringstmöglichen Eingriffs gemildert werden. Die Pflicht zum „dynamischen Rechtsgüterschutz" im Sinne einer Optimierung des Rechtsgüterschutzes läßt sich nur als eine solche Anpassungspflicht verfassungsrechtlich begründen. Das Gebot der Schutzoptimierung beziehungsweise der Minimierung des Eingriffs ergibt sich aus dem Prinzip des geringstmöglichen Eingriffs: Ein Eingriff ist unzulässig, wenn der gesetzliche Zweck mit einem weniger belastenden Mittel erreicht werden kann. Die Belastung mit einem Immissions- oder Unfallrisiko ist also zu reduzieren, wenn dies aufgrund der technischen Entwicklung möglich wird. Eine dynamische Reduzierung des Risikos für grundrechtliche Schutzgüter nach dem jeweiligen Stand der Technik ist also grundsätzlich geboten. 8 Beispiel: Die Technik der Emissionsminderung oder der Reduzierung von Unfallrisiken wird verbessert.
Pflicht zum „dynamischen Rechtsgüterschutz"
Bei der Prüfung, ob die Belastung mit einem Risiko erforderlich ist, darf aber der Zweck der Belastung nicht aus dem Auge verloren werden: Neben den vielen möglichen konkreten Zwecken für die Belastung mit konkreten Risiken gibt es auch, das wurde bereits gezeigt9, einen allgemeinen Zweck für die Belastung mit Risiken im allgemeinen, soweit diese unterhalb der Gefahrenschwelle bleiben. Zu diesem allgemeinen Zweck, nämlich zur Ermöglichung der Freiheitlichkeit des Gemeinwesens im ganzen, der Funktionsfähigkeit der öffentlichen Verwaltung und der Entfaltung individueller Freiheit (Art. 2 I GG), insbesondere auch auf wirtschaftlichem Gebiet, bleibt die allgemeine Einschränkung der Sicherheit auch dann erforderlich, wenn im Einzelfall die Minimierung des Risikos auch unterhalb der Gefahrenschwelle möglich ist. Das schließt nicht aus, daß der Gesetzgeber für bestimmte Risiken eine Verschärfung des Sicherheitsstandards vorschreiben darf, weil dies die Freiheitlichkeit im ganzen nicht tangiert und die individuelle Freiheit nicht übermäßig belastet. Aber daraus folgt, daß der Gesetzgeber von Verfassungs wegen nicht dazu verpflichtet sein kann, eine Risikominimierung unterhalb der Gefahrenschwelle vorzuschreiben. Entfällt aufgrund technischer Verbesserungen die Erforderlichkeit der Belastung mit einem Risiko, das die Gefahrenschwelle nicht überschreitet, in bezug auf einen spezifischen Zweck, so bleibt sie doch in bezug auf den allgemeinen Zweck bestehen. Somit bleibt festzuhalten: Verfassungsrechtlich geboten ist die „bestmögliche Gefahrenäbwehr", nämliqh die Reduzierung von Gefahren für grundrechtliche Schutzgüter gemäß den jeweiligen tatsächlichen Möglichkeiten. Nicht von Verfassungs wegen 10 geboten ist dagegen die „bestmögliche Risikovorsorge" im Sinne der Minimierung von Risiken unterhalb der Gefahrenschwelle. B. Zur „Nachbesserungspflicht" des Gesetzgebers
Die Anpassung gesetzlicher Grundrechtseinschränkungen an die aufgrund der veränderten Situation erhöhten verfassungsrechtlichen Anforderungen läßt sich mit verschiedenen rechtstechnischen Mitteln erreichen. So kann der Gesetzgeber eine dem Grundsatz der Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit entsprechende „automatische" Anpassimg gesetzlicher Sicherheitsstandards an veränderte Verhältnisse durch Verwendung unbestimmter „dynamischer" Rechtsbegriffe erreichen, zum Beispiel, indem er die Verursachung von „Gefahren" untersagt. Zur „automatischen" Anpassung führt auch die gesetzliche Verweisung auf außerrechtliche technische oder wissenschaftliche Standards (z.B. „Stand der Technik", § 5 Nr. 2 9
s.o. § 8 A. Wohl aber z.B. gem. § 7 I I Nr. 3 AtG oder gem. § 5 Nr. 1 BImSchG, dazu unten § 20 B , C. 10
Β. Zur „Nachbesserungspflicht" des Gesetzgebers
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BImSchG; „Stand von Wissenschaft und Technik", § 7 I I Nr. 3 AtG; „Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse", § 17 I Nr. 5 LMBG). Im Unterschied zur dynamischen Verweisung auf technische Normen, also auf die jeweilige Fassung von Regeln eines privaten Normgebers, die als unzulässige Rechtsetzungsdelegation verfassungswidrig wäre 1 1 , bestehen gegen einç dynamische Verweisung auf faktische Standards, auf tatsächliche Sachverhalte, keine prinzipiellen Bedenken. 12 Problematisch kann hier aber die hinreichende Bestimmtheit der Regelung sein oder die Kompetenz zur verbindlichen Konkretisierung unbestimmter Begriffe. 13 Der Rechtsgüterschutz kann auch durch eine Risikominimierungsklausel dynamisch mit dem technischen Fortschritt verknüpft werden, so in §§ 28 I Nr. 2, 45 1 1, 46 I Nr. 2 StrlSchV durch das Strahlenminimierungsgebot. - Eine weitere Möglichkeit besteht darin, den Verordnungsgeber gem. Art. 80 GG zur Anpassung zu ermächtigen, beispielsweise mittels Ermächtigung zur Konkretisierung unbestimmter Rechtsbegriffe oder Standards. Unter dem Gesichtspunkt der Schutzpflicht kommt es nur auf das Ergebnis an, nämlich darauf, daß das Gesetz auch unter gewandelten Verhältnissen die Grundrechte nicht im Übermaß beschränkt. Deshalb ist der Gesetzgeber nicht verpflichtet, eine „automatische" Anpassungsdynamik zu wählen oder die Anpassungsbefugnis zu delegieren. Verzichtet er auf eine solche Anpassungsregelung im Gesetz, ist er aber bei Änderung der maßgeblichen Verhältnisse zur Änderimg des Gesetzes, zur „Nachbesserung" verpflichtet. 1 4 Dasselbe gilt dann, wenn die gesetzlichen Anpassungsklauseln nicht ausreichen, das Gesetz auch angesichts veränderter Verhältnisse mit den verfassungsrechtlichen Anforderungen in Übereinstimmung zu halten. 15 Die Kontrolle der Nachbesserungspflicht übt das Bundesverfassungsgericht mit großer Zurückhaltung aus. Im Düsseldorfer Fluglärm-Beschluß heißt es, einen Verstoß gegen die Nachbesserungspflicht könne das Bundesverfassungsgericht erst dann feststellen, wenn evident sei, daß eine ursprünglich rechtmäßige Regelung wegen zwischenzeitlicher Änderung der 11 Vgl. Ossenbühl, DVB1. 1967, 404f.; Karpen, Die Verweisung, S. 136; Breuer, AöR 101 (1976), 62ff., insb. 65; Schenke, NJW 1980, 745f.; Marburger, in: Verweisung auf technische Normen, S. 31 ff. m.w.N. 12 Vgl. Breuer, AöR 101 (1976), 67 - 69. 13 Vgl. die Nachw. unten § 18 Fn. 1, § 20 D. Fn. 19, 20, 22. 14 Zur „Nachbesserungspflicht" des Gesetzgebers vgl. BVerfGE 25, 1 (12 f.) - Mühlengesetz; 49, 89 (130) - Kalkar; 50, 290 (335, 377f.) - Mitbestimmung; 54, 11 (37ff.) - Besteuerung der Beamtenpensionen; 55, 274 (308, 317) - Ausbildungsplatzförderungsgesetz; 56, 54 (78ff.) - Fluglärm (Düsseldorf-Lohausen); 59, 119 (127) - Briefwahl; Badura, in: Festschr. Eichenberger, S. 418ff.; Stettner, DVB1. 1982, 1123ff. 15 So kann trotz „automatischer Anpassung" der Lärmschutz Vorkehrungen an den Stand der Technik der Fluglärm so unerträglich werden, daß er das zumutbare Maß überschreitet und damit die verfassungsrechtliche Mindestposition der Betroffenen verletzt, so daß der Gesetzgeber erneut tätig werden muß, vgl. BVerfGE 56, 54 (79f.), (im konkreten Fall allerdings ablehnend).
Pflicht zum „dynamischen Rechtsgüterschutz"
Verhältnisse verfassungsrechtlich untragbar geworden sei, und wenn der Gesetzgeber gleichwohl gar keine oder nur offensichtlich fehlsame Nachbesserungsmaßnahmen getroffen habe. 16 Begründet w i r d diese Reduzierung der Kontrolldichte mit der Komplexität der Frage, wie eine erst i m Wege der Verfassungsinterpretation ermittelte Schutz- und Handlungspflicht zu verwirklichen sei. Diese Entscheidimg gehöre in die Verantwortung des Gesetzgebers, besonders dann, wenn es um eine Schutzpflichtverletzung durch unterlassene Nachbesserung gehe. 17 Dem ist im Ergebnis voll zuzustimmen. 18 Darauf, daß die Schutzpflichten sich erst interpretativ aus dem Grundgesetz ableiten lassen, kann es jedoch nicht ankommen. Durch Interpretation muß auch ansonsten der „Inhalt" der Grundrechte erst ermittelt werden, und die vom Bundesverfassungsgericht unter dem Stichwort „Schutzpflichten" behandelten Fälle lassen sich grundrechtsdogmatisch genauso behandeln wie „normale" Eingriffsfälle. 19 Auch bei staatlichen Grundrechtseinschränkungen geht es aber oft um hochkomplexe Probleme, wenn etwa zur Beurteilung von Geeignetheit, Erforderlichkeit und Zumutbarkeit Analysen nicht eindeutig aufklärbarer Kausalbeziehungen, insbesondere prognostischer Art, erforderlich wären. Auch in einem solchen Fall ist die Einschätzung des Sachverhalts, die Prognose der Entwicklung bis zu derjenigen Grenze Sache des Gesetzgebers, an der sich eine Fehleinschätzung eindeutig nachweisen läßt. Jede Prognose ist mit Unsicherheiten belastet. Für die tatsächlichen Annahmen des Gesetzgebers spricht daher nur eine mehr oder weniger große Wahrscheinlichkeit. Das Verfassungsgericht kann hier Gewißheit ebensowenig schaffen wie der Gesetzgeber. Demnach muß die Kompetenz zur Einschätzung der Lage und der Entwicklung dem zuständigen politischen Gestaltungsorgan vorbehalten bleiben. 20 Die Rechtskontrolle ist demnach darauf beschränkt, eindeutige Fehleinschätzungen, rational nicht haltbare Prognosen zu beanstanden. Dies gilt für die Überprüfung von herkömmlichen Eingriffsgesetzen ebenso wie für die Schutzpflicht, und nicht anders muß es für die Nachbesserungspflicht gelten. Bei der Kontrolle der Nachbesserungspflicht ist aber sozusagen ein doppelter Prognosespielraum des Gesetzgebers zu berücksichtigen: Zunächst geht es um die Frage, ob die veränderten tatsächlichen oder kognitiven Verhältnisse eine Anpassung des Gesetzes erfordern. 16 BVerfGE 56, 54 (81, vgl. auch 79, 82); ebenso BVerfG (Vorprüfungsausschuß), 14.9.83 - 1 BvR 920/83, S. 3f. 17 BVerfGE 56, 54 (81); BVerfG, 14.9.83, o. Fn. 16. 18 So auch Badura, in: Festschr. Eichenberger, S. 487 f. - Auf die andere Frage, ob die Entscheidung des Fluglärmfalles auch insofern Zustimmung verdient, als das BVerfG es als offenkundig ansah, daß eine evidente Verletzung der Nachbesserungspflicht nicht gegeben war, ist in diesem Zusammenhang nicht einzugehen. « s.o. §§ 5, 6, 7. 20 Zur Prognosekontrolle als Kompetenzfrage vgl. Ossenbühl, in: Festg. BVerfG I, S. 504 f.
Β. Zur „Nachbesserungspflicht" des Gesetzgebers
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Dies ist der Fall, wenn sich unter den gewandelten Verhältnissen die ursprüngliche Einschätzung des Gesetzgebers als eindeutig irrig erweist. Nur dann, wenn das Experiment, das jedes auf prognostische Einschätzungen bauende Gesetz darstellt, unzweifelhaft fehlgeschlagen und die Experimentierfreiheit des Gesetzgebers, die als notwendiger Bestandteil zu seiner politischen Gestaltungskompetenz gehört, insoweit aufgebraucht ist 2 1 , kann eine Pflicht zur Nachbesserung festgestellt werden. Jetzt muß zwar der Gesetzgeber tätig werden. Er hat aber wiederum einen Prognose- und Experimentierspielraum, der die gerichtliche Kontrollmöglichkeit auf eindeutige Fehleinschätzungen begrenzt, wenngleich sich dieser Spielraum im Verhältnis zur ersten Entscheidung des Gesetzgebers verengt hat. Da ein Grundrecht nur eingeschränkt werden darf, soweit die Einschränkungsvoraussetzungen vorliegen, darf der Gesetzgeber mit der Nachbesserung von Gesetzen nicht so lange warten, bis der Wandel der Verhältnisse die Einschränkungsvoraussetzungen eindeutig hat anfallen lassen, Er darf nicht warten, bis sein Gesetz verfassungswidrig wird, sondern ist verpflichtet, dafür zu sorgen, daß das Gesetz jederzeit verfassungsmäßig bleibt. Sofern das Gesetz keinen Anpassungsmechanismus enthält, der dies gewährleistet, ist der Gesetzgeber daher verpflichtet nachzubessern, bevor die Verfassungswidrigkeit eingetreten ist. Nur so läßt sich verhindern, daß ein verfassungswidriger Zustand zunächst eintritt und daß es zu konkreten Grundrechtsverletzungen kommt, bevor der Gesetzgeber den verfassungskonformen Zustand wieder herstellt. Die Pflicht zur Nachbesserung besteht demnach schon dann, wenn das Gesetz noch nicht verfassungswidrig ist, aber wenn sich bereits mit hinreichender Wahrscheinlichkeit absehen läßt, daß die sich wandelnden Verhältnisse in naher Zukunft 2 2 die Einschränkungsvoraussetzungen entfallen lassen beziehungsweise ohne Anpassung des Gesetzes zu einer Schutzpflichtverletzung führen. Der Gesetzgeber kommt dieser Pflicht zunächst dadurch nach, daß er die veränderte Situation prüft und neue Prognosen anstellt. Verletzt ist die Nachbesserungspflicht erst dann, wenn der Gesetzgeber sich trotz hinreichender Wahrscheinlichkeit baldigen Eintritts der Verfassungswidrigkeit 23 mit der Sache überhaupt nicht befaßt (Verletzung der Befassungspflicht 24 ) oder wenn die 21 Zum Gesetz als Experiment vgl. Stettner, DVB1. 1982, 1125. Speziell zum Experimentiergesetz oder zur Experimentierklausel vgl. Schlink, Abwägimg, S. 207ff.; Häberle, Verfassung als öffentlicher Prozeß, S. 85 ff. 22 Als „nahe" wird man angesichts der Dauer gründlicher Gesetzgebungsverfahren jeden Zeitpunkt innerhalb der laufenden Legislaturperiode ansehen können. 23 Wann die Wahrscheinlichkeit „hinreichend" ist, wird man in Anlehnung an die relationale Konkretisierung des Gefahrenbegriffs je nach Art und Intensität der i n Frage kommenden Grundrechtsverletzung unterschiedlich beurteilen müssen, vgl. oben § 9 B. So wohl auch BVerfGE, 49, 89 (130ff.). 24 Nach Ansicht des BVerfG hat der Gesetzgeber seine Gesetze sogar „ständig in Anbetracht neu auftretender Entwicklungen ... zu überprüfen", E 59, 119 (127) - ein praktisch wohl unerfüllbares Postulat. Die Befassungspflicht setzt erst dann ein,
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§11 Normalbetriebs-und Störfallrisiken
Nachbesserung erst nach Eintritt der Verfassungswidrigkeit oder in nicht ausreichendem Umfang erfolgt. Bevor das Gesetz nicht offenkundig verfassungswidrig ist, kann das Bundesverfassungsgericht i m Normenkontroll- oder Verfassungsbeschwerdeverfahren eine Verletzimg dieser Nachbesserungspflicht aber nicht feststellen, weil Gegenstand des Verfahrens die Verfassungswidrigkeit des Gesetzes beziehungsweise die Verletzung von Grundrechten ist, nicht aber die Nachbesserungspflicht als solche. Die Verletzung dieser Pflicht kann zwar zur Folge haben, daß der Wandel der Verhältnisse die Verfassungswidrigkeit des grundrechtseinschränkenden Gesetzes bewirkt, aber sie kann auch dann bereits verletzt sein, wenn diese Folge erst bevorsteht. In einer solchen Lage ist ein Normenkontrollantrag oder eine Verfassungsbeschwerde - je nach Vortrag - unzulässig oder jedenfalls unbegründet. In der Praxis appelliert das Bundesverfassungsgericht aber an den Gesetzgeber, seiner Nachbesserungspflicht nachzukommen, indem es auf den bevorstehenden Eintritt der Verfassungswidrigkeit hinweist. 25 § 11 Die Bedeutung der Unterscheidung von Normalbetriebsund Störfallrisiken für die Schutzpflichten des Staates Im Recht der technischen Anlagen unterscheidet man Störfall- oder Unfallrisiken von den Risiken des Normalbetriebs. Der Störfall oder Unfall 1 ist ein unerwünschtes „zufälliges" Ereignis; er entzieht sich exakter Vorhersehbarkeit. Für seinen Eintritt lassen sich daher nur Wahrscheinlichkeitsprognosen anstellen. Welche unerwünschten Nebenwirkungen der normale, der bestimmungsgemäße Betrieb der Anlage hat, ist dagegen nicht von irgendwelchen „Zufällen" abhängig: Diese Nebenwirkungen, nämlich die Emissionen, die von der Anlage während des bestimmungsgemäßen Betriebs an die Umwelt abgegeben werden, oder die Immissionsbelastung am Arbeitsplatz innerhalb der Anlage, treten notwendig auf. Soweit sie mit wenn die Gefahr, daß die Veränderung relevanter Umstände zu einer Grundrechtsverletzung sich dem Gesetzgeber aufdrängen muß. Das kann davon abhängen, ob das Parlament - z.B. durch Petitionen oder durch öffentliche Diskussion - auf die Entwicklung, die zur Verfassungswidrigkeit zu führen .droht, aufmerksam gemacht wird, da es organisatorisch nicht in der Lage ist, alle relevanten Umstände permanent zu überwachen. Zur Befassungspflicht vgl. auch BVerfGE 49, 89 (130 - 133). 25 Vgl. z.B. BVerfGE 16, 130 (141f.); 54, 11 (37ff.). Zu „noch verfassungsmäßigen Rechtslagen" und zu „Appellentscheidungen" im allgemeinen vgl. Wiltraut Rupp-von Brünneck, Darf das Bundesverfassungsgericht an den Gesetzgeber appellieren? in: Festschr. f. Gebhard Müller. Tübingen 1970, S. 355 - 379; Christian Pestalozza, „Noch verfassungsmäßige" und „bloß verfassungswidrige" Rechtslagen, in: Festg. BVerfG I. Tübingen 1976, S. 519 - 567; Gerontas, DVB1. 1982, 486ff. 1 Diese Unterscheidung spielt nur im Atomrecht eine Rolle, vgl. § 2, Anlage I StrlSchV. Dazu ausfürlich Bischof, ET 1980, 595 ff. Ansonsten spricht man einheitlich von „Störfall", vgl. z.B. § 2 StörfallV.
Α. Das Störfallrisiko als Ingerenzverursachungsrisiko
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Gewißheit auftreten, soweit also die Notwendigkeit ihres Auftretens erkannt ist, ist dieses kein „Risiko". Ein Risiko stellen die Nebenwirkungen im Hinblick auf ihre möglichen Folgen dar. Das Element der Ungewißheit besteht darin, daß man in der Regel nicht genau sagen, sondern nur abschätzen kann, ob oder in welchem Umfang die Immissionen Rechtsgüter Dritter schädigen werden. Gewißheit hingegen dürfte i n den meisten Fällen darüber bestehen, ob die Immissionen in irgendeiner Weise auf Rechtsgüter Dritter einwirken. Diese Einwirkung, egal ob sie das Schutzgut in seiner Substanz verletzt oder nicht, w i r d im folgenden als „Ingerenz" bezeichnet. Während also beim Störfallrisiko zweifelhaft ist, ob es überhaupt jemals zu einer Ingerenz kommt, ist beim Normalbetriebsrisiko die Ingerenz meist gewiß; fraglich ist nur, ob sie zu einem „Schaden" führt. Diese im Anlagenrecht gewonnene Unterscheidung läßt sich verallgemeinern und beispielsweise auf den bestimmungsgemäßen und den nicht bestimmungsgemäßen Umgang mit technischen Produkten übertragen. Abstrakt kann man somit zwischen Ingerenz verursachungs- und Ingerenzfolgenrisiken oder kurz „Ingerenzrisiken" differenzieren. Diesen sind die Normalbetriebs-, jenen die Störfallrisiken zuzuordnen. Welche rechtliche Bedeutung hat diese Unterscheidimg im Hinblick auf die staatlichen Schutzpflichten?
A. Das Störfallrisiko als Ingerenzverursachungsrisiko
Das Störfallrisiko ist in der Regel das Risiko eines Risikos: Erstens ist ungewiß, ob es zu einem Störfall kommt, und zweitens, ob der Störfall zu Schäden an Rechtsgütern Dritter führt oder in welchem Umfang mit Schäden zu rechnen ist. Dem Ingerenzrisiko ist das Ingerenzverursachungsrisiko vorgelagert. Die doppelte Ungewißheit verringert zwar die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts. Für das Gefahrenabwehrrecht oder für die verfassungsrechtlichen Schutzpflichten ergibt sich aus dieser Schachtelung des Risikos aber nichts Besonderes: Ob und in welchem Umfang Sicherheitsvorkehrungen zu treffen sind, hängt allein von der Größe des Risikos für die geschützten Güter ab. Wegen der aus der doppelten Ungewißheit resultierenden geringeren Schädigungswahrscheinlichkeit muß der Umfang des potentiellen Schadens größer sein, damit eine „Gefahr" vorliegt, gegen die Vorsorge geboten ist. I n bezug auf schwerwiegende Störfälle gibt es meist keine Ungewißheit darüber, ob es überhaupt zu Schäden an Rechtsgütern kommen wird. Auch der Umfang des potentiellen Schadens läßt sich oft jedenfalls so genau abschätzen, daß man zumindest diejenige Größenordnung des potentiellen Schadens, auf die es für die rechtlich nötige und mögliche Differenzierung ankommt, mit annähernder Gewißheit kennt. Bei einer solchen Konstellation ist nur der Eintritt des schädigenden Ereignisses und damit einer Inge-
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§11 Normalbetriebs- und Störfallrisiken
renz ungewiß, während die Wirkungen des Ereignisses und die Folgen der dadurch ausgelösten Ingerenz bekannt sind. Hingegen kennt man beim Normalbetriebsrisiko in der Regel die Ingerenz. Das potentiell schädigende Ereignis ist der normale Betrieb und die Ingerenz seine normale Folge. Was man nicht genau kennt, sind die Wirkungen, welche die Ingerenz hat: Führt die Ingerenz zu einem - weitergehenden - Schaden und in welchem Umfang? Auf welcher Seite der Kausalkette die Ungewißheit liegt, ist aber für den Gefahrenbegriff unerheblich, ebenso wie die Frage, ob mehrere und wieviele Glieder in der Kausalkette sich einer genauen Vorausberecjinung entziehen. Entscheidend ist die Wahrscheinlichkeit im ganzen. Eineij grundrechtlich relevanten Unterschied zwischen Störfall- und Normalbetriebsrisiken gibt es also nur dann und insoweit, als es auf die Tatsache der Ingerenz als solche rechtlich ankommt. In der vorliegenden Untersuchung wurde bisher die Frage, welche Anforderungen das Grundgesetz an die Vorsorge gegen Risiken für grundrechtliche Schutzgüter stellt, in der Weise erörtert, daß - wie im Gefahrenabwehrrecht üblich - nach der hinreichenden Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts gefragt wurde. Diese Fragestellung deckt die Problematik des Störfallrisikos praktisch vollständig ab. Auf die Besonderheiten des Normalbetriebsrisikos, sofern es Ingerenzfolgenrisiko ist, muß dagegen im folgenden näher eingegangen werden. 2 B. Ingerenzrisiken als Beeinträchtigungen mit dem Risiko der Schädigung oder der Schadensvergrößerung
I. Die Ingerenz als Eingnff 1. Allgemeines Das Ingerenzfolgenrisiko (Ingerenzrisiko) ist dadurch gekennzeichnet, daß eine Einwirkimg auf Rechtsgüter Dritter (Ingerenz) mit Gewißheit stattfindet. Die das „Risiko" kennzeichnende Ungewißheit besteht erst auf einer zweiten Ebene: Ungewiß ist, ob oder inwieweit die Ingerenz zu - weiteren - Schäden am betroffenen Rechtsgut führen wird. Dies ist beispielsweise die typische Konstellation des Normalbetriebsrisikos. Man weiß, daß die von Kohlekraftwerken herrührenden S0 2 -Immissionen die Atemluft belasten oder den Boden versauern, auf Menschen, Pflanzen oder Bauwerke 2 Auf die folgende Erörterung kann auch verwiesen werden für den Fall, daß es auch bei Störfallrisiken auf das Risiko der Ingerenzfolgen ankommt, weil z.B. die Eintrittswahrscheinlichkeit hoch, aber der mögliche Schaden bei Eintritt des Störfalls nicht gewiß ist.
Β. Ingerenzrisiken als Beeinträchtigungen mit Folgerisiken
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einwirken; nur über die Folgen dieser Einwirkungen, über die Art und den Umfang der durch sie hervorgerufenen Schäden besteht keine völlige Klarheit. Das Ingerenzrisiko ist also nicht - wie das Ingerenzverursachungsrisiko das Risiko einer Rechtsgutbeeinträchtigung, die mit einer mehr oder weniger großen Wahrscheinlichkeit zu weitergehenden schädigenden Folgen führt. Während sich beim Ingerenzverursachungsrisiko immerhin darüber streiten läßt, ob ein Risiko überhaupt und gegebenenfalls ab welcher Risikogröße in den Schutzbereich eines Grundrechts eingreift 3 , stellt das Ingerenzrisiko auf jeden Fall einen Eingriff dar. Wie man die Abwehr von Risiken grundrechtsdogmatisch bewältigt, spielt in diesem Zusammenhang keine Rolle, weil die Ingerenz als solche für das grundrechtliche Schutzgut kein Risiko ist, sondern eine mit Gewißheit stattfindende Einwirkung. Das Grundrecht als Abwehrrecht ist die Befugnis, den Staat von der Einwirkung auf das Schutzgut auszuschließen, soweit nicht ein den verfassungsrechtlichen Einschränkungsvoraussetzungen entsprechendes Gesetz diese Befugnis beschränkt. Auf die Schutzpflicht gewendet heißt dies, daß der Staat grundsätzlich verpflichtet ist, Dritten die Einwirkung auf grundrechtliche Schutzgüter zu verbieten; Ausnahmen hiervon müssen sich im Rahmen der verfassungsrechtlichen Einschränkungsvoraussetzungen halten. Ist aber schon jede Einwirkung auf ein grundrechtliches Schutzgut eine als „Eingriff" zu begreifende Beeinträchtigung? Gibt es nicht auch Einwirkungen, die das Schutzgut nicht beeinträchtigen, sondern ihm sogar zugute kommen oder zumindest „neutral" sind? Die letzte Frage kann man sicher bejahen. Für die abwehrrechtliche Funktion der Grundrechte ist aber entscheidend, daß die Beantwortung der Frage, ob ein „Eingriff" vorliegt, nicht davon abhängen kann, ob der Eingriff nach irgendwelchen „objektiven" Kriterien für den Betroffenen nützlich oder schädlich, förderlich oder belastend ist. Auch die zwangsweise Verabreichung von Vitaminen an jemanden, der sie objektiv nötig hat, ist ein Eingriff. Ob der Eingriff objektiv nützlich oder schädlich ist, kann allenfalls im Zusammenhang mit der Rechtfertigung des Eingriffs eine Rolle spielen. Ein Eingriff jedoch liegt immer schon dann vor, wenn auf das Schutzgut gegen den Willen des Rechtsgutträgers eingewirkt wird. Die Beeinträchtigung liegt zumindest darin, daß der Betroffene die Einwirkung nicht will. Das heißt natürlich nicht, daß jede Einwirkung auf ein grundrechtliches Schutzgut zu verbieten wäre. Aber es heißt, daß sie rechtfertigungsbedürftig ist und nur aufgrund einer gesetzlichen Ausnahme vom allgemeinen Einwirkungsverbot zugelassen werden darf.
3
s.o. §§7, 8.
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§11 Normalbetriebs- und Störfallrisiken
2. Insbesondere: das Recht auf Freiheit von Einwirkungen auf den Körper Was das Grundrecht aus Art. 2 I I 1 GG angeht, könnte man nun einwenden, Schutzgut sei hier nicht der menschliche Körper, sondern die „körperliche Unversehrtheit". Folglich könne man als Einwirkung auf das Schutzgut des Art. 2 I I 1 GG nicht jede Einwirkung auf den menschlichen Körper ansehen, sondern nur solche Einwirkungen, die in die Substanz eingreifen, also den Körper „verletzen" oder Funktionsstörungen hervorrufen, zu somatischen oder genetischen4 Normabweichungen 5 führen. Diese Beschränkung des Schutzbereichs von Art. 2 I I 1 GG auf die „Unversehrtheit" des Körpers im engeren Wortsinne, auf die Abwehr von Substanzverletzungen und einen medizinischen Befund ermöglichenden Schäden6, führt aber nicht dazu, daß gegen Einwirkungen auf den Körper unterhalb der so verstandenen Schädlichkeitsschwelle überhaupt kein grundrechtlicher Schutz besteht. Ein Anspruch auf Unterlassung derjenigen Einwirkungen auf den Körper, die nicht als Schädigungen angesehen werden können, ergibt sich jedenfalls aus Art. 2 I GG, da diese Bestimmung nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ein Abwehrrecht gegen jede nicht durch geltendes Recht gedeckte Belastung gibt. 7 Rechtfertigungsbedürftig sind auch Einschränkungen des allgemeinen Freiheitsrechts aus Art. 2 I GG. Aus systematischen Gründen würde ich zwar vorschlagen, jegliche Einwirkung auf den menschlichen Körper in den Schutzbereich des Art. 2 I I 1 GG durch weite Interpretation des Wortes „Unversehrtheit" einzubeziehen.8 Auf diese Weise würde die künstlich wirkende 4 Zur Unterscheidung von somatischen und genetischen Schäden vgl. Deutsche Risikostudie, S. 189 ff: 5 Zur Normabweichung als Element des medizinisch-naturwissenschaftlichen Krankheitsbegriffs vgl. Seewald, Zum Verfassungsrecht auf Gesundheit, S. 15 m.w.N. 6 So die überwiegende Literaturmeinimg, vgl. v. Mangoldt / Klein, Art. 2 Anm. V 3; Seewald, S. 47f., 54ff. m.w.N.; von Münch, in: ders., GG, Art. 2 Rdnr. 53ff.; Dürig, in: Maunz / Dürig, Art. 2 I I Rdnr. 29ff.; Hamann / Lenz, Art. 2 Anm. 9. Das BVerfG neigt zu einer weiten Auslegung des Begriffs der körperlichen Unversehrtheit, hat aber eine präzise Bestimmung der Grenzen des Schutzbereichs von Art. 2 I I GG bislang vermieden, vgl. BVerfGE 56, 54 (74f.). 7 Vgl. BVerfGE 9, 83 (88); 19, 206 (215); 30,191 (198); 42, 374 (385); 44, 216 (223). 8 Schon die „Schrankentrias" des Art. 2 I GG zeigt, daß der Schutz des Körpers vor Beeinträchtigungen nicht recht hierher paßt. „Rechte anderer" oder das „Sittengesetz" können eine Schranke nur für ein Verhalten, also für Freiheitsausübung sein. Die menschliche Freiheit steht unter dem Schutz der Freiheitsrechte, zu denen Art. 2 I als allgemeines Freiheitsrecht gehört. Voraussetzung dieser Freiheit ist die menschliche Persönlichkeit, die unter geistig-sittlichem Aspekt von Art. 11, unter körperlichem Aspekt von Art. 2 I I geschützt wird. (Dies ist nicht im Sinne einer strikten Trennung zu verstehen: M i t der Verletzung eines einzelnen Grundrechts kann auch zugleich die Menschenwürde verletzt sein; die einzelnen Menschenrechte sind Ausdruck der Menschenwürde.) - Am Ausdruck „Unversehrtheit" kann der Vorschlag, „körperliche Unversehrtheit" nicht im Sinne von Verletzung der Körpersubstanz zu
Β. Ingerenzrisiken als Beeinträchtigungen mit Folgerisiken
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T r e n n u n g zwischen B e e i n t r ä c h t i g u n g der „ U n v e r s e h r t h e i t " u n d sonstigen E i n w i r k u n g e n auf den K ö r p e r vermieden u n d statt dessen der Mensch als Schutzgut eines e i n h e i t l i c h e n Tatbestandes e r k a n n t , w i e dies das BundesImmissionsschutzgesetz bereits v o r b i l d l i c h d u r c h f ü h r t . 9 D i e d i f f i z i l e n P r o bleme der Tatbestandsabgrenzung, die der B e g r i f f der „ k ö r p e r l i c h e n U n v e r s e h r t h e i t " dem I n t e r p r e t e n ansonsten a u f g i b t 1 0 , w ä r e n d a m i t erledigt. D o c h soll das h i e r n i c h t v e r t i e f t werden, w e i l es i m Ergebnis g l e i c h ist, ob sich das Recht auf F r e i h e i t v o n n i c h t die Substanz oder die Gesundheit schädigenden E i n w i r k u n g e n auf den K ö r p e r aus A r t . 2 I I oder aus A r t . 2 I G G ergibt. Was i m folgenden z u A r t . 2 I I G G ausgeführt w i r d , g i l t entsprechend a u c h f ü r A r t . 2 I, sofern m a n das Recht auf F r e i h e i t v o n E i n w i r k u n g e n auf den K ö r per auf diese B e s t i m m i m g stützt.
3. B a g a t e l l e i n g r i f f u n d E i n g r i f f s r e c h t f e r t i g u n g D e m Bundesverfassungsgericht ist die A n s i c h t u n t e r s t e l l t w o r d e n , e i n „ E i n g r i f f " i n die k ö r p e r l i c h e U n v e r s e h r t h e i t liege n i c h t vor, w e n n er „ n u r geringfügig u n d d a m i t z u m u t b a r " sei. 1 1 Dieser Ansatz w ä r e s t r i k t abzulehnen, w e i l er G r u n d r e c h t s t a t b e s t a n d u n d Grundrechtsschranken v e r w e c h selt. 1 2 Geringfügige E i n g r i f f e , s i n d i n der Regel hinzunehmen, w e n n sie verstehen, sondern als „Freiheit von Einwirkungen auf den Körper", schon deshalb nicht scheitern, weil auch nach h.M. eine Substanzverletzung nicht notwendiges Merkmal eines Eingriffs i n die körperliche Integrität ist. So werden z.B. die Zufügung von Schmerzen als Eingriff angesehen - vgl. BVerfGE 56, 54 (75); Dürig, in: Maunz / Dürig, Art. 2 I I Rdnr. 29f.; v. Münch, in: ders., GG, Art. 2 Rdnr. 55 - oder solche nicht-körperlichen Einwirkungen auf die Person, die ihrer Wirkung nach körperlichen Einwirkungen gleichzusetzen sind. Letzteres folgt nach BVerfGE 56, 54 (74) aus einer Interpretation von Art. 2 Π 1 GG im Lichte des Art. 11 GG. Es ergibt sich auch daraus, daß psychische Folgen von Einwirkungen auf den Körper sich von rein körperlichen Einwirkungen praktisch nicht trennen lassen. Geist und Seele stehen nicht isoliert neben dem Körper, vgl. dazu Seewald, S. 44f. m.w.N. Daß das BVerfG sich in diesem Zusammenhang auf Art. 11 GG beruft, ist bemerkenswert. Hieraus läßt sich folgern, daß jedenfalls solche Einwirkungen auf den Körper, die mit der Menschenwürde unvereinbar sind, im Sinne des hier vorgetragenen Vorschlags nicht unter dem Schutz von Art. 2 I i.V. m. 11, sondern von 2 I I i.V. m. 11 stehen, und zwar auch dann, wenn keine Verletzung der Körpersubstanz gegeben ist. - Die strafrechtliche Rechtsprechung sieht übrigens in der Lärmeinwirkung u.U. auch dann eine körperliche Zwangseinwirkung, wenn sie nicht die Schmerzgrenze überschreitet oder akute Störungen des körperlichen Wohlbefindens verursacht, vgl. BGH, NJW 1982, 189 m.w.N.; zustimmend Brendle, NJW 1983, 727; dagegen Köhler, NJW 1983, lOff. 9 Vgl. §§ 1, 3 II. 10 Man denke nur an die auch unter Medizinern strittige Frage, was eigentlich „Gesundheit" und was „Krankheit" sei, vgl. z.B. Seewald, S.14ff.; zur Tatbestandsabgrenzung des Art. 2 I I im übrigen o. Fn. 6. 11 So v. Münch, in: ders., GG Art. 2 Rdnr. 57, zu BVerfGE 17, 108 (115) - Hirnstrommessung. 12 Zur grundrechtsdogmatischen Bedeutung dieser Unterscheidung vgl. Kloepfer, Festg. BVerfG Π, S. 405 ff., der allerdings die Ansicht vertritt, daß „Bagatellbelastungen" keine „Eingriffe" seien, S. 409, vgl. auch ders., Zum Grundrecht auf Umweltschutz, S. 20f.; ebenso z.B. VGH Mannheim, 8.10. 75, DVB1. 1976, 538 (543); Wagner, 13 Murswiek
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§11 Normalbetriebs- und Störfallrisiken
einem Ziel des Gemeinwohls dienen. Unter dieser Voraussetzung sind sie auch zumutbar. 13 Aber was dem Gemeinwohl dient, soll der Gesetzgeber entscheiden, und deshalb sind auch Bagatelleingriffe nur aufgrund eines Gesetzes zulässig. Das Bundesverwaltungsgericht hat zwar in der Sache recht, wenn es feststellt, „daß es schlechterdings nicht Sinn des Grund-
in: Wagner / Ziegler / Closs, S. 154; Sendler, URP 1981, 2; Schenke, NuR 1983, 89, m.w.N. Wer aber die strikte Unterscheidung zwischen Tatbestand und Schranken aufgibt, macht aus der Freiheit zur Beliebigkeit eine inhaltlich bewertete Freiheit, eine Freiheit zum sozial erwünschten Freiheitsgebrauch. Dies gilt auch dann, wenn man in Randbereichen damit anfängt, in denen über das Erwünschte, das sozial Erträgliche oder die sozialadäquate Belastung noch allgemeiner Konsens besteht, jedenfalls unter allen „billig und gerecht Denkenden". Demgegenüber ist daran festzuhalten, daß „Eingriff" jede Einschränkung der Freiheit und jede nicht konsentierte Einwirkung auf ein Schutzgut ist. Daß es geringfügige und schwerwiegende, mehr oder weniger belastende Eingriffe gibt, liegt auf der Hand. Die einen sind leichter zu rechtfertigen als die anderen, aber auch sie sind rechtfertigungsbedürftig - und sei es auch ganz allgemein durch die Notwendigkeiten sozialen Zusammenlebens. Wie problematisch die Vermischung von Tatbestand und Schranken im Bagatellbereich ist, zeigt sich bei Kloepfer darin, daß er ausdrücklich offenläßt, ob nicht auch Bagatellbelastungen am Erforderlichkeitsprinzip geprüft werden müssen (S. 409), wofür es keinen Grund gäbe, wenn das Grundrecht nicht berührt wäre. Für die Ausklammerung von Bagatellbelastungen aus dem Grundrechtstatbestand gibt es keinen dogmatisch haltbaren Grund, sondern nur Praktikabilitätserwägungen. Ein Pfennig bleibt Geld, auch wenn es wenig Geld ist. Der Diebstahl eines Pfennigs bleibt Diebstahl, auch wenn kein Staatsanwalt ihn zur Anklage bringt - aber nicht mangels Tatbestands, sondern wegen Geringfügigkeit. Die Konfiskation eines Streichholzes greift in das Eigentumsrecht aus Art. 14 GG ein, auch wenn es dagegen keinen Rechtsschutz geben sollte, was eine einschränkende Auslegung des Art. 19 IV GG voraussetzte. Die auf Bagatelleingriffe bezogenen Praktikabilitätserwägungen können zu ihrem Recht kommen, ohne die rechtsstaatliche Grundrechtsdogmatik an den Rändern ausfransen zu lassen und dort die Verwaltung aus der Bindung an das Gesetz, den Gesetzgeber aus der Pflicht zur Einschränkungsrechtfertigimg zu entlassen. Praktikabilitätsprobleme im Hinblick auf den Vorbehalt des Gesetzes ließen sich ohne Schwierigkeiten lösen, wenn man das Bestimmtheitsgebot, insbesondere im Rahmen besonderer Gewaltverhältnisse, nicht überstrapazierte. Die hier bestehenden Schwierigkeiten hat die Rechtsprechung erst geschaffen. Im übrigen weist aber das Bundesverfassungsgericht hier insofern den richtigen Weg, als es die Anforderungen an die Bestimmtheit des grundrechtseinschränkenden Gesetzes nach der Intensität der Einschränkung differenziert, vgl. z.B. BVerfGE 48, 210 (222); 56, 1 (13). - Dies ist der grundrechtsdogmatisch richtige Weg, mit Bagatellbeeinträchtigungen gesetzestechnisch fertig zu werden. - Auch die Gerichte brauchen sich praktisch nicht überfordern zu lassen, wenn sie an der Tatbestandsmäßigkeit von Bagatelleingriffen festhalten. Das BVerfG kann sich Querulanten durch Nichtannahme einer Verfassungsbeschwerde gem. § 93 a III, IV BVerfGG und sogar durch Auferlegung einer Mißbrauchsgebühr gem. § 34 V BVerfGG vom Hals halten, vgl. BVerfGE 9,120 (121 f.); 19, 148 (149); 46, 313 (314); 47, 102 (104); 53, 205 (206). Verwaltungsgerichte können eine offensichtliche Unbegründetheit in zwei Sätzen darlegen. - Ablehnend zur Verneinung des Eingriffs auch v. Münch, in: ders., GG, Art. 2 Rdnr. 57; Hamann ! Lenz, Art. 2 Anm. 9. 13 So die Begründimg des BVerfG für die Verfassungsmäßigkeit der Elektroenzephalographie als strafprozessuales Untersuchungsmittel gem. § 81a StPO, vgl. BVerfGE 17, 108 (115). Entgegen von Münch, o. Fn. 11, hat das BVerfG die Frage, ob die hirnelektrische Untersuchung einen Eingriff in die körperliche Unversehrtheit darstelle, nicht verneint, sondern ausdrücklich dahinstehen lassen. Dies wird in BVerfGE 56, 54 (75) nochmals hervorgehoben. Auch in BVerfGE 5, 13 (51) blieb der Eingriffscharakter eines Bagatelleingriffs (Blutentnahme zur Blutgruppenuntersuchung) dahingestellt; in BVerfGE 47, 239 (248) - zwangsweise Veränderung der Haar- und Barttracht - wurde er bejaht.
Β. Ingerenzrisiken als Beeinträchtigungen mit Folgerisiken
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rechtsschutzes sein kann, die Menschen auch vor solchen Beeinträchtigungen der Körpersphäre zu schützen, die unwesentlich sind". 1 4 Aber das ist keine Frage des Grundrechtstatbestandes. 15 Die Grundrechte schützen nicht vor jedem Eingriff, sondern nur vor dem nicht auf einem verfassungsmäßigen Gesetz beruhenden Eingriff. Art. 2 I I GG steht unter Gesetzesvorbehalt, und das Grundrecht wird dadurch nicht „zu Tode geschützt" 16 , daß man auf einer gesetzlichen Ermächtigung für jede Einschränkung beharrt. 17 Dies gilt - entgegen der Ansicht des Bundesverwaltungsgerichts 18 - auch für solche Rechtsgutbeeinträchtigungen, die im Ergebnis hingenommen werden müssen, weil sie „ i n der heute gegebenen Lebenssituation" entweder vollständig oder jedenfalls im Hinblick auf die Verwirklichung von Zwecken des Gemeinwohls unvermeidbar sind. Aber solche Beeinträchtigungen hören nicht deshalb auf, Beeinträchtigungen zu sein, weil sie heute üblich oder „sozial adäquat" sind. Und ob sie als „sozial adäquat" zu dulden sind, dies zu entscheiden, ist Sache des Gesetzgebers. Hieran ist um so nachdrücklicher festzuhalten, als sich gerade im Bereich des Gesundheitsschutzes viele kleine, kaum merkliche Bagatellbeeinträchtigungen zu schwerwiegenden, chronische Krankheiten auslösenden Belastungen summieren können. Der Umfang der Beeinträchtigungen, die der Gesetzgeber dem einzelnen ohne Rechtfertigung anhand eines spezifischen Gemeinwohlzwecks einfach deshalb zumutet, weil menschliches Zusammenleben auf beschränktem Raum und zwischenmenschlicher Kontakt in einer freien Gesellschaft anders nicht möglich sind, die also anhand dieses weitestgehenden Gemeinwohlzwecks vom Gesetzgeber als sozialadäquat gerechtfertigt werden können, ergibt sich einfach daraus, daß für diese Beeinträchtigungen im einfachen Recht keine Unterlassungsansprüche eingeräumt werden. Wenn man diese negative Regelung, verbunden mit der allgemeinen Pflicht zur Duldung recht14
BVerwGE 46, 1 (7) - Haarerlaß. Zutreffend BVerfGE 47, 239 (248). 16 v. Münch, in: ders., GG, Art. 2 Rndr. 57. 17 Bezeichnenderweise hat noch niemand gegenüber § 903 BGB den Einwand erhoben, durch diese „Inhaltsbestimmung" des Eigentums werde das Eigentum „zu Tode geschützt"; es liegt auf der Hand, daß die vielfältigen gesetzlichen Eigentumsbeschränkungen diesem Einwand jede Grundlage entziehen. Warum aber für den Schutz von Menschen insoweit etwas anders gelten soll als für den Schutz von Sachen, ist nicht ersichtlich. Der Vergleich mit dem Eigentum zeigt auch, daß die mit einer weiten Tatbestandsfassung verbundenen Einschränkungserfordernisse unproblematisch und durchführbar sind und daß ein weitgefaßter Tatbestand keineswegs wie Kloepfer vielleicht meint (Festg. BVerfG II, 407) - zu einer „nivellierenden Schrankenmaximierung" führen muß. Er führt zu nichts anderem als einer verstärkten Rechtfertigungspflicht für Eingriffe. Daß diese für Einwirkungen auf das Eigentum als Konsequenz der h. M. umfassender ist als für Einwirkungen auf den Menschen selbst, gehört vielleicht zur Bürgerlichkeit des bürgerlichen Rechtsstaats. Diese aber wurzelt in der Ideenwelt des 19. Jahrhunderts, die noch unter dem Einfluß des „Besitzindividualismus" steht (vgl. dazu C. B. Macpherson, Die politische Theorie des Besitzindividualismus. Frankfurt/M. 1967; Kriele, Staatslehre, S. 201 ff.), nicht in der vom BVerfG vertretenen „Wertordnung". Dies ist ein weites Thema für sich. 15
« BVerwGE 54, 211 (223) - Nachbarklage. 13-
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mäßigen Verhaltens anderer als gesetzliche Einschränkung des Rechts aus Art. 2 I I 1 GG genügen läßt 1 9 , dann läßt sich mit diesem dogmatischen Ansatz die Auffassimg des Bundesverwaltungsgerichts jedenfalls im Prinzip vereinbaren. In jedem Fall hängt die Verfassungsmäßigkeit einer nicht durch besondere öffentliche Interessen gerechtfertigten Beeinträchtigung davon ab, was genau unter „sozial adäquat" zu verstehen ist und ob die konkrete Beeinträchtigung sich noch als sozial adäquat rechtfertigen läßt. II. Ingerenz, zumutbare Beeinträchtigung
und Schaden
Wenn auch jede Ingerenz eine Beeinträchtigung und damit einen Eingriff darstellt, so ist doch, wie gesagt, nicht jeder Eingriff unzulässig. Unter dem Aspekt der Schutzpflicht kommt es nur darauf an, ob die verfassungsrechtliche Mindestposition des Betroffenen verletzt ist. Auch für tatsächliche Einwirkungen auf ein grundrechtliches Schutzgut gilt, was bereits für Risiken ausgeführt wurde 2 0 : Wo die Grenze der Zumutbarkeit liegt, hängt auch von dem Zweck ab, dem der Eingriff dient. Und wie das Verlangen nach völligem Ausschluß jeglichen Risikos nicht sozialverträglich wäre, so müssen auch geringfügige tatsächliche Beeinträchtigungen allein aus dem Grunde hingenommen werden, weil anders ein soziales Zusammenleben in einem modernen, dichtbevölkerten Staat nicht möglich wäre. Der Unterschied zwischen tatsächlichen und mit einer mehr oder weniger großen Wahrscheinlichkeit prognostizierbaren Beeinträchtigungen liegt im Grad der Gewißheit, mit der sie eintreten werden: Als tatsächliche Einwirkungen (Ingerenzen) bezeichnen w i r solche Einwirkungen, die w i r als notwendige Folge bestimmter Umstände erkannt haben, die also mit Gewißheit eintreten, wenn diese Umstände - etwa der bestimmungsmäßige Betrieb einer Industrieanlage - gegeben sind, während Risiken solche Einwirkungen sind, deren Eintritt nicht gewiß ist. Gemäß der korrelativen Zuordnung von Schadenspotential und Wahrscheinlichkeitsgrad läßt sich daher zunächst feststellen, daß bei Ingerenzen - also bei dem höchstmöglichen Wahrscheinlichkeitsgrad des Schadenseintritts, der Gewißheit 21 - bereits eine verhältnismäßig geringe Beeinträchtigung die Grenze dessen erreicht, was dem einzelnen ohne Rechtfertigung an einem besonderen Zweck des Gemeinwohls, sondern einfach im Interesse der Freiheit der anderen, als „sozialadäquat" zugemutet werden kann. Diesen Zusammenhang hat das Bundes-Immissionsschutzgesetz wie schon zuvor die Gewerbeordnung berücksichtigt: Der Gefahrenbegriff der Polizeigesetze ist von der Rechtsprechung dahingehend ausgelegt worden, is s.o. Fn. 12. s.o. §8 Α. I. 21 Auf der von 0 - 1 reichenden Wahrscheinlichkeitsskala mit 1 bezeichnet. 20
Β. Ingerenzrisiken als Beeinträchtigungen mit Folgerisiken
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daß eine Gefahr das hinreichend große Risiko eines Schadens ist, und unter „Schaden" verstand man die „erhebliche Beeinträchtigung" eines Rechtsguts in Abgrenzung zu „bloßen Belästigungen oder Nachteilen". 22 Während die Polizeigesetze es vornehmlich mit Prävention gegen Ingerenzverursachungsrisiken zu tun haben, ist Zweck des Bundes-Immissionsschutzgesetzes in erster Linie die Eindämmimg von Ingerenzen, und so bietet das Gesetz nicht nur Schutz vor „Gefahren", also vor dem Risiko der Schädigung, sondern auch vor „erheblichen Belästigungen" oder „erheblichen Nachteilen" (§ 1). Diese ausdrückliche Klarstellung ist begrüßenswert, wenngleich der normative Schadensbegriff ohnehin in diesem Sinne hätte ausgelegt werden müssen. 23 Die Verletzung eines Grundrechts ist ja immer dann schon gegeben, wenn das Schutzgut ohne gesetzliche Grundlage oder ohne Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes beeinträchtigt wird, so daß eine Verletzung von Art. 2 I I 1 GG nicht erst bei Verletzung der Substanz gegeben ist. Aus grundrechtlicher Sicht liegt ein „Schaden" immer dann vor, wenn die Beeinträchtigung die Zumutbarkeitsgrenze erreicht, und dies ist bei Ingerenzen eher der Fall als bei Beeinträchtigungsnsi/cen. Wenn als „Schäden" solche Beeinträchtigungen bezeichnet werden sollen, gegen die der Staat aufgrund seiner Schutzpflicht einen Unterlassungsanspruch zu geben verpflichtet ist, dann sind auch „Belästigungen" oder „Nachteile" Schäden in diesem erweiterten Sinne, sofern ihre Intensität die Schwelle dessen erreicht, was dem einzelnen als sozialadäquat im Interesse allgemeiner Freiheitlichkeit zugemutet werden kann. Unter dem Aspekt der Schädlichkeit lassen sich Ingerenzen in drei Kategorien einteilen: 1. schädliche Einwirkungen 2. Einwirkungen mit Schädigungsrisiko 3. unschädliche Einwirkungen. Die erste und die zweite Kategorie können auch kombiniert auftreten: Eine schädliche Einwirkung kann das Risiko weiterer Schadensfolgen mit sich bringen. Diese Kombination braucht hier nicht näher erörtert zu werden, weil sich die rechtliche Beurteilung ohne weiteres aus der rechtlichen Beurteilung der ersten und zweiten Kategorie ergeben. - Schädliche Einwirkungen sind keine Risiken. Die Pflicht, sie zu dulden, kann dem einzelnen nur ausnahmsweise auferlegt werden, wenn dies zur Verwirklichung eines Gemeinwohlzwecks unerläßlich ist. Die Auferlegung dieser Pflicht zu privatnützigen Zwecken kommt nicht in Betracht. Um Ingerenzrisiken handelt es sich bei der zweiten Kategorie. Auf die rechtlichen Besonderheiten dieser 22
s.o. § 4 Fn. 14. So hatte die Rechtsprechung in bezug auf Immissionen auch unzumutbare Belästigungen in den polizeirechtlichen Schadensbegriff einbezogen, vgl. OVG Münster, OVGE 11, 250 (251); 16, 266; VGH Kassel, DÖV 1950, 76. 23
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Risiken gegenüber Ingerenzverursachungsrisiken ist im folgenden einzugehen. III. Das Ingerenzrisiko Rechtsprechung und Literatur zum allgemeinen Gefahrenabwehrrecht und zum technischen Sicherheitsrecht haben den Unterschied zwischen Ingerenzverursachungsrisiken und Ingerenzrisiken bislang außer acht gelassen und Ingerenzrisiken genauso behandelt wie jedes andere Risiko auch. Deshalb mußte bei der Risikobewertung der Gesichtspunkt unter den Tisch fallen, daß beim Ingerenzrisiko nicht nur die ungewisse Möglichkeit der Verletzung des Schutzgutes besteht, sondern daß bereits eine rechtfertigungsbedürftige Beeinträchtigung des Schutzgutes vorliegt. Bringt man den Gesichtspunkt der Ingerenz bei der Risikobewertung zur Geltung, so muß man zu dem durch die Ingerenz verursachten Risiko (für Gesundheit, körperliche Unversehrtheit oder ein anderes Schutzgut) sozusagen die Belastung hinzuaddieren, der das Schutzgut schon allein durch die Ingerenz ausgesetzt ist. Die Ingerenz senkt somit die Zumutbarkeitsschwelle und verschärft die staatliche Schutzpflicht und zwar proportional zur Intensität der Beeinträchtigung. Wenn also die Ingerenz selbst bereits knapp unter der Zumutbarkeitsgrenze liegt, reicht schon ein geringes Ingerenzfolgenrisiko aus, das Faß zum Überlaufen zu bringen, also die Schutzpflicht auszulösen. Hat dagegen die Ingerenz Bagatellcharakter, kann sie die Zumutbarkeitsschwelle nur geringfügig senken; praktisch w i r d dann das Ingerenzrisiko ebenso eingeschätzt werden können wie sonstige Risiken. Für den Schutz des Lebens und der körperlichen Integrität ergibt sich daraus folgendes: Ingerenzen, die nur vorübergehend auf den Körper w i r ken und keinerlei erkennbare Folgen oder Rückstände hinterlassen, zum Beispiel Gase, deren Inhalation nicht eine manifeste Krankheit erzeugt, sondern die nur als unangenehmer Geruch oder überhaupt nicht wahrgenommen werden, sind zunächst nach der Intensität der Beeinträchtigung zu werten. Sind sie für sich genommen noch nicht „schädlich", weil sie unterhalb der allgemeinen Zumutbarkeitsschwelle liegen, kommt es darauf an, ob sie eventuell Krankheiten hervorrufen können, also ein Gesundheitsrisiko darstellen. Die Einwirkungen sind zu untersagen, wenn das Risiko schädlicher Folgen so groß ist, daß zusammen mit der Einwirkung als solcher die Zumutbarkeitsschwelle überschritten wird. Das Ingerenzfolgenrisiko kann also auch schon unterhalb der Gefahrenschwelle die staatliche Schutzpflicht auslösen. Wie groß das noch akzeptable Ingerenzrisiko sein darf, hängt von der Größe der Belastung ab, die die Ingerenz selbst darstellt. Vorübergehende Ingerenzen sind häufig nur marginale Belastungen. Dagegen sind solche Einwirkungen auf den Körper, die mit Gewißheit dauernde Veränderungen im menschlichen Organismus hervorrufen oder
Β. Ingerenzrisiken als Beeinträchtigungen mit Folgerisiken
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zur dauernden Ablagerung von Fremdstoffen 24 im Körper führen, grundsätzlich „erheblich" und zwar auch dann, wenn sie nicht manifeste Krankheiten oder sonstige Funktionsstörungen 25 auslösen und das Befinden des Betroffenen nicht belasten, denn sie stellen als solche bereits eine dauernde Verletzung der körperlichen Integrität 2 6 dar. Hierzu gehören zum Beispiel die Inhalation oder Ingestion von Fremdstoffen, die sich i m Organismus anreichern, oder Bestrahlung mit ionisierenden Strahlen 27 . Als „sozialadäquat" können derartige Beeinträchtigungen der körperlichen Integrität dem Betroffenen nur dann zugemutet werden, wenn sie unschädlich oder jedenfalls in der zugeführten Menge oder Intensität ungeeignet sind, schwerwiegende Krankheiten oder sonstige Funktionsdefekte auszulösen, also beispielsweise nicht mutagen oder kanzerogen sind. Läßt sich dieser Nachweis nicht führen, dürfen sie nur zugelassen werden, wenn sie als zur Erreichung eines spezifischen Gemeinwohlziels erforderlich gerechtfertigt werden können. 28 Das Freiheitsprinzip als solches rechtfertigt es zwar, gewisse Risiken für Leben und Gesundheit oder sogar tatsächlich (mit Gewißheit eintretende) Beeinträchtigungen der körperlichen Integrität dem einzelnen als „sozialadäquate Lasten" aufzuerlegen; dauernde Verletzungen der körperlichen Unversehrtheit rechtfertigt es aber allenfalls dann, wenn diese nicht zu schwerwiegenden Gesundheitsschäden führen können.
§ 12 Sekundäre Schutzpflichten und sekundäre Risiken Die Pflicht des Staates zum Schutz vor Risiken für grundrechtliche Schutzgüter wurde bis jetzt nur unter dem Aspekt der primären Schutzpflicht erörtert, aus der sich die Mindestanforderungen für die gesetzlichen 24 Gemeint sind „technische" Stoffe, also Stoffe, die sich nicht von Natur aus in dem Umweltmedium befinden, durch das sie auf den Körper einwirken. 25 Zu den unterschiedlichen medizinischen Krankheitsbegriffen vgl. Seewald, S. 14ff., 57 m. w. N. Nicht jede Funktionsbeeinträchtigung ist im klinischen Sinne eine Krankheit. 26 Zum Verhältnis von körperlicher Integrität und Gesundheit vgl. Seewald, S. 54ff. m.w.N. Die körperliche Integrität ist jedenfalls gegenüber dem klinischen Begriff der Gesundheit der umfassendere Ausdruck. 27 Ionisierende Strahlen - dazu gehören Röntgenstrahlen und radioaktive Strahlen - haben die Eigenschaft, aus der Elektronenhülle von Atomen des Körpergewebes einzelne Elektronen herauszuschlagen und damit die normalerweise ausgeglichene Bilanz positiver Ladungen im Atomkern und negativer Ladungen in der Atomhülle zu stören, vgl. Ludwig Rausch, Strahlenrisiko!? München 1979, S. 25ff. 28 Auch in diesem Zusammenhang muß der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz i. e. S. beachtet werden. Ob die Rechtfertigung gelingt, hängt also auch von der Größe des Gesundheitsrisikos ab, also von den potentiellen Folgen und dem Grad ihrer Eintrittswahrscheinlichkeit. Das besondere öffentliche Interesse erhöht lediglich die Zumutbarkeitsschwelle. Die Belastung mit einer Lebens- oder Gesundheitsgre/ahr läßt sich allenfalls in extremen Ausnahmesituationen mit dem Notrechtsargument rechtfertigen, s.o. § 8 Α. I.
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§ 12 Sekundäre Schutzpflichten und sekundäre Risiken
Sicherheitsstandards ergeben. In dem Umfang, in dem der Staat Schutz vor Risiken durch Risikoverursachungsverbote zu gewährleisten hat, ist er auch zur effektiven Durchsetzung dieser Verbote, zur Gewährung von Schutz gegen rechtswidrige Risiken verpflichtet. Insoweit kann zunächst auf das verwiesen werden, was bereits allgemein über die sekundären Schutzpflichten ausgeführt worden ist. 1 Hinsichtlich des effektiven Schutzes vor rechtswidrigen Risiken bestehen gegenüber den sekundären Pflichten zum Schutz vor finalen Eingriffen keine prinzipiellen Besonderheiten. Aufgrund der bei der Erörterung der Pflicht zum Schutz vor Risiken gewonnenen Erkenntnisse können jetzt aber einige Ergänzungen zur Präzisierung dessen gemacht werden, was man unter „effektivem" Schutz zu verstehen hat. Primäre und sekundäre Schutzpflichten dienen der Verhütung von Schäden, verstanden im weiten Sinne als Beeinträchtigungen von Schutzgütern. Zunächst legt der Staat in Gesetzen und Rechtsverordnungen fest, welche Sorgfaltspflichten zu beachten und welche Risiken zu vermeiden sind, damit ein Schaden nicht eintritt. Und diese Anforderungen müssen sodann effektiv durchgesetzt werden. Für die grundrechtlichen Schutzgüter, um deren Schutz es geht, bleiben dabei Risiken auf zwei Ebenen übrig: Von dem Risiko, das zu tragen der Grundrechtsträger gesetzlich verpflichtet wird, war ausführlich die Rede. Dieses Risiko wird dem einzelnen im Interesse der Möglichkeit von Freiheit anderer oder im Interesse besonderer Gemeinwohlziele zugemutet. Auf einer zweiten Ebene, bei der Durchsetzung der gesetzlichen Sicherheitsstandards, gibt es ein weiteres Risiko. So wünschenswert es wäre, daß alle Bürger sich genau an die Gesetze halten und nicht größere Risiken verursachen als rechtlich zulässig - die Erfahrung zeigt, daß damit nicht gerechnet werden kann. Im Gegenteil: Würde der Staat für die Durchsetzung der gesetzlichen Verpflichtungen nichts tun, so wären viele der Sicherheit dienenden Gesetze bald praktisch unwirksam. Neben dem rechtlich zulässigen Risiko gibt es also das Risiko rechtswidriger Risikoerzeugung und rechtswidriger Schädigimg. Auch dieses sekundäre Risiko muß bis zu einem gewissen Grade schon deshalb hingenommen werden, weil es faktisch unvermeidlich ist. Und soweit es hingenommen werden muß, ist es ebenfalls rechtmäßiges Risiko. Aber von welchem Grade ab wird dieses Risiko rechtswidrig, von welchem Grade ab ist der Staat verpflichtet, dies Risiko - wenn verhütbar - zu verhüten? A. Die Pflicht zur Störungsbeseitigung
Verletzt jemand die gesetzlichen Sicherheitspflichten und verursacht dadurch eine Gefahr für ein grundrechtliches Schutzgut, so sind die zuständigen Behörden zum Einschreiten verpflichtet. Das Einschreiten zur Besei1 s.o. § 6B. II.
Β. Die Pflicht zum Schutz durch Überwachung oder Sanktionen
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tigung bereits eingetretener und fortdauernder Gefahren und erst recht tatsächlicher Beeinträchtigungen des Schutzguts ist das Minimum dessen, was von Verfassungs wegen an effektiver Durchsetzimg rechtlich gebotener Sicherheit verlangt werden muß. Raum für ein Opportunitätsprinzip bleibt hier zwar in begrenztem Umfang hinsichtlich Art und Weise sowie Zeitpunkt des Einschreitens, hinsichtlich des Einschreitens selbst jedoch nur dann, wenn die verletzten gesetzlichen Sicherheitspflichten den verfassungsrechtlichen Mindeststandard überschreiten und das rechtswidrig verursachte Risiko diesen Mindeststandard noch nicht berührt. 2 Dies ist eine logische Konsequenz daraus, daß die Verfassung dieses Minimum an Sicherheit garantiert. Wird es rechtswidrig unterschritten, muß es wiederhergestellt werden. B. Die Pflicht zum Schutz durch Überwachung oder Sanktionen
Daß der Staat einzuschreiten hat, wenn der verfassungsrechtlich geforderte und gesetzlich vorgeschriebene Mindestsicherheitsstandard - grundsätzlich also die Gefahrenschwelle - tatsächlich unterschritten wird, steht somit fest. Was aber hat der Staat zu tun, um zu verhindern, daß eine solche Gesetzesverletzung überhaupt vorkommt? Auf die in Betracht kommenden Mittel zur effektiven Schadensverhütung wurde bereits hingewiesen 3 : Neben den Streitentscheidungs- und Rechtsdurchsetzungspflichten sowie der eben erörterten Pflicht zum Einschreiten bei Störungen, also zur Beseitigung andauernder Rechtsverletzungen, hat der Staat auch die Pflicht, durch geeignete Vorsorgemaßnahmen dafür zu sorgen, daß es zu Rechtsverletzungen möglichst gar nicht erst kommt. Diese Verantwortung des Staates für die Verhütung rechtswidrig durch Dritte verursachte Beeinträchtigungen bzw. Risiken folgt zwar nicht aus der Zurechnung kraft Rechtsetzung, aber aus der allgemeinen staatlichen Schutzpflicht. 4 Als Mittel der Vorsorge gegen Rechtsverletzungen kommt vor allem die Überwachung der Rechtmäßigkeit des Verhaltens in Betracht, die nicht nur dazu dient, bereits eingetretene Gefahren aufzudecken, sondern auch den Kontrollierten, der mit der Überwachung rechnen muß, zum vorschriftsmäßigen Verhalten zu bewegen. Dies setzt in der Regel voraus, daß es Sanktionen für die Verletzung von 2 Wird das geschützte Gut bereits tatsächlich beeinträchtigt, ist ein Schaden bereits eingetreten, so ist der Mindeststandard in jedem Fall unterschritten, so daß kein Raum für ein Ermessen bleibt, ob eingeschritten werden muß, vgl. z.B. Scholz, NJW 1983, 709; Merten, Rechtsstaat und Gewaltmonopol, S. 42f. - Auf Einzelheiten der Pflicht zum polizeilichen Einschreiten kann hier nicht weiter eingegangen werden, vgl. dazu bereits oben § 6 Β. II. 2. b). Es sei nur angemerkt, daß die effektive Möglichkeit zivilrechtlichen Schutzes die verfassungsrechtliche Pflicht zum polizeilichen Einschreiten ausschließen kann; dasselbe gilt für das - unter Umständen unterstellbare - Einverständnis des Betroffenen mit dem Verzicht auf Einschreiten. 3 s.o. §6 B . I I . 4 s.o. § 6 Α. I.
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§ 12 Sekundäre Schutzpflichten und sekundäre Risiken
Sicherheitspflichten gibt, und zwar - zumindest bei schwerwiegenden Rechtsgutgefährdungen - auch Sanktionen strafrechtlicher Art, denn ohne die Möglichkeit des Einsatzes von Sanktionen ist die effektive Durchsetzimg rechtlicher Pflichten erfahrungsgemäß nicht möglich. Auf die Mittel der Durchsetzung rechtlicher Sicherheitspflichten kann hier nicht näher eingegangen werden. Die Verfassimg läßt dem Gesetzgeber ja hinsichtlich der Art und Weise des zu gewährenden Schutzes einen weiten Gestaltungsspielraum, der lediglich dadurch begrenzt wird, daß einerseits die eingesetzten Mittel nicht gegen die Verfassung verstoßen dürfen, andererseits ein bestimmtes Mittel dann eingesetzt werden muß, wenn anders der verfassungsrechtlich gebotene Schutz nicht erreicht werden kann. Zu klären ist also die Frage, welches Maß an Sicherheit die Verfassung gegenüber der rechtswidrigen Verursachung von Risiken oder allgemein gegenüber rechtswidriger Schädigung verlangt, wie effektiv also der vom Staat hiergegen zu gewährende Schutz im Ergebnis sein muß. Erst hieran läßt sich dann im Einzelfall bemessen, ob auch der Einsatz eines bestimmten Mittels - etwa intensivere Überwachung oder schärfere Sanktionen - zur Erreichung des Ziels erforderlich ist. Die Frage lautet demnach, anders formuliert: Wie groß darf das Risiko rechtswidriger Risikoverursachung sein, gegen welches staatliche Schutzmaßnahmen nicht mehr geboten sind? Wie groß darf das aus unterbliebenem staatlichem Schutz resultierende Risikoverursachungsrisiko sein? Der Versuch, totale Sicherheit herzustellen und jedes rechtswidrige Verhalten unmöglich zu machen, müßte - abgesehen davon, daß er von vornherein vergeblich wäre - in den totalen Polizei- und Überwachungsstaat führen. Das Grundgesetz läßt es nicht zu, einen solchen Versuch zu unternehmen. Dem Ziel der Sicherheit darf der Verfassungsstandard der Freiheit nicht geopfert werden. Auch vom Risiko der rechtswidrigen Risikoerzeugung muß also ein „Rest" in Kauf genommen werden; aber wie groß darf dieses „Restrisiko" sein? Wie gezeigt5, ergeben sich aus den Grundrechten Mindestanforderungen an die zu gewährleistende Sicherheit, die allerdings nicht starr festgelegt sind, sondern je nach Zweck der Risikotragungspflicht variieren können. Für solche Risiken, die sich allein durch den Zweck der Ermöglichung freiheitlichen sozialen Zusammenlebens rechtfertigen, durch in diesem Sinne verstandene „Sozialadäquanz", wurde als Größe des zu vermeidenden Risikos die Gefahrenschwelle angegeben. Und wie groß die Schädigungswahrscheinlichkeit sein muß, damit eine Gefahr vorliegt, hängt von der Größe des potentiellen Schadens ab. An diesen Kriterien haben sich auch die sekundären Schutzpflichten zu orientieren. Wenn die Grundrechte verlangen, daß („erhebliche") Gefahren 5 s.o. §§7-9.
Β. Die Pflicht zum Schutz durch Überwachung oder S a n k t i o n e n 2 0 3
für die grundrechtlichen Schutzgüter verhütet werden müssen, dann beschränkt sich dieses Postulat nicht auf eine bestimmte Art von Gefahren; es gilt also nicht nur für gesetzlich erlaubte Risiken, sondern für Gefahren allgemein. Daraus folgt, daß das rechtmäßig erzeugte Risiko zusammen mit dem Risiko rechtswidriger Risikoerzeugung die Gefahrenschwelle nicht überschreiten darf. Wird mit einer solchen Folgerung aber nicht alles über den Haufen geworfen, was bisher über die primäre Schutzpflicht, über die verfassungsrechtlich zu fordernden (primären) Sicherheitsstandards gesagt wurde? Müßte bei Berücksichtigung des Risikoverursachungsrisikos im Rahmen der Risikobeurteilung das rechtlich erlaubte Risiko nicht konsequenterweise unterhalb der Gefahrenschwelle festgelegt werden? Dieser Einwand, der sich zunächst aufdrängt, ist leicht auszuräumen: Das Risiko der rechtswidrigen Risiko Verursachung ist für jede zu beurteilende Risikoquelle zu ermitteln. Mag die globale Wahrscheinlichkeit, daß es zu Rechtsverletzungen kommt, auch noch so groß sein, so ist die Wahrscheinlichkeit, daß ein bestimmtes Individuum eine Rechtsverletzung begeht oder daß von einer bestimmten Risikoquelle ein rechtswidrig großes Risiko ausgeht, aufgrund des statistischen Schnitts in der Regel dermaßen gering, daß es im Rahmen der Risikobeurteilung praktisch unter den Tisch fallen kann. Sollte allerdings die Gesetzestreue im allgemeinen oder insbesondere in bezug auf bestimmte Arten von gesetzlichen Sicherheitspflichten auf ein so niedriges Niveau sinken und die Zahl der Rechtsverletzungen derart ansteigen, daß dies in bezug auf jedes Individuum beziehungsweise in bezug auf jede zu beurteilende Risikoquelle eine relevante Erhöhung des von ihr ausgehenden Risikos ergibt, dann wäre die öffentliche Sicherheit und Ordnung im allgemeinen oder auf einem bestimmten Sektor dermaßen zerrüttet, daß der Staat sich dies als Verletzung seiner allgemeinen Pflicht zur Aufrechterhaltung von Sicherheit und Ordnimg zurechnen lassen müßte. Er wäre dann verpflichtet, das Gemeinwesen wieder in einen solchen Zustand zu bringen, in dem das allgemeine Rechtsverletzungsrisiko bei der Umrechnung auf die einzelne Risikoquelle keinen im Rahmen einer Risikobeurteilung relevanten Faktor mehr ergäbe. Mit welchen Mitteln dieses Ziel anzustreben ist, läßt sich abstrakt überhaupt nicht diskutieren. Ob einer sich außerordentlich häufenden Verletzung von Schutznormen mit verschärften Sanktionen, wirksameren Kontrollen oder anderen Mitteln begegnet werden kann oder muß, hängt von der konkreten Lage ab, von der Art der Verstöße und den vorhandenen Mitteln, die hiergegen als wirksam erscheinen. Verfassungswidrig handeln die zuständigen Staatsorgane jedenfalls dann, wenn sie zur Behebung der Gefahr überhaupt nichts tun oder wenn sie, nachdem sich zunächst eingesetzte Mittel als unwirksam erwiesen haben, nicht weitere Mittel ausprobie-
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§ 12 Sekundäre Schutzpflichten und sekundäre Risiken
ren. Nur wenn die Erfahrung zeigt, daß ohne Anwendung eines bestimmten Mittels Gefahren nicht verhütet werden können, verdichtet sich die staatliche Schutzpflicht auch auf die Pflicht zum Einsatz dieses Mittels. Beispiel: Es besteht die Möglichkeit, daß Fleischwaren i n unzulässig hohem Maße mit Schadstoffen belastet sind, etwa mit bei der Mast verwendeten Hormonen. Aufgrund praktischer Erfahrungen hat sich gezeigt, daß die Überwachung der Fleischproduktion durch Stichproben - unerläßlich ist, weil sonst das Risiko, daß gesundheitsschädliches Fleisch an den Verbraucher kommt, so groß ist, daß bereits eine Gesundheitsgefahr gegeben wäre. Die Überwachung der Kleischproduktion beim Produzenten muß also so intensiv, die Stichproben so häufig sein, daß das Gesundheitsrisiko unter Einbeziehung des Risikos normwidriger Schadstoffbelastung unter die Gefahrenschwelle gedrängt wird.
Ab welcher Größe nun ist das Rechtsverletzungsrisiko für die Risikobeurteilung relevant? I n § 9 Β wurde gezeigt, daß der Begriff der „Gefahr" ohne Wertungen nicht konkretisierbar ist und daß der Gesetzgeber hinsichtlich der Bewertung der Schutzgüter zwecks Korrelierung mit dem Wahrscheinlichkeitsgrad einen Wertungsspielraum hat. Daraus ergibt sich eine „Bandbreite" 6 verfassungsrechtlich zulässiger Konkretisierungen des Gefahrenbegriffs, so daß die Erhöhung des von einer Risikoquelle ausgehenden Risikos um das Rechtsverletzungsrisikos aus verfassungsrechtlicher Sicht solange irrelevant ist, wie das Gesamtrisiko innerhalb dieser „Bandbreite" bleibt. Soviel zum allgemeinen Rechtsverletzungsrisiko. Sieht man von dem Fall allgemeiner Zerrüttung der öffentlichen Sicherheit ab, ist das von der einzelnen Risikoquelle ausgehende Risiko der Verletzung von Sicherheitsvorschriften in der Regel vernachlässigbar gering. Der Staat kann bei der Risikobeurteilung von der grundsätzlichen Rechtstreue der Bürger ausgehen, solange er im ganzen diejenigen tatsächlichen Bedingungen aufrechterhält, die dies ermöglichen. Solange diese Bedingungen gegeben sind, kann die Möglichkeit rechtswidriger Risikoerzeugung das Schädigungsrisiko nur dort in relevanter Weise erhöhen, wo entweder konkrete tatsächliche Anhaltspunkte ein insoweit erhöhtes Risiko für eine konkrete Risikoquelle begründen 7 oder wo es für bestimmte Arten von Risikoquellen von vornherein als unmöglich erscheint, ohne besondere Vorsorgemaßnahmen gegen die Verletzung von Sicherheitsvorschriften das Risiko unterhalb der verfassungsrechtlich geforderten Schwelle zu halten. Letzteres ist bei Industrieanlagen mit großem Gefährdungspotential regelmäßig der Fall, und zwar aus zwei Gründen: Erstens kann die sehr kleine Wahrscheinlichkeit der Verletzung von Sicherheitsnormen, die normalerweise in der „Bandbreite" des Gefahrenbegriffs untergeht, einen rele6 Diesen Begriff verwenden BVerwG, DVB1.1978, 591 (594); BVerfGE 49, 89 (136). 7 Vgl. z.B. § 4 I Nr. 1 GaststättenG.
Β. Die Pflicht zum Schutz durch
b e r w a c h g oder Sanktionen
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vanten Risikobeitrag darstellen, wenn der potentielle Schaden sehr groß ist. Für das Rechtsverletzungsrisiko gilt insoweit nichts anderes als für das Verhältnis von Eintrittswahrscheinlichkeit und Schadenpotential im allgemeinen. 8 Allein die Möglichkeit, daß der Betreiber der Anlage die gesetzlichen Sicherheitsvorschriften nicht beachtet, begründet dann die Pflicht zu intensiver Kontrolle. Zweitens kann die Konkretisierung von Sicherheitsstandards im Hinblick auf technische Sicherheitsvorkehrungen mit derart komplexen rechtlichen und technischen Problemen belastet sein, daß man vom gesetzestreuen Anlagenbetreiber gar nicht erwarten kann, daß er ohne behördliche Kontrolle den rechtlichen Anforderungen an die Errichtung der Anlage gerecht wird. Wenn also wegen des großen Schadenspotentials das Risiko einer Nichtbeachtung der gesetzlichen Sicherheitsanforderungen nicht eingegangen werden darf, oder wenn wegen der Konkretisierungsschwierigkeiten mit der Erfüllung der Sicherheitsanforderungen ohne Kontrolle nicht gerechnet werden kann, läßt sich unter Umständen das verfassungsrechtlich gebotene Sicherheitsziel nur noch durch das Mittel des Verbots mit Erlaubnisvorbehalt erreichen, das anzuwenden in diesem Fall verfassungsrechtlich geboten ist. Dasselbe kann für die verfassungsrechtliche Pflicht zur Beteiligung Betroffener am Verwaltungsverfahren gelten. Diese Pflicht setzt ja voraus, daß es überhaupt eine Pflicht zur Durchführung eines Verwaltungsverfahrens gibt. Sie fällt nicht als „status activus processualis" vom Himmel 9 , sondern hat ihren grundrechtsdogmatischen Ort in diesem Zusammenhang. Sie besteht insoweit und nur insoweit, als sie notwendiges Mittel zur Vermeidung von Gefahren für grundrechtliche Schutzgüter 10 ist. 1 1 Der Maßstab der sekundären Schutzpflichten ist demnach derselbe wie derjenige der primären Schutzpflicht: Gefahren für grundrechtlich geschützte Güter sind zu vermeiden, sofern nicht ausnahmsweise wegen Rechtfertigung durch ein besonderes Gemeinwohlziel die Zumutbarkeitsschwelle höher liegt. Das Risiko der rechtswidrigen Risikoerzeugung muß daher durch Maßnahmen der Risikoabwehr und/oder durch Sanktionsdrohungen so niedrig gehalten werden, daß es das so bestimmte verfassungsrechtlich zulässige Risiko nicht wesentlich erhöht, so daß der verfassungsrechtlich gebotene Sicherheitsstandard insgesamt gewahrt bleibt.
8
Dazu oben § 9. Zur Behauptimg eines solchen Status vgl. Häberle, W D S t R L 30 (1972), 86ff., 121 ff.; Simon / Heußner, Sondervotum BVerfGE 53, 80. 10 Beziehungsweise zur Beachtung des sonst aus der Verfassung ableitbaren Sicherheitsstandards. 11 Selbstverständlich kann der Gesetzgeber weitergehende Verfahrensrechte einräumen, die dann auch „dem Grundrechtsschutz dienen". - Zum „Grundrechtsschutz durch Verfahren" vgl. im übrigen die oben § 6 Fn. 57 nachgewiesene Lit. 9
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§ 13 Langzeitrisiken und zeitliche Dimension der Schutzpflichten
§ 13 Langzeitrisiken und zeitliche Dimension der Schutzpflichten Die unerwünschten Folgen der modernen Technik können von langer Dauer sein. Das wirft die Frage auf, für wen der zum Schutz verpflichtete Staat rechtlich die Verantwortung trägt: nur für die heute lebenden, oder auch für die, die nach uns kommen? Es gibt schädliche Technikfolgen, denen w i r uns bereits heute aussetzen, die w i r aber nicht wieder aus der Welt schaffen können, sondern die noch andauern werden, wenn wir nicht mehr da sind, und unsere technischen Artefakte bringen auch solche Risiken hervor, die für uns noch keine Gefahr darstellen, jedoch Leben und Gesundheit künftiger Menschen gefährden können. Für genetische Schäden, die erst Generationen später körperliche Mißbildungen hervorbringen, bis dahin aber den Träger der geschädigten Erbinformation nicht belasten, stellt die Frage kein rechtliches Problem dar: Die Fähigkeit, gesundes Leben weiterzugeben, gehört zur „körperlichen Unversehrtheit" im Sinne des Art. 2 I I 1 GG. Deshalb ist eine genetische Schädigung bereits heute ein Eingriff in das Schutzgut des Art. 2 I I 1 GG, dessen Intensität im Hinblick auf die zu erwartenden Folgen beurteilt werden muß. Ist aber der Staat auch zur Verhütung solcher Schäden verpflichtet, von denen erst Menschen betroffen sein werden, die heute noch nicht auf der Welt sind?1 Beispiel: Nehmen wir an, ein Bastler konstruierte eine Zeitbombe, die er auf seinem Grundstück mitten in der Stadt vergrübe. Die Sprengkraft reiche aus, Menschen in einem Umkreis von 200 m zu töten oder schwer zu verletzen. Der Zünder sei so eingestellt, daß die Bombe in 250 Jahren explodiert. Die Bombe sei so beschaffen, daß sie vor Ablauf von 200 Jahren aus physikalischen Gründen unmöglich explodieren könne. Dürfte der Gesetzgeber so etwas erlauben? Müßte die Polizei heute schon eingreifen, obwohl für heute lebende Menschen nicht die geringste Gefahr bestünde?2 Würde der Staat durch Duldung dieses Verhaltens gegen Art. 2 I I 1 GG verstoßen? - Das Beispiel wurde deshalb konstruiert, weil die praktisch relevanten Beispiele aus den Bereichen der atomaren Entsorgimg oder etwa der Umweltchemikalien meist mit sehr schwierigen tatsächlichen Kausalitäts- und Prognoseproblemen belastet sind, die den Blick auf die grundrechtsdogmatischen Grundprobleme oft verstellen.
1 Auf den Grundrechtsschutz des nasciturus - vgl. dazu BVerfGE 39, 1 (36ff.) „Fristenlösung" - ist hier nicht einzugehen. Es geht um den Schutz noch nicht gezeugter Menschen. - Am ausführlichsten hat sich mit Fragen des „Nachweltschutzes" soweit ersichtlich bislang Hofmann, Rechtsfragen der atomaren Entsorgung, S. 224ff., 258-293, auseinandergesetzt. Hierauf sei zum folgenden bereits generell verwiesen. 2 Verstöße gegen das Sprengstoffgesetz oder gegen strafrechtliche Normen sollen dabei nicht berücksichtigt werden.
Α. Grundrechtsschutz für künftige Generationen
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A. Grundrechtsschutz für künftige Generationen
I. Objektive Schutzpflicht und zeitliche Auswirkungen heutiger Maßnahmen Heute produzierte Risiken können nicht heute, im Zeitpunkt ihrer rechtlichen Beurteilung, Grundrechte künftig lebender Menschen verletzen. Ohne Subjekt gibt es kein subjektives Recht. Die Frage lautet aber: Hat der Staat schon heute die grundrechtlichen Schutzgüter künftig lebender Menschen bei Maßnahmen, die sich in die Zukunft erstrecken, zu achten beziehungsweise vor schädlichen Auswirkungen von Maßnahmen Dritter zu schützen? Die staatlichen Pflichten, die grundrechtlichen Schutzgüter zu achten und sie vor Eingriffen Dritter zu schützen, sind - das wurde bereits gezeigt3 - „objektive" Pflichten: Sie bestehen unabhängig davon, ob ihnen im Augenblick ein subjektiver Anspruch gegenübersteht. Mit den Grundrechten als subjektiven Rechten sind sie dadurch verknüpft, daß sie sich auf die grundrechtlichen Schutzgüter beziehen, die als Individualrechtsgüter einem Subjekt zugeordnet sind, das gegen die Beeinträchtigung des Gutes einen Abwehranspruch hat. Die Möglichkeit, daß die Pflicht zur Unterlassung von Eingriffen oder zum Schutz gegen Eingriffe unabhängig vom subjektiven Abwehrrecht besteht, resultiert logisch aus der Möglichkeit, daß eine Maßnahme Auswirkungen hat, von denen sich im Zeitpunkt, in dem sie getroffen wird, noch nicht sagen läßt, wen sie treffen werden, von denen sich aber bereits mit hinreichender Wahrscheinlichkeit sagen läßt, daß sie jemanden treffen werden. Kommt es für die staatliche Schutzpflicht nicht darauf an, ob ein bestimmter Mensch, sondern darauf, daß überhaupt jemand gefährdet ist, dann muß sich diese Schutzpflicht auch in die Zukunft erstrecken. Einen grundrechtsdogmatischen Grund, die staatliche Unterlassungs- oder Schutzpflicht auf den Schutz der zum Zeitpunkt der zu beurteilenden Maßnahme lebenden Menschen zu beschränken, gibt es dann nicht. Der Staat ist also auch verpflichtet, die grundrechtlichen Schutzgüter künftiger Generationen zu achten und zu schützen.4 Für diese Pflicht gibt es keine prinzipielle rechtliche Grenze in der Zeit; allerdings gibt es faktische Grenzen, die aus der Beschränktheit des menschlichen Erkenntnisvermögens resultieren. Nicht das Grundgesetz begrenzt die Reichweite der staatlichen Schutzpflicht in die Zukunft, sondern die zeitlichen Grenzen dieser Pflicht ergeben sich daraus, daß man nur solche Wirkungen seines Verhaltens verantworten kann, die sich voraussehen und beherrschen lassen. Voraussehbarkeit meint 3
s.o. §9 Α. I. 3. So auch Hofmann, Rechtsfragen, S. 258ff.; Benda, in: Technische Risiken und Recht, S. 7; Wagner, in: Wagner / Ziegler / Closs, Risikoaspekte, S. 166. 4
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§ 13 Langzeitrisiken und zeitliche Dimension der Schutzpflichten
freilich nicht Kenntnis der Kausalverläufe, die zu einem schädigenden Ereignis führen. Voraussehbar und damit verantwortbar ist in Anbetracht der empirisch bestätigten Kenntnis unseres notorischen Erkenntnisdefizits, daß w i r die langfristigen Auswirkungen technischer Systeme nicht genau prognostizieren können und daß es auch zu Wirkungen kommen kann, an die wir gerade nicht denken. Ist der Staat rechtlich auch verpflichtet, vor dem Risiko der Fehlprognose, dem uns bekannten Risiko unserer Unkenntnis, Schutz zu bieten? Dies hängt - wie bei jedem anderen Risiko auch - von der Größe des Risikos ab: von der Größe des potentiellen Schadens und in Relation dazu von der Wahrscheinlichkeit. Doch w i r d auch die Größe dieses Risikos häufig nicht erkennbar sein. Hier liegen die kognitiven Grenzen der Verantwortlichkeit: Läßt sich mangels tatsächlicher Anhaltspunkte ein Risiko nicht feststellen, kann es auch nicht verantwortet werden. Und je weniger tatsächliche Anhaltspunkte für einen möglicherweise schädigenden Kausalverlauf man hat, desto geringer w i r d die Wahrscheinlichkeit dafür sein, daß der Schaden eintritt. Die mittelbaren Auswirkungen unseres heutigen Verhaltens auf eine ferne Zukunft lassen sich meist überhaupt nicht prognostizieren. Je weiter w i r voraussehen, desto weniger wissen w i r über das, was sein wird. Und wo unsere Fähigkeit endet, zu erkennen, ob heutige Maßnahmen sich künftig schädlich auswirken können oder ob ein größerer Schaden entstehen wird, wenn wir diese Maßnahmen unterlassen, endet die Zurechenbarkeit der Folgen und damit die Verantwortlichkeit. 5 In den allermeisten Fällen alltäglichen Verhaltens, bei den allermeisten Entscheidungen alltäglicher Politik, muß deshalb an die Auswirkungen auf künftige Generationen nicht gedacht werden. Wo w i r aber langlebige technische Systeme schaffen und wo w i r Entscheidungen treffen, deren Wirkungen weit in die Zukunft reichen, haben wir die Zukunft auch zu bedenken. Und je größer unsere Macht wird, die Welt mit Wirkung in die Zukunft umzuformen, vor allem: je mehr Kenntnis w i r über die künftigen Auswirkungen unseres Verhaltens gewinnen, desto weiter reicht auch unsere Verantwortung in die Zukunft. 6 Die mathematisch-naturwissenschaftliche Rationalität der modernen Technik steigert nicht nur die Intensität technischer Realisationen und verlängert nicht nur die Wirkungen der Technik in die Zukunft: Durch die naturwissenschaftliche Berechenbarkeit technischer Systeme w i r d auch die Kenntnis der Kausalzusammenhänge und die Prognostizierbarkeit dieser Wirkungen verbessert und damit ihre Verantwortbarkeit gesteigert. Geht es z.B. um die Einführung neuer Technologien, so ist es daher keine Ausnahme, sondern die Regel, daß auch die Risiken für künftige Generationen zu beachten 5
Ähnlich Wagner, in: Wagner / Ziegler / Closs, Risikoaspekte, S. 167. Zu diesem Thema ausführlich unter ethischem Aspekt Jonas, Das Prinzip Verantwortung, S. 222ff.; s. auch oben § 2 A. VII. 6
Α. Grundrechtsschutz für künftige Generationen
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sind. 7 Und es gibt sogar Fälle, in denen die zeitliche Distanz die Schädigung durch ein technisches System wahrscheinlicher macht, als sie es heute ist, so daß sie die Anforderungen an den Schutz vor diesem Risiko verschärft. 8 Der Beispielfall ist demnach wie folgt zu lösen: Die Wahrscheinlichkeit, daß in 250 Jahren die Bombe explodiert, daß in 250 Jahren die Stadt noch existiert und daß dort noch Menschen leben, daß also bei der Explosion der Bombe jemand verletzt wird, diese Wahrschëinlichkeit ist so groß, daß angesichts der Größe des potentiellen Schadens eine Gefahr gegeben ist, und zwar schon heute. Der Staat darf diese Gefahr nicht dulden, sonst verstößt er gegen Art. 2 I I 1 GG; die Polizei muß aufgrund der polizeilichen Generalklausel einschreiten. Freilich besteht hinsichtlich des Zeitpunkts des Einschreitens sowohl aus polizeirechtlicher als auch aus verfassungsrechtlicher Sicht ein gewisser Spielraum, da die Gefahr nicht akut ist. Bei längerem Zuwarten besteht aber die Gefahr, daß die Sache in Vergessenheit gerät. Diese Risikoerhöhung kann nicht hingenommen werden.
II. Einwände gegen die Zukunftswirkung staatlicher Schutzpflichten Daß es eine Verantwortung auch für die nach uns lebenden Menschen gibt, eine rechtliche zumal, scheint vielen noch ein undenkbarer Gedanke zu 7 Zur Begründung der staatlichen Verantwortung für Langzeitrisiken beruft sich Hofmann, Rechtsfragen, nicht nur auf die „objektive Wirküng" der Grundrechte (S. 260f.), sondern außerdem auf die Präambel des Grundgesetzes (S. 270ff.) und das Selbstbestimmungsrecht der Völker (S. 285ff.). Beide Zusatzargumente führen nicht weiter: In der Präambel ist zwar von der „Verantwortung vor Gott und den Menschen" die Rede, und diese Verantwortimg schließt sicher die Verantwortung für künftige Folgen des Verhaltens ein. Aber es handelt sich bei dieser invocatio um ein historisches Bekenntnis des Verfassunggebers, bezogen auf sein Werk, die Verfassunggebung, nicht um eine normative Vorgabe für künftiges staatliches Handeln. Daß alle Staatsorgane verantwortlich zu handeln haben, versteht sich von selbst, aber die verfassungsrechtlichen Kriterien für diese Verantwortung ergeben sich aus den Verfassungsrechtssätzen, und aus der Präambel läßt sich selbst für die Interpretation der einschlägigen Normen kein zusätzlicher Gesichtspunkt gewinnen. Daß der Verfassunggeber sich an naturrechtlichen Vorstellungen orientierte, an Werten, die er für alle Zeit für unverfügbar hielt, bestätigt lediglich das, was auch Art. 1 GG mit hinreichender Klarheit zum Ausdruck bringt. (Zur Bedeutung der invocatio dei i n der Präambel eingehend Murswiek, Die verfassunggebende Gewalt, S. 36ff., 76ff.) - Daß ein unter Umständen i n tausend Jahren im Gebiet der Bundesrepublik lebendes anderes Volk von uns erzeugten Risiken ausgesetzt wäre, könnte entgegen Hofmann das Selbstbestimmungsrecht nicht im geringsten berühren. Das Selbstbestimmungsrecht - dazu vgl. Karl Doehring, Das Selbstbestimmungsrecht der Völker als Grundsatz des Völkerrechts. Berichte der Deutschen Gesellschaft für Völkerrecht 14 (1974), S. 7ff.; Felix Ermacora, Die Selbstbestimmungsidee. Wien 1974; ders., Die Entwicldung des Selbstbestimmungsrechts i m Völkerrecht, in: Menschenrechte und Selbstbestimmung, Bonn 1980, S. 9ff.; Dieter Blumenwitz, Die Menschenrechtspakte der Vereinten Nationen und das Selbstbestimmungsrecht der Völker, ebd. S. 21 ff. - gibt keinem Volk einen Anspruch darauf, einmal ein bestimmtes Gebiet, in dem es noch nie gelebt hat, zu erwerben oder gar ein neu erworbenes Gebiet in einem bestimmten - risikofreien - Zustand zu erhalten. Der Grundsatz der Staatensouveränität schließt es aus, daß ein Staat auf seinem Gebiet ein potentielles künftiges Selbstbestimmungsrecht eines anderen Volkes zu achten hat, das irgendwann dieses Gebiet erwerben könnte. 8 Dies hat Hofmann, Rechtsfragen, S. 281 f., für die atomare Entsorgung eindrucksvoll demonstriert. Vorsichtig zustimmend Benda, in: Technische Risiken und Recht, S. 7.
14 Murswiek
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§13 Langzeitrisiken und zeitliche Dimension der Schutzpflichten
sein. Die Ablehnung jeder Zukunftsverantwortung beruht aber auf einem durch die technische Revolution gründlich überholten Weltbild, auf der Vorstellung von einer Welt, die der Mensch zwar umgestaltet, die aber doch späteren Generationen in einem Zustand übergeben wird, in dem zumindest die Bedingungen der nackten Existenz unangetastet bleiben. Dies war eine vorindustrielle Selbstverständlichkeit. Ihr fehlt heute die faktische Basis, und auf sie noch heute ethische und rechtliche Postulate zu gründen, ist ein cultural lag, ein jahrhundertlanges Nachhinken des moralischen Bewußtseins hinter den Möglichkeiten menschlichen Tuns. Der penetrante Hinweis darauf, daß noch jede Generation nur an sich selbst gedacht habe und daß es Umweltzerstörungen großen Ausmaßes mit langdauernder, generationenübergreifender Wirkung schon in der Antike gegeben habe, wie die Abholzung der griechischen Wälder beweise, daß es sozusagen zur Natur des Menschen gehöre, seine Umwelt zu schädigen9, dieser Hinweis ist noch nicht einmal richtig. Er macht die Ausnahme zur Regel. Die vorindustrielle Regel war zwar nicht die, daß der Mensch sich „umweltfreundlich" verhalten hat, sondern sie war die, daß er es noch nicht nötig hatte, sich „umweltfreundlich" zu verhalten: Er konnte schmutzen und zerstören, soviel er wollte - die Lebensbedingungen der künftigen Generationen blieben im wesentlichen unangetastet; sie zu zerstören, reichte die technische Macht des Menschen nicht aus. Und wo es Ausnahmen hiervon gab, wie etwa die Möglichkeit der Vernichtung von Wäldern mit der Folge von Verkarstung und Verwüstung ganzer Landstriche, so zeigt die Erfahrung, daß in der Regel die Menschen von dieser Möglichkeit nicht Gebrauch gemacht, sondern sehr wohl an künftige Generationen gedacht haben: Die Wälder, denen wir heute die Lebensbedingungen durch Schadstoffe entziehen, sind nicht von uns gepflanzt worden. Richtig ist auch, daß keine Generation einen Anspruch darauf hat, eine bestimmte Welt in einer bestimmten Beschaffenheit als unser Erbe zu übernehmen, daß jede Generation nicht nur die Errungenschaften der vorigen, sondern auch ihre Schulden und Verwüstungen notwendig übernehmen muß. Geschichte besteht eben darin, daß jede Generation auf dem Boden dessen weitermachen muß, was ihr die vorige hinterläßt. 10 Dennoch ist die Frage erlaubt, ob es Grenzen dafür gibt, was eine Generation der nächsten hinterlassen darf. Diese Frage zu bejahen - und sie muß bejaht werden - , ist keine Absage an die Geschichtlichkeit des Menschen zugunsten der Utopie eines Naturzustands, von dem aus jede Generation ganz von vorn anfangen und ihre eigene Welt gestalten könne; es ist nicht mehr als ein bescheidener Versuch, die außerordentlich gewachsenen menschlichen Handlungs-, Gestaltungs- und Vernichtungsmöglichkeiten rechtlich und moralisch wieder einzuholen.
9 10
Vgl. Armin Möhler, Criticón Nr. 40, März/April 1977, S. 88. Vgl. z.B. Wagner, in: Wagner / Ziegler / Closs, Risikoaspekte, S. 168 m.w.N.
Α. Grundrechtsschutz für künftige Generationen
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Verfassungsrechtlich gesehen geht es dabei freilich nicht um irgendeine Globalverantwortung für „die Umwelt"; sondern es geht um den Schutz verfassungsrechtlicher Schutzgüter; für die Zukunft gilt insofern nichts anderes als für die Gegenwart. Es geht beispielsweise um den Schutz des menschlichen Lebens, den Art. 2 I I 1 GG gebietet, und wenn unsere technischen Möglichkeiten heute so weit in die Zukunft reichen, daß wir durch unser Handeln das Leben von Menschen in hundert oder tausend Jahren gefährden, dann muß sich diese Gefährdung an Art. 2 GG messen lassen. Sollte heute die Gefahr entstehen, daß in hundert Jahren kein genießbares Trinkwasser mehr zur Verfügung steht, weil w i r den Boden seiner Fähigkeit zum Filtern des Wassers berauben und ihn so vergiften, daß selbst das Grundwasser gesundheitsschädlich sein wird, so verpflichtet schon heute Art. 2 GG zu Gegenmaßnahmen. Häufig hört man dagegen die Ansicht, was in hundert Jahren passiere, gehe uns deshalb heute nichts an, weil „die Menschheit noch immer einen Ausweg gefunden" habe und der Verstand, der Risiken produziere, auch in der Lage sein werde, geeignete Mittel zu ihrer Beseitigung zu erfinden. 11 Die juristische Relevanz solch trostvollen Zuspruchs ist freilich begrenzt: Die Möglichkeit, daß ein Weg zur Risikobewältigung, den wir heute noch nicht kennen, später gefunden wird, die Chance überhaupt, daß alles auf heute noch nicht voraussehbare Weise noch einmal gut geht, diese Chance vermindert zwar das Risiko, senkt den Grad der Schädigungswahrscheinlichkeit - aber mangels näherer Anhaltspunkte für ihre Realisierung nur in praktisch unbeachtlichem Maße. Auf diese Chance allein darf man nicht bauen, jedenfalls dann nicht, wenn das Risiko auch unter Berücksichtigung aller Chancen die Gefahrenschwelle überschreitet. Die bloß theoretische Möglichkeit, daß dem menschlichen Erfindergeist noch rechtzeitig etwas einfalle, der Umstand also, daß sich das Gegenteil nicht beweisen läßt, macht Maßnahmen der Gefahrenvorsorge in keinem Fall entbehrlich. 12 Ein relevanter Beitrag zur Minderung der Schädigungswahrscheinlichkeit ist die Chance künftiger Risikobewältigung erst dann, wenn es tatsächliche Anhaltspunkte gibt, die für ihre Verwirklichimg sprechen, wenn etwa eine zur Bewältigung des Risikos geeignete Technologie sich bereits in Entwicklung befindet und man konkrete Prognosen über ihre Realisierbarkeit machen kann. Gegen die verfassungsrechtliche Beachtlichkeit von Langzeitrisiken w i r d auch vorgebracht, man wisse heute ja noch gar nicht, ob das Grundgesetz in hundert oder tausend Jahren noch gelte. 13 Dies weiß man wirklich nicht, 11
Typisch Armin Möhler, in: ders., Wider die All-Gemeinheiten. Krefeld 1981, S. 89; vgl. auch Wagner, in: Wagner / Ziegler / Closs, Risikoaspekte, S. 168. 12 So auch Marburger, Die Regeln der Technik i m Recht, S. 125. 13 So z.B. Fritz Ossenbühl, Diskussionsbeitrag zur Diskussion über seinen Vortrag „Die Bewertung von Risiken kerntechnischer Anlagen" in der Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer am 22.6.1981; Wagner, in: Wagner / Ziegler / Closs, Risikoaspekte, S. 169, mit Hinweis auf den provisorischen Charakter des GG. 14*
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§13 Langzeitrisiken und zeitliche Dimension der Schutzpflichten
doch kommt es darauf juristisch überhaupt nicht an. Das Grundgesetz gilt heute, und es sind heutige Handlungen, die heute am Maßstab des Grundgesetzes zu beurteilen sind. Ob die Wirkungen dieser Handlungen erst in einer Zukunft eintreten, in der das Grundgesetz unter Umständen nicht mehr gilt, ist dafür ebenso irrelevant wie die Frage, ob die Wirkungen einer zu beurteilenden Maßnahme im räumlichen Geltungsbereich des Grundgesetzes eintreten: So wie das Verhalten eines Polizisten, der über die Staatsgrenze hinweg Schüsse abfeuert, anhand von Art. 2 I I GG zu beurteilen ist, muß sich auch das Leben von Zeitbomben i m wörtlichen und übertragenen Sinne an dieser Bestimmung messen lassen. Selbst wenn das individuelle Menschenleben in ferner Zukunft, wenn die Zeitbombe explodiert, durch die dann geltende Verfassung nicht mehr rechtlich geschützt sein sollte, so sind w i r doch heute verpflichtet, jedes menschliche Leben zu achten, auch das künftige. Angesichts dieses einfachen rechtlichen Zusammenhanges ist es eigentlich überflüssig, noch darauf hinzuweisen, daß das Grundgesetz die Menschenrechte nicht als beliebige menschliche Setzungen, sondern als vorstaatlich und überpositiv geltend, als „unverletzlich und unveräußerlich" oder, wie es in der französischen Menschenrechtsdeklaration von 1789 hieß, als „unverjährbar" betrachtet. Als solche stehen sie nicht zur Disposition des verfassungsändernden Gesetzgebers und nicht einmal des pouvoir constituant. 1 4 Auch wenn ihre künftige Achtung nicht gewährleistet ist, so fordert doch das Grundgesetz, sie auch in Zukunft zu gewährleisten. 15 Dieses naturrechtliche Menschenrechtsverständnis, von dem das Grundgesetz ausgeht, der „Ewigkeitsanspruch", den die Verfassung für die Menschenrechte erhebt, verstärkt die Zukunftsbezogenheit staatlicher Verantwortung, die aber - wie gezeigt - auch ohnedies bestehen würde. B. Langzeitrisiken und Grundrechtsschranken
Hasso Hofmann weist dem Schutz der nach uns lebenden Menschen, der „Nachwelt", eine besondere Bedeutimg zu: Die Gründe, aus denen w i r uns heute technische Lebens- und Gesundheitsrisiken zumuten lassen müßten, könnten die Erzeugung von Risiken für die Nachwelt nicht rechtfertigen. Es fehle nämlich der Vorteil als Äquivalent, um dessentwillen w i r Risiken i n Kauf nehmen. Jede Güterabwägung hänge grundsätzlich von der Identität von Nutznießern und Gefährdeten ab. Stehe dem Nachteil für den Betroffenen kein entsprechender Vorteil gegenüber, könne die Belastung mit dem Nachteil nicht gerechtfertigt werden; sie verstoße zudem gegen das Verbot willkürlicher Ungleichbehandlung, Art. 3 I GG. Auch setze Güterabwägung 14
Vgl. hierzu Murswiek, Die verfassunggebende Gewalt, S. 138ff. Ausführlich hierzu Hofmann, Rechtsfragen, S. 262ff., 266ff.; vgl. auch Stober, ET 1983, 588. 15
Β. Langzeitrisiken und Grundrechtsschranken
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„so etwas wie eine halbwegs freie Entscheidung innerhalb einer konkreten geschichtlichen Situation mit all ihren besonderen Bestimmungsgründen und spezifischen Möglichkeiten voraus". Nur innerhalb ein und derselben geschichtlich gewachsenen Ordnimg könne ein zivilisatorisches Risiko als „sozialadäquat" angesehen werden. 16 - Träfen diese Erwägungen zu, dann wären die verfassungsrechtlichen Anforderungen an heutiges Handeln hinsichtlich seiner Langzeitfolgen schärfer als hinsichtlich seiner sofort oder in Kürze eintretenden Wirkungen. 17 Das von Hofmann angenommene Prinzip der Identität von Nutznießer und Benachteiligtem ist aber kein allgemeines Rechtsprinzip des Grundgesetzes.18 Vielmehr können Grundrechte im Rahmen der verfassungsrechtlichen Einschränkungsvoraussetzungen beschränkt werden zu Zwecken, von denen der Betroffene überhaupt nichts hat: Wer niemals Auto fährt, muß die Kraftfahrzeugimmissionen genauso einatmen wie der Autofahrer. Der Eigentümer, dessen Grundeigentum mit den Bestimmungen des sozialen Mietrechts belastet ist, zieht aus dieser Belastung keinen Nutzen. Sicherlich gibt es viele Freiheitsbeschränkungen, die dem Betroffenen auch zugute kommen, weil alle anderen den gleichen Beschränkungen unterliegen; sie dienen so zugleich seinem Schutz. Aber eine solche Entsprechung von Nutzen und Nachteil ist nicht Voraussetzung für die Zulässigkeit einer Grundrechtseinschränkung. Voraussetzung hierfür ist vielmehr, daß die Einschränkung zur Erreichung eines Gemeinwohlzwecks geeignet und erforderlich ist und den Betroffenen auch nicht disproportional belastet. Ob der Betroffene durch die Verwirklichung dieses Gemeinwohlzwecks wiederum indirekt begünstigt w i r d oder nicht, ist dagegen irrelevant. Freilich zielt Hofmanns Argumentation, was Zukunftsrisiken angeht, auch gar nicht auf das Verhältnis von Nutzen und Nachteil in der Person des individuell Betroffenen; sie zielt auf den kollektiven Nutzen der in einem Gemeinwesen zusammenlebenden Menschen. Auf dieser Argumentationsebene handelt es sich lediglich um eine in andere Worte gekleidete Verhältnismäßigkeitsprüfung: Ist der Schaden einer Maßnahme größer als der Nutzen, kann der Eingriff nicht gerechtfertigt werden. Allerdings w i l l Hofmann bei der Gegenüberstellung von Gemeinwohlzweck („Nutzen") und Eingriff („Nachteil") als „Nutzen" nur gelten lassen, was für die Generation des vom 16
Rechtsfragen, S. 278f., 283ff. So ausdrücklich Hofmann, Rechtsfragen, S. 280. 18 Das Beispiel, das Hofmann, Rechtsfragen, S. 278, für seine These anführt, geht an der Problematik vorbei: Die Rettung eines bestimmten Patienten ist ein privatnütziges Ziel; wie alle anderen nur privatnützigen Zwecke kann sie den gezielten Eingriff in Leben oder körperliche Unversehrtheit eines anderen nicht rechtfertigen. Der operative Eingriff beim Patienten selbst aber bedarf im Prinzip keiner anderen Rechtfertigung als einer Einwilligung. Mit Äquivalenz von Nutzen und Nachteil hat beides nichts zu tun. 17
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§ 13 Langzeitrisiken und zeitliche Dimension der Schutzpflichten
„Nachteil" Betroffenen als Nutzen erscheint. Es geht Hofmann also nicht um eine individuelle, sondern um eine generationsspezifische Äquivalenz von Nutzen und Nachteil. Nach dieser Vorstellung müßte jede neue Generation ^sozusagen von vorn, mit einem „Nullrisiko", ihr politisches Dasein beginnen können. Die Vererbung von Risiken und Belastungen ließe sich nur dann rechtfertigen, wenn anders die Existenz der risikoverursachenden Generation und damit die Möglichkeit der Weitergabe von Leben nicht zu gewährleisten wäre. 19 Entgegen den Beteuerungen Hofmanns 20 scheint mir diese Vorstellung extrem ahistorisch zu sein. Hofmann betrachtet jede Generation isoliert für sich, quasi fremde Staaten, die nicht räumlich, sondern zeitlich aneinandergrenzen, so daß man die Späteren - wie Ausländer i m Ausland - nicht für eigene Zwecke in Anspruch nehmen darf, weil sich die eigene Staatsgewalt auf sie gar nicht erstreckt. 21 Der Staat als organisiertes Gemeinwesen reicht über die Generationen hinaus in die Vergangenheit zurück und in die Zukunft hinein. 2 2 Deshalb lassen sich Gemeinwohlzwecke nicht generationsspezifisch eingrenzen. Unsere Enkel sind nicht „andere" 23 , die w i r nicht zu „unseren" Gunsten belasten dürfen; sie gehören demselben Gemeinwesen an und erben daher nicht nur unsere Errungenschaften, sondern auch unsere Defizite. Auch aus dem Gleichheitssatz ergibt sich nichts anderes. Wenn ein Gemeinwohlzweck ohne Erzeugung eines Risikos nicht erreicht werden kann und dieses Risiko auch künftige Generationen noch belastet, dann ist - entgegen Hofmann 24 - die Risikobelastung der künftigen Generationen nicht deshalb willkürlich, weil ihnen - im Unterschied zur heutigen Generation - kein entsprechender Vorteil aus der Risikoerzeugung zufließt. Der diese Ungleichheit rechtfertigende „sachliche Grund" liegt darin, daß die fraglichen Vorteile - beispielsweise der Atomstrom - aus technischen Gründen nur für kürzere Zeit existieren als die dabei anfallenden unerwünschten Nebenfolgen - beispielsweise der radioaktive Abfall. 2 5 19
Vgl. Hofmann, Rechtsfragen, S. 290. Ebd. S. 263 f. 21 Hofmanns Argumentation erinnert an die demokratietheoretischen Vorstellungen Jeffersons, auch wenn er sich (S. 285) ausdrücklich davon distanziert, daß sich wie Jefferson i n einem Brief an Hamilton schrieb (The Writings of Thomas Jefferson. Ed. P. L. Ford, 10 Bde., New York 1862 ff., Bd. V, S. 120) - eine Generation zur anderen verhalte wie eine unabhängige Nation zu einer anderen. Zu Jefferson vgl. Murswiek, Die verfassunggebende Gewalt, S. 217 ff. 22 Vgl. dazu Krüger, Allg. Staatslehre, S. 169 ff. 23 So aber Hofmann, Rechtsfragen, S. 278. 24 S. 283 ff. 25 Auch das Beispiel, das Hof mann zum Gleichheitssatz bringt, ist unpassend: Wenn Bayern bundesrechtlich verpflichtet wird, ein Endlager für hochradioaktive Abfallstoffe zu bauen, und die Bewohner Bayerns zugleich von jeder Nutzung des Atomstroms ausgeschlossen werden, liegt die Willkür in dem Ausschluß von der Nutzimg, nicht aber in der Pflicht zur Errichtung des Endlagers, das ja an irgendeinem 20
Β. Langzeitrisiken und Grundrechtsschranken
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Sachlich nicht zu rechtfertigen wäre es dagegen, Lebens- und Gesundheitsgefahren, die man heute nicht bewältigen und die zu tragen den heute lebenden Menschen rechtlich nicht zugemutet werden könnte, auf künftige Generationen abzuschieben, in der Hoffnung, man werde schon irgendwann - bevor die „Zeitbombe" hochgeht - eine Lösung finden. Willkürlich im Sinne von Art. 3 I GG wäre ein solches Vorgehen aber nur dann, wenn es im Belieben der handelnden Menschen stünde, darüber zu entscheiden, ob w i r heute oder ob spätere Generationen gefährdet werden. Es gäbe keinen vernünftigen Grund dafür, diejenigen der Gefahr auszusetzen, die - in ihrer Gesamtheit - keinen Nutzen daraus ziehen, wenn es möglich wäre, statt dessen diejenigen der Gefahr auszusetzen, die den Nutzen haben. Aber diese Konstellation kommt praktisch kaum vor. Praktisch bedeutsam sind die Fälle, in denen keine Entscheidung darüber möglich ist, ob entweder die heute oder die später lebenden Menschen gefährdet werden, sondern nur darüber, ob man die später lebenden gefährdet oder die Gefahr vermeidet. In diesem Fall liegt in der Gefährdung der später lebenden keine willkürliche Ungleichbehandlung - genauso wenig, wie es das Recht auf Gleichbehandlung der heute Betroffenen verletzt, wenn der Staat zugunsten späterer Generationen heute zum Zwecke der Ressourcenschonung die wirtschaftliche Betätigungsfreiheit einschränkt, in das Eigentum eingreift oder uns heute mit den besonderen Risiken ressourcenschonender Technologien belastet. Die Unzulässigkeit der Gefährdung später lebender Menschen ergibt sich vielmehr aus der Verletzung derjenigen Vorschriften, die das bedrohte Rechtsgut schützen, insbesondere also aus Art. 2 I I GG. Demnach gelten für die Belastung nach uns lebender Menschen mit technischen Risiken dieselben Grundsätze wie für die Belastung gegenwärtiger Menschen. Der Grundrechtsschutz künftiger Generationen unterliegt nicht schärferen, allerdings auch nicht schwächeren Anforderungen. Hinsichtlich der Einschränkbarkeit der Grundrechte bestehen keine Unterschiede. Im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung ist aber darauf zu achten, daß Langzeitrisiken meist besonders gravierend sind. Der Regelfall ist bei Langzeitrisiken ja nicht der, daß ein Risiko irgendwann in Zukunft einmal entsteht, sondern daß es heute bereits vorhanden ist und dann sehr lange existiert. Je länger es existiert, desto größer ist in der Regel die Wahrscheinlichkeit, daß es einmal zu einem Schaden kommt, und häufig nimmt auch der potentielle kollektive Schadensumfang mit der Wirksamkeitsdauer der Risikoquelle zu. Ist ein Risiko heute beherrschbar und deshalb keine Gefahr, besteht aber eine hinreichende Wahrscheinlichkeit, daß die Fähigkeit, das Risiko zu beherrschen, im Laufe der Zeit verlorengeht, dann kann im HinOrt gebaut werden muß - insofern ist Gleichheit nicht möglich. Im Unterschied zu diesem Beispiel werden künftige Generationen aber nicht willkürlich von der Nutzung des Atomstroms ausgeschlossen.
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§14 Staatliche Schutzpflicht und subjektiver Schutzanspruch
blick auf die Zukunft eine Gefahr gegeben sein. 26 A l l diese Gesichtspunkte sind bei der rechtlichen Risikobeurteilung zu berücksichtigen. Sie steigern die Anforderungen an die Rechtfertigungsbedürftigkeit des Risikos, so daß sich Langzeitrisiken in aller Regel sehr viel schwerer werden rechtfertigen lassen als nur kurzfristig wirkende Risiken. Der Grund hierfür liegt aber nicht darin, daß die „Nachwelt" besser geschützt w i r d als die „Mitwelt", sondern daß Langzeitrisiken in aller Regel größere Risiken sind.
§ 14 Staatliche Schutzpflicht und subjektiver Schutzanspruch A. Die grundsätzliche Entsprechung von Schutzpflicht und Schutzanspruch
Inwieweit der staatlichen Schutzpflicht ein subjektiver Schutzanspruch des einzelnen entspricht, ist in Rechtsprechung und Literatur noch weitgehend ungeklärt. Das Bundesverfassungsgericht war hinsichtlich der Zuerkennung von Schutzansprüchen zunächst sehr zurückhaltend. Im Ostvertragsbeschluß hieß es lapidar, daß die Bejahung einer Schutzpflicht über den Schutzanspruch noch nichts aussage.1 In späteren Entscheidungen hat das Bundesverfassungsgericht jedoch Verfassungsbeschwerden, die auf die Verletzung der Pflicht zum Schutz gegen Eingriffe Dritter gestützt waren, als zulässig angesehen oder die Zulässigkeit unterstellt, ohne die Möglichkeit einer Divergenz zwischen Schutzpflicht und Schutzanspruch erneut zu erörtern. 2 Damit wurde implizit die Möglichkeit eines Schutzanspruchs bejaht, aber nur für die jeweils entschiedenen Fälle. Wie man das Verhältnis von Schutzpflicht und Schutzanspruch generell zu verstehen hat, ist in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts daher bislang noch offen. Da das Bundesverfassungsgericht die Schutzpflicht in betonter Absetzung vom „subjektiven Abwehrrecht" auf den „objektiv-rechtlichen Gehalt" der Grundrechte stützt, lag eigentlich die Vermutung nahe, daß der subjektivrechtliche Schutzanspruch weniger weit gehen sollte als die Schutzpflicht. Die neuere Rechtsprechung tendiert aber zur Kongruenz von Pflicht des Staates und Anspruch des einzelnen. So hat der Präsident des Bundesverfassungsgerichts die Ansicht geäußert, der Schutzpflicht des Staates entspreche „der aktive Schutzanspruch" des Bürgers. 3 Diese Ansicht w i r d von einigen Autoren geteilt 4 , während andere zurückhaltend, aber wenig präzise 26
Vgl. Hofmann, Rechtsfragen, S. 281 f. BVerfGE 40, 141 (177f.). 2 Vgl. BVerfGE 53, 30 (48ff.) - Mühlheim-Kärlich; 56, 54 (70ff.) - DüsseldorfLohausen. Vgl. auch die Entscheidung über die einstweilige Anordnung im Fall Schleyer, E 46, 160 (163 f.). 3 Benda, in: Technische Risiken und Recht, S. 6. 4 Vgl. z.B. E. Klein, DÖV 1977, 707f. 1
Β. Risiko und subjektive Beeinträchtigung
217
formulieren, daß der staatlichen Schutzpflicht ein subjektiver Schutzanspruch korrespondieren könne, aber nicht müsse.5 Die Frage, ob der Schutzpflicht auch ein verfassungsrechtlicher Schutzanspruch entspricht, stellt sich von vornherein nur in bezug auf solche Schutzpflichten, die dem Schutz grundrechtlicher Schutzgüter dienen. Schutzpflichten, die dagegen ausschließlich den Schutz von Gemeinschaftsgütern zum Gegenstand haben 6 , können nicht von einzelnen Bürgern durchgesetzt werden, weil diese sich nur auf ihre subjektiven Rechte berufen können. Wo es dagegen um den Schutz grundrechtlicher Schutzgüter geht, muß der Schutzpflicht grundsätzlich ein subjektiver Schutzanspruch gegenüberstehen: Wie bereits ausführlich gezeigt wurde, verletzt der Staat das betreffende Grundrecht, wenn er dem einzelnen nicht den verfassungsrechtlich gebotenen Schutz gewährt. 7 Darauf braucht hier nicht erneut eingegangen zu werden. Zu erörtern bleibt aber die Frage, ob die grundsätzliche Kongruenz zwischen Schutzpflicht und Schutzanspruch sich auch dort aufrechterhalten läßt, wo die Schutzpflicht zwar (auch) dem Schutz individueller Rechtsgüter dient, wo aber das subjektive Individualrisiko kleiner als das objektive Individual· oder Kollektivrisiko ist oder wo eine subjektive Betroffenheit nicht gegeben ist. B. Risiko und subjektive Beeinträchtigung
Der Umfang der Schutzpflicht hängt von der Größe des Risikos ab, gegen das der Staat Schutz zu bieten hat 8 , und bei der Konkretisierung der Schutzpflicht kommt es auf die Größe des objektiven Risikos an, sei es Individual· oder Kollektivrisiko. 9 Das Maß der individuellen Beeinträchtigung dagegen ergibt sich aus dem subjektiven Individualrisiko. Deshalb liegt die Annahme nahe, der subjektive Abwehranspruch könne sich nur am subjektiven Individualrisiko orientieren und der einzelne könne die Verletzung der objektiven Schutzpflicht insoweit nicht geltend machen, als sich ihr Umfang nicht vom subjektiven, sondern vom - größeren - objektiven Risiko ableite. Diese Annahme liegt der neueren Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte im Atomrecht zugrunde. 10 Diese Rechtsprechung befaßt sich zwar 5 So z.B. Badura, in: Festschr. Eichenberger, S. 491; vgl. auch Hesse, Verfassungsrecht, S. 147; Schmidt-Aßmann, AöR 106 (1981), 216. 6 Dazu s.u. 2. Abschnitt. 7 s.o. §§5, 6. 8 s.o. §§8, 9. 9 s.o. § 9 A I 3, II. 10 Vgl. BVerwG, NJW 1981,1393 (1394 f.)-Stade; VGH Mannheim, ESVGH 32,161 (200) - Wyhl. Ebenso Degenhart, Kernenergierecht, S. 178ff., 223; Czajka, ET 1981, 538. Weitere Nachw. s.o. § 9 Fn. 9.
218
§14 Staatliche Schutzpflicht und subjektiver Schutzanspruch
nur mit der verwaltungsgerichtlichen Klagebefugnis und nicht ausdrücklich mit dem grundrechtlichen Schutzanspruch, doch läßt sich eine restriktive Auslegung der Klagebefugnis nur auf der Basis einer entsprechend restriktiven Auslegung des grundrechtlichen Schutzanspruchs vertreten. Gibt es aber wirklich einen so geradlinigen Zusammenhang zwischen subjektivem Individualrisiko und Schutzanspruch, wie ihn die Rechtsprechung offenbar unterstellt? Das subjektive Individualrisiko bezeichnet die Intensität der subjektiven Betroffenheit. Welche Bedeutung hat diese für den Schutzanspruch? I. Risiko und subjektive Betroffenheit Wie der gegen staatliche Eingriffe gerichtete Abwehranspruch, so setzt auch der Schutzanspruch 11 voraus, daß der Grundrechtsträger, der ihn geltend macht, subjektiv von dem Risiko betroffen ist, gegen das er sich wendet. Unabhängig von der Intensität der Beeinträchtigung liegt immer ein Eingriff im weiteren Sinne vor, wenn der Grundrechtsträger überhaupt selbst betroffen ist. Jeder Eingriff ist abstrakt gesehen geeignet, das betroffene Grundrecht zu verletzen, nämlich dann, wenn er sich nicht anhand eines den verfassungsmäßigen Einschränkungsvoraussetzungen entsprechenden Gesetzes rechtfertigen läßt. Für die Beurteilung der Frage, ob ein (nicht-finaler) Eingriff vorliegt, kommt es auf die Größe des Risikos, von dem der einzelne subjektiv betroffen ist, also nicht an. Betroffen von einem Risiko ist jeder, der dem Risiko ausgesetzt ist, also jeder, in dessen Person, in dessen rechtlich geschützten Gütern das Risiko sich verwirklichen kann, ohne daß er sich erst selbst dem Risiko aufgrund eigenen Willensentschlusses aussetzt, indem er sich in den Wirkungsbereich der Risikoquelle begibt. 12 Nicht betroffen von einem Risiko ist dagegen derjenige, für den dieses Risiko (zur Zeit) überhaupt kein subjektives (Individual-)Risiko darstellt. Die Intensität der Beeinträchtigimg, die Größe des Risikos, kann dagegen erst im Zusammenhang mit der Rechtfertigimg des Eingriffs eine Rolle spielen. Auf der Ebene der Frage, ob ein Eingriff in den Schutzbereich eines Grundrechts vorliegt, entsprechen sich Schutzpflicht und Schutzanspruch nur so weit, wie die subjektive Betroffenheit reicht: Ist überhaupt noch niemand subjektiv betroffen 13 , so steht der staatlichen Schutzpflicht noch gar 11
Der Schutzanspruch ist ein besonderer Abwehranspruch, s.o. §§ 5, 6. In letzterem Fall kann nur eine „virtuelle" im Unterschied zur „aktuellen" Betroffenheit vorliegen. Nach der Rechtsprechung des BVerfG gibt die virtuelle Betroffenheit noch nicht die Befugnis zur Erhebung der Verfassungsbeschwerde, vgl. BVerfGE 1, 97 (102); 43, 291 (385 f.); Maunz / Schmidt-Bleibtreu / Klein / Ulsamer, BVerfGG. Kommentar, § 90 Rn. 98. 13 s.o. zu den Langzeitrisiken § 13. 12
Β. Risiko und subjektive Beeinträchtigung
219
kein Schutzanspruch gegenüber. Ist ein einzelner betroffen, so kann er nur seine eigene Betroffenheit geltend machen und nicht die gleichzeitige Bedrohung anderer durch dasselbe Risiko, während der Staat durch Unterlassung des Schutzes „objektiv" auch in den Schutzbereich der Grundrechte der Mitbetroffenen eingreift. Entgegen der zitierten Rechtsprechung ist damit über den Umfang des subjektiven Schutzanspruchs noch nichts gesagt. Wie intensiv der Schutz sein muß, auf dessen Gewährung ein Anspruch besteht, hängt vielmehr davon ab, inwieweit in das betroffene Grundrecht - durch die Verpflichtung zur Duldung des von Dritten erzeugten Risikos - eingegriffen werden darf. II. Risiko und Rechtfertigung Wie weit ein Grundrecht durch Auferlegung einer Risikotragungspflicht eingeschränkt werden darf, läßt sich nur im Hinblick auf den Zweck bestimmen, dem der Eingriff dient. Läßt sich das Risiko nur durch den allgemeinen Gemeinwohlzweck rechtfertigen, die realen Bedingungen der allgemeinen Handlungsfreiheit im allgemeinen zu wahren, dann - so haben w i r gesehen14 - muß der Betroffene dieses Risiko sich als „sozialadäquat" zumuten lassen, sofern es nicht die Gefahrenschwelle überschreitet. Kommt es aber bei der Bestimmung der Größe des Risikos, bei der Entscheidung der Frage, ob die Gefahrenschwelle überschritten ist oder nicht, auf das subjektive Individualrisiko oder auf das objektive Risiko an? Was die Grenze der Zumutbarkeit angeht, so handelt es sich dabei um die Grenze dessen, was dem betroffenen einzelnen zugemutet werden kann. Es kann hier nur auf das subjektive Risiko des Betroffenen ankommen, auf die Wahrscheinlichkeit, daß er selbst geschädigt wird, und auf die Größe desjenigen Schadens, der ihm selber droht. Die subjektive Individualgefahr ist die Mindestposition des einzelnen, deren Verletzung immer eine Grundrechtsverletzung darstellt. Auf die Unterlassung dieser Verletzung muß deshalb immer ein Anspruch bestehen. Daraus zu folgern, daß die Größe des objektiven Risikos, von der der Umfang der objektiven Schutzpflicht abhängt, für den Schutzanspruch ohne jede Bedeutung sei, wäre jedoch kurzschlüssig. Die Frage, ob die grundrechtliche Mindestposition des Betroffenen gewahrt ist, ist im Rahmen der Rechtfertigimg eines Eingriffs nicht der einzige, sondern erst der letzte Prüfungspunkt. Zuerst kommt es darauf an, ob der Eingriff einem Ziel des Gemeinwohls dient und ob er zur Erreichung dieses Ziels geeignet und erforderlich ist. Die Zumutbarkeit ist dann erst eine Frage der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne. 14
o. § 8 AI.
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§ 14 Staatliche Schutzpflicht und subjektiver Schutzanspruch
A u c h w e n n ein R i s i k o f ü r den einzelnen - wegen der geringen W a h r scheinlichkeit, daß es sich gerade i n seiner Person v e r w i r k l i c h t , oder wegen des geringen Schadens, den er möglicherweise erleidet - so k l e i n ist, daß es i h m zugemutet w e r d e n könnte, w e n n es z u r E r r e i c h u n g eines G e m e i n w o h l ziels n o t w e n d i g wäre, k a n n auf die P r ü f u n g der Frage, ob es z u r E r r e i c h u n g eines Gemeinwohlziels n o t w e n d i g ist, n i c h t verzichtet werden. M u ß diese Frage n ä m l i c h verneint werden, d a n n läßt sich der E i n g r i f f n i c h t r e c h t f e r t i gen, auch d a n n n i c h t , w e n n er f ü r den Betroffenen k e i n e n großen N a c h t e i l darstellt. Daraus folgt: W e n n e i n R i s i k o f ü r den betroffenen einzelnen keine Gefahr darstellt, so ist es n i c h t schon aus diesem G r u n d e als „ s o z i a l a d ä q u a t " h i n zunehmen. V i e l m e h r muß zuerst geprüft werden, ob das Risiko z u r E r r e i c h u n g eines Gemeinwohlziels erforderlich i s t . 1 5 L ä ß t es sich n i c h t d u r c h ein
15 Diese Voraussetzung jedes rechtmäßigen Eingriffs wird von der o. Fn. 10 zitierten Rspr. u. Lit. schlicht übergangen. Vermutlich resultiert dies daraus, daß in Rspr. u. Lit. über die grundrechtsdogmatische Bedeutung von Risiken für grundrechtliche Schutzgüter noch keine Klarheit herrscht und daß noch nicht erkannt worden ist, daß es um den Schutz vor nichtfinalen Eingriffen geht. Deshalb wird vielfach bei Risiken zwischen Eingriff und Grundrechtsverletzung nicht unterschieden und - meist stillschweigend - davon ausgegangen, daß hier ein Eingriff nur dann vorliege, wenn er verfassungswidrig sei. Diese/Ansicht ist m.E. unzutreffend, s.o. § 7 Fn. 27. Darüber hinaus läuft die zitierte Recfitsprechungs- und Literaturmeinung sogar darauf hinaus, daß ein nichtfinaler Eingriff erst dann gegeben sei, wenn das Risiko die Grenze des individuell Zumutbaren erreiche: Nur ein unzumutbarer Eingriff sei ein Eingriff, so daß nach dieser Ansicht geringfügige nichtfinale Eingriffe nicht rechtfertigungsbedürftig sind und zu beliebigen, auch eindeutig rechtswidrigen Zwecken vorgenommen werden dürfen. Entschuldigen läßt sich dies nur mit der allgemeinen dogmatischen Unsicherheit, die auf diesem Gebiet noch herrscht. Mit der Rechtsprechung des BVerfG ist die kritisierte Ansicht übrigens imvereinbar, wie das Abhörurteil zeigt, E 30, 1 (16f.): Die Beschwerdeführer waren nicht Opfer einer Abhörmaßnahme geworden, sondern durch das G 10 lediglich dem Risiko heimlicher Abhörmaßnahmen ausgesetzt worden. Daß dieses Risiko für sie persönlich größer sei als für irgendeinen anderen Bürger, hatten sie nicht geltend gemacht. Die durchschnittliche Wahrscheinlichkeit, abgehört zu werden, ist außerordentlich gering, so daß das durchschnittliche individuelle Abhörrisiko, das allein die Beschwerdeführer geltend gemacht haben, weit unterhalb der mit dem Gefahrenbegriff gekennzeichneten allgemeinen Zumutbarkeitsschwelle liegen dürfte. Dennoch hat das BVerfG die unmittelbare, gegenwärtige Betroffenheit bejaht und die Verfassungsbeschwerde zum Teil als begründet angesehen - eben deshalb, weil der Eingriff nicht erforderlich war. Das Abhörrisiko mag für den Betroffenen noch so gering sein - er braucht es nicht hinzunehmen, soweit es rechtswidrig ist. Auch das BVerfG ist freilich im dogmatischen Umgang mit Risiken noch unsicher. Die Abhörkonstellation - gesetzlich begründetes Risiko heimlicher finaler Eingriffe - wurde aber prozeßrechtlich im Ergebnis zutreffend bewältigt. Dagegen hat das BVerfG bislang offengelassen, ob die Risiken administrativer Maßnahmen in gleicher Weise als (nichtfinale) Eingriffe anzusehen sind, denn das BVerfG spricht in diesem Zusammenhang nur von Schutzpflicht und Schutzanspruch - vgl. E 49, 89 (140ff.); 53, 30 (57); 56, 54 (78) - , und beides ist nur dort gegeben, wo die Verletzung der Schutzpflicht ein rechtswidriger Eingriff wäre. Die Antwort liegt noch i m Dunkel der „objektivrechtlichen Grundrechts Wirkung". Ein Dreierausschuß des 2. Senats hat allerdings im Sinne des BVerwG entschieden, ET 1983, 52 (53), ohne das grundrechtsdogmatische Problem zu sehen. - Selbst wenn man dem Ansatz der hier kritisierten Rspr. folgt, daß Risiken erst dann einem Eingriff gleichzuachten sind, wenn sie die Zumutbarkeitsschwelle überschreiten, muß doch für Ingerenzen und
Β. Risiko und subjektive Beeinträchtigung
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besonderes Gemeinwohlziel rechtfertigen, kommt es darauf an, ob die Erzeugung des Risikos zu denjenigen Handlungen (oder Unterlassungen) gehört, die vorzunehmen durch den generellen Zweck der Ermöglichung der Handlungsfreiheit im allgemeinen gerechtfertigt ist, ob sie also in diesem Sinne „sozialadäquat" ist. Dies ist, wie gezeigt 16 , mangels besonderer gesetzlicher Bestimmung dann der Fall, wenn das Risiko unterhalb der Gefahrenschwelle bleibt. In diesem Zusammenhang aber kommt es auf die objektive Größe des Risikos an, also auf die Wahrscheinlichkeit, daß es überhaupt zu einem Schaden kommt, sowie auf die Größe des Gesamtschadens. Dieses objektive Risiko bestimmt den Umfang der staatlichen Schutzpflicht und aufgrund der in Ausübung der Schutzpflicht ergangenen Gesetze die Schranken der allgemeinen Handlungsfreiheit des Risikoerzeugers. 17 Ist also das Individual- oder Kollektivrisiko, das von einer Risikoquelle ausgeht, objektiv eine Gefahr, dann läßt es sich nicht mehr als „sozialadäquat" rechtfertigen. In diesem Zusammenhang ist es unerheblich, ob irgendeine bestimmte Person durch das Risiko subjektiv gefährdet ist. 1 8 Die Erzeugung dieses Risikos ist rechtswidrig, und ein rechtswidriges Verhalten ist niemals „sozialadäquat". Entfällt aber die Rechtfertigung für die Auferlegung der Risikotragungspflicht, dann ist der Eingriff rechtswidrig; er verletzt das Grundrecht auch dann, wenn er ansonsten zumutbar wäre. Somit kann der einzelne zwar nur seine eigene individuelle Betroffenheit durch ein Risiko geltend machen. Die Verpflichtung, dieses Risiko zu tragen, verletzt aber nicht erst dann seine Grundrechte, wenn es die - nur individuell bestimmbare - Zumutbarkeitsschwelle, also die Schwelle der subjektiven Individualgefahr, überschreitet. Eine Grundrechtsverletzung ist vielmehr immer dann schon gegeben, wenn das den einzelnen betreffende Risiko nicht gerechtfertigt werden kann. Der einzelne hat demnach einen Anspruch auf Abwehr jedes Risikos, das sich an seinen grundrechtlichen Schutzgütern verwirklichen kann und das sich nicht rechtfertigen läßt. Da bei Risiken, die objektiv eine Gefahr darstellen, die Möglichkeit der Rechtfertigung als „sozialadäquat" entfällt, kommt es bei solchen Risiken darauf an, ob sie zur Verwirklichimg eines besonderen Gemeinwohlzwecks erforderlich sind. Für Risiken kann insoweit nichts anderes gelten als für finale Eingriffe: Der Abwehranspruch geht auf Unterlassung jedes nicht zu einem Gemeinwohlzweck erforderlichen Eingriffs, und der Anspruch auf Schutz Ingerenzrisiken etwas anderes gelten, denn Ingerenzen sind keine Risiken, sondern tatsächliche Beeinträchtigungen des Schutzgutes, s.o. § 11 B. Für Immissionsrisiken ist die Rspr. des BVerwG deshalb in jedem Fall unhaltbar. 16 s.o. § 8 A I . 17 So kann nach den Polizeigesetzen als Störer in Anspruch genommen werden, wer eine objektive Gefahr verursacht. is s.o. §§ 9 A, 13 A I .
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§ 14 Staatliche Schutzpflicht und subjektiver Schutzanspruch
gegen Eingriffe Dritter geht auf entsprechenden Schutz, während die Intensität der subjektiven Beeinträchtigung lediglich die Zulässigkeit an sich erforderlicher Eingriffe über den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu begrenzen geeignet ist. Der Schutzanspruch im Hinblick auf nichtfinale Eingriffe richtet sich also auf Abwehr von objektiven Gefahren, die sich an den Rechtsgütern des Betroffenen realisieren können und die zur Verwirklichung eines besonderen Gemeinwohlziels nicht erforderlich sind. Der einzelne hat daher insbesondere einen Anspruch darauf, daß eine ihn betreffende Gefahr im Rahmen des Möglichen gemindert wird, denn soweit die Gefahr verringert werden kann, ist ihre Verursachung nicht erforderlich. Der Minimierungsanspruch hört erst auf, wenn das Risiko die Gefahrenschwelle unterschreitet, da Risiken unterhalb der Gefahrenschwelle generell als „sozialadäquat" gerechtfertigt sind. Dabei kommt es auf die objektive Gefahr an und nicht darauf, wie groß das Risiko für den Betroffenen ist. Somit fallen „objektive" Schutzpflicht und subjektiver Schutzanspruch nur insoweit auseinander, als von einem Risiko einzelne Grundrechtsträger (noch) nicht betroffen sind. III. Schutzanspruch und Gleichheitssatz Gegen die Berücksichtigung des objektiven Risikos im Rahmen des Schutzanspruchs ist eingewandt worden, es wäre mit dem Gleichheitssatz des Art. 3 I GG nicht zu vereinbaren, wenn zwei von derselben Risikoquelle in unterschiedlichem Maße betroffene Bürger die gleiche Minderung des Risikos verlangen dürften: Der eine, der beispielsweise weiter entfernt von einer Immissionsquelle wohne als der andere und daher schon von vornherein geringeren Immissionen ausgesetzt sei, brauche nur geringere Immissionen zu dulden als der andere, wenn er den Anspruch habe, die Beachtung der objektiven Immissionsvorschriften durchzusetzen. Der Gleichheitssatz gebiete daher, den subjektiven Anspruch am subjektiven Individualrisiko zu orientieren, so daß der näher an der Immissionsquelle wohnende Bürger einen Anspruch auf Unterlassung von Emissionen habe, deren Unterlassung der weiter entfernt wohnende nicht verlangen könne, weil die Immissionsbelastung des letzteren ohnehin geringer sei. Beide müßten den gleichen Anspruch auf Abwehr einer bestimmten, sie selbst betreffenden, Immissionsbelastung, also notwendigerweise einen unterschiedlichen Anspruch auf Unterlassimg bestimmter Emissionen haben. Daß derjenige, der näher an der Immissionsquelle wohne, wegen der ihn stärker treffenden Immissionsbelastung eine stärkere Reduzierung der Emissionen verlangen könne, führe zwar im Ergebnis auch zu einer weiteren Reduzierung der Immissionsbelastung des weiter entfernt wohnenden. Aber auf diese Reduzierung
Β. Risiko und subjektive Beeinträchtigung
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habe dieser keinen Anspruch, wenn sein subjektives Immissionsrisiko unterhalb der Gefahrenschwelle liege; die vom näher an der Immissionsquelle wohnenden Grundrechtsträger durchsetzbare Emissionsreduzierimg komme ihm nur als „Rechtsreflex" zugute. 19 Anderenfalls käme es - so meint das Bundesverwaltungsgericht - zu einer „Relativierung des Rechtsschutzes" nach Maßgabe der Entfernung von der Immissionsquelle: Wer etwa an der ungünstigsten Einwirkungsstelle eines Kernkraftwerkes wohne, „müßte sich beispielsweise ... eine Strahlenexposition von 20 millirem ... gefallen lassen; der in 5 km Entfernung wohnende Nachbar dagegen nur eine solche von 2 millirem". 2 0 Hier ist die Gleichheit eine Frage der Perspektive, und es fragt sich, worauf es rechtlich ankommt: auf die Gleichheit der Emissionen oder auf die Ungleichheit der individuellen Immissionsbelastung. Das Bundesverwaltungsgericht hat auf letztere abgestellt mit dem Argument, es könne nicht angehen, daß der eine sich mehr an Immissionsbelastung gefallen lassen müsse als der andere. So wie dieses Argument formuliert ist, klingt es nicht nur plausibel, sondern so zwingend, daß die Gegenthese geradezu einen Aufschrei des Entsetzens provozieren müßte. Analysiert man dagegen, was es mit dem unterschiedlich starken „Gefallenlassen-Müssen" rechtlich auf sich hat, so weicht das Entsetzen: Es geht nicht darum, daß dem einen die Pflicht auferlegt wird, 20 millirem Strahlenbelastung zu dulden, während der andere nur zur Duldung von 2 millirem verpflichtet wird, ohne daß es für diese unterschiedliche Behandlung einen sachlichen Grund gäbe. Vielmehr haben beide das gleiche Abwehrrecht und den gleichen Schutzanspruch, der auf Vermeidung vermeidbarer Gefahren 21 gerichtet ist. Welches Risiko erforderlich ist und welches vermieden werden kann, ist keine Frage der unterschiedlichen individuellen Beeinträchtigung, sondern kann nur im Hinblick auf die Risikoquelle beurteilt werden. Wenn von einem Risiko nicht nur einer betroffen ist, sondern viele, so können sie in unterschiedlich intensiver Weise betroffen sein, aber das ändert nichts daran, daß die Erforderlichkeit der Gefahr zur Erreichung des Gemeinwohlziels nur einheitlich in bezug auf die Gefahrenquelle beurteilt werden kann. Soweit sich das Risiko nicht rechtfertigen läßt, z.B. als „sozialadäquat", oder soweit es i m Hinblick auf ein besonderes Gemeinwohlziel nicht erforderlich ist, hat jeder Betroffene einen Abwehr- beziehungsweise Schutzanspruch. Daß derjenige, der von der Risikoquelle weiter entfernt lebt, von dem Risiko weniger intensiv betroffen ist als derjenige, der nahe an der Risikoquelle wohnt, ist i n 19 Vgl. in diesem Sinne BVerwG, NJW 1981,1393 (1395). Noch weitergehend, nämlich die Schutzpflicht einbeziehend Lukes / Richter, NJW 1981, 1406; dazu bereits oben § 9 A II. 20 BVerwG, NJW 1981, 1395. 21 Im Falle der Strahlenschutzverordnung auch: Vermeidung von Risiken unterhalb der Gefahrenschwelle.
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§ 14 Staatliche Schutzpflicht und subjektiver Schutzanspruch
diesem Zusammenhang unerheblich. Wenn im Ergebnis der weiter entfernt lebende ein weniger großes Risiko hinnehmen muß als der näher an der Risikoquelle lebende, so liegt das in der Natur der Sache begründet; es beruht nicht auf willkürlicher Setzung, sondern ist aus naturgesetzlicher Notwendigkeit heraus unvermeidlich. Vermeidlich ist dagegen - so könnte man wiederum einwenden - , daß der weniger stark betroffene den gleichen Abwehranspruch hat wie der viel intensiver betroffene, z.B. den gleichen Anspruch auf Emissionsminderung. Diese Gleichheit der subjektivrechtlichen Position trotz faktisch ungleicher Betroffenheit ist aber mit der Systematik der Freiheitsrechte vorgegeben: Die Grundrechte schützen die grundrechtlichen Schutzgüter gegen jeden verfassungsrechtlich nicht zu rechtfertigenden Eingriff - egal wie intensiv der Eingriff ist. Wenn die Beeinträchtigimg des Bürgers A zur Erreichung eines Gemeinwohlzwecks erforderlich und verhältnismäßig ist, braucht die gleiche oder auch eine geringere Beeinträchtigung des Bürgers Β zur Erreichung desselben Zwecks noch längst nicht erforderlich zu sein. Deshalb hat A keinen Abwehranspruch, während Β einen hat. Diese Ungleichheit ist immer sachlich begründet und niemals willkürlich. Sie verstößt nicht gegen Art. 3 I GG. Dies gilt für alle Abwehr- und Schutzansprüche, ob sie sich nun gegën finale oder nichtfinale Eingriffe richten. Wendet man diese Erkenntnis auf das Immissionsbeispiel an, so ergibt sich folgendes: Ist das von der Immissionsquelle ausgehende objektive Risiko weder sozialadäquat noch zur Erreichung eines besonderen Gemeinwohlziels erforderlich, so läßt es sich nicht rechtfertigen. Das gilt für alle Betroffenen in gleicher Weise, unabhängig davon, wie intensiv sie betroffen sind. Und die geringe Immissionsbelastung des einen ist dann in diesem Maße ebensowenig erforderlich wie die starke Belastung des anderen. Lassen sich die Emissionen dagegen als sozialadäquat oder als zur Verwirklichung eines besonderen Gemeinwohlzwecks erforderlich rechtfertigen, so ist nicht nur die geringe Belastung des entfernt wohnenden gerechtfertigt, sondern auch die starke Belastung des nahe an der Immissionsquelle wohnenden, sofern nicht die Zumutbarkeitsgrenze erreicht wird. Im ersten Fall haben beide einen Abwehranspruch, im zweiten Fall dagegen nicht. Verstieße diese „Ungleichheit" gegen Art. 3 I GG, dann wären die Freiheitsrechte als solche verfassungswidrig.
Α. Schutz originärer verfassungsrechtlicher Gemeinschaftsgüter
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2. Abschnitt
Verfassungsrechtliche Pflichten zum Schutz von Gemeinschaftsgütern § 15 Die Pflicht zum Schutz verfassungsrechtlicher Gemeinschaftsgüter als verfassungsrechtliche Pflicht Zu den verfassungsrechtlichen Schutzgütern gehören nicht nur die grundrechtlich geschützten Individualrechtsgüter, sondern auch Gemeinschaftsgüter: Verfassungsprinzipien und Institutionen, wie sie insbesondere i m organisatorischen Teil des Grundgesetzes konstituiert werden. Die verfassungsrechtlichen Gemeinschaftsgüter mögen zwar - wie das Demokratieprinzip oder der Rechtsstaat - der Gewährleistung der realen Voraussetzungen individueller Freiheit dienen. Aus der Position des einzelnen und seiner Freiheit heraus lassen sich diese Gemeinschaftsgüter jedoch nicht begründen, sondern nur aus den Erfordernissen organisierten Zusammenlebens vieler Individuen in einem Gemeinwesen. Deshalb umfaßt die Pflicht zum Schutz der grundrechtlichen Individualrechtsgüter nicht den Schutz der Gemeinschaftsgüter. Originäre verfassungsrechtliche Gemeinschaftsgüter sind nur solche, die das Grundgesetz als Bestandteile des Gemeinwesens ausweist, nicht dagegen solche, zu deren Einrichtung oder zu deren Schutz die Verfassung dem Gesetzgeber lediglich eine Kompetenz erteilt. Daneben gibt es derivative verfassungsrechtliche Gemeinschaftsgüter. Bei diesen handelt es sich nicht um verfassungsrechtliche Prinzipien oder Institutionen, und sie sind i n der Verfassung auch nicht ausdrücklich als zu schützende Güter ausgewiesen. Den Rang verfassungsrechtlicher Gemeinschaftsgüter erhalten sie aber dadurch, daß sie (in der konkreten historischen Lage) zur Bewahrung originärer verfassungsrechtlicher Schutzgüter notwendig sind, beispielsweise die öffentliche Trinkwasserversorgung zur Erhaltung von Leben und Gesundheit. A. Der Schutz originärer verfassungsrechtlicher Gemeinschaftsgüter
In jeder Rechtsnorm ist die allgemeine Pflicht zur Rechtsbeachtimg stillschweigend mitnormiert. Wenn das Grundgesetz organisatorische Aussagen über Verfassungsprinzipien und Institutionen macht, dann sind dies nicht deskriptive, sondern normative Aussagen; dann heißt dies nicht, daß es diese Prinzipien und Institutionen gibt, sondern daß es die Institutionen geben soll und daß die Prinzipien gelten sollen. Und dieser Geltungsanspruch beschränkt sich nicht auf das Gebot, die Institutionen zu errichten, die Verfassungsprinzipien anzuwenden, die Verfassungsnormen zu befolgen, son15 Murswiek
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§15 Die Pflicht zum Schutz von Gemeinschaftsgütern
dern er umfaßt notwendig auch das Verbot, die verfassungsrechtlichen Institutionen zu zerstören oder funktionsunfähig zu machen, die Befolgung von Verfassungsnormen zu verhindern, der Verwirklichung von Verfassungsprinzipien die realen Voraussetzungen zu entziehen. Aus dem Geltungsanspruch der Verfassung folgt also zunächst das Gebot, den Bestand und die Unversehrtheit aller verfassungsrechtlichen (Individual- und) Gemeinschaftsgüter zu achten. Hiervon ausgehend, bedarf es nach allem, was über die staatliche Verantwortlichkeit für das Verhalten Privater bereits allgemein 1 und im Hinblick auf den Schutz grundrechtlicher Schutzgüter 2 gesagt worden ist, keiner eingehenden Begründung mehr, daß die Staatsorgane nicht nur selbst die verfassungsrechtlichen Gemeinschaftsgüter zu achten, sondern sie - im Rahmen ihrer Kompetenzen - auch gegen Eingriffe Dritter zu schützen haben. Ebenso wie in bezug auf Individualrechtsgüter lassen sich auch in bezug auf Gemeinschaftsgüter primäre und sekundäre Schutzpflichten unterscheiden: Beeinträchtigungen von Gemeinschaftsgütern müssen verboten und das Verbot muß effektiv durchgesetzt werden. Die Begründung für diese Pflichten entspricht mutatis mutandis der Begründung der Pflicht zum Individualrechtsschutz. Sie ist aber insofern einfacher, als es hier keine Drittwirkungskonstellation gibt. Es geht um den Schutz der staatlichen Institutionen und der realen Geltungsbedingungen staatlichen Rechts durch den Staat. Daß Beeinträchtigungen von Gemeinschaftsgütern zu verbieten sind, folgt schon daraus, daß nach der Verfassung erlaubt ist, was nicht verboten ist: Das Erlaubtsein der Zerstörung verfassungsrechtlicher Institutionen würde den Geltungsanspruch der sie konstituierenden Normen vereiteln. Dasselbe würde geschehen, wenn die Exekutive nicht ermächtigt wäre, die notwendigen Maßnahmen zum Schutz der verfassungsrechtlichen Gemeinschaftsgüter zu ergreifen. Und daß die effektive Durchsetzung des Verbots der Beeinträchtigung von Gemeinschaftsgütern nicht in das freie Ermessen der zuständigen Organe gestellt werden darf, sondern daß sie dazu auch verpflichtet sind, ergibt sich ebenfalls aus dem Geltungsanspruch der Verfassungsnormen, die das Beeinträchtigungsverbot fordern: Ohne seine Durchsetzung würde das Beeinträchtigungsverbot nicht effektiv gelten; sein von der Verfassung gefordertes Ziel würde nicht erreicht. Die Aussage beispielsweise, die Bundesrepublik sei ein demokratischer Staat (Art. 20 I GG), impliziert demnach die verfassungsrechtliche Pflicht, Gefahren für die Demokratie abzuwehren. Ist ohne Verfassungsänderung ein Gesetzesreferendum nicht zulässig, dann darf ohne Verfassungsänderung die Installierung einer Technologie, die ein elektronisches Referendum 1 2
§2 C.II. §§ 5, 6.
Β. Der Schutz der realen Voraussetzungen von Schutzgütern
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ermöglicht, nicht zugelassen werden. 3 Ist die Bundesrepublik nach dem Grundgesetz ein freiheitlicher Rechtsstaat, heißt dies auch, daß rechtzeitig Entwicklungen entgegenzuwirken ist, die die Realbedingungen eines freiheitlichen Gemeinwesens beseitigen würden, und ist die Bundesrepublik ein Staat, dann haben die zuständigen Staatsorgane Gefahren für die Existenz eines Staates, insbesondere für die Existenz des Volkes und für die Integrität des Staatsgebietes abzuwehren. Dies waren nur einige Beispiele für Gegenstände staatlicher Schutzpflichten. Für alle Normen und Institutionen des objektiven Verfassungsrechts gilt entsprechend dasselbe, was über die Schutzpflichten zugunsten der grundrechtlichen Schutzgüter ausführlich gesagt wurde. Der Unterschied liegt darin, daß der Pflicht zum Schutz originärer Gemeinschaftsgüter kein subjektiver Schutzanspruch gegenübersteht. 4 B. Der Schutz der realen Voraussetzungen verfassungsrechtlicher Schutzgüter
I. Die staatliche Schutzpflicht Existenz und Unversehrtheit verfassungsrechtlich geschützter Individual· oder Gemeinschaftsgüter können auch dadurch gefährdet werden, daß tatsächliche Bedingungen ihrer Existenz oder Unversehrtheit beeinträchtigt oder gefährdet werden. Auf die Diskussion über die Pflicht zum Schutz von „Grundrechtsvoraussetzungen" 5 oder zur Sicherung der realen Bedingungen der „Grundrechtsverwirklichung" 6 kann hier nicht allgemein eingegangen werden. Im Hinblick auf den Schutz vor technischen Risiken genügt es festzustellen, daß es Gemeinschaftsgüter gibt, deren Existenz Voraussetzung für die Unversehrtheit verfassungsrechtlicher Schutzgüter ist und deren Existenz von der Verfassung als selbstverständlich vorausgesetzt wird, deren Vorhandensein im voraussetzungsgemäßen Zustande aber durch Folgewirkungen technischer Systeme gefährdet werden kann. Dazu 3 Im Unterschied zur demoskopischen Erhebung würde ein Referendum, auch wenn seine Durchführung sich nicht auf geltendes Recht stützen kann, nicht nur den Druck auf das Parlament unerträglich groß machen. Es könnten sich aus der einwandfrei festgestellten Willensäußerung des Volkes unter Umständen auch rechtliche Konsequenzen ergeben, an denen der Gesetzgeber nicht mehr vorbeikäme, vgl. Murswiek, Die verfassunggebende Gewalt, S. 242 ff. 4 Daß der Staat verpflichtet ist, den Bestand von Normen und Institutionen der Verfassung zu schützen, heißt - das sei zur Vermeidung von Mißverständnissen betont - natürlich nur: Schutz zu bieten gegen die verfassungswidrige Beseitigung oder Schädigung, also nicht etwa gegen verfassungsmäßige Änderung oder gegen das Bestreben, eine solche herbeizuführen. 5 Vgl. Kloepfer, Grundrechte als Entstehungssicherung und Bestandsschutz, S. 15ff., 28ff.; ders., Zum Grundrecht auf Umweltschutz, S. 20, 29. 6 Vgl. die oben § 6 Fn. 71 nachgewiesene Lit.
15'
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§ 15 Die Pflicht zum Schutz von Gemeinschaftsgütern
zählt zum Beispiel das Trinkwasser oder die Versorgung mit sonstigen Lebensmitteln - notwendige Bedingungen für die Existenz menschlichen Lebens (Art. 2 I I GG) und auch des Volkes im ganzen (Art. 20 I, I I GG). Zu Recht hat daher das Bundesverfassungsgericht die Lebensnotwendigkeit des Wassers und seine überragende Bedeutung für die Allgemeinheit betont. 7 Die Vorsorge für eine ausreichende Menge trinkbaren Wassers gehört also zu den verfassungsrechtlichen Pflichten des Staates. Das gleiche muß beispielsweise für den Schutz landwirtschaftlicher Böden gelten: Eine ausschließliche Importabhängigkeit im Nahrungsmittelsektor würde die ausreichende Versorgung der Bevölkerung mit Nahrungsmitteln gefährden. Daher genügt es nicht zu verhindern, daß vergiftete Nahrungsmittel auf den Markt kommen, sondern es muß Vorsorge dafür getroffen werden, daß genügend landwirtschaftliche Böden zur Verfügimg stehen, auf denen gesundheitlich unbedenkliche, gesundheitsfördernde Nahrungsmittel produziert werden können. Derivative verfassungsrechtliche Gemeinschaftsgüter sind demnach solche, deren Existenz von der Verfassung als notwendige Bedingung für die Unversehrtheit verfassungsrechtlicher Schutzgüter vorausgesetzt wird. Auch auf diese Gemeinschaftsgüter erstreckt sich die verfassungsrechtliche staatliche Schutzpflicht. 8 II. Individueller Anspruch auf Sicherung von „Grundrechtsvoraussetzungen"? Soweit der Bestand von derivativen Gemeinschaftsgütern reale Voraussetzung nicht von originären Gemeinschaftsgütern, sondern von grundrechtlichen Schutzgütern ist, fragt sich, ob es insofern einen individuellen Anspruch auf den Schutz jener Güter gibt. Problematisch ist dies deshalb, weil hier kein Eingriff (Dritter) in ein Individualrechtsgut vorliegt. 9 Auf das grundrechtlich geschützte Gut wird nicht eingewirkt, sondern es werden ihm die Bedingungen seiner Unversehrtheit oder Existenz entzogen. Um beim Beispiel Trinkwasser zu bleiben: Die Lieferung vergifteten Wassers als „Trinkwasser" ist ein Eingriff in die körperliche Unversehrtheit, das Schutzgut des Art. 2 I I GG. Dagegen besteht ein Abwehrrecht. Abwehrrechtlich nicht mehr zu lösen ist dagegen die Frage, ob der Staat überhaupt verpflichtet ist, Trinkwasser zu liefern; ob es Rechte des einzelnen verletzt, 7
Vgl. BVerfG, NJW 1982, 745 (750f.) - Naßauskiesung. Zur Pflicht des Staates, „für Umweltbedingungen zu sorgen, die ein Leben ohne gesundheitliche Gefährdung ermöglichen", Stein, Staatsrecht, S. 223 (§2111), vgl. z.B. Steiger, Mensch und Umwelt, S. 52ff.; Rehbinder, in: Umweltschutz - aber wie?, S. 29ff.; Sailer, DVB1. 1976, 528; Rupp, JZ 1971, 402. 9 Ein solcher Eingriff kann freilich gleichzeitig vorliegen, wenn z.B. an dem zu schützenden Boden Privateigentum besteht. Aber nicht für den von dem Eingriff Betroffenen ist das zu schützende Gut Existenzvoraussetzung. 8
Β. Der Schutz der realen Voraussetzungen von Schutzgütern
229
wenn der Staat ihm kein Trinkwasser zur Verfügung stellt oder nicht dafür sorgt, daß durch Dritte Trinkwasser zur Verfügimg gestellt wird. Hier geht es nicht mehr um die Gewährleistung bestehender Rechte, sondern um die Leistung von Gütern, nicht mehr um die Abwehr eines Eingriffs, um einen Unterlassungsanspruch, sondern um den Anspruch auf Leistung notwendiger Güter. Wenn die Verfassung voraussetzt, daß diese Güter existieren und zur Befriedigung existentieller Bedürfnisse des Menschen zur Verfügung stehen, erstreckt sich diese Voraussetzung notwendig auch auf die Schutzgüter des jeweils betroffenen einzelnen. Sofern die Gefährdung eines derivativen verfassungsrechtlichen Gemeinschaftsguts für den einzelnen die Gefahr begründet, daß ihm dieses für die Wahrung der Unversehrtheit seiner grundrechtlichen Schutzgüter notwendige Gut nicht mehr zur Verfügung stehen wird, muß er deshalb auch einen Anspruch darauf haben, daß diese tatsächliche Bedingung für den Bestand seiner Rechtsgüter bewahrt wird. Der in Rechtsprechung und Literatur heute allgemein angenommene verfassungsrechtliche Anspruch auf Sicherung des Existenzminimums 10 läßt sich im hier erörterten Zusammenhang sogar ohne Rückgriff auf das Sozialstaatsprinzip aus Art. 2 I I GG ableiten. 11 Eine Gefährdung des derivativen Gemeinschaftsgutes w i r d meist viel früher vorliegen als eine Gefährdung des individuellen Existenzminimums. Deshalb besteht die Pflicht zum Schutz des Gemeinschaftsguts auch dann schon, wenn ein individueller Anspruch noch nicht gegeben ist. Da hier kein Eingriff vorliegt, kann es für die Begründung des Anspruchs 12 nur auf die subjektive Individualgefahr ankommen. Die Gefahr, daß Leben oder Gesundheit eines bestimmten Individuums dadurch verletzt werden, daß lebens- oder gesundheitsnotwendige Umweltgüter nicht mehr zur Verfügung stehen, dürfte nur bei äußerst gravierenden, großflächigen Umweltschädigungen zu begründen sein. Dies schließt einen subjektiven Anspruch auf den Schutz von Gemeinschaftsgütern, deren Existenz vom Grundgesetz vorausgesetzte Voraussetzung von Leben und Gesundheit ist, zwar nicht aus 13 , doch dürften die anspruchsbegründenden Tatsachen nur in Extremsituationen gegeben sein. 14 10 Dieser Anspruch wird überwiegend auf Art. 2 I I GG i. V. m. dem Sozialstaatsprinzip gestützt, vgl. BVerwGE 1, 159 (162); 9, 78 (80f.); 5, 27 (31); Bachof, W D S t R L 12 (1954), 42; Breuer, Festg. BVerwG, S. 95ff. m.w.N. (mit zusätzlicher Berufung auf Art. 11 GG); Düng, in: Maunz / Dürig, Art. 2 I I Rndr. 27; von Münch, GG, Art. 2 Rdnr. 129; Schwabe, NJW 1969, 2274f.; Rehbinder, in: Umweltschutz - aber wie?, S. 30; Dagegen v. Mangoldt / Klein, Art. 2 Anm. V 4; Doehring, Staatsrecht, S. 291, sieht das Sozialstaatsprinzip als lex specialis an; vgl. auch Häberle, W D S t R L 30 (1972), 95. 11 Vgl. auch Η. H. Klein, Festschr. f. W. Weber, S. 651 f. 12 Im Unterschied zur Verletzungsgefahr, s.o. § 14 B. 13 Entgegen Steiger, Mensch und Umwelt, S. 61. " Ähnlich Η. H. Klein, Festschr. f. W. Weber, S. 652.
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§1
P l m
von Gemeinschaftsgütern
§ 16 Probleme der Bewertung von Gemeinschaftsgütern Auch was den Umfang der Pflicht zum Schutz verfassungsrechtlicher Gemeinschaftsgüter angeht, kann grundsätzlich auf die Ausführungen zum Schutz der grundrechtlichen Individualrechtsgüter verwiesen werden. 1 Da die Anforderungen an den Schutz von der Größe des Risikos für das Schutzgut abhängen und die Größe des Risikos sich nicht nur von der Schädigungswahrscheinlichkeit, sondern auch aus dem Umfang des potentiellen Schadens ergibt, ist im folgenden noch auf die Frage einzugehen, nach welchen Maßstäben die zu schützenden Gemeinschaftsgüter zum Zwecke der Risikoquantifizierung zu bewerten sind. A. Fundamentalitätsverhältnisse als Bewertungsrahmen
Wie die Bewertung von Individualrechtsgütern 2 , so hat auch die Bewertung von Gemeinschaftsgütern von der Frage auszugehen, welches das jeweils fundamentalere Gut ist. Beispielsweise ist die Existenz des Volkes fundamental im Verhältnis zur Demokratie oder zu allen anderen Verfassungsprinzipien eines demokratischen Staates, denn ohne das Volk gäbe es überhaupt nichts zu konstituieren. Oder die Bewohnbarkeit des Territoriums ist fundamental gegenüber anderen Zwecken des Gemeinwohls, die sich nur auf einem bewohnbaren Territorium realisieren lassen. Auch zwischen Gemeinschaftsgütern und Individualrechtsgütern lassen sich Fundamentalitätsverhältnisse angeben. Die Organisation des Staates nach rechtsstaatlichen Verfassungsprinzipien ist beispielsweise fundamental gegenüber dem Grundrecht auf individuelle Freiheit, weil dieses als durchsetzbares Recht nur in einem freiheitlich organisierten Staat zu realisieren ist. Anhaltspunkte für eine zwar nicht logisch notwendige, aber aus der Verfassung rechtlich ableitbare Fundamentalität ergeben sich daraus, daß das Grundgesetz die Einschränkung individueller Grundrechte zugunsten von Zielen des Gemeinwohls zuläßt. In dem Maße, in dem der Gesetzgeber auf diese Weise öffentlichen Zwecken den Vorrang vor individuellen Interessen geben darf, verdienen die öffentlichen Zwecke auch intensiveren Schutz vor Eingriffen Dritter als die individuellen Interessen. Aus der Analyse der Fundamentalitätsverhältnisse ergeben sich allerdings - das wurde bereits betont 3 - nicht exakte Quantifizierungsmaßstäbe, sondern nur Richtwerte, Kenngrößen, die nur eine ungefähre Abstufung des Wertrangs oder ein Urteil darüber erlauben, wann eine krasse Fehlbewertung vorliegt. Im übrigen kommt es auch bei der Bewertung der Gemeinschaftsgüter nie allein auf die abstrakte Fundamentalität an. Entscheidend 1
s.o. §§7ff. s.o. § 9B. 3 s.o. § 9 B . I. 2, 4,11. 2
C. Bewertungskompetenz und Prognosespielraum
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sind die konkreten Fundamentalitätsverhältnisse, die sich aus einem Rechtsgütervergleich unter Berücksichtigung der Beeinträchtigungsintensität ergeben. 4 B. Beeinträchtigungsintensität und Kollektivrisiko
Auch die Beeinträchtigungsintensität läßt sich, jedenfalls beim rechtsgutübergreifenden Vergleich, oft nicht eindeutig quantifizieren. Auf die mit der Beurteilung der Eingriffsintensität verbundenen Wertungsprobleme wurde bereits eingehend hingewiesen.5 In bezug auf die Bewertung der Beeinträchtigung von Gemeinschaftsgütern ist dem nichts hinzuzufügen. Eine Frage ist jedoch in diesem Zusammenhang erneut aufzugreifen: Im Zusammenhang mit der Pflicht zum Schutz individueller Rechtsgüter wurde die Ansicht abgelehnt, daß sich aus dem jeweils betroffenen Grundrecht die Pflicht des Staates ergeben könne, gegen ein Risiko um so intensiveren Schutz zu bieten, je größer die Zahl der potentiell Betroffenen beziehungsweise der Gesamtschaden sei.6 Ist aber nicht die Gemeinschaft als ganze um so intensiver betroffen, je mehr ihre Mitglieder geschädigt werden? Wenn das Volk als ganzes verfassungsrechtliches Schutzgut ist, dann muß man diese Frage bejahen. Sofern ein Gemeinschaftsgut sich aus dem Inbegriff von Individualrechtsgütern ergibt, nimmt die Intensität der Schädigung des Gemeinschaftsguts mit der Zahl der individuellen Schäden zu. Bei der Bewertung des Gemeinschaftsschadens im Hinblick auf die Beurteilung des Risikos für das Gemeinschaftsgut ist auf das Kollektivrisiko abzustellen. Daraus folgt aber nicht unbedingt, daß man zur Ermittlung der Größe des Kollektivrisikos ohne weiteres die individuellen Schäden addieren kann. Dies würde eine Bewertung des Gemeinschaftsguts voraussetzen, derzufolge der abstrakte Wert des Gemeinschaftsguts sich aus dem Wert des Individualrechtsguts, multipliziert mit der Anzahl der Individuen ergibt, deren Güter zusammen das Gemeinschaftsgut bilden. Eine solche Wertung ist aber nicht logisch zwingend. Damit sind w i r wieder an die Grenzen rechtsgutübergreifender Schadensbewertung und damit auf die Frage nach der Kompetenz zum Treffen einer verbindlichen Wertentscheidung gestoßen. C. Bewertungskompetenz und Prognosespielraum
Soweit sich aus der Verfassung Maßstäbe für die Bewertung von Schutzgütern und ihrer Beeinträchtigimg nicht ergeben, ist es Sache des Gesetz4 5 6
s.o. §9 B. 1.2, 4. s.o. § 9 B . I. 3, 4. s.o. § 9 Α. I. 2, 3a, aber unter dem Aspekt des Gleichheitssatzes § 9 Α. II.
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§1
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von Gemeinschaftsgütern
gebers, die notwendigen Wertentscheidungen zu treffen - zweckmäßigerweise implizit bei der Regelung des Sicherheitsstandards. Die richterliche Kontrolle muß sich insoweit darauf beschränken, die gesetzliche Regelung daraufhin zu überprüfen, ob der verfassungsrechtlich vorgegebene Bewertungsrahmen beachtet wurde. 7 Die Beurteilung, ob ein Verhalten oder ein Ereignis zur Schädigung eines Schutzgutes führen wird, ob dieses Verhalten eine Gefahr für das Schutzgut begründet, setzt eine Prognose voraus. Bei manchen Gemeinschaftsgütern, insbesondere bei Verfassungsprinzipien wie „Rechtsstaat" oder „Demokratie", sind Prognosen darüber, ob etwa die Einführung einer neuen Technologie diese Gemeinschaftsgüter gefährden würde, besonders schwierig: Wegen der Komplexität des zu schützenden Gutes ist die Prognose mit besonders vielen Unsicherheitsfaktoren belastet. Die Prognoseunsicherheit erweitert notwendig den Entscheidungsspielraum des Gesetzgebers. 8
7
s.o. § 9 B . I I . Zum Prognosespielraum des Gesetzgebers vgl. BVerfGE 25, 1 (12 f.) - Mühlengesetz; 39, 210 (230f.)-Mühlenstrukturgesetz; 50, 290 (332ff., 377)-Mitbestimmung m.w.N.; die oben § 10 Fn. 6 nachgewiesene Lit. sowie § 10 B. mit Fn. 20. 8
2. Kapitel
Verfassungsrechtliche Grenzen der Schutzbefugnisse § 17 Grundrechte des Risiko verursachers und Verhältnismäßigkeit Aus den Grundrechten des potentiellen Risikoopfers hatte sich ergeben, welches Mindestmaß an Sicherheit der Staat zum Schutz des einzelnen zu gewährleisten hat. Dieses verfassungsrechtlich gebotene Mindestmaß bestimmt den Umfang der verfassungsrechtlichen Schutzpflicht. Die Grenzen dessen, was der Staat an Sicherheitspflichten dem Risikoverursacher abverlangen darf, die Grenzen der Schutzbefugnis, folgen vor allem aus den Grundrechten des Risikoverursachers. So wie die Sicherheit grundrechtlicher Schutzgüter gegenüber Beeinträchtigungen seitens Dritter nicht unbegrenzt zugunsten der Freiheit des Risikoverursachers eingeschränkt werden darf, darf auch die grundrechtlich geschützte Freiheit nicht unbegrenzt zugunsten der Sicherheit beschränkt werden. Dies setzt allerdings voraus, daß der Risikoerzeuger überhaupt Grundrechte hat. In der Regel ist dies bei technischen Risiken nicht problematisch: Der Betreiber einer Industrieanlage, der Erzeuger oder Verkäufer von möglicherweise gefährlichen technischen Produkten, jeder einzelne, der sich technischer Erzeugnisse bedient, alle privaten Technik-Anwender können sich auf die Berufsfreiheit (Art. 12 GG), die Eigentumsgarantie (Art. 14 GG) oder jedenfalls auf die allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 2 I GG) stützen. Da Erzeugung und Nutzimg der Technik bei uns überwiegend in privater Hand liegen und insbesondere die risikoträchtige Großtechnik sowie die Produktion risikoträchtiger Güter in der Hand privatwirtschaftlich organisierter Unternehmen liegen, beschränken Sicherheitsvorschriften in der Regel die private Freiheit und - wenn vermögensrechtliche Positionen betroffen sind - auch das Eigentum. Außerdem kann die Auferlegung von Sicherheitspflichten unter Umständen eine ungleiche Belastung sein, so daß auch ihre Vereinbarkeit mit Art. 3 I GG zu prüfen ist. Anders jedoch, wenn der Staat oder Unternehmen der öffentlichen Hand betroffen sind: Der Staat selbst kann sich nicht auf Grundrechte berufen, und wo er selber technische Risiken verursacht, kann die staatliche Schutzbefugnis nicht durch Grundrechte begrenzt sein. Unproblematisch ist dies dort der Fall, wo der Staat hoheitlich tätig wird, etwa beim Straßenbau, oder durch ein reines Staats-
234
§17 Grundrechte des Risikoverursachers und Verhältnismäßigkeit
unternehmen w i e die Bundesbahn. A u f die Rechtsform des Staatsunternehmens k a n n es dabei n i c h t a n k o m m e n ; auch das als p r i v a t r e c h t l i c h e Gesellschaft organisierte staatliche oder k o m m u n a l e U n t e r n e h m e n h a t keine G r u n d r e c h t e . 1 Problematisch s i n d dagegen die g e m i s c h t w i r t s c h a f t l i c h e n Unternehmen, an denen neben P r i v a t e n auch der Staat maßgeblich b e t e i l i g t ist. Gerade die Betreiber u m s t r i t t e n e r technischer Großprojekte s i n d oft gemischtwirtschaftliche
Unternehmen,
e t w a die großen
Energieversor-
gungsunternehmen als Betreiber v o n K r a f t w e r k e n . Ob die G r u n d r e c h t s f ä h i g k e i t dieser U n t e r n e h m e n ganz oder teilweise e n t f ä l l t , w e n n die öffentliche H a n d die M e h r h e i t a m A k t i e n k a p i t a l besitzt, k a n n i m Rahmen dieser A r b e i t n i c h t erörtert werden. 2 1
Ausnahmen gelten für Verfahrensgrundrechte, vgl. BVerfGE 45, 53 (79 f.) - Stadtwerke Hameln; NJW 1980, 1093 - Technische Werke der Stadt Stuttgart. 2 Offengelassen hat diese Frage auch Ossenbühl, in: Technische Risiken und Recht, S. 47. Degenhart, Kernenergierecht, S. 186, hält „eine Abschwächimg grundrechtlicher Positionen ... für EVU, die sich ganz überwiegend im Besitz von Gebietskörperschaften befinden", nicht für ausgeschlossen. Hofmann, Rechtsfragen, S. 27, hält die Berufung privater EVU auf Grundrechte für „fragwürdig". Nach h.M. sind über Art. 19 I I I GG die Grundrechte auch für Energieversorgungsunternehmen mit staatlicher Mehrheitsbeteiligung anwendbar, vgl. Klaus Vogel, Öffentliche Wirtschaftseinheiten in privater Hand, Hamburg 1959, S. 243ff.; Wagner, in: Wagner / Ziegler / Closs, Risikoaspekte, S. 150 f. Die meisten Autoren gehen von der Grundrechtsfähigkeit der EVU aus, ohne das Problem zu diskutieren, vgl. Lukes / Backherms, AöR 103 (1978), 346f.; Mahlmann, 1. Deutsches Atomrechts-Symposium, S. 273; Fischerhof, AtG, § 1 Rdnr. 3; Wiedemann, 1. Deutsches Atomrechts-Symposium, S. 296; Kramer, NJW 1981, 261 f. - Unabhängig von der Staatsbeteiligung an der Betreibergesellschaft wird auch die Frage diskutiert, ob der Betreiber eines Atomkraftwerks oder einer Wiederaufarbeitungsanlage angesichts der „Verflechtung von Staat und Betreiber im Bereich der Kernenergie" - vgl. Winter, NJW 1979, 399 f. - sich auf Grundrechte berufen könne. Winter, ebd., verneint dies, vgl. auch Winter / Gleim, NJW 1980, 1089. In dieselbe Richtimg geht auch die Argumentation von Degenhart, Kernenergierecht, S. 112f., 184ff., und Hofmann, Rechtsfragen, S. 26f., 295f., ders., BayVBl. 1983, 33f., wenn auch nicht mit gleichermaßen dezidierten Schlußfolgerungen. Beide weisen nicht nur auf die enge Zusammenarbeit von Betreiber und Genehmigungsbehörde sowie auf die weitgehende Interessenparallelität zwischen Staat und Betreiber hin, sondern betonen auch, daß ohne gesetzliche Regelung und staatliche Förderung der Kernenergie der privatwirtschaftliche Betrieb von Kernkraftwerken nicht möglich gewesen wäre. Für Degenhart ergibt sich daraus, daß die Grundrechte der Betreiber „sich im Kernenergierecht... nur als bedingt aussagekräftig" erweisen (S. 184,186) eine Folgerung von wahrlich „nur begrenzter Aussagekraft". - M.E. ist Degenharts Ansicht, daß ohne die „konstitutive Gestattung" durch das Atomgesetz der Betrieb von Kernkraftwerken nicht zulässig gewesen wäre (S. 185 f.), rechtlich nicht haltbar. Die Freiheit zu tun, was nicht gesetzlich verboten ist, umfaßt auch den Betrieb von Atomkraftwerken. Daß ohne das bestandsschutzgewährende, Rechts- und Investitionssicherheit bietende Atomgesetz und ohne staatliche Förderung i n der Bundesrepublik kein Atomkraftwerk von privaten Unternehmern errichtet worden wäre, steht auf einem anderen Blatt. Mit konstitutiver Gestattung hat das nichts zu tun. Vorausgesetzt, daß der Betreiber ein privates Rechtssubjekt ist und nicht ein lediglich in privatrechtlicher Form organisiertes staatliches Unternehmen, dann ist er auch Grundrechtsträger, insbesondere Träger der Berufsfreiheit und der wirtschaftlichen Betätigungsfreiheit. Wegen der außerordentlichen Risiken der Kernenergie wäre der Gesetzgeber aber befugt gewesen, eine „Grundsatzentscheidung gegen die Kernenergie" zu treffen - vgl. BVerfGE 49, 89 (127) - und die Errichtung von Atomkraftwerken völlig zu untersagen, ohne die Berufs- und Wirtschaftsfreiheit in unverhältnismäßiger Weise einzuschränken.
§ 17 Grundrechte des Risikoverursachers und Verhältnismäßigkeit
235
Daß die wirtschaftliche Handlungsfreiheit, die Unternehmensfreiheit, die Gewerbefreiheit überhaupt grundrechtlichen Schutz genießen, ist unbestritten. In der Rechtsprechung nicht völlig geklärt und in der Literatur streitig ist jedoch die Frage, inwieweit diese Freiheiten unter dem Schutz von Art. 12 oder von Art. 2 I GG stehen. Da Art. 12 gegenüber Art. 2 I GG als lex specialis anzusehen ist, kann Art. 2 I nur dort noch zum Zuge kommen, wo ein Bereich der wirtschaftlichen Tätigkeit vom Schutzbereich des Art. 12 nicht erfaßt wird. 3 Da die wirtschaftlichen „Teilfreiheiten" wie etwa die unternehmerische Dispositionsfreiheit, die Produktions-, Wettbewerbs-, Preisgestaltungs- oder Vertriebsfreiheit in einem einheitlichen funktionalen Zusammenhang stehen, liegt es nahe, sie als Substrat des Berufs „Unternehmer" einheitlich unter den Schutz des Art. 12 GG zu stellen. 4 Das Bundesverfassungsgericht und die überwiegende Literaturmeinung gehen dagegen von der eigenständigen Gewährleistung der unternehmerischen Betätigungsfreiheit 5 , der Wettbewerbsfreiheit oder der wirtschaftlichen Vertragsfreiheit aus6, die nicht durch Art. 12 GG, sondern durch Art. 2 I GG geschützt seien. Während hiernach beispielsweise wirtschaftslenkende Maßnahmen anhand von Art. 2 I GG zu prüfen sind, hat das Bundesverfassungsgericht Vorschriften, welche der Gefahrenabwehr oder Risikovorsorge im gewerblichen Bereich dienen, immer anhand von Art. 12 GG geprüft. 7 Da das technische Sicherheitsrecht nach allen Auffassungen die Art und Weise der Berufsausübung regelt, kann das Abgrenzungsproblem hier offen bleiben: In unserem Zusammenhang kommt nur ein Eingriff in die Berufsfreiheit des Art. 12 GG in Betracht. 8 Dagegen kann sich auf Art. 2 I GG berufen, wer außerhalb gewerblicher oder beruflicher Tätigkeit technische Risiken erzeugt. Problematisch ist auch die Abgrenzung zwischen der Berufsfreiheit und der Eigentumsgarantie. 9 Zwischen beiden Garantien besteht ein enger Zusammenhang, da die unternehmerische Tätigkeit ohne den Einsatz von Kapital nicht möglich ist. Während Art. 12 GG - nach herrschender Meinung in Verbindung mit Art. 2 I GG - die freie gewerbliche Betätigung schützt, stehen das Recht am eingerichteten und ausgeübten Gewerbe3
Vgl. v. Münch, GG, Art. 2 Rdnr. 19; Düng, in: Maunz / Dürig, Art. 2 I Rdnr. 43; Scholz, in: Maunz / Dürig, Art. 12 Rdnr. 114. 4 So nachdrücklich Scholz, in: Maunz / Dürig, Art. 12 Rdnr. 115, 123, 130ff. m.w.N. 5 Vgl. z.B. BVerfGE 4, 7 (16); 9, 3 (11); 18, 257 (273f.); 21, 160 (168); 25, 371 (407); 32, 311 (316); dagegen i.S.d. Art. 12 BVerfGE 25, 1 (22f.); 50, 290 (363). 6 Vgl. die Nachw. bei Scholz, in: Maunz / Dürig, Art. 12 Rdnr. 115. 7 Vgl. BVerfGE 17, 269 (276f.); 26, 259 (263f.); 49, 89 (144). 8 Anders Hofmann, Rechtsfragen, S. 324f.; Marburger, Die Regeln der Technik im Recht, S. 124. 9 Vgl. dazu ausführlich Scholz, in: Maunz/Dürig, Art. 12 Rdnr. 122ff., 138ff.
m.w. N.
17 Grundrechte des Risikoverursachers und Verhältnismäßigkeit
betrieb und die Substanz des wirtschaftlich genutzten Vermögens unter dem Schutz von Art. 14 GG. Art. 14 schützt, wie das Bundesverfassungsgericht formuliert hat, „das Erworbene, das Ergebnis der Betätigung, Art. 12 Abs. 1 GG dagegen den Erwerb, die Betätigung selbst". 10 Da aber das Erworbene die ökonomische Basis für weiteren Erwerb sein kann, führt diese Unterscheidung nicht zu einer strikten Trennung beider Bereiche. Vielmehr kann eine Norm oder Maßnahme zugleich in die Berufsfreiheit und in das Eigentum eingreifen, wenn sie beide Aspekte der wirtschaftlichen Betätigung gleichzeitig berührt. 1 1 Im folgenden werden die aus den Grundrechten des Risikoerzeugers sich ergebenden Grenzen staatlicher Risikovorsorge zunächst unter dem Freiheits- und Gleichheitsaspekt, sodann unter dem Aspekt der Eigentumsgarantie untersucht. A. Staatliche Schutzpflichten, Freiheit des Risikoerzeugers und Verhältnismäßigkeit
Soweit der Gesetzgeber verpflichtet ist, zum Schutz von Individual- oder Gemeinschaftsgütern ein Mindestmaß an Sicherheit zu gewährleisten, kann der Normierung dieses verfassungsrechtlich gebotenen Mindestsicherheitsstandards ein Grundrecht des Risikoerzeugers nicht entgegengehalten werden. Anderenfalls würde die Verfassung sich selbst widersprechen. Was sie gebietet, kann sie nicht zugleich untersagen. Indem das Gesetz dem Risikoverursacher Sicherheitspflichten auferlegt, etwa die allgemeine Pflicht, die Gefährdung von Rechtsgütern Dritter zu vermeiden, schränkt es zwar die Freiheit des Risikoverursachers, etwa die Berufs- oder die Gewerbefreiheit, ein. Diese Einschränkung ist aber zum Schutz der ohne die Einschränkimg gefährdeten Güter geeignet und erforderlich. Sie kann auch niemals unverhältnismäßig und für den Risikoerzeuger unzumutbar sein, denn bei der Konkretisierung der Schutzpflichten wurde die grundrechtliche Position des Risikoverursachers bereits berücksichtigt. Wurde die Pflicht zum Schutz vor Risiken ihrem Umfang nach auf die Pflicht zur Vorsorge gegen Gefahren und die primäre Schutzpflicht insbesondere auf die Pflicht zum Verbot der Gefährdimg anderer begrenzt, so basierte diese Bestimmung der Schutzpflicht auf der Erkenntnis, daß der Begriff der Gefahr einen Kompro10 BVerfGE 30, 292 (335); vgl. auch 31, 8 (32); 38, 61 (102). Die Formel geht zurück auf Wittig, Festschr. f. Gebhard Müller, 1979, S. 590. 11 Vgl. BVerfGE 8, 71 (79ff.); 21, 150 (154f.); 33, 240 (247); 31, 229 (238ff.); 22, 380 (386); 49, 89 (144); 50, 290 (339ff., insb. 361); andererseits 17, 232 (248); 22, 380 (386); 30, 392 (312, 334f.). In der Lit. z.B. Rüfner, Der Staat 7 (1968), 49ff.; ders., DVB1.1976, 690 ff.; Hamann/Lenz, Art. 12 Anm. A 2 c; Maunz, in: Maunz / Dürig, Art. 14 Rdnr. 20; Gubelt, in: v. Münch, GG Art. 12 Rdnr. 93; Leisner, JZ 1972, 37; Scholz, in: M a u n z / D ü r i g , Art. 12 Rdnr.l22ff., 138ff. m.w.N. - Dagegen Köhler, DVB1. 1958, 635 (638).
Α. Schutzpflichten, Freiheit und Verhältnismäßigkeit
237
miß zwischen Sicherheit und Freiheit darstellt. 12 Die Gefährdung von Gemeinschaftsgütern oder von Rechtsgütern anderer zu vermeiden, ist eine selbstverständliche Freiheitsschranke, die den Kernbereich der grundrechtlich geschützten Freiheit nicht berührt. Der „dynamische" Gefahrenbegriff gewährleistet, daß sie nicht in ein unvernünftiges Verhältnis zum erstrebten Ziel geraten kann, denn das Maß an Sorgfalt, das vom Risikoerzeuger verlangt w i r d und damit das Maß der Freiheitseinschränkung, hängt vom Umfang des potentiellen Schadens ab. Wohl aus diesen Gründen besteht in Rechtsprechung und Literatur nahezu völliger Konsens darüber, daß die wirtschaftlichen Interessen des Unternehmers an der Realisierung eines technischen Projekts dem Gebot der Vermeidung von Gefahren nicht entgegengehalten werden können 13 und daß es im Rahmen der Gefahrenabwehr nicht darauf ankommt, wie groß der finanzielle Aufwand für die Erreichimg der gebotenen Sicherheit ist 1 4 , oder ob der gebotene Ausschluß von Gefahren technisch realisiert werden kann. 1 5 Weniger Klarheit besteht dagegen hinsichtlich der Frage, ob das Verhältnismäßigkeitsprinzip verbiete, vom Risikoerzeuger eine Sicherheitsvorkehrung zu verlangen, die zur Reduzierung des Risikos bis zur Gefahrenschwelle, also zur Gefahrenabwehr erforderlich ist, wenn der mit dieser Maßnahme zu erzielende Sicherheitsgewinn in keinem vernünftigen Verhältnis zum wirtschaftlichen Aufwand steht, den diese Maßnahme erfordert, oder wenn der Sicherheitsbeitrag dieser Maßnahme im Verhältnis zu einem bestehenbleibenden unvermeidlichen Risikobeitrag nicht ins Gewicht fällt. 1 6 Daher fragt 12
s.o. § 8 A. Vgl. VGH Mannheim, DVB1. 1976, 538 (544); VG Freiburg, NJW 1977, 1645 (1647). 14 Vgl. VGH Mannheim, E S VGH 32, 161 (191); Drews / Wacke / Vogel I, S.188; Breuer, DVB1. 1978, 837; ders., WiVerw. 1981, 224 m.w.N.; Bender, NJW 1979, 1429; ders., DÖV 1980, 635f.; Benda, in: Technische Risiken und Recht, S. 8; Wagner, DÖV 1980, 276; aber ders., in: Wagner / Ziegler / Closs, Risikoaspekte, S. 143; abweichend auch Erichsen, W D S t R L 35 (1977), 208f. 15 Vgl. BVerfGE 49, 89 (136); BVerwG, DVB1. 1972, 678 (680); OVG Lüneburg, DVB1. 1977, 340 (341); VGH Mannheim, ESVGH 32,16 (191); VG Freiburg, NJW 1977, 1645 (1647); VG Würzburg, NJW 1977, 1649 (1650); Lecheler, ZRP 1977, 243; Breuer, DVB1. 1978, 837; Bender, NJW 1979, 1429. 16 Smidt postuliert aus technischer Sicht den „Grundsatz der Ausgewogenheit". Danach erfordert „ein Risikobeitrag dann keine besonderen Vorsorgemaßnahmen ..., wenn er isoliert vorkommt - sich also nicht mit vielen gleichartigen zu einem nennenswerten Beitrag aufaddiert - und in seinem Beitrag kleiner ist als die unvermeidbare Bandbreite eines anderen, größeren Risikobeitrags", atw 1980, 72; ders., in: 6. Deutsches Atomrechts-Symposium, S. 39, 44. In der juristischen Literatur wird die Ansicht vertreten, daß das Verhältnismäßigkeitsprinzip die Anwendung dieses „Grundsatzes der Ausgewogenheit" gebiete, vgl. Wagner, NJW 1980, 671; ders., DÖV 1980, 277; Bender, DOV 1980, 635. Wo Rspr. und Lit. der Kosten-Nutzen-Relation rechtliche Bedeutung zumessen - vgl. VGH Mannheim, DVB1. 1976, 538 (544), und klarstellend ESVGH 32, 161 (191); VG Freiburg, NJW 1977, 1645 (1649); Wagner, a.a.O.; Bender, a.a.O. - geht es - soweit ersichtlich - niemals um die Erfüllung eines normativ vorgegebenen Mindestsicherheitsstandards, sondern um das Gebot der Minimierung von Gefahren oder Risiken. 13
17 Grundrechte des Risikoverursachers und Verhältnismäßigkeit
sich, auf welches Verhältnis das Verhältnismäßigkeitsprinzip sich eigentlich bezieht. Das Verhältnismäßigkeitsprinzip dient dazu, die Einschränkbarkeit der grundrechtlich geschützten Freiheit zu beschränken; es fungiert als „Schrankenschranke". 17 Die unter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsprinzips gesetzlich festgelegten Schranken der (Berufs- oder Gewerbe-) Freiheit können daher nicht nochmals unter Berufung auf die Grundrechte (des Unternehmers) und das Verhältnismäßigkeitsprinzip relativiert werden. 18 Auf der Ebene der Freiheitseinschränkung kann das Verhältnismäßigkeitsprinzip nur einmal zur Anwendung kommen. Den Störer in die gesetzlichen Schranken seiner Freiheit zu weisen, ist niemals unverhältnismäßig, wenn das Gesetz selbst dem Verhältnismäßigkeitsprinzip entspricht. Die Frage nach der Verhältnismäßigkeit stellt sich erst wieder auf einer zweiten Ebene, nämlich bei der Durchsetzung des gesetzlich geforderten Verhaltens: Die zur „Mißbrauchswehr" 19 eingesetzten Mittel greifen in die Freiheit ein und dürfen daher nicht unverhältnismäßig sein. 20 Bei der Konkretisierung der gesetzlichen oder verfassungsrechtlich geforderten Sicherheitspflichten geht es aber allein um die erste Ebene. Wenn die gesetzlich geforderte Sicherheit die Freiheit des Unternehmers nicht unverhältnismäßig einschränkt - und ein Gesetz, das die Vermeidimg von Gefahren verlangt, tut dies nicht - , dann kann die Forderung, dieses Gesetz zu beachten, nicht gegen das Verhältnismäßigkeitsprinzip verstoßen und nicht unzumutbar sein. Würde man dagegen die Forderung nach „Abwägung" und „Verhältnismäßigkeit" aus der Relation zwischen der Freiheitseinschränkung (bzw. Eingriff) auf der einen und dem öffentlichen Zweck, dem die Freiheitseinschränkung dient, auf der anderen Seite herauslösen 21 und das Verhältnismäßigkeitsprinzip zum Universalprinzip erheben, dann hätte man einen Zauberschlüssel zum Erzielen jedes gewünschten Ergebnisses 22, denn 17
Vgl. Merten, Rechtsstaat und Gewaltmonopol, S. 62. Vgl. Merten, Rechtsstaat und Gewaltmonopol, S. 62f.; Scholz, NJW 1983, 709. 19 Lerche, Übermaß und Verfassungsrecht, S. 117ff.; Schnur, W D S t R L 22 (1965), 136ff. 20 Bei Gesetzen, die die Exekutive oder den Richter zum Eingriff ermächtigen, gibt es wiederum eine scheinbare Zweistufigkeit: Das Gesetz muß verhältnismäßig sein und sodann auch der Eingriff im Einzelfall, vgl. BVerfGE 20, 162 (213). Auch hier aber kann der Eingriff nicht unverhältnismäßig sein, wenn er nicht gesetzwidrig ist und das Gesetz selbst nicht gegen das Verhältnismäßigkeitsprinzip verstößt. Die zitierte Rechtsprechung - kritisch dazu H. Schneider, Festg. BVerfG II, S. 402 f. - läßt sich systematisch nur so verstehen, daß ein Gesetz mit dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz nur dann zu vereinbaren ist, wenn es nicht zu im Einzelfall unverhältnismäßigen Eingriffen ermächtigt; gegebenenfalls ist es „verfassungskonform" dahingehend auszulegen, daß die Eingriffsermächtigung durch das Verhältnismäßigkeitsprinzip begrenzt ist. 21 Dagegen wenden sich auch Merten, Rechtsstaat und Gewaltmonopol, S. 62; Scholz, NJW 1983, 709. 22 Sendler, UPR 1983, 34, begrüßt das Verhältnismäßigkeitsprinzip als „allseits einsatzbereite Wunderdroge und Vielzweckwaffe". 18
Α. Schutzpflichten, Freiheit und Verhältnismäßigkeit
239
was jeweils in die Waagschalen gelegt würde, stünde ja nicht fest. Damit löste sich die Rechtsordnung in Verhältnismäßigkeit auf. Der Ansicht, auf die Kosten von Sicherheitsmaßnahmen, die zur Erfüllung des gesetzlichen Sicherheitsstandards erforderlich sind, könne es auch dann nicht ankommen, wenn sie im Verhältnis zum damit erzielten Sicherheitsgewinn unvernünftig hoch erschienen, muß deshalb beigepflichtet werden. Der Unternehmer, der die Kosten der Sicherheit wirtschaftlich nicht tragen w i l l oder kann, hat ja die Alternative, auf das Projekt zu verzichten. Die Verhältnismäßigkeit der gesetzlichen Sicherheitspflicht, auf die allein es in diesem Zusammenhang ankommt, wird durch die auf die Sicherheitsvorkehrungen bezogene Kosten-Nutzen-Relation nicht in Frage gestellt. Das gleiche gilt für die technische „Unausgewogenheit" einer Sicherheitsmaßnahme, deren Sicherheitsbeitrag so groß ist, daß ohne diese Maßnahme das gesetzlich geforderte Sicherheitsniveau nicht erreicht würde. 23 Dagegen versteht sich von selbst, daß solche Sicherheitsvorkehrungen nicht verlangt werden dürfen, die zur Erhöhung der Sicherheit nicht geeignet sind, weil sie entweder das Risiko, gegen das sie eingesetzt werden, praktisch nicht mindern können oder weil sie zugleich einen neuen Risikobeitrag verursachen, so daß sie das Gesamtrisiko nicht mindern oder gar erhöhen. In dieser Hinsicht bedarf die These, daß es im Rahmen der Gefahrenabwehr auf den wirtschaftlichen Aufwand für die erforderlichen Sicherheitsmaßnahmen nicht ankomme, jedoch einer Einschränkung: Diese These setzt voraus, daß die Abwehr von Gefahren gesetzlich geboten ist. Wo dagegen das Gesetz aus besonderen Gründen des Gemeinwohls einen niedrigeren Sicherheitsstandard festlegt und auch Gefahren bis zu einer bestimmten Größe zuläßt, ist ein Risiko oberhalb der Gefahrengrenze 24 auch dann noch zulässig, wenn eine weitere Reduzierung des Risikos zwar technisch möglich, aber das Projekt wegen der hohen Kosten der zusätzlichen Sicherheitsvorkehrungen wirtschaftlich nicht mehr realisierbar wäre. Marburger stimmt zwar der Auffassung zu, daß die Kosten keine Rolle spielen könnten, wo es um die Abwehr „eindeutig erkannter" Gefahren gehe, doch gebe es eine „Grauzone", in der die Grenze zwischen Risiko und Gefahr fließend sei; das Verhältnismäßigkeitsprinzip gebiete, in diesem Grenzbereich die Verhältnismäßigkeit von Aufwand und Nutzen zusätzlicher Sicherheitsvorkehrungen zu berücksichtigen. 25 Daß es die von Marburger angesprochene „Grauzone" gibt - sie ist bei Projekten mit großem Scha23 So VGH Mannheim, ESVGH 32, 161 (191). 24 Aber unterhalb des gesetzlich bestimmten oder aus verfassungskonformer Gesetzesinterpretation sich ergebenden Mindestsicherheitsstandards. 25 In: Bitburger Gespräche, Jahrbuch 1981, S. 46f.; ders., WiVerw. 1981, 250f.
17 Grundrechte des Risikoverursachers und Verhältnismäßigkeit
denspotential besonders groß - und daß die Frage, ob eine Gefahr vorliegt oder nicht, innerhalb dieser „Grauzone" nur durch eine normativ-wertende Entscheidung beantwortet werden kann 2 6 , ist unbestreitbar. Doch wieso soll es innerhalb der „Grauzone" auf das Verhältnis von Aufwand und Nutzen ankommen? Was hat dies mit dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu tun? Wie w i r gesehen hatten 27 , läßt sich der Gefahrenbegriff deshalb nicht einfach anhand der „Je-desto-Formel" konkretisieren, weil es keinen verfassungsrechtlich vorgegebenen Wertmaßstab gibt, der eine durchgehende quantitative Bewertimg der unterschiedlichen Rechtsgüter und Beeinträchtigungsintensitäten ermöglicht. Die Konkretisierung des Gefahrenbegriffs setzt eine Wertentscheidung voraus, weil ohne die Bewertung des potentiellen Schadens eine korrelative Zuordnung von Schadenspotential und Eintrittswahrscheinlichkeit nicht möglich ist. Die Verfassung gibt für diese Bewertung mit den aus ihr ableitbaren Fundamentalitätsverhältnissen nur „Eckdaten" vor, durch welche die „Grauzone" begrenzt wird. Wenn das zum Treffen dieser Wertentscheidung kompetente Staatsorgan - der Gesetzgeber oder das von diesem ermächtigte Exekutivorgan - seine Entscheidung i m Rahmen der vorgegebenen verfassungsrechtlichen „Eckwerte" trifft, ist die Entscheidung verfassungsgemäß, sofern nicht durch seine Praxis das entscheidende Organ sich selbst an einen bestimmteren Maßstab gebunden hat, von dem es ohne Verstoß gegen Art. 3 I GG nur noch aus sachlichen Gründen abweichen darf. Hat das zuständige Staatsorgan den potentiellen Schaden in verfassungskonformer Weise bewertet, dann kann es aufgrund dieser Wertentscheidung auch die Frage beantworten, ob eine Gefahr gegeben ist oder nicht: Die „Grauzone" w i r d dezisionistisch aufgelöst, und es erscheint eine präzise Linie - die „Gefahrenschwelle". Daß in der Praxis diese zwei Schritte - Bewertung des Schadenspotentials und Konkretisierung der Gefahrenschwelle anhand der „Je-desto-Formel" aufgrund dieser Wertentscheidung - nicht getrennt und explizit vollzogen werden, sondern daß die Entscheidung sich oft nur implizit aus der Forderung nach bestimmten Sicherheitsmaßnahmen ergibt, ändert nichts an dem systematischen Zusammenhang. So weit wie der Spielraum reicht, den die Verfassung für die Wertdezision offen läßt, hat das zuständige Organ die Möglichkeit, bei der Festlegung des Sicherheitsstandards auch wirtschaftliche Erwägungen einfließen zu lassen und insbesondere das Kosten-Nutzen-Verhältnis für zusätzliche Sicherheitsvorkehrungen zu berücksichtigen. Wäre das zuständige Organ hierzu jedoch verpflichtet, dann hätte es in Wirklichkeit gar keinen Entscheidungsspielraum; dann hieße die Maxime hier: im Zweifel für die Freiheit des Unternehmers, gegen die Sicherheit des Betroffenen. Für eine solche Maxime gibt das Grundgesetz nichts her, und der Verhältnis26 Marburger, in: Bitburger Gespräche, Jahrbuch 1971, S. 46; ders., WiVerw. 1981, 251; Sendler, UPR 1981, 12. 27 s.o. § 9 B.
Α. Schutzpflichten, Freiheit und Verhältnismäßigkeit
241
mäßigkeitsgrundsatz müßte schon seiner verfassungsrechtlichen Funktion ' entfremdet werden, wenn man ihn für dieses Ergebnis mobilisieren wollte. Hat nämlich der Gesetzgeber (oder das durch ihn ermächtigte Exekutivorgan) die Kompetenz, den Wert des potentiell geschädigten Guts i m Rahmen der verfassungsrechtlichen Vorgaben verbindlich zu konkretisieren, dann ist diese Wertentscheidimg der Konkretisierung des Gefahrenbegriffs zugrunde zu legen. Ob die Berufs- oder Gewerbefreiheit durch die Pflicht zur Vermeidung von Gefahren in „unverhältnismäßiger Weise" eingeschränkt wird, läßt sich nur beurteilen, wenn man dem Maß der Freiheitseinschränkung - ausgedrückt durch den Grad der Schädigungswahrscheinlichkeit, die vermieden werden muß - den Zweck gegenüberstellen kann, dem die Freiheitseinschränkung dient. Der Zweck ist die Sicherheit für ein bestimmtes Gut, und wie schwer diese Sicherheit wiegt, ergibt sich aus dem Wert des Gutes, genauer: aus der Bewertung des potentiellen Schadens an diesem Gut. Die Prüfung der Verhältnismäßigkeit der in der Auferlegung von Sicherheitspflichten liegenden Freiheitseinschränkung setzt also die Wertentscheidung, um die es Marburger geht, bereits voraus. Die Wertentscheidung selber, die der Konkretisierung des Gefahrenbegriffs zugrunde liegt, ist Voraussetzung für eine verhältnismäßige Zuordnung unterschiedlicher Rechtsgüter, und ihre Notwendigkeit resultiert gerade daraus, daß die Verfassung selbst keinen durchgehenden Zuordnungsmaßstab, sondern nur grobe Orientierungsraster zur Verfügung stellt. Die Wertentscheidung ist anhand dieser Vorgaben zu überprüfen, nicht anhand einer „Verhältnismäßigkeit", der die verfassungsrechtlichen Bezugspunkte fehlen. Somit bleibt festzuhalten, daß die gesetzliche Pflicht, die Verursachung von Gefahren zu unterlassen, gegen Freiheitsrechte des Risikoverursachers nicht verstoßen kann. Insofern liegt es nahe zu sagen, daß diese Pflicht eine „immanente Grundrechtsschranke" sei oder daß die Freiheit dieser „allgemeinen Nichtstörungsschranke" unterliege. Nur muß man sich dann vor dem Mißverständnis hüten, daß diese Einschränkung keiner gesetzlichen Grundlage bedürfe: Zwar ergibt sich aus den Grundrechten kein Recht auf die Freiheit zur Gefährdung anderer, aber die Freiheit, andere zu gefährden, kann nur durch Gesetz oder aufgrund eines Gesetzes eingeschränkt werden. Daraus folgt: Wenn das Gesetz aus Gründen des Gemeinwohls - sagen wir, der ausreichenden Versorgung der Bevölkerung mit Energie - für bestimmte technische Anlagen den Mindestsicherheitsstandard oberhalb der Gefahrenschwelle festlegt, dann kann die Genehmigungsbehörde dem Betreiber der Anlage nicht Sicherheitsvorkehrungen zur Auflage machen, die der Reduzierung des Risikos bis unter die Gefahrenschwelle dienen. Eine solche Auflage verstieße mangels gesetzlicher Grundlage gegen Art. 12 GG. Art. 12 GG wäre dagegen nicht verletzt, wenn das Gesetz in einer besonderen Bestimmung die Freiheit des Unternehmers insoweit einschränkte, also zwischen der Befugnis zur Erteilung der Genehmigung einerseits (und damit 16 Murswiek
17 Grundrechte des Risikoverursachers und Verhältnismäßigkeit
zur Einschränkung der Sicherheit der von den Risiken der Anlage Betroffenen) und der Befugnis zur Versagung der Genehmigung andererseits (also * zur Einschränkung der Freiheit des Betreibers) differenzierte. Bei einer solchen Regelung wäre die Verwaltung zum Eingriff in die Sicherheit (die Freiheit von Risiken für Leben und Gesundheit) einerseits und die Freiheit des Betreibers andererseits in unterschiedlicher Weise ermächtigt. Wie sie von dieser Ermächtigung Gebrauch zu machen hätte, hinge davon ab, ob die Verursachung der Gefahr zu dem vom Gesetzgeber ausgewiesenen Gemeinwohlziel im Einzelfall erforderlich wäre. B. Risikoabwehr unterhalb der Gefahrenschwelle und Verhältnismäßigkeit
Bestehen gegen die gesetzliche Pflicht zur Unterlassung der Verursachung von Gefahren unter dem Aspekt der Freiheitsrechte des Risikoverursachers keine Bedenken, so fragt sich, wie weit diese mit der allgemeinen Polizeipflichtigkeit jedem Bürger auferlegte Pflicht verschärft werden kann, ohne die Freiheit des Risikoverursachers in verfassungswidriger Weise einzuschränken. Auch dies ist anhand des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zu überprüfen. Der Zweck der „RisikoVorsorge unterhalb der Gefahrenschwelle" 28 ist mit dem Zweck der Gefahrenabwehr identisch: die Schädigung von Individualrechtsgütern oder von Gemeinschaftsgütern zu verhüten. Daß es sich hierbei um einen Zweck des Gemeinwohls handelt, bedarf keiner näheren Begründung. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz im weiteren Sinne fordert zunächst, daß die Freiheitseinschränkimg zu diesem Zweck geeignet und erforderlich ist. Das vom Gesetzgeber eingesetzte Mittel „ist geeignet, wenn mit seiner Hilfe der gewünschte Erfolg gefördert werden kann; es ist erforderlich, wenn der Gesetzgeber nicht ein anderes, gleich wirksames, aber das Grundrecht nicht oder doch weniger fühlbar einschränkendes Mittel hätte wählen können". 2 9 Wenn der Gesetzgeber einen festen Sicherheitsstandard vorschreibt oder zur Risikominimierung verpflichtet, sind diese Voraussetzungen immer erfüllt. Daß die Verschärfimg des Sicherheitsstandards die Sicherheit erhöht, liegt auf der Hand. Und es ist logisch nicht möglich, daß eine weniger weitgehende Sicherheitspflicht den Schutzzweck genauso gut oder gar besser erfüllt. Geeignetheit und Erforderlichkeit können aber problematisch sein, wenn als Mittel der Sicherheitserhöhung bestimmte Sicherheitsmaßnahmen - vom Gesetzgeber oder von der den gesetzlichen Standard konkretisierenden Verwaltung - vorgeschrieben werden. Eine bestimmte Sicherheitsvorkehrung darf nicht vorgeschrieben werden, wenn sie die 28 29
Vgl. z.B. Breuer, DVB1. 1978, 836ff. BVerfGE 30, 292 (316) m.w.N.
Β. Risikoabwehr und Verhältnismäßigkeit
243
Sicherheit nicht erhöht, weil sie entweder gar keinen Beitrag zur Risikominderung leistet, oder weil sie zwar das Risiko unter einem bestimmten Aspekt mindert, aber zugleich neue Risiken in einem solchen Umfang verursacht, daß das Gesamtrisiko nicht abnimmt. Eine solche Vorkehrung wäre ungeeignet zur Risikominderung. Ist eine Sicherheitsvorkehrung geeignet, das Risiko zu mindern, darf sie dennoch nicht vorgeschrieben werden, wenn dieselbe Risikominderimg durch eine andere, weniger aufwendige Maßnahme erreicht werden kann. Ist die dem Risikoverursacher auferlegte Sicherheitspflicht zur Erreichung eines Gemeinwohlziels geeignet und erforderlich, was - wie gesagt für Sicherheitsstandards auch unterhalb der Gefahrenschwelle immer zutrifft, so verlangt der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit außerdem, daß die Freiheitseinschränkung den Verpflichteten nicht unzumutbar belastet. Wann die Freiheitseinschränkung die Grenze der Zumutbarkeit erreicht, hängt nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts einerseits von der Intensität der Beeinträchtigung, andererseits von dem Gewicht der öffentlichen Interessen ab: Je empfindlicher die Freiheitsbeeinträchtigung, desto stärker müssen die Interessen des Gemeinwohls sein, denen die Regelung zu dienen bestimmt ist 3 0 (Verhältnismäßigkeit i.e.S.). Was insbesondere die in unserem Zusammenhang vornehmlich in Betracht kommende Berufsfreiheit angeht, so stellt das Bundesverfassungsgericht an die Rechtfertigung der Einschränkung der BerufswahZfreiheit erheblich höhere Anforderungen als an die Rechtfertigung von Regelungen der Berufsausübung. Während die Regelung der Berufsausübung mit „vernünftigen Erwägungen des Gemeinwohls" begründet werden kann, ist nach der „Stufentheorie" die Freiheit der Berufswahl nur insoweit einschränkbar, als „der Schutz besonders wichtiger Gemeinschaftsgüter es zwingend erfordert". 31 Die Auferlegung technischer Sicherheitspflichteh ist ihrer Intention nach immer eine Berufsausübungsregelung. Allerdings kann eine Ausübungsregelung die Berufsfreiheit so intensiv beeinträchtigen, daß sie in ihrer Wirkung einer Einschränkung der Berufswahlfreiheit gleichkommt. Nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts ist dies aber nur dann der Fall, wenn die betroffenen Berufsangehörigen in aller Regel und nicht nur in Ausnahmefällen wirtschaftlich nicht mehr in der Lage sind, den gewählten Beruf ganz oder teilweise zur Grundlage ihrer Lebensführung zu machen. 32 Auch ansonsten prüft das Bundesverfassungsgericht die Zumutbarkeit der Ausübungsregelung nicht im Hinblick auf die individuelle Interessenlage des Beschwerdeführers, sondern im Hinblick auf die typische Interessenlage 30 31 32
16*
Vgl. BVerfGE 11, 30 (42f.); 13, 97 (104f.); 23, 50 (56); 25, 1 (22); 30, 292 (316). BVerfGE 7, 377 (405 ff.). Vgl. BVerfGÊ 16, 147 (165); 30, 292 (313f.).
17 Grundrechte des Risikoverursachers und Verhältnismäßigkeit
der Berufsgruppe im ganzen. 33 - Die „Stufentheorie" ist als Ausdruck des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zu verstehen 34 : Die Berufsfreiheit wird durch Einschränkungen auf der Ebene der Berufswahl erheblich intensiver berührt als durch Regelungen der Berufsausübimg; diese sind eher zumutbar als jene. Behält man diesen Zusammenhang im Blick, dann w i r d man nicht der Gefahr erliegen, die Unterscheidung von Berufswahl und Berufsausübung zu dogmatisieren und damit einer Manipulation der Einschränkungsvoraussetzungen durch weite oder enge Fassung von „Berufsbildern" Vorschub zu leisten: Je enger ein Berufsbild erfaßt ist, desto eher gerät eine Berufsausübungsregelung auf die Ebene der Berufswahlbeeinträchtigung. Führt dies automatisch zur Anwendung der obersten „Stufe" der Einschränkungsvoraussetzungen, ist der Streit darüber vorprogrammiert, ob es beispielsweise einen Beruf des „einstufig tätigen, konzernunabhängigen, mittelständischen Mineralölimporteurs" 35 oder des Thoriumhochtemperaturreaktorbetreibers gibt. 3 6 Wenn die gesteigerten Anforderungen an die Rechtfertigung von Einschränkungen der Berufswahl daraus resultieren, daß mit der Berufswahl das personale Zentrum des Freiheitsbereichs berührt wird, während Ausübungsregelungen regelmäßig marginal bleiben, dann kann die Unterscheidung von Berufswahl und Berufsausübung nicht beliebig sein. Führt eine Regelung dazu, daß ein typischer Beruf überhaupt nicht mehr ausgeübt werden kann, indiziert dies einen Eingriff in den personalen Kernbereich der Freiheit. Entspricht die Tätigkeit, die nicht mehr ausgeübt werden kann, keinem typischen Berufsbild, so ist damit ein Eingriff in den personalen Kernbereich noch nicht ausgeschlossen. Art. 12 GG schützt auch die Freiheit, sich untypische Tätigkeiten zum Beruf zu machen. 37 Deshalb kommt es letztlich nicht auf die Frage an, ob etwa das Merkmal der „Konzernunabhängigkeit" eines Mineralölhändlers ein besonderes Berufsbild begründet oder nicht, sondern darauf, ob die Freiheit des einzelnen, durch Wahl und Ausübung eines Berufes seine Existenz zu sichern und zu gestalten, seine Persönlichkeit zu bilden und seinen sozialen Status zu bestimmen 38 , im Kernbereich oder nur marginal berührt wird. 3 9
33 Vgl. BVerfGE 14, 19 (24); 17, 269 (274ff.); 30, 292 (316). Kritisch dazu Selmer, DÖV 1972, 551 ff. 34 BVerfGE 25, 1 (12); 30, 292 (313ff.); 46, 120 (138). 35 Vgl. die Auseinandersetzung des BVerfG mit dieser Ansicht der Beschwerdeführer in E 30, 292 (312 f.). 36 Vgl. Gubelt, in: v. Münch, GG, Art. 12 Rdnr. 12. 37 BVerfGE 7, 377 (397); 9, 73 (78); 10, 185 (197); 13, 97 (106);48, 376 (388); 50, 290 (362); Scholz, in: Maunz / Dürig, Art. 12 Rdnr. 262f. 38 Scholz, in: Maunz / Dürig, Art. 12 Rdnr. 9; vgl. BVerfGE 7, 377 (379); 30, 292 (334); 50, 290 (362); 54, 301 (313). 39 BVerfGE 50, 290 (363ff.). Vgl. auch BVerfGE 17, 306 (314): Je mehr „elementare Äußerungsformen der menschlichen Handlungsfreiheit" berührt würden, desto sorgfältiger müßten die zur Rechtfertigung vorgebrachten Gründe gegen den Freiheitsanspruch des Bürgers abgewogen werden. Die Bemühungen, Berufsbilder zu erfassen,
Β. Risikoabwehr und Verhältnismäßigkeit
245
Wo also liegt die grundrechtliche Mindestposition des Risikoverursachers? Wann kann ihm eine Sicherheitspflicht nicht mehr zugemutet werden? Eine generelle Antwort auf diese Fragen ist der Natur der Sache nach nicht möglich, läßt sich doch ein Urteil über Zumutbarkeit und Übermaß nur im Hinblick auf konkrete Regelungen, Maßnahmen und Situationen bilden. Abstrakt kann man lediglich nach zusätzlichen Kriterien für die nur konkret mögliche Entscheidimg suchen. Dabei ist zunächst die Sonderstellung von Ingerenzrisiken zu bedenken (I.), bevor auf die Öicherheitspflichten in bezug auf sonstige Risiken eingegangen wird (II.). I. Ingerenzverursachungsverbot
und Verhältnismäßigkeit
Ingerenzen, so hatten w i r gesehen, sind tatsächliche Einwirkungen auf ein geschütztes Gut, Eingriffe in die Freiheit des Betroffenen. 40 Das Verbot der Verursachung von Ingerenzen, das Verbot also privater Eingriffe in Freiheit, Leben, Gesundheit, Eigentum anderer, ist durch die allgemeine Nichtstörungsschranke prinzipiell gedeckt. Die Grundrechte gewährleisten prinzipiell nicht die Freiheit zum Eingriff in Rechte anderer. 41 Nicht das Verbot der Ingerenzverursachung, sondern die Unterlassung dieses Verbots - die Gestattung von Ingerenzen - ist deshalb rechtfertigungsbedürftig. 42 Daß die meisten Ingerenzen, denen w i r im täglichen Leben ausgesetzt und die zu dulden w i r gesetzlich verpflichtet sind - in Betracht kommen vor allem Immissionen - , sich aus sozialen oder wirtschaftlichen Gründen des Gemeinwohls rechtfertigen lassen und daß der Gesetzgeber deshalb nicht die das BVerfG vorzunehmen pflegt - vgl. E 9, 73 (78); 11,30 (41); 16, 286 (294ff.); 16, 147 (163); 17, 371 (380); 40, 195 (217ff.); dazu vgl. z.B. Scholz, in: Maunz / Dürig, Art. 12 Rdnr. 264ff. - , beziehen ihre Berechtigung daraus, daß sie die Erkenntnis, wann „der personale Grundzug, der den eigentlichen Kern der Gewährleistung dieses Grundrechts ausmacht" - E50, 290 (3 64 f.) - wesentlich erleichtern. 40 s.o. § I I B . I. 41 Vgl. - von einem anderen grundrechtsdogmatischen Ansatz ausgehend - Suhr, JZ 1980, 166 ff. - Dies schließt, wie bereits betont - s. ο. A. - nicht aus, daß die Unterbindung eines solchen Eingriffs ein Grundrecht verletzt, wenn sie nicht auf einer gesetzlichen Ermächtigung beruht. 42 Zumindest hinsichtlich der mit der Eigentumsgarantie verbundenen Befugnisse scheint sich diese Auffassung im Ergebnis seit BVerfGE 58, 300 (329, 339f., 343) Naßauskiesung, durchzusetzen, vgl. Rittstieg, NJW 1982, 724; Wahl, DVB1. 1982, 56f. m. w. N.; Sendler, UPR 1983, 40 f., der allerdings den Unterschied zwischen Störer und Geschädigtem völlig verwischt. - Das Verbot der Ingerenzverursachung ist freilich wie jedes Verbot, z.B. auch das Verbot des Diebstahls - eine Freiheitseinschränkung und insofern rechtfertigungsbedürftig. Im Unterschied zu anderen Freiheitseinschränkungen ergibt sich die Rechtfertigung hierfür jedoch schon unmittelbar aus der Verfassung, aus der allgemeinen Nichtstörungsschranke, aus der grundsätzlichen Pflicht des Staates, vor Eingriffen Dritter in grundrechtlich geschützte Rechtsgüter zu schützen. Während sich das Ingerenzverursachungsverbot also „von selbst versteht" und in diesem Sinne keiner besonderen Rechtfertigung bedarf, muß der Gesetzgeber sich rechtfertigen, wenn er Private zu Eingriffen in Rechtsgüter Dritter ermächtigt, indem er es unterläßt, die Verursachung bestimmter Ingerenzen zu verbieten.
17 Grundrechte des Risikoverursachers und Verhältnismäßigkeit
verpflichtet ist, sie zu verbieten, ist im Rahmen der hier erörterten Fragestellung unerheblich. Vielmehr geht es darum, ob es rechtliche Gründe gibt, aus denen der Gesetzgeber daran gehindert sein kann, Ingerenzen zu verbieten. Wann also verletzt das Ingerenzverbot die grundrechtliche Mindestposition des Verursachers? Die Pflicht, Eingriffe in Rechtsgüter anderer zu unterlassen, kann grundsätzlich nicht unzumutbar sein. Unzumutbar ist eine solche Pflicht nur in Notsituationen, auf die in unserem Zusammenhang nicht einzugehen ist 4 3 , und dann, wenn sie sich auf Bagatelleingriffe bezieht, die sozial üblich und in dem Sinne notwendig sind, daß ein normales menschliches Zusammenleben in einer freien Gesellschaft ohne Inkaufnahme dieser Beeinträchtigungen nicht möglich wäre. Die Verursachung von i n diesem Sinne „sozialadäquaten" Ingerenzen w i r d vom Grundgesetz als der sozialen Natur des Menschen notwendig entsprechend vorausgesetzt und gehört zur Mindestposition der Freiheitsrechte, insbesondere Art. 2 I, 12 GG. Zu dieser Mindestposition muß man vor allem die beim sozialen Zusammenleben unvermeidlichen Lärm.-, Geruchs- oder Rauchimmissionen zählen. Was in diesem Sinne „unvermeidlich" ist und daher nicht verboten werden darf, hängt von den örtlichen Verhältnissen ab, wie sie sich geschichtlich entwickelt haben oder wie der Staat sie planend gestaltet, aber auch von der historischen Lage, die durch den Stand der technisch-zivilisatorischen Entwicklung wesentlich geprägt wird. Rauch- und Rußimmissionen durch Hausbrand, die früher in Großstädten ein gravierendes Problem darstellten, lassen sich heute durch Substitution von Festbrennstoffen und insbesondere durch Fernwärme weitgehend vermeiden. Andererseits bringt beispielsweise allein die - ebenfalls auf den technischen Fortschritt zurückgehende - Zunahme der Bevölkerungsdichte neue Ingerenznotwendigkeiten mit sich. Soll die „Unvermeidlichkeit" von Ingerenzen individuelle Ingerenzverursachungsansprüche begründen, so kann es nicht auf die soziale Unvermeidlichkeit als solche ankommen und nicht auf die soziale Nützlichkeit oder Unentbehrlichkeit der ingerenzverursachenden Tätigkeit, sondern allein darauf, ob diese für den Ingerenzverursacher selbst unentbehrlich ist. Der Anspruch auf Beeinträchtigung anderer ist materiell kein Freiheitsrecht, sondern ein Anspruch auf Zuteilung von Eingriffsbefugnissen; als solcher ist er seiner Natur nach nicht prinzipiell unbegrenzt, sondern prinzipiell beschränkt. 44 Wie die grundrechtlichen Ansprüche auf Gewährung von Lei43
Vgl. §§ 228, 904 BGB. Dies schließt nicht aus, daß grundrechtsdogmatisch betrachtet das Verbot der Beeinträchtigung anderer eine Freiheitseinschränkung darstellt. Da aber der Staat dies unterscheidet ihn von einem „Naturzustand" - zur Einschränkung der Freiheit in dieser Hinsicht prinzipiell verpflichtet ist und die Freiheitseinschränkung sich unter dem Aspekt der allgemeinen Nichtstörungsschranke ohne weiteres rechtfertigt, 44
Β. Risikoabwehr und Verhältnismäßigkeit
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stungen läßt er sich nicht in größerem Umfang aus der Verfassung ableiten als diese ihn zwingend voraussetzt. Dies aber ist nur dort der Fall, wo es um die Befriedigimg menschlicher Grundbedürfnisse geht, also um die Sicherung des „Existenzminimums", dessen rechtliche Garantie von Rechtsprechung und Literatur auf Art. 2 I I i.V.m. dem Sozialstaatsprinzip gestützt w i r d 4 5 , soweit es um die materielle Existenz geht, das aber auch im Hinblick auf die übrigen Grundbedingungen freiheitlicher Existenz als durch Art. 2 I i. V. m. Art. 11 GG gewährleistet angesehen werden kann. Gehört zu den Notwendigkeiten des sozialen Zusammenlebens, die zu akzeptieren der Gesetzgeber verpflichtet ist, auch die Verursachung von Industrieimmissionen? Die Industrie ist gewiß die wirtschaftliche Grundlage unserer konkreten Gesellschaft, und es ließe sich argumentieren, daß ihre Beseitigung katastrophale Folgen nicht nur für den Wohlstand, sondern auch für Leben und Gesundheit vieler Menschen sowie für die Selbstbehauptung des Staates haben könnte. Dies spricht dafür, daß der Gesetzgeber die Verursachung voti Immissionen insoweit nicht verbieten darf, als sie zur Erhaltung des Industriesystems unvermeidlich sind. Wer so argumentiert 46 , argumentiert aber nicht aus der Position der grundrechtlich geschützten Freiheit des Risikoverursachers heraus, sondern aus der Position des Gemeinwohls, die zur Gestattung der Immissionen berechtigt, aber allenfalls im Extremfall unter Aspekten der Pflicht zum Schutz von Gemeinschaftsgütern dazu verpflichtet. Die Freiheit der wirtschaftliehen Betätigung, die Unternehmer-, Gewerbe-, Produktionsfreiheit sind zwar grundrechtlich gewährleistet, aber auch diese Gewährleistung ist durch die allgemeine Nichtstörungsschranke begrenzt. Durchbrochen w i r d die Nichtstörungsschranke durch die wirtschaftlichen Grundrechte nicht in weiterem kann es grundsätzlich einen Anspruch auf Unterlassung dieser Freiheitseinschränkung nicht geben. Ausnahmen von dieser den inneren Frieden und die Rechtsgleichheit aller Bürger sichernden Regel kommen nur in begrenztem Umfang in Betracht und sind rechtfertigungsbedürftig. Das Recht, andere zu beeinträchtigen, ist zwar formell ein Freiheitsrecht, da diese Freiheit insoweit besteht, als sie nicht gesetzlich beschränkt ist; materiell betrachtet jedoch ist die Einräumung des Beeinträchtigungsrechts eine Befreiung vom allgemeinen Nichtstörungsverbot, eine Ausnahme, die dem Begünstigten eine Rechtsstellung verschafft, die ihm aufgrund der generellen Abgrenzung der individuellen Freiheitssphären nicht zustünde und die ihn als Störer gegenüber dem von der Störung Betroffenen privilegiert. Die Freiheit zur Beeinträchtigung anderer ist verfassungsrechtlich nur insoweit verbürgt als der Gesetzgeber sie nicht einschränken darf. Da er wegen der allgemeinen Nichtstörungsschranke diese Freiheit grundsätzlich total einschränken darf und aufgrund seiner Schutzpflicht auch muß, läßt sich die ausnahmsweise begrenzte Verbürgung einer Beeinträchtigungsfreiheit materiell betrachtet nicht als Konsequenz des Freiheitsprinzips (prinzipiell unbegrenzte Freiheitssphäre des einzelnen - prinzipiell begrenzte Eingriffsbefugnisse des Staates, vgl. Carl Schmitt, Verfassungslehre. Berlin 1928, S. 126), sondern nur als begrenzte Ausnahme von der grundsätzlich dem betroffenen Dritten gegenüber bestehenden Schutzpflicht begründen. 45 s.o. § 15 Fn. 10. 46 Vgl. z.B. Marburger, in: Bitburger Gespräche, Jahrbuch 1981, S. 45f.; ders., WiVerw. 1981, 244.
17 Grundrechte des Risikoverursachers und Verhältnismäßigkeit
Umfang als durch die übrigen Freiheitsrechte: Ein Anspruch auf die Erlaubnis zur Beeinträchtigung anderer läßt sich nicht aus der Wirtschaftsfreiheit als solcher begründen, sondern nur aus den existentiellen Grundbedürfnissen desjenigen, der den Anspruch geltend macht, bezogen auf die unausweichlichen Erfordernisse sozialen Zusammenlebens auf begrenztem Raum unter den konkreten Bedingungen der örtlichen und historischen Lage. Ein Anspruch auf Verursachung industrieller Großimmissionen läßt sich hierauf niemals stützen. Die grundrechtliche Gewährleistung der unternehmerischen Freiheit gegenüber dem Gesetzgeber umf aßt somit prinzipiell nicht die Immissionsfreiheit, sondern ein Recht zur Verursachung von Immissionen (und anderen Ingerenzen) besteht nur, soweit die Ingerenz-, insbesondere die Immissionsverursachung nicht gesetzlich verboten ist. Die Erlaubnis industrieller Immissionen ist daher der Sache nach nicht Gewährleistung grundrechtlich geschützter Freiheit, sondern Gewährung von Ingerenzbefugnissen, von Umweltnutzungsrechten und damit von Privilegien. 47 Daß der Verfassunggeber mit der Gewährleistung der Wirtschaftsfreiheit vorausgesetzt habe, daß auch die Schornsteine rauchen müssen, läßt sich hiergegen nicht einwenden. Zwar kann die wirtschaftliche Betätigungsfreiheit in der Industriegesellschaft, so wie sie ist, nicht ohne erhebliche Industrieimmissionen gedacht werden 48 , aber wenn die Verfassung auch von diesem Befund ausgeht, folgt daraus nicht mehr, als daß der Gesetzgeber allen Betroffenen ein gewisses Maß an Immissionsbelastung zumuten darf. Daraus folgt jedoch nicht, daß die Gemeinschaft eine Stufe der industriellen Entwicklung, in der diese Immissionen als akzeptable Nebenfolge wirtschaftlichen Wohlergehens hingenommen wurden, nicht überwinden dürfte. Es ist ein Unterschied, ob die - durch den demokratischen Gesetzgeber repräsentierte Gemeinschaft - sich für die Akzeptanz von Immissionen entscheidet, weil sie die Vorteile der immissionsverursachenden Industrie genießen will, oder ob sie verpflichtet ist, die Immissionslasten im Privatinteresse der Unternehmer auch dann zu dulden, wenn sie am „Nutzen" kein Interesse mehr hat. Zwar wurden Luft und Wasser früher als „freie Güter" angesehen, die jeder nach Belieben nutzen und verschmutzen durfte. Aber die Verfassimg garantiert nicht, daß die Umweltmedien unbeschränkt als freie Güter zur Verfügung stehen. Die verfassungsrechtliche Nutzungsgarantie reicht nicht weiter als die elementaren Lebensbedürfnisse des Menschen; eine Verschmutzungsgarantie umf aßt sie nicht. Dem-
47 Vgl. Sendler, UPR 1983, 33ff., insb. 41. - Dementsprechend w i r d sogar die bebauungsrechtliche Qualifikation von Grundstücken als Bauland, die planerische Entscheidung über Art und Umfang der rechtlich zulässigen Bebauung, als Zuteilung von Nutzungsbefügnissen verstanden, z.B. von Böckenförde, in: ders., Staat, Gesellschaft, Freiheit, S? 323ff. m.w.N.; Wahl, DVB1. 1972, 56f. m.w.N. 48 So für Risiken im allgemeinen Marburger, Die Regeln der Technik im Recht, S. 124.
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nach steht es im politischen Ermessen des Gesetzgebers, die industrielle Nutzung der Umweltmedien zu regeln und zu beschränken. 49 Unterhalb der Schwelle der staatlichen Schutzpflicht ist es also prinzipiell Sache des Gesetzgebers zu entscheiden, welche Ingerenzen erlaubt sind und welche nicht. Nur solche Ingerenzen dürfen nicht verboten werden, die vom Grundgesetz als notwendig vorausgesetzt werden, oder die nicht als Störung angesehen werden können, weil ihre Unschädlichkeit erwiesen ist und weil sie auch keine Belästigimg darstellen. Die Voraussetzungen für ein Verbot von Ingerenzen sind insbesondere dort nicht gegeben, wo die Ingerenzen herkömmliche und notwendige Ingerenzen substituieren und nicht schädlicher sind als diese. 50 - Auf die Verursachung von Ingerenzfolgerisiken kann natürlich kein weitergehender grundrechtlicher Anspruch bestehen als auf die Verursachung von Ingerenzen selbst. II. Risikoabwehr und Verhältnismäßigkeit Hat das Ingerenzverursachungsverbot einseitige Beeinträchtigungen rechtlich geschützter Güter seitens des Verursachers zum Gegenstand, geht es bei der Risikoabwehr darum, einen möglichst schonenden Ausgleich zwischen Freiheit und Sicherheit herzustellen. 51 Dieser Ausgleich w i r d im geltenden Recht allgemein durch den Begriff der Gefahr und die allgemeine Pflicht, die Gefährdung anderer zu unterlassen, vermittelt. Gegen eine generelle Verschärfung dieses allgemeinen Sicherheitsstandards bestünden unter dem Aspekt der Zumutbarkeit dieser Freiheitseinschränkung große Bedenken: Zwar bleiben die allermeisten Handlungen, die man im Rahmen der allgemeinen Handlungsfreiheit oder der Berufsfreiheit vornimmt, ohnehin weit unter der Gefahrenschwelle; und dort, wo man sich gelegentlich der Grenze des allgemein erlaubten Risikos annähert, handelt es sich oft um gefahrgeneigte Tätigkeiten mit technischen Hilfsmitteln, in bezug auf welche ein besonderes Maß an Sorgfalt nicht unzumutbar wäre. Jedoch kann man mit großer Wahrscheinlichkeit annehmen, daß es beispielsweise einige Berufe geben wird, die bei genereller Verschärfung der Sicherheitspflicht nicht mehr ausübbar wären. Eine allgemeine Verschärfung der Sicherheitspflicht wäre jedenfalls dann verfassungswidrig, wenn sie keine Ausnahmeregelung für diejenigen Fälle enthielte, in denen eine zum Kernbereich eines Freiheitsrechts gehörende Tätigkeit nicht mehr ausgeübt werden könnte. Praktisch ist eine Verschärfung der allgemeinen Sicherheits49
Vgl. Sendler, UPR 1983, 40f. Inwieweit Immissionsverursachungsverbote den Bestandsschutz bestehender Betriebe und damit die Eigentumsgarantie verletzen, ist eine noch gesondert zu behandelnde Frage, s.u. D. si s.o. § 8 A. 50
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pflicht schon deshalb nicht diskutabel, weil es insoweit gegenüber dem bestehenden Rechtszustand kein gesteigertes Schutzbedürfnis gibt. Im Zusammenhang mit technischen Risiken geht es allein um die Frage, inwieweit die Sicherheitspflichten in bezug auf bestimmte Risikoarten verschärft werden dürfen, ohne die Freiheit des Risikoverursachers unverhältnismäßig einzuschränken. Daß nicht schon jede Steigerung spezieller Sicherheitspflichten über die Gefahrenabwehr hinaus zu einer unzumutbaren Freiheitseinschränkung führt, läßt sich der Praxis des geltenden Sicherheitsrechts entnehmen: Der Standard der allgemeinen Polizeipflichtigkeit wird in etlichen Spezialgesetzen im Hinblick auf spezielle Risiken verschärft, zum Teil durch schärfere Sicherheitsstandards 52 , meist durch Normierimg bestimmter Sicherheitsvorkehrungen, insbesondere Beschaffenheitsanforderungen oder Schadstoffgrenzwerte, die auch dann zu beachten sind, wenn sie Risiken unterhalb der Gefahrenschwelle abwehren, also zur bloßen Gefahrenabwehr nicht erforderlich wären. 53 Soweit ersichtlich, hat in den allermeisten Fällen die Ausübung der Berufsfreiheit nicht mehr als nur marginal darunter gelitten. Ob die Steigerung von Sicherheitspflichten über die allgemeine Polizeipflichtigkeit hinaus die Freiheit, insbesondere die Berufsfreiheit des Verpflichteten unzumutbar beschränkt, läßt sich daher nicht generell beantworten, sondern nur im Hinblick auf bestimmte Sicherheitsvorschriften. Die eingriffsbegrenzende Funktion des Verhältnismäßigkeitsprinzips kommt in unterschiedlicher Weise zur Geltung, je nachdem, welchen Regelungstypus der Gesetzgeber wählt: Normierung starrer oder dynamischer Sicherheitsstandards oder bestimmter Sicherheitsvorkehrungen. 1. Starre Sicherheitsstandards Legt das Gesetz die Sicherheitspflichten durch Normierung eines materiell starren Sicherheitsstandards 54 fest, so kommt es darauf an, ob die sich aus diesen Pflichten ergebende Freiheitseinschränkung die Zumutbarkeitsgrenze überschreitet, ob also die Ausübung des Berufs in unzumutbarer Weise behindert wird. Dies kann nicht ohne Rücksicht auf den Zweck der Freiheitseinschränkung beurteilt werden: Je stärker die Interessen des Gemeinwohls, denen die Regelung dient, desto mehr an Freiheitseinbuße muß der Betroffene sich gefallen lassen - und umgekehrt: je intensiver die Freiheitseinbuße, desto größer die Anforderungen an die Rechtfertigung des Eingriffs. 55 Auf Seiten des Gemeinwohls ist zu bedenken, daß Risikovorsorge 52
Vgl. z.B. AMG § 5; LMBG §§ 8, 30; BImSchG § 5 Nr. 1; StörfallV § 3. Vgl. z.B. LMBG § 11; AMG § 311 Nr. 3; TrinkwasserV §§ 1 - 3; StrlSchV § 45; StörfallV § 7. 54 Dies kann auch ein unbestimmter Rechtsbegriff sein, der - wie der Gefahrenbegriff - erst durch Zuordnung von Variablen konkretisiert werden muß. 53
Β. Risikoabwehr und Verhältnismäßigkeit
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unterhalb der Gefahrenschwelle in der Praxis nur dort betrieben wird, wo es um den Schutz von Leben und Gesundheit oder von Gemeinschaftsgütern geht, die mindestens ebenso fundamental sind, also um den Schutz von Gütern, die das Bundesverfassungsgericht als „überragend wichtige Gemeinschaftsgüter" bezeichnet. 56 Auf Seiten des Risikoverursachers kommt es darauf an, ob die Risikovermeidungspflicht seine Berufsausübung nur unwesentlich behindert, oder ob sie sich auf den personalen Kernbereich der Berufsfreiheit auswirkt. 5 7 Abstrakt läßt sich dies nicht entscheiden. Allgemein kann man aber sagen, daß die zur Erfüllung von Sicherheitspflichten unterhalb der Gefahrenschwelle notwendigen finanziellen Aufwendungen jedenfalls insoweit die Berufsausübung nicht erheblich beeinträchtigen, als sie auf den Verbraucher abgewälzt werden können. 58 Da die Sicherheitsvorschriften für alle inländischen Wettbewerber gelten, w i r d dies meist im wesentlichen möglich sein. Probleme können sich aber unter Umständen daraus ergeben, daß ausländische Wettbewerber durch weniger strenge Sicherheitsvorschriften billiger produzieren können und so einen Marktvorteil erringen. Nicht jede erhöhte Sicherheitspflicht muß solche Konsequenzen haben. Hohe gesetzliche Sicherheitsstandards können jedenfalls, was die Produktsicherheit angeht - für den Verpflichteten sogar günstig sein: Die gesetzlich garantierte Sicherheit der Produkte erhöht das Vertrauen, das die Verbraucher diesen Produkten entgegenbringen, und dies kann im internationalen Wettbewerb durchaus von Vorteil sein. - Unzumutbar ist eine Beeinträchtigung noch nicht immer dann, wenn sich aufgrund der Sicherheitsvorschriften die Durchführung eines bestimmten Projekts wirtschaftlich nicht mehr realisieren läßt. Es kommt darauf an, ob die Freiheit der wirtschaftlichen Betätigung in einem bestimmten Sektor als solche unmöglich gemacht oder unzumutbar behindert würde. Dann nämlich ließe sich sagen, daß der „personale Kernbereich" 59 der Berufsfreiheit so stark tangiert wäre, daß dies selbst im Hinblick auf den Schutz von Leben und Gesundheit nicht mehr hingenommen werden muß. Auch der Schutz „besonders wichtiger Gemeinschaftsgüter" rechtfertigt nämlich nicht jede Freiheitseinschränkung. Berufsausübungsregelungen, die in ihrer Wirkimg in die Freiheit der Berufswahl eingreifen, können unter dem Aspekt der Gefahrenabwehr gerechtfertigt sein; soweit sie aber nur den Zweck verfolgen, auch Risiken unterhalb der Gefahrenschwelle auszuschließen, kann auch der Schutz von Leben und Gesundheit sie nicht rechtfertigen. 60
55 Vgl. BVerfGE 11, 30 (42f.); 13, 97 (104f.); 23, 50 (56); 25,1 (22); 30, 292 (316f.). se Vgl. BVerfGE 7, 377 (406, 408, 414); 11, 168 (183); 25, 1 (11). 57 Vgl. BVerfGE 50, 290 (362ff.). 58 A.A. v. Mutius, in: Umwelt, Verfassung, Verwaltung, S. 217 (zu Art. 14 GG). 59 BVerfGE 50, 290 (364f.). 60 Vgl. BVerfGE 7, 377 (406, 408); 9, 338 (344ff.); 11, 30 (45); 12, 144 (148); 13, 97 (107); 25, 236 (247).
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§ 17 Grundrechte des Risikoverursachers und Verhältnismäßigkeit
2. Bestimmte Sicherheitsvorkehrungen Fordert das Gesetz zur Verminderung bestimmter Risiken die Anwendimg bestimmter Sicherheitsvorkehrungen, so sind diese i n gleicher Weise auf ihre Verhältnismäßigkeit zu überprüfen. Hierbei kann es aber nur auf die Verhältnismäßigkeit der jeweils vorgeschriebenen Sicherheitsvorkehrung, nicht der Sicherheitspflichten im ganzen, ankommen, denn in diesem Fall begründet jede vorgeschriebene Sicherheitsvorkehrung eine eigenständige Sicherheitspflicht. Der Gesetzgeber überläßt es dem Verpflichteten ja nicht, selbst zu entscheiden, wie er ein abstrakt festgelegtes Sicherheitsniveau erreicht, sondern schreibt bestimmte Maßnahmen der Risikominderung vor. Deshalb kann bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung auf Seiten des Gemeinwohls als Zweck der Regelung nur der Beitrag der vorgeschriebenen Sicherheitsvorkehrungen zur Erhöhung der Sicherheit veranschlagt werden, nicht etwa die Verhütung des Schadens im ganzen. Auf Seiten der Freiheitseinschränkung ist der wirtschaftliche Aufwand für die vorgeschriebene Sicherheitsvorkehrung zwar mit der Intensität der Freiheitseinschränkung nicht identisch, aber ein wichtiger Indikator. Deshalb kann man regelmäßig davon ausgehen, daß es gegen das Verhältnismäßigkeitsprinzip (i.e.S.) verstößt, wenn die Kosten einer vorgeschriebenen Sicherheitsvorkehrung im Verhältnis zu dem damit erzielten Sicherheitsgewinn unvernünftig hoch sind. 3. Risikominimierung Wenn das Gesetz keinen festen Sicherheitsstandard unterhalb der Gefahrenschwelle oder keine bestimmten Sicherheitsvorkehrungen vorschreibt, sondern den Risikoverursacher zur Risikominimierung, also zur Vermeidung jedes tatsächlich vermeidbaren Risikos verpflichtet, so muß diese Pflicht unter Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsprinzips ausgelegt werden. Dies heißt zunächst, daß der abstrakt postulierte Sicherheitsstandard, der Standard des geringstmöglichen Risikos, i m konkreten Fall die Freiheit nicht unzumutbar einschränken darf. Es ist also zu ermitteln, wie weit das Risiko i m konkreten Fall ohne Verzicht auf die Durchführung des Projekts vermindert werden kann. Aus dem Inbegriff der hierfür erforderlichen Sicherheitsvorkehrungen und -maßnahmen ergibt sich der Umfang der konkreten Sicherheitspflicht. Diese darf im ganzen gesehen die Freiheit nicht unzumutbar einschränken. Deshalb ist bei verfassungskonformer Auslegung der Risikominimierungspflicht die Risikominimierung nicht weiter als bis zu dem Punkt hin geboten, an dem die insgesamt notwendigen Aufwendungen für die Risikoverminderung die Grenze erreichen, an der die Freiheitseinschränkung im Verhältnis zum Schutzzweck der Sicherheitsvorschrift unzumutbar wird. Auf diese Weise begrenzt das Verhältnismäßigkeitsprinzip den Umfang der Risikominimierungspflicht.
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Darüber hinaus fragt sich, ob nicht auch jede einzelne Sicherheitsvorkehrung oder -maßnahme, durch die sich das Risiko faktisch reduzieren läßt, in dem Sinne „verhältnismäßig" sein muß, daß die Kosten für ihre Realisierung in einem vernünftigen Verhältnis zu dem mit ihr erzielten Sicherheitsgewinn stehen. In Rechtsprechung und Literatur w i r d für die Pflicht zur Risikominimierung unterhalb der den Mindestsicherheitsstandard angebenden Gefahrenschwelle allgemein angenommen, daß der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz die Verpflichtung zu Sicherheitsvorkehrungen, deren Sicherheitsbeitrag in keinem vernünftigen Verhältnis zum Aufwand steht, nicht zulasse.61 Warum aber soll es bei der Risikominimierung unterhalb der Gefahrenschwelle auf das Verhältnis von Aufwand und Nutzen einzelner zur Erfüllung der gesetzlichen Sicherheitspflicht notwendiger Sicherheitsvorkehrungen ankommen, während nach ganz überwiegender und zutreffender Ansicht dieses Verhältnis im Rahmen der Gefahrenabwehr rechtlich irrelevant ist? 62 Der Grund für die Unterscheidung zwischen Sicherheitsvorkehrungen, die zur Erfüllung des gesetzlich gebotenen oder sich aus verfassungskonformer Gesetzesauslegung ergebenden Mindestsicherheitsstandards notwendig sind, und solchen, die lediglich der weiteren Erhöhung der Sicherheit dienen, liegt darin, daß der Mindestsicherheitsstandard im Unterschied zum Minimierungsgebot ein materiell bestimmtes Sicherheitsniveau darstellt, das zu erreichen kategorisch geboten ist. Macht dagegen das Gesetz mit dem Gebot des geringstmöglichen Risikos den Umfang der Sicherheitspflicht von einer außerrechtlichen Variablen abhängig, dann ist damit kein auf jeden Fall zu erfüllendes, durch den Gemeinwohlzweck kategorisch gebotenes, sondern nur ein relatives Sicherheitsniveau festgelegt: So viel Sicherheit ist geboten, wie aufgrund der technischen Möglichkeiten verwirklicht werden kann. Zweck des Gesetzes ist nicht die Erreichung eines bestimmten Sicherheitsniveaus, sondern die Steigerung der Sicherheit über das kategorisch gebotene Mindestmaß hinaus, die Optimierung des Schutzes. Diese Optimierung ist nur durch konkrete Sicherheitsmaßnahmen und -Vorkehrungen möglich, deren Anwendung geboten ist, wenn sie zur Verminderung des Risikos beitragen und nicht durch weniger aufwendige, aber gleich wirksame Mittel ersetzt werden können. Da das Gesetz die jeweils mögliche Risikominderung durch die jeweils möglichen Vorkehrungen bezweckt, ist es zweckgerecht, auch jedes konkrete Mittel der Risikominderung auf seine Verhältnismäßigkeit i.e.S. zu prüfen. Bei dieser Abwägung zwischen öffentlichem Zweck und Freiheitseinbuße kann auf Seiten des öffentlichen Zwecks nur der durch die in Frage stehende Sicherheitsvorkehrung erzielte Sicherheitsgewinn veranschlagt werden, denn das öffentliche Interesse an einer bestimmten Sicherheitsvorkehrung liegt ausschließlich in 61 Vgl. OVG Lüneburg, DVB1. 1977, 340 (341); Breuer, DVB1, 1978, 835, 837; Bender, DOV 1980, 636. 62 s.o. A.
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dem konkreten Sicherheitsbeitrag, den diese Vorkehrung leistet. Ist dieser Beitrag gering, der Aufwand dagegen so groß, daß Aufwand und Nutzen in keinem vernünftigen Verhältnis mehr stehen, so ist die Verpflichtung zur Durchführung der fraglichen Maßnahme nicht zumutbar. III. Der „Grundsatz der Ausgewogenheit" Die gebotene Sicherheit technischer Anlagen kann nur durch eine Vielzahl von Sicherheitsvorkehrungen erreicht werden. Für das Sicherheitskonzept einer solchen Anlage postuliert Smidt die Beachtung des „Grundsatzes der Ausgewogenheit". Hiernach bedarf ein Risikobeitrag dann keiner weiteren Vorsorge mehr, wenn er isoliert vorkommt, sich nicht mit vielen gleichartigen zu einem nennenswerten Risikobetrag aufaddiert und kleiner ist als die unvermeidbare Bandbreite eines größeren Risikobeitrages. Mit einer in dieser Weise ausgewogenen Sicherheitskonzeption sollen sicherheitstechnische Schwachstellen ausgemerzt, aber unnötige Sicherheitsanforderungen vermieden werden. 63 Das „Prinzip der sicherheitstechnischen Ausgewogenheit" zu beachten, ist fraglos ein Gebot technisch-ökonomischer Rationalität. Ist es aber ein Gebot der Verfassung? In Rechtsprechung und juristischer Literatur wird die Ansicht vertreten, daß der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz die Beachtimg des „Grundsatzes der Ausgewogenheit" gebiete. 64 Soweit das Postulat der „Ausgewogenheit" durch die rechtlichen Gebote der Geeignetheit und Erforderlichkeit des Mittels gedeckt ist, verdient diese Auffassung Zustimmung. Das Postulat der „Ausgewogenheit" w i l l aber nicht nur solche Sicherheitsvorkehrungen vermeiden, die die Gesamtsicherheit nicht erhöhen oder gar verschlechtern (Geeignetheit) oder die durch weniger aufwendige substituierbar sind (Erforderlichkeit), sondern auch solche Sicherheitsvorkehrungen, die zur Erhöhung der Sicherheit beitragen, sollen unterbleiben, wenn sie die Sicherheit nicht wesentlich erhöhen, nämlich nur einen geringen Beitrag zur Risikominderung leisten, der gegenüber einem anderen zulässigerweise bestehenbleibenden Risiko nicht ins Gewicht fällt. Auch hier geht es also - wie beim Verhältnismäßigkeitsprinzip i.e.S. - um das „Maßvolle", „Maßstabgerechte". 65 Aber die „Ausgewogenheit" bezieht sich hier nicht auf das Verhältnis von Freiheitseinbuße einerseits und Gemeinwohlzweck andererseits, sondern auf die innere Ausgewogenheit des Sicherheitskonzepts, also des Mittels, das zur Erreichung 63 Smidt, in: 6. Deutsches Atomrechts-Symposium, S. 44ff.; ders., in: Technische Risiken und Recht, S. 42; ders., atw 1980, 72f. 64 Vgl. Wagner, NJW 1980, 671; ders., DÖV 1980, 277; Bender, DÖV 1980, 635; VGH Mannheim, ESVGH 32, 161 (191) mit ausdrücklicher Beschränkung auf Risiken unterhalb der Gefahrenschwelle. 65 Vgl. Karl Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft. 2. Aufl., Berlin u.a. 1969, S. 468; Grabitz, AöR 98 (1973), 584.
C. Risikovorsorge und Gleichheitssatz
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des Gemeinwohlzwecks - der Sicherheit für Leben und Gesundheit - eingesetzt wird. Deshalb führt ein Verstoß gegen den „Grundsatz der Ausgewogenheit" nur dann zu einem Verstoß gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit i.e.S., wenn überzogene Sicherheitsanforderungen aufgrund des dafür erforderlichen wirtschaftlichen Aufwandes im Verhältnis zu dem mit ihnen erzielten Sicherheitsgewinn die Freiheit des Anlagenbetreibers unzumutbar einschränken. Dies dürfte praktisch häufig der Fall sein, doch führt technische Unausgewogenheit nicht notwendig zur rechtlichen Unverhältnismäßigkeit. C. Risikovorsorge unterhalb der Gefahrenschwelle und Gleichheitssatz
Die Pflicht zur Risikovorsorge unterhalb der Gefahrenschwelle ist eine Verschärfung der allgemeinen Nichtstörungspflicht, die lediglich die Vermeidung von Gefahren verlangt. Wenn das Gesetz hinsichtlich bestimmter Risikoarten zur Risikovorsorge unterhalb der Gefahrenschwelle verpflichtet, liegt darin eine Ungleichbehandlung der betroffenen Risikoverursacher. Diese Ungleichheit verstößt gegen Art. 3 I GG, wenn sie sich nicht durch sachliche Gründe rechtfertigen läßt. Welche Gründe können eine Verschärfimg der Sicherheitspflichten rechtfertigen? Es liegt nahe, zunächst daran zu denken, daß von einer Risikoquelle Risiken für besonders hochwertige Güter ausgehen oder daß das Gefährdungsund das Schadenspotential einer Risikoquelle besonders groß sind. Diese Gesichtspunkte eignen sich aber nicht dazu, eine Verschärfung des Sicherheitsstandards über die Gefahrenabwehr hinaus zu rechtfertigen, denn der Standard der Gefahrenabwehr w i r d bereits unter Berücksichtigung der Größe des potentiellen Schadens konkretisiert. Der Begriff der Gefahr trägt dem Wert und der Bedeutung des gefährdeten Gutes schon dadurch Rechnung, daß die gebotene Sicherheit (der „hinreichende" Wahrscheinlichkeitsgrad) ihr entsprechen muß. I n Betracht kommen aber folgende Gründe: 1. Das fragliche Risiko ist ein Beitrag zu einer umfassenderen Gesamtgefahr, wie etwa das einzelne Auto mit seinen Risiken einen Beitrag zu den Gefahren des Straßenverkehrs im ganzen oder die einzelne Emissionsquelle einen Beitrag zur gesamten Immissionsbelastung bildet. Immer dann, wenn sich einzelne Risiken zu einer Gesamtgefahr summieren, kann die Abwehr der Gesamtgefahr die Pflicht zur Reduzierung der einzelnen Risiken, aus denen sie sich zusammensetzt, auch dann rechtfertigen, wenn die einzelnen Risikobeiträge isoliert betrachtet keine Gefahr darstellen. 2. Bei neuartigen technischen Risiken, etwa bei der Einführung neuer chemischer Stoffe, deren möglicherweise schädliche Nebenwirkungen man
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noch nicht kennt, kann die Unsicherheit über die Einschätzung des Risikos besonders hoch sein. Aus einer solchen kognitiven Unsicherheit rechtfertigt sich das „Prinzip der Vorsicht" und damit das Gebot einer über die Gefahrenabwehr hinausgehende Risikovorsorge. 3. Die Risiken neuer Technologien werden von ihren potentiellen Opfern oft nicht in gleicher Weise akzeptiert wie gleich große Risiken herkömmlicher Technologien. Dieser Akzeptanzunterschied mag oft ganz irrationale Ursachen haben. Dennoch ist es dem Gesetzgeber nicht verwehrt, die geringere Bereitschaft der Bevölkerung oder wesentlicher Bevölkerungsteile, die Risiken einer neuartigen Technologie zu akzeptieren, zum Grund für eine verschärfte Vorsorge gegen diese Risiken zu machen. 66 In einem freiheitlich verfaßten Gemeinwesen ist die vorhandene oder fehlende Bereitschaft der Betroffenen, ein Risiko um der damit verbundenen Vorteile willen zu akzeptieren, ein Gesichtspunkt des Gemeinwohls, den der Gesetzgeber bei der Abwägung berücksichtigen kann. 6 7 Diese Aufzählung möglicher Gründe für die Verschärfung der Sicherheitspflicht über die Gefahrenabwehr hinaus erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Jedoch dürften fast alle Fälle, i n denen ein praktisches Bedürfnis für gesteigerte Sicherheit besteht, bereits durch Punkt 1. abgedeckt sein. D. Besitzstandsschutz als Vertrauensschutz
I. Eigentumsgarantie
als Besitzstandsschutz
1. Die zwei Dimensionen der Eigentumsgarantie Art. 14 GG w i r d oft als die stärkste Bastion des Unternehmers gegen Sicherheits- und Umweltpflichten angesehen.68 Vorschriften des technischen Sicherheitsrechts, die den „Gebrauch" des Eigentums einschränken, regeln „Inhalt und Schranken" des Eigentums. 69 Zugleich greifen sie in aller 66
Vgl. Sendler, UPR 1981, 8. Selbstverständlich darf die Zustimmung des Kollektivs nicht dazu führen, daß der grundrechtliche Schutz des einzelnen nicht mehr gewährleistet ist; die Mindestposition darf auf keinen Fall berührt werden, und zwar weder auf Seiten des einzelnen vom Risiko betroffenen, noch umgekehrt auf Seiten des Risikoverursachers. 68 Vgl. z.B. v. Mutius, in: Umwelt, Verfassung, Verwaltung, S. 215ff.; Hoppe, Wirtschaftliche Vertretbarkeit im Rahmen des Bundes-Immissionsschutzgesetzes, S. 120ff.; Rademacher, Diss., S. 151 ff.; zurückhaltender Sendler, UPR 1983, 33ff., 73 ff. 69 Zwischen „Inhalt" und „Schranken" w i r d in Lit. und Rspr. meist nicht differenziert, vgl. z.B. BVerfGE 58, 300 (330, 336f.); Maunz, in: Maunz / Dürig, Art. 14 Rdnr. 37. Praktisch ist dies insofern nicht nötig, als sich der „Inhalt" eines Grundrechts immer aus Tatbestand und Schranken zusammengenommen ergibt. Ob eine Differenzierung dogmatisch geboten ist, soll hier nicht erörtert werden. 67
D. Besitzstandsschutz als Vertrauensschutz
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Regel i n bestehendes Eigentum ein, indem sie bisher erlaubte Eigentumsnutzungen beschränken oder jedenfalls bisher innegehabte eigentumsrechtliche Positionen entwerten. Soweit eine Inhalts- und Schrankenbestimmung ausschließlich i n die Zukunft wirkt, also nicht zugleich bestehende eigentumsrechtliche Positionen belastet, ist sie kein Eingriff in das Eigentum. Was „Eigentum" im Sinne des Grundgesetzes ist, ergibt sich ja erst aus dem Inbegriff der gesetzlichen Bestimmungen, die „Inhalt und Schranken" in verfassungsmäßiger Weise bestimmen. 70 Ob die Inhalts- oder Schrankenbestimmung mit Art. 14 GG vereinbar ist, hängt zunächst davon ab, ob sie das Institut Privateigentum als solches, also vor allem die Privatnützigkeit und die grundsätzliche private Verfügungsbefugnis des Eigentümers über den Eigentumsgegenstand 71 , unberührt läßt. Außerdem muß sie - wenn sie die Freiheit i m Vergleich zum bisher geltenden Recht einschränkt - zur Erfüllung eines mit dem Grundgesetz nicht in Widerspruch stehenden öffentlichen Zwecks geeignet und erforderlich sein. 72 Beide Voraussetzungen dürften durch Vorschriften des technischen Sicherheitsrechts i n der Regel unproblematisch erfüllt werden, abgesehen vom Kriterium der Erforderlichkeit. Jedenfalls ergeben sich insoweit gegenüber den bereits im Hinblick auf Art. 12 GG diskutierten keine zusätzlichen Probleme. Wird durch eine Inhalts- oder Schrankenbestimmung aber ein bisher erlaubter Eigentumsgebrauch verboten oder eingeschränkt, so greift diese Bestimmimg auch in vorhandene Besitzstände ein, also in Befugnisse, die nach dem bislang geltenden Recht zum Eigentum gehörten. Die Entziehung dieser Befugnisse ist ein Eingriff in das Eigentum. Eine Regelung des technischen Sicherheitsrechts kann also zugleich Inhalts- und Schrankenbestimmung sowie auch Eingriff i n bestehendes Eigentum sein. Unter diesem Aspekt des Besitzstandsschutzes soll im folgenden geprüft werden, ob die Verfassung die Befugnis des Gesetzgebers zum Schutz vor technischen Risiken noch weitergehend einschränkt, als unter dem Aspekt der Unternehmerfreiheit bisher dargestellt. 2. Besitzstandsschutz durch andere Freiheitsrechte Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts genießen Besitzstände, also nach bislang geltendem Recht innegehabte Rechtspositionen, nicht nur im Rahmen von Art. 14 GG, sondern auch im Rahmen anderer Freiheitsrechte besonderen Schutz gegenüber freiheitseinschränkenden 70 Vgl. BVerfGE 52, 1 (27, 29) - Kleingarten; 58, 300 (336) - Naßauskiesung; Rittstieg, NJW 1982, 722. 71 BVerfGE 52, 1 (30f.) m.w.N. 72 Vgl. BVerfGE 52, 1 (29ff.).
17 Murswiek
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§ 17 Grundrechte des Risikoverursachers und Verhältnismäßigkeit
Rechtsänderungen. 73 In Betracht kommt vor allem die Berufsfreiheit des Art. 12 GG, aber auch die allgemeine Handlungsfreiheit gemäß Art. 2 I GG. Auf den Grund für die grundrechtliche Bevorzugung der beati possidentes gegenüber denen, die sich einen Besitzstand erst schaffen wollen, w i r d noch einzugehen sein. Die normative Basis für den Besitzstandsschutz außerhalb von Art. 14 GG ist das jeweilige Freiheitsrecht, bei dessen Einschränkung der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz i.e.S. zu beachten ist. Der Zumutbarkeitsgesichtspunkt, verbunden mit dem Vertrauensschutz begründen hier den Besitzstandsschutz. 74 Inwieweit bestehende Besitzstände durch Art. 14 GG, inwieweit durch andere Freiheitsrechte, insbesondere durch Art. 12 GG, geschützt werden, ist weitgehend ungeklärt. Insbesondere im Verhältnis Art. 12/Art. 14 ist die Abgrenzung umstritten. Dies gilt freilich nur für solche Besitzstände, die überhaupt in den Schutzbereich des Art. 14 GG fallen können, nämlich für vermögensrechtliche Besitzstände. Wenn eine Sicherheitsvorschrift eine bislang zulässige Nutzung einer Sache, sagen wir: einer Industrieanlage, verbietet oder einschränkt, so greift sie in das Eigentum an dieser Sache ein. Die Nutzungsbefugnis gehört zum Sacheigentum. Außerdem wird der materielle Wert der Sache durch die Nutzungseinschränkung gemindert, im Extremfall sogar vernichtet: Die Sache w i r d unbrauchbar, die Anlage muß, unter Umständen sogar mit großen Kosten, verschrottet werden. Daß in das Eigentum durch eine solche Vorschrift eingegriffen wird, steht außer Zweifel. Fraglich ist nur, ob Art. 12 als lex specialis zu Art. 14 angesehen werden kann oder umgekehrt, oder ob beide Vorschriften nebeneinander zur Anwendung kommen. Überwiegend w i r d angenommen, daß eine Berufsausübungsregelung zugleich in das Eigentum eingreifen könne und umgekehrt. Sofern der Vorbehalt der Sozialbindung im Sinne von Art. 14 I I GG und der Regelungsvorbehalt im Sinne von Art. 12 1 GG das Eigentum beziehungsweise die Berufsfreiheit in gleichem Maße einzuschränken gestattet, ist die Abgrenzung der Tatbestände jedenfalls praktisch unbedeutend. 75 Von einer „Schrankenidentität" kann man jedoch nur dort ausgehen, wo auch die Gegenstände einer Regelung unter dem Aspekt des Art. 12 und des Art. 14 identisch sind. Da dies nicht notwendig zutrifft 7 6 , kann im Einzelfall der Schutz des Art. 14 weiter reichen als der des Art. 12 GG, weil das Verbot, eine bestimmte Sache 73 Vgl. z.B. BVerfGE 13, 97 (106, 120f.) - Handwerksordnung; 21, 173 (183) Steuerbevollmächtigte; 22, 275 (276) - Steuerberater; 25, 236 (248) - Dentisten; 32, 1 (22 f.) - pharmazeutisch-technische Assistenten. 74 Dazu vgl. Salzwedel, Die Verwaltung 5 (1972), 11 ff., sowie unten III. 7 5 Vgl. BVerfGE 17, 232 (248); 21, 150 (152f.); 50, 290 (336, 361 f.); Scholz, in: Maunz / Dürig, Art. 12 Rdnr. 142; Dicke, in: v. Münch, GG, Art. 14 Rdnr. 93; Gubelt, ebd., Art. 12 Rdnr. 93. 76 Vgl. Scholz, in: Maunz / Dürig, Art. 12 Rdnr. 142; Hoppe, Wirtschaftliche Vertretbarkeit, S. 120.
D. Besitzstandsschutz als Vertrauensschutz
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in bestimmter Weise zu nutzen, eine unzumutbare Eigentumsbeschränkung sein könnte, ohne zugleich die Berufsfreiheit unzumutbar einzuschränken. 77 Beispiel: Betreibt ein Gastwirt eine Gaststätte, so läßt sich die Auffassung vertreten, daß eine Vorverlegung der Sperrstunde seinen beruflichen Besitzstand i n derselben Weise einschränkt wie seinen eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb „Gaststätte": Beides ist dasselbe und kann nur denselben Schranken unterliegen. Die Identität der Gegenstände des Art. 12 und des Art. 14 ist aber schon dann nicht mehr gegeben, wenn derselbe Gastwirt mehrere Gaststätten betreibt, von denen nur eine durch die Sperrstundenregelung betroffen ist, denn Gegenstand des Art. 14 ist jeder eingerichtete und ausgeübte Gewerbebetrieb, hier: jede Gaststätte, für sich genommen, während Besitzstand im Sinne des Art. 12 der Betrieb der Gesamtheit der Gaststätten dieses Gastwirts wäre. Nehmen w i r an, der Gastwirt habe in seiner Gaststätte einen Geldspielautomaten aufgestellt, der ihm selbst gehört. Der Betrieb solcher Automaten in Gaststätten werde gesetzlich verboten. Dieses Verbot ist eine Berufsausübungsregelung. Als solche kann sie zumutbar sein, wenn etwa der Automat nur eine nicht ins Gewicht fallende Nebeneinnahmequelle ist. Dasselbe gilt für den in der Regelung zu erblickenden Eingriff i n den eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb. Zugleich aber beschränkt die Regelung die Nutzimgsbefugnis und damit das Eigentum an dem konkreten Automaten. Dieser Eigentumseingriff kann unzumutbar und entschädigungspflichtig sein, wenn etwa der Gastwirt den Automaten erst kürzlich neu erworben hatte und wenn er ihn jetzt - wegen des allgemeinen Verbots - nur mit großem Verlust wieder veräußern könnte.
Andererseits ist es denkbar, daß eine Nutzungsbeschränkung nur deshalb als unzumutbar erscheint, weil sie im konkreten Fall der Berufsausübung die materielle Basis entzieht. Dies spricht dafür, die Voraussetzungen der Art. 12 und 14 GG in Verbindung miteinander zu prüfen, soweit eine Regelung den Überschneidungsbereich beider Tatbestände betrifft. 7 8 Da unter dem Freiheitsaspekt der Schutz, den Art. 14 GG gegen technische Sicherheitsvorschriften zu bieten vermag, nicht stärker sein kann als der des Art. 12, wurde die Freiheitseinschränkung durch technische Sicherheitsvorschriften oben unter dem Gesichtspunkt der Berufsfreiheit erörtert. Was dagegen den Eingriff in Besitzstände durch Vorschriften des technischen Sicherheitsrechts betrifft, kann nur in Ausnahmefällen Art. 12 intensiveren Schutz bieten als Art. 14: Da nach allgemeiner Ansicht der eingerichtete und ausgeübte Gewerbebetrieb auch durch Art. 14 geschützt ist und dieser jedenfalls für die hier praktisch allein in Betracht kommenden Industriebetriebe die materielle Basis der Berufsausübung darstellt, kann der Besitzstandsschutz des Art. 12 GG allenfalls dort über den des Art. 14 GG hinausreichen, wo im Einzelfall die materielle Basis der Berufsausübung aus meh77
A.A. Salzwedel, Die Verwaltung 5 (1972), 31. So z.B. Schwabe, Grundrechtsdogmatik, S. 373ff.; Salzwedel, Die Verwaltung 5 (1972), 31, sowie die o. Fn. 11 nachgewiesene Lit. 78
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§ 17 Grundrechte des Risikoverursachers und Verhältnismäßigkeit
reren Gewerbebetrieben besteht. Deshalb mag es ausreichen, wenn der Besitzstandsschutz im folgenden unter dem Aspekt des Art. 14 GG erörtert wird. Die Reichweite des Besitzstandssclmtzes ist i n der Literatur sehr umstritten und in der Rechtsprechung keineswegs eindeutig geklärt. Eine umfassende Darstellung der vertretenen Ansichten 79 und eine gründliche Auseinandersetzung mit ihnen würde eine eigene Monographie erfordern. Für unsere Zwecke, nämlich zur Abgrenzung der staatlichen Schutzbefugnisse gegenüber technischen Risiken, muß es genügen, den grundrechtlichen Besitzstandsschutz grob zu skizzieren und seinen Umfang eher thesenhaft zu umreißen.
II. Eigentumsgarantie
als Eigentumswertgarantie
Sicherheitsvorschriften, die geeignet und erforderlich sind, die Sicherheit für verfassungsrechtliche Schutzgüter zu erhöhen, dienen dem Gemeinwohl. Wenn sie die Handlungsfreiheit nicht unzumutbar einschränken und eine zulässige „Inhalts- und Schrankenbestimmung" i.S.d. Art. 14 I GG bilden, dürfen sie deshalb auch in vorhandene Besitzstände eingreifen. Die „Eigentumsbestandsgarantie" steht ihnen nicht entgegen. Gegenüber solchen Vorschriften kann die Besitzstandsgarantie nur „Eigentumswertgarantie" sein. 80 Soweit die Sozialpflichtigkeit des Eigentums gemäß Art. 14 I I GG reicht, sind Sicherheitspflichten, welche die Nutzung des Eigentums beschränken, entschädigungslos hinzunehmen. Wird durch eine technische Sicherheitsvorschrift eine nach Art. 14 I GG zulässige „Inhalts- und Schrankenbestimmung" vorgenommen, so kann in derselben Vorschrift eine Legalenteignung liegen, wenn sie im Hinblick auf vorhandene Besitzstände die Zumutbarkeitsgrenze überschreitet, die Art. 14 I I als Sozialpflichtigkeit des Eigentums hervorhebt. 81 Die Überschreitung dieser Grenze führt nicht zur Verfassungswidrigkeit der Regelung, sondern nur zur Entschädigungspflicht. Wegen der Junktimklausel des Art. 14 I I I GG muß das Gesetz allerdings für 79 Vgl. z.B. Reinhardt / Scheuner, Verfassungsschutz des Eigentums, Tübingen 1954; Ehlermann, Wirtschaftslenkung und Entschädigung; Salzwedel, Die Verwaltung 5 (1972), 11 ff.; Giesler, Diss., S. 302ff.; Friauf, Festg. BVerwG, S. 217ff.; Hoppe, Wirtschaftliche Vertretbarkeit, S. 120ff.; Sendler, UPR 1983, 33ff., 73ff. jeweils m.w.N. - Vgl. auch die unten Fn. 107 zitierte Lit. zum Vertrauensschutz. 80 Zur Unterscheidung von „Eigentumsrechts-" bzw. „Eigentumsbestands-" und „Eigentumswertgarantie" vgl. Martin Wolf, Reichsverfassung und Eigentum, in: Festg. f. Wilhelm Kahl. Tübingen 1923, S. 13; W. Weber, in: Die Grundrechte II, S. 350; v. Mafigoldt / Klein, Art. 14 Anm. V I I 3 a; BVerfGE 24, 367 (397); 35, 348 (361); 56, 249 (260f.); 58, 300 (323). 81 Vgl. BVerfGE 58, 300 (331 f.); 45, 297 (332); 52, 1 (28).
D. Besitzstandsschutz als Vertrauensschutz
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die Fälle, in denen der Eingriff in den Besitzstand unzumutbar ist, eine Entschädigungsregelung vorsehen. 82 Das Bundesverfassungsgericht hat zwar betont, daß eine Enteignung nur unter den Voraussetzungen des Art. 14 I I I GG zulässig sei und daß eine wegen Überschreitung der Sozialpflichtigkeit verfassungswidrige „Inhaltsbestimmung" nicht in eine Enteignung umgedeutet und nicht durch Zubilligung einer Enteignungsentschädigung „geheilt" werden könne. 83 Enteignung im Sinne des Art. 14 I I I GG sei der staatliche Zugriff auf das Eigentum des einzelnen. Ihrem Zweck nach sei sie auf die vollständige oder teilweise Entziehung konkreter subjektiver Rechtspositionen gerichtet, die durch Art. 14 11 GG gewährleistet seien. 84 Dies bedeutet jedoch keine Rückkehr zum „klassischen Enteignungsbegriff 85 , denn das Bundesverfassungsgericht stellt nicht darauf ab, ob das entzogene Recht auf ein dem öffentlichen Wohl dienendes Unternehmen übertragen wird. 8 6 Nach Ansicht des Gerichts kann der (Teil-)Entzug subjektiver Rechte auch insoweit enteignend sein, als ein Nutzungsrecht nicht übertragen, sondern seine Ausübung unterbunden oder unmöglich gemacht wird. Auch diese „Aufopferungsenteignung" 87 fällt weiterhin unter Art. 14 I I I GG: Das Bundesverfassungsgericht geht davon aus, daß eine - pro futuro wirkende - Neuregelung von Inhalt und Schranken i.S.d. Art. 1412 GG zugleich eine Legalenteignung für vorhandene Bestände bewirken könne. 88 Da nicht jede gesetzliche Beschneidung nach bisher geltendem Recht innegehabter subjektiver Eigentumsrechte als Legalenteignung betrachtet werden kann, sondern Eingriffe in bestandsge82
Fraglich ist, ob die Junktimklausel auch für atypische Fälle gilt, vgl. verneinend OVG Münster, JZ 1959, 359; Wolff / Bachof I, § 62 IV b 2, S. 550f.; Salzwedel, Die Verwaltung 5 (1972), 35. Dies kann hier dahinstehen, denn daß Sicherheitsvorschriften, die zu erheblichen Neuinvestitionen oder zur Stillegung von Anlagen zwingen, im Einzelfall unzumutbar sein können, wird regelmäßig voraussehbar sein. 83 BVerfGE 52, 1 (27f.); 58, 300 (320). 84 BVerfGE 52, 1 (27) m.w.N.; 58, 300 (321). 85 So aber der Sache nach Rittstieg, NJW 1982, 724. 86 Zur „Übertragung des entzogenen Rechts" als Merkmal des „klassischen Enteignungsbegriffs" vgl. Gerhard Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reiches vom 11. August 1919, 14. Aufl. 1933, Nachdr. Bad Homburg u.a. 1968, Art. 153 Anm. 6 m.w.N.; Forsthoff, Verwaltungsrecht I, S. 338f. 87 Vgl. Schwerdtfeger, JuS 1983, 108 m.w.N. 88 s.o. Fn. 81. Auch die Ausführungen im Abschnitt D. des Naßauskiesungsbeschlusses wären andernfalls unverständlich, BVerfGE 58, 300 (348 ff.). Der Vorschlag, die bisherige Aufopferungsenteignung nur noch unter dem Aspekt der Sozialbindung gem. Art. 14 I 2, I I GG zu betrachten und bei Überschreiten der Zumutbarkeitsschwelle einen besonderen Entschädigungsanspruch zur Kompensation der unzumutbaren Vermögensbeeinträchtigung anzuerkennen - vgl. in dieser Richtung SchulzeOsterloh, Das Prinzip der Eigentumsopferentschädigung, S. 276ff.; dieselbe, NJW 1981, 2541 ff. - , würde zwar eine konsequente Unterscheidimg von Inhalts- und Schrankenbestimmung einerseits, Enteignung andererseits ermöglichen; das BVerfG ist diesen Weg aber nicht gegangen. Noch nicht entschieden ist damit, ob der „enteignende" und der „enteignungsgleiche Eingriff" Art. 14 I I I oder Art. 14 I 2, I I GG zuzuweisen ist, vgl. dazu Schwerdtfeger, JuS 1983, 109.
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§17 Grundrechte des Risikoverursachers und Verhältnismäßigkeit
schütztes Eigentum auch aufgrund von Art. 14 I 2, I I GG möglich sind 8 9 , kommt das Bundesverfassungsgericht am Problem der materiellen Eingrenzung der „Aufopferungsenteignung" 90 nicht vorbei. Die Aufopferung eigentumsrechtlicher Positionen ist keine Enteignung, solange sie sich durch die Sozialpflichtigkeit gem. Art. 14 I I GG rechtfertigen läßt. Insofern sind die „materiellen Enteignungstheorien" durch die neue Rechtsprechung nicht obsolet geworden. 91 Das Bundesverfassungsgericht stellt auf die Zumutbarkeit ab, ohne in diesem Zusammenhang Art. 14 I I GG zu erwähnen. 92 Die Entschädigung behebt die Unzumutbarkeit des Eingriffs. Deshalb kann es jedenfalls bei Nutzimgsbeschränkungen keinen Anspruch auf vollen Verkehrswertausgleich geben. 93 Vielmehr geht es darum, den Eingriff durch Kompensation mit Geldleistungen wieder zumutbar zu machen, so daß das Opfer, das der einzelne zugunsten der Gemeinschaft zu erbringen hat, im ganzen gesehen im Rahmen der Sozialpflichtigkeit bleibt. 9 4 Dieser Gesichtspunkt mag zur Konkretisierung des Art. 14 I I I 3 GG beitragen. Ein voller Ausgleich der durch die Nutzungsbeschränkung bedingten Wertminderung würde dagegen zu einer ungleichen Besserstellung gegenüber demjenigen führen, für den die gleiche Nutzungsbeschränkung noch zumutbar und deshalb nicht entschädigungspflichtig ist.
III. Besitzstandsschutz als Dispositionsschutz Der Umfang des Besitzstandsschutzes ergibt sich als Kehrseite aus der Konkretisierung der Sozialpflichtigkeit: Eine Nutzungsbeschränkung ist insoweit entschädigungspflichtig, als sie die Grenze der Sozialpflichtigkeit des Eigentums gem. Art. 14 I I GG überschreitet. Die zur Konkretisierung der Sozialpflichtigkeitsgrenze hauptsächlich vertretenen Theorien, die Zumutbarkeits- oder Schweretheorie 95 sowie die Einzelakts- oder Sonderopfertheorie 96 , werden wegen ihrer jeweiligen Schwächen in Schrifttum und Praxis zunehmend kombiniert angewandt: Danach liegt eine Sozialbindung nur dann vor, wenn das auferlegte Opfer weder unzumutbar ist noch für den es Vgl. BVerfGE 31, 275 (285 ff.) - UrheberG; 42, 263 (294) - Contergan; 50, 290 (3401) - Mitbestimmung; 53, 257 (292, 309) - Versorgungsausgleich; 58, 81 (109ff.) Rentenanwartschaft; Schwerdtfeger, JuS 1983, 107. 90 Vgl. Schulze-Osterloh, NJW 1981, 2538f. 91 Vgl. Schwerdtfeger, JuS 1983, 108. 92 Vgl. BVerfGE 58, 300 (349ff. - Vertrauensschutz, insbes. 351). 93 Vgl. allgemein zur Enteignungsentschädigung BVerfGE 24, 367 (421) - Hamburger Deich-Urt. 94 In diesem Sinne nachdrücklich Salzwedel, Die Verwaltung 5 (1972), 24f. 95 Ständige Rspr. des BVerwG seit E 5, 143 (145). 96 Ständige Rspr. des BGH seit BGHZ 6, 270 (279ff ); vgl. BGH, NJW 1980, 1679 (1680) m.w.N.
D. Besitzstandsschutz als Vertrauensschutz
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Betroffenen ein unter dem Aspekt des Gleichheitssatzes entschädigungslos nicht zu rechtfertigendes Sonderopfer darstellt. 97 Wann also stellen Sicherheitsvorschriften einen unzumutbaren oder gleichheitswidrigen Eingriff in Besitzstände dar? Ein Sonderopfer w i r d grundsätzlich nicht gegeben sein, weil die Sicherheitsvorschriften für alle Risikoverursacher in gleicher Weise gelten. Zur Ermittlung der Schwelle der Sozialpflichtigkeit ist daher in erster Linie auf die Zumutbarkeit der Besitzstandsentwertimg abzustellen. Dabei gelten dieselben Kriterien wie bei der Beurteilung der Zumutbarkeit von Freiheitseingriffen im allgemeinen: Es geht um die Verhältnismäßigkeit des Eingriffs im engeren Sinne, um die Proportionalität der Nutzungseinschränkung gegenüber dem damit erzielten Sicherheitsgewinn. Insoweit kann auf das verwiesen werden, was bereits zur Verhältnismäßigkeit der Einschränkung der unternehmerischen Freiheit gesagt wurde. 98 Hier ist aber zu bedenken, daß der Entzug oder die Entwertung vorhandener Besitzstände für den Betroffenen in der Regel gravierender ist als die Freiheitsbeschränkung pro futuro. Dies muß sich auf die Beurteilung der Zumutbarkeit des Eingriffs auswirken. Daß der Eingriff in Besitzstände schwerer wiegt als die Freiheitsbeschränkung, resultiert daraus, daß diese nur Möglichkeiten des Verhaltens, insbesondere wirtschaftlicher Dispositionen, beschränkt, während der Eingriff in Besitzstände sich auf bereits getroffene Dispositionen bezieht, die für sich genommen - aufgrund der eingesetzten Arbeit, des eingesetzten Kapitals - schon einen Wert haben und durch den Eingriff entwertet werden. 99 Im Schutzbereich des Art. 14 GG handelt es sich um vermögensrechtliche Dispositionen. Der Eigentümer hat diese Dispositionen auf der Basis des geltenden Rechts getroffen, und er hätte dies vielleicht unterlassen, wenn er damit gerechnet hätte, daß sie durch eine Rechtsänderung - hier durch verschärfte Sicherheitsvorschriften, die zu zusätzlichen Investitionen zwingen und die Rentabilität der ursprünglichen Investitionen mindern entwertet würden. Hierin liegt der Grund für die größere Schutzbedürftigkeit vorhandener Besitzstände im Vergleich zur Schutzbedürftigkeit der Freiheit, vorhandenen Eigentums im Vergleich zu künftig zu erwerbendem Eigentum, der Grund dafür, daß die Anforderungen an den Eingriff in Besitzstände höher sind als an den Eingriff in die Freiheit, die Anforderungen an die entschädigungsfreie Sozialbindung vorhandenen Eigentums höher als diejenigen, die eine Inhalts- und Schrankenbestimmung pro futuro rechtfertigen. Resultiert also das größere Gewicht des Nachteils, den der Eingriff in einen 97 Vgl. BGHZ 30, 338 (347); BGH, MDR 1964, 656 (657); NJW 1965, 1907 (1908); BVerwG, NJW 1962, 2171 (2172); Dicke, in: v. Münch, GG, Art. 14 Rdnr. 50 m.w.N. 98 s.o. Α., Β. 99 Vgl. z.B. Grabitz, DVB1. 1973, 678f.; Kisker, W D S t R L 32 (1974), 166f.
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§17 Grundrechte des Risikoverursachers und Verhältnismäßigkeit
Besitzstand für den Betroffenen bildet, aus dem enttäuschten Vertrauen in die Kontinuität des geltenden Rechts, so kann der Besitzstandsschutz über den Schutz der Freiheit nur insoweit hinausgehen, als das Vertrauen in das Fortgelten des zur Zeit der Begründung des Besitzstands, zur Zeit der Tätigung der - vermögensrechtlichen - Disposition auf Grund geltenden Rechts, das „Kontinuitätsvertrauen" 1 0 0 , schutzwürdig oder schutzbedürftig ist. Für das Vertrauen in den Bestand begünstigender Verwaltungsakte kann insoweit nichts anderes gelten als für das Vertrauen in den Bestand geltender Gesetze. Eigentumsschutz ist insofern eine besondere Ausprägung des allgemeinen rechtsstaatlichen Vertrauensschutzes. 101 Genauer gesagt: Das Vertrauensschutzprinzip konkretisiert hier die Zumutbarkeit des Eingriffs in vermögensrechtliche Besitzstände. Es liegt auf der Hand, daß es einen absoluten Schutz des Kontinuitätsvertrauens nicht geben kann; er würde zur völligen Versteinerimg der Gesetzgebung führen. 102 Vielmehr kommt es darauf an, daß bei Rechtsänderungen zu Lasten der Eigentümer die vorhandenen Rechtspositionen so schonend an die neue, mit Art. 14 I GG vereinbare Inhalts- und Schrankenbestimmung 1 0 3 anzupassen, daß unbillige Härten vermieden werden. In der Regel w i r d eine unzumutbare Härte durch eine Übergangsregelung vermeidbar sein, die eine „weiche Überleitung" von Besitzständen, eine zumutbare Anpassung an das neue Recht in angemessener Zeit ermöglicht. 104 Wo eine solche Regelung fehlt oder nicht ausreicht, kann die sofortige Anwendung des neuen Rechts den „Altbetroffenen" durch eine Entschädigung für die Entwertung ihres Besitzstands zumutbar gemacht werden. Auf welche Weise der Gesetzgeber die Zumutbarkeit des Eingriffs herstellt, ist ihm selbst überlassen. Bei enteignender Belastung des Besitzstandes ist allerdings die Junktimklausel des Art. 14 I I I GG zu beachten. 105
100 Leisner, in: Festschr. Berber, S. 280ff. ιοί vgl. BVerfGE 36, 281 (293); 58, 300 (349f., 351) m.w.N.; Kisker, W D S t R L 32 (1974), 180f.; Benda, in: Handbuch des Verfassungsrechts, S. 498. Zutreffend ist darauf hingewiesen worden, daß sich das Prinzip des Vertrauensschutzes nicht aus dem Eigentum ableiten lasse, vgl. Leisner, in: Festschr. Berber, S. 294f.; a. A. W. Schmidt, JuS 1973, 530 ff. Aber auch i m Hinblick auf vermögensrechtliche Besitzstände gilt das Vertrauensschutzprinzip i n seiner besonderen Ausprägung durch Art. 14 GG. Der Ansicht, daß enttäuschtes Kontinuitätsvertrauen nicht in Geld kompensierbar sei vgl. Burmeister, Vertrauensschutz im Prozeßrecht, S. 24 - , kann jedenfalls hier nicht gefolgt werden. 102 Leisner, in: Festschr. Berber, S. 281 f.; Benda, in: Handbuch des Verfassungsrechts, S. 497. 103 Entsprechendes gilt auch für den Besitzstandsschutz im Rahmen von anderen Freiheitsrechten, insbesondere für den Schutz beruflicher Besitzstände in bezug auf neue Berufsausübungsreglungen. 104 Vgl. BVerfGE 58, 300 (350f.) m.w.N. 105 Vgl. Salzwedel, Die Verwaltung 5 (1972), 22 ff., insb. 24f., 28.
D. Besitzstandsschutz als Vertrauensschutz
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Wann aber ist das Kontinuitätsvertrauen schutzwürdig und schutzbedürftig? Wann liegt eine unzumutbare Härte vor, die mit der Sozialpflichtigkeit des Eigentums nicht mehr gerechtfertigt werden kann? Diese Fragen zeigen, daß der Vertrauensschutzgedanke eine unmittelbare Problemlösung nicht bietet 1 0 6 , sondern im gegebenen Zusammenhang nur eines von mehreren Kriterien zur Konkretisierung der Zumutbarkeit des Eingriffs ist. Zur Beantwortung dieser Fragen muß auf die umfangreiche Literatur zum Vertrauensschutz verwiesen werden. 107 Hier seien nur einige Gesichtspunkte erwähnt, die in unserem Zusammenhang besonders relevant zu sein scheinen: In der Regel decken sich Schutzbedürftigkeit (Unzumutbarkeit) und Schutzwürdigkeit. Letztere kann aber auch über Härtefälle hinausreichen, nämlich dann, wenn beispielsweise die Geltung des geltenden Rechts für eine bestimmte Zeit rechtlich gewährleistet war. 1 0 8 Dies kommt praktisch weniger für die Geltung von Gesetzen als solchen in Betracht, als für den Bestand begünstigender Verwaltungsakte wie etwa Anlagengenehmigungen, die nach dem geltenden Gesetzesrecht nur gegen Entschädigung widerrufen oder zurückgenommen werden dürfen. Die Schutzwürdigkeit kann aber auch hinter der Härte im Einzelfall zurückbleiben, wenn etwa die Disposition trotz zu erwartender Rechtsänderung getroffen wurde 1 0 9 , oder wenn die Härte im Einzelfall überwiegend auf eigenem Verschulden des Betroffenen beruht. 1 1 0 Nach der wohl vorherrschenden, mit mehr oder weniger großen Einschränkungen 111 vertretenen Auffassung, greift eine Rechtsänderung jedenfalls dann in unzumutbarer Weise in einen Besitzstand ein und hat daher enteignenden Charakter, wenn sie die Privatnützigkeit des betroffenen Vermögensgegenstandes, verstanden als die Möglichkeit, damit angemessene Gewinne zu erzielen, praktisch aufhebt. 112 Dabei wird die Verankerung des 106
Vgl. Ossenbühl, DÖV 1972, 36. Vgl. Ossenbühl, DÖV 1972, 25ff.; Salzwedel, Die Verwaltung 5 (1972), 11 f f.; Leisner, in: Festschr. Berber, S. 273ff.; Walter Schmidt, JuS 1973, 529ff.; Grabitz, DVB1. 1973, 675ff.; Kisker, W D S t R L 32 (1974), 149ff.; Püttner, W D S t R L 32 (1974), 200ff.; Götz, in: Festg. BVerfG II, S. 422ff.; Seewald, DÖV 1976, 228ff.; Schenke, WiVerw. 1977, 18ff.; Burmeister, Vertrauensschutz im Prozeßrecht. Vgl. Kisker, W D S t R L 32 (1974), 163 f. 109 Vgl. BVerfGE 1, 264 (280); 2, 237 (264f.); 8, 274 (304); 13, 261 (272). Kritisch dazu Leisner, in: Festschr. Berber, S. 288; Grabitz, DVBl. 1973, 684 m.w.N. 110 Beim Eingriff in den eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb ist insbesondere zu prüfen, ob der Betrieb „durchschnittlich rationalisiert" ist, ob der Unternehmer also das seinerseits Notwendige getan hat, um die Überlebensfähigkeit seines Betriebes auch unter sich ändernden Rahmenbedingungen zu gewährleisten, vgl. Ehlermann, Wirtschaftslenkung, S. 192f.; Giesler, Diss., S. 364f.; Hoppe, Wirtschaftliche Vertretbarkeit, S. 127 f. 111 Vgl. etwa Giesler, Diss., S. 364f.; Hoppe, Wirtschaftliche Vertretbarkeit, S. 128f.; Sendler, UPR 1983, 76. 112 Vgl. z.B. Giesler, Diss., S. 361 ff.; Hoppe, Wirtschaftliche Vertretbarkeit, S. 127; Friauf, in: Festg. BVerwG, S. 228; besonders weitgehend v. Mutius, in: Umwelt, Verfassung, Verwaltung, S. 216 ff. 107
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Besitzstandsschutzes im Vertrauensschutz verkannt und der Bestandsschutz überdehnt. Zugestimmt werden kann dieser Ansicht - mit den sich aus den oben genannten Gesichtspunkten ergebenden Einschränkungen m.E. nur insoweit, als durch die Nutzungsbeschränkungen die wirtschaftliche Nutzbarkeit nicht eines beliebigen Vermögensgegenstandes, sondern des die materielle Basis der beruflichen Existenz bildenden Gewerbebetriebs im ganzen beseitigt wird. In diesem Fall liegt in der Tat ein unzumutbarer Eingriff im Sinne der „Schweretheorie" vor. Dies kann aber nicht zur Verewigung des Besitzstands beziehungsweise zu einer vollen Entschädigung führen, sondern nur zu einer schonenden, die Erhaltung der Existenz ermöglichenden Anpassung an die neue Lage durch eine zeitlich begrenzte Übergangsregelung beziehungsweise durch eine lediglich das Fehlen einer solchen Übergangsregelung und nicht etwa das vollständige Bestandsinteresse kompensierenden Entschädigung. Zur Konkretisierimg der Zumutbarkeitsgrenze in den Fällen, in denen die berufliche Existenz nicht in Frage steht, sei folgende These gewagt: Wird ein Vermögensgegenstand - sei es eine Produktionsanlage, eine Maschine, eine Sicherheitsvorkehrung oder ein Gewerbebetrieb im ganzen - durch eine Sicherheitsvorschrift entwertet, weil er nicht mehr wie bisher oder jedenfalls nur nach zusätzlichen Sicherheitsinvestitionen genutzt werden darf, so liegt in diesem Besitzstandseingriff nur dann eine unzumutbare Belastung, wenn dadurch die im Vertrauen auf die Kontinuität des Rechts getroffene Vermögensdisposition zum Verlustgeschäft wird, vorausgesetzt, die Sicherheitsvorschrift ist als Inhaltsund Schrankenbestimmung gem. Art. 14 I GG pro futuro zulässig. Begründung: Wie gezeigt, liegt der Grund für den gegenüber der Freiheitsbetätigung, gegenüber dem künftig zu erwerbenden Eigentum verstärkten Schutz des Besitzstands im Vertrauensschutz für bereits getroffene Dispositionen. Was diese angeht, ist es ein wesentlicher Unterschied, ob eine Anlage, die schon längst abgeschrieben und amortisiert ist, wegen zusätzlich geforderter Sicherheitsvorkehrungen nicht mehr gewinnbringend arbeiten kann, oder ob eine Anlage, die sich noch nicht bezahlt gemacht hat, nicht mehr wirtschaftlich zu betreiben ist. 1 1 3 In letzterem Fall erweist sich die im Vertrauen auf den Bestand des geltenden Rechts getätigte Investition als Fehlinvestition. Im ersteren Fall kann davon keine Rede sein; hier wird lediglich die Erwartung enttäuscht, auch künftig unter unveränderten Rahmenbedingungen Gewinne machen zu können. Bestandsschutz würde in diesem Fall einen ungerechtfertigten Vorteil gegenüber neuen Mitbewerbern bedeuten. Die Sicherheitsinvestitionen, die man dem newcomer zumutet, kann man auch vom „Altbetroffenen" verlangen, dessen in Frage stehende Investitionen bereits abgeschrieben und amortisiert sind. In einer ungleich anderen
113 Vgl. Kutscheidt, in: Salzwedel (Hrsg.), Grundzüge des Umweltrechts, S. 281; Sendler, UPR 1983, 45; Friauf, Festg. BVerwG, S. 229 m.w.N.
D. Besitzstandsschutz als Vertrauensschutz
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Lage ist dagegen derjenige, dessen aufgrund des alten Rechts getätigte Investitionen noch nicht vollständig amortisiert sind: Er verliert, zumindest teilweise, sein investiertes Kapital. Deshalb liegt es nahe, die Opfergrenze bei der Amortisation der im Vertrauen auf die Rechtskontinuität getroffenen Investitionen festzulegen. Wer seine Investition durch das neue Recht verliert, dem wird ein Sonderopfer zugemutet, und zwar in dem Maße, in dem er verliert, so daß das Ausmaß der Entschädigung davon abhinge, bis zu welchem Grade die Investition sich bereits bezahlt gemacht hat. 1 1 4 Besitzstandsschutz wäre hiernach als Investitionsschutz anzusehen. Es geht darum, dem Unternehmer das Risiko des Investitionsverlusts insoweit abzunehmen, als es in der Sphäre des Staates angesiedelt ist. Es kann aber nicht darum gehen, den Bestand der staatlich gesetzten Rahmenbedingungen für alle Zukunft zu garantieren. 115 Für nicht kommerziell genutzte Besitzstände gelten diese Erwägungen entsprechend. Sie dürfen aber nicht über den hier diskutierten Eingriffstatbestand, über die Nutzungsbeschränkung durch Sicherheitsvorschriften hinaus verallgemeinert werden. Die etwa bei unmittelbaren Eingriffen in die Substanz des Eigentumsobjekts zu berücksichtigenden Gesichtspunkte können hier nicht diskutiert werden. Ohne auf die verbleibenden vielfältigen Probleme des Besitzstandsschutzes 116 näher einzugehen, kann man festhalten, daß die Eigentumsgarantie die staatlichen Befugnisse zum Schutz vor technischen Risiken zwar begrenzt, einem wirksamen Schutz vor diesen Risiken aber nicht entgegensteht. 117
114 Praktikabel wäre eine zeitliche Begrenzung des Bestandsschutzes an den steuerlichen Abschreibungszeiträumen, die allerdings realistisch bemessen sein müßten, vgl. Salzwedel, in: Gesellschaft für Umweltrecht, Dokumentation zur 5. wiss. Fachtagung, S. 58, 85; v. Lersner, Verwaltungsrechtliche Instrumente des Umweltschutzes, S. 22. 115 Vgl. BVerfGE 58, 300 (350f.) m.w.N.; BVerwG, 18.5.82, UPR 1983, 66 (67) m.w.N.; Sendler, UPR 1983, 44, 45; Friauf, Festg. BVerwG, S. 229. 116 vgl. beispielsweise zum Schutz des Eigentums gegenüber staatlichen Planungsentscheidungen Martin Oldiges, Grundlagen eines Piangewährleistimgsrechts, Bad Homburg 1970; Burmeister, Die Verwaltung 1969, 21ff.; Kriele, DÖV 1967, 531ff.; Götz, in: Festg. BVerfG II, S. 444ff. m.w.N.; Schenke, WiVerw. 1977, 26ff.; Rademacher, Diss., S. I l l ff., 151 ff.; insbesondere zum Schutz des „latenten Störers" gegenüber heranrückender Wohnbebauung z.B. Quaritsch, DVB1. 1959, 455ff.; Friauf, DVB1.1971, 713ff.; Giesler, Diss., S. 154ff., 370ff.; Fröhler / Kormann, WiVerw. 1977, 114ff.; dieselben, WiVerw. 1978, 245ff.; dieselben, Gewerbebetrieb und heranrükkende Wohnbebauung - Vorbeugender Rechtsschutz für den „latenten Störer", München 1981; Gehrmann, GewArch 1980, 353ff.; Holleben, DVB1. 1981, 903ff.; Sendler, WiVerw. 1977, 94ff. jeweils m.w.N. 117 Vgl. in bezug auf den Umweltschutz Martens, W D S t R L 30 (1972), 18; Sendler, DÖV 1974, 73f.; ders., UPR 1983, 33.
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§ 18 Sonstige Schranken der Schutzbefugnisse
§ 18 Sonstige Schranken der Schutzbefugnisse A. Überblick
Nicht nur die Pflicht zur Achtung der Grundrechte des Risikoverursachers begrenzt die staatlichen Befugnisse zum Schutz vor technischen Risiken. Auch andere verfassungsrechtliche Pflichten und Verfassungsprinzipien grenzen die Schutzbefugnisse ein. In den Zusammenhang mit den Grundrechten des Risikoverursachers gehört noch der Bestimmtheitsgrundsatz, dessen Beachtung bei der im technischen Recht üblichen Verwendung imbestimmter, dynamischer Rechtsbegriffe problematisch sein kann. 1 Auf diesen Grundsatz ist hier nicht näher einzugehen, weil er nur den Modus der Freiheitseinschränkung des Risikoverursachers, nicht aber den materiellen Umfang der staatlichen Einschränkungsbefugnisse betrifft. Es versteht sich von selbst, daß der Staat mit Vorschriften und Maßnahmen gegen technische Risiken nicht verfassungsrechtlich verbotene Ziele verfolgen darf. Er darf nicht solche Risiken bekämpfen, die zu bekämpfen das Grundgesetz nicht zuläßt. Beispiel: Der Gesetzgeber darf die Nutzung moderner Medientechniken einschränken, soweit dies erforderlich ist, um zu verhindern, daß durch Rückkanalschaltungen eine direkte Demokratie installiert wird. Er darf nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts auch einschreiten, um die institutionell verstandene Rundfunk „freiheit" vor den befürchteten Folgen von im liberalen Sinne freiem Rundfunk zu schützen.2 Verboten wäre es dagegen, die Nutzimg moderner Medien zu dem Zweck zu beschränken, die Chancen der Machtgewinnung oder Machterhaltung einer politischen Partei zu stabilisieren. Das Risiko der Veränderung politischer Einflußchancen einer Partei im Medienbereich darf nicht durch staatliche Intervention bekämpft werden. Dies wäre mit dem Demokratieprinzip, insbesondere mit dem Recht der Parteien auf Chancengleichheit, nicht vereinbar. Außerdem sind Freiheitseinschränkungen nur zur Förderung des Gemeinwohls, nicht des Wohls einer Partei zulässig.
Im übrigen können die Schutzbefugnisse durch entgegenstehende verfassungsrechtliche Pflichten eingeschränkt werden. Als solche kommen beispielsweise in Betracht: die Pflicht zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, die Pflicht zur Landesverteidigung, die sozialstaatliche Pflicht zur Sicherung des Existenzminimums, die Pflicht zur „Wohlstandsvorsorge", zur Pflege der Volksgesundheit, zur Sicherung der 1 Vom BVerfG ist die Verwendung solcher Begriffe im technischen Sicherheitsrecht gebilligt worden, vgl. BVerfGE 49, 89 (133ff.) - Kalkar; Breuer, in: v. Münch, Besonderes Verwaltungsrecht, S. 655 f. 2 Vgl. BVerfGE 57, 295 (319ff.) - FRAG. Die Rundfunkfreiheit ist ein Thema für sich, das hier nicht erörtert werden kann.
Α. Überblick
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Energieversorgung, zum Schutz sonstiger verfassungsrechtlicher Gemeinschaftsgüter. 3 Die Pflicht zum Schutz verfassungsrechtlicher Gemeinschaftsgüter kann nämlich nicht nur dazu zwingen, diese Güter gegen technische Risiken in Schutz zu nehmen. Sie kann auch umgekehrt dazu zwingen, technische Risiken in Kauf zu nehmen, und zwar dann, wenn nur mit Hilfe technischer M i t tel ein wirksamer Schutz dieser Güter möglich ist und die hierbei auftretenden technischen Risiken unvermeidlich sind. Zu beachten ist dabei, daß die staatlichen Schutzbefugnisse nur durch entgegenstehende Pflichten begrenzt werden, nicht bereits durch entgegenstehende Aufgaben. Soweit das zuständige Staatsorgan hinsichtlich der Aufgabenerfüllung einen Gestaltungs- oder Ermessensspielraum hat, ist es zur Inkaufnahme von Risiken, die sich bei der Durchführung der Aufgabe ergäben, nicht gezwungen. Außerdem w i r d die Schutzbefugnis durch entgegenstehende Pflichten nur insoweit eingeschränkt, als das technische Risiko zwingend erforderlich ist, die jeweilige Pflicht zu erfüllen, also die Erfüllung der Pflicht ohne Inkaufnahme des Risikos nicht möglich wäre. Soweit sich dieser Nachweis nicht führen läßt, w i r d die Befugnis des Staates zum Schutz vor technischen Risiken durch die fraglichen Pflichten nicht beschränkt. Die in Betracht kommenden Gemeinschaftsziele rechtfertigen aber eine Einschränkimg der Sicherheit. Sie verpflichten zwar den Staat nicht zur Inkaufnahme von Risiken, aber sie berechtigen ihn dazu. So läßt sich die Inkaufnahme eines hinreichend kleinen „Restrisikos" bei der Erzeugung von Atomstrom unter dem Aspekt langfristiger Sicherung der Energieversorgung, die das Bundesverfassungsgericht als „Gemeinschaftsinteresse höchsten Ranges" bezeichnet hat 4 , rechtfertigen. Aber das Ziel, die Energieversorgung zu sichern, zwingt nicht hierzu, schon deshalb nicht, weil umstritten ist, ob sie nicht auch anders gesichert werden kann. Im übrigen ist die Energieversorgung kein Selbstzweck 5 , auch wenn das Bundesverwaltungsgericht sie als „von der jeweiligen Politik des Gemeinwesens unabhängiges ,absolutes' Gemeinschaftsgut" betrachtet. 6 Eine verfassungsrechtliche Pflicht zur Sicherung der Energieversorgung läßt sich nur aus anderen verfassungsrechtlichen Pflichten ableiten, für deren Erfüllung die Energieversorgung notwendiges Mittel ist, beispielsweise die Pflicht zur Sicherung des materiellen Existenzminimums, die sich nach h. M. aus Art. 2 I I GG i. V. m. dem Sozialstaatsprinzip ergibt. Wenn 3
Vgl. oben § 15. BVerfGE 30, 292 (323 f.). In dieser Formulierung zeigt sich besonders deutlich die Problematik einer „Wertrangordnung" : Wieviele „höchste" Güter gibt es eigentlich, und gibt es auch noch „allerhöchste"? 5 A.A. offenbar Wagner, in: Wagner / Ziegler / Closs, Risikoaspekte, S. 128. β BVerfGE 30, 292 (324). 4
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§18 Sonstige Schranken der Schutzbefugnisse
man dies berücksichtigt, erkennt man, daß hinsichtlich der Quantität der Energieversorgung ein erheblicher Gestaltungsspielraum besteht und daß es folglich keine Pflicht gibt, jedem Bedürfnis nach Maximierung des Energieverbrauchs durch Inkaufnahme immer größerer Risiken der Energieproduktion nachzukommen. B. Insbesondere: Der Auftrag zur Wohlstandsvorsorge
Zur Rechtfertigimg von Risiken großtechnischer Anlagen wird insbesondere der aus dem Sozialstaatsprinzip abgeleitete „Verfassungsauftrag zur Wohlstandsvorsorge" 7 herangezogen. 8 In der Tat hat der Staat die Aufgabe, den Wohlstand seiner Bürger zu fördern, gegebenenfalls auch durch eine Politik des wirtschaftlichen Wachstums. Deshalb ist das Ziel der Wohlstandsvorsorge geeignet, die Belastung der Bürger mit gewissen technischen Risiken, wie sie die zur Erreichung von Wohlstand unumgängliche Energieerzeugung mit sich bringt, zu rechtfertigen. Das Sozialstaatsprinzip verpflichtet den Staat andererseits aber nicht zur Steigerimg des materiellen Wohlstands unter Inkaufnahme zusätzlicher technischer Risiken, die bei der Wohlstandssteigerung anfallen. Das Grundgesetz schreibt nämlich nicht die Maximierung oder auch nur die Optimierung des materiellen Wohlstandes zwingend vor. Als strikte Pflicht läßt sich aus diesem Prinzip nur die Pflicht zur Sicherung eines Minimums von Wohlstand ableiten. Wohlstandsförderung, die über dieses Minimum hinausreicht, wird durch das Sozialstaatsprinzip gerechtfertigt, und zwar auch dann, wenn sie in individuelle Freiheiten eingreift oder die individuelle Sicherheit beeinträchtigt. Aber der Umfang dieser Wohlstandsförderung ist verfassungsrechtlich nicht vorgeschrieben, sondern ihn zu bestimmen ist Sache der Wirtschafts- und Sozialpolitik. Dazu scheint der Hinweis angebracht, daß ein einseitig auf den materiellen individuellen Reichtum fixierter Wohlstandsbegriff, wie er dem Postulat der „WachstumsVorsorge" zugrunde zu liegen scheint, sich aus dem Sozialstaatsprinzip des Grundgesetzes nicht ergibt. Das Sozialstaatsprinzip, das doch die Gemeinschaftsgebundenheit der Individuen besonders zum Ausdruck bringt, ist zumindest offen für einen Wohlstandsbegriff, der neben der individuellen Versorgung mit materiellen Gütern auch saubere Luft, trinkbares Wasser, Freiheit von Lärmbelästigungen, ja auch Schönheit von landschaftlicher oder städtebau7 Vgl. Nicolaysen, in: Festschr. Ipsen, S. 488, 498 f. Dieser Ausdruck ist besser als derjenige der „WachstumsVorsorge". Dieser häufiger gebrauchte Begriff - vgl. H. P. Ipsen, Diskussionsbeitrag in: W D S t R L 24 (1966), 222; Badura, in: Festschr. Ipsen, S. 367ff.; Herzog, BayVBl. 1976, 162; Stern, Staatsrecht I, S. 703 - dürfte jedenfalls seit der Diskussion um die „Grenzen des Wachstums" problematisch sein, vgl. Nicolaysen, S. 487 f. „Wachstum" ist kein Selbstzweck, sondern hat nur eine Funktion zur Erreichung anderer Ziele, etwa von Wohlstand. 8 Vgl. Wagner, in: Wagner / Ziegler / Closs, Risikoaspekte, S. 13Iff.
C. Pflichten und Pflichtbegrenzungen aus Kompetenznormen?
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licher Umgebung, unverteerte Badestrände oder Erhaltung der Artenvielfalt umfaßt. Es besteht also zumindest keine verfassungsrechtliche Verpflichtung, wirtschaftliches Wachstum zur Steigerung des materiellen individuellen Wohlstands auf Kosten des sozialen Wohlstandes durchzusetzen. Im übrigen ist die Möglichkeit, Sicherheitsbeeinträchtigungen durch das Ziel der Wohlstandsvorsorge zu rechtfertigen, wie jede andere Einschränkung der Sicherheit grundrechtlicher Schutzgüter durch den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz beschränkt. Daraus folgt insbesondere, daß die Wohlstandsvorsorge zwar die Belastung des einzelnen mit Risiken unterhalb der Gefahrenschwelle, niemals jedoch individuelle Gefahren für Leben oder Gesundheit zu rechtfertigen vermag. Nicht das Ziel der Wohlstandssteigerung, sondern nur das Ziel der Abwehr von Gefahren für Gemeinschaftsgüter, die gegenüber dem individuellen Leben oder der individuellen Gesundheit als fundamental erscheinen, können hierfür einen rechtfertigenden Grund abgeben. C. Pflichten und Pflichtbegrenzungen aus Kompetenznormen?
I. Pflicht zur Zulassung von Risiken aus Kompetenznormen? Können sich staatliche Schutzpflichten oder Grenzen der Schutzbefugnisse auch aus Kompetenznormen ergeben? Während ein Teil des wissenschaftlichen Schrifttums diese Fragen klar verneint 9 , ist andererseits die Meinung verbreitet, daß den Kompetenznormen auch mehr oder weniger große materielle Bedeutung zukomme. So werden aus den die Gesetzgebungszuständigkeit zwischen Bund und Ländern verteilenden Katalogen der Art. 73 ff. GG Staatszielbestimmungen, Staatsaufgaben, Gesetzgebungsaufträge abgeleitet: zum Umweltschutz etwa aus Art. 74 Nr. 24, Art. 75 Nr. 3, 4 1 0 , aber auch zur Zulassung oder gar Förderung umweltbelastender Technik aus Art. 73 Nr. 6, Art. 74 Nr. 11, I I a , 21 - 23 11 , mit unterschiedlich weit reichenden Konsequenzen. Ob aus Kompetenznormen Staatsaufgaben ableitbar sind, braucht hier nicht diskutiert zu werden. Wenn mit „Staatsaufgäbe" Handlungsp/Zzc/it gemeint ist, dann handelt es sich bei den Gesetzgebungskompetenzen um eine Pflicht zur Regelung. Die meisten Kompetenznormen enthalten aber keine oder praktisch nur unbedeutende Vorgaben dafür, in welchem Sinne die Regelung zu erfolgen hätte. Dies gilt zunächst für diejenigen Normen, 9 Vgl. z.B. Maunz, in: Maunz / Dürig, Art. 73 Rdnr. 5; Rauschning, W D S t R L 38 (1980), 177f.; Hofmann, Rechtsfragen, S. 82ff. 10 Vgl. M. Weber, DVB1. 1971, 806; Steiger, Mensch und Umwelt, S. 70; Sendler, UPR 1981, 3; Hofmann, Rechtsfragen, S. 301. 11 Vgl. Marburger, in: Bitburger Gespräche, Jb. 1981, S. 44; Wagner, in: Wagner / Ziegler / Closs, Risikoaspekte, S. 175f.; VG Würzburg, NJW 1977, 1649.
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§ 18 Sonstige Schranken der Schutzbefugnisse
die den Kompetenzbereich durch Angabe eines Sachgebietes bezeichnen („Wirtschaft", „Industrie", Art. 74 Nr. 11). Aber es gilt auch für diejenigen, die zumindest implizit den Zweck der Regelung nennen („Abfallbeseitigung", „Luftreinhaltung", Art. 74 Nr. 24; „Bau und Unterhaltung von Landstraßen ...", Art. 74 Nr. 22); denn in welchem Maße die Luft rein zu halten oder wie viele Straßen zu bauen sind, ergibt sich aus diesen Normen nicht. Die materiellen Vorgaben, die der Gesetzgeber zu beachten hat, folgen vor allem aus dem Grundrechtsteil (Schutzpflichten) oder unter Umständen aus Staatszielbestimmungen wie dem Sozialstaatsprinzip. Es gibt keine Kompetenznorm, aus der sich die Verpflichtimg des Gesetzgebers ablesen ließe, zugunsten der zu regelnden Materie ein Mindestquantum an technischen Risiken zuzulassen. Dies gilt auch für die detaillierteste Kompetenzvorschrift des Grundgesetzes, die einen technischen Gegenstand betrifft, nämlich für Art. 74 Nr. I I a . Diese Bestimmung erstreckt die konkurrierende Gesetzgebungskompetenz auf „die Erzeugung und Nutzung der Kernenergie zu friedlichen Zwecken, die Errichtung und den Betrieb von Anlagen, die diesem Zweck dienen", den Schutz gegen dabei entstehende Gefahren sowie die Beseitigung radioaktiver Stoffe. Hieraus folgt, daß der Bund auf diesem Gebiet - unter den zweifellos gegebenen Voraussetzungen des Art. 72 I I GG - die Gesetzgebungskompetenz hat. Wie der Gesetzgeber von dieser Kompetenz Gebrauch zu machen hat, schreibt die Bestimmung aber nicht vor. Sie verpflichtet den Gesetzgeber nicht, die friedliche Nutzung der Kernenergie zuzulassen, enthält also nicht schon selbst die „Grundsachentscheidung für die friedliche Nutzung der Kernenergie", sondern gibt lediglich dem Bundesgesetzgeber die Kompetenz, die Entscheidung für oder wider die Nutzung der Kernenergie zu treffen, sofern diese Entscheidung nicht durch die Grundrechte der (künftigen) Betreiber von Kernenergieanlagen präjudiziert ist, was das Bundesverfassungsgericht angesichts der Gefahren 12 der Kernenergie zutreffend verneint hat. 1 3 Aus der Kompetenz zum Erlaß von Gesetzen auf Gebieten wie „Industrie", „Energiewirtschaft", „Straßenverkehr" oder „Kerntechnik" folgt demnach nicht, daß der Gesetzgeber die auf diesen Gebieten herkömmlichen oder bei der Realisierung neuartiger technischer Projekte unvermeidlichen Risiken zu erlauben verpflichtet sei. IL Kompetenznormen als „Grundrechtsschranken"? Eine andere Frage ist, ob sich aus den Kompetenznormen eine Rechtfertigung für gesetzliche Grundrechtseinschränkungen ergibt, die andernfalls 12 Daß die Risiken eines Kernkraftwerks unterhalb der Gefahrenschwelle lägen, läßt sich nur für das subjektive Individualrisiko behaupten, nicht aber für das von der Anlage ausgehende Gesamtrisiko. 13 BVerfGE 49, 89 (127ff.); 53, 30 (56).
C. Pflichten und Pflichtbegrenzungen aus Kompetenznormen?
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mangels Gesetzesvorbehalts oder wegen Unvereinbarkeit mit dem Verhältnismäßigkeitsprinzip i.e.S. unzulässig wären. 14 Dafür spricht folgendes Argument: Wenn die Verfassimg in Kompetenzvorschriften die Einrichtung bestimmter Institutionen, die Durchführung bestimmter Projekte vorsieht oder die Existenz bestimmter Gegenstände voraussetzt, dann müssen auch die zu dem jeweiligen Zweck notwendigen Grundrechtsbeschränkungen zulässig sein. Dies ergibt sich aus dem Prinzip der Einheit der Verfassung, die nicht im Grundrechtsteil verbieten kann, was sie im organisatorischen Teil zuläßt. 15 Dieses Argument läßt sich nicht einfach mit der Erwägung von der Hand weisen, daß eine Kompetenznorm - selbst wenn sie i m Sinne einer Aufgabenzuweisung verstanden werden könne - nichts über die zur Erfüllung der Aufgabe zulässigen Mittel aussage. Das im Verwaltungsrecht geltende Verbot, aus der Aufgabenzuweisung auf die nötigen Eingriffsbefugnisse zu schließen, resultiert ja aus dem Vorbehalt des Gesetzes, Deshalb läßt es sich nicht auf die Verfassung und die Befugnisse des Gesetzgebers zur Grundrechtseinschränkung übertragen. Die Regelungen der ausdrücklichen Gesetzesvorbehalte im Grundgesetz sind ja unbestrittenermaßen unsystematisch und aus anderen Verfassungsbestimmungen heraus ergänzungsbedürftig, und der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ist selbst ein ungeschriebenes Verfassungsprinzip, das der Konkretisierung anhand anderer Verfassungsbestimmungen zugänglich ist. Dennoch ist gegenüber voreiligen Ableitungen zusätzlicher Gesetzesvorbehalte aus Kompetenznormen Vorsicht geboten. Das Prinzip der Einheit der Verfassung ist Ausdruck des Prinzips der Widerspruchsfreiheit. Und auftretende Widersprüche können nicht von vornherein zu Lasten der Grundrechte aufgelöst werden. Bevor also die Befugnis zu im Grundrechtsteil nicht vorgesehenen oder anderenfalls dem Verhältnismäßigkeitsprinzip widersprechenden Grundrechtseinschränkungen postuliert wird, muß also sorgfältig geprüft werden, ob der sich aus der Kompetenznorm ergebende Gemeinschaftszweck nicht auch auf eine Weise verwirklicht werden kann, die mit den Grundrechten vereinbar ist, ob er wirklich in dem Sinne zu verstehen ist, daß seine Verwirklichung ohne Verkürzung der Grundrechte nicht möglich ist, oder ob der Gegenstand der Kompetenznorm durch diese auch wirklich „gebilligt" und nicht etwa nur der Regelungsbedürftigkeit wegen in den Kompetenzkatalog aufgenommen wurde. Nur dann, wenn eine Institution ohne eine über das zulässige Maß hinausgehende Grundrechts14 Auf unsere Fragestellung bezogen, geht es hierbei nicht um die Grenzen der Schutzbefugnisse, sondern der Schutzpflichten; die Schutzpflicht reicht ja nicht weiter als die Einschränkbarkeit des zu schützenden Grundrechts. Systematisch gesehen gehört sie ins 1. Kapitel, wird aber hier erörtert, um das Thema des materiellen Gehalts von Kompetenznormen nicht aufzuspalten. 15 Vgl. Bleckmann, DÖV 1983, 129ff.; Scheuner, W D S t R L 11 (1954), 23; BVerfGE 53, 30 (56). Dagegen Hamann / Lenz, Vorbem. vor Art. 1 Anm. 8 m.w.N.
18 Murswiek
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§18 Sonstige Schranken der Schutzbefugnisse
einschränkung nicht funktionieren, ein in der Kompetenznorm implizit gebilligter Gegenstand anders nicht existieren könnte, läßt sich aus der Zulässigkeit der Einrichtung, aus der Billigung des Gegenstandes, die Zulässigkeit der dafür nötigen Grundrechtseinschränkungen ableiten, aber - wie gesagt - nur der zwingend notwendigen Grundrechtseinschränkungen. Art. 74 Nr. I I a GG wird oft im Sinne einer Entscheidung für die prinzipielle Zulässigkeit der friedlichen Nutzung der Kernenergie verstanden. 16 Wenn auch der Gesetzgeber nicht verpflichtet sei, die Kernenergienutzung zu gestatten, so folge aus Art. 74 Nr. I I a GG jedenfalls, daß er sie gestatten dürfe. Die Zulassung des Baus und Betriebs von Kernenergieanlagen und der dazu notwendigen Entsorgungseinrichtungen sei in dieser Bestimmung vorgesehen und könne deshalb jedenfalls dann nicht wegen Verstoßes gegen Grundrechte Dritter verfassungswidrig sein, wenn die dabei auftretenden Risiken so gering wie möglich gehalten würden. Aus der Entscheidung für die Zulässigkeit der Kernenergie folge, daß das Grundgesetz die dabei unvermeidbaren Risiken in Kauf nehme. 17 Insofern enthalte Art. 74 Nr. I I a GG eine authentische Interpretation dessen, welche Lebens- und Gesundheitsrisiken der Staat nach Art. 2 I I GG nicht verhüten müsse beziehungsweise wie weit die Grundrechte des Art. 2 I I GG eingeschränkt werden dürften. Das Bundesverfassungsgericht hat im Mühlheim-Kärlich-Beschluß ähnlich argumentiert: Die Verfassung selbst habe die „Nutzimg der Kernenergie zu friedlichen Zwecken" durch die Kompetenzvorschrift des Art. 74 Nr. I I a GG „ i m Grundsatz als zulässig gebilligt". Auch aus Kompetenzvorschriften der Verfassung folge „eine grundsätzliche Anerkennung und Billigung des darin behandelten Gegenstandes durch die Verfassung selbst", und dessen Verfassungsmäßigkeit könne „nicht aufgrund anderer Verfassungsbestimmungen grundsätzlich in Frage gestellt werden". 1 8 Dieses „grundsätzlich" schränkt die Aussage des Bundesverfassungsgerichts erheblich ein. Man mag aus Art. 74 Nr. I I a GG folgern, daß gewisse unvermeidliche Risiken in Kauf genommen werden dürfen, ja sogar unter Umständen technisch vermeidbare Risiken, die aber nur zu wirtschaftlich unvertretbaren Bedingungen vermieden werden können - wenn anders die friedliche Nutzung der Kernenergie nicht realisierbar ist. Aber das wäre zunächst nur eine Bestätigung des Art. 2 I I GG, der in Satz 3 das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit unter Gesetzesvorbehalt stellt und keineswegs den Ausschluß jedes Lebens- oder Gesundheitsrisikos verlangt. 16 Vgl. VG Würzburg, NJW 1977, 1649 m.w.N.; Fürst, ET 1981, 66f.; Wagner, in: Wagner / Ziegler / Closs, Risikoaspekte, S. 95, 175f.; Bleckmann, DÖV 1983, 130; Stober, ET 1983, 590f.; Ronellenfitsch, Das atomrechtliche Genehmigungsverfahren, S. 350; a.A. Baumann, BayVBl, 1982, 294. 17 So besonders deutlich Bleckmann, DÖV 1983, 130. 18 BVerfGE 53, 30 (56).
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Um dies zu begründen, bräuchte man den „materiellen Gehalt" der Kompetenzvorschrift nicht zu bemühen. Fraglich ist nur, ob Art. 74 Nr. I I a GG auch solche Risiken zulässig macht, die so groß sind, daß ohne diese Bestimmung die gesetzliche Erlaubnis ihrer Verursachimg verfassungswidrig wäre, weil sie Art. 2 I I GG in unzumutbarer Weise einschränkte. Wer dies bejaht 1 9 , hat Art. 74 Nr. I I a GG nicht zu Ende gelesen: Die hier geregelte Kompetenz bezieht sich nicht nur auf die Zulassung der Kernenergie, sondern auch auf die Gefahrenabwehr in diesem Bereich. Dies deutet darauf hin, daß die Kernenergienutzung keinesfalls um jeden Preis zugelassen werden soll. Art. 74 Nr. I I a verliert nicht seine Funktion und gerät nicht einmal in Widerspruch zu einer „grundsätzlichen" Billigung der Kernenergienutzung, wenn man ihn nicht als zusätzliche Grundrechtsschranke interpretiert. Wenn sich ein „materieller Gehalt" aus Art. 74 Nr. I I a GG herausdestillieren läßt, dann nicht der, daß das Grundgesetz die Kernenergienutzung unabhängig von der Größe der damit notwendigerweise verbundenen Risiken zuläßt, sondern der, daß das Grundgesetz eine hinreichend sichere Nutzung der Kernenergie zuläßt. Was i m Sinne der Verfassung hinreichend sicher ist, folgt aber nicht aus Art. 74 Nr. I I a , sondern aus den Grundrechten der potentiellen Opfer, vor allem aus Art. 2 II. Ergibt sich aus dieser Bestimmung, daß das erlaubte Risiko, dem der einzelne ausgesetzt wird, das subjektive Individualrisiko, die Gefahrenschwelle nicht überschreiten darf, so hat das gem. Art. 74 Nr. I I a ergehende Gesetz zu gewährleisten, daß dieses grundrechtliche Gebot erfüllt wird. Für den Fall, daß der grundrechtlich gebotene Sicherheitsstandard technisch nicht realisierbar ist, darf das Gesetz die Genehmigung des Projekts nicht gestatten. 20 Läßt sich somit Art. 74 Nr. I I a GG zur Begründung ansonsten unzulässiger Grundrechtseinschränkungen nicht heranziehen, so gilt dasselbe für Kompetenznormen, die andere Bereiche der Technik umfassen, erst recht. Ob man den „Straßenverkehr", die „Industrie", den „Luftverkehr" oder irgend einen anderen der in Betracht kommenden Gegenstände nimmt: Es gibt keinen, dessen Existenz unmöglich wäre, ohne derart große Risiken zu verursachen, daß man die gesetzliche Erlaubnis dieser Risiken ohne Berücksichtigung der Kompetenznorm als Grundrechtsverletzung ansehen müßte. Selbst wenn man annimmt, daß die jeweiligen Kompetenznormen die Existenz ihrer Gegenstände als „grundsätzlich zulässig" billigen, läßt sich also aus ihnen kein Argument dafür gewinnen, daß zugunsten der Existenz von „Straßenverkehr", „Industrie" usw. technische Risiken erlaubt werden dürften, die der Gesetzgeber aufgrund seiner Schutzpflicht anderenfalls zu verbieten hätte. 19
So Bleckmann, DÖV 1983, 130. Diesen Anforderungen entspricht nach Ansicht des BVerfG das AtG, vgl. BVerfGE 49, 89 (140f.). 20
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§ 19 Resümee: Schutzpflichten und politische Verantwortung
§ 19 Resümee: Der Umfang der verfassungsrechtlichen Schutzpflichten und die politische Verantwortung des Gesetzgebers für technische Risiken A. Zusammenfassende Thesen zum Zweiten Teil v
I. Begründung der Schutzpflichten
1. Für Eingriffe Privater in grundrechtliche Schutzgüter Dritter ist der Staat insofern verantwortlich, als er die Eingriffe zuläßt und den Dritten zur Duldung dieser Eingriffe verpflichtet. Die mit der ausdrücklichen oder stillschweigenden Eingriffsermächtigung dem Betroffenen implizit auferlegte Duldungspflicht schränkt die betroffenen Grundrechte ein. Entspricht diese Einschränkung nicht den Einschränkungsvoraussetzungeh des Grundgesetzes, liegt eine Grundrechtsverletzimg vor. 2. Der Staat ist also verpflichtet, Eingriffe Dritter in grundrechtliche Schutzgüter zu verbieten, sofern sich die Ermächtigung zu solchen Eingriffen nicht aufgrund der verfassungsrechtlichen Eingriffsvoraussetzungen rechtfertigen läßt (primäre Schutzpflicht). Er kann sich der Zurechnung erlaubter privater Eingriffe nicht dadurch entziehen, daß er die Pflicht zur Duldung aufhebt: Dies wäre die Aufhebung der Rechtsordnung. Die Pflicht des Gesetzgebers, private Gewaltanwendung mit Ausnahme des Notrechts generell zu verbieten, ist Verfassungsvoraussetzung. 3. Denselben Rechtsgrund haben die sekundären Schutzpflichten, die der Durchsetzung des Eingriffsverbots dienen. 4. Nur auf der Stufe der sekundären Schutzpflichten gibt es einen Gestaltungs- oder Ermessensspielraum hinsichtlich der Art und Weise des Schutzes, der Wahl des Mittels. Das Ermessen kann aber auf N u l l reduziert sein, wenn nur ein bestimmtes Mittel zur Verfügung steht oder ohne Einsatz eines bestimmten Mittels effektiver Schutz nicht möglich ist. 5. Die Schutzpflichten als Gewährleistungspflichten folgen - auf der Basis des allgemeinen Gewaltverbots - aus der Abwehrfunktion der Grundrechte. Es handelt sich nicht um sozialstaatliche Leistungspflichten. 6. Leistungspflichten, abgeleitet aus notwendigen Verfassungsvoraussetzungen oder - mit verminderter rechtsstaatlicher Stringenz - aus dem Sozialstaatsprinzip, können hinzukommen, wo es um die Sicherung von tatsächlichen Voraussetzungen der Grundrechtsausübung geht, etwa um die Sicherung der Ernährung als notwendige Basis des „Existenzminimums".
Α. Zusammenfassende Thesen zum Zweiten Teil
IL Schutzpflichten
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gegenüber Risiken
7. Grundrechtliche Schutzgüter sind nicht nur gegen finale Eingriffe geschützt, sondern auch gegen ungezielte Beeinträchtigungen. Dies ist i m Entschädigungsrecht längst anerkannt. Die Anerkennung des Grundrechtsschutzes gegen Risiken in der neueren Rechtsprechung ist die Konsequenz hieraus. 8. Eine Ableitung der Pflicht zum Schutz vor Risiken aus der „objektiven Funktion" der Grundrechte ist nicht nötig, wenn man erkennt, daß Sicherheit, also die Freiheit von Risiken, nichts anderes ist als die Freiheit von nichtfinalen Eingriffen. Diese Freiheit ist Gewährleistungsbestandteil des jeweiligen Grundrechts. 9. Daher läßt sich das Problem des Schutzes vor Risiken mit der klassischen rechtsstaatlichen Grundrechtsdogmatik bewältigen: Das Risiko ist Eingriff in das betroffene Grundrecht, genauer: in die Sicherheit des grundrechtlichen Schutzgutes. Von tatsächlichen, also mit Gewißheit zu erwartenden Beeinträchtigungen des Schutzgutes (wie beim finalen Eingriff) oder von bereits eingetretenen Beeinträchtigungen unterscheidet sich das Risiko durch die verminderte Intensität des Eingriffs. Diese w i r k t sich über das Verhältnismäßigkeitsprinzip dahingehend aus, daß Freiheitseinschränkungen zur Risikoabwehr weniger weit gehen dürfen als Freiheitseinschränkungen zur Vermeidung gezielter Verletzungen des jeweils betroffenen Rechtsgutes. 10. Freiheit und Sicherheit verhalten sich komplementär: Das eine ist nur auf Kosten des anderen zu haben. Das Grundgesetz läßt weder „absolute Freiheit" noch „absolute Sicherheit" zu. Der Gesetzgeber ist gehalten, einen möglichst schonenden Ausgleich zwischen der Handlungsfreiheit des einen und der Sicherheit des anderen herzustellen. 11. Dieser Ausgleich w i r d im deutschen Recht traditionell durch den Begriff der Gefahr vermittelt. Der relationale Gefahrenbegriff, der die zulässige Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts von Art und Ausmaß des potentiellen Schadens abhängig macht, trägt dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz in doppelter Hinsicht Rechnung: Zum einen w i r d die grundrechtliche Mindestposition, die Zumutbarkeitsgrenze auf Seiten des potentiellen Opfers nicht berührt; zum anderen wird die Handlungsfreiheit des Risikoverursachers nicht unverhältnismäßig eingeschränkt. 12. Die Freiheit von Gefahren ist die grundrechtliche Mindestposition des Betroffenen gegenüber der Freiheit zur Beliebigkeit. 13. Es gibt aber keine ausnahmslos geltende Pflicht zum Schutz vor Gefahren. Der einzelne kann auch zur Gefahrtragung verpflichtet werden, aber nicht im Interesse privater Freiheitlichkeit, sondern nur im Interesse
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§ 19 Resümee: Schutzpflichten und politische Verantwortung
besonderer Gemeinwohlziele. Diese Einschränkung der Sicherheit hat - wie jede „Grundrechtseinschränkung" - den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu beachten. Die Auferlegung von Lebens- oder Gesundheitsgefahren für den einzelnen (als „subjektive Individualgefahr") kommt deshalb nur in Ausnahmelagen („Notrechtsargument") in Betracht. 14. Soweit der Umfang der („objektiven") staatlichen Schutzpflicht sich aus den Grundrechten ergibt, kommt es auf die Größe des objektiven Individualrisikos an, also auf die Wahrscheinlichkeit, daß irgendein einzelner durch ein bestimmtes Risiko zu Schaden kommt. Die Zumutbarkeitsgrenze kann sich dagegen nur aus dem subjektiven Individualrisiko, d.h. aus der SchädigungsWahrscheinlichkeit für ein bestimmtes Individuum ergeben. Die Zulassung objektiver Individualgefahren läßt sich zwar nicht durch das Freiheitsprinzip, sondern nur durch besondere Gemeinwohlziele rechtfertigen. Soweit aber subjektive Individualgefahren nicht entstehen, w i r d eine solche Rechtfertigung oft ohne weiteres möglich sein durch öffentliche Ziele wie wirtschaftliche Prosperität. 15. Auch das Kollektivrisiko - die Größe des potentiellen Gesamtschadens der zu beurteilenden Risikoquelle - ist grundsätzlich zu berücksichtigen. Dies gebietet die Pflicht zum Schutz des Volkes und des Gemeinwesens i m ganzen sowie auch der Gleichheitssatz: gleich große Risiken - gleich intensive Vermeidungspflichten. 16. Gefahren, die vermeidbar sind, müssen in jedem Fall vermieden werden (Grundsatz der Erforderlichkeit). Sofern die Gefahr durch ein Gemeinwohlziel gerechtfertigt ist, kann die Erforderlichkeit nicht allein unter dem Aspekt der technischen Realisierbarkeit größerer Sicherheit beurteilt werden; gerechtfertigt ist das Risiko auch dann noch, wenn anders unter w i r t schaftlichen Aspekten die Erreichung des Gemeinwohlziels nicht möglich ist. 17. Das Prinzip des geringstmöglichen Eingriffs zwingt auch zur Verminderung zunächst erlaubter Gefahren bei Verbesserung des Standes der Sicherheitstechnik zum „dynamischen Rechtsgüterschutz". 18. Hinsichtlich der Bewertung der Schadenspotentiale zur Konkretisierung der Schutzpflicht hat der Gesetzgeber einen weiten Bewertungsspielraum. 19. Das Ingerenzfolgenrisiko weist gegenüber dem Ingerenzverursachungsrisiko die Besonderheit auf, daß es Folge einer tatsächlichen Einwirkung auf das Schutzgut ist. Diese ist bei der Beurteilung der Intensität des Eingriffs zu berücksichtigen. 20. Die Pflicht zum Schutz vor Risiken erstreckt sich auch auf „Langzeitrisiken": Künftig eintretende Folgen heutigen Verhaltens sind prinzipiell ohne zeitliche Grenze zu berücksichtigen.
Α. Zusammenfassende Thesen zum Zweiten Teil
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III. Subjektiver Schutzanspruch 21. Den staatlichen Schutzpflichten entspricht ein subjektiver Schutzanspruch, wenn der einzelne subjektiv betroffen ist.
IV. Grenzen der Schutzbefugnisse 22. Grenzen der staatlichen Schutzbefugnisse ergeben sich vor allem aus den Grundrechten des Risikoverursachers, daneben aus sonstigen verfassungsrechtlichen Pflichten. 23. Die nicht konsentierte Einwirkimg auf grundrechtliche Schutzgüter Dritter (Ingerenz) kann i n der Regel ohne Verstoß gegen Grundrechte des Eingreifenden verboten werden. Dieses Verbot ist durch die allgemeine Nichtstörungsschranke nur dann nicht gedeckt, wenn die Unschädlichkeit der Ingerenz erwiesen ist und wenn sie auch keine Belästigung darstellt, oder wenn es sich um nicht-industrielle Ingerenzen handelt, die sozial üblich und im Rahmen eines normalen Zusammenlebens in einer freiheitlichen Gesellschaft unvermeidbar sind. Über dieses unantastbare Minimum hinaus kann der Gesetzgeber Ingerenzen zulassen, soweit dadurch die grundrechtlichen Schutzgüter Dritter nicht unverhältnismäßig beeinträchtigt werden. 24. Was Risiken angeht, so rechtfertigt die Freiheit, insbesondere die Berufsfreiheit und die Freiheit der wirtschaftlichen Betätigung, zwar Sicherheitseinschränkungen bis hin zur Gefahrenschwelle. Die Gefahrenschwelle bezeichnet aber in der Regel nicht die grundrechtliche Mindestposition des Risikoverursachers. Der Gesetzgeber kann für besondere Risikoarten verschärfte Sicherheitsstandards vorschreiben und auch zur Risikominimierung unterhalb der Gefahrenschwelle verpflichten. Die Grenze der Schutzbefugnisse, die sich aus der grundrechtlichen Mindestposition des Risikoverursachers ergibt, läßt sich nicht generell bestimmen. Sie ist für konkrete Risiken anhand des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zu ermitteln. 25. Die allgemeine Pflicht zur Vermeidung von Gefahren ist immer verhältnismäßig. Bei der Konkretisierung dieser Pflicht kommt es auf w i r t schaftliche Gesichtspunkte, insbesondere auf die wirtschaftliche Realisierbarkeit des Projekts oder auf den Aufwand für die erforderlichen Sicherheitsvorkehrungen ebensowenig an wie auf die technische Realisierbarkeit der gebotenen Sicherheit. Gegebenenfalls kann das Projekt untersagt werden. Eine Ausnahme kommt allenfalls unter Bestandsschutzgesichtspunkten in Betracht, wenn die Gefährdung Dritter aus staatlicher Planänderung resultiert und der Plan noch nicht verwirklicht ist.
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26. Verpflichtet das Gesetz zur Risikominimierung unterhalb der Gefahrenschwelle, so ist sowohl die wirtschaftliche Realisierbarkeit des Projekts im ganzen als auch das Verhältnis von Kosten und Sicherheitsgewinn einzelner Sicherheitsvorkehrungen bei der Konkretisierung der gebotenen Sicherheit zu beachten. 27. „Besitzstände" genießen gegenüber der Verschärfung rechtlicher Sicherheitsanforderungen nur begrenzten grundrechtlichen Schutz: Der Gesetzgeber hat für eine zumutbare Anpassung von Besitzständen an das neue Recht zu sorgen. Unzumutbar ist eine sofortige Anwendung des neuen Rechts dann, wenn dadurch die berufliche Existenzgrundlage des Risikoverursachers zerstört würde oder wenn Investitionen, die sich noch nicht amortisiert haben, entwertet würden. Die Zumutbarkeit der Anpassung kann beispielsweise durch zeitlich begrenzte Übergangsregelungen oder durch eine kompensatorische Enteignungsentschädigung hergestellt werden. Zu kompensieren ist dabei nicht etwa der volle Besitzstandsverlust, sondern nur diejenige Belastung, die über die Grenze der von allen zu tragenden Sozialpflichtigkeit des Eigentums hinausgeht. B. Folgerungen hinsichtlich der politischen Verantwortung des Gesetzgebers
I. Das Grundgesetz enthält keine „Technikverfassung", keine materiellen Sonderregelungen über die rechtliche Zulässigkeit der Technik oder ihrer Risiken - weder zu Lasten noch zu Gunsten der Technik. Der Umfang der staatlichen Schutzpflichten gegenüber technischen Risiken mußte aus dem allgemein geltenden Verfassungsrecht entwickelt werden, die Grenzen der Schutzbefugnisse ebenso. Doch ist es vor allem die moderne Technik mit ihren außerordentlich großen Risiken gewesen, die die hier erörterten Fragen erst zum rechtlichen Problem gemacht hat. Das Besondere an der modernen Technik sind nicht die verfassungsrechtlichen Regeln, än denen sie juristisch zu beurteilen ist, sondern die faktischen Probleme, die sie aufwirft und die einer rechtlichen Lösimg bedürfen. Wegen der Neuartigkeit dieser Probleme - auch wenn sie oft nur Neuartigkeit des Problembewußtseins ist - hat wohl kein anderes Phänomen in letzter Zeit anregender auf die Entwicklung der verfassungsrechtlichen Dogmatik gewirkt als die Technik. Probleme der Großtechnik waren es, die die Entwicklung der Rechtsfigur der „Schutzpflichten" vorangetrieben haben, und ohne die Technik wären heute „Sicherheit" und „Risiko" kaum Themen der Grundrechtsdogmatik. Die Risiken der Kernenergieerzeugung haben die rechtliche Diskussion in besonderem Maße angeregt. Auch diese „Vorreiterrolle" der Kerntechnik 1 resultiert aus faktischen Besonderheiten dieser Technik, insbesondere aus ι Wagner, DÖV 1980, 270.
Β. Folgerungen hinsichtlich der politischen Verantwortung
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dem im Vergleich zu anderen Technologien unvergleichlich großen Gefährdungspotential, dem Umstand, daß man gezwungen war, über die technische Bewältigung und rechtliche Bewertung der Risiken nachzudenken, bevor praktische Erfahrungen vorlagen, sowie aus den Langzeitrisiken des Atommülls. Eine verfassungsrechtliche Sonderstellung der Kerntechnik dagegen gibt es nicht. 2 Die Verfassung enthält für die Kerntechnik keine anderen Sicherheitspostulate als für alle anderen menschlichen Betätigungen. Die Größe des verfassungsrechtlich zulässigen Risikos ist hier nicht geringer als die Größe anderer verfassungsrechtlich zulässiger Risiken. Wenn dennoch aus dem Grundgesetz folgt, daß die Wahrscheinlichkeit eines Kernschmelzunfalls in einem Kernkraftwerk um ein Vielfaches geringer sein muß als - sagen wir - die Wahrscheinlichkeit des Versagens einer Autobremse, so allein deshalb, weil der potentielle Schaden des Reaktorunfalls um ein Vielfaches größer ist. Der verfassungsrechtliche Maßstab, der die zulässige Eintrittswahrscheinlichkeit von der Größe des Schadenspotentials abhängig macht, ist in beiden Fällen derselbe. Die in der rechtlichen Diskussion über die Nutzung der Kernenergie in Rechtsprechung und Literatur aufgestellten Behauptungen verfassungsrechtlicher Sicherheitsanforderungen müssen sich deshalb auf ihre Verallgemeinerungsfähigkeit testen lassen.3 II. Dabei erweist sich, daß die staatlichen Schutzpflichten längst nicht so weit reichen, wie dies in der atomrechtlichen Diskussion gelegentlich behauptet wurde. 1. Der vom Bundesverfassungsgericht für Atomkraftwerke postulierte „Grundsatz der bestmöglichen Gefahrenabwehr und Risikovorsorge" 4 läßt sich nicht aus den verfassungsrechtlichen Schutzpflichten ableiten. 5 Das Grundgesetz verlangt zwar - mit der noch aufzuzeigenden Einschränkung die bestmögliche Gefahrenabwehr. Risikovorsorge unterhalb der Gefahrenschwelle ist dagegen nicht verfassungsrechtlich geboten. 2. Das Bundesverfassungsgericht hat das „als sozialadäquate Last von allen Bürgern zu tragende" atomare Restrisiko mit der „Schwelle der praktischen Vernunft" bezeichnet: Die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts müsse „praktisch" ausgeschlossen sein.6 Auch hierbei handelt es sich nicht 2 So auch Wagner, DÖV 1980, 270; ders., in: Wagner / Ziegler / Closs, Risikoaspekte, S. 101. Anders Hartkopf, Bulletin v. 11.10. 79 Nr. 122, S. 1141 = 6. Deutsches Atomrechts-Symposium, S. 20; hinsichtlich des Versagungsermessens auch BVerfGE 49, 89 (146). 3 Verfassungsrechtlich gesehen hat in der juristischen Auseinandersetzung um die Kernenergie diese eine „Stellvertreterrolle" - Wagner, DÖV 1980, 270 - f ü r alle anderen Technologien, ja für jede Risikoverursachung überhaupt gespielt. 4 BVerfGE 49, 89 (139) - Kalkar; 53, 30 (58f.) - Mülheim-Kärlich. 5 So aber wohl Benda, in: Technische Risiken und Recht, S. 6; Ossenbühl, DÖV 1981, 4, hält diesen Grundsatz für „jedenfalls zum Teil verfassungskräftig". Dagegen VGH Mannheim, ESVGH 32, 161 (190). 6 BVerfGE 49, 89 (143).
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etwa um eine verallgemeinerungsfähige Bestimmung des verfassungsrechtlich zulässigen Restrisikos. Vielmehr ist diese äußerst niedrige Festlegung der Restrisikogrenze die notwendige Konsequenz des außerordentlich hohen Schadenspotentials eines Kernkraftwerks. Ist der mögliche Schaden, den eine Risikoquelle herbeiführen kann, wesentlich geringer, dann ist das verfassungsrechtlich tolerable Restrisiko größer, und zwar auch dann, wenn es sich um Lebensrisiken handelt. 7 3. Von Verfassungs wegen ist nicht einmal die Abwehr von Gefahren kategorisch geboten. Der Gesetzgeber kann auch die Verursachung von Gefahren gestatten, wenn sich dies durch entsprechend gewichtige Gründe des Gemeinwohls rechtfertigen läßt. Mit dieser Feststellung wird an einem Dogma gerüttelt, das nahezu unangefochtenes publizistisches Gemeingut ist und selbst von äußerst technikfreundlichen Autoren unterstützt wird. 8 Die hier vertretene These bezieht sich freilich nur auf das von der zu beurteilenden Risikoquelle ausgehende Risiko; demgegenüber ist die Gestattung der Verursachimg eines Risikos, das für das potentielle Opfer die Gefahrenschwelle überschreitet (subjektives Individualrisiko), grundsätzlich unzulässig. 4. Die Verletzung von Verfahrensvorschriften im Genehmigungsverfahren führt nur dann zur Verletzung der durch das zu genehmigende technische System gefährdeten Grundrechte, wenn die Verfahrensnorm nicht nur „grundrechtsschützende Funktion" hat, sondern ihr Erlaß auch durch die grundrechtliche Schutzpflicht geboten war. Testfrage: Würde die ersatzlose Streichung der Norm gegen ein Grundrecht verstoßen? III. Trotz dieser erheblichen Abstriche an weithin verbreiteten verfassungsrechtlichen Postulaten zur technischen Sicherheit hat sich gezeigt, daß in anderer Hinsicht die Befugnisse und Pflichten zum Schutz vor technischen Risiken weniger engen Schranken unterliegt als oft angenommen wird. 7 Anders Hansmann, DVB1. 1981, 899, 900, und offenbar VGH München, DVBl. 1979, 673 (675), der zwar - m.E. unzutreffend, s.o. § 14 Β. II; dazu unten III. 6. - die Kontrolle der atomrechtlichen Genehmigung darauf beschränkt, ob dem Betrieb des Kernkraftwerks für den Kläger eine subjektive Individualgefahr droht, andererseits aber den „praktischen Ausschluß" eines nuklearen Schadensereignisses wëgen der Bedrohung von Leben und Gesundheit fordert. Wäre es richtig, daß eine Gefahr für Leben und Gesundheit des betroffenen einzelnen nur dann ausgeschlossen ist, wenn der Eintritt des Unfalls nicht nur unwahrscheinlich, sondern „praktisch ausgeschlossen" ist, dann dürfte man etwa für einen Gasbadeofen nur die gleich geringe Wahrscheinlichkeit eines Explosionsunfalls zulassen wie für ein Kernkraftwerk. 8 Allerdings ist nicht bei allen Autoren klar, ob sich das „absolute und kategorische" Gebot der Gefahrenabwehr aus der Verfassung oder nur aus dem einfachen Recht ergeben soll, vgl. beispielsweise Breuer, DVBl. 1978, 837; ders., WiVerw. 1981, 224; Marburger, in: Bitburger Gespräche, Jb. 1981, S. 45; Ronellenfitsch, Das atomrechtliche Genehmigungsverfahren, S. 255 u. pass.; Hofmann, Rechtsfragen, S. 333; Wagner, NJW 1980, 670.
Β. Folgerungen hinsichtlich der politischen Verantwortung
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1. Die Verursachung von Gefahren sowie von Ingerenzen, deren Unschädlichkeit nicht erwiesen ist oder die zumindest belästigend wirken, ist rechtfertigungsbedürftig. Da das Interesse an privatwirtschaftlicher Betätigung und Gewinnerzielung oder an sonstiger privater Freiheitsausübung zur Rechtfertigimg dieser Ingerenzen und von Risiken oberhalb der Gefahrenschwelle nicht ausreicht, ist die (wirtschaftliche) Betätigung, die solche Folgen mit sich bringt, genauer: ist die Verursachung solcher Folgen zu untersagen, sofern sie sich nicht durch Gründe des Gemeinwohls rechtfertigen läßt. Öffentliche Ziele, wie etwa Wohlstandsvorsorge, wirtschaftliche Prosperität, Sicherung der Energieversorgung, Aufrechterhaltung und Verbesserung moderner Verkehrsverbindungen, internationale wirtschaftliche Selbstbehauptung des Gemeinwesens, Verteidigungsfähigkeit, können zwar die Zulassung von Gefahren 9 rechtfertigen, aber diese Rechtfertigung ist eine öffentliche Rechtfertigung. Der Risikoverursacher kann sie nicht wie gelegentlich angenommen w i r d 1 0 - als eigene subjektive Rechtsposition geltend machen. Eine „Güterabwägung" zwischen der Sicherheit gegenüber technischen Risiken auf der einen und öffentlichen Zielen, deren Verwirklichung technische Risiken mit sich bringt, auf der anderen Seite hat also nicht überall dort stattzufinden, wo ein privater Unternehmer ein Projekt betreibt, das neben seinem Profitinteresse auch objektiv öffentlichen Interessen dient. 1 1 Sie hat nur dort stattzufinden, wo das Gesetz die Inkaufnahme von Gefahren zu einem zumindest implizit erkennbaren öffentlichen Zweck zuläßt: Darüber zu entscheiden, welche öffentlichen Ziele anzustreben und wie große Gefahren dabei in Kauf zu nehmen sind, ist Sache des Gesetzgebers. Nur in Grenzfällen sind die Ziele von der Verfassung zwingend vorgegeben. 12 Entsprechendes gilt für die Verwaltung, wenn der Gesetzgeber zur Verfolgung bestimmter öffentlicher Ziele unter Inkaufnahme von Gefahren die Verwaltung nicht verpflichtet, sondern ermächtigt: Auch in diesem Fall hat der Unternehmer keinen subjektiven Anspruch darauf, daß die Behörde das öffentliche Ziel anstrebt und ihm zu diesem Zweck die Verursachung der dabei unvermeidlichen Gefahren gestattet. Die Zulassung jeder Technologie, die Gefahren oder Ingerenzen der genannten Art verursacht und auf diese Weise „weit über ... (des Betreibers) eigene Rechtssphäre" hinausw i r k t 1 3 , hat insofern Konzessionscharakter. 9
Oberhalb der Schwelle der subjektiven Individualgefahr, die nur mit dem Notrechtsargument als ultima ratio unterschritten werden darf. 10 Vgl. Wagner, in: Wagner / Ziegler / Closs, Risikoaspekte, S. 133 ff. Zutreffend dagegen VGH Mannheim, DVB1. 1976, 538 (546); Leisner, DÖV 1970, 217ff.; Selmer, in: Emmerich / Lukes, Die Sicherheit der Energieversorgimg, S. 13; Roßnagel, Grundrechte und Kernkraftwerke, S. 60 m.w.N. 11 A.A. offenbar Marburger, Bitburger Gespräche, Jb. 1981, S. 45; ders., WiVerw. 1981, 249; Wagner, in: Wagner / Ziegler / Closs, Risikoaspekte, S. 131 ff. 12 Und auch dann ist kein grundrechtlicher Anspruch des Unternehmers gegeben, sondern nur eine Verpflichtung des Gesetzgebers, da die verfassungsrechtliche Pflicht nicht unbedingt durch Einsatz privatwirtschaftlicher Mittel erfüllt werden muß.
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2. Soweit der Gesetzgeber ohne Verstoß gegen Grundrechte die Verursachung von Risiken ab einer bestimmten Größe oder gar generell die Nutzung einer bestimmten Technologie ganz verbieten kann, wie das Bundesverfassungsgericht dies für die Kernenergietechnik angenommen hat 1 4 , muß es ihm auch möglich sein, als minus zu dem vorbehaltlosen Verbot ein repressives Verbot mit Befreiungsvorbehalt zu erlassen, also der Genehmigungsbehörde ein - pflichtgemäßes - Versagungsermessen einzuräumen. 15 Die vom Bundesverfassungsgericht in ständiger Rechtsprechimg vertretene Ansicht, daß der Gesetzgeber den Umfang der Grundrechtseinschränkung selbst bestimmen müsse und der Verwaltung deshalb beim Verbot mit Erlaubnisvorbehalt kein Versagungsermessen einräumen dürfe 16 , steht dem nicht entgegen, denn hier hat der Gesetzgeber die Grundrechtseinschränkung durch das repressive Verbot ohne Verstoß gegen das Verhältnismäßigkeitsprinzip generell festgelegt. Die Versagung der Genehmigung ist bei einer solchen Regelung keine zusätzliche Freiheitseinschränkung; die Erteilung der Erlaubnis ist vielmehr eine Freiheitserweiterung, auf die kein grundrechtlicher Anspruch besteht. 17 Das repressive Verbot der Anwendung eines technischen Systems kommt ohne Verstoß gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz nur dort in Betracht, wo die (potentiellen) negativen Folgen so gravierend sind, daß die Belastung Dritter oder der Allgemeinheit mit diesen Folgen nicht mit den Privatinteressen des Unternehmers, sondern nur damit gerechtfertigt werden kann, daß das Projekt im öffentlichen Interesse notwendig ist. Die Entscheidung darüber, ob und wie diese öffentlichen Interessen verfolgt werden, ist - wenn nicht ausnahmsweise eine entsprechende Verpflichtung aus der Verfassung ableitbar ist - eine politische Entscheidung, die zu treffen den zuständigen Staatsorganen obliegt. Ob ein öffentliches Interesse an zusätzlicher Energieversorgung, an weiteren oder größeren Verkehrsflughäfen besteht, entscheidet jedenfalls nicht der private Energiewirtschafts- oder Luftverkehrsunternehmer, und es ist schlechthin unzutreffend, die Grundrechte des Unternehmers, des Risikoverursachers, dafür zu „aktivieren", daß der Staat eine expansive Energie-, Verkehrsoder sonstige Technologiepolitik zu betreiben habe oder keine restriktive Politik betreiben dürfe. Freilich ist es dem Gesetzgeber unbenommen, die Verursachung nur durch öffentliche Interessen rechtfertigungsfähiger Risi-
13
Sondervotum Simon / Heußner, BVerfGE 53, 69 (75). 14 BVerfGE 49, 89 (127ff.); 53, 30 (56). 15 Vgl. Reinhard Mußgnug, Der Dispens von gesetzlichen Vorschriften, Heidelberg 1964, S. 90 mit Fn. 95; Ossenbühl, DÖV 1968, 625; a. A. Friauf, JuS 1962, 425f. 16 BVerfGE 8, 71 (76); 20, 150 (158); 34, 165 (200); 41, 378 (399); 46, 120 (157); 50, 256 (263). Ebenso die h.M. in der Lit., vgl. Friauf, JuS 1962, 424 m.w.N. 17 Vgl. BVerfGE 9, 338 (353f.); Ossenbühl, DÖV 1968, 625; Schwabe, JuS 1973,135, der zu Recht betont, daß ein Versagungsermessen nur dort grundrechtswidrig ist, wo ein Verbot ohne Ausnahmeregelung das betroffene Grundrecht im Einzelfall unverhältnismäßig einschränkte. A.A. Friauf, JuS 1962, 425, aber ebd. 426.
Β. F o l g e n g e n hinsichtlich der politischen Verantwortung
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ken generell zuzulassen oder lediglich unter ein präventives Verbot mit Erlaubnisvorbehalt zu stellen, also dem Unternehmer einen Anspruch auf Genehmigung einzuräumen 18 , so nach h.M. §§ 4, 6 BImSchG. Einer solchen Regelung muß zumindest implizit eine generelle Entscheidung über die öffentlichen Interessen zugrunde liegen, die das generell erlaubte Risiko rechtfertigen, etwa die Entscheidung, daß ein öffentliches Interesse an bedarfsgerechter Energieproduktion bestehe, wobei der Bedarf sich aus den Entwicklungen des Marktes ergebe. Der Gesetzgeber ist aber nicht verpflichtet, die Entscheidung über den anzustrebenden öffentlichen Zweck in genereller Weise selbst zu treffen. Er kann die Entscheidung auch der Exekutive überlassen, sofern es sich nicht um die „wesentliche" Zielbestimmung im Sinne der vom Bundesverfassungsgericht zum Gesetzesvorbehalt entwickelten „Wesentlichkeitstheorie" 19 handelt. Diese Entscheidung ist kein Eingriff in die Freiheit des Unternehmers. Sofern also die Grundrechte dem repressiven Verbot einer Tätigkeit nicht entgegenstehen, durch die Zulassimg dieser Tätigkeit aber öffentliche Zwecke verfolgt werden 20 , steht dem Gesetzgeber bei seiner „Grundsatzentscheidung für oder gegen die rechtliche Zulässigkeit" dieser Tätigkeit 2 1 auch die Möglichkeit offen, der Verwaltung mit dem Versagungsermessen ein Instrument zur Wirtschaftslenkung im öffentlichen Interesse zur Verfügung zu stellen. 22 3. Wird zu öffentlichen Zwecken die Verursachung von Gefahren gestattet, so ist gemäß dem Grundsatz der Erforderlichkeit die Gefahr so klein wie möglich zu halten. 23 4. Den Satz, daß die bei der Verwirklichung eines technischen Projekts unvermeidbaren Risiken in jedem Fall akzeptiert werden müssen 24 , enthält 18 Bei einer solchen Regelung verstößt ein behördliches Verbot, das sich nicht auf die gesetzlichen Verbotsvoraussetzungen stützt, gegen das Grundrecht des Unternehmers aus Art. 12 GG, denn gegenüber der Exekutive schützen die Grundrechte jede nicht verbotene Freiheitsbetätigung. 19 BVerfGE 34, 165 (192f.); 40, 237 (249); 41, 251 (260); 49, 89 (126f.) m.w.N.; 57, 295 (320f.). 20 Vgl. zu diesem Aspekt Ossenbühl, DÖV 1968, 624 Fn. 54 a. 21 Vgl. BVerfGE 49, 89 (127, 129); 53, 30 (56). 22 Wenn das BVerfG i m Kalkar-Beschluß die Zulässigkeit des Versagungsermessens gem. § 7 AtG mit Besonderheiten der Kernenergie begründet und einschränkend ausgelegt hat, E 49, 89 (144 ff.), so war dies verfassungsrechtlich nicht geboten. - Das präventive Verbot mit Erlaubnisvorbehalt ist von Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 9 Rdnr. 51, als „Kontrollerlaubnis" bezeichnet worden, weil es nur der Kontrolle des genehmigungsbedürftigen Projekts auf seine Rechtmäßigkeit dient. In diesem Sinne könnte man das repressive Verbot mit Befreiungsvorbehalt, wenn es im hier erörterten Sinne verwendet wird, als „Planungserlaubnis" bezeichnen: Es dient dazu, flexible Entscheidungen darüber zu ermöglichen, welche öffentlichen Interessen verfolgt und welche Risiken zu diesem Zweck in Kauf genommen werden sollen. (Beide Ausdrücke sollten, weil sprachlich mißglückt, besser vermieden werden.) 23 Vgl. aber oben These 16. 24 So eine sicherlich anders gemeinte Formulierung bei Marburger, in: Bitburger Gespräche, Jb. 1981, S. 44.
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das Grundgesetz nicht. Die Verfassung gilt nicht nach Maßgabe technischer Machbarkeit, sondern begrenzt die rechtliche Zulässigkeit technischer Realisationen. 5. Die hier vertretene Auffassung mag geeignet sein, den verfassungsrechtlichen Druck, der auf der Kerntechnik und anderen Großtechnologien lastet, in gewissem Maße zu mindern. Bei Anwendung auf andere Bereiche der Technik w i r d sich aber zeigen, daß das geltende Gesetzesrecht oft den hier vertretenen verfassungsrechtlichen Anforderungen noch nicht entspricht. So ist - um mit nur einem Beispiel mögliche Konsequenzen anzudeuten - der sehr zurückhaltende Vorschlag der Kommission für Verkehrssicherheit, Versuche mit einer innerörtlichen Reduzierung der zugelassenen Höchstgeschwindigkeit jedenfalls in Wohngebieten durchzuführen 25 , nicht nur vernünftig. Derartige Versuche auf breiter Basis sind das Mindeste, was auf diesem Sektor durch Art. 2 I I GG geboten ist. 2 6 Es gibt keinen vernünftigen Grund des Gemeinwohls, der es rechtfertigt, in Wohngebieten eine Geschwindigkeit von 50 km/h zuzulassen und die Bewohner mit den daraus resultierenden Risiken zu belasten, obwohl plausible Gründe dafür sprechen, daß die in der Bundesrepublik erschreckend hohe Zahl im Straßenverkehr getöteter Fußgänger 27 bei Senkimg der erlaubten Geschwindigkeit erheblich reduziert würde. 6. Die in der Rechtsprechung zur Zeit vordringende Ansicht, der einzelne könne nicht dadurch in seinen Grundrechten verletzt sein, daß gegen Vorschriften verstoßen wird, die der Reduzierung des Kollektivrisikos dienen, ist unzutreffend. 28 Wird der einzelne durch Gesetz oder behördliche Entscheidung zur Duldung eines Risikos verpflichtet, so verletzt diese Belastung ihn in seinen Grundrechten, wenn das Gesetz verfassungswidrig ist oder die behördliche Entscheidung nicht auf der Ermächtigung durch ein verfassungsgemäßes Gesetz beruht. IV. Die verfassungsrechtliche Verantwortung des Staates für technische Risiken ist - wie sich gezeigt hat - groß, wenn auch nicht so groß, wie manche aus den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zum Atomrecht gefolgert hatten. Trotz der verfassungsrechtlichen Schutzpflichten bleibt dem Gesetzgeber ein weiter Gestaltungsspielraum. Wegen des Konzessionscharakters, den die Zulassung technischer Großprojekte mit großem 25
Kommission für Verkehrssicherheit, Bericht. Bonn, 27.9.1982, S. 17. Vgl. fragend Saladin, Diskussionsbeitrag, in: W D S t R L 38 (1980), 357. Die Freiheit des Autofahrers - „Freie Fahrt für freie Bürger! " - ist freilich bei uns noch außerordentlich tabuisiert. Daß Art. 2 I I GG nicht nur fur die Risiken der Kernenergie gilt, sondern auch für den Straßenverkehr, kann manch einer kaum fassen, vgl. Ossenbühl, DÖV 1981, 4; Sendler, UPR 1981, 7. 27 1980 starben in der BRD 13041 Menschen im Straßenverkehr, davon 24% Fußgänger, vgl. Kommission für Verkehrssicherheit (o. Fn. 25), S. 5f. 2 8 s.o. § 14 B . I I . 26
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Gefährdungspotential fast immer hat, ist die Entscheidungsfreiheit des Gesetzgebers zugunsten der Sicherheit in wesentlichen Bereichen der modernen Technik nahezu unbegrenzt. Hinzu kommt, daß auch schärfere Sicherheitsstandards als das Verbot der Ge/ahrenverursachung durch die Grundrechte des Verursachers technischer Risiken oft nicht ausgeschlossen sind. Zwischen der verfassungsrechtlichen Pflicht zum Schutz vor technischen Risiken und den im wesentlichen aus der grundrechtlichen Mindestposition des Risikoverursachers folgenden Grenzen der Schutzbefugnisse erstreckt sich somit ein weiter Bereich politischer Verantwortung. 29 In diesem Bereich ist der Gesetzgeber rechtlich verantwortungsfrei: Es gibt hier keine rechtlichen Kriterien für seine Entscheidung. Gerade deshalb aber trifft ihn hier die volle Last seiner politischen Verantwortung; der verantwortungsbegründende Zurechnungsgrund ist auch in diesem Bereich gegeben. Nur gibt es hier keine vorgegebenen verbindlichen Verantwortungskriterien. Der Gesetzgeber - politisch gesprochen: die Fraktionen und die politischen Parlamentsparteien - haben politisch, vor dem Wähler, dafür einzustehen, für welche. Zwecke sie die Bürger mit welchen technischen Risiken belasten wollen. 3 0 Dies ist eine Selbstverständlichkeit, die aber hervorgehoben zu werden verdient, da die Neigung der politisch Verantwortlichen verbreitet ist, sich hinter angeblichen verfassungsrechtlichen Grenzen ihrer Entscheidungsbefugnisse zu verstecken und so die Verantwortung für unbequeme Entscheidungen praktisch dem Richter aufzubürden. 31
29
Vgl. BVerfGE 49, 89 (129); 53, 30 (56). 30 Vgl. v. Schoeler, Umwelt Nr. 89 v. 8.6.1982, S. 26. 31 Vgl. z.B. Ossenbühl, DÖV 1981, 1; Fürst, ET 1981, 37.
DRITTER TEIL
Probleme der Verwaltungsverantwortung i m technischen Sicherheitsrecht am Beispiel der immissionsschutzrechtlichen Genehmigungsvoraussetzung der §§ 6 Nr. 1, 5 Nr. 1 BImSchG „Wie sicher ist sicher genug?" Diese Zentralfrage des technischen Sicherheitsrechts 1 kann rechtstechnisch auf unterschiedliche Weise beantwortet werden. So kann der Gesetz- und Verordnungsgeber das Maß der rechtlich gebotenen Sicherheit in ganz bestimmten, unmittelbar vollziehbaren Anforderungen an die Beschaffenheit von Anlagen, Produkten oder Stoffen, kurz gesagt: durch konkrete Standards angeben. Beispiele hierfür finden sich im Benzinbleigesetz2, das in § 2 I 2 vorschreibt, in Ottokraftstoffen dürfe „der Gehalt an Bleiverbindungen, berechnet als Blei, 0,15 Gramm im Liter (gemessen bei + 15°C) nicht übersteigen", im Waschmittelgesetz3 i n Verbindung mit der Phosphathöchstmengenverordnung 4 oder i m DDT-Gesetz 5 . In aller Regel aber normiert das Gesetz den rechtlich gebotenen Standard technischer Sicherheit und - das ist die Kehrseite davon 6 - die Größe des rechtlich akzeptablen Risikos nicht konkret, sondern abstrakt, nicht durch bestimmte Sicherheitsanforderungen, sondern durch abstrakte Sicherheitsstandards, ausgedrückt in unbestimmten Rechtsbegriffen. Typisch für diesen Regelungsmodus ist die atomrechtliche Genehmigungsvoraussetzimg des § 7 I I Nr. 3 AtG. Nach dieser Bestimmung muß „die nach dem Stand von Wissenschaft und Technik erforderliche Vorsorge gegen Schäden" getroffen sein. Der abstrakte Sicherheitsstandard („erforderliche Vorsorge gegen 1
Vgl. Marburger, in: Bitburger Gespräche, Jb. 1981, S. 47 m.w.N. Gesetz zur Verminderung von Luftverunreinigungen durch Bleiverbindungen in Ottokraftstoffen für Kraftfahrzeugmotore vom 5.8.1971, BGBl. I S. 1234, zuletzt geändert durch Art. 44 EGAO v. 14.12.1976, BGBl. I S. 3341. 3 Gesetz über die Umweltverträglichkeit von Wasch- und Reinigungsmitteln v. 20.8.1975, BGBl. I S . 2255. 4 Verordnung über Höchstmengen für Phosphate in Wasch- und Reinigungsmitteln v. 4.6.1980, BGBl. I S . 664. Nach § 4 I WaschmittelG ist es verboten, Wasch- und Reinigungsmittel in den Verkehr zu bringen, deren Phosphatgehalt die in der PhosphathöchstmengenV detailliert in Gramm pro Liter Waschlauge angegebenen Höchstmengen überschreitet. 5 Gesetz über den Verkehr mit DDT v. 7.8.1972, BGBl. I S. 1385, geändert durch Art. 50 EGStGB v. 2.3.1974, BGBl. I S. 469. Nach § 11 ist es verboten, „1, 1, 1-Trichlor-2,2- bis (4-chlorphenyl)-aethan und seine Isomeren (DDT)... herzustellen...". 6 Vgl. Marburger, Die Regeln der Technik, S. 122 f. 2
Vor § 20 Verwaltungsverantwortung im technischen Sicherheitsrecht
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Schäden") w i r d durch einen abstrakten wissenschaftlichen und technischen Standard („Stand von Wissenschaft und Technik"), also durch weitere unbestimmte Rechtsbegriffe präzisiert. 7 Der Vorsorgestandard des § 5 Nr. 2 BImSchG ergibt sich vor allem aus dem „Stand der Technik", einem in § 3 BImSchG definierten technischen Standard, während der für die Errichtung und den Betrieb von genehmigungsbedürftigen Anlagen maßgebliche Sicherheitsstandard in § 5 Nr. 1 BImSchG ohne Bezugnahme auf technische oder wissenschaftliche Standards durch die imbestimmten Rechtsbegriffe der „schädlichen Umwelteinwirkungen" und „sonstigen Gefahren, erheblichen Nachteile und erheblichen Belästigungen" festgelegt w i r d sowie durch die Anordnung, daß die Anlage so zu betreiben ist, daß diese Wirkungen „nicht hervorgerufen werden können". Die Verwendung derart unkonturierter unbestimmter Rechtsbegriffe ist keine Besonderheit des technischen Sicherheitsrechts. 8 Dies zeigt schon der Zentralbegriff des allgemeinen Sicherheitsrechts, der Begriff der Gefahr, der an Bestimmtheit den Kriterien des technischen Sicherheitsrechts, die oft gerade dazu dienen, den Gefahrenbegriff für den Bereich der Technik handhabbar zu machen, nichts voraus hat. Dennoch sind die Schwierigkeiten, denen sich Verwaltungsbehörden und Gerichte bei der Konkretisierung der abstrakten Sicherheitsstandards gegenübergestellt sehen, im technischen Sicherheitsrecht besonders groß. Diese Schwierigkeiten resultieren zum einen aus der oft außerordentlich großen Komplexität der zu beurteilenden Sachverhalte, sowohl auf Seiten des zu beurteilenden technischen Systems als auch auf Seiten der potentiellen Auswirkungen des Systems auf die Umwelt, insbesondere auf die menschliche Gesundheit. Neben dieses Erkenntnisproblem tritt das rechtliche Wertungsproblem, das wegen der im Vergleich zu den typischen Fällen des allgemeinen Sicherheitsrechts oft außerordentlich großen Dimensionen des Schadenspotentials einerseits, 7 Die Terminologie hinsichtlich solcher Standards ist uneinheitlich. Zum Teil werden die unbestimmten Gesetzesbegriffe, aus denen sich die rechtlichen Sicherheitsanforderungen ergeben, als „Standards" bezeichnet, und zwar als „Sicherheitsstandards" im allgemeinen, als „technische" oder „wissenschaftliche Standards", soweit auf den „Stand der Technik", die „allgemein anerkannten Regeln der Technik", den „Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse" oder den „Stand von Wissenschaft und Technik" Bezug genommën wird, vgl. Marburger, Die Regeln der Technik im Recht, S. 121 f.; Rittstieg, Die Konkretisierung technischer Standards, S. 12f. Feldhaus, UPR 1982,138, versteht dagegen unter „Standards" „generelle, durchweg in meßbare Größen aufgelöste Normen, die der Konkretisierung unbestimmter Rechtsbegriffe ... dienen", also beispielsweise die Immissionswerte der TA Luft oder die Lärm-Immissionsrichtwerte der VDI-Richtlinie 2058 (abgedr. bei Feldhaus, BImSchR Π, Anhang 4). Hier wird unter „Sicherheitsstandard" das Maß der rechtlich gebotenen Sicherheit verstanden. Ein abstrakter Sicherheitsstandard wird durch unbestimmte Rechtsbegriffe formuliert, ein konkreter Sicherheitsstandard durch bestimmte Sicherheitsanforderungen i. S. von Feldhaus. Entsprechendes gilt für die technischen und wissenschaftlichen Standards, die den Sicherheitsstandard präzisieren. 8 Zu ihrer Vereinbarkeit mit dem rechtsstaatlichen Bestimmtheitsgebot speziell für das technische Sicherheitsrecht vgl. BVerfGE 49, 89 (133 ff.) - Kalkar.
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Vor § 20 VerwaltungsVerantwortung im technischen Sicherheitsrecht
eventueller Möglichkeiten der Risikorechtfertigimg durch besondere öffentliche Zwecke wie etwa die Energieversorgung andererseits, besonders schwer zu lösen ist. So kann es nicht verwundern, daß gerade bei der Konkretisierung technischer Sicherheitsstandards der Blick sich auf die Kompetenzfrage richtet, auf das „Quis judicabit?". Wer ist zuständig, die letztverbindliche Entscheidung darüber zu treffen, wann die „erforderliche Schadensvorsorge" getroffen, wann das verbleibende Risiko rechtlich akzeptiert werden kann, unter welchen Voraussetzungen eine Einwirkung von Schadstoffen „zumutbar" ist? Im Zentrum der Diskussion, insbesondere im Zusammenhang mit politisch brisanten technischen Großprojekten, steht daher die Frage der Kompetenzabgrenzung zwischen Verwaltung und Verwaltungsgerichtsbarkeit, der Streit um den Umfang der richterlichen Nachprüfung, die „Kontrolldichte", und - als Gegenstück dazu - den „Beurteilungsspielraum", die „Beurteilungsermächtigung" oder den „Prognosespielraum" als Elemente eigenverantwortlicher Verwaltungsentscheidung. 9 Vor einer vorschnellen generellen Antwort auf diese Frage sollte man sich hüten. 10 Bevor man der Exekutive einen Bereich eigener „politischer" Verantwortung zugesteht 11 oder eine strikte Rechtsbindung postuliert 12 , muß man die jeweils zugrunde liegenden rechtlichen Normen, die generellen Sicherheitsstandards, genau analysieren und sie genau daraufhin prüfen, wie weit die rechtliche Determinierung der zu treffenden Entscheidung reicht. Nur aufgrund einer gründlichen Normanalyse kann die Frage beantwortet werden, welche Pflichten die Verwaltung zum Schutz vor technischen Risiken hat und welcher eigenverantwortliche Gestaltungsspielraum ihr hier verbleibt. Eine solche Normanalyse soll im folgenden für den bei der Anlagengenehmigung nach dem Bundes-Immissionsschutzgesetz zu beachtenden Sicherheitsstandard vorgelegt werden. Sedes materiae für die rechtliche Verantwortung der Verwaltung bei der Anlagengenehmigung ist § 6 BImSchG, der auf § 5 verweist. Nach § 6 Nr. 1 ist Genehmigungsvoraussetzung, daß die Erfüllung der sich aus § 5 ergebenden Pflichten „sichergestellt" ist, und § 5 Nr. 1 normiert die hier zu untersuchende materielle Sicherheitspflicht. Das Beispiel dieses immissionsschutzrechtlichen Sicherheitsstandards scheint besonders gut geeignet, typische Probleme der Konkretisierung technischer Sicherheitsstandards und der Verwaltungsverantwortung im technischen Sicherheitsrecht aufzuzeigen, denn zum einen ist § 5 Nr. 1 sehr unbestimmt und ungenau gefaßt, zum anderen ist gerade im Immissionsschutzrecht sehr 9 Vgl. z.B. BVerwG 17.2.78, DVBl. 1978, 591 (592ff.)-Voerde; Ule, WiVerw. 1977, 80ff.; Ossenbühl, DVBl. 1978, Iff.; Kutscheidt, in: Landmann / Rohmer, GewO III, § 3 BImSchG Rdnr. 18 ff. 10 So für den „Prognosespielraum" z.B. Tettinger, DVBl. 1982, 425. 11 Vgl. Feldhaus, UPR 1982, 144; Feuchte, Die Verwaltung 10 (1977), 296. 12 Vgl. z.B. Kutscheidt, in: Landmann / Rohmer, GewO III, § 3 BImSchG Rdnr. 18.
Α. Gegenstand der Grundpflicht des § 5 Nr. 1
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umstritten, inwieweit der Verwaltung eine eigene Letztentscheidungsbefugnis bei der Konkretisierung des Sicherheitsstandards zukommt. Dies gilt insbesondere für die Konkretisierung der zulässigen Immissionsbelastung durch die in allgemeinen Verwaltungsvorschriften gemäß § 48 BImSchG festgelegten Immissionswerte. Sind sie auch für die Gerichte verbindliche Konkretisierungen des § 5 Nr. 1 BImSchG? Sind sie anhand dieser Bestimmung auf ihre Rechtmäßigkeit in vollem Umfang gerichtlich nachprüfbar? Sind sie bei der gerichtlichen Kontrolle in einem abgeschwächten Maße „beachtlich"? Begründen sie eine Vermutung für die Rechtmäßigkeit einer mit ihnen übereinstimmenden Genehmigungsentscheidimg? Diese und ähnliche in Rechtsprechung und Literatur umstrittene Fragen 13 lassen sich leicht auf die Konkretisierung anderer Standards des technischen Sicherheitsrechts übertragen. Eine mehrstufige Konkretisierung abstrakter Standards, etwa durch Rechtsverordnung, Verwaltungsvorschrift, technische Normen, Einzelakt ist im technischen Sicherheitsrecht üblich 1 4 , und die Frage nach Verbindlichkeit der Entscheidung und Kontrollmaßstäben läßt sich auf jeder dieser Stufen stellen. § 20 Der Sicherheitsstandard des § 5 Nr. 1 BImSchG A. Gegenstand der „Grundpflicht" des § 5 Nr. 1
I. Allgemeines § 5 BImSchG normiert die sogenannten „Grundpflichten" der Betreiber genehmigungsbedürftiger Anlagen. 1 Die Erfüllung dieser Pflichten ist nicht nur Genehmigungsvoraussetzung gemäß § 6 BImSchG, sondern sie sind auch als an den Betreiber 2 adressierte Pflichten unmittelbar verbindliches Recht. Sie belasten den Betreiber mit Pflichten, deren Erfüllung zwar von der zuständigen Behörde nach Erteilung der Genehmigung nur noch unter den einschränkenden Voraussetzungen der §§ 17, 20 BImSchG durchgesetzt werden kann, deren Durchsetzung unter den gesetzlich vorgesehenen Voraussetzungen aber nicht in Rechte des Betreibers eingreift, insbesondere nicht in einen geschützten Bestand, sondern ihn nur in die sich aus § 5 bereits ergebenden Schranken zurückverweist. 3 13
Vgl. o. Fn. 9 sowie Ule, BB 1976, 446f.; Breuer, DVB1. 1978, 28ff. Vgl. z.B. Marburger, Die Regeln der Technik, S. 70f. 1 Zum Begriff der „Grundpflichten" vgl. Bericht des Innenausschusses, BT-Drs. 7/1513, Begründung zu § 5a; Regierungsentwurf, BT-Drs. 7/179, Begr. zu § 20; Seilner, in: Festg. BVerwG, S. 603ff. m.w.N. 2 In der Errichtungsphase auch an den Hersteller, vgl. Boisserée / Oels / Hansmann / Schmitt, § 5 Anm. 1; Seilner, Festg. BVerwG, S. 604. 3 Vgl. Feldhaus, BImSchR 1 A, § 5 Anm. 2; Seilner, in: Festg. BVerwG, S. 615f. 14
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§ 20 Der Sicherheitsstandard des § 5 Nr. 1 BImSchG
Die „Grundpflichten" des § 5 Nr. 1 BImSchG beziehen sich auf Errichtung und Betrieb genehmigungsbedürftiger Anlagen. Genehmigungsbedürftig sind nach § 4 I BImSchG Anlagen, die aufgrund ihrer Beschaffenheit und ihres Betriebes in besonderem Maße geeignet sind, die nach § 5 Nr. 1 BImSchG zu vermeidenden Wirkungen hervorzurufen. Welche Anlagen diese abstrakte Gefährlichkeit aufweisen, w i r d durch die aufgrund von § 4 I 3 BImSchG erlassene Verordnung über genehmigungsbedürftige Anlagen 4 verbindlich festgelegt. 5 Gegenstand der Grundpflicht des § 5 Nr. 1 ist die Vermeidung von Beeinträchtigungen für die Allgemeinheit und die Nachbarschaft bei Errichtung und Betrieb genehmigungsbedürftiger Anlagen. „Beeinträchtigimg" wird hier als Oberbegriff verwendet für die verschiedenen Arten von Beeinträchtigungen, vor denen § 5 Nr. 1 die potentiell betroffenen Menschen und ihre Rechtsgüter schützen soll, nämlich für „Schäden", „Nachteile" und „Belästigungen". Der Begriff des „Schadens" taucht in § 5 Nr. 1 nicht auf. Er ist i m Begriff der „Gefahr" versteckt. Unter „Gefahr" versteht man ja die hinreichend wahrscheinliche - Möglichkeit des Schadenseintritts. Während das allgemeine Gefahrenabwehrrecht nur vor Schäden schützt, erweitert das Bundes-Immissionsschutzgesetz wie schon zuvor die Bestimmungen der Gewerbeordnung über genehmigungsbedürftige Anlagen 6 den Schutz auch auf „Nachteile" und „Belästigungen", so daß es hier keiner besonderen begrifflichen Bemühungen um die oft schwierige Abgrenzung von „Schaden" und „Belästigung" bedarf. Es mag der Hinweis genügen, daß man unter „Schaden" im polizeirechtlichen Sinne nur die Verminderung eines tatsächlich vorhandenen Rechtsgüterbestandes versteht 7 , während „Nachteile" Vermögenseinbußen sind, die durch physische Einwirkungen hervorgerufen werden, ohne zu einem unmittelbaren Schaden zu führen, etwa die Wertminderung eines Grundstücks wegen Immissionsbelastung oder Umsatzrückgang bei Gewerbebetrieben. Auch die Beeinträchtigung des persönlichen Lebensraums - Benutzbarkeit von Balkon und Terrasse - oder des kommunalen Planungsrechts w i r d zu den „Nachteilen" gerechnet 8. „Belästigungen" sind dagegen unmittelbare Folgen physischer Einwirkun4 Vierte Verordnung zur Durchführung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes v. 14. 2.1975, BGBl. I S. 499; zuletzt geänd. 22. 6.1983, BGBl. I S. 719. 5 Der Begriff der Anlage wird in § 3 V BImSchG definiert. Zum Anlagenbegriff vgl. Kutscheidt, in: Landmann / Rohmer III, § 3 BImSchG Rdnr. 23ff.; Stich / Porger, § 3 Rndr. 16ff.; Feldhaus, BImSchR 1 A, §3 Anm. 11 ff.; Rechtsprechungsübersicht bei Horn, UPR 1983, 215ff. 6 §§ 16, 18 GewO a.F. v. 21.6.1869, BGBl, des Norddeutschen Bundes S. 245, neu bekanntgemacht RGBl. 1900, S. 871. 7 Dabei ist auf einen „normalen" Rechtsgüterbestand, auf die „durchschnittliche Empfindlichkeit" eines Rechtsguts dieser Art, abzustellen. Vgl. hierzu und zum polizeirechtlichen Schadensbegriff allgemein Drews / Wacke / Martens II, S. 107f.; Hansen-Dix, S. 23ff. m.w.N. 8 Zum Begriff des „Nachteils" vgl. Kutscheidt, in: Landmann / Rohmer^GewO III, § 3 BImSchG Rdnr. 12 m.w.N.; Feldhaus, BImSchR 1 A, § 3 Anm. 8 m.w.N.
Α. Gegenstand der Grundpflicht des § 5 Nr. 1
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gen; dadurch unterscheiden sie sich von den „Nachteilen". Sie sind „Beeinträchtigungen des körperlichen und seelischen Wohlbefindens", die noch nicht zu einem Gesundheitsschaden führen. 9 Die Grenzen zwischen Nachteilen, Schäden und Belästigungen sind „fließend" 10 , doch darauf kommt es im Rahmen des § 5 Nr. 1 BImSchG wegen des für alle Beeinträchtigungsmodi gewährleisteten Schutzes nicht an. 1 1 Belästigungen und Nachteile werden im Verhältnis zu Schäden oft als „Störungen geringeren Grades" angesehen.12 Dies trifft in der Regel zu, soweit es um das Verhältnis von Belästigungen zu Gesundheitsschäden geht, und zwar immer dann, wenn die gleiche Störungsart (z.B. Lärm) bei geringer Intensität unschädlich ist, bei größerer Intensität oder längerer Dauer jedoch zu einem somatischen Schaden führen kann. Eine Belästigung oder ein Nachteil kann aber für den Betroffenen sehr viel gravierender sein als ein Sachschaden, die Dauerbelästigung mit Verkehrslärm etwa eine wesentlich intensivere Beeinträchtigung darstellen als der Totalschaden an einem Auto. Selbst ein Gesundheitsschaden kann wenig bedeutend sein, wenn er geheilt werden kann, wenn er von vorübergehender Dauer ist und den Betroffenen nicht schwer belastet. Im Vergleich damit kann eine dauernde Immissionsbelästigung für den Betroffenen eine viel intensivere Beeinträchtigung darstellen. Wenn es um die Bewertung der potentiellen Beeinträchtigung geht, muß man mit der generellen These, daß „Nachteile" und „Beeinträchtigungen" nur „Kleingefahren" seien 13 , gerade im Immissionsschutzrecht vorsichtig umgehen. Gegenstand der Verpflichtung des § 5 Nr. 1 BImSchG ist - nochmals zusammengefaßt - die Abwendung von Beeinträchtigungen. Nach der Art und Weise, wie diese Beeinträchtigungen hervorgerufen werden, unterscheidet § 5 Nr. 1 zwischen Beeinträchtigungen, die die Folge von „Umwelteinwirkungen" sind, und sonstigen Beeinträchtigungen. „Umwelteinwirkungen" sind Immissionen. 14 Der Immissionsbegriff wird in § 3 I I BImSchG erläutert. Hieraus ergibt sich, daß „Umwelteinwirkungen" im Sinne des Bundes-Immissionsschutzgesetzes sich nur auf das „Umweltmedium" Luft beziehen; Wasserverunreinigungen sind keine Immissionen im Sinne dieses Gesetzes. Als „sonstige Beeinträchtigungsursachen" kommen vor allem Brände und Explosionen 15 als Störfallfolgen in Betracht. 16 9 Vgl. Regierungsentwurf, BT-Drs. 7/179 zu § 3; Kutscheidt, in: Landmann / Rohmer III, § 3 BImSchG Rndr. 13. 10 Regierungsentwurf, BT-Drs. 7/197 zu § 3; Feldhaus, BImSchR 1 A, § 3 Anm. 8. 11 Vgl. Feldhaus, BImSchR 1 A, § 3 Anm. 6; Martens, DVB1. 1981, 598; Jarass, DVB1. 1983, 728. 12 Vgl. Regierungsentwurf, BT-Drs. 7/197 zu § 3; Kutscheidt, in: Landmann / Rohmer III, § 3 BImSchG Rdnr. 13; Hansen-Dix, S. 120 m.w.N. 13 Diesen Ausdruck verwendet Börner, VEnergR 50, 148, 158. 14 Vgl. Feldhaus, BImSchR 1 A, § 3 Anm. 5, 6; Kutscheidt, in: Landmann / Rohmer III, § 3 BImSchG Rdnr. 4; Börner, VEnergR 50, 137f.; Schmatz / Nöthlichs / Weber, § 3 Anm. 2; Jarass, DVB1. 1983, 725.
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§ 20 Der Sicherheitsstandard des § 5 Nr. 1 BImSchG
Der Anlagenbetreiber w i r d durch § 5 Nr. 1 BImSchG freilich nicht zur Vermeidung jeder Beeinträchtigung verpflichtet; er braucht für die geschützten Rechtsgüter keine absolute Sicherheit zu gewährleisten. Der Umfang der in § 5 Nr. 1 normierten Sicherheitspflicht ergibt sich aus zwei Faktoren: aus der Bestimmung des Ausmaßes an tatsächlichen Beeinträchtigungen, die zu verursachen nicht verboten ist, und aus dem Ausmaß des erlaubten Risikos im Hinblick auf den Eintritt unzulässiger Beeinträchtigungen. Der Umfang des Schutzes vor - mit Gewißheit eintretenden - Beeinträchtigungen w i r d in § 5 Nr. 1 im Hinblick auf Immissionen durch den Begriff der Schädlichkeit, im Hinblick auf nicht durch Immissionen verursachte Beeinträchtigungen durch den Begriff der „Erheblichkeit" eingegrenzt. Zu vermeiden sind also nicht alle Beeinträchtigungen, sondern nur „erhebliche" Beeinträchtigungen, nicht alle Umwelteinwirkungen, sondern nur „schädliche Umwelteinwirkungen". Der Begriff der „schädlichen Umwelteinwirkungen" w i r d in § 3 I BImSchG definiert als „Immissionen, die nach Art, Ausmaß oder Dauer geeignet sind, Gefahren, erhebliche Nachteile oder erhebliche Belästigungen für die Allgemeinheit oder die Nachbarschaft herbeizuführen". Die abstrakte Eignung zur Verursachung dieser Beeinträchtigungen macht die „Umwelteinwirkung" zur „schädlichen Umwelteinwirkung". 1 7 Mit dieser Definition wird der gebotene Schutz wiederum auf potentielle Beeinträchtigungen „erheblichen" Ausmaßes beschränkt. Zwar bezieht das Gesetz den Begriff der Erheblichkeit nur auf „Nachteile" und „Belästigungen". Der Begriff der Gefahr, den das Bundes-Immissionsschutzgesetz insoweit aus dem allgemeinen Polizeirecht übernommen hat 1 8 , bezieht sich aber auf einen Schadensbegriff, der schon immanent auf eine „nicht unerhebliche Beeinträchtigung" eines Schutzgutes beschränkt ist. 1 9 Somit ist die „Erheblichkeit" das entscheidende Kriterium zur Bestimmung derjenigen Beeinträchtigungen, die nach § 5 Nr. 1 zu vermeiden sind, das Kriterium zur Abgrenzung von denjenigen Beeinträchtigungen, deren Verursachung erlaubt ist und zwar auch dann erlaubt ist, wenn sich in ihnen 15 Vgl. Regierungsentwurf, BT-Drs. 7/179 zu § 5; Feldhaus, BImSchR 1 A, § 4 Anm. 11; Rehbinder, BB 1976, 11; Lukes / Feldmann / Knüppel, in: Gefahren und Gefahrenbeurteilungen II, S. 149 m. weiteren Bsp. 16 Nach Börner, VEnergR 50, 141 ff., sind „sonstige" Gefahren alle bei Störungen des bestimmungsgemäßen Betriebs auftretenden Gefahren. Dem liegt aber ein zu weit gefaßter Immissionsbegriff zugrunde, der etwa Explosionsdruckwellen oder Einwirkungen durch i n die Luft geschleuderte Anlagenteile einbezieht. 17 Vgl. Regierungsentwurf zu § 3, BT-Drs. 1/179; Feldhaus, BImSchR 1 A, § 3 Anm. 6. 18 Vgl. Feldhaus, BImSchR 1 A, §3 Anm. 7; Martens, in: Festschr. H. P. Ipsen, S. 458; ders., DÖV 1982, 92; Kutscheidt, in: Landmann / Rohmer III, § 3 BImSchG Rdnr. 10. 19 Vgl. Drews / Wacke / Martens II, S. 107 m.w.N.; Hansen-Dix, S. 23f.; speziell zum BImSchG Kutscheidt, in: Landmann / Rohmer III, § 3 BImSchG Rdnr. 10; Feldhaus, DVB1. 1979, 304.
Α. Gegenstand der Grundpflicht des § 5 Nr. 1
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nicht lediglich ein Risiko realisiert, sondern wenn sie final hervorgerufen werden. Die zweite Komponente des Sicherheitsstandards ergibt sich aus der Größe des erlaubten Risikos: Wie wahrscheinlich darf der Eintritt einer vom Gesetz mißbilligten Folge, nämlich einer „erheblichen Beeinträchtigung" sein? § 5 Nr. 1 formuliert rigoros: Der Eintritt dieser Folge muß unmöglich sein. Die Rigorosität dieser Formulierung kann freilich nicht das letzte Wort des Interpreten, sondern nur der Ausgangspunkt einer Interpretation sein. Damit ist die im folgenden zu bewältigende Aufgabe umrissen: Ergibt sich der Sicherheitsstandard des § 5 Nr. 1 aus der „Erheblichkeit" von Beeinträchtigungen einerseits, aus der Pflicht zur Risikovermeidung andererseits, so ist zu prüfen, was das Bundes-Immissionsschutzgesetz unter „erheblichen" Beeinträchtigungen versteht, und welches Risiko in Kauf genommen werden darf. Diese Fragen lassen sich nur beantworten, wenn zuvor geklärt wird, welche Faktoren es sind, auf die nach § 5 Nr. 1 BImSchG bei der Ermittlung der Intensität der Beeinträchtigung beziehungsweise der Größe des Risikos abzustellen ist: Welche Beeinträchtigungsursachen sind in Betracht zu ziehen und welche Wirkungen - nur die von der zu beurteilenden Anlage ausgehenden Ursachen, nur die auf ein jeweils betroffenes einzelnes Rechtsgut wirkenden Beeinträchtigungen? Oder - auch - die Gesamtheit der Immissionen im Einwirkungsbereich der Anlage, auch die Gesamtheit der betroffenen Rechtsgüter? Im folgenden soll gezeigt werden, daß diese Fragen differenziert zu beantworten sind. II. Verursachungs-
und Wirkungsstandard
§ 5 BImSchG normiert „Pflichten der Betreiber genehmigungsbedürftiger Anlagen". Nach Nr. 1 sind „genehmigungsbedürftige Anlagen so zu errichten und zu betreiben", daß erhebliche Beeinträchtigungen nicht hervorgerufen werden können. Es kommt also darauf an, daß die Anlage derart unerwünschte Wirkungen nicht verursacht. § 5 Nr. 1 begründet die Verursacherverantwortlichkeit des Anlagenbetreibers. Insofern hat diese Bestimmung die gleiche Funktion wie die allgemeine Polizeipflichtigkeit. Es handelt sich um eine spezialgesetzliche Ausformung und Verschärfung der jeden Bürger treffenden allgemeinen Sicherheitspflicht, des Gefahrenvermeidungsgebots, des neminem laedere. 20 Der Betreiber ist dafür verantwortlich, daß die Anlage nicht Ursache erheblicher Beeinträchtigungen wird. 2 1 Der Umfang 20
Unstreitig, vgl. z.B. Martens, DVBl. 1981, 598. Dies bedeutet aber nicht, daß der Betreiber nur insoweit verantwortlich ist, als er auch „Störer" im polizeirechtlichen Sinne wäre, wie dies Martens, in: Festschr. H. P. Ipsen, S.460ff., offenbar annimmt. Vielmehr ist er nicht nur für solche Risiken verantwortlich, die ihm nach den polizeirechtlichen „Störer-Theorien" zugerechnet wer21
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§ 20 Der Sicherheitsstandard des § 5 Nr. 1 BImSchG
der Vermeidungspflicht, der Sorgfaltspflicht des Betreibers, ist daher ursachebezogen zu beurteilen: Es kommt darauf an, ob die von der jeweiligen Anlage ausgehenden Beeinträchtigungen „erheblich" sind beziehungsweise ob das von der Anlage ausgehende Risiko so gering ist, daß es noch hingenommen werden kann. Ist der Betreiber für das verantwortlich, was seine Anlage verursacht, so sind das Ausmaß der Beeinträchtigungen und die Größe des Risikos, von denen der Umfang der Vermeidungspflichten abhängt, quellenbezogen, also in bezug auf die konkrete Anlage, zu ermitteln. Bei der Bewertung der Größe einer Beeinträchtigung oder eines Risikos kommt es daher auf den - potentiellen - Gesamtschaden an, bei einer Vielzahl Betroffener also auf das Kollektivrisiko. 2 2 Neben dieser quellenbezogenen Beeinträchtigungs- und Risikobeurteilung macht § 5 Nr. 1 BImSchG eine wirkungsbezogene Beurteilung erforderlich. § 5 Nr. 1 bezweckt nämlich vor allem Schutz vor „schädlichen Umwelteinwirkungen", also vor erheblichen Beeinträchtigungen durch Immissionen. Indem das Gesetz die auf die geschützten Güter einwirkenden Immissionen von den Emissionen, den von einer bestimmten Anlage ausgehenden Luftverunreinigungen usw., unterscheidet (§ 3 II, III), stellt es klar, daß bei der Beurteilung der Immissionen nicht auf die Wirkungen des Immissionsbeitrags abzustellen ist, den die Emissionen der zu beurteilenden Anlage bilden, sondern auf die Gesamtimmissionen, die im Einwirkungsbereich der Anlage auf die geschützten Güter einwirken. 23 Immissionen sind also nicht anlagebezogen, sondern wirkungsbezogen zu beurteilen. Sowohl bei der Beurteilung der „Erheblichkeit" von durch Immissionen verursachten Beeinträchtigungen als auch bei der Beurteilung des Immissionsfolgerisikos, also insbesondere der Größe des durch Immissionen hervorgerufenen Gesundheitsrisikos, kommt es daher nicht allein auf den Immissionsbeitrag der zu beurteilenden Anlage an, sondern auch auf die „Vorbelastung" ihres Einwirkungsbereichs mit Immissionen aus anderen Quellen. Diese Vorbelastungen spielen bei Luftverunreinigungen eine wesentlich größere Rolle als bei Lärmimmissionen: Die Wirkungen verschiedener Lärmquellen lassen sich nicht addieren. Nach einer Faustregel verdoppelt sich die Lärmwirkung erst bei einer Verzehnfachimg der Schallintensität. Schwächere Lärmim-
den können, sondern § 5 Nr. 1 BImSchG weist ihm die Verantwortlichkeit für das von ihm geschaffene Gefährdungspotential seiner Anlage zu. Deshalb nimmt die Rechtsprechung zutreffend an, daß bei der Risikobeurteilung alle Risiken in Betracht zu ziehen sind, für welche die Anlage notwendige Bedingung ist, also auch Störfälle, die durch äußere Einwirkungen verursacht werden, vgl. OVG Lüneburg, 20.2.75, ET 1975, 234 (235); 28.12.76, DVB1. 1977, 347 (351). 22 Vgl. OVG Lüneburg, o. Fn. 21; Rehbinder, BB 1976, 3; Sellner, in: Risiko Schnittstelle zwischen Recht und Technik, S. 188f.; vgl. auch bereits oben § 9 A. 23 Unstreitig, vgl. z.B. Bericht des Innenausschusses, BT-Drs. 7/1513, S. 3; Feldhaus, BImSchR 1 A, § 6 Anm. 4; Sellner, Immissionsschutzrecht, S. 35; Kutscheidt, in: Landmann / Rohmer III, § 3 Rndr. 20; Jarass, DVB1. 1983, 726f.
Α. Gegenstand der Grundpflicht des § 5 Nr. 1
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missionen werden durch stärkere überlagert, „verschluckt" 24 . Bei Luftverunreinigungen 25 hingegen steigt die beeinträchtigende Wirkung beziehungsweise das Risiko schädlicher Folgen mit zunehmender Konzentration der Schadstoffe in der Luft. Neben dieser Summierungswirkung der unterschiedlichen Immissionsbeiträge sind unter Umständen synergistische oder coergistische Effekte möglich: Unterschiedliche Stoffe können in der Luft Verbindungen eingehen, die gefährlicher sind als die Ausgangsstoffe, oder sie können bei kumulativer Einwirkung auf das geschützte Gut sich in ihrer beeinträchtigenden Wirkung verstärken. 26 Immissionsstandards sind reine Wirkungsstandards. Sie fordern die Beurteilung nicht des isolierten Immissionsbeitrags einer bestimmten Immissionsquelle, sondern die Beurteilung der auf die geschützten Güter einwirkenden Gesamtimmissionen. Ein wirkungsbezogener Standard stellt auf die Sicherheit des jeweils geschützten Gutes ab, auf den Schutz vor beeinträchtigenden Einwirkungen, egal aus welcher Quelle sie stammen. Wann eine Immissionsbeeinträchtigung „erheblich" ist oder wann das Immissionsfolgerisiko so groß ist, daß es ausgeschlossen werden muß, ist daher nicht etwa in bezug auf den gesamten - potentiellen - Schaden zu beurteilen, der durch die Immissionen im Einwirkungsbereich einer Anlage hervorgerufen wird, sondern nur im Hinblick auf die Größe des Schadens, der dem betroffenen einzelnen durch diese Immissionen entsteht oder zu entstehen droht. 2 7 Zwar schützt § 5 Nr. 1 BImSchG auch vor Immissionen nicht nur den einzelnen (den „Nachbarn"), sondern auch „die Allgemeinheit", aber als Schutzgüter der Allgemeinheit kommen bei wirkungsbezogener Betrachtungsweise nur spezifische Gemeinschaftsgüter in Betracht, also nicht die Summe der betroffenen Individualrechtsgüter. Für die Summierung von Einzelschäden zu einem Kollektivschaden fehlt hier ein rechtlich begründbares Kriterium, durch welches das entscheidungserhebliche „Kollektiv" eingegrenzt werden könnte. Bei der Immissionsbeurteilung im Hinblick auf Lebens- oder Gesundheitsrisiken kommt es also darauf an, wie groß das Risiko für den einer bestimmten Immissionskonzentration ausgesetzten einzelnen ist 2 8 , 24 Vgl. zu den physikalischen Vorgängen der Lärmerzeugung und zu den Wirkungen des Lärms auf den Menschen Jansen / Klosterkötter, Lärm und Lärm Wirkungen. Ein Beitrag zur Klärung von Begriffen. Bundesministerium des Innern, 1980. Kurze Übersicht in: Salzwedel (Hrsg.), Grundzüge des Umweltrechts, bei Kutscheidt, S. 253f.; Schmidt-Aßmann, S. 305ff.; Soell, S. 331ff. m.w.N. 25 Legaldefinition in § 3 IV BImSchG. 26 Vgl. OVG Lüneburg, 28.12.76, DVBl. 1977, 347 (350); OVG Münster, 10.6.81, ET 1982, 355; TA Luft Nr. 2.5. 27 Davon gehen implizit die Immissionswerte der TA Luft aus (vgl. dazu z.B. Mis feld, in: Medizinische, biologische und ökologische Gründlagen, S. 108) sowie die Gerichtsentscheidungen, die sich darauf beziehen, z.B. BVerwG, 17.2.78, DVBl. 1978, 591 (592 ff.). 28 Wenn dieses Risiko hier als „subjektives Individualrisiko" bezeichnet wird - zur Abgrenzung vom „objektiven Individualrisiko" s.o. § 9 Α. I. 3. b) bb) - , so soll damit nur dieser Bezugspunkt benannt, nicht aber in Frage gestellt werden, daß bei der
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§ 20 Der Sicherheitsstandard des § 5 Nr. 1 BImSchG
nicht dagegen auf die Anzahl der gleichzeitig von den Immissionen Betroffenen. Anderenfalls wäre es auch nicht möglich, allgemeine Immissionswerte festzulegen, wie § 48 Nr. 1 BImSchG dies vorsieht. Auch die anlagebezogen zu konkretisierenden Sicherheitspflichten des Betreibers hängen von den (potentiellen) Wirkungen ab, nämlich von den durch die zu beurteilende Anlage verursachten Wirkungen, und zwar nur von diesen, aber von ihrer Gesamtheit. Der wirkungsbezogene Immissionsstandard andererseits begründet Pflichten für den Anlagenbetreiber ebenfalls nur dann, wenn eine spezifische Beziehung zwischen Immissionen und Anlage besteht: wenn nämlich die Anlage einen Beitrag zu der maßgeblichen Gesamtimmission verursacht oder zu verursachen droht. Der Betreiber ist nicht für die Immissionen und ihre Wirkungen als solche verantwortlich, die im Einwirkungsbereich seiner Anlage auftreten, denn sie stammen oft größtenteils aus anderen Quellen. Die Betreiberverantwortlichkeit richtet sich darauf, Immissionsbeiträge zu vermeiden, die zu einer unzulässig hohen (Gesamt-)Immissionsbelastung führen oder die eine das Maß des Zulässigen bereits überschreitende Immissionsvorbelastung noch erhöhen. 29 Wann hat nun die Bewertung des - potentiellen - Schadens und damit die Konkretisierung der Betreiberpflichten anlagebezogen, wann hat sie w i r kungsbezogen zu erfolgen? Die notwendigerweise kasuistisch sich entwikkelnde Rechtsprechung und das die gerichtliche Praxis referierende und kommentierende Schrifttum haben das Verhältnis von Verursachungsstandard und Wirkungsstandard noch nicht systematisch herausgearbeitet. Wirkungsbezogen w i r d argumentiert, wo es um die Immissionen des bestimmungsgemäßen Betriebs geht 30 , anlagenbezogen dort, wo Störfallrisiken in Frage stehen 31 . Dies ist zwar nicht falsch, aber - wie zu zeigen sein wird unvollständig. Was die Beurteilung von Störfallrisiken angeht, so ist unstreitig, daß im Unterschied zu Beeinträchtigungen und Risiken, die durch Immissionen verursacht werden, „sonstige" Störwirkungen rein anlagebezogen zu bewerten sind. Auf eine „Vorbelastung" mit Risiken kommt es hier nicht an. Ob etwa innerhalb der sich überschneidenden Einwirkungsbereiche zweier Bewertung des Risikos ein „objektivierender" Maßstab anzulegen ist: „durchschnittliche Empfindlichkeit" des geschützten Guts bei Berücksichtigung nicht überdurchschnittlich empfindlicher Angehöriger von „Risikogruppen" (Kinder, Schwangere), vgl. z.B. BVerwG, 27.2.58, Buchholz 451.20, § 16 GewO Nr. 2; Kutscheidt, in: Landmann / Rohmer III, § 3 Rdnr. 15; Schmidt-Aßmann, AöR 106 (1981), 231 f.; Feldhaus, UPR 1982, 144; a.A. Müller-Glöge, S. 47. 29 Nach TA Luft Nr. 2.2.1.2 c) ist allerdings trotz Überschreitung eines Immissionswerts durch die Vorbelastung auf einer Beurteilungsfläche die durch einen neuen Immissionsbeitrag verursachte Zusatzbelastung nicht zu berücksichtigen, wenn sie auf dieser Fläche die im Anhang A festgelegten Werte nicht überschreitet. 30 Vgl. o. Fn. 23. 31 Vgl. o. Fn. 22.
Α. Gegenstand der Grundpflicht des § 5 Nr. 1
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Chemieanlagen die Wahrscheinlichkeit, Opfer eines Explosionsunglücks zu werden, doppelt so groß ist, wie im Einwirkungsbereich einer Anlage für sich genommen, ist rechtlich unerheblich. 32 Hier gibt es nur die Verursachungsverantwortlichkeit des Betreibers. Der Sicherheitsstandard ist hinsichtlich der „sonstigen Gefahren, erheblichen Nachteile und erheblichen Belästigungen" ein reiner Verursachungsstandard. Im Hinblick auf den Schutz vor „schädlichen Umwelteinwirkungen" dagegen muß man zwischen Verursachungs- und Wirkungsstandard unterscheiden. Der Immissionsschutzstandard, der Wirkungsstandard, hat eine völlig andere Funktion als der Verursachungsstandard. Der Verursachungsstandard beruht auf der Verantwortlichkeit des Betreibers für seine Anlage und ihr Gefährdungspotential. Aus ihr ergibt sich der Umfang der Sicherheitspflichten und der Immissionsvermeidungspflichten des Betreibers: Von der Anlage darf keine erhebliche Beeinträchtigimg hervorgerufen werden können. Der Immissionsschutzstandard und die sich aus ihm ergebenden Vermeidungspflichten des Betreibers dagegen haben mit der Verantwortlichkeit des Betreibers für die zu vermeidenden Wirkungen nicht viel zu tun: Der Betreiber hat auch und gerade dann die Verursachung zusätzlicher Immissionsbeiträge zu unterlassen, wenn schon ohne seinen Beitrag die bereits vorhandene, aus anderen Quellen stammende, Immissionsbelastung zu erheblichen Beeinträchtigungen führen kann. Und diese Vermeidungspflicht trifft ihn auch, wenn sein Immissionsbeitrag, für sich genommen, völlig ungeeignet wäre, schädliche Wirkungen hervorzurufen. Man kann natürlich die Verantwortlichkeit des Betreibers für die unerwünschten Folgen unter dem Aspekt der „Mitverantwortung" begründen: Soweit er zu schädlichen Umwelteinwirkungen beiträgt, ist er für sie mitverantwortlich und hat sie - genauer: seinen Beitrag - deshalb zu vermeiden. Diese konventionell-polizeirechtliche Rechtfertigung der Vermeidungspflicht trifft aber nicht den Kern der Sache. Es geht ja nicht darum, daß mehrere „Störer" gemeinsam oder unabhängig voneinander - mit ihren Handlungen, die für sich genommen noch ungefährlich sein mögen, zusammen eine Gefahrenquelle schaffen, die nun im Hinblick auf das von ihr ausgehende (Gesamt-) Risiko beurteilt werden könnte. Vielmehr häufen sich die Risikobeiträge zu einem Gesamtrisiko auf, das aber nicht mehr quellenbezogen, sondern nur noch wirkungsbezogen beurteilt werden kann, weil Risikobeiträge aus einer Vielzahl von Quellen sich vermischen und kumulieren. Erreicht die Immissionsbelastung eine bestimmte Intensität, dann muß die Zufuhr zusätzlicher Immissionsbeiträge unterbleiben, damit die Immissionsbetroffenen nicht in unzulässigem Maße beeinträchtigt oder mit Risiken belastet werden. Ist dieses Maß noch nicht erreicht, bleibt die Immissionskonzentration also 32 Erheblich ist nur, ob die Nähe der einen Anläge das von der anderen ausgehende Risiko erhöht und umgekehrt - etwa dadurch, daß die Explosion in der einen Anlage einen Störfall in der anderen verursachen könnte.
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§ 20 Der Sicherheitsstandard des § 5 Nr. 1 BImSchG
noch unterhalb der „Erheblichkeits"-Schwelle, so ergeben sich aus dem Immissionsschutzstandard noch keine Vermeidungspflichten für die Verursacher, mögen einzelne Immissionsbeiträge auch noch so groß sein. Eine neue Anlage dürfte dagegen nicht genehmigt werden, wenn ihr Immissionsbeitrag zur Überschreitung der zulässigen Immissionskonzentration führen würde, auch wenn der von ihr verursachte Immissionsbeitrag erheblich geringer, wäre als derjenige bereits vorhandener Anlagen. Diese sind zwar bei Überschreitung der zulässigen Immissionsbelastung für die Vermeidimg der Überschreitung gem. § 5 Nr. 1 BImSchG „mitverantwortlich", aber zur Verantwortung gezogen werden können sie nur insoweit, als sie nicht Bestandsschutz genießen, nämlich nur nach § 17 ff. BImSchG. Der newcomer bleibt ausgeschlossen, wenn das zulässige Immissionsvolumen bereits ausgeschöpft ist. Daraus ergibt sich, daß der Immissionsschutzstandard zwar dem Schutz der betroffenen Rechtsgüter vor Beeinträchtigungen aus einer unbestimmten Vielzahl von Quellen dient und daß die - potentielle Mitverursachung die Vermeidungspflicht der Emittenten begründet. Der Schutz der Betroffenen vor Immissionen kann aber nur durch ein spezifisches Mittel erreicht werden, das den Immissionsschutzstandard prägt und seine Besonderheit ausmacht - nämlich dadurch, daß das zulässige Maß der Immissionsbelastung festgelegt wird. Das Umweltmedium „ L u f t " kann nur in begrenztem Maße mit Immisionen belastet werden, ohne daß Beeinträchtigungen oder inakzeptable Risiken hervorgerufen werden. Die rechtlich verbindliche Festlegung der Grenze der zulässigen Immissionsbelastung ist eine Maßnahme der Ressourcenbewirtschaftung 33 - ob sie nun generellabstrakt im Gesetz oder i m Einzelfall durch die zuständige Behörde erfolgt: Entschieden w i r d darüber, in welchem Ausmaß das Umweltmedium „ L u f t " mit Luftverunreinigungen und anderen Immissionen belastet werden darf, in welchem Ausmaß also die staatliche Gemeinschaft die Ressource Luft zur immissionsträchtigen Umweltnutzung zur Verfügung stellt. Der Immissionsschutzstandard beruht demnach auf einer Entscheidung über das Ausmaß der zulässigen Ressourcennutzung und verpflichtet die Betreiber unabhängig vom Ausmaß ihrer eigenen Mitverursachung, die Überschreitung der zugelassenen Immissionskapazität zu vermeiden. Die Verursacherverantwortlichkeit dagegen bestimmt das Ausmaß der Sicherheitspflichten nach dem Ausmaß der von der Anlage ausgehenden Beeinträchtigungen beziehungsweise Risiken. Ressourcenbewirtschaftung und Verursacherverantwortlichkeit haben unterschiedliche Funktionen, auch wenn sie demselben Ziel dienen. Deshalb kann der Verursachungsstandard mit dem Wirkungsstandard koexistieren. Es ist kein rechtlicher Gesichtspunkt dafür ersichtlich, daß der wirkungsbezogene Immissionsschutzstan33 Vgl. Salzwedel, in: GfU, Dokumentation zur 5. wiss. Fachtagung, S. 43; Sendler, UPR 1983, 401
Β. Die Pflicht zur Duldung „unerheblicher" Beeinträchtigungen
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dard den Verursachungsstandard hinsichtlich des Schutzes vor Immissionen verdrängt und den Immissionsverursacher von Vermeidungspflichten entlastet, die er aufgrund der Größe seines eigenen Immissionsbeitrags sonst hätte. Der Unterschied zwischen den Betreiberpflichten, die sich aus der begrenzten Immissionskapazität ergeben (aus dem Wirkungsstandard), und denen, die aus der Verursacherverantwortlichkeit folgen (aus dem Verursachungsstandard), ist i n der Praxis - soweit ersichtlich - nie bestritten, offenbar allerdings auch nicht für relevant gehalten worden. I m Atomrecht beurteilt man ganz selbstverständlich nicht nur die Störfallrisiken, sondern auch die radioaktiven Immissionen des bestimmungsgemäßen Betriebs unter dem Aspekt der Verursacherverantwortlichkeit, also anlagebezogen34, und erst die neuere Rechtsprechung hat einen prozeßrechtlichen Wirkungsstandard zur Begrenzimg der Klagebefugnis hinzukonstruiert 35 , der aber die „objektive" Betreiberpflicht, deren Umfang von der Größe des von der Anlage ausgehenden Gesamtrisikos abhängt, nicht aufhebt. 36 Im Immissionsschutzrecht hingegen richtet sich das praktische Schutzinteresse wegen der Immissionssummierung aus unterschiedlichen Quellen von vornherein auf den Wirkungsstandard. Daß es daneben noch einen Verursachungsstandard gibt, wäre aber nur dann von bloß theoretisch-systematischem Interesse, wenn die aus diesem folgenden Betreiberpflichten über die aus dem Wirkungsstandard folgenden keinesfalls hinausgehen könnten. Dies aber steht nicht von vornherein fest. Daher w i r d nicht lediglich aus Gründen der systematischen Darstellung im folgenden der Sicherheitsstandard des § 5 Nr. 1 BImSchG zunächst anlagebezogen analysiert (B., C.) und dann wirkungsbezogen (D.).
B. Die Pflicht zur Duldung „unerheblicher" Beeinträchtigungen: Das Bundes-Immissionsschutzgesetz als Industrieförderungsgesetz
§ 5 Nr. 1 BImSchG gestattet den Betreibern genehmigungsbedürftiger Anlagen, die Allgemeinheit und die Nachbarschaft zu beeinträchtigen, also Dritte zu schädigen, sie zu belästigen, ihnen Nachteile zuzufügen, sofern diese Beeinträchtigungen nicht „erheblich" sind. Und die Betroffenen werden mit dieser Regelung implizit verpflichtet, Beeinträchtigungen unterhalb der Erheblichkeitsschwelle zu dulden. 1 Wann also ist eine Beeinträchtigung „erheblich" im Sinne von § 5 Nr. 1 BImSchG? Soweit es bei der Konkretisierung des Erheblichkeits-Kriteriums auf die Unterscheidung von Verursa34 Vgl. OVG Münster, 20.2. 75, ET 1975, 220 (227); OVG Lüneburg, 22.11. 76, DVBl. 1977, 340 (344); Winter, NJW 1979, 393; a.A. Lukes / Richter, NJW 1981, 1401ff. 35 Vgl. OVG Münster, o. Fn. 34; BVerwG, 22.12. 80, NJW 1981, 1393 (1394). 36 Vgl. BVerwG, o. Fn. 35, S. 1395; OVG Münster, o. Fn. 34; OVG Lüneburg, o. Fn. 34. 1 Vgl. BVerwG, 12.12. 75, DVBl. 1976, 214 (215) - Tunnelofen.
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§ 20 Der Sicherheitsstandard des § 5 Nr. 1 BImSchG
cherverantwortlichkeit einerseits und Wirkungsstandard andererseits 2 ankommt, beschränkt sich die Untersuchung im folgenden auf die Verursacherverantwortlichkeit. Besonderheiten, die sich für die Konkretisierung des Wirkungsstandards ergeben, werden unten (D.) erörtert. I. „Erheblichkeit"
- Deutungsmöglichkeiten
Von Rechtsprechung und Literatur w i r d der Begriff der Erheblichkeit einhellig im Sinne von „Unzumutbarkeit" ausgelegt. Eine Beeinträchtigung, so w i r d behauptet, sei erheblich, wenn sie dem Betroffenen nicht mehr zugemutet werden könne. 3 Geht man imbefangen von der Bedeutung aus, die das Wort „erheblich" in der Umgangssprache hat, so muß diese Auslegung überraschen. Als „erheblich" gilt nach allgemeinem Sprachgebrauch jede Beeinträchtigung, die nicht gerade unbedeutend ist, aber die für den Betroffenen „ins Gewicht fällt". Unerheblich ist eine Bagatellbeeinträchtigung, die dem Betroffenen nichts ausmacht, wenn er nicht gerade überempfindlich ist, die ihn „nicht berührt", die einen nicht überempfindlichen Menschen zwar in seinem Wohlbefinden stört, aber nur in einem solchen Maße, daß diese Störung „nicht der Rede wert" ist. 4 Was dem einzelnen dagegen zugemutet werden kann, läßt sich nicht allgemein festlegen; es hängt auch davon ab, zu welchem Zweck es ihm zugemutet wird. Wer wollte ernsthaft behaupten, die Steuern, die er an der Tankstelle zu zahlen hat oder die von einem durchschnittlichen Arbeitnehmergehalt abgezogen werden, seien nicht „erheblich" ! Doch auch für denjenigen, der unter der Last der progressiven Einkommenssteuer stöhnt, ist sie angesichts der vielfältigen Aufgaben des modernen Steuerstaats keineswegs unzumutbar. Auf eine Steuer, die „unerheblich" wäre, könnte der Fiskus verzichten; sie würde den Verwaltungsaufwand nicht decken, der erforderlich ist, sie zu erheben. In der Umgangssprache ist also der Begriff der Zumutbarkeit wesentlich enger als derjenige der Erheblichkeit: Eine unerhebliche Beeinträchtigung 2
Dazu s.o. Α. II. Vgl. BVerwG, DVB1. 1976, 214 (216) m. Hinw. auf BVerwG, 27.2.58, Buchholz 451.20 § 16 GewO Nr. 2 S. 3 (4); BVerwG, 11.2.77, DVB1.1977, 770 (771); VGH Mannheim, 8.3.73, AgrarR 1975,17 (19); VG Hannover, 4.10.76, AgrarR 1977,100; Boisserée / Oels / Hansmann / Schmitt, § 3 Anm. 2.1; Engelhardt, § 3 Rdnr. 12; Kutscheidt, in: Landmann / Rohmer III, § 3 BImSchG Rdnr. 14; ders., in: Salzwedel, Grundzüge des Umweltrechts, S. 248; Schmatz / Nöthlichs / Weber, § 3 Anm. 11; Stich / Porger, § 3 Rdnr. 11; Ule / Laubinger, BImSchG, § 3 Rdnr. 4; Sellner, Immissionsschutzrecht, S. 17; Hansen-Dix, S. 121f., 205ff.; Martens, DVB1.1981, 598; Jarass, DVB1.1983, 729; vgl. auch TA Luft Nr. 2.2.1.3; abweichend Feldhaus, BImSchR 1 A, § 3 Anm. 10; ders., DVB1. 1979, 301 ff. 4 Die Sprachwörterbücher geben als Synonyma für „erheblich" an: „beträchtlich", „groß", „bedeutend", „ins Gewicht fallend"; für „unerheblich": „unbedeutend", „unwichtig", „nicht sehr groß", „geringfügig", vgl. Brockhaus Wahrig, Deutsches Wörterbuch, Stuttgart 1981; Duden. Das große Wörterbuch der deutschen Sprache, Mannheim u.a. 1976/1981; Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache. Berlin (Ost) 1967. 3
Β. Die Pflicht zur Duldung „unerheblicher" Beeinträchtigungen
303
ist immer zumutbar. Aber längst nicht alles, was zumutbar ist, ist auch unerheblich. Oder: Jede unzumutbare Beeinträchtigung ist erheblich, längst nicht jede erhebliche Beeinträchtigung aber unzumutbar. Nun ist freilich der allgemeine Sprachgebrauch kein zwingendes Argument für die juristische Bedeutung eines Wortes. Aber er legt doch demjenigen, der eine abweichende juristische Bedeutung behauptet, die Begründungslast auf, sofern es sich nicht um einen gebräuchlichen juristischen Terminus mit einem voraussetzbaren juristischen Bedeutungsgehalt handelt. Ist also „erheblich" in der juristischen Fachsprache im Sinne von „unzumutbar" zu verstehen? Im Immissionsschutzrecht hat die Gleichsetzung von „Erheblichkeit" mit „Unzumutbarkeit" Tradition. 5 - Im allgemeinen Polizeirecht werden beide Begriffe heuristisch zur Konkretisierung des Gefahrenbegriffs verwendet: Gefahr ist die Möglichkeit des Schadenseintritts, und „Schaden" ist eine „nicht unerhebliche" Rechtsgutverletzung. Der Begriff der „Erheblichkeit" hat hier die Funktion, Bagatellbeeinträchtigungen, um die die Polizei sich vernünftigerweise nicht zu kümmern braucht, aus dem Gefahrenbegriff auszuklammern. „Minima non curat praetor". Dies zeigen deutlich die Beispiele, die in der polizeirechtlichen Rechtsprechung und Literatur für „unerhebliche" Beeinträchtigungen genannt werden. So soll es keine Störung der „öffentlichen Ordnung" sein, mit einem hinkenden Pferd durch die Straße zu fahren. 6 Gerade hinsichtlich des polizeilichen Schutzgutes der „öffentlichen Ordnung", das in der Praxis heute kaum noch Bedeutung hat 7 , war es ja notwendig, Verletzungen dieses Schutzguts von „bloßen Geschmacklosigkeiten" abzugrenzen. 8 Als „unerheblich" wurden neben Geschmacklosigkeiten aber auch „bloße Belästigungen, Nachteile und Unbequemlichkeiten" aus dem polizeilichen Schadensbegriff eliminiert. 9 Diese wurden als „geringe" und deshalb unbeachtliche „Übelstände" angesehen 10 , also als Bagatellen, die man hinnehmen muß, weil „ i m gesellschaftlichen Zusammenleben notwendig gegenseitige Reibungen entstehen und die freie Bewegung nicht polizeilich soweit eingeengt werden kann, um jeden nachteiligen Einfluß auf andere fernzuhalten" 11 . Als besonders schwierig erwies sich die Abgrenzung von „Schäden" und „Belästigungen". 5
Vgl. die Nachw. bei Kutscheidt, in: Landmann / Rohmer III, § 3 BImSchG Rdnr. 14. 6 Drews / Wacke / Martens II, S. 107 m. weiteren Bsp.; vgl. auch die Bsp. bei Jellinek, Verwaltungsrecht, S. 438. 7 Vgl. Martens, DÖV 1982, 91 f. 8 Vgl. VGH Mannheim, DVBl. 1950, 26: Damenringkämpfe; W. Jellinek, Verwaltungsrecht, S. 438: Die in einer Wohnung zerfetzt herunterhängende Tapete. 9 Vgl. Drews / Wacke / Martens II, S. 107; Scholz, VerwArch. 27 (1919), 7. 10 Scholz, VerwArch. 27 (1919), 7ff. m. Nachw. d. Rsp. 11 Scholz, VerwArch. 27 (1919), S. 8; vgl. auch Otto Mayer, Deutsches Verwaltungsrecht Bd. 1, 2. Aufl., München / Leipzig 1914, S. 227.
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§20 Der Sicherheitsstandard des § 5 Nr. 1 BImSchG
Jellinek hat den Unterschied zwischen Schaden und Belästigung mit einer Skala veranschaulichen wollen, die Beeinträchtigungsintensitäten von 0 abwärts in absoluten Zahlen angibt: Bei Beeinträchtigungen von 0 bis - 2 dürfe die Polizei nicht einschreiten. Während bei - 2 die Gefahrenschwelle liege, sei bei - 1 0 das Ermessen des polizeilichen Opportunitätsprinzips auf N u l l geschrumpft; die positiven Zahlenwerte dagegen umfaßten die Wohlfahrtspflege. 12 Diese Skala macht deutlich, daß es bei der Konkretisierung des polizeilichen Gefahrenbegriffs insoweit um die Bestimmung der erforderlichen Beeinträchtigungsintensität geht, gibt aber keine materiellen K r i terien für die Bestimmimg der maßgeblichen Intensitätsschwelle an. 13 Die Abgrenzungsbemühungen orientieren sich meist an einem substantiell verstandenen Schadensbegriff. Beeinträchtigungen des körperlichen und seelischen Wohlbefindens, die nicht ein somatisches Krankheitsbild hervorrufen, sollen als bloße „Belästigungen" aus dem Schadensbegriff ausscheiden. 14 Jedoch ist in der Rechtsprechung schon lange anerkannt, daß es auch Belästigungen von einer solchen Intensität gibt, daß gegen sie polizeilicher Schutz geboten ist. Der polizeiliche Schadensbegriff mußte also nichtsomatischen Beeinträchtigungen des Wohlbefindens geöffnet werden. 15 Dabei setzte sich die Auffassung durch, daß es für die Abgrenzung zwischen „Belästigung" und „Schaden" darauf ankomme, ob die nicht zu einem substantiellen Körperschaden führende Belästigung für den Betroffenen noch zumutbar sei. 16 Insofern w i r d also die „Erheblichkeit" der Beeinträchtigung mit ihrer „Unzumutbarkeit" gleichgestellt. Bei der Würdigung dieses Abgrenzungskriteriums ist aber zu bedenken, daß die Funktion des Zumutbarkeitsbegriffs hier gerade darin besteht, den polizeilichen Gefahrenbegriff zu erweitern, nämlich auch Belästigungen, die das Rechtsgut nicht substantiell schädigen, in den Schadensbegriff einzubeziehen, wenn sie die Zumutbarkeitsschwelle überschreiten. Praktisch ging es dabei nur um Fälle des früher - und zum Teil noch heute - dem allgemeinen Polizeirecht unterfallenden Immissionsschutzes. - Festzuhalten bleibt demnach, daß i m allgemeinen Polizeirecht der Begriff der „erheblichen" Beeinträchtigung die Funktion hat, Bagatellbeeinträchtigungen aus dem Schutzbereich der polizeilichen Generalklausel zu eliminieren und daß das Zumutbarkeitskriterium nur dort mit dem Erheblichkeitskriterium gleichgesetzt wird, wo es um die Abgrenzung von Belästigungen geht. Im juristischen Sprachgebrauch heißt „erheblich" ansonsten so viel wie „relevant": „Erheblich" ist das, „worauf es ankommt". 1 7 Damit ist für unser 12
Verwaltungsrecht, 436f. So auch Hansen-Dix, S. 26. 14 Vgl. Ule / Rasch, Allgemeines Polizei- und Ordnungsrecht, Pr. 1. PVG §14 Rdnr. 7. 15 Vgl. die Rspr.-Nachw. bei Hansen-Dix, S. 26f. 16 Vgl. OVG Münster, OVGE 11, 250 (251) - Schweinemäster-Fall; 16, 266 - Ventilator-Fall; VGH Kassel, DÖV 1950, 76 - Ofen-Fall. 13
Β. Die Pflicht zur Duldung „unerheblicher" Beeinträchtigungen
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Problem freilich nichts gewonnen, denn gesucht sind materielle Kriterien dafür, unter welchen Voraussetzungen es auf eine Beeinträchtigimg ankommt. Jedenfalls entspricht es nicht der allgemeinen juristischen Terminologie, „Erheblichkeit" mit „Unzumutbarkeit" zu identifizieren. Im Verfassungsrecht markiert der Begriff der Zumutbarkeit die letzte Stufe des „Verhältnismäßigkeitsprinzips i m weiteren Sinne" : Unzumutbare und deshalb im engeren Sinne - „unverhältnismäßige" Eingriffe in die grundrechtlich geschützte Freiheit sind verfassungswidrig. 18 Keineswegs aber verstößt jeder „erhebliche" Eingriff gegen das betroffene Grundrecht. Manche Autoren - denen ich nicht zustimme - sind der Ansicht, daß „wenig intensive", „unerhebliche", nicht „grundrechtsrelevante" Beeinträchtigungen, kurz: Bagatellen, von vornherein aus dem grundrechtlichen Schutzbereich auszuklammern seien. 19 Jedenfalls ist eine „intensive" und - wie man modern, aber ungenau sagt - „grundrechtsrelevante" Beeinträchtigung eines grundrechtlich geschützten Guts immer ein „Eingriff", keinesfalls aber immer eine Grundrechtsverletzung. „Verletzt" ist das Grundrecht nur dann, wenn der Eingriff - und sei er noch so „intensiv" und „relevant" - nicht aufgrund eines verfassungsmäßigen Gesetzes erfolgt und insbesondere nicht unzumutbar ist. Wäre jede „erhebliche" Freiheitseinschränkung schon unzumutbar, dann könnten die Grundrechte praktisch überhaupt nicht eingeschränkt werden. Wäre hingegen jede zumutbare Einschränkung unerheblich, müßte man sich fragen, wozu der dogmatische Aufwand der Unterscheidung von Grundrechten und Einschränkungsvorbehalten, Eingriff und Verletzung, Geeignetheit und Erforderlichkeit des Eingriffs überhaupt getrieben würde: Man könnte das alles auf das Verhältnismäßigkeitsprinzip im engeren Sinne, auf die Prüfung der Zumutbarkeit beschränken. Fazit: Nicht nur die Umgangssprache, sondern auch die juristische Fachsprache hält für den Begriff der „Erheblichkeit" ein breites Bedeutungsspektrum offen, das sich zwischen „Bagatelle" auf der einen und „Zumutbarkeit" auf der anderen Seite über ein mehr oder weniger breites Feld von Intensitätsgraden erstreckt. Wie weit beides auseinander, wie nah es zusammen liegt, hängt von den konkreten Umständen ab, aus denen sich ergibt, was dem Betroffenen zugemutet werden kann; oft genug muß er sich erheblich mehr an Beeinträchtigungen zumuten lassen als bloße Bagatellen - zum Glück aber längst nicht immer. Dieser Befund zeigt, daß der immissionsschutzrechtliche Begriff der Erheblichkeit klärungsbedürftig ist und daß 17 So besonders im Verfahrensrecht, vgl. zur „Entscheidungserheblichkeit" i. S. von Art. 100 I GGz.B. BVerfGE 2, 266 (271); 46, 268 (283); 58, 300 (317f.); zur „Erheblichkeit" eines Verfahrensfehlers i.S. von § 46 VwVfG vgl. Kopp, VwVfG, § 46 Anm. 3; Martens, Festschr. H. P. Ipsen, S. 454. 18 Vgl. z.B. BVerfGE 30, 292 (316f, 324); 33, 171 (187f.); 36, 47 (59); 37, 1 (19); 46, 120 (148); v. Münch, GG, Vorb. Art. 1 - 19 Rdnr. 55. 19 Vgl. Kloepfer, Zum Grundrecht auf Umweltschutz, S. 20f.; Degenhart, Kernenergierecht, S. 145, 152; vgl. auch o. § 11 Fn. 12.
20 Murswiek
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sich die Gleichung „erheblich = unzumutbar" auf ihre Begründbarkeit überprüfen lassen muß.
II. Interpretation eines unbestimmten Rechtsbegriffs bei kontradiktorischer Zwecksetzung 1. Schutzzweck und Förderungszweck Wann ist eine Beeinträchtigimg „erheblich" im Sinne des Bundes-Immissionsschutzgesetzes? In Art. 5 Nr. 1 BImSchG begrenzt der Begriff der Erheblichkeit die Pflichten des Anlagenbetreibers und damit zugleich den Schutz, den das Gesetz dem Betroffenen bietet. Dieser funktionale Zusammenhang, in dem das Bundes-Immissionsschutzgesetz von „erheblichen" Beeinträchtigungen spricht, sagt für sich genommen über die Intensität derjenigen Beeinträchtigungen, die der Betreiber verursachen darf und die der Betroffene zu dulden hat, nichts aus. Ein Anhaltspunkt hierfür ergibt sich aber aus dem Umstand, daß das Gesetz offenbar von der prinzipiellen Genehmigungsfähigkeit genehmigungsbedürftiger Anlagen ausgeht. Anderenfalls wären die materiellen Genehmigungskriterien ebenso überflüssig wie die Vorschriften über das Genehmigungsverfahren: Sie hätten knapp durch ein Verbot der Errichtung und des Betriebs von abstrakt gefährlichen Anlagen im Sinne des § 4 I BImSchG ersetzt werden können. Das Gesetz w i l l aber nicht das generelle repressive Verbot dieser Anlage erreichen, sondern ihre Genehmigimg unter Beachtung der materiellen Genehmigungsvoraussetzungen. Das präventive Verbot dient nur der Sicherstellung dieser Bedingung. 20 Dies spricht dafür, die Genehmigungsvoraussetzungen so auszulegen, daß die prinzipielle Genehmigungsfähigkeit der genehmigungsbedürftigen Anlagen nicht in Frage gestellt wird. 2 1 Unter „prinzipieller Genehmigungsfähigkeit" ist freilich nicht zu verstehen, daß jede Anlage, für die ein Genehmigungsantrag gestellt wird, genehmigungsfähig sein muß. 22 Es kommt nur darauf an, daß Anlagen dieser Art überhaupt - z.B. bei optimalen Standortbedingungen - genehmigungsfähig sein müssen, daß es also abstrakt gesehen möglich ist, daß derartige Anlagen die materiellen Sicherheitsanforderungen des Gesetzes erfüllen. Das Kriterium der prinzipiellen Genehmigungsfähigkeit ermöglicht aber nur die Ausgrenzung von nicht in Betracht kommenden Auslegungsmöglichkeiten des Begriffs „erheblich", nicht hingegen bereits eine positive Konkretisierimg. Da der Gesetzeszusammenhang insoweit nicht weiter20 21 22
Vgl. Martens, Festschr. H. P. Ipsen, S. 461; Hansen-Dix, S. 92f. m.w.N. Vgl. Friauf, VEnergR 50, S.112. Mißverständlich Friauf, VEnergR 50, S. 112.
Β. Die Pflicht zur Duldung „unerheblicher" Beeinträchtigungen
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hilft, liegt es nahe, den Gesetzeszweck als Auslegungsmaxime heranzuziehen. Nach § 1 BImSchG ist es Zweck des Gesetzes, vor schädlichen Umwelteinwirkungen und hinsichtlich genehmigungsbedürftiger Anlagen auch vor anderen erheblichen Beeinträchtigungen zu schützen und dem Entstehen schädlicher Umwelteinwirkungen vorzubeugen. Geht man von diesem Schutzzweck aus, so könnte man argumentieren: Der Begriff der Erheblichkeit schränkt die Verwirklichung des Schutzzwecks ein. Die optimale Verwirklichung des Schutzzwecks verlangt es, die Einschränkung so eng wie möglich auszulegen. Dem ließe sich entgegenhalten, ein solches Argument beruhe auf einem circulus vitiosus: Der Schutzzweck selbst werde in § 1 nämlich schon durch den Begriff der „Erheblichkeit" begrenzt. Doch auch eine immanente Zweckbegrenzung kann unter dem Zweckaspekt interpretiert werden, zumindest dann, wenn das Gesetz eine Präferenz zugunsten des Zwecks gegenüber der Begrenzung erkennen läßt. 23 Dafür spricht beim Bundes-Immissionsschutzgesetz das „Prinzip Vorsicht", wie es § 1 mit dem Zweck der „Vorbeugung" gegen das Entstehen schädlicher Umwelteinwirkungen und § 3 Nr. 1 mit der Definition des Begriffs der schädlichen Umwelteinwirkungen als abstrakte Eignung zur Hervorbringung erheblicher Beeinträchtigungen zum Ausdruck bringen. Eine am Schutzzweck orientierte Interpretation des Begriffs der Erheblichkeit müßte demnach die Erheblichkeitsschwelle an der unteren Grenze des Bedeutungsspektrums von „Erheblichkeit" festlegen, so daß jede Beeinträchtigung verboten wäre, die nicht lediglich Bagatellcharakter hat. Schon aus dem funktionalen Zusammenhang heraus wurde aber begründet, daß das Gesetz die prinzipielle Genehmigungsfähigkeit von genehmigungsbedürftigen Anlagen nicht ausschließen will. Deshalb kann die Festlegung der zu vermeidenden Beeinträchtigungen auf die Bagatellgrenze jedenfalls insofern nicht gelten als daran die prinzipielle Genehmigungsfähigkeit einer Anlagenart scheitern würde. Diese Begrenzung des Schutzes läßt erkennen, daß das Gesetz nur scheinbar monofinal programmiert ist. 2 4 Auch die Gestattung der Verursachung „unerheblicher" Beeinträchtigungen und die Belastung der Nachbarschaft und der Allgemeinheit mit einer entsprechenden Duldungspflicht müssen ja einen Zweck haben, der die Beeinträchtigung rechtfertigt und zugleich das 23 Vgl. die Argumentation des BVerfG zur „Wechselwirkung": Wenn die gesetzlichen Grundrechtseinschränkungen wiederum „ i m Lichte" des eingeschränkten Grundrechts auszulegen sind - E 7, 198 (208f.); 12, 113 (124); 20, 161 (176f.); 24, 278 (282) - , dann wird dem Grundrecht im Verhältnis zur Schranke eine Präferenz eingeräumt, obwohl das Grundrecht ja von vornherein unter Gesetzesvorbehalt steht, also sein Schutzzweck durch das den Vorbehalt ausfüllende Gesetz begrenzt wird. 24 So aber Steiger, in: Umweltrecht mildern? S. 151 f.; Soell, Die wirtschaftliche Vertretbarkeit, S. 12.
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Ausmaß der zulässigen Beeinträchtigung nach Maßgabe des Verhältnismäßigkeitsprinzips begrenzt. Dieser zweite, dem Schutzzweck entgegenlaufende Gesetzeszweck wird im Bundes-Immissionsschutzgesetz nicht ausdrücklich bezeichnet. Er muß aus dem Zusammenhang der Schutzbestimmungen heraus ermittelt werden, da das Gesetz sich in der Zwecknorm und in der Überschrift nur als Schutzgesetz gibt, als Immissions-Schutzgesetz, nicht hingegen als Immissions-Ermöglichungsgesetz, oder neutral: als Immissionsgesetz.25 Implizit normiert ist der zweite Zweck jedenfalls bereits i n der Zweckbestimmung des § 1, die den Schutzzweck durch den Begriff der Erheblichkeit begrenzt. Diejenigen Bestimmungen, die - wie § 5 Nr. 1 die Duldung „unerheblicher" Beeinträchtigungen verlangen und ihre Verursachung gestatten, setzen diesen gegenläufigen Zweck voraus. Worin aber besteht der zweite Zweck des Bundes-Immissionsschutzgesetzes? Diese Frage kann hier nicht offen bleiben, denn nur in bezug auf den Zweck läßt sich beurteilen, inwieweit die Belastung mit der Duldungspflicht gerechtfertigt werden kann und wo die Grenzen dieser Pflicht liegen. - Als Zweck der Pflicht, „unerhebliche" Beeinträchtigungen zu dulden, kommt erstens die Gewährleistung der Freiheit des Unternehmers (oder jedes anderen Verursachers von Beeinträchtigungen) und zweitens das öffentliche Interesse am Betrieb genehmigungsbedürftiger Anlagen in Betracht. Da der Staat aufgrund seiner Schutzpflicht jede Beeinträchtigimg Dritter zu untersagen hat, die nicht durch Gründe des Gemeinwohls gerechtfertigt werden kann, kommt die Gewährleistung der privaten Freiheit des Anlagenbetreibers als Zweck nur dann in Betracht, wenn diese Freiheit an sich bereits Gegenstand des Gemeinwohls ist. Das ist sie insofern, als sie grundrechtlich geschützt ist; die Wahrung der Grundrechte liegt immer auch im öffentlichen Interesse. Ein allgemeines öffentliches Interesse an der Beeinträchtigung Dritter gibt es jedoch nie. Die rechtliche Gewährleistung der Gewerbe-, Berufs- oder Eigentumsnutzungsfreiheit als private Freiheit des privaten Rechtssubjekts endet prinzipiell an den Grenzen der eigenen Rechtssphäre. 26 Sie ist materiell nicht Freiheit zum Eingriff in Rechte anderer, nicht Freiheit zur Beeinträchtigung Dritter, sofern sich nicht ausnahmsweise ein Anspruch auf Beeinträchtigung anderer aus der Verfassung ableiten läßt. 27 Da ein solcher Anspruch sich aus den wirtschaftlichen Grundrechten nicht ergibt 28 , kommt als Zweck der Beeinträchtigungserlaubnis nur das öffentliche Interesse an der Ausübung der privaten 25 Vgl. dagegen das Atomgesetz, das in § 1 den Förderungszweck noch vor dem Schutzzweck nennt und auch in der Überschrift, deren Kurzform neutral ist, beide Zwecke zum Ausdruck bringt: „Gesetz über die friedliche Verwendung der Kernenergie und den Schutz gegen ihre Gefahren". 26 Vgl. BVerfGE 58, 300 (329): Die Befugnisse des Grundstückseigentümers enden an den Grundstücksgrenzen. 27 s.o. § 17 Β. I. 28 s.o. § 17 Β. I.
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Freiheit des Anlagenbetreibers in Betracht. Diese Erkenntnis liegt bereits der Preußischen Technischen Anleitung vom 14.4.1875 zu §§ 16ff. GewO 29 zugrunde. Dort heißt es: „Es ist zu erwägen, ob jene Nachteile, Gefahren oder Belästigungen dasjenige Maß überschreiten, dessen Duldung sowohl den Nachbarn als dem Publikum im Interesse der für die allgemeine Wohlfahrt unentbehrlichen Industrie angesonnen werden kann." Das BundesImmissionsschutzgesetz geht stillschweigend davon aus, daß die Genehmigung von Industrieanlagen grundsätzlich - bei Erfüllung der Genehmigungsvoraussetzungen - im öffentlichen Interesse liegt, weil ohne die Industrie die materiellen Grundlagen der Industriegesellschaft, insbesondere des Sozialstaats in der vom Bundes-Immissionsschutzgesetz vorausgesetzten Ausprägung, verlorengingen. Ohne diesen Zweck wäre die in § 5 Nr. 1 enthaltene Einschränkung der Freiheit durch die Duldungspflicht für die von Industrieimmissionen Betroffenen jedenfalls insoweit nicht zu rechtfertigen, als die Pflicht sich auf die Duldung von die Bagatellschwelle überschreitenden Beeinträchtigungen erstreckt. Das Bundes-Immissionsschutzgesetz hat demnach nicht nur den in § 1 formulierten Zweck, vor Beeinträchtigungen zu schützen, sondern auch den Zweck, den Betrieb von Industrieanlagen, die Dritte beeinträchtigen, zu ermöglichen 30 ; es ist nicht nur Umweltschutzgesetz, sondern auch Umweltnutzungsgesetz - Gesetz zur Ermöglichung der Industrie und der industriellen Umweltnutzung. Dies gilt nicht hinsichtlich nichtindustrieller Umweltnutzungen, die das Bundes-Immissionsschutzgesetz erlaubt. Dabei handelt es sich hauptsächlich um Nutzungen durch nicht genehmigungsbedürftige Anlagen, auf die hier nicht näher einzugehen ist. Der „Industrieermöglichungszweck" ist weit zu fassen und auch auf sonstige gewerbliche Anlagen und auf nichtgewerbliche Anlagen, die mittelbar diesem Zweck dienen - etwa Forschungsanlagen - zu erstrecken. Der Betrieb von Anlagen dagegen, die sich unter diesen Zweck nicht subsumieren lassen - etwa gemäß § 4 Nr. 40 4. BImSchV genehmigungsbedürftige Schießstände - , mag zwar aus anderen Gründen im öffentlichen Interesse liegen, doch setzt das Bundes-Immissionsschutzgesetz ein solches öffentliches Interesse nicht voraus. Hinsichtlich dieser Anlagen ergibt sich daraus eine eindeutige Präferenz des Umweltschutzzwecks gegenüber dem Umweltnutzungszweck. Demnach erlaubt das Gesetz derartige Beeinträchtigungen nur, soweit sie sich unter dem allgemeinen Gesichtspunkt der Sozialadäquanz rechtfertigen lassen. 31 Dies dürfte oberhalb der Bagatellschwelle kaum je möglich sein. 29 Zit. nach Kutscheidt, in: Landmann / Rohmer III, § 3 BImSchG Rdnr. 14; ebenso die Preußische Technische Anleitung vom 15.5.1895, MBliV S. 196, abgedr. bei Landmann / Rohmer, GewO, 11. Aufl., 1956, Anh. zu § 16, und bei Feldhaus, BImSchR II, Anh. 1 a. 30 Vgl. Feldhaus, DVB1. 1979, 302ff.; ders., VEnergR 50, 98f.; Friauf, VEnergR 50, 111 ff. 31 s.o. § I I B . 1.3.
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Wann eine Beeinträchtigung nicht mehr als Bagatelle angesehen werden kann, sondern „ins Gewicht fällt" und in diesem Sinne „erheblich" ist, kann nicht abstrakt beurteilt werden, sondern nur situationsbezogen. Wie intensiv eine Immission den Betroffenen beeinträchtigt, hängt insbesondere vom Gebietscharakter ab, in dem das Grundstück liegt, auf dem er der Beeinträchtigung ausgesetzt ist. Dabei kommt es, wie das Bundesverwaltungsgericht überzeugend dargelegt hat, vor allem auf die bauplanungsrechtliche Situationsprägung an. 32 In diesem Zusammenhang spielt der Zweck des Projekts dagegen keine Rolle. Als Zwischenergebnis bleibt somit festzuhalten, daß die Auslegung des Erheblichkeitsbegriffs unter dem Aspekt des- Schutzzwecks dazu führen müßte, als „unerheblich" nur Bagatellbeeinträchtigungen anzusehen. Überschreitungen der Bagatellschwelle lassen sich jedoch unter dem Aspekt des gegenläufigen Zwecks, des Industrieförderungszwecks 33 , rechtfertigen. Also: Bagatellbeeinträchtigungen sind in jedem Fall erlaubt. Wie weit der Förderungszweck den Schutzzweck zurückdrängt, wie intensiv also die Beeinträchtigungen sein dürfen, die darüber hinaus zugelassen werden müssen, ist im folgenden zu untersuchen. 2. Die Begrenzung des Schutzzwecks durch den Förderungszweck Wo ein Gesetz kontradiktorische Zwecke setzt, Zwecke also, von denen einer nicht vollständig verwirklicht werden kann, ohne die vollständige Verwirklichimg des anderen unmöglich zu machen, dort jedenfalls ist eine solche Auslegung unzulässig, die die Verwirklichung eines der Zwecke vollständig ausschließt. Vielmehr kommt es darauf an, eine optimale Verwirklichung beider (bzw. aller) Zwecke zu erreichen, „praktische Konkordanz" der Zwecke herzustellen. 34 Da aber ein Zweck nur auf Kosten des anderen Zwecks erreicht werden kann, ist ein Kompromiß notwendig. Was „Optimierung durch Kompromiß" 3 5 bedeutet, hängt davon ab, wie die Zwecke im Gesetz gewichtet sind. Ob sich dem Bundes-Immissionsschutzgesetz eine Präferenz zugunsten des einen gegenüber dem anderen Zweck entnehmen läßt, ist streitig. Einerseits w i r d auf § 1 hingewiesen, auf den ausdrücklich normierten Schutz32 s.u. Fn. 82, 83. 33 Vom „Förderungszweck" wird hier in Anlehnung an § 1 Nr. 1 AtG gesprochen. Allerdings geht die atomrechtliche Industrieförderung über die Gewährung von Umweltnutzungs- und Ingerenzverursachungsbefugnissen hinaus; sie erstreckt sich z.B. auch auf staatliche Entsorgungsvorsorge (§ 9 I I I AtG) oder auf Haftungsbegrenzungen (§ 31). 34 Vgl. Hesse, Verfassungsrecht, § 2 I I I 2 c). 35 Friauf, VEnergR 50, 109.
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zweck, der im Zweifel Vorrang vor dem Förderungszweck haben müsse. 36 Friauf hat dagegen zwischen „finalen Vorgaben" als den „eigentlichen Sachzielen des Gesetzes" einerseits und den modalen Anforderungen, die bei der Verfolgung der Sachziele zu beachten sind, andererseits unterschieden mit der Folgerung, daß die modale Anforderung die Verwirklichung des Sachziels nur begleiten, ihr gegenüber aber keinen Vorrang haben könne. Das Sachziel erblickt er in der Industrieermöglichung, die modale Anforderung im Schutz vor nachteiligen Folgen der Technik. 37 Diese Zuordnung scheint logisch, denn Schutz vor den Risiken der Technik ist nur dort geboten, wo es riskante Technik gibt. Doch der Schein trügt: Die Möglichkeit riskanter Technik reicht aus, gesetzlichen Schutz notwendig zu machen. Ein Atomgesetz war zur Erfüllung der Schutzpflicht notwendig, bevor das erste Atomkraftwerk gebaut wurde, und hätte der Gesetzgeber den Schutz nicht durch modale Anforderungen an Bau und Betrieb von Kernkraftwerken bieten wollen, dann hätte er ihn auch durch ein völliges Verbot der Kernenergienutzung bieten können. 38 Auch ein solches Verbot wäre Schutz vor den Risiken der Kerntechnik. Logisch hat demnach der Förderungszweck keinen Vorrang vor dem Schutzzweck. Wenn die Schutzanforderungen des Gesetzes so anspruchsvoll sind, daß es zur Zeit immöglich ist, sie technisch zu erfüllen, dann ist die betreffende Anlage zur Zeit nicht genehmigungsfähig; man muß dann die Fortentwicklung der Sicherheitstechnik abwarten. 39 Wollte man für die kontradiktorischen Zwecke des Bundes-Immissionsschutzgesetzes ein Präferenzverhältnis formulieren, so gäbe es angesichts des § 1 am Vorrang des Schutzzwecks vor dem nur implizit als Begrenzung dieses Zwecks formulierten Förderungszweck keinen Zweifel. Daß der Schutz als Modalität der Technikverwirklichung erscheint, sagt über das materielle Gewicht der Zwecke nichts aus. Doch eine abstrakte Rangstufung, die im Zusammenhang mit Erkenntnisproblemen nützlich sein mag („Prinzip Vorsicht"), ist für das Auffinden der Kompromißlinie kaum hilfreich. Die Zweckoptimierung hat sich an der gesetzlich vorgegebenen funktionalen Zuordnung der Zwecke zu orientieren. Der Förderungszweck begrenzt den Schutz der Betroffenen, also den einzigen ausdrücklich normierten Zweck des Gesetzes. Daher ist er restriktiv auszulegen. Er mußte aus den gesetzlichen Einschränkungen des Schutzzwecks heraus erst entwickelt werden. Man kann also nicht annehmen, daß das Gesetz mit der Pflicht zur Duldung „unerheblicher" Beeinträchtigungen 36
Vgl. Feldhaus, DVB1. 1979, 305. VEnergR 50, 112, 114. 38 Vgl. BVerfGE 49, 89 (127ff.). 39 Hierüber besteht in Rspr. u. Lit. weitgehende Einigkeit, vgl. zum „kategorischen" Gebot der Vermeidung von Gefahren, das unabhängig von der technischen oder wirtschaftlichen Realisierbarkeit gilt, die Nachw. o. § 17 Fn. 13 - 15. 37
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weitergehende Ziele verfolgt als diejenigen, die sich aus dem regelungssystematischen Zusammenhang ergeben. Hiernach w i l l das Gesetz Sicherheit gewährleisten, aber nicht durch zu rigorose Sicherheitsvorschriften den Betrieb von Industrieanlagen unmöglich machen und damit dem Industriesystem seine Grundlage entziehen. Es w i l l den Betrieb von Industrieanlagen ermöglichen und belastet zu diesem Zweck die Betroffenen mit der Pflicht, die von den Anlagen ausgehenden Beeinträchtigungen zu dulden. Das Gesetz w i l l die Existenz des Industriesystems nicht in Frage stellen oder gefährden, sondern durch Beeinträchtigungserlaubnisse und entsprechende Duldungspflichten gewährleisten. Zweck des Gesetzes ist somit die Ermöglichung und Erhaltung des Industriesystems. Der Regelungszusammenhang gibt jedoch keine Anhaltspunkte dafür her, daß das Gesetz darüber hinaus mit der Duldungspflicht noch weitergehende Zwecke verfolgt. Es ist zum Beispiel nicht erkennbar, daß das Gesetz das bestehende Industriesystem nicht nur durch die Ermöglichung der das System tragenden Industrieanlagen fördern will, sondern zusätzlich wirtschaftspolitische Ziele verfolgt und daß die Sicherheitsstandards etwa der Verbesserung der unternehmerischen Ertragslage oder der Ankurbelung des Wirtschaftswachstums durch Begrenzung der Kosten für Sicherheitsinvestitionen dienen sollen. 40 Unter anlagebezogenem Aspekt w i r d dem Förderungszweck also in vollem Umfang Rechnung getragen, wenn das zu beurteilende Projekt unter realisierbaren Bedingungen genehmigt wird. Werden die Sicherheitsanforderungen so weit zurückgeschraubt, daß das Projekt realisiert werden kann, ist der sich aus dem Gesetzeszusammenhang ergebende Zweck der Duldungspflicht erfüllt: Der Schutz der Betroffenen steht der Errichtung und dem Betrieb der Anlage nicht im Wege. Eine weitergehende Einschränkung der Sicherheit wäre zur Erreichung des Industrieermöglichungszwecks also nicht erforderlich und daher unzulässig. Umgekehrt setzt das Gesetz, wie bereits gezeigt, die prinzipielle Genehmigungsfähigkeit genehmigungsbedürftiger Anlagen voraus und läßt es daher grundsätzlich nicht zu, durch praktisch unerfüllbare Sicherheitsanforderungen die Realisierung eines Anlagenprojekts zu vereiteln. Das bedeutet: Beeinträchtigungen, die die Bagatellschwelle überschreiten, sind dann und nur dann zulässig, wenn eine Anlage der betreffenden Art anders nicht genehmigungsfähig wäre. Auf diese Weise w i r d der Umweltnutzungszweck so weit wie nötig verwirklicht, der Umweltschutzzweck nicht mehr als nötig begrenzt. § 5 Nr. 1 BImSchG verpflichtet den Betreiber also, Beeinträchtigungen, die nicht nur Bagatellcharakter haben, so weit wie möglich zu reduzieren. Nur mit denjenigen Beeinträchtigungen darf der einzelne belastet werden, 40 Die Ausnahme des § 67 V BImSchG - dazu Riegel, DVB1.1976, 764ff. - bestätigt die Regel.
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die zur Erreichung des gesetzlichen Zwecks - hier: der Ermöglichung des Anlagenbetriebs - unvermeidlich sind. Was die Unvermeidlichkeit der Beeinträchtigungen angeht, ist noch zu präzisieren: In Anbetracht des Gesetzeszwecks, den Betrieb genehmigungsbedürftiger Anlagen prinzipiell zu ermöglichen, kann es nicht nur darauf ankommen, ob eine Reduzierung der Beeinträchtigungsintensität technisch - etwa durch den Einbau zusätzlicher Filter - realisierbar ist. Es muß auch darauf ankommen, ob die Beeinträchtigungsreduzierung wirtschaftlich realisierbar ist. Das ist sie jedenfalls dann nicht, wenn am wirtschaftlichen Aufwand für die zusätzlichen Sicherheitsvorkehrungen die Wirtschaftlichkeit der gesamten Anlage scheitern würde. Außerdem darf der für die Reduzierung der Beeinträchtigungsintensität erforderliche wirtschaftliche Aufwand nicht in einem unvernünftigen Verhältnis zum damit erzielten Sicherheitsgewinn stehen. 41 Mit dieser Auslegung w i r d also nicht eine starre Kompromißlinie, etwa in der Mitte zwischen den Maximalpositionen des Schutzzwecks und des Förderungszwecks, postuliert, sondern ein flexibler Kompromiß, der oberhalb der vom Wortlaut vorgegebenen Bagatellschwelle das Zurücktreten des Schutzzwecks gegenüber dem Förderungszweck insoweit, aber auch nur insoweit verlangt, also dieser nur auf Kosten von jenem verwirklicht werden kann. 4 2 Auf diese Weise w i r d eine optimale Realisierung beider Zwecke erreicht, solange nicht auf einer Seite die Minimalposition angetastet wird, ohne deren Wahrung von einem Kompromiß oder von „praktischer Konkordanz" der Zwecke keine Rede mehr sein könnte. Die gesetzliche Minimalposition des Anlagenbetreibers wurde mit der „Bagatellschwelle" bereits bezeichnet, unterhalb welcher jede Beeinträchtigung erlaubt ist. Oberhalb dieser Schwelle w i r d seine Freiheit durch die Beeinträchtigungsvermeidungspflicht zwar begrenzt, aber eben nicht weiter als ohne Verzicht auf den Betrieb der Anlage möglich ist. Diese Beeinträchtigungsbefugnis nach Maßgabe des Unvermeidlichen kann nach oben hin aber nicht unbegrenzt sein. Sie findet ihre Grenze an der Minimalposition des Betroffenen, nach der im folgenden zu fragen ist.
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Zur Begründung s.o. § 17 Β. II. 3. Ein starrer Kompromiß in der Mitte zwischen beiden Positionen hätte dagegen zur Folge, daß manche Anlagen nicht genehmigt werden könnten, die nach dem hier vorgelegten Vorschlag genehmigungsfähig sind. Der Schutzzweck muß also in vielen Fällen zurücktreten, in denen er bei einem Kompromiß der mittleren Linie nicht zurücktreten müßte. Dennoch bleibt die gesetzliche Präferenz für den Schutzzweck insofern gewahrt, als dieser die Orientierung leitet: Soviel Sicherheit wie möglich! 42
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3. Die maximal zulässige Beeinträchtigung a) Unzumutbarkeit beziehungsweise Gemeinschädlichkeit als Grenze der maximal zulässigen Beeinträchtigung Die Pflicht zur Duldung von Beeinträchtigungen endet an der Grenze der Zumutbarkeit: Wenn das Gesetz zum Eingriff in grundrechtlich geschützte Interessen ermächtigt, dann darf dieser Eingriff nicht unzumutbar sein. Ein unzumutbarer Eingriff in grundrechtlich geschützte Rechtspositionen verstößt gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne 43 und ist verfassungswidrig. 44 Der Begriff der Unzumutbarkeit markiert demnach die Grenze des maximal zulässigen Eingriffs und damit die Mindestposition des Betroffenen. Würden der Gesetzgeber oder die Genehmigungsbehörde die Verursachung unzumutbarer Beeinträchtigungen zulassen, so verletzten sie ihre Schutzpflicht und damit das betroffene Grundrecht des Beeinträchtigten. Oben wurde gezeigt, daß der Begriff der „Erheblichkeit" sowohl unter dem Aspekt des Schutzzwecks als auch unter dem Aspekt des Förderungszwecks auszulegen ist und daß man auf der einen Seite zur Untergrenze des Bedeutungsgehalts, zur Bagatellschwelle kommt, während auf der anderen Seite aus dem Förderungszweck sich eine Ausweitung der zulässigen Beeinträchtigungsintensität nach Maßgabe des zur Verwirklichimg eines Anlagenprojekts abstrakt Erforderlichen ergab. Der Zumutbarkeitsgesichtspunkt setzt dieser Auslegung nun nach oben eine Grenze: Unzumutbare Beeinträchtigungen sind immer „erheblich", und zwar auch dann, wenn es nicht möglich wäre, bei der Verwirklichung des Anlagenprojekts diese Beeinträchtigung zu vermeiden. In diesem Fall darf die Genehmigung nicht erteilt werden. Die Grenze der zulässigen Beeinträchtigungen allein vom Maß der individuellen Zumutbarkeit her zu bestimmen, ist allerdings deshalb problematisch, weil § 5 Nr. 1 BImSchG nicht nur den einzelnen, sondern auch die A l l gemeinheit schützt. Die individuelle Zumutbarkeit kann daher zwar die Grenze der Duldungspflicht für den betroffenen einzelnen angeben; die Grenze der Sicherheitspflichten des Verursachers ist mit ihr aber nur dann identisch, wenn das Ausmaß der Beeinträchtigung der Allgemeinheit nicht größer ist als das Ausmaß der Beeinträchtigung des betroffenen einzelnen. 43 Wegen der doppelten Eingriffsrichtung des § 5 Nr. 1 - eingeschränkt wird nicht nur die Freiheit des Immissionsbetroffenen, sondern auch des Anlagenbetreibers muß auch nach der anderen Seite eine Überprüfung anhand des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes erfolgen. Doch bestehen insoweit gegen die Pflicht, Beeinträchtigungen oberhalb der Bagatellschwelle zu vermeiden, keine Bedenken, s. dazu bereits oben 1. mit Fn. 26, 27. 44 s.o. Fn. 18.
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Genehmigungsbedürftige Anlagen werden aber in aller Regel schon wegen ihrer abstrakt gegebenen Umweltgefährlichkeit nicht nur einen einzelnen Nachbarn, sondern eine Vielzahl von Individuen beeinträchtigen. Dies kann dazu führen, daß eine Vielzahl für sich genommen unerheblicher Einzelbeeinträchtigungen (der einzelnen „Nachbarn") sich zu einer im ganzen gesehen erheblichen Gesamtbeeinträchtigung (der „Allgemeinheit") summieren. Im übrigen sind auf seiten der Allgemeinheit natürlich die Gemeinschaftsgüter zu berücksichtigen, die beeinträchtigt werden, wie etwa öffentliche Bauwerke, architektonische Denkmäler oder auch Ökosysteme. Was im Hinblick auf den Schutz der Allgemeinheit die maximal zulässige Beeinträchtigung ist, läßt sich durch das Zumutbarkeitskriterium nicht bestimmen - zum einen wegen der subjektivistischen Färbung des auf den Individualschutz ausgerichteten Zumutbarkeitsbegriffs, zum anderen wegen der grundrechtlichen Begründung dieses Kriteriums. Der Allgemeinheit stehen keine Grundrechte zu, die nicht unverhältnismäßig eingeschränkt werden dürften. Man wird aber die Obergrenze der für die Allgemeinheit noch hinnehmbaren Beeinträchtigungen in Entsprechung zur individuellen Zumutbarkeit ermitteln müssen, da andere Kriterien fehlen. Die TA Luft gibt in Nr. 2.2.1.3 die Grenze der für die Allgemeinheit „erheblichen" Beeinträchtigung mit der „Beeinträchtigung des Gemeinwohls" an. Das Gemeinwohl w i r d aber meist schon unterhalb der Maximalgrenze beeinträchtigt; es geht ja gerade um das Problem, daß verschiedene Gemeinwohlzwecke in Widerspruch geraten und daß wegen des öffentlichen Interesses an der Industrie am öffentlichen Interesse an immissionsarmer Luft Abstriche gemacht werden müssen. Zur Markierung der Grenze des für die Allgemeinheit nicht mehr Hinnehmbaren wird deshalb als Parallelbegriff zur individualrechtlichen Zumutbarkeit der Begriff der „Gemeinschädlichk e i t " 4 5 vorgeschlagen - im Bewußtsein der Tatsache, daß der Begriff allein die zusätzlichen Konkretisierungsprobleme nicht beseitigt, die sich aus der Schwierigkeit ergeben, die Interessen der Allgemeinheit zutreffend zu gewichten. Wenn die Rechtsprechung bei der Konkretisierung des Erheblichkeitsbegriffs nur auf die „Zumutbarkeit" für den einzelnen und nicht auf die „Gemeinschädlichkeit" abstellt, hat dies vermutlich zwei Gründe: Zum einen hat die Konkretisierung des Erheblichkeitsbegriffs in der Praxis nur dort Probleme bereitet, wo es um die Abgrenzung zulässiger von unzulässigen „Belästigungen" ging. Im Unterschied zu den Begriffen des „Schadens" und des „Nachteils" ist der Begriff der „Belästigung" subjektivistisch 45 Auch dieser Begriff ist nicht unproblematisch, weil der Begriffsteil „Schädlichkeit" auch im Begriff der „schädlichen UmwelteinWirkungen" steckt und dieser Begriff gerade nicht nur die Maximalgrenze angibt. Mangels einer besseren Begriffsalternative bleibt nur zu betonen, daß beides nicht verwechselt werden darf.
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geprägt. Er läßt sich nur auf das Individuum beziehen. Nur ein konkretes Subjekt, nicht aber die Allgemeinheit als solche ist belästigungsfähig. Deshalb dürfte es sich wohl verbieten, individuelle Belästigungen zu einer kollektiven Gesamtbelästigung zusammenzuaddieren. Soweit es also um nichts anderes geht, als um die Frage, ob von einer Anlage eine „erhebliche Belästigung" ausgeht, läßt sich nichts dagegen sagen, daß die individuelle Zumutbarkeit als einziges Abgrenzungskriterium angewandt wird. Für „Schäden" und „Nachteile" gilt dies jedoch nicht, und es ist zu bedenken, daß die „Belästigung" vieler einzelner sich zu einem „Nachteil" für die A l l gemeinheit auf summieren kann, der an Intensität die jeweilige Einzelbeeinträchtigung des jeweils betroffenen einzelnen wesentlich übersteigt - man denke etwa an die Minderimg der Wohnqualität eines größeren Gebietes, das vom Einwirkungsradius der Anlage erfaßt wird. - Der zweite Grund für die mangelnde Berücksichtigung der Gemeinschädlichkeit in der Rechtsprechung besteht darin, daß der Kläger im Verwaltungsprozeß nur seine eigenen Interessen und nicht die der Allgemeinheit geltend machen kann, auf die es daher nach der Rechtsprechung im Prozeß nicht ankommt. Dies ändert aber nichts daran, daß die Interessen der Allgemeinheit die materielle Betreiberpflicht gem. § 5 Nr. 1 BImSchG mitbestimmen und bei der Genehmigungsentscheidung zu beachten sind. Sofern im folgenden die Maximalgrenze - wie allgemein üblich - mit dem Zumutbarkeitsbegriff bezeichnet wird, ohne die „Gemeinschädlichkeit" ausdrücklich zu erwähnen, so muß diese doch immer hinzugedacht werden. b) Zumutbarkeit
und Zweck der Beeinträchtigung
Wann eine Beeinträchtigung unzumutbar ist, hängt zum einen von Art und Intensität der Belastung ab, zum anderen vom Zweck, zu dessen Verwirklichung dem Betroffenen das Opfer abverlangt wird. Da Beeinträchtigungen oberhalb der Bagatellschwelle allein durch die Privatinteressen des Anlagenbetreibers nicht gerechtfertigt werden können, ist die Zumutbarkeitsschwelle anhand des Industrieermöglichungszwecks zu konkretisieren. Dabei kann im Rahmen der Beurteilung eines Genehmigungsantrags nicht etwa das öffentliche Interesse an der Aufrechterhaltung des Industriesystems im ganzen gegen die mögliche Beeinträchtigung eines betroffenen Individuums „ i n die Waagschale gelegt" werden, sondern nur das öffentliche Interesse, das an der zu beurteilenden Anlage i m Hinblick auf die Erhaltung des Industriesystems im ganzen besteht. Dabei kommt es nicht etwa darauf an, die Notwendigkeit der konkreten Anlagen für die Existenz des Gesamtsystems zu beweisen, denn das System im ganzen beruht auf der freien unternehmerischen Zweckwahl und damit auf dem Umstand, daß der Unternehmer sein konkretes Vorhaben nicht anhand öffentlicher Zwecke rechtfertigen muß. Auch wenn sich nachweisen ließe, daß das
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Gesamtsystem an dem Verbot des konkreten Vorhabens keinen Schaden nähme, wäre damit ein öffentliches Interesse an der konkreten Anlage nicht ausgeschlossen. Das öffentliche Interesse an der Anlage ist auch das öffentliche Interesse an der unternehmerischen Freiheit, die das im öffentlichen Interesse liegende Wirtschaftssystem trägt. Was also als öffentlicher Zweck zugunsten einer konkreten Anlage zu veranschlagen ist, ist sozusagen der auf die Anlage entfallende Bruchteil des öffentlichen Interesses an der Erhaltung des Gesamtsystems. Dies läßt es freilich als vertretbar erscheinen, zwischen unterschiedlichen Anlagearten zu differenzieren, also ein erhöhtes öffentliches Interesse für solche Anlagenarten anzunehmen, ohne die das Gesamtsystem nicht existieren könnte; dies gilt insbesondere für die Anlagen der Energieversorgung. Damit ist auch bereits die Antwort auf die umstrittene Frage formuliert, ob öffentliche Interessen bei der Konkretisierung des § 5 Nr. 1 berücksichtigt werden können: Der vom Gesetz vorausgesetzte Industrieförderungszweck ist zu berücksichtigen, aber nur dieser Zweck und nur in dem vom Gesetz vorausgesetzten Umfang. 46 Und kein öffentlicher Zweck kann es rechtfertigen, eine Anlage zu genehmigen, wenn die Genehmigungsvoraussetzungen der §§ 6 Nr. 1 i.V.m. 5 Nr. 1 BImSchG nicht erfüllt sind, insbesondere, wenn die Anlage schädliche Umwelteinwirkungen verursacht. Insoweit enthält das Gesetz keinen Spielraum für irgendwelche Abwägungen. 47 Die Ansicht dagegen, daß öffentliche Zwecke im Rahmen der Anlagengenehmigung überhaupt nicht berücksichtigt werden könnten 48 , übergeht den Umstand, daß die Zumutbarkeit der Beeinträchtigung und damit das Abgrenzungskriterium (Maximalgrenze) des Begriffs der „Erheblichkeit" beziehungsweise der „schädlichen Umwelteinwirkung" ohne Berücksichtigung des die Beeinträchtigung rechtfertigenden öffentlichen Zwecks nicht bestimmt werden kann. Die Berücksichtigung des Umweltnutzungszwecks dient insofern nicht der - unzulässigen - Befreiimg von der Genehmigungsvoraussetzung des § 5 Nr. 1 BImSchG, sondern der Konkretisierung dieser Genehmigungsvoraussetzung. Soweit sich die K r i t i k gegen die Berücksichtigung öffentlicher Zwecke bei der Konkretisierung der Unzumutbarkeitsschwelle richtet 4 9 , verdient sie nur insoweit Zustimmung, als nicht beliebige öffentliche Zwecke herangezogen werden können. Ohne Beziehung auf den 46 Vgl. dagegen Feldhaus, DVB1. 1979, 301 ff., insb. 305, der offenbar jedes Ziel der jeweiligen Wirtschaftspolitik gegen den Schutzzweck zur Geltung bringen will. Insofern zutreffend die K r i t i k von Hansen-Dix, S. 132f., 206f. 47 Zutreffend OVG Münster, 7.7.76, NJW 1976, 2360 (2365); Breuer, NJW 1977, 1029; ders., DVB1. 1978, 29; Ossenbühl, DVB1. 1978, 7f.; ders., VR 1979, 3; HansenDix, S. 131f. m . w . N 48 So z.B. Kutscheidt, in: Grundzüge des Umweltrechts, S. 271; wohl auch Ossenbühl, DVB1. 1978, lt.; Hansen-Dix, S. 206f. 49 Vgl. Meyer-Abich, NJW 1976, 2366; Hansen-Dix, S. 132f., 206f. m.w.N.; Jarass, DVB1. 1983, 730.
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gesetzlichen Zweck einer Freiheitseinschränkung hingegen läßt sich nicht entscheiden, ob diese unzumutbar ist oder nicht. 5 0 Als Ergebnis der Auslegung bleibt somit festzuhalten: Das Bedeutungsspektrum des Begriffs „Erheblichkeit" beginnt, bezogen auf den Schutzzweck, bei Beeinträchtigungen, die nicht nur Bagatellcharakter haben („Bagatellschwelle") und reicht, unter dem Aspekt des Förderungszwecks, bis zur Grenze des für den Betroffenen noch Zumutbaren. An der Schwelle der Unzumutbarkeit beginnt auch unter dem Aspekt des Förderungszwecks allerspätestens die „Erheblichkeit" der Beeinträchtigimg. Zwischen diesen beiden Polen regiert das Prinzip der Zweckoptimierung unter der Maxime der Erforderlichkeit. Daraus folgt für den Sicherheitsstandard: 1. Die Verursachung unzumutbarer Beeinträchtigungen ist strikt verboten. (Verbot der unzumutbaren Beeinträchtigung) 2. Beeinträchtigungen, die nicht nur Bagatellcharakter haben und andererseits nicht so intensiv sind, daß sie dem Betroffenen nicht zugemutet werden könnten, sind so weit wie technisch und wirtschaftlich möglich zu reduzieren (Gebot der Beeinträchtigungsminimierung). 4. Die Zumutbarkeitsgrenze als Grenze der maximal zulässigen Beeinträchtigung und „Erheblichkeit" i m Sinne der herrschenden Meinung Nach der hier vertretenen Interpretation stellt die Schwelle der Unzumutbarkeit nur die Grenze der maximal zulässigen Beeinträchtigung dar. Die Verursachung von Beeinträchtigungen, die diese Grenze erreichen, darf nur dann gestattet werden, wenn es nicht möglich ist, sie zu reduzieren. Die Unzumutbarkeit ist demnach nur die Obergrenze des Bedeutungsspektrums, das der anhand beider Zwecke des Gesetzes zu konkretisierende Erheblichkeitsbegriff aufweist. Wie schon erwähnt 51 , wird demgegenüber von der herrschenden Meinung der Begriff der Erheblichkeit mit dem der Unzumutbarkeit gleichgesetzt. Deshalb soll im folgenden geprüft werden, 50 Diese Auffassung stimmt - entgegen Meyer-Abich, NJW 1976, 2366 - mit der Rspr. des BVerwG überein, das zwar zu Recht ablehnt, bei der Beurteilung der Zumutbarkeit von Verkehrslärm die Kostenbelastung der gebotenen Schutzmaßnahmen für die öffentlichen Haushalte zu berücksichtigen, andererseits aber den gesetzlichen Zweck der Duldungspflicht zur Bestimmung der Zumutbarkeitsschwelle heranzieht („Bedeutung, die ein leistungsfähiges Verkehrsnetz für die Allgemeinheit wie für den einzelnen hat"). Praktisch äußert sich das z.B. darin, daß das Gericht Verkehrslärm für eher zumutbar hält als Gewerbe- oder Baulärm, vgl. BVerwG, 21.5.76, NJW 1976, 1760 (1763, 1764). Soweit dagegen ausschließlich auf die Situationsprägung abgestellt und der Zweck des Projekts nicht in Betracht gezogen oder seine Bedeutung gar ausdrücklich bestritten wird - so BVerwG, 6. 8. 82, UPR 1983, 27 (28) - , spricht dies eher dafür, daß es gar nicht um die „Zumutbarkeit" geht, s.u. 4. a). 51 s.o. I. mit Fn. h.
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ob es nicht doch rechtliche Gründe dafür gibt, den Begriff der Erheblichkeit auf die oberste Grenze seines breiten Bedeutungsspektrums einzuengen. Unstreitig ist, daß die Einschränkung des Schutzes auf den Schutz vor „erheblichen" Beeinträchtigungen einem Interessenausgleich zwischen der Position des Anlagenbetreibers beziehungsweise dem öffentlichen Interesse an der Industrie einerseits und dem Schutzinteresse des einzelnen oder auch der Allgemeinheit andererseits dient und daß demnach die Auslegung des Begriffs der Erheblichkeit an diesem Interessenausgleich zu orientieren ist. 5 2 Die These, „Erheblichkeit" sei mit „Unzumutbarkeit für den Betroffenen" gleichzusetzen, läßt sich also nur insoweit begründen, als das Kriterium der Unzumutbarkeit geeignet ist, die Kompromißlinie zwischen den kontroversen Positionen festzulegen. a) „Einfachgesetzliche Zumutbarkeitsschwelle" als Kompromißlinie? Im Rahmen der straßenrechtlichen Planfeststellung sind gem. § 17 IV FStrG „dem Träger der Straßenbaulast die Errichtung und Unterhaltung der Anlagen aufzuerlegen, die ... zur Sicherimg der Benutzung der benachbarten Grundstücke gegen Gefahren, erhebliche Nachteile oder erhebliche Belästigungen notwendig sind". Die Rechtsprechung hat dieses Erheblichkeitskriterium, das der Formulierung nach - ob auch nach seiner Funktion, mag dahinstehen - demjenigen des § 5 Nr. 1 BImSchG entspricht, zwar im Sinne von „Unzumutbarkeit" interpretiert; sie hat aber neben die „enteignungsrechtliche" die „auflagenrechtliche Unzumutbarkeit" gestellt, die „unterhalb der Enteignungsschwelle", „ i m Vorfeld der Enteignung" Schutz bieten soll. Dabei komme es darauf an, ob dem Betroffenen aufgrund einer „einfachgesetzlichen Güterabwägung" eine nachteilige Einwirkung „ b i l l i gerweise nicht mehr zugemutet werden" solle. 53 In Anlehnung hieran hat das Bundesverwaltungsgericht die Unterscheidung zwischen „einfachgesetzlicher" und „enteignungsrechtlicher Unzumutbarkeit" auch auf den Begriff der „schädlichen Umwelteinwirkungen" im Baurecht 54 und im anlagenrechtlichen Immissionsschutzrecht 55 angewandt. 52 Vgl. Regierungsentwurf, BT-Drs. 7/179 zu § 3; Martens, DVB1. 1981, 598; Kutscheidt, in: Landmann / Rohmer III, § 3 BImSchG Rdnr. 14. 53 BVerwG, std. Rspr. seit 21.5.76, E 51, 15 (29) = NJW 1976, 1760 (1763); vgl. 9.3. 79, Buchholz 407.4 § 17 FStrG Nr. 27 S. 68 (74); 14.12. 79, DÖV 1980, 410 (411); VGH Mannheim, 19.1.83, DÖV 1983, 512 (513); dazu Schmidt-Aßmann, in: Salzwedel, Grundzüge des Umweltrechts, S. 320f. 54 25.2. 77, E 52,122 (126f.); der Begriff wird „ i n Anlehnung an das BImSchG" ausgelegt. Vgl. auch 10.12.82, BayVBl. 1983, 277. 55 11.2 . 77, DVB1. 1977, 770 (771), hier implizit durch Bezugnahme auf das Urt. v. 21.5.76, NJW 1976, 1760. Für diese Unterscheidung im Immissionsschutzrecht auch Jarass, DVB1. 1983, 729.
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§ 20 Der Sicherheitsstandard des § 5 Nr. 1 BImSchG
Damit, so scheint mir, w i r d der ohnedies sehr dehnbare Begriff der Zumutbarkeit mehr strapaziert, als ihm begrifflich zugemutet werden kann. „Zumutbarkeit" als Grenzbegriff verträgt zwar mannigfache Differenzierungen je nach der Zweck-Mittel-Relation und der konkreten Situation, auf die man ihn bezieht. Er hat überhaupt nur Sinn in bezug auf eine solche Relation und bezieht daraus seine spezifische Relativität. In bezug auf ein und dieselbe konkrete Relation zwischen Zweck und Belastung des Betroffenen in einer konkreten Situation kann es aber nicht verschiedene Zumutbarkeiten geben. Entscheidend ist, was dem Betroffenen in der konkreten Situation zu dem konkreten Zweck zugemutet werden kann und was nicht. Diese Grenze ist die verfassungsrechtliche Grenze des Verhältnismäßigkeitsprinzips im engeren Sinne, deren Überschreitung den Eingriff verfassungswidrig macht. Wenn die Rechtsprechung von dieser verfassungsrechtlich relevanten Zumutbarkeitsschwelle eine „einfachgesetzliche" Zumutbarkeitsschwelle abhebt, die auf einem niedrigeren Beeinträchtigungsniveau liegen soll, kann dies bedeuten: Dem Betroffenen darf nach dem einfachen Gesetz (aus „Billigkeitsgründen") nicht so viel zugemutet werden, wie ihm zugemutet werden könnte und wie ihm nach der Verfassung bei Erfüllung der sonstigen Eingriffsvoraussetzungen auch zugemutet werden dürfte. Dann ist aber nicht die Zumutbarkeit, die sich ja allein aus der wertenden Beziehung der konkreten Beeinträchtigung auf den konkreten Beeinträchtigungszweck ergibt, das Kriterium zur Bestimmimg der erlaubten Beeinträchtigungsintensität, sondern umgekehrt: Was dem Betroffenen zugemutet werden darf, was er sich gefallen lassen muß, ergibt sich aus dem „einfachen Gesetz". Das Bundesverwaltungsgericht formuliert auch nicht, es gehe um die Grenze, „von der ab dem Betroffenen eine nachteilige Einwirkung ... auf seine Rechte ... nicht mehr zugemutet werden kann", sondern „nicht mehr zugemutet werden soZZ".56 Und in einer Entscheidung spricht das Bundesverwaltungsgericht gar von „unzumutbaren, weil »erheblich belästigenden4 Verkehrsgeräuschen" und nicht umgekehrt. 57 „Einfachgesetzliche" oder „auflagenrechtliche" „Zumutbarkeit" ist demnach nur eine Bezeichnung für die aus dem einfachen Gesetz sich ergebende Grenze der Duldungspflicht, nicht aber ein Kriterium zur Ermittlung dieser Grenze, die gerade unterhalb der Schwelle dessen liegt, was dem Betroffenen in der konkreten Situation und bezogen auf den konkreten Zweck zugemutet werden kann. Ist die Rechtsprechung in diesem Sinne zu verstehen, dann ist die Rede von einer besonderen einfachgesetzlichen Zumutbarkeitsschwelle, aus der sich ergebe, was „erheblich" sei, nur irreführend. Sucht man nach dem wirklichen Entscheidungskriterium, nach dem Maßstab dafür, was denn 56
NJW 1976, 1763; DÖV 1980, 411. « 23.1.81, UPR 1981, 27 (28).
Β. Die Pflicht zur Duldung „unerheblicher" Beeinträchtigungen
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„einfachgesetzlich" z u m u t b a r sein soll, d a n n f i n d e t m a n n i c h t s als den Satz, daß die Grenze der „ h i e r maßgebenden einfachgesetzlichen
Güterabwä-
g u n g " folge, die „ b i l l i g e r w e i s e " zugunsten des B e e i n t r ä c h t i g t e n zu b e r ü c k sichtigen sei. 5 8 A b e r die „ B i l l i g k e i t " ist h i e r k e i n E n t s c h e i d u n g s k r i t e r i u m , sondern n u r ein H i n w e i s darauf, daß das Gesetz - aus G r ü n d e n der B i l l i g k e i t - d e m einzelnen eine weniger schwere D u l d u n g s p f l i c h t auferlegt als es n a c h der Verfassimg m ö g l i c h gewesen wäre. D a m i t b l e i b t l e t z t l i c h offen, welche Gesichtspunkte i n die „einfachgesetzliche G ü t e r a b w ä g u n g " e i n z u b r i n g e n sind, i n w i e f e r n diese sich v o n der verfassungsrechtlichen V e r h ä l t n i s m ä ß i g k e i t s p r ü f u n g unterscheidet u n d w i e w e i t die einfachgesetzliche Erheblichkeitsschwelle u n t e r der Z u m u t b a r k e i t s s c h w e l l e liegt. I m Ansatz jedenfalls k o m m t die A u s l e g u n g des Bundesverwaltungsgerichts i n e t w a auf das hinaus, was oben (1., 2.) z u r Auslegung des Erheblichkeitsbegriffs u n t e r dem A s p e k t k o n t r a d i k t o r i s c h e r Z w e c k p r o g r a m m i e r u n g gesagt w u r d e . 5 9 Ob die Rechtsprechung w i r k l i c h i n diesem Sinne z u verstehen ist, k ö n n t e als zweifelhaft erscheinen. D e n k b a r w ä r e auch, daß das A b h e b e n auf eine „einfachgesetzliche G ü t e r a b w ä g u n g " u n d eine „auflagenrechtliche Z u m u t barkeitsschwelle" einen anderen G r u n d hat: D i e Grenze der S o z i a l p f l i c h t i g k e i t des Eigentums u n d d a m i t die „enteignungsrechtliche U n z u m u t b a r k e i t " ist n a c h der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts erreicht, w e n n 58 BVerwG ebd. - Zur „einfachgesetzlichen" Abwägung im Bauplanungsrecht vgl. BVerwG, 1.11.74, E 47, 144 (154). - Daß die „einfachgesetzliche Zumutbarkeit" zur Konkretisierung des Begriffs der schädlichen Umwelteinwirkungen bzw. der Erheblichkeit von Beeinträchtigungen nicht taugt, zeigt besonders deutlich folgende Formulierung des BVerwG, 25.2.77, E 52,122 (126f.): Schädliche Umwelteinwirkungen (es folgt die Definition des § 3 I BImSchG), so heißt es dort, seien „den davon Betroffenen grundsätzlich nicht zumutbar". Daß „unzumutbare Beeinträchtigungen" „grundsätzlich unzumutbar" sind, wäre eine Tautologie, wenn nicht das Wort „grundsätzlich" als Einschränkung der Aussage gedeutet werden könnte. Man kann aber kaum annehmen, daß das BVerwG auf diese Weise eine dritte Unzumutbarkeitsschwelle einführen wollte; dies ergibt sich schon aus der Bezugnahme auf E 51, 15. Wenn das BVerwG sich auf § 3 I BImSchG bezieht, um zu ermitteln, was dem Nachbarn im Baurecht an Immissionen zugemutet werden könne, spricht dies eher dafür, daß in Wirklichkeit die Zumutbarkeit nicht das entscheidende Kriterium der „Erheblichkeit" ist. 59 Die Folgerungen für den Interessenausgleich können im Rahmen der straßenrechtlichen Planfeststellung anders aussehen, als dies oben für § 5 Nr. 1 BImSchG entwickelt wurde. Von der Funktion des Erheblichkeitsbegriffs in dieser Bestimmung unterscheidet sich diejenige in § 17 IV FStrG zumindest dadurch, daß hier das zu beurteilende Projekt als solches bereits als zur Erfüllung eines konkreten Zwecks des Gemeinwohls notwendig erwiesen ist - § 17 I 2, vgl. BVerwG, 21.5.76, NJW 1976, 1760 (1762) - , während dort das private Interesse am Betrieb der Anlage, das allenfalls durch das allgemeine öffentliche Interesse an der Industrie unterstützt wird, einem anderen privaten Interesse gegenübersteht. Insofern ist bei der immissionsschutzrechtlichen Anlagengenehmigung eine andere „Abwägungssituation" gegeben. Auch die baurechtliche Abwägung, die das BVerwG unter dem Aspekt des „Rücksichtnahmegebots" - s.u. d) - z.B. bei der Beurteilung eines Vorhabens nach § 35 BBauG vornimmt - vgl. E 52,122 (127 f.) - beruht auf einer mit der immissionsschutzrechtlichen Anlagengenehmigung nicht völlig vergleichbaren Abwägungssituation, vgl. einerseits ebd. 127, andererseits 6.8.82, UPR 1983, 27f.
21 Murs wiek
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§ 20 Der Sicherheitsstandard des § 5 Nr. 1 BImSchG
die Beeinträchtigungen das betroffene Grundstück „schwer und unerträglich" treffen. 60 Da das Immissionsschutzrecht weitergehend als das allgemeine Gefahrenabwehrrecht nicht nur vor Gefahren, also erheblichen Schäden, sondern auch vor „erheblichen Nachteilen und Belästigungen" schützt, könnte man annehmen, daß in dieser Erweiterung das „einfachgesetzliche" Billigkeitsmoment zu erblicken sei, das es ermögliche, auch solche Beeinträchtigungen zu untersagen, die noch nicht „schwer und unerträglich" seien. Das würde voraussetzen, daß nach Ansicht der Rechtsprechung erst substanzielle Schäden oder etwa Gesundheitsgefahren „schwer und unerträglich" und damit („verfassungsrechtlich") unzumutbar sein könnten, niemals jedoch „erhebliche Nachteile" oder „erhebliche Belästigungen". 61 Damit wäre die „verfassungsrechtliche"Zumutbarkeitsschwelle aber zu hoch gehängt. Zwar sind „Belästigungen" meist eher zumutbar als „Schäden", doch sind sie keinesfalls immer zumutbar, und das ist dann nicht nur „einfachgesetzlich", sondern auch verfassungsrechtlich relevant. Dem Bundesverwaltungsgericht muß aber zugute gehalten werden, daß es sich für die Unterscheidung von „enteignungsrechtlicher" und „auflagenrechtlicher" Zumutbarkeit nicht auf die Unterscheidung von Schäden und Belästigungen oder Nachteilen bezieht, sondern nur auf die Intensität der Beeinträchtigimg. Auch legt das Gericht die Grenze der Sozialbindung - der enteignungsrechtlichen Zumutbarkeit - keineswegs starr auf ein bestimmtes Quantum an „Schwere und Unerträglichkeit" der Beeinträchtigung fest, sondern bestimmt auch diese Grenze unter Berücksichtigung der konkreten Grundstückssituation und des Planungszwecks. 62 Daher kann man nicht davon ausgehen, das Gericht habe eine besondere „einfachgesetzliche Zumutbarkeitsschwelle" deshalb eingeführt, weil es - befangen in der Annahme, Belästigungen könnten niemals „schwer und unerträglich" sein die „verfassungsrechtliche Zumutbarkeitsschwelle" zu hoch ansetzt. Das Reden von zwei verschiedenen „Zumutbarkeitsschwellen" begünstigt freilich die Tendenz zu einer solchen Interpretation. Vielmehr ist davon auszugehen, daß die „einfachgesetzliche Zumutbarkeitsschwelle" lediglich eine falsa demonstratio ist, daß also in Wirklichkeit das Bundesverwaltungsgericht den Begriff der Erheblichkeit gar nicht mit Zumutbarkeit, mit der Minimalposition des Betroffenen, identifiziert, sondern die Erheblichkeitsschwelle unterhalb der Zumutbarkeitsschwelle ansetzt 63 , ohne allerdings hierfür einen näheren Konkretisierungsmaßstab 60 Vgl. z.B. BVerwG, 13.3. 69, E 32, 173 (179); 14.12. 73, E 44, 244 (246f.); 21. 5. 76, NJW 1976, 1760 (1763); 23.1. 81, UPR 1981, 27 (30) m.w.N. 61 In diesem Sinne die Interpretation von Schmidt-Aßmann, in: Salzwedel, Umweltrecht, S. 320. 62 Vgl. BVerwG, 23.1. 81, UPR 1981, 27 (29f.). 63 Dafür spricht auch eine Entscheidung, in der das BVerwG ausführt, für die Bestimmung der „Erheblichkeit" komme es nur auf die - situationsbezogen zu beurteilende - Intensität der Einwirkung an, nicht aber auf den Zweck des Projekts,
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mitzuteilen. 64 Die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts läßt sich also der Sache nach nicht zur Unterstützung der Ansicht heranziehen, eine „erhebliche" Beeinträchtigung sei erst dann gegeben, wenn sie für den Betroffenen unzumutbar sei. Nim liegt es zwar nahe, daß zumindest diejenigen Stimmen in der Literatur, die sich für die Gleichsetzung von „Erheblichkeit" und „Unzumutbarkeit" auf das Bundesverwaltungsgericht beziehen, ebenfalls in Wirklichkeit einen Standard unterhalb der Zumutbarkeitsschwelle im Sinne der „auflagenrechtlichen Unzumutbarkeit" meinen, auch wenn sie nicht zwischen zwei verschiedenen Unzumutbarkeitsschwellen differenzieren. Dann wäre die Differenz zwischen der herrschenden Meinung und der hier vertretenen Interpretation jedenfalls hinsichtlich des Interpretationsansatzes nur eine scheinbare. Da dies nicht klar ist, muß weiter geprüft werden, ob es Gründe dafür gibt, „Erheblichkeit" im Sinne von „Unzumutbarkeit" zu verstehen. b) Gewerbefreiheit als Beeinträchtigungsverursachungsfreiheit? Ein Grund dafür, daß die herrschende Meinung nur „unzumutbare" Beeinträchtigungen für „erheblich" hält, mag darin liegen, daß das anlagenbezogene Immissionsschutzrecht aus der Gewerbeordnung hervorgegangen ist und die Rechtsprechung zu §§ 4 ff. BImSchG an die Rechtsprechung zu §§ 16 ff. GewO a. F. anknüpfen konnte. 65 Die Gewerbeordnung aber geht von der Gewerbefreiheit aus 66 , die zum Schutz des einzelnen wie des Publikums lediglich gewerbepolizeilich eingegrenzt wird, und das hieß für die Interpreten: nicht weiter als unbedingt nötig eingeschränkt wird. Erblickt man in den Genehmigungsvorschriften lediglich Beschränkungen der Freiheit des Unternehmers, dann ist es konsequent, denjenigen, die den Nebenfolgen dieser Freiheit ausgesetzt sind, so viel an Beeinträchtigungen zuzumuten, wie man ihnen nur eben zumuten kann. 6 7 Der geringstmögliche Eingriff in die Freiheit des Unternehmers ist die größtmögliche, die rechtlich gerade 6.8.1982, UPR 1983, 27 (28). Was zumutbar ist, läßt sich aber nur im Hinblick auf einen Zweck beurteilen. Die zitierte Entscheidung verwendet denn auch den Zumutbarkeitsbegriff nicht. Sie legt den Begriff der Erheblichkeit ausdrücklich nur unter dem Aspekt des Schutzzwecks aus (ebd. 27), bleibt aber wohl - unausgesprochen über der Bagatellschwelle, ebenso wie die Entscheidungen, die die „einfachgesetzliche Zumutbarkeit" als Kriterium angeben und damit andeuten, daß dem Betroffenen mehr zugemutet werden soll als bloße Bagatellen. 64 Daß es kein Kriterium angeben könne, räumt das BVerwG im Urt. v. 23.1.1981 offen ein, und überläßt die Klärung als „außerrechtliche Fachfrage" den Sachverständigen, UPR 1981, 27 (28). 65 Vgl. Feldhaus, DVB1. 1979, 301; Kutscheidt, in: Landmann / Rohmer III, §3 Rdnr. 8; Breuer, Der Staat 20 (1981), 411. 66 Vgl. Badura, in: v. Münch, Besonderes Verwaltungsrecht, S. 351 m.w.N. 67 Vgl. die o. Fn. 3 zitierte Lit. 21'
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noch zulässige Belastung der Betroffenen. Auch wo der zweidimensionale Charakter der Genehmigungsvorschriften erkannt wurde, wo sie nicht nur für eine Einschränkung der unternehmerischen Freiheit, sondern zugleich für eine gesetzliche Einschränkimg der Freiheit des Beeinträchtigungsbetroffenen gesehen wurde, dominierte die Beeinträchtigungsverursachungsfreiheit: Die Freiheit des Unternehmers, Beeinträchtigungen jeder Art und Intensität zu verursachen, wurde des Betroffenen Freiheit von Beeinträchtigungen gegenübergestellt. Bei einer „Güterabwägung" zwischen diesen Positionen kam dann als „Kompromiß" die Grenze der „Unzumutbarkeit" heraus: Der Betroffene durfte sich freuen, daß er wenigstens unzumutbare Beeinträchtigungen nicht zu dulden hat, und die Beeinträchtigungsfreiheit des Unternehmers wurde auf die Freiheit zur Verursachung zumutbarer Beeinträchtigungen zurückgeschnitten. 68 Dieser Kompromiß zwischen absoluter Freiheit zur Beeinträchtigung und absoluter Freiheit von Beeinträchtigungen führt zur verfassungsrechtlichen Minimalposition des Beeinträchtigten, nicht aber etwa zur verfassungsrechtlichen Minimalposition des Beeinträchtigungsverursachers. Ursache hierfür ist ein grundrechtsdogmatisch verfehlter Ansatz: Sofern nicht die eindimensionale Perspektive des Eingriffs in die Unternehmerfreiheit zugrundegelegt wird, werden die Positionen falsch gewichtet, weil die Freiheit des Unternehmers als Freiheit zur Beeinträchtigung Dritter verstanden wird. Dies ist sie aber nur modal - i m Sinne des Vorbehalts des Gesetzes - keinesfalls aber materiell. Das erstere mit dem letzteren zu verwechseln, ist die Frucht eines permissiven Liberalismus, der die liberale Grundrechtstheorie zu Unrecht in Verruf gebracht hat. Dem ist nochmals entgegenzuhalten, daß es ein Grundrecht auf Beeinträchtigung anderer prinzipiell nicht gibt. 6 9 Ein „Kompromiß" zwischen Wirtschaftsfreiheit einerseits und Freiheit von Beeinträchtigungen andererseits müßte sich - wenn er gefordert wäre - am materiellrechtlichen Kern der jeweiligen Positionen orientieren, also von der Frage ausgehen, wie weit die Freiheit des Unternehmers zugunsten des Schutzes anderer gesetzlich eingeschränkt werden und wie weit das Gesetz den Betroffenen zugunsten der unternehmerischen Freiheit - oder auch zugunsten des öffentlichen Interesses an der Industrie - zur Duldung von Beeinträchtigungen verpflichten darf. Rechtsprechung und Literatur fragen nur, was dem Betroffenen zugemutet werden kann. 7 0 So kommen sie zur Minimalposition des Betroffenen. 71 Je nachdem, ob das Interesse des Unternehmers oder das 68 Die Kompromißvorstellung findet sich besonders deutlich bei Feldhaus, BImSchR 1 A, § 3 Anm. 10; ders., DVBl. 1979, 301 ff.; ders., VEnergR 50, 87ff.; vgl. auch Friauf, VEnergR 50, 109. 69 s.o. § 17 Β. I. 70 Vgl. BVerwG, 12.12. 75, DVBl. 1976, 214 (216) m.w.N. -Tunnelofen; Kutscheidt, in: Landmann / Rohmer III, § 3 BImSchG Rdnr. 14 m.w.N. 71 Für das BVerwG gilt dies nur unter dem Vorbehalt, daß sein Zumutbarkeitskriterium sich nicht in Wirklichkeit - s. o. a) - als falsa demonstratio erweist.
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öffentliche Interesse an „der allgemeinen Wohlfahrt" 7 2 zum Bezugspunkt genommen wird, ist diese Minimalposition größer oder kleiner. Für diese eindimensionale Perspektive bietet das Gesetz keine rechtliche Grundlage. Zu fragen wäre ebenfalls, was dem Unternehmer zum Zwecke des Schutzes vor Beeinträchtigungen an Einschränkungen seiner Freiheit zugemutet werden kann. So käme man zur Minimalposition des Unternehmers. Dem Unternehmer kann zumindest zugemutet werden, Beeinträchtigungen oberhalb der Bagatellschwelle zu vermeiden. 73 Der Betroffene dagegen muß sich unter Umständen zum Zwecke unternehmerischer Freiheitsbetätigung etwas größere, zum Zwecke der Aufrechterhaltung des Industriesystems erheblich gravierendere Beeinträchtigungen zumuten lassen. Die Mindestposition des Beeinträchtigungsverursachers und diejenige des Beeinträchtigungsbetroffenen werden sich im häuslichen Bereich der Kleinimmissionen meist berühren; wo es um industrielle Großimmissionen geht, liegen sie in der Regel weit auseinander. Wollte man den Begriff der „Erheblichkeit" im Sinne eines „Kompromisses" zwischen der Position des Anlagenbetreibers und der des Betroffenen auslegen, so müßte der Kompromiß deshalb meist erheblich unterhalb der Schwelle des für den Beeinträchtigten noch Zumutbaren liegen. Zur Grenze des für den Betroffenen Unzumutbaren führte er allenfalls in seltenen Ausnahmefällen. c) Güterabwägung zwischen dem öffentlichen Interesse an der Genehmigung von Industrieanlagen und der privaten Sicherheit? Wägt man das öffentliche Interesse an der Industrie gegen die private Sicherheit des Betroffenen ab 7 4 , so führt diese Abwägung zur Grenze des Zumutbaren. Die Unzumutbarkeitsschwelle w i r d ja i m Hinblick auf den öffentlichen Zweck bestimmt; sie ist das Ergebnis einer solchen „Abwägimg". Doch die Zumutbarkeit allein kann den Eingriff nicht rechtfertigen; 72 So im Anschluß an die Preußische Technische Anleitung vom 14.4.1875 - s.o. Fn. 29 - z.B. Kutscheidt, in: Landmann / Rohmer III, § 3 BImSchG Rdnr. 14; Feldhaus, VEnergR 50, 99. 73 s.o. § 17 Β. I. Der Gesichtspunkt des Bestandsschutzes, der zu einem anderen Ergebnis führen kann, bleibt hier unberücksichtigt, weil Anlagen, für die ein nach §§6, 5 BImSchG zu prüfender Genehmigungsantrag gestellt wird, noch keinen Bestandsschutz genießen. 74 Die Einschränkung des Schutzes auf „erhebliche" Beeinträchtigungen ist nach dem Regierungsentwurf das „Ergebnis einer Güterabwägung", BT-Drs. 7/179 zu § 3. Deshalb mag es naheliegen, zur Konkretisierung des Begriffs die Güterabwägung nachzuvollziehen, vgl. Feldhaus, VEnergR 50, 99; Kutscheidt, in: Landmann / Rohmer III, § 3 BImSchG Rdnr. 14. Zu bedenken ist dabei aber - und dies wird regelmäßig übersehen - daß die Güterabwägung unterschiedlich ausfallen wird, je nachdem ob man das öffentliche Interesse am Schutz mit der Freiheit des Anlagenbetreibers abwägt (s. o. a) oder das öffentliche Interesse an der Industrie gegen die Interessen des Beeinträchtigungsbetroffenen.
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er muß auch erforderlich sein. Wenn es möglich ist, die Beeinträchtigungsintensität zu reduzieren, ist die volle Ausschöpfung des Beeinträchtigungsvolumens bis zur Zumutbarkeitsgrenze nicht zu rechtfertigen. Auch der Gedanke der Güterabwägung zwischen öffentlichem Beeinträchtigungszweck und privater Sicherheit führt also nicht zur Gleichsetzung von „erheblich" und „unzumutbar", sondern zu der oben entwickelten Auslegung. d) Das Gebot der gegenseitigen Rücksichtnahme im Nachbarschaftsverhältnis Zugunsten der Interpretation von „erheblich" im Sinne von „unzumutbar" wird auch auf die Pflicht zur gegenseitigen Rücksichtnahme im nachbarschaftlichen Verhältnis abgehoben.75 Kann aus dem Gedanken „des Interessenausgleichs innerhalb eines nachbarlichen Gemeinschaftsverhältnisses" 76 gefolgert werden, daß der Interessenausgleich auf der Ebene des gerade noch Zumutbaren vorzunehmen und demnach als „erheblich" erst eine „unzumutbare" Beeinträchtigimg anzusehen ist?
aa) Gegenseitigkeit und Zumutbarkeit Das Prinzip der Gegenseitigkeit ist wie das Gleichheitsprinzip ein allgemeines Gerechtigkeitsprinzip. 77 Das Gegenseitigkeitsprinzip gleicht einen Interessenkonflikt auf der mittleren Linie aus, da es die Gleichheit der beiderseitigen Interessenbeeinträchtigung vermittelt. Daraus ergibt sich zunächst ein Kriterium zur Konkretisierung von „Zumutbarkeit": Der eine muß sich jedenfalls so viel an Beeinträchtigung zumuten lassen, wie er selbst dem anderen zufügt. Daß die Zumutbarkeitsschwelle hier aber nicht nur die Maximalgrenze der zulässigen Beeinträchtigung angibt, sondern zugleich den Interessenausgleich, den Kompromiß der mittleren Linie zwischen beiden Positionen bezeichnet, ergibt sich aus dem Reziprozitätsverhältnis. Beeinträchtigungsbefugnis und Duldungsverpflichtung sind hier kongruent. Den gegenseitigen - gleich großen - Beeinträchtigungsbefugnissen ent-1 sprechen gegenseitige - gleich große - Duldungspflichten. Das Gegenseitigkeitsprinzip verbürgt also einen gerechten Interessenausgleich auch auf der Zumutbarkeitsgrenze. 75 Vgl. Kutscheidt, in: Salzwedel, Grundzüge des Umweltrechts, S. 247f.; ders., in: Landmann / Rohmer III, § 3 BImSchG Rdnr. 14 m.w.N. 76 Hierzu i n bezug auf § 906 BGB vgl. BGH, 31. 5. 74, BGHZ 62, 361 = NJW 1974, 1869 = DVBl. 1975, 39 m. Anm. Schwabe. 77 Vgl. Schaumann, Gegenseitigkeit, in: Strupp / Schlochauer, Wörterbuch des Völkerrechts, Berlin 1960, S. 630.
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Allerdings besteht im Nachbarschaftsverhältnis nicht immer ein gleiches wechselseitiges Beeinträchtigungsinteresse. Die Gegenseitigkeit der Beeinträchtigungen unter den Nachbarn beruht in der Regel auch nicht auf Vereinbarung, sondern nur auf faktischer Übung. Wenn der eine den anderen viel intensiver beeinträchtigt als dieser jenen zu beeinträchtigen jemals die Absicht oder auch nur die Gelegenheit hat, besteht keine Gegenseitigkeit. Das Gegenseitigkeitsprinzip rechtfertigt Beeinträchtigungen nur gegenüber demjenigen, der selbst beeinträchtigt, und in dem Maße, in dem er selbst beeinträchtigt. Es löst einen Interessenkonflikt nur dort, wo ein wechselseitiges Beeinträchtigungsverhältnis besteht. Deshalb muß die Rechtsordnung rechtliche Maßstäbe für das Maß der gegenseitigen erlaubten Beeinträchtigung und damit zugleich für die rechtlich gebotene gegenseitige Rücksichtnahme zur Verfügung stellen. Das Gegenseitigkeitsprinzip als solches kann die Intensität der erlaubten Beeinträchtigung im Nachbarschaftsverhältnis nicht rechtfertigen. Vielmehr kommt es darauf an, was an Beeinträchtigungen in dem zu beurteilenden Nachbarschaftsbereich üblich und - unter Berücksichtigung der Bedürfnisse sozialen Zusammenlebens - unvermeidlich ist, inwieweit also der Gesetzgeber, die Verwaltung oder der Richter von einem zumindest typischerweise gegebenen tatsächlichen Gegenseitigkeitsverhältnis ausgehen können. Auf diese Weise w i r d man im Bereich der häuslichen Kleinimmissionen wieder die Zumutbarkeitsgrenze erreichen: Dem einen w i r d es oft nicht zumutbar sein, Immissionen zu vermeiden, die dem anderen gerade noch zugemutet werden können. 78 Daß diese Zumutbarkeitsgrenze hier für einen vollständigen Interessenausgleich und nicht lediglich für die höchstzulässige Einschränkung der Interessen der einen Seite steht, ergibt sich wiederum aus dem Reziprozitätsprinzip, das hier notwendigerweise nur typisierend angewendet werden kann: Der von nachbarschaftlichen Beeinträchtigungen Betroffene ist jedenfalls potentiell Verursacher gleichartiger Beeinträchtigungen. Damit ist freilich auch die Grenze dessen gekennzeichnet, was das Reziprozitätsargument zugunsten eines Interessenausgleiches zu leisten vermag: Es setzt nämlich voraus, daß tatsächlich - jedenfalls typischerweise - ein Gegenseitigkeitsverhältnis besteht, wie dies etwa unter den Nachbarn innerhalb eines reinen Wohngebietes der Fall ist. Wem jedoch die Dunstschwaden eines Chemiewerks in den Garten wehen, der w i r d sich nicht damit trösten lassen, daß er ja mit seiner Ölheizung bei entsprechendem Wind in die umgekehrte Richtung stänkern darf. Von Gegenseitigkeit der Beeinträchtigung kann hier keine Rede sein.
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Verfassungsrechtlich garantiertes Ingerenzverursachungsminimum, s. o. § 17 Β. I.
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bb) Das Gebot der „Rücksichtnahme auf die Umgebung" Auch für die letztgenannte Konstellation bedient sich aber das Bundesverwaltungsgericht zum Ausgleich der widerstreitenden Interessen des Gedankens einer „gegenseitigen Pflicht zur Rücksichtnahme" 79 . Verunglückt ist hierbei zumindest der Begriff der Gegenseitigkeit. Wenn der eine den anderen beeinträchtigen darf und der andere sich dies gefallen lassen muß, kommt ein Gegenseitigkeitsverhältnis nicht dadurch zustande, daß die Beeinträchtigungsbefugnis mit Rücksicht auf den Betroffenen beschränkt wird. Das Argument, der Betroffene müsse sich bis zur Grenze des Zumutbaren beeinträchtigen lassen, weil auf der anderen Seite der Beeinträchtigende auch daran gehindert wird, ihn noch viel mehr zu beeinträchtigen, läßt sich auf das Reziprozitätsprinzip nicht stützen. Daß der Beeinträchtigte auf den Beeinträchtigenden Rücksicht zu nehmen 80 habe, bedarf einer anderen Begründung. Als ein solcher Grund kommt die nachbarschaftliche „Situationsprägung" in Betracht. Der Wert eines Wohngrundstücks und die Erwartungen an die Wohnqualität, die der Eigentümer berechtigterweise haben darf 8 1 , hängen wesentlich von der Vorbelastung des Gebiets mit bereits vorhandenen Immissionsquellen ab. Wer ein Grundstück in einem Mischgebiet erwirbt, erwirbt es von vornherein belastet mit den dort üblichen Immissionen; er muß sich daher mehr an Beeinträchtigungen zumuten lassen als der Grundstückseigentümer in einem Wohngebiet. Er hat insofern auf vorhandene legale Belästigungsquellen „Rücksicht zu nehmen". 82 Die Rechtsprechung geht deshalb zu Recht davon aus, daß das Maß des noch Zumutbaren nicht generell, sondern nur unter Berücksichtigung der jeweils betroffenen Umgebimg bestimmt werden kann. 8 3 Dieses „Gebot der Rücksichtnahme auf die Umgebung" 84 hat seinen Grund nicht im Prinzip der Gegenseitigkeit, 79 BVerwG, 12.12.75, DVBl. 1976, 214 (215) - Tunnelofen; 14.12.79, DÖV 1980, 410 (412); vgl. auch TA Luft Nr. 2.2.1.3. 80 Auch der Begriff der „Rücksichtnahme" ist in diesem Zusammenhang mißverständlich, weil der Immissionsbetroffene ja nicht mit seinem Verhalten den Verursacher stört; die von ihm verlangte „Rücksichtnahme" besteht nicht darin, den Nachbarn weniger zu beeinträchtigen, sondern darin, sich selbst Beeinträchtigungen gefallen zu lassen. Doch soll dies hier, aus Rücksicht auf die Sprechweise des BVerwG, auf sich beruhen. 81 Vgl. BVerwG, 21.5.76, NJW 1976, 1760 (1764). 82 Vgl. z.B. BVerwG, 12.12.75, DVBl. 1976, 214 (215); 21.5.76, NJW 1976, 1760 (1763); 14.12.79, DÖV 1980, 410 (411f.). 83 Das BVerwG knüpft dabei an die bebauungsrechtliche Gebietsqualifizierung i. S. d. Baunutzungsverordnung an, differenziert aber auch innerhalb der Gebiets- und Nutzungsarten und berücksichtigt gebietsübergreifende Vorbelastungen, vgl. z.B. 21.5.76, NJW 1976, 1760 (1763). Zu den Differenzierungskriterien im einzelnen ebd. S. 1763f.; 14.12.79, DÖV 1979, 410 (411ff.); Kutscheidt, in: Landmann / Rohmer III, § 3 BImSchG Rdnr. 15f.; Schmidt-Aßmann, in: Salzwedel, Grundzüge des Umweltrechts, S. 320f. 84 Zu diesem Gebot im Baurecht vgl. Weyreuther, BauR 1975, I f f . m. Nachw. d. Rspr.
Β. Die Pflicht zur Duldung „unerheblicher" Beeinträchtigungen
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sondern in der unterschiedlichen „Schutzwürdigkeit" 8 5 unterschiedlicher Gebiete. Daher ist zwar das „Gebot der Rücksichtnahme" geeignet, zur situationsspezifischen Konkretisierung der Zumutbarkeitsgrenze beizutragen. Doch mit dem Gegenseitigkeitsverhältnis fehlt hier das Argument, das die Annahme rechtfertigen könnte, das für den Betroffenen gerade noch Zumutbare sei in jedem Fall bereits die mittlere Kompromißlinie zwischen den kontroversen Positionen. Dies mag in manchen Fällen gelten, wenn die Störungsquelle Bestandsschutz genießt. 86 Im Rahmen der Genehmigung neuer Anlagen aber gibt das „Gebot der Rücksichtnahme" nur ein Argument dafür ab, daß der Betroffene sich die Beeinträchtigung zumuten lassen müßte, jedoch nicht dafür, daß es für den Verursacher unzumutbar wäre, sie zu vermeiden. Für eine zweidimensionale Interpretation des Erheblichkeitsbegriffs folgt daraus, daß die Kompromißlinie auch unterhalb der Schwelle des für den Beeinträchtigten Zumutbaren liegen kann. e) Übernahme des Unzumutbarkeitskritenums aus dem Polizeirecht? Wie schon erwähnt 87 , dient im allgemeinen Gefahrenabwehrrecht das Kriterium der Unzumutbarkeit zur Konkretisierung des „erheblichen Schadens" als Element des Gefahrenbegriffs. 88 Zumindest für diejenigen, die den gefahrenabwehrrechtlichen Charakter betonen, den § 5 Nr. 1 BImSchG zumindest auch hat 8 9 , mag es daher nahegelegen haben, dieses Kriterium aus dem Polizeirecht zu übernehmen. Jedoch hatte das Unzumutbarkeitsprinzip im Polizeirecht die Funktion, den Schadensbegriff für die Einbeziehung von Belästigungen, nämlich unzumutbaren Belästigungen, zu öffnen. Im übrigen aber werden nur Bagatellschäden und nicht etwa jeder „zumutbare" Schaden aus dem polizeilichen Schadensbegriff ausgeklammert. 90 Übernimmt man das Unzumutbarkeitskriterium ins Immissionsschutzrecht, dann führt dies dazu, daß § 5 Nr. 1 BImSchG im Hinblick auf Belästigungen nicht mehr Schutz bietet als das allgemeine Polizeirecht 91 , im Hinblick auf „Schäden" eher weniger. Das Bundes-Immissionsschutzgesetz (wie zuvor schon die Gewerbeordnung) hat es Vgl. BVerwG o. Fn. 82. 86 Ob allerdings, wie das BVerwG, DVB1. 1976, 214 (216), angenommen hat, jede bestandsgeschützte Einwirkung zumutbar ist, erscheint fraglich; kritisch Kutscheidt, in: Landmann / Rohmer III, § 3 BImSchG Rdnr. 15. 87 s.o. I. 88 Nachw. o. Fn. 16. 89 s.o. A. Fn. 18. 90 s.o. I. 91 Vgl. - diesem Ergebnis zustimmend - Hansen-Dix, S. 121 f., 124f.
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der Gefahr (Schaden) neben dem „erheblichen Nachteil" auch die „erhebliche Belästigimg" als weiteren zu berücksichtigenden Beeinträchtigungsmodus gerade deshalb hinzugefügt, um das Sicherheitsniveau gegenüber dem allgemeinen Gefahrenabwehrrecht zu verbessern. 92 Dieses Ziel würde durch die Interpretation von „erheblich" im Sinne von „unzumutbar" vereitelt. 93 f) „Erheblichkeit"
und § 22 BImSchG
§ 22 BImSchG, der die „Grundpflichten" der Betreiber nicht genehmigungsbedürftiger Anlagen regelt, bestimmt in Absatz 1 Nr. 1, nicht genehmigungsbedürftige Anlagen seien so zu errichten und zu betreiben, daß „schädliche Umwelteinwirkungen verhindert werden, die nach dem Stand der Technik vermeidbar sind". Würde man den Begriff der „schädlichen Umwelteinwirkungen", also der zur Verursachung „erheblicher" Beeinträchtigungen geeigneten Immissionen (§ 3 I), in der Weise auslegen, daß „erheblich" nur unzumutbare Beeinträchtigungen sind, dann wäre diese Bestimmung verfassungswidrig. Sie verpflichtet nämlich den Immissionsbetroffenen, schädliche Umwelteinwirkungen zu dulden, wenn sie technisch unvermeidbar sind. Wäre die genannte Interpretation richtig, würde der Betroffene verpflichtet, unzumutbare Beeinträchtigungen zu dulden. Diese Verpflichtung verstieße gegen das Verhältnismäßigkeitsprinzip. Sie würde seine Grundrechte aus Art. 2 II, 2 I oder auch 14 I GG verletzen. Die Vorschrift muß also verfassungskonform in der Weise ausgelegt werden, daß sie unzumutbare Beeinträchtigungen auf keinen Fall zuläßt, auch dann nicht, wenn sie nach dem Stand der Technik unvermeidbar sind und das Anlagenprojekt an dieser Unterlassungspflicht scheitern müßte. 94 92
So ausdrücklich Regierungsentwurf, BT-Drs. 7/179, S. 25; vgl. auch Feldhaus, BImSchR 1 A, § 1 Anm. 2; Kutscheidt, in: Landmann / Rohmer III, §3 BImSchG Rdnr. 8; Martens, in: Festschr. H. P. Ipsen, S. 459; ders., DVBl. 1981, 598; ders., DÖV 1982, 94; Lukes / Feldmann / Knüppel, in: Gefahren und Gefahrenbeurteilungen II, S. 146f. 93 Jarass, DVBl. 1983, 729, hebt deshalb die immissionsschutzrechtliche von der polizeirechtlichen Zumutbarkeitsschwelle ab. 94 Diese verfassungskonforme Interpretation läßt sich jedenfalls teilweise auch auf die Entstehungsgeschichte stützen: Das BImSchG knüpfte mit § 22 an die zuvor bestehende Rechtslage an und übernahm aus den Landesimmissionsschutzgesetzen die Verpflichtung des Betreibers, bereits unterhalb der Gefahrenschwelle schädliche Umwelteinwirkungen zu verhindern, die nach dem Stand der Technik vermeidbar sind, vgl. Regierungsentwurf, BT-Drs. 7/179 zu § 20; Feldhaus, BImSchR 1 A, § 22 Anm. 1,3. Damit sollte aber die selbstverständliche, im allgemeinen Polizeirecht wurzelnde Pflicht eines jeden, keine Gefahren hervorzurufen, keineswegs für nicht genehmigungsbedürftige Anlagen aufgehoben werden, so daß die Gefahrenschwelle auch aus diesem Grunde die absolute Obergrenze nach § 22 I zulässiger Immissionen markiert. Diesen Zusammenhang hat Kutscheidt, NVwZ 1983, 66, 67; ders., in: Salzwedel, Umweltrecht, S. 243, 284, prägnant herausgearbeitet. Was für „Gefahren" gilt, muß bei verfassungskonformer Auslegung aber auch für sonstige unzumutbare Beeinträchtigungen gelten.
C. Das erlaubte Risiko
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Geht man von dieser verfassungskonformen Interpretation aus, dann kann „schädlich" beziehungsweise „erheblich" nicht gleich „unzumutbar" sein. Die Erheblichkeitsschwelle muß vielmehr wesentlich niedriger liegen, wenn die Vorschrift überhaupt einen Sinn ergeben soll. Einen Sinn ergibt sie dann, wenn „erheblich" diejenigen Immissionen sind, die nicht nur Bagatellcharakter haben. Diese sind nach § 22 I Nr. 1 zu verhindern, soweit sie nach dem Stand der Technik vermeidbar sind. Unabhängig vom Stand der Technik gilt jedoch die absolute Pflicht zur Vermeidung unzumutbarer Beeinträchtigungen. Das oben (3.b) bereits resümierte Ergebnis der Auslegung des Erheblichkeitsbegriffs hat demnach nicht nur einer Überprüfung standgehalten, sondern konnte durch die Auslegung des § 22 I Nr. 1 BImSchG bestätigt werden. Ob sich die Zweckoptimierung nach Maßgabe des Erforderlichen auch für den Wirkungsstandard aufrechterhalten läßt, w i r d noch zu prüfen sein (D.).
C. Das erlaubte Risiko
Das zweite Element, durch welches der Sicherheitsstandard des § 5 Nr. 1 BImSchG bestimmt wird, ist die Größe des erlaubten Risikos. Mit welchem Grad an Sicherheit muß der Eintritt „erheblicher" und deshalb verbotener Beeinträchtigungen ausgeschlossen werden? lautet hier die Frage, oder anders formuliert: Wie groß darf das Risiko des Eintritts „erheblicher" Beeinträchtigungen sein? Diese Frage stellt sich vor allem im Hinblick auf Störfallrisiken. Für diese ist die Abgrenzung von „erheblichen" und „unerheblichen" Beeinträchtigungen praktisch von geringer Relevanz, weil bei den in Betracht zu ziehenden Störfallmöglichkeiten an der Erheblichkeit der potentiellen Beeinträchtigungen meist kein Zweifel besteht. Hier kommt es vielmehr darauf an, den Grad der Gewißheit zu ermitteln, mit dem der Schadenseintritt ausgeschlossen werden muß. Dieselbe Frage stellt sich aber auch im Hinblick auf die Risiken des bestimmungsgemäßen Betriebs, nämlich im Hinblick auf die Ingerenzfolgerisiken. Bestimmungsgemäß und in verhältnismäßig exakt prognostizierbarer Weise treten beim bestimmungsgemäßen Betrieb Emissionen auf, die als Immissionen auf die „Allgemeinheit und die Nachbarschaft" einwirken. Verhältnismäßig genau läßt sich auch von vornherein sagen, ob diese Einwirkungen als „erhebliche Belästigungen" anzusehen sind. Ob eine Einwirkung belästigend wirkt oder nicht, wird unmittelbar erfahren und kann deshalb auch sofort beurteilt werden. Eine Prognoseunsicherheit besteht hier nur hinsichtlich des tatsächlichen Auftretens von Emissionen und Immissionen während der gesamten Betriebszeit der Anlage, aber diese Prognose ist ein Problem nicht für die materielle Betreiberpflicht des § 5 Nr. 1 BImSchG, sondern nur für
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§20 Der Sicherheitsstandard des § 5 Nr. 1 BImSchG
die Genehmigungsentscheidung gem. § 6 Nr. 1 BImSchG. 1 Was also die beim bestimmungsgemäßen Betrieb auftretenden Belästigungen angeht, so hat man jedenfalls i n dem Zeitpunkt, in dem sie auftreten, keinen praktisch relevanten Zweifel über ihre Wirkimg, der durch Beweiserhebung nicht ausräumbar wäre. Zweifel gibt es nur hinsichtlich der Bewertung dieser Wirkungen und ihrer Intensität als „erheblich" oder „unerheblich", und allein hierauf konzentriert sich bei Belästigungen der Streit. Risikoabschätzungsprobleme gibt es hier praktisch nicht. Was man bei der Einwirkung von Immissionen auf geschützte Güter hingegen nicht sofort mit Sicherheit erkennen kann, sind die Folgen, die diese Einwirkungen für die Schutzgüter haben: Wird eine bestimmte Immissionskonzentration oder ein bestimmter dauernder Lärmpegel zu Gesuridheitsschäden führen? Wird ein Schadstoff die Substanz von Gebäuden angreifen oder das Wachstum von Pflanzen stören, wenn er mit einer bestimmten Konzentration in der Luft enthalten ist? Diese Fragen lassen sich meist nicht mit Gewißheit beantworten. Die schädlichen Folgen sind - wenn überhaupt - erst in mehr oder weniger weit entfernter Zukunft zu erwarten, die Kausalbeziehungen zwischen Schadstoffbelastung und Entstehung von Krankheit oder Sachschaden oft nicht eindeutig aufklärbar. Die Wirkungsprognose also ist im Hinblick auf Immissionsfolgeschäden oft mit ebenso großen oder noch größeren Unsicherheitsfaktoren belastet wie die Prognose über das Eintreten eines Störfalls. 2 Wie schon die Untersuchung über die Erheblichkeit von Beeinträchtigungen im vorigen Abschnitt, so soll auch die folgende Erörterung der Frage nach dem erlaubten Risiko sich auf eine anlagebezogene Betrachtung beschränken. Die rechtlichen Besonderheiten, die zu beachten sind, wenn zu Lasten des Betreibers auch Immissionsvorbelastungen berücksichtigt werden müssen, werden später erörtert (D.). I. Wortlaut
und Meinungsstand
Nach § 5 Nr. 1 BImSchG sind genehmigungsbedürftige Anlagen so zu errichten und zu betreiben, daß erhebliche Beeinträchtigungen „nicht hervorgerufen werden können". Nähme man diese Bestimmung beim Wort, dann wäre die Anlage so zu betreiben, daß der Eintritt solcher Folgen unmöglich ist, also mit absoluter Sicherheit ausgeschlossen werden könnte. 3 Daß diese Bestimmung nicht in dieser Weise beim Wort genommen werden kann, darüber besteht in Rechtsprechung und juristischer Literatur Einvernehmen. Zur Begründung hierfür wird oft gesagt, die Forderung nach abso1
Dazu unten § 22. Das gleiche mag für manche Arten von „Nachteilen" gelten, auf die hier nicht näher eingegangen wird. 3 Vgl. Martens, DVBl. 1981, 598. 2
C. Das erlaubte Risiko
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luter Sicherheit würde die Genehmigung von Industrieanlagen unmöglich machen; sie liefe auf ein totales Technikverbot im Bereich genehmigungsbedürftiger Anlagen hinaus. 4 In der Tat: Völlige Sicherheit vor der Technik wäre nur durch Verzicht auf die Technik zu haben - und das hätte neue, unübersehbare Risiken zur Folge. 5 Für sich genommen freilich reicht diese Feststellung schwerlich aus, eine Abweichung vom Wortlaut des Gesetzes zu rechtfertigen. Rechtlich kommt es nicht darauf an, ob ein bestimmtes Sicherheitspostulat der Realisierbarkeit „der Technik" im ganzen oder bestimmter Arten technischer Systeme entgegenstünde, sondern allein darauf, welches Maß an Sicherheit rechtlich gefordert ist, also darauf, ob es mit Gesetz und Verfassung vereinbar wäre, durch ein unerfüllbares Sicherheitspostulat der Realisierbarkeit technischer Anlagen die Grundlage zu entziehen. Dies wird hier nur deshalb hervorgehoben, damit nicht der Eindruck entsteht, als sei die Realisierbarkeit jeglicher Art von technischen Systemen kraft einer überpositiven Technik-Schutznorm „unantastbar" und als dürfte die Realisierbarkeit von technischen Projekten an gesetzlichen Sicherheitsvorschriften prinzipiell niemals scheitern. Daß allerdings das Bundes-Immissionsschutzgesetz nicht darauf abzielt, durch Formulierung von vornherein unerfüllbarer Sicherheitsanforderungen 6 die Genehmigung genehmigungsbedürftiger Anlagen unmöglich zu machen7 und daß aus diesem Grunde der Wortlaut nicht das letzte Wort zum Sicherheitsstandard des § 5 Nr. 1 BImSchG sein kann, bedarf keiner näheren Begründung. Schon im Zusammenhang mit der Auslegung des Erheblichkeitsbegriffs wurde darauf hingewiesen, daß das Gesetz von der prinzipiellen Genehmigungsfähigkeit genehmigungsbedürftiger Anlagen ausgeht.8 Doch was folgt daraus für die Größe des erlaubten Risikos? Von der Erkenntnis, daß § 5 Nr. 1 BImSchG nicht die Vermeidung jedes Risikos verlangt, nicht absolute Sicherheit gebietet, springt die herrschende Meinung unvermittelt auf die These, diese Bestimmung verlange den Ausschluß von „Gefahren"; §5 Nr. 1 BImSchG sei eine Bestimmung der „Gefahrenabwehr" und ihr Sicherheitsstandard derselbe wie derjenige der polizeilichen Generalklausel; dem Betreiber einer genehmigungsbedürftigen Anlage werde durch seine „Grundpflicht" gem. § 5 Nr. 1 BImSchG kein größeres Maß an Sorgfalt auferlegt, als es sich auch ohne diese Bestimmung aus der - jeden Bürger verpflichtenden - allgemeinen Polizeipflichtigkeit ergäbe - mit dem einzigen Unterschied, daß die Beachtung dieser Pflichten nach §§ 4, 6 BImSchG durch ein präventives Verbot mit Erlaubnisvorbehalt 4 Vgl. z.B. Rauschning, W D S t R L 38, 196f.; Marburger, WiVerw. 1981, 244; Sellner, in: Festg. BVerwG, S. 607; BVerfGE 49, 89 (143). 5 Vgl. Marburger, in: Bitburger Gespräche, Jb. 1981, S. 45f. 6 Vgl. Martens, DVB1. 1981, 598. 7 Vgl. Hansmann, DVB1. 1981, 898. β s.o. B . I I . 1.
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§ 20 Der Sicherheitsstandard des § 5 Nr. 1 BImSchG
vorbeugend kontrolliert werde und daß die Verpflichtung sich nicht nur auf die Vermeidung von Schäden, sondern auch von Nachteilen und Belästigungen beziehe.9 Wieso aber sollen nur solche Risiken vermieden werden, die die Größe einer „Gefahr" erreichen? Auf welches Argument läßt sich die These stützen, daß § 5 Nr. 1 BImSchG gerade die Vermeidung von „Gefahren" vorschreibt und nicht irgendeinen anderen Sicherheitsstandard zwischen dem Standard der Gefahrenabwehr und dem Nullrisiko postuliert? Soweit für die Gefahrenabwehr-These überhaupt eine Begründung vorgebracht wird, beruft man sich auf das Verhältnismäßigkeitsprinzip 10 , auf das VoerdeUrteil des Bundesverwaltungsgerichts 11 oder auf beides zusammen. Im Voerde-Urteil hat das Bundesverwaltungsgericht die Genehmigungsvoraussetzungen der §§6 Nr. 1, 5 Nr. 1 BImSchG ohne nähere Begründung wie folgt interpretiert: Nicht „jedes nur denkbare Risiko" müsse ausgeschlossen sein. Vielmehr müßten Risiken, die als solche erkannt sind, „mit hinreichender, dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz entsprechender Wahrscheinlichkeit" ausgeschlossen sein. 12 Die Formulierung des Bundesverwaltungsgerichts hat in der Praxis wie in der wissenschaftlichen Literatur allgemeine Zustimmung gefunden. 13 Sie erinnert an den relationalen Gefahrenbegriff, an die Konkretisierung der im Sinne der „Gefahr" „hinreichenden" Eintrittswahrscheinlichkeit durch ihre verhältnismäßige Zuordnung zu Art und Umfang des potentiellen Schadens. 14 Offenbar ist sie auch durchweg in dem Sinne verstanden worden, als solle sie den „Standard der Gefahrenabwehr" umschreiben, als sei also § 5 Nr. 1 BImSchG in der Interpretation des Bundesverwaltungsgerichts so zu lesen: „Genehmigungsbedürftige Anlagen sind so zu errichten und zu betreiben, daß Gefahren ... nicht hervorgerufen werden." 15 9 Vgl. OVG Lüneburg, 20.2. 75, ET 1975, 234 (235); 28.12.76, DVBl. 1977, 347 (351) - Dow Chemical; Rehbinder, BB 1976, 2; Seilner, Immissionsschutzrecht, S. 15f.; ders., in: Festg. BVerwG, S. 607f.; Papier, DVBl. 1979, 162; Martens, in: Festschr. H. P. Ipsen, S. 461f.; ders., DVBl. 1981, 598; Lukes / Feldmann / Knüppel, in: Gefahren und Gefahrenbeurteilungen II, S. 146, 151; Breuer, WiVerw. 1981, 232; Hansen-Dix, S. 83ff., 95f., 156; Börner, VEnergR 50, S. 148, 152f. 10 Vgl. Rehbinder, BB 1976, 2; Martens, in: Festschr. H. P. Ipsen, S. 462f. 11 Vgl. Seilner, in: Festg. BVerwG, S. 607; Martens, DVBl. 1981, 598; Hansen-Dix, S. 156. 12 17.2.78, DVBL 1978, 591 (592). 13 Vgl. z.B. Bundesregierung, BT-Drs. 8/2751, S. 6, 16; Bundesrat, ebd., S. 10; Unterausschuß „Recht" des Länderausschusses für Immissionsschutz, Umwelt Nr. 97 v. 26.8.1983, S. 12; Breuer, DVB1. 1978, 598; ders., WiVerw. 1981, 233; Rauschning, W D S t R L 38 (1980), 197; Hansmann, DVB1.1981, 899; außerdem die o. Fn. 11 zit. Lit. 14 Hierzu s.o. § 4 B., § 9 vor A. 15 In diesem Sinne die Bundesregierung, die mit dem - im Gesetzgebungsverfahren gescheiterten - Anderungsentwurf zum BImSchG von 1978 das Wort „können" in § 5 Nr. 1 streichen wollte und sich in der Begründung auf das Voerde-Urt. bezogen hat, BR-Drs. 403/78 = BT-Drs. 8/2751, S. 4, 6, 16. Dagegen der Bundesrat, BT-Drs. 8/ 2751, S.10.
C. Das erlaubte Risiko
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Ob das Bundesverwaltungsgericht wirklich in diesem Sinne zu verstehen ist und ob eine solche Interpretation des Gesetzes zutreffend wäre, ist zu überprüfen. Dabei w i r d es entscheidend darauf ankommen, wie weit die gesetzliche Sicherheitspflicht durch den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz begrenzt wird (III.). Zuvor soll aber nach gesetzesimmanenten Gesichtspunkten für eine Begrenzung des rigorosen Wortlauts gesucht werden (II.). II. Einschränkung des Sicherheitsstandards aus dem Gesetzeszusammenhang 1. Die vom Gesetz akzeptierte technische Realität Geht das Gesetz - wie bereits gezeigt 16 - von der prinzipiellen Genehmigungsfähigkeit genehmigungsbedürf tiger Anlagen aus, dann akzeptiert es damit auch den Grundbefund der Sicherheitstechnik: daß es Technik ohne jedes Risiko nicht gibt. Und mehr noch: es akzeptiert diejenigen Risiken, ohne deren Inkaufnahme die prinzipielle Genehmigungsfähigkeit genehmigungsbedürftiger Anlagen in Frage gestellt wäre. Das Gesetz ist, wie schon gezeigt, Industrieermöglichungsgesetz und nicht Industrieverhinderungsgesetz. Gegen den rigoristischen Wortlaut bricht sich der Industrieförderungszweck Bahn. Dies kann nicht bedeuten, daß der Förderungszweck gegenüber dem Schutzzweck Oberhand gewönne und daß das Gesetz jedes Risiko akzeptierte. Es heißt zunächst nichts anderes, als daß das Gesetz grundsätzlich die unvermeidlichen Risiken in Kauf nimmt. Und sodann w i r d man von einem Gesetz, dessen Wortlaut ein Nullrisiko postuliert, erwarten können, daß es technisch unvermeidliche Risiken nicht in jeder beliebigen Größe in Kauf nimmt. Deshalb im folgenden die Frage nach der Maximalgrenze des akzeptablen Risikos. 2. Vermeidung von Gefahren als Mindestsicherheitsstandard § 5 Nr. 1 BImSchG verlangt zumindest den Ausschluß von „Gefahren". Der Wortlaut verwendet den Gefahrenbegriff gleich zweimal: einmal im Begriff der „schädlichen Umwelteinwirkungen", der nach § 3 I BImSchG im Sinne der abstrakten Eignung zur Herbeiführung von Gefahren zu verstehen ist, und sodann ausdrücklich mit der Wendung „sonstige Gefahren". Die Funktion des Gefahrenbegriffs liegt nach dem Wortlaut der Bestimmung aber nicht darin, den Sicherheitsstandard in seinen beiden Elementen zu bestimmen, in der Größe der zu vermeidenden Beeinträchtigung und dem Grad der Beeinträchtigungswahrscheinlichkeit, der bestehen bleiben darf. Denn die Eintrittswahrscheinlichkeit wird durch die Wendung, Gefahren 16
s.o. B. I I . l .
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§ 20 Der Sicherheitsstandard des § 5 Nr. 1 BImSchG
dürften „nicht hervorgerufen werden können", mit N u l l angegeben. Der Gefahrenbegriff dient dem Wortlaut der Bestimmung nach also nur dazu, das erste Element des Sicherheitsstandards, die Größe der zu vermeidenden Beeinträchtigung zu kennzeichnen. Zu vermeiden sind nicht nur „erhebliche Nachteile" und „erhebliche Belästigungen", sondern vor allem - dies sagt der Gefahrenbegriff - „erhebliche Schäden". Relativiert man nun aber die absolute Sicherheitsforderimg des Wortlauts, dann w i r d das zweite, das risikobegrenzende normative Element des Gefahrenbegriffs freigesetzt und gewinnt eine Funktion für die Bestimmung des Sicherheitsstandards: Wenn nicht jedes Risiko ausgeschlossen werden muß, dann müssen doch zumindest diejenigen Risiken ausgeschlossen sein, die die Größe einer „Gefahr" erreichen. I m übrigen hat die ungewöhnliche Formulierung des § 5 Nr. 1 BImSchG den Zweck, den Sicherheitsstandard im Verhältnis zum allgemeinen Sicherheitsrecht zu verschärfen. 17 Mit Sicherheit läßt sich deshalb sagen, daß das Gesetz jedenfalls eine Minderung des Sicherheitsniveaus gegenüber dem durch den „Standard der Gefahrenabwehr" gekennzeichneten allgemeinen Sicherheitsrecht nicht zuläßt. Die zu beurteilende Anlage darf also keine „Gefahr" hervorrufen. Der Eintritt der Beeinträchtigung darf im Sinne des polizeilichen Gefahrenbegriffs nicht „hinreichend" wahrscheinlich sein: Ausgehend von einer mittleren Eintrittswahrscheinlichkeit, die bei einem polizeilichen „Standardschaden" - etwa einem mittleren Sachschaden - gegeben sein muß, sind die Anforderungen an das Sicherheitsniveau zu steigern, wenn es um die Vermeidung größerer Schäden geht, und zu senken, wenn das Schadenspotential sich der Bagatellschwelle nähert. „Je größer der zu befürchtende Schaden, desto geringer die erforderliche Eintrittswahrscheinlichkeit". Im Hinblick auf Lebens- und Gesundheitsschäden ist eine „entfernte Wahrscheinlichkeit" bereits „hinreichend". 18 3. Risikoabwehr unterhalb der Gefahrenschwelle als Optimierungsgebot Zwingt der funktionale Zusammenhang, in dem die Betreiberpflicht des § 5 Nr. 1 BImSchG zu sehen ist, verbunden mit dem aus dem Gesetzeszusammenhang ermittelten Industrieermöglichungszweck auch dazu, sich über den rigoristischen Wortlaut hinwegzusetzen, so läßt es sich mit diesen Argumenten andererseits aber nicht rechtfertigen, den Wortlaut völlig zu mißachten und so zu tun, als wäre § 5 Nr. 1 BImSchG nichts anderes als eine 17 18
Dazu unten 3. Zum Gefahrenbegriff s.o. § 4 B., § 9 m. Nachw.
C. Das erlaubte Risiko
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spezialgesetzliche Ausformung der polizeilichen Generalklausel. § 5 Nr. 1 BImSchG fordert eindeutig mehr an Sicherheit als die polizeiliche Generalklausel. 19 Deshalb kann der Ausschluß von Gefahren nur das Minimum dessen bezeichnen, was an Sicherheit gewährleistet sein muß. Anders herum: der Sicherheitsstandard der Gefahrenabwehr gibt das Maximum des erlaubten Risikos an. Aber nicht jedes Risiko unterhalb der Gefahrenschwelle ist deswegen schon erlaubt. Wenn man sich über den Gesetzeswortlaut hinwegsetzt mit dem Argument, daß anderenfalls ein Gesetzeszweck nicht realisierbar wäre, daß - konkret gesagt - anderenfalls genehmigungsbedürftige Anlagen generell genehmigungsunfähig wären, dann rechtfertigt dies nicht jede beliebige Entfernimg vom Wortlaut. Es rechtfertigt die Relativierung der vom Wortlaut geforderten Sicherheit nur insoweit, wie dies zur Zweckerreichung nötig ist. Aus der Zusammenschau von Sicherheitspostulat des Wortlauts und Einschränkung dieses Postulats aus dem Gesetzeszusammenhang ergibt sich somit die Maxime: Soviel Sicherheit wie (ohne Verhinderung von Bau und Betrieb genehmigungsbedürftiger Anlagen) möglich; soviel Risiko wie (zum Bau und Betrieb genehmigungsbedürftiger Anlagen) nötig. § 5 Nr. 1 BImSchG verbietet also nicht nur kategorisch die Verursachung von Gefahren; er verbietet außerdem die Verursachung von Risiken unterhalb der Gefahrenschwelle - aber nicht kategorisch, sondern nur nach Maßgabe des ohne Verzicht auf die Realisierung des Projekts faktisch Möglichen. Unterhalb der Gefahrenschwelle läßt das Gesetz nicht jedes, sondern nur das geringstmögliche Risiko zu. Es verlangt ein Optimum an Sicherheit. Wo dieses Optimum liegt, hängt zunächst vom Stand der Sicherheitstechnik ab: Unterhalb der Gefahrenschwelle ist nur das technisch realisierbare 19 Daß es einen Unterschied ausmacht, ob das Gesetz verlangt, eine Anlage so zu betreiben, daß Gefahren und andere Beeinträchtigungen „nicht hervorgerufen werden", oder ob es verlangt, die Anlage so zu betreiben, daß Gefahren und andere Beeinträchtigungen „nicht hervorgerufen werden können" - dies kann nur abstreiten, wer mit der deutschen Sprache auf Kriegsfuß steht. Wer den sprachlichen Unterschied sieht, ihm aber jede rechtliche Bedeutung abspricht, muß dies begründen. Die Entstehungsgeschichte bietet - entgegen Hansen-Dix, S. 96 - eine solche Begründung nicht: Der Regierungsentwurf hatte das Wort „können" noch nicht enthalten. Es war auf Vorschlag des Bundesrates eingefügt worden mit der Begründung, die Formulierung des bislang geltenden Rechts - nämlich des § 18 GewO - solle beibehalten werden, BT-Drs. 7/179, S. 6, 52. Dieser Hinweis auf das ältere Recht belegt nichts anderes, als daß auch die Gewerbeordnung schon mehr verlangte als bloße Gefahrenabwehr. Der Versuch der Bundesregierung, den Sicherheitsstandard des § 5 Nr. 1 durch Streichung des Wortes „können" im Rahmen des Änderungsentwurfes von 1978 zu entschärfen BT-Drs. 8/2751, S. 4, 6 - , ist gescheitert. Der Bundesrat, der sich gegen die Änderung gewandt hatte, vertrat die Auffassung, § 5 Nr. 1 in der geltenden Fassung verlange nur den Ausschluß „solche(r) Risiken mit hinreichender, dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz entsprechender Wahrscheinlichkeit ..., die nach allgemeiner Lebenserfahrung, insbesondere nach dem gesicherten Stand der Wissenschaft, als solche erkannt sind", BT-Drs. 8/2751, S. 10. Diese sich an das Voerde-Urteil anlehnende Begründung spricht sich zwar gegen die Berücksichtigung jedes „theoretisch möglichen" Risikos, keineswegs aber gegen die Berücksichtigung jedes die Gefahrenschwelle unterschreitenden Risikos aus.
22 Murswiek
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Maß an Sicherheit geboten. Sodann kommt es aber auch auf die wirtschaftliche Realisierbarkeit des Projekts an, denn wenn das Gesetz das Projekt nicht an den Sicherheitsanforderungen scheitern lassen will, ist es gleichgültig, ob das Projekt an der Unmöglichkeit scheitern würde, die Sicherheitsanforderungen technisch zu erfüllen, oder an der Unmöglichkeit, die technisch möglichen Sicherheitsvorkehrungen zu bezahlen. Damit ist freilich hicht die Finanzkraft des Anlagenbetreibers gemeint, sondern entscheidend ist allein, ob es wegen der Sicherheitsaufwendungen unmöglich würde, die Anlage gewinnbringend zu betreiben. Außerdem darf unterhalb der Gefahrenschwelle eine Sicherheitsvorkehrung dann nicht mehr verlangt werden, wenn die Kosten für diese Vorkehrung in keinem vernünftigen Verhältnis zu dem durch sie erzielten Sicherheitsgewinn stünden. 20 4. Kein Schutz gegen „unerhebliche" Risiken Der Begriff der „Erheblichkeit" begrenzt nach dem Wortlkut des Gesetzes nur die Größe der in Betracht zu ziehenden Beeinträchtigung, nicht hingegen das Wahrscheinlichkeitselement des Sicherheitsstandards. Ist eine potentielle Beeinträchtigimg „erheblich", dann muß das Eiritrittsrisiko ausgeschlossen werden - nach dem Wortlaut mit absoluter, nach der systematischen Interpretation mit größtmöglicher Sicherheit. Da die Größe des Risikos sich aus dem Produkt von Eintrittswahrscheinlichkeit\und Größe des Schadenspotentials ergibt 21 , verlangt das Gesetz dem Wortlaut nach auch den Ausschluß von solchen Risiken, die sich zwar auf „erhebliche" Beeinträchtigungspotentiale beziehen, wegen der sehr geringen Eintrittswahrscheinlichkeit aber nicht „ins Gewicht fallen". Das Produkt von Eintrittswahrscheinlichkeit und Schadenspotential kann dann eine Größe ergeben, die weit unterhalb der Bagatellschwelle liegt. Bezieht man das Erheblichkeitskriterium wortgetreu nur auf die Größe des Beeinträchtigungspotentials, so gelangt man daher zu einem Wertungswiderspruch zwischen der Bewertung von tatsächlichen, d. h. mit Gewißheit eintretenden Beeinträchtigungen einerseits und Risiken andererseits. Für diese Wertungsdifferenzierung ist ein sachlicher Gesichtspunkt aber nicht erkennbar. Zweck des Gesetzes ist es, erhebliche Beeinträchtigungen zu verhüten. Auch die Belastung mit Risiken kann im weiteren Sinne als eine „Beeinträchtigung" angesehen werden; sie belastet den Betroffenen um so weniger, je weniger wahrscheinlich ihre Realisierung, also der Eintritt des befürchteten Schadens oder Nachteils ist. Umgekehrt könnte man tatsäch20 Zur Begründung s.o. § 17 Β. II. 3. Vgl. auch Papier, DVBl. 1979, 163, der,die „Risikovorsorge" allerdings § 5 Nr. 2 zuordnet; zum atomrechtlichen Risikominimierungsgebot gem. § 7 I I Nr. 3 AtG z.B. OVG Lüneburg, 22.11. 76, DVBl. 1977, 340 (341); Breuer, DVBl. 1978, 837; ders., WiVerw. 1981, 224 m.w.N. 21 s.o. §4 A.
C. Das erlaubte Risiko
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liehe Beeinträchtigungen als „Risiken" mit der höchstmöglichen Eintrittswahrscheinlichkeit, der Gewißheit betrachten. Auf einer Wahrscheinlichkeitsskala von 0 bis 1 bezeichnet die 1 die Gewißheit des Schadenseintritts, die 0 den sicheren Ausschluß, die nachgewiesene Unmöglichkeit des Schadenseintritts. Ordnet man einer Beeinträchtigung, die gerade die Bagatellgrenze überschreitet, also „erheblich" ist 2 2 , die Bewertungszahl 1 zu, bezeichnet das Produkt aus beiden Größen, die Risikozahl, die in diesem Fall ebenfalls 1 lautet, die Grenze, unterhalb derer Beeinträchtigungen - als Bagatellen - auch dann nicht vermieden werden müssen, wenn sie vermeidbar sind. Ist nun die potentielle Beeinträchtigung so intensiv, daß sie die Bagatellschwelle wesentlich überschreitet, so daß man ihr eine größere Bewertungszahl als die 1 zuordnen muß, sagen wir: die 5, ist aber der Eintritt dieser Beeinträchtigung nicht gewiß, sondern unwahrscheinlich - lautet die Wahrscheinlichkeitszahl beispielsweise 0,1 - , so kann die Belastung mit diesem Risiko für den Betroffenen „unerheblich" sein, die Risikozahl unterhalb der mit 1 bezeichneten Erheblichkeitsschwelle liegen; i n unserem Beispiel lautet sie 0,5. 23 Die bei der Risikobewertung allgemein übliche relationale Zuordnung von Schadenspotential und Eintrittswahrscheinlichkeit nach der „Je-desto-Formel" zeigt, daß nach allgemeiner Auffassung die Intensität der Belastung des Betroffenen auch von der Schädigungswahrscheinlichkeit abhängt. Kommt es für den Betroffenen auf die Intensität der Beeinträchtigimg an, dann gibt es aber keinen Grund, zwischen mit Gewißheit eintretenden Beeinträchtigungen und Risiken insoweit zu differenzieren, als es für erstere eine quantité négligeable („unerhebliche" Beeinträchtigung) geben soll, für letztere hingegen nicht. Eine einheitliche Wertung der lediglich nach dem Grad ihrer Eintrittswahrscheinlichkeit sich unterscheidenden Beeinträchtigungsmodi erscheint deshalb als angebracht. Daher müssen nicht nur „unerhebliche" Beeinträchtigungen, sondern auch „unerhebliche" Risiken unberücksichtigt bleiben. Was die tatsächlichen Beeinträchtigungen angeht, so wurde oben gezeigt, daß die zweidimensionale Auslegung des Erheblichkeitsbegriffs zu einer Maximalgrenze der erlaubten Beeinträchtigungsintensität führt, gekennzeichnet durch die Kriterien „Unzumutbarkeit" beziehungsweise „Gemeinschädlichkeit", sowie zu einer Minimalgrenze, gekennzeichnet durch die „Bagatellschwelle", und daß zwischen diesen Polen das Optimierungsgebot gilt. Hier kommen w i r für die Risiken zu dem gleichen Ergebnis: Die Maximalgrenze wird durch die „Gefahrenschwelle" bezeichnet, die auch ihrem Wer22
s.o. B . I I . 1. Die Bewertungszahlen wurden hier nur zur Veranschaulichung eingeführt. Der Verfasser hält eine rechtsgutübergreifende allgemeine Beeinträchtigungsquantifizierung nicht für rational durchführbar, s.o. § 9 B. 23
22*
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tungsgehalt nach der „Unzumutbarkeit" beziehungsweise der „Gemeinschädlichkeit" entspricht. Die Minimalgrenze, so haben w i r jetzt gesehen, liegt auch hier an der „Bagatellschwelle", und dazwischen gilt das Risikominimierungsgebot. I m Hinblick auf Risiken unterhalb der Bagatellgrenze brauchen Sicherheitsvorkehrungen demnach auch dann nicht mehr ergriffen zu werden, wenn sie sich technisch und wirtschaftlich realisieren ließen und der für sie notwendige Aufwand auch nicht i n einem unvernünftigen Verhältnis zum weiteren Sicherheitsgewinn stünde. Selbst zum Schutz vor Lebens- und Gesundheitsrisiken ist deshalb nicht in jedem Fall jede tatsächlich mögliche Sicherheitsvorkehrung rechtlich auch geboten: Wenn nämlich die Eintrittswahrscheinlichkeit so gering ist, daß man den Schadenseintritt als „nach menschlichem Ermessen praktisch ausgeschlossen" betrachten kann, wenn also nach dem Stand der menschlichen Erkenntnis, insbesondere nach dem Stand der Wissenschaft, der Eintritt des Schadens mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen ist 2 4 , sind weitere tatsächlich mögliche Verbesserungen der Sicherheit rechtlich nicht mehr gefordert. „Rein theoretisch" denkbare Kausalverläufe 25 , die zu einem solchen Schaden führen könnten, brauchen nicht mehr in Betracht gezogen zu werden.
5. Vereinbarkeit der Auslegung mit § 5 Nr. 2 BImSchG Wenn man neben dem Gebot der Gefahrenabwehr auch das Gebot der Risikominimierung unterhalb der Gefahrenschwelle in § 5 Nr. 1 BImSchG verankert sieht, muß man sich fragen lassen, ob man mit dieser Interpretation nicht § 5 Nr. 2 jedes Regelungsgehalts beraubt. Daß es sich bei der genannten Interpretation des § 5 Nr. 1 nicht etwa um eine extensive Interpretation, sondern um die interpretative Einengimg des Sicherheitsstandards handelt, macht diese Frage nicht überflüssig. Würde nämlich die Vorsorge-Norm des § 5 Nr. 2 bei der genannten Interpretation des § 5 Nr. 1 funktionslos, dann spräche dies dafür, die Sicherheitsnorm des § 5 Nr. 1 noch weiter dahingehend einzuengen, daß § 5 Nr. 2 seine Funktion behielte. Die gleiche Frage stellt sich in bezug auf die oben (Β. Π.) postulierte Pflicht zur Beeinträchtigungsminimierung. Wäre § 5 Nr. 2 BImSchG so zu verstehen, daß es sich bei dieser Vorschrift um eine allgemeine Risikominimierungsnorm handelt, die den Anlagenbetreiber verpflichtet, die von seiner Anlage ausgehenden Risiken dem Stand der Technik entsprechend so gering wie möglich zu halten, dann spräche 24
Vgl. Feldhaus, BImSchR 1 A, § 5 Anm. 3; Sellner, Immissionsschutzrecht, S. 15. Zu dieser Wendimg vgl. Sellner, Immissionsschutzrecht, S. 15; Hansen-Dix, S. 150ff. m.w.N. 25
C. Das erlaubte Risiko
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einiges dafür, § 5 Nr. 1 lediglich im Sinne von „Gefahrenabwehr" zu interpretieren, um Überschneidungen zwischen Nr. 1 und Nr. 2 zu vermeiden. Es ist in diesem Zusammenhang nicht nötig, auf die diversen Interpretationsvorschläge im einzelnen einzugehen, die in der Literatur zu § 5 Nr. 2 vorgetragen worden sind. Übereinstimmung besteht jedenfalls weitgehend darin, daß § 5 Nr. 2 der Schaffung oder Erhaltung von „Freiräumen" für künftige Industrieansiedlungen oder auch für andere Zwecke wie Erholung oder Naturschutz dient. 2 6 Dieser Zweck rechtfertigt es, Maßnahmen der Emissionsbegrenzung - darum geht es im Rahmen des § 5 Nr. 2 - auch dann noch zu verlangen, wenn die Immissionsbelastung noch unterhalb der Erheblichkeitsschwelle im Sinne des § 5 Nr. 1 BImSchG bleibt, gegen Emissionen also, deren Vermeidimg § 5 Nr. 1 auch nach der hier vertretenen Interpretation nicht verlangt. 27 Dagegen w i r d der Einwand vorgebracht, auch § 5 Nr. 2 richte sich nur gegen „schädliche Umwelteinwirkungen", also gemäß § 3 I nur gegen „erhebliche" Beeinträchtigungen 28 . Aber „Vorsorge" gegen das Entstehen solcher Einwirkungen kommt überhaupt nur dort in Betracht, wo sie noch nicht vorhanden sind 2 9 , und auch unter dem Zweckaspekt des § 1 läßt sie sich damit rechtfertigen, daß der Einwirkungsbereich der emittierenden Anlage für weitere später hinzukommende Umweltnutzungen freigehalten werden muß, die man untersagen müßte oder die nur unter erschwerten Bedingungen möglich wären, wenn man den (Luft-)Raum bereits bis zur Erheblichkeitsschwelle (= „Umweltschädlichkeitsschwelle") mit Immissionen vorbelasten würde. Die hier vertretene Interpretation des § 5 Nr. 1 nimmt also dem Vorsorgeprinzip des § 5 Nr. 2 nicht seine Bedeutung, wenn man es in dem oben genannten Sinne versteht, so daß sich Nr. 2 nicht gegen eine möglichst nah am Wortlaut bleibende Auslegung von Nr. 1 ins Feld führen läßt. Hat nun die Frage, ob das Risikominimierungsgebot aus § 5 Nr. 1 oder aus § 5 Nr. 2 abzuleiten ist, überhaupt praktische Relevanz? Abgesehen davon, daß sich aus dem Nachweis, bereits § 5 Nr. 1 gebiete die Risikominimierung (mit den genannten Einschränkungen), Rückschlüsse auf die ja auch im systematischen Zusammenhang des Gesetzes auszulegende Bestimmimg des § 5 Nr. 2 im Sinne eines zusätzlichen Arguments für die „Freiraumthese" 26 Feldhaus, BImSchR 1 A, § 5 Anm. 7; ders., DVBl. 1980, 133ff., insb. 135; ebenso Seilner, Immissionsschutzrecht, S. 39; ders., NJW 1980, 1257; Kutscheidt, in: Landmann / Rohmer III, § 1 Rdnr. 7; Soell, ZRP 1980, 106 m.w.N.; Breuer, Der Staat 20 (1981), 412. 27 Vgl. Seilner, Immissionsschutzrecht, S. 38f. 28 Vgl. Börner, VEnergR 50, S. 144. 29 Richtig ist allerdings, daß auch Vorsorgemaßnahmen nach § 5 Nr. 2 sich auf den Zweck beziehen, schädliche Umwelteinwirkungen zu verhüten, also etwa dann nicht gefordert werden können, wenn die Immissionsbelastung dadurch praktisch nicht gemindert wird, vgl. Feldhaus, DVBl. 1980, 136; Seilner, NJW 1980, 1257.
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ergeben, liegt die Bedeutung der partiellen Zuordnimg des Beeinträchtigungs- und Risikominimierungsgebots zu § 5 Nr. 1 vor allen Dingen darin, daß nach der Rechtsprechung nur Nr. 1, nicht aber Nr. 2 „drittschützenden Charakter" hat. III. Beschränkung der Sicherheitspflichten durch das Verhältnismäßigkeitsprinzip Die bis jetzt aus dem Gesetzeszusammenhang entwickelte Interpretation des § 5 Nr. 1 BImSchG ist nun mit der erwähnten These zu konfrontieren, der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gebiete es, diese Bestimmung lediglich als Gefahrenabwehrnorm zu verstehen. Entsprechend der doppelten Regelungsrichtung der Bestimmung ist der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz als „Schrankenschranke" nach beiden Seiten zur Geltung zu bringen: einerseits in bezug auf die Freiheitseinschränkung des Anlagenbetreibers, andererseits in bezug auf die Risikotragungspflicht der dem Anlagenrisiko Ausgesetzten. Was die vom Anlagenrisiko Betroffenen angeht, so bezeichnet die Gefahrenschwelle in der Tat das Maximum dessen, was ihnen zugemutet werden kann. Eine höhere Risikobelastung ließe der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz (i.e.S.) nicht zu. 3 0 Für die Konkretisierung des Gefahrenbegriffs käme es insoweit auf das subjektive Individualrisiko an, also auf das Produkt aus Eintrittswahrscheinlichkeit und Ausmaß des den Betroffenen bedrohenden Schadens. Betroffen können aber nicht nur Individuen sein, sondern auch die Allgemeinheit, die ausdrücklich ebenfalls unter dem Schutz des Gesetzes steht. Da das Gesetz keine Gesichtspunkte für insoweit abweichende Wertungskriterien erkennen läßt, muß das für die Allgemeinheit maximal hinnehmbare Risiko in Entsprechung zum maximal hinnehmbaren Individualrisiko ermittelt werden. Dafür spricht außerdem der Gleichheitssatz, der unterschiedliche Sicherheitspflichten bei gleich großen Risiken nur aus sachlichen Gründen zuläßt. 31 Demnach darf auch hinsichtlich des Schutzes der Allgemeinheit die Gefahrenschwelle - bezogen auf das „Kollektivrisiko" - nicht überschritten werden. Somit bestätigt die Überprüfung am Verhältnismäßigkeitsgrundsatz das Interpretationsergebnis im Hinblick auf die Maximalgrenze des zulässigen Risikos. Prüft man nun nach der anderen Seite, ob die Sicherheitspflichten des § 5 Nr. 1 den Anlagenbetreiber unverhältnismäßig belasten, so läßt sich zunächst sagen: Das Bundesverwaltungsgericht hat recht, wenn es sagt, daß eine strikt am Wortlaut haftende, den absoluten Ausschluß jedes Risikos 30 s.o. § 8 A I . Vgl. § 9 Α. II.
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D. Immissionsorbelastung und Luftbewirtschaftung
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verlangende Interpretation mit dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz nicht vereinbar wäre. Sie wäre zwar geeignet und erforderlich, den gesetzlichen Schutzzweck zu fördern, aber eine so weitgehende Verpflichtung, die die Freiheit der wirtschaftlichen Betätigung auf weiten Gebieten total zunichte machte, wäre für den Anlagenbetreiber unzumutbar. Unzumutbar ist dagegen nicht bereits jede Sicherheitspflicht, die über die Pflicht zur Vermeidung von Gefahren hinausgeht. Soweit die Freiheit, aus wirtschaftlichen Motiven Anlagen zu betreiben und damit Geld zu verdienen nur eingeschränkt, die Gewinnerzielung durch die nötigen Sicherheitsvorkehrungen nur erschwert, aber nicht immöglich gemacht wird, liegt ein unzumutbarer Eingriff in die Berufsfreiheit nicht vor. 3 2 Wenn man außerdem bedenkt, daß unterhalb der Gefahrenschwelle nach der hier vertretenen Interpretation auch einzelne Sicherheitsvorkehrungen nicht mehr geboten sind, wenn das Kosten-Nutzen-Verhältnis unvernünftig ist, und daß gegen Bagatellrisiken auf keinen Fall Sicherheitsvorkehrungen geboten sind, hält auch das Risikominimierungsgebot in der hier vertretenen Form einer Überprüfung unter dem Aspekt des Verhältnismäßigkeitsprinzips stand. Liest man jetzt noch einmal das Diktum des Bundesverwaltungsgerichts aus dem Voerde-Urteil, auf das sich die Vertreter der GefahrenabwehrThese so gern berufen, so läßt sich feststellen, daß auch damit die hier vertretene Interpretation nicht in Konflikt gerät: „Risiken", sagt das Bundesverwaltungsgericht, „müssen mit hinreichender, dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz entsprechender Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen sein". 33 Zugegeben, nochmals: das klingt nach Gefahrenabwehr. Aber das Bundesverwaltungsgericht gebraucht den Gefahrenbegriff nicht. So ist es immerhin möglich, die hier vertretene Interpretation mit eben jenem Satz als vereinbar zu erweisen, wenn auch nicht auf ihn zu stützen: Dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz entspricht auch die hier geforderte Wahrscheinlichkeit, und „hinreichend" gering ist sie ebenfalls. D. Immissionsvorbelastung und Luftbewirtschaftung
Die „Grundpflicht" des Anlagenbetreibers aus § 5 Nr. 1 BImSchG ist, soweit sie sich auf den Schutz vor Immissionen bezieht, sowohl anlagebezogen als auch wirkungsbezogen zu konkretisieren. Funktional lassen sich innerhalb des Sicherheitsstandards des § 5 Nr. 1 Verursachungs- und Wirkungsstandard unterscheiden, deren Anforderungen, sofern sie divergieren, beide erfüllt werden müssen (s.o. Α. II.). Die Interpretation des Sicherheitsstandards hatte unter (B.) und (C.) auf den Verursachungsstandard abge32 33
Dazu näher oben § 17 B. vor I. und II. DVBl. 1978, 591 (592).
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stellt und muß im folgenden um die wirkungsbezogene Betrachtungsweise ergänzt werden. Die beiden Elemente, aus denen sich der Standard der rechtlich gebotenen Sicherheit ergibt - das Maß der erlaubten mit Gewißheit eintretenden Beeinträchtigungen und das Maß des erlaubten Risikos - können jetzt gemeinsam betrachtet werden. Es hatte sich ja gezeigt, daß die gesetzlichen Beurteilungskriterien jeweils die gleichen sind: Das Gesetz fordert den Ausschluß von „erheblichen" Beeinträchtigungen und von „erheblichen" Risiken. 1 In bezug auf die beiden Elemente läßt sich für das Maß der erlaubten Beeinträchtigung eine Minimal- und eine Maximalgrenze angeben, nämlich die „Bagatellgrenze" und die „Zumutbarkeits-" beziehungsweise „Gemeinschädlichkeitsgrenze". Letztere ist bei Risiken mit der „Gefahrenschwelle" identisch. An dieser Ober- und Untergrenze für die Konkretisierung des Sicherheitsstandards kann auch bei wirkungsbezogener Betrachtungsweise festgehalten werden. Sowohl die Bagatell- als auch die Zumutbarkeitsschwelle waren nicht aus anlagespezifischen Gesichtspunkten entwickelt worden. Die entscheidende Frage aber lautet, an welcher Stelle die Grenze der zulässigen Immissionsbelastung zwischen den genannten Grenzen zu ziehen ist, die zunächst ja nur das Feld der in Betracht kommenden Konkretisierungsmöglichkeiten abstecken. Allein diese Frage ist es, die bislang anlagespezifisch beantwortet worden ist, nämlich durch die anlagebezogene Minimierungspflicht. Sie ist hier erneut aufzugreifen. I. Kontradiktorische und Unanwendbarkeit
Zweckprogrammierung des Optimierungsmodells
Die Interpretation des Sicherheitsstandards des § 5 Nr. 1 BImSchG muß sich - so hatten w i r gesehen - an den kontradiktorischen Zwecken des Gesetzes orientieren. Auf diese Weise waren die Grenzen der mindestens zulässigen und der höchstzulässigen Beeinträchtigungsintensität ermittelt worden. Bei anlagebezogener Betrachtung konnte die Konkretisierung der Sicherheitsanforderungen zwischen diesen Polen nach dem „Optimierungsmodell" erfolgen: Der Schutzzweck soll so weit verwirklicht werden, wie dies möglich ist, ohne die Verwirklichung des Industrieförderungszwecks zu verhindern - soviel Sicherheit wie möglich, soviel Risiko wie nötig. Wo die Immissionsbeurteilung dagegen rein wirkungsbezogen zu erfolgen hat, also Vorbelastungen auch zu Lasten des Betreibers der zu beurteilenden Anlage zu berücksichtigen sind, ist es jedoch immöglich, den Zielkonflikt zwischen den genannten Polen auf diese Weise zu lösen, und zwar aus folgendem Grunde: Würde man den Konflikt zwischen Schutzzweck und Förderungszweck nach dem Grundsatz lösen, daß die Emissionen jeder einzelnen 1
s.o. B., C., insb. C. II. 4.
D. Immissions Vorbelastung und Luftbewirtschaftung
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Anlage so gering wie möglich sein müssen, so würde dies auf die Dauer jedenfalls an industriegünstigen Standorten - keineswegs zu einem „Kompromiß" zwischen Schutz und Förderung führen, sondern immer zu einer Ausschöpfimg des für den Immissionsbetroffenen gerade noch zumutbaren Maximums an Immissionsbelastung. Würde dieses Maximum nämlich durch die erste Anlage noch nicht ausgeschöpft, weil sie - unter Umständen mit aufwendiger Rückhaltetechnik - nach dem Grundsatz „so wenig wie möglich" die Emissionen minimiert, so würde dies nur dazu führen, daß an diesem Standort weitere Anlagen genehmigt werden müßten. In die durch die Emissionsminimierung seitens einer Anlage geschaffene Lücke sprängen weitere Anlagen hinein, die das insgesamt zur Verfügung stehende Immissionsvolumen ausschöpften. Was die eine Anlage an Immissionen durch Emissionsminimierung vermeidet, führt die nächste oder übernächste neu hinzukommende Anlage herbei. 2 Die Anstrengungen zur Emissionsminderung, die man dem Betreiber zur Pflicht macht, führen dann zwar zu einer besseren Ressourcenausnutzung, zu einer gerechteren Verteilung des knappen Gutes „ L u f t " unter den industriellen Umweltnutzern, aber für den Immissionsbetroffenen wäre damit nichts gewonnen: Ob bereits die erste Anlage, die zehnte oder erst die zwanzigste, die auf seinen Wohnort einwirkt, das Maximum der zulässigen Immissionsbelastung herbeiführt, ist für ihn egal. Er ist in jedem Fall der maximal zulässigen Immissionsbelastung ausgesetzt. Das Minimierungsgebot führt nur zur Minimierung der Emissionen, des anlagebezogenen Immissionsbeitrags, nicht aber zur Minimierung der Gesamtimmissionen, auf deren Größe es bei der wirkungsbezogenen Beurteilung gemäß § 5 Nr. 1 BImSchG ankommt; es führt nicht zu einem Ausgleich der Zwecke zwischen den beiden Polen, zwischen Minimalund Maximalschwelle, sondern zur Zurückdrängung des Schutzes an die Grenze des gerade noch Zumutbaren. Dieses einer „praktischen Konkordanz" der Zwecke7 widersprechende Ergebnis wäre das notwendige Resultat einer nur anlagebezogenen Betrachtungsweise. Aber § 5 Nr. 1 BImSchG verlangt auch eine immissionsbezogene Betrachtungsweise: Der Anlagenbetreiber darf mit seinem Immissionsbeitrag nicht das Faß der zulässigen Gesamtimmissionen zum Überlaufen bringen. Wann das Faß voll ist, ist eine Frage des gesetzlichen Sicherheitsstandards. Wo es um die Immissionsbeurteilung geht, kann daher auch die Konkretisierung des Sicherheitsstandards anhand der kontradiktorischen Gesetzeszwecke nicht anlagebezogen erfolgen. Der Versuch, beide Zwecke optimal zur Geltung zu bringen, muß sich ebenfalls an der Immissionsgesamtbelastung im Einwirkungsbereich der Anlage orientieren. Nicht durch ein anlagebezogenes Minimierungsgebot, sondern nur durch eine anlagen2 Vgl. - mit Bezug auf das Vorsorgeprinzip des § 5 Nr. 2 - Salzwedel, in: Gesellschaft für Umweltrecht, Dokumentation zur 5. Fachtagung, S. 50.
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übergreifende - nicht emissions-, sondern immissionsbezogene - Konkretisierung des Sicherheitsstandards kann ein Ausgleich von Schutz- und Förderungszweck hier herbeigeführt werden. Wo es um die Immissionsbeiträge mehrerer Anlagen geht, die sich summieren, kann nicht allein die einzelne Anlage, deren Genehmigung beantragt wurde, als Gegenstand des Förderungszwecks in Betracht gezogen werden, sondern als Gegenstand des Förderungszwecks, dessen Verwirklichung durch den Schutz der Betroffenen nicht vereitelt werden soll, ist die Gesamtheit der zu den Immissionen beitragenden Anlagen zu berücksichtigen. Wie aber kann bei einer solchen Gesamtbetrachtung der Schutzzweck mit dem Förderungszweck zum Ausgleich gebracht werden? Nach welchen K r i terien läßt sich entscheiden, wo zwischen den rechtlich erheblichen Polen des Bedeutungsspektrums von „erheblich" - zwischen der Bagatellschwelle und der Zumutbarkeitsschwelle - der Punkt liegt, auf den hin die „Erheblichkeit" der Beeinträchtigung zu konkretisieren ist, an dem die „Schädlichkeit" der „Umwelteinwirkung", das auszuschließende Risiko, beginnt und über den also die Immissionskonzentration nicht hinausgehen darf? Nach dem Gesetz spricht nichts dafür, daß dieser Punkt mit der Obergrenze des Bedeutungsspektrums von „erheblich", mit der Zumutbarkeitsschwelle, identisch sein muß. Zwar geht das Gesetz von der prinzipiellen Genehmigungsfähigkeit von Industrieanlagen und der damit notwendig verbundenen Immissionsbelastung aus, doch ist nicht erkennbar, daß das Gesetz die Genehmigungsf ähigkeit einer solchen Anzahl von Anlagen an einem Standort beziehungsweise innerhalb sich überschneidender Einwirkungsbereiche voraussetzt, daß der Betrieb dieser Anlagen zur Ausschöpfung der maximal zumutbaren Immissionsbelastung führt. Die prinzipielle Genehmigungsfähigkeit genehmigungsbedürftiger Anlagen, die das Gesetz zwingend voraussetzt, würde nicht angetastet, wenn man die „Schädlichkeitsgrenze" unterhalb der Zumutbarkeitsschwelle, also unterhalb des in Betracht kommenden Maximums an Immissionsbelastung festlegte - solange überhaupt nur eine einzige Anlage innerhalb des jeweiligen Einwirkungsbereichs genehmigt werden könnte. Das Gesetz gibt weder explizit noch implizit zu erkennen, daß eine größere Anzahl von Anlagen an einem Standort genehmigt werden muß. Auf der anderen Seite läßt sich nicht zwingend sagen, daß die prinzipielle Genehmigungsfähigkeit von Anlagen an einem nicht vorbelasteten Standort dem Förderungszweck bereits genügt: Immerhin hat das Gesetz die Realität eines Industriesystems vorgefunden, innerhalb dessen die Immissionsbeiträge vieler örtlich konzentrierter Anlagen sich zu großen Gesamtbelastungen summieren, und es ist nicht erkennbar, daß das Gesetz mit dieser Realität prinzipiell brechen will. Das Argument hingegen, das Gesetz habe die industrielle Realität der Bundesrepublik, weil es sie vorgefunden habe, auch rechtlich akzeptiert 3 , findet im Gesetz ebenfalls keine Stütze. Vielmehr ist das Bundes-Immissionsschutzgesetz einzig zu dem
D. Immissionsorbelastung und Luftbewirtschaftung
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Zweck geschaffen worden, die Realität zu verändern, nämlich die aus der „fortschreitenden Technisierung aller Lebensbereiche und der Konzentration von Bevölkerung, Verkehr und Industrie in bestimmten Verdichtungsräumen" resultierenden Umweltbelastungen zu reduzieren, die „gegenwärtigen Verhältnisse" zu „verbessern". 4 Mit diesen Feststellungen sind lediglich denkbare Extreminterpretationen nach der einen oder nach der anderen Richtung ausgeschlossen: Der Förderungszweck zwingt weder zur Ausschöpfung der maximal zumutbaren Immissionskonzentration, noch ist ihm prinzipiell schon dadurch Genüge getan, daß der Betrieb einer einzigen umweltbelastenden Anlage innerhalb ihres Einwirkungsbereichs ermöglicht wird, sofern zwischen Bagatell- und Unzumutbarkeitsschwelle Platz für zusätzliche Immissionsbeiträge aus weiteren Anlagen bleibt. Offen aber ist weiterhin, wo zwischen beiden Polen die Grenze der zulässigen Immissionsbelastung gezogen werden muß. Lassen sich rechtliche Kriterien dafür finden, wo diese Grenze zu ziehen ist? Dieser Frage soll im folgenden Abschnitt nachgegangen werden. II. Das Fehlen materiell-rechtlicher
Konkretisierungskriterien
Geht es um einen Ausgleich von Schutz- und Förderungszweck, so liegt der Gedanke nahe, die Grenze der zulässigen Immissionsbelastung in der Mitte zwischen den beiden in Betracht kommenden Polen festzulegen, also einen Kompromiß auf der „mittleren Linie" zu suchen. Man müßte dann für jeden konkreten Fall die Bagatellschwelle ermitteln sowie die Grenze der noch zumutbaren Immissionsbelastung und aus den diese Grenzen repräsentierenden Immissionswerten den Mittelwert bilden. Dieser gäbe die Grenze der zulässigen Belastung an. Für diese Lösung spricht, daß sie auf einem einfachen und einleuchtenden Gerechtigkeitsprinzip beruht, auf dem der Gleichheit: Innerhalb des gesetzlich vorgegebenen Rahmens hätte jedes der widerstreitenden Interessen ein gleiches Stück von seiner in Betracht kommenden Maximalposition abzurücken und dem anderen entgegenzukommen. Das Bundesverwaltungsgericht scheint zu dieser Lösung zu tendieren, ohne sich allerdings auf die „Mittellinie" festzulegen: Die „einfachgesetzliche Zumutbarkeitsgrenze", durch die das Bundesverwaltungsgericht den Begriff der „Erheblichkeit" konkretisieren will, ist ja nichts anderes als eine Grenze, die irgendwo zwischen den hier in Betracht gezogenen Polen liegt, und in Wirklichkeit mit „Zumutbarkeit" nichts zu tun hat. Sie liegt unterhalb der hier als „Maximalgrenze" bezeichneten „Schwelle der Unzumutbarkeit", die das Bundesverwaltungsgericht als „verfassungs3 Vgl. Breuer, DVBl. 1978, 598, mit einer allgemeiner formulierten als gemeinten Wendung. 4 Vgl. Regierungsentwurf, BT-Drs. 7/179, A. (Deckblatt), S. 21, 28.
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§20 Der Sicherheitsstandard des § 5 Nr. 1 BImSchG
rechtliche Unzumutbarkeit" von der „einfachgesetzlichen Unzumutbarkeit" unterscheidet. 5 Gegen den auf den ersten Blick einleuchtenden Kompromiß in der Mitte spricht aber, daß er in vielen Fällen der technisch-industriellen Praxis, wie sie sich in diesem Land entwickelt hat, nicht gerecht werden könnte - sofern man nicht die Schwelle der (verfassungsrechtlichen) Unzumutbarkeit viel zu hoch ansetzt und etwa „Belästigungen", die nicht gesundheitsgefährdend sind, generell als zumutbar ansieht; dadurch würde auch die einfachgesetzliche Belastungsschwelle angehoben. Zwar wurde bereits betont, daß das Gesetz die von ihm vorgefundene Realität nicht einfach „akzeptiere". Doch ist das Gesetz, sofern nicht erkennbar ist, in welcher Weise und in welchem Maße es normativ die Realität verändernd beeinflussen will, vor dem Hintergrund dieser Realität zu betrachten. Das Gesetz akzeptiert also nicht jede bisher vorhandene, in der Praxis mancherorts übliche Immissionsbelastung. Aber da das Gesetz das konkret vorhandene Industriesystem nicht als solches in Frage stellen will, muß man davon ausgehen, daß unter den verschiedenen Interpretationsmöglichkeiten seiner Immissionsschutzstandards diejenigen ausscheiden, die dem industriellen Wirtschaftssystem den Boden entziehen würden. Zu den konkreten Bedingungen des Industriesystems in der Bundesrepublik aber gehört die Enge des Raums, die eine Summierung von Immissionsbeiträgen aus vielen Quellen unvermeidlich macht. Geht man davon aus, daß die Spanne zwischen Bagatellbeeinträchtigung und Unzumutbarkeit meist sehr groß ist, so könnte eine starre Festlegung des Immissionsschutzstandards in der Mitte zwischen diesen Polen radikale Einschränkungen des Industrialisierungsgrades der Bundesrepublik notwendig machen, weil gerade in Ballungsgebieten dieser Standard anders nicht erfüllt werden könnte. Diese Konsequenz aber ist vom Gesetz nicht gewollt. 6 Die Auslegung des Gesetzes kann das nicht außer acht lassen. Zwar ließen sich solche Folgen einer die Erfordernisse der industriellen Praxis nicht hinreichend bedenkenden Auslegung großteils noch dadurch vermeiden, daß man die Prägung der örtlichen Situation durch Bauleitplanung und durch tatsächliche Immissionsbelastungen bei der Konkretisierung der Bagatellschwelle und der Zumutbarkeitsschwelle berücksichtigt, wie die Rechtsprechung dies auch hinsichtlich der „einfachgesetzlichen Unzumutbarkeit" von Belästigungen praktiziert. 7 Aber eine solche Relativierung des Immissionsschutzstandards nach Maßgabe der örtlichen Verhältnisse hat ihre Grenzen: Erstens ist nicht jede Vorbelastung eines Gebietes zu Lasten des Immissionsbetroffenen anrechenbar, sondern nur diejenige, die bereits 5
Zur K r i t i k an dieser Begriffswahl s.o. Β. II. 4. a). Vgl. die Begründung des Regierungsentwurfs, BT-Drs. 7/179, S. 21, die die Rücksichtnahme des Gesetzes auf „volkswirtschaftliche Gesichtspunkte" und auf „ w i r t schaftliche Auswirkungen" betont. 7 s.o. Β II. 4. d)bb). 6
D. Immissions Vorbelastung und Luftbewirtschaftung
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- legal - vorhanden war, als der Betroffene sein Grundstück dort erworben, gebaut oder zum Beispiel als Mieter dort seinen Wohnsitz genommen hat. 8 Zweitens führt die Berücksichtigung der Vorbelastung zu Lasten des Betroffenen nicht dazu, daß sie bei der Bewertung der Immissionsbelastung völlig unter den Tisch fällt. 9 Die situationsbezogene Relativierung räumt also das Problem nicht aus, daß ein starrer Immissionsschutzstandard in der Mitte zwischen Bagatell- und Zumutbarkeitsgrenze unter Umständen zu wesentlich schärferen Wirtschaftsrestriktionen zwänge, als das Gesetz dies offenbar in Kauf nimmt. Vor allem aber kommt nach einhelliger Auffassung in Praxis und Literatur eine Relativierung des gebotenen Schutzes nach Gesichtspunkten der örtlichen Vorbelastung dort überhaupt nicht in Betracht, wo es um die Abwehr von Gefahren für Leben oder Gesundheit des einzelnen geht. 10 Dem ist schon aus verfassungsrechtlichen Gründen zuzustimmen, denn der Staat hat aufgrund seiner Schutzpflicht dafür zu sorgen, daß der einzelne an keinem Ort Immissionsverhältnissen ausgesetzt ist, die für ihn Lebens- oder Gesundheitsgefahren begründen. Hier kommt also die oben aufgezeigte Problematik in vollem Umfang zum Tragen. Auf der anderen Seite ist es nicht ausgeschlossen, daß für einzelne Schadstoffe der Grenzwert in der Nähe der Bagatellschwelle festgesetzt werden kann, ohne daß dies negative Auswirkungen für das Industriesystem im ganzen hätte. Wo dies der Fall ist, läßt sich schon die Festlegung des Grenzwerts in der Mitte zwischen Unzumutbarkeits- und Bagatellschwelle nicht mehr rechtfertigen. Somit ist ein starrer Kompromiß der mittleren Linie weder praktikabel noch in erkennbarer Weise vom Gesetz vorgeschrieben. Auch die gerichtliche Praxis hat diese mittlere Linie nicht angesteuert. Das Bundesverwaltungsgericht dürfte sich mit seiner „einfachgesetzlichen Unzumutbarkeit" meist im oberen Bereich des in Betracht kommenden Belastungsvolumens befinden, ohne allerdings genauere Kriterien dafür anzugeben, wie weit die „einfachgesetzliche" von der „verfassungsrechtlichen Unzumutbarkeitsschwelle", also von der Maximalgrenze, entfernt sein soll. Was die Belastung mit Gesundheitsrisiken angeht, so hat das Bundesverwaltungsgericht die für Belästigungen und Eigentumsbeeinträchtigungen entwickelte Unterscheidung zwischen zwei „Unzumutbarkeitsschwellen" nicht aufgegriffen, sondern lediglich auf die „hinreichende" Wahrscheinlichkeit des Schadens8 Vgl. BVerwG, 12.12. 75, DVBl. 1976, 214 (215): „Ansiedlung" in der Nähe einer legalen Belästigungsquelle; 14.12.79, DÖV 1980, 410 (411 f.). 9 Vgl. BVerwG, DÖV 1980, 413. 10 Vgl. TA Luft Nr. 2.2.1.3; Feldhaus, DVBl. 1979, 305; Seilner, Immissionsschutzrecht, S. 17; Kutscheidt, in: Landmann / Rohmer III, § 3 Rdnr. 15. Die Rechtsprechimg hat die örtliche Differenzierung nur in Fällen vorgenommen, in denen es um Belästigungen ging. In Fällen, wo Gesundheitsgefahren in Rede standen, wurde eine solche Differenzierung ohne Begründung nicht vorgenommen, vgl. z.B. BVerwG, 17.2.78, DVBl. 1978, 591 (592); OVG Lüneburg, 8.9.80, GewArch. 1981, 341 (342 ff.).
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eintritts abgestellt. 11 Sollte damit die Gefahrenschwelle gemeint sein, so wäre hier die gesetzliche mit der verfassungsrechtlichen Unzumutbarkeitsschwelle identisch. Dieses Ergebnis wäre befremdlich: Der Schutz vor Belästigungen wäre intensiver als der Schutz vor Gesundheitsbeeinträchtigungen. Daß Literatur und Rechtsprechung gerade bei Lebens- und Gesundheitsrisiken auf die Maximalgrenze abstellen und die Grenze des gesetzlich Zulässigen anders als bei Belästigungen nicht unter die Grenze des (verfassungsrechtlich) Zumutbaren senken, liegt vermutlich daran, daß die grundrechtliche Bedeutimg von Risiken erst in den letzten Jahren durch das Bundesverfassungsgericht herausgearbeitet worden ist und sich noch nicht in allen Konsequenzen im Verwaltungsrecht durchgesetzt hat. Deshalb wird wohl vielfach die Gefahrenschwelle bereits als ausgewogener Kompromiß und nicht als Grenze des dem Immissionsbetroffenen Zumutbaren angesehen. Anders als die sich auf den Gefahrenbegriff festlegenden Literaturstimmen ist aber die Formulierung des Bundesverwaltungsgerichts, Risiken müßten „mit hinreichender, dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz entsprechender Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen sein" 1 2 , offen für eine Konkretisierung der Grenze der „einfachgesetzlich" zulässigen Immissionsbelastung unterhalb der durch den Gefahrenbegriff markierten Maximalgrenze. Scheidet also für die Konkretisierung des Immissionsschutzstandards des § 5 Nr. 1 BImSchG der „Kompromiß der mittleren Linie" aus, so wäre noch zu überlegen, ob die Gesichtspunkte, die bei der anlagebezogenen Konkretisierung des Sicherheitsstandards zum Risikominimierungsgebot geführt haben, nicht analog auch auf die allein wirkungsbezogene Konkretisierung des Immissionsschutzstandards übertragen werden können: Wenn das Gesetz davon ausgeht, daß der gesetzliche Immissionsschutzstandard das bestehende Industriesystem nicht im ganzen in Frage stellt - könnte man dann nicht argumentieren, daß zwischen Maximal- und Minimalgrenze eben dasjenige Maß an Immissionsbelastung zulässig sein müsse, ohne welches das Industriesystem nicht existieren könne? Und müßte nicht jede Immissionsbelastung verboten sein, die vermieden werden kann, ohne das Industriesystem i n seiner Funktion zu gefährden? Zwar ergibt sich aus der Zwecksetzung des Gesetzes gemäß § 1 sowie aus der rigoristischen Formulierung des Sicherheitsstandards in § 5 Nr. 1, daß das Gesetz soviel Sicherheit gewährleisten will, wie möglich ist, ohne die Existenz des Industriesystems in Frage zu stellen. Anders als bei der anlagebezogenen Betrachtung, wo es darauf ankommt, ob es für die zu beurteilende Anlage faktisch möglich ist, ein bestimmtes Sicherheits- beziehungsweise Immissionsniveau zu erreichen, läßt sich bei einer Globalbetrachtung des Industriesystems aber 11
Vgl. 17.2.78, DVB1. 1978, 591 (592); vgl. dagegen Salzwedel, in: GfU, Dokumentation zur 5. wiss. Fachtagung, S. 44. 12 o. Fn. 11.
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nicht angeben, welches Immissionsniveau faktisch erreicht werden kann oder nicht, ohne die Existenz des Systems zu gefährden. Denn das Gesetz läßt nicht erkennen, welcher Industrialisierungsgrad vorausgesetzt werden und durch die Immissionsschutzbestimmungen nicht angetastet werden soll. Es spricht nichts dafür, daß das Gesetz das Industrialisierungsniveau des Zeitpunkts seines Inkrafttretens „einfrieren" will, mit der Folge, daß bei Verbesserung des Standes der Emissions-Rückhaltetechnik die Immissionssituation ständig verbessert werden könnte. Es spricht aber auch nichts dafür, daß das Gesetz die damals bestehende Immissionslage aufrechterhalten und damit jedes Industriewachstum garantieren will, das ohne Überschreitung der damaligen Immissionsbelastung möglich ist. Vielmehr ist es erklärte Zielsetzung des Gesetzes, die Immissionssituation zu verbessern. 13 Daß diese Verbesserung das Wirtschaftswachstum nicht hemmen darf, läßt sich dem Gesetz nicht entnehmen. Das Gesetz gibt nicht einmal einen Anhaltspunkt dafür her, daß eine solche Konkretisierung des Immissionsschutzstandards unzulässig wäre, die jedes Wirtschaftswachstum verhinderte. Welche Reduzierung der Immissionsbelastung möglich ist, ohne den Industrieförderungszweck zu vereiteln, läßt sich demnach rechtlich nicht entscheiden. Voraussetzung für eine solche Entscheidung wäre eine politische Entscheidung darüber, welcher Industrialisierungsgrad erwünscht ist, und diese Entscheidung enthält das Bundes-Immissionsschutzgesetz nicht. Nach welchem Gesichtspunkt aber soll dann das Maß der zulässigen Immissionsbelastung bestimmt werden? Nach Ansicht des Bundesverwaltungsgerichts ist für die Bestimmimg dieser Grenze die „einfach-gesetzliche Güterabwägung" maßgebend.14 Doch wieso die abzuwägenden Güter „einfachgesetzlich" anders zu gewichten sind als „verfassungsrechtlich" und vor allem, wie sich die Gewichtsverteilung bei der einfachgesetzlichen von der verfassungsrechtlichen Abwägung unterscheidet, sagt das Bundesverwaltungsgericht nicht. 1 5 Das Defizit an materiell-rechtlichen Wertungskriterien w i r d durch solche Formeln nur verschleiert. Behebbar ist es aber nicht, denn rechtliche Kriterien dafür, an welcher Stelle zwischen der Bagatell- und der Unzumutbarkeitsschwelle die Grenze der zulässigen Immissionsbelastung zu ziehen ist, läßt das Gesetz nicht erkennen. Dies schließt nicht aus, daß „abgewogen" werden muß: Die Entscheidung über die zulässige Immissionsbelastung muß Schutz- und Förderungszweck zum Ausgleich bringen. Schon die gesetzliche Vorschrift („Erheblichkeit") beruht wie die Begründung des· Regierungsentwurfs hervorhebt - auf einer Abwägung zwischen beiden Zwecken. 16 Aber das Gesetz hat die Abwägung nicht 13
s.o. Fn. 4. s.o. Β. II. 4. a); vgl. auch Salzwedel, o. Fn. 11. 15 s.o. B . I I . 4. a). 16 BT-Drs. 7/179, S. 21. 14
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zu Ende geführt und einen Widerspruch zwischen den Zwecken offen gelassen, der nicht durch bloße Interpretation oder Konkretisierung des im Gesetz zum Ausdruck gebrachten Abwägungsergebnisses aufgelöst werden kann, sondern nur durch eine Entscheidung. Diese Entscheidung hat zwar beide Zwecke zu erwägen und zwischen ihnen „abzuwägen", aber das Gesetz gibt nicht vor, wie die Belange zu „gewichten" sind. Nicht durch „nachvollziehende", sondern nur durch „gestaltende Abwägimg" 1 7 kann der Widerspruch überwunden werden. Mangels materiell-rechtlicher Entscheidungskriterien läuft die Frage nach der Grenze der zulässigen Immissionsbelastung auf das „Quis judicabit?" hinaus: Wer ist kompetent, letztverbindlich darüber zu entscheiden, welche Immissionskonzentration noch zulässig ist und welche nicht mehr die Verwaltung oder die Gerichte? Diese Kompetenzfrage wird im Schrifttum und in der Rechtsprechung unter den Stichworten „Beurteilungsspielraum", „Vertretbarkeitslehre" oder „gerichtliche Kontrolldichte" erörtert. Dabei geht man einhellig davon aus, daß der Immissionsschutzstandard des § 5 Nr. 1 BImSchG durch unbestimmte Rechtsbegriffe festgelegt werde und daß das Gesetz der Genehmigungsbehörde für die Genehmigungsentscheidung gem. §§6 Nr. 1, 5 Nr. 1 kein (Rechtsfolge-)Ermessen einräume. Weil der Immissionsschutzstandard durch unbestimmte Rechtsbegriffe programmiert sei, nimmt die Rechtsprechung die Entscheidungskompetenz für sich selbst in Anspruch 18 und wird von der vorherrschenden Literaturmeinimg darin unterstützt. 19 Es wächst aber die Zahl derer, die wegen der besonderen Unbestimmtheit technischer Standards und der Notwendigkeit, zu ihrer Konkretisierung Wertentscheidungen zu treffen, ein begrenztes Konkretisierungsermessen für die Verwaltung fordern. 20 Auf diese Auseinandersetzung soll hier nicht eingegangen werden. Die Rechtsprechung w i r d sich zu einer Kursänderung so bald nicht bewegen lassen, nachdem das Bundesver17 Zu dieser Unterscheidung vgl. Weyreuther, DÖV 1977, 419ff.; ders., BauR 1977, 297 Fn. 28; ders., Bauen im Außenbereich, 1979, Stichworte „Abwägung" und „Kompensation", S. 18, 282. 18 So ausdrücklich BVerwG, 17.2. 78, DVB1. 1978, 591 (592) - Voerde; OVG Münster, 7. 7. 76, NJW 1976, 2360 (2361); vgl. auch z.B. OLG Hamburg, 23.10. 74, DVB1. 1975, 207. 19 Vgl. Regierungsentwurf, BT-Drs. 7/179 zu § 6; Feldhaus, BImSchR 1 A, § 6 Anm. 2, 9; Engelhardt, §6 Rdnr. 1; Kutscheidt, in: Landmann / Rohmer III, §3 Rdnr. 18; Stich / Porger, § 6 BImSchG, Anm. 6, 7; Sellner, Immissionsschutzrecht, S. 28f.; Hanning / Schmieder, DB 1977, Beil. 14, S. 12; Breuer, DVB1.1978, 28ff., insb. 34; ders., DVB1. 1978, 598; ders., Der Staat 20 (1981), 410, 414f.; Hansmann, in: Boisserée / Oels / Hansmann / Schmitt, BImSchG, § 6 Anm. 1; Jarass, DVB1. 1983, 731; Czajka, ET 1981, 537 (m. Einschränkungen). 20 Vgl. Ule, DVB1. 1973, 756ff.; ders., in: Ule / Laubinger, §3 Rdnr.l7ff.; ders., WiVerw. 1977, 80ff.; Feldhaus, BImSchR 1 A, § 3 Anm. 6; ders., UPR 1982, 146f.; Marburger, Die Regeln der Technik, S. 417ff.; Sellner, BauR 1980, 399ff.; Sendler, UPR 1981, 13f.; Schmitt Glaeser / Meins, S. 31ff.; für das Atomrecht z.B. Fiedler, ET 1982, 580ff.; Degenhart, Kernenergierecht, S. 231 ff.; Grimm, in: van Buiren / Ballerstedt, S. 49 ff.
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waltungsgericht im Voerde-Urteil 21 speziell für das Immissionsschutzrecht die Weichen gestellt hat. Und die Aufsatzliteratur ist so umfangreich 22 , daß sich im Augenblick schwerlich noch neue Argumente für oder wider die eine oder die andere Seite hinzufügen lassen.23 Statt dessen soll im folgenden die These entwickelt werden, daß die Auseinandersetzung um den Beurteilungsspielraum bei der Auslegung der unbestimmten Rechtsbegriffe des Immissionsschutzrechts insofern von einer falschen Voraussetzung ausgeht, als der Immissionsschutzstandard durch die unbestimmten Rechtsbegriffe der §§6 Nr. 1, 5 Nr. 1 BImSchG gar nicht abschließend determiniert wird.
III. Bipolare Zweckprogrammierung der Interpretation doppelseitiger Rechtssätze und Luftbewirtschaftungsermessen Durch das Dogma, das Maß der zulässigen Immissionsbelastung sei determiniert durch die unbestimmten Rechtsbegriffe der §§6 Nr. 1, 5 Nr. 1 BImSchG, deren Anwendung „uneingeschränkter verwaltungsgerichtlicher Überprüfimg" unterliege, belastet sich die Rechtsprechung mit Konkretisierungsproblemen, die sie angesichts der spärlichen normativen Vorgaben kaum bewältigen kann. Wo jede Abstützung der Entscheidung im Gesetz unmöglich erscheint, neigt sie deshalb dazu, die zu treffende Wertentscheidung als angeblich „außerrechtliche Fachfrage" 24 auf Sachverständige abzuschieben - sei es, auf ein Einzelgutachten zur Beurteilung des konkreten Falls 2 5 , sei es auf durch sachverständige Gremien allgemein festgelegte 21
s.o. Fn. 18. Vgl. neben den o. Fn. 19, 20 Genannten z.B. allgemein zum Beurteilungsspielr a u m / z u r Eigenverantwortlichkeit der Verwaltung: Ossenbühl, DÖV 1968, 618ff.; ders., DVBl. 1974, 309ff.; Schmidt-Eichstaedt, AöR 98 (1973), 173ff.; Soell, Das Ermessen der Eingriffsverwaltung; Bullinger, NJW 1974, 769ff.; Hoppe, DVBl. 1975, 684ff.; Scholz, W D S t R L 34 (1976), 145ff.; Schmidt-Aßmann, ebd., S. 221ff.; HansJoachim Koch, Unbestimmte Rechtsbegriffe und Ermessensermächtigung im Verwaltungsrecht, Frankfurt/M. 1979; insb. zum technischen Sicherheitsrecht, wo das Problem vor allem im Hinblick auf die unbestimmten Rechtsbegriffe des § 7 I I Nr. 3 A t G diskutiert wird, z.B. Mahlmann, 1. Deutsches Atomrechts-Symposium, S. 269ff.; Wiedemann, ebd., S. 291 ff.; Feuchte, Die Verwaltung 10 (1977), 291ff.; Schmitt Glaeser, Der Landkreis 1977, 445ff.; Ossenbühl, DVBl. 1978, Iff., insb. 4ff.; Sellner, BauR 1980, 391 ff.; Winkler v. Mohrenfels, ZRP 1980, 89f.; Salzwedel, in: GfU, Dokumentation zur 5. wiss. Fachtagung, S. 44ff.; Degenhart, Kernenergierecht, S. 23Iff.; Martens, DVBl. 1981, 601 f.; A. Rittstieg, Die Konkretisierung, S. 161ff.; J. Ipsen, AöR 107 (1982), 290ff.; Richter, ET 1982, 140ff.; Grimm, in: van Buiren / Ballerstedt, S. 25ff.; Müller-Glöge, S. 83ff.; Wolf-Eckart Sommer, Aufgaben und Grenzen richterlicher Kontrolle atomrechtlicher Genehmigungen. 23 Breuer, VEnergR 50, S. 49, bezeichnet die Diskussion als „festgefahren". Die Plädoyers für die Anerkennung von Beurteilungsspielräumen i m technischen Sicherheitsrecht hätten kaum neue rechtsdogmatische Perspektiven eröffnet. 24 BVerwG, 14.12.79, DÖV 1980, 410 (413); 23.1.81, UPR 1981, 27 (28); VGH Mannheim, 19.1.83, DÖV 1983, 512 (513). 25 So bei - situationsspezifisch zu beurteilenden - Lärmbelästigungen, vgl. die Entsch. o. Fn. 24. 22
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Immissionswerte, die als „antizipierte Sachverständigengutachten" interpretiert werden 26 . So bleibt die Fiktion gewahrt, daß die richterliche Entscheidung nichts als Rechtsanwendung sei. Wer dagegen die angesichts der geringen normativen Vorgaben zur Konkretisierung der imbestimmten Rechtsbegriffe notwendigen Wertentscheidungen lieber der Verwaltung überließe, die von ihrer Funktion her zu „politischen" Entscheidungen besser geeignet und legitimiert sei, steht vor dem Problem, daß de lege lata die Letztentscheidungskompetenz durch die unbestimmten Rechtsbegriffe den Gerichten zugewiesen zu sein scheint. 27 Im folgenden soll nun gezeigt werden, daß es einen Weg gibt, bei der Konkretisierung des Immissionsschutzstandards dem Dilemma zwischen Scheinrationalität richterlicher Rechtsfindung und fehlender Letztentscheidungskompetenz der Verwaltung zu entgehen, ohne das Dogma der uneingeschränkten gerichtlichen Nachprüfbarkeit der Anwendung unbestimmter Rechtsbegriffe preiszugeben. 1. Das Modell der bipolaren Zweckprogrammierung der Interpretation doppelseitiger Rechtssätze § 5 Nr. 1 BImSchG ist ein Rechtssatz mit Doppelwirkung: Er legt nicht nur die Sicherheitspflichten des Betreibers fest, sondern zugleich die Duldungspflichten des Risiko- und Immissionsbetroffenen. Materiell-rechtlich gesehen enthält die Bestimmung also zwei Rechtssätze: einen, der sich an den Anlagenbetreiber richtet und seine Freiheit einschränkt, und einen anderen, der sich an den Risikobetroffenen richtet, und seine Sicherheit seine Freiheit von Beeinträchtigungen und Risiken - einschränkt. Der materielle Gehalt beider Rechtssätze ergibt sich aus demselben formellen Rechtssatz, aus denselben unbestimmten Rechtsbegriffen, nämlich aus der „Erheblichkeit" der unerlaubten Beeinträchtigungen, und aus dem Erfordernis, daß unerlaubte Beeinträchtigungen „nicht hervorgerufen werden können", d.h. „erhebliche" Risiken vermieden werden müssen. 28 Getrennt formuliert lautet § 5 Nr. 1 also in interpretatorisch geraffter Zusammenfassung: 1. Der Betreiber ist verpflichtet, erhebliche Risiken und Beeinträchtigungen zu vermeiden. 2. Jedermann ist verpflichtet, unerhebliche Risiken und Beeinträchtigungen zu dulden. Auf beide in § 5 Nr. 1 enthaltenen Normen bezieht sich die Genehmigungsvoraussetzung des § 6 Nr. 1 wie folgt: 26 27 28
Vgl. BVerwG, 17.2.78, DVB1. 1978, 591 (593f.). Vgl. Ossenbühl, DVB1. 1978, 5ff., 8. s.o. C., insb. C. II. 4.
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1. Die Genehmigung ist zu erteilen, wenn die Erfüllung der oben genannten Betreiberpflicht sichergestellt ist. 2. Die Genehmigung darf nur erteilt werden, wenn sichergestellt ist, daß die Voraussetzungen der oben genannten Duldungspflicht erfüllt sind. Diese Aufspaltung von Genehmigungsvoraussetzungen und Versagungsvoraussetzung ergibt sich daraus, daß nur die Versagimg der Genehmigung in die Rechte des Betreibers eingreifen kann, nur die Erteilung der Genehmigung in die Rechte des Immissionsbetroffenen. Sind die Genehmigungsund die Versagungsvoraussetzungen materiell identisch, hat die Aufspaltung rechtlich keine Bedeutung. Sie dient dann nur der Veranschaulichimg der Doppelwirkung der Genehmigungsentscheidung und der Genehmigungsvoraussetzungen. Die herrschende Meinung nimmt dies für § 6 Nr. 1 BImSchG an und betrachtet die Genehmigungsentscheidimg als gebundenen Verwaltungsakt. Diese Annahme entspricht dem Normalfall doppelseitiger Rechtssätze, die der Abgrenzung der Rechtssphären Privater dienen: Die beidseitigen Regelungen sind in aller Regel kongruent, „zwei Seiten derselben Medaille". Was dem einen erlaubt ist, hat der andere zu dulden; was dieser nicht zu dulden braucht, ist jenem verboten. Die Kongruenz von Beeinträchtigungserlaubnis und Duldungspflicht ist aber normlogisch und rechtlich nicht zwingend vorgegeben. Denkbar ist auch, daß der Gesetzgeber den Beeinträchtigungsverursacher oder den Beeinträchtigungsbetroffenen oder beide Seiten intensiver in ihrer Freiheit einschränkt, als dies zur Konfliktvermeidung zwischen beiden notwendig wäre - wenn nämlich der Gesetzgeber neben der Abgrenzung der privaten Rechtssphären mit der Regelung noch andere Ziele verfolgte, die diese weitergehende Freiheitseinschränkung rechtfertigten. Nehmen w i r an, die Regelung des § 5 Nr. 1 enthielte die Bestimmung: 1. Der Betreiber ist verpflichtet, Immissionen zu vermeiden, die nicht nur Bagatellcharakter haben. 2. Jedermann ist verpflichtet, Immissionen zu dulden, die nicht unzumutbar sind. Vermeidungspflicht und Duldungspflicht wären dann inkongruent; Genehmigungs- und Versagungsvoraussetzung wären als Folge davon nicht identisch. § 6 Nr. 1 wäre auf die genannte Regelung so zu beziehen: 1. Die Genehmigung ist zu erteilen, wenn sichergestellt ist, daß die Bagatellschwelle überschreitende Immissionen vermieden werden. 2. Die Genehmigung darf nur erteilt werden, wenn sichergestellt ist, daß unzumutbare Immissionen vermieden werden. Aus der Divergenz beider Regelungen ergäbe sich notwendig ein Ermessen - und zwar ein echtes Rechtsfolgeermessen - der Genehmigungsbehörde. 23·
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Denn juristischen Sinn hätte diese Divergenz nur, wenn die Genehmigungsbehörde ermächtigt wäre, vom Immissionsverursachungsverbot Befreiung zu erteilen, soweit dadurch die Grenze der vom Betroffenen zu duldenden Immissionskonzentration nicht erreicht wird. Diese Befreiungsermächtigung wäre zugleich Ermächtigung zum Eingriff in die Sphäre des Immissionsbetroffenen. Sie wäre begrenzt durch die Schwelle der Unzumutbarkeit. Gerichtlich in vollem Umfang nachprüfbar wäre die Anwendimg der unbestimmten Rechtsbegriffe, durch die die Tatbestandsvoraussetzungen einerseits der Genehmigungserteilung, andererseits der Genehmigungsversagung normiert wären. Das Ermessen der Genehmigungsbehörde, die Genehmigung auch dann zu erteilen und den Dritten mit dem entsprechenden Immissionsbeitrag zu belasten, wenn die Versagungsvoraussetzungen gegeben sind, aber genehmigt werden darf, weil der zu erwartende Immissionsbeitrag von der Duldungspflicht des Betroffenen noch gedeckt ist, könnte gerichtlich nur auf Ermessensfehler überprüft werden. Freilich lautet die Regelung der §§ 6 Nr. 1, 5 Nr. 1 BImSchG anders: Sie legt die Vermeidungspflicht des Immissionsverursachers und die Duldungspflicht mit den gleichen unbestimmten Rechtsbegriffen fest. Die Frage ist aber, ob man diese Begriffe notwendig im Sinne der Kongruenz von Vermeidungs- und Duldungspflicht interpretieren muß, oder ob eine Interpretation möglich und sinnvoll ist, die zu einer Divergenz beider Pflichten führt. Daß dieselben Termini unterschiedliche Bedeutungen haben, je nachdem, in welchem Zusammenhang sie verwendet werden, ist in der Rechtssprache nichts Besonderes. Deshalb kann es jedenfalls im Prinzip nicht ausgeschlossen sein, daß ein doppelseitiger Rechtssatz, ein Rechtssatz also, der materiell zwei an unterschiedliche Adressaten gerichtete Rechtssätze enthält, in unterschiedlichem Sinne zu interpretieren ist, je nachdem, um welche der beiden materiellen Normen es geht. Daß beide Normen in einem einzigen Rechtssatz mit ein und denselben unbestimmten Rechtsbegriffen ausgedrückt werden, begründet zunächst nur eine Vermutung dafür, daß diese Begriffe in beiden materiellen Rechtssätzen dieselbe Bedeutung haben, daß es sich also um kongruente Rechtssätze handelt. Wer das Gegenteil behauptet, dem obliegt die Begründungslast. Aber das Gegenteil ist nicht von vornherein ausgeschlossen, denn es könnte ja sein, daß das Gesetz für die Auslegung der Vermeidungspflicht einerseits und der Duldungspflicht andererseits unterschiedliche Interpretationsmaximen zur Verfügung stellt. Wie gezeigt 29 , kommen als interpretationsleitende Kriterien für die Auslegung der unbestimmten Begriffe des § 5 Nr. 1 nur die gegenläufigen Gesetzeszwecke in Betracht, die dem § 1 entnommen beziehungsweise aus dem systematischen Zusammenhang entwickelt werden müssen. Der Schutzzweck programmiert die Interpretation der Vermeidungspflicht des Immis29
s.o. B . I I . 1., D . I I I .
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sionsverursachers, die durch diesen Zweck gerechtfertigt wird. Der Industrieförderungszweck rechtfertigt die Duldungspflicht des Immissionsbetroffenen und programmiert ihre Auslegung. Wird die Auslegung eines unbestimmten Rechtsbegriffs i n einem doppelseitigen Rechtssatz durch kontradiktorische Zwecke programmiert, so muß man - entsprechend der Kongruenzvermutung - versuchen, den Widerspruch aufzulösen. In der Regel ist dies durch Herstellung „praktischer Konkordanz", durch schonenden Ausgleich der Zwecke, oder durch Zweckoptimierung möglich, wie dies für die anlagebezogene Konkretisierung des § 5 Nr. 1 gezeigt wurde. 30 Die Auflösimg des Widerspruchs in „praktischer Konkordanz" ist immer dort möglich, wo die kontradiktorischen Zwecke lediglich darin bestehen, daß die Freiheit des einen um der Freiheit des anderen willen und umgekehrt eingeschränkt wird. Hier liegt genau besehen eine monofinale Programmierung der Interpretation vor: Zweck des Gesetzes ist ausschließlich die Abgrenzung und Harmonisierung der widerstreitenden Interessen. Wird die Auslegung der unbestimmten Gesetzesbegriffe dagegen durch gegenläufige Zwecke programmiert, dann kann es vorkommen, daß die harmonisierende Auflösung des Widerspruchs nicht möglich ist, weil eine rechtliche Harmonisierungsmaxime für die zu interpretierende Norm nicht vorhanden oder wegen der besonderen Umstände nicht anwendbar ist. Die Herstellung von Kongruenz zwischen Vermeidungspflicht und Duldungspflicht kann explizit oder implizit ausgeschlossen sein, insbesondere deshalb, weil ein gesetzlicher Zweck der Harmonisierung entgegensteht. Ist das der Fall, dann bleibt es bei der bipolaren Deutung der unbestimmten Rechtsbegriffe: Sie bleiben mit ihrer durch die entgegengesetzten Zwecke programmierten unterschiedlichen Bedeutung stehen. Auf diese Weise enthalten die beiden in dem doppelseitigen Rechtssatz enthaltenen materiellen Rechtssätze, die Vermeidungspflicht und die Duldungspflicht, materiell inkongruente Bedeutung. Eben dies soll hier für § 5 Nr. 1 BImSchG behauptet werden. 2. Die Divergenz von Immissionsvermeidungsund Immissionsduldungspflicht in § 5 Nr. 1 BImSchG und das Luftbewirtschaftungsermessen der Verwaltung Zur Diskussion gestellt w i r d folgende These: Der Immissionsschutzstandard des § 5 Nr. 1 BImSchG ergibt sich aus der Immissionsvermeidungspflicht des Anlagenbetreibers und der Immissionsduldungspflicht des Immissionsbetroffenen. Beide Pflichten werden durch die gleichen unbestimmten Rechtsbegriffe eines doppelseitigen Rechtssatzes bezeichnet. Sie sind aber materiell inkongruent, nämlich durch den Schutzzweck einerseits, den Förderungszweck andererseits bipolar programmiert: Der Betreiber ist 30 s.o. Β. II., C.II.
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verpflichtet, Immissionen oberhalb der Bagatellschwelle zu vermeiden; der Betroffene ist verpflichtet, zumutbare Immissionen zu dulden. Daraus folgt eine entsprechende Divergenz der Genehmigungs- und Versagungsvoraussetzung gemäß § 6 Nr. 1 mit der Folge, daß die Genehmigungsbehörde zwischen den beiden Polen, die bezeichnet werden durch die nur dem Wortlaut nach gleichen, materiell aber divergenten unbestimmten Rechtsbegriffe, über die Genehmigung nach pflichtgemäßem Ermessen entscheiden kann. 3 1 Die Genehmigung muß also nur dann erteilt werden, wenn die Immissionen (oder Immissionsfolgerisiken) lediglich Bagatellcharakter haben. Sie muß nur dann versagt werden, wenn die Immissionen unzumutbar sind, insbesondere, wenn die Immissionsfolgerisiken die Schwelle der Gesundheitsgefahr überschreiten. Die Begründung dieser These ergibt sich im wesentlichen bereits aus dem bisher entwickelten Interpretationsergebnis: Die kontradiktorischen Zwecke des Bundes-Immissionsschutzgesetzes führen dazu, daß die unbestimmten Rechtsbegriffe des § 5 Nr. 1 BImSchG - die „Erheblichkeit" der Beeinträchtigungen (= die „Schädlichkeit" der Umwelteinwirkungen) und die Forderung, daß diese Wirkungen „nicht hervorgerufen werden können" - in unterschiedlichem Sinne interpretiert werden können, je nachdem, welcher Zweck die Interpretation leitet. Die hierdurch entstehende Divergenz zwischen Vermeidungspflicht des Betreibers und Duldungspflicht des Betroffenen läßt sich nicht beseitigen, die Kongruenz beider Pflichten nicht herstellen, weil alle in Betracht kommenden Harmonisierungsmodelle - wie oben (II.) dargelegt - für die Konkretisierung des Immissionsschutzstandards versagen. Diese Unmöglichkeit, rechtlich eine Linie zu begründen, auf der sich Vermeidungs- und Duldungspflicht vereinigen lassen, hat zwei Ursachen: Erstens sind die Zwecke, die die Pflichten rechtfertigen und ihre Interpretation leiten, heterogen. Während die Vermeidungspflicht dem Schutz der Betroffenen dient, dient die Duldungspflicht nicht nur der Freiheitsausübung des Immissionsverursachers, sondern zugleich dem öffentlichen Zweck der Ermöglichung der realen Existenzbedingungen des Industriesystems (Förderungszweck). Zweitens ist ein Interessenausgleich zwischen Anlagenbetreiber und Immissionsbetroffenen - etwa nach dem Optimierungsprinzip, wie es für die anlagebezogene Konkretisierung des Sicherheitsstandards vorgeschlagen wurde - deshalb nicht möglich, weil der Immissionsschutzstandard ein reiner Wirkungsstandard ist: Bei der Festlegung der Grenze der zulässigen Immissionsbelastung geht es aber nicht um die Größe des von einem bestimmten Anlagenbetreiber verursachten Immisionsbeitrages, sondern um die Größe der Gesamtimmissionen, denen die Betroffenen ausgesetzt sind. Es geht also nicht lediglich um die Konkretisierung der Verantwortlichkeit des jeweiligen Anlagenbetreibers für sein eige31
Vgl. das oben 1. entwickelte Modell.
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nes Verhalten, sondern es geht um die Bewirtschaftung der Ressource Luft: um die Bestimmung der Grenze, bis zu der hin das Umweltmedium Luft für industrielle und sonstige Immissionen zur Verfügung gestellt wird. 3 2 Dabei handelt es sich um ein Verteilungsproblem: Über dichtbesiedeltem Gebiet ist auch die Luft ein „knappes Gut". Als „freies Gut" konnte sie nur betrachtet werden, solange die Immissionswirkungen praktisch unerheblich waren. Und nur solange die Luft in diesem Sinne „freies Gut" war, konnte man von einer Immissionsverursachungsfreiheit ausgehen - die es übrigens gerade dort, wo die Menschen auf engem Raum zusammenleben und die Immissionswirkungen unmittelbar spüren, im Nachbarschaftsverhältnis, nie gegeben hat. Ist die Luft - genauer: die Immissionsbelastungskapazität - aber „knapp", dann muß über ihre Verteilung entschieden werden. Es muß bestimmt werden, mit welchen Immissionslasten die Luft befrachtet werden darf und wo die Grenze der zulässigen Immissionsbelastung liegt. Ist diese Grenze erreicht, dürfen zusätzliche Immissionsbeiträge nicht mehr zugelassen werden. Wer in einer solchen Situation die Genehmigung einer emittierenden Anlage beantragt, kann sich nicht darauf berufen, daß sein Immissionsbeitrag im Vergleich zu anderen gering sein w i r d oder daß die vorhandene Immissionsbelastung noch nicht die Schwelle der Gesundheitsgefahr beziehungsweise der Unzumutbarkeit erreicht hat. Wenn die Grenze der zulässigen Immissionsbelastung niedriger festgelegt ist, kann er keinen Anspruch auf Genehmigung haben, sofern nur seine Emissionen die vorhandene Immissionsbelastung überhaupt erhöhen. Bei der Festlegung der zulässigen Immissionsbelastung geht es nämlich nicht um die Verteilung von Ressourcennutzungsbefugnissen zwischen dem Antragsteller und den Immissionsbetroffenen, sondern zwischen der Gesamtheit der Immissionsverursacher einerseits und der Gesamtheit der Immissionsbetroffenen andererseits. Zwischen den Interessen beider Seiten - den Umweltnutzungsinteressen und den Umweltschutzinteressen, den Interessen an Nutzung der Luft zur Abfallbeseitigung und denen zur Nutzung der Luft als Atemluft - muß die Entscheidimg über die zulässige Immissionsbelastungskapazität fallen, und das Gesetz schreibt nicht vor, daß die Befrachtimg der Luft mit Immissionen bis zur Grenze der Unzumutbarkeit beziehungsweise der Gesundheitsgefahr zugelassen werden muß. Die individuelle Freiheit des Anlagenbetreibers, dessen Antrag abgewiesen wird, weil die die Bagatellschwelle übersteigende, die Zumutbarkeitsgrenze aber noch nicht erreichende Immissionsbelastung nicht mehr erhöht werden solle, wird durch die Genehmigungsversagung nicht berührt, denn aus der Freiheit folgt kein Anspruch auf Zuteilung von Umweltnutzungsbefugnissen. 33 Um so größeres Gewicht erhält bei der Festlegung der Grenze der zulässigen Immissionsbelastung der Gleich-
32 33
Vgl. Sendler, UPR 1983, 38, 40f. s.o. § 17 m.Fn.47.
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heitssatz: Die Genehmigungsbehörde darf diese Grenze bei der Entscheidimg über einen Genehmigungsantrag nicht willkürlich anders festlegen als bei anderen, zuvor getroffenen Genehmigungsentscheidungen. Deshalb kommt der allgemeinen Festlegung von Immissionswerten durch allgemeine Verwaltungsvorschriften auch grundrechtlich besondere Bedeutung zu. Wie gezeigt 34 , enthält das Gesetz für die Entscheidung über das Maß der zulässigen Immissionsbelastung keine rechtlichen Kriterien. Es bestimmt mit der Bagatellschwelle und der Unzumutbarkeitsschwelle lediglich die äußersten Grenzen, zwischen denen das Maß der erlaubten Immissionsbelastung durch die Entscheidung der Genehmigungsbehörde festzulegen ist. Bei dieser Entscheidung handelt es sich materiell gesehen um eine Planungsentscheidung 35 , eine Entscheidung der Ressourcenbewirtschaftung. Dies gilt für die Genehmigungsentscheidung und erst recht für die allgemeine Normierung von Immissionswerten in allgemeinen Verwaltungsvorschriften. Die Festlegung von Immissionswerten entscheidet nicht nur über die „Lebensqualität" der Immissionsbetroffenen, unter Umständen auch über Gesundheit oder Leben vieler Menschen 36 oder über die Unversehrtheit bedeutender Sachwerte (Bauwerke, Wald). Sie entscheidet auf der anderen Seite auch über Konjunktur oder internationale Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft und im Einzelfall über Gewinnchancen oder gar die wirtschaftlichen Existenzbedingungen eines Unternehmens. Für eine planvolle Ressourcenbewirtschaftung ist die - notwendig „kasuistische" - Genehmigungsentscheidung als solche kein besonders gut geeignetes Instrument. Das Bundes-Immissionsschutzgesetz stellt jedoch ein solches Instrument zur Verfügung, nämlich die gem. § 48 als allgemeine Verwaltungsvorschriften ergehenden Technischen Anleitungen, i n denen allgemeine Immissionswerte festgelegt werden. Die grundlegende Bewirtschaftungsentscheidung, durch welche der Ausgleich zwischen Schutzzweck und Industrieförderungszweck mittels Festlegung der zulässigen Immissionsbelastung herzustellen ist, steht demnach der Bundesregierung zu, die mit Zustimmung des Bundesrates die Technischen Anleitungen erläßt. Diese binden das Ermessen der Genehmigungsbehörde. Auf diese Weise ist sicher34
oben IV. Der Planungsbegriff ist nicht randscharf zu erfassen und wird nicht einheitlich gebraucht, vgl. Hoppe, Festg. BVerfG I, S. 666 ff. Die Qualifikation der Entscheidung über die zulässige Immissionsbelastung als Planungsentscheidung folgt aus ihrem gestaltenden Charakter: Es geht nicht nur um subsumierende Rechtsanwendung, sondern um gestaltende Zuordnung unterschiedlicher Zwecke. 36 Nämlich derjenigen, deren Konstitution von „überdurchschnittlicher Empfindlichkeit" ist und die deshalb bei der Festlegung von Immissionswerten nicht berücksichtigt werden, vgl. § 20 B. Fn. 28; Schlipköter, Prinz, Jessel, Henschler, in: Medizinische, biologische und ökologische Grundlagen, S. 33, 105ff. Die Behauptung, die Immissionswerte der TA Luft lägen „auf der sicheren Seite" - so z.B. Feldhaus, UPR 1982, S. 144 - gilt für jene Menschen nur mit Einschränkungen. 35
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gestellt, daß die hochpolitische Entscheidung über das Maß des von der Bevölkerung zu tragenden Immissionsrisikos sowie über eine wesentliche Rahmenbedingung der Wirtschaftsentwicklung nicht den Zufälligkeiten vieler Einzelentscheidungen überlassen bleibt, sondern von den für die Entwicklung der Wirtschaft, der Sicherheit und der Lebensverhältnisse politisch verantwortlichen Instanzen getroffen und mit der sonstigen Wirtschafts- und Umweltpolitik abgestimmt werden kann. 3 7 Ebenso wie das Versagungsermessen im Wasserrecht (§ 6 WHG) 3 8 ist das Ermessen der Genehmigungsbehörde im Immissionsschutzrecht also ein Instrument, das den „dirigierenden Einfluß" von Planungen auf die öffentliche Ressourcenbewirtschaftung 39 möglich macht. Die Bewirtschaftimg des Umweltmediums Luft muß die Interessen aller Umweltnutzer berücksichtigen, insbesondere die Interessen der Wirtschaft und die Interessen der Immissionsbetroffenen. I n die Entscheidung werden aber auch wirtschafts- und sozialpolitische Gesichtspunkte eingehen können, wie etwa die Konjunkturlage, Streben nach Wirtschaftswachstum, Sicherung von Arbeitsplätzen, internationale Konkurrenzfähigkeit der Wirtschaft, oder auch andererseits Gesichtspunkte wie das Streben nach Verbesserung der „Lebensqualität", insbesondere Verringerung der Krankheitsanfälligkeit, Verringerung der Intensität von Immissionsbelästigungen, Verbesserungen des Schutzes von empfindlichen Pflanzen und Ökosystemen - kurz: alle Gesichtspunkte, die für die Verwirklichung der kontradiktorischen Gesetzeszwecke relevant sind. Die Erkenntnis, daß die Entscheidung über die zulässige Immissionsbelastung materiell den Charakter einer Planungsentscheidung hat, dürfte nicht sehr überraschend sein, nachdem schon verschiedentlich behauptet worden ist, daß die Genehmigung industrieller Großvorhaben materiell eine Planungsentscheidung sei. 40 Den Schritt aber, der Verwaltung ein entsprechen37 Breuer, Der Staat 20 (1981), befürchtet von einem planerischen Ermessensspielraum der Genehmigungsbehörde (allerdings bezogen auf § 5 Nr. 2) einen „kaum kalkulierbaren und rechtsstaatlich bedenklichen ,Planulismus'". Dieser kann jedoch durch die Bindung des Ermessens an die allgemeinen Verwaltungsvorschriften vermieden werden. 38 Vgl. dazu Gieseke / Wiedemann / Czychowski, WHG, 3. Aufl. 1979, § 6; Breuer, Der Staat 20 (1981), 406; ders., in: v. Münch, Besonderes Verwaltungsrecht, S. 686; Wahl, DVB1. 1982, 58. 39 Breuer, Der Staat 20 (1981), 406. 40 Vgl. Badura, BayVBl. 1976, 515f. (hinsichtlich der Standortwahl); Feuchte, Die Verwaltung 10 (1977), 303; Ossenbühl, DVB1. 1978, 7. Was die Luftbewirtschaftung angeht, so wurde die These von einer „Planungs- und Verteilungsfunktion" erstaunlicherweise bisher fast nur i n bezug auf das Vorsorgeprinzip des § 5 Nr. 2 BImSchG erörtert - vgl. Feldhaus, DVB1.1980,133ff.; Breuer, Der Staat 20 (1981), 412f. (ablehnend) m.w.N. - , obwohl doch als Instrument planvoller Ressourcenbewirtschaftung die Begrenzung des zulässigen Immissionsvolumens (§ 5 Nr. 1), nicht aber die vorsorgende Emissionsbegrenzung (§ 5 Nr. 2) in Betracht kommt. Denn diese verhindert nicht, daß der newcomer sich aus dem durch emissionsmindernde Maßnahmen geschaffenen Freiraum bedient (Salzwedel, in: GfU, Dokumentation zur 5. wiss.
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des Planungsermessen einzuräumen, konnte die herrschende Meinung bislang nicht gehen, weil die Genehmigungsvoraussetzung der §§6 Nr. 1, 5 Nr. 1 BImSchG nicht als Planungsnorm formuliert, sondern konditional programmiert ist, und so den Anschein erweckt, die Entscheidung normativ vorzugeben beziehungsweise mangels Einräumung von Ermessen der vollen gerichtlichen Kontrolle zu überantworten. 41 Demgegenüber wurde hier gezeigt, daß mangels jedes rechtlichen Kriteriums für die zu treffende Bewirtschaftungsentscheidimg die Divergenz zwischen Vermeidungspflicht und Duldungspflicht nicht normativ überwunden werden kann. Deshalb bleiben die unbestimmten Rechtsbegriffe in der Bedeutung stehen, die sie durch die bipolare Zweckprogrammierung erhalten haben. Der daraus resultierende Niveauunterschied zwischen Vermeidungs- und Duldungspflicht, die nur dem Wortlaut, nicht aber dem Inhalt nach durch die gleichen unbestimmten Rechtsbegriffe normiert sind, eröffnet für die Exekutive ein weites Luftbewirtschaftungsermessen. Es bleibt zwar dabei, daß die Rechtsbegriffe der §§6 Nr. 1, 5 Nr. 1 BImSchG gerichtlich voll nachprüfbare unbestimmte Rechtsbegriffe sind. Aber sie sind hinsichtlich der Versagungs- und der Genehmigungsvoraussetzungen in sehr unterschiedlicher Weise auszulegen. Da die Genehmigung nur zu erteilen ist, wenn die Immissionsbelastung unter der Bagatellschwelle bleibt, und andererseits nur versagt werden muß, wenn sie die Grenze der Unzumutbarkeit (der Gesundheitsgefährdung) erreicht, steht es im Ermessen der Verwaltung, auch dann zu genehmigen, wenn die Versagungsvoraussetzung erfüllt ist, solange nur die Genehmigungsvoraussetzung eingehalten wird. Die zweckgeleitete Auslegung der konditional programmierten Genehmigungsvorschrift ändert also nichts an der Stringenz ihrer Wenn-dann-Struktur, die nach der hier zugrunde gelegten Rechtsprechung für (planerisches) Ermessen der Verwaltung keinen Raum läßt. Aber sie reißt zwischen der Vermeidungspflicht des Betreibers und der Duldungspflicht des Betroffenen, zwischen Genehmigungs- und Versagungsvoraussetzung, die jeweils konditional programmiert sind, einen Zwischenraum auf, den das gesetzliche Konditionalprogramm nicht erfaßt und der daher nur durch die Entscheidung der Verwaltung ausgefüllt werden kann. 3. Ermessensbindungen Das Ermessen der Genehmigungsbehörde ist wie jedes verwaltungsbehördliche Ermessen rechtlich gebundenes Ermessen und durch die VerwalFachtagung, S. 50). Den planungs- und bewirtschaftungsrechtlichen Charakter der Entscheidung über die zur Verfügung stehenden Belastungskapazitäten hebt Salzwedel hervor, a.a.O., S. 41, 43; ebenso Sendler, UPR 1983, 40f. 41 Vgl. Breuer, DVBl. 1978, 34; Ossenbühl, DVBl. 1978, 7f.; Rittstieg, Die Konkretisierung, S. 167 ff.
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tungsgerichte gem. § 114 VwGO im Hinblick auf Ermessensfehlgebrauch kontrollierbar. Insoweit kann auf die allgemeine Literatur zur Ermessenslehre verwiesen werden. 42 Die Genehmigungsbehörde überschritte die gesetzlichen Grenzen des Ermessens, wenn sie eine Genehmigung versagte, obwohl die Immissionsbelastung unterhalb der Bagatellschwelle bliebe, oder wenn sie die Genehmigung erteilte, obwohl die Immissionsbelastung die Unzumutbarkeitsschwelle überstiege. Zwischen diesen Grenzen darf die Ermessensausübung nicht mißbräuchlich erfolgen. Als mißbräuchliche Ermessensbetätigung kommt zum Beispiel - darauf wurde schon hingewiesen - die willkürliche Ungleichbehandlung verschiedener Antragsteller in Betracht. Willkür kann etwa dann vorliegen, wenn die Genehmigungsbehörde von einer allgemeinen Verwaltungsvorschrift abweicht, durch welche die zulässige Immissionsbelastung, das Meßverfahren zur Immissionsermittlung oder Kriterien zur Bestimmung der zulässigen Immissionsbelastung festgelegt werden. 43 Stützt die Genehmigungsbehörde ihre Entscheidimg auf eine allgemeine Verwaltungsvorschrift, die gem. § 48 Nr. 1 BImSchG Immissionswerte festlegt, so ist im Rahmen der Überprüfung der Genehmigungsentscheidung auch zu kontrollieren, ob die Festlegung dieser Immissionswerte ermessensfehlerfrei erfolgt ist. Mißbräuchlich ist auch eine dem Zweck der Ermächtigung widersprechende Ermessensbetätigung. Der Zweck der Ermächtigung kann nach dem Gesagten nur darin bestehen, einen Ausgleich zwischen den gesetzlichen Zwecken herzustellen, die „Abwägung" zwischen diesen Zwecken zu Ende zu führen, für die der Gesetzgeber nur den Rahmen abgesteckt hat. Die Regierung bzw. die Behörde hat also selbst „gewichtend", den einen Zweck vorziehend, den anderen zurücksetzend, ihre Bewirtschaftungsentscheidung zu treffen. Darin liegt das gestaltende, das planerische Element der Entscheidung. Bei der Ermessensprüfung kann man daher auf die Grundsätze zurückgreifen, die die Rechtsprechung zur Kontrolle des „Planungsermessens", der „planerischen Gestaltungsfreiheit" 44 , entwickelt hat. 45 Dabei 42 Vgl. Wolff / Bachof I, § 31 I I d; Forsthoff, Verwaltungsrecht, S. 95ff.; HoffmannBecking, DVB1.1970, 85Off.; Soell, Das Ermessen der Eingriffsverwaltung; Pietzcker, JuS 1982, 106ff., jeweils m.w.N. 43 Auch wo das Ermessen der Genehmigungsbehörde nicht durch eine Verwaltungsvorschrift gebunden ist, darf es nicht „willkürlich" ausgeübt werden. Die Behörde muß also die Gründe für ihre Entscheidung offenlegen und so ein Urteil darüber ermöglichen, ob Abweichungen von anderen Entscheidungen sachlich gerechtfertigt sind. Hinsichtlich des wasserrechtlichen Versagungsermessens nach § 6 WHG wird gefordert, daß die Behörde ein „planulistisches" - planvertretendes oder planergänzendes - Bewirtschaftungskonzept als Grundlage der Ermessensausübung entwickle, vffl. Breuer, in: v. Münch. Besonderes Verwaltungsrecht. S. 686. 44 Zur Unterscheidung von Verwaltungsermessen und planerischem Gestaltungsspielraum vgl. Hoppe, in: Ernst / Hoppe, Das öffentliche Bau- und Bodenrecht, Rdnr. 299, der die Figur des Verwaltungsermessens für das Planungsrecht wegen der
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ist aber zu bedenken, daß das Ermessen von vornherein durch die gesetzliche Minimal- und Maximalgrenze eingeschränkt ist und daß die Beachtung dieser vorgegebenen Grenzen den beteiligten privaten Belangen in der Regel hinreichend Rechnung trägt. Daher ist die Möglichkeit von planerischen Abwägungsfehlern von vornherein stark eingeschränkt. Die gesetzlich vorgegebenen Grenzen schließen es praktisch aus, daß der Ausgleich zwischen den gegenläufigen Belangen „ i n einer Weise erfolgt, durch die die objektive Gewichtigkeit eines dieser Belange völlig verfehlt w i r d " . 4 6 Eine solche Fehlgewichtung läge allerdings dann vor, wenn durch eine zu niedrige Festlegung der Grenze der zulässigen Immissionsbelastung die prinzipielle Genehmigungsfähigkeit genehmigungsbedürftiger Anlagen in Frage gestellt würde. 47 Fehlerhaft wäre im übrigen jedenfalls ein Abwägungsdefizit: Die gegensätzlichen Belange müssen überhaupt erwogen und gewichtet worden sein. Mißbräuchlich wäre daher beispielsweise die pauschale Festlegung der Immissionswerte auf die Maximalgrenze. Wenn die Belastung der Immissionsbetroffenen sich nicht als zur Erreichung des Industrieförderungszwecks geeignet und erforderlich rechtfertigen läßt, widerspricht sie dem Zweck der Ermächtigimg. Die Ermessensbindung der Regierung bei der allgemeinen Festlegung von Immissionswerten wird allerdings dadurch relativiert, daß der Industrieförderungszweck selbst weitgehend eine Funktion der jeweiligen Wirtschaftsund Industriepolitik ist. Die wirtschaftspolitische Funktionalisierung des Industrieförderungszwecks hat allerdings auch unter dem Aspekt des Verhältnismäßigkeitsprinzips Grenzen, nämlich dort, wo sich die Erhöhung der „qualitativ unterschiedlichen Strukturgesetzlichkeiten" völlig fallen lassen möchte; a.A. Schmidt-Aßmann, in: Ernst / Zinkahn / Bielenberg, BBauG § 1 Vorbem. Rdnr. 306; ders., W D S t R L 34 (1976), 251 f. Ob eine strikte Trennung möglich ist, scheint aber fraglich: Gerade das Luftbewirtschaftungsermessen liegt - gemessen am Komplexitätsgrad der Entscheidung - zwischen der hochkomplexen, multifinalen Raumplanung und dem herkömmlichen Entschließungs- oder Auswahlermessen. Art und Umfang der Ermessenskontrolle können nicht von der abstrakten Einordnung in die Kategorie des Planungs- oder des Verwaltungsermessens abhängen, sondern von der spezifischen Eigenart der zu treffenden Entscheidung, insbesondere vom Umfang und von der Präzision der gesetzlichen Entscheidungsvorgaben und der Überschaubarkeit der Abwägungsfolgen; vgl. Schmidt-Aßmann, a.a.O. 45 Vgl. BVerwGE 34, 301 (304ff.); 36, 352 (356); 42, 331 (338); 45, 309 (312ff.); 48, 56 (63f.); zu den Grenzen des Planungsermessens vgl. auch Blümel, Festg. Forsthoff, 1967, S.159f. m. Anm.l36ff.; Badura, in: Festschr. BayVerfGH, 1972, S.157ff.; Hoppe, DVBl. 1974, 641 ff.; ders., Festg.. BVerwG, 1978, S. 295ff.; Ossenbühl, Welche normativen Anforderungen stellt der Verfassungsgrundsatz des demokratischen Rechtsstaates an die planende staatliche Tätigkeit, dargestellt am Beispiel der Entwicklungsplanung? Gutachten Β zum 50. DJT, 1974, S. 160, 183ff.; M. Schröder, DÖV 1975, 308ff.; Papier, NJW 1977, 1714ff.;·ders., DVBl. 1975, 461 ff.; Weyreuther, BauR 1977, 293ff.; Gassner, DVBl. 1981, 4ff.; Ramsauer, DÖV 1981, 37ff. 46 BVerwG, 5. 7. 74, E 45, 309 (315). 47 s.o. Β. II. 1, C. II. 1. Dies ist freilich nicht dann schon der Fall, wenn an einem unvorbelasteten Standort ein Projekt deshalb nicht genehmigt wird, weil es besondere gebietsspezifische Gründe gibt, die zulässige Immissionsbelastung unterhalb der Maximalgrenze zu halten.
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zulässigen Immissionsbelastung als zur Steigerung des Industrialisierungsniveaus ungeeignet oder unnötig erweist. 48 Dies ist insbesondere insoweit der Fall, als der Immissionskonflikt auch raumplanerisch gelöst werden kann, insbesondere durch räumliche Trennung von immissionsträchtigem Gewerbe und Wohnsiedlung. - Defizitär wäre die Abwägung weiterhin dann, wenn sie situationsspezifische Gesichtspunkte wie die Prägimg des immissionsbetroffenen Gebiets durch Bebauungspläne und tatsächliche oder planerische Immissionsvorbelastungen nicht in dem Maße berücksichtigte, in dem dies auch für die Ermittlung der Unzumutbarkeitsschwelle geboten ist. 4 9 Die planerische Abwägung im Rahmen des Luftbewirtschaftungsermessens ist also der Ort für das, was das Bundesverwaltungsgericht i m Hinblick auf den Schutz vor Belästigungen als „einfachgesetzliche Güterabwägung" postuliert - allerdings mit dem uneinlösbaren Anspruch voller gerichtlicher Kontrolle. 5 0 Indem der hier vorgelegte Interpretationsvorschlag die Zurücknahme der gerichtlichen Kontrollintensität auf die Kriterien der Kontrolle planerischer Abwägung ermöglicht, bietet er der im Bereich des Belästigungsschutzes faktisch längst bestehenden Kontrollpraxis ein dogmatisches Fundament, weist allerdings die maßgeblichen Wertentscheidungen im Rahmen des Planungsermessens in die Kompetenz der Exekutive und nicht - wie die bisherige Gerichtspraxis - stillschweigend in die Kompetenz des gutachtenden „ Sachverstands ".
4. Luftbewirtschaftungsermessen und Grundgesetz Ob der hier vorgelegte Interpretationsvorschlag die Grundrechte der durch § 5 Nr. 1 BImSchG Verpflichteten nicht übermäßig einschränkt, ist i m Hinblick auf die als divergierend betrachteten Pflichten des Anlagenbetreibers einerseits, des Immissionsbetroffenen andererseits, zu überprüfen. Was die Grundrechte des Immissionsverursachers angeht, kann auf bereits Ausgeführtes verwiesen werden. 51 Bedenken gegen ein Verbot von die Bagatellschwelle überschreitenden Industrieimmissionen wurden dort ausgeräumt. Das hier vertretene Ermessen der Genehmigungsbehörde, von 48 Bei der Beurteilung dieser Frage kommt der Regierung der vom BVerfG für w i r t schaftspolitische Prognosen anerkannte Einschätzungsspielraum zu, s.o. § 16 Fn. 8. Kritisch gegen ein „Prognoseermessen" zu Recht Hoppe, Festg. BVerfG I, S. 688f.: Der notwendige „Prognosespielraum" ergibt sich bereits daraus, daß die Prognose ex tunc zu beurteilen ist, so daß ihre Rechtmäßigkeit nicht durch die abweichende Entwicklung der Realität, sondern nur durch Fehler der Sachverhaltsaufklärung, der Prognosemethodik und ihrer Anwendung widerlegt wird. 49 Vgl. oben Β. II. 4. d) bb) und TA Luft Nr. 2.2.1.3. Abs. 3, 4. 50 s.o. II., III. vor 1. 51 s.o. § 1 7 B . L , §20 B . I I . 1.
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diesem Verbot aus Gründen des öffentlichen Interesses an der Industrie Befreiung zu erteilen, soweit dadurch das Maß des für den Betroffenen Zumutbaren nicht überschritten wird, stellt für den Anlagenbetreiber eine Begünstigung dar, und ist deshalb insoweit ebenfalls unbedenklich. 52 Einen Anspruch auf diese Befreiung, einen Anspruch auf die Bagatellgrenze übersteigende Immissionsverursachung, eine Luftverschmutzungsfreiheit, gewährleistet das Grundgesetz dagegen prinzipiell nicht. Was das Bundesverfassungsgericht zur Bewirtschaftimg des Wassers gesagt hat 5 3 , muß entsprechend auch für die Luftbewirtschaftung gelten. 54 Die Ablehnung eines Luftbewirtschaftungsermessens durch die herrschende Meinung stützt sich denn auch nicht auf die Verfassung. Wenn in der Literatur dem Anlagenbetreiber ein Anspruch auf Verschmutzung der Luft bis zur Zumutbarkeitsgrenze zugesprochen wird, während es einen entsprechenden Wasserverschmutzungsanspruch nicht gebe, so w i r d der Unterschied allein mit den differierenden Regelungen i m Wasserhaushaltsgesetz und i m BundesImmissionsschutzgesetz begründet. 55 Was die Grundrechte des Immissionsbetroffenen angeht, so wurde ebenfalls bereits gezeigt, daß die Auferlegung von Immissionsduldungspflichten verfassungsrechtlich prinzipiell unbedenklich ist, wenn sie sich an einem Gemeinwohlziel rechtfertigen läßt und die Zumutbarkeitsgrenze, insbesondere die Grenze der Gesundheitsgefahr, nicht übersteigt. 56 Ist die Duldungspflicht durch die Schwelle der Unzumutbarkeit begrenzt, so kann sie nicht gegen die Grundrechte des Betroffenen verstoßen, wenn sie außerdem zur Erreichung des mit der Auferlegung dieser Pflicht verfolgten öffentlichen Ziels geeignet und erforderlich ist. Der Umstand, daß die Genehmigungsbehörde ermächtigt, aber nicht verpflichtet ist, Immissionsverursachungserlaubnisse bis zur Erreichung der Zumutbarkeitsgrenze zu erteilen, also insoweit Ermessen hat, schmälert die grundrechtliche Position des Immissionsbetroffenen nicht. Betätigt nämlich die Behörde ihr Ermessen in der Weise, daß sie die zulässige Immissionsbelastung unterhalb der gesetzlichen Maximalgrenze festlegt, dann bleibt die Belastung des Betroffenen hinter dem zurück, was er von Gesetzes wegen zu dulden verpflichtet ist. Das behördliche Ermessen ist ihm nur günstig. Fraglich könnte allerdings sein, ob die Duldungspflicht auch dem Grundsatz der Erforderlichkeit entspricht, denn die Behörde - beziehungsweise durch allgemeine Verwaltungsvorschrift die Regierung - darf zulässige 52
s.o. §19B. III. 2. 53 Vgl. BVerfGE 58, 300 (329, 339f., 343) - Naßauskiesung. 54 Ebenso Sendler, UPR 1983, 40f. 55 Vgl. Breuer, Der Staat 20 (1981), 404ff., 410ff.; Salzwedel, in: GfU, Dokumentation zur 5. wiss. Fachtagung, S. 37f., 75. 56 s.o. §8 Α. I., § I U I .
D. Immissions Vorbelastung und Luftbewirtschaftung
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Immissionsbelastungen auch weit unterhalb der Maximalgrenze festlegen. Spricht dies nicht dagegen, daß die gesetzliche Verpflichtung, Immissionen bis zur Zumutbarkeitsgrenze zu dulden, zur Erreichung des gesetzlichen Ziels, zur Erhaltung des marktwirtschaftlich organisierten Industriesystems, erforderlich ist? Zeigt nicht die Möglichkeit, im Rahmen des Ermessens den Immissionsstandard auf ein niedrigeres Belastungsniveau festzulegen, daß auch dies niedrigere Niveau bereits den Erfordernissen des gesetzlichen Ziels genügt? Das gesetzliche Ziel ist die Erhaltung der Existenzbedingungen eines marktwirtschaftlich organisierten Industriesystems durch Setzimg der geeigneten immissionsrechtlichen Rahmenbedingungen. Zur Erreichung dieses Ziels ist ein Entscheidungsspielraum nötig, der es dem Staat ermöglicht, auf die wechselnden Bedingungen der wirtschaftlichen und technologischen Situation zu reagieren und hiervon die Festsetzung der immissionsrechtlichen Rahmenbedingungen abhängig zu machen. Gemessen an den bisherigen Erfahrungen mit unserem Industriesystem ist es zur Erhaltung dieses Systems jedenfalls regional oder lokal unvermeidbar, Immissionen bis zur Grenze der Unzumutbarkeit zuzulassen. Deshalb ist es zur Erreichung des Förderungszwecks erforderlich, daß den zuständigen Stellen ein bis zur Zumutbarkeitsgrenze reichendes Bewirtschaftungsermessen eingeräumt wird. Macht die Verwaltung von ihrer gesetzlich eingeräumten Eingriffsbefugnis nicht in vollem Umfang Gebrauch, weil sie das Ziel, dem die Ermächtigung dient, nicht in vollem Umfang verwirklichen will, oder weil die Verwirklichung des Ziels die maximal zulässige Belastung des Betroffenen zur Zeit und unter den gegebenen Umständen nicht erfordert, so spricht dies nicht gegen die Erforderlichkeit der gesetzlichen Ermächtigung. Allerdings muß auch die Auferlegung der Immissionsduldungspflicht durch die konkrete Bewirtschaftungsentscheidung sich am Grundsatz der Erforderlichkeit messen lassen. Das Erforderlichkeitsprinzip ermöglicht hier jedoch keine intensive Ermessenskontrolle, denn welche Rahmenbedingungen zur Erhaltung des Industriesystems erforderlich sind, hängt auch von dem anzustrebenden Industrialisierungsniveau ab. Und das Gesetz legt dieses nicht fest, sondern überläßt die Zielbestimmung insoweit der staatlichen Industrie- und Wirtschaftspolitik. Hier vor allem zeigt sich das planerische Element der zu treffenden Ermessensentscheidung: Der Umfang der Zielverwirklichung ist nicht gesetzlich bestimmt; das begrenzte Belastungsvolumen des Umweltmediums Luft ist nach Gesichtspunkten zur Nutzung zuzuteilen, die vom Gesetz nicht vorausbestimmt sind. Der dadurch entstehende Gestaltungsspielraum der Exekutive ist planungstypisch und planungsnotwendig 57 und kann keinen größeren verfassungsrechtlichen Bedenken unterliegen als jede andere Ermächtigung zu Planungsentscheidungen, durch welche in zumutbarer Weise in grundrechtlich 57 Vgl. BVerwG, 12.12.69, E 34, 301 (309); Weyreuther,
UPR 1981, 38.
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§ 20 Der Sicherheitsstandard des § 5 Nr. 1 BImSchG
geschützte Privatinteressen eingegriffen wird. 5 8 In Entsprechung zu den Grundsätzen des Planungsrechts w i r d man daher in der hier vorgeschlagenen Interpretation des § 5 Nr. 1 BImSchG einen Verstoß gegen die Grundrechte der Immissionsbetroffenen nicht sehen können. Allerdings müssen ihre Interessen über die Wahrung der Mindestposition hinaus gemäß den Grundsätzen der planerischen Abwägung bei der Ermessensausübung berücksichtigt werden. - Das Problem der Erforderlichkeit ist übrigens kein spezifisches Problem des hier vorgelegten Interpretationsvorschlags. Gerade die Vertreter der herrschenden Meinung müssen sich fragen lassen, ob es denn zur Erreichung eines gesetzlichen Zwecks erforderlich ist, daß wie sie meinen - die maximal zumutbare Belastung mit Immissionsfolgerisiken, nämlich die Belastung mit Immissionen bis zur Schwelle der Gesundheitsgefahr, nicht nur erlaubt werden darf, sondern auch erlaubt werden muß, weil der Anlagenbetreiber hierauf einen Anspruch habe. Wenn die Interpretation der herrschenden Meinung mit dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz vereinbar ist, so ist es die hier vertretene jedenfalls erst recht. Die inkongruente Festlegung der Genehmigungs- und der Versagungsvoraussetzungen und das daraus resultierende Ermessen sind also verfassungsrechtlich unbedenklich, wenn dabei - wie das hier der Fall ist - auf beiden Seiten die verfassungsrechtliche Mindestposition der Betroffenen gewahrt bleibt. Als problematisch könnte jedoch erscheinen, ob die jeweiligen Tatbestandsvoraussetzungen - und damit die Grenzen des Ermessens - dem Bestimmtheitsgebot genügen. Die unbestimmten Rechtsbegriffe, die das Gesetz verwendet, sind nicht gerade „griffig", doch ihre hinreichende Bestimmtheit w i r d von Rechtsprechung und Literatur nicht bezweifelt. 59 Durch die hier vorgeschlagene bipolare Interpretation w i r d ihre Bestimmbarkeit wesentlich gesteigert. Legt das Gesetz die unterschiedlichen Voraussetzungen unterschiedlicher Rechtssätze in einem doppelseitigen Rechtssatz fest, so können sich daraus keine größeren Bedenken gegen die Bestimmtheit dieses Rechtssatzes ergeben, als wenn das Gesetz für dieselbe materielle Regelung zwei verschiedene formelle Rechtssätze mit gleichermaßen imbestimmten Begriffen verwendete. Entscheidend ist, daß der materielle Gehalt der Normen sich aus dem Gesetzeszusammenhang mit hinreichender Bestimmtheit ermitteln läßt. - Auch der Zweck der Ermäch58 Das Übermaßverbot ist auf überschaubare Verhältnisse und isolierte Eingriffe zugeschnitten. Es eignet sich nur bedingt zur Kontrolle von Planungsentscheidungen, die als gestaltende Entscheidungen eine Vielzahl komplexer Zusammenhänge zu berücksichtigen haben, vgl. Lerche, Übermaß und Verfassungsrecht, S. 135; SchmidtAßmann, W D S t R L 34 (1976), 258 m.w.N.; Battis, DVB1. 1978, 582. Diesen unvermeidlichen Mangel versucht man im Planungsrecht durch Kontrolle des Planungsvorgangs, der Maßstabsbildung und nicht nur der Maßstabsanwendung zu kompensieren, vgl. Scholz, W D S t R L 34 (1976), 178ff. m.w.N. 59 Ausdrücklich zugunsten der hinreichenden Bestimmtheit z.B. BVerfGE 49, 89 (133ff.) zu § 7 I I AtG; Ule / Laubinger, BImSchG, § 3 Rdnr. 17; Breuer, in: v. Münch, Besonderes Verwaltungsrecht, S. 655 f.
D. Immissionsvorbelastung und Luftbewirtschaf tung
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tigung zur Festlegung der zulässigen Immissionsbelastung ergibt sich zumindest so deutlich aus dem Gesetzeszusammenhang, daß seine Bestimmtheit einen Vergleich mit üblichen Planimgsklauseln und Ermessensdirektiven in anderen Gesetzen nicht zu scheuen braucht. IV. Konsequenzen des Interpretationsvorschlags, insbesondere für die Funktion der TA Luft Der Vorschlag, der Genehmigungsbehörde ein Luftbewirtschaftungsermessen einzuräumen, hat die entstehungsgeschichtlichen Materialien 60 und scheinbar auch den Wortlaut des Gesetzes gegen sich. Aber § 5 Nr. 1 BImSchG läßt sich nur gegen seinen unglücklich gefaßten Wortlaut interpretieren. Auch die herkömmliche Interpretation muß sich über den Wortlaut hinwegsetzen. Doch indem sie die rigorose Sicherheitsforderung des Gesetzeswortlauts in den Standard der Gefahrenabwehr transformiert 61 , verwässert sie den materiellen Regelungsgehalt des Gesetzes mehr als erforderlich. Als wäre der Gesetzestext völlig unbeachtlich, nimmt sie den Schutz vor Risiken auf das verfassungsrechtlich gebotene Minimum zurück, ohne hierfür einen dogmatisch stringenten Grund angeben zu können. Der hier vorgelegte Interpretationsvorschlag strapaziert den Gesetzeswortlaut nicht ärger als die übliche Interpretation dies tut, und er ist seinem materiellen Gehalt nach „näher am Gesetz" als diese. Was die hier vertretene Interpretation als gewagt erscheinen läßt, ist demnach weniger ihre Abweichung vom Gesetzeswortlaut als ihre Abweichung von einer ganz gefestigten Rechtsprechungs- und Literaturmeinung. Welche dogmatischen Argumente gegen die herkömmliche Meinung sprechen und für die hier vorgeschlagene Auslegung, wurde umfassend dargelegt. Im folgenden bleibt zu zeigen, wie sich die hier vorgeschlagene von der geläufigen Interpretation in ihren praktischen Konsequenzen unterscheidet. 1. Tendenzielle Sicherheitsverbesserung Die herrschende Meinung tendiert dazu, den als Maximalstandard formulierten Sicherheitsstandard des § 5 Nr. 1 BImSchG in einen Minimalstandard zu verfälschen. Dies gilt nicht nur für die Risikoabwehr, sondern auch für den Schutz vor Beeinträchtigungen: Eine Anlage muß nach dieser Auffassung genehmigt werden, wenn die - zu erwartende - Immissionsbelastung unterhalb der Gefahren- beziehungsweise Unzumutbarkeitsschwelle bleibt. Nach der hier vertretenen Auffassung dagegen ist die Grenze der 60
Vgl. die Begründung des Regierungsentwurfs zu § 6, BT-Drs. 7/179. ei s.o. C. I. s
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zulässigen Immissionsbelastung zwischen der Gefahren- beziehungsweise Unzumutbarkeitsschwelle und der Bagatellschwelle festzusetzen. Dies fordern auch die Rechtsprechung zum Belästigungsschutz und ein Teil der Literatur mit der „einfachgesetzlichen Unzumutbarkeitsschwelle". Die hier vorgeschlagene Interpretation des Wirkungsstandards zwingt nicht zu intensiverem Schutz als diese Rechtsprechimg ihn postuliert, aber sie ermöglicht ihn: Die Genehmigungsbehörde hat Ermessen, mehr an Immissionsschutz zu verlangen. Eine Verschlechterung des von der Rechtsprechung unter dem Aspekt der „einfachgesetzlichen Unzumutbarkeit" gebotenen Immissionsschutzniveaus ist durch die Kontrolle des Bewirtschaftungsermessens auf planerische Abwägungsfehler ausgeschlossen. Die Mindestposition der Immissionsbetroffenen, die Unzumutbarkeits- beziehungsweise Gefahrenschwelle, bleibt strikt gewahrt. 62 Sie wird nicht zur Disposition einer Abwägung mit arbeitsmarkts- oder wirtschaftspolitischen Belangen gestellt 63 , und ihre Beachtung bleibt gerichtlich voll überprüfbar. 2. Ermöglichung von Immissionsvorsorge Das Luftbewirtschaftungsermessen macht eine echte Immissionsvorsorge, wie § 1 BImSchG sie fordert, überhaupt erst möglich. Die anlagenbezogene Vorsorge gem. § 5 Nr. 2 kann zwar Belastungskapazitäten für andere Umweltnutzer freihalten, doch können diese „Freiräume" von jedem newcomer wieder mit neuen Emissionen aufgefüllt werden 64 , wenn man ihm mit der herkömmlichen Meinung - einen Anspruch auf Genehmigung einräumt, solange das Belastungsmaximum nicht ausgeschöpft ist. Die hier vorgeschlagene Interpretation ermöglicht es dagegen, „Freiräume" auch zu anderen als industriellen Zwecken zu schaffen oder bei industriellen Umweltnutzungen nach ihrer Bedeutung für die Volkswirtschaft zu differenzieren. 65 Führt das Vorsorgeprinzip des § 5 Nr. 2 in Verbindung mit der herkömmlichen Auslegung des § 5 Nr. 1 nur zu einer gerechteren Verteilung der maximalen Belastungskapazität unter den Immissionsverursachern, zur 62 Breuer, Der Staat 20 (1981), 415; VEnergR 50, S. 53, bezeichnet die Genehmigungsvoraussetzungen als „eherne Grundpostulate", die nicht zur wirtschafts- oder raumplanerischen Disposition der Exekutive stünden. Diese These geht davon aus, daß §§6 Nr. 1, 5 Nr. 1 BImSchG im Sinne dessen zu interpretieren seien, was hier nur als maximal zulässige Belastung, also als Minimalposition der Immissionsbetroffenen, angesehen wird. Diese ist allerdings „ehern" und steht nicht zur planerischen Disposition. 63 Diejenigen Literaturstimmen, die in Abweichung von der h. M. die unbestimmten Rechtsbegriffe der §§6 Nr. 1, 5 Nr. 1 aufgrund einer auch wirtschaftspolitische Belange einbeziehenden Abwägung konkretisieren wollen - vgl. Schmitt Glaeser / Meins, S. 3Iff.; auch Feldhaus, DVB1.1979, 305 - , müssen sich entgegenhalten lassen, daß ihre Konzeption dies jedenfalls nicht ausschließt. 64 Vgl. Salzwedel, in: GfU, Dokumentation zur 5. wiss. Fachtagung, S. 50. 65 Dies vermißt Salzwedel, o. Fn. 64, bei der Regelung in der Auslegung der h.M.
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Freihaltung von Belastungskapazität für weitere Belastungen, so ermöglicht es in Verbindung mit der hier vertretenen Interpretation die vom Gesetz erstrebte 66 dauerhafte Verbesserung der Umweltverhältnisse. 3. Dogmatische Grundlegung für bereits etablierte Bewirtschaftungspraxis Planerische Abwägungen bei der Festlegung des zulässigen Immissionsquantums sind in der Praxis längst üblich. Das Bundesverwaltungsgericht hat in seiner Rechtsprechung zum Belästigungsschutz den Weg dazu gewiesen: Die von ihm postulierte „einfachgesetzliche Güterabwägung" 67 ist der Sache nach nichts anderes als das planerische Abwägungsgebot. 68 Da aber bislang das dogmatische Fundament dafür fehlte, der Genehmigungsvorschrift ein Bewirtschaftungsermessen zu entnehmen, mußten die gestaltenden Abwägungen sich als nachvollziehende Abwägungen oder als „außerrechtliche", von Sachverständigen zu entscheidende „Fachfragen" tarnen 69 . Die hier vorgeschlagene Interpretation ermöglicht es, die Bewirtschaftungsentscheidung der Verwaltung zu überlassen und die gerichtliche Kontrolle auf die Maßstäbe der Planungskontrolle zu reduzieren. Wie Salzwedel gezeigt hat 7 0 , sind auch in die Referentenentwürfe zur TA Luft-Novelle 7 1 Bewirtschaftungselemente eingegangen. Sie sind in der Änderungsnovelle vom 23.2.1983 72 zwar abgeschwächt worden, aber nicht verlorengegangen. So darf nach TA Luft Nr. 2.2.1.2c) trotz Überschreitimg eines der in Nr. 2.5.2 zum Schutz vor erheblichen Nachteilen und erheblichen Belästigungen festgelegten Immissionswerte die Genehmigung nicht versagt werden, wenn die durch die Anlage hervorgerufene Zusatzbelastung die in Anhang A festgelegten Werte nicht überschreitet. Diese Bestimmung setzt voraus, daß die Immissionswerte weit unterhalb der Gefahren-/ Zumutbarkeitsschwelle festgelegt sind. Anderenfalls wäre sie gesetzwidrig. Rechtlich unbedenklich ist sie nach der hier vertretenen Konzeption, wenn sie das Vorfeld der Gefahrenschwelle bewirtschaftet. Für eine solche Bewirtschaftung sprechen praktische Gesichtspunkte: Sie verhindert, daß einer - arbeitsmarkt- oder regionalpolitisch unter Umständen sehr erwünschten - Anlage wegen einer nur geringfügigen Erhöhung der Immissionsbelastung, die von dieser Anlage zu erwarten wäre, die Genehmigung 66
s.o. Fn. 4. s.o. Β. II. 4. a), D. II. bei Fn. 14. 68 s.o. D. II. bei Fn. 17, III. 3. bei Fn. 50. 69 s.o. Fn. 24. 70 o. Fn. 64, S. 41 ff. 71 Salzwedel bezieht sich auf den Entwurf vom 10.9.1981. Entsprechendes läßt sich über den Entwurf vom 8.6.1982 sagen. 72 GMB1. 1983, 94. 67
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verweigert werden muß. Dies läßt sich nur dadurch erreichen, daß man die Immissionswerte niedrig festlegt und so einen entsprechenden Bewirtschaftungsspielraum schafft, denn von der Gefahrenschwelle an geht nichts mehr. Es kann hier nicht untersucht werden, ob alle Immissionswerte der TA Luft einen solchen Spielraum zulassen, ob sie also die Gefahren- beziehungsweise Zumutbarkeitsschwelle weit genug unterschreiten. Für unsere dogmatische Untersuchung reicht die Tatsache, daß die TA Luft dies stillschweigend voraussetzt und - jedenfalls diesem stillschweigenden Anspruch nach - Luftbewirtschaftung unterhalb der Gefahren-/Zumutbarkeitsschwelle betreibt. 73 Für diese praktisch vernünftige Ressourcenbewirtschaftung bietet die traditionelle Interpretation keine dogmatische Basis. Sie kann das, was die administrative Praxis tut, nur als „»unechtes' Bewirtschaftungsermessen" 74 empirisch konstatieren, nicht aber rechtlich rechtfertigen. Denn ihr zufolge hat ja der Antragsteller einen Genehmigungsanspruch, wenn die Genehmigungsvoraussetzung erfüllt ist, wenn also sichergestellt ist, daß eine Gefährdung oder unzumutbare Beeinträchtigung ausgeschlossen ist; und ist dies nicht der Fall, so muß die Genehmigung versagt werden. Es gibt nach dieser herkömmlichen Meinimg nur „ja" oder „nein", aber keinen Bewirtschaftungsspielraum. 4. Beitrag zur Harmonisierung des Umweltrechts Das hier entwickelte Luftbewirtschaftungsermessen ist auch ein Beitrag zur „inneren Harmonisierung" des Umweltrechts 75 . Es verringert die oft beklagte 76 , sachlich in dem bisher als gegeben betrachteten Maße nicht zu rechtfertigende Differenz zwischen Schutz des Wassers, wo ein umfassendes Bewirtschaftungsermessen besteht, und Schutz der Luft, wo es nach hergebrachter Ansicht fehlt. 5. Bewirtschaftungsermessen und Rechtssicherheit: Zur Verbindlichkeit der TA Luft Wer den Antrag auf Genehmigung einer genehmigungsbedürftigen Anlage stellt (oder wer als Immissionsbetroffener sich gegen eine Genehmigungsentscheidung wehren will), kann allein aufgrund des abstrakten 73 Trifft die Voraussetzung nicht zu, handelt es sich um gesetzwidrige Bewirtschaftung oberhalb der Zumutbarkeits-/Gefahrenschwelle. 74 Salzwedel, o. Fn. 64, S. 46, 49. 75 Vgl. zu diesem Thema Salzwedel, o. Fn. 64, S. 33 ff. ™ Vgl. z.B. Salzwedel, o. Fn. 64, S. 37f., 75; Sendler, UPR 1983, 38f.
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gesetzlichen Sicherheitsstandards nicht erkennen, welche Konzentration bestimmter Schadstoffe in der Luft oder i m Staubniederschlag von der zur letztverbindlichen Entscheidung berufenen Instanz zugelassen wird. Zu ungewiß ist der Weg von den unbestimmten Rechtsbegriffen der §§ 6 Nr. 1, 5 Nr. 1 BImSchG zu den in Milligramm oder Mikrogramm pro Kubikmeter ausgedrückten Grenzwerten, die den abstrakten gesetzlichen Standard konkretisieren. 77 Dieser Weg führt nicht nur über die komplexen Erkenntnisprobleme der Wirkungsforschimg, die nur annähernd zuverlässige Aussagen machen kann und deren Erkenntnislücken mit „Sicherheitszuschlägen" kompensiert werden müssen. Er führt auch über eine Wertentscheidung, für die sich rationale Gründe letztlich nicht angeben lassen: Warum z.B. die Konzentration von Cadmium und anorganischen Cadmiumverbindungen als Bestandteilen des Schwebstaubs nicht größer sein darf als 0,04 μg/m 3 und warum der Immissionswert nicht 0,03 μg lautet oder 0,045 μg, ist „sachverständig" nicht begründbar. 78 Die Realisierungschancen eines Industrieprojekts (oder die Erfolgsaussichten einer dagegen gerichteten Klage) sind also nur kalkulierbar, sofern der abstrakte gesetzliche Sicherheitsstandard allgemeinverbindlich durch Immissionswerte konkretisiert wird, welche die Komplexität seiner Erkenntnis- und Wertungsprobleme auf meßbare Größen reduzieren. 79 Eine solche Komplexitätsreduktion enthalten die Immissionswerte der TA Luft. Sie machen den Ausgang eines Verwaltungsrechtsstreits aber nur insoweit berechenbar, als sie auch für die Gerichte verbindlich sind. Die traditionelle Auslegung der §§6 Nr. 1, 5 Nr. 1 BImSchG tut sich nun außerordentlich schwer, den Immissionswerten irgendeine externe Verbindlichkeit zuzusprechen. Als allgemeine Verwaltungsvorschrift hat die TA Luft keine unmittelbare Außenwirkung, sondern bindet nur die Verwaltung. 80 Mittelbare Außenwirkung können Verwaltungsvorschriften zwar dadurch entfalten, daß sie das Ermessen der Behörde über den Gleichheitssatz des Art. 3 I GG binden. Aber dies setzt voraus, daß die Behörde überhaupt einen Ermessensspielraum hat. Da die traditionelle Auslegung die Genehmigungsentscheidung als strikt gebundenen Verwaltungsakt versteht, können die Immissionswerte aus ihrer Sicht nur norminterpretierende Funktion haben. 81 Anders als die Ermessensausübung ist aber die Norminterpretation gerichtlich voll überprüfbar. Norminterpretierende Verwaltungsvorschriften machen zwar - da sie die Genehmigungsbehörde binden - die Genehmigungsentscheidung kalkulierbar, nicht jedoch die Gerichtsentscheidung. 77
Dazu vgl. Feldhaus, UPR 1982, 144f. m.w.N. Vgl. Feldhaus, UPR 1982, 144f.; vgl. auch Marburger, Jb. 1981, S. 46; a.A. Czajka, ET 1981, 542. 79 Vgl. Feldhaus, UPR 1982, 138ff. so Vgl. BVerwG, 17.2.78, DVBl. 1978, 591 (593). 81 Vgl. Breuer, DVBl. 1978, 30 m.w.N. 78
in: Bitburger Gespräche,
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Die hieraus resultierende, vielfach beklagte, Rechtsunsicherheit 82 versucht die Rechtsprechung dadurch zu überwinden, daß sie die Immissionswerte der TA Luft als „antizipierte Sachverständigengutachten" qualifiziert 8 3 und ihnen auf diese Weise eine gewisse Verbindlichkeit verschafft. Nach dieser Konzeption 84 sind die Immissions wert e der TA Luft „wegen der gesetzlich vorgeschriebenen Art und Weise ihrer Ermittlung für die Beantwortung der Frage, ob Immissionen geeignet sind, Gefahren, erhebliche Nachteile oder erhebliche Belästigungen für die Allgemeinheit oder die Nachbarschaft herbeizuführen, eine geeignete, wenn nicht optimale Erkenntnisquelle ..., weil sie auf den zentral - durch die Bundesregierung ermittelten Erkenntnissen und Erfahrungen von Fachleuten verschiedener Fachgebiete beruhen". 85 In der Tat gewährleistet das zentralisierte Verfahren der §§ 48 Nr. 1, 51 BImSchG, daß der Stand der Wirkungsforschung in so umfassender und gründlicher Weise ermittelt wird, wie dies in einem konkreten Genehmigungsverfahren oder einem verwaltungsgerichtlichen Prozeß nicht möglich ist. 8 6 Das auf diese Weise erhobene Expertenwissen geht i n die Immissionswerte ein. Deshalb nimmt die Konzeption des „antizipierten Sachverständigengutachtens" an, daß die Immissionswerte „die bei ihrem Erlaß vorhandenen Erkenntnisse über die Eignung bestimmter Schadstoffe zur Herbeiführung der in § 3 Abs. 1 BImSchG umschriebenen schädlichen Umwelteinwirkungen" wiedergeben und daß sie „weltweit gewonnene Erfahrungen und wissenschaftliche Erkenntnisse über die Eignung bestimmter Schadstoffe zur Herbeiführung der in § 3 Abs. 1 BImSchG genannten Beeinträchtigungen repräsentieren". 87 Deshalb könnten die Gerichte ohne Hinzuziehung von Sachverständigen davon ausgehen, daß die Immissionswerte die Grenze zwischen schädlichen und unschädlichen Umwelteinwirkungen richtig festlegen. 88 Nur wenn sich aus neueren, besser fundierten, gesicherten Erkennt82
Vgl. z.B. Breuer, DVB1. 1978, 31; Marburger, in: Technische Risiken und Recht, S. 32; Begründung des (gescheiterten) Regierungsentwurfs eines Zweiten Ges. zur Änderung des BImSchG v. 11.4.79, BT-Drs. 8/2751, S. 6. 83 Vgl. BVerwG, 17.2.78, DVB1. 1978, 591 (593f.); OVG Münster, 12.4.78, NJW 1979, 772 (773); OVG Lüneburg, 8.9.80, GewArch. 1981, 341 (342); VG München, 26.3.81, BayVBl. 1981, 729 (730); VG Düsseldorf, 30.6.81, DVB1. 1982, 37 (38); zustimmend Breuer, DVB1. 1978, 599; ders., NJW 1979,1867; Battis, DVB1.1978, 584; v. Lersner, Verwaltungsrechtliche Instrumente, S. 14; Jarass, DVB1. 1983, 731. 84 Sie wurde in der Literatur entwickelt vor allem von Breuer, AöR 101 (1976), 82ff.; ders., DVB1. 1978, 34ff. - Begriffsprägend Trabandt, Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 12.2.1960. Vgl. auch Karl-Wilhelm Schäfer, Das Recht der Regeln der Technik. Diss. Köln 1965, S. 121; Klingmüller, in: Festschr. f. Ofterdinger, 1969, S. 126. Der Sache nach ähnlich z.B. Sellner, Immissionsschutzrecht, Rn. 47 m.w.N.; Kutscheidt, in: Landmann / Rohmer III, § 3 Rn. 18 m.w.N. 85 BVerwG, o. Fn. 83, S. 593. 86 BVerwG, ebd.; Vallendar, GewArch. 1981, 283. 87 BVerwG, o. Fn. 83, S. 594. 88 Vgl. Czajka, DÖV 1982, 106; Vieweg, NJW 1982, 2475.
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nissen ergebe, daß die Grenze bei einem anderen Immissionswert liege, könnten die Gerichte von den Immissionswerten der TA Luft abweichen. 89 Die auf diese Weise begründete „Beachtlichkeit" 9 0 der Immissionswerte ist freilich prekär: Erstens muß sie sich durch Gegengutachten in Frage stellen lassen. Insbesondere kann problematisch sein, ob die Immissionswerte dem neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisstand noch entsprechen oder ob ein atypischer Sachverhalt vorliegt, der bei der Festlegung der Immissionswerte nicht berücksichtigt werden konnte. 91 Ein Beweisantrag, der davon ausgeht, daß neuere wissenschaftliche Erkenntnisse den Immissionswert als überholt erscheinen lassen, kann nicht von vornherein als unzulässig abgelehnt werden. 92 Die Entlastungswirkung für die gerichtliche Prüfung immissionsschutzrechtlicher Genehmigungen ist also nur begrenzt. Zweitens steht das durch die Qualifizierung der Immissionswerte als „antizipierte Sachverständigengutachten" gewonnene Stückchen Rechtssicherheit auch dogmatisch auf wackligen Füßen. Die Immissionswerte der TA L u f t 9 3 sind nämlich keineswegs nur Ergebnisse eines - wissenschaftlichen Erkenntnisakts. Der wissenschaftliche Sachverstand kann nur die Größe des Risikos, Art und Weise der Wirkungen von Schadstoffen, Wahrscheinlichkeit und Ausmaß schädlicher Wirkungen ermitteln. Wenn die Immissionswerte aber die Grenze zwischen schädlicher und unschädlicher Umwelteinwirkung festlegen und damit den unbestimmten Rechtsbegriff des § 5 Nr. 1 BImSchG konkretisieren 94 , dann enthalten sie auch ein normatives Element: Während der naturwissenschaftliche Sachverstand die Größe des Risikos ermittelt, wird mit den Immissionswerten festgelegt, wie groß das rechtlich akzeptable Risiko sein darf und welches Risiko vermieden werden muß. Hierfür können die Sachverständigen nur Vorschläge machen. Ihr Sachverstand legitimiert sie jedoch nicht, den Grenzwert zu bestimmen. Die zu treffende Entscheidung ist eine Wertentscheidung, und zwar auch dann, wenn man sie mit der herkömmlichen Meinimg als lediglich normkonkretisierende Entscheidung versteht. Sofern der Immissionswert die Funktion hat, die Gefahrenschwelle zu konkretisieren beziehungsweise den Punkt anzugeben, bei dessen Unterschreitung eine Gefahr ausgeschlossen ist, setzt die Entscheidung über den Immissionswert eine Bewertung des potentiellen Schadens voraus und hat in Relation hierzu den „hinreichen89
Vgl. BVerwG, o. Fn. 83, S. 594. Kutscheidt, in: Landmann / Rohmer I I I / § 3 Rdnr. 18. 91 Vgl. Breuer, DVBl. 1978, 599; ders., DVBl. 1978, 35f.; Vallendar, GewArch. 1981, 285f.; Czajka, ET 1981, 541. 92 Czajka, DÖV 1982, 106. 93 Und erst recht diejenigen der TA Lärm, vgl. Czajka, DÖV 1982, 105; Papier, in: Bitburger Gespräche, Jb. 1981, 91. 94 Vgl. BVerwG, o. Fn. 83; Feldhaus, UPR 1982, 138. Umstritten ist vor allem, ob sie diese Konkretisierungsfunktion in jedem Fall zutreffend erfüllen und mit welcher Verbindlichkeit, vgl. Hansmann, in: Landmann / Rohmer III, § 48 Rdnr. 28ff. m.w.N. 90
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den" Wahrscheinlichkeitsgrad zu bestimmen. 95 Sofern der Immissionswert angeben soll, wo die Unzumutbarkeit einer Beeinträchtigung beginnt, kommt der Wertungscharakter der Grenzziehung schon im Grenzbegriff klar zum Ausdruck. 96 Geht man davon aus, daß die Immissionswerte im Sinne der „einfachgesetzlichen Unzumutbarkeit" das akzeptable Risiko unterhalb der Gefahren- oder Unzumutbarkeitsschwelle festzulegen haben, wie die Rechtsprechimg zum Belästigungsschutz 97 meint und in der Literatur auch für den Gesundheitsschutz vertreten w i r d 9 8 , dann ist wegen der noch geringeren Determinierung der Entscheidung durch die Gesetzesbegriffe das wertend-dezisionistische Element der Immissionswertfestlegung noch wesentlich größer. 99 Wegen dieses dezisionistischen Elements ist die Deutung der Immissionswerte als „Sachverständigengutachten" unhaltbar. 1 0 0 Man darf vermuten, daß die Gerichte diese „Notlösung" 1 0 1 fallen lassen werden, sobald sie eine dogmatisch überzeugendere Konzeption finden, dasselbe Ergebnis zu erreichen 1 0 2 , nämlich die begrenzte Verbindlichkeit der Immissionswerte für die Rechtsprechung. Eine Möglichkeit 1 0 3 , die Immissionswerte in begrenztem Umfang auch für die Gerichte verbindlich zu machen und so die Voraussehbarkeit der gerichtlichen Entscheidungen zu erhöhen, bietet die hier vorgeschlagene Interpretation der §§ 6 Nr. 1, 5 Nr. 1 BImSchG: Diese geht zwar von der 95
Zum Wertungscharakter der Konkretisierung des Gefahrenbegriffs s.o. § 9 B.; vgl. auch Marburger, in: Bitburger Gespräche, Jb. 1981, S. 46; Sendler, UPR 1981,12. 96 Vgl. Papier, o. Fn. 93; Mettenheim, BB 1980, 17791; Czajka, DÖV 1982, 105. 97 s.o. II. m. Anm. 14 und Β. II. 4. a) m. Nachw. 98 Vgl. Salzwedel, o. Fn. 64, S. 44, 78. 99 s.o. II. nach Fn. 14. Den Volitivcharakter der Immissionswertfestlegungen betonen Papier, o. Fn. 93; Sendler, UPR 1981,13; Vallendar, GewArch. 1981, 283; Salzwedel, o. Fn. 64, S. 45; Feldhaus, UPR 1982, 144ff.; Nicklisch, NJW 1983, 842. 100 So auch Papier, o. Fn. 93, S. 91 f.; Mettenheim, o. Fn. 96; Salzwedel, o. Fn. 64, S. 45; kritisch auch Marburger, in: Technische Risiken und Recht, S. 32; Feldhaus, UPR 1982, 144; Sendler, UPR 1981, 13; Nicklisch, NJW 1983, 842. - Ob auch andere Gründe gegen die Qualifizierung der Immissionswerte oder technischer Regelwerke als „Sachverständigengutachten" sprechen, kann hier offen bleiben, vgl. dazu z.B. Backherms, JuS 1980,13f.; Rittstieg, Die Konkretisierung, S. 206ff.; ders., NJW 1983, 1098 ff. - Wegen des wertend-dezisionistischen Elements der Immissionswertbestimmung läßt sich das mit dem Stichwort „antizipiertes Sachverständigengutachten" bezeichnete Konzept auch dann nicht retten, wenn man das Etikett auswechselt und statt von „Sachverständigengutachten" von „qualifizierten Erfahrungssätzen" spricht, wie Rittstieg, Die Konkretisierung, S. 210ff.; NJW 1983, 1100, dies vorschlägt. (Zur Einstufung technischer Regeln als qualifizierter Erfahrungssätze i. S. d. prozessualen Lehre vgl. auch Breuer, DVB1. 1978, 35). 101 Breuer, W D S t R L 38 (1980), 358; vgl. ders., DVB1. 1978, 599. 102 Der Präsident des BVerwG, Sendler, hat Andeutungen in dieser Richtimg gemacht, UPR 1981, 13f. 103 Unter anderen in der Lit. vertretenen Möglichkeiten, die meist auf die Einräumung eines „Beurteilungsspielraums" hinauslaufen, vgl. die Nachw. o. Fn. 20, 22.
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Rechtsprechungsansicht aus, daß die Anwendung der unbestimmten Rechtsbegriffe, die die immissionsschutzrechtlichen Genehmigungs- und Versagungsvoraussetzungen normieren, uneingeschränkter gerichtlicher Kontrolle unterliegt. Aber sie zeigt, daß die - divergenten - Genehmigungsund Versagungstatbestände auf der Rechtsfolgeseite der Genehmigungsbehörde Ermessen einräumen. Die Entscheidung über die zulässige Immissionsbelastung dient hiernach nicht der Konkretisierung der Unzumutbarkeits- beziehungsweise der Gefahrenschwelle, sondern der Luftbewirtschaftung zwischen der Unzumutbarkeits- oder Gefahrenschwelle einerseits und der Bagatellschwelle andererseits. Wenn die Regierung in Ausübimg ihres Bewirtschaftungsermessens die Grenze der zulässigen Immissionsbelastung zwischen diesen Polen festlegt, ist die genaue Bestimmung dieser Grenze keine Frage von „richtig" oder „falsch", „rechtmäßig" oder „rechtswidrig", sondern eine Frage zweckmäßiger Ressourcenbewirtschaftung. Gerichtlich überprüfbar ist nicht die exakte Immissionswertfestlegung. Die Kontrolle beschränkt sich auf Ermessensfehler beziehungsweise Verstöße gegen das planerische Abwägungsgebot. Zwar können die Gerichte in vollem Umfang prüfen, ob die zulässige Immissionsbelastung Gefahren verursacht beziehungsweise die Schwelle der Unzumutbarkeit überschreitet. Die insoweit bestehenden Konkretisierungsprobleme und die damit verbundene Rechtsunsicherheit werden durch die vorgeschlagene Konzeption nicht ausgeräumt. 104 Aber wenn die Immissionswerte genügend weit unterhalb der Gefahrenschwelle festgelegt werden 1 0 5 , verliert der Streit um die richtige Konkretisierung des Gefahrenbegriffs seine praktische Relevanz für das gerichtliche Verfahren: Um die Wertentscheidungen, die zur Konkretisierung der Gefahrenschwelle nach Auswertung der naturwissenschaftlichen Erkenntnisse zu treffen sind, kann nur innerhalb einer gewissen „Bandbreite" ernsthaft gestritten werden. Befindet sich ein Immissionswert eindeutig „auf der sicheren Seite" 1 0 6 , so wird er von diesem Streit nicht tangiert. Auf diese Weise erhält er eine Gerichtsfestigkeu, die über die vom Konzept des „antizipierten Sachverständigengutachtens" vermittelte weit hinausreichen dürfte. Da die Genehmigungsentscheidung nach der hier vertretenen Konzeption eine Ermessensentscheidung ist, erhalten die Immissionswerte der TA Luft 104 Durch die Aufspaltung von Vermeidungspflicht und Duldungspflicht in § 5 Nr. 1 werden die unbestimmten Begriffe zwar als Grenzbegriffe ausgewiesen und dadurch schärfer konturiert. Wann aber eine „Gefahr", eine „unzumutbare Beeinträchtigung" oder eine „Bagatellbeeinträchtigung" vorliegt, bleibt - insbesondere wegen der oft schwer abzuschätzenden Immissionsfolgen - schwierig genug zu bestimmen. 105
Dies fordert Ossenbühl, VR 1979, 3. Dies wird für die dem Schutz der menschlichen Gesundheit dienenden Immissionswerte der TA Luft behauptet, vgl. Bundesregierung, BT-Drs. 8/2751, S. 6, 7; Feldhaus, UPR 1982, 144; Salzwedel, o. Fn. 64, S. 44f.; Junker / Kabelitz / de La Riva / Schwarz, Nr. 2.2.1.1 Rdnr. 9; zweifelnd Soell, ZRP 1980, 108. 106
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§21 Gefahr, Gefahrenverdacht, Gefährlichkeitsverdacht
ermessensbindende F u n k t i o n . 1 0 7 Z w i s c h e n § 48 u n d §§ 6 N r . 1, 5 N r . 1 B I m S c h G i n der t r a d i t i o n e l l e n Auslegung bestand eine Diskrepanz, die m a n n u r m i t B e h e l f s k o n s t r u k t i o n e n w i e dem „ a n t i z i p i e r t e n Sachverständigeng u t a c h t e n " teilweise ü b e r w i n d e n k o n n t e : einerseits die Aufgabe, I m m i s sionswerte d u r c h allgemeine V e r w a l t u n g s v o r s c h r i f t e n festzulegen - andererseits die s t r i k t gebundene, g e r i c h t l i c h v o l l ü b e r p r ü f b a r e Genehmigungsentscheidung, die den Immissionswerten ihre V e r b i n d l i c h k e i t n i m m t . 1 0 8 D i e hier vorgeschlagene K o n z e p t i o n e r m ö g l i c h t es, diese D i s k r e p a n z aufzulösen. Sie weist den gemäß § 48 N r . 1 B I m S c h G festzulegenden Immissions w e r t e n eine gestaltende, n i c h t l e d i g l i c h
normkonkretisierend-nachvollziehende
F u n k t i o n z u u n d sichert den Technischen A n l e i t u n g e n , soweit sie I m m i s sionswerte festlegen, als ermessensbindenden V e r w a l t u n g s v o r s c h r i f t e n die V e r b i n d l i c h k e i t , die der i h n e n v o n § 48 zugewiesenen Aufgabe entspricht.
§ 21 Gefahr, Gefahrenverdacht, Gefährlichkeitsverdacht A. Das Problem: Gefahrenprognose ohne empirisch „gesicherte" Grundlage? E i n e Anlage, so haben w i r gesehen, d a r f n a c h § § 6 N r . 1, 5 N r . 1 B I m S c h G jedenfalls d a n n n i c h t genehmigt werden, w e n n n i c h t sichergestellt ist, daß der Betrieb dieser A n l a g e keine Gefahren verursacht u n d n i c h t z u I m m i s s i o nen beiträgt, die die geschützten Rechtsgüter gefährden. E i n e Gefahr ist b e k a n n t l i c h eine Lage, die b e i u n g e h i n d e r t e m A b l a u f z w a r n i c h t
„mit
107 Da die Behörde hinsichtlich Art und Umfang der Sachverhaltsermittlung einen gewissen Ermessensspielraum hat - vgl. BVerwG, 22.6.59, E 9, 9 (13); VwVfG § 24 I 2, dazu Kopp, VwVfG § 24 Anm. 2 - , kommt der TA Luft auch insoweit ermessensbindende Funktion zu, als sie das Verfahren der Sachverhaltsermittlung, konkret: das Verfahren zur Ermittlung der Immissions-Kenngrößen, insbesondere das Meßverfahren regelt (Nr. 2.6), vgl. Kutscheidt, in: Landmann / Rohmer III, § 3 Rdnr. 18; Vallendar, GewArch. 1981, 284; Feldhaus, UPR 1982, 145. Je exakter die Immissionsbelastung ermittelt werden soll, desto größer muß der Meßaufwand sein. Die Behörde darf mit Rücksicht auf die Kosten unter Berücksichtigimg des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes den Meßaufwand beschränken, vgl. TA Luft Nr. 2.2.1.3 Abs. 2 a); Stelkens / Bonk / Leonhardt, VwVfG § 24 Rdnr. 9. Absolute Genauigkeit läßt sich ohnehin nicht erreichen. Die verbleibenden Unsicherheitsfaktoren müssen durch „Sicherheitszuschläge" kompensiert werden, die in die Immissionswerte eingearbeitet (so die TA Luft gem. Nr. 2.5) oder (was sachlich sinnvoller wäre, vgl. Junker / Kabelitz / de LaRiva / Schwarz, 2.5 Rdnr. 3) im Verfahren der Immissionskenngrößenbestimmung berücksichtigt werden müßten. Entgegen Vallendar, GewArch. 1981, 285, folgt aus diesem Umstand aber nicht, daß auch für die Festlegung der Immissionswerte Ermessen besteht. Die Größe des in die Immissionswerte einzuarbeitenden Sicherheitsfaktors steht nicht im Ermessen der Verwaltung, sondern ergibt sich als notwendige Konsequenz aus der Größe der Meßunsicherheit, die das von der Behörde gewählte Verfahren offen läßt. Denn im Ergebnis muß die Entscheidungsgrundlage mit hinreichender Sicherheit feststehen, welches Verfahren auch immer zu ihrer Ermittlung gewählt wird. Ob der die Meßungenauigkeit ausgleichende Sicherheitsfaktor richtig festgesetzt ist, ist also gerichtlich voll nachprüfbar. Das spielt nur insoweit praktisch keine Rolle, als hinsichtlich der Immissionswertbestimmung aus anderen Gründen Ermessen besteht. 108 Vgl. Breuer, DVB1. 1978, 28ff.
Α. Gefahrenprognose ohne empirisch „gesicherte" Grundlage?
379
Sicherheit", aber doch mit „hinreichender Wahrscheinlichkeit" zu einem Schaden führen würde. 1 Ob eine Gefahr vorliegt oder nicht, läßt sich nur aufgrund einer Prognose über den zu erwartenden Geschehensablauf feststellen. 2 Diese Prognose kann im allgemeinen Gefahrenabwehrrecht normalerweise aufgrund der allgemeinen Lebenserfahrung 3 getroffen werden. Im technischen Sicherheitsrecht und im Immissionsschutzrecht sind die Kausalzusammenhänge aber oft so kompliziert, daß die Prognose nur von Experten aufgrund ihres besonderen Sachverstandes getroffen werden kann. 4 Die Prognose stützt sich hier vor allem auf spezielles technisches Erfahrungswissen oder auf wissenschaftliche Erkenntnisse. Die Erfahrungssätze, aus denen sich prognostische Aussagen ableiten lassen, müssen oft erst durch wissenschaftliche Forschung gewonnen werden, vor allem dann, wenn es um die Wirkimg von neuen chemischen Stoffen geht, denen der Mensch (oder andere Schutzgüter) bisher noch nicht ausgesetzt waren oder deren - potentielle - Wirkungen man noch nicht kennt, weil sie sich der Erkenntnis durch unmittelbare Erfahrung entziehen. Dies ist insbesondere bei Schadstoffen der Fall, die nicht zu akuten somatischen Schäden führen, die aber kanzerogen oder mutagen wirken: Wenn ein Krebsgeschwür nach zwanzig Jahren entsteht oder wenn in der nächsten oder übernächsten Generation genetische Schäden auftreten, läßt sich die Ursache hierfür im individuellen Fall meist nicht mehr aufklären. Die Wirkungsforschung versucht nun, eine verläßliche Basis für die Risikobeurteilung zu gewinnen, indem sie die generelle Eignung bestimmter Stoffe zur Herbeiführung bestimmter Schäden erforscht. Sie stößt dabei gerade im Hinblick auf Immissionsfolgen auf Grenzen, die in den zur Verfügung stehenden Erkenntnismethoden schon vorgegeben sind. In vielen Fällen kann sie eindeutige Aussagen darüber, ob ein bestimmter Stoff geeignet ist, Gesundheitsschäden herbeizuführen, nicht machen, und in den meisten Fällen ist es unmöglich, eine genaue Grenze für die Dosis des Stoffes, für die Immissionskonzentration anzugeben, bei der eine gesundheitsschädigende Wirkung zu erwarten ist. 5 Die Genehmigungsbehörde muß daher häufig über die Zulässigkeit von Immissionen entscheiden, von denen man nur mit einer mehr oder weniger großen Wahrscheinlichkeit, keineswegs aber mit Gewißheit sagen kann, ob sie überhaupt geeignet sind, schädliche Wirkungen herbeizuführen. Zwar ist völlig unstreitig, daß eine Gefahr auch dann 1
s.o. § 4B. Vgl. Kirchhof, DVBl. 1976, 451; Ossenbühl, DVBl. 1976, 466; O. Schneider, DVBl. 1980, 406f. 3 Vgl. Drews / Wacke / Martens II, S. 109; Wolff/ Bachoflll, § 125 Rdnr. 19. 4 Vgl. Drews / Wacke / Martens II, S. 110; Martens, DÖV 1976, 463 m.w.N. 5 Vgl. Medizinische, biologische und ökologische Grundlagen, S. 101 ff., insb. die Statements von Prinz,, S. 104f.; Henschler, S. 107; Pflanz, S. 109; Pott, S. U l f . ; Vetter, S. 114. 2
380
§ 21 Gefahr, Gefahrenverdacht, Gefährlichkeitsverdacht
vorliegen kann, wenn der Eintritt des Schadens im konkreten Fall ungewiß ist. Fraglich ist hingegen, ob nicht über die Prognosebasis Gewißheit bestehen, ob also der Erfahrungssatz, auf den sich die Prognose stützt, empirisch gesichert sein muß. Praktisch bedeutsam ist diese Frage vor allem in folgenden Konstellationen: 1. Aus experimentell gewonnenen empirischen Erkenntnissen werden Folgerungen in bezug auf Sachverhalte abgeleitet, die mit den Bedingungen des Experiments nicht übereinstimmen. Wichtigstes Beispiel ist die Übertragung von im Tierversuch gewonnenen Erkenntnissen auf den Menschen. Ein Stoff, der bei der Ratte kanzerogen wirkt oder Erbschäden verursacht, muß nicht notwendig auch die menschliche Gesundheit beeinträchtigen. Allerdings gibt es wiederum wissenschaftliches Erfahrungswissen darüber, i n welcher Weise und mit welcher Zuverlässigkeit generell an bestimmten Tieren gewonnene Erkenntnisse Schlußfolgerungen hinsichtlich der Auswirkungen auf die menschliche Gesundheit zulassen. 2. Die schädlichen Wirkungen eines Stoffes bei hoher Immissionskonzentration sind empirisch nachgewiesen. Die Epidemiologie hat den Nachweis mit Hilfe statistischer Methoden geführt durch Vergleich von Kollektiven, die dem zu beurteilenden Stoff exponiert waren, mit nicht exponierten Kollektiven. Für niedrige Konzentrationen desselben Stoffes läßt sich der statistische Nachweis nicht führen, weil keine statistisch signifikante Erhöhung der Schädigungsrate mehr auftritt. Dies schließt aber nicht aus, daß auch bei niedrigen Dosen Schäden auftreten, die statistisch in der „Schwankungsbreite" der durch andere Ursachen bewirkten Schadensfälle verborgen bleiben. Hier liegt es nahe, aus den für hohe Dosen gewonnenen Erkenntnisse Folgerungen zu ziehen für die Wirkung des Stoffes bei niedriger Konzentration unterhalb der statistischen Nachweisbarkeit. Solche Extrapolationen sind nur aufgrund hypothetischer Annahmen über den Verlauf der Dosis-Wirkung-Beziehung möglich. 6 In beiden Konstellationen ist der empirische Nachweis dafür nicht erbracht, daß der Stoff in der zu beurteilenden Konzentration geeignet ist, Gesundheitsschäden herbeizuführen. Die aus den empirischen Erkenntnis6 Beim statistischen Nachweis von Schäden bedeutet intensivere Wirkung höhere statistische Schadenswahrscheinlichkeit. Die Wirkung nimmt mit zunehmender Dosis / Immissionskonzentration in der Regel linear zu. Empirisch nachweisen läßt sich die Art der Dosis-Wirkung-Beziehung aber nur im Bereich hoher Dosen, die statistisch signifikante Wirkungen hervorrufen. Zur Abschätzung des Risikos kleinerer Dosen muß man eine Dosis-Wirkung-Beziehung hypothetisch postulieren. Beispiel: Die schädlichen Wirkungen, die eventuell von den radioaktiven Immissionen der Kernkraftwerke hervorgerufen werden, liegen wegen der geringen Dosisgaben unterhalb der Grenze statistischer Nachweisbarkeit. Der Risikoabschätzimg legt man drei Hypothesen zugrunde: daß auch beliebig kleine Strahlendosen proportional wirksam seien, daß die Beziehung zwischen Dosis und Wirkung linear verlaufe und daß die zeitliche Verteilung der Dosisgabe die Wirkung nicht beeinflusse. Vgl. dazu Hanning / Schmieder, DB 1977, Beil. 14, S. 5.
Α. Gefahrenprognose ohne empirisch „gesicherte" Grundlage?
381
sen gezogenen Schlußfolgerungen sind kein empirischer Beweis. Die Hypothesen, auf die diese Folgerungen sich stützen, können aber einen hohen Grad von Plausibilität besitzen, vor allem dann, wenn sie ihrerseits auf in anderen Bereichen gewonnene Erfahrungen gegründet sind. Deshalb können derartige Folgerungen und Extrapolationen unter Umständen eine Schädlichkeitsvermutung mit einem hohen Grad von Zuverlässigkeit begründen. In der juristischen Literatur ist die Ansicht verbreitet, daß in solchen Fällen nur ein „Gefahrenverdacht" gegeben sein könne, nicht aber eine Gefahr. 7 Wenn nicht mit Sicherheit feststehe, daß der zu beurteilende Stoff - in der fraglichen Konzentration - überhaupt geeignet ist, Schäden herbeizuführen, dann könne keine Gefahr vorliegen. Der Begriff der Gefahr setze voraus, daß zwar nicht der Schadenseintritt im konkreten Fall, jedoch die Möglichkeit der Schädigimg durch die fragliche Gefahrenquelle als solche mit Gewißheit erwiesen sei.8 Solange es für die der Prognose zugrundeliegenden Ursache-Wirkung-Beziehungen an einem empirischen Nachweis fehle, könne die vermutete Schädlichkeit des emittierten Stoffes nicht die Versagung der Anlagengenehmigung rechtfertigen. 9 Nach der hier vertretenen Interpretation trifft die letztgenannte Folgerung hinsichtlich des Wirkungsstandards schon deshalb nicht zu, weil auch unterhalb der Gefahrenschwelle kein Anspruch auf Genehmigung besteht. 10 Eine Auseinandersetzung mit der Auffassung, daß eine Gefahr nur dann vorliegen könne, wenn die abstrakte Möglichkeit des Schadenseintritts erwiesen sei, ist aber nicht überflüssig, denn die Konkretisierung des Gefahrenbegriffs entscheidet ja über die Grenze des Ermessens der Genehmigungsbehörde. Die Rechtsprechung ist in dieser Frage uneinheitlich: Während sie im Immissionsschutzrecht die Vermeidungspflicht des § 5 Nr. 1 BImSchG meist nicht von der Voraussetzung abhängig macht, daß die Möglichkeit des schädigenden Kausalverlaufs nachweisbar ist 1 1 , folgen einige Entscheidungen zum Strahlenschutzrecht der referierten Literaturmeinung: Ein „Gefahrenverdacht" sei keine „Gefahr" 1 2 . Dies ist im folgenden zu überprüfen. 7 Vgl. Götz, Polizeirecht, S. 60f.; ders., in: 4. Deutsches Atomrechts-Symposium, 1976, S. 182, 276; Plischka, S.120f.; Hanning / Schmieder, DB 1977, Beil. 14, S. 5; Papier, DVB1. 1979, 162; Schattke, DVB1. 1979, 657; Bender, NJW 1979, 1426; ders., DÖV 1980, 634; Rauschning, W D S t R L 38 (1980), 193; Lukes / Richter, NJW 1981, 1408; Martens, DVB1. 1981, 600; Börner, VEnergR 50, S. 153f. 8 Besonders nachdrücklich Hanning / Schmieder, o. Fn. 7. 9 Martens, DVB1. 1981, 600. 10 Sofern das Risiko nicht unterhalb der Bagatellschwelle liegt, s.o. § 20 D. 11 Vgl. z.B. BVerwG, 17.2.78, DVB1. 1978, 591 (593f.); OVG Münster, 7.7.76, NJW 1976, 2360 (2363f.); anders OVG Lüneburg, 3.10.79, GewArch. 1980, 203 (205). !2 Vgl. BVerwG, 22.12.80, NJW 1981, 1393 (1395); VG Oldenburg, 15.9.78 I A 466/72, S. 43; anders VGH Mannheim, 30.3.82, ESVGH 32,161 (192f.); auch OVG Lüneburg, 22.11.76, DVB1. 1977, 340 (342, 344); 22.12.78, DVB1. 1979, 686 (690).
382
§ 21 Gefahr, Gefahren verdacht, Gefährlichkeits verdacht B. Gefahr und Erkenntnis
Gefahrenabwehr dient der Schadensabwendung, und Schäden lassen sich nur dann mit ausreichender Sicherheit verhüten, wenn man auch schon solche Geschehensabläufe unterbindet, die nicht mit Gewißheit, sondern nur wahrscheinlich einen Schaden herbeiführen würden. Der Sicherheitsstandard der Gefahrenabwehr ist ein Kompromiß zwischen Schutz und Freiheit: Er schränkt die Handlungsfreiheit auch dann ein, wenn die unterbundene Handlung unter Umständen nicht zu einem Schaden führen würde, verhütet andererseits aber keineswegs jeden Schaden. 13 Die Kompromißlinie wird mit der „hinreichenden Wahrscheinlichkeit" des Schadenseintritts bezeichnet, die - nur so bleiben die Gewichte gleich verteilt - in Relation zum Umfang des potentiellen Schadensausmaßes konkretisiert wird. 1 4 Die „Wahrscheinlichkeit" des Schadenseintritts ist kein Element der „objektiven", unabhängig vom Menschen gedachten Realität. Sie ist vielmehr eine Funktion der Grenzen unseres Erkenntnisvermögens: Wenn w i r alle Umstände kennten, die den Geschehensablauf beeinflussen, könnten w i r das Ergebnis des Ablaufs mit Gewißheit voraussagen. Die unvermeidliche Ungewißheit unserer Prognosen ist eine Folge unseres Erkenntnisdefizits. 15 „Risiko" und „Gefahr" lassen sich demnach nicht als Phänomene einer isolierten „objektiven Realität" beschreiben; beide Begriffe enthalten ein „subjektives" Element, nämlich das Element der „Wahrscheinlichkeit". 1 6 „Wahrscheinlichkeit" ist eine Funktion der Ungewißheit, und Ungewißheit gibt es nicht außerhalb des erkennenden Subjekts. „Risiko" und „Gefahr" existieren also nicht unabhängig vom Erkenntnissubjekt und von den tatsächlichen Bedingungen seines Erkennens. Wie groß die „Wahrscheinlichkeit" des Eintritts eines Schadens ist, hängt vom Stand der Kenntnisse ab, die hinsichtlich der das Geschehen beeinflussenden Faktoren bestehen. Sie läßt sich nur auf der Basis dieser Kenntnisse berechnen beziehungsweise abschätzen. Je nachdem, auf welchem Kenntnisstand die Prognose beruht, w i r d die Wahrscheinlichkeit größer oder kleiner erscheinen. Erkenntnisdefizite, die die Prognose unsicher machen, kann es in mehrerer Hinsicht geben: a) Nicht alle i m Zeitpunkt der Risikoabschätzung gegebenen tatsächlichen Umstände, die Einfluß auf den Geschehensablauf haben, sind bekannt. Ungewißheit besteht über tatsächliche Elemente der „Gefahrenlage". 13
s.o. §7 Α. I. s.o. § 9. 15 O. Schneider, DVBl. 1980, 407f.; Neil, Wahrscheinlichkeitsurteile in juristischen Entscheidungen, S. 32ff., 82ff. m.w.N. 16 O. Schneider, o. Fn. 15; Neil, o. Fn. 15. 14
Β. Gefahr und Erkenntnis
383
Läßt sich die Gefahrenlage nicht vollständig aufklären, muß aufgrund der bekannten Tatsachen der nur unvollständig erkennbare Sachverhalt gedanklich ergänzt werden. Dazu ist ein „diagnostisches Wahrscheinlichkeitsurteil" erforderlich. 17 b) Bei komplexen Vorgängen erlaubt das vorhandene Erfahrungswissen keine genauen Voraussagen, weil jede Situation sich von jeder zuvor beobachteten unterscheidet. Es sind immer unbekannte, unvorhersehbare Faktoren im Spiel, die man nicht exakt kalkulieren kann. Aussagen über künftige Entwicklungen sind daher nur aufgrund eines „prognostischen Wahrscheinlichkeitsurteils" möglich. c) Aussagen über künftige Entwicklungen sind in rational nachvollziehbarer Weise nur aufgrund von Erfahrung möglich. Liegen hinsichtlich einer denkbaren Ursache-Wirkung-Beziehung keine empirischen Erkenntnisse vor, so ist eine Risikoabschätzung nur in der Weise möglich, daß man von dem vorhandenen Kenntnisstand, also von ähnlichen Kausalbeziehungen oder von bekannten „Teil"- oder „Unterereignissen" ausgehend 1 8 Schlußfolgerungen hinsichtlich des bisher noch nicht beobachteten Ereignisses zieht. Die Risikoabschätzung erfordert ein „hypothetisches Wahrscheinlichkeitsurteil", dessen Zuverlässigkeit von dem Umfang der Detailkenntnisse abhängt, auf die es gestützt werden kann. Hängt die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts also nicht nur von den tatsächlichen Umständen ab, die den Geschehensablauf beeinflussen, sondern auch vom Kenntnisstand des Erkenntnissubjekts, so kommt es für die rechtliche Beurteilung eines Wahrscheinlichkeitsurteils als „richtig" oder „falsch" darauf an, welche normativen Anforderungen das Recht an die Kenntnis des handelnden Amtswalters stellt. Aufgrund welcher kognitiven Basis darf die zuständige Behörde die Risikoabschätzung vornehmen und - wenn auf der Basis dieser Erkenntnisse eine Gefahr vorliegt - Maßnahmen der Gefahrenabwehr ergreifen? Präventive Gefahrenabwehr ist in starkem Maße situationsabhängig. Aufgabe der Polizei ist es, den Eintritt von Schäden zu verhüten. Dies aber ist oft nur möglich, wenn schnell eingegriffen wird, bevor noch die Gefahrenlage bis ins letzte aufgeklärt ist. Es gibt Grenzen der Erkenntnis, die durch die Situation vorgegeben sind: Die Lage fordert eine Entscheidung; für weitere Aufklärung des Sachverhalts fehlt die Zeit. Dann muß die Risikoabschätzimg, die Prognose des Ereignisverlaufs, auf der Basis des Kenntnisstands vorgenommen werden, der in der Entscheidungssituation vorhanden ist. Wird auf der Straße ein Passant mit der Pistole bedroht, dann liegt eine Gefahr für Leib und Leben vor, und der herbeieilende Polizist hat entspre17 18
Vgl. Hoffmann-Riem, Festschr. f. Wacke, S. 328, 331. Vgl. Deutsche Risikostudie, S. 20ff.
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§ 21 Gefahr, Gefahren verdacht, Gefährlichkeitsverdacht
chend zu handeln. Die Ungewißheit darüber, ob die Pistole überhaupt geladen ist, ist keine Prognoseunsicherheit, sondern Ungewißheit über ein Element des Sachverhalts, der Tatsachenbasis. Aber auch ohne Kenntnis dieses Sachverhaltselements darf der Polizist seine Prognose treffen. Stellt sich nach Überwältigung des Täters heraus, daß die Pistole nicht geladen war, so ändert das nichts daran, daß im Zeitpunkt der Entscheidung eine Gefahr für Leib und Leben gegeben war 1 9 : Aufgrund der in diesem Zeitpunkt vorhandenen Kenntnisse war das Urteil berechtigt, daß eine hinreichend große Schädigungswahrscheinlichkeit bestand. Es kann auch keinen Unterschied ausmachen, ob der Polizist ohne weiteres davon ausging, daß die Pistole geladen war, oder ob er - von erkenntniskritischen Zweifeln befallen - über den Ladezustand der Pistole nachdachte, und deshalb nur den „Verdacht" hatte, daß die Pistole geladen sei. Er durfte solche Zweifel durch ein diagnostisches Wahrscheinlichkeitsurteil überwinden. Hinsichtlich der Frage, ob eine Gefahr vorliegt, kann es also nur darauf ankommen, ob aufgrund der Kenntnisse, die in der Entscheidungssituation vorhanden sind, eine hinreichende Schädigungswahrscheinlichkeit besteht. 20 Ob die Ungewißheit, die hinsichtlich des Geschehensablaufs notwendig bestehen bleibt, prognostischer oder diagnostischer Natur ist, ist rechtlich irrelevant: Es kommt allein darauf an, ob trotz der Ungewißheit hinsichtlich des Sachverhalts die Wahrscheinlichkeit der Schädigung hinreichend groß ist. Die Rechtsprechung und der überwiegende Teil der Literatur nehmen deshalb zutreffend an, daß die Rechtmäßigkeit von Maßnahmen der Gefahrenabwehr ex ante aus der Situation des handelnden Amtswalters zu beurteilen ist. 2 1 Von diesem verlangt man allerdings, daß er sein Wahrscheinlichkeitsurteil so trifft, wie man dies von einem verständigen, besonnenen, sachkundigen Amtswalter 19 Wenn nur die Sachlage, die der Amtswalter sich im Zeitpunkt der Entscheidimg vorgestellt hat und von der er pflichtgemäß ausgehen durfte, eine Gefahr begründet, bei Kenntnis der wirklichen, im Zeitpunkt der Entscheidung jedoch nicht erkennbaren Umstände eine Gefahr jedoch nicht gegeben wäre, spricht man von „Anscheinsgefahr". Eine „Anscheinsgefahr" ist Gefahr, solange der Anschein besteht, vgl. Drews / Wacke / Martens II, S. 111; Hoffmann-Riem, Festschr. Wacke, S. 331 f.; O. Schneider, DVBl. 1980, 408; Hansen-Dix, S. 60 m.w.N. Sobald sich herausstellt, daß die Sachlage eine hinreichende Schädigungswahrscheinlichkeit nicht begründet, entfällt die Gefahr. Eventuell noch fortwirkende Maßnahmen der Gefahrenabwehr sind aufzuheben, wenn dies noch möglich ist - vgl. Drews / Wacke / Martens II, S. 111 - , aber der Umstand, daß die Sachverhaltsdiagnose sich nachträglich als unzutreffend erweist, macht die zuvor getroffenen Maßnahmen nicht rechtswidrig. 20 Vgl. BVerwG, 28.2.61, E 12, 87 (9211) - Endiviensalat; 16.12.71, E 39, 190 (193ff.) - Salmonellen; 26.2.74, E 45, 51 (60) - Dutschke; 1.7.75, NJW 1975, 2158 (2159) - Schah-Besuch; 11.11.80, DÖV 1981, 421 (422f.); OVG Münster, 7.6.1978, NJW 1980, 138 (139); Hoffmann-Riem, o. Fn. 19; Kirchhof, JuS 1974, 784; Ossenbühl, DÖV 1976, 466; O. Schneider, DVBl. 1980, 408f.; Hansen-Dix, S. 66ff.; im Ergebnis ebenso Drews / Wacke / Martens II, S. 110. Auch diejenigen, die bei Ungewißheit über gefahrbegründende Sachverhaltselemente (Gefahrenverdacht) das Vorliegen einer Gefahr verneinen - so Friauf, in: v. Münch, Besonderes Verwaltungsrecht, S. 217; Götz, Polizeirecht, S. 59ff.; Ule / Rasch, Pr. 1 PVG § 14 Rdnr. 5; Wolff / Bachof III, § 125 Rdnr. 22 - , halten vorläufige Maßnahmen der Gefahrenabwehr für zulässig. 21 s.o. Fn. 20.
Β. Gefahr und Erkenntnis
385
aufgrund der für ihn in dieser Situation erkennbaren Tatsachen erwarten kann. 2 2 Vermeidbare Irrtümer über Sachverhaltselemente begründen hiernach keine Gefahr. Maßnahmen aufgrund einer solchen „Putativgefahr" oder „Scheingefahr" sind rechtswidrig. 23 Situationsbedingt für einen pflichtgemäß handelnden Amtswalter unvermeidbare Kenntnislücken stehen der Annahme aber nicht entgegen, daß in der Entscheidungssituation eine Gefahr gegeben war. Selbstverständlich gebieten die Grundsätze des rechtsstaatlichen Gefahrenabwehrrechts, daß der Sachverhalt so weit aufzuklären ist, wie die Situation es zuläßt. 24 Im Falle des gefahrbegründenden „Gefahrenverdachts" ist als regelmäßig mildestes Gefahrenabwehrmittel ein „Gefahrenerforschungseingriff" in Betracht zu ziehen, etwa die vorläufige Unterbrechimg des Geschehens zur genaueren Sachverhaltsermittlung. 25 Aber dies ist eine Konsequenz des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes, nicht des Gefahrenbegriffs. 26 Götz vertritt demgegenüber die Ansicht, daß es für die Prognose über den voraussichtlichen Ereignisablauf nicht auf die für den entscheidenden Amtswalter in der Entscheidungssituation vorhandenen Kenntnisse ankomme, sondern auf den in dieser Situation gegebenen „wirklichen" Sachverhalt, der bei der verwaltungsgerichtlichen Kontrolle uneingeschränkt aufzuklären sei. 27 Diese Auffassung macht, streng genommen, präventive Gefahrenabwehr weithin unmöglich: Bis zur annähernd vollständigen Aufklärung des Sachverhalts ist der Schaden meist schon eingetreten. Das Argument, die Gesetze verlangten das „Vorhandensein einer Gefahr" und begnügten sich nicht mit dem - wenn auch verständlichen - Irrtum, daß eine Gefahrenlage gegeben sei oder mit dem Verdacht einer Gefahr 28 , verkennt das subjektive Element des Gefahrenbegriffs: Ob eine Gefahr vor22
Vgl. die Nachw. bei Hoffmann / Riem, o. Fn. 19, S. 339. Vgl. Drews / Wacke / Martens II, S. I l l ; Wolff /Bachof III, §125 Rdnr. 24; Friauf o. Fn. 20; Hansen-Dix, S. 58 m.w.N. 24 Andernfalls steht noch nicht fest, ob der Eingriff überhaupt „erforderlich" ist. Die Ermittlungspflicht hat freilich Grenzen: Über die „an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit", mit der sich sogar die Überzeugung des Tatrichters begnügen kann, braucht die Gewißheit der Gefahrenabwehrbehörde jedenfalls nicht hinauszugehen. Vgl. im einzelnen die Kommentare zu §24 VwVfG, z.B. Stelkens / Bonk / Leonhardt, Rdnr. 9; Kopp, Anm. 6. Zur Begrenzung der Ermittlungen wegen unverhältnismäßig großen Ermittlungsaufwandes bei der Immissionsmessung vgl. die Nachw. o. § 20 D, Fn. 107. Nell, S. 205ff., begrenzt mit überzeugenden Argumenten auch den Umfang der Ermittlungspflicht anhand einer „wahrscheinlichkeitsgewichteten Abwägung". 25 Vgl. Drews / Wacke / Martens II, S. 110. 26 O. Schneider, DVB1.1980, 408; Nell, S. 86; a.A. Friauf, Götz, Ule / Rasch, Wolff / Bachof, o. Fn. 20. 27 Polizeirecht, S. 59 ff. 28 Ebd. S. 61. 23
25 Murswiek
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§ 21 Gefahr, Gefahrenverdacht, Gefährlichkeitsverdacht
liegt, hängt immer auch von dem der Gefahrenbeurteilung zugrunde liegenden Kenntnisstand ab. „Gefahrenverdacht", verstanden als die Ungewißheit über das Vorliegen von prognoserelevanten Sachverhaltselementen, ist also kein Gegensatz zu „Gefahr". Der „Gefahrenverdacht" begründet eine Gefahr, wenn der Schadenseintritt aufgrund der im Zeitpunkt der Entscheidung bekannten Umstände hinreichend wahrscheinlich ist. 2 9 Mit dem Begriff der Gefahr stimmt dieses Ergebnis überein: Ist die „Gefahr" eine Lage, die bei ungehindertem Ablauf mit hinreichender Wahrscheinlichkeit zum Schaden führt, dann ist diese Wahrscheinlichkeit das entscheidende Kriterium. Demgegenüber kommt es nicht darauf an, worauf sich das Erkenntnisdefizit bezieht, das ein Wahrscheinlichkeitsurteil nötig macht, auf den Sachverhalt oder auf künftig den Geschehensablauf beeinflussende Faktoren oder auf beides zugleich. Dies entspricht auch der dem Gefahrenbegriff zugrunde liegenden Interessenbewertung : Der Ausgleich zwischen Schutz und Freiheit wird dadurch gewährleistet, daß in jedem Fall eine „hinreichende Schädigungswahrscheinlichkeit" gegeben sein muß. 30 Diese Funktion des Gefahrenbegriffs bleibt auch dann gewahrt, wenn ein Erkenntnisdefizit hinsichtlich der „Erfahrungssätze" besteht, auf die sich die Prognose stützen läßt: Eine Entscheidung, ob zum Schutz des einen die Freiheit des anderen einzuschränken ist, ist immer dann notwendig, wenn ungewiß ist, ob die Handlung des einen zum Schaden des anderen führt egal welche Ursachen diese Ungewißheit hat. Und das Kriterium der „hinreichenden Wahrscheinlichkeit" des Schadenseintritts, orientiert an Art und Ausmaß des potentiellen Schadens, vermittelt den Interessenausgleich zwischen Schutz und Freiheit in genau derselben Weise, wenn die Ungewißheit auf defizitärer Sachverhaltskenntnis, auf defizitärem Erfahrungswissen oder auf einer Kombination von beidem beruht. 3 1 Für die Größe der Schädigungswahrscheinlichkeit ist es prinzipiell unerheblich, wo das Ungewißheitsmoment liegt. Voraussetzung für eine rechtlich richtige Gefahrenabwehrentscheidung ist, daß das zu treffende Wahrscheinlichkeitsurteil auf 29 Der Sprachgebrauch ist uneinheitlich. Die Rechtsprechung bezeichnet alle Fälle, in denen entgegen dem wirklichen, aber im Zeitpunkt der Entscheidimg insoweit nicht erkennbaren Sachverhalt eine Gefahrenlage angenommen wurde, als „Anscheinsgefahr", auch dann, wenn der Amtswalter Zweifel hatte, ob der diagnostizierte Sachverhalt wirklich vorlag, vgl. z.B. BVerwG, 26.2.74, E 45, 51 (58); 1.7. 75, NJW 1975, 2158 (2160); OVG Münster, 7.6.78, NJW 1980,138 (139). Der Verzicht auf eine Unterscheidung von „Gefahrenverdacht" und „Anscheinsgefahr" ist unbedenklich, weil in jedem Fall eine Gefahr gegeben ist und weil genau genommen jede Anscheinsgefahr auf einem Gefahrenverdacht, nämlich einem diagnostischen Wahrscheinlichkeitsurteil über den Sachverhalt beruht, auch wenn der handelnde Amtswalter sich dessen nicht bewußt ist. 30 Vgl. auch Hansen-Dix, S. 66 f. 3 1
V g l . Hansen-Dix,
S.
76.
Β. Gefahr und Erkenntnis
387
der Basis der in der Entscheidungssituation größtmöglichen Kenntnisse über den Sachverhalt und die der Prognose zugrunde zu legenden „Erfahrungssätze" getroffen wird. 3 2 So wie im Polizeialltag die Kenntnis durch den zeitlichen Entscheidungsdruck begrenzt wird, ist sie beispielsweise bei der Festlegung von Immissionswerten, bei der Genehmigimg einer Chemieanlage oder bei der Entscheidung über die Zulassung eines Arzneimittels durch den Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse begrenzt; ein umfassenderes, besseres Erfahrungswissen steht zur Zeit der Entscheidung nicht zur Verfügung. Auch wenn dieses Erfahrungswissen nicht ausreicht, die Möglichkeit des Schadenseintritts mit Gewißheit zu bestätigen (oder mit Gewißheit auszuschließen), muß entschieden werden. Daß aber Ungewißheit über die abstrakte Ursache-Wirkung-Beziehung, über die Möglichkeit, daß eine Ursache der zu beurteilenden Art überhaupt eine Wirkung der befürchteten Art hervorbringen kann - daß diese Ungewißheit das Vorliegen einer Gefahr ausschließt, behauptet die eingangs vorgestellte These eines Teils der Rechtsprechung und der Literatur, die hier zu überprüfen ist. Zur Unterscheidung von der Unsicherheit über Elemente der konkreten Gefahrenlage, vom „Gefahrenverdacht", soll die Unsicherheit über die abstrakte Eignung der potentiellen Gefahrenquelle zur Herbeiführung eines Schadens als „Gefährlichkeitsverdacht" bezeichnet werden. Aufgrund dessen, was bislang über die „Gefahr" gesagt wurde, sollte man annehmen können, daß der „Gefährlichkeitsverdacht" ebenso wie der „Gefahrenverdacht" das Vorliegen einer Gefahr begründen kann - ist es doch die Funktion der Gefahrenabwehr, trotz Ungewißheit über den Ereignisverlauf zu entscheiden und Schutz zu bieten gegen Ereignisse, die ohne Abwehrmaßnahmen keineswegs mit Sicherheit, aber doch mit hinreichender Wahrscheinlichkeit zum Schaden führen. Auf der Basis der vorhandenen - notwendig immer begrenzten - Erkenntnisse ist eine Prognose zu treffen, und wenn diese Prognose ergibt, daß der Schadenseintritt hinreichend wahrscheinlich ist, liegt eine Gefahr auch dann vor, wenn sich die Erkenntnislücken auf das der Prognose zugrunde liegende Erfahrungswissen beziehen. 33 Die Gegenmeinung sagt nun, in den Fällen des - meist als „Gefahrenverdacht" bezeichneten - Gefährlichkeitsverdachts könne deshalb keine Gefahr vorliegen, weil der Gefährlichkeitsverdacht auf „bloß hypothetischen" Annahmen beruhe, nicht auf „wissenschaftlichen Beweisen". Wenn die abstrakte Gefährlichkeit nicht mit Gewißheit feststehe, sei nicht nur der konkrete Schadenseintritt ungewiß; dann sei die Schädigungswahrscheinlichkeit als solche in Frage gestellt. Es könne auch sein, daß überhaupt keine Schädigungswahrscheinlichkeit bestehe.34 32
Vgl. Hansen-Dix, S. 73. So VGH Mannheim, 30.3.82, ESVGH 32, 161 (190ff.). 34 Hanning / Schmieder, DB 1977, Beil. 14, S. 5; unter Berufung hierauf Schattke, DVB1. 1979, 657; BVerwG, 22.12.80, NJW 1981, 1393 (1395). 33
25
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§ 21 Gefahr, Gefahrenverdacht, Gefährlichkeitsverdacht
Diese Behauptung geht von der Annahme aus, daß ein Ereignisablauf nur dann „wahrscheinlich" sein könne, wenn die abstrakte Möglichkeit dieses Ablaufs empirisch „bewiesen" sei. Dies ist unzutreffend. Der empirische Nachweis der der Prognose zugrunde zu legenden „Kausalgesetzlichkeiten" oder der statistische Nachweis bereits eingetretener Wirkungen der gleichen Ursache ist nicht Voraussetzimg für ein rational überprüfbares Wahrscheinlichkeitsurteil. Jede Prognose beruht auf einer Hypothese über die zugrunde liegenden Ursache-Wirkung-Beziehungen beziehungsweise Ereignisabläufe. Nach der Erkenntnistheorie des logischen Empirismus und des k r i t i schen Rationalismus jedenfalls ist alles Erfahrungswissen hypothetisches Wissen und prinzipiell der Widerlegung fähig. Auch naturwissenschaftliche „Gesetze" vermitteln keine absolute Gewißheit, sondern nur den neuesten Stand unwiderlegten möglichen Irrtums. 3 5 Je nachdem, in welchem Umfang die Hypothesen empirisch „bestätigt" werden beziehungsweise „sich bewähren" konnten, besitzen sie größere oder geringere Zuverlässigkeit, vermitteln sie mehr oder weniger große Prognosesicherheit. Manche vermitteln die Prognosegewißheit eines „Naturgesetzes", andere eine weniger große Wahrscheinlichkeit. 36 Man kann also nicht „Hypothese" und „empirische Erkenntnis" in einen absoluten Gegensatz bringen: Prognosen sind nur aufgrund von Hypothesen möglich, und diese können empirisch mehr oder weniger gut fundiert sein, von der vollständigen empirischen Bestätigung problematisch oft „Verifikation" genannt - über empirisch „gesicherte" Teilhypothesen und tatsächliche Anhaltspunkte bis zur „reinen Hypothese", die sich auf keinerlei empirische Befunde stützen kann. Nur i n letzterem Fall ist die Hypothese als Basis für eine Wahrscheinlichkeitsaussage ungeeignet. Läßt sich die Hypothese jedoch auf empirische Erkenntnisse stützen, sprechen also tatsächliche Anhaltspunkte für die Möglichkeit einer fraglichen Ursache-Wirkung-Beziehung, dann läßt sich hierfür auch eine Wahrscheinlichkeit angeben. Je mehr tatsächliche Anhaltspunkte für die Schädlichkeit eines Stoffes sprechen, desto größer die Wahrscheinlichkeit, daß er schädlich wirkt, daß also die Schädlichkeitshypothese zutrifft. Mit dem Begriff der Gefahr und der Konzeption der Gefahrenabwehr ist es also keineswegs unvereinbar, wenn man aus Erfahrungen mit höheren Schadstoffkonzentrationen auf die Wirkungen niedrigerer Konzentrationen 35 Vgl. z.B. Karl R. Popper, Objektive Erkenntnis. Hamburg 1973; Rudolf Carnap, Erkenntnis 3 (1933), 224; dazu R. Karnitz, Positivismus. München / Wien, 1973, 5. 147ff.; Wolfgang Stegmüller, Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophie. Bd. I, 6. Aufl. Stuttgart 1978, S. 445ff. Während dem BVerfG solche erkenntnistheoretischen Einsichten geläufig sind - vgl. E 49, 89 (143) - , werden „hypothetische Annahmen" und „wissenschaftliche Erkenntnisse" vom BVerwG und einem Teil der juristischen Lit. naiv-positivistisch wie unterschiedliche Welten behandelt, vgl. BVerwG, o. Fn. 34; Hanning / Schmieder, o. Fn. 34; Martens, DVBl. 1981, 600. 36 Vgl. R. Carnap, Induktive Logik und Wahrscheinlichkeit. Bearbeitet von W. Stegmüller, Wien 1959; dazu Stegmüller, o. Fn. 35, S. 467ff.
Β. Gefahr und Erkenntnis
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schließt, also Hypothesen ableitet, für deren Richtigkeit eine gewisse Wahrscheinlichkeit spricht, und wenn man auf diese Hypothesen die Prognose hinsichtlich konkreter Immissionsfolgen stützt. 37 Das gleiche gilt für die Hypothesenbildung aufgrund von Tierversuchen. Je weniger tatsächliche Anhaltspunkte die Prognose stützen, desto geringer wird die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts sein. Ist also die Schädlichkeit eines Stoffes nicht „nachgewiesen", so w i r d auch die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts im konkreten Fall in dem Maße vermindert, in dem die abstrakte Schädlichkeit ungewiß ist. Aber dies schließt nicht aus, daß der Wahrscheinlichkeitsgrad hinsichtlich des Schadenseintritts, auf den es allein ankommt, auch auf der Basis des Gefährlichkeitsverdachts groß genug ist, eine Gefahr zu begründen. Wenn in Rechtsprechung und Literatur hinsichtlich kleiner Strahlendosen unterhalb der Dosisgrenzwerte des § 45 StrlSchV die Ansicht vertreten wird, daß sie keine „Gefahr" darstellten 38 , so dürfte dies jedenfalls hinsichtlich des subjektiven Individualrisikos im Ergebnis zutreffen 39 - aber nicht deshalb, weil es sich um einen „Gefahren"- oder besser „Gefährlichkeitsverdacht" handelt, sondern weil die Schädigungswahrscheinlichkeit nicht hinreichend groß ist. 4 0 Auch der Gefährlichkeitsverdacht kann also eine Gefahr begründen, wenn er empirisch so gut fundiert ist, daß die Schädigungswahrscheinlichkeit hinreichend groß ist. 4 1 Im Hinblick auf „konventionelle" Risiken mag die Forderimg, daß man die Risikoabschätzung nur auf „gesichertes" Erfahrungswissen stützen dürfe, zutreffend sein, aber nicht aus dogmatischen Gründen, sondern einfach deshalb, weil es hinsichtlich aller typischerweise vorkommenden Risiken menschliches Erfahrungswissen gibt, das ein Urteil über die abstrakte Gefährlichkeit mit „praktischer" Gewißheit zuläßt. Im Hinblick auf die Risiken neuartiger Technologien, insbesondere im Hinblick auf die Risiken neu entwickelter Stoffe, ist dies jedoch nicht der Fall. Hier besteht das Risiko typischerweise nicht in erster Linie in der Ungewißheit über den 37 Vgl. OVG Lüneburg, 22.12. 78, DVB1. 1979, 686 (690); W.-E. Sommer, Aufgaben und Grenzen richterlicher Kontrolle atomrechtlicher Genehmigungen, S. 39f. 38 BVerwG, o. Fn. 12; VG Oldenburg, o. Fn. 12; Hanning / Schmieder, o. Fn. 34; Rauschning, W D S t R L 38 (1980), 193; Lukes / Richter, NJW 1981, 1408 (auch für die Störfallplanungsdosis gem. § 28 I I I StrlSchV). 39 Ob auch hinsichtlich des objektiven Individualrisikos, ist fraglich, vgl. OVG Lüneburg, 22.11.76, DVB1. 1977, 340 (344). 40 So auch Sommer, o. Fn. 37. « VGH Mannheim, 30.3.82, ESVGH 32, 161 (192ff.); Hansen-Dix, S.73ff., 180f.; vgl. auch OVG Lüneburg, 22.11. 76, DVB1.1977, 340 (342, 344); 22.12. 78, DVB1.1979, 686 (690); Winters, DÖV 1978, 294; Kutscheidt, in: Landmann / Rohmer III, § 3 Rdnr. 9; Feldhaus, DVB1. 1980, 136; Jarass, DVB1. 1983, 729; Sommer, o. Fn. 37, S. 39ff.; Nell, S. 91f.
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§ 21 Gefahr, Gefahren verdacht, Gefährlichkeitsverdacht
Ereignisablauf im konkreten Fall, die aus der Unkenntnis über die einwirkenden konkreten Umstände resultiert, sondern gerade aus der Ungewißheit über die Gefährlichkeit des Stoffes an sich. Das zur Risikoabschätzung erforderliche Erfahrungswissen ist nur in begrenztem Umfang vorhanden, muß oft erst experimentell gewonnen werden und ermöglicht keine annähernd „sichere" Aussage über die Gefährlichkeit. Der Staat muß seine Bürger aber auch vor derartigen Risiken schützen, und er kann dies nur auf der Basis des jeweiligen Standes der Wissenschaft. Unterließe er den Schutz mit der Begründung, daß die Gefährlichkeit des technischen Systems, des Schadstoffs in einer bestimmten Dosis, des neuen Arzneimittels usw. noch nicht wissenschaftlich „bewiesen", noch nicht „empirisch verifiziert" sei, so würde er seine Bürger den ungewissen Wirkungen dieser Risiken, das heißt einem Massenexperiment aussetzen, das dann später statistische Daten darüber erbringen kann, welche Folgen der Stoff χ für die menschliche Gesundheit hat. Auf diese Weise würden die empirischen Kenntnisse gewonnen, die nach der hier kritisierten Meinung Voraussetzimg für Maßnahmen der Gefahrenabwehr sind. Doch Erkenntnisgewinnung durch trial and error ist dort nicht unbegrenzt zulässig, wo Rechtsgüter Dritter auf dem Spiel stehen. Auch wenn die Ungewißheit über den Schadenseintritt auf einem Defizit an empirischem Grundwissen beruht, darf das Risiko, dem der einzelne ausgesetzt wird, nicht unzumutbar sein, und diese Grenze ist auch hier mit der „hinreichenden Wahrscheinlichkeit" im Sinne des Gefahrenbegriffs erreicht. Im übrigen verstoßen unfreiwillige Menschenversuche gegen Art. 11 GG. Daraus folgt, daß der Staat die Einwirkung ζ. B. von chemischen Stoffen auf Menschen ohne deren Zustimmung, wie diesbei- Immissionen der Fall ist, prinzipiell nur dann erlauben darf, wenn die Unschädlichkeit erwiesen oder aufgrund des gegebenen Erkenntnisstandes hinreichend unwahrscheinlich ist. Würde der Staat es zulassen, daß der einzelne Gefahren ausgesetzt wird, i m Hinblick auf welche die abstrakte Gefährlichkeit empirisch nicht nachgewiesen ist, verstieße er nicht weniger gegen seine Schutzpflicht, als wenn er Gefahren zuließe, bei denen die Ungewißheit über den Ereignisverlauf andere Gründe hat. 4 2 C. Bundes-Immissionsschutzgesetz und Gefährlichkeitsverdacht
Nach früher geltendem Arzneimittel- und Lebensmittelrecht war es verboten, Arzneimittel in Verkehr zu bringen, die geeignet sind, schädliche 42 Vgl. BVerfGE 49, 89 (142f.): Die Schutzpflicht besteht auch dort, wo eine „hinreichende Erfahrungsgrundlage" fehlt, und hört - bei entsprechend großem Schadenspotential - erst auf, wo aufgrund des wissenschaftlichen Erkenntnisstands ein Schadenseintritt als ausgeschlossen erscheint.
C. Bundes-Immissionsschutzgesetz und Gefährlichkeitsverdacht
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Wirkungen hervorzurufen, beziehungsweise Lebensmittel derart herzustellen, daß ihr Genuß die menschliche Gesundheit zu schädigen geeignet ist. 4 3 Diese Vorschriften wurden so verstanden, daß Arzneimittel nur dann nicht in Verkehr gebracht oder Fremdstoffe den Lebensmitteln nur dann nicht zugesetzt werden dürften, wenn ihre Schädlichkeit nachgewiesen sei. 44 Der Gesetzgeber hat dies korrigiert. Die einschlägigen Bestimmungen enthalten jetzt für Zusatzstoffe ein repressives Verbot mit dem Vorbehalt der Zulassung bei Vereinbarkeit mit dem Verbraucherschutz (§§111, 12 I LMBG) 4 5 beziehungsweise lassen die „Bedenklichkeit", also den begründeten Schädlichkeitsverdacht, als Verbotsgrund genügen (§ 5 AMG). Da der Begriff der „schädlichen Umwelteinwirkungen" nach der Definition des § 3 1 BImSchG auf die „Eignung" der Immissionen abstellt, bestimmte Störwirkungen herbeizuführen, ist zu überlegen, ob nicht das Gesetz wie das frühere Lebens- und Arzneimittelrecht den Schädlichkeitsnachweis verlangt. 46 Schon die Definition des § 3 I steht dem insofern entgegen, als nicht die Eignung zur Herbeiführung von Schäden, sondern von Gefahren die „Störqualität" von Immissionen begründet. Da aber eine Gefahr schon bei hinreichender Schädigungswahrscheinlichkeit gegeben ist, ist eine Immission „geeignet", Gefahren herbeizuführen, wenn sie nach dem Stand der empirischen Erkenntnisse zu einer entsprechend großen Schädigungswahrscheinlichkeit führt. Im übrigen verlangt § 5 Nr. 1 BImSchG vom Betreiber einer genehmigungsbedürftigen Anlage, diese so zu betreiben, daß schädliche Umwelteinwirkungen und sonstige Gefahren nicht hervorgerufen werden können. Die abstrakte Eignung der Anlage zur Herbeiführung von Schäden ist also nicht Voraussetzung für die Versagimg der Genehmigung, sondern umgekehrt: Nur wenn die Anlage ungeeignet ist, Schäden herbeizuführen, darf die Genehmigung erteilt werden. Wenn hier ein Nachweis erbracht werden müßte, dann also nicht derjenige, daß der Eintritt des Schadens abstrakt möglich ist, sondern daß er unmöglich ist. Diese Forderung ist praktisch nicht realisierbar und wird, wie aus dem Gesetzeszusammenhang belegt wurde 4 7 , vom Gesetz auch nicht erhoben. Doch ergibt sich aus der Formulierung des Gesetzes zwingend, daß der Nachweis der abstrakten Schädigungseignung jedenfalls nicht VersagungsVoraussetzung ist. § 5 Nr. 1 enthält eine ausdrückliche Entscheidung dafür, daß der Gefährlichkeitsverdacht bei der Risikoabschätzung zu berücksichtigen ist. Dies kann zwar 43 AMG v. 16.5.1961, BGBl. I, S. 533, §6; LebensmittelG i.d.F. der Bekanntmachung v. 17.1.1936, RGBl. I, S. 18, §§ 3 Nr. l a , 5 Nr. 1. 44 Vgl. Götz, Polizeirecht, S. 61; weitere Nachw. bei Hansen-Dix, S. 74 f. 45 Ebenso schon LebensmittelG i.d.F. v. 21.12.1958, BGBl. I, S. 950, §§ 4 a I, 5 a I Nr. 1. 46 Vgl. Hansen-Dix, S. 179. 47 s.o. §20 C.II.
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§ 22 „Sicherstellung" der „Grundpflichten"-Erfüllung gem. § 6
nicht heißen, daß jede theoretisch nicht auszuschließende Schädigungsmöglichkeit, jede rein hypothetische Schädlichkeitsannahme zur Versagung der Genehmigung zwingt. 4 8 Aber die Genehmigung darf nicht erteilt werden, wenn ein auf tatsächliche Anhaltspunkte gestützter und vernünftig begründeter Verdacht für die Gefährlichkeit - also für eine hinreichend große Schädlichkeitswahrscheinlichkeit - spricht. § 22 „Sicherstellung" der „Grundpflichten"-Erfüllung gemäß § 6 Nr. 1 BImSchG Bei der Erörterung des Sicherheitsstandards wurde bis jetzt noch nicht berücksichtigt, daß § 6 Nr. 1 BImSchG die Erteilung der Genehmigimg davon abhängig macht, daß die Erfüllung der Pflichten des § 5 „sichergestellt" ist. Welche Bedeutung hat dieses Erfordernis? Ergibt sich daraus eine Verschärfung der aus § 5 resultierenden Sicherheitsanforderungen? A. Die Funktion der „Sicherstellung" gemäß § 6 Nr. 1 BImSchG
Wenn § 6 Nr. 1 BImSchG verlangt, die Erfüllung der Pflichten des § 5 müsse „sichergestellt" sein, so ist dies eine systematische Konsequenz daraus, daß das Gesetz die materiellen Betreiberpflichten aus dem Genehmigungstatbestand ausgliedert. 1 Gegenüber der Fassung der Genehmigungsvorschrift im Regierungsentwurf, die die Erteilung der Genehmigung ohne Verweis auf besondere „Grundpflichten" von den materiellen Kriterien abhängig machte, die jetzt in § 5 enthalten sind 2 , bedeutet also das Sicherstellungserfordernis des § 6 keine Verschärfung. 3 Die Rechtsprechung macht denn auch zwischen den Anforderungen des § 6 und denen des § 5 keinen Unterschied, sondern geht von einem einheitlichen Genehmigungstatbestand der §§ 6, 5 BImSchG aus.4 Dies ist im Ergebnis nicht zu beanstanden. Die Ausgliederung der „Grundpflichten" aus dem Genehmigungstatbestand macht jedoch einen systematischen Gesichtspunkt deutlich, der im Hinblick auf nachträgliche Anordnungen gemäß § 17, die sich auf § 5, nicht aber auf § 6 beziehen, von Bedeutung sein kann: Die Vermeidungspflichten des § 5 Nr. 1 sind den Betreiber unmittelbar bindende „Dauerver48 Allgemeine Ansicht, vgl. z.B. BVerwG, 17.2.78, DVBl. 1978, 591 (592); OVG Lüneburg, 28.12.76, DVBl. 1977, 347 (351); Kutscheidt, in: Landmann / Rohmer III, § 3 Rdnr. 11; Hansen-Dix, S. 150ff. m.w.N. 1 Vgl. Bericht des Innenausschusses, BT-Drs. 7/1513 zu § 6. 2 BT-Drs. 7/179, § 6. 3 So auch Hansen-Dix, S. 95. - Eine Verschärfung bedeutet die Verselbständigung der Betreiberpflichten aber insofern, als dadurch der Bestandsschutz abgeschwächt wird, vgl. Seilner, Festg. BVerwG, S. 615f.; Jarass, BImSchG, § 5 Rdnr. 42. 4 Vgl. BVerwG, 17.2.78, DVBl. 1978, 591 (592).
Α. Die Funktion der „Sicherstellung" gem. § 6 Nr. 1 BImSchG
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pflichtungen". Der Betreiber hat sie während der gesamten Betriebsdauer der Anlage zu beachten.5 § 5 verlangt, daß die Anlage jederzeit so betrieben wird, daß die dort genannten unerwünschten Wirkungen nicht eintreten. Der Betreiber müßte also, würde man § 5 isoliert sehen, den Betrieb der Anlage jedem Wandel der Umweltverhältnisse anpassen, die dazu führen können, daß der Anlagenbetrieb schädliche Umwelteinwirkungen verursacht. Er müßte unter Umständen bei - von anderen verursachter Zunahme der Immissionsbelastung seine Produktion drosseln. Deshalb erfordert die Konkretisierung der Pflichten des § 5 keine Prognose hinsichtlich der künftigen Entwicklung der Umweltverhältnisse: Der Betreiber kann und muß den Betrieb jederzeit der Immissionssituation anpassen und auf diese Weise seiner Vermeidungspflicht genügen. Prognosen sind hierbei nur insoweit erforderlich, als sie der Konkretisierung der Anforderungen des § 5 im jeweiligen Augenblick dienen - beispielsweise im Rahmen der Abschätzung des Störfallrisikos oder der abstrakten Gefährlichkeit von Immissionen. Was die Genehmigungsvorschrift von den materiellen Betreiberpflichten des § 5 unterscheidet, ist der Umstand, daß die Genehmigung Bestandsschutz vermittelt: Am genehmigungsgemäßen Betrieb kann der Betreiber auch dann, wenn dabei die „Grundpflichten" des § 5 verletzt werden, nur noch unter den Voraussetzungen der §§ 17, 21 gehindert werden. 6 Da hiernach nachträgliche Vorkehrungen zur Emissionsminderung nur noch verlangt werden können, wenn sie „wirtschaftlich vertretbar" sind (§ 17 I I Nr. 1) und die Genehmigung nur noch gegen Entschädigimg widerrufen werden kann (§21IV), erhält der Betreiber mit der Genehmigung eine gut gesicherte Position: ein Quasi-Recht auf Betrieb der Anlage gemäß den Festsetzungen des Genehmigungsbescheids. Mit der Genehmigung w i r d dem Anlagenbetreiber der Luftraum zur genehmigungsgemäßen Nutzung (zur Emissionsbefrachtung in den Grenzen des Genehmigungsbescheids) zugeteilt. Weitergehende Verpflichtungen aus § 5 brauchen nur erfüllt zu werden, sofern dies „wirtschaftlich vertretbar" ist. § 5 wird insofern durch § 17 überlagert. Wenn nicht die „Grundpflichten" des § 5 auf diese Weise weitgehend ausgehöhlt werden sollen, kann dem Betreiber die bestandsgeschützte Position nur dann eingeräumt werden, wenn „sichergestellt" ist, daß die Vermeidungspflichten des § 5 Nr. 1 nicht in irgendeiner Weise, sondern auch dann während der gesamten Betriebsdauer der Anlage erfüllt werden, wenn die Anlage gemäß den Festsetzungen des Genehmigungsbescheids betrieben wird. Dies ist nur in der Weise möglich, daß der Genehmigungsbescheid von vornherein künftige Veränderungen der Immissionssituation berücksichtigt. Nur ein solches Emissionsvolumen darf genehmigt werden, das auch künftig zusammen mit der aus anderen Quellen stammen5 6
Vgl. Feldhaus, BImSchR 1 A, § 5 Anm. 2; Jarass, BImSchG, § 5 Rdnr. 1 m.w.N. Vgl. Sellner, Festg. BVerwG, S. 615f.; Jarass, BImSchG, § 5 Rdnr. 42.
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§ 22 „Sicherstellung" der „Grundpflichten"-Erfüllung gem. § 6
den Immissionsvorbelastung nicht zu einer Überschreitung der maximal zulässigen Immissionskonzentration führt. Aus diesem Grunde ist gemäß § 6 Nr. 1 eine Immissionsprognose erforderlich, und zwar sowohl hinsichtlich der Größe des Immissionsbeitrags der zu genehmigenden Anlage, als auch hinsichtlich der aus anderen Quellen stammenden Immissionen, der „Vorbelastung". 7 Die Prognose für den Immissionsbeitrag der zu genehmigenden Anlage setzt eine Prognose der zu erwartenden Emissionen voraus. Diese exakt vorauszuberechnen, ist zwar nicht immer einfach, doch kann der verbleibenden Ungewißheit durch Festsetzimg von Emissionsgrenzwerten im Genehmigungsbescheid abgeholfen und auf diese Weise sichergestellt werden, daß das prognostizierte Emissionsquantum nicht überschritten wird. Das Prognoseproblem liegt vor allem in der Berechnung des Immissionsbeitrags, den diese Immissionen verursachen werden. Die vermutliche Verteilung der voraussichtlichen Emissionen ist anhand einer „Ausbreitungsrechnung" zu ermitteln. 8 Die Immissionsvorbelastung muß durch Messungen festgestellt werden. 9 Auf der Basis der ermittelten Ist-Belastung ist die Prognose der zukünftigen Belastung zu erstellen: Künftig zu erwartende Verbesserungen oder Verschlechterungen der Immissionssituation sind bei der Genehmigungsentscheidung zu berücksichtigen. 10 „Sichergestellt" im Sinne von § 6 Nr. 1 ist die Erfüllung der Pflichten des § 5 dann, wenn die Prognose ergibt, daß der genehmigungsgemäße Betrieb nicht zur Verletzung der Pflichten des § 5 führen wird. B. Der Zeitraum, auf den sich die Prognose bezieht
I n Rechtsprechung und Literatur w i r d die Ansicht vertreten, daß es bei der Vorausberechnung der Immissionsbelastung auf den Zeitpunkt der Inbetriebnahme ankomme. 11 Auch die TA Luft stellt in Nr. 2.6.3.3 auf diesen Zeitpunkt ab. Eine Überprüfung dieser Auffassung muß von der Funktion der Genehmigungsentscheidung ausgehen, wie sie oben (A.) dargestellt wurde. Danach kann die Genehmigungsvorschrift des § 6 im Zusammenhang mit der Ver7
Zur Immissionsprognose eingehend Müller-Glöge, S. 36 ff. Das Verfahren hierzu ist in TA Luft Nr. 2.6.4 i.V.m. Anhang D geregelt. 9 Vgl. im einzelnen TA Luft Nr. 2.6.2; zu den Problemen der Immissionsermittlung ausführlich Vallendar, GewArch. 1981, 281 ff. 10 Vgl. TA Luft Nr. 2.6.3.3. 11 Vgl. BVerwG, 17.2.78, DVBl. 1978, 591 (596); Seilner, Immissionsschutz, Rdnr. 34; Hansen-Dix, S. 101 f.; a.A. Lukes / Feldmann / Knüppel, in: Gefahren und Gefahrenbeurteilungen II, S. 155 m.w.N. 8
Β. Der Zeitraum, auf den sich die Prognose bezieht
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pflichtung des § 5 nur so verstanden werden, daß die Beachtung des § 5 für die gesamte Nutzungsdauer der Anlage sichergestellt sein muß, nicht nur für den Zeitpunkt der Inbetriebnahme. 12 Die Prognose hat sich also auf die voraussichtliche Betriebsdauer der Anlage zu erstrecken. Der Zeitpunkt der Inbetriebnahme ist demnach nur der Anfangszeitpunkt des Prognosezeitraums. Dieser Zeitpunkt hat insofern praktisch erhebliche Bedeutung, als es auf die Immissionsverhältnisse vor diesem Zeitpunkt nicht ankommt. Das bedeutet, daß zu erwartende Verbesserungen der im Zeitpunkt der Messung gegebenen Immissionssituation - etwa durch Stilllegung anderer Anlagen - als „Gutschriften" von der Vorbelastung abgezogen werden können. 13 Verbesserungen nach diesem Zeitpunkt können dagegen die Genehmigung nicht rechtfertigen, wenn die Immissionsgesamtbelastung die Gefahrenschwelle erreicht, denn Gefahren dürfen zu keinem Zeitpunkt auftreten. 14 Aus praktischen Gründen reicht es allerdings weitgehend aus, die Immissionsprognose nur auf den Zeitpunkt der Inbetriebnahme zu beziehen, nämlich überall dort, wo die Verwaltung selbst die Entwicklung der für die Immissionssituation maßgeblichen Verhältnisse steuert. Dort ist von vornherein nicht damit zu rechnen, daß sich die Risikolage nach Inbetriebnahme so sehr verschlechtert, daß ein genehmigungsgemäßer Betrieb nicht mehr möglich ist, ohne die Pflichten aus § 5 Nr. 1 zu verletzen, denn die Verwaltung muß eine solche Verschlechterung verhüten. So stellt die immissionsschutzrechtliche Genehmigungsvorschrift selbst sicher, daß nicht durch später genehmigte zusätzliche Anlagen die Immissionssituation derart verschlechtert wird, daß der Betreiber die „Grundpflicht" des § 5 Nr. 1 im genehmigungsgemäßen Betrieb nicht mehr erfüllen kann: Die Genehmigungsbehörde darf bei Ausschöpfung des zulässigen Immissionsvolumens zusätzliche Emissionen nicht genehmigen. Soweit also die Verwaltung die künftige Immissionsentwicklung selbst in der Hand hat, weil sie über die Zuteilung von Emissionsrechten entscheidet, reicht es aus, die Immissionsbelastung für den Zeitpunkt der Inbetriebnahme vorauszuberechnen. 12 Vgl. die Begründung des Regierungsentwurfs zu § 6, BT-Drs. 7/179; Stellungnahme des Bundesrates, BT-Drs. 8/2751, S. 10; Lukes / Feldmann / Knüppel, o. Fn. 10 m.w.N. 13 Vgl. BVerwG, 17.2.78, DVB1. 1978, 591 (596). 14 TA Luft Nr. 2.2.1.1 b) - die Sanierungsklausel - läßt bei Kompensation der Zusatzbelastung durch Stillegung oder Verbesserung anderer Anlagen eine Überschreitung der Immissionswerte zu, wenn die Kompensationsmaßnahmen „geeignet sind", die Immissionen trotz der Zusatzbelastung im Jahresmittel zu vermindern. Diese Bestimmung ist nur dann unbedenklich, wenn die Immissionswerte unterhalb der Gefahrenschwelle liegen, und diese durch die Vorbelastung nicht überschritten wird. Kritisch Jarass, BImSchG, § 6 Rdnr. 6.
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§ 22 „Sicherstellung" der „Grundpflichten"-Erfüllung gem. § 6
Entsprechendes gilt für planungsinduzierte Veränderungen der Risikolage: Erhöhungen des Störfallrisikos zum Beispiel durch Bau von Verkehrswegen in unmittelbarer Nähe der Anlage, auf denen brennbare Gase oder Flüssigkeiten transportiert werden 15 , oder Erhöhung des Immissionsrisikos durch heranrückende Wohnbebauimg beruhen auf staatlichen Planimgsentscheidungen. Bei solchen Entscheidungen ist auf die vorhandenen Industrieanlagen Rücksicht zu nehmen. Ihr bestandsgeschützter Betrieb darf nicht tangiert werden, und der Betreiber hat gegebenenfalls einen Abwehranspruch gegen die planerische Veränderung des Umfelds seiner Anlage. 16 Auch hier ist also sichergestellt, daß Situationsveränderungen nach Inbetriebnahme nicht zur Verletzung der Pflichten des § 5 führen, so daß die Genehmigungsentscheidung auf die i m Zeitpunkt der Inbetriebnahme zu erwartenden Verhältnisse abstellen kann. Zu diesen Verhältnissen zählen allerdings auch „planerische Vorbelastungen": Situationsveränderungen, die im Zeitpunkt der Genehmigungsentscheidung geplant, aber noch nicht durchgeführt sind, müssen berücksichtigt werden, denn die Genehmigungsentscheidung darf sich nicht i n Widerspruch zu staatlichen Planungen setzen.17 Wenn also der Zeitpunkt der Inbetriebnahme in diesen Fällen als Bezugspunkt für die Prognose fixiert werden kann, so ist dies keine Verwässerung der Genehmigungsvoraussetzung des § 6 Nr. 1, sondern eine Konsequenz aus dem Umstand, daß der Staat die Herrschaft über die planungsbedingten Risiken hat und aus diesem Grunde ein Ausschluß solcher Risiken auch für die weitere Zukunft zwar nicht „absolut" gesichert, aber doch rechtlich gewährleistet ist. Die Verwaltung hat jedoch die Entwicklung der Immissionsbelastung nur insoweit in der Hand, als sie aus den Emissionen genehmigungsbedürftiger Anlagen resultiert. Dagegen hat sie nur begrenzte Möglichkeiten, die Immissionsbeiträge aus nicht genehmigungsbedürftigen Anlagen unter Kontrolle zu halten. Kraftfahrzeugemissionen sind nur an Emissionswerte gebunden, aber es gibt für sie nach geltendem Recht keine Immissionsgrenzen. Auch über die Entwicklung der weiträumig herangetragenen Immissionen kann die Verwaltung zumindest insofern nicht entscheiden, als sie aus dem Ausland stammen. 18 15
Vgl. Feldhaus, WiVerw. 1981, 200. Zu dieser Problematik vgl. z.B. Sendler, WiVerw. 1977, 94ff.; Fröhler / Kormann, WiVerw. 1977, 114ff.; dieselben, WiVerw. 1978, 245ff. 17 Zu den „anderen öffentlich-rechtlichen Vorschriften", die nach § 6 Nr. 2 dem Betrieb der Anlage nicht entgegenstehen dürfen, gehören auch die planungsrechtlichen Normen, die ihrerseits auf außenwirksame Planungsakte verweisen, Breuer, VEnergR 50, S. 54; vgl. auch Feldhaus, BImSchR 1 A, § 6 Anm. 6; Ule / Laubinger, BImSchG, § 6 Rdnr. 6; Badura, BayVBl. 1976, 515; v. Holleben, UPR 1983, 77; Jarass, BImSchG, § 6 Rdnr. 11. 18 Der inländische weiträumige Immissionstransport wird im Genehmigungsverfahren mangels Nachweisbarkeit der von der zu genehmigenden Anlage ausgehenden 16
Der Sicherheitsstandard des §
BImSchG
Da eine administrative Regulierung der aus diesen Quellen stammenden Immissionsbeiträge nicht möglich ist, ist nicht sichergestellt, daß die i m Zeitpunkt der Inbetriebnahme gegebene Immissionssituation sich nicht nachträglich verschlechtert. Die Einhaltung der Vermeidungspflicht des § 5 Nr. 1 kann hinsichtlich dieser Immissionsbeiträge nur dadurch sichergestellt werden, daß man die voraussichtliche Immissionsentwicklung auch für die Zeit nach der Inbetriebnahme prognostiziert und entsprechend dieser Prognose durch Auflagen oder Bedingungen dafür sorgt, daß der Immissionsbeitrag der zu genehmigenden Anlage zusammen mit der zu erwartenden Immissionsvorbelastung auch künftig das nach § 5 Nr. 1 zulässige Maß nicht überschreitet. Eine zeitliche Grenze findet die Immissionsprognose also nur in der voraussichtlichen Betriebsdauer der Anlage. Faktisch problematisch ist allerdings, eine so langfristige Prognose zuverlässig zu erstellen. Möglich ist wohl nur die mit großen Unsicherheitsfaktoren belastete Hochrechnimg gegenwärtiger Trends unter Berücksichtigung erkennbarer Faktoren, die den Trend beeinflussen könnten. Welche Folgen hat diese Ungewißheit für die Genehmigungsentscheidung? C. Der Sicherheitsstandard des § 6 BImSchG
Lassen sich die Voraussetzungen der §§6 und 5 BImSchG systematisch unterscheiden, so muß auch nach dem Sicherheitsstandard des § 6 gesondert gefragt werden. § 6 verweist hinsichtlich der materiellen Sicherheitsanforderungen zwar auf § 5 Nr. 1 und dessen Sicherheitsstandard. Da § 6 aber eine zusätzliche Prognose fordert, setzt die Konkretisierung dieser Bestimmung voraus, daß man sich auch über die hierfür zu verlangende Prognosegewißheit Klarheit verschafft. Nur in dieser Hinsicht könnte § 6 einen von § 5 abweichenden Sicherheitsstandard normieren. Das Interpretationsproblem liegt hier ähnlich wie bei § 5 Nr. 1 : Verlangt das Gesetz, daß die Erfüllung der Pflichten „sichergestellt" sein müsse, so könnte man annehmen, daß es den Ausschluß der in § 5 Nr. 1 genannten Störwirkungen wenn nicht mit absoluter Sicherheit, so doch mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit fordere. 19 Diese Forderung ist angesichts der erwähnten Ungewißheiten langfristiger Immissionsprognosen praktisch unerfüllbar. „Sicher" ausgeschlossen werden können Verschlechterungen der Immissionssituation, die zur Überschreitung der nach § 5 Nr. 1 Immissionsbeiträge in weiteren Entfernungen im Rahmen der Vermeidungspflicht des § 5 Nr. 1 nicht berücksichtigt, vgl. Unterausschuß „Recht" des Länderausschusses für Immissionsschutz, Umwelt Nr. 97 v. 26.8.1983, S. 12 f. Auch hier müßte es aber auf die „hinreichende Wahrscheinlichkeit" ankommen. 19 Vgl. Müller-Glöge, S. 41.
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§ 22 „Sicherstellung" der „Grundpflichten"-Erfüllung gem. § 6
maximal zulässigen Immissionskonzentration führen, nur insofern, als der Staat die Entwicklung durch Planungs- und Genehmigungsentscheidungen steuert. 20 Im Hinblick auf die Verschlechterung der Immissionssituation durch sonstige Quellen wäre aber eine Überschreitung der maximal zulässigen Immissionskonzentration bei genehmigungsgemäßem Betrieb der Anlage auf die Dauer nur dann mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auszuschließen, wenn man der Genehmigungsentscheidung die ungünstigste der überhaupt in Betracht kommenden Entwicklungsmöglichkeiten zugrunde legte, auch wenn für diese nur eine sehr geringe Wahrscheinlichkeit spräche. Dann aber würde die zu berücksichtigende potentielle „Vorbelastung" die maximale Immissionsgrenze in vielen Fällen bereits überschreiten, ohne daß naheliegende Gründe eine solche Entwicklung als wahrscheinlich erscheinen ließen. Dies könnte die prinzipielle Genehmigungsfähigkeit genehmigungsbedürftiger Anlagen weithin in Frage stellen. Mit dem Zweck des Gesetzes, immissionsträchtige Industrie möglich zu machen 21 , wäre dies nicht vereinbar. Der vom Gesetz angestrebte Ausgleich zwischen Umweltschutz und Industrie würde sov vereitelt. Die Funktion der „Sicherstellung" gemäß § 6 Nr. 1 besteht, wie schon dargelegt, nicht darin, die materiellen Sicherheitspflichten des § 5 zu verschärfen, sondern ihre Erfüllung trotz Bestandsschutzes auch bei sich verändernder Risikolage zu gewährleisten. Eine Verschärfung der Sicherheitspflichten w i r d aber nur dann vermieden, wenn die Folgen der Prognoseungewißheit nicht einseitig dem Anlagenbetreiber aufgebürdet werden. Das Sicherheitsniveau des § 5 Nr. 1 bleibt hingegen i m ganzen gewahrt, wenn man das Risiko, daß die tatsächliche Entwicklung mit der prognostizierten nicht übereinstimmt, zwischen Betreiber und Betroffenen nach der „Je-destoFormel" 2 2 verteilt und sich damit begnügt, daß die Veränderung der Rahmenbedingungen mit „hinreichender Wahrscheinlichkeit" nicht zur Verletzung der Sicherheitspflicht des § 5 Nr. 1 führt. 2 3 Bei der Prüfung, ob die zulässige Immissionsbelastung nicht überschritten wird, muß daher im Genehmigungsverfahren - nicht dagegen bei nachträglichen Anordnungen gemäß § 17 - ein Sicherheitsfaktor eingerechnet werden, der mit hinreichender Wahrscheinlichkeit künftiges Überschreiten der maximal zulässigen Immissionskonzentration ausschließt. Ob die TA Luft diesen Sicherheitsfaktor bei der Festlegung der Immissionswerte berücksichtigt hat, ist nicht erkennbar. 24 Sofern die TA Luft Res20
s.o. B. s.o. §20 B . I I . 22 s.o. § 4 B., §9, § 20 C. 23 So im Ergebnis auch BVerwG, 17.2.78, DVBl. 1978, 591 (592); Lukes / Feldmann / Knüppel, in: Gefahren und Gefahrenbeurteilungen II, S. 155. 24 Ausdrücklich behauptet sie lediglich, einen Sicherheitsfaktor für die Meßungenauigkeit zu enthalten, vgl. Nr. 2.5. Die Immissionsprognose bezieht sich gem. 21
Der Sicherheitsstandard des §
BImSchG
sourcenbewirtschaftung unterhalb der Gefahrenschwelle betreibt 25 , erübrigt sich allerdings ein solcher Sicherheitsfaktor. Das schwierige Problem, den Sicherheitsfaktor für die voraussichtliche Immissionszunahme zutreffend zu bestimmen, erledigt sich praktisch, wenn in Ausübung des Bewirtschaftungsermessens 26 die zulässige Immissionsbelastung erheblich unterhalb der Maximalgrenze festgelegt wird. Relevant wird dieses Problem im Rahmen der hier vorgeschlagenen Interpretation nur, wenn die zugelassene Immissionsbelastung sich der Maximalgrenze nähert, nämlich bei der Konkretisierung der Ermessensgrenze, während es sich im Rahmen der herkömmlichen Interpretation unausweichlich stellt. §23 Schlußbemerkung Das Beispiel der Analyse des § 5 Nr. 1 BImSchG hat bestätigt, was im zweiten Teil bereits allgemein gezeigt wurde: Es gibt unter dem Grundgesetz eine umfassende staatliche Verantwortung für die Risiken der Technik. Nur eine eindimensionale, allein an der Freiheit des Risikoverursachers orientierte Perspektive bekommt dies nicht in den Blick. Doch jede Risikovermeidungspflicht w i r d ergänzt durch eine Risikotragungspflicht, wenn nicht das Gesetz ein „Null-Risiko" postuliert, also bestimmte riskante Tätigkeiten ganz untersagt. Dem verbotenen Risiko entspricht ein erlaubtes „Restrisiko", und das erlaubte Risiko belastet den potentiell Geschädigten. Die Auferlegung der Risikotragungspflicht ist ein Akt staatlicher Rechtsetzung. Das erlaubte Risiko muß der Staat sich daher zurechnen lassen. Die daraus resultierende staatliche Verantwortung ist vor allem „politische" Verantwortung, denn aus der Verfassung läßt sich die Antwort auf die Frage nach der Größe des zu akzeptierenden Risikos nicht abschließend deduzieren: Das Grundgesetz begrenzt nur die Befugnis zur Einschränkung der Position des Risikoverursachers auf der einen, des Risikobetroffenen auf der anderen Seite. Diese Grenzen nicht zu überschreiten, dafür sind die zuständigen Staatsorgane verfassungsrechtlich verantwortlich. Wo sie zwischen den von der Verfassimg gezogenen Grenzen die Scheidelinie zwischen erlaubtem und zu vermeidendem Risiko ziehen, dafür haben sie politisch einzustehen. Angesichts dieses politischen Gestaltungsspielraums, den die Nr. 2.6.3.3 nur auf den Zeitpunkt der Inbetriebnahme. Dabei wird auf die voraussichtliche Veränderung der Emissions-, nicht der Immissionsverhältnisse abgestellt. Dies spricht dafür, daß nur auf genehmigungsbedürftige Anlagen zurückgehende Immissionsbeiträge nach dieser Vorschrift erfaßt werden. 25 Dies dürfte hinsichtlich des Lebens- und Gesundheitsschutzes weitgehend der Fall sein - dazu o. § 20 D. IV. 3., 5. mit Fn. 106 - , nicht hingegen hinsichtlich des Sachgüterschutzes, insbesondere hinsichtlich des Schutzes von Pflanzen und Tieren, vgl. Medizinische, biologische und ökologische Grundlagen, S. 13ff.; 35ff.; BT-Drs. 2751, S. 6, 7; TA Luft Nr. 2.2.1.2 a). s . .
400
§23 Schlußbemerkung
Verfassung offen läßt, erscheinen verfassungsrechtliche Maximalpostulate zugunsten der Risikoverursachungsfreiheit wie zugunsten der Sicherheit als unbegründet - Positionen, die in der Literatur vertreten werden zum Beispiel mit der Behauptung, jede über die Gefahrenabwehr hinausgehende Risiko Vermeidungspflicht verstoße gegen Art. 12 GG 1 , oder jede Erlaubnis zur Verursachung objektiver - auf die Gesamtheit der potentiell Betroffenen, nicht nur auf die Wahrscheinlichkeit der Schädigung eines bestimmten einzelnen bezogenen - Gefahren für das menschliche Leben sei mit Art. 2 I I GG unvereinbar 2 . Nicht die umfassende - rechtliche oder politische - Verantwortung des Staates für technische Risiken ist also problematisch. Problematisch ist vor allem, welches Staatsorgan di£, politische Entscheidung über die Größe des erlaubten Risikos zu treffen hat. Zu dieser Entscheidung ist in erster Linie der Gesetzgeber berufen: Die Einschränkung grundrechtlich verbürgter Freiheit bedarf der gesetzlichen Grundlage. Der Gesetzgeber kann jedoch aus praktischen Gründen die Grenzen des zulässigen Risikos nicht für alle Fälle exakt festlegen: Die Größe des erlaubten Störfallrisikos beispielsweise ließe sich präzis nur durch Bestimmung genauer Beschaffenheitsanforderungen für die Risikoquelle angeben. Diese aber entziehen sich genereller Normierung, und wenn man sie typisiert, so sind sie doch bei komplexen Anlagen so umfangreich, daß die Regelungsaufgabe gesetzestechnisch kaum zu bewältigen wäre. Vor allem aber würden gesetzliche Beschaffenheitsanforderungen innovationsfeindlich wirken. Sie würden die Fortentwicklung der Anlagentechnik und die Entwicklung technischer Produkte hemmen und damit der internationalen Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft schaden. Und sie würden auch einer Verbesserung der sicherheitstechnischen Auslegung technischer Systeme entgegenwirken. Dies gilt auch in bezug auf solche Risiken, die regelungstechnisch ohne weiteres i m Gesetz präzis begrenzt werden könnten, etwa durch Angabe von Emissions- oder Immissionsgrenzwerten. Die gesetzliche Fixierung solcher Grenzwerte verzögert Sicherheitsverbesserungen, die der Fortschritt der Sicherheitstechnik beziehungsweise der Emissions-Rückhaltetechnik möglich oder der Fortschritt des Erkenntnisstandes über die Wirkung von Immissionen oder über sonstige Risiken nötig macht. Der Gesetzgeber müßte der Entwicklung immer hinterherlaufen. 3 Wenn der Gesetzgeber deshalb das Maß des erlaubten Risikos mit den i m technischen Sicherheitsrecht üblichen unbestimmten Rechtsbegriffen umschreibt, kann ihm das schwerlich als Flucht aus der 1 Oder gegen ein anderes einschlägiges Freiheitsrecht, vgl. z.B. Martens, Festschr. H. P. Ipsen, S. 462f.; Börner, VEnergR 50, S. 153. 2 Vgl. z.B. Mayer-Tasch, Ökologie und Grundgesetz, S. 28ff. 3 Zu diesen Regelungsproblemen im technischen Sicherheitsrecht vgl. BVerfGE 49, 89 (137ff.) und z.B. Feldhaus, UPR 1982, 137f.; Sendler, UPR 1981, 9f.; Lamprecht, DÖV 1981, 700 ff.
§23 Schlußbemerkung
401
politischen Verantwortung angekreidet werden. 4 Diese Regelungstechnik ist vielmehr sachadäquat, sofern die Regelung nur hinreichend deutlich erkennen läßt, wie bei der Konkretisierung des Sicherheitsstandards die Akzente zu setzen sind. 5 Die Verwendung unbestimmter Rechtsbegriffe bringt allerdings die vielfach beklagten Konkretisierungsprobleme mit sich, die richterliche Entscheidungen im technischen Sicherheitsrecht oft als unberechenbar erscheinen lassen.6 An der Regelungstechnik selbst kann dies nicht liegen. Regelungstechnisch unterscheiden sich die unbestimmten Rechtsbegriffe des technischen Sicherheitsrechts nicht von den in anderen Rechtsgebieten üblichen und dort praktisch bewährten unbestimmten Rechtsbegriffen, wie insbesondere der Begriff der „Gefahr" zeigt - ein Zentralbegriff sowohl des allgemeinen als auch des technischen Sicherheitsrechts. Die besonderen Konkretisierungsprobleme bei Regelungen des technischen Sicherheitsrechts folgen nicht aus Art und Inhalt der gesetzlichen Sicherheitsnormen; sie resultieren daraus, daß der Regelungsgegenstand, das technische Risiko, das mit der Konkretisierung jedes unbestimmten Rechtsbegriffs notwendig verbundene dezisionistische Element 7 wesentlich vergrößert. Dies beruht auf zwei Umständen, einem kognitiven und einem normativen: Die Komplexität der zu beurteilenden Wirkungszusammenhänge erhöht die Ungewißheit hinsichtlich der potentiellen Folgen, und das oft außerordentlich große Ausmaß des potentiellen Schadens vergrößert die Schwierigkeit, Schadensumfang und zulässige Eintrittswahrscheinlichkeit wertend einander zuzu4 So auch Sendler, UPR 1981, 9. - Ein Beispiel für Verantwortungsflucht bietet dagegen der in § 5 Nr. 1 BImSchG formulierte Standard der „absoluten Sicherheit": Wenn der Gesetzgeber Sicherheitsstandards normiert, die von vornherein nicht erfüllbar sind und deren Erfüllung auch ernsthaft gar nicht gefordert wird, dann drückt er sich vor seiner politischen Verantwortung. Er spiegelt der Öffentlichkeit eine Sicherheit vor, die das Gesetz in Wirklichkeit nicht gewährleistet. (Zu § 5 Nr. 1 BImSchG s.o. § 20 C. - Daß schon die traditionsreiche Gewerbeordnung in § 18 eine entsprechende Formulierung enthielt, kann dies nicht entschuldigen.) Die Politiker, die sich für das dem Bürger aufgeladene Risiko zu verantworten haben, können auf das Gesetz verweisen, das perfekte Sicherheit fordert, und die Richter müssen die Kohlen aus dem Feuer holen und die durch das Gesetz geweckten Erwartungen des Publikums enttäuschen. Das Gesetz wird zur Fassade scheinbarer Sicherheit degradiert. (Ernst, BauR 1978, 3, spricht von „propagandistisch wirksamen Unverbindlichkeiten", was im Hinblick auf alle unbestimmten Rechtsbegriffe des technischen Sicherheitsrechts aber zu weit geht; Börner, VEnergR 50, S. 161, sieht im BImSchG einen „katastrophalen Tiefstand begrifflicher Verantwortlichkeit".) Die richterliche Korrektur des Gesetzes kann zwar auch hier noch ein Akt methodisch korrekter Gesetzesinterpretation sein; sie führt aber notwendigerweise zu einer Verschleierung der Verantwortungsverhältnisse. Es ist nicht Sache des Richters, dem Gesetzgeber die politische Verantwortung für die Folgen seiner Regelung abzunehmen. Ihn an seine Verantwortung zu erinnern, heißt hier, das Gesetz beim Wort zu nehmen, sich also bei der Interpretation nicht weiter vom Wortlaut zu entfernen, als systematischer Zusammenhang und hieraus erkennbarer Gesetzeszweck es fordern. 5 6 7
Vgl. BVerfGE 49, 89 (137 ff.). s.o. § 20 D. IV. 5. m. Nachw. Vgl. z.B.
26 M u r s w i e k
Ossenbühl,
D Ö V
1 9 7 2 , 4 0 3 ; ders.,
D Ö V
1982,
836.
402
§23 Schlußbemerkung
ordnen. Quantitative Wertungskriterien sind nämlich aus Verfassung und Gesetz nicht zu entnehmen, und ob beispielsweise die Wahrscheinlichkeit eines Berstunfalls in einem Kernkraftwerk angesichts der katastrophalen Auswirkungen bei 1 0 - 6 , 10~7 oder 10- 8 /Jahr eine „Gefahr" darstellt, kann aus den verfassungs- oder gesetzesrechtlich vorgegebenen Wertungskriterien nicht deduziert 8 , sondern nur dezisionistisch bestimmt werden, obwohl die in Betracht gezogenen Wahrscheinlichkeitsunterschiede immens sind. Daß in der Praxis die faktischen Möglichkeiten der Sicherheitstechnik, auf die es nach allgemeiner Ansicht bei der Konkretisierung des Gefahrensbegriffs rechtlich nicht ankommt, bei dieser Dezision berücksichtigt werden, ist nicht verwunderlich. 9 Auf diese Weise erhält das jeder richterlichen Entscheidung innewohnende dezisionistische Element bei der Entscheidung über das zulässige Ausmaß technischer Risiken - jedenfalls dort, wo es um die Genehmigung großtechnischer Anlagen geht - ein so großes Gewicht, daß es als „politisch" und deshalb rechtsprechungsinadäquat empfunden und kritisiert wird. Die unbestimmten Gesetzesbegriffe, die die Letztentscheidung über das Maß des zulässigen technischen Risikos den Gerichten zuweisen, laden diesen eine „politische" Entscheidimgsverantwortung auf, die ihrer Funktion als Rechtskontrollorgane schwerlich entspricht: Der Richter hat seine Entscheidung rechtlich zu begründen; er hat nicht politisch für sie einzustehen. So spricht vieles dafür, die verbindliche Konkretisierung technischer Sicherheitsstandards innerhalb der gesetzlich bestimmten Grenzen der Exekutive zu überlassen, die für ihre Entscheidung - letztlich vom Wähler - politisch zur Rechenschaft gezogen werden kann. Wer deshalb fordert, der Exekutive bei der Konkretisierung unbestimmter Rechtsbegriffe einen Prognose· und Beurteilungsspielraum zuzugestehen10, muß sich aber darüber im klaren sein, daß eine solche dogmatische Konsequenz nicht auf den Bereich des technischen Sicherheitsrechts beschränkt werden kann. 1 1 Die Diskussion darüber, ob eine generelle Verlagerung der Kompetenz zur letztverbindlichen Entscheidung über die Konkretisierung unbestimmter Rechtsbegriffe von der Judikative auf die Exekutive wünschenswert und rechtsstaatlich unbedenklich ist 1 2 , wurde hier nicht fortgeführt. Stattdessen wurde gezeigt, daß erstens der Gesetzgeber der Exekutive einen Gestaltungs8
Vgl. Marburger, in: Bitburger Gespräche, Jb. 1981, S. 46. Rechtlich ist die Berücksichtigung wirtschaftlicher oder technischer Gesichtspunkte innerhalb des der Dezision offenstehenden - vom Gesetz nicht vorentschiedenen - Wertungsbereichs weder geboten (vgl. aber Marburger, o. § 17 Fn. 25) noch unzulässig; eben dies macht den dezisionistischen Charakter der zu treffenden Entscheidung aus, s.o. § 17 nach Fn. 25. 10 Vgl. die Nachw. o. § 20 D. Fn. 20. 11 Konsequent z.B. der Ansatz von Vie, ο. § 20 D. Fn. 20; anders Fiedler, ET 1982, 580 ff. 12 Nachw. o. § 20 D. Fn. 19, 20, 22. 9
§23 Schlußbemerkung
Spielraum für die Bestimmung der zulässigen Risikogrenze jedenfalls durch ausdrückliche Regelung einräumen darf und daß zweitens unter bestimmten Voraussetzungen, wie sie für den Wirkungsstandard des § 5 Nr. 1 BImSchG gegeben sind, ein solcher Gestaltungsspielraum auch aus „konventionell" formulierten Bestimmungen herausinterpretiert werden kann, ohne das Dogma der uneingeschränkten gerichtlichen Nachprüfbarkeit der Anwendimg imbestimmter Rechtsbegriffe aufzugeben und die daraus folgenden Konsequenzen für sämtliche Bereiche des Verwaltungsrechts in Kauf zu nehmen. Auch ohne dogmatische Umwälzungen können die Probleme des technischen Risikos also rechtlich bewältigt werden. Die liberal-rechtsstaatliche Grundrechtsdogmatik hat sich auch gegenüber diesen Problemen bewähren können. Man muß sie nur konsequent anwenden. Das heißt zunächst, auch die Belastung mit Risiken für grundrechtlich geschützte Güter als „Eingriff" zu verstehen, also auf das Merkmal der „Finalität" des Eingriffs in ein grundrechtlich geschütztes Gut als Voraussetzung für eine Grundrechtsverletzung zu verzichten. Und es heißt zweitens, eine eindimensionale Orientierung allein an der Freiheit des Risikoverursachers zu vermeiden. Daß dies für die verwaltungsrechtliche Dogmatik nichts prinzipiell Neues ist, zeigt ein so geläufiger Begriff wie der „Verwaltungsakt mit Doppelwirkung". Nur hat die Rechtsprechimg die zweite Dimension von Sicherheitsnormen, die Duldungspflicht des Betroffenen, schon im Hinblick auf tatsächliche Beeinträchtigungen nicht konsequent berücksichtigt, geschweige denn bei der Auferlegung von Risikotragungspflichten. Vergegenwärtigt man sich aber die doppelte Eingriffsrichtung von Sicherheitsnormen, dann öffnet sich auch die Perspektive für die Möglichkeit, Risikovermeidungs- und Risikoduldungspflicht inkongruent festzulegen, nämlich den Risikobetroffenen aus Gründen des öffentlichen Wohls mit weitergehenden Duldungspflichten zu belasten als dies allein zur Abgrenzimg der privaten Freiheitssphären, zur Gewährleistung der Freiheit des Risikoverursachers, erforderlich wäre. Dieser wiederum hat keinen verfassungsrechtlichen Anspruch auf eine derartige Belastung des Betroffenen. Wie für den Wirkungsstandard des § 5 Nr. 1 BImSchG gezeigt wurde, kann auf diese Weise zwischen Vermeidungspflicht auf der einen und Duldungspflicht auf der anderen Seite ein Bereich eigenverantwortlicher exekutiver Gestaltung begründet werden, der die Verwaltungsgerichte von den typischen Konkretisierungsproblemen des technischen Sicherheitsrechts zumindest teilweise entlastet.
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Sachregister Abwägung 167, 172 - gestaltende 351 f., 363ff. - nachvollziehende 352 - planerische 363ff., 368, 371 Abwehranspruch 92 Abwehrrechte 88, 89 Akzeptanz 256 allgemeines Lebensrisiko 136 Anlagenbetreiber - Sicherheitspflichten 294ff. - Verantwortlichkeit 298f. - Verursacherverantwortlichkeit 295, 300 Anscheinsgefahr 384 Anspruch auf Einschreiten 115 antizipierte Sachverständigengutachten 24, 374ff. Auf opferungsanspruch 130 Aufopferungsenteignung 261 f. Atomkraftwerke 234 Bagatellbeeinträchtigungen 193 ff. - BImSchG 303 ff., 310 Bagatellschwelle 307, 309, 312f., 338ff., 346 ff. Beeinträchtigung 128ff., 182 - Immissionsschutzrecht - - Begriff 292 Zweck und Rechtfertigung 307ff., s.a. Erheblichkeit/Zumutbarkeit Beeinträchtigungserlaubnis 355 Beeinträchtigungsintensität 171 f f., 175ff., 231, 304 Beeinträchtigungsminimierungsgebot 312f., 318 Belästigung 197, 292 f., 303f., 331 f. Berufsfreiheit 235f., 243ff., 251 Besitzstandsschutz 2 5 6 ff. Besorgnisproportionalität 86, s.a. Je-desto-Formel, Schadensausmaß und Eintrittswahrscheinlichkeit Bestandsschutz 300, 393, 396 Bestimmtheitsgebot 181, 194, 268, 368 bestimmungsgemäßer Betrieb 188, 331 f.
Betroffenheit 155f., 218f., 286 - virtuelle 218 Beurteilungsspielraum 290, 352, 402 Bevölkerungsrisiko s. Kollektivrisiko Bewertungskompetenz s. Gesetzgeber B i l l of Rights s. Virginia/Massachusetts Billigkeit 321 Boden 228 Bundes-Immissionsschutzgesetz s. Einzelstichworte wie Förderungszweck, Schutzzweck usw. coergistische Wirkungen 297 Déclaration des droits de l'homme et du citoyen v. 26.8.1789 98f., 103, 105 diplomatischer Schutz 117 Dispositionsschutz 262ff. Drittwirkung 89, 96, 101, 105, 110 Duldungspflicht 63f., 91 ff., 108f., 276, 286, 403 - BImSchG 307, 314, 354ff. durchschnittliche! Empfindlichkeit 292, 298, 360 dynamische Rechtsbegriffe 184 dynamischer Rechtsgüterschutz 181 ff. Eigentum 96f., 169, 235f., 256ff. - Dispositionsschutz 262 ff. - Eigentumsbestandsgarantie 260 - Eigentumswertgarantie 260ff. - Inhalts- und Schrankenbestimmung durch Sicherheitspflichten 256 f., 260f. - Investitionsschutz 266 f. - Sozialpflichtigkeit 260ff. - Verhältnis zu anderen Freiheitsrechten 257 ff. - Vertrauensschutz 263 ff. s. a. Besitzstandsschutz /Enteignung Eigenverantwortlichkeit 51 f. Eingriff s. Grundrechte /Grundrechtseingriffe Eingriffsermächtigung s. Grundrechte
Sachregister Einschreiten s. Pflicht/Anspruch Emissionsminimierung 345 Emissionsminimierungspflicht 312 f., 318 Energieversorgimg 269 f. Energieversorgungsunternehmen 234 enteignender Eingriff 130 Enteignung 260 ff. Enteignungsentschädigung 130, 260ff., 264, 266 enteignungsgleicher Eingriff 134 Entschädigungsrecht 130 Erforderlichkeit - von Immissionen 312f., 318, 326, 366 ff. Erheblichkeit - von Beeinträchtigungen nach dem BImSchG 294ff., 302ff., 344ff. - und Gefahrenbegriff 303 f., 336 - von Grundrechtsgefährdungen 145 ff. - von Risiken 338 ff. Erheblichkeitsschwelle 301, 307, 321 Erkenntnisgrenzen/-defizit 207f., 382f., 386 Erlaubnis 63 ff. Ermessen, BImSchG 355, 358, 361 - Sachverhaltsermittlung 378 Ermessensbindung 362ff. - durch Technische Anleitungen 360, 363, 377f. Experimentiergesetz 187 Existenzminimum 229, 247, 269, 276 Fachfrage, außerrechtliche 353, 371 faktische Beeinträchtigungen s. Grundrechte Förderungszweck, BImSchG 308ff., 344 ff. Folgelasten 27, 135 Folgezwänge 21 f., 27 Fortschrittsvorsorge 22, 23 Folgen, Folgewirkungen s. Technikfolgen / Verhaltensfolgen Freiheit 169 f. - zur Beeinträchtigung Dritter 245ff., 324 - bürgerliche 66, 100 - und Schutz 138 ff. - und Sicherheit 139f., 249, 277 - und staatliche Verantwortung 66 ff. Freiheitseinschränkung und Grundrechte 120
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Freiheitsprinzip 143 Freiheitssphäre, private 100f., 106 - und staatliche Verantwortung 66ff., 100 Freiraum 341, 361, 370 Fremdstoffe 199 Friedensfunktion s. Staat Friedenspflicht 120 f. Fundamentalitätsverhältnisse 230 f., s.a. Grundrechte Gefährdungshaftung 46 Gefährdungspotential 46 f. Gefährlichkeitsverdacht 387 ff. Gefahr 81, 141, 255, 37«//, 402 - Begriff 83ff., 149ff., 303 f., 378f. - und Erkenntnis 382 ff. - als Grundrechtsverletzung 140 ff. - Sicherheitsstandard nach dem BImSchG 333 ff. Gefahrenabwehr - bestmögliche 181, 184 - und Realisierbarkeit technischer Projekte 237, 279 - und wirtschaftliche Interessen des Störers 237, 239f., 279 Gefahrenbegriff - relationaler 149ff., 277 - und Wertentscheidung 165ff., 240f. - und wirtschaftliche Gesichtspunkte 239 ff. Gefahrenerforschungseingriff 385 Gefahrenprognose 378 ff. Gefahrenquelle 46 Gefahrenschwelle 86, 140ff., 240, 339 Gefahrenverdacht 381 ff. Gefahrenvorsorge 121 Gegenseitigkeit 328 f. Gehorsamspflicht 102 f. Gemeinschädlichkeit, BImSchG 315 f. Gemeinschaftsgüter, verfassungsrechtliche 225ff., 269 - derivative 225, 227f. - originäre 225 ff. - überragend wichtige 251 Gemeinwohl - Beeinträchtigung durch Immissionen 315f. - Rechtfertigung für Immissionen 308 f. genehmigungsbedürftige Anlagen, prinzipielle Genehmigungsfähigkeit 306, 333, 337, 346, 398
422
Sachregister
Genehmigungsbehörde, Verantwortung 62 Genehmigungsvoraussetzung und Versagungsvoraussetzung, BImSchG 355, 358 genetische Schäden 206 geringstmögliches Risiko s. Risikominimierungspflicht Geschwindigkeitsbegrenzung 286 Gesetzesvorbehalt 129 Gesetzeszweck s. Zweck Gesetzgeber - Experimentierfreiheit 187 - Gestaltungsspielraum 180 - Prognosespielraum 186f., 232 - Verantwortung 57, 63 - Wertungskompetenz 165ff., insb. 179ff., 204, 231 f., 240 Gesinnungsethik 3 6 ff. Gestaltungsspielraum - der Exekutive 367 - des Gesetzgebers 140, 180, 202, 276,
286f. - politischer 114, 180, 399 Gesundheitsrisiken 349 f. Gesundheitsschaden 293, 379 Gewaltmonopol 24, 102, 106, 121 Gewaltverbot, allgemeines 92, 102ff., 120 Gewerbefreiheit 323 ff. Gewißheit 82, 189f., 196, 339, 382 Gleichheitssatz - und Kollektivrisiko 161 ff. - und Nachweltschutz 212 ff. - und Risikovorsorge 255f. - und Schutzanspruch 222 ff. - und Verteilung von Luftnutzungsbefugnissen 3 59 f. Grenzwerte 24, 64, s.a. Immissions wert e Großtechnik 280, 286 Grund-Lage der Rechtsgeltung 20 Grundpflichten, BImSchG 291 ff., 392ff. Grundrechte - Beeinträchtigungen 128 faktische 130 - Eingriff 133, 190ff., 218 Bagatelleingriff 193 ff. - - finaler 127, 129f., 134, 277 - - nichtfinaler 130ff., 277 Rechtfertigungsbedürftigkeit 191 Risiken als Eingriffe 130ff., 277
- Eingriffe Dritter 88ff., 245 ff., 276, 308 - Eingriffsermächtigung zugunsten Dritter 90 ff. und Gleichheitssatz 94 - Fundamentalitätsverhältnisse 169ff., 176 ff. - und gemischtwirtschaftliche Unternehmen 234 - Mindestposition 140, 144, 219, 246, 277 - „objektive Funktion" 97, 101, 106, 110, 128, 154ff. - als objek« iv-rechtliche WertentScheidungen 91,101,1061,110,128,154 ff. - und Privat autonomie 94, 126 - Rangordnung 167 ff. - reale Voraussetzungen 227 ff. - rechtstechnische Funktion 98 f. - Schutz gegen Risiken 12 7 ff. - Schutzbereich 131 - soziale 124 f. - als staatsgerichtliche Abwehrrechte 88f., 94, 96, 98f., 105f, 108ff., 156f. - und Staatsunternehmen 231 f. - Unterlassungsansprüche 94, 97, 131, 155, 157 - Unterlassungspflicht 155, 157 - verfassungsimmanente Schranken 143f., 241 - Wertsystem 167 f. - zeitliche Dimension 206 ff. s. a. Nichtstörungsschranke/Schutzanspruch/Schutzpflichten/Wertskala grundrechtliche Schutzgüter 93ff., 107f., 128f., 144, 277 grundrechtliche Unterlassungspflichten 89 ff. Grundrechtseingriff 90, 95, 110 Grundrechtseinschränkung 90/95,182 f., 184 ff. - zugunsten Privater 91 ff. Voraussetzungen 99 f. Grundrechtsgefährdung 91, 127ff., 138ff. Grundrechtskonzeption, liberal-rechtsstaatliche 88, 99, 106, 123, 403 Grundrechtsrelevanz 134 Grundrechtsschranken 193 f. Grundrechtsschutz durch Verfahren 118f. Grundrechtstatbestand 193 f. Grundrechtstheorie 88
Sachregister Grundrechtsverletzung 127ff., 133, 276 Grundrechtsverwirklichung, soziale Voraussetzungen 124 Grundrechtsvoraussetzungen 227 ff. Grundsatz der Ausgewogenheit 237, 254/. Grundsatz der bestmöglichen Gefahrenabwehr und Risikovorsorge 281 Güterabwägung 212, 325ff. - einfachgesetzliche 319, 321, 351, 365 Güterkollisionen 167 f. Höchstwert 167 f. Hypothesen 388f. Immissionen, Begriff 293 Immissionskapazität/-volumen 300f., 345, 359 Immissionsprognose 393ff. - maßgeblicher Zeitraum 3 94 ff. Immissions(schutz)standard 297 ff. Immissionssummierung 296f., 301 Immissionsvermeidungspflichten 2 9 6 ff., 354 ff. Immissionsverursachung, Recht auf 246ff., 359, 366 Immissionsvorbelastung 344 ff., 394 Immissionswerte - Beachtlichkeit 375 - Festlegung als Planungsentscheidung 3 60 ff. - Festlegung als Ressourcenbewirtschaftung 360 - Sicherheitsfaktor 398f. - Verbindlichkeit 373ff. Individualgefahr 278, 282 Individualrisiko 151 ff., 278 - objektives 158ff. Begriff 160 - subjektives 159, 217ff., 222, 229, 282, 297, 342 Begriff 160 Industrie(system) 309, 312, 316, 325, 348, 350f., 367 Industrieermöglichungszweck s. Förderungszweck Industrieimmissionen, grundrechtlicher Anspruch auf Verursachung von I.? 247 ff. Ingerenz 190ff., 279 - Begriff 189, 196 - Rechtfertigungsbedürftigkeit 245, 283
423
Ingerenz(folgen)risiko 189, 190ff., 278, 331 Ingerenzverursachungsrisiko 189ff., 278 Ingerenzverursachungsverbot 245ff., 279 innerer Friede 24, 103 Interpretation bei kontradiktorischen Gesetzeszwecken 310ff., 354ff. ionisierende Strahlen 199 Je-desto-Formel 86, 149ff., 163, 165ff., 179f., 240, 336, 339, 398 judicial restraint 146 Kernenergie 234, 272, 274f., 280f., 284 Klagebefugnis 218 körperliche Unversehrtheit 169, 176f., 192f., 206 Kollektivrisiko 151 ff., 231, 278, 286, 296, 342 - Begriff 160 Kompetenz zur Konkretisierung unbestimmter Rechtsbegriffe 352, 402f. Kompetenznormen, materielle Bedeutung 27 I f f . Kompromiß 310f., 313, 319, 324f., 345, 347 ff., 382 Kongruenz/Inkongruenz doppelseitiger Rechtssätze 354 ff. Konkretisierungsspielraum und Verantwortung 62 Konstitutionalismus 10 5 f. Kontrolldichte - gerichtliche 352, 365, 377f. - verfassungsgerichtliche 145f., 186 Kontrolle s. Überwachung Kontrollnorm 146 Konzessionscharakter der Ingerenzverursachungsermächtigung/der Zulassung technischer Großprojekte 283, 286 Kultur 74 f. Lage, tatsächliche 20, 38, 71 Langzeitrisiken 206ff., 278 Leben 178f., 211 - als Höchstwert 167 ff. Legalenteignung 260 f. Leistimgsansprüche 123ff., 229 Leistungspflichten 276 Leistungsstaat 121, 124
424
Sachregister
leistungsstaatliches Grundrechtsverständnis 124 Letztentscheidungskompetenz 352, 354, 402 f. liberale Staatstheorie 105 Luft als knappes Gut 359 Luftbewirtschaftungsermessen - Begründung 343 ff. - und Grundgesetz 3 65 ff. Luftverschmutzungsfreiheit 246ff., 359, 366 Massachusetts, B i l l of Rights 103 Maßgabegrundrechte 124 Menschenrechte 98f., 104f., 107, 129 - als überpositive Rechte 98, 212 Menschenrechtserklärung s. Déclaration Menschenversuche 390 Menschenwürde 97, 125f., 158, 170f., 177 Mindestposition - des Anlagenbetreibers 313, 325 - des Immissionsbetroffenen 313ff., 324 f. s.a. Grundrechte Mindestsicherheitsstandard 140ff., 236, 253 Minimierungsgebot s. Risiko-/Emissions-/BeeinträchtigungsNachbesserungspflicht 137, 184ff. Nachteil 197, 292f. Nachweltschutz 206 ff. Natur 74 f. Naturrecht 98, 105 Naturzustand 102, 106 naturwissenschaftliche Standards 24 Nebenfolgen 135 neminem laedere 44, 78, 295 newcomer 300, 361, 370 New-Hamshire, Verfassung v. 31.10. 1783 102 f. Nichtstörungspflicht 255 Nichtstörungsschranke 241, 245, 246f., 279 Normalbetriebsrisiko 188 ff. Notwehr 92, 102, 104 öffentliche Sicherheit 113 ff. öffentliches Interesse 284f., 308f., 317 öffentlicher Zweck 283ff., 316f. Opportunitätsprinzip, polizeiliches 115
Optimierungsmodell 312ff., 318, 336ff., 344 ff. Optimierungspflicht 181 ff., 312 ff., 366 ff. österreichisches Allgemeines Bürgerliches Gesetzbuch 97 Person, personal, Personalität 97, 244, 251 Pflicht zum Einschreiten 115 ff. planerische Gestaltungsfreiheit 363f., 367 f. planerische Vorbelastungen 396 Planungsermessen 362, 363 f. Plutoniumwirtschaft 19 f. Polizei s. Anspruch/Pflicht zum Einschreiten polizeiliche Generalklausel 84, 136 Polizeipflicht(igkeit) 48f., 136 präventives Verbot m. Erlaubnisvorbehalt 61 f., 205, 284f. praktische Vernunft, Schwelle der 281 f. Prinzip Vorsicht, BImSchG 307 Privatnützigkeit 99f., 142, 197, 265 Privilegien 248 Prognosen 182, 186, 208, 388 - BImSchG 331 f. s.a. Gefahrenprognose/Immissionsprognose Prognosespielraum 186 f. - der Verwaltung 290, 402 Putativgefahr 385 Realbedingungen der Freiheit 24 reale Lage und Verfassung 20 Rechtsdurchsetzungspflichten 112 ff. Rechtsgeltung, reale Bedingungen 20 Rechtsgüter 144, 177f., s.a. Schutzgüter Rechtssatz, doppelseitiger 354ff. Rechtsschutz 112 Rechtssicherheit 374, 377 Rechtsstaat, liberaler 105 Rechtszustand 106 Referendum, elektronisches 226 f. repressives Verbot mit Befreiungsvorbehalt 284 Ressourcenbewirtschaftung 300, 360f. Restrisiko 87, 281 f. Risiko - Begriff 80 ff. - Erforderlichkeit 143 f.
Sachregister -
erlaubtes 63 f. - BImSchG 331 ff. - Größe 295 und Gefahr 83 ff. Größe 163, 165 Wertungsproblem 165 ff. - als Grundrechtseingriff 129 ff. - neuartiges technisches 255 f. - objektives 219, 221 - Quantifizierbarkeit 165 ff. - Rechtfertigungsbedürftigkeit 143, 161 - der Risikovermeidimg 21 - sekundäres 199 ff. - Sozialadäquanz 140ff., 146ff. - und subjektive Betroffenheit 218 f. - technisches 78f., 81 - unerhebliches 338 ff. - unvermeidbares 285, 335 s.a. Individual-/Ingerenz(folgen)-/Ingerenzverursachungs-/Kollektiv-/Normalbetriebs-/Störfallrisiko/Schaden Risikoabwehr 127ff., 138ff., 249ff. - unterhalb der Gefahrenschwelle 242ff., 250ff., 336ff. Risikobewertung 167 ff. Risikominimierungsanspruch 222 Risikominimierungspflicht/-gebot 183 f., 252ff., 280, 336ff. Risikoquelle 46 Risikorest s. Restrisiko Risikoskala 339 Risikotragungspflicht 131, 133, 134ff., 142, 143ff., 399, 403 Risikoverursacher, Grundrechte 233 ff., 279f., 283 Risikovorsorge 127ff., 181, 250ff., s.a. Risikoabwehr Risikozahl 158, 339 Rücksichtnahmegebot 326 ff. Sachverstand, technischer 24, 28, 373 Sachverständigengremien 24 Sachverständigengutachten 24, 353 f., s. a. antizipierte Sachverständigengutachten Sanierungsklausel 395 Sanktionen 119f., 201ff. Schaden - als Element des Gefahrensbegriffs 84, 196f., 292f., 303f. - für grundrechtliche Schutzgüter 197 - Quantifizierbarkeit 165 ff.
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Schadensausmaß - und Eintrittswahrscheinlichkeit 82f., 86, 165 ff. Schadensbewertung 16 5 ff. Schadensersatzanspruch 113 Schadenspotential, Bewertung 165 ff. Schadensvergleich 173 f., 177 f. Scheingefahr 385 Schutz und Freiheit 138ff. Schutz durch Sanktionen 119f., 201, 205 Schutzanspruch 216ff., 279 - und Gleichheitssatz 222 ff. Schutzbefugnisse, Grenzen 233ff., 279f., 282 ff. Schutzgüter, grundrechtliche 93ff., 144 Schutzgüter, verfassungsrechtliche, reale Voraussetzungen 227ff., s. a. grundrechtliche Schutzgüter Schutzpflichten 276ff. - gegen Diskriminierung 94, 126 - grundrechtliche 101 ff. als Gewährleistungspflichten 102 ff, 123 als Leistungspflichten 123 ff. als Schutzgewährungspflichten 111 ff. - - Umfang 109f., 138ff., 281ff. - objektive 154ff., 207 - primäre 108ff., 111, 122, 226 - und Privatautonomie 126 - und RisikoVorsorge 12 7 ff. - Schutz von Gemeinschaftsgütern 225 ff. - Schutz der realen Voraussetzungen von Schutzgütern 227ff. - sekundäre 108, Ulff., 122, 199ff., 226 - Verletzung als Grundrechtsverstoß 107 - völkerrechtliche 126 f. - zeitliche Dimension 206 ff. Schutzzweck, BImSchG 307, 309ff., 344 ff. Selbstbestimmungsrecht 209 Selbstverteidigungs-/Selbsthilfeverbot 92 f,, 104, 109f., 121 Selbstverantwortung 41, 51 Sicherheit 133, 277 - absolute 139, 202, 332f., 397 - Begriff 86 f. - und Freiheit 139f., 249, 277 - öffentliche 113ff., 203 f. - Recht auf S. 105, 138
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Sicherheitspflicht 249ff., 295 - Immissionsschutzrecht 290 ff. Umfang 294 f. Sicherheitsstandard 86, 87, 288ff. - Immissionsschutzrecht 290 ff. - - und Gefahrenbegriff 333 ff. immissionsbezogene Konkretisierung 345 f. Immissionsprognose 397 ff. 2 Komponenten 294f., 344 Maximalschwelle 345, 349 Minimalschwelle 345 Vergleich mit Gefahrenabwehr 333 ff. Verursachungsstandard 295f., 298ff. Wirkungsstandard 297ff., 343ff. - starrer 250ff. - verfassungsrechtlicher 138ff., 202ff. SicherheitsVorkehrungen 252 Sicherstellung der Grundpflichtenerfüllung, BImSchG 392 ff. Situationsprägung - örtliche 328f., 348f. - technologische 146 ff. Situationsveränderungen 396 Sozialadäquanz 195 ff., 199 - von Ingerenzen 246 - von Risiken 140ff., 146f., 202, 221 Sozialstaat 124f., 270 Staat - Friedensfunktion 24, 102, 109 - und Generationenwechsel 214 - Rechtsbewahrfunktion 105, 125 - und Rechtsordnung 65, 105f., 109 - und Technik 23f., 58f. - Verantwortimg für private Technik 58 ff. s.a. Gewaltmonopol Staatsaufgaben 114, 116 Staatszwecke 105 Stand der Technik 183, 337 Stand von Wissenschaft und Technik 189 Standards 184f, 288f., s.a. technische S./naturwissenschaftliche S. statistischer Nachweis 380 status negativus 52, 123 status positivus 123 Störer 48, 116f., 121f., 295, s.a. Risikoverursacher
Störfallrisiko 188ff., 296, 298f., 331 Störungsbeseitigungsanspruch 113 Störungsverbote 66 Strahlenminimierungsgebot 185 Straßenverkehr 286 Streitentscheidungspflichten 112 ff. Summierung von Risiken 255 SummierungsWirkung 297 Synergistische Wirkungen 297 TA Luft, Immissionswerte 37Iff. Technik 19ff., 206 - Begriff 7Iff. - und Grundgesetz 22, 280f. - und Grund-Lage der Verfassung 20 ff. - moderne 19, 38f., 77f., 280 - und Staat 23f., 58f. Technikfolgen 27, 38 - Zurechenbarkeit 208 Technische Anleitungen 360 technischer Fortschritt 19, 22 f., 38 - und Freiheit 22 technische Realisation 22 ff. technische Realisierbarkeit 312f., 333, 337f. technische Standards 24, 289 technischer Sachverstand s. Sachverstand, technischer technische Sicherheit 27, 288 technisches Sicherheitsrecht 27, 288ff. technischer Wandel 19 f. Technologie - Begriff 79f. - neue 256 Technologiefolgen s. Technikfolgen Technokratie 24 Trinkwasser 228 Übermaßverbot 149, s.a. Verhältnismäßigkeitsgrundsatz Überwachung 117f., 201ff. Überwachungspflicht 117 ff., 201 ff. Umwelteinwirkungen 293 - schädliche 294, 321 Umweltmedien 248f., 300 Umweltnutzungsrechte 248, 359 Umweltnutzungszweck 3Ò9, 312, 317, s.a. Förderungszweck Umweltschutzzweck s. Schutzzweck Unabhängigkeitserklärung, amerikanische 103
Sachregister unbestimmte Rechtsbegriffe 288f., 252 f., 356, 362, 40Iff. Unfallrisiko 188 Ungewißheit 189, 382, 386, 389 Unterlassungsanspruch 112 f. Unvermeidbarkeit - von Immissionen 312f., 327 - von Risiken 335 Unzumutbarkeit s. Zumutbarkeit
verantwortliches Handeln 21, 39 Verantwortlichkeit 41 - polizeiliche 48 f. Verantwortung 25ff., 29ff., 399 - Begriff 29ff. - und Entlastung 50f., 57 - als ethisches Prinzip 29 ff. - formale 26, 40f., 53f. - und Haftung 30, 34, 41, 43 - als materiales Prinzip 34 ff. - materielle 26, 32, 41 ff. - parlamentarische 53 ff. - politische 26, 53ff, 70f., 280ff. - und Rechtfertigung 30, 38, 56 - rechtliche 26, 39ff., 52, 55f., 70f. - und Rechtssatzstruktur 131 - residuelle 46 ff. - des Staates für private Technik 58 ff. - für das Verhalten Dritter 45, 58 ff. - Voraussehbarkeit 207 f. - für Unterlassen 42, 65, 70 - als Zurechnung 31 f., 59 ff. Verantwortungsethik 36ff. Verbot s. präventives/repressives V. Verfahren s. Grundrechtsschutz Verfassung und reale Lage 20 Verfassungsvoraussetzungen - faktische 104 - rechtliche 103f., 106, 227ff., 246f. s.a. Grund-Lage Verhältnismäßigkeit - des Ingerenzverursachungsverbots 245ff., 284 - von Kosten und Nutzen 237 f., 240, - 252ff., 313, 338 - der Risikoabwehr unterhalb der Gefahrenschwelle 242 ff. - von Sicherheitsanforderungen 162, 236ff., 342 f. Verhältnismäßigkeitsgrundsatz 238f., 243f., 254f., 314, 320, 334
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- und dynamischer Rechtsgüterschutz 182 f. - und Eigentumseingriffe 263 - und Gefahrenabwehr 237ff. - und Risikominimierungspflicht 252 ff. - und Risikotragungspflichten 142ff., 147 - und Schutzbefugnisse 233 ff. - und Schutzpflicht 153 Verhaltensfolgen 33, 36f., 44 - Zurechenbarkeit 31f. Verkehrsimmissionen 60 Versagungsermessen 284 f. - und Verantwortung 62 Verteilung von Ressourcennutzungsbefugnissen 345, 359, 370 Vertrauensschutz 258, 263 ff. Verursacherverantwortlichkeit 48 f., 295, 300, 302 Verursachungsstandard 295f., 298ff. Verwaltung - Beurteilungsspielraum 290 - Letztentscheidungsbefugnis 291 - Nebenfolgen und Vorbehalt des Gesetzes 135 ff. - Prognosespielraum 290 - Verantwortimg 57, 62, 290, 402f. Verwaltungsaufgaben und Risiken 135ff. Verwaltungsvorschriften, allgemeine 360, 373 Verweisung 185 Virginia, B i l l of Rights 98, 103, 138 Volk 228, 230f. Vorbehalt des Gesetzes 129, 134ff., 194 Vorbelastung s. ImmissionsVorbelastung Vorsorgeprinzip 340ff., 370f.
Wachstumsvorsorge 270 Wahrscheinlichkeit - und Erkenntnis 382, 388 - hinreichende 85f., 187, 190, 334, 336, 379, 384, 386ff., 398 s.a. Gewißheit, Ungewißheit Wahrscheinlichkeitsgrad 16 5 f., s.a. Je-desto-Formel Wahrscheinlichkeitsurteil - diagnostisches 383 f. - hypothetisches 383, 388 - prognostisches 383 - rechtliche Anforderungen 3 83 ff. weiträumige Immissionen 396f.
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Wesentlichkeitstheorie 285 Werte 167 f. Wertentscheidungen 145, 373, 375, 377 - ethische 37 - Konkretisierung des Gefahrenbegriffs 240f. - politische 24 s.a. Grundrechte Wertordnung 167 f. Wertskala -