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German Pages 234 Year 2021
Mirka Dickel, Hans Jürgen Böhmer (Hg.) Die Verantwortung der Geographie
Sozial- und Kulturgeographie | Band 47
Mirka Dickel (Dr. rer. nat.) ist Universitätsprofessorin für Didaktik der Geographie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind phänomenologische Hermeneutik, kulturelle und visuelle Räumlichkeiten, Wissenschaftskritik und reflexive Grounded Theory. Hans Jürgen Böhmer (Dr. rer. nat. habil.) ist Professor für Biogeographie an der School of Geography, Earth Science & Environment der University of the South Pacific (USP). Seine Arbeitsschwerpunkte sind Vegetationsdynamik, Naturschutz, montane Regenwälder und biologische Invasionen.
Mirka Dickel, Hans Jürgen Böhmer (Hg.)
Die Verantwortung der Geographie Orientierung für eine reflexive Forschung
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2021 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Umschlagabbildung: Hans Jürgen Böhmer, Nürnberg Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-5665-7 PDF-ISBN 978-3-8394-5665-1 https://doi.org/10.14361/9783839456651 Buchreihen-ISSN: 2703-1640 Buchreihen-eISSN: 2703-1659 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschau-download
Inhalt
Geographie und Verantwortung Sinnschichten geographischen Tuns Mirka Dickel............................................................................... 7
Geographie als Postwachstumswissenschaft Gemeinschaftliches Gärtnern in den Feldern der Erkenntnis? Antje Schlottmann ....................................................................... 35
Wie viel Sinnlichkeit vertragen die Sozialwissenschaften? Lebensphilosophische Reflexionen zur Sinnen- und Lebensferne spätmoderner Sozialwissenschaften Jürgen Hasse ............................................................................ 53
Die List der Verantwortung Corona, Kritik und Krise (der Theorie) Benedikt Korf ............................................................................. 71
Offenes Denken Zur verantwortungsvollen Wissenschaftspraxis der Geographie(-didaktik) Mirka Dickel & Georg Gudat................................................................ 91
Kritische Geographie als Beruf(ung) Kritik als Mediation und der Wille zur Verantwortung Klaus Geiselhart.......................................................................... 113
»Befreites Denken« und Ashbys Gesetz Über die Erweiterung des Raumes der Möglichkeiten Tilman Rhode-Jüchtern .................................................................. 131
Zur gesellschaftlichen Verantwortung der Wissenschaft Die Sicht der studentischen »Initiative Nachhaltige Universität Innsbruck« Franziska Allerberger, Lukas Emrich, Jacob Heuser, Philipp Mack, Jannis Weimar & Marlene Weiß............................................................................ 149
Nachhaltigkeit und Geographie Eine autobiographische Notiz Hans Jürgen Böhmer .................................................................... 173
Verantwortung der Geographie Moralische Implikationen geographischer Wissenschaft Jochen Laub ............................................................................ 189
»Wissenschaft ist kein Wunschkonzert« Überlegungen zur Verantwortung der (Kultur-)Geographie Anton Escher ............................................................................ 211
Autorinnen- und Autorenverzeichnis ........................................... 229
Geographie und Verantwortung Sinnschichten geographischen Tuns Mirka Dickel
Wissenschaft lässt sich als Überschneidung zweier Systeme, des sozialen und des erkenntnistheoretischen Systems, verstehen (Friedrich 1980: 15). Im sozialen System der Wissenschaft handeln Subjekte, ihre Interaktionen finden vor dem Hintergrund ihrer (wissenschaftlichen) Sozialisation (u.a. politische und weltanschauliche Bedingungen, Familie, Biographie) und wirksamen wissenschaftlichen Normen statt. Das Denken des/der Einzelnen ist situiert, abhängig von materiellen Bedingungen, z.B. finanziellen Möglichkeiten, kulturellem Kapital sowie impliziten weltanschaulichen Annahmen. Diese Bedingungen beeinflussen die politische Haltung, Interessen, Ziele und wissenschaftliche Praxis. Die Regeln des erkenntnistheoretischen Systems der Wissenschaften wie epistemische Verfahren, relevante Fragestellungen, Forschungsdesigns, Betrachtungsweisen legen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler fest. Das erkenntnistheoretische System ist Folge des sozialen Systems und damit historischen Wandlungen unterworfen. Die wissenschaftliche Praxis des bzw. der Einzelnen findet im Kontext eines sozial ausgehandelten und veränderbaren Rahmens statt. Die Antwort auf die Frage der Verantwortung ist daher nicht in der Anpassung an Fachtraditionen oder an erkenntnistheoretisch abgesicherten Theorien und Methoden zu finden, sondern angebunden an den eigenen wissenschaftlichen Vollzug. Das konkrete wissenschaftliche Tun verantworten letztlich die Wissenschaftlerin und der Wissenschaftler. Im Zeitalter der beschleunigten Moderne kommt der Verantwortung der Wissenschaftlerin und des Wissenschaftlers eine neue Aktualität zu. Der moderne Wissenschaftsbetrieb ist Teil einer entgrenzten, zentrumslosen, dem Wachstumsideal und den Auswüchsen der globalen Marktwirtschaft unterworfenen Welt, in der auch Forschung den Ökonomisierungstendenzen des Sozialen unterworfen ist und diese antreibt. Diese Zeitdiagnose betrifft die Lage der Wissenschaften im Allgemeinen und die der Geographie im Besonderen. Folglich lässt sich eine erste Erkenntnis festhalten: Die Antwort auf die Frage nach der Verantwortung von Wissenschaft ist eng verbunden mit der Frage danach, wie im Modus von Anpassung und Eigensinnigkeit die wissenschaftliche disziplinäre Praxis an der Schnittstelle von sozialem und erkenntnistheoretischem System unter den Bedin-
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gungen der ökonomisierten und beschleunigten Moderne sowie im Hinblick auf wünschenswerte, zu vermeidende und auch unvorhersehbare zukünftige gesellschaftliche Entwicklungen immer wieder neu zu formulieren ist. Neben dieser über alle Fächergrenzen hinaus geltenden Notwendigkeit der Formulierung dessen, was es heißt, dass Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler Verantwortung tragen, gibt es auch eine fachspezifische Dimension der wissenschaftlichen Verantwortung; denn die Frage nach der verantwortungsvollen Wissenschaftspraxis stellt sich für jedes Fach auch in fachspezifischer Weise. So trägt jede Fachdisziplin aufgrund ihrer tradierten Identität Verantwortung, also aufgrund dessen, was sie im Unterschied zu anderen wissenschaftlichen Disziplinen ausmacht, und wie sie sich von dort her an der gesellschaftlichen Wissensbildung beteiligt. Was es für das Fach Geographie heißt, fachspezifische Verantwortung zu haben, kann aus Überlegungen gefolgert werden, die sich dem widmen, was die Spezifik der Geographie ausmacht. Derzeit prägt die Rede vom Doppelcharakter der Geographie als Physische Geographie und als Humangeographie unser gespaltenes disziplinäres Selbstverständnis. Dies grundiert unsere Fachkultur, konkret die derzeitigen Instituts-, Kommunikations-, Tagungs-, Forschungs- und Veröffentlichungslogiken. Die fachinterne Debatte darüber, wie die Geographie die Einheit von Physischer Geographie und Humangeographie (wieder) herstellen und sich als Fach neu entwerfen kann, wurde bereits verschiedentlich geführt (vgl. u.a. Massey 1999, Heinritz 2003; Weichhart 2003; Harrison et.al. 2004; MüllerMahn/Wardenga 2005, Wardenga/Weichhart 2006, Schurr/Weichhart 2020). Um besser verstehen zu können, was es mit der fachspezifischen Verantwortung der Geographie auf sich hat, müssen wir im Folgenden die Suche nach der Antwort auf die Frage, was mit geographischer Spezifität im Sinne eines ganzheitlichen Geographieverständnisses gemeint ist, wieder aufgreifen und diese im Hinblick auf den Zusammenhang von Geographie und Verantwortung auslegen. In dieser Einführung geht es nun also weder darum, die Theorie- und Reflexionshorizonte der hier versammelten einzelnen Beiträge zur Verantwortung der Geographie, die in verschiedenen Traditionen und Hintergründen verortet sind, aus einer Metaperspektive zu reflektieren, noch darum, eine absolute Antwort auf die Frage nach der Verantwortung der Geographie zu geben. Vielmehr möchten wir den Blick an dieser Stelle weiten, indem wir eine Frage stellen, die vor der Frage nach dem, was Verantwortung der Geographie im Konkreten heißt, angesiedelt ist. Wir fragen danach, von wo aus sich die Grundfrage nach der disziplinspezifischen Verantwortung der Geographie stellen lässt und von wo aus sie immer wieder aufs Neue ihre Relevanz gewinnt. Die Herkunft der Frage nach der Verantwortung der Geographie lässt sich erhellen, wenn wir an der Spezifik der Geographie ansetzen und Überlegungen dahingehend anstellen, was es heißt, speziell Geographie als Wissenschaft zu treiben und in diesem Fach als Wissenschaftlerin und als Wissenschaftler erfahren zu sein. Die Rede von der Spezifik darf hier aber keineswegs im
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Sinne eines letztgültigen und feststehenden Wesens der Geographie missverstanden werden. Vielmehr wird im Folgenden deutlich, dass die Spezifik der Geographie an ein Tun gebunden ist, was sich überhaupt erst im Einlassen auf lebensweltliche Phänomene und im Hinblick auf die Reflexion der tradierten geographischen Verhältnisse sowie der eigenen Positionalität und Situiertheit als Geographin und Geograph immer wieder aufs Neue, kontextgebunden, ergibt. Auf diese Weise hoffen wir, deutlich zu machen, dass es für die Geographie ihrem Selbstverständnis nach wesentlich ist, sich auch immer wieder neu zu vergewissern, was es heißt, verantwortungsbewusst zu handeln. So lässt sich erkennen, dass die Frage nach der geographischen Verantwortung eine Frage ist, die sich ausgehend vom forschenden Tun und dem Selbstverständnis der Geographie stellt und dass diese nicht erst von außen an die Geographie herangetragen werden muss. Um diesbezüglich theoretischen Boden unter die Füße zu bekommen, befassen wir uns also aufs Neue mit dem Selbstverständnis der Geographie. Im Unterschied zu bisherigen Bemühungen, das Selbstverständnis der Geographie ausgehend von Möglichkeiten der Integration ihrer inkommensurablen Teilbereiche, der Physischen Geographie und der Humangeographie, zu bestimmen, um eine fachliche Einheit der in viele Teilgebiete aufgegliederten fachlichen Doppelstruktur wiederherzustellen, schlagen wir einen anderen Weg ein. Von einem dritten Standpunkt aus, also weder dem der Naturwissenschaften noch dem der Sozial- oder Kulturwissenschaften, sondern dem der Geisteswissenschaft, konkret der Hermeneutik, entwickeln wir das, was Geographie ist, nämlich aus dem Verständnis dessen, was Geographinnen und Geographen tun. Die »Was-ist-Frage« bzw. »Was-heißt-Frage« wurde im Hinblick auf die Geographie schon verschiedentlich gestellt. Während Hard, der analytischen Sprachphilosophie folgend, 1973 noch daran zweifelt, ob die »Was-ist-Frage« überhaupt sinnvoll zu stellen ist, da es aufgrund der unterschiedlichen Möglichkeiten, diese Frage zu verstehen, keine befriedigende Antwort geben könne, stellt er im Rahmen der Re-Analyse (Hard 1990) der zuvor »eskamotierten Frage« verschiedene mögliche Antworten vor. Eisel (u.a. 1980, 2015), Pohl (1986), Hard (2002), Zahnen (2005, 2007), Dickel (2015, 2018, 2019, 2020) machen eine geisteswissenschaftliche Antwort aus den Gefilden der Hermeneutik stark. An diese hermeneutischen Vorarbeiten knüpfen die folgenden Überlegungen an. Wir wählen die wohl bekannteste Antwort auf die Frage, »was Geographie ist«, zum Ausgangspunkt unseres Nachdenkens. Es handelt sich um die Antwort des Geographen Ron Johnston von 1980: »Geography is what geographers do« (vgl. Schlottmann/Wintzer 2019: 9). In einer unermüdlichen Vertiefung in diese Antwort, über die wir immer wieder zum Kern der Geographie vorstoßen, geraten wir in eine gedankliche Bewegung, die unsere Überlegungen ins Offene führt. Auf diesem Denkweg gerät zunehmend besser in den Blick, was mit dem Selbstverständnis der Geographie gemeint ist und inwiefern fachspezifische Verantwortung zu unserem disziplinären Selbstverständnis immer schon gehört. Im Zuge des argumentati-
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ven Fortschreitens wird zweierlei deutlich: Die Frage nach der Verantwortung der Geographie ist dem geographischen Fragen und Forschen immanent und zugleich lässt sich die Antwort nicht ein für alle Mal finden. Was Verantwortung jeweils ist, ist auf ganz konkrete Situationen angewiesen, die eine je spezifische Antwort von uns verlangen. Anders gesagt: Es lässt sich im Folgenden zeigen, dass der geographischen Forschung selbst die Notwendigkeit der immer wieder neu zu klärenden Frage nach der geographischen Verantwortung eingeschrieben ist. Dass dies so ist, ist uns mehr oder weniger bewusst. Die bekannte Antwort »Geography is what geographers do« dient als Einstieg in einen hermeneutischen Zirkel. Diese Antwort erscheint deshalb als weiterführend, da sie im Laufe der Zeit zu einem geflügelten Wort im Fach Geographie geworden ist. Der Status der weithin bekannten Redewendung lässt erahnen, dass an dieser Antwort »etwas Wahres dran« sein könnte, auch wenn das nicht sofort erkennbar ist. Denn die Aussage lässt sich weder pauschal als »falsch« ablehnen, noch kann sie einfach ad acta gelegt und vergessen werden, wie andere beiläufige Äußerungen. Zunächst erscheint dieser Satz aber überaus nichtssagend und banal, sodass ihm auf den ersten Blick jegliche Deutungstiefe abgesprochen werden muss. Doch auf den zweiten, dritten und vierten Blick eröffnen sich Deutungsebenen, die der oberflächlichen Rezeption verborgen bleiben. Durch den hermeneutischen Zugang lassen sich zunehmend tiefgründigere Bedeutungen dessen, was Geographie ihrer Spezifik nach ist, herausarbeiten. Über die wiederholt ansetzende kontemplative Vertiefung in die scheinbar triviale Redewendung bringen wir nach und nach nicht nur andere, sondern zunehmend tieferliegende Bedeutungen der Spezifik geographischen Tuns ans Licht. Die Betonung von »tieferliegenden« statt »anderen« Bedeutungen weist darauf hin, dass die Verstehensschichten, die wir in der geistigen Übung zu Tage fördern, nicht bloß gleich gültig, d.h. mit gleichermaßen geltendem Anspruch nebeneinanderstehend und austauschbar sind. Über das wiederholte sinnvolle und damit auch richtungsweisende Lesen und Deuten der Redewendung dringen wir vielmehr tatsächlich in ein immer umfassenderes Verständnis der Spezifik geographischen Tuns vor, so dass nach und nach immer auch tiefer liegende – statt bloß andere – Verstehensschichten freigelegt werden können. Eine Verstehensschicht geht aus der anderen hervor und hebt die frühere Verstehensschicht auf. Aufhebung ist hier mit Hegel in dreifacher Weise gemeint: Aufheben als Überwinden einer früheren Verstehweise, Aufheben als Aufbewahren des zukunftsträchtigen Sinns der früheren Verstehweise in der späteren und Aufheben als Erhöhung durch Integration der früheren Verstehweise in eine neue tiefgründigere Verstehensschicht. Diese verstehende Annäherung an den Sinn der Geographie folgt keiner Teleologie, sie ist zweckfrei, da sie kein im Vorfeld festgelegtes Ziel im Sinne einer Festschreibung dessen, auf welche Art sich die Verantwortung der Geographie idealerweise reali-
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siert, im Visier hat. Das hermeneutische Verstehen setzt eine Entwicklung als ein nie endendes Sinnverstehen in Gang. Sinnschichten werden nacheinander abgetragen, ohne dass wir jemals zu einer letzten Sinnschicht vorstoßen könnten. Immer dann, wenn es um einen konkreten, d.h. individuellen hermeneutischen Zirkel geht, können wir von Sinn- oder Verstehensschichten sprechen, da das Verstehen für denjenigen, der sich verstehend mit der Sache auseinandersetzt, mit der Zeit immer tiefgründiger wird und die Theoriebezüge, die an die Sache angelegt werden, an Komplexität gewinnen. Die Sinnund Verstehensschichten sind der Sache aber nicht immanent, sie finden sich erst im Zuge der verstehenden Begegnung mit der Sache. Auch Geographinnen und Geographen sind gemäß ihrer Positionalität und Situiertheit auf je eigene Weise in der Welt und geraten auch auf je eigene Weise in den hermeneutischen Zirkel hinein, so dass der individuelle Verstehens- und Sinngebungsprozess auf je eigene Weise geschichtet ist. Individuell ist der Verstehensprozess also in dem Sinne, dass Verstehen durch ein Individuum vollzogen wird, nicht aber in dem Sinne, dass Verstehensprozess und Erkenntnis bloße Schöpfung subjektiven Bewusstseins sind. Gemäß der phänomenologischen Hermeneutik legt sich das Selbst im Vollzug des Verstehens im Anderen, Fremden aus. Phänomenologische Hermeneutik hat nicht den Anspruch, den Gegenstand der Forschung abschließend zu beschreiben oder zu identifizieren. Phänomenologisches Sinnverstehen zeichnet sich vielmehr dadurch aus, dass das, was sich zeigt und wie es sich zeigt auf unterschiedliche Weise thematisch wird und in immer wieder neuen und sich ggf. auch widersprechenden Denk- und Sprachbewegungen sinnvoll zur Darstellung gebracht werden kann. Es geht um eine Kohärenz in der Darstellung, die aus Zugängen besteht, die z.T. auch gegeneinander verschoben sind. Die Schichtung des Sinns wird also nicht als bruchlose Einheit im Sinne eines lückenlosen Ganzen, eines nahtlosen oder fixen Systems gewährleistet. Blicken wir von außen auf den Verstehens- und Sinngebungsprozess, so lassen sich Spuren im Vollzug des Verstehens finden, die auf die Übergänglichkeit von Sinnschichten hindeuten. Die Bedeutungsvielfalt einer Sache lässt sich auch unabhängig vom individuellen Verstehensprozess im Hinblick auf Form und Funktion der Polytextualisierung im Sinne von »Geographien im Plural« analysieren. Hermeneutisches Sinnverstehen wird im Folgenden also nicht als klassische Lehre des Verstehens als theologische Bibelexegese, juristische Rechtsprechung, philologische und historische Auslegung klassischer Texte in Anschlag gebracht, sondern in der Manier der phänomenologischen Hermeneutik Heideggers, Gadamers und Merleau-Pontys, in welcher das Eigene im Zuge der Begegnung zwischen Eigenem und Fremdem nicht zugunsten des Fremden aufgegeben wird. Ebenso wenig wird das Fremde zerstört, sobald es auf Eigenes bezogen wird. »Eigenes und Fremdes sind keine ›Substanziale‹, keine Wesensbegriffe, sondern relationale Phänomene, die einander voraussetzen und implizieren. Ein Fremdes an sich
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gibt es ebenso wenig, wie ein Eigenes an sich« (Cercel 2015: 171). Und in diesem relationalen Verhältnis von Eigenem und Fremdem lässt sich zu Recht davon sprechen, dass Verstehen in immer tiefere Sinnschichten vordringt, gleichwohl ohne einen Kern im Sinne einer konkreten Gestalt der Geographie jemals festzuschreiben. Vom Kern der Geographie zu sprechen ist im Sinne der phänomenologischen Hermeneutik also nur mit der Vorstellung eines unendlichen – aber nicht zufälligen oder beliebigen – Gestaltwandels der Geographie vereinbar. Steigen wir nun in den hermeneutischen Zirkel ein. »Geography is what geographers do«. Was Geographie ist, macht sich an dem fest, was Geographinnen und Geographen tun. Diese Redewendung schließt aus dem konkreten Tun der Geographinnen und Geographen auf die Spezifik der Geographie. Geographie ist dementsprechend die Summe der gewählten Forschungsgegenstände, formulierten Forschungsfragen und habitualisierten Forschungsstile. So kommt es in der Geographie nicht selten sogar zu der Einschätzung, dass es »so etwas wie ›die Geographie‹ nicht gibt. Es finden sich in differenzierter Form, je nachdem aus welcher Perspektive die jeweiligen Wissenschaftler ›die‹ bzw. ›ihre‹ Geographie betrachten, unterschiedliche wissenschaftliche Standortbestimmungen« (Baade/Gertel/Schlottmann 2010: 31). Diese deskriptive, also beschreibende, statt präskriptive, also vorschreibende, Bestimmung dessen, was unter Geographie zu verstehen ist, versammelt unendlich viele Möglichkeiten, da kein Gegenstandsbereich, keine Forschungsfrage, keine Methodik, keine Repräsentationsform je als nicht-geographisch ausgeschlossen werden kann. Was Geographie ist, wird im Moment des Tuns von Geographinnen und Geographen immer neu entschieden. Geographie ist diesem Verständnis nach einfach alles, was von Geographinnen und Geographen jemals umgesetzt wurde, was zukünftig umgesetzt wird oder sich auch nur im Bereich der möglichen Umsetzung befindet. Das Tun der Geographinnen und Geographen untersuchen Glückler/Goeke (2009) und Auvenvenne/Steinbrink (z.B. 2014) mit Hilfe von Netzwerktheorie, konkret durch Zitationsund Netzwerkanalysen, um herauszufinden, ob die Teilbereiche der Geographie, Physische Geographie, Humangeographie, Geographiedidaktik, sich in ihren Forschungen überhaupt wechselseitig zur Kenntnis nehmen. Auf diese Weise erhoffen sich die Autoren, festzustellen, ob die Rede vom Brücken- oder Integrationsfach Geographie bloße Rhetorik ist oder ob diese einer empirischen Analyse stand hält (http://geographische-netzwerkstatt.uni-passau.de. Zugriff am 13.1.2021). »Das Ganze« der Geographie ist aber nicht nur die Summe seiner Teile, sondern zugleich mehr bzw. anders als die Summe seiner Teile. »Mehr« bzw. »anders« deutet an, dass das, was Geographie ist, überhaupt nicht über die Addition all dessen, was sich bis heute oder zukünftig als Geographie ausgibt, gefolgert werden kann. Was heißt das für unser Verständnis von Geographie? Wenden wir uns noch einmal der Redewendung zu. Die Antwort »Geography is what geographers do« wird nicht selten von einem Augenzwinkern begleitet. Zwinkernden Auges weisen
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wir auf zweierlei hin: zum einen darauf, dass die konkrete Antwort auf die Frage danach, was Geographie ist, mit dieser Definition wohlwissend umgangen wird, zum anderen darauf, dass wir »unter uns« in der Geographie schon wissen, was mit Geographie gemeint ist, so als gäbe es ein unsichtbares Band, das unsere Forschungsbemühungen doch insgeheim zusammenhält, welches aber im intuitiven Tun liegt und nicht einfach zur Sprache gebracht werden kann. Da es sich um ein stillschweigendes Wissen handelt, ist es für Außenstehende nicht so einfach zugänglich. Jemand, der dieses tacit knowledge nicht hat, kann eben auch jenes Augenzwinkern nicht mit Inhalt füllen und bleibt außen vor. Ein Außenstehender wird sein Verständnis der Geographie dann vielleicht von der gesellschaftlichen und politischen Bedeutung der Disziplin herleiten: Von der Angewandten Geographie, die Lösungen gesellschaftlicher raumbezogener Probleme überwiegend im regionalen Maßstab sucht und findet, sowie von dem Schulfach Geographie, an das sich jeder aufgrund unterschiedlicher didaktischer Inszenierungspraktiken und aufgrund der je persönlichen Situiertheit während der Schulzeit auf eigene Weise erinnert. Die Frage, was Geographie im Kern ist, ist aber strenggenommen eine Frage nach Erkenntnis, nach verbindlichem und wahrem Wissen. Daher ist die Frage nach dem Kern des Geographischen von der Frage nach der gesellschaftlichen und politischen Bedeutung der Disziplin noch zu trennen. Knüpfen wir bei der Suche an, welcher gemeinsame Nenner die vielseitigen Forschungsvorhaben der Geographie grundiert, was es also rechtfertigt, Geographie als eigene Disziplin zu verstehen. Um hier weiter zu kommen, wären die Grenzen der Geographie zu formulieren. Grenzziehung beschneidet nicht nur die Unendlichkeit der Möglichkeiten, vielmehr macht sie eine konkrete Form, nämlich die der Geographie, überhaupt erst erkennbar. Eine Geographie, die sich ihrer Möglichkeiten und Grenzen bewusst ist, kann erläutern, was die Spezialität eines Geographen, einer Geographin ausmacht, also dasjenige, worin Geographinnen und Geographen mehr Erfahrung haben als Vertreter anderer Fächer (Dürr/Zepp 2012: 52). »Geography is what geographers do«. Wie lassen sich die Grenzen der Geographie nun dingfest machen? Dürr & Zepp (2012) schlagen vor, folgendermaßen zu fragen: »Welche besonderen Perspektiven auf die Wirklichkeit sind für das Fach überhaupt wichtig (gewesen): Durch welche Brille betrachten Geographen die Welt? Mit einer anderen Metapher gefragt: Welche Art von Maschen weist das Netz auf, mit dem Geographen das Meer der Wirklichkeit abfischen? Worauf legen Geographen besonderen Wert, wenn sie die Wirklichkeit beobachten und analysieren? Welchen Eigenschaften natürlicher, gesellschaftlicher und kultureller Sachverhalte gilt ihr spezielles Interesse?« (Dürr/Zepp 2012: 52) Mit diesen Fragen weisen Dürr & Zepp (2012: 11 in Anlehnung an Harvey 1969) darauf hin, dass es neben der thematischen und methodologischen Vielfalt des Faches
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Geographie auch noch eine Identität der Geographie gibt, die formuliert werden kann. Als Geographinnen und Geographen können wir auf einen langen Weg zurückblicken, auf dem wir Erfahrungen mit der Geographie gemacht haben. In dieser langen fachlichen Erfahrungsbildung lernen wir typische, bewährte Sichtweisen, Denkmuster und Verfahren der Geographie kennen und wenden sie an. Auf diese Weise in das Fach hineinsozialisiert werden wir überhaupt erst zu Geographinnen und Geographen. Wir üben uns in geographischen Denk-, Darstellungsund Vermittlungsweisen wie ein Fischer, der sich im Fischfang übt, z.B. indem er übt, ein Netz zu knüpfen, die Fanggründe einzuschätzen und Geduld zu haben. Der geographische Blick ist also nicht bloß individuell geformt, es ist kein Blick, der überall hingleiten und beliebig anhaften kann. Sehen bedarf vielmehr einer Schulung des Blicks und hat damit sozialen und konventionellen Charakter (Fleck 1980). Der geographische Blick wird also durch unsere Sozialisierung im Fach geprägt, und über diese Prägung sind wir an eine geographische Tradition angebunden. Es entsteht ein nicht nur disziplinpolitisches, sondern auch ein paradigmenspezifisches Sehen. Ein gerichtetes Sehen und Erlernen eines spezifischen Blicks sind damit notwendige Voraussetzungen, um im Chaos visueller Perzeptionen Sinn zu finden und Dinge und Gestalten zu sehen (Michel 2014:24). Wir greifen diese disziplinpolitischen und paradigmenspezifischen Traditionen auf, entwickeln sie und geben sie weiter. Dies ist sogar dann der Fall, wenn sich der eigene geographische Blick zuweilen auch im Bruch mit der Tradition realisiert. Auch eine Abwendung von der Tradition der Geographie ist noch durch diese selbst motiviert. Daher können wir davon sprechen, dass der geographische Blick geschichtlich geworden ist. Die Geschichtlichkeit des geographischen Blicks ist also der Pfad, der uns hinsichtlich der Frage nach der Spezifität der Geographie weiterführt. Aufgrund der mehr oder weniger bewussten Geschichtlichkeit des forschenden Tuns ist es plausibel, dass sich die Geographie durch spezifische Forschungsfragen und -stile auszeichnet (Dürr/Zepp 2012: 49). Wenn wir im Hinblick auf unsere eigene Geschichte als Forscherin bzw. Forscher sowie im Hinblick auf die Geschichte des Faches Geographie unser forschendes Tun reflektieren und begründen können, d.h. Gründe angeben können, die einer argumentativen Reflexion standhalten, können wir unser forschendes Tun verantworten. Denn um etwas zu verantworten reicht es nicht, bloß etwas zu tun. Etwas zu verantworten, ist immer damit verbunden, dass wir das, was wir tun, auch reflexiv einholen können. Gemeint ist, dass die Rede von der Verantwortung es notwendig macht, die Gründe zu nennen und argumentativ zu prüfen, aus denen wir etwas tun. Argumentativ geprüfte Gründe gelten als gute Gründe. Im Hinblick auf eine verantwortungsvolle geographische Wissenschaftspraxis ließe sich die Antwort »Geography is what geographers do« also im Sinne dieses Reflexivitätspostulates erweitern: Geographie ist, was Geographinnen und Geographen tun, sofern sie aus guten Gründen – d.h. Gründen, die argumentativ auf die Probe gestellt wurden – ihre geographische Praxis verantworten können.
Geographie und Verantwortung
Wenden wir uns der Antwort »Geography is what geographers do« ausgehend von der zuvor formulierten Einsicht, dass Geographie weder uferlos, noch beliebig ist, sondern guten Gründen folgt, ein weiteres Mal zu. Können wir die Spezifität der Geographie konkreter fassen? Inwiefern lassen sich gute Gründe für das eigene forschende Tun anführen? Sicherlich hat derjenige oder diejenige gute Gründe für sein bzw. ihr forschendes Tun, der bzw. die sich in der hochdiversen, zum Teil disparaten Forschungskultur der Geographie auskennt und sich bewusst für einen Forschungszugriff entscheidet. Denn die Geographie zeichnet sich derzeit durch ganz unterschiedliche theoretische und empirische Forschungslogiken, -stile und -ergebnisse aus, die einander ergänzen, beflügeln und auch widersprechen. Wer die aktuelle Unübersichtlichkeit der theoretischen Vielfalt der Geographie als ungeographisch beklagt, der sei eines Besseren belehrt und auf die Geschichte der Geographie hingewiesen. Denn die Perspektivierungen gibt es in der Geographie aus gutem Grund, wie sich leicht feststellen lässt, wenn man das letzte Drittel des letzten Jahrhunderts Revue passieren lässt. Die Pluralität an Paradigmen wird dem Selbstverständnis der Geographie als einem multiparadigmatischen Fach spätestens seit den 1980er Jahren gerecht. Die Disziplin hat sich seitdem aus einer positivistisch und quantitativ ausgewiesenen engen Rahmung, die sie »nach Kiel (1969)« in Abkehr von der Länder- und Landschaftskunde angenommen hatte, herausgeschält. Vergleichende Landschaftskunde und Allgemeine Landschaftsforschung war neben der Länderkunde im 20. Jahrhundert bis zur quantitativen Revolution »nach Kiel« (1969) das Erfolgsmodell der sich als Einheit verstehenden Geographie. Allerdings war die Landschafts- und Landeskunde in inhaltlicher und methodologischer Hinsicht ideologisch belastet. Michel (2014: 34) und Eisel (2015: 315) stellen heraus, dass die Landes- und Landschaftskunde an ihre Grenzen stieß, »weil der Geograph um 1920 über keine Instanzen verfügte, die über das Typische, Charakteristische, Durchschnittliche oder Wesentliche einer Landschaft oder einer geographischen Gegebenheit im Sinne eines Begriffs von Objektivität entscheiden lassen. Es fehlen dem Geographen damit Verfahren und Strategien, die ihm die Entscheidung abnehmen und ihn als Subjekt zurücktreten lassen.« »Die Landschafts- und Länderkunde konnte weder etwas zu einem politisch aufgeklärten Schulunterricht einerseits, noch etwas zu einer erfolgversprechenden Berufsperspektive in der Raum- und Regionalplanung andererseits beitragen. Das Fach war – unter fortschrittlichen Gesichtspunkten – irrelevant (…)« (Eisel 2015: 315) geworden. Die Landschafts- und Landesforschung wurde daher spätestens Ende der 1960er Jahre aufgegeben, auch wenn sie als »Residualparadigma« (Schurr/Weichhart 2020:
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55) überlebt hat und heute als Randerscheinung im Kontext einer sozialtheoretisch informierten Landschafts- und Länderkunde in die Geographie zurückgekehrt ist. Die derzeit in der scientific community gepflegten natur-, sozial- und kulturwissenschaftlichen Wissenschaftsparadigmen, die in der Geographie nacheinander sowie zunehmend auch nebeneinander und aufeinander bezogen in Anschlag gebracht werden, haben dazu geführt, dass die Geographie heute ein Fach ist, das im wissenschaftlichen Konzert der theoriegeleitet arbeitenden universitären Disziplinen gleichrangig mitspielen kann und Anerkennung findet. Während Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler früher zumeist in ein Paradigma hineinsozialisiert wurden, das sie im Laufe ihrer Wissenschaftskarriere beibehielten, das dann schulenbildend wirksam wurde, besteht das Selbstverständnis vieler Geographinnen und Geographen heute nicht selten darin, die paradigmatischen Grenzen des eigenen Denkens immer wieder zu überschreiten, immer neue und andere Fragen zu stellen. Diese paradigmatische Entgrenzung hat dazu geführt, dass es z.B. eine nicht geringe Anzahl an Sozialtheorien gibt, auf die sich sowohl die Soziologie als auch die Geographie bezieht. Doch es macht aufgrund der Fachkultur, die jede Wissenschaftlerin, jeden Wissenschaftler prägt, den Unterschied, der einen Unterschied macht (Bateson), ob Geographinnen und Geographen oder Soziologinnen und Soziologen sich auf diese Theorien beziehen. Daher lässt sich auch eine Disziplin nicht einfach durch eine andere ersetzen. Auf dem Wege des Immer-weiter-Fragens geraten immer neue Facetten eines Forschungsgegenstandes in den Blick. Jedes Mal werden neue Symbolisierungen und Deutungsmuster relevant. Diese Praxis zeugt von einem selbstbewussten Geographieverständnis dahingehend, dass sich die Geographie von der Ausrichtung an vorgeordneten Logiken ebenso wie vom Kampf der Paradigmen weitestgehend emanzipiert hat und als theoretisch ausgewiesene und lebendige Wissenschaft im universitären Fächerkanon ihren Platz einnimmt. Geographie ist ein Fach, das tiefgründig genug ist, um ein immer wieder neues Hinsehen und Nachdenken zu ermöglichen, so dass Selbstverständlichkeiten hinterfragt werden können und sich Forschung im Zuge des immer wieder neuen Staunens und immer wieder neuen theoretischen Zugreifens auch immer wieder neu ausrichten kann. Eine Disziplin, die das kann, wirkt auf die Forscherin und den Forscher emanzipierend, im besten Sinne ermächtigend. Im Unterschied zu der ersten grenzenlosen und relativistischen Lesart der Redensart »Geography is what geographers do« im Sinne eines wahllosen »anything goes« wird nun deutlich, dass Geographie in das persönliche Forscherinnen- und Forscherleben, in das Fragen und Forschen der Geographinnen und Geographen selbst, verwickelt ist. Mit dem Ausdruck »Kern der Geographie« ist also keine feststehende letzte absolute Vergewisserung über einen Forschungsgegenstand gemeint. Es ist kein Gegenstand gemeint, der in der Struktur der Wirklichkeit selbst objekthaft vorkommt, da die Klassifikation der Welt in wissenschaftliche Gegenstände die Wirklichkeit niemals einzuholen vermag. »Kern
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der Geographie« meint hier ebenso wie der Kern anderer Disziplinen vielmehr ein tradiertes Gebilde und eine habitualisierte Praxis. Fragen und Forschen ist zeitlich bezogen, d.h. die Forscherin, der Forscher kann nicht zu jeder Zeit jede nur denkbare Forschungsfrage stellen. Die Bedingung der Möglichkeit, dass sich Forschungsfragen überhaupt stellen, besteht darin, dass andere Forschungsfragen zuvor schon gestellt und beantwortet wurden. Kurz: Forschungsfragen und die damit verbundenen Forschungsparadigmen werden überhaupt erst zu einer Zeit relevant, wenn ein Forscher, eine Forscherin in der Lage ist, mit der Forschungsfrage einen Umgang zu finden, bzw. wenn eine Forschungsfrage »an der Zeit« ist. Das liegt daran, dass die Forschungsfrage schon in die Richtung weist, aus der die Antwort entgegen kommt. Etwas wird uns dann zur Frage, wenn wir die Richtung, in der die Antwort gefunden wird, schon ahnen, aber noch nicht in Worte fassen können. Die Antwort liegt noch bzw. schon unbewusst vor uns, die Bewusstwerdung wird durch die Forschungsfrage gebahnt. Die Zeitlichkeit von Forschungsfragen bleibt jedoch häufig unerkannt, denn die zeitliche Gebundenheit lässt sich nicht von außen, sondern nur aus dem Erfahrungsprozess des Forschers bzw. der Forscherin selbst verstehen. Zeitlichkeit ist immer auf das eigene konkrete Tun verwiesen. Aufgrund der geringen Bedeutung, die die Dimension der Geschichtlichkeit in der Geographie hat – vielleicht aufgrund der unrühmlichen Verstrickung der Disziplin in die nationalsozialistische Ideologie oder aufgrund der Geographien, der synchronen Vielstimmigkeit der Forschungsperspektiven und Theoriesprachen in der Geographie seit den 1980er Jahren – ist die reflexive geschichtliche Selbstverortung für die einzelne Geographin, den einzelnen Geographen derzeit eher schwierig. Halten wir jedoch fest, dass die reflektierte Haltung im Hinblick auf die Geschichte der Geographie sowie auf das eigene Forscherinnen- und Forscherleben eine wesentliche Voraussetzung ist, um auf verantwortungsvolle Weise Geographin oder Geograph zu sein. Bisher ist deutlich geworden, dass die Redewendung »Geography is what geographers do« mitnichten einer Freiheit geographischen Tuns jenseits aller Bindung das Wort redet. Vielmehr ist die verantwortungsvolle Wissenschaftspraxis an die eigenen Fragen der Geographinnen und Geographen gebunden. Im Zuge des eigenen Fragens und Forschens gewinnt und verändert unsere Disziplin ihre Gestalt. Mit dem Ausdruck »eigene Fragen« sind keine Fragen gemeint, die bloß dem privaten Interesse entspringen. Viele Fragen stellen sich aus der disziplinären Logik heraus. Damit uns bestimmte Weltausschnitte überhaupt zum Fragen affizieren, braucht es bereits eine fachliche Verortung wie z.B. die der Geographie. Zugleich fragen Forscherinnen und Forscher aus dringender Notwendigkeit. Damit ist gemeint, dass sie das, was es zu fragen gilt, was zu fragen an der Zeit ist, nicht bloß deshalb fragen, weil sie die Möglichkeit des Fragens haben, d.h. weil sie fragen können in dem Sinne, dass sie kompetent sind zu fragen oder weil sie einfach Lust haben, dieses oder jenes zu fragen. Vielmehr werden Forschungsfragen formuliert,
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wenn derart zu fragen sinnvoll ist. Sinn haben Forschungsfragen aber nicht bloß aus individueller, sondern gerade auch aus gesellschaftlicher Notwendigkeit. Geographie wird nun als ein Fach erkennbar, das sich im Kontext dessen formiert, was durch die private Aufmerksamkeit und das individuelle Interesse der Forscherin, des Forschers motiviert ist und was zudem und zugleich von gesellschaftlicher Relevanz, von allgemeinem Interesse ist. Die Pointe besteht nun darin, dass sich das individuelle und das gesellschaftliche Interesse nicht widersprechen. Die Herkunft des Begriffs ›Interesse‹ von lateinisch ›inter-esse‹ ›dazwischen sein‹, ›dabei sein‹, ›von Wichtigkeit sein‹, weist darauf hin, dass Phänomene dann interessant sind, wenn sie ›dazwischen liegen‹, gemeint ist, dass ihre Bearbeitung nahe liegt ,sodass diese Phänomene in Form relevanter Fragen greifbar werden. Ein Forschungsinteresse zu formulieren, heißt somit mitnichten, dass uns Forschungsfragen bloß aufgrund ureigener, bloß persönlicher Vorlieben kommen, sondern dass uns etwas deshalb überhaupt nur zur Frage wird, weil es von allgemeiner Wichtigkeit bzw. von allgemeinem Interesse ist. In diesem Sinne formulieren auch Dürr & Zepp (2012: 50), dass die Geographie »sich nicht in vollkommener Autonomie entwickelt, sondern stets durch die gesellschaftlichen und politischen Zeitumstände beeinflusst wird – die sie wiederum beeinflusst.« Geographisch relevante Fragen liegen also »in der Luft«. Interessante Phänomene erregen unsere Aufmerksamkeit und in der Auseinandersetzung mit diesen Phänomenen lassen sich relevante Fragen aufspüren und formulieren. Zu einem sensiblen Aufspüren von in diesem Sinne brennenden Fragen (Eisel 2015) der Zeit sind wir, wie auch andere Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, in der Lage, weil wir Teil der größeren sozialen Gemeinschaft sind, für die diese Fragen von Wichtigkeit sind. »Geography is what geographers do« meint nicht nur eine Bindung an gesellschaftlich relevante Forschungsfragen durch das Forschungsinteresse und das Forschungshandeln der Forscherin bzw. des Forschers. Es gibt noch eine weitere Bindung. Diese ergibt sich aus der Reflexion der hermeneutischen Tradition des Faches. Denn die Geographie ist seit der Antike als die ›Wissenschaft von anderen Lebenswelten‹ eine hermeneutische, d.h. auf ganzheitliches Verstehen hin ausgerichtete Wissenschaft (Pohl 1986: 8). Diese hermeneutische Tradition der Geographie ist sehr wirksam, obwohl sie uns Heutigen häufig gar nicht bewusst ist. Wie zuvor schon deutlich wurde, geht es in der Geographie um das Verstehen von Forschungsgegenständen, die sich uns nie ganz zeigen, von denen immer nur Facetten phänomenal zugänglich sind. Etwas fällt uns auf, irritiert und verwundert uns, so dass wir es als Spur ergreifen und in Form einer Frage semantisieren können. Im Zuge der Forschung können immer weitere Facetten des Forschungsgegenstandes erhellt werden, selbstverständlich ohne diesen jemals völlig erfassen zu können. Dieses immer wieder neue Zugehen auf den Forschungsgegenstand mit der Absicht ihn immer wieder anders und zunehmend
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tiefgründiger zu verstehen, geschieht in hermeneutischer Manier. Um zu zeigen, was hermeneutisches Forschen heißt, führt dieser Text in der wiederholten Vertiefung in die Redewendung »Geography is what geographers do« der Form nach vor, was dem Inhalt nach hier zum Ausdruck gebracht werden soll. Zwar geht die Geographie dem Sinn nach auch heute noch hermeneutisch vor, allerdings wird dieses hermeneutische Vorgehen nur selten als Hermeneutik reflektiert. Die hermeneutische Grundlage der Geographie ist weithin in Vergessenheit geraten; gemeint ist, dass uns häufig das Bewusstsein dafür fehlt, dass die Geographie als Disziplin hermeneutisch verstanden werden muss, wenn sie die Anbindung an ihre Tradition nicht kappen will. Das hat wegweisende Bedeutung. Die Fachgeschichte der Geographie im 20. Jahrhundert wird gewöhnlich anhand der Aufeinanderfolge wissenschaftlicher Paradigmen erzählt. Dies hat uns blind dafür gemacht, dass das geographische Potential, d.h. die Wirksamkeit unserer Disziplin, nicht in den Wissenschaftsparadigmen selbst liegt. Ohne Zweifel ist es sinnvoll, verschiedene räumliche Paradigmen für unsere Arbeit bei der Hand zu haben. Doch allein das Vorhandensein von Paradigmen kann unsere Bezugnahme nicht rechtfertigen. Wenn wir als Disziplin bloß aus dieser paradigmatischen Vielsprachigkeit unseren Wert beziehen, treiben wir Geographie aus bloßem Vermögen. Etwas aus bloßem Vermögen zu tun, meint etwas allein aus dem Grund zu tun, weil es machbar ist. Im Unterschied zu einem Handeln aus bloßem Vermögen wäre eine Disziplingeschichte wünschenswert, die aus dem schöpft, was uns als Geographie ausmacht. Entwerfen wir uns aus unserem spezifischen Können und Wissen heraus, lässt sich die Weiterentwicklung unseres Faches Geographie verantworten. Unsere Könnerschaft zeichnet sich einerseits dadurch aus, dass wir unterschiedliches räumliches Vokabular, unterschiedliche räumliche Deutungs- und Darstellungsmuster für die Polytextualisierung von Räumen zur Verfügung haben. Doch andererseits reicht es nicht, verschiedene Raumtheorien bloß adaptiv auf ein Beispiel zu bringen. Bloße Adaption ist noch keine verantwortungsvolle wissenschaftliche Leistung. Hier fehlt die notwendige Öffnung im Hinblick auf die Sache, die es zu erforschen gilt. Die raumtheoretische Perspektivierung dieser Sache ergibt sich erst aus der offenen Begegnung mit der Sache selbst, die in einen Verstehensprozess mündet, der uns zu tiefgreifendem Nachdenken und sinngebendem Verstehen bringt. Im Vollzug der verstehenden Auseinandersetzung mit der Sache werden die Theorieperspektiven und die Semantiken, die echte Neuigkeiten hervorbringen können, überhaupt erst gefunden. Verantwortungsvoll Geographie zu treiben, ist also an eine spezifische Art und Weise gebunden, wie wir uns als Geographinnen und Geographen denkend bewegen und der Welt verstehend begegnen. Diesen Denk- und Verstehensprozess gilt es zu vollziehen und gleichzeitig zu reflektieren. Denken und Verstehen zu verstehen, ist traditionell das Geschäft der phänomenologischen Hermeneutik. Neben der Geographie
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als Wissenschaft müssen wir daher eine Geographie als phänomenologische Hermeneutik stark machen, eine Geographie in ihrer Geisteswissenschaftlichkeit. Bisher wurde deutlich, dass geographische Forschung unausgesprochen immer schon eine hermeneutische Praxis ist, in dem Sinne, dass Geographinnen und Geographen sich fragend und denkend mit der Welt auseinandersetzen und in Bezug auf Forschungsfragen, die den Erkenntnisprozess in Offene tragen, auf innerhalb oder außerhalb der Geographie vorhandene, auf frühere oder auf mehr oder weniger selbstentworfene Theoriearchitekturen referieren, um Strukturen zu erkennen, zu plausibilisieren und zu kommunizieren. Von dieser hermeneutischen Geographie im impliziten Sinne, die das konkrete Tun der Geographinnen und Geographen meint und die unausgesprochene Logik allen geographischen Tuns markiert, wird im Folgenden eine hermeneutische Geographie im expliziten Sinne unterschieden, d.h. eine Geographie, die ihr implizites hermeneutisches Vorgehen expliziert bzw. reflektiert. Indem Geographie sich als hermeneutische Wissenschaft im doppelten Sinne versteht, als Disziplin, die zum einen eine implizite Hermeneutik seit jeher mit sich führt, und die zum anderen in der Lage ist, diese in das geographische Tun eingeschriebene hermeneutische Dimension auch explizit zu reflektieren, wird die große Bedeutung der Hermeneutik (und damit der Geisteswissenschaft) für die Geographie deutlich. Eine Geographie, die auf ihr tradiertes, positioniertes und situiertes Tun im Wandel der gesellschaftlichen, politischen und technischen Kontexte aufmerksam ist und die ihr Tun im Verhältnis zu diesen gesellschaftlichen, politischen und technischen Kontexten reflektieren kann, ist »kritische« Geographie. »Kritische« Geographie ist also auf eine grundständige geisteswissenschaftliche, d.h. ontologische Reflexion angewiesen. Phänomenologische Hermeneutik begreift Ontologie nicht als Letztbegründung wissenschaftlicher Aussagen oder Aussagensysteme. Es geht hier weder um eine objektive, d.h. absolute Wahrheit, noch um den Rückgang auf ein Wesen im platonischen metaphysisch-jenseitigen Sinne, das hier im Irdischen seine Verwirklichung findet, noch um ein Ich, das vor aller reflektierten Erfahrung liegt. Das Scheitern dieses Verständnisses von Ontologie ist durch neuere Theoriebildungsprozesse in den Kulturwissenschaften unabwendbar plausibilisiert worden. In phänomenologisch-hermeneutischer Theorietradition gilt es den ontologischen Vorrang der Sprache als menschliche Ausdrucks- und Daseinsform anzuerkennen: »Das Subjekt übernimmt die Sprache, die ihm von woanders her begegnet. Entscheidend ist die Offenheit in der Begegnung mit dem Unverständlichen, entscheidend ist die Unabschließbarkeit der zirkulären Näherung an das, was zum Verstehen einlädt und anregt« (Müller: 2004, 173). Im sprachlich-reflexiven Bedenken der unbewussten Vorgänge des Impliziten, des Vorsprachlichen tritt etwas ins Bewusstsein. Die Entwicklung der Sprache und
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die Entwicklung des Bewusstseins gehen somit Hand in Hand. Hier wird die große Bedeutung der Struktur und der Muster der (Theorie-)Sprachen deutlich, mit denen wir denken und forschen. Denn, da wir sprachlich denken, präformieren unsere (Theorie-)Sprachen die Muster unseres Erkenntnisapparates. Verschiedene (Theorie-)Sprachen bilden verschiedene Erkenntnisstrukturen aus sowie verschiedene Schärfen- und Tiefengrade der Vernunftprägung (Reichenstein 1998, 73ff.). Die (Theorie-)Sprache prägt unsere Denkstruktur und schafft die Voraussetzung dafür, dass uns überhaupt etwas bewusst werden kann. Für die Geographie stellt neben den sozial- und kulturwissenschaftlichen sowie naturgeographischen Theoriesprachen die Theoriesprache der Hermeneutik die Bedingung der Möglichkeit dar, dass die bislang zumeist im Impliziten liegende ontologische Dimension allen geographischen theoriesprachlichen Tuns ins Bewusstsein und ans Licht kommen kann. Die Diskussion um die Geisteswissenschaften als Grundlage der Geographie wurde im Zusammenhang mit der Frage nach der Identität der Geographie angestoßen, danach, was die Einheit der Geographie angesichts ihrer Zersplitterung in verschiedene Disziplinen und Fachlogiken überhaupt ausmacht. Bisherige Versuche, die Einheit der Disziplin wiederherzustellen, sind vorwiegend sozial- oder kulturwissenschaftlich konturiert. Gegen die Konzeption der Geographie als Fach mit Doppelcharakter von Natur- und Sozial- bzw. Kulturwissenschaften wird derzeit das Potential der Geisteswissenschaft in Anschlag gebracht. Weitreichende Überlegungen sind u.a. von Eisel (z.B. 1980, 2015), Pohl (1986, 2005), Hard (2002), Zahnen (2005, 2007, 2011, 2012, 2015), Wardenga (2005), Rothfuß (2009), Hannah (2015), Korf/Verne (2016), Hasse (2017), Dickel (2018, 2019, 2020) und Dickel & Keßler (2019) vorgelegt worden. Eine geisteswissenschaftliche Wende in der Fachwissenschaft Geographie ist auch deswegen an der Zeit, da das integrative geographische Gegenstandsfeld der Mensch(Gesellschaft)-Natur-Verhältnisse neu verstanden werden muss, wenn die Geographie auf die sozialen Krisen des 21. Jahrhunderts eine tragfähige Antwort finden will (vgl. Zahnen 2015: 29f). Zahnen sieht die Stunde der Geographie, zur Leitwissenschaft zu werden, gekommen, sofern es dem Fach gelingt, sein eigenes Verhältnis zu den Mensch(Gesellschaft)-Natur-Verhältnissen neu – gemeint ist geisteswissenschaftlich – zu denken, statt sich Forschungsprojekten hinzugeben, die naturwissenschaftliche Zugangsweisen einerseits und sozial- und kulturwissenschaftliche Zugangsweisen andererseits bloß kombinieren. Die epistemologische Praxis der phänomenologischen Hermeneutik stellt sich in Opposition zum Konstruktivismus und zum Realismus. Denn die Spur, die es in hermeneutischer Manier aufzugreifen gilt, ist einerseits unablöslich in die konkrete Materie verwickelt, sie löst uns andererseits von diesem Material ab und bringt uns in Distanz. Die Spur ist das Moment, das zugleich ein Involviertsein und ein Abgelöstsein von dem untersuchten Material ermöglicht (vgl. Kogge 2007: 183). Im Spurenpa-
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radigma liegen die Potentiale und Tragweiten (Zahnen 2015) einer Mensch-NaturForschung, die den Graben zwischen Naturalismus und Idealismus, zwischen Naturgeographie und Humangeographie nicht nur überwindet, sondern diesen Graben erst gar nicht zieht. Wie geht das konkret? »Geography is what geographers do«. Der Erdraum ist das erste Forschungsobjekt der Geographie. Alexander von Humboldt und Carl Ritter haben die Geographie dem Wortsinne nach als Erdbeschreibung verstanden, griech. geo = Erde, graphein = schreiben, ritzen, zeichnen (Kluge 2002: 349 nach Baade/Gertel/Schlottmann 2010: 33). Dieses zeigt sich auch in der selbstverständlichen Arbeitsweise von Geographinnen und Geographen, die die Geographie als hermeneutische Wissenschaft verstehen, so z.B. bei Tuan, Geographie als »the study of the earth as the home of people« (Tuan 1991: 99 nach Baade/Gertel/Schlottmann 2010: 33). Lange Zeit hat man der Geographie als Beschreibung der Erde ein veraltetes Verständnis unterstellt. Und ohne Zweifel gerät man in Schwierigkeiten, wenn man auf den naturalistischen Fehlschluss nicht aufmerksam wird, dass man die eigenen Deutungsschemata in die Beschreibung der Erde verwebt, und so tut, als seien diese im Erdraum angelegt. Allerdings gibt es einen hermeneutischen Zugang zum Erdraum, ohne dieser Naturalisierung aufzusitzen. Dieser hermeneutische Weg war lange Zeit nicht im Bewusstsein der Geographie. Vielmehr hat sich die Geographie konstruktivistischen Raumlogiken zugewandt, in denen Räume als gemacht gelten. Damit handelten wir uns den Nachteil ein, dass der Erdraum nicht mehr im Fokus des Forschungsinteresses ist, sondern nur noch die Frage der Gemachtheit, der Repräsentation dieses Erdraums. Zukunftsweisend ist die Hinwendung zu der Thematisierung des Erdraumes, der die Vielfalt an Paradigmen nicht verleugnet und der zugleich an der Materialität ansetzt. In dieser Weise kommt der thematische Kern der Geographie zum Vorschein: die Mensch(Gesellschaft)-Natur-Verhältnisse. Natur ist hier selbstverständlich im Sinne eines kritischen Naturbegriffs gemeint, der Natur nicht bloß als der Kultur und dem Menschen entgegengesetzt begreift, der vielmehr die permanente kulturelle Überformung der Erdnatur in den Blick nimmt sowie eine kulturell überformte Natur, die der Mensch, das vernunftbegabte Wesen, auch selber ist. Auf die Notwendigkeit, die »Stadt« als Sinnbild kultureller Organisation heute nicht länger als kulturelle Insel inmitten der nicht-menschlichen Welt zu sehen, sondern von einer Ausbreitung der »Stadt« über das Ganze der irdischen Natur auszugehen, im Sinne der »universalen Stadt als zweiter Natur«, weist schon Hans Jonas in seinem wegweisenden Werk »Das Prinzip Verantwortung« hin, das erstmals 1979 erschienen ist. Der Gedanke wird in der Geographie u.a. auch von Neil Smith (1990:32ff) stark gemacht. »Denn die Grenze zwischen »Staat« (polis) und »Natur« ist aufgehoben worden. Die Stadt der Menschen, einstmals eine Enklave in der nichtmenschlichen Welt, breitet sich über das Ganze der irdischen Natur aus und usurpiert ihren Platz.
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Der Unterschied zwischen dem Künstlichen und dem Natürlichen ist verschwunden, das Natürliche ist von der Sphäre des Künstlichen verschlungen worden: und gleichzeitig erzeugt das totale Artefakt, die zur Welt gewordenen Werke der Menschen, die auf ihn und durch ihn selbst wirken, eine neue Art von ›Natur‹, das heißt eine dynamische Notwendigkeit, mit der die menschliche Freiheit in einem gänzlich neuen Sinn konfrontiert ist.« (Jonas, 2020, 35) »Geography is what geographers do«. Vielleicht mag es verwundern, dass das Mensch(Gesellschaft)-Natur-Verhältnis den thematischen Kern der Geographie darstellt, zeigt sich doch in der Realität nach wie vor eine Spaltung der Geographie in eine naturwissenschaftliche und eine sozial- bzw. kulturwissenschaftliche Dimension. Nur selten wird das Mensch(Gesellschaft)-Natur-Verhältnis in Form gemeinsamer Forschungsvorhaben fokussiert, trotz der als »Dritte Säule« etablierten Gesellschafts-Umweltforschung, in der es explizit um die forschungstheoretische Reflexion des Verhältnisses von Physisch-Materiellem und Sozialem, bzw. Materie und Sinn geht. Doch auch wenn es aktuell selten explizit reflektiert wird, so geht es in der Geographie um das Verhältnis von Mensch(Gesellschaft) und Natur immer auch dann, wenn der forschende Zugriff entweder nur aus einem physisch-geographischen oder nur aus einem humangeographischen Blickwinkel erfolgt. Humangeographische Forschung hat eine physische bzw. materielle Dimension, die durch die epistemologischen Grundlagen und das Forschungsdesign in ganz bestimmter Weise bedeutsam wird, sogar auch dann, wenn die Bedeutung des Materiellen geringgeschätzt oder gar geleugnet wird. Und umgekehrt hat physisch-geographische Forschung immer auch eine soziale und politische Dimension, die sich durch die grundgelegte Theorie, die Forschungsfragen, das Forschungsdesign und die Art und Weise der Dokumentation und Kommunikation der Ergebnisse in der Forschung aktualisiert, und zwar auch dann, wenn die Bedeutung der gesellschaftlichen und politischen Dimension gar nicht reflektiert wird. Ob der Humangeograph oder die Physische Geographin darum weiß, dass die jeweils andere Seite der Geographie, mit der er bzw. sie scheinbar nichts zu tun hat bzw. nichts zu tun haben will, immer auch sichtbar wird, gerade auch dann, wenn diese Seite ausgespart wird, spielt nur so lange keine Rolle, solange er bzw. sie nicht explizit zu der Frage nach der Verantwortung als Geograph und Geographin Stellung nimmt, konkret zu der Frage danach, welches Mensch(Gesellschaft)Natur-Verhältnis es wert ist, dass es im wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Diskurs stark gemacht wird. Sobald wir beginnen, uns die Frage zu stellen, für welches Mensch(Gesellschaft)-Natur-Verhältnis wir wahrhaft eintreten möchten, kommen wir ohne explizite Reflexion der ihre Forschungsvorhaben grundierenden epistemologischen und ontologischen Voraussetzungen nicht länger aus. Die Bereitschaft der Übernahme von Verantwortung und der Umsetzung des verant-
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wortungsbewussten forschenden Tuns geht daher mit der tiefgreifenden Reflexion der Grundfesten des eigenen forschenden Tuns vor dem Hintergrund des Fachverständnisses der Geographie und dem Selbstverständnis als Geographin und Geograph Hand in Hand. Verantwortungsvolle Geographie ist also die Aufklärung der Geographie und ihrer Praxis über sich selbst. Mit Horkheimer (1937) gesprochen wäre eine derart verantwortungsvolle Geographie zugleich »kritische« Geographie. »Geography is what geographers do.« Mit einer Fachlichkeit der Geographie über den cultural devide hinweg ist eine Hoffnung verbunden, dass die Geographie auf existentielle Fragen hinsichtlich des Lebens und Überlebens auf unserer Erde eine Antwort geben und dass sie Orientierung für aktuelle und zukünftige Probleme bieten kann. Die Herausforderung ist unter den aktuellen Bedingungen von Unübersichtlichkeit und Unvorhersehbarkeit sowie angesichts des gesellschaftlichen Imperativs der Digitalisierung, der Klimaänderung, weltweiter Ungerechtigkeiten und Migrationsbewegungen, um nur einige globale Prozesse zu benennen, die in ihren lokalen Auswirkungen unmittelbar erfahrbar sind, enorm groß. So unterschiedlich die forschungshabituellen Perspektivierungen innerhalb der breit aufgefächerten Geographie auch sind, so besteht die gemeinsame Klammer aller Forschungsfragen der verantwortungsbewussten Geographie doch darin, dass es um das Mensch(Gesellschaft)-Natur-Verhältnis in seiner reflektierten Ausprägung geht. Hard bezeichnet die Mensch-(Erd-)Natur-Problematik als »ältesten und hartnäckigsten Theoriekern des Faches« und als »Superparadigma« (Hard 2002: 67; siehe auch Zahnen 2015: 27). Mit der Anerkennung des Mensch(Gesellschaft)-NaturVerhältnisses als thematischem Kern der Geographie können wir von heute aus, d.h. eingedenk der vielfältigen Raumtheorien, -konzepte und –modelle der heutigen Geographie, an die Anfänge der Geographie als Wissenschaft im 18. Jahrhundert anknüpfen. Denn es ist der »im 18. Jahrhundert eingebürgerte Begriff der Landschaft, welcher allgemein das Verhältnis zwischen Mensch und Natur meint, der seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert die naturwissenschaftlich fundierte physische Geographie mit der Sozial- und Wirtschaftsgeographie verknüpfen sollte« (Göttmann 2013: 36). Allerdings behandelte die Geographie die ursprünglich ästhetische Idee der Landschaft, die Wahrnehmung und Genese von Natur als Landschaft, zunehmend als geographisches Objekt und handelte sich so einen »ökologischen Naturalismus, wie die Politik, die mit der Zauberformel ganzheitlicher Wissenschaft aufwartet« (Eisel 1997: 39) ein. Die Geographie kann die subjektivistischen und naturalistischen Kurz- und Fehlschlüsse vermeiden, wenn sie sich als Disziplin mit einem thematischen Kern der Mensch(Gesellschaft)-Natur-Verhältnisse als Schnittmenge zwischen Naturund Kultur- bzw. Sozialwissenschaften und gerahmt von einer zeitgemäßen
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phänomenologischen Hermeneutik zukunftsweisend profiliert und sich damit sowohl von den benachbarten Naturwissenschaften als auch von den benachbarten Kultur- und Sozialwissenschaften maßgeblich unterscheidet. Und in diesem Sinne erkennt Eisel schon 1992 die Geographie als das zukunftsweisende ökologische Fach: »Die Geographie stellt […] die bisher vollständigste Ausformulierung des Zukunftsprogramms von solchen Gesellschaftswissenschaften dar, die es für eine (politische und theoretische) Notwendigkeit halten, »die Gesellschaft« oder Kultur als ganze unter der Perspektive ihres Außenverhältnisses zur umgebenden Natur als eine universelle Einheit zu thematisieren. Sie ist in diesem Sinne »ökologisch« konzipiert. Das heißt, sie genügt der aktuellen Forderung, einen »Naturstandpunkt« zu gewährleisten, also Gesellschaft sowohl in ihrer (letztendlichen) Abhängigkeit von der Natur, als auch Natur als kulturelle Projektion von Sinn zu begreifen« (Eisel 1992:108). Mit dem hermeneutisch reflektierten Mensch(Gesellschaft)-Natur-Verhältnis als Kern der Geographie kann es gelingen, im Blick zurück die Identität der Geographie an ihre Tradition und Herkunft anzuschließen und im Blick nach vorn im Zuge der hermeneutischen Öffnung zur Welt und der Reflexion des eigenen forschenden Tuns die Identität der Geographie und zugleich die eigene Identität als Geographin und Geograph weiter zu entwickeln und sowohl unser Fach- als auch unser Selbstverständnis für unsere nahe und ferne Zukunft offen zu halten. Im Anders-Werden kommt die Geographie zunehmend zu sich. Das Anders-Werden ist hier, das sei nochmals betont, weder als ein Zurück zur klassischen bzw. traditionellen Landschafts- oder Länderkunde (vgl. Schultz 1980) gemeint noch im Hinblick auf die am Markt vorhandenen mehr oder weniger vielversprechenden Paradigmen, bei denen man bloß zugreifen muss; statt »pragmatisch affirmative(r) Legitimationsstrategien der Vertreter irgendeiner Tradition ohne Rücksicht auf wissenschaftsinterne und wissenschaftstheoretische ›Fortschritts‹-Nachweise, also gemeinhin unkritische Relevanz- oder dogmatische Traditionsberufungen« (Eisel 1985: 2f) geht es um ein Anders-Werden in Relation zur eigenen Tradition, in Relation dazu, wie Geographie gemeint war, als sie im 19. Jahrhundert als wissenschaftliche Disziplin Kontur gewann, nämlich als Fach mit thematischem Kern der Mensch(Gesellschaft)-Natur-Verhältnisse, die es im Sinne einer verantwortungsbewussten zeitgemäßen Geographie nun in Form der zeitgemäßen phänomenologisch-hermeneutischen Reflexion auszubuchstabieren gilt. Auch wenn die Geographie im Anders-Werden ihre Ausgangssituation immer wieder überwindet, so hört sie dennoch nie auf, dieselbe zu bleiben; Das ist das Rätsel der Identität (auch von Disziplinen), von der wir sagen können, dass sie in der Begegnung mit dem Anderen zunehmend zu sich selbst kommt.
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Anders-Werden ist immer schon auf Fremdes verwiesen, das es zu befragen und zu beforschen gilt. Im Zuge geographischer Forschungen, die von etwas Physisch-Materiellem ausgehen, von etwas, das sich als Spur, die auf Fremdes, Unbekanntes verweist, idiographisch begreifen lässt, auf das hin sich unterschiedliche naturwissenschaftliche, sozial- und kulturwissenschaftliche Seh- und Denkfiguren in Anschlag bringen lassen, in dessen Zuge die Regeln des Sehens und Denkens selbst in den Blick geraten, bildet sich unser geographisches Auge und die Gestalt der Geographie immer wieder aufs Neue um. Mit Gestalt ist hier selbstverständlich nicht ein einheitliches und feststehendes Ordnungsgefüge gemeint, sondern ein dynamisches System, dessen Teile sich im Zuge einer komplementären Vermittlung immer wieder neu figurieren. »Geography is what geographers do«: Geographische Forschungsfragen, Forschungswege und Forschungsergebnisse lassen sich als Situierungen bzw. Positionierungen hinsichtlich des Mensch(Gesellschaft)-Natur-Verhältnisses begreifen, auf das hin geographische Forschung Verantwortung trägt. Anders gesagt: Geographisch zu forschen bedeutet letztlich, sich verantwortungsvoll zu positionieren hinsichtlich existentieller Fragen, konkret hinsichtlich der Fragen nach der zukunftsfähigen individuellen und gesellschaftlichen Gestaltung menschlichen Lebens und Überlebens auf unserer Erde. Verantwortungsbewusst zu forschen heißt daher auch, sich bestmöglich darüber klar zu werden, welche vorhersehbaren und unbeabsichtigten gesellschaftlichen und politischen Folgen das eigene Forschungshandeln hat. Denn geographische Forschung ist, ohne dass wir uns aktiv um einen methodologischen Umgang mit Standortgebundenheit und Perspektivität von Forschung bemühen, weder neutral noch unpolitisch. Es ist an der Zeit, Verantwortung zu übernehmen, indem wir reflektieren, wie wir der Verantwortung der Geographie gerecht werden können und was das mit Blick auf jedes neue Forschungsvorhaben konkret heißen kann. Nichts weniger als diese Reflexion anzuregen, ist Anliegen dieses Buches. Heute befindet sich die Geographie an einem Schnittpunkt, von dem ein Weg der Reflexion zu den Anfängen der hermeneutischen Geographie zurückführt und ein anderer die naturwissenschaftlich sowie sozial- und kulturwissenschaftlich informierte kritisch-reflektierte phänomenologisch-hermeneutische Geographie ankündigt. In hermeneutischer Manier gehen wir in der Geographie immer wieder von realen Phänomenen aus, von etwas, das uns irritiert oder verwundert, das uns zum Fragen drängt, so dass sich im Zuge unserer Forschung nicht nur der Gegenstand, sondern auch unser Selbst- und Weltverständnis bildet und umbildet. Wenn wir uns an diese hermeneutische Forschungshaltung als spezifisch geographische Haltung erinnern, über die letztlich unser Verhältnis zur Welt immer dichter wird, und wenn wir dann noch in der Lage sind, uns zu unserem im Forschungsprozess sich verändernden Welt- und Selbstverhältnis reflexiv in Beziehung zu setzen, erkennen wir, dass wir als Geographinnen und Geographen immer schon auf Proble-
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me menschlichen Lebens auf der Erde antworten und dass Geographie seit jeher die Verantwortung für die Ermöglichung und Bewahrung aktuellen und zukünftigen menschlichen Lebens auf dieser Erde mit sich bringt. Halten wir also fest, dass wir als Geographinnen und Geographen immer schon in Verantwortung für die gelebten Beziehungen zwischen Mensch und Natur sind. Es ist an der Zeit, sich diese Verantwortung wieder ins Bewusstsein zu rufen und zu reflektieren. Über unser Bewusstsein dafür, dass wir Verantwortung haben, hinaus, braucht es den Willen, die Bereitschaft, diese Verantwortung auch zu leben. Damit verbunden ist die Haltung, reflektiert mit den verschiedenen Inhalten, Forschungsstilen und Fachparadigmen umzugehen und die Welt nicht gemäß der Fachparadigmen abzuhandeln, sondern sich im forschenden Tun immer wieder für die Welt zu öffnen, sich von dieser physisch-materiellen Welt affizieren zu lassen, etwas als Spur zu erfassen, als Forschungsfrage zu begreifen und uns antwortbereit zu halten. Dazu braucht es den Willen, die Bereitschaft uns vom eigenen Forschungsprozess führen zu lassen und die damit verbundenen Unvorhersehbarkeiten auszuhalten. Das zu tun, ist letztlich keine freiwillige, wertoffene Entscheidung. Denn die Geographie selbst verpflichtet uns auf ein reflektiertes Fach- und Selbstverständnis. Verantwortungsvolle Geographie ist daher nicht bloß eine ethische Frage; hier wird sie zu einer Frage der Moral. In diesem Buch sind Antworten auf die Frage zusammengestellt, was Verantwortung der Geographie heißt. Dabei gehen die versammelten Beiträge auf unterschiedliche Weise und in unterschiedlicher Gewichtung sowohl auf die allgemeine als auch auf die fachspezifische Dimension geographischer Verantwortung ein. Die Autorinnen und Autoren formulieren Merkmale einer verantwortungsvollen, guten Gründen folgenden geographischen Wissenschaftspraxis. »Gute Gründe« sind im philosophischen Sinne solche Gründe, die einer argumentativen Prüfung standhalten. Gute Gründe sind damit auf die Reflexion verwiesen, zugleich wirken sie auf die Wissenschaftspraxis zurück, da sie als Haltepunkte fungieren, an denen sich eine verantwortungsvolle geographische Praxis reflexiv orientieren kann. Die hier vorgestellten Reflexionsfolien und Orientierungspunkte zur Positionierung hinsichtlich der Verantwortung der Geographie werden ins wissenschaftliche Feld zurückgespielt und können einer breiteren Fachöffentlichkeit als Studier- und Diskussionsgrundlage dienen. So stoßen wir bestenfalls einen Prozess der Selbstreflexion an, darüber wie Geographie sein sollte und wie nicht. Zu den Beiträgen im Einzelnen: Der Beitrag »Geographie als Postwachstumswissenschaft. Gemeinschaftliches Gärtnern in den Feldern der Erkenntnis?« von Antje Schlottmann wird durch den Befund der allgemeinen aktuellen Lage der Wissenschaften eröffnet, die dem vermeintlich wissenschaftlichen Fortschrittsdenken folgend, durch zunehmende Unzufriedenheit im wissenschaftlichen Tun aufgrund zunehmender administrativer Belastung, fehlender Zeit und dem Eindruck, »dass irgendwie alles zu viel ist« ge-
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kennzeichnet ist. Mit dem Wachstumsimperativ geht die zunehmende Entfremdung der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler von ihren Gegenständen einher. Der Text begreift sich als Auseinandersetzung mit der Verantwortung der Geographie angesichts des aus der ungesunden Beschleunigung resultierendem »zu viel«. Jürgen Hasse tritt in seinem Beitrag »Wieviel Sinnlichkeit vertragen die Sozialwissenschaften. Lebensphilosophische Reflexionen zur Sinnen- und Lebensferne spätmoderner Sozialwissenschaften« für eine Zuerkennung einer größeren Macht des Sinnlichen im Erkenntnisprozess ein, da die Sinne als ganzheitliche Eindrücke auf andere Weise erkenntnistheoretische Brücken zur Wirklichkeit bauen als abstrakte Theoriegebäude. Die hochregulierten Methoden wissenschaftlicher Erkenntnisgewinnung sparen aber die tragende Rolle von Subjektivität und Gefühlen im Prozess der Erkenntnis aus. Die transparente Darlegung dieser sowie die Reflexion der die eigene Forschung grundierenden Menschen- und Weltbilder und ihre Bewertung formuliert der Autor als wissenschaftsethische Aufgabe jeder Wissenschaftlerin und jeden Wissenschaftlers und stellt systemische und individuelle Möglichkeiten und Grenzen der Erfüllung dieser Aufgabe dar. Der Beitrag »Die List der Verantwortung. Corona, Kritik und Krise (der Verantwortung)« geht der Frage nach, was es heißt, eine »kritische« Geographie zu verantworten. Als »kritisch« versteht Benedikt Korf verschiedene Ansätze der deutschsprachigen und anglophonen Humangeographie, die sich selbst als »kritisch« bezeichnen, auch wenn sie sich untereinander zum Teil absprechen, kritisch zu sein: poststrukturalistische, (post-)marxistische, feministische, postkoloniale und andere Geographien. Gemeinsam ist ihnen der Gestus, dass sie intendieren, der Welt eine bessere Geographie entgegenzusetzen. Über die Darstellung der Maßlosigkeit der Kritik der Großintellektuellen an den von den Regierungen ergriffenen Maßnahmen in der Corona-Krise und der sich daran anschließenden Kritik, wirft der Autor die grundlegenderen Fragen der gesellschaftlichen Verantwortung von Kritik auf. Aus diesen Überlegungen finden sich erste Antworten auf die Ausgangsfrage nach der Verantwortung einer »kritischen« Geographie als Wissenschaft. Mirka Dickel und Georg Gudat erörtern in ihrem Beitrag »Offenes Denken. Zur verantwortungsvollen Wissenschaftspraxis der Geographie(didaktik)« verschiedene Problemdimensionen etablierter Wissenschaftspraxis und stellen der Logik der Subsumtion eine dialektische Logik entgegen, die den Spuren und Fragen einen angemessenen Platz einräumt und eine Öffnung des Denkens ermöglicht. Damit dies gelingen kann, erscheinen den Autoren fünf Gesichtspunkte zentral: Aktives Unterlassen, Unsicherheit aushalten, vom Phänomen ausgehen, Spuren sichern und echte Fragen formulieren. Verantwortung der Wissenschaft bedeutet letztlich eine Doppelbewegung von Bewahrung und Überwindung: Bewahrung der Tradition und der etablierten Wissenschaftspraxis und der Überwindung des überlie-
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ferten Systems, indem wir uns für ein offenes Denken entscheiden und für eine individuelle und gesellschaftliche Erneuerung eintreten. Die Einschätzung, dass Wissenschaft unpolitisch ist, wie sie noch Max Weber teilte, wird von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die sich als »kritisch« und ihre Arbeit als politisch verstehen, derzeit in Frage gestellt. Ausgehend von der Überlegung Max Webers, dass verantwortungsvolles politisches Handeln heiße Leidenschaft und kühles Augenmaß zugleich bedeutet, fragt Klaus Geiselhart in seinem Beitrag »Kritische Geographie als Beruf(ung). Kritik als Mediation und der Wille zur Verantwortung«, was »Augenmaß« im Zusammenhang kritischer Geographie bedeuten kann. Der Verfasser führt die Unterscheidung von Kritik als Opposition und Kritik als Mediation zur Reflexion der Verantwortung einer kritischen Geographie ins Feld. Für die Geographie stellt er die spezifische Aufgabe der Kritik als Mediation dar. Als Mediatoren haben Geographinnen und Geographen die Aufgabe, die lokalen Positionalitäten, den jeweils eigenen Willen der Beteiligten zur Verantwortung, begreiflich zu machen und zu moderieren. In »›Befreites Denken‹ und Ashbys Gesetz. Über die Erweiterung des Raumes der Möglichkeiten« plädiert Tilman Rhode-Jüchtern dafür, die Bau- und Planungskultur und Prozessqualität in der Raum- und Stadtentwicklung auf den Prüfstand zu stellen, da Planung heute nicht mehr allein durch Verfahren wie Bürgerinformation oder Bürgerdialog zu legitimieren ist. Vielmehr ist es angesichts einer fragmentierten »Kultur« alltäglicher Planung notwendig, nicht bloß Lösungen zu verhandeln, sondern zunächst gemeinsame Definitionen von Problemen vorzunehmen. Mit Ashbys Gesetz, einer Denkweise der frühen Kybernetik, die als Steuerkunst anschlussfähig an Politik- und Geographiemachen ist, unterbreitet der Autor einen Vorschlag, wie sich Stadtplanung aus unterkomplexen Routinen der Einhaltung von Verfahrensschritten befreien und verantwortungsvoll neu legitimieren kann. In dem Beitrag »Zur gesellschaftlichen Verantwortung der Wissenschaft« wird die Sicht der studentischen »Initiative Nachhaltige Universität Innsbruck (INUI)« zur Rolle und zu Werten von Wissenschaft sowie Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern vorgestellt. Das Autorenkollektiv, Franziska Allerberger, Lukas Emrich, Jakob Heuser, Philipp Mack, Janis Weimar und Marlene Weiß, diskutieren seit etwa drei Jahren am runden Tisch mit ihren Dozenten mögliche gesellschaftliche Transformationspfade. In diesem Kontext stellen sich grundlegende Fragen im Hinblick auf Forschung und Lehre an Hochschulen sowie im Hinblick auf das Verhältnis von Wissenschaft und Gesellschaft. Aus diesem Kontext thematisiert der Text eine mögliche gesellschaftliche Vorreiterrolle von Hochschulen im Hinblick auf eine sozial-ökologische Transformation. Am Beispiel des von INUI initiierten »Campus Marktes« gehen sie der Frage nach, ob dieses Nischenprojekt als Anstoß einer Transformation wirken kann.
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Hans Jürgen Böhmer schließt in »Nachhaltigkeit und Geographie. Eine autobiographische Notiz« an den Diskurs der 1980er Jahre an, der durch den Widerspruch zwischen der Dokumentation der Umweltprobleme, der Einrichtung von Umwelt- und Naturschutzbehörden sowie entscheidender internationaler Abkommen zum nachhaltigen Umgang mit globalen Ressourcen einerseits und der Persistenz eklatanter globaler Umweltprobleme aufgrund der Unfähigkeit zu konsequentem Handeln andererseits gekennzeichnet ist. Dass auch der Physischen Geographie eine nicht-nachhaltige Praxis eingeschrieben ist, führt der Autor im Hinblick auf die Aspekte »Vergessen« von gewachsenem Wissen, »Vereinfachung« komplexer Zusammenhänge und »Entfremdung« von der physischen Realität anhand von einschlägigen Beispielen aus. Sich Zeit zu nehmen, um die Komplexität von Prozessen auf allen Skalenebenen wahrnehmen, analysieren und differenziert darstellen zu können, wird als Lösung vorgestellt. Ausgangspunkt der Überlegungen von Jochen Laub ist die Beobachtung, dass wissenschaftliche Erkenntnisse und Beschreibungen als handlungsorientierende Aussagen im Zusammenhang mit der politischen Lenkung der Gesellschaft von Politikerinnen und Politikern ebenso wie von außerparlamentarischen Organisationen und Bewegungen gedeutet werden und im Hinblick auf Ziele und Entscheidungen in Anschlag gebracht werden. Sein Beitrag »Verantwortung der Geographie. Moralische Implikationen geographischer Wissenschaft« geht der Frage nach, ob Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler im Allgemeinen, und Geographinnen und Geographen im Besonderen einer solchen Rolle, die ihnen durch diese Praxis zugewiesen wird, vor dem Hintergrund ihrer wissenschaftlichen Verantwortung überhaupt gerecht werden können. Auch Anton Escher geht in seinem Beitrag »›Wissenschaft ist kein Wunschkonzert‹. Überlegungen zur Verantwortung der (Kultur-)Geographie« von der Diagnose aus, dass Maßnahmen zur Ausgestaltung unserer Gesellschaft, unserer kulturellen und natürlichen Umwelt mit wissenschaftlichen Forschungsergebnissen begründet werden, wissenschaftliche Erkenntnisse für die Gestaltung und Steuerung der komplexen Ordnung unserer Lebenswelt unverzichtbar sind. Der Autor stellt dar, welche Ansprüche an die Auswahl von Themen, an die Generierung von Daten und an die Ergebnisse der Forschung sich aus diesem Befund für die Wissenschaft im Allgemeinen und die Geographie im Besonderen ableiten lassen. Die Überlegungen münden in die Formulierung von vier Aufgaben, die eine verantwortungsvolle Disziplin der Geographie an deutschen Universitäten zu erfüllen hat. Wir bedanken uns bei Josephine Paul, wissenschaftliche Assistentin in der Didaktik der Geographie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena, die das Buchprojekt von Beginn an, über das Formatieren, Korrekturlesen und Redigieren der Texte bis zur finalen Drucklegung mit großer Sorgfalt, Übersicht und Geduld professionell begleitet hat.
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Geographie als Postwachstumswissenschaft Gemeinschaftliches Gärtnern in den Feldern der Erkenntnis? Antje Schlottmann »How can we present a proposal intended not to say what is, or what ought to be, but to provoke thought, a proposal that requires no other verification than the way in which it is able to ›slow down‹ reasoning and create an opportunity to arouse a slightly different awareness of the problems and situations mobilising us?« (Stengers 2005: 994)
Wer in Zeiten vor Corona auf Tagungen unterwegs war, mag beobachtet haben, wie sich Gesprächsthemen wandeln, wenn es vom Sitzungssaal in die Kaffeepause ging. Im Vorzimmer des wissenschaftlichen Diskurses werden fachliche Debatten – zuweilen leidenschaftlich – geführt. In den Hinterzimmern, wenn die persönliche Situation im »small talk« ausgetauscht wird, häufen sich hingegen Klagen über zunehmende administrative Belastung, über das Gefühl, unglaublich viel zu tun, aber nichts (mehr) richtig, über fehlende Zeit, Artikel, wenn nicht gar Bücher (wirklich) lesen zu können. Zuweilen gibt es auch Geständnisse der Erschöpfung und des Schwindens der Motivation in einem Berufsfeld, das nicht mehr das hergibt, wofür man einst angetreten ist. Ein wiederkehrender Eindruck dabei ist, dass irgendwie alles zu viel wird. Natürlich, das gilt nicht für alle und überall, doch dass es sich bei dieser zunehmenden Unzufriedenheit im wissenschaftlichen Tun um ein breiteres Phänomen handelt, belegen neuere übergreifend wissenschaftstheoretische Auseinandersetzungen wie die von Isabelle Stengers (Stengers und Muecke 2018) ebenso wie kritisch-reflexive Analysen aus dem Fach Geographie, und zwar sowohl der Humangeographie (u.a. Weichhart 2012) wie der Physischen Geographie (u.a. Lane 2017, Böhmer 2019).
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Dieser Befund scheint mir Grund genug, über die Störmeldungen aus dem wissenschaftlichen Alltag noch einmal etwas intensiver nachzudenken, und ich möchte mich gleich zu Beginn insofern positionieren, als dass ich mich selbst als knietief in meinem Gegenstand steckend und damit befangen entlarve. Gleichzeitig aber scheint mir die wissenschaftliche Neutralität ohnehin nur durch transparente Positionalität und nur als Annäherung machbar. Ich möchte dabei den Versuch unternehmen, nicht selbst in die Fallen eines wissenschaftlichen Fortschrittsdenkens zu laufen, welches das »mehr« unausgesprochen zur wissenschaftlichen Zielgröße macht und für das es ein »zu viel« eben nur hinter vorgehaltener Hand geben kann – ein Fortschrittsdenken, welches auch von Stengers so deutlich kritisiert wird. Und so ist die folgende Auseinandersetzung mit der Verantwortung der Geographie im Umgang mit diesem »zu viel« auch nicht durch die Behauptung legitimiert, dem herrschenden Paradigma etwas Neues hinzuzufügen, sondern folgt der Einladung der Herausgebenden dieses Bandes, möglichst frei und anders über ein Thema nachzudenken.
Beschleunigung und Entfremdung Was sind die zentralen diagnostischen Ansätze dieses Befundes der Unzufriedenheit mit dem eigenen wissenschaftlichen Tun? Gemein ist den kritischen Selbstbespiegelungen die soziologisch fundierte Einsicht, dass Wissenschaft eine (in diesem Fall ungesunde) »Beschleunigung« erfahren hat. Demzufolge wird ein Ruf nach »Slow Science«, also einer Verlangsamung des Prozesses laut (Weichhart 2012; Stengers und Mücke 2018). Die Beschleunigung sozialen Wandels hat Hartmut Rosa ausführlich begründet (Rosa 2005: 2013) und dabei immer wieder auch für die wissenschaftliche Praxis wie auch für die Pädagogik, also die Wissen vermittelnde Praxis beschrieben (Rosa/Endres 2016). Mit der Beschleunigung einhergehend lässt sich eine zunehmende Entfremdung der Wissenschaffenden von ihren Gegenständen ausmachen. Diese hat drei zentrale Dimensionen, eine institutionelle bzw. systemische, eine räumliche und eine körperliche. Da ist etwa die grundsätzliche, institutionell verankerte Notwendigkeit, sich mit Themen zu befassen, die nicht mehr den eigenen Interessen, sondern ihrem jeweiligen Wert auf dem Markt der Exzellenz entsprechen (Peter Weichhart 2012 spricht in diesem Zusammenhang von »Exzellenzstalinismus«). Mit dem Voranschreiten der Digitalisierung einher geht eine Distanzierung vom »Feld« als einem gelebten Raum von Forscherinnen und Forschern, sei es im Hinblick auf geomorphologische Geländeaufnahmen oder die Erhebung sozialer Prozessdaten im urbanen Raum. Hinzu kommt ein Verlust von körperlicher Verbundenheit mit dem wissenschaftlichen Tun, sowohl in der Forschung, als vor allem aber auch in der Praxis der Vermittlung, dem zweiten großen Kerngeschäft von
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Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern. Die Corona-Situation hat diese Dimension der Entfremdung eindrücklich vor Augen geführt, indem sie bei allem »Aufrechterhalten des Lehrbetriebs« den kritisch-reflexiven Lehrenden offenbarte, was beim digitalen Dauermeeting fehlt: empathische Nähe, Zwischentöne, Flurgespräche, Stimmung und Atmosphäre. In diesem Zusammenhang kann mit Rosa (2016: 305) von Entfremdung als »beziehungsloser Beziehung« gesprochen werden, als das andere von »Resonanz«. Die online-Seminare schaffen durchaus eine Art Beziehung oder setzen diese fort, doch bleiben wesentliche Aspekte zwischenmenschlicher Kommunikation ausgeblendet, so dass echte Nähe bzw. Verbindlichkeit wahrscheinlich nicht entsteht. Bei dieser allenfalls kursorisch skizzierten Diagnose von Unzufriedenheit aufgrund von Beschleunigung und Entfremdung im gesellschaftlichen Feld der Wissenschaft scheint mir jedoch noch ein weiterer Begriff zentral zu sein, um den es mir im Folgenden primär gehen wird: »Wachstum«. Die Geographie hat meines Erachtens im 21. Jahrhundert als »post-Wissenschaft« den gesellschaftswissenschaftlichen und damit humangeographischen Diskurs durchziehenden Paradigmen zufolge vielerlei Verantwortung. Post-development, post-colonialism oder auch post-progress verpflichten zur Abkehr von einfachen Fortschritts- und Entwicklungsgeschichten und zur kritischen Positionierung und Stellungnahme zu ihrer eigenen Involviertheit in diese Geschichten und den »seit den 1880er Jahren mehr unbewusst mitgeschleppten als bewusst tradierten konzeptionellen Grundstrukturen des Fachs«, die das Geographie-Machen denkstilbildend als Landschafts- und Länderkunde mit positivistischer Grundhaltung prägten (Wardenga in Schlottmann 2020: 37). Mit dem Paradigma post-growth ergibt sich nun für die geographisch Tätigen, das ist meine These, eine besondere, eine zweiseitige und widersprüchliche Verantwortung. »Postwachstum« ist zunächst als Gegenbegriff diskursiv primär ökonomisch gerahmt. Die bereits Anfang der 1970er Jahre aufgezeigten »Grenzen des Wachstums« des Club of Rome (Meadows et al. 1972) wurden zum Ausgangspunkt der kritischen Auseinandersetzung mit den ökonomischen Paradigmen der herrschenden gesellschaftlichen Naturverhältnisse. Eng damit verbunden war die aufkommende Auseinandersetzung mit »Nachhaltigkeit«, die in einen breiten gesellschaftlichen Konsens mündete, aber auch zu einer inflationären Verwendung und Entleerung des Begriffs führte (Schwartz 2015; Tremmel 2003). Dies im Blick habend, ist bei der Arbeit mit oder für Nachhaltigkeit also auch kritisch-reflexive Begriffsarbeit angezeigt, was ich im folgenden Kapitel versuche. Denn mir geht es hier um die Übertragung der Auseinandersetzung mit Wachstum und Postwachstum, nachgeordnet auch Nachhaltigkeit, auf den Bereich (sinnfälliger Weise auch »Betrieb« genannt) der Wissenschaft. Einerseits in analytischer, aber in der Konsequenz andererseits auch in normativer Ausrichtung.
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Dabei ziele ich gar nicht so sehr auf das Produzieren von Wissen in der »knowledge economy«. Hierzu gibt es eine große Zahl kluger Analysen (u.a. Jöns et al. 2017), darunter auch solche, welche dezidiert die Auswüchse der Notwendigkeit zur Publikations- und Zitations- und Impactsteigerung geographisch Forschender kritisch aufs Korn nehmen (u.a. Pain 2014; Clifford 2002). Es geht mir hier mehr noch um die Art und Weise der Wissensproduktion aus der Perspektive der an diesen Prozessen beteiligten Subjekte selbst und um die Frage, wie sich diese dazu stellen können und, als Aussicht, eine zufriedenstellende Haltung entwickeln können, die ihnen Freude an ihrem Tun (wieder)bringt. Insofern steht weniger der ökonomische Begriff des Wachstums im Mittelpunkt, auch wenn die neoliberale Hochschule natürlich von eben diesem geprägt ist. In einem etwas breiteren gesellschaftsdiagnostischen Sinne wird vielmehr das von Harald Welzer beschriebene Wachstum als »mentale Infrastruktur« zentral (Welzer 2011), verbunden mit der Frage, wie sich dieser in der wissenschaftlichen Praxis begegnen ließe, um so vielleicht (wieder) zu einem guten wissenschaftlichen Leben zu kommen.
Nachhaltigkeit: der Widerspruch zwischen Sach- und Handlungsebene Bevor ich mich mit den normativen Konsequenzen der konstatierten Unzufriedenheit befasse – mit denen es sich ohne Zweifel zu befassen gilt, soll aus einer analytischen eine engagierte Betrachtung werden – scheint mir zunächst die Frage wichtig, wie Wachstum als mentale Infrastruktur in die geographische Praxis eingelagert ist. Für Welzer ist Wachstum auch ein lebensweltliches Konzept, insofern Lebenswelten nicht nur durch materielle und institutionelle Infrastrukturen bestimmt sind, sondern auch durch mentale (Welzer 2011: 12). Diese mentale Verankerung ist ihm zufolge die »tiefere Dimension des Wachstumszwangs« (ebd.), die auf politischer Ebene auch in Bezug auf die Wege in eine postcarbone Gesellschaft nicht adressiert wird. Wachstum fasst er dabei als ein einfaches Grundprinzip: »Jede Wachstumsvorstellung setzt grundsätzlich voraus, dass sich ein künftiger Zustand durch irgendein ›mehr‹ gegenüber der Gegenwart auszeichnet« (Welzer 2011: 15). Die geographische Wissenschaft verwickelt sich, so meine These, gerade weil sie wie alle westliche Wissenschaft im 21. Jahrhundert von dieser mentalen Infrastruktur durchzogen ist, zunehmend in einen fundamentalen Widerspruch. Auf einer sachbezogenen Ebene ist sie heute (ob nun aus strategischen oder inhaltlichen Gründen sei hier dahingestellt) bemüht, wenn nicht diskursiv gehalten, die Implikationen des Wachstums zu erforschen und Maximen der Nachhaltigkeit zu vermitteln. In methodisch-praktischer Hinsicht des wissenschaftlichen Tuns (und das heißt auch: bezüglich ihrer didaktischen Instrumente), aber auch im Umgang
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mit dem eigenen Körper werden diese Prinzipien der Nachhaltigkeit im »Wissenschaftsbetrieb« jedoch keineswegs konsequent umgesetzt. Im Gegenteil: Geographische Wissensproduktion unterliegt in all ihren Facetten, getrieben auch durch die fortschreitende Digitalisierung der Schreib- und Lernprozesse, nicht nur den Bedingungen, sondern auch den Prinzipien einer wachstumsorientierten und gerade in punkto Outputorientierung nicht-nachhaltigen Konsumgesellschaft, mit all ihren ökologischen und (psycho-)sozialen wie auch gesundheitlichen Konsequenzen (»burn-out«). Der kritischen Auseinandersetzung mit den raumbezogenen sozialen und ökologischen Folgen der Wachstumsökonomie in Forschung und Lehre (Klimawandel, Ressourcenverknappung, Biodiversitätsverlust etc.) entsprechen zwar auch Auseinandersetzungen mit dem Papierverbrauch des eigenen Instituts oder der Menge der Flugreisen zu Tagungen. Hier wird durchaus eine ökologische Verantwortung thematisiert und – zumindest in Anfängen, z.B. als Selbstverpflichtung von Abteilungen, Fakultäten oder gar Universitäten – praktiziert. Was weniger oder zu wenig konsequent passiert (oder gehört wird), ist eine konstruktive und offen geführte kritische Auseinandersetzung mit den Prinzipien der mentalen Infrastruktur in Bezug auf die wissenschaftsalltägliche Praxis selbst und die diesbezügliche Verantwortung für das eigene wissenschaftliche Tun. So bleiben machtvolle Bedingungen der Einschränkung des forschenden und lehrenden Subjekts oft unausgesprochen, aber auch die subversiven Strategien des Umgangs (de Certeau 1988) mit diesen Zwängen und deren Begleiter – Beschleunigung und Entfremdung – bleiben unsichtbar. Diese Unsichtbarkeiten und Unhörbarkeiten sind zu einem großen Teil strukturellen Bedingungen geschuldet. Isabelle Stengers verdeutlicht in ihrem Manifest für slow science das Dilemma, in dem Wissenschaffende heute stecken, wenn sie einerseits unzufrieden mit dem Niedergang ihrer wissenschaftlichen Freiheit im Prozess der Ökonomisierung von Wissen sind, andererseits dies aber nicht kundtun können, ohne den öffentlichen Glauben an die Wissenschaft (und damit auch ihre finanzielle Grundlage) tiefgreifend zu erschüttern. »In short, scientists have good reasons to be uneasy, but they can’t say so« (Stengers/Muecke 2018: 6). Stengers zufolge hängt dieses Dilemma wiederum eng mit dem der heutigen Wissenschaft unterliegenden Fortschrittsparadigma zusammen, welches paradoxerweise nachhaltiges Wachstum von Wissen zu garantieren scheint, jedoch den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern mehr und mehr den Verzicht auf die Freiheit, unabhängige Fragen zu stellen, abverlangt: »(…) the generally beneficial character of scientific progress is taken for granted. The small question as to why this progress may today be associated with ›unsustainable development‹ is not asked« (Stengers/Muecke 2018: 6).
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Was aber kann es vor diesem Hintergrund für das Tun von Geographinnen und Geographen genau heißen, wissenschaftlich nachhaltig zu handeln? Was kann Wissenschaft ohne Wachstum von Wissen bedeuten? Eine Abkehr von teleologischen Maximen der Erkenntnisgewinnung ist eine der möglichen Konsequenzen. Sie bezieht sich auf Wissenschaft als geistiges Tun. Eine Befreiung aus den institutionellen Zwängen kapitalistischer und neoliberaler Grundprinzipien ist eine andere. Sie bezieht sich auf Wissenschaft als politökonomische Praxis. Eine dritte Perspektive wäre die Entwicklung einer Sorge tragenden Haltung für die Resonanzen mit der (Um-)Welt. Sie bezieht sich auf Wissenschaft als körpergebundene Praxis. Jede Art dieser Wege in eine Geographie als Postwachstumswissenschaft muss sich dabei unweigerlich mit den machtvollen Bedingungen des eigenen Verstricktseins in herrschende Wissenschaftskultur und ihre Institutionen auseinandersetzen, wenn nicht mit ihnen ringen. Die mentalen Infrastrukturen lassen sich nicht immer erkennen, sie sind oft die blinden Flecken der Perspektive, in die wir Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler hineinsozialisiert sind. Und selbst wenn sich gerade in Zeiten der Krise Einblicke eröffnen: kritische Analysen des eigenen Nests benötigen Foren wie etwa dieses Buch, und zuweilen auch gefestigter Position – so kann etwa von »Exzellenzstalinismus« nicht jede prekär beschäftigte Nachwuchswissenschaftlerin unbeschadet sprechen. An diesem Punkt rücken nun spätestens auch die Verantwortungen der wissenschaftlichen Gemeinschaft für ihre Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler und deren Tun in den Blick. Wie lassen sich die Bedingungen für diese herstellen, damit sie dem herrschenden Imperativ des »Mehr« entsagen und dem eines kritischen »Anders« folgen können? In seinem Aufruf zur »Befreiung vom Überfluss« schreibt Niko Paech: »Das einzige noch verantwortbare Gestaltungsprinzip für Gesellschaften und Lebensstile im 21. Jahrhundert heißt Reduktion (…).« (Paech 2013: 11). Was würde es für die Geographische Praxis bedeuten, für solch eine Reduktion Verantwortung zu übernehmen?
Verantwortungshorizonte Im Folgenden versuche ich die Verantwortungshorizonte, die sich aus der gedanklichen Konfrontation der Geographie als Wissenschaft mit dem Postwachstumstheorem ableiten lassen, etwas genauer, wenngleich nur in Ansätzen systematisch, zu erkunden. Wie einleitend skizziert unterscheide ich einen sachbezogenen Verantwortungshorizont von einem praktischen, oder auch methodisch-didaktischen, und einem körperbezogenen Verantwortungshorizont. Es geht mir also einmal um die Frage, was die spezifische Verantwortung der Geographie hinsichtlich der
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Vermittlung ihrer Themen, aber auch damit zusammenhängender Werte und Normen, die mit dem Postwachstumsdiskurs verbunden sind, ausmacht. Normativ gewendet interessiert mich dann die Frage, wie eine wissenschaftliche Geographie konsequenterweise aussehen müsste, wenn sie die sachlichen Argumente des Postwachstumsdiskurses konsequent auf sich selbst bzw. ihr eigenes Tun und ihre Wissensproduktion beziehen würde und was das für die Herausbildung einer (anderen) Haltung von praktizierenden Geographinnen und Geographen bedeutet. Ich spreche von Verantwortungshorizonten und bediene mich dabei einer gängigen, wenngleich für meine Zwecke hinreichend unterbestimmten Metapher (Frischmann und Holtorf 2019), insofern ich hier etwas lediglich skizzieren kann, was für die Geographieschaffenden, die ich dabei heuristisch weitgehend undifferenziert vereinnahme, als mögliche Zukunft erscheinen mag, aber doch nicht gegenwärtig ist. Gleichzeitig scheint es aber für eine Betrachtung fachbezogener Verantwortung auch nicht unproblematisch, von »der Geographie« zu sprechen. Einerseits (und ohne hier auf die dazugehörige langjährige Debatte eingehen zu wollen), weil das Fach im wissenschaftlichen Feld keine Einheit darstellt. Stuart Lane bemerkt dazu: »We increasingly find ourselves with a strange sense of scholarship« (Lane 2017: 91). Geographie ist eine Disziplin, die er Maddell folgend mit einer Selbstidentität als breite Sozial- oder Umweltwissenschaft ausgestattet sieht, die gleichzeitig aber am gemeinsamen und engen Dach »Geographie« festhält, vor allem, um Beschäftigung an der Universität zu sichern (ebd.). Andererseits ist die Zuschreibung von Verantwortung an eine ganze Disziplin nur metaphorisch möglich, die Geographie denkt nicht, will nichts, handelt nicht. Das tun eben die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die sich als Geographinnen und Geographen verstehen und durch ihr Tun, also auch ihre fachlichen und fachhistorischen Bezüge, dem Fach seine Identität geben. Insofern scheint sinnvoll, vor dem Hintergrund der paradigmatischen Anforderungen in den Diskursen der post-Gegenwart und den daraus herzuleitenden Verantwortungen vor allem auf die Performanz der wissenschaftlich Tätigen zu schauen und auf die Art und Weise, wie sie sich zu diesen Anforderungen stellen sowie darauf, welche Verantwortung sie daraus ziehen können.
Sachbezogene Verantwortung: Wachstumsparadigmen geographisch begründet begegnen Die Geographie ist diejenige Wissenschaft, die vermutlich mit am engsten mit den Konsequenzen ökonomischen Wachstums, dem damit verbundenen Thema Nachhaltigkeit und assoziierten gesellschaftlichen Problemlagen wie Ressourcenverteilungen und Klimawandelfolgen verbunden ist. In der Öffentlichkeit wird das aber keineswegs so wahrgenommen. So muss aktuell etwa die Schulerdkunde in Hes-
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sen um ihre Existenz in den Lehrplänen fürchten, da sie von den Verantwortlichen im Kultusministerium als vom Fach Politikwissenschaft ersetzbar angesehen wird. Hinzu kommt, dass es auch in den Schulen nicht nur, aber auch aufgrund der Marginalität des Faches in den Stundentafeln kaum gelingt, einen der gesellschaftlichen Bedeutung der fachlichen Inhalte angemessenen Unterricht zu praktizieren. Wen wundert, wenn dann auch Eltern die Bedeutung geographischen Denkens und Handelns gegenüber mathematischen oder politikwissenschaftlichen Grundlagen marginalisieren? Eine interessante Wendung hat dieser Befund allerdings mit der Fridays for Future Bewegung genommen, die das intergenerationale GeographieLernen im Hinblick auf den Postwachstumsgedanken beflügelt hat (Lawson et al. 2019) – bevor der Corona-Diskurs diesen Trend überdeckte. Doch auch um die Außenwahrnehmung der Geographie als Wissenschaft ist es nicht zum Besten bestellt. Das liegt zumindest fachinternen Analysen zufolge vor allem daran, dass es nicht hinreichend gelingt, das wissenschaftliche Tun von Geographinnen und Geographen in angemessener Weise in die Gesellschaft zu tragen. Images von Steineklopfern oder Wetterfröschen halten sich zudem hartnäckig. Wenn man daraus nun eine Verantwortung der Geographinnen und Geographen herleiten wollte, dann wäre es möglicherweise die, sich um die Außenwahrnehmung und Vermittlung der eigenen Arbeit und Leistung besser zu kümmern. So verstanden fiele diese Verantwortung ins Feld der Image- und Identitätspolitik des Faches, die aber vor allem im Kontext der neoliberalen Universitätsstruktur ihre Berechtigung erhält. Erkennt man wie Stengers (Stengers/Muecke 2018) oder Lane (2017) gerade diese wachstumsorientierte Struktur aber als Teil des Problems, scheint eine marketingstrategische Auseinandersetzung mit einem nicht zufriedenstellenden Image ein irreleitender Ansatz hinsichtlich der Frage, wie dem Wachstum als mentaler Infrastruktur, bzw. den damit verbundenen gesellschaftlichen Beschleunigungs- und Entfremdungstendenzen verantwortungsvoll begegnet werden könnte. Hingegen könnte gewinnbringend diskutiert werden, ob es nicht auf sachlicher Ebene zu wenig gelingt, den Stand der Auseinandersetzungen zu den großen Themen mit dem gesellschaftlichen Diskurs und, noch viel mehr, mit gesellschaftlicher Praxis zu verbinden. Hierbei ginge es eher darum, Verantwortung nicht für die Disziplin, sondern für die eigene Sache zu übernehmen und sich im gesellschaftlichen Diskurs konsequent zu den Themen und Erkenntnissen – auch Kontroversen – des innerwissenschaftlichen Diskurses zu stellen. Bezieht man diese Verantwortung auf die einzelnen Forschenden, ist dennoch Vorsicht geboten. Denn dies befeuert wiederum genau das System von Konkurrenz und Wettbewerb, welches einen der Sache im schlechtesten Falle geradezu entgegenwirkenden Vermarktungsdruck vor allem auf diejenigen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ausübt, deren wissenschaftliche Zukunft ökonomisch unsicher ist (s.a. Lane 2017: 92 in Anlehnung an Stengers). Das wiederum bedeutet Verantwortung in der
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Gestaltung wissenschaftlicher Umwelten, übernommen zum Beispiel von Doktormüttern und Doktorvätern, wenn es darum geht, einer unreflektierten »Tyrannei der Relevanz« zu widerstehen, kreativen gedanklichen Spielraum zu eröffnen und durch die eigene Haltung Möglichkeiten eines subversiven, gleichwohl erkenntnisgewinnenden Umgangs mit den herrschenden Strukturen zu vermitteln. Dazu gehört auch, Doktorandinnen und Doktoranden verantwortlich und in gesundem Maß an wissenschaftsinterne Serviceleistungen wie das Begutachten heranzuführen und nicht, schon gerade nicht subtil und unausgesprochen, den Druck des beschleunigten Publikationsbetriebs an sie weiterzugeben. Verantwortungsbewusst ist übrigens auch, wenn etablierte Großgrundbesitzer in den wissenschaftlichen Feldern das Abstecken neuer »claims« (auch namentlich) einer nachkommenden Generation überlassen (die zudem oftmals auch kreativere Bewirtschaftungsmethoden einbringt). Schließlich kann aus der sachlichen Zuständigkeit auch eine kollektive Verantwortung der geographischen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler als Expertinnen und Experten für, ich sage mal ganz profan, »unsere Erde«, verbunden werden. Wenn es den geographisch Schaffenden, so ließe sich dann argumentieren, ernst ist mit ihren Gegenständen, namentlich der kritischen Analyse von Ressourcenabbau, Klimawandel oder Umweltschäden in einer carbonen Gesellschaft, entspringt daraus auch eine sachliche Verantwortung für die Verbreitung, zumindest aber ein »auf-die-Agenda heben« des Postwachstumsgedankens. Der sachliche Beitrag der Geographie zu der von Paech eingeforderten Reduktion bedeutete dann, diese Reduktion wissenschaftlich nicht nur zu begründen, sondern sie auch zu vertreten und sich gesellschaftlich im Sinne von außerakademisch für sie einzusetzen. Auch in Bezug auf den – hochgradig unterbestimmten – Komplex der Nachhaltigkeit wäre damit eine kritische Positionierung zur mentalen Infrastruktur des Wachstums verbunden. Das »Weniger ist Mehr«, bzw. ein anderes, ein qualitativ bestimmtes »Mehr« (zum Beispiel an Lebensqualität durch reinere Luft) hieße es dann konsequent nicht nur wissenschaftsintern zu untermauern (und hier ist die Lage ja durchaus vielversprechend), sondern auch in gesellschaftliche Kanäle, von Podiumsdiskussionen bis social media, einzuspeisen. Die Geographie scheint mir grundsätzlich diejenige Wissenschaft zu sein, von der solch (wissenschaftlich begründeter) Aufruf nicht zu nachhaltigem Wachstum, sondern zu weniger Wachstum für ein nachhaltiges Handeln kommen könnte und müsste. Geographinnen und Geographen wären dann entsprechend gehalten, sich diesbezüglich zu positionieren. Durch solches positionierende Tun wäre es dann vielleicht auch möglich, Zuständigkeiten zu reklamieren, mehr noch als durch fachpolitische Diskussionen über das »Zentrum der Geographie« (Schurr und Weichhart 2019). Paech folgend hieße das aber auch, dem Catch-all Wort »Nachhaltigkeit« und dessen hohen Kurs im wissenschaftlichen Publikationsgeschehen zu widerstehen. Statt den Begriff unkritisch in seiner grundsätzlich positiven Ladung zu bedienen, hieße das
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also konsequent zu vertreten, dass Nachhaltigkeit in seiner diskursiv begründeten Allumfassendheit kein sinnvolles Konzept sein kann und es dementsprechend auch keine nachhaltigen Produkte gibt, sondern allein »nachhaltige Lebensstile« (Paech 2013: 99). In der Folge ginge es dann sachlich eher um das Durchsetzen von Nachhaltigkeitsperformanz, das heißt auch um gemeinschaftlichen Verzicht auf wachstumsorientiertes Tun, statt um einen (wachsenden) Konsum als nachhaltig »gelabelter« Produkte.
Praxisbezogene Verantwortung: sich Wachstumstreibern im wissenschaftlichen Tun widersetzen Wenn Geographinnen und Geographen eine Verantwortung haben, sich sachlich gegen die Maxime des Wachstums zu »äußern«, was bedeutet es dann, wenn sie diese wachstumskritische Haltung auch konsequent als Verantwortung für ihr eigenes wissenschaftliches Tun verstehen? Welzer (2011) zufolge ist Wachstum sozial wie psychisch ein tief verankertes Deutungsmuster mit historischen Wurzeln, die bis in die frühe Industrialisierung und Aufklärung reichen. Aufgrund dieser tiefen Verwurzelung ist es ihm zufolge auch nicht möglich, ihr top-down politisch zu begegnen, sondern nur durch kleinteilige Praxisformen (Welzer 2011: 40ff.). Slow Science, wie sie auch Stengers propagiert, lässt sich in diesem Sinne nicht verordnen, sondern nur im Kleinen praktizieren. Dabei ist Slow Science in ihrer Lesart nicht einfach langsameres Arbeiten, sondern Verlangsamung von Handlungen des Wissenschaftsbetriebs. Lane (2017: 93) zufolge geht es darum: »re-establishing the kinds of situations that scientists can place themselves in relationally with respect to what they study, that can lead to the combination of curiosity, creativity, and innovation that makes science so exciting.« Was aber kann das konkret für die wissenschaftliche Praxis bedeuten? Ein zentraler Punkt in Lanes Analyse ist eine Krise der Überproduktion von wissenschaftlichen Beiträgen, also die Produktion von mehr Artikeln, als wir konsumieren, d.h. lesen und verarbeiten können (Lane 2017: 90). Diese Krise mündet aber darin, dass es nunmehr vorrangig um das Zitieren und Verbreiten von Artikeln (zwecks der Vermehrung ihrer Zitation) geht, nicht aber um inhaltliche Anschlüsse. Insofern sieht er eine zweite Krise darin, dass aufgrund der mengenmäßigen Überproduktion eine relative Unterproduktion von originären wissenschaftlichen Fragen entsteht (Lane 2017: 90). »Die Beschleunigung des Publikationsausstoßes führt also letztlich zur Marginalisierung des Wesentlichen in der Wissenschaft – des Erkenntnisgewinns« bemerkt Böhmer (2019: 32) in Anlehnung an Geman und Geman (2016). Aus dieser Spirale heißt es demnach, das Ziel freudvollen und gedanklich ergiebi-
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gen Arbeitens im Blick, auszusteigen. Eine Postwachstumswissenschaft ist visionär getrieben von wissenschaftlich verantwortungsvoll maßhaltenden Agierenden, die sich in ihren Publikationsprojekten fragen, ob es ihre Beiträge tatsächlich auch noch braucht. Das Gleiche gilt dann auch für die Zahl der laufenden Drittmittelprojekte. Auch hier ist bei vielen das Maß an Qualifikationsarbeiten überschritten, die sich noch verantwortungsvoll, das heißt nicht nur mit hinreichend Zeit, sondern auch, den Doktorandinnen und Doktoranden als Menschen mit einem Privatleben gegenüber, gut, also auch sorgend betreuen lassen. Dem Postwachstumsgedanken entsprechend hieße dies also das Ziel des Verdichtens dem des Vergrößerns gegenüberzustellen. Moralisch geht es dann aber auch um den Verzicht auf papers als »positional goods« (Kallis 2015), also als Güter, welche allein dem eigenen Status in der community dienen. Darunter fällt beispielsweise die Zahl der Publikationen in hochrangigen Journals. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sollen für ihre Qualifikation und das Erlangen einer der raren Professuren nach einem möglichst hohen »score« streben. An Plattformen wie Research Gate oder Academia lässt sich die Problematik dieses Geschäfts gut ablesen. Durch die peer-to-peer Struktur geben sie zwar Möglichkeiten (und rufen dazu auf), die etablierte Ökonomisierung der Wissensproduktion zu umgehen, indem Autorinnen und Autoren Ihre Publikationen (oft illegaler Weise) frei sharen können, unterliegen dabei aber fundamental der mentalen Infrastruktur des Wachstums. Die Zahl der zitierten paper etwa markiert den Status des Mitglieds. Je mehr paper, reads und citations, desto höher steht dieses im ranking (Das Ganze erfolgt selbstverständlich im Englischen businessSprachduktus). Erfolgsmitteilungen dienen den Akademikerinnen und Akademikern als Belohnung (»your paper reached a milestone«), was zu weiterem Publizieren antreibt (»next level«). Über das Sammeln von Zitationen besteht die Aussicht auf Markenbildung (s.a. Schlottmann 2012), gleichzeitig ist aber die Skala nach oben offen, das Spiel ist nie zu Ende. In dieser Hinsicht ist die Wissenschaft Teil eines »zero-sum positional games« (Kallis 2015), in dem je höher die Produktion ist (von solchen »positional papers«), desto weniger Wert das Produkt als positionales Gut hat. Je mehr alle publizieren, desto weniger zählt ein bestimmter score. Kallis (2015: 138) macht jedoch auch deutlich, dass das Streben nach positionalen Gütern keine persönliche Fehlleistung ist: »It is a structural social phenomenon to which individuals conform to remain part of the mainstream.« Für die wissenschaftliche Praxis scheint auch hier also ein einfacher Ausstieg kaum möglich. Umso größer scheint daher die Verantwortung, sich der Versuchung positionaler Güter im Wissenschaftsgeschehen bewusst zu werden und die Limitierung deren Wachstums, die ein Grund für immer weiteres (quantitatives) Wachstum ist, im Blick zu haben. Gleichzeitig lassen sich die wachstumsbeschleunigenden Instrumente aber auch gegen sich selbst wenden. Hier lassen sich randseitige Publikationen ein-
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stellen, (zitierende) Empfehlungen lassen sich zu solchen Sammelbandbeiträgen aussprechen, die Erkenntnis ohne erstrebten Fortschritt im Sinne von mehr, eher im Sinne von anders, also kritisch-reflexiv, sich selbst verortend und perspektivisch erzählend, aber gleichzeitig auch bereichernd, erzeugen. Beiträge also, die im Sinne von Stengers etwas beitragen, nicht vermehren. Nicht zuletzt geht es aber auch um die möglichst konsequente Nutzung »echter« im Sinne von legaler und damit Verlagsrechte nicht verletzender, non-profit open access Plattformen, die Wissen zu common good machen. Wenn also Kallis (2015: 139) weitergehend konstatiert: »Also the competition for positional goods is a structural problem, its solution can never be imposed solely from above. It has to be part and parcel of an ethicopolitical project of self-limitation, simplicity and equality to which the members of a collective autonomously subscribe to«, dann wäre es also an der wissenschaftlichen community, solche Vereinbarungen autonom zu schließen. Geographinnen und Geographen hätten vor dem Hintergrund einer sachlichen Verantwortung für einige der großen Probleme unserer Zeit hierfür umso mehr gute Gründe, mit Ansage voraus zu gehen.
Verantwortung für Körper und Leib der wissenschaftlich Tätigen: zum guten wissenschaftlichen Leben kommen Wenn es um die Verlangsamung von wissenschaftlicher Praxis geht, scheint mir im Sinne von Stengers Begriff des »relantissement« eine Praxis gemeint, die Entschleunigung und Verdichtung im wissenschaftlichen Tun mit einer Zugewandtheit zu den Gegenständen der Beschäftigung und dem Aufbau und Aufrechterhalten »echter«, also nicht beziehungsloser (Welt-)Beziehungen (Rosa 2019:305) verbindet. Dazu gehört die Zuwendung zu Forschungssubjekten und -objekten genauso, wie die zu den wissenschaftlichen Kolleginnen und Kollegen, den Medien der inhaltlichen Gegenstände, den Büchern, Filmen, Zeitschriften und Audiotapes, aber auch und besonders den Lernenden, insofern mit Dickel (2015) Vermittlung als Gespräch mit der Sache und dem Gegenüber begriffen wird. So schnell sich das hinschreiben lässt, so schwierig ist eine solche Zuwendung, je länger die Beschleunigung und Entfremdung bereits anhält. Stengers spricht von der derzeitigen Situation gar von einem kranken Zustand, der zunächst die Einsicht erfordert »that we are well and truly sick and have been for a long time, so long that we no longer recognise what we are lacking, and think of our sickness, and whatever sustains it, as ›normal‹« (Stengers/Mücke 2018: 81). Mit Rosa (2019) gesprochen, geht es auf dem Weg zur Genesung dann vor allem um das Wiedererlangen von Resonanzerfahrungen. Unter Resonanzerfahrung versteht er dabei nicht-mechanis-
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tisch und relational gerahmt den »Dreiklang aus konvergierenden Bewegungen von Leib, Geist und erfahrbarer Welt« (Rosa 2019: 290). Resonanzerfahrung ist nicht mit emotionalen Zuständen etwa des Gerührtseins zu verwechseln, sondern notwendig mit einer »Angesprochenheit«, einem Weltbezug und intrinsischem Interesse verbunden, sie entsteht dort »wo unsere kognitiven und evaluativen Landkarten mit unserem Handeln oder Sein konvergieren« (ebd.: 291). Entsprechend lassen sich hinsichtlich der Resonanzerfahrung fördernde und hemmende Einflüsse unterscheiden (ebd.). Dies lässt sich nun auf das gute wissenschaftliche Leben beziehen, wenn man sich darauf einlässt, dass dieses ein resonanzreiches Leben ist. Einerseits im Hinblick auf die Forschungsarbeit, also die Beziehung der wissenschaftlichen Subjekte (Geographinnen und Geographen) zu ihrem Gegenstand, der physischen und sozialen Welt (s. hierzu auch Zahnen 2011). Für die Vermittlungsarbeit bedeutet dies das Ideal einer »bezogenen Beziehung« (Rosa 2019: 305) der wissenschaftlichen Dozentinnen und Dozenten mit den Studierenden (bzw. der Lehrenden mit ihren Schülerinnen und Schülern). Anders gesagt: Es meint viel von dem, was, wie wir eindrücklich im Zuge des Corona Lockdowns und des räumlich distanzierten Lernens bemerken, beim online teaching fehlt. Der Verlust von Resonanzerfahrung kappt Empathien, die es sonst – in Kopräsenz – erlauben, Verbindlichkeit herzustellen (und einzufordern), aber auch die Situation der Lernenden jenseits des Unterrichts zu erspüren. Die räumliche Distanzierung wird so zur Quelle der Unzufriedenheit mit dem eigenen Tun. Resonanzerfahrung ist auf Seiten des Subjekts, so Rosa (2019: 146), auf beziehungsvolle Weltbeziehungen angewiesen und die wiederum sind wesentlich leiblich. Aus dem Ziel, ein »gutes wissenschaftliches Leben« zu führen und eine resonanzvolle Geographie zu leben, erwächst also nicht nur Verantwortung gegenüber der Sache und dem eigenen Tun, sondern auch gegenüber dem eigenen Körper und mehr noch, dem eigenen Leib. Mit Leib meine ich im phänomenologischen Sinne den Körper, der wir sind, den gelebten Körper oder auch, anders gefasst, das fühlende und erfahrende Selbst. Das heißt zunächst, sich kritisch zu fragen, inwiefern sich mit zunehmender Entfremdung, also mangelnder Resonanzerfahrung, entstehende beziehungslose Beziehungen auf den eigenen Leib beziehen. In welchen Momenten meines wissenschaftlichen Tuns fühle ich mich unwohl, leer, lustlos, gar tot (Rosa 2019: 308)? Inwiefern tritt mir mein Gegenstand »stumm« und verdinglicht gegenüber? Hier scheint mir eine fundamental wichtige Verantwortung zu liegen, insofern die Verbundenheit mit dem eigenen Körper und leibliches Wohlergehen auch zentrale Bedingungen für die Zugewandtheit zu den Objekten und Subjekten der Forschung und Lehre darstellen. Dies möchte ich nicht als Aufruf zur Selbstoptimierung verstanden wissen, wie sie Teil einer aktuell beschriebenen »Sportifizierung der Wissenschaft« ist (Kaldewey 2018; Carlsson 2018). Es geht mir um die nachhaltige Sorge für die eigenen Ressourcen der Weltbeziehung, das
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Pflegen von Aufmerksamkeit, Spürsinn und Empathie. Normativ gewendet hieße das für die alltägliche wissenschaftliche Praxis (im Gegensatz zu Selbstoptimierung), Resonanzhemmnisse zu erkennen, innezuhalten, sich Zeit zu nehmen für sich und andere(s) und körperlich-sinnliche Belastungen, mehr noch Überlastungen zu vermeiden um, in Stengers Sinne, zu »gesunden«! Das hieße dann beileibe nicht »weniger« zu tun, sondern durch Reduktion die Qualität des Tuns (des Publizierens, der Betreuung, der Interaktion mit Forschungssubjekten) zu erhöhen. Nicht zuletzt ist gerade für Forschende im Feld der Nachhaltigkeit solch nachhaltiger Umgang mit den eigenen Ressourcen auch ein Reservoir für Authentizität und Identität.
Schluss: Geographie als Gemeinschaftsgarten? Zusammenfassend ergeben sich aus meiner Beschäftigung mit einer wahrgenommenen wissenschaftlichen Unzufriedenheit einige Gründe, der mentalen Infrastruktur Wachstum auch im geographisch-wissenschaftlichen Tun sachlich, praktisch und leiblich zu begegnen. Eine Geographie als Postwachstumswissenschaft stelle ich mir aber alles andere als wachstumsfeindlich vor. Vor dem Hintergrund der hier nur unzureichend ausgearbeiteten Verantwortungshorizonte erscheint mir eher das Bild eines pflegenden und sorgenden und nicht zuletzt auch lustvollen Umgangs mit dem Wachstum von Erkenntnis, Einsicht oder Wissen, ein Bild, das als – zugegeben utopisches – Leitbild dienen mag: ein Garten. Und vor dem Hintergrund der Argumente für eine gemeinschaftliche Wissenschaft ist das ein Gemeinschaftsgarten. In diesem Garten wächst geistige und pathische Nahrung. »Die Pflege und die Beobachtung der heranwachsenden Nahrungsmittel hat etwas eigentümlich Beglückendes« (Werner 2011: 61). Die damit verbundene Gartenarbeit ist gleichsam »mit Wiederholung, mit Fleiß, Geduld und Geschick verbunden (…). Wer ernten will, braucht Wissen und Erfahrung« (Werner 2011). Die geographischen Gärtnerinnen und Gärtner entwickeln einen entspannten Habitus und halten Distanz zum hektischen Körper und Geist (Werner 2011: 62). Die Gartenarbeit ist entschleunigend, weil sie in Resonanz mit dem Takt des Anderen steht, aber gerade darum ist sie produktiv und ertragreich. Wissenschaftliche Forschungsfelder sind keine hochproduktiven Monokulturen, sondern verantwortungsvoll zu pflegende Allmende, wobei durch Zuwendung auch (unattraktive) Brachflächen und Unorte zu attraktiven Orten werden können (Werner 2011: 59). Der Schwenk vom theoretischen Umdenken zum (kleinteiligen) Tun ist dabei programmatisch zu verstehen. Nicht die radikale Abschaffung herrschender (ökonomisierter und neoliberalisierter) Wissenschaftsstrukturen oder deren Verweigerung ist gefordert, sondern Performanz und Bespielung der gegebenen
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Strukturen durch das Einlassen auf Schönheit, Eigenart, Widerständigkeit und Nicht-Zweckhaftigkeit. Die von Werner für den Gemeinschaftsgarten herausgestellte Würdigung der »Querheit der Pflanze«, die sich gegen ihre Unterwerfung in der kapitalistischen Ökonomie stellt, wird in der Übertragung zur Verantwortung, auch solche wissenschaftlichen Beiträge zu pflegen, die sich nicht in bestehende (zweckgebundene) Kategorien wissenschaftlicher Exzellenz einpassen lassen. Verantwortung ist in diesem Sinne nicht die Verantwortung des komplett regierten Subjekts zur (als notwendig erachteten) normalen wissenschaftlichen Produktivität, sondern die Verantwortung zum performativen und dadurch produktiven Widerstand durch »wildes Denken«, neu Durchdenken, Anstoßen und einer Kritik ihrer Normen (vgl. Werner 2012: 68ff.). Diese Analogie, soweit sie trägt, mag helfen, zumindest eine Richtung zu weisen. Mir ist durchaus bewusst, wie vereinfachend und pauschalisierend sie ist. Über status-, gender- oder bildungsspezifische Voraussetzungen zum widerständigen kleinteiligen Tun wäre viel zu reden. Ebenso über institutionelle Voraussetzungen, also – um im Bild zu bleiben – über die Ausbildung zum verlangsamten geographisch-wissenschaftlichen Gärtnern. Zu diskutieren ist auch über ein verbindliches geographisches Nebenfach, das Wissenschaftstheorie mit Fragen der Verantwortung im wissenschaftlichen Tun verbindet und nicht zuletzt über Resonanzdidaktik an Schule und Hochschule und eine entsprechende Unterstützung der nachfolgenden Generationen bei der Herausbildung einer geographischen (Postwachstums-)Haltung.
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Wie viel Sinnlichkeit vertragen die Sozialwissenschaften? Lebensphilosophische Reflexionen zur Sinnen- und Lebensferne spätmoderner Sozialwissenschaften Jürgen Hasse
Für eine allgemeine Aufwertung der Sinnlichkeit im Leben argumentierte neben Schiller und Baumgarten vor allem Kant. Die Pointe der Zuerkennung einer größeren Macht des Sinnlichen im Erkenntnisprozess liegt noch heute darin, dass die fünf Sinne ganzheitliche Eindrücke vermitteln und auf andere Weise erkenntnistheoretische Brücken zur Wirklichkeit bauen als abstrakte Theoriegebilde. Was sinnlich erfasst wird und dabei affektiv berührt, stellt sich ebenso wenig als etwas Quantifizierbares dar, wie als Kette von Sinnes-Reizen, die quasi-mechanistisch und hirnphysiologistisch für analytische Zwecke in Einzelteile zerlegt werden könnten. Aus dem Umstand, dass im situativen Erleben Eindrücke auf spürbare Weise mit Gefühlen verbunden sind, resultiert die Frage nach der lenkenden Macht der Sinne im Erkennen der Welt – im tagtäglichen Leben wie in der wissenschaftlichen Forschung. Die Frage geht über den Rahmen der Lebenswelt in den Bereich der hoch regulierten Methoden wissenschaftlicher Erkenntnisgewinnung hinaus, weil auch Menschen, die sich der Wissenschaft verschrieben haben oder sie als Beruf betreiben, lebendige Personen aus Fleisch und Blut sind und biographisch wie gesellschaftlich von ihrer Subjektivität als Quelle von Gefühlen nicht loskommen. Daraus folgt der Imperativ, die tragende Rolle der Subjektivität und der Gefühle im Prozess der Erkenntnis sich selbst wie potentiellen Rezipienten gegenüber transparent zu machen. Hierzu gehört die Reflexion der dem wissenschaftlichen Denken zugrundliegenden (und sich tendenziell unbemerkt einschleichenden) Menschenbilder. Angesichts hoher binnendisziplinärer Differenzierungen sind die Theorieströmungen aber auch in einem so kleinen Fach wie der Humangeographie zu facettenreich, als dass Menschenbilder einer singulären Kritik zugänglich gemacht werden könnten. Dennoch ist gleichsam oberhalb diverser
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Theorieströmungen eine leitende habituell verinnerlichte Vorstellung des Menschen unverkennbar, wonach seine Gefühle als weitgehend arbiträr gelten. Was Menschen tun, wird vom Mainstream der Sozialwissenschaften konzeptionell einem intellektualistischen Handlungszentrum im Gehirn sogenannter »Akteure« zugeschrieben. Die sozialkonstruktivistische Idee des Menschen widmet den Gefühlen schon deshalb wenig Aufmerksamkeit. Erst recht sind irrationale Impulse seines Tuns in Gänze mit der Vorstellung eines rational agierenden Subjekts unvereinbar (vgl. auch Hasse 2016). Das geht so weit, dass sogar Heimat unter der Macht dieser Verblendung als Resultat sogenannten »Geographie-Machens« (vgl. Werlen 2002: 42) fehlinterpretiert wird (vgl. Daum 2010: 17). Eine bemerkenswerte Ferne gegenüber geisteswissenschaftlichen Zugängen zum Verstehen nicht-relationaler Räume drückt sich zum Beispiel darin aus, dass das Geographische Lexikon den Begriff der »Atmosphäre« nur aus der Klimatologie kennt oder unter einem »Wahrnehmungsraum« die »Menge aller Standorte versteht, über die ein Individuum oder ein Haushalt gewisse Kenntnisse besitzt« (Nipper 2002: 458). Die sozialkonstruktivistische Geographie platziert sich in einer wissenschaftlichen Gemeinschaft anderer Fächer, die sich in ihren Menschenbildern – auf den »Kommandohöhen der kognitiven Menschenproduktion« (Sloterdijk 2009: 551) – einig wie ähnlich sind. Damit gerät unter anderem die menschliche Gestimmtheit als Bedingung jeden Seins und Tuns aus dem wissenschaftlichen Fokus. Der Bollnow´sche Raum der Stimmungen lässt sich indes – ähnlich wie der der Atmosphären – nur aus einer theoretischen Perspektive verstehen, die den Sinnen gegenüber ebenso aufgeschlossen ist wie den Gefühlen. Auch der hodologische Raum (der Raum der gegangenen Wege), in dem der gelebte wie erlebte Raum in der Bewegung erschlossen wird, ist nur bedingt etwas Verfügbares und Machbares, verlangt viel mehr die Reflexion sinnlicher Verwicklungen ins Wirkliche. Es ist der sinnliche Raum, der das leibliche Individuum anspricht (vgl. Bollnow 1963: 191ff). Kaum anders erschließt sich der proxemische Raum von Nest und Nische (im Sinne von Barthes 2007: 184f) nur als gefühlter Nahraum. Beispielhaft dürfte das Bett einer der wenigen Orte im proxemischen Raum sein, der als Topos (nicht als Gegenstand) in kulturhistorischer Hinsicht relativ konstant geblieben ist – im Unterschied zum brennenden Herdfeuer, das in der Gegenwart durch die Ausbreitung von High-Tech-Kochinseln schon lange eine historische Reminiszenz geworden ist.
Wissenschaftsethisches Korrektiv? Der wohl grundlegendste Wandel der theoretischen Bezugspunkte wie sinnstiftenden Legitimationsstränge einer wissenschaftlichen Disziplin verdankt sich paradigmatischer Neuausrichtungen. Sie orientieren die teleologische Ordnung des-
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sen, was fortan in einem Fach als gut und richtungsweisend gelten soll, aber auch, was als rückschrittig und (ideologisch) »des Teufels« anzusehen ist. Dies hat Folgen für die Wahl möglicher Wege wissenschaftlicher Forschung. Mit Holm Tetens kann Wissenschaft als der Versuch verstanden werden, »systematisch und methodisch zu erkunden, was alles Wichtiges in der Welt der Fall ist und warum es der Fall ist« (Tetens 1990: 3018). Dieser Versuch folgt indes der (konstruktivistischen) Überzeugung, dass nur für richtig gehalten werden kann, was sich vor dem Hintergrund der paradigmatischen Ordnung einer wissenschaftlichen Disziplin in anerkennungswürdiger Weise darstellt. In die Explikation der Resultate wissenschaftlichen Tuns mischen sich aber – mehr verdeckt als diskursiv offen zu Tage liegend – auch außerrationale Impulse, Motive und Kräfte. Die Befunde werden zwar in sprachlichen Aussagen formuliert, verdanken sich in ihrer Essenz aber nicht allein kognitiver Anstrengungen. Zumindest performativ sind sie von affektiv gestimmten Überzeugungen und Ideologien mitunter mächtig unterfüttert. Was Wissenschaft auf ihren Wegen hervorbringt, kann schon deshalb nur »in gewisser Weise« wahr sein. Nur im besten Falle stimmt es mit dem überein, was tatsächlich der Fall ist (im engeren Sinne eines realistischen, korrespondenztheoretischen Wahrheitsbegriffs (vgl. ebd.: 3019). Nie darf Wissenschaft unkritisch dem Glauben und Hoffen der Leute aufsitzen. Sie muss Täuschungen aufdecken. Und sie darf selber nicht täuschen. Dennoch tut sie, vor allem als Folge ihrer weitgehend entsinnlichten Erkenntnismethoden genau dies. Trotzdem können ihre Ergebnisse auch dann disziplintheoretischen Begründungsansprüchen standhalten, wenn ihre Aussagen in einer kompetent und rational geführten Argumentation affektive Zustimmung finden (vgl. Kambartel 1995: 719). Die Grenzen des sozialwissenschaftlich Zulässigen oder gar Gebotenen schwimmen dabei im Zeitgeist und lassen sich schwer ausmachen. Deshalb ist es Sache der Wissenschaftsethik, »die Rolle des Wissenschaftlers innerhalb seiner Zunft und in der Gesellschaft« (Hoyningen-Huene/Tarkian 1990: 3028) kritisch zu reflektieren. Die Bezugshorizonte für Zuspruch wie Ächtung geraten schnell ins Wanken. Umso mehr, wenn (quasi-)religiöse Normen das »Dunkle« und »Böse« ins Spiel bringen. Wenn wissenschaftliche Handlungsfelder auch noch in spätmodernen Gesellschaften unter die Macht der Kirche geraten, wird der Boden der Legitimation sumpfig. Was als verbindlicher Maßstab der Kritik gelten soll, ist strittig. Was als »kritisch« zu betrachten ist, verändert sich historisch schnell. Es ist Aufgabe der Wissenschaftsethik, unter anderem darüber zu wachen, wie die wissenschaftlichen Produkte einer Disziplin erzeugt werden. In diesem Prozess tragen die Forschenden und ihre ethischen Wächterinnen und Wächter je eigene Verantwortung. Angesichts einer schnell fortschreitenden Spezialisierung der Forschungsmethoden scheint sich ein Trend zu behaupten: Eine gewisse »Versonderweltlichung« durch die Steigerung sprachlich immer lichterer Abstraktionshöhen. Kann eine
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abstraktionistische Verdünnung dessen, was die fünf Sinne eindrücklich machen, für den Wechselverkehr zwischen den epistemischen Biotopen Wissenschaft und Lebenswelt noch produktiv sein? An welchem Punkt fallen die Wissensfelder von Wissenschaft hier und Lebenswelt dort endgültig auseinander? Sobald das geschieht, stürzen die Brücken der Wissenschaft zu ihrer sinnlich erfassten Referenzwelt ein. Damit bricht auch die Verbindung zur Lebenswelt ab, in der sich die Brauchbarkeit wissenschaftlicher Befunde aber erst erweisen müsste. Deshalb ist es Sache der Wissenschaftsethik, die erkenntnisvermittelnden wie -vernebelnden Techniken und Praktiken in den Blick zu nehmen, die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zu ihrem Tun antreiben und auf Ziele hin orientieren (vgl. Gethmann 1995).
Ungleichzeitigkeiten Es ist bemerkenswert, dass in jenem historischen Moment (zwischen 1970 und 1980), in dem sich die Geographie endgültig vom Besonderen (zum Beispiel in Gestalt des Idiographischen der Länderkunde) abgewandt hat, Helmuth Plessners Anthropologie der Sinne (1980) und Karl Jaspers Psychologie der Weltanschauungen (1971) in Neuauflagen erscheinen. Diese Ungleichzeitigkeit impliziert die Frage, welche erkenntnistheoretische Rolle die Humangeographie den Sinnen zuerkennen will. Das gilt in gleicher Weise für die Gefühle, leiblichen Regungen und mehr noch die Irrationalität (vgl. u.a. Müller-Freienfels 1922). So wenig sich eine konsensfähige Antwort auch aufdrängt, so ist im sozialwissenschaftlichen Mainstream doch eine narzisstische Geste des homo intellectus als Ausdruck ungebremsten Hochmuts unübersehbar. Der Umstand nämlich wird geringgeschätzt, dass der Mensch sein Vermögen, die Welt zu bewegen, der Verknüpfung von »Kraft und Affektivität« (Henry 2014: 114) verdankt. Die sogenannten »niederen« Sinne, die dem Lesen oder Hören von Texten nur wenig nützen, müssen unter der mentalen Dunstglocke des Sozialkonstruktivismus geradezu als animalische Relikte eines archaischen Menschentyps erscheinen. Zumindest in der Lebenswelt gilt dagegen: Der Mensch denkt nicht nur mit Hilfe seines Verstandes, er isst auch (mit Genuss) und liegt im Schmerz darnieder – kurzum: er existiert. Welche Formen sinnlicher Teilhabe an Wirklichkeit dürfen oder sollen im Namen eines paradigmatisch so oder so regulierten Denkens zwischen Nähe und Distanz favorisiert werden? Damit stellen sich Fragen einer methodologischen Diätetik: Ist die soziale Welt eine beliebig nutzbare Ressource der Wissensbereicherung oder gibt es auch illegitime Zonen des Zugriffs und wenn ja, welche? Hier rufen sich zum Beispiel Erfahrungen der ethnographischen Fotografie in Erinnerung, wonach die sogenannte »Eingeborenen-Aufnahme« (Brinker 1989) immer wieder durch die Angst der Menschen erschwert wurde, ihre Seelen würden letztlich im
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schwarzen Kasten davongetragen. Das darin vorscheinende Problem reklamiert eine wissenschaftsethische Debatte von anhaltender Aktualität. Das Nehmen von Wissen aus »beforschten« Milieus ist dem Nehmen und Verzehren von (Nahrungs-) Tieren strukturell ähnlich – einer Geste, die an keine Pflicht zur ausgleichenden Gabe gebunden ist. An diesem Punkt rückt die pathische Seite des Menschen in den Fokus. Sie ist nie in Gänze Resultat intelligibler Konstruktionen. Den leiblich spürenden Menschen trifft man in allen individuellen Personen an, daher auch bei denen, die das Geschäft der Wissenschaft betreiben.1 Während sich die spätmodernen Sozialwissenschaften in ihrem sozialkonstruktivistischen Mainstream aus der Anerkennung der leiblichen Situiertheit des Menschen herauswinden, setzen ökonomische und politische Akteure praktisch (oft eher intuitiv als rational) auf die affizierende Unterströmung rationaler Vermögen der Selbstbestimmung. Die glamouröse Verschönerung der Städte dient in diesem Sinne nicht der Ertüchtigung der Handlungsfähigkeit ihrer Bürgerinnen und Bürger, sondern der Sedierung ihres kritischen Bewusstseins gegenüber den Zumutungen immer perfider agierender spätkapitalistischer Systeme. Das sozialkonstruktivistisch entworfene Menschenbild des Agierenden steht in krassem Gegensatz zum Durchschnittsmenschen. Eine fiktive Zuspitzung irrationaler Neigungen inszeniert Dostojewski mit seinem namenlosen Protagonisten im Kellerloch. Der spricht nämlich nicht aus dem Resonanzraum kühler Sachlichkeit, sondern in bitteren, zynischen, resignativen, hysterischen, depressiven, dann wieder leidenschaftlichen Tönen und nicht zuletzt in einer gewissen Verwirrtheit über sein Leben, in dem eigentlich alles ziellos und voller Widersprüche verläuft (vgl. Dostojewski 2008). Zweifellos ist er nur eine Romanfigur. Aber in gewisser Weise ist das auch der intelligible Akteur des Sozialkonstruktivismus – Figur einer klinischen Erzählung, die nicht im Mindesten zum Tun signifikanter »Akteure« im Drama einer globalen ökologischen Dämmerung passt. Würden sie tatsächlich als zurechnungsfähige, nicht nur rationale, sondern auch vernünftige Menschen agieren, müssten sie anderes tun.
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Jaspers weist auf eine im Fokus spätmoderner Sozialwissenschaften geradezu esoterisch anmutende Einstellung der Erkenntnis hin: »Die intuitive Einstellung ist nicht ein schnelles Hinblicken, sondern ein Sichversenken. Es wird nicht, was vorher gewußt wird, mit einem Blick noch einmal festgestellt, sondern es wird ein Neues, Erfülltes angeeignet in einem Prozeß der sich entwickelnden Anschaulichkeit.« (Jaspers 1971: 65).
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Die szientistische Lust am Hyperabstrakten Die Konsequenz des Szientismus läuft praktisch darauf hinaus, das Lebendige und Sinnliche des Lebens in luftige Abstraktionen aufzulösen. Die Festigung dieser »Denkstimmung« (Fleck 1983) bedarf der Produktion von Mythen. Sie kitten die Brüche zwischen dem, was die Menschen am eigenen Leib erleben und dem, was eine Wissenschaft in ihrer rituellen Sondersprache darüber erzählt. Der Mythos von der Dignität der Wissenschaft ist eine Keimzelle der Täuschungen. Und er adelt noch das schwer bis kaum verständlich Gesagte. So idealisiert er auch die Fiktion des intelligiblen Akteurs und damit den Menschen als eine brain-machine. Zugleich weist er das Erleben im Medium der Lust, des Schmerzes wie des Begehrens in ein präwissenschaftliches Sumpfland ab. Es drängt sich der Eindruck auf, dass dem szientistischen Akteursmenschen Angst bereitet, was dem pathischen Menschen widerfährt. Das fiktionale Subjekt spätmoderner Sozialwissenschaften ist weder stumm, noch passiv, weder angepasst, es schwimmt nicht dumpf im Strom der Masse, noch ist es durch Gefühle wesentlich gestimmt. Was im sinnlichen und leiblichen Erleben spürbar und konkret wird, transformiert der Szientismus in verschraubte Begriffswelten. Über die Codes vermeintlich »besseren« Situations-Verstehens verfügen Expertinnen und Experten – als »Bewirtschafterinnen und Bewirtschafter« von Sprach-Biotopen – nicht der gemeine Mensch. Massive Kritik am Szientismus formulierte Friedrich Nietzsche im Zarathustra: »Was der Sinn fühlt, was der Geist erkennt, das hat niemals in sich sein Ende. Aber Sinn und Geist möchten dich überreden, sie seien aller Dinge Ende: so eitel sind sie.« Wenn er sodann anmerkt, der »Leib ist eine große Vernunft, eine Vielheit mit einem Sinne« (vgl. Nietzsche, KSA, Band 4: 39), so trifft er damit eine bis heute für das Selbstverständnis der Lebensphilosophie essentielle Schnittstelle der Rationalitäten, auf der Verstand und Gefühl zueinander in Beziehung treten. Vernunft versteht Nietzsche im transversalen Sinne (vgl. Welsch 1987 und 2000) als Vermögen der Synthese strukturverschiedener Modi der Selbstgewahrwerdung, Erfahrung und Reflexion. Das lebensweltliche (zudem immer öfter esoterisch verklärte) Votum, Sinne und Gefühle mögen die Richtung der Synthese vorgeben, verliert sich auf andere Weise als der Szientismus in die Vereinseitigung. Umso mehr spitzt sich gerade darin die politische Brisanz der Frage zu, wie die BezugsRationalitäten (Gefühl und Verstand) als »kommunizierende Röhren« der Vernunft getaktet sein sollen. Vor dem Hintergrund einer sich sukzessiv verschärfenden Macht der Systeme über die Sphären der Lebenswelt reklamiert sich mit Ludwig Klages die »Rückgewinnung erlebter Zusammenhänge aus dem Maschennetz tausendfältig sie durchquerender Trennungslinien« (zitiert bei Schmitz 2007: 644). Und noch 1962 (und damit kurz vor den ab 1968 stattfindenden Umbrüchen in Wissenschaft und Gesellschaft) merkte der Religionsphilosoph Romano Guardini zunehmende Kontakt-
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verluste zwischen den Menschen an und sprach (weit vor Facebook, Twitter und TV-Talk-Shows) von einer Tendenz zur Veröffentlichung aller persönlichen Belange. Guardinis Kritik richtet sich nicht zuletzt gegen einen zivilisationstheoretisch bedenklichen Machtzuwachs technologischer Innovationen, die über die Aufmerksamkeit und Wahrnehmung der Menschen die Oberhand gewinnen: »Der Mensch gewinnt nicht Weltgehalt, sondern verliert ihn.« (Guardini 19561 : 39f). Neben Guardini war es vor allem Martin Heidegger, dem die Überschreibung der sinnlichen Wahrnehmungs- und Erlebnisweisen durch die »Gestelle« der Technik im Sinne des Wortes als bedenklich erschien.2 Bis in die Gegenwart ist eine in ähnlicher Weise anthropologisch akzentuierte Technik-Kritik zentrales Anliegen der Phänomenologie, die sich auch als Strömung der Lebensphilosophie verstehen lässt.3 Das Problembewusstsein gegenüber modernisierungsbedingten Transformationen der Wahrnehmung wie des Erlebens war in der Hochzeit der Lebensphilosophie weit stärker ausgeprägt als in der Gegenwart. Im Zentrum stand eine profilierte Aufgeschlossenheit gegenüber der schwindenden Sensibilität ganzheitlicher Vermögen der Erfassung von Wirklichem: Ernst Cassirer (a) sah die Synästhesien als »generellen Charakter des Wahrnehmungsbewußtseins« (vgl. Paetzold 2010: 861), Felix Krueger (b) thematisierte mit der Metapher des Akkordes (1930: 26) noch vor Willy Hellpach den ganzheitlichen Charakter der Wahrnehmung, Helmut Plessner (c) sprach von der Einheit der Sinne (vgl. Plessner 1980), Georg Picht (d) verstand die Wahrnehmung als »Vibration der gesamten Sphäre unserer Sinnlichkeit« (1986: 417), und heute ist es Hermann Schmitz (e), der die Grundform der Wahrnehmung als leibliche Kommunikation (vgl. Schmitz 2011: Kapitel 4) auffasst. Letztlich heben alle Betonungen des Pathischen eine Welt des Wirklichen hervor, die man auch als terra incognita sozialkonstruktivistischer Anstrengungen der Produktion von Wirklichkeit beschreiben könnte. Das Beispiel der Atmosphären berührt eine Achillesferse im methodologischen Selbstverständnis der Sozialwissenschaften. Atmosphären werden vor allem in urbanen Erlebniswelten zunehmend nach dissuasiven und manipulativen Programmen inszeniert, um Betroffenheiten zu erzeugen – oft ideologisch eingefärbt und in Ziele der Weckung von Bedürfnissen und Begehrnissen verstrickt. Eine Kernkompetenz ästhetischer Produzenten der Kulturindustrie liegt in der dissuasiven Sedierung. Genau genommen markiert das Ziel der Produktion von Atmosphären aber nur eine Zwischenetappe, werden Atmosphären wegen ihrer affizierenden Wirkung ja als betäubende wie betörende Medien nur eingesetzt, um Stimmungen zu tönen. Erst wer von einem spürbaren (aber nicht a priori auch schon stimmenden) Gefühl einer Atmosphäre affektiv ergriffen wird, kann sich als Objekt 2 3
In dieser Logik argumentierte mit Nachdruck auch Arnold Gehlen; vgl. 2007. In anthropologischer Sicht vgl. Gehlen (ebd.) sowie in phänomenologischer Sicht Henry 2016 (besonders Kapitel 3).
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hinreichend nachhaltiger Lenkung erweisen. Zur Sache sozialwissenschaftlicher Forschung werden Atmosphären erst allmählich, insbesondere in Zirkeln, die der Phänomenologie nahestehen. Theoretisch sind Atmosphären und Stimmungen Thema der Philosophie. Ein Defizit lebensphilosophischer Reflexion von beiden liegt gleichwohl im Mangel einer differenzierenden Unterscheidung (vgl. auch Hasse 2019). So thematisiert Martin Heidegger die Stimmung in ihrer das Befinden des Menschen grundierenden Macht.4 Damit führt er jedoch eine Debatte, die sich von jener der politischen Philosophie unterscheidet, die die Reflexion der stimmenden Macht von Atmosphären zum Ziel hat. Zwar thematisiert Bollnow sowohl Atmosphären als auch Stimmungen; aber er sucht kaum nach Übergängen zwischen beiden. In seinem Werk über das Wesen der Stimmungen (vgl. 1995) geht er (mit Martin Heidegger und Hans Lipps) solchen Berührungen punktuell nach, und in seinem knapp 10 Jahre später erschienenen Werk über die Pädagogische Atmosphäre (vgl. 1964) stellt er zwar hier und da Beziehungen zwischen Atmosphären und Stimmungen her, aber nicht systematisch. Noch bei Hermann Schmitz dominieren die Atmosphären auch die Rede über die Stimmungen, die er als Sonderform der Atmosphären auffasst (vgl. Schmitz 1990: Kapitel 6.4.2). Das Thema ist nicht zuletzt im Fokus sozialwissenschaftlicher Forschungsfelder deshalb so wichtig, weil Atmosphären und Stimmungen Herde des Sozialen sind. Nicht zuletzt mündet der politische Diskurs auf dem Wege der Kommunikation von Gefühlen (im Unterschied zu sachlichen Argumenten) zunehmend in die Produktion von Stimmungen. Wo Gefühle jedoch den Platz sachbezogener Argumente einnehmen, sitzt die Vernunft am Katzentisch. Dabei wäre es gerade ihre Aufgabe, zwischen den beiden Provinzen der Selbstgewahrwerdung nicht zuletzt machttheoretisch zu unterscheiden.
Formate der Reflexion Nicht nur das Wie der Reflexion des Lebens stellt sich als bestimmungsbedürftig dar, sondern auch das Was. Einen bemerkenswerten Vorschlag zur Verbreiterung selbstbezogener Reflexion unterbreitete Philipp Lersch, als er einen Unterschied zwischen einem Erlebnis und dessen Gegenständlichkeit machte. Dabei war ihm vor allem daran gelegen, die Spannung zwischen einem Erlebnis und dessen Gegenstand zum Thema lebensphilosophischen Bedenkens zu machen. Gerade dann, wenn uns etwas »zu einem Stück unseres Selbst« (Lersch 2011: 44) geworden ist, stellt sich zum einen die Frage nach der Art empfindungsmäßigen Erlebens, zum 4
»Was wir ontologisch mit dem Titel Befindlichkeit anzeigen, ist ontisch das Bekannteste und Alltäglichste: die Stimmung, das Gestimmtsein.« (Heidegger 1993: 134).
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anderen aber auch die nach dem Was dieses Erlebens und der Wirkungsweise, in der es unser Erleben anspricht. Damit stellen sich abermals – wie schon in der Reflexion der Wechselwirkungsbeziehungen zwischen Atmosphären und Stimmungen – politische Fragen zur Produktion immersiver Erlebnis-Intensitäten. Diese haben stets zwei Pole: einen der Affizierung und einen der (affizierenden) Sache.5 Kein Erleben geht allein in einem Gefühl auf; es wird immer von »etwas« getragen, wodurch es zugleich vermittelt wird. Das »wissensmäßige Innesein von Wirklichkeit«, das sich als »Wesensgehalt des Erlebens« (Lersch 2011: 45) konstituiert, hängt mit den Beziehungen zwischen Affizierung und Affizierendem zusammen. Wo die immersive Inszenierung eines Erlebnisses das Affizierende dem Bewusstsein entzieht, zeigt sich die stumm kolonisierende Macht von Märkten. Adorno und Horkheimer merkten in der »Kulturindustrie« dazu an: »Das ist das Geheimnis der ästhetischen Sublimierung: Erfüllung als gebrochene darzustellen. Kulturindustrie sublimiert nicht, sondern unterdrückt.« (Adorno/Horkheimer 1971: 125). Und so reklamiert sich, als Ausdruck arrivierter Selbstkultur, das Erlebte in seiner Doppelstruktur von Erleben und Erlebnisinhalt zu durchleuchten (vgl. auch Dürckheim 1924). Erst wo die Verknüpfung von Inhalt und Form zur Sache des Bedenkens wird, öffnen sich Optionen der Aufklärung. Dabei bieten sich die Erkenntnismittel der Phänomenologie in besonderer Weise an, denn gerade sie unterziehen der Autopsie, was sich als Einfaches suggeriert, sich auf mikrologischen Tiefenschichten jedoch als hoch komplex und verstrickt erweist. Im Fokus der Kulturphilosophie merkt Christian Bermes an: »Wer das Leben denken will, muß das Leben zur Sprache bringen« (2007: 250). Zweierlei setzt er damit voraus: zum einen das Denken als Form der Reflexion und zum anderen die darauf bezogene expressis verbis vollzogene Aus-Sprache. Beides versteht sich aber nicht von selbst; auch deshalb nicht, weil Explikation nicht a priori an die Form der wörtlichen Rede gebunden ist. Kunst und Musik zeigen je eigene wie eigenartige Wege der »Thematisierung« des Lebens außerhalb der Sprache. Die Pluralisierung der Milieus möglicher Reflexion führt daher zu einer strukturellen Erweiterung der Bezugspunkte rationalen Denkens – gleichsam in der konstruktiven Wendung des Heidegger´schen Mementos, dass wir noch nicht denken (vgl. Heidegger 1997). Die Lebensphilosophie investiert das Bedenken sinnlicher Eindrücke gegen die dissuasiven Suggestionen des Abstrakten, in dessen Medium sich noch denken lässt, was es nie gegeben hat. Mit Bezug zu Schelling sagt Jaspers: »Das Wirkliche ist das, was gegen jedes Gedachtwerden Widerstand leistet.« (1938: 59). Die sich
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Adorno und Horkheimer hatten sich unter anderem diesen spezifischen Spuren im Gesicht einer sich zunehmend kulturindustriell verfeinernden Gesellschaft gewidmet (vgl. Adorno/Horkheimer 1971).
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am Wirklichen abarbeitende Erfahrung gewinnt nach Jaspers besonders in der Begegnung mit Grenzsituationen an Tiefe.6 Aber nicht erst der sich ankündigende Kollaps des Lebens vermittelt die Begegnung und mit ihr die Denkwürdigkeit, sondern schon das Infra-Gewöhnliche, sofern es nur dem Nachdenken aufgeschlossen ist und in der sinnlich lebendigen Erfahrung durchquert wird. An existenzielle Grenzen weit diesseits des nahenden Todes führt nach Jaspers schon die Hinwendung zum »gelebten Augenblick« (1971: 108ff): »Der gelebte Augenblick ist das Letzte, Blutwarme, Unmittelbare, Lebendige, das leibhaftig Gegenwärtige, die Totalität des Realen, das allein Konkrete.« (ebd.: 112). Lebensphilosophie verstetigt sich in einer Kultur der Führung des eigenen Lebens. Ferdinand Fellmann sieht sie als eine Form der Selbsterfahrung, die dem Ziel des »Mit-sich-fertig-Werdens« (1993: 240) zustrebt. Dies setzt die Differenzierung des Wissens über das eigene Selbst und die gelebten Mit-Welt-Beziehungen voraus (im Sinne Diltheys Reflexion subjektiven Erlebens; vgl. Jaspers 1971: 112). Hermann Schmitz geht den Weg der Phänomenologie als reflexive Hinwendung zur Selbstgewahrwerdung im Modus befindlichen Sich-Spürens: »Jede Behauptung, die nicht analytisch […] ist, kann beweiskräftig nur in dem Maße sein, in dem sie sich auf unwillkürliche Lebenserfahrung – das, was Menschen merklich zustößt, ohne dass sie es sich absichtlich zurechtgelegt haben – zu stützen vermag.« (Schmitz 2007: 636). Letztlich setzt jedes Projekt kritischen Selbstbedenkens die Fähigkeit zur unterscheidungsfreudigen wörtlichen Rede voraus. Dies umso mehr angesichts einer sich beschleunigenden Entintellektualisierung staatlicher Bildung und massenmedialen Ausbreitung allein noch rudimentärer Sprachkulturen. Zur Differenz zwischen der Dürftigkeit kulturell erlernten Sprechens und der Vielfalt des Beobachtbaren merkte Guardini schon Mitte der 1950er Jahre an: »So gehört denn auch nur wenig Beobachtungsgabe dazu, um zu merken, wie das Wort immer dünner und wohlfeiler wird; an Ernst, Tiefe und menschlicher Fülle verliert – von der Verwilderung, die mit der Sprache als solcher vor sich geht, gar nicht zu reden.« (19562 : 14). Gegen die Verflachung der Sprache wie des Sprechen-Könnens tritt das Projekt der Lebensphilosophie wie das der Phänomenologie mit Nachdruck an. Die Stärkung der Einbildungskraft sowie die Alphabetisierung der Explikationsvermögen birgt auch darin ein politisches Potential, dass sich nur differenzfreudiges Fühlen- und Denken-Können affirmativen Akzeptanzzumutungen zu entziehen vermag. Politik 6
In diesen Grenzsituationen bilden sich nach Johannes Linschoten charakterprägende Strukturen heraus: »Die erhabensten Tugenden erblühen letztlich aus den elementarsten Nöten.« (1961: 225).
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und Ökonomie bauen aber geradezu programmatisch auf die ungeprüfte Geltung machtvoller Inszenierungen. Im Hinblick auf die politische Relevanz selbstbezogener Denkvermögen stellt sich (mit Fellmann) die Frage, in welcher Weise das Nachdenken über Wirklichkeit der Praxis eigenen Lebens dienlich sein könnte: »Denn nur auf der Grundlage einer klaren Analyse seiner Lage kann der Mensch zu einem tragfähigen Selbstbild gelangen. Die Analyse erfolgt also nicht allein um des Denkens willen, sondern weil sie letztlich zur Klärung der Gefühle beiträgt« und damit »Licht in das Dunkel der Selbstverhältnisse« (Fellmann 1993: 246) bringt. Damit fordert sich aber nicht nur eine selbstsorgende Lebensführung, sondern auch eine wissenschaftstheoretische wie methodologische Praxis erweiterter Reflexion. Sozialwissenschaft kommt dem Verstehen des menschlichen Lebens in sozialen Systemen auf einem mikrologischen Niveau nur näher, wenn sie sich mit geeigneten Forschungsmethoden (zum Beispiel der Dichten Beschreibung oder der daran orientierten Mikrologien7 ) nicht allein für das intelligible Handeln von Subjekten interessiert, sondern ebenso für die sinnliche Verwicklung von Lebewesen in Situationen.
»Begegnung« Für Nietzsche ist Leben »in erster Linie Selbstbegegnung« (1999: 66) im Sinne reflexiver Selbsterfahrung. Feste Begriffe verstellen die Erkenntnismöglichkeiten dabei mehr als sie ihnen zu helfen scheinen, weil sie »die Beweglichkeit der primären Wirklichkeitserfahrung zerstören« (ebd.: 63).8 In spätmodernen Konsumgesellschaften sind die Wege der Erfahrung – im einfachen Sinne dessen, was einer Person bewusst widerfährt – massenmedial gelenkt. Nicht jede Erfahrung, und schon gar nicht jeder flüchtige Kontakt mit einem Wirklichen, lässt sich jedoch als Begegnung begreifen. Deren Verständnis kristallisiert sich in einem Dialog zwischen Friedrich Otto Bollnow und Romano Guardini heraus. Einig sind sich beide Philosophen in der Auffassung, dass sich eine Begegnung ereignet, also weder planvoll gesucht noch arrangiert werden kann. »Ja die Weisheit
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Vor dem Hintergrund zahlreicher Beispiele sowie in grundlegend methodologischen Orientierungen habe ich einen phänomenologischen Weg der detaillierten Beschreibung und Analyse sinnlicher Eindrücke dargelegt, vgl. Hasse 2017, 20181 und 2020; zusammenfassend vgl. auch Hasse 20182 . Die »fröhliche Wissenschaft« von Friedrich Nietzsche kann als paradigmatisch radikale Kritik an der Verstellung von Erfahrung durch die erkenntnistheoretisch lenkende Macht szientistischer Konstruktionen verstanden werden.
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sagt, echte Begegnung werde durch Wollen und Planen sogar gestört.« (Guardini 19563 : 17). Für Guardini entspringt das Philosophieren dem Hineingeraten in Situationen vom Charakter einer Begegnung (vgl. ebd.: 14). Allerdings dürfte ihm Bollnow in dieser Auffassung nicht folgen, beschränkt sich dessen Vorstellung doch allein auf Situationen zwischenmenschlichen Zusammentreffens. Damit stellt sich die erkenntnistheoretische Frage, wer oder was als »Partner« einer Begegnung überhaupt in Frage kommen kann. Die erkenntnis- und bildungstheoretische Bedeutung des Begriffs der »Begegnung« diskutierte Romano Guardini schon 1928 ausführlich. Dabei merkte er an, dass man in der Situation einer Begegnung von einer Erscheinung betroffen werde, bzw. unter die Macht eines affektiven »Ergriffenwerdens« (ebd.) gerate. Eine Begegnung vermittle etwas Neues, eine noch ungewohnte Sicht auf etwas, das bis dahin als vertraut und selbstverständlich galt. Im Widerspruch zur Begegnung sieht er deshalb »Gewohnheit, Gleichgültigkeit, Blasiertheit« (ebd.: 15). Im Unterschied zu Bollnow können nach Guardini nicht nur Menschen zu Medien einer Begegnung werden, sondern auch Dinge der unterschiedlichsten Art; ebenso Tiere oder die Phänomene, die nach Hermann Schmitz als »Halbdinge«9 bezeichnet werden: zum Beispiel ein Windhauch oder ein Nebelfeld. Entscheidend sei, dass durch das Zusammentreffen eines Menschen mit etwas Erweckendem oder in besonderer Weise eindrücklich Werdendem ein gewohntes Denken neu geordnet werden müsse. Begegnung zwingt ins reflektierende Denken und in der Folge in aller Regel auch zur Revision tradierter Muster des Wahrnehmens und Verstehens.10 Am Beispiel der Begegnung mit einem Baum zeigt Guardini, dass auch Dinge (und nicht erst Menschen) eine Begegnung initiieren können. Neben dem SichÖffnen eines Menschen gegenüber einem sinnlich Erscheinenden komme es entscheidend auf die Art und Weise seines Aus-sich-Heraustretens an. Insofern sei Begegnung nie einseitig; sie betreffe nicht nur den Menschen, »der um des Entgegentretenden willen aus sich selbst hinaustritt, sondern auch den Gegenstand, dessen Wesen aus der Verhülltheit in ihm selbst heraustritt, auf den Menschen zu und ihm offen wird.« (Guardini 19563 : 23). Deutlich wird damit ein Verständnis des Erscheinens, wonach noch die Dinge (und Halbdinge) sich in einer Weise »äußern« können, die vom wahrnehmenden Menschen im Sinne eines dialogischen
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Halbdinge »unterscheiden sich von Dingen auf zwei Weisen: dadurch daß sie verschwinden und wiederkommen, ohne daß es Sinn hat, zu fragen, wo sie in der Zwischenzeit gewesen sind, und dadurch, daß sie spürbar wirken und betroffen machen, ohne als Ursache hinter dem Einfluß zu stehen, den sie ausüben« (Schmitz 1994: 80). Guardini fasst das so zusammen: »In ihr [der Begegnung, JH] geschieht das erste Betreffen des Entgegentretenden, wodurch der Betroffene aus seinem unmittelbaren Selbersein herausgerufen und zum Weggehen von sich in das Anrufende hinein aufgefordert wird.« (Guardini 19563 : 24).
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Ausdrucksverstehens als etwas Lebendiges aufzufassen sind und sich nicht in einem passiven Sinne (neudeutsch) »lesen« lassen wie einen Text. Guardini sieht die Dinge nicht als etwas Fixes, sondern in ihrer Wandlungsfähigkeit. Und so »äußern« sie sich in diesem Wandel und geben sich in situationsspezifischer Weise sinnlich zu verstehen. Ein Wirkliches kann diesseits menschlicher Gegenwart ein Baum, ein Vogel und noch ein Raum sein, der im phänomenologischen Sinne aus sich heraus tritt – zum Beispiel der atmosphärisch immersiv ansprechende Innenraum einer Kathedrale. Gerade weil eine Begegnung nicht geplant werden kann, liegt in ihr der Keim plötzlicher Problemwahrnehmung. Aus dem Ereignis-Charakter sinnlicher Begegnung folgt, dass ihr Verlauf frei und ihr Gegenstand offen ist und durch kein Kalkül eingefangen werden kann. Im wissenschaftstheoretischen wie -ethischen Kontext provoziert sich die Frage, wie systematisch betriebene Wissenschaft mit Momenten der Begegnung und mehr noch der Irritation (vgl. dazu auch Hasse 20183 ) umzugehen hat. Führt das Unerwartete zur Korrektur geplanter Forschungswege oder zur sprachlich ritualisierten Exklusion? Und mehr noch: Meidet Wissenschaft nicht sogar Situationen der Begegnung, weil sie sie als unberechenbar auffasst!
Aktualisierungen Die Praktiken des erkenntnistheoretischen Umgangs mit sinnlichen Eindrücken und den von ihnen ausgelösten Gefühlen berühren nicht nur die ethische Legitimation wissenschaftlichen Handelns, sondern auch die Selbstkultur des Menschen in den Grenzen seiner Lebenswelt. Damit tun sich aber nicht zwei disparate Felder einer speziellen und einer allgemeinen Lebensführung auf, sondern Schnittstellen, an denen eine lebensweltliche Existenz in eine wissenschaftliche ausstrahlt und umgekehrt. Selbstkultur wird im Spätwerk zweier Philosophen, zwischen deren Denken im Allgemeinen eher wenig Ähnlichkeit besteht, zu einem zentralen Thema: Michel Foucault zum einen und Peter Sloterdijk zum anderen. An einer gemeinsamen Schnittstelle bieten sich indes beide für eine Aktualisierung lebensphilosophischer Denkprofile des Politischen an – bei Foucault ist es die Philosophie der Sorge um das eigene Selbst, die er mit seinem auf Alkibiades zurückgeführten Imperativ einer Hermeneutik des Subjekts entfaltet. Mit der Sorge um das eigene Selbst rückt keine Form postmoderner Narzissmen ins Zentrum, vielmehr eine Ethik der Selbstbeherrschung. Wer übt, »Herrscher über sich selbst zu sein« (Foucault 2004: 603), erwirkt die Kompetenz, sich in der Askese und Kontemplation in sich selbst zu sammeln. Bereits im Werk von Romano Guardini spielten ganz ähnliche Gedanken eine Rolle. Hier wie dort folgt aus der Fähigkeit zur Sammlung in sich selbst eine Widerständigkeit gegenüber kulturindustriellen Affronts wie plumpen Zumu-
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tungen parteipolitischer Demagogie. Wenn Foucault die Sorge um sich selbst als »eine Lebensform« (ebd.) versteht, so kommt darin eine späte Variante seiner lebensphilosophischen Programmatik zur Geltung. Frédéric Gros merkt in einem Nachwort zu Foucaults Werk an, dass das Prinzip der Sorge um sich »eine Distanz zum Handeln« (2004: 658) schafft, dieses zugleich aber auch reguliere. Darin liegt eine wichtige lebensphilosophische Pointe im Spätwerk Foucaults – die kritische Abstandnahme gegenüber sozialkonstruktivistischen Überhöhungen des Subjekts wie seiner Intelligibilität. Wenn es keinen authentischeren Besitz gibt als den des Sich-selbst-Besitzens (vgl. ebd.), so folgt daraus eine gewisse Demut gegenüber den Widerfahrnissen des Lebens, den Ereignissen, Augenblicken und Begegnungen, die sich unserer Verfügung entziehen. In der Konzentration aufs eigene Selbst wird das Subjekt in einem ganz anderen als demokratietheoretischen Sinne frei. Ähnliche Akzente setzt Peter Sloterdijk mit seinem Imperativ der Übung. In Du mußt dein Leben ändern, umreißt er ein in vielen Punkten dem Foucault´schen Entwurf ähnliches Programm. Er plädiert für eine Kultur der Übung, die sich staatsdidaktischen Praktiken der Unterwerfung unter gerade herrschende Ordnungen des Wissens und Fühlens entwindet. Das Milieu seiner Übung liegt ganz sicher nicht in der schulischen Ausbildung, die sich in zunehmendem Maße Ansprüchen des Marktes unterwirft, Affektregime auf zeitgemäße Standards moralischer Erregungs-«Kompetenzen« einstellt und »politik(un)fähige« Bürger nach Maßgabe gerade herrschender parteipolitischer Sensibilitäten produziert. Sloterdijks Übungsprogramme zielen auf das Erlernen des Rückzuges gegenüber den Machteinflüssen instrumenteller Verführungen, auf die »asketische Suspension der Entfremdung« (Sloterdijk 2009: 657). Auch darin klingen Fragmente an, die dem Denken der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule ähnlich sind. »Nicht die bösen Geister setzen ihm [dem Menschen, JH] zu, es sind Routinen und Trägheiten, die ihn zu Boden drücken und deformieren.« (ebd.: 640). Nicht zuletzt scheint in Sloterdijks Denken eine Absage an den Wahn jener Menschenbilder durch, die das Subjekt als einen alles beherrschenden Akteur idealisieren. Es versteht sich von selbst, dass auch Sloterdijk – ganz ähnlich wie Adorno und Horkheimer – die süffigen Angebote der Kulturindustrie als ein »Ausweichen in die Betäubung« (ebd.: 709) erscheinen müssen (vgl. dazu auch Hasse/Lewin 2019). Was jene noch »Kulturindustrie« nannten, heißt bei Sloterdijk »Selbstbindungsindustrie« (1998: 139). Dem stellt er das Projekt einer Übung entgegen, um in produktiver Öffnung gegenüber dem Unvorhersehbaren der Verzweckung zu entkommen (vgl. ebd.: 112) – zumindest von Fall zu Fall. Sloterdijk wie Foucault votieren für eine Übung selbstbewussten Lebens. Dieses Plädoyer zielt zwar programmatisch nicht auf die Revision wissenschaftsethischer Leitsätze ab. Aber das Ziel, die lebenspraktische Hinwendung der Menschen zu dem, was ihnen sinnlich und leiblich widerfährt, rückt ein ausgedehntes methodologisches Brachland in den Fokus und damit die Frage, wie (allzumal Sozial-)Wis-
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senschaft dem Menschen dienlich sein soll, wenn sie seinem sinnlichen Erleben und leiblichen Dasein so wenig Aufmerksamkeit schenkt.
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Die List der Verantwortung Corona, Kritik und Krise (der Theorie) Benedikt Korf
In diesem Essay soll der Frage nachgegangen werden, was es heißen könnte, eine »kritische« Geographie zu verantworten. Als »kritisch« versteht sich ein ganzer Blumenstrauß an verschiedenen Ansätzen in der deutschsprachigen (und auch der anglophonen) Humangeographie. So bezeichnen sich sowohl poststrukturalistische, (post-)marxistische, feministische, postkoloniale und andere Geographien selbst als »kritisch«, auch wenn sie sich untereinander nicht immer grün sind und sich gegenseitig das Label »kritisch« absprechen (Belina et al. 2009, Best 2009, Blomley 2006, Goeke 2013, Korf 2018, Redepenning 2007). Dennoch meint Pascal Goeke, dass sich »kritische Geographien selbst noch hinreichend zuverlässig« erkennen würden (Goeke 2013: 4). In ihrer Selbstbeschreibung teilen diese Geographien den Gestus, »eine möglichst bessere Geographie der Welt entgegenzusetzen« (Lossau 2002: 151) und die Welt radikal in Frage zu stellen – durch Theorie, Gesellschaftstheorie. Es schwingt in diesen Selbstbeschreibungen eine moralische und politische Haltung mit, die Michel Foucault als »die Kunst nicht auf diese Weise und um diesen Preis regiert zu werden« bezeichnet hat (Foucault 1992: 12). Es ist, so Foucault, die Kunst der »reflektierten Unfügbarkeit«, eine Position, die ihn in brüderliche Nähe zur Frankfurter Schule setze (Foucault 1992: 25f.). Was Max Horkheimer (1937/1992) einst als Gestus einer »Kritischen Theorie« von den Praktiken traditioneller Theorie abgrenzte, und in dessen Nähe sich Foucault selbst positioniert, hat sich seit geraumer Zeit als »kritischer« Habitus weit über die Frankfurter Schule hinaus etabliert, obwohl die Frankfurter Schule, zumindest in der deutschsprachigen Humangeographie, eher ein Schattendasein fristet. Das Ende der Theorie war nur ihr Neuanfang in anderen Kleidern, denjenigen des Poststrukturalismus. Es ist der Habitus des »mit Foucault« (»mit Bourdieu«, »mit Luhmann«) auf ein Phänomen zu schauen, und dann immer schon zu »sehen« und zu verstehen. Theorie wird zur »Distanzierungstechnik«, mit deren Hilfe sich Menschen in eine »Sonderzone« versetzen (Sloterdijk 2010: 126), in der der einzelne Erkenntnisgegenstand nur noch als Teil einer größeren Struktur und damit als »Belegexemplar für die Plausibilität einer Theorie vorkommt« (Kablitz 2014: N4). Dieser Habitus der Theorie zeigt sich in unter-
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schiedlichen Formen, von Zeitdiagnostik à la Heinz Bude, der immer schon das nächste Stichwort einer »XY-Gesellschaft« parat hat, in Luhmann’s »Beobachter zweiter Ordnung«, der die Beobachter beobachtet, bis zu Großtheoretikerinnen, die eine gewisse »Alarmfunktion« (Encke 2020: o.S.) wahrnehmen. Interessant wird es, wenn dieser Habitus in die Krise gerät. Wenn sein »mit XY sehen« irgendwie aus der Zeit gefallen erscheint. Ein solcher Moment, so möchte ich in diesem Aufsatz zeigen, ergab sich, als die sogenannte Corona-Krise in Europa ihren Anlauf nahm, ungefähr im Zeitraum von Mitte Februar bis Ende März 2020. Es war eine Zeit, in der auch diejenigen, die politische Verantwortung trugen – und selbst die Expertinnen und Experten par excellence, die Virologinnen und Virologen, sowie Epidemiologinnen und Epidemiologen – wenig darüber wussten, womit sie es denn eigentlich zu tun hatten und welche Maßnahmen angemessen zu ergreifen seien. Webers verantwortungsethische Maxime des pragmatischen Politikertypus, auf die voraussehbaren Folgen einer Handlung zu rekurrieren, schien suspendiert: es war eben gerade nicht voraussehbar, welche Folgen bestimmte politische Handlungen zeitigen würden bzw. ob die in Kauf zu nehmenden Nebenfolgen der Lockdown-Maßnahmen verhältnismäßig im Vergleich zum Zweck der Bekämpfung des Virus seien. Unter den verantwortlichen Entscheidungstragenden gab es demnach eine große Unsicherheit, die dadurch überwunden wurde, dass man sich in eine Art humanitären Ausnahmezustand begab, in der medizinische Beweggründe im Vordergrund standen und der »virologischen Vernunft«, also den Handlungsempfehlungen bestimmter medizinischer Expertinnen und Experten, Priorität in der Handlungsrationalität der Regierungen eingeräumt wurde. Bereits in dieser frühen Phase meldeten sich einige Theoretiker oder »Großintellektuelle« (es waren ausnahmslos Männer) zu Wort, um die von den Regierungen ergriffenen Maßnahmen fundamental zu kritisieren. Indem ich die Maßlosigkeit aufzeige, mit der diese Theoretiker ihr Begriffsinstrumentarium von »Ausnahmezustand« und »Überwachungsstaat« auspackten, und die sich daran anschließende Kritik an diesen Intellektuellen aufgreife, möchte ich grundlegendere Fragen aufwerfen, was die gesellschaftliche Verantwortung von »Kritik« als sozialtheoretisch informierte Intervention in gesellschaftliche Debatten sein könnte und sollte. Aus diesen Suchbewegungen könnten sich erste Antworten herausschälen auf die Frage: Was bedeutet es, eine »kritische« Geographie als Wissenschaft zu verantworten?
Die List der Verantwortung Folgt man der Maxime Max Webers, tendiert »kritische« Gesellschaftstheorie zur Gesinnungsethik. »Verantwortlich«, so Max Weber (1920/1992: 71), fühle sich die Gesinnungsethikerin nur dafür, dass »die Flamme der reinen Gesinnung, die Flamme des Protestes gegen die Ungerechtigkeit der sozialen Ordnung nicht erlischt«.
Die List der Verantwortung
Diese Unterstellung ist natürlich überspitzt und verkürzt. Sie geht auf Webers berühmte Gegenüberstellung von Gesinnungs- und Verantwortungsethik zurück. Für Weber können sich die (linke) Kritikerin und der Kritiker – oder Syndikalistin und Syndikalist, wie Weber sie nennt – die Gesinnungsethik leisten, denn sie tragen ja nicht die Verantwortung. Nach verantwortungsethischer Maxime zu handeln, bedeutet für Weber hingegen, »dass man für die (voraussehbaren) Folgen seines Handelns aufzukommen hat« (Weber 1920/1992: 70). Weber macht deutlich, dass er nicht viel von Gesinnungsethik hält: »Keine Ethik der Welt kommt um die Tatsache herum, dass die Erreichung ›guter‹ Zwecke in zahlreichen Fällen daran gebunden ist, dass man sittlich bedenkliche oder mindestens gefährliche Mittel und die Möglichkeit oder auch die Wahrscheinlichkeit übler Nebenerfolge mit in Kauf nimmt …« (Weber 1920/1992: 71). Alltagssprachlich gibt es den Begriff der Last der Verantwortung: Diejenigen, die »Verantwortung tragen«, müssen ihre Entscheidungen im Nachhinein verantworten. So eindeutig scheint die Grenze zwischen Gesinnung und Verantwortung, wie Weber sie idealtypisch zieht, nicht zu sein, denn die Last der Verantwortung geht mit einer List einher. Die List der Verantwortung scheint darin zu liegen, dass sie die Gesinnungsethikerin zur Verantwortungsethik drängt, sobald sie politische Verantwortung übernimmt. Dieses Phänomen ist hinreichend bekannt: »linke«, »kritische« Politikerinnen und Politikern werden zu Pragmatikerinnen und Pragmatikern, sobald sie politische Ämter übernehmen. Zugleich liegen ihnen ihre »linken« Parteikolleginnen und -kollegen im Nacken, die nicht in der Verantwortung stehen und ihre Gesinnung hochhalten. Die List der Verantwortung erinnert damit an Hegels »List der Vernunft«, bei der es sich, so Peter Sloterdijk (2016: 317), um eine »Überlistung des menschlichen Begreifens durch höhere Intelligenzen« handelt: die individuellen Subjekte übernehmen eine pekuniäre Funktion: sie werden zum »Mittel« des »Weltgeistes«: »sein Zweck, nicht ihr Zweck wird verwirklicht« (Jaeschke 2008: 90, Hervorhebung im Original). Wobei wir »Weltgeist« hier mit einem Augenzwinkern nicht mehr teleologisch verstehen, sondern eher an historische Strukturen denken, die sich »jenseits unserer Verfügung herausbilden« (Kittsteiner 1998: 10). Es sind genau diese Strukturen, die sich »jenseits unserer Verfügung herausbilden«, die meistens im Zentrum »linker« Kritik stehen – sei dies der »Neoliberalismus« oder der »Kapitalismus« oder andere »Ismen«. Auf die »linke« Politikerin oder den »linken« Politiker bezogen, könnte die »Kritikerin« bzw. der »Kritiker« dann argumentieren, dass sich diese, sobald sie sich der Last der politischen Verantwortung übergeben, deren List anheimfällt – und das Geschäft von »Neoliberalismus« oder was auch immer betreiben, selbst wenn sie es gar nicht wollen. Um aber diese »List« erkennen zu können, benötigen die Kritisierenden eine kritische Gesellschaftstheorie. Kritische Theorie ermöglicht den Kritisierenden, die »emsige Sammelarbeit« (Horkheimer 1937/1992: 207) der empirischen Sozialwissenschaft
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zu überspringen, und direkt zur Erkenntnis vorzudringen. Diese Verkürzung des Weges geht gleichwohl mit einer Vertiefung der Erkenntnis einher, da die Theorie unter die Oberfläche der Erscheinungen auf die tieferliegenden Strukturen schauen kann, die den emsig sammelnden Empirikerinnen und Empirikern verborgen bleibt. Dadurch gewinnen die Kritisierenden hermeneutische Vorsprünge gegenüber den empirisch Forschenden und das adelt sie zu intellektuellen Zeitdiagnostikerinnen und -diagnostikern. Doch auch die Kritisierenden, die in »reflektierter Unfügbarkeit« (Foucault) agieren, tragen eine Verantwortung. Dies ist es, was ich »kritischer« Theorie, und damit auch: »kritischer« Geographie als Zeitdiagnostik praktiziert, zu bedenken geben möchte: Die List der Verantwortung liegt darin, dass die moralische Haltung der Unfügbarkeit, die Foucault auch als Funktion der »Entunterwerfung« (Foucault 1992: 15) bezeichnet, nicht von der Praxis der Reflektion suspendiert. »Kritik« unterminiert ihre Akzeptabilität durch das Aussetzen oder Überspringen von »Reflektion« bzw. von »Nachdenklichkeit«, wie ich es im Rückgriff auf Hans Blumenberg (1981) nennen möchte. Diese Nachdenklichkeit zeigt sich im schrittweisen Nachvollziehen dessen, was vor sich geht, und scheut zurück vor vorschnellen Generalisierungen. Nachdenklichkeit kommt mit Zaudern einher: »Das Zaudern hegt einen Komplexitätsverdacht« (Vogl 2008: 109).
Krise und Kritik Die List der Verantwortung zeigte sich schon früh in der Pandemie. Joseph Vogl, Kulturwissenschaftler an der HU Berlin, warnte schon Anfang April 2020, dass die »sogenannte Krise … Deutungsnötigung und Deutungsnot« erzeuge: »Man kämpft um hermeneutische Vorsprünge« (Vogl 20201 : o.S.). Dabei gehe es um »die Bestätigung von lange Zeit ausgefeilten Positionen« (ebd.). Vogl beschreibt damit eine weit verbreitete Haltung, die sich in öffentlichen Äußerungen sogenannter »GroßTheoretiker« zeigte: in Zeiten von Unsicherheit eröffnet Theorie den direkten Zugang zur Deutung, ohne mühsame Umwege des emsigen Sammelns (Horkheimer) von Daten, des sorgfältigen Abwägens ihrer Interpretation. Der Theoretiker (weiß, männlich, eher älter) weiß immer schon Bescheid. Einer der ersten, der sich zu Wort meldete, war der italienische Philosoph Giorgio Agamben, kein Unbekannter in der kritischen Geographie. Agamben, dessen Arbeiten zum politischen »Ausnahmezustand« das Lager zum Signum der Moderne erklärt hatte (vgl. Agamben 2002), verkündete schon am 26. Februar 2020 in der italienischen Tageszeitung IL MANIFESTO, die Medien und Behörden arbeiteten daran, ein »Klima der Angst« (un clima di panico) zu verbreiten, um einen Ausnahmezustand mit ernsthaften Bewegungseinschränkungen zu provozieren. Agamben raunte, »die Erfindung einer Epidemie« (l’invenzione di un’epidemia) biete den »idea-
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len Vorwand« (il pretesto ideale), außergewöhnliche Maßnahmen über alle Grenzen hinaus auszudehnen, nachdem der Terrorismus als Vorwand erschöpft sei (Agamben 20201 : o.S.). In der NZZ vom 19. März 2020 legte Agamben noch einmal nach: »Das nackte Leben – und die Angst, es zu verlieren« (Agamben 20202 : 29) mache die Menschen blind. Wir lebten in einer Gesellschaft, »die die Freiheit zugunsten der sogenannten Sicherheitsgründe geopfert und sich selbst dazu verurteilt hat, in einem ständigen Angst- und Unsicherheitszustand zu leben«. Und dann, gewissermaßen, ein Agamben-Klassiker: »Der Ausnahmezustand, auf den uns die Regierungen seit geraumer Zeit einschwören, ist längst zu unserem Normalzustand geworden« (ebd.). Selbst bei schlimmeren Epidemien habe früher niemand daran gedacht, einen Notstand wie den jetzigen auszurufen. Und am 25. April 2020, nochmals in der NZZ (Agamben 20203 : 27), bekräftigt Agamben: »Wir sind seit geraumer Zeit an den leichtfertigen Gebrauch von Notverordnungen gewöhnt«, die zu einem ständigen Ausnahmezustand führen könne. »Die Schwelle, welche die Menschlichkeit von der Barbarei trennt«, sei überschritten worden. Agamben nicht unähnlich, aber vorsichtiger in seinen Aussagen, raunte HansUlrich Gumbrecht in der NZZ, der »so heftig begrüßte Notstands-Staat« (Gumbrecht 20201 : 27) könne »der Staat der Zukunft« (ebd.) werden. Schließlich äußerte sich noch Peter Sloterdijk. In einem Interview mit LE POINT vom 18. März verwahrte sich Sloterdijk gegen die Kriegsmetaphorik des französischen Präsidenten, Emmanuel Macron. Die Medizin sah er als Komplizen einer totalitären Politik; den Virus bezeichnete er als »tausendmal harmloser (als die Pest)« (Sloterdijk 20201 : o.S.). Das westliche System werde sich als ähnlich autoritär wie das chinesische entpuppen. Zugleich prophezeite er eine Machtergreifung der »Securitokratie« und die Unterwerfung unter eine »medico-kollektivistische Diktatur«. Zugleich spielte er die Folgen der Pandemie herunter, indem er sie mit der Pest verglich (»dagegen ist das Coronavirus harmlos« (Sloterdijk 20202 : 47)) und voraussagte, der Coronavirus werde den Aufstieg Chinas nicht stoppen. Doch korrigierte sich Sloterdijk in einem späteren Interview in der ZEIT (ebd.), indem er feststellte, »die Anfangsübertreibungen [würden] durch die Geschehnisse eingeholt«. Auch Byung-Chul Han, der sich als Zeitdiagnostiker zur Müdigkeitsgesellschaft hervorgetan hatte (Han 2010), meldete sich zu Wort – in einem Artikel in der WELT vom 23. März 2020. Han macht dabei zwei Unterscheidungen: erstens stellt Han fest, Europa reagiere »maßlos panisch« (Han 20202 : o.S.) auf den Virus. Diese Panik sei in einem »Wirklichkeitsschock« begründet, denn der Virus sei »wirklich« und nicht nur »fake« (ebd.). Zugleich leide die liberale Gesellschaft an einem Übermaß an Positivität und Selbstoptimierung einer Leistungsgesellschaft, das tendenziell zur Erschöpfung führe. »Das Virus bricht plötzlich mitten in die wegen des globalen Kapitalismus immunologisch stark geschwächte Gesellschaft … Der Feind ist wieder da« (ebd.). Die Panik sei »eine gesellschaftliche … Immunreaktion.« Das
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»immunologische Paradigma«, das sich auf die Negativität des Feindes berufe und Grenzen errichte, komme mit dem »unsichtbaren Feind« des Virus zurück. Zweitens, unterscheidet Han zwischen einem »asiatischen« und einem »europäischen« Weg der Pandemiebekämpfung. In Asien, schrieb er, »werden Epidemien nicht nur durch Virologen oder Epidemiologen, sondern vor allem durch Informatiker und Big-Data-Spezialisten bekämpft« (ebd.). Und er fügte zur Klarstellung hinzu: »Ein Paradigmenwechsel, der in Europa noch nicht wahrgenommen wird.« Deshalb habe Asien den Virus erfolgreicher und mit weniger wirtschaftlichen Folgeschäden bekämpft. »Souverän ist, wer über Daten verfügt«, so modifiziert Han das berühmte Diktum von Carl Schmitt1 . Die »leere Souveränitätsschau« Europas – die Grenzen zu schließen, den Ausnahmezustand ausrufen – bewirkten nichts. China und andere asiatische Staaten – Korea, Japan, Taiwan – zeigten »Systemvorteile bei der Eindämmung der Pandemie« (Han 20203 : o.S.). Sie bestehe in einer digitalen Biopolitik, »die mit der digitalen Psychopolitik einhergeht, die Menschen aktiv steuert« (Han 20202 : o.S.). Das Virus fühle sich wohl in der liberalen Gesellschaft, da »die geschützte Privatsphäre einen Schutzraum für das Virus« darstelle (Han 20203 : o.S.). Han prognostiziert eine globale digitale Biopolitik, die »mit ihrem Kontroll- und Überwachungssystem sich unseres Körpers bemächtigt … und unseren Gesundheitszustand permanent überwacht« (ebd.). Agamben, Gumbrecht und Han haben gemeinsam, dass sie eine theoretisch begründete biopolitische Differenzierung zwischen dem »nackten« Leben und dem »guten« Leben bzw. dem »institutionell eingerichteten Leben« (Esposito 2020: 28) vornehmen. Diese Unterscheidung geht auf Agambens einflussreiches Werk »Homo sacer« zurück, in dem er die Unterscheidung zwischen »blossem« bzw. »nacktem« Leben (zoë) und der politischen Existenz (bíos) aufgreift. Agamben nutzt diese Unterscheidung, um die Konstitution souveräner Macht in der Produktion eines biopolitischen Körpers aufzuzeigen (Agamben 2002). Zur Pandemie selbst schreibt Agamben, die Panikwelle angesichts des Virus führe dazu, dass die Gesellschaft nur noch an das »nackte Leben« glaube und bereit sei, »praktisch alles zu opfern … die normalen Lebensbedingungen, die sozialen Beziehungen …«. Ganz ähnlich Gumbrecht: »was auf dem Spiel steht: die Fülle des sinnlichen wie des sinnhaften Lebens«. Gumbrecht warnt deshalb vor der »Gefahr einer Gewöhnung ans Über-Leben« (Gumbrecht 20202 : 27). Und Han schreibt: »Angesichts der drohenden Gefahr des Todes opfern wir bereitwillig alles, was das Leben doch lebenswert macht« (Han 20202 : o.S.). In einem Anfang Juli 2020 erschienenen Essay doppelt Han nach: »Die Gesellschaft des Überlebens verliert ganz den Sinn für das gute Leben. … Widerstandslos fügen wir uns
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Carl Schmitt schrieb: »Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet« (Schmitt 1922/2009, 13). Dieses berühmte Diktum wird hier von Han bewusst umformuliert.
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dem Ausnahmezustand, der das Leben auf das nackte Leben reduziert. … Die Quarantäne ist eine virale Variante des Lagers, in dem das nackte Leben herrscht« (Han 20201 : 23f, Hervorhebung im Original). Diese dystopische Analyse integriert Han in seine Theorie des Kapitalismus: »Dem Kapitalismus fehlt das Narrativ des guten Lebens. Er verabsolutiert das Überleben« (Han 20201 : 26). Die Pandemie versetze dem Kapitalismus zwar einen Schock, aber eine »virale Revolution« (ebd.) werde nicht stattfinden. Einen Kontrapunkt zu diesen Stellungnahmen setzte Slavoj Žižek. In der NZZ vom 14. März 2020 greift er Agambens Interventionen direkt auf und fragt: »Sollen die deutlichen Zeichen, dass nicht nur die normalen Leute in Panik sind, sondern auch die Staaten selbst, wirklich nichts als ein Trick sein?« (Žižek 20202 : 41). Žižek stellt dieser »reduktionistischen Sicht« seine Beobachtung entgegen, die Gefahr der Virusinfektion habe einen »ungeheuren Auftrieb für neue Formen lokaler und globaler Solidarität« gebracht, die gerade darin bestehe, »sich nicht die Hand zu geben und sich auch abzusondern, wenn es erforderlich ist«. Žižek warf »rechten« und »linken« Konstruktivistinnen und Konstruktivisten vor, sie weigerten sich, die »tatsächliche Realität der Epidemie zu akzeptieren«. Sie reduzierten die Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie auf das »übliche Paradigma von Überwachung und Kontrolle«, was kontraproduktiv wirken könne, wenn dies dazu führe, dass die Maßnahmen »zu lasch« durchgeführt würden. Für Žižek geht es um etwas Anderes: »Der Mensch ist viel weniger souverän, als er denkt« (ebd.). Wir müssten angesichts der Pandemie lernen, »ein weit zerbrechlicheres Leben mit ständigen Bedrohungen zu führen« (ebd.). Zugleich stellt auch Žižek die Systemfrage: »In Zeiten von Epidemien wird ein starker Staat gebraucht« und Maßnahmen, z.B. Quarantäne, müssten mit »militärischer Disziplin« durchgeführt werden. Schon früh prägt er dafür den Begriff »kommunistisch«, worunter Žižek die »Koordination von Produktion und Verteilung außerhalb der Marktkoordinaten« versteht (Žižek 20201 : o.S.). Auf wiederholte Kritik daran präzisiert Žižek sein Verständnis von »Kommunismus« mehrfach: »Wie bei einer militärischen Kampagne sollten Informationen ausgetauscht und Pläne vollständig koordiniert werden: DAS ist alles, was ich mit dem Kommunismus meine, der heute gebraucht wird« (Žižek 20203 : o.S.; Hervorhebung im Original). Nur so sei ein brutaler vitalistischer Standpunkt (die Logik des Überlebens des Stärkeren) zu überwinden. »Es ist keine utopische kommunistische Vision, es ist ein Kommunismus, der uns durch die Notwendigkeiten des nackten Überlebens aufgezwungen wird« (Žižek 20204 : o.S.). Žižeks Sorge gilt deshalb nicht einem drohenden Überwachungsstaat, sondern eher der Ohnmacht der Staatsmacht, die Situation in den Griff zu bekommen (Žižek 20205 : o.S.). So möchte sich Žižek »respektvoll von Giorgio Agamben distanzieren« (Žižek 20204 : o.S.). Wozu ByungChul Han lakonisch festhält: »Žižek irrt sich« (Han 20202 : o.S.).
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Ich breche hier die Diskussion ab. Weitere Großtheoretikerinnen und -theoretiker meldeten sich sukzessive in der Diskussion zu Wort: Jean-Luc Nancy, Alain Finkielkraut, Sergio Benvenuto, Roberto Esposito, später auch Noam Chomsky, Bruno Latour, Judith Butler und Eva Illouz.2 Agamben, Sloterdijk und Žižek gehörten jedoch zu denjenigen, die bereits sehr früh ihre Diagnosen verkündeten, bevor die Viruspandemie in ihrem vollen Ausmaß Europa in Beschlag genommen hatte, und verkündeten schon zu diesem Zeitpunkt dezidierte Diagnosen, bevor genaue Erkenntnisse über die Wirkungs- und Ausbreitungsmechanismen der Viruserkrankung bekannt waren. Die Gedanken eines verstorbenen Großtheoretikers spielten in diesen Diagnosen eine prominente Rolle: Michel Foucault.
»Mit Foucault« denken Mit Foucault die Pandemie verstehen? Diese Frage stellte Philipp Sarasin (2020: o.S.) im Blog »Geschichte der Gegenwart« am 25. März 2020. In der Tat: Foucaults Begriff der Biopolitik geisterte nicht nur in den Schriften von Agamben, Esposito oder Han herum. Byung Chul Han rekurriert direkt auf Foucaults Beschreibung der Pestepidemie im 17. Jahrhundert und seiner Analyse der Disziplinargesellschaft. In China sehe man diese nun besonders exponiert: »Angesichts der Pandemie wird also jeder wie ein potenzieller Verbrecher behandelt« (Han 20203 : o.S.). Auch Geographinnen und Geographen machten sich dafür stark, mit Foucault’schen Kategorien und insbesondere dem Begriff der Biopolitik, wie sie von Agamben und Esposito weiterentwickelt wurden, die Corona-Krise zu verstehen. So skizziert Matthew Hannah in einem am 4. April 2020 veröffentlichten »Essay« zusammen mit Jan Hutta und Christoph Schemann einige Gedanken, wie Foucaults Machtanalyse auf die Maßnahmen gegen die Pandemie angewandt werden könnten (Hannah et al. 2020). Hannah et al. identifizieren einen grundlegenden biopolitischen Imperativ in der »re-biologization« der Bevölkerung, indem so viele Menschen wie möglich am Leben zu erhalten seien. Für die Umsetzung dieser Biopolitik greife der Staat jedoch auf souveräne Machttechniken zurück: Erlasse, Dekrete, die direkt von der Regierung verordnet werden und durch die Sicherheitsorgane umgesetzt und überwacht würden. Zugleich zeigten sich der disziplinierende Charakter vieler dieser Anordnungen, so zum Beispiel in den Quarantänemaßnahmen. Hannah et al. (2020: 17) schreiben: »einem biopolitischen Imperativ zum Schutz des menschlichen Lebens wird durch ungewöhnlich interventionistische Maßnahmen von Disziplinarmacht und souveräner Macht [neue Geltung ver-
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Eine hilfreiche Chronologie dieser Interventionen bieten verschiedene Blogs: z.B.: https://eu ropean-zeitgeist.net/de/kategorien/essays/philosophische-diskussion-um-corona-timeline/
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schafft]« (Übersetzung BK).3 Zugleich zeigten sich Elemente einer liberalen Gouvernementalität in der Weigerung der Regierungspolitiker, politische Verantwortung für die eingeleiteten Maßnahmen zu übernehmen, indem sie sich einerseits auf die Expertise der Epidemiologie und der Virologie beriefen und andererseits striktere Maßnahmen vom richtigen Verhalten der Bevölkerung abhängig machten. So lasse sich das Gesamtpaket an staatlichen Maßnahmen als »autoritäre Gouvernementalität« charakterisieren, für die auch Agambens Begriff des »Ausnahmezustands« zutreffen würde. Zugleich bleibe eine Spannung bestehen zwischen den unterschiedlichen Modalitäten der Machtausübung. Sarasin hingegen ist skeptischer, was das Analysepotential des Foucault’schen Begriffs der Biopolitik betrifft. Er, der sich nicht nur als früher Förderer der Schriften Foucaults in den deutschsprachigen Kulturwissenschaften hervorgetan hat, sondern auch schon früh zur Bakteriologie als Metapher und zu Bioterror als Phantasma geschrieben hat, beginnt seinen Text mit einem überraschenden theoretischen Befund: Nein, von Biopolitik zu sprechen helfe nicht weiter, um die Pandemie zu verstehen, auch wenn alles so aussehe wie »ein biopolitischer Traum«. Und doch könne uns Foucault weiterhelfen, aber eben anders als vielfach postuliert. Sarasin wendet sich gegen »kritische Kritiker«, wie Giorgio Agamben, »die mit ›Foucault‹ im Gepäck nun zu durchschauen scheinen, was gerade geschieht.« Die Stichworte »Biomacht« und »Biopolitik« seien zwar »verlockend«, sie wirkten »wie das Stichwort zur Stunde«, aber diese Diagnose sei »unplausibel« und habe mit Foucault und seinem Denken »nur sehr bedingt zu tun«. Ganz unaufgeregt rekonstruiert Sarasin Foucaults Begriff der Biopolitik, um dann festzuhalten, dieser habe ihn bereits 1979 wieder aufgegeben. Ein klarer Seitenhieb nicht nur gegen Agamben. Stattdessen zeigt Sarasin auf, wie Foucault über unterschiedliche Werke verteilt drei Infektionskrankheiten – Lepra, Pest und Pocken – als »Denkmodelle« verwendet habe, um »Formen der Macht nach idealtypischen Mustern zu ordnen«. Im Lepra-Modell, das Foucault in Wahnsinn und Gesellschaft aufzeigt, trenne die Macht die Gesunden von den Kranken – die Lepra-Kranken wurden vor die Stadttore verbannt. Im Pest-Modell, das Foucault in Überwachen und Strafen: die Geburt des Gefängnisses entwickelt hat, stehe die rigorose Disziplinierung delinquenter Körper im Vordergrund: ein System lückenloser Kontrolle. Der Raum erstarrt. Dabei sei die Pest als Zustand imaginiert worden, um daraus ein Herrschaftsmodell der perfekten Disziplinierung zu zeichnen (analog zum »Naturzustand« der liberalen Staatstheoretiker). Beim Pocken-Modell sei es darum gegangen, das Problem der Epidemien und deren Eindämmung mit liberalen Formen des Regierens kompatibel zu machen – Stichwort Gouvernementalität. Der Staat konzentriert sich nun auf
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»a biopolitical imperative for the protection of human life is being reasserted, through unusually interventionist means of discipline and sovereign power …«
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das Risikomanagement, statistisch beobachtend, mit Impfungen schützend, jedoch ohne den Virus ausmerzen zu können. Der liberale Staat, so habe Foucault erkannt, müsse »die relative ›Undurchdringlichkeit‹ der Gesellschaft respektieren« – zu viel regieren bedeute, nicht mehr zu regieren, sondern die systemnotwendige Freiheit zu unterminieren. Sarasin betont: für Foucault waren diese Epidemien Denkmodelle, wir aber lebten inmitten einer konkreten Pandemie, in der unterschiedliche Erscheinungsweisen der Macht und des Regierens auftauchten. Rigide Absperrungen folgten dem Pestmodell, stärker auf Isolierung Infizierter und systematischer Tests orientierte Modelle, wie in Südkorea, hingegen basierten auf dem Pockenmodell. In Europa bleibe, so Sarasin ganz unaufgeregt, das Pockenmodell der Macht »doch ganz zutreffend die Form des Regierens in Zeiten der Pandemie«. Regeln des social distancing gehörten »zweifellos in den Bereich der liberalen Regierungstechniken«, kombiniert mit »Selbsttechniken« gesellschaftlicher Solidarität. Ganz ähnlich argumentiert Joseph Vogl in einem Interview (Vogl 20201 : o.S.), der sich auf Sarasins Analyse bezieht. Für Vogl lässt sich an den derzeitigen Strategien gegen die Pandemie das »Schema eines neuen Gesellschaftsvertrages« erahnen: »Tracking, ein Gewinn an Bewegungsfreiheit gegen die Abgabe von Information«. Doch bleibe, so wiederum Sarasin, das Pestmodell immer als latente Drohung auch in liberalen Gesellschaften bestehen (Sarasin denkt hier an Orban in Ungarn oder Netanyahu in Israel). Wovor ihm jedoch zu grauen scheint, ist das Lepra-Modell, das im Hintergrund lauere: die Idee, die Alten einfach sterben zu lassen. Hannah et al. scheinen sich von Sarasins Analyse distanzieren zu wollen: Sie halten kritisch fest, er schlage eine Lesart Foucaults vor, die postuliert, dass die Regierungspraxis der Gouvernementalität diejenige der Biopolitik bzw. Biomacht ersetzt habe, eine Sicht, die sie für »zu undifferenziert« halten (Hannah et al. 2020: 13). Auch wenn neoliberale Regierungstechniken biopolitische Maßnahmen eher zurückgedrängt hätten, könne es in Krisenzeiten zu einer vorrübergehenden »ReBiologisierung« der Bevölkerung als verwundbar kommen. Einen größeren Unterschied sehe ich jedoch in der Form, in der »Foucault« bei Hannah et al. bzw. bei Sarasin oder Vogl zum Einsatz kommt: Bei Hannah et al. wird Foucaults Begriffsapparat zum Instrumentarium einer umfassenden gesellschaftskritischen Zeitdiagnostik, die das Fortwirken einer »neoliberalen Hegemonie« aufzeigen möchte, während bei Sarasin und Vogl zwar auch zeitdiagnostische Elemente durchscheinen, aber eher das Aufwerfen von Fragen zur derzeitigen Situation im Vordergrund steht. Vogl sagt dazu: »Die Welt ist in ein Entwicklerbad gefallen, und es wird noch ein wenig dauern, bis man genau sehen kann, welche Kontraste und Konturen sich … herausprägen werden« (Vogl 20201 : o.S.; Hervorhebung BK).
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Kritik der Form Wir befinden uns hier in einem ganz spezifischen Genre öffentlicher Intervention, dem der Zeitdiagnostik. Zeitdiagnostik trifft »generelle Aussagen über den gegenwärtigen Zustand der Gesellschaft im Ganzen« (Osrecki 2011: 42). Zeitdiagnostik zeichnet sich durch eine »Präferenz für Neuheitsbehauptungen« und das Postulieren von »Epochenumbrüchen« aus, denn nur das Neue oder der Wandel habe Nachrichtenwert, nicht das Beständige: Zeitdiagnosen sind »unifaktorielle Phasentheorien, die für die gesellschaftliche Gegenwart Diskontinuitäten mit der Vergangenheit postulieren« (Osrecki 2011: 198f). Auch das Krisengerede gehört zu dieser Zeitdiagnostik: Thomas Macho identifiziert denn auch eine Inflation des Begriffs der »Krise« (Macho 2020). Krisen als Ereignisse fesselten die mediale Aufmerksamkeit, so Macho. In der Tat scheinen die europäischen Gesellschaften geradezu eine Flut von Krisen durchlaufen zu haben: die Finanzkrise, die Flüchtlingskrise, jetzt die globale Pandemie. Es ist ein »Rausch des Epochalen« (Vogl 20201 : o.S.), der die Diagnostikerin oder den Diagnostiker dazu verführt, die Krise als »Umbruch« zu deuten: »Eine neue Zeit beginnt: Nach Corona wird nichts mehr sein wie zuvor« (Sofsky 2020: 23), »sehen wir das Ende der Welt, wie wir sie kennen?« (Daserste.de 2020: o.S.), »Das ist das Ende des Kapitalismus, wie wir ihn kennen!« (Žižek zit. in Daserste.de 2020: o.S.). Vogl warnt eindringlich vor einer »Diskursexplosion« (Vogl 20202 : o.S.), die aus der Deutungsnot einer sogenannten Krisensituation erwachse. Der Publizist Josef Joffe, früher Herausgeber der ZEIT, meint eine »Krise der Meinungsmacher« zu erkennen (Joffe 2020: o.S.). Und Julia Encke sieht die großen Theorien in der Krise. Sie fragt, warum wir lieber den Virologinnen und Virologen als den Philosophinnen und Philosophen zuhören würden (Encke 2020: o.S.). Und Dieter Schnaas verkündet forsch den »intellektuellen Ausnahmezustand« (Schnaas 2020: o.S.), der sich durch »einen auktorial registrierenden, allwissend rezensierenden Blick auf das Weltbühnen-Geschehen« auszeichne. Dieser »Beobachter zweiter Ordnung« – Schnaas beruft sich hier auf Niklas Luhmann – »blickt als exzentrisch Beteiligter besser durch als alle anderen – blickt überhaupt durch« (ebd.). Das intellektuelle Milieu, in dem die Zeitdiagnostik ihre Bühne findet, das Feuilleton, startete also schon selbst eine kritische Reflektion über die Rolle der »Großtheoretiker«. Theoriesprache gibt Sicherheit: Theorie ermöglicht »hermeneutische Vorsprünge«, so Vogl (20201 : o.S.). Kritisches Großvokabular – »Ausnahmezustand«, »neoliberale Hegemonie«, »Biopolitik« – ermöglicht einen schnellen Durchgriff auf die Situation: man weiß immer schon, wie die Welt eigentlich funktioniert. Diese Theoriesprache führt, wenn sie nicht genügend reflektiert wird, zu einer »Hegemonie der Einsicht, von der die Einsicht in die Hegemonie abhängt« (Düttmann 2004: 84). Folgt man Max Horkheimers berühmter Definition von Kritischer Theorie, dann ist das auch in Ordnung so. Kritische Erkenntnis ist eben das Privileg
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einer kleinen intellektuellen Elite, die die »tieferen« Strukturen des Kapitalismus erkennen kann. Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie bestätigen dann einfach die Wirkmacht dieser »tieferen« Strukturen. Diese Zeitdiagnostik bevorzugt die kurze Form – den Blog-Eintrag, das Essay, das Editorial oder das Interview. Denn mit einigen skizzenhaften Belegen – oft Berichten der Tagespresse entnommen oder aus eigenen Alltagserfahrungen abgeleitet – lässt sich die Theorie schnell belegen. »Man … sieht seine lange Zeit ausgefeilten Positionen und Wahrheiten in der Katastrophe bestätigt«, so Vogl.
Intellektuelle Abrüstung »Die Politik hat abgedankt, Virologen regieren die Welt«, so formulierte Reinhard K. Sprenger am 31. März in der NZZ (Sprenger 2020: 27). Und gab damit ein weit verbreitetes Narrativ kritischer Theoretikerinnen und Theoretiker wider, die sich frühzeitig in der Krise zu Wort gemeldet hatten. Aber vielleicht müssen wir dieses Zitat eher umformulieren: Hat in der Corona-Krise vielleicht auch die kritische Theorie abgedankt? Kritische Theorie als Zeitdiagnostik, die den Epochenwandel ausruft, als Kassandra den Untergang der Demokratie und das Ende der Freiheit heraufbeschwört? Zeitdiagnostik, schreibt Julia Lossau, trifft »leichtfertige Antworten auf die Frage, in welcher Zeit oder in welcher Gesellschaft wir ›eigentlich‹ leben« (Lossau 2001: 238, Hervorhebung BK). Aufgrund dieser »Leichtfertigkeit« ist für Jürgen Kaube die »Unhaltbarkeit von Zeitdiagnosen … schon fast ein wissenschaftliches Gesetz« (Kaube 2013: o.S.). Kritische Theorie wird zur Zeitdiagnostik, wenn sie sich dem Sog der »Beschleunigung« (auch dies ein bekannter Topos der Zeitdiagnostik, vgl. die einflussreiche Studie von Hartmut Rosa (2005)) hingibt und immer schon eine Erklärung für eine Situation parat hat, die noch gar nicht in ihrer Dimension klar ist. Joseph Vogl formuliert es so: »Mein Misstrauen gegen die schnellen Stellungnahmen von Agamben, Sloterdijk oder Žižek rührt daher, dass sie sich auf einen Sachverhalt bezogen, der keineswegs festgestellt war«. Es ging, so Vogl weiter, um den »Gewinn eines hermeneutischen Vorsprungs gegenüber der Wirklichkeit, die auf eine unbequeme Weise im Fluss ist« (Vogl zit. in Encke 2020: o.S.). Es fehlt dann das Eingeständnis, »dass sich die gegenwärtige Situation nicht auf eine Generalformel bringen lässt« (ebd.). Gerade der Begriff »Ausnahmezustand«, aber auch »Biopolitik«, droht zu einer Leerformel zu werden. Alltagserfahrungen in der Quarantäne, medizinischer Notstand und politische und rechtliche Maßnahmen werden kurzgeschlossen; die Diversität der Interventionspraktiken verschiedener Regierungssysteme ignoriert. Doch ist dies keineswegs neu: Die »intellektuelle Alarmfunktion« (Encke 2020: o.S.) der Theorie kann leicht überhitzen. Schon seit längerem gibt es einen theoretischen Erregungszustand, der vor den
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Gefahren der Gefahrenabwehr warnt und die Dystopie eines Überwachungsstaates zeichnet. Die theoretischen Referenzgrößen sind über die Jahre weitgehend die gleichen geblieben: Carl Schmitts »souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet« wird mit Foucaults Panoptikum kurzgeschlossen und mit Agamben’s Jargon des »der Ausnahmezustand ist zur Regel geworden« gewürzt. Gegen diesen Alarmismus und dem damit verbundenen »Entlarvungsgestus« habe ich mich schon vor einigen Jahren gewendet (vgl. Korf 2009): Ihm liegt ein Romantizismus des Ernstfalls inne, der immer schon die Kritisierenden überhöht und einen intellektuellen »Außerordentlichkeitsbedarf« (Marquard 2000: 105) postuliert. Alle Bereiche des Lebens werden in die Prozessführung der kritischen Theoretikerin verwickelt. Die Kritikerin bzw. der Kritiker (oder Theoretikerin und Theoretiker) fungiert dann »als Ankläger[in], als oberste Gerichtsinstanz … und als Partei zugleich« (Koselleck 1959: 6). Stattdessen plädiere ich für eine intellektuelle Abrüstung. Zurecht weist z.B. Jan Söffner (2020: o.S.) darauf hin, dass Schmitts Theorie des Ausnahmezustands sich »zunächst nur als teilweise tauglich [erweist]«, um die derzeitige Situation zu fassen. Aus juristischer Sicht handele es sich, so Söffner, bei den Corona-Maßnahmen gerade nicht um einen Ausnahmezustand, da die Rechtsordnung nicht außer Kraft gesetzt wurde, auch wenn einzelne Maßnahmen massiv in die individuellen Grundrechte eingegriffen haben. Söffner hinterfragt, ob »Souveränität« in dieser Situation noch der richtige Begriff sei, denn nur »Verschwörungstheoretiker[innen]« machten in den Corona-Maßnahmen eine »Selbstermächtigung der Exekutiven« aus, die diese womöglich noch durch eine »Selbst-Unterwerfung« unter das Wissen der Epidemiologie verschleierten. Vielleicht war diese Übernahme der exekutiven Verantwortung ja eher eine Last als eine List. In der Tat: Ich erinnere mich noch gut an das Interview mit der Schweizer Bundespräsidentin Simonetta Sommaruga, in dem sie versicherte, sie werde dem Notrecht nicht nachtrauern: »Der Bundesrat ist froh, wenn das Parlament tagt«. Er wolle »nicht so weiterregieren« (Forster & Schäfer 2020: o.S.). Souverän ist dann eher, »wer den Normalzustand garantiert« (Brock 2010: 149). In diesem Sinne haben wir es eventuell eher mit »Unsouveränität in der Pandemie« (Trüper 2020: o.S.) zu tun.
Nach der Kritik: Nachdenklichkeit Was bedeutet dies alles für die Verantwortung einer kritischen Geographie? Die List der Verantwortung für die Politikerinnen und Politiker liegt darin, zum Zeitpunkt der Entscheidung in einer Krisensituation gerade nicht die Folgen voraussehen zu können. »Führungskräfte sind Krisenparasiten«, so Reinhard K. Sprenger (2020: 27). Ihre Entscheidungskraft in Notlagen bringt ihnen neue Le-
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gitimität. Doch versuchen sich Politikerinnen und Politiker abzusichern, indem sie sich Expertise einkaufen, um die vermeintliche Unvorhersagbarkeit der Situation unter Kontrolle zu bringen. Die List der Verantwortung für die kritische Theoretikerin und den kritischen Theoretiker liegt vielleicht darin, nicht der Versuchung zu erliegen, »immer schon zu wissen«, Theorie »in Echtzeit« zu betreiben, nicht die virologische Vernunft zu imitieren, immer schon das passende Modell (hier die Großtheorie) parat zu haben, sondern dem »Sog des Epochalen«, der »Geste der Überbietung« (Quent 2019: 41) und dem »intellektuellen Ausnahmezustand« zu entsagen. Kritische Theorie sollte gerade nicht zu einer »Philosophie in Echtzeit« (Mukerj & Mannino 2020) mutieren. Vielleicht muss man nicht schon im April ein »editorial« schreiben, in dem die Lage als »unprecedented (beispiellos)« bezeichnet wird (Castree et al. 2020: 411), um dann eine neue intellektuelle Agenda für das Fach Geographie zu skizzieren. Das Wesen des kritischen Denkens liegt nicht im Urteil, so Marcus Quent (2019: 39), »sondern in der ›Unterbrechung‹ des Urteils«. So verstanden erfordert kritische Theorie (und Geographie) Nachdenklichkeit: »Nachdenklich ist, wer den Ausnahmezustand vermeidet«, schreibt Benjamin Dober (2019: 294). Kritische Geographie verantworten, könnte dann heißen, den »intellektuellen Ausnahmezustand« zu vermeiden, auf die Unsicherheit einer Krise durch Nachdenklichkeit zu antworten. Nachdenklichkeit, so Hans Blumenberg (1981: 57), bedeutet, abzuwarten, »was sich jeweils noch zeigt«. Nachdenklichkeit erfordert auch eine »Provinzialisierung des Blickes« – eine Akzentverschiebung von der eigenen Wahrnehmung. Joseph Vogl bezeichnet dies als »Wahrnehmungsvorbehalt« (Vogl zit. in Encke 2020: 2). Wer je den berührenden und schockierenden Bericht von Arundhati Roy »Durch das Tor des Schreckens« (Roy 2020: 4f) gelesen hat, in dem Roy die furchtbare Verzweiflung Millionen verarmter, hungriger, durstiger Menschen in Indien schildert, wird vielleicht zögerlicher werden, immer schon den »Ausnahmezustand« auszurufen. Diese marginalisierten Tagelöhnerinnen und Tagelöhner, die auf der Suche nach Arbeit vom Land in die Städte migriert sind, wurden durch den überstürzten Lockdown innerhalb weniger Stunden aus Delhi und anderen Städten vertrieben, wie unerwünschte Substanzen. Doch zuhause auf dem Land wartete auf sie nicht nur ein Virus, sondern der Kampf ums nackte Überleben: »Ihnen war klar, dass sie zu Hause womöglich langsam verhungern würden«, schreibt Roy (ebd.). Lassen solche Berichte über existentielle Alltagsprobleme an den marginalisierten Randzonen der Welt Agambens Phrasen vom »nackten Überleben« (auf Italien bezogen) oder Hans Bemerkung, »das neoliberale Arbeitslager in Zeiten der Pandemie heißt ›Homeoffice‹« (Han 2020: 24), nicht seltsam geschmacklos klingen? Statt »Generalformeln« (Vogl) als »kohärenzstiftende Funktion des eigenen Theoriemodells« benötigen wir »Erschütterungsbereitschaft«: Erschütterungen in der Lebenswelt sollten mit einer Erschütterung der Theorie einhergehen, so Carolin Amlinger und Nicola Gess (Amlinger und Gess 2020: o.S.). Nachdenklichkeit
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eröffnet den Raum für diese Erschütterungsbereitschaft: In der Nachdenklichkeit liegt, so Dober (2019: 291), »eine reflexive Eigenständigkeit gegenüber den jeweiligen … Nötigungen einer Situation«. Das nachdenkliche Interim bedeutet »Verzicht auf Generalformeln« (Vogl zit. in Encke 2020: 2). Nachdenklichkeit wird so zum »Inbegriff von Verboten, leichtfertig zu sein« (Blumenberg 1979/2006: 268). Nachdenklichkeit versteht Kritik eher als Skepsis – den Verzicht auf vorschnelle Festlegungen: Dieser Skepsis liegt ein Moment der Verzögerung zugrunde; »Das skeptische Ich ist vor allem Zögern«, schreibt Odo Marquard (1973: 152). Nachdenklichkeit, Skepsis, Zögern: All dies verlangt nach einer Haltung des Zauderns: »Das Zaudern ersucht um Revision … das bedeutet eine Kritik, die ihre eigene Generalisierungstendenz unterbricht« (Vogl 2008: 109, 115). So verstanden bedeutet kritische Theorie – und auch: kritische Geographie – zu verantworten, »sich ein Provisorium vor allen definitiven Wahrheiten und Moralen zu arrangieren« (Blumenberg 1981: 17). Die List, kritische Theorie zu verantworten, liegt dann vielleicht darin, dass uns dieses Provisorium zwar in der intellektuellen Beschleunigung der Krisensituation verstummen lässt. Nachdenklichkeit unterbricht die Routinen der Theorie. Aber Nachdenklichkeit bedeutet nicht Fatalismus, sondern eher »tröstliche Ermutigung« (Dober 2019: 291), sich das Zögern und Zaudern zu leisten. Auch in Krisenzeiten. Das wäre dann reflektierende Unfügbarkeit.
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Offenes Denken Zur verantwortungsvollen Wissenschaftspraxis der Geographie(-didaktik) Mirka Dickel & Georg Gudat
Stellen wir uns eine Gruppe Promovierender als Teilnehmende eines Workshops vor, bei dem es darum geht, Unterstützung bezüglich der eigenen wissenschaftlichen Tätigkeit zu erhalten. Wie es bei solchen Veranstaltungen üblich ist, gewähren nach der Begrüßung alle Teilnehmer und Teilnehmerinnen einen kurzen Einblick in Thema und Methode ihrer Forschungsarbeiten. Der inhaltliche Teil des Workshops beginnt grundlegend mit der Frage, was denn überhaupt der Ausgangspunkt von Forschung sei. Nach kurzer Diskussion sind sich die Teilnehmenden einig: Der Ausgangspunkt von Forschung liege in der Formulierung von Fragen, die die wissenschaftliche Erkenntnis in geplanter Weise voranbringen. Nun werden die Wünsche der Teilnehmenden an den Workshop abgefragt. Hierbei wird deutlich, dass viele der Mitstreiterinnen und Mitstreiter von ähnlichen Anliegen, aber auch Schwierigkeiten und Sorgen berichten. Insbesondere von einem Gefühl der Unsicherheit bezüglich des Gelingens der eigenen Forschungsarbeit berichten mehrere – ob man das, was man da macht, überhaupt richtig mache. So teilt eine Doktorandin mit, dass sie zwar eine Idee habe, allerdings nicht wisse, ob diese so richtig passt. Daher äußert sie den Wunsch, Hilfe dabei zu erhalten, wie sie im Rahmen ihrer eigenen Forschungsarbeit nun richtig bzw. bestmöglich vorgehen solle. Das beste Vorgehen, so wirft ein Doktorand in die Diskussion ein, sei doch letztlich eines, das zum Erfolg führe. Und wenn man mal ehrlich sei, dann bedeute auch in der Wissenschaft Erfolg nicht lediglich den Gewinn wissenschaftlicher Erkenntnis, sondern ebenfalls Anerkennung und Karriere. Um ambitioniert in der Wissenschaft Karriere zu machen, müsse immer auch mitgedacht werden, wie die eigene Disziplin »tickt«. Wer bloß das mache, was er selbst für interessant und richtig hält, der komme im institutionalisierten Wissenschaftsbetrieb nicht sonderlich weit. Im Prinzip sei das eigene Vorgehen dann »richtig«, wenn es geplanten karrierestrategischen Überlegungen folgt. Letztlich sei dann auch die Frage der Auswahl des Themas sowie der richtigen Methode nicht allzu kompliziert. Wer
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schlau ist, richte das eigene Tun an den etablierten Standards der Disziplin und natürlich allem voran den Vorgaben des betreuenden Lehrstuhls aus. Dann gelte es zu prüfen, welche Themen und Methoden gerade gut funktionieren. Denn letztlich gehe es doch immer auch darum, die eigene Position im Wettbewerb um die knappen, begehrten Stellen zu verbessern. Zwar könne man das alles auch anders machen, aber mit den Konsequenzen müsse man dann auch leben. Auf diese Ausführungen stellt sich bedächtiges Schweigen ein. Niemand widerspricht. Anschließend werden im weiteren Verlauf des Workshops, wie gewohnt, Tipps ausgetauscht, worauf es bei strategischem Networking ankommt, wie das eigene Profil zu schärfen ist, was ein effektives Zeit- und Selbstmanagement ausmacht und welche Möglichkeiten es gibt, die eigene Arbeitseffizienz zu steigern. Diese zugespitzte Beschreibung einer Workshopsituation soll im Folgenden einigen Überlegungen bezüglich einer verantwortungsvollen geographischen Forschungspraxis zur Seite stehen. Auch wenn der imaginierte Workshop selbstredend keine Allgemeingültigkeit besitzt, ist es doch nicht abwegig, dass Nachwuchswissenschaftler und -wissenschaftlerinnen in den Anfängen ihrer Forschungstätigkeit zunächst orientierungslos und verunsichert sind. Die Konsequenz des Nichtaushaltenkönnens von Unsicherheit, das Verlangen nach verbindlichen Antworten, wie etwas zu tun ist, resultiert unserer These nach häufig in einer unterordnenden, die bestehenden Verhältnisse affirmierenden Haltung zur etablierten Forschungspraxis. Nach einer skizzenhaften Erörterung verschiedener Problemlinien der Wissenschaftspraxis im ersten Teil des Beitrags1 , mündet der argumentative Gang im zweiten Teil des Artikels in eine Reflexion, die für die Öffnung festgefahrener Formen des Denkens plädiert und in dieser Hinsicht für eine verantwortungsvolle Forschungspraxis im Spannungsfeld von Subjekt, Gesellschaft und Phänomen bzw. Forschungsgegenstand.
Das forschende Subjekt im institutionalisierten Wissenschaftsbetrieb – ein problematisches Verhältnis Aus der eingangs geschilderten Workshopsituation geht hervor, dass Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler2 Orientierung finden, indem sie sich in die etablierten Arbeitslogiken der eigenen Disziplin einpassen und –
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Selbstkritisch sei an dieser Stelle darauf verwiesen, dass auch bei einer Kritik des institutionalisierten Wissenschaftsbetriebs der Kritiker niemals »sicher sein kann, dem Kritisierten selbst entronnen zu sein« (Schäfer 2014: 273). Im Sinne einer immanenten Kritik gilt es dennoch einige Widersprüche aufzuzeigen, in die auch die Autoren selbst sich verstrickt sehen. Neben Doktoranden schließen unsere Überlegungen auch Studierende mit ein.
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wenn auch unbewusst – den herrschenden Imperativen des institutionalisierten Wissenschaftsbetriebs Folge leisten. Sich dieser Bedingungen des eigenen Forschungsprozesses durch kritische Reflexion bewusst zu werden,3 ist letztlich immer auch eine Frage von Verantwortung – nämlich, für eine gute und ehrliche Forschungspraxis einzustehen. In der Wissenschaft wird die Frage der Verantwortung gewöhnlich dahingehend ausgedeutet, dass Forscherinnen und Forscher der wissenschaftlichen Erkenntnis verpflichtet sein sollten (Mohr 2008: 55). Nach idealisierter Vorstellung soll diese Erkenntnissuche von einem freien, souveränen und autonomen Subjekt geleistet werden, im Bestreben um wissenschaftliche Integrität sowie Objektivität (Wunderlich 1993: 6). Die eingangs imaginierte Workshopsituation offenbart den Schein dieses Ideals einer »freien« Wissenschaftspraxis. So bleibt letztlich die Erkenntnis, dass aufgrund struktureller Notwendigkeiten, Assimilation, wohldosierte Subordination und allem voran zweckbestimmtes Handeln die wesentlichen Schlüssel zum wissenschaftlichen Erfolg seien. Moderne Subjekttheorien zeigen auf, dass ganz im Gegensatz zum Ideal des freien und unabhängigen Subjekts, das Subjekt vielmehr den Zwängen gesellschaftlicher (Macht-)Verhältnisse bzw. den Bedingungen der Totalität unterliegt. Dass auch die Wissenschaft nicht frei von Zwängen ist, ist zwar eine triviale Erkenntnis, doch in ihrer Konsequenz überaus problematisch. So führt ein Teilnehmer unserer imaginierten Workshopsituation vor Augen, wie die Institution Wissenschaft seiner Ansicht nach funktioniert und zieht konsequente Schlüsse, um sich in diesem System zu behaupten. Die bloße Reflexion des Ordnungs- und Regelsystems verhindert letztlich nicht den Zwang zu deren Einpassung. Die zahlreichen Workshopangebote zeugen von einer bestehenden Praxis, die es dem forschenden Subjekt abverlangt Möglichkeiten zu ergründen, den eigenen Marktwert zu steigern, zum Zwecke der Selbstvermarktung, das eigene Selbst zu optimieren sowie zu individualisieren (Pongratz 2014: 80-81). Mit dem permanenten Streben nach Kreativität, Leistungsfähigkeit, Flexibilität, Eigenverantwortlichkeit oder Individualität, also dem »Diktat fortwährender Selbstoptimierung«, unterliegt auch der Wissenschaftler bzw. die Wissenschaftlerin einer Subjektivierungsform, die ein »Unternehmerisches Selbst« (Bröckling 2016) herausbildet. Auch wenn immer noch der Ausgangspunkt von Forschung häufig als etwas intrinsisch Motiviertes verstanden wird, könne im menschlichen Verlangen nach Anerkennung 3
Horkheimer (1937) unterscheidet eine »kritische« Wissenschaft von einer »unkritischen« zum einen dahingehend, dass eine kritische Wissenschaft den Anspruch besitzt, über den als selbstverständlich erscheinenden gegenwärtigen gesellschaftlichen Rahmen hinauszudenken, also das scheinbar Natürliche der gesellschaftlichen Verhältnisse zu hinterfragen und zu kritisieren. Darüber hinaus meint das »Kritische« in der kritischen Theorie eine Form der »Selbstreflexion, die Kritik der Theorie an sich selbst« (Sommer 2015: 170-171) wonach Wissenschaft nur dann »kritisch« ist, »wenn sie zugleich Kritik ihres eigenen Vollzugs ist« (ebd.).
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»der Einzelne gar nicht anders, als sich in seinen Selbstverhältnissen auf die Erwartungen zu beziehen, die andere an ihn stellen« (Bröckling 2016: 28). Mit Subjektivierung wird in diesem Kontext ein »Formungsprozess [verstanden], bei dem gesellschaftliche Zurichtung und Selbstmodellierung in eins gehen« (ebd.: 31). Konkret bedeutet das, dass die Bedingungen, die von außen an das Subjekt herantreten, letztlich eine innere Entsprechung finden: Damit sich Studierende, Promovierende wie auch Forscher im institutionalisierten Wissenschaftsbetrieb behaupten können, müssen sie nicht nur den von außen angelegen Anforderungen entsprechen, sie wollen es vielmehr. Bröcklings Diagnose der derzeitigen Gesellschaft, dass unternehmerisch zu handeln der allseits umgreifende kategorische Imperativ der Gegenwart sei, wird in zahlreichen Workshopangeboten für Promovierende konkret. Dem »Gebot der permanenten Selbstverbesserung im Zeichen des Marktes« (ebd.: 283) beizukommen, ist dort Programm. Im Kontext der Frage nach der Verantwortung des Subjekts für sein Handeln weisen Geiselhart/Häberer (2019) darauf hin, dass der Subjektbegriff der poststrukturalistischen Theorie eine zentrale Idee der Aufklärung dekonstruiert, indem die menschliche Fähigkeit zu autonomem Handeln angezweifelt wird. Subjektivität werde als bloßes Ergebnis psycho-sozialer Prozesse verstanden, im Bestreben »den an ihre Identitätskategorie gestellten Anforderungen gerecht zu werden« (ebd.: 115). Demnach werde der Mensch als ein durch Prägung und Anpassung geformtes Wesen verstanden, das sich den kulturellen Ordnungen seiner Gemeinschaften unterwirft. Und dies bedeute in seiner Konsequenz die »Dekonstruktion der Vorstellung des Menschen als autonome[m] Schöpfer seiner Selbst« (ebd.: 115). Folglich müsse Individuen jegliche Verantwortung abgesprochen werden und so auch dem forschenden Subjekt bezüglich dessen Praxis. Allerdings verursacht diese poststrukturalistische Perspektive gerade aufgrund des ihm innewohnenden Verständnisses der radikalen Dezentrierung des menschlichen Subjekts, d.h. der Vorstellung, dass der Mensch als bloßes Produkt relationaler Beziehungen zu denken ist, als bloßes Anhängsel des Diskurses, auch einiges Unbehagen, da Fragen der Verantwortung des Subjekts aus poststrukturalistischer Perspektive überhaupt nicht mehr ohne Weiteres gestellt werden können. Um das verantwortliche Subjekt in unseren Überlegungen stark machen zu können, stellen wir der ohne Zweifel notwendigen poststrukturalistischen Perspektive im zweiten Teil unseres Aufsatzes die phänomenologische Hermeneutik zur Seite – eine Perspektive, die prädestiniert ist, ethischen Fragen ausgehend von der lebensweltlich verankerten intuitiven Überzeugungen dessen, was gut und richtig ist, nachzugehen4 . 4
Phänomenologen und Poststrukturalisten haben auf ihre je eigene Art und Weise das Wissenschaftssystem kritisch reflektiert und eine je eigene Antwort auf die Krise der Wissenschaften im 20. Jahrhundert gefunden (vgl. Reinberger 2007: 57). Daher ist es sinnvoll, statt
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Wie gesagt, lässt sich mit Bröckling (2016: 26) unter spätmodernen Verhältnissen von einem »Zwang zur Individualisierung« sprechen. Im Zuge zunehmender Selbstbestimmung, aber auch Selbstverantwortung, ist der oder die Einzelne letztlich selbst verantwortlich, ob sein bzw. ihr Studium, die Promotion, das Projekt oder die Forschung gelingt. Das erzeugt eine Last, die bei Workshops ihren Ausdruck in den geäußerten Sorgen und Befürchtungen findet. Im Zuge der Individualisierungstendenz wird Promovierenden häufig nahegelegt, bereits von Anfang an auf eine erfolgsversprechende Profilbildung zu achten, auch um das eigene Scheitern zu vermeiden. Um die eigene Forschungsarbeit gut zu positionieren, wird häufig angeraten, die eigene Arbeit durch eine vom mainstream abhebende Themenwahl abzugrenzen. Unter Verweis auf diesen gesellschaftlich bedingten Zwangscharakter der Individualisierung, im Sinne einer Pluralisierung und Ausdifferenzierung von (Lebens-)Stilen, lässt sich mit Horkheimer/Adorno (2017: 164) auf die Paradoxie hinweisen, dass der Zwang zur besonderen wissenschaftlichen Profilbildung letztlich nicht in wirklicher Differenz resultiert, sondern durch dessen Notwendigkeit allesamt gleichmacht, die in der Institution Wissenschaft bestehen wollen. Die aufgebaute Differenz ist in dieser Hinsicht bloßer Schein. Dies wirft die Frage nach der grundlegenden Möglichkeit einer »richtigen« Differenz auf. Wir vertreten die Ansicht, dass der Ausgangspunkt einer verantwortungsvollen Forschungspraxis im Aufspüren und in der Ausformulierung der den Forschungsprozess initiierenden Frage(n) liegen sollte. Doch schon die Formulierung der Forschungsfrage steht in Spannung zwischen innerem Antrieb und Zweckdienlichkeit. So berichten Promovierende der Geographie davon, dass für ihre Themenwahl zwar die eigenen subjektiven Interessen wichtig erscheinen, aber dennoch die Ausrichtung der betreuenden Professur einen erheblichen Einfluss auf Themen- sowie Methodenwahl ausübt (Pettig/Lippert/Schurig 2020). Die imaginierte Workshopsituation bringt dahingehend etwas zum Ausdruck, was nicht sagbar zu sein scheint: dass Thema und Forschungsfrage bewusst von karrierestrategischem Kalkül geprägt sein können. Auch wenn dabei nicht direkt der Wunsch nach einer Professur vor Augen steht, so liege doch ein wesentliches Motiv zu Forschen darin, Anerkennung zu erlangen, vor allem die Anerkennung im eigenen Fach (Mohr 2008: 59). Folglich werden insbesondere die Fragen beforscht, die der Wissenschaftsgemeinschaft als besonders relevant und damit anerkennungswürdig erscheinen.
von einem Antagonismus zwischen Phänomenologie und Poststrukturalismus auszugehen, sie in einem nicht-gegensätzlichen Verhältnis zu betrachten.
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Die (Un)Freiheit des Denkens Die Formulierung der Forschungsfrage ist über die explizite institutionalisierte Zurichtung hinaus bereits implizit durch institutionalisierte Formen des Denkens präformiert. In der Dialektik der Aufklärung weisen Adorno und Horkheimer (2017: 158) darauf hin, dass zwar formal die Freiheit des Denkens bestehe, die Menschen dennoch permanent in einem System der Kontrolle stehen, das dafür sorgt, dass sich die Menschen angleichen. In der Idee der Aufklärung, »im umfassenden Sinn fortschreitenden Denkens« (ebd.: 9), sehen Adorno und Horkheimer ein grundlegendes Problem. So heißt es zwar, dass die »Freiheit in der Gesellschaft vom aufklärerischen Denken unabtrennbar« (ebd.: 3) sei, doch der Aufklärung ein dialektischer Prozess zugrunde liege, der letztlich in Zwang und Unfreiheit resultiere. Die Ursache dafür liege im aufklärerischen Denken selbst, der instrumentellen, zweckbestimmten Vernunft und deren Reduzierung auf das Prinzip der Selbsterhaltung (ebd.: 90). Um diese Kritik etwas zu konkretisieren: Das, was als »vernünftig« anerkannt ist, wird letztlich gesellschaftlich bestimmt. In diesem Sinne übt der Wissenschaftsjournalist Ranga Yogeshwar (2018) Kritik daran, dass wissenschaftliche Forschung den Ökonomisierungstendenzen des Sozialen unterworfen sei und überhaupt erst von diesen angetrieben werde. Mit Blick auf das dominierende Nützlichkeitspostulat in der Wissenschaft betont Yogeshwar, dass der Anspruch der Wissenschaft, dem Wohle des Menschen zu nutzen, zwar gut und richtig sei, Wissenschaft allerdings dennoch keinesfalls auf ihre bloße Nützlichkeit beschränkt werden dürfe. Denn das was »nützlich« sei, werde vorrangig ökonomisch bestimmt. Den eigentlichen Lebensnerv der Forschung sieht Yogeshwar in der menschlichen Neugierde, welche nicht dem (auf ökonomische Kategorien verkürzten) Nutzen geopfert werden dürfe. Dieser Anspruch findet sich noch konsequenter in einem Zitat Albert Einsteins wieder: »Was mich zu meiner wissenschaftlichen Arbeit motiviert, ist kein anderes Gefühl als das unwiderstehliche Verlangen, die Geheimnisse der Natur zu verstehen. Meine Liebe zur Gerechtigkeit und mein Streben, einen Beitrag zur Verbesserung der menschlichen Lebensbedingungen zu leisten, sind völlig unabhängig von meinen wissenschaftlichen Interessen« (Einstein in: Mohr 2008: 56). Yogeshwar (2018) betont, dass die »aufklärerische Stimme der Wissenschaft […] wichtiger denn je [sei], denn der wahre Mehrwert der Wissenschaft [liege] für unsere Gesellschaft nicht in ihrem ökonomisch verwertbaren Output, sondern in ihrer selbstbewussten Unabhängigkeit – und in ihrem freien und mitunter befreienden Denken« (Mohr 2008: o.S.).
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Doch eben dieses geforderte »freie« Denken ist problematisch. So weist Horkheimer (1937) neben der Abhängigkeit »wissenschaftlicher Strukturen von der jeweiligen gesellschaftlichen Situation« (ebd.: 251) darauf hin, dass die Totalität schon das Denken des Subjekts selbst – und damit auch das Denken jeder Wissenschaftlerin und jedes Wissenschaftlers – beeinflusst. Insofern der wissenschaftliche Nachwuchs bereits unbewusst um die Fragen weiß, die er stellen soll, handelt es sich nicht um »echte Fragen«, die aus echtem Interesse resultieren.
Subsumtions vs. Spurenlogik Etwas holzschnittartig lassen sich in der Wissenschaft zwei Logiken bzw. Formen des Denkens unterscheiden – eine Subsumtions- und eine Spurenlogik. Unter Subsumtionslogik lässt sich ein Denken verstehen, dass die verschiedenen Gegenstände bzw. Phänomene in vordefinierten Begriffen bzw. Kategorien verortet, was letztlich im Ausbau einer (Klassifikations-)Systematik resultiert. Diese Form des Denkens steht bei Horkheimer/Adorno (2017: 34) in der Kritik, da dem Besonderen Gewalt angetan werde, wenn es unter einen allgemeinen Verstandesbegriff subsumiert wird. »[A]ls Sein und Geschehen wird von der Aufklärung vorweg nur anerkannt, was durch Einheit sich erfassen läßt; ihr Ideal ist das System, aus dem alles und jedes folgt« (ebd.: 13). Die Kritik an einem Klassifikationssystem, das alles zu erklären versucht trifft auch den Begriff, als die »Merkmalseinheit des darunter Befaßten« (ebd.: 21). Der Begriff sei ein Trugschluss, wenn eine Identität von Begriff und bezeichneter Sache angenommen wird. »Der Begriff […] war vielmehr seit Beginn das Produkt dialektischen Denkens, worin jedes stets nur ist, was es ist, indem es zu dem wird, was es nicht ist« (ebd.: 21). Begriffe bilden in diesem Sinne nie »wirklich« ab, sondern im Vollzug »objektivierender Bestimmungen« treten Begriff und Sache vielmehr auseinander. Dies führe letztlich zu einer zunehmenden Entfernung des Denkens von der Wirklichkeit. Insbesondere im Positivismus, also dem Postulat alles müsse möglichst objektiv bzw. wertfrei5 empirisch wahr-
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In den Sozialwissenschaften gibt es bereits eine längere Historie der Diskussion über Ziele, Zweck und Grenzen von Wissenschaft. Der Soziologe Max Weber (1904) postulierte im Bestreben um wissenschaftliche Objektivität eine Position der Wertfreiheit, demzufolge Sozialwissenschaft nicht das Anliegen haben sollte, normative Handlungsempfehlungen zu stellen. Wissenschaft solle sich primär auf die Frage beschränken, was in der Welt zu erkennen ist und nicht was sein soll. Im Gegensatz dazu betonen einige Jahrzehnte später die Vertreter der Kritische Theorie der Frankfurter Schule die Verantwortung von Wissenschaft für die bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse und forderten deren explizit normative Parteinahme für eine gerechtere und humanere Gesellschaft (Holzer 2019: 724). Im Ausgang dieser Forderung nach einem »kritischem Erkenntnisinteresse« steht die Einsicht, dass Wissenschaft per se von Wertungen und Interessen durchzogen ist.
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nehmbar und überprüfbar sein, erkennen Adorno und Horkheimer letztlich eine zunehmende Distanz zum Objekt.6 Auch in der eingangs imaginierten Workshopsituation findet sich die Logik der Subsumtion wieder. Indem wissenschaftliche Forschung als »die systematische, also disziplinierte und an Methoden und Institutionen gebundenen Suche nach Erkenntnis« (Mohr 2008: 55) verstanden wird, befindet sich der Wissenschaftler oder die Wissenschaftlerin schon immer in einer bestimmen Fachlogik, unter die er oder sie sich, sein bzw. ihr Denken und letztlich auch die Gegenstände seiner oder ihrer Forschung subsumiert. Wissenschaft lässt sich als ein Ordnungssystem verstehen, das eine Haltung der Ein- und Unterordnung kultiviert – im Besonderen unter tradierte Ideen- bzw. Theoriegebäude. Nach der Inkorporation der verschiedenen Fachlogiken im Verlauf eines Studiums verpflichtet spätere Forschung zu einer bestimmten Theorieperspektive und Vorgehensweise. In regelmäßigen Abständen sind Promovierende angewiesen, »Karrieregespräche« mit der betreuenden Person zu führen, bei denen die Einpassung in die disziplinäre Logik nicht verordnet, sondern gemeinsam »vereinbart« wird. Während noch Verordnungen dem Individuum immer die Möglichkeit zum Widerstand einräumen, wird im Prinzip der Vereinbarung diese innere Diskrepanz bereits gelöst – man hat kein Äußeres mehr für einen inneren Widerstand. Die inneren Widerstände werden systematisch ausgeräumt, kritikauslösende Impulse werden neutralisiert. Der Logik der Subsumtion steht eine dialektische Logik entgegen, die den »echten« Fragen sowie den Spuren im Erkenntnisprozess einen angemessenen Ort einräumt. Die Kritik an der Einheitslogik der Wissenschaft, der subsumtionslogischen Verfahren, mündet in die Frage nach der Möglichkeit inhaltlicher Erfahrung, also eine Erfahrung, die nicht bloß durch die jeweiligen Fachlogiken präformiert ist. Bei Adorno wird die Möglichkeit inhaltlicher Erfahrung aus einer Kritik des begrifflichen Denkens rekonstruiert, was in der Forderung resultiert, dem Besonderen, dem Nichtidentischen, dem Fremden bzw. Anderem einen höheren Stellewert einzuräumen (Holzer 2019: 721). Im Gegensatz zu vorgefertigten Forschungsfragen werden »echte« Fragen vom Inhalt her determiniert. Es bedarf also einer Forschung, die sich nicht auf formalisierte Verfahren verkürzt. Entgegen des »Primats der Methode« (ebd.) braucht es für eine verantwortungsvolle Forschung eine besondere Form der Hinwendung zu den Gegenständen und Inhalten.
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Diesen Gedenken formuliert Adorno im Rahmen der Negativen Dialektik aus, nach der sich das Verhältnis von Begriff und Sache als eines der Nichtidentität darstellt.
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Öffnung für neue und kritische Formen des Denkens Was heißt die Kritik an der derzeitigen Forschungspraxis, nun positiv für eine verantwortliche wissenschaftliche Praxis der Geographie, einer Praxis, die der zuvor dargestellten Kritik standhält? Während wir zuvor Kritik an der vorherrschenden Forschungspraxis geübt haben, geht es im Folgenden um die Formulierung ethischer Anhaltspunkte, die unser forschendes Tun orientieren. Dabei gehen wir der Frage nach, wie sich Möglichkeiten gestalten lassen, unter denen wir unser Handeln in der geographischen Forschung verantworten können. Wir entfalten unsere Überlegungen zu einer Ethik der Geographie als Ethik der Ermöglichung reflexiver Orientierung (vgl. Hubig 2015: 91) entlang fünf Gesichtspunkten: aktives Unterlassen, Unsicherheit aushalten, vom Phänomen ausgehen, Spuren sichern, echte Fragen formulieren.
Aktives Unterlassen Forschungs- und Denkkulturen sind Moden unterworfen. Das, was als Wissenschaft gilt, ist nicht nur zu verschiedenen Epochen ganz unterschiedlich. Auch innerhalb einer Epoche gibt es ganz unterschiedliche wissenschaftliche Praktiken, die in Konkurrenz zueinanderstehen. Welches Wissenschaftsformat in der Forschung dominant ist, hängt von einem Konglomerat aus sozialen, politischen, technischen und individuellen Faktoren ab. Walach (2012: 303) weist darauf hin, dass es die Funktion von Paradigmata in der Forschung ist, »die Richtung vorzugeben, in die Fragen zielen, und den Horizont dessen zu begrenzen, was wir als sinnvoll, möglich und ›wissenschaftlich‹ zu akzeptieren bereit sind, und was wir – gesellschaftlich gesehen – zu finanzieren bereit sind.« Diese Rahmungen des Wissenschaftssystems müssen wir uns immer wieder vor Augen führen, da sie sehr machtvoll sind. Die hegemoniale Wissenschaftskultur hat zwar eine hohe Akzeptanz unter den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, sie stellt aber nicht die einzige oder gar beste wissenschaftliche Kultur dar (vgl. Walach 2012: 302ff). Eine Forschungs- und Denkkultur, die nicht im zeitgenössischen Wissenschaftsdiskurs aufgeht, sondern Wege abseits des mainstreams beschreitet, ist in einer guten Position, Zukunftsweisendes hervorzubringen. Denn abseits des mainstreams kommen wir in die Lage, auch das zu sehen, was die hegemoniale wissenschaftliche Matrix als blinden Fleck mittransportiert. Daher gibt es am Rande des Wissenschaftsdiskurses immer auch Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die auf frühere Paradigmen zurückkommen, sodass sich aktuelle Verhältnisse wie in einem Spiegel besser oder überhaupt erst erkennen lassen. Allerdings handelt es sich bei diesen Bemühungen trotz aller Tiefenschärfe und Sinnhaftigkeit dieser Forschung zumeist um Randerscheinungen. Wie kommt ein Wissenschaftler oder eine Wissenschaftlerin nun aber überhaupt in die Lage, eine
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randständige Wissenschaftsposition aufzusuchen, einen Ort, von dem aus nicht bloß Neues, sondern Neuartiges hervorgebracht werden kann? Waldenfels (2006) unterscheidet in »Ordnungen des Sichtbaren« zwischen einem wiedererkennenden Sehen, das Neues hervorbringt, und einem sehenden Sehen, welches kategorial Neues, besser gesagt Neuartiges in Erfahrung bringt. Im Unterschied zu einem wiedererkennenden Sehen, das als heteronom gilt, da es durch die Anwendung der akzeptierten Logik auf einen Fall im Sinne der Subsumtion charakterisiert ist, zeichnet sich das autonome sehende Sehen dadurch aus, dass sich die Ordnungsmuster und Logiken des Sehens selbst verschieben, da die Gesetze des Sichtbaren der Begegnung mit der Welt selbst entstammen. Um Neuartiges im Prozess des sehenden Sehens hervorzubringen, ist eine Forschungshaltung notwendig, die sich durch ein aktives Unterlassen7 der normalen Forschung auszeichnet. Nur so können überhaupt weitere Möglichkeiten entstehen. Diese »weiteren Möglichkeiten« zeichnen sich dadurch aus, dass sich die Logik der Forschung selbst wandelt. Statt der Subsumtionslogik wird hier eine Spurenlogik in Anschlag gebracht. Was Spurenlogik im Kontext des Forschungsprozesses der Neuartiges zu sehen gibt, konkret bedeutet, wird im Folgenden noch zu zeigen sein. Zunächst geht es darum, Einsicht in die Bedingungen zu gewinnen, die gegeben sein müssen, dass wir auf neuartige Weise sehen lernen. Es geht zuallererst darum, den Imperativen der normalen Forschungskultur nicht blind aufzusitzen, diese nicht automatisch in Stellung zu bringen, sondern den epistemologischen Gehorsam, den wir normalerweise an den Tag legen, um den Forschungsgegenständen beizukommen, aktiv zu unterlassen. Konkret heißt das, den allerersten Impulsen, die uns zum schnellen, zielgerichteten und effektiven Forschungshandeln drängen, standzuhalten. Dieses Standhalten ist leichter gesagt als getan. Denn im aktiven Unterlassen wenden wir uns nicht bloß gegen einen wissenschaftlichen Forschungsimperativ, sondern zugleich gegen die alltäglichen Deutungs- und Interpretationsmuster, und damit gegen das, was man landläufig als Zeitgeist bezeichnet. Wir richten uns also auch gegen die Ordnung, in der wir zu den unverwechselbaren Menschen geworden sind, die wir heute sind. Anders gesagt, mit der Abstandnahme von der im zeitgenössischen Diskurs verankerten Forschungslogik distanzieren wir uns zugleich auch von der Logik, die wir in unserem naiven Dahinleben im Alltagsleben für selbstverständlich und für die einzig mögliche halten. Denn mit dem Hinterfragen des gemeinhin gültigen Forschungsverständnisses wird zugleich eine Skepsis gegenüber der eigenen Welt- und Selbstbefangenheit auf den Plan gerufen. Dass eine Abstandnahme von der hegemonialen Forschungslogik ohne die Abstandnahme von unserem
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Zum »Unterlassen« siehe auch Brock, B. »Ästhetik des Unterlassens« (2005) und Seel, M. »Aktive Passivität« (2014)
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naiven Weltglauben, durch den wir subjektvergessen und in die Gegenstände verschossen sind, nicht möglich ist, lässt sich verstehen, wenn wir das Konzept der Lebenswelt Husserls ernst nehmen. Danach machen wir neue Erkenntnisse nicht verinselt, also bloß im Hinblick auf den Forschungsgegenstand, mit dem wir uns gerade im Moment befassen. Vielmehr ist es so, dass sich unsere gesamte bekannte Welt als unvertraut und rätselhaft entpuppt, sobald in der Begegnung mit einem (Forschungs-)Gegenstand alte Verstehenshorizonte nicht mehr greifen und wir drauf und dran sind, in neue Horizonte vorzudringen (vgl. Welter 1986: 42ff). Kurzum: Es sollte deutlich geworden sein, dass wir den Automatismen der akzeptierten Forschungslogik nicht leichtfertig entsagen können, da uns dieses Entsagen in alltagsweltliche Schwierigkeiten bringt. In der Unterlassung schaffen wir nicht nur einen Spielraum für ein sehendes Sehen und damit für eine neuartige Thematisierung unseres Forschungsgegenstandes, vielmehr geraten wir auch in eine persönliche Not-Lage. Sobald wir die Ordnung ausschlagen, in der wir uns auf diese Welt verstehen, schlagen wir ein naives Weltverständnis aus. Philosophische Fragen drängen sich auf, Grundfragen danach, was unser Welt- und Selbstverhältnis und unsere Identität als Forscher und als Mensch eigentlich ausmacht.
Unsicherheit aushalten Wenn wir es unterlassen, die Routinen der Forschung wie selbstverständlich zu bedienen, bringen wir uns nicht nur in Distanz zur Forschungsgemeinschaft im Allgemeinen und zur scientific community der Geographie und ihrer Didaktik im Besonderen, sondern wir bringen uns auch in Distanz zu uns selbst. In dieser Abstandnahme begeben wir uns in die Reflexion und fragen uns, was da los ist. Wir nehmen Abstand von dem Ideenkleid, das unsere Welt wie ein Schleier überzieht und verstehen, dass wir die Welt normalerweise in einer bestimmten Bedeutung erfassen. In der Abstandnahme erkennen wir die Bedeutung, mit der wir die Welt verstehen, als eine mögliche Bedeutung neben anderen potentiell möglichen Bedeutungen. Wir erkennen die Vormeinungen und Vorurteile, die sich als Struktur über unsere Welt gelegt haben. Mit der Weigerung, diese Struktur für die einzig mögliche zu halten, ist eine mehr oder minder große Unsicherheit verbunden. Denn wir fragen uns, ob das, was unsere lebensweltliche Orientierung ausmacht und uns bisher im Leben getragen hat, in Zukunft auch weiterhin tragen wird. Die aktive Unterlassung des blinden Befolgens der gewöhnlichen Gepflogenheiten bringt zugleich immer auch die Gefahr mit sich, dass der tragfähige Boden unseres Alltags ins Wanken gerät. Konnten wir bis dato gewiss sein, dass der Boden unserer Lebenswelt trägt, gehen wir mit der Unterlassung, die lebensweltliche Matrix für selbstverständlich zu halten, ein existentielles Risiko ein. Daher ist – in der Forschung wie im Alltag – die Unterlassung nicht mit gleicher Selbstverständlichkeit wie die Anpassung zu haben. Wir müssen die Unterlassung daher
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aktiv wählen und dabei bewusst in Kauf nehmen, dass wir uns auf unsicheres und unvorhersehbares Terrain begeben. Ein weiterer Zusammenhang ist zu berücksichtigen, um das Ausmaß der existentiellen Unsicherheit ermessen zu können. Das Unterlassen ist nämlich nicht nur eine kognitive Angelegenheit. Denn die Ordnungsmuster, in denen wir die Welt und uns selbst verstehen gelernt haben, wurden nicht nur verbal an uns herangetragen. Sie haben sich leiblich in uns eingeschrieben und bestimmen unser affektiv-sinnliches und kognitiv-rationales Welt- und Selbstverhältnis. Mit den kognitiv-rationalen Ordnungsmustern sind immer auch affektive und sinnliche Muster sowie Muster der Bewertung und Beurteilung vernetzt. Wenn wir den kognitiven Ordnungsmustern nun die Relevanz absprechen, hat das zwangsläufig Auswirkungen auf die gefühlte Gewissheit, in diese Welt eingebettet zu sein. Dies führt zu einer Verunsicherung, zuweilen Verstörung, die auch körperlich-leiblich spürbar ist. Wenn wir die Befolgung der anerkannten Logiken unterlassen, verzichten wir also – zumindest zeitweise – auch auf eine affektiv-sinnliche Sicherheit, darauf, dass die lebensweltlichen Situationen auf dem erlernten Wege des sinnlichen Erlebens beherrschbar bleiben. Die Einklammerung selbstverständlicher Gewohnheiten schlägt sich nicht selten auch in Fahrigkeit oder Verwirrtheit nieder. Diese aus der aktiven Unterlassung resultierende emotional-affektive Verunsicherung gilt es zu riskieren, wenn wir in der Forschung neue Wege beschreiten wollen, zumal mit dem Zeitpunkt der Verweigerung, den vorgezeichneten wissenschaftlichen Weg zu gehen, nicht auch schon ein neuer Weg erkennbar vor uns liegt, den wir gehen können und der uns sicher ans Ziel bringt. Es öffnet sich hier also eine Leerstelle, in der das, was unhinterfragt Geltung hat, in Frage gestellt wird und in der das, was an dieser Stelle Geltung erlangen kann, noch nicht in Sichtweite ist. Eine Wissenschaftlerin oder ein Wissenschaftler, die bzw. der die ausgetretenen Pfade verlassen will, braucht also Mut und Zuversicht, diese Lücke zwischen dem Forschungsgegenstand und den noch nicht vorhandenen, noch zu ergreifenden Möglichkeiten, den noch unbekannten Symbolisierungen, in denen der Forschungsgegenstand wieder bestimmt und gezähmt werden kann, auch aushalten zu können. Das Aushalten dieser Lücke erfordert Übung, eine Übung, die diejenige bzw. derjenige, die oder der neu in der Wissenschaft ist, noch nicht haben kann. Mit zunehmender Übung sich dieser Unbestimmtheit im Zwischenraum von Materialität des Forschungsgegenstandes und sprachlicher Symbolisierung immer neu wieder zu stellen und der Erfahrung, dass wir im Unbekannten immer wieder Tritt und festen Boden gewinnen können, wächst das Vertrauen in den Forschungsprozess, der uns von sich selbst her trägt. Mit dem Vorstoß ins Offene gilt es auch die Vorstellung des eigenen Selbst als herrschend und beherrschend über Bord zu werfen, und die Bereitschaft zu entwickeln, sich als verletzliches Selbst, das auch passiv und ohnmächtig ist, zu
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erfahren. Denn der offene Forschungsprozess kommt nur dann in Gang, wenn wir uns dieser klaffenden Lücke ohne tragfähiges sprachliches Netz zuweilen auch ausliefern. Mit der Entscheidung, die ausgetretenen Pfade in der Forschung nicht zu beschreiten, entscheiden wir uns daher auch für die Revidierung des selbstmächtigen Subjekts und dafür, uns als jemand anzunehmen, der sich in die Lage bringt, die Welt auf sich zukommen zu lassen, sich angehen zu lassen und einzulassen – mit allen Konsequenzen. (Vgl. Dickel/Keßler 2019) Mit der Zeit gelingt es immer besser, das instrumentelle Handeln als ein Handeln im Hinblick auf im Voraus festgelegte Zwecke zu unterlassen. Wir entwickeln das Vertrauen, dass die gewählte Offenheit eben kein Vakuum ist, sondern dass es sich um eine Offenheit handelt, die es uns erlaubt, uns immer wieder in der Sprache beheimaten zu können. Sprache wird hier nicht als Instrument verstanden, mit dessen Hilfe Ziele verfolgt werden. Vielmehr geht es um ein sich bildendes und umbildendes Verhältnis zwischen Forschungsgegenstand und Wissenschaftler bzw. Wissenschaftlerin, das über die Öffnung für das Unvorhersehbare und eine immer wieder neu zu findende Versprachlichung getragen wird.
Vom Phänomen ausgehen Die aktive Unterlassung und die damit einhergehende Unsicherheit bereiten eine Begegnung zwischen der Wissenschaftlerin bzw. dem Wissenschaftler und dem Forschungsgegenstand vor, die Neues sehen lässt. Denn das Nicht-Tun des Normalen ermöglicht das Gewahrsein dafür, dass der Forschungsgegenstand mehr und anders ist, als in unseren Sprach-, Denk- und Sehgewohnheiten aufgeht. Wir begeben uns durch den Verzicht auf die fungierende Ordnung an die Grenzen der Normalisierung. Es handelt sich um Grenzen, »die jene Orte umschreiben, an denen das Fremde sich in seiner Ortlosigkeit und Unzugänglichkeit ankündigt.« (Waldenfels 1998: 9) Um diesen Ort zu finden, an dem sich Fremdes zeigen kann, müssen wir von der Sache selbst ausgehen, statt von Vormeinungen und Vorannahmen über die Sache. Nur in der anschaulichen Erfahrung der Sache selbst ergeben sich neue Gesichtspunkte für die Forschung. Der Forschungsgegenstand zeigt sich uns in einer Weise, die zuvor noch nicht sichtbar war. Diese neuen Gesichtspunkte, unter denen ein Forschungsgegenstand erscheint, kündigen sich über unsere Leiblichkeit an. Das Gefühl, das sich einstellt, wenn wir mit einem Forschungsgegenstand auf eine Weise umgehen, über die wir neue Facetten des Gegenstandes zu Gesichte bekommen, lässt sich als leibliche Spur beschreiben, die uns über unser Spürbewusstsein einen Hinweis darauf gibt, ob wir auf dem richtigen Weg sind. Mit dem »richtigen Weg« ist hier ein Vorgang gemeint, der in sich sinnstiftend ist. Unser Leib fungiert als Schlüssel, wie wir den Forschungsgegenständen, denen wir Aufmerksamkeit schenken, Bedeutung geben können (Dickel 2015: 245). Über die Leiblichkeit sind wir in einer vortheore-
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tischen Beziehung zum Sein, zur Sinngebung und Sinndeutung. Gemäß Polanyi (1978) macht sich im leiblichen Spüren ein unausdrückliches Erfahrungswissen bemerkbar, ein Wissen, von dem man nicht sagen kann, dass man es weiß. Dieses stillschweigende bzw. stumme Wissen, das wir in der Auseinandersetzung mit dem Forschungsgegenstand in Anschlag bringen, bildet sich als ein Können von innen her im Zuge des praktischen Umgangs. Es ist auf die forschende Person selbst verwiesen, auf die von ihm gespürten Empfindungen und auf ihre Intuition. Dieses Gespür für das tacit knowledge ist also nichts, was dem Forschungsprozess hinzugefügt werden müsste, sondern es grundiert den Forschungsprozess immer schon, sofern dieser darauf aus ist, Neuartiges hervorzubringen. Allerdings ist uns diese leibliche Dimension des Forschungsprozesses heute nicht mehr geläufig. Diese Leibvergessenheit liegt sicherlich auch an dem Imperativ der Effizienz, der dazu führt, dass die für das leibliche Spüren notwendige Langsamkeit im Forschungsprozess derzeit kaum mehr zur Verfügung steht. Es geht also darum, uns die leibliche Dimension der Forschung wieder in Erinnerung rufen und über die Kultivierung der Langsamkeit das Gespür dafür zurückzugewinnen, dass und wie der Forschungsgegenstand als Phänomen neu zur Frage werden kann. Wenn wir Forschung ausgehend vom lebensweltlichen Affiziertsein des Forschers durch den Forschungsgegenstand selbst verstehen, so berufen wir uns auf die Konzeption der Lebenswelt nach Husserl. Zentral für die hier wesentliche Argumentation ist die Aufteilung der Lebenswelt in Heimwelt und Fremdwelt, zwischen denen unscharfe Grenzen bestehen (Waldenfels 1998: 65f.). Der Ort, von dem aus sich der Forschungsgegenstand mir auf neue Weise zeigt, weil ich die gewohnte Weise des Hinschauens unterlasse, ist die Schwelle, die Eigenes von Fremdem trennt. Das Fremde ist nun nicht so zu verstehen, als wäre es noch fremd, da es noch nicht bekannt ist. Vielmehr können wir dem Fremden nur gerecht werden, wenn wir überhaupt darauf verzichten, es zu bestimmen: »So lange wir fragen, was das Fremde ist und bedeutet, wozu es da ist und woher es kommt, ordnen wir es ein in ein Vorwissen oder Vorverständnis, ob wir es wollen oder nicht. […] Die Situation ändert sich, wenn wir darauf verzichten, geradewegs zu bestimmen, was das Fremde ist, und wie wir statt dessen das Fremde nehmen als das, worauf wir antworten und unausweichlich zu antworten haben, also als Aufforderung, Herausforderung, Anreiz, Angriff, Anspruch oder wie immer die Nuancen lauten mögen. […] Was Eigenes und Fremdes ist, bestimmt sich im Ereignis des Antwortens und nirgends sonst, das heißt, es bestimmt sich niemals völlig.« (Waldenfels 1998: 108f.) Für den Forschungsprozess bedeutet dies konkret, dass wir zwischen dem Alltäglichen, dem Gewohnten bzw. Ordentlichen und dem Unalltäglichen, dem Neuartigen, das aus einer neu entstehenden Ordnung erwächst, unterscheiden müssen. Die Überschreitung des Alltäglichen kündigt sich als Staunen an. Es gehört weder dem Alltäglichen noch dem Neuartigen an, sondern dem Bereich der Schwel-
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le (vgl. Waldenfels 1998: 64). Phänomenologisch-hermeneutische Bemühungen gehen also von dem aus, was unser Verstehen ins Stocken geraten lässt, von einem ›atopon‹, das »Ortlose, das, was nicht unterzubringen ist in den Schematismen unserer Verstehenserwartung und das uns deswegen stutzen lässt. […] All dies Stutzen und Staunen und im Verstehen nicht weiterkommen ist offenkundig immer auf Weiterkommen, auf eindringlichere Erkenntnis angelegt!« (Gadamer 1999, Bd. 2, 185).
Spuren sichern Von Anfang an ahnt unser Bewusstsein, dass die Dinge einen Kern haben, und dass sich der Gegenstand uns immer nur in Abschattungen zeigt. Im Forschungsprozess wird der Horizont der Verständnismöglichkeiten, in den ein Gegenstand eingebettet ist, kontinuierlich erweitert. Durch ein Evidenzerleben erkennt unser Bewusstsein, ob eine Deutung zum schon Enthüllten passt oder nicht. Evidenz ist ein »eigenartiges Gefühl […], welches die Wahrheit des Urteils, dem es angeknüpft ist, verbürgt« (Hua XVII, 183, nach Meyer 2009: 48). Nur wenn die neuen Absichten sich in das alte Verständnismuster, in das schon in Erfüllung gegangene integrieren lassen, werden sie als wahrhaft zugelassen. Das Bewusstsein erkennt, dass ein weiteres Stück der Gesamtheit des Gegenstandes in Erfüllung gegangen ist oder umgekehrt, dass wir uns dem Kern der Sache weiter genähert haben. Zur intuitiven Erkenntnis führt kein kompliziertes Verfahren, bei dem die Schritte einzeln angestrengt eingehalten werden müssen. Vielmehr beschreibt die Intuition etwas, das in der Lebendigkeit des Alltags immer schon geschieht, wenn wir nicht einfach in der Sache aufgehen und uns nicht nur in der Distanz aufhalten, sondern in der Lage sind, zwischen uns und unserem Forschungsgegenstand hin- und herzupendeln. Waldenfels (2010) begreift die Verortung des Intuitiven und Unbestimmten in einer sinnlichen Dimension der Erfahrung als ›zarte Empirie‹. Diese lässt Raum für das, »was sich dem methodischen Zugriff und den Modellen der jeweiligen Theorie entzieht. Dazu gehört eine positive Unbestimmtheit, die sich nicht als Mangel an Bestimmtheit darstellt, sondern zur Sache selbst gehört, als ein Markenzeichen einer Erfahrung, die sich selbst vorausläuft und sich selbst übersteigt.« (Waldenfels 2010: 38ff). Die zarte Haltung der Forschenden, die ins Unbekannte vorstößt, deutet auf die Notwendigkeit hin, mit einem offenen inneren tastenden Gewahrsein sich dem Forschungsgegenstand zu nähern. Diese Zartheit ermöglicht es, ein Gespür für das noch nicht Sichtbare, noch nicht Hörbare, noch nicht Darstellbare zu gewinnen, das sich auf der Schwelle zur Sichtbarkeit, Hörbarkeit und Darstellbarkeit befindet. Die zarte Haltung hält der Überraschung stand, mit der sie rechnen müssen, da das hervorkommende Ordnungsmuster auch die eigenen Ordnungen in Frage stellt.
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Der Ausgangspunkt dieser zarten Empirie ist die Spur. Etymologisch steht das Spüren, »also die mit Spürkraft ausgeübte Handlung des Aufnehmens und Folgens einer Fährte (›Spürnase‹!) damit in engem Zusammenhang« (Krämer 2007: 13). Mit dieser »elementaren Beziehung« (Krämer 2007: 13) zwischen der Spur als Objekt und dem Spüren als Tätigkeit geht die Einsicht einher, dass nicht das Legen oder Machen einer Spur von Bedeutung ist, sondern das Aufspüren von etwas, das uns auffällt, sodass wir aufmerken. Dieses Etwas wird durch unser Gespür, das dieses Etwas auf Unbekanntes hinweist, überhaupt erst zu einer Spur. Diese Transzendenz der Spur, dass wir also mit Hilfe der Spur unsere gewöhnlichen Bezugnahmen überschreiten bzw. transzendieren können, lässt sich noch besser verstehen, wenn wir uns den Unterschied zwischen Immanenz und Transzendenz der Spur vor Augen führen. Krämer (2007: 166) stellt zwei unterschiedliche epistemologische Matrizen vor, die eine Deutung der Spur ermöglichen, je nachdem, ob wir die Deutung an einer semiologischen, an der Immanenz orientierten, oder an einer metaphysischen, an der Transzendenz ausgerichteten Matrix, ausrichten. In der semiologischen Spurenlogik stehen die Spuren für etwas, das derselben Welt zugehörig ist, in der die Spur entdeckt wurde. Hier lässt sich das Abwesende, auf das die Spur hinweist, aus der Spur selbst schließen. Ein Beispiel für diese Immanenzperspektive ist das Naturdenkmal »Everseiche«, aus dem legendären Aufsatz zum Spurenlesen von Hard (1993), die auf eine ehemalige Allee hinweist, deren übriggebliebener Rest sie ist. Der Prozess der Naturzerstörung – statt der Naturerhaltung, wie das Schild »Naturdenkmal« suggeriert – ist über die Rekonstruktion des alten Zustandes ausgehend von der Spur erkennbar. Das Naturdenkmal »Everseiche« ist eine Spur, die im Sinne eines Zeichens gelesen und bedeutet wird. Von dieser Form der Spurendeutung ist die Transzendenzperspektive zu unterscheiden, die wir stark machen: Hier weist das Sichtbare auf etwas Unsichtbares hin, das sich nicht mehr in das Register des Sichtbaren eingliedert. Vielmehr macht die Spur auf einen unüberwindbaren Mangel aufmerksam. Die Spur referiert also nicht im Sinne des Zeichens auf etwas, das in derselben Logik, in der die Spur auffällig wurde, bestimmt werden kann, sondern auf eine Leerstelle: »Einsehbar und erkennbar ist lediglich der Entzug von etwas, das Verschwundensein, die Lücke und das Fehlen: Eine negative Ontologie zeichnet sich hier ab. […] Gleichwohl ist dieses ›Unerreichbare‹ als ein Existierendes gedacht, es ist wirklich vorhanden.« (Krämer 2007: 167) Das Transzendieren im Sinne der Transzendenzperspektive der Spur meint nun keinesfalls das Überschreiten der alltäglichen und selbstverständlichen Welt auf eine ›wahre‹ oder ›eigentliche‹ Wirklichkeit hin. Vielmehr geht es darum, zu verstehen, dass sich die Transzendenz in der Welt realisiert bzw. dass Transzendenz in diese Welt eingebettet ist.
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Echte Fragen formulieren Wie lässt sich mit dieser Leerstelle nun forschungslogisch, im Sinne eines transzendentalperspektivischen Spurenparadigmas, umgehen? Die Spur ist der Drehund Angelpunkt für das Formulieren von Fragen. Der Weg von der Spur zur lohnenden Frage im Forschungsprozess führt über das Be-Deuten der Spur. Damit nun aber die Spur in einer Weise gedeutet werden kann, die die üblichen Deutungswege im Hinblick auf den Forschungsgegenstand überschreitet, heißt es, sich auf eine epistemische Praxis einzulassen, über die wir in die Lage kommen, Spuren auf neue Weise zu kodieren, um das noch nicht Wahrnehmbare, das Abwesende in Augenschein zu nehmen, das sich über unsere Sensibilität dafür andeutet, dass sich uns der Forschungsgegenstand in der forschenden Umkreisung auf neue Weise zeigen wird, dass sich noch Ungeahntes Bahn brechen wird. Es heißt also, sich zu öffnen, für die eigenen Ahnungen, für das noch nicht Sichtbare, das noch nicht Hörbare, noch nicht Darstellbare, das sich auf der Schwelle zur Sichtbarkeit, Hörbarkeit und Darstellbarkeit befindet. Dieses Hinspüren auf etwas, was noch im Verborgenen liegt, kann dann gelingen, wenn wir uns jeder Selbstbehauptung entsagen, wenn wir uns im Lauschen und Schauen dem zuneigen, was sich ausdrücken will. Die Spur ist nun nicht an sich schon dasjenige, was wir nur symbolisieren müssen, um zu neuartigen Erkenntnissen zu kommen. Vielmehr ist die Spur bloß als Scharnier zwischen Forschungsgegenstand und Forschungsfrage zu verstehen. Nun ist es aber nach Gadamer (1960: 372) so, dass das Fragen nicht methodisierbar ist und zugleich kommt die Frage aber auch nicht völlig unvorbereitet, da sie einen Bereich des Offenen voraussetzt, aus dem sie kommen kann: Fragen »setzen bereits eine Richtung auf einen Bereich des Offenen voraus, aus dem der Einfall kommen kann, d.h. aber sie setzen Fragen voraus. Das eigentliche Wesen des Einfalls ist vielleicht weniger, dass einem wie auf ein Rätsel die Lösung einfällt, sondern dass einem die Frage einfällt, die ins Offene vorstößt und dadurch Antworten möglich macht. (…) Auch von der Frage sagen wir daher, dass sie einem kommt, dass sie sich erhebt oder dass sie sich stellt – viel eher als dass wir sie erheben oder stellen. (Gadamer 1960: 372)« Eine solcherart erhobene Frage symbolisiert die Spur zwar, d.h. über die Frage kommt die Sprache mit ins Spiel. Allerdings handelt es sich nicht um eine Symbolisierung, die die Spur in einen schon fertigen Deutungsrahmen setzt, sondern die Symbolisierung ermöglicht die Erforschung von etwas, das noch unbekannt ist und das letztlich auch unbekannt bleibt, dem man sich aber über die Forschung annähern kann. Der symbolische Raum, der sich in der Frage öffnet, weist schon in die Richtung, aus der die Antwort auf den Forscher oder die Forscherin zukommt. Daher ist es unbedingt notwendig, dass Forschende die Forschungsfragen
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selbst finden, statt dass diese an sie herangetragen werden. Mit der echten Frage wird nicht alles in Frage gestellt. Vielmehr begrenzt die Frage über ihre sprachliche Form das unwegsame Gelände, in das wir uns als Forscherinnen und Forscher begeben. Die Forschungsfrage fungiert als ein Geländer, das uns beim Voranschreiten im Unbekannten und Dunkeln, Orientierung bietet. Diese Orientierung lässt sich verstehen, da wir in der Frage, unseren Erkenntnisweg, unseren Weg ins Offene erinnern, sodass wir uns über diese Erinnerung an den Ausgangspunkt im Forschungsprozess selbst ankern können (vgl. Dickel/Schneider 2013). Eine Frage, die in der dargestellten Weise auf das Fragliche verweist, bezeichnet Gadamer (1960, 369) als eine echte Frage, im Unterschied zu einer Scheinfrage, in der die Antwort auf die Frage schon mehr oder weniger bekannt ist. Deutlich wird, dass die echte Frage, die in einer konkreten Symbolisierung zur Darstellung kommt, immer auf das konkrete Verhältnis zwischen dem Forschungsgegenstand und dem Spurenleser angewiesen ist. Echte Fragen bringen Neuartiges über den Forschungsgegenstand hervor: Neuartiges im Hinblick auf den Spurenlesenden, dessen oder deren symbolischer Raum sich im Zuge des Fragenfindens und Antwortens auf die Frage erweitert. Neuartig sind die auf diese Weise gewonnenen Erkenntnisse auch zugleich für die Gesellschaft, deren symbolischer Raum sich im Zuge der Forschung der Forscherin oder des Forschers, die bzw. der aus einer echten Beunruhigung und Betroffenheit heraus seiner Fragebereitschaft stellt, ebenfalls erweitert. Dass die echte Frage einer oder eines Forschenden eine Frage ist, mit der es für die oder den Forschenden ernst wird, sollte zuvor deutlich geworden sein. Gemäß Böhme (1997) sind Fragen, mit denen es der Forscherin oder dem Forscher auf eine existentielle Weise ernst ist, da es in der Frage zugleich um sie bzw. ihn selbst geht, moralische Fragen: »Eine moralische Frage ist jemandes Frage in dem radikalen Sinne, dass er sie sich nicht nur stellt und sie erwägt, sondern dass er mit dieser Frage selbst in Frage steht. Und: Eine moralische Frage ist eine solche, die sich in einer Gesellschaft stellt, nicht insofern sie in öffentlichen und philosophischen Diskursen behandelt wird, sondern insofern sich mit ihr entscheidet, in welcher Gesellschaft wir leben« (Böhme 1997: 156f). Moralische Fragen, denen es mit dem bzw. der Einzelnen ernst ist und moralische Fragen, denen es mit der Gesellschaft ernst ist, hängen zusammen, wenn auch die beiden Teile der Ethik, die individuelle und gesellschaftliche Ethik strukturell verschieden sind.8 Der Zusammenhang ist dadurch gegeben, dass wir der Gesellschaft 8
»Fragen, mit denen es für mich ernst wird, sind solche, mit denen es sich entscheidet, wie ich Mensch bin. Sie werden durch den praktischen Entwurf einer Lebensform beantwortet. Fragen, für die es für die Gesellschaft ernst wird, sind solche, mit denen sich entscheidet,
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keine Subjektivität zuschreiben und weil wir als Beschreibende immer Teilnehmerinnen und Teilnehmer des öffentlichen Diskurses, niemals die Gesellschaft sind (Böhme 1997: 157f).
Konklusion Nach der Erörterung verschiedener Problemlinien etablierter Wissenschaftspraxis im ersten Teil des Beitrags stellen wir der Logik der Subsumtion eine dialektische Logik entgegen, die den Fragen und den Spuren einen angemessenen Ort einräumt. Damit dies gelingen kann, bedarf es einer Öffnung des Denkens, für die mehrere Gesichtspunkte zentral erscheinen: Aktives Unterlassen, Unsicherheit aushalten, vom Phänomen ausgehen, Spuren sichern und echte Fragen formulieren. Entgegen der vordefinierten und risikominimierten Projektlogik steht die tatsächliche Unsicherheit eines ergebnisoffenen Forschungsprozesses. Für einen offenen Forschungsprozess braucht es Mut und Übung. Daher scheint es sinnvoll, bereits im Studium Formate anzubieten, die es ermöglichen, selbstgewählten Fragen nachzugehen. Verantwortung kann in der Wissenschaft nur dialektisch gedacht werden: Einerseits muss man die Tradition ernst nehmen, denn im Handeln gegen alle systemischen Konventionen kommt man nicht weit(er). Andererseits muss gegen diesen Zwang Widerstand ausgeübt werden, um das System partiell zu überwinden. In diesem Sinne lässt sich von einem Doppelcharakter der Verantwortung sprechen: Zum einen von der Verantwortung für die Forschung, ausgehend vom überlieferten System, in das jeder Mensch eingebunden ist, zum anderen von der Verantwortung, angesichts derer wir die pure Wiederholung vermeiden und uns in der Öffnung für eine individuelle und gesellschaftliche Erneuerung einsetzen. In dieser Doppelbewegung der Anknüpfung an das Wissenschaftssystems sowie dessen Überwindung liegt die Verantwortung des kritischen Wissenschaftlers bzw. der kritischen Wissenschaftlerin. In der verantwortungsvollen Forschung gehen die Gegensätze von Bewahrung und Überwindung des Wissenschafts- und Gesellschaftssystems Hand in Hand.
in welcher Gesellschaft wir leben. Sie werden durch Diskurse beantwortet, in denen es um Konventionen zur Regelung des gesellschaftlichen Lebens geht.« (Böhme 1997: 155f)
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Kritische Geographie als Beruf(ung) Kritik als Mediation und der Wille zur Verantwortung Klaus Geiselhart »Kritik ist nicht die Beurteilung der Wirklichkeit. Kritik ist die Wirklichkeit der Beurteilung.« (Thomas Edlinger 2015: 14)
Max Weber (1958[1919]) beschreibt in seiner historischen Betrachtung die Herausbildung des Phänomens des Berufspolitikers und benennt auch noch weitere politisch relevante Berufsgruppen, z.B. Journalisten, politische Publizisten und Verwaltungsbeamte1 . Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sind nicht darunter, denn Wissenschaft wird für gewöhnlich nicht als politisch angesehen. Diese Einschätzung wird aber von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die sich explizit als »kritisch« verstehen, in Frage gestellt. Bewusst grenzen sie sich von der Vorstellung eines allein auf Wahrheit abzielenden Wissenschaftsbetriebs ab und verstehen ihre Arbeit als politisch. Nach Weber erfordert verantwortungsvolles politisches Handeln eine nicht unproblematische Verbindung zwischen dem Bestreben, politische Ziele zu erreichen und der Anerkennung aktueller politischer Rahmenbedingungen, »denn das Problem ist eben: wie heiße Leidenschaft und kühles Augenmaß miteinander in derselben Seele zusammengezwungen werden können?« (ebd.: 546). Demnach bedarf es einerseits eines unbedingten Dienstes an einer Sache, also ein inneres Feuer für eine Mission, wobei gleichzeitig Distanz zu den tatsächlichen politischen Prozessen gehalten werden sollte. Was kann aber »Augenmaß« im Zusammenhang kritischer Geographie bedeuten? Weber beschreibt es als »Fähigkeit, die Realitäten mit innerer Sammlung und Ruhe auf sich wirken zu lassen« (ebd.: 546). Dies wird häufig als Selbstdistanzierung im Sinne rationaler Reflexion gedacht. In diesem Sinne haben u.a. Hans Jonas, Hans-Otto Apel und Jürgen Habermas »Verantwortung«
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Hier werden keine Einzelpersonen sondern Gruppen benannt , deswegen generisches Maskulinum.
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als ethische Schlüsselkategorie und Grundbegriff der praktischen Philosophie etabliert (Bayertz 1995; Banzhaf 2002). Die Kritik aber scheint aktuell in einer Krise zu sein. Dort, wo sie präzise Missstände benennt, bleibt sie wirkungslos. Die Rede von »alternativen Fakten« zeigt, dass die Waffen der Dekonstruktion »über unklar gezogene Grenzen geschmuggelt wurden und der falschen Partei in die Hände gerieten« (Latour 2007: 16). Auch gelinge es der Kritik leider kaum noch transformative Kraft zu entfalten, da sie häufig zur Besserwisserei verkomme (Jaeggi 2015) und sich als Hyperkritik in alle Lebensbereiche ausbreite, wo sie latent aggressive Beschuldigungsrhetoriken erzeuge, die zu Überforderung führen (Edlinger 2015). Diese Atteste erinnern an die Webersche Kritik einer reinen Gesinnungsethik, die im Kampf für die »gute« Sache die schlechten Folgen ihres eigenen Handelns übersieht und nicht im Stande ist zu erkennen, dass aus Gutem eben nicht zwangsläufig auch nur Gutes folgt. In diesem Sinne wirkt eben auch Kritik nicht automatisch emanzipatorisch. Einer gängigen Auffassung zu Folge wendet sich Kritik gegen die gesellschaftlichen Verhältnisse, die der Verwirklichung von Menschlichkeit im Wege stehen. In diesem Sinne ist Kritik am stärksten, wenn sie Leid, Gewalt oder Ungerechtigkeit in möglichst scharfer, konfrontativer Sprache aufdeckt. So verrate »die Sprache Marx’, die sich in einer eindringlichen martialischen Metaphorik ergeht, die Lust am Kampf « (Röttgers 1975: 262). Entsprechend formuliert auch Horkheimer (1988[1937]: 190) die Rolle des kritischen Akademikers folgendermaßen: »seine Kritik ist aggressiv nicht nur gegenüber den bewußten Apologeten des Bestehenden, sondern ebensosehr gegenüber ablenkenden, konformistischen oder utopistischen Tendenzen in den eigenen Reihen.« In poststrukturalistischem Denken ist Gegnerschaft das zentrale Merkmal jeglicher demokratischen Politik. Nach Chantal Mouffe (2005) funktioniert politische Positionierung nur über Distinktionen, bestenfalls agonistisch, schlimmstenfalls antagonistisch. Demnach ist konsensorientierte Politik eine Illusion, die letztlich immer nur etablierte Ungerechtigkeiten reproduzieren kann. In ihrer Konzeption einer radikalen Demokratie schlagen Ernesto Laclau und Mouffe (2001) vor, eine linke Hegemonie zu etablieren, die in der Lage sein soll, die unendliche Differenz- und Dissensproduktion zu bändigen, um unterdrückerische Machtverhältnisse und rechtspopulistische Strategien zu unterminieren. Das Muster einer Kritik als gegenhegemoniale Opposition hat sich in akademischen Kreisen weitgehend durchgesetzt. Auf breiter Basis richtet sich akademische Kritik heute in der ein oder anderen Weise gegen die den gesellschaftlichen Bedingungen zugrundeliegenden Machtverhältnisse (Butler 2013[2000]; Foucault 1992[1978]); Horkheimer 1988[1937]). Dabei vernachlässigt Kritik aber einen entscheidenden Wesenszug ihrer selbst. Der Begriff »Kritik« leitet sich aus dem griechischen Ausdruck für die Kunst des Urteilens ab. Aristoteles zum Beispiel assoziierte ihn mit gerichtlichen Entscheidungen in Streitfällen (Röttgers 1975). Kant verstand »Kritik«
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als die Klärung wissenschaftlicher Fragen durch die Untersuchung des jeweiligen Vernunftgebrauchs der streitenden Parteien. Dem Begriff der Kritik liegt traditionell also ein Aspekt der Abwägung zwischen divergierenden Ansichten zu Grunde. Kritik als oppositionelle Haltung, so wie sie heute häufig verstanden wird, ist demnach ein jüngeres, verkürzendes Konzept von Kritik. Im Folgenden soll die Unterscheidung von Kritik als Opposition und Kritik als Mediation zur Reflexion der Verantwortung einer kritischen Geographie dienen. Dabei ist zuallererst zu bemerken, dass dort, wo Missstände und Ungerechtigkeiten eindeutig zu identifizieren sind, es selbstverständlich verantwortungsvoll ist, Opposition zu beziehen. Demnach stehen Opposition und Mediation sich nicht gegenseitig ausschließend gegenüber. Ebenso »sind Gesinnungsethik und Verantwortungsethik nicht absolute Gegensätze, sondern Ergänzungen, die zusammen erst den echten Menschen ausmachen, den, der den ›Beruf zur Politik‹ haben kann« (Weber 1958[1919]: 559). Eine Kritik als Mediation ergibt sich erst in Überwindung des soziologischen Blickes, der naturgemäß vom Lokalen abstrahiert. Durch einen strukturtheoretischen Blick entstehen Klarheiten, die im konkreten lokalen Kontext so kaum jemals gegeben sind. Im Lokalen stehen sich niemals prototypische Vertreterinnen und Vertreter, wie etwa eine neoliberale Kapitalistin und eine Arbeiterin gegenüber, sondern individuelle Akteure, die nicht auf Identität-, Gruppen- oder Klassenkategorien reduziert werden können. Diese individuellen Akteure behaupten alle von sich, Verantwortung zu übernehmen, oder zumindest stellen sie ihr Handeln als verantwortungsvoll dar. Die geographische Perspektive auf das Lokale erfordert einen kritischen Personalismus, der verdeutlicht, dass die Beteiligten alle einen jeweils eigenen Willen zur Verantwortung besitzen. Gegenüber soziologischen Perspektiven ergibt sich für die kritische Geographie damit eine spezifische Aufgabe. Eine geographische Kritik als Mediation kann diese lokalen Positionalitäten begreiflich machen und moderieren.
Die vielen Gesichter der Verantwortung Einem Verständnis der Vielfalt der möglichen Vorstellungen von Verantwortung nähert man sich am besten ausgehend von der gängigen Auffassung, wonach jede Person Verantwortung für ihr eigenes Handeln trägt.
Verantwortung für die Folgen des Handelns und Responsibilisierung Wo die Forderung nach Verantwortung laut wird, wird ihr reflexartig mit dem Hinweisen auf die Grenzen menschlicher Verantwortungsfähigkeit begegnet (Kaufmann 1995). Der persönlichen Verantwortung (accountability) kommt heute ein be-
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sonderer Stellenwert zu. Wir alle kennen – zumindest sofern wir nicht Hardliner des Verzichts oder eines konsequenten ökologischen Lebensstils sind – den Anflug eines schlechten Gewissens sowie die Bereitschaft zu einer Abwehrreaktion, die uns beschleicht, wenn wir im alltäglichen Leben Fragen zu unserem Konsumverhalten beantworten sollen. Wir wissen von der Empörung, die der Verdacht der Verantwortungslosigkeit zu erzeugen fähig ist, und wittern die Gefahr diesen Vorwurf zu ernten. Die Rede von »Gutmenschen« wie auch »rücksichtslosen Egoisten« markiert Extremfälle der Dichotomie zwischen Forderung und Ablehnung von Verantwortung. Während erstere Verantwortung verabsolutieren, weisen die anderen jede über ihre persönlichen Interessen hinausgehende Verantwortung zurück. Diese Dichotomie verschwindet auch nicht, wenn man sich ihr differenzierter zuwendet. So findet sich, wieder am Beispiel des Konsumverhaltens, auf der einen Seite eine Position, die die Konsumierenden in mehrfacher Hinsicht als überfordert ansieht. Damit werde Konsumierendenverantwortung »zwar nicht obsolet, aber in ihrem Anspruch und ihren Möglichkeiten stark relativiert« (Grunwald 2018: 434). Menschen leben in politisch gewollten Strukturen und es sind die Rahmenbedingungen, Systemzwänge und Anreizsysteme, die geändert werden müssten. Die andere Seite sieht hingegen eine »überforderte Politik« und begreift den individuellen Konsum als das maßgebliche Instrumentarium einer nachhaltigen Transformation (Paech 2018). Die Auffassungen von individueller Verantwortung könnten also konträrer nicht sein. Für die einen ist sie der Königsweg zu einem moralisch guten Leben, für die anderen liegt in ihrer Betonung entweder maßlose Selbstüberschätzung oder ein Versuch gouvernementaler Steuerung oder gar Unterdrückung. Die Forderung nach Eigenverantwortung hat mit der konservativen Revolution in den 1980ern ihren Aufschwung genommen. Nach Yascha Mounk (2017) habe eine schleichende Verlagerung der Betonung struktureller gesellschaftlicher Überlegungen hin zu einer Betonung des Individuums und dessen Verantwortung stattgefunden. Im Zeitalter der Verantwortung habe sich eine Rhetorik der persönlichen Verantwortung nicht nur in Ratgeberliteratur, Kolumnen und der politischen Sprache durchgesetzt. Vielmehr sei unsere gesamte moralische Vorstellungskraft tief von diesem Begriff erfasst worden. Damit haben sich unsere Vorstellungen von der Natur des Wohlfahrtsstaates verändert. Demnach hat das Individuum die Verantwortung sein Leben vernünftig zu planen und es obliegt jeder Person, dies umsichtig zu tun. Tut sie das nicht, dann hat sie folgerichtig auch keinen Anspruch auf öffentliche Leistungen. Nicht nur in Deutschland wurde diese Auffassung im Prinzip des Förderns und Forderns in politische Programme implementiert und in vielen Bereichen der Sozialpolitik eingeführt. Mounk zufolge ist diese Haltung eine zutiefst verhängnisvolle Angelegenheit. Sie verkennt, was eine Gemeinschaft ihren Mitbürgerinnen und Mitbürgern unabhängig von deren Entscheidungen schuldet. Gleichzeitig geraten auch die größeren strukturellen Faktoren, die zu individuellen Problemlagen führen, aus dem
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Blick. Stattdessen werden scheinbar objektive Kausalzusammenhänge zwischen bestimmten Handlungsweisen und verhängnisvollen Effekten etabliert, die ihre Verkörperung in den Subjektivierungsweisen der Individuen finden. Verantwortung wird so zum Imperativ. In poststrukturalistischer Perspektive aber gilt jeder Versuch, moralische Grundsätze für universal zu erklären, als eine Etablierung von Macht (Foucault 1992[1978]). Die Rede von Verantwortung muss aus dieser Perspektive also generell zurückgewiesen werden. Ziel ist die Entunterwerfung der Subjekte, und entsprechend werden Effekte persönlich empfundener Verantwortung oder gar Schuld zum gouvernementalen Machteffekt erklärt. Der Versuch, Verantwortung rein als persönliche Verantwortung zu planvollem rationalem Handeln zu bestimmen, bringt also zwangsläufig eine Atmosphäre harscher gegenseitiger Kritik zwischen divergierenden Auffassungen hervor. Somit bietet dieser Verantwortungsbegriff kaum Möglichkeiten, Verantwortung zu regulieren, erzeugt im Zweifelsfall eher psychologische Problematiken, weil er das Motiv der Schuld oder des Sich-Mitschuldigmachens, in sich trägt. Man muss sich also Dimensionen von Verantwortung zuwenden, die außerhalb dieser engen Vorstellung von Eigenverantwortlichkeit liegen.
Das Prinzip Verantwortung »Handle so, dass die Wirkungen deiner Handlung verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden.« (Jonas 1979: 16) Spätestens seit dem Brundtland-Bericht 1987 ist diese von Hans Jonas formulierte Maxime zum Credo der Nachhaltigkeitsbewegung geworden. Dabei geht es nicht allein um die Erhaltung der menschlichen Art, sondern um intergenerationelle Gerechtigkeit, also um eine nachhaltige Entwicklung, die nicht Raubbau an den natürlichen Ressourcen der Erde betreibt, um auch den nachfolgenden Generationen noch eine Lebensgrundlage zu erhalten. Individualistisch verstanden begründet diese Maxime die zuvor beschriebene Polarisierung. Doch ursprünglich hatte Jonas eine kollektive Verantwortung im Sinn: Er warnt eindringlich, man müsse heute nicht nur die langfristigen Folgen kollektiven menschlichen Handelns bedenken, sondern auch den kumulativen Charakter der Handlungsfolgen. Heute addieren sich die Wirkungen der Einzelhandlungen, weil die Ergebnisse aktueller Entscheidungen nachfolgend die Voraussetzungen neuen Handelns konstituieren. Dies verändert Jonas zufolge die Voraussetzungen, unter denen moralisches Handeln gedacht werden muss. Das Handeln des Einzelnen könne heute nicht mehr im Mittelpunkt der Betrachtung stehen, denn »es ist der kollektive Täter und die kollektive Tat, nicht der individuelle Täter und die individuelle Tat, die hier eine Rolle spielen« (ebd.: 32).
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Jonas fragt deswegen nach geeigneten politökonomischen Organisationsweisen. Nur die Ehrfurcht vor möglichen Katastrophen könne helfen, den möglichen Schaden der Technikfolgen zu begrenzen. Bei politischen Entscheidungen müsse eine »Heuristik der Furcht« angewandt werden (ebd.: 63ff.). Dabei käme dem Wissen über potentielle und tatsächliche Technikfolgen eine zentrale Rolle zu, ebenso wie einer notfalls autoritativen Durchsetzung unangenehmer Entscheidungen. Jonas diskutiert diesbezüglich die jeweiligen Vorzüge von Kapitalismus und Kommunismus, was ihn zu bedenklichen, tendenziell anti-demokratischen Ansichten führt (vgl. hierzu auch Banzhaf 2002: 72). In einer freien Gesellschaft hält Jonas eine Selbstbeschränkung des Wohlstands für unmöglich. Diese sei aber für das Überleben der Menschheit unabdingbar. In einer individualisierten Gesellschaft könne aber niemals ein »neues Bewusstsein« des freiwilligen Verzichts entstehen. Die Verantwortung hierfür könne »nur eine Elite ethisch und intellektuell« (Jonas 1979: 263) übernehmen. Auch denkt er die Notwendigkeit eines »neuen Machiavelli« an, ebenso wie die »Existenz einer Elite mit geheimen Loyalitäten und geheimen Zielsetzungen« (ebd.: 267; 266). Auch heute sind derartige Gedanken lebendig, denn nicht selten wird behauptet, eine Demokratie könne niemals flexibel genug sein, angemessen auf die Anforderungen der Zeit zu reagieren. Es ist Teil der aktuellen gesellschaftlichen Polarisierung, dass Umweltschutz heute den Ruf nach autoritärer Regulierung ebenso konstituiert wie er auch als Aufforderung für eine individuelle Verhaltensänderung angesehen wird.
Diskursethik als Verantwortungsethik Hans-Otto Apel (1990[1975-88]) kritisiert Jonas, indem er betont, dass die Frage danach, welche Entwicklungen für den Menschen gut seien, nicht einfach hinter die Frage, was für den Planeten das Beste wäre, zurückgestellt werden sollte. Könne man schließlich auch eine sozialdarwinistische Lösung des Problems anstreben. Eine nachhaltigere Wirtschaftsweise käme sicherlich auch zustande, wenn nur ausgewählte Personen weiterleben würden. Apel entwickelt seine Diskursethik ebenfalls als eine Verantwortungsethik. Im Fokus steht dabei ein Ideal von gesellschaftlicher Kommunikation, die Vision, dass ein »Gerechtigkeits- und Verantwortungsprinzip von vornherein die Interessen aller Betroffenen berücksichtigt« (ebd.: 281). Apel und Jürgen Habermas begründen die Vision zwangloser Aushandlungssituationen, in denen sich das bessere Argument durchsetzt, allein deshalb, weil alle Beteiligten dessen Stichhaltigkeit erkennen. Hierzu formulieren sie das »Diskursprinzip« als einen moralischen Grundsatz der offenen gesellschaftlichen Aushandlung. Damit entwerfen sie eine Verfahrensethik, denn der von ihnen entwickelte moraltheoretische Grundsatz bezieht sich allein auf die Prozedur der Aushandlung, nicht aber auf die zur Debatte stehenden Inhalte. Durch die Etablierung gerechter Verfahrensweisen sollte es – so die Hoff-
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nung – auch möglich werden, selbst notwendige schmerzvolle Einschränkungen des Wohlstands demokratisch zu beschließen. Das Diskursprinzip könne als universell angenommen werden, weil »jeder, der ernsthaft argumentiert, auch schon – zumindest implizit – eine ethische Grundnorm anerkannt haben muss« (ebd.: 46), nämlich die, dass Verständigung nur möglich sein kann, wenn man aufrichtig und nachvollziehbar argumentiert. Selbstverständlich gäbe es niemals ideale, also rein rationale und herrschaftsfreie Diskurse, doch müsse jeder, der ernsthaft um Verständigung bemüht ist, trotz besseren Wissens eine »ideale Argumentationsgemeinschaft ansprechen« (ebd.: 202). Dabei sind sich Apel und Habermas bewusst, dass nicht jeder der ernsthaft argumentiert, sich auch gleichzeitig der Metanorm der Konsensbildung verpflichtet fühlen muss. Vielmehr kann auch ernsthaft argumentieren, wer unnachgiebig versucht, sein Gegenüber von seiner Meinung zu überzeugen. Die Diskursethik unterscheidet deswegen auch zwischen einer ethischen Kommunikation der idealen Kommunikationsgemeinschaft, die auf Gleichberechtigung und Solidarität abzielt und den strategischen Kommunikationen realer Kommunikationsgemeinschaften, bei denen es um Selbstbehauptung in politischen Debatten geht. Wenn aber eine Partei im politischen Diskurs unerbittlich versucht ihre Position durchzusetzen, dann wäre es unverantwortlich, wenn die andere Partei nicht ebenso die Interessen ihrer Klientel verteidigen würde. Apel sieht es deswegen für notwendig an, einen Spagat zu vollführen. Hierzu führt er ein »Ergänzungsprinzip« ein, wonach man, wenn es aktuell geboten ist, eine strategische, unredliche Argumentation führen müsse, die man aber gleichzeitig dem Zweck einer langfristigen Durchsetzung des moralischen Diskursprinzips unterstellen solle (ebd.: 141ff.). Hierin sieht er die Möglichkeit der Verknüpfung von Gesinnungsethik und Verantwortungsethik, wie sie ja auch im Weberschen Sinne zwei sich ergänzende Perspektiven darstellen. Während sich erstere für die Verwirklichung konkreter progressiver Interessen und Vorstellungen einsetzt, verpflichtet sich die zweite einer Verbesserung der Kooperation und Kommunikation zwischen gesellschaftlichen Lagern. Die Konzeption dieses Ergänzungsprinzips wurde von Habermas (1992: 197) leider rigoros abgelehnt, sie soll hier aber als erste Inspiration zweier Prinzipen der Kritik dienen. Wo Kritik als Opposition dort Empörung erzeugt, wo Leid, Ungerechtigkeit oder Gewalt heruntergespielt oder verdeckt werden, bemüht sich Kritik als Mediation mittels differenzierter Urteile dort um Verständigung, wo dies Hoffnung auf Erfolg verspricht.
Rationalität und die andere Stimme Die mächtigere Stimme in dieser Debatte der 1980er Jahre gehörte Jürgen Habermas, der mit seiner Diskursethik vor allem die Hoffnung verband, auf demokratischem Wege auch schwierige politische Entscheidungen herbeizuführen. Das, was
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einmal auf Basis gemeinsamer Übereinkunft beschlossen wurde, muss Habermas zufolge dann aber auch uneingeschränkt Geltung besitzen. Ziel politischer Auseinandersetzung ist die Etablierung einer verbindlichen Moral, unterschieden von partikularen Ethiken unterschiedlicher Lebensformen. Es ist dies auch die Position der demokratischen, liberalen Rechtstaatlichkeit, die hier auch keineswegs angezweifelt werden soll. Nach Hans Joas (1997: 127ff.) führt das aber zu einem überartikulierten Vorrang des Rechten vor dem Guten. Fragen nach einem »guten Leben« werden so aber allzu leicht als rein private Angelegenheiten angesehen und jeglicher öffentlichen Diskussion entzogen (vgl. auch Jaeggi 2014[1987]). Mit Carol Gilligan (1988) lässt sich hier auch eine einseitige Rechte-Ethik erkennen, die auf traditionellen entwicklungspsychologischen Vorstellungen, wie etwa dem Kohlbergschen Stufenmodel der Moralentwicklung beruht, auf welches sich Habermas auch explizit bezieht. Die höchste Stufe der Moralentwicklung drückt sich demnach in der Sorge aus, die Menschen könnten sich in ihren unveräußerlichen Grundrechten beschneiden. Reife wird dabei mit der Fähigkeit zu intellektueller Reflexion über diese Rechte gleichgesetzt. Tatsächlich sehen sowohl Apel als auch Habermas in Diskursen eine Rationalisierung des jeweils zur Debatte stehenden Sachverhalts für unabdingbar an. Hierzu ist eine rationale Selbsttranszendierung im Gespräch notwendig, also der Versuch über den eigenen Standpunkt hinauszutreten, um in ernsthafter Kommunikation gemeinsam mit dem Gegenüber eine Vorstellung von einer gangbaren Zukunft zu entwickeln. »Die spezifisch moralische Fragestellung löst sich vom ego- (bzw. ethno-)zentrischen Bezugspunkt je meines (oder unseres) Lebenskontextes und verlangt eine Beurteilung interpersoneller Konflikte unter dem Gesichtspunkt, was alle gemeinsam wollen könnten.« (Habermas 1992: 124) Die Verantwortung liegt damit beim Individuum, welches auch fähig sein muss, diese Rationalität in Gesprächen zu leisten. Es liegt demnach am Einzelnen, sich selbst zu einem derart zu rationaler Konsensfindung befähigten Subjekt heranzubilden. An diesem Punkt wird die Diskurstheorie, die sich in weiten Teilen an den Realitäten und der Intersubjektivität des Diskursverhaltens abarbeitet, dann doch letztlich rationalistisch und individualistisch. Rationales Denken erscheint als unumstößliches Ideal, dem alleine nur eine regulative Rolle zukommen kann. Das gilt im Übrigen auch für Jonas. Allein vernunftgeleiteten Entscheidungen wird zugetraut, die Aussichten für die Zukunft zu verbessern. Dass die Moralfähigkeit eines Menschen allein von dessen intellektueller Erkenntnisfähigkeit abhängig ist, hat aber Gilligan (1988) prominent in Frage gestellt (vgl. auch Banzhaf 2002: 80ff.; Lotter 345). Verantwortung konstituiert sich demnach weniger durch abstrakte Überlegungen über allgemeine Rechte und Pflichten, als vielmehr durch Rücksicht, Mitgefühl und Empathie sowie der Fähigkeit Beziehungen und Situationen intuitiv einschätzen zu können. Verantwortung eta-
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bliert sich demnach als Fürsorge, als kontextbezogene Art des moralischen Urteilens. Dies erfordert Empathie und kommunikative Fähigkeiten, um in konkreten Situationen divergierende, teilweise unvereinbare Meinungen, die alle gehört und respektiert werden wollen, unter einen Hut bringen zu können. Diese Ethik einer Verantwortung für soziale Konstellationen bedarf einer verstärkten Konzentration auf Beziehungen, als sich langfristig etablierende Verantwortungsverhältnisse. So unvereinbar diese Positionen einer praktischen, emotionalen Fürsorgeethik und die einer rationalen Rechteethik auf den ersten Blick auch erscheinen mögen, komplettiert sich das Bild, wie auch Gilligan betont, erst, wenn man beide Erfahrungen miteinander verbindet. Mit dem Primat der Rationalität in traditionellen Vorstellungen von Verantwortung und der Identifizierung der darin enthaltenen Lehrstelle eines kontext- und situationsbezogenen Urteilens, wurden schon erste Inspirationen für eine Kritik als Mediation genannt. Es fehlen aber noch einige zentrale Aspekte des Verantwortungsbegriffes, die helfen können, die Notwendigkeit von Vermittlung noch besser zu bestimmen.
Was noch? Sozialität, Geschichtlichkeit und Performativität Nicht alles Handeln wird als »verantwortungsvoll« oder »verantwortungslos« markiert und so auch tatsächlich einer Bewertung unterzogen. Verschiedene Autorinnen und Autoren weisen darauf hin, dass der Anspruch der Verantwortlichkeit in der Regel von außen an das Individuum herangetragen wird (u.a. Picht 1969; NidaRümelin 2011; Buddeberg 2011). Verantwortung begründet sich prospektiv in sozialen Rollen, in Anforderungsprofilen oder Anspruchshaltungen, und retrospektiv in vorausgegangenen Taten, die sich, einmal in die Welt geraten, nicht wieder löschen lassen. »Die Verantwortung ist also keine Sache des moralischen Bewusstseins, sondern sie ist in der Struktur der Geschehnisse vorgezeichnet.« (Picht 1969: 325) Hieraus lassen sich nun verschiedenste Schlüsse ziehen. Georg Picht (1969) mahnt die Verantwortung des Einzelnen in und für die Geschichte an. In systemischer Perspektive weist Banzhaf (2002: 185) Verantwortung gar als anthropologische Kernkategorie aus; »Verantwortung erweist sich so als tragendes Netzwerk menschlicher Praxis«. Ebenfalls außerhalb des Individuums, in der »alltäglichen Praxis der Begründungsspiele« (Nida-Rümelin 2011: 12) oder im Diskurs (Buddeberg 2011), lässt sich Verantwortung auch in sozialen Kommunikationsprozessen verorten. »Verantwortung« gründet auf dem Wortstamm »antworten« (Banzhaf 2002; Nida-Rümelin 2011). »Verantwortlich sein« bedeutet demnach soviel wie »eine Antwort schuldig sein« und »sich verantworten« soviel wie »jemandem Antwort geben«. Verantwortliches Handeln muss sich demnach durch explizierbare Gründe rechtfertigen lassen. Zwar liegt die Bewertung nun außerhalb des Individuums in
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der sprachlichen Konstitution des Gesellschaftlichen (Buddenberg) oder in einer »strukturellen Rationalität« (Nida-Rümelin), doch bleibt in diesen Auffassungen Deliberation im Sinne rationaler Verständlichkeit und Explikation die Basis von Verantwortung. Was aber geschieht mit denen, die eine Antwort schuldig bleiben? Sie verletzten das Prinzip Verantwortung und können somit auch nicht auf das Wohlwollen Anderer zählen. Zurecht müssen sie Opposition erwarten. So bildet Verantwortung das Zentrum von Kritik. Verantwortung ist sowohl das, was wir erfüllen wollen, um unserem Dasein einen Sinn zu geben, als auch das, was wir vermissen, wenn wir die Verhaltensweisen anderer kritisieren. Die Begründungsspiele sind dabei aber keinesfalls ausschließlich rational und eindeutig festgelegt. Die Ansprüche, die mit sozialen Aufgaben oder Rollen verbunden sind, sind oftmals äußerst vage und trotzdem bemisst sich Verantwortung am Grad der Erfüllung dieser Ansprüche. Dabei gilt gar, je verantwortungsvoller eine Tätigkeit, desto unbestimmter die Ansprüche. »Verantwortungsvolle Aufgaben sind dem Allgemeinverständnis nach solche, bei denen eine bloße Pflichterfüllung nicht genügt. […] ›Verantwortungsvolle Aufgaben‹ sind Aufgaben, deren Lösung typischerweise nicht im Voraus feststeht, sondern ein charakteristisches Moment der Eigenständigkeit, einen Handlungsspielraum auf Seiten des Verantwortungsträgers voraussetzt, den er durch spezifische Qualitäten seiner eigenen Person ›ausfüllen‹ muss.« (Kaufmann 1995: 82 mit Bezug auf Picht 1969) In der Gesamtheit ihrer prospektiven und retrospektiven Dimensionen ist Verantwortung also im Prinzip unendlich. Sie ist geschichtlich, performativ und sozial. Sie projiziert sich aus der sozialen Struktur heraus derart auf das Individuum, dass eine Person, die Verantwortung trägt, sich nicht alleine auf verbürgtes Wissen und formale Regeln verlassen kann. Sie muss sich bei der Ausführung ihrer Aufgabe auch an diejenigen, mit denen sie zusammenarbeitet, anpassen. Sie muss die gesamte Tragweite ihres Verantwortungsbereiches auch im Hinblick auf das Tun Anderer zu erfassen versuchen. Hierin zeigt sich das Paradox der Verantwortung. Verantwortung erwartet Kontrolle, erstreckt sich aber in eine unbekannte Zukunft, in ein Netz komplexer Zusammenhänge, in dem der sprichwörtliche Flügelschlag eines Schmetterlings die Welt verändern kann. Verantwortung muss viele, teils widerstreitende Ansprüche erfüllen. Verantwortung zu übernehmen bedeutet demnach, diese Unbestimmtheit und Unsicherheiten zu akzeptieren und trotzdem handlungsfähig zu sein. Oder anders herum formuliert, wer nicht in Betracht zieht, seine Handlungen könnten auch unbeabsichtigte schädliche Folgen zeitigen, der kann letztlich gar nicht verantwortlich handeln. Verantwortung bedeutet also die ganzheitliche Affirmation der Unsicherheit des sozialen Zusammenhangs, in den man sich als Person gestellt sieht. Man muss die mit der eigenen sozialen
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Position verbundenen Unwägbarkeiten bejahen, also auch all das, was sich möglicherweise unverschuldet durch das Zutun anderer Menschen ergeben könnte. Nur so kann man auch die eigene Wirkung auf andere Personen als etwas begreifen, für das man – in eingeschränktem Maße – verantwortlich ist2 .
Befähigung zu Verantwortung Das Paradox der Verantwortung ist, dass man sie annehmen muss, obwohl man insgeheim weiß, dass man ihr niemals gerecht werden kann. Das Wissen darüber, dass man, egal was man tut, immer kritisiert werden wird, darf aber nicht dazu führen, dass man gar nicht erst versucht, den gesellschaftlichen Ansprüchen gerecht zu werden, denn gerade das wäre unverantwortlich. Wie aber bleibt man handlungsfähig, wenn doch bei jeder Handlung eigentlich erst einmal unendlich viele Aspekte zu bedenken wären? Verantwortung gipfelt in der Mahnung an sich selbst umsichtig, aufgeschlossen und vorsichtig zu sein, wobei man gleichzeitig mutig voranschreiten muss. Eine derartige Haltung ist aber keine Frage von Rationalität, sondern kann sich nur aus persönlichen sozialen Eigenschaften speisen. Sie ist damit eine Frage der Persönlichkeit eines Menschen. Verantwortung wird durch Persönlichkeitsmerkmale, wie beispielsweise Offenheit, Kooperationsbereitschaft oder Affektkontrolle gestützt. Wer Verantwortung trägt, erkennt auch den Spielraum innerhalb dessen die eigene Persönlichkeit wirksam wird, erkennt, wie das eigene Selbst der sozialen Position, die man bekleidet, ein eigenes Gesicht gibt. Es bedarf einer Kenntnis der eigenen persönlichen Art und Weise die Dinge zu tun und der Wirkung, die das auf Andere hat. Diese zur Verantwortungsübernahme notwendige Selbsttranszendenz wird aber nicht durch Selbstrationalisierung alleine geleistet, sondern durch Aktivierung aller Kompetenzen, die man als biopsychosoziales Wesen besitzt. Diese Dimension deutet Nida-Rümelin (2011) an, wenn er nicht nur Handlungen, sondern auch persönliche Haltungen und Einstellungen der Verantwortung zurechnet. So benennt er explizit den Sitz der Verantwortung in der Persönlichkeit eines Menschen, führt das aber zu allgemein auf Deliberation im Sinne einer rationalen Verhandlung von Gründen zurück. Ebenso ist sich Banzhaf (2002: 185) bewusst, dass das Netz der Verantwortung, so wie er es sich vorstellt, nicht automatisch trägt, denn es bedarf – und an dem Punkt schließt er leider seine Betrachtung – der »Ausbildung einer verantwortlichen Grundhaltung«. Die Suche
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Aktuell werden diese Fragen zum Beispiel im Fall der Ermordung von Walter Lübke und den zunehmenden Bedrohungen von Kommunalpolitikerinnen und -politikern und der Hasskriminalität im Internet gestellt. Diese Ereignisse werden im Hinblick auf die Mitverantwortung diskutiert, die populistische Politikerinnen und Politiker tragen, wenn sie in ihren Reden entsprechende Botschaften verbreiten.
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nach Verantwortung führt demnach zu Fragen der Persönlichkeit und der Persönlichkeitsentwicklung. Die Herausbildung einer Persönlichkeit wird in der Persönlichkeitspsychologie als ein transaktionaler Prozess verstanden (Asendorpf 2014; Rauthmann 2017). Demnach geht man von Wechselwirkungen zwischen Umwelt und Individuum aus, innerhalb derer biopsychische Prozesse von sozialen Faktoren ebenso beeinflusst werden wie andersherum. Wir haben es demnach mit komplexen Wechselwirkungen verschiedener Einflussfaktoren zu tun, die keineswegs nach einem festgelegten Muster ablaufen und nicht immer reibungslos vonstattengehen. So wendet sich die Psychopathologie auch den Grenzen gelingender Persönlichkeitsentwicklung zu, den Grenzsäumen, außerhalb derer Menschen nicht mehr zu sozialem Verhalten fähig sind. Psychisch Kranke haben aber im Falle rechtlicher Vergehen nicht etwa strengere Strafen zu erwarten, vielmehr wird von einer reduzierten Verantwortlichkeit ausgegangen. Innerhalb der Grenzen sozial akzeptablen Verhaltens aber öffnet sich eine unermessliche Weite innerhalb derer sich verantwortungsfähige Persönlichkeiten individuell ausbilden. Personalität bedeutet demnach immer Individualität in einer Gemeinschaft und damit auch, dass Gemeinschaften zwingend durch Diversität und Multiplizität charakterisiert sind. Persönlichkeitsentwicklung vollzieht sich innerhalb sozialer Beziehungen und unter Beteiligung kognitiver individueller Leistungen. Individuen bilden ihren persönlichen Willen zur Verantwortung in einer Dialektik des Selbst aus, also in einer erlebten Spannung zwischen Anpassung an die gesellschaftlichen Verhältnisse und Selbstbehauptung innerhalb dieser gesellschaftlichen Verhältnisse. Diese Dialektik des Selbst ist ein der menschlichen Erfahrung innewohnender Zwiespalt des alltäglichen Widerstreits zwischen dem Bemühen, einen Platz in der Gemeinschaft zu finden und dem Erleben, dabei immer wieder mit der Gemeinschaft in Konflikt zu geraten. In diesem Zwiespalt ist das Erleben ebenso wichtig wie die Rationalität. Begründungs- und Rechtfertigungsszenarien sind nicht rein rational, sondern sie werden auch emotional erlebt und können nur dann zu gemeinschaftsbildenden Erlebnissen werden, wenn nicht diejenigen im Nachteil sind, die über weniger Argumentationsstärke verfügen oder auf Grundlage weniger leicht nachvollziehbarer Begründungszusammenhänge argumentieren. Dies ist der blinde Fleck der Diskursethik und die Aufgabe einer Kritik als Mediation.
Kritik als Mediation Möchte man sich also verantwortlich zeigen, dann bedarf dies der Aktivierung aller biopsychosozialer Fähigkeiten, die man als soziales Wesen besitzt. Damit erstreckt sich Verantwortung letztlich auf das, was als Persönlichkeit eines Menschen bezeichnet wird. Diese bildet sich aber nur in sozialen Prozessen aus. Eine aufrichti-
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ge und verständigungsorientierte Kommunikation muss erlernt werden, denn nur über die Erfahrung von gelingender Verständigung kann sich eine verständigungsorientierte Grundhaltung ausbilden. Verantwortlich kann nur handeln, wer sich in einer Gemeinschaft stehend erkennt. Dies ist aber weniger die Frage intellektueller Erkenntnis als vielmehr das physische und emotionale Erleben des Miteinanders in dieser Gemeinschaft. So entwickeln Individuen einen persönlichen Willen zur Verantwortung, entsprechend ihres Erfahrenwerdens in einer Gemeinschaft. Dabei entwickeln sie Werthaltungen, über die man aber nicht auf die gleiche Art und Weise sprechen kann, wie über Wahrheiten (Joas 1997). Werte lassen sich nicht durch bessere Argumente zwanglos wegdiskutieren. Werte sind weitgehend implizit und müssen in der Regel erst einmal expliziert werden, um als Grundlage bestimmter Meinungen erkannt zu werden. Im Gespräch müssen sie respektiert und auf ihre Integrationsfähigkeit anderen Haltungen gegenüber befragt werden. Das können die Beteiligten wegen ihrer persönlich-emotionalen Involviertheit meist nicht ohne Hilfe leisten. Debatten über Werte benötigen demnach Mediation. Kritik als Mediation erwartet also nicht, dass sich alle Menschen einer Ethik gleichberechtigter rationaler Kommunikation unterstellen, wie das in der Diskursethik der Idealfall wäre. Es ist ausreichend, wenn sich eine Kritikerin oder ein Kritiker der Vermittlung verschreibt und versucht in sozialen Kontexten performativ auf eine Verbesserung der Erfahrung der gesellschaftlichen Kommunikation hinzuarbeiten. Mediation muss sich weniger theoretisch als vielmehr in der Praxis beweisen. Sie bemüht sich gemeinschaftsbildende soziale Ereignisse zu erzeugen, etwa gegenseitiges Verständnis, Anerkennung, produktiven Disput oder gar Versöhnung. Kritik als Mediation sollte auf die Effekte vertrauen, die zu erzeugen sie fähig ist. Die gesellschaftspolitische Implikation einer Kritik als Mediation habe ich an anderer Stelle ausgeführt (Geiselhart 2020). An dieser Stelle ist nur Platz für eine sehr knappe Darstellung. Für Vermittlung ist kein »objektiver« Standpunkt notwendig, sondern lediglich ein »unparteiischer«. Es ist kein »holistisches«, kein »wahres« Verständnis notwendig. Gegenüber der oft geforderten generellen Reflexion über die eigene Positionalität, die kaum zu leisten ist, ist lediglich ein gleichberechtigt gutes Verständnis der widerstreitenden Perspektiven, sowie ein Verständnis der Beziehungen der Parteien zueinander notwendig. Ob Forschende dies erreicht haben, können sie relativ leicht kontrollieren, indem sie beurteilen, ob ihnen die Positionen aller Parteien gleichermaßen nachvollziehbar erscheinen. Ein Verständnis der Positionen bedeutet aber keineswegs, dass diese auch vollständig akzeptiert werden müssen. Forschende müssen auch ein Verständnis der Asymmetrien in der Konstellation der Beteiligten erlangen und für Verfahrensgerechtigkeit sorgen. Wenn möglich, sollten Benachteiligungen ausgeglichen werden, indem bspw. marginalisierte Positionen, die in der Regel schwerer verständlich sind,
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mehr Raum zur Erklärung oder Hilfe bei der Übersetzung in andere Verstehenshorizonte bekommen. Dabei kann sich Kritik als Mediation im Wesentlichen auf zwei Wirkungsfelder einlassen, die auch gleichzeitig verdeutlichen, warum Kritik als Mediation eine geographische Kritik ist. Beide Wirkungsfelder lassen sich als Räume denken, denn sie erfordern die geographische Kompetenz komplexe theoretische, gesellschaftliche und politische Entwicklungen verschiedener Betrachtungsebenen lokalspezifisch zu regionalisieren. Dieses Raumverständnis geht davon aus, dass sich die Beteiligten einen beherbergenden Raum teilen, innerhalb dessen sie sich in ihren Positionen gegenseitig hervorbringen. Kritik als Mediation versteht sich im Sinne eines kritischen Personalismus: »Personalismus« in Anerkennung der Tatsache, dass jede und jeder einen Platz im sozialen Gewebe eines lokalisierbaren gemeinschaftlichen Zusammenhanges einnimmt. »Kritisch«, weil es notwendig ist, zu sehen, dass es in allen sich lokalisierenden Gemeinschaften Kräfte gibt, die darauf hinarbeiten, in dieses Gewebe Asymmetrien entweder hineinzuweben oder bestehende Muster zu verstärken, sodass Gemeinschaft auch zu Macht und Mitgliedschaft zur Bürde werden kann. Das erste Wirkungsfeld sind demnach lange bestehende gesellschaftliche Dissenslinien, die auf theoretisch analytischer Ebene untersucht werden können. In der Betrachtung lokalspezifischer Entstehungsgeschichten gesellschaftlicher Lager wird deren gegenseitige Hervorbringung im komplexen Zusammenspiel mit vielfältigen überregionalen und zeithistorischen Einflüssen deutlich. Damit werden auch die Sichtweisen der Parteien auf die jeweils anderen erkennbar, z.B. zwischen traditionellen Heilerinnen bzw. Heilern und modernen Ärztinnen und Ärzten (Geiselhart 2018). So lassen sich theoretische Konzepte erarbeiten, die ein gegenseitiges Verständnis und Annäherung begünstigen können. Diese Perspektive ist mehrfach kritisch, denn sie unterzieht nicht nur eine Position einer Reflexion. Kritik als Mediation agiert so in einem historisch theoretischen Raum. Das zweite Wirkungsfeld sind Räume politischer und administrativer Steuerung, in denen eine Vielzahl an Berufen professionell politisch Einfluss nehmen. Unter anderen sind es die Bediensteten der betrieblichen oder öffentlichen Verwaltungen, die soziale und/oder ökologische Entwicklungen tragen, voranbringen oder auch blockieren. Entwicklungen werden von Einzelpersonen umgesetzt, die sich auf ihren gesellschaftlichen Positionen, zwischen Politik und Bürgerschaft, jeweils mehr oder weniger gemeinwohlorientiert engagieren. Verwaltungen beherbergen heute ein eigenes kritisches Potential. Dieses wird in jüngster Zeit zunehmend dadurch verstärkt, dass in vielen Betrieben resortübergreifende Arbeitsfelder eingerichtet werden, die nicht im eigentlichen Hauptinteresse des Betriebes liegen (z.B. für Gleichstellung, Partizipation oder Gesundheitsförderung). Diese Stellen werden von ganz unterschiedlich motivierten Persönlichkeiten bekleidet. Eine kritische Geographie muss sich zu derart heterogenen Verwaltungen anders verhalten
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als zu durchbürokratisierten Machtapparaten, oder den Verwaltungen der Nachkriegszeit, in denen viele Funktionäre des NS-Regimes wieder Anstellungen gefunden hatten.
Fazit Kritik als Mediation versteht sich nicht als Opposition gegen die gesellschaftlichen Verhältnisse, gegen spezifische Theorieschulen oder bestimmte Partikularinteressen, sondern nimmt die Vielschichtigkeit des Einzelfalls in den Blick. Sie schlägt kontextspezifische Konzepte zum gegenseitigen Verständnis vor oder arbeitet verantwortungsvoll an lokalspezifischen Lösungen mit. Oppositionelle Kritik hingegen erzeugt Empörung. Dadurch konstituiert sie ihre Gegner in gleichem Maße, wie sie diese bekämpft. Sie stärkt Dissens und Feindschaft und polarisiert die öffentliche Kommunikation. Kritik als Mediation baut hingegen auf die Erzeugung gemeinschaftsbildender Erlebnisse des Lernens und der Verständigung, um dadurch langfristig eine Veränderung der gesellschaftlichen Kommunikation zu erreichen. Dies ist auch das Anliegen der Diskursethik, darf aber, wie gezeigt wurde, nicht zu rationalistisch verstanden werden. Voraussetzung von Vergemeinschaftung ist nicht die »transzendentale Notwendigkeit des Logos« (Apel 1990[1975-88]: 48), sondern das biopsychosoziale Miteinander lokaler Gemeinschaften, innerhalb dessen sich Kooperation als Bedürfnis vollzieht und erlebt wird. Es wurde gezeigt, dass nur Verantwortung übernehmen kann, wer auch zur Selbsttranszendenz fähig ist. Man muss sich selbst in einem größeren Kontext erleben können, um trotz der generellen Unsicherheiten und Zukunftsoffenheit des Lebens einen verantwortungsvollen Lebensstil aktiv zu leben. Derartige Selbsttranszendenz geschieht aber nicht rein durch rationale Reflexion, sondern ist ein lebenslanger Prozess der Persönlichkeitsentwicklung. Dabei wird nicht nur Wissen erworben, sondern es bilden sich auch zentrale praktische, soziale und intellektuelle Fähigkeiten aus. Darüber hinaus entwickeln sich Fähigkeiten der Emotionsregulierung, habituelle Reaktionsweisen und Werthaltungen. Für wen oder was sich eine Person schließlich verantwortlich fühlt, in welchem Umfang sie bereit ist, Aufgaben zu übernehmen und welches Bestreben zur Macht sie entwickelt, bildet sich in systemisch-transaktionalen Prozessen heraus. Als biopsychosoziales Wesen entwickelt der Mensch eine individuelle Persönlichkeit durch ein Zusammenspiel seiner individuellen biopsychischen Voraussetzungen, der sozialen Umwelt und eigenen kognitiven Leistungen. Die Herausbildung eines persönlichen Willens zur Verantwortung ist also keineswegs individualistisch zu verstehen, sondern immer im sozialen Kontext zu denken. Daraus folgt, dass die Art und Weise, wie öffentliche Diskurse geführt werden, einen Einfluss auf das Debattenverhalten der Menschen, ihre Verantwortungsfähigkeit sowie ihre soziale Orientierung
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hat. Kritik als Mediation ist der Aufruf an die kritische Wissenschaft, Kritik zu einem positiv erlebbaren Prozess des Funktionierens von Verständigung und des gemeinsamen Lernens zu machen, um damit zur Entwicklung besserer, offenerer und gleichberechtigter Kommunikationsweisen beizutragen. Kritik als Mediation ist dabei zwingend kritisch. Anders als die oppositionelle Kritik, die sich in einer Gemeinschaft Gleichgesinnter verstehen kann, steht eine vermittelnde Kritik aber solitär, sprichwörtlich »zwischen den Stühlen«. Um der Verständigung willen müssen nicht nur eine Position, sondern mehrere Positionen maßvoll in die Schranken gewiesen werden. Verständigung hat ihre Aufgabe darin, die Asymmetrien in den Beziehungen zu nivellieren, aber auch die Beteiligten im Sinne zukunftsorientierter Verantwortung in eine nachhaltige Richtung zu lenken. Damit ist die Kritik nicht länger Agentin einer wie auch immer gearteten Wahrheit, Gegnerin einer Hegemonie oder Vertreterin eines spezifischen akademischen Diskurses, sondern Agentin der Vermittlung. Mediation aber kann nur unter Betrachtung der konkreten Bedingungen des Einzelfalls aktiv werden. Der Einzelfall wiederum ist zwingend lokal. Kritik als Mediation ist demnach eine zutiefst geographische Kritik und muss insofern über die soziologische Kritik hinausgehen, als das im Konkreten niemals reine Identitäts-, Gruppen- oder Klassenkategorien erscheinen, sondern immer individuelle Persönlichkeiten, die untereinander gewachsene Beziehungsverhältnisse etabliert haben. Kritik als Mediation geht im Sinne eines kritischen Personalismus von einem transaktional beherbergenden Raum aus, worin gesellschaftliche Parteien gemeinsam eine in wechselseitiger Sinnstiftung konstituierte Sphäre bewohnen. Eine Kritik als Mediation muss sich aber immer auch ihrer Grenzen bewusst bleiben. Dort, wo keine Bereitschaft zum ernsthaften offenen Gespräch besteht, wo keine Verständigung gewünscht wird, da wird auch keine Mediation gelingen. Kritik als Mediation ist also kein Versuch populistische Hardliner zu überzeugen, sondern sollte als ein Bemühen um die Aufgeschlossenen und die politisch noch Unentschlossenen verstanden werden. In diesem Sinne widersprechen sich Opposition und Mediation nicht, sondern können sich in einer kritischen Geographie als Beruf produktiv ergänzen.
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»Befreites Denken« und Ashbys Gesetz Über die Erweiterung des Raumes der Möglichkeiten Tilman Rhode-Jüchtern »Mit dem Wissen von heute würde man das Projekt nicht mehr bauen.« (Richard Lutz, DB-Vorstandsvorsitzender, im Verkehrsausschuss des Bundestags, 20.04.2018 über das Projekt »Stuttgart 21)
Im Folgenden geht es um das »Machen von Geographie« in Planungsprozessen und in der Domäne von Abwägung und Entscheidung durch Politik und Verwaltung. These ist, dass Planung heute nicht mehr durch Verfahren allein legitimiert ist; die Unterscheidung von formellem und materiellem Recht muss auf den Prüfstand. Beides muss in einer »Phase Null« explizit kommuniziert werden, die Denkpfade der Agierenden (Politik, Verwaltung, Bürgerinitiativen, Verbände) betreffend, die Problemdefinition(en) und alternative Lösungsoptionen betreffend, einschließlich einer »Ohne-Variante«. Wir müssen Prozessabläufe in unserem Land neu und grundsätzlich bestimmen, im Kleinen wie im Großen. Diesem Zusammenhang nähern wir uns im Folgenden in drei allgemeinen Erwägungen sowie einem operativen und einem fallbezogenen Schritt: 1. Krisen, Experten und vertraute Denkweisen; 2. Ashbys Gesetz: Respekt vor Komplexität und Kontingenz; 3. Unterkomplexe Routinen und „Befreites Denken“; 4. Zwei Werkzeuge zur Problemanalyse und Komplexitätsreduktion; 5. Ein kleiner Fall: Problem, Diskurs, Fazit.
1. Krisen, Experten und vertraute Denkweisen Zunächst soll die Rede sein von der Skepsis, dass die vielfältigen Krisen der wendezeitlichen Gegenwart noch vornehmlich von fachdisziplinierten Spezialistinnen und Spezialisten gelöst werden können; gar mit den Methoden, durch die ein Problem erst entstanden ist; oder von vermittelnden Expertinnen und Experten in Verwaltung und Publizistik, die das Fachwissen aufschließen, an die Laien-Politik weiterleiten
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und über Entscheidungen mitentscheiden. Das klingt beunruhigend, aber für die Sphäre von Politik und Business gilt zunächst einmal »ruhig Blut«. »Fast jeder Mensch beruft sich bei seinen Entscheidungen auf seine bisherigen Erfahrungen in allen möglichen Sinnen. Auf Erfahrungswerte zu setzen, gilt gemeinhin als vernünftig. Das logische Denken gibt uns dabei die Möglichkeit, die Dinge abzuwägen und einzuordnen. Wir fühlen uns am sichersten, wenn die Abläufe einem vertrauten Schema folgen. Daraus ergibt sich jedoch auch die Gefahr, den traditionellen Denkweisen nur noch stur zu gehorchen, ohne sie dabei zu hinterfragen.« (Metzler 2005: o.S.) Wir leben aber in der dauernden Herausforderung für neues Denken und neue Routinen, wenn sich tradierte Lösungen und Prozesse nicht mehr deduzieren lassen, wenn der Verweis auf »die Profis« nicht ausreicht und wenn das Hinterfragen der Denkweisen oftmals überreizt wird. Natürlich könnten die Spezialistinnen und Spezialisten, sowie Expertinnen und Experten weiterhin Bahnhöfe und Flughäfen und Digitalnetze bauen oder moderieren, und natürlich brauchen wir diese Sachkundigen auch weiterhin. Auch für den Abbau von Atomkraftwerken brauchen wir noch Jahrzehnte lang gut ausgebildete Spezial-Ingenieurinnen und -Ingenieure. Und natürlich sollen Laien gut beraten werden; Nachfragen, Abwägen und Entscheiden müssen sie aber selbst, sei es im Alltag, in den Parlamenten oder in der öffentlichen Meinungsbildung. Und sie sollten sich dabei in der Suche nach der vermeintlich einen Wahrheit nicht überfordern. Was wäre nun einzuwenden gegen traditionelle Denkweisen und vertraute Schemata? Es dürfte doch jeder Mensch daran interessiert sein, eine vernünftige, rationale und für ihn günstige und gangbare (viable) Entscheidung zu treffen. Allerdings ist es so einfach nicht, wenn man gleichzeitig und fast ständig von einer neuen Unübersichtlichkeit (Habermas 1985) verunsichert wird und eine kritische Öffentlichkeit sich zu allem und jedem äußert. Das ist seit den 1970er Jahren und dem Beginn einer Postmoderne eine gewohnte Situation und hat doch bis heute nicht zu einer dialektischen Rationalisierung führen können. »Alle geopolitischen wie rechtlichen Fragen von Neuem aufwerfen« Beispiele gäbe es stapelweise, vom Plastikmüll in den Ozeanen (vgl. Buranyi 2019) bis zum Schrott im Weltraum, mit allem dazwischen und durch alle Maßstabsstufen hindurch. Der auch für Geographinnen und Geographen höchst anregende französische Anthropologe Bruno Latour verortet alle gegenwärtigen krisenhaften Symptome im »Mahlstrom der Globalisierung«, also in einer planetarischen Krise: »Der Planet rebelliert. Der Boden unter unseren Füßen schwindet.« (Latour 2019: 40f) So hängt dann wieder alles mit allem zusammen, wenn man nach Lösungen für die Krisen unserer Lebensgrundlagen sucht, egal, ob sie wirtschaftliche oder ökologische Ursachen haben; nötig sei – auch – ein »Neues Klimaregime«, »weil
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sich alle Fragen, die mit der Freiheit, dem Eigentum, der Besetzung von Territorien anderer verbunden sind, kurz gesagt alle geopolitischen wie rechtlichen Fragen von Neuem aufwerfen« (ebd.). Aber: »Die Politik ist immer noch lokal und national, weshalb es uns so schwerfällt, mit globalen Wirtschafts- und Umweltproblemen zurande zu kommen.« (Lilla 2019: 41) Jeder Fall ist also zugleich ein Exempel, auch für ein Kontinuum der räumlichen Maßstäbe bei differenten Symptomen. Auch diesseits von jeglichem Alarmismus ist die räumliche Umwelt, hier insbesondere auf der Maßstabsebene »Stadt« zu beschreiben in einer überwältigenden Komplexität. Den einen roten Faden der Raum- und Stadtentwicklung gibt es nicht, das eine richtige Leitbild lässt sich also aus einem solchen – nicht vorhandenen – Leitfaden nicht ableiten. »Die Stadt: Das Laboratorium der Moderne«
»Die Stadt, wie wir sie kennen, stellt eine Ansammlung von Räumen dar, in denen Geschichte und Geschichten eingelagert sind: offensichtliche und verborgene, vertraute und mit Spannung zu entdeckende. […] Sie besteht aus vielschichtigen Assoziationen, aus Erinnerungen, Ideen und Tragödien, aus Widersprüchen ebenso wie aus ungeheuren Energien. Sie ist das Laboratorium der Moderne, in dem die Themen unserer Zeit greifbar werden: Individuelle Selbstverwirklichung und soziale wie kulturelle Polarisierung, die großen digitalen Umwälzungen, Krise und Potential des öffentlichen Raums, Beschleunigung und die Logik des Investmentkapitals, aber auch ein mancherorts wachsendes Unsicherheitsgefühl.« (Kaltenbrunner/Jakubowski 2018: Umschlag, 12) Beispiel Stuttgart 21 – »Am Ende entscheidet nicht die Wahrheit, sondern die Mehrheit« Nehmen wir stellvertretend den Kampf um »Stuttgart 21«, der reicht von der Domäne der europäischen Verkehrspolitik bis zur Domäne der kommunalen Grundstückspolitik, von der Domäne der Geologie bis zur Domäne individueller Eitelkeiten. Dabei geht es zunächst nicht um einzelne klärbare Sachfragen, sondern um das »Zurandekommen«, also einen Modus der Abklärung von Grundsatzfragen. Abzuklären wären, nach der Klärung des generellen Bedarfs für eine sichere Maßnahme, die Fragen der Machbarkeit, etwa das Kosten-Nutzen-Verhältnis. Die Machbarkeitsstudie hatte 1995 mit 2,5 Mrd € kalkuliert, über 8,2 Mrd € im Jahre 2017 bis zu vom Bundesrechnungshof 2018 geschätzten 10 Mrd €. Wir erinnern uns an die Heiner-Geißlerschen-Schlichtungsgespräche (2010) bis zur aktuellen Erkenntnis des Bahnvorstands 2018: »Mit dem Wissen von heute würde man das Projekt nicht mehr bauen.«1 In diesem einen Satz und dem impliziten
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»wenn« und »hätten« stecken unermesslich viele Sachaspekte, die zwischen den Projektbefürwortern und den Projektgegnern bis heute nicht abgeklärt werden konnten. Gleichzeitig wurde das Projekt von der Bundeskanzlerin als Maßstab für die Zukunftsfähigkeit Deutschlands erklärt; Stuttgart 21 müsse kommen, »sonst sei Deutschland unregierbar« und »Europa in Gefahr« (Supp 2010: 42). Wenn dieses Großprojekt nicht komme, »dann könne man keines mehr bauen« (Supp 2010: 43). Aber: »Jedes Großbauprojekt beginnt mit einer großen Lüge.« (Rothengatter 2016: o.S.). Und: »Am Ende entscheidet nicht die Wahrheit, sondern die Mehrheit.«2 (siehe auch Supp 2010 sowie https://wikipedia.org/wiki/Stuttgart_21 und wikireal.org/wiki/Stuttgart_21/Zitate #2018) Damit sind die Philosophie und politische Theorie gefragt: »Wahrheit« oder Mehrheit? Und damit ist der »hätte«-Konjunktiv wichtiger Operator im Diskurs geworden. Das ist für das Ausmalen von Szenarien richtig, nicht aber für den fachlichen Diskurs, und nicht für die schließliche Entscheidung und die Verantwortlichkeit der Agierenden. Und es verweist auf das Dilemma der Stimm-Demokratie: »one man one vote« ist hier der Legitimationsmaßstab. Aus einer bloßen Unübersichtlichkeit entsteht ein Durcheinander und ein Kontrollverlust. Das kann nicht so einfach geduldet oder ignoriert werden. Also wird von manchen Akteuren die machtvolle Durchsetzung einer Planung als Ausweg verfochten. Oder aber aus der ratlosen Frage »Ist Planung noch möglich?« wird die Forderung nach »mehr Qualität der gebauten Lebenswelt durch bessere Planung« angemeldet: Planungskultur und Prozessqualität – »Innovative Wege der Planung und Beteiligung gehen!« (vgl. Bundesstiftung Baukultur 2016: 3). Die Routinen der formellen Planung und einer vermeintlichen Bürgerinnen- und Bürgerbeteiligung sind bekannt, informelle Instrumente der Partizipation sollten gesucht und gefunden werden. Referenzpunkte dafür sollen externes Expertenwissen, lokale Erfahrung und vertrauensvolle Zusammenarbeit sein. Eine neue »Phase Null«
»Der Mehrwert von Baukultur zur Sicherung und Stärkung von lokaler bzw. regionaler Identität wird zunehmend erkannt. […] Ein offener Prozess und eine kluge und strukturierte ›Phase Null‹ integrieren externes Expertenwissen und lokale Erfahrung. Sie reduzieren potenzielle Hemmnisse, schaffen Basis für eine vertrauensvolle Zusammenarbeit aller Akteure und führen zu besseren Lösungen bei meist auch finanziell geringerem Aufwand.« (vgl. Bundesstiftung Baukultur 2016: 3)
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Ministerpräsident Winfried Kretschmann, 05.12.2011
»Befreites Denken« und Ashbys Gesetz
Aber es geht nicht nur um eine lösbare Krise der Bau- und Planungskultur, der man traditionell mit top-down-Instrumenten wie »Bürgerinformation« oder »Bürgerdialog« beikommen möchte. Es ist etwas Neues hinzugekommen, das technikund gesellschaftsgeschichtlich irgendwo zwischen 1.0 und 4.0 liegt, irgendwo zwischen dem Menschen nach der ersten industriellen Revolution (1.0) und dem homo deus im Kontext einer sog. künstlichen Intelligenz (4.0) (vgl. Harari 2013, 2017). Die gegenwärtigen Debatten um diverse »Wenden« (Klima, Energie, Verkehr, Globalität, Wohnen, Werte etc.) verlaufen eher entlarvend und verzehren die Energien der Agierenden, ohne materiell etwas zu leisten. Wie kommt man in einer derart fragmentierten »Kultur« zu gemeinsamen Definitionen (noch nicht Lösungen) von Problemen? Was wäre denn heute rational und vernünftig? Es soll deshalb hier die Rede sein von einem etwas anderen Intelligenzbegriff, mit dem man versuchen kann, ein System mit neuen Lösungen stabil zu halten bzw. zu machen: »Ashbys Gesetz«. Ashbys Gesetz stammt aus der Denkweise der frühen Kybernetik; diese ist als Steuerungskunst zunächst mal anschlussfähig an traditionelles Politik- und Geographiemachen. Es kommt dann darauf an: Wer steuert zu welchen Zielen und mit welchen Mitteln? Wird darüber per Macht oder im Diskurs entschieden? Darüber sollte in einer »Nullphase« vorab Verständigung gesucht werden, denn später im laufenden Prozess gleichzeitig in zwei Richtungen zu handeln, geht auf Dauer nicht gut. Am konkreten Fall wird dann im Folgenden gezeigt, dass es hierbei nicht nur um technisch optimiertes Steuern geht, sondern um die Befreiung von hinderlichen Routinen. Es geht in dem kleinen Exempel konkret um das Problem, dass ein Ab- und Regenwasserkanal nach hundert Jahren marode ist und die Sanierung in offener Bauweise auf der alten Trasse eine stadtbildprägende Platanenallee zerstören würde. Die Position der Gutachter war, dass diese Trasse »verfügbar« sei. Der hier ausgewählte Fall, die Erzählung ist so klein, dass in seiner Maßstäblichkeit die Details und Agierenden noch sichtbar bleiben. Es soll geprüft werden, ob es ein Befreites Denken im Ashbyschen Sinne geben kann und ob man – anstelle der zivilisatorischen Errungenschaft eines reinen Verfahrens (vgl. Luhmann 1969) – ein Projekt dadurch legitimieren kann.
2. Ashbys Gesetz: Respekt vor Komplexität und Kontingenz »Ashbys Gesetz«3 lautet: »Je mehr verschiedene (!) Möglichkeiten ein System hat, um zu steuern und regulieren, desto mehr Störungen wird es ausgleichen bzw. 3
nach W.Ross Ashby, 1903-1972, Psychiater und Kognitionsforscher: Gesetz von der erforderlichen Varietät/Law of RequisiteVariety. 1965 (Vgl. die Diskussion des Begriffs/»Gesetzes«
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kompensieren können. Um dieses Gesetz zu verstehen, muss man unbedingt berücksichtigen, was in den Systemwissenschaften mit Komplexität gemeint ist: Mehr verschiedene Möglichkeiten, wie sich etwas oder jemand aufgrund seiner Fähigkeiten verhalten kann, als zähl-, mess- und errechenbar ist. Für das erfolgreiche Steuern und Regulieren braucht es also mindestens so viele verschiedene Fähigkeiten, wie verschiedene Verhaltensweisen, Zustände und Ereignisse in einem System (aufgrund vorhandener Fähigkeiten) auftreten können, die nach Steuerung und Regulierung verlangen.« (Pruckner 2016: o.S., auch Pruckner 2005 und 2014) Diese Fähigkeiten werden aber nur dann überhaupt nachgefragt, wenn man hier eine Notwendigkeit erkennt; das heißt: es hängt von der Problemdefinition ab, was nach Regulierung verlangt. Wenn man z.B. die Klimakrise als anthropogenes Problem leugnet, braucht man auch keine Einschränkung des CO2 -Ausstoßes zu fordern oder anzuordnen. Das nennt man die »Falle der Kontingenz«: Das Problem und die Lösung könnten auch ganz anders im Horizont der Möglichkeiten selektiert werden. Entscheiden ist eine Selektion des Handelnden
»Die Entscheidungsrelation wird demzufolge heute zumeist abstrakter definiert, etwa als Problemlösung […]. Wir sehen die Entscheidungsrelation in der Selektion selbst, das heißt in der Beziehung zwischen einer Mehrheit von Möglichkeiten und einer ausgewählten Alternative und wollen von Entscheidung immer dann sprechen, wenn die zugerechnete Selektivität des Handelns als Selektion thematisiert wird. Auch diese Thematisierung ist, im Unterschied zur wissenschaftlichen Analyse, eine Leistung des Handelnden selbst; auch sie wird ihm zugerechnet. Als Entscheidung verstehen wir also eine dem Handelnden zurechenbare relationale Thematisierung der Selektion seines Handelns.« (Luhmann 2009: 5) Das mögliche Durcheinander (das messing up und das muddling through), sollte nicht einfach als Desaster abgetan, sondern als Erfahrung aus einer Krise verstanden und als Ressource für seine Lösung konstruktiv genutzt werden. Aber man kann sich auf diesem Weg nicht sicher sein. Auch wenn die Luft heraus ist aus einem konkreten Fall, wenn er sich »versendet« hat, kann die Thematik doch insgesamt und im Großen weiterbefördert werden. Die mögliche Irrationalität einzelner Agierender und Programme kann paradoxerweise zum Agens neuer, womöglich fruchtbarer Dis-
im Internet, etwa www.projektpolizei.de/archives/5-vorsicht-bei-missachtung-von-ashbysgesetz.html)
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kurse werden4 . Das Fehlen von Patentrezepten kann der Beginn von einem neuen radikalen Realismus werden. »Brüchige Gegenwart, radikaler Realismus«
»Ich spreche von einer brüchigen Gegenwart, und damit meine ich, dass bestimmte Institutionen immer dysfunktionaler werden, ohne dass es Ideen für die Zukunft gibt. Ideen, wo wir hinwollen, wie es sie im 19. Jahrhundert und im Zeitalter der Ideologien im Überfluss gab, auf der Rechten und auf der Linken. Heute weiß keiner, wo es hingehen soll. Sympathisch sind mir Zugänge mit der Prämisse, dass wir neu verstehen müssen, dass wir keine Patentrezepte mehr haben. […] Und dann sollte man in seinen Reaktionen experimentell sein. […] Das wäre ja schon der Beginn von radikalem Realismus.« (Gumbrecht 2019: 26f)5 Bloße Einhaltung von Verfahren ist nicht mehr ausreichend für die Legitimation jeglicher Politik. Die »nächste Gesellschaft« wird in einer Gegenwart von Krisen gegründet, von Gefahr und Chance. Die Frage ist nun: Wer setzt das in Gang, wer moderiert den Diskurs oder wer klagt ihn ein? Auf jeden Fall braucht es Intelligenz, im definierten Sinne von W. Ross Ashby. Intelligenz ist hier kein wertender, sondern ein funktionaler, kybernetischer 4
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Z.B. »Danke Diesel« – Weltweit kommt jedes dritte Patent im Bereich Elektroantrieb und Hybridantrieb aus Deutschland. »Wenn ein Konzern wie Volkswagen sich dem klimaneutralen Auto verschreibt und es als machbar vorführen will, dann wird er vom Gegner zum Verbündeten der Klimaschützer. Dann könnte die berühmt-berüchtigte deutsche Autolobby von der Bundesregierung verlangen, bei der Wende zum grünen Vorzeigeland doch bitte mal richtig Gas zu geben.« (Uwe Jean Heuser/Claas Tatje 2019: 17f) Allerdings ist das noch nicht die ganze neue »Wahrheit«. (die könnte eher beim Wasserstoff liegen), weshalb es hier erst einmal mal nur um einen prinzipiellen Übergang von der Egologik zu einer Dialogik geht, also die Bereitschaft, im Gespräch vom »Ich« zum »Wir« zu kommen. Vgl. Radkau (2017: 430-439). »Ein vielstimmiges Finale: 10 Thesen. Das Thema ›Zukunft‹ scheint nach einem volltönenden Finale zu verlangen, schon gar in Verbindung mit dem Thema ›Umwelt‹. Aber je mehr man sich mit all den Zukünften herumschlägt, desto mehr ist man hin- und hergerissen. – 1. Nicht verleugnen: Die Offenheit großer Fragen. 2. Ein Gewinn der eingestandenen Unsicherheit der Zukunft: Offenheit für Diskussionen und Selbstüberprüfung. 3. Prämissen der Prognosen von Zeit zu Zeit überprüfen. 4. Nicht die gewünschte Zukunft mit wahrscheinlichen Zukunftsszenarien verwechseln. 5. Gegen den ProphetenGestus: Zum Handeln brauchen wir nicht die Einbildung totaler Zukunftssicherheit. 6. Auch beim Klimaschutz: Nach Strategien ›auf der sicheren Seite‹ suchen. 7. Verwurzelung der Zukunftsentwürfe im Hier und Jetzt. 8. Das Unerwartete erwarten: Realistische Langzeitszenarien sind mehr als die bloße Verlängerung bisheriger Trends. 9. Himmel- und HölleSzenarien sind keine echten Alternativen. und: Vorsicht mit Apokalypsen. 10. Andererseits: zumal in einer utopieresistenten Gesellschaft: Vorsicht mit dem ›Utopie‹- und dem ›Apokalypse‹-Vorwurf «
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Begriff. Intelligenz ist »die Fähigkeit zur angemessenen Selektion (›power of appropriate selection‹) der möglichen Lösung eines Problems«.6 Diese Definition verweist auf die pflichtgemäßen Fragen einer verantwortlichen Wissenschaft und Politik: Was ist überhaupt das Problem? Welche Selektion wird zur Beleuchtung des Problems vorgenommen? Aus welchem professionellen Fenster? Ist dies angemessen und kommunizierbar? – Die Antworten darauf sind schon deshalb schwierig, weil das Problem anfangs noch nicht strukturiert ist; weil man keine gesicherte Erfahrung damit hat, wie angemessene Selektion von nichtangemessener Selektion zu unterscheiden wäre; und am Ende: wie Lösungen von Nichtlösungen zu unterscheiden wären. Wäre es anders, wäre es ja kein Problem. (vgl. Baecker 2018:87; Pruckner 2016) Und es gilt: Probleme haben ihre Lösung nicht in sich (wie vielleicht eine Rechenaufgabe oder eine technische Fehlersuche); sie lösen sich vielmehr im Tun (sh. das Unamuno-Motto (1) oben). Das »Tun« muss nicht Versuch und Irrtum in der Werkstatt sein, es kann und muss auch – und zuvor – die Diskussion, die Verständigung sein. (vgl. Rhode-Jüchtern/Schneider 2012) Die sog. »Verkehrswende« zum Beispiel ist kein Begriff zu einer angewandten Klimakunde; Klima hat keinen Zweck und kein Ziel und ist als solches nicht im Sinne einer »Wende« regulierbar. Vielmehr ist dieses Problemfeld (hier: Verkehrskrise) durch und durch von Menschen gemacht, auch wenn der Begriff Klima aus einer anderen Domäne hier immer wieder bemüht wird. Entsprechend lauten die Fragen: Wo liegt das lösungsbedürftige Problem? Staus? Luftreinhaltung? Neue Produkte und Märkte? Rechtliche Regelungen? Haftungsfragen? Erzeugt die neue technische Lösung ein neues Problem? Liegt das neue Problem in der Festlegung auf eine einzige neue technische Lösung – warum elektrischer Strom aus Batterien 6
Ashby 1981: 295ff, zit.n. Baecker (2018: 87). – Der catch-all-Begriff »Intelligenz« hat noch viele andere Definitionen, z.B. die 8 Intelligenzkonzepte nach Howard Gardner (Theorie der multiplen Intelligenzen, 1991): die bildlich-räumliche Intelligenz, die körperlich-kinästhetische Intelligenz, die musikalische Intelligenz, die sprachlich-linguistische Intelligenz, die logisch-mathematische Intelligenz, die interpersonelle Intelligenz, die intrapersonelle Intelligenz, die naturalistische Intelligenz. Diese Konzepte sind allerdings ebenso umstritten wie die »Emotionale Intelligenz«; ihre Validität lasse sich bislang nicht empirisch nachweisen. https://t3n.de/news/welche-8-intelligenz-arten-645561/ sh. auch: Wissner-Gross, in: Brockman (2016), S. 337-338 sh. auch Pauen/Welzer 2015: »Demokratische Gesellschaften bauen (…) auf die Autonomiespielräume ihrer Mitglieder, ohne die sie nicht wandlungs- und modernisierungsfähig wären.«, S. 273f sh. auch Leggewie/Welzer 2009: »Pfadabhängigkeiten, Gruppen- und Wunschdenken schließen das Unerwartete systematisch aus«. Zentrale Konzepte: Empowerment – »meint die Selbstermächtigung von Menschen, ihren Interessen selbstbestimmt, auf eigene Initiative und Verantwortung hin zu folgen.« Und Resilienz – zielt darauf, wie Menschen Probleme meistern und Widerstände überwinden können.«, S. 196f sh. auch: Mutius (2004)
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und nicht Wasserstoff aus dem Tank? Oder ganz was anderes – in schlechten Gewohnheiten oder Siedlungsstrukturen oder ÖPNV oder in ökologisch nicht-wahren Preisen? – dann wäre die Verkehrswende selbst das Problem? Oder die Lösungspfade erzeugen neue Probleme (unbeabsichtigte Nebenfolgen) oder verweisen darauf?
3. Unterkomplexe Routinen und »Befreites Denken« Der Alltag ist abhängig von den Pfaden, auf denen man sich gewöhnlicher Weise an die Arbeit macht. Gesetze, Verordnungen, Erlasse, Industrienormen, Finanzierung, Routinen vor Ort in Büros, auf Baustellen, Organigramme, persönliche Beziehungen/Netzwerke, evtl. auch Korruption und Schlechtleistung sowie Berichte und Kommentare der Presse/Medienwirken zusammen im Repertoire alltäglicher Problembehandlung. Zur Pfadabhängigkeit gewohnten Denkens gehört auch, die Denkmuster logisch und rational, aber unterkomplex zu formatieren, z.B. voreilig von einer direkten Ursache-Wirkungs-Beziehung auszugehen (vgl. Hillis 2001; Alda 2016)7 , wo es sich womöglich nur um eine Koinzidenz handelt.8 Dies zu beleuchten, sich davon nötigenfalls mit Gründen zu distanzieren, ist die Aufgabe eines »Befreiten Denkens«. Das Ergebnis ist nicht nur Kritik, sondern es kann auch zu alternativen Lösungen führen – Lösungen, die zuvor nicht in den Fokus geraten sind bzw. wären. »Freiheit der Wahl und Verantwortung für die Entscheidungen« In den Worten eines der Väter der Kybernetik und des Konstruktivismus, Heinz von Förster (2001), ist dies eine Art Meta-Imperativ: »Handle stets so, dass die Anzahl der Wahlmöglichkeiten größer wird.« (Förster 2001) Das bedeutet zugleich: »Mit dieser Freiheit der Wahl haben wir die Verantwortung für jede unserer Entscheidungen übernommen.« (Förster 2001: 55) Die Verantwortung wird sichtbar in der Kommunikation über Sprache mit anderen Personen und Ansichten, in einem Tanz der Standpunkte, jenseits von (vermuteten) Zwängen in der Sachlogik: »Das Problem ist nicht die Wahrheit, das Problem ist Vertrauen. – Ich hatte verstanden: das Problem ist das Einander-Verstehen; das Problem liegt im Verstehen des Verstehens; das Problem besteht darin, Entscheidungen über prinzipiell unentscheidbare Fragen zu treffen.« (Förster 2001: 60) »Alles Gesagte, wird von einem Beobachter gesagt« (Maturana zit.n. Förster 2001: 67), es spricht nicht etwa eine Sache für sich und an sich. Und: »Alles Gesagte wird zu einem Beobachter gesagt.« Dies
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Fehlschluss: cum hoc ergo propter hoc Koinzidenz: ein zeitliches und/oder räumliches Zusammenfallen von Ereignissen oder Zusammentreffen von Objekten. (wikipedia.org/wiki/Koinzidenz)
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ist eine epistemologische Wende, nämlich der Abschied vom Prinzip der Objektivität. »Wenn die Eigenschaften des Beobachters, nämlich die Eigenschaften des Beobachtens und Beschreibens, ausgeschlossen werden, bleibt nichts mehr übrig, weder die Beobachtung noch die Beschreibung.«(Förster 2001: 44)9 Oder anders herum: »Sag mir, wie das Universum entstand, und ich sage Dir, wer Du bist.« (Förster 2001: 54)
4. Zwei Werkzeuge zur Problemanalyse und Komplexitätsreduktion Bevor wir ans Werk in der Sache gehen, hier: Die Sanierung eines Kanals und die Rettung einer Platanenallee, legen wir zwei Instrumente bereit: 1. das Komplexitätsmodell, in dem Sachaspekte gekreuzt werden mit den Perspektiven der Beobachtung (Abbildung 1). Und 2. den »Jenaer Würfel« von Antje Schneider (2011) zur Analyse eines Problems und seiner Verhandlung (Abbildung 2).
Abb. 1: Komplexität der Sache (Aspekte) und der Betrachtung (Perspektive/ point of view) (Rhode-Jüchtern 20132 : 111)
Im Komplexitätsmodell wird daran erinnert, dass eine Sache stets viele Aspekte hat (das Beobachtete) und dass diese von verschiedenen Perspektiven vielfältig 9
Vielleicht sollte man für Konstruktivismus-Skeptiker an dieser Stelle doch an die wissenschaftliche Herkunft und Praxis von Heinz von Förster erinnern: Professor für Schwachstromtechnik und Rechentechnik, für Biophysik und Physiologie, Gründer des Biologischen Computer-Laboratoriums/Kognitionsforschung an der Universität von Illinois u.v.m.
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wahrgenommen/nicht wahrgenommen werden (die Beobachtung). Die Frage lautet hier: Haben wir alles bedacht, was wir von einer Sache bisher wissen? Und wie und von wo könnte man es auch anders sehen? Der Jenaer Würfel weist erkenntnistheoretisch einen Weg, das Wesen einer Sache genauer zu bestimmen und dabei tiefer zu graben, als nur die Existenz zu markieren. Das Problem stellt sich je nach Drehung jeweils anders dar (als Kugel im 3D-Modell). Die Kontingenz einer Sache kann auch darin bestehen, dass sowohl das eine wie das andere »wahr« sein kann, je nach räumlichem und zeitlichem Maßstab, nach Beobachterin bzw. Beobachter und deren bzw. dessen Expertise und Interesse, dem Grad der Selbstreflexivität, der stattfindenden Kommunikation und – ganz wichtig – der bewussten und gewollten Nachsuche nach Blinden Flecken10 . Im Drehen des Würfels um diese sechs Dimensionen werden immer neue und andere Befunde sichtbar. Der Würfel sollte stets nach allen Seiten gedreht werden11 . Das alles bedenkend und erwägend, kommen wir nun zum Fall. Wo ist das Problem, wie wird darüber verhandelt, was ist das Ergebnis?
5. Ein kleiner Fall: Problem, Diskurs, Fazit Das Problem: Kanal nach 100 Jahren undicht – Perspektiven/Akteure und Aspekte Perspektive Akteur 1/Tiefbauamt: Kanal muss erneuert werden: Argument: Die Erneuerung des Kanals geht nur in offener Bauweise auf der alten Trasse. Die Wiese daneben ist belegt durch ein Regenrückhaltebecken. Der amtliche Akteur (Tiefbauamt) hat ein Interesse an einem glatten Ablauf. Er bewegt sich im bekannten Verwaltungs-Repertoire: Einwerbung von Zuschüssen, Herstellung der Genehmigungsunterlagen, Herstellung einer Beschlussvorlage für die Politik im Rat und bei der Aufsichtsbehörde.
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In der Metapher vom Blinden Fleck liegt eine besondere Delikatesse, nämlich ein Sehen mit dem »Mangel Zweiter Ordnung«: Das Phänomen ›Blinder Fleck‹ weist eigenartige Merkmale auf. »Das ist dadurch bedingt, dass wir unseren blinden Fleck nicht wahrnehmen, zum Beispiel indem wir in der Nähe des Zentrums unseres Blickfeldes einen schwarzen Punkt sähen: nein, wir können nicht sehen, dass wir einen blinden Fleck haben. Mit anderen Worten: wir sehen nicht, dass wir nicht sehen.« (von Förster 2001: 70) Diesem Mangel kann abgeholfen werden durch Kommunikation und Dialogik – insofern muss der ›Mangel‹ kein Mangel sein. Für didaktische Zwecke empfiehlt sich das chinesische Sprichwort: »Jedes Ding hat drei Seiten//eine, die ich sehe//, eine, die Du siehst//und eine, die wir beide nicht sehen.« Husserl (1986: 56): »Dreh mich doch nach allen Seiten!«
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Abb. 2: Jenaer Würfel (Antje Schneider): Analyse eines Problems und deren Dialogik: 1. Räumliche Maßstabsebenen 2. Zeitliche Reichweiten 3. Beobachter 4. Selbstreflexivität 5. Kommunikation 6. Blinde Flecken (Rhode-Jüchtern 2015: 605-627)
Perspektive Akteur 2/Gutachter: Der Gutachter behauptet, es sei »Gefahr im Verzuge« (»Ich sage nur: Köln!« – damit wird an den Einsturz einer U-Bahn-Baustelle und des anliegenden Stadtarchivs erinnert). Der Gutachter betrachtet als Alternativen eine offene Bauweise oder InlineVerfahren: bei diesem Verfahren werden halbflexible neue Rohre in die alten Rohre geschoben. Als entscheidendes Argument gegen Inline-Verfahren werden die Kosten und eine (etwas) geringere Kapazität angeführt. Für die Abwägung der Alternativen wird die offene Bauweise empfohlen; die vielen Kreuze in einer zahlenreichen Tabelle enthalten auch den Aspekt der Flächenverfügbarkeit (x-Kreuz in Tabelle: »Fläche verfügbar«); die Existenz der Baumallee oder deren Erhaltung sind kein Thema.
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Perspektive Akteur 3: Genehmigungsbehörde: Die Genehmigungsbehörde (Regierungspräsidium) benennt die alternativen Zeithorizonte (100 Jahre, 50 Jahre, 25 Jahre) und verlangt mindestens den Schutz vor einem 25-jährliches Hochwasser, also den strengsten Wert. Perspektive Akteur 4/Fachausschuss/Rat: Fachausschuss und Rat der Stadt wollen dem Gutachter folgen. Perspektive Akteur 5/Bürgerinnen und Bürger: Bürgerinnen und Bürger (Anliegerinnen und Anlieger, sowie Umweltinitiative) schlagen Alarm, Argument: die Platanenallee ist nicht thematisiert und nicht abgewogen, die Fläche ist eben nicht »verfügbar«, sondern Standort von 35 großen Stadtbäumen (Platanen). Das Interesse der Bürgerinnen und Bürger ist die Erhaltung der Platanen, weil sie als Grünzug stadtbildprägend und eine Frischluftschneise sind. Das Inline-Verfahren ist zwar etwas teurer, Kapazität ließe sich aber erhöhen durch einen Bypass oder ein Rückhaltebecken. Grundsätzliches Argument ist, dass die real existierenden Alternativen nicht einbezogen worden wären.
Diskurs-Analyse in Stichworten: • • • • •
Sofortige Verhärtung der Fronten: Kosten, Zeitdruck, Lebensdauer der Bäume, Abwägung aller Belange, Machtworte Kompromissvorschlag einiger Politikerinnen und Politiker: Inline-Verfahren, aber dafür neues Regenrückhaltebecken (sehr teuer, ebenfalls Flächenbedarf). Aktion Bürger: Unterschriften, Druck auf Politik und Verwaltung, Pressearbeit Aktion Politik: Kritik an Laienperspektive Schlüsselsätze: »Man muss ja nicht gleich auf den Krawallbaum steigen!« (OB, SPD) und »Ich glaube nur Gutachtern« (Vorsitzender Stadtentwicklungsausschuss, SPD)
Fazit: Der Ansatz eines »Befreiten Denkens« Vom Ende her denken: Operation geglückt, die Platanen-Allee wird weitgehend erhalten: Alternativen wurden durch die Intervention der Bürgerinnen und Bürger erkannt und im politischen Prozess implementiert. Argumente systemisch zulassen: »Befreites Denken« braucht einen Platz neben den Formaten, in denen lediglich bekannte Positionen von Mitgliedern der Politik und Fachkundigen in Stadthallen oder sog. »Bürger-Dialogen« nochmals aufeinanderprallen. Es geht hier nicht um
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Volksabstimmungen, Bürgerinnen- und Bürgerbegehren oder Runde Tische, sondern darum, Argumente überhaupt systematisch und systemisch zuzulassen, zu fördern und anzuhören; vorgefasste Meinungen sollen korrigiert werden können. Das ist kein Gnadenakt wie vor einem Beschwerdeausschuss, sondern es wird ein Bestandteil des politischen Systems, als Teil einer Vierten Gewalt (wie bereits die Medien). (vgl. Leggewie 2019) Es gibt nur ein Instrument im »Befreiten Denken«: das gute Argument: »Befreites Denken« verzichtet auf die vorgeformten Codes der gesellschaftlichen Teilsysteme, auf Geld, Belohnungen, Tagesordnungen, Macht und Hierarchien. Das Argument wird systematisch gefunden, nachvollziehbar differenziert und personal vorgetragen. Man weiß stets, worüber gesprochen wird und wer spricht. Das bedeutet gleichwohl nicht, dass Macht und Hierarchien im Aushandlungsprozess keine Rolle spielen. Befreites Denken ist ein anderer Modus von Intelligenz: »Je mehr verschiedene (!) Möglichkeiten ein System hat, um zu steuern und regulieren, desto mehr Störungen wird es ausgleichen bzw. kompensieren können.« (Pruckner 2016: o.S.) Aus einer störenden Intervention kann ein gutes oder sogar besseres Argument werden. Die verschiedenen Möglichkeiten müssen aber gefunden, akzeptiert und realisiert werden, aus einer Störung kann ein Stabilisator werden. Mögliche Fehler werden reparier- und rückholbar. Die Resilienz wird verstärkt. Dies alles wird aber nur gelingen, wenn alle Agierenden für sich einen »Mehrwert« erkennen. Befreites Denken: Resonanzraum, nicht Echokammer: Transport-Medium sind v.a. die Medien, hier wird das Argument aufgenommen, »scharf gestellt« und der öffentlichen Prüfung übergeben. Man kann unterscheiden zwischen Echo und Resonanz. Echo ist nur ein physischer und verzerrender Widerhall; Resonanz braucht dagegen den »richtigen« Ton für Subjekte, für Partnerinnen und Partner mit offenen Ohren und für eine allgemeine Kommunikationskompetenz.12 Damit das Argument nicht nur gehört wird, wenn es politisch brennt, sondern damit es im Diskurs einen regulären Platz hat, brauchen wir eine »Nullphase«
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Resonanz im Fokus eines neuen Führungsverständnisses: »Je besser es gelingt, Resonanzverhältnisse zwischen den Akteuren einer Organisation zu stiften, umso höher ist die Fähigkeit der Organisation, selbstregulierend nach Maßgabe ihrer Struktur auf Umweltveränderungen adäquat reagieren zu können.« (www.fibonacci-friends.de/perspectives/zwischenruf-im-echoraum-resonanzfaehigkeit-als-massstab)
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(Bundesstiftung Baukultur 2016), die Forderung lautet: »Wir reden früher!« Weil dies aber nicht (immer) so ist, gibt es hier vor dem Ausrufe- auch ein Fragezeichen. Oftmals wird nämlich erst danach geredet (»mit dem Wissen von heute würde man das Projekt nicht mehr bauen«, sh. Motto oben) »Geschichte ereignet sich nämlich nicht, wenn man zuvor alles durchdacht hat. Sie wird gemacht, indem man vom Pfad abweicht. Denken allein genügt nicht, man muss auch abbiegen können.« (Welzer 2019: 84)13 Die Erfahrung und die professionalisierte Sicht auf die Welt verweisen auf eine Verpflichtung zum »Befreiten Denken« und zum »Vorher reden«: Der Preis für alle Beteiligten ist ein Zustand der Unruhe und ein reflektiertes Selbstverhältnis zur Welt und die Bereitschaft zu einer »Phase Null« zur Abklärung der Frage »Wo ist eigentlich das Problem?« »The hell of this life is that between of hundred paths we have to choose only one, and live with nostalgia for the other ninety nine« (Fernando Sabino, 1923-2004)
Literatur Ashby, W. Ross (1956): An Introduction to Cybernetics, New York: Wiley. Ashby, W. Ross (1981): Mechanisms of Intelligence, Seaside: CA. Alda, Alan (2016): »Etwas ist entweder wahr oder falsch«, in: Brockman, Welche wissenschaftliche Theorie ist reif für den Ruhestand? Die führenden Köpfe unserer Zeit über die Ideen, die uns am Fortschritt hindern, S. 209-211. Baecker, Dirk (2018): 4.0 oder Die Lücke, die der Computer lässt, Leipzig: Merve Verlag. Brockman, John (Hg.) (2016): Welche wissenschaftliche Theorie ist reif für den Ruhestand? Die führenden Köpfe unserer Zeit über die Ideen, die uns am Fortschritt hindern. Frankfurt a.M.: Fischer.
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Ganz ähnlich heißt es im Klappentext der Reihe Short Cuts (Interviews, Textstücke, Essays, Briefe, Manifeste, Kurzprotokolle und Statements) hgg. von Peter Gente, Heidi Paris, Martin Weinmann bei Zweitausendeins (2001): »Wer sich auf den eigenen Riecher verlässt, auch wenn eine Abkürzung einmal querfeldein geht, muss nichts und niemandem hinterherrennen« (vgl. Förster 2001)
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»Befreites Denken« und Ashbys Gesetz
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Zur gesellschaftlichen Verantwortung der Wissenschaft Die Sicht der studentischen »Initiative Nachhaltige Universität Innsbruck«1 Franziska Allerberger, Lukas Emrich, Jacob Heuser, Philipp Mack, Jannis Weimar & Marlene Weiß
Wir Studierende sind in der Regel nicht mit dem Verfassen von Buchbeiträgen beschäftigt, sondern sammeln fleißig ECTS-Punkte, wundern uns zuweilen über das Verhältnis zwischen ECTS-Punkten und Arbeitsaufwand in den Modulen, fragen uns bei frontal unterrichteten Lehrveranstaltungen, wo bei all dem Input eigentlich die Anwendbarkeit bleibt und freuen uns daher umso mehr auf Übungen und Exkursionen, die praktischen Umsetzungsmöglichkeiten Raum geben. Dennoch sind wirkliche Experimentierräume eher selten. Diese Wahrnehmung vieler Studierenden bestätigt, dass sich Hochschulen von Stätten der Bildung zu starren Institutionen der Ausbildung entwickelt haben (Schatz 2015: o.S.), in denen Zeit und Raum für Diskussionen und Experimente oftmals fehlen (Allianz Nachhaltige Universitäten in Österreich 2018: 1, Fazey et al. 2020). Aus einer Kombination von Zufällen und dem Interesse am Diskutieren hatte sich uns Studierenden der Geographie in Innsbruck vor etwa drei Jahren die Möglichkeit eröffnet, mit Lehrenden in einen Diskurs auf Augenhöhe zu treten. Abseits des normalen Curricula-Betriebs entwickelten sich Gesprächsrunden, in denen wir unsere Utopien und mögliche gesellschaftliche Transformationspfade sowie grundlegende Fragen zur Rolle und zu Werten von Wissenschaft beziehungsweise Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen gemeinsam diskutierten. Dieser offene ›Denksport‹ allein hat dann jedoch den Hunger nach Gestaltung unserer Lebensumwelt Universität im Sinne einer Übernahme von Verantwortung nicht mehr gestillt – konkrete Handlungen waren gefragt, um einen Beitrag zur zwingend notwendigen nachhaltigen Gestaltung unserer Hochschule zu leisten. Aus diesem Bestreben hat sich schließlich im April 2018 die studentisch organisierte 1
Autoren und Autorinnen in alphabetischer Reihenfolge, alle Autoren und Autorinnen haben gleichermaßen an der Ausarbeitung des Beitrags mitgewirkt
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Initiative Nachhaltige Universität Innsbruck (INUI) gegründet. Auch wenn diese von der Geographie ausging, so stand von Beginn an eine interdisziplinäre Zusammenarbeit Studierender möglichst vieler verschiedener Fachbereiche und das Wirken über die Universität hinaus im Fokus unseres Engagements (INUI 2019: 250ff). Wenn wir also in diesem essayistischen Beitrag über die Verantwortung der Geographie aus unserer studentischen Sicht reflektieren, so tun wir das unter Berücksichtigung verschiedener, sich gegenseitig ergänzender (Fach-)Perspektiven, die wir im Folgenden kurz skizzieren möchten. Zunächst ist festzuhalten, dass sich die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts, die sich zwischen Klimawandel und der Erosion der klassischen Rolle des Staates bewegen (u.a. Lenton et al. 2008: 1787ff; Amanantidou 2012: 24ff; Steffen et al. 2015: 2ff; Lenton et al. 2019: 592ff), als wicked-problems auffassen lassen – einfache, systemimmanente ›Lösungsstrategien‹ sind somit nicht ausreichend (Rittel 1972; Kolko 2012). Gefordert ist eine mutige und tiefgreifende sozial-ökologische Transformation, damit das Anthropozän als Erdzeitalter des Menschen nicht in einem Kollaps endet (siehe dazu u.a. Bardi 2017: 12ff). Wenn wir von Verantwortung sprechen, verstehen wir diese immer im Sinne einer auf Nachhaltigkeit ausgerichteten Transformation, die mit einer grundlegenden Kritik an der dominierenden imperialen Lebensweise einhergeht (Brand/Wissen 2018: 287), um unter anderem der Krise der gesellschaftlichen Naturverhältnisse (Brand/Wissen 2011: 15) zu begegnen. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, inwieweit das über die letzten Jahrhunderte disziplinär ausdifferenzierte Wissenschaftssystem (u.a. Bergmann et al. 2012: 22ff; Mittelstraß 2018: 68ff) und die damit inhärent angelegte Struktur der Studienrichtungen noch zeitgemäß sind. Die globalen Herausforderungen, mit denen wir uns konfrontiert sehen, können aufgrund ihrer Komplexität nur disziplinübergreifend und in einem gemeinsamen Wirken mit außerwissenschaftlichen Akteuren, das heißt transdisziplinär (u.a. Gibbons 1999: 82f; Lang et al. 2012: 26f; Schneidewind et al. 2016: 7ff; Fazey et al. 2018: 55ff), gelöst werden. Ist damit dem Lehren in Disziplinen und ›Bindestrich-Geographien‹ eine strikte Absage zu erteilen und ein neuer postdisziplinärer Ansatz zu verfolgen, der an holistischem und kritisch-systemischem Denken ausgerichtet ist? ›Aber nicht doch!‹ mögen die Spezialisten und Spezialistinnen einwenden. Disziplinarität und die Abgrenzung sind wichtig, nicht zuletzt, um sich in einem irrwitzigen Wettbewerb um Gelder behaupten zu können (vgl. Bardi 2014: o.S.; Kun 2018: 1). Paradoxerweise ist Disziplinarität gleichzeitig eine Voraussetzung für transdisziplinäres Arbeiten (vgl. Jahn/Bergmann/Keil 2012: 3f; Lang et al. 2012: 27). Jedoch stehen wir vor so gravierenden Veränderungen, dass eine Kritik an und eine Umgestaltung dieser akademischen Strukturen und disziplinären Denkmuster zwingend geboten ist (Fazey et al. 2018: 55ff; Fazey et al. 2020: 9-16). Eine tiefgreifende Transformation bedarf demnach einer emanzipatorischen Haltung, aus der heraus ein
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ethisch begründetes Hinterfragen bestehender Strukturen bereits ex ante erfolgt (Lagasnerie 2018: 16-17). Auch die Geographie kann als Disziplin im Sinne einer ›interdisziplinär‹ arbeitenden Mensch-Umwelt-Wissenschaft einen Beitrag zu einer sozial-ökologischen Transformation leisten: indem sie ihre blinden Flecken anerkennt und Offenheit sowohl für Zugänge aus anderen Disziplinen als auch aus der Praxis besitzt, indem sie sich aktiv in eine zukunftsfähige Neugestaltung wissenschaftlicher Praxis einbringt und damit (formalisierte) Strukturen hinterfragt, in denen Wissen produziert und auch an uns Studierende weitergegeben wird (vgl. Scheffer 2014: 6119; Scheffer et al. 2015: o.S.; Scheffer/Baas/Bjordam 2017: o.S.). Daher, so unser Argument, lässt sich die Verantwortung der Geographie nicht an ihrer disziplinären Grenze bestimmen, sondern kann nur im inter- und transdisziplinären Arbeiten gelebt werden. In diesem Sinne besitzt dieses Argument und die zuvor formulierten Forderungen nach Offenheit keine spezifische Gültigkeit für die Geographie, sondern gilt gleichermaßen für alle anderen wissenschaftlichen Disziplinen. Dabei ist Verantwortung, im Sinne von Antwort und Rechenschaft geben (vgl. Korff/Wilhelms 2001: 597), als relationaler Begriff zu verstehen. Sie liegt immer bei jemanden (Subjekt), für etwas (Objekt), gegenüber jemandem (Adressat) (Höffe 1993: 23), und kann als »[…] das aktiv planende und stets lernbereite Wahrnehmen von Gestaltungsmöglichkeiten des Lebens« verstanden werden (Vogt 2019: 41). In diesem Sinne liegt die wichtigste Verantwortung der Hochschulen darin, Studierenden die Möglichkeit zu kritischem Hinterfragen und Mitgestalten zu eröffnen, um ihre Verantwortungs- und Handlungsfähigkeit zu fördern (Vogt 2018: 14). In diesem Beitrag werden wir aus Studierendensicht anhand universitärer Praxis skizzieren, wie der Verantwortungsbegriff sowohl in wissenschaftlicher Praxis als auch institutionell verstanden werden kann. Unsere Gedanken beziehen sich dabei zum einen auf Forschung und Lehre an Hochschulen sowie auf das Verhältnis zwischen Wissenschaft und Gesellschaft. Zum anderen thematisieren wir die mögliche gesellschaftliche ›Vorreiterrolle‹ von Hochschulen als Institutionen mit ihren Akteuren im Hinblick auf eine sozial-ökologische Transformation. Abschließend gehen wir auf die studentische Verantwortung und konkrete Umsetzungsmöglichkeiten ein. Dies erfolgt anhand einer kritischen Auseinandersetzung am Beispiel des von INUI initiierten Campus-Marktes und der Frage, ob derartige Nischenprojekte als Anstoß zu sozial-ökologischen Transformationsprozessen wirken können. Insgesamt entwickeln wir also ausgehend von einer kritischen Sichtweise auf die Wissenschaft im Allgemeinen unser Verständnis einer ›verantwortungsbewussten Geographie‹ im Speziellen, reflektieren dieses im Kontext der INUI und vertiefen dabei einige der eingangs andiskutierten Themenfelder. Unser Blick ist vor allem durch unsere Erfahrungen im ehrenamtlichen Engagement in der INUI geprägt, welche sich mit der Gestaltung von Nachhaltigkeit an der Universität Innsbruck beschäftigt, wobei die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Thematik fes-
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ter Bestandteil unserer Diskussionen ist (INUI 2019: 250ff). Ziel des Beitrags ist es, Universitätsangehörige zur Reflexion sowie zum Austausch anzuregen, Handlungsmöglichkeiten aufzuzeigen und diese auch einzufordern.
Verantwortung übernehmen bedeutet Zuzuhören und Herausforderungen gemeinsam zu erkennen Eine wesentliche Voraussetzung lösungsorientierter Verantwortungsübernahme liegt darin, sich ein möglichst umfassendes Bild der Herausforderung zu verschaffen. Vor diesem Hintergrund können die großen sozial-ökologischen Herausforderungen, vor denen wir derzeit stehen (Grand Social Challenges, Wissenschaftsrat 2015: 14ff), aufgrund ihres komplexen und allumfassenden, ja globalen Charakters, nur sinnvoll mit einem systemischen Ansatz analysiert und verstanden werden, dessen Forschungspraxis transdisziplinär ausgerichtet ist. Das bedeutet, alle Beteiligten aus Praxis und Wissenschaft in einen kritischen Forschungsprozess und Dialog einzubinden, bei dem aktives Zuhören und das ständige Hinterfragen des eigenen Wissens und Standpunktes an vorderster Stelle stehen. Dadurch soll vor allem der Bezug zu realweltlichen Problemstellungen sichergestellt werden, die sich außerhalb akademischer Kreise abspielen (Fazey et al. 2018: 60ff: Lagasnerie 2018: 31-45). Als Studierende – und damit als Angehörige des wissenschaftlichen Systems – fragen wir uns deshalb: ›Wem schenken wir als Wissenschaft Gehör?‹ ›Inwieweit lassen wir andere Perspektiven und daraus entstehende Kontroversen zu, die unseren Standpunkten widersprechen?‹ ›Wie gehen Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen mit diesen Fragen um?‹. Forschung und der wissenschaftliche Dialog spielen sich – unserer Wahrnehmung nach – vorwiegend in abgekapselten und spezialisierten wissenschaftlichen Kleingruppen ab. Die Prozesse finden dabei häufig gruppenintern und auf bestehenden Strukturen basierenden Affirmationen statt (Phillips 2011: 2230). Das Ergebnis ist fragmentiertes Wissen, welches oftmals unter Ausschluss wichtiger Stimmen betroffener Personen und Gruppen produziert wird (Fazey et al. 2020: 9-13). Die starren Strukturen dieses festgefahrenen Systems scheinen die spezialisierten Wissenschaftsnischen gegeneinander und gegenüber der Zivilgesellschaft taub und stumm zu machen. Der Prozess der Wissensbildung und -weitergabe zur Lösung sozial-ökologischer Herausforderungen sollte aber von Beginn an von aktivem Zuhören geprägt sein und in gesellschaftlichem Dialog geschehen. Beteiligte müssen sich mit den damit einhergehenden Kontroversen auseinandersetzen und ihre eigenen Grundannahmen kritisch reflektieren. Gerade andersdenkende Akteure sollten in Dialogen zu Wort kommen und ermutigt werden, Meinungen abseits des Mainstreams kundzutun. Dazu gehören insbesondere auch Personen, die einer sozial-ökologischen Transformation skeptisch gegenüberstehen oder die-
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se sogar ablehnen. Entscheidend ist hierbei das Bewusstsein dafür, dass die angestrebte Nachhaltigkeit kein Harmonie-Konzept ist (vgl. Vogt 2016: 93 – 94; Vogt 2019: 29ff), sondern voller Spannungen, die viele Aushandlungsprozesse erfordern. Nur durch einen offenen Dialog auf Augenhöhe kann Akzeptanz und demokratische Legitimation wissenschaftlicher Ergebnisse erhöht werden (Lang et al. 2012: 26, Jahn/Bergmann/Keil 2012: 8). Oftmals ist ein solcher Dialog allerdings aufgrund strukturimmanenter Ausprägungen des Wissenschaftssystems erschwert, die sich u.a. in der Maxime Wissenschaft um der Wissenschaft Willen widerspiegeln (vgl. Lagasnerie 2018: 31-45). Aufgrund der Dringlichkeit aktueller Herausforderungen sollten diese allerdings nicht geduldig hingenommen und es sollte nicht auf inkrementelle Veränderungen gewartet werden. Aus studentischer Perspektive sehen wir den ersten Schritt der Verantwortungsübernahme daher im Hinterfragen und Aufbrechen dieser Strukturen, um einen offenen Dialog aktiv einzuleiten.
Verantwortung bedeutet Antworten geben und Lösungsansätze entwickeln Den Kern des Prinzips der Verantwortung in der Wissenschaft sehen wir in dessen Etymologie. Aus der Semantik des ›Antwort Gebens‹ wird deutlich, dass die Zuschreibung von Verantwortung – als kommunikativer Prozess – in der Regel in einem Dialog zwischen zwei oder mehreren (Verantwortungs-)Subjekten stattfindet (Bayertz & Beck 2015: 5f). ›Wer fragt?‹ und ›wer antwortet?‹ bekommt vor dem Hintergrund des Dialogbegriffs im Folgenden eine besondere Aufmerksamkeit. Im ›klassischen‹ Sinne wird Verantwortung retrospektiv auf der Grundlage eines rechtlichen oder moralischen Urteils zugeschrieben (Bayertz & Beck 2015: 4). Gerade in Bezug auf Umweltkrisen trifft diese retrospektive Auffassung von Verantwortung zu, wenn Verantwortliche erst nach verursachten und irreversiblen Schäden (Ölhavarie, Reaktorunglück etc.) zur Verantwortung gezogen werden. In seinem 1979 formulierten »Prinzip Verantwortung«, erweitert Hans Jonas (2003) das intragenerationelle Verantwortungsprinzip jedoch durch eine prospektive Perspektive, die den ›zuschreibenden‹ Dialog zwischen heute und zukünftig lebenden Menschen integriert. In diesem Verständnis wird die Verantwortung der heutigen Generation (Subjekt) durch zukünftige Generationen (Adressat) zugeschrieben. Als (Verantwortungs-)Objekt dieses Dialogs rückt das Verhältnis zwischen Gesellschaft und Natur in den Mittelpunkt. Dieser Dialog lässt sich dem Diskurs über Gerechtigkeit innerhalb der Umweltethik zuordnen, so dass die Verbindung mit dem handlungsleitenden Konzept der Nachhaltigkeit deutlich wird, dessen Kern unsere ›Zukunftsverantwortung‹ ist (vgl. Ott 2010). Verantwortung als Ergebnis einer rückblickenden Verantwortungs- oder gar Schuldzuschreibung wird dem darge-
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stellten Sachverhalt also nicht vollständig gerecht. Es bietet sich an, den Begriff um die Perspektive der Verantwortung im Sinn von Fürsorge und Voraussicht zu erweitern (vgl. Mieg 1994: 11f; Bayertz & Beck 2015: 8f). Mit dieser Erweiterung verändert sich der Fokus merklich: »Die unmittelbare Aufmerksamkeit des handelnden Subjekts wird damit von den zu vermeidenden negativen Ereignissen (Schäden) auf die herzustellenden positiven Zustände gelenkt.« (Bayertz & Beck 2015: 8) Die hier gemeinten Fragen, aus denen sich die Suche nach Verantwortung ergibt, gehen in unserem Verständnis aus konkreten sozial-ökologischen Krisen hervor, die ihren Ursprung im unausgewogenen Verhältnis zwischen Gesellschaft und Natur haben. Im Kontext des ›fiktiven‹ Dialogs zwischen den Generationen über sozial-ökologische Missstände geht die Aufforderung zur Verantwortungsübernahme auch an die Geographie, Antworten auf die drängenden Fragen unserer Zeit zu finden (Abbildung 1).
Abb. 1: Der prospektive Verantwortungsdialog (eigene Darstellung, verändert nach Schröder 2017: 24; Rohpohl 1993: 155)
Im Zuge der great acceleration und der sich stetig transformierenden kapitalistischen Produktionsweisen sind auch die systemischen Rahmenbedingungen der gesellschaftlichen Naturverhältnisse einem komplexen Wandel unterworfen (Brand 20172 : 51). Zudem ist die Notwendigkeit einer großen Transformation im Sinn einer vorsorgenden Verantwortungsübernahme bereits mehrheitlicher Konsens innerhalb der wissenschaftlichen Nachhaltigkeitsdebatte (vgl. WBGU 2011: 87; Brand 2014: 8; Brand 20171 : 13, 16; Schneidewind 2018: 10f; Brand/Welzer 2019: 314). Der Umgang mit den Herausforderungen der Zukunft lässt sich somit nur bedingt aus einer Analyse des Vergangenen heraus erklären. Aus dem prospektiven Verantwortungsdialog geht eine eindeutige Forderung nach grundlegend neuen Lösungsansätzen hervor.
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Dieser prospektive Verantwortungsimperativ gilt generell für die Wissenschaft. Er beschränkt sich nicht auf die Analyse der Problemlagen, sondern beinhaltet eine Bringschuld in Form von Ansätzen zur Problemlösung. Wie bereits eingangs angedeutet, weisen die Problemlagen allerdings ein komplexes Raum-Zeit-Gefüge und einen existentiellen Charakter auf. Sie spielen sich auf einer Bandbreite von Klimawandel über die Krisenhaftigkeit aktuell etablierter sozioökonomischer Regulationsregime bis hin zu »Varianten der marktgetriebenen Entdemokratisierung« (Dörre 2019b: 37) ab. Diese führen zu Folgeprozessen, die sich von saisonal-regional begrenzten Hungerkatastrophen bis hin zum permanenten Verlust von Lebensgrundlagen und globalen Fluchtbewegungen erstrecken (vgl. Harvey 2008: 24-35; Dörre 20191 : 3-34; Dörre 20192 : 27-43; Pineault 2019: 119-146). Berücksichtigt man die Natur dieser beispielhaften Problemlagen, so wird deutlich, dass dementsprechend auch die Antworten das gesamte raumzeitliche Maßstabsspektrum abdecken müssen – von kreativen Lösungen im Kleinen bis hin zu »konkreten Utopien« (Bloch 1985) für eine in diesem Sinne ganzheitliche Transformation gesellschaftlicher Strukturen und Institutionen im 21. Jahrhundert. Welche Mittel und Wege hat die Wissenschaft zur Hand, kreative Lösungen aufzuzeigen und weiterzuentwickeln, die über die Adaptation bereits bekannter Optionen hinausgehen? Die bisher etablierten Ansätze der Empirie können hier nur begrenzt einen Beitrag leisten, da die Erkenntnisgrundlage – die Daten – in der Vergangenheit verhaftet sind. Sie können darstellen, was schon geschieht, in gewisser Weise Veränderungen begleiten und reflektieren und durch die Fortschreibung der Erkenntnisse auch Szenarien beschreiben. Doch liefert eine vornehmlich beschreibende Empirie schon proaktive, auf Handlungen ausgerichtete Antworten? Hierfür braucht es auch eine kreative Komponente mit bisweilen radikalen Änderungen der Funktionen und Zielsetzungen für wissenschaftliche Forschung (vgl. Elmqvist et al. 2018: 1550). Hierin liegt der Kern dessen, was auch als transformative Wissenschaft bezeichnet wird (Schneidewind et al. 2016: 6ff). Klar ist, dass die besten Antworten nichts nutzen, wenn niemand weiß, wie diese in reale Handlung übersetzt werden können – insbesondere dann, wenn die Sphären des Antwort-Gebens und des Handelns voneinander isoliert betrachtet werden. Wie weit reicht also die Verantwortung der Wissenschaft? Ist ihre Aufgabe mit der Formulierung (theoretischer) Antworten beendet? Im tief verwurzelten, positivistischen Sinn wird die Wissenschaft oft als Ort der möglichst wertfreien Wissensproduktion verstanden. Die Aufgabe bezüglich der Kommunikation mit der Gesellschaft liegt für Hochschulen in diesem Verständnis allein darin, ›neutrales‹ Wissen an die Gesellschaft weiterzugeben (vgl. Vogt/Weber 2020: 4ff). Der Kommunikationsprozess ist hier nach der Antwort abgeschlossen. Doch selbst jenseits des wissenschaftlichen Positivismus setzen sich lineare Vermittlungsansätze mit vertikalen Kommunikationshierarchien in der fachdidaktischen Praxis meist zumindest unbewusst durch – so auch in der Nachhaltigkeitsforschung und der
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Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE) (Newig et al. 2013: 2986; Fischer 2016: 146). Die Verantwortung der Wissenschaft kann jedoch kaum beim bloßen ›Antworten‹ enden, sondern muss durch kreative Vermittlungsprozesse im Sinne einer transformativen Wissenschaft zum Handeln anregen.
Verantwortung bedeutet kooperatives Handeln Eine nach wie vor verbreitete Hoffnung innerhalb der kontrovers geführten Diskurse zu BNE beruht darauf, dass bereits durch monodirektionale Bewusstseinsbildung oder »Communication of Sustainability« (Fischer 2016: 146) die Einsicht zur Handlungsnotwendigkeit erzeugt wird. Diese Annahme impliziert einen ausreichenden Beitrag zur Lösungsfindung, der über das bloße Antwortengeben hinausgeht. An diesem Paradigma lassen sich jedoch zumindest zwei zentrale Probleme identifizieren. Das erste Problem baut auf der Feststellung auf, dass die sozial-ökologischen Herausforderungen zwar spätestens seit den frühen Publikationen des Club of Rome (z.B. Meadows et al. 1972; Mesarović 1974; zum Diskurs: Richter 1974) bekannt, die multilateralen Anstrengungen auf globaler Ebene zur Bewältigung der Herausforderungen bisher jedoch nicht oder nur bedingt erfolgreich sind (vgl. Barth et al. 2012: 6, Brand 2014: 11; Leggewie/Welzer 2013: 82ff; Paech 2011: 285; WBGU 2011: 281 ff). Wird also die Wissenschaft seit einem halben Jahrhundert schlichtweg nicht wahrgenommen und gehört? Wird sie falsch verstanden? Oder aber, stimmt etwas mit der Art der Wissensvermittlung nicht? Ein in der Nachhaltigkeitsdebatte oft bemühter Begriff ist die Kluft zwischen Wissen und Handlung (knowledgeaction gap). Es gibt hierzu eine Bandbreite an Erklärungsansätzen aus verschiedensten Disziplinen. Diese reichen von psychologischen Theorien über ökonometrische Herausforderungen bis hin zu divergierenden Zielkonflikten und Zeithorizonten (vgl. Baechler 2012: 27ff; Meimeth 2012: 7f). Oftmals übergangen wird jedoch die handlungstheoretische und empirisch sehr gut belegte Erkenntnis, dass abstraktes Wissen allein kein Anstoß zum Handeln ist. Ganz im Gegenteil haben unser gelebter Alltag und die Prozesse der aktiven Partizipation – sozusagen das tägliche Geographie-Machen (Werlen 2017: 37-48) – einen deutlich wirkmächtigeren Einfluss auf unsere (un-)bewusste Wahrnehmung von ›Realität‹ (vgl. Barth et al. 2012: 6f). Bourdieu etwa erklärt dies über die Rolle des Habitus in Bezug auf die Reproduktion sozialer Systeme und Alltagspraktiken. Die Herausbildung des Habitus von Akteuren oder Akteursgruppen geschieht dabei allerdings vorrangig als unreflektierte und unbewusste Aneignung (Bourdieu 1984: 165ff; Clemens 2013: 106f).
Zur gesellschaftlichen Verantwortung der Wissenschaft
»Das bedeutet, dass die Verinnerlichung der für den Habitus charakteristischen Wahrnehmungs-, Denk-, und Handlungsschemata durch das stillschweigende Einüben von Verfahrensweisen für die Bewältigung sozialer Situationen stattfindet.« (Grzesiok 2018: 54) In anderen Worten: Wir können noch so oft von den Erkenntnissen der Wissenschaft lesen, sie auch verstehen und uns merken. Solange sie aber nicht Teil unserer erlebten Alltagswelt oder, nach Bourdieu, dem Feld sind und sozial eingeübt werden, bleiben sie Theorie und ohne erlebbare Bedeutung. Das zweite Problem bezieht sich auf die Wirkungsrichtungen des Dialogs. Im oben geschilderten, positivistischen Verständnis der wissenschaftlichen Verantwortung als möglichst ›objektive‹ Instanz der Wissensvermittlung stellt sich dieser als lineares Frage-Antwort System ohne reflexive Komponente dar. Erfolgreiches, gemeinschaftliches Handeln beinhaltet jedoch wertschätzenden Dialog und Austausch. Der Anspruch auf alleinige, ja hegemoniale Deutungshoheit der Wissenschaft gegenüber anderen Teilsystemen der Gesellschaft ist daher unbedingt zu überdenken. Denn wo bleiben bei einer vermittlungsfokussierten Rolle Gegenseitigkeit und Wertschätzung gegenüber nicht-wissenschaftlichen Akteuren? Aufgrund des Ungleichgewichts zwischen empirischer Analyse und praktischer Anwendung fehlen der Wissenschaft Rückmeldungen und sozial erprobter Erfahrungsschatz zur Praktikabilität ihrer Erkenntnisse. Die Wissenschaft sollte also »[…] neben der Erkenntnisfunktion auch eine Katalysator-, Integrations- und Reflexionsfunktion in gesellschaftlichen Veränderungsprozessen« (Schneidewind 2018: 431) einnehmen. Es geht hierbei also nicht um die Ablösung weiterhin essenzieller Grundfunktionen der Wissenschaft, etwa der Grundlagenforschung, oder um eine vollständige Instrumentalisierung der Wissenschaft für gesellschaftliche oder gar ökonomische und politische Zwecke (ebd.). Dennoch muss diese transformative Komponente zu einer neuen Priorität für die Wissenschaft werden. Ansonsten wird sie kaum über ihren Status einer vernachlässigten third mission, neben den ersten beiden prioritär behandelten ›Missionen‹ von Forschung und Lehre, hinauskommen (vgl. Schneidewind 2016: 15 & 2018: 441ff). Der Rahmen für die Umsetzung dieses erweiterten Aufgaben- und Tätigkeitsfeldes der Wissenschaft ist mit dem Konzept der Transdisziplinarität bereits vorhanden. Die Idee der Transdisziplinarität ist dabei alles andere als neu (vgl. HirschHadorn et al. 2008: 19ff). Es drängt sich dennoch die Frage auf, zu welchem Anteil wissenschaftliche Forschung von heute diesem Anspruch gerecht wird. Als Beispiel kann hierzu das seit einigen Jahren hoch im Kurs stehende Forschungsformat der Reallabore angeführt werden. Diese können als transdisziplinäre und realweltliche Interventionen beschrieben werden, wobei der Begriff des naturwissenschaftlichen Labors in zivilgesellschaftliche, wirtschaftliche oder auch politische Settings
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übertragen wird (vgl. WBGU 2016: 30, 483; Behrens/Keil 2019: 191ff; Keggenhoff et al. 2019: 51; Wanner et al. 2019: 2). Gemäß des vom Wuppertal Institut geprägten Verständnis können Reallabore außerdem mit den fünf Adjektiven »nachhaltigkeitsorientiert«, »experimentell«, »transdisziplinär«, »reflexiv« und »langfristig« umschrieben werden (Wanner et al. 2019: 3). Bei all der Popularität und vielleicht auch gerechtfertigten Euphorie, die in jüngster Zeit um diesen Ansatz entstanden sind, muss auch Kritisches angemerkt werden. Bei genauerem Hinsehen wird schnell deutlich, dass ein Schwerpunkt dieser Ansätze in urbanen Quartieren liegt, welchen zumeist ohnehin ein gewisser transformativer Charakter zugeschrieben wird (vgl. hierzu Wanner et al. 2019: 2). Besteht die Notwendigkeit einer sozial-ökologischen Transformation nur in ausgewählten urbanen Räumen oder ähnlichen Nischen, wie etwa den UNESCOBiosphärenreservaten oder Transition Towns (vgl. Köhler/Abraham 2015: 138-139)? Es gibt keine Evidenz dafür, dass ein Verallgemeinerungsprozess aus der gesellschaftlichen Nische auf die Regimeebene durch sogenannte Change Agents von alleine stattfindet, ohne dass die Projekte von der neoliberal-kapitalistischen Verwertungslogik vereinnahmt und kommodifiziert werden (vgl. Brand/Welzer 2019: 314; WBGU 2011: 100). Ein wirksamer, transformativer Beitrag der Wissenschaft, eine ernstzunehmende Antwort auf die Nachhaltigkeitsprobleme des Anthropozäns darf somit nicht in der Nische verharren oder allein auf die Kreativität Einzelner setzen. Es braucht strategische Transformationskonzepte, die alle räumliche und zeitliche Maßstabsebenen adressieren, wie es bei der Transformation kapitalistischer Regulationsregime seit dem 18. Jahrhundert der Fall ist (vgl. WBGU 2011: 87; Polanyi 1977: S. 38-59; Brand 20172 : 51). Nimmt die Wissenschaft – und die Geographie als wichtige Vertreterin der Mensch-Umwelt-Forschung – ihre Verantwortung hinsichtlich des Findens von Antworten auf die großen Herausforderungen des Anthropozäns ernst, dann muss ihr Beitrag darin liegen, den Weg übertragbarer Alternativen aus der Nische auf die Regimeebene (vgl. WBGU 2011: S. 100) durch die beschriebenen transdisziplinären, kritisch reflektierenden und transformativen Forschungsansätze maßgeblich proaktiv zu forcieren. Hierzu zählt auch die kritische Auseinandersetzung mit der Frage, weshalb die seit Jahrzehnten proklamierte sozial-ökologische Transformation in dieser Form noch nicht stattfindet (Blühdorn 2020: 50ff). Wir sehen dafür die Notwendigkeit einer Erweiterung geographischer Forschungsansätze, die in der Verbindung der kritischen Geographie und dem breiten Feld der Mensch-Umwelt-Forschung sowie ihrer Nachbardisziplinen liegen könnte. Das Ergebnis ist eine kritische-transformative Mensch-Umwelt-Forschung (Abbildung 2). Sie macht Transdisziplinarität in Forschung und Lehre zu einer gleichrangigen Wissenschaftsfunktion und lässt die hierarchische Prioritätenreihung aus First, Second und Third Mission übergehen in eine paritätische Prioritätenteilung. Dieses gleichberechtigte Zusammenspiel der drei Missionen fördert kritische Perspekti-
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ven auf bestehende Strukturen und inspiriert zur kreativen Auseinandersetzung mit neuen Narrativen und möglichen gesellschaftlichen Entwicklungspfaden.
Abb. 2: Der prospektive Verantwortungsdialog und Antworten durch eine kritisch-transformative Mensch-Umwelt-Forschung? (eigene Darstellung, verändert nach Schröder 2017: 24, Rohpohl 1993: 155)
Dies bedeutet auch, dass es klar formulierter Gütekriterien einer verantwortungsbewussten – im Sinne einer Antwort gebenden – transdisziplinären Wissenschaft bedarf. Dies schließt die Frage nach der gesellschaftlichen Akzeptanz von Antworten und somit der Entscheidungsfindung ein: Sind diejenigen Antworten bestimmend, die die derzeitigen Machtverhältnisse faktisch reproduzieren und somit systemerhaltend sind? Oder setzen sich jene durch, die »[…] nicht an der Falschheit der Welt […] partizipieren« (Lagasnerie 2018: 21)? Forschende müssen sich daher in ihrem wissenschaftlichen Tun stets bewusst sein, dass »[…] [e]ine wissenschaftliche Tätigkeit, die selbstgenügsam bleibt und nichts an der Welt verändert […] genauso nützlich für die Machtsysteme [ist] wie ein Wissen, dass sich explizit in ihren Dienst stellt […].« (Lagasnerie 2018: 42). Zuletzt bedeutet es aber auch, dass eine neue Debatte darüber notwendig ist, was der Begriff der wissenschaftlichen Exzellenz im 21. Jahrhundert bedeuten sollte, ob dieser an Antworten auf die drängenden Fragen der Zeit geknüpft wird, wie dementsprechend Fördergelder vergeben werden und nach welchen Kriterien gute Lehre beurteilt wird. Neben engagierten Einzelpersonen und -projekten, die diesen Wandel vorantreiben, bedarf es dafür allerdings einer Anpassung der strukturellen Voraussetzungen, in welchen die heutige Wissenschaft betrieben wird (vgl. Lagasnerie 2018: 15). Ergänzend zu den strukturellen Veränderungen will die Offenheit sowie die ›Befähigung‹ zu einem transdisziplinären Dialog jedoch gelernt und vor allem gelebt sein: »Denken und handeln [sic!], Reflexion und Aktion sind verwoben. Lernen wird zu einer Aneignung von Problemlösungskompetenz.« (Novy et al. 2020: 34). Daher bedarf es für die Förderung kritischen Denk- und Handlungsvermögens ei-
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ner mehr dialogisch orientierten Lehr- und Lernsituation anstatt eines Frontalunterrichts mit stumpfer Wissensreplikation. Die dialogische Lehre kann dazu beitragen, »[…] Studierenden zu helfen, ihr Reflexionspotenzial zu stärken und mit ihnen gemeinsam zeitgemäßes Handlungswissen zu erarbeiten. Kluge und verantwortungsfähige Studienabsolventen sind eine unverzichtbare »Ressource« moderner Wissensgesellschaften.« (Vogt 2018: 14) In diesem Sinne muss offenes Zuhören und Erkennen von Problemstellungen sowie die Entwicklung kreativer Antworten und Lösungsansätze erprobt werden. Formate der studentisch (mit-)organisierten Lehre bieten bereits eine Plattform für ein solches Ineinandergreifen von Handeln und Reflektieren. Eines von vielen denkbaren und mancherorts bereits erfolgreich umgesetzten Formaten sind sogenannte Projektwerkstätten. Organisiert sind diese Lehrformate meist durch Partnerschaften zwischen Studierenden, Lehrenden und überfachlichen Koordinationsstellen. Sowohl die Organisation als auch die inhaltliche Vorbereitung erfolgt dabei im offenen Austausch zwischen allen Beteiligten, insbesondere aber durch aktive Verantwortungsübernahme und Mitgestaltung von Studierenden. Mit dem Ziel, wissenschaftstheoretische, diskursive und hermeneutische Elemente mit anwendungsorientierter Praxis zu vereinen, sind Projektwerkstätten zudem oft außerhalb des Seminarraums oder sogar des Universitätscampus verortet und eröffnen Interaktions- und Erfahrungsräume mit außeruniversitären Akteuren. Die Beispiele reichen von wissenschaftsdidaktisch beforschten Universitätsgärten über die Erstellung von Podcasts bis hin zu vordergründig technologisch-innovationsorientierten Workshops beispielsweise zur Thematik des Upcyclings (siehe hierzu etwa netzwerk n 2016: 15ff, www.projektwerkstaetten.tu-berlin.de). Da sich diese alternativen Lehrkonzepte, wie auch die Reallabore, derzeit in Nischen bewegen, sehen wir die Verantwortung der Hochschulen darin, ihren Studierenden den hierfür erforderlichen Lern- und Gestaltungsraum zu bieten, um ein Mainstreaming dieser Konzepte zu ermöglichen (vgl. Initiative für Nachhaltigkeit und Ethik an Hochschulen 2017: 31ff, Allianz Nachhaltige Universitäten in Österreich 2018: o.S.).
Verantwortung bedeutet Vorbild sein Das wissenschaftliche System – und damit auch die Geographie – ist weit mehr als eine abstrakte Arena der Wissensproduktion. Es stellt eine Institution mit gesellschaftlich gestaltender Relevanz dar. Die Verantwortung der Wissenschaft als Ganzes liegt darin, die ›richtigen‹ Fragen zu stellen und in einem transdisziplinären, gleichberechtigten Dialog Lösungsansätze zu entwickeln, die zu kooperativem Handeln anregen. Die Verantwortung erstreckt sich dabei auch auf alle Bereiche des täglichen Wirkens und alle Akteure wissenschaftlicher Institutionen. Dabei sollten sie, um ihre Glaubwürdigkeit hinsichtlich einer sozial-ökologischen
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Transformation zu entwickeln und aufrecht zu erhalten, ihr eigenes Handeln stets kritisch reflektieren. Für Hochschulen als prominenteste Repräsentantinnen der wissenschaftlichen Welt bedeutet Verantwortung daher auch, eine Vorbildfunktion einzunehmen. Dieser können und müssen sie durch eine proaktive Haltung und das Vorleben transformativer und nachhaltiger Handlungsalternativen gerecht werden (vgl. Allianz Nachhaltige Universitäten Österreich 2018: o.S., Initiative für Nachhaltigkeit und Ethik an Hochschulen 2017: 19ff). Als wirtschaftende Einrichtung, als Arbeitgeber und öffentlicher Raum ging die Wirksamkeit von Hochschulen daher schon immer über die Sphäre theoretischer Diskurse hinaus. Mögliche Ansatzpunkte für eine Verantwortungsübernahme beziehen sich dabei unter anderem auf ihre eigene Governance, Anstellungsverhältnisse, Geldanlagen, Energieeffizienz ihrer Gebäude, Beschaffung notwendiger Ressourcen, Ernährung in UniCafés und Mensen, sowie die Mobilität vor allem in Bezug auf Dienstreisen und Exkursionen. Aufgrund der Vielzahl praktischer Interventionsmöglichkeiten kann die Verantwortung der Wissenschaft und ihrer Disziplinen somit schwerlich auf die Vermittlung und Produktion von Wissen allein reduziert werden. Der hochschulinterne Alltag scheint allerdings zumeist gekennzeichnet durch festgefahrene, alte Strukturen, die eine Entwicklung hin zu einer verantwortungsvollen Transformation behindern. Bereits in den 1970er Jahren bezeichnete der damalige Bildungsminister der BRD, Peter Glotz, Hochschulen als »Tanker«, die ihren Kurs nur sehr schleichend in Richtung einer nachhaltigen Entwicklung ändern (Michelsen 2015: 37f). Der Anstoß zu transformativen Veränderungen an Hochschulen kommt zumeist von einzelnen Akteuren beziehungsweise Initiativen innerhalb der Hochschule (Michelsen 2015: 39ff). Diesen Initiativen fällt dabei neben der impulsgebenden, die reflektierende Rolle einer kritischen Begleitung der Veränderungen zu. In diesem Sinne kann die INUI als Experiment und Anstoß zu ganzheitlich gedachter, studentischer Verantwortungsübernahme verstanden werden, welche versucht, sich dieser ausbleibenden Transformation entgegen zu stellen. Abschließend sollen noch einige kritische Reflexionen über Möglichkeiten und Limitierungen solcher Initiativen dargestellt werden. In den zwei Jahren seit ihrem Bestehen und einem dynamischen Werdegang hat sich die INUI von einem ursprünglich informellen Zusammenschluss leidenschaftlich debattierender Studierenden zu einer bunten, an der Universität verankerten und überregional vernetzten Initiative mit vielfältigen Betätigungsfeldern gewandelt (vgl. INUI 2019: 249ff). Diese reichen von der Kooperation mit zivilgesellschaftlichen Institutionen über die Organisation und Durchführung von Veranstaltungen bis hin zur Beteiligung an Forschungsprojekten und Lehrkonzepten. Normatives Leitbild und übergeordnete Vision all dessen ist der Wunsch der Studierenden, mit ihrem Engagement einen verantwortungsbewussten Beitrag ihrer Universität zu einer sozial-ökologischen Transformation der Gesellschaft in einem transdisziplinären Sinn zu leisten. Das vielleicht gewichtigste Tätigkeits-
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feld, zumindest hinsichtlich der öffentlichen Wahrnehmung der INUI, ist aktuell die Durchführung praktischer und gestaltender Projekte. Exemplarisch hierfür ist die Organisation eines wöchentlichen Campus-Marktes. Der Großteil der dort angebotenen Produkte sind Ausschusswaren. Aus verschiedensten Gründen und Vermarktungskonventionen werden diese Lebensmittel auf dem konventionellen Markt nicht mehr verkauft und sind für den Restmüll oder als Tiernahrung gedacht, ungeachtet ihrer Qualität. Auf dem Campus-Markt werden diese Nahrungsmittel gegen einen selbstgewählten Wertschätzungsbeitrag weitergegeben. Es steht somit weniger die Versorgungsfunktion im Vordergrund als vielmehr der praktizierte Beitrag zum Diskurs über Verteilungsprobleme in globalen bis regionalen Ernährungssystemen (vgl. Ermann et al. 2018: 147f) sowie die Reflexion über den Wert von Nahrungsmitteln. Doch wie trägt ein solches Projekt zu einem Verantwortungsverständnis bei, wie es in diesem Essay dargelegt wurde? Verantwortung übernehmen bedeutet Zuhören und Herausforderungen gemeinsam zu erkennen. Um zuhören zu können, mussten zunächst einmal Dialogräume entstehen, die sich aber nicht von allein im Konferenz- oder Seminarraum eines Instituts ergeben. Ein in dieser Form nicht unbedingt erwartetes Resultat sind die zahlreichen Kontaktpunkte, die sich zur Nahrungsmittelbranche ergaben. Bereits der Findungsprozess von Kooperationen und die Bewältigung logistischer Herausforderungen im Dialog mit Akteuren aus der Praxis eröffnen Einblicke in die oftmals verborgenen Strukturen, Prozesse und Herausforderungen, die hinter sichtbaren Nachhaltigkeitsproblemen von Nahrungsregimes stecken. Hierzu zählen unter anderem das Fehlen unterstützender Strukturen und rechtlicher Freiräume, um nicht-marktkonforme Produkte zu vertreiben, was dem Willen vieler kooperierenden Lebensmittelbetrieben und Zulieferern entsprechen würde. Ähnlich der Methode der teilnehmenden Beobachtung eröffnet das wöchentliche Abholen von Überschusswaren aus Bäckereien, Obst- und Gemüseläden sowie Supermärkten Einblicke in die Abläufe und Herausforderungen, die sich hinter dem Verkaufstresen abspielen. Außerdem führt die intensive Kommunikation mit Zuständigen der Lebensmittelgeschäfte zu einem verbesserten Verständnis verschiedener Bestandteile der Wertschöpfungsketten. Idealerweise werden auch diese Prozesse Teil eines langfristigen Dialogs und transdisziplinärer Begleitforschung. Verantwortung übernehmen bedeutet Antworten geben und Lösungsansätze entwickeln. Viele der Mitinitiierenden des Campus-Marktes sind Geographinnen und Geographen. Es wäre nahezu verlockend nun zu berichten, die Projektidee entstamme den fachlichen Auseinandersetzungen im Rahmen einer Seminararbeit zu geographies of food (u.a. Winter 2005: 609-610) oder den Strukturen dominanter (globaler) Nahrungsregimes (vgl. Ermann et al. 2018: 19-37). Tatsächlich geht das Projektkon-
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zept jedoch zurück auf die Kooperation mit einem Verein aus der Zivilgesellschaft. Der feld-Verein – Verein zur Nutzung von Ungenutztem – führt bereits seit einigen Jahren vor Entstehung der INUI ganz ähnliche Formate in ganz Tirol durch. Dieses Schlaglicht auf die Entstehungsgeschichte des Campus-Marktes deutet an, welchen Beitrag Kooperationen mit der Zivilgesellschaft im Sinne einer Katalysatorfunktion der Wissenschaften auf der Suche nach Antworten auf nachhaltigkeitsbezogene Problemstellungen leisten können. Gleichsam kann die praktische Umsetzung allein noch nicht die vollständige Antwort im transdisziplinären Sinn darstellen. Hierzu braucht es eine reflexive Komponente, beispielsweise durch empirische Begleitforschung. Was sind Beweggründe und Wahrnehmungen der Besucher und Besucherinnen des Marktes? Wie wirkt er sich auf deren Alltagspraxis aus? Was sind praktische Herausforderungen und Kritikpunkte hinsichtlich der Durchführung? Solche Fragen eröffnen nicht nur Möglichkeiten zur kontinuierlichen Optimierung. Sie bieten auch Berührungspunkte zwischen wissenschaftlicher Theorie und situierter Praxis, machen Projekte zu Reallaboren und eröffnen Räume für transformative Forschung. Dem Projekt Campus-Markt fehlt diese reflexive, transdisziplinäre Komponente noch. Verantwortung bedeutet kooperatives Handeln. Im Campus-Markt ist diese Handlungskomponente bereits enthalten und erhöht Sichtbarkeit und Wahrnehmung der Thematik. Es geschieht etwas, direkt am Campus und vor den Augen Kaffee-trinkender Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen sowie Studierenden auf dem Weg zur Vorlesung. Sichtbare Aktion macht neugierig. Gleichzeitig wird die Hemmschwelle zur eigenen Handlungsveränderung herabgesetzt. Es fällt uns denkbar leichter etwas Neues auszuprobieren, wenn wir schon miterlebt haben, dass es möglich ist (vgl. Barth et al. 2012: 6f). Das Projekt eröffnet nicht nur ungezählte Gespräche über Versorgungs- und Nachhaltigkeitsthemen. Viele der heute aktiv am Projekt Beteiligten waren zunächst einmal Besucher und Besucherinnen des Marktes. Damit zeigt sich, dass durch den Campus-Markt kommunikative Arenen geschaffen werden, »[…] die Nachhaltigkeit und Zukunftsfähigkeit beispielhaft zeigen und bearbeiten [, um] eigene Problemlösungs- und Handlungsfähigkeit im Gemeinwesen wirkungsvoll [zu] erfahren« (Rieckmann/Stoltenberg 2011: 125). Verantwortung übernehmen bedeutet Vorbild sein. Oder anders herum: gesellschaftliche Vorbilder sind sich ihrer Verantwortung im vollständigen Ausmaß bewusst (vgl. Novy et al. 2020: 33). Der Campus-Markt zeigt auf, dass Hochschulen weit mehr sind als Orte der Wissensproduktion und -weitergabe. Jede Hochschule verwaltet einen Alltagsbetrieb, der auf verschiedenste Arten Externalitäten produziert. Sie verwalten finanzielle Rücklagen und tätigen Investitionen. Sie produzieren Abfall und beschaffen Produkte sowie
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Ressourcen, die andernorts gewonnen und verarbeitet werden. Auch Forschende, Lehrende und Studierende müssen essen oder täglich den Weg zur Universität antreten. Hochschulen haben somit nicht nur eine Verantwortung als Bildungsinstitutionen, sondern auch einen sozialen und ökologischen Fußabdruck. Im Sinne eines nachhaltigen Problembewusstseins müssen sie daher gerade auch in diesen Bereichen handeln. Studentische Initiativen wie die INUI können in diesem Kontext auch Raum für institutionelles Lernen schaffen (Drupp et al. 2012: 9). Um hier keinen falschen Schein zu vermitteln: Der Campus-Markt und auch die INUI sind Nischenprojekte. Nicht mehr und nicht weniger. Eine Universität ist auch dann kein transformatives Paradebeispiel, wenn wöchentlich Studierende Lebensmittel vor dem Restmüll bewahren, Produkte tauschen oder eifrig über die imperiale Lebensweise diskutieren. Projekte und Initiativen wie diese können Handlungsanstöße geben, Diskurse anregen und wachrütteln. Diese Anstöße müssen jedoch aufgegriffen und auf höheren Ebenen strategisch implementiert werden, um so neue Institutionen und Strukturen zu schaffen, die Antworten auf die globalen und existentiellen Herausforderungen im Anthropozän geben. Nur wenn Hochschulen sich von dem aktuell starren System zu einem System wandeln, das von Menschen flexibel gestaltet werden kann, ist eine sozialökologische Transformation möglich. Durch einen solchen Wandel kann das Hochschulsystem auch als Vorbild für andere festgefahrene Systeme in Politik und Wirtschaft wirken. Eine partizipative Governance-Struktur mit Mitspracherecht aller Hochschulangehörigen, aber auch außeruniversitärer Personen und Gruppen, könnte dynamische Prozesse hervorrufen, in welchen sich das volle Potenzial von Hochschulen entfalten kann. Warum sollten Studierende zum Beispiel nicht in die Gestaltung der Lehre und des transdisziplinären Dialogs eingebunden werden, wenn es doch genau die Themen sind, die sie betreffen? Dieser Verantwortung müssen sich Hochschulen als Institution bewusst werden. Die Konzepte transformativer Forschungsideen werden eher angenommen, wenn die Diskrepanz zu ihrem eigenen Handeln aufgelöst ist. Je besser Hochschulen diese Vorbildfunktion ausfüllen, desto größer werden ihre Akzeptanz und Legitimation als Institution und die ihrer Ergebnisse gegenüber der Gesellschaft. Hochschulen haben also die Möglichkeit, zu ihrem eigenen Reallabor zu werden und somit Transformationen anzustoßen.
Gesucht: Verantwortungsübernahme – verloren im Tagesgeschäft?! Der studentische Beitrag zu einer sozial-ökologischen Transformation der Hochschulen im Sinne einer Verantwortungsübernahme ist vieles, aber mit Sicherheit kein ›Selbstläufer‹. Zu starre Curricula, aufgrund derer Studierende oftmals nur mit dem ›Abarbeiten‹ von Modulen beschäftigt sind, lassen wenig Raum zur freien
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Einteilung und Entfaltung. Wir Studierende sehen uns dabei unter Druck gesetzt, in Regelstudienzeit abzuschließen; wir sehen uns u.a. deswegen oftmals nur als Konsumenten und Konsumentinnen eines vom Kapitalismus getriebenen Hochschulsystems. In diesem bleibt neben Studium, Arbeiten oder auch der Pflege von Familienangehörigen z.T. wenig Zeit, sich an der Hochschule einzubringen. Innerhalb dieser Strukturen als Studierende die Möglichkeit zu haben bzw. die Balance zu finden, sich zu engagieren, ist nicht nur eine Gratwanderung, sondern kann bzw. muss auch als Privileg gesehen werden. Gerade vor diesem Hintergrund erscheint es umso wichtiger, Curricula so umzugestalten, dass Formate des ›Zuhörens, Probleme-Erkennens und Antworten-Gebens‹ in einem dialogischen und transdisziplinären Setting erprobt werden können. Derzeit geführte Diskussionen innerhalb der INUI beschäftigen sich mit der Frage, ob studentische ›Nischenprojekte‹ wie der Campus-Markt ausreichend sind, um bottom-up die gewünschten strukturellen Veränderungen herbeiführen zu können. Ist es erforderlich, vor allem als Studierende, noch weit fordernder und ›radikaler‹ auf Veränderungen hinzuwirken? Welche Rolle spielen dabei hierarchisch gewachsene Macht- und Abhängigkeitsverhältnisse? Welche Art der Zusammenarbeit, des Austausches und der Unterstützung ist hier seitens anderer Hochschulangehörigen erforderlich? Denn eines ist sicher: Die Transformation der Hochschulen und des wissenschaftlichen Systems geht uns alle an – sie ist ein gemeinsames Projekt. Wir Studierende fordern insbesondere von den Entscheidungsträgern und Entscheidungsträgerinnen in Machtpositionen, sich von der überholten, nicht zukunftsfähigen Logik des Wissenschaftssystems zu verabschieden und sich proaktiv an einer fundamentalen Neugestaltung zu beteiligen. Diese reicht u.a. von der Schaffung von Frei- und Experimentierräumen über die Stärkung studentischen Engagements für Nachhaltigkeit bis hin zur Etablierung transformativer Wissenschaft als ›neue Norm‹ gelebter wissenschaftlicher Praxis. Sicherlich, der Bruch mit der eigenen wissenschaftlichen Sozialisierung, dem Althergebrachten und dem damit verbundenen mindset ist unbequem und fordernd. Aber will sich die Wissenschaft und damit auch die Geographie irgendwann vorhalten lassen müssen, sehenden Auges und wider besseren Wissens untätig gewesen zu sein? Wo bleibt der Mut für gelebte Visionen und Utopien, wo der wirkliche Wille für Veränderungen, wo die Übernahme von Verantwortung?
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Nachhaltigkeit und Geographie Eine autobiographische Notiz Hans Jürgen Böhmer »The neutralization of reason that deprives it of any relation to objective content and of its power of judging the latter, and that degrades it to an executive agency concerned with the how rather than with the what, transforms it to an ever-increasing extent into a mere dull apparatus for registering facts.« (Horkheimer 1947: 55)
Im Sommer 1988, schon nach dem Höhepunkt der lautstarken und einflussreichen Umweltbewegung jener Zeit, erschien im Feuilleton der Süddeutschen Zeitung eine Reihe von Debattenbeiträgen, die sich mit der Zukunft der Menschheit auf dem Planeten Erde befassten. Während einige Autoren ein positives Bild zeichneten, waren andere ausgesprochen pessimistisch. Unter der Überschrift: »Warum schweigen wir? Das Grundgesetz vom Niedergang – oder: die Chancen menschlichen Überlebens auf dem Planeten Erde« schrieb etwa Lothar Mayer, ein Mitarbeiter der E.F. Schumacher-Gesellschaft für Politische Ökologie, mit Bezug auf die seiner Ansicht nach unvermindert anhaltende Naturzerstörung: »Unsere jubelnde Zustimmung klingelt jeden Tag in den Kassen der Supermärkte und Kaufhäuser, wenn wir unsere Milch im Plastikbeutel, unser pestizidgepäppeltes Gemüse, unser Deo-Spray und die leuchtend-roten Steaks bezahlen. Es ist unser ganzer, sich in Geld ausdrückender way of life, mit dem wir tagtäglich und in kleinsten Raten, damit´s nicht so auffällt, unsere Zustimmung geben zur Verseuchung des Grundwassers und zur Zerstörung der Ozonschicht, zur Abholzung des tropischen Regenwaldes und zur Vergiftung der Nordsee.« Der Beitrag war zum Zeitpunkt seines Erscheinens eine Provokation. In der bundesdeutschen Gesellschaft war bereits ein grünes Bewusstsein institutionalisiert, etwa hinsichtlich der Einführung bleifreien Benzins, umweltfreundlicher
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Standards in Herstellungsverfahren zahlreicher Produkte, hinsichtlich neu geschaffener Natur- und Umweltschutzbehörden und, last but not least, des Einzugs einer grünen Partei in den Bundestag. Es schien kaum vorstellbar, dass das Primat des Ökonomischen weiterhin ungebrochen den Lauf des Weltgeschehens und insbesondere den Umgang mit natürlichen Ressourcen bestimmen würde. Das war vor über 30 Jahren. Der Pessimismus Lothar Meyers gründete sich auf dem Gegensatz zwischen dem, was in den 30 Jahren zuvor unternommen wurde, um der Öffentlichkeit den Mahlstrom menschlicher Gier und seine Auswirkungen auf die Umwelt bewusst zu machen u.a. in den vielen »…Stunden, Tagen und Wochen von gescheiten, prophetischen, anklagenden Magazinbeiträgen und Dokumentarfilmen der sechziger, siebziger und achtziger Jahre…« und der Tatsache, dass das doch keine Trendumkehr bewirkt hatte. Dieses »erdrückende Material« würde beim Betrachter in naher Zukunft die ungläubige Frage aufwerfen, wie der Raubbau an den globalen Ressourcen trotz dieser gut verfügbaren Informationen hatte weitergehen können. Niemand würde behaupten können, vom unaufhörlich wachsenden Ausmaß der Umweltzerstörung nichts gewusst zu haben. Und doch ist nach Mayers Einschätzung nichts Entscheidendes unternommen worden, um dem Raubbau wirklich Einhalt zu gebieten.
Aufbruch Mayer sagte voraus, dass es trotz aller Bemühungen, die Katastrophe medial vor Augen zu führen, nicht gelingen würde, global das zu etablieren, was wir heute als nachhaltige Ressourcennutzung definieren. Dieser Pessimismus verärgerte mich, und er forderte mich heraus, denn er beraubte meine Generation ihrer Utopie. Damals, im Sommer 1988, befand ich mich im zweiten Semester meines GeographieStudiums. Ich war einer von vielen Studierenden, die aus der leidenschaftlichen ökologischen Jugendbewegung der frühen 1980er Jahre hervorgegangen waren und sich für Biologie, Geographie und andere Umweltwissenschaften eingeschrieben hatten. Wir waren eine neue Generation, deren Sendungsbewusstsein in Sachen Umwelt- und Naturschutz sicherzustellen schien, dass grüne Ideale fortan die Zukunft der Menschheit leiten würden. Ich hatte mich für ein Geographie-Studium entschieden, da es versprach, viele für ein umfassendes Verständnis von Umweltproblemen und deren Lösung essentielle Aspekte abzudecken. Wir glaubten fest daran, als Geographinnen und Geographen Verantwortung für unsere Gesellschaft, für unseren Planeten übernehmen zu können und zu müssen. Und während wir anfangs nur ahnten, das dafür geeignete Fach zu studieren, legte uns Yves Lacoste 1990 schließlich die Argumente in die Hand:
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»Die Geographie ist einerseits nie reine Wissenschaft, sondern immer – seit der Antike – militärisch, ökonomisch, politisch angewandte Wissenschaft gewesen, sie kann eben deswegen nicht nur künftige, nationale oder supranationale Planungen in der notwendigen Komplexität entwickeln, sondern ist durch diese Komplexität auch vorbereitet, jederzeit zusätzliche Koordinaten mit zu berücksichtigen und somit politisches Handeln anzuleiten. […] Heute sieht man deutlicher, daß das enorme wirtschaftliche Wachstum in den letzten Jahrzehnten großenteils nichts anderes war als eine Art Flucht nach vorn und daß die Entwicklungspläne, die von den Ökonomen […] ausgearbeitet wurden, nicht imstande gewesen sind, die Probleme der Länder der Dritten Welt zu lösen. […] Man muss vielmehr so schnell wie möglich versuchen, eine Reihe von grundlegenden Problemen geographischer Natur zu lösen. Die Geographen dürfen sich von den Ökonomen nicht länger ins Schlepptau nehmen lassen« (1990: 59). Bruno Messerli konkretisierte diesen Anspruch in seinem Festvortrag zum Geographentag 1997: »Bevölkerungswachstum, neue und wiederauftauchende Krankheiten, Umweltzerstörung, Nahrungsmangel, nicht nachhaltiger Verbrauch von Energie und natürlichen Ressourcen. […] Sie bedeuten eine bisher unbekannte Herausforderung für Wissenschaftler und Politiker zugleich, die zu einer optimalen Interaktion finden müssen. In diesem Sinne hat die Wissenschaft, hat die Geographie, mit Bescheidenheit und Ernsthaftigkeit, mit Vision und Engagement, eine Verantwortung zu übernehmen.« Diese Aufrufe zur selbstbewussten Einmischung der Geographinnen und Geographen wurden unser Auftrag. Und so begannen viele von uns, sich in diesem Sinne beruflich zu verwirklichen u.a. in Forschung, Lehre, Politikberatung und Umweltplanung. Wir wurden Teil einer einflussreichen Zeitströmung, in der entscheidende globale Abkommen zum nachhaltigen Umgang mit Ressourcen erarbeitet und ratifiziert wurden u.a. die Biodiversitätskonvention (Convention on Biological Diversity, CBD, Rio de Janeiro 1992) mit dem Versuch, ökologische, ökonomische und soziale Aspekte beim Umgang mit biologischer Vielfalt in Einklang zu bringen, die Millennium Development Goals zur globalen Armutsbekämpfung (MDGs, New York 2000), und die Sustainable Development Goals (SDGs, The 2030 Agenda for Sustainable Development, New York 2015) zur Sicherung nachhaltiger Entwicklung. Ich selbst hatte in meiner Funktion als Professor für Biogeographie an der University of the South Pacific vorbereitend für das Pariser Klimaabkommen 2015 (COP21) die Regierungen der Pazifikstaaten beraten und Gelegenheit, an der »Suva Declaration on Climate Change« (2015, Suva) mitzuarbeiten, die in Paris eine Verhandlungsgrundlage wurde. Kurz: Meine Möglichkeiten zur Mitgestaltung nationaler, internationaler und globaler Richtlinien gingen weit über das hinaus, was ich mir 1988, im
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zweiten Semester, hatte vorstellen können, und dies gilt wohl auch für andere Studierende meiner Generation. Wir schienen im Laufe der Zeit zahlreiche Optionen für eine bessere Entwicklung der Welt auf den Weg zu bringen.
Unbequeme Wahrheiten Im November 2017, fast 30 Jahre nach Lothar Mayers düsterer Vorhersage, erhielt ich von meinem Kollegen Bill Laurance, Prince Bernhard Chair in International Nature Conservation an der James Cook University in Cairns, Australien, eine E-Mail mit einem von ihm mitverfassten Aufsatzentwurf. Er bat mich, dieses zeitnah erscheinende Paper samt anhängendem Aufruf zu unterzeichnen und in meinem Netzwerk weiterzuleiten. Es handelte sich um »World Scientists´ Warning to Humanity: A Second Notice« (Ripple et al. 2017). 25 Jahre nach dem ersten Aufruf von 1700 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern (Scientists Warning to Humanity, 1992), der Umweltzerstörung Einhalt zu gebieten, ging es erneut darum, die Menschheit auf gravierende Probleme hinzuweisen. In diesem Paper wurde dargestellt, wie sich relevante Parameter, etwa Süßwasserressourcen pro Kopf, Waldflächen, CO2 Emissionen oder die Bestände von Wirbeltierarten seit Anfang der 1990er Jahre im globalen Maßstab entwickelt hatten. Das Resultat war Besorgnis erregend – die Indikatoren eines sich seit 1992 immer schneller vollziehenden Niedergangs wurden auf wenigen Seiten eindrücklich zusammengefasst. Lothar Mayer scheint also mit seinen radikalen Aussagen von 1988 bis dato Recht zu behalten, denn unter dem Strich gilt nun, schon tief im 21. Jahrhundert, immer noch das Gleiche wie 1988, obwohl bereits damals die Erhaltung der Umwelt zu den – nach Umfrageergebnissen – wichtigsten Zielen der bundesdeutschen Bevölkerung zählte. Wie ist das möglich? Noch weit mehr als in den 1960er bis 1980er Jahren werden uns doch heute die durch unser Konsumverhalten ausgelösten Umweltprobleme vor Augen geführt, und zwar multimedial. Es wird viel fotografiert, gefilmt, gepostet, geliked, kommentiert, publiziert und sogar wieder häufiger demonstriert, dennoch wurde nach wie vor keine Trendwende erreicht. Auch das hatte Lothar Mayer bereits konstatiert: Das ressourcenintensive Leben ist wohl für viele Menschen zu angenehm, um dagegen Sturm zu laufen oder sich wenigstens zügig ressourcenschonender zu verhalten. Konsequentes Handeln in dieser Hinsicht hieße ja schlicht, auf selbstverständlich gewordene Fernreisen, überdimensionierte Autos, die exorbitante Beanspruchung von Businessflügen, Liefer– und Streaming–Diensten, den Coffee–to–go im Einweg–Becher, zahllose andere Bequemlichkeiten zu verzichten. Wer erinnert sich nicht an die – auf der Straße – so aktiven Demonstranten beim G8-Gipfel 2007 in Heiligendamm, die sich zwischendurch bei McDonalds stärkten: »Während draußen Plakate mit Parolen wie »Stoppt den Kapitalismus« und »Für einen fairen Welthandel« vor-
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beigetragen werden, ordern Globalisierungskritiker drinnen Burger und Cola en masse« (Baumann 2007). Diese Unfähigkeit zur Konsequenz halte ich noch heute für symptomatisch. Hier aber halte ich inne, denn es ist leicht, mit dem Finger auf jemand anderen zu zeigen. Was aber – die Frage muss ich hier stellen – ist möglicherweise an meinem, an unserem eigenen, wissenschaftlichen Tun nicht nachhaltig? Was können wir als Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler selbst dafür tun, dass sich eine nachhaltige Praxis besser etablieren kann? Und welche Haltung wäre mit einer verantwortungsvollen, nachhaltigen Praxis verbunden? Um dieser Frage beizukommen, müssen wir zunächst einmal vom Status quo ausgehen und eruieren, was an unserem eigenen, wissenschaftlichen Tun nicht nachhaltig ist. Greifen wir Horkheimers Aussage auf, die diesem Essay vorangestellt ist: »Die Neutralisierung der Vernunft, die sie jeder Beziehung auf einen objektiven Inhalt und der Kraft, diesen zu beurteilen, beraubt und sie zu einem ausführenden Vermögen degradiert, das mehr mit dem Wie als dem Was befasst ist, überführt sie in einen stumpfsinnigen Apparat zum Registrieren von Fakten« (2007: 69). Horkheimer weist hier darauf hin, dass etwa die bloße Organisation, Klassifikation und Berechnung von Daten, der »objektiven Vernunft«, beispielsweise der warnenden Stimme einer praxiserfahrenen Fachkraft, durchaus entgegenstehen kann (Sorgo 2015). Sind wir denn nicht auch als Rädchen im globalisierten Hochschulbetrieb oft schon mehr mit dem Wie, d.h. der Art und Weise etwas zu tun, als mit dem Was, d.h. mit der Qualität des Problems hinsichtlich eines Forschungsgegenstandes befasst? Wenden wir diese Frage auf die derzeit gängige wissenschaftliche Praxis an, springt Folgendes ins Auge: der Drang nach Impact, insbesondere nach Zitationen, und damit verbunden nach überoptimaler Selbstdarstellung (Geman & Geman 2016), insbesondere in (immer mehr und unterschiedlicheren) sozialen Medien, erfordert enormen Aufwand und lenkt uns »Wissen Schaffende« (Schlottmann 2021) vom Wesentlichen ab: dem forschungsbezogenen Erkenntnisgewinn. Es entsteht der Eindruck, dass Erkenntnis immer mehr inszeniert wird. Woher kommt das? Die Mathematiker Geman & Geman (2016) haben folgenden Erklärungsansatz: »An führenden Universitäten werden Wissenschaftler angestellt, bezahlt und gefördert auf Grundlage des Grades ihrer Zurschaustellung, normalerweise ausschließlich gemessen an der Länge ihres Lebenslaufes, insbesondere der Anzahl von Publikationen, Konferenzpräsentationen, erfolgreichen Forschungsanträgen etc. Die Reaktion der Wissenschaftlergemeinde auf die veränderten Leistungskriterien ist vollkommen rational: Wir verbringen unsere Zeit überwiegend damit,
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professionelle Selfies zu machen. Tatsächlich verbringen viele von uns mehr Zeit mit der Ankündigung von Ideen als mit der Ausarbeitung von Ideen. Produktiv sein heißt sichtbar sein, und tiefes Nachdenken ist eben nicht sichtbar.« (Geman & Geman 2016: 9384f.; Übers. v. Verf.). Diese Verschiebung der Betonung vom Was zum Wie ist ein Anzeichen für nichtnachhaltiges Handeln im zeitgemäßen Wissenschaftsbetrieb, vor allem hinsichtlich der drei folgenden Aspekte: Vergessen von gewachsenem Wissen, Vereinfachung komplexer Zusammenhänge, und Entfremdung von der physischen Realität.
Vergessen »Neues Wissen baut stets auf bestehendem Wissen auf.« schrieb Klaus Liebig noch 2007 unter Berufung auf Issac Newtons »If I have seen far, it is by standing on the shoulders of giants.« Diese Berücksichtigung gewachsenen Wissens ist nicht mehr grundsätzlich der Fall. Da viele fundamentale Werke, auch jene wissenschaftlicher »Giganten« der Vergangenheit, im Zeitalter unmittelbarer Online–Verfügbarkeit schlecht (be-)greifbar und im Vergleich zu aktuell publizierten Aufsätzen hinsichtlich ihres Impacts kaum konkurrenzfähig sind, ist es möglich geworden, sie beiseite zu lassen (Keddy 2005). Neue, metrisch erzeugte Giganten gedeihen in wenigen Jahren durch die Bedienung der zeitgemäßen virtuellen Werkzeuge und schrauben sich in durch neue Schlagworte abgegrenzten Echokammern in die Höhe. Eine Auseinandersetzung mit Wissen, das längst etabliert und gültig ist – möglicherweise seit Jahrhunderten – ist dafür nicht unbedingt nötig. Belesenheit in Hinsicht auf die »Klassiker« eines Faches scheint als essentielle Voraussetzung für den Erfolg einer wissenschaftlichen Karriere ausgedient zu haben. Die Verwendung neuer Schlagworte und die Konzentration auf eine Sprache – das Englische – koppelt bestehendes und gewachsenes Wissen ab, da es in den Suchmaschinen unsichtbar bleibt oder von vornherein für irrelevant gehalten wird. Es ist inzwischen sogar möglich, unter neuen oder anderssprachigen Schlagworten ganze Fachgebiete wieder bzw. neu zu erfinden – Jahrzehnte, nachdem sie mit anderen Methoden umfassend bearbeitet wurden, und ohne jeglichen Verweis auf die früheren Arbeiten (Böhmer 2014, 2019). Der Geobotaniker Paul Keddy erkannte diese neue Form des Vergessens schon früh und bezeichnete sie als »Alzheimerisierung der Wissenschaften« (2005). Keddys Sichtweise kommt u.a. in seiner vernichtenden Kritik des Buches »Evolutionary ecology of plant-plant interactions: an empirical modelling approach« (2007) zum Ausdruck. Dieser kurze Text gipfelt in einem Satz, der die Sichtweise des belesenen Praktikers Keddy exemplarisch auf den Punkt bringt:
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»Ich verstehe wirklich nicht, warum jemand über empirische Modelle schreibt und dabei das gesamte Fachgebiet ignoriert. […] Natürlich haben wir alle gelegentlich in unseren Publikationen wichtige Quellen übersehen, und bei der wachsenden Zahl von Zeitschriften werden sich solche Fehler wahrscheinlich wiederholen. Die Herausforderung für junge Wissenschaftler muss gewaltig sein. Das ist aber mit Sicherheit keine Entschuldigung dafür, das Fach einfach zu ignorieren und im Vorbeigehen frei neu zu erfinden« (Keddy 2007: 373, Übers. v. Verf.). Das von Keddy besprochene, in einem renommierten Universitätsverlag erschienene Fachbuch ist voller eklatanter Mängel. Ein Versehen des Verlags? Oder einfach Zufall? Nein, wohl eher ein Symptom. Ein metrisch erfolgreicher Nachwuchswissenschaftler würde Keddy heute vielleicht kaltschnäuzig antworten: »Ich verstehe wirklich nicht, wozu ich mich mit meinem Fach vertraut machen soll, wenn ich es im Vorbeigehen neu erfinden kann und dafür umso häufiger zitiert werde.« Inzwischen hat diese Problematik eine neue Qualität erreicht. 10 Jahre nach Keddys Polemik wurde ich beratend zu einer globalen Studie hinzugezogen, in der ein im Alpenraum hochrelevantes, dort entwickeltes, und seit vielen Jahrzehnten intensiv bearbeitetes Forschungsthema behandelt wurde. Allerdings wurden im zugehörigen Aufsatzentwurf diese fundamentalen Beiträge überhaupt nicht erwähnt. Auf Nachfrage stellte sich heraus, dass das überwiegend junge Forscherteam gar nicht auf die Idee gekommen war, im deutschen (und italienischen, französischen usw.) Sprachraum könne etwas Relevantes zum Thema erarbeitet worden sein – obwohl die Bearbeiterinnen und Bearbeiter der Studie teilweise deutsche, italienische, französische Muttersprachler waren. Wie lässt sich das verstehen? Die Suchbegriffe, mit denen die Literaturdatenbank Scopus durchforscht wurde, waren allesamt englisch, basierend auf der inzwischen verbreiteten Vorannahme, nur englischsprachige Publikationen seien wissenschaftlich seriös. Und damit fiel alles, was jemals auf Deutsch oder in anderen europäischen Sprachen auch in angesehenen Zeitschriften zum Thema veröffentlicht worden ist (und zum Teil auch in Scopus abrufbar ist), durch das Wahrnehmungsraster. Unter welchen Umständen ist solches Handeln sinnvoll? Auch jenseits reiner Ahnungslosigkeit spricht längst Vieles dafür, die Ideengeschichte des eigenen Faches beiseite zu lassen. Denn es ist ohnehin immer schwieriger geworden, in der Flut von Publikationen und Publikationsorganen überhaupt noch die Übersicht über ein Fachgebiet zu behalten. Dies hat nach Lane (2017) zu einer Krise durch übermäßige Produktivität geführt. Im Klartext: Es werden selbst zu Spezialgebieten viel mehr Artikel produziert als überhaupt gelesen werden können. Der Geomorphologe Stuart N. Lane, Direktor des Institute of Earth Surface Dynamics der Universität Lausanne, ist einer der wenigen Naturwissenschaftler, der seine diesbezüglichen Bedenken und, wie er schreibt »zutiefst verstörenden Beobachtungen« zur Entwicklung seiner Disziplin im 21. Jahrhundert offen kommuniziert. Die Phy-
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sische Geographie – nach Lane inzwischen eine »…hochproduktive MainstreamNaturwissenschaft, die entsprechend der Leistungsmerkmale der Abrechnungssysteme abliefert, die die neoliberale Universität dominieren…« (2017: 84; Übers. v. Verf.) – scheint von solchen Tendenzen bisher in stärkerem Maße betroffen zu sein als die Humangeographie. Aus der Überproduktion ergibt sich nach Lane ein weiteres Paradox: das Risiko mangelnder Produktivität durch unsere unter wachsendem Leistungsdruck wachsende Unfähigkeit, innovative Forschungsfragen zu entwickeln, die eigentlich nötig sind, um unsere Produktivität im Sinne innovativen, kreativen Denkens aufrecht zu erhalten. Für die Entwicklung und Durchführung innovativer Forschung bedarf es insbesondere einer zentralen Schlüsselressource: der Zeit. In diese Richtung argumentieren auch die Mathematiker Geman & Geman: »Die akademische Welt ist großteils eine Fabrik kleiner Ideen geworden. Belohnt für häufigeres Publizieren suchen wir nach publizierbaren Mindestgrößen. Wenig überraschend sind viele Publikationen letztlich Fortschrittsberichte, die schnell abgelöst werden. Die Anreize für wahrhaft neue Ideen sind verschwunden. […] Noch in den 1980er Jahren gab es ausreichend Zeit für Reflektionen und Qualitätskontrolle, und zwar aufgrund geringerer Erwartungen bezüglich externer Förderung und des Publikationsausstoßes. Traurigerweise sind unsere jüngeren Kollegen in dieser Hinsicht weniger privilegiert. Es mangelt ihnen an der Schlüsselressource Zeit.« (2016: 9384ff; Übers. v. Verf.; vgl. McMillan 2015). »Vielleicht ist das der Grund, warum ›data mining‹ die traditionelle hypothesengesteuerte Wissenschaft ersetzt hat. Wir sind in kleinen Entdeckungen gefangen, von denen die meisten im Grunde Nachweise statistisch signifikanter Muster in großen Datensätzen (›big data‹) sind. Hier gibt es normalerweise keine übergreifende Theorie, die Vorhersagen ermöglicht […]. Das würde zuviel Zeit und Nachdenken erfordern.« (Geman & Geman 2016: 9386; Übers. v. Verf.) Eine Ursache des »Vergessens« ist also der für den spätmodernen Menschen typische »Herstellungsmodus der panischen Produktion« (Anders, zitiert nach Dries 2012: 59). Günther Anders zufolge ist für moderne Menschen nichts so charakteristisch, »wie unsere Unfähigkeit, seelisch ›up to date‹, auf dem Laufenden unserer Produktion zu bleiben, also in dem Verwandlungstempo, das wir unseren Produkten selbst mitteilen, auch selbst mitzulaufen und die in die (›Gegenwart‹ genannte) Zukunft vorgeschossenen oder uns entlaufenen Geräte einzuholen« (Dries 2012: 62). Bisher scheint der Lösungsansatz der Physischen Geographen und Geographinnen ein – aus Sicht des Faches – destruktiver zu sein: Man orientiert sich, so Lane, weniger an der Geographie als vielmehr an den Naturwissenschaften (2017: 84),
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die früher eher als »Hilfswissenschaften« der Geographie angesprochen wurden, beispielsweise Biologie und Geologie. Trotz vieler Klagen hinter vorgehaltener Hand (Schlottmann 2021) spricht sich kaum jemand in der Physischen Geographie offen dafür aus, auf wenige, dafür umfassend recherchierte und qualitativ hochwertige Arbeiten zu setzen. In einer zunehmend von Performance Metrics definierten Berufswelt wäre das unter Umständen existenzgefährdend. Zum Erkennen der Qualität muss man sich Zeit nehmen, bei der Auswahl wissenschaftlicher Quellen über das hinauszublicken und zu –lesen, was auf Knopfdruck und nach Impact vorsortiert auf dem Bildschirm erscheint. Unweigerlich fällt mir Horkheimer wieder ein: »Die Aufgabe der Kritischen Theorie besteht nicht darin, technische Entwicklungen zu verhindern oder gar zurückzudrehen, sondern ernsthaft Widerstand zu leisten, indem sie dafür sorgt, dass das, was einmal Kultur war, von der Technik nicht einfach ausgewischt wird« (Horkheimer mdl., zitiert nach Sorgo 2015). Die Aussage, anders handelnde Menschen werden zunehmend »ökonomisch überflüssig und gesellschaftlich lästig gemacht, während die kapitalistische Karawane weiterzieht« (Dries 2012: 390) gilt inzwischen wohl auch für die Wissenschaften: »Der technologisch vermittelte Überfluss an Zeit wird durch die Komplexität der Interaktionen, durch den Aufforderungs- und Aufzehrungscharakter der Dingwelt und den Terror der Ökonomie im Entstehen sogleich wieder abgeerntet, Zuwiderhandlung mit sozialer Exklusion bestraft.«
Vereinfachung Für umfassende Betrachtungen eines raumwirksamen Problems fehlt im modernen Hochschulbetrieb oftmals die nötige Zeit, und das gilt tendenziell auch für das Fach, dessen Kernkompetenz diese umfassende Sichtweise eigentlich ist: die Geographie (Lacoste 1990, Ahamer 2019). Die der Umweltforschung angemessene Zeit und Komplexität (i.e. wissenschaftliche Sorgfalt) muss aber berücksichtigt werden, sonst ist die Anerkennung und Förderung hochrangig publizierter und gleichzeitig defizitärer Arbeiten vorgezeichnet. Der Zwang zur Beschleunigung betont den vielfach bestehenden Widerspruch zwischen tatsächlicher Datenverfügbarkeit und dem eigentlichen unmittelbaren Datenbedarf, etwa zur Untersuchung der Komplexität bedeutender Prozesse im globalen Wandel. So ergibt sich aus dem Zwang zur Beschleunigung auch der Zwang zur Vereinfachung: Durch die Konzentration der Forschung auf eher schnell verfügbare bzw. leicht erhebbare Daten erwächst die Gefahr einer Ausblendung ultrakomplexer Wirkungsgefüge, etwa solcher, die die Verbreitung und das Verhalten
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von Organismen und Ökosystemen steuern. Bei Vernachlässigung der schwer, beziehungsweise nicht kurzfristig zu erhebenden Parameter und daher numerisch unattraktiven Teilsysteme sind verlässliche Prognosen aber nicht zu treffen (Böhmer 2014). Und was ist, wenn aus einem aus Zeitmangel erwachsenden, unzureichenden theoretischen Hintergrund redundante Hypothesen abgeleitet werden, die auf Grundlage großer Datensätze numerisch überzeugend verifiziert werden können (Hard 1990)? Die Entkopplung von numerischem »Wissen« über die Natur und komplexem Erfahrungswissen ermöglicht beispielsweise unzureichend hinterfragte, zeitgemäße Inszenierungen naturräumlichen Wandels, die öffentlichkeitswirksam präsentiert werden können, letztlich aber eine Trivialisierung der jeweiligen Problematik in Wissenschaft und Gesellschaft heraufbeschwören. Nehmen wir als exemplarisches Beispiel eine aufsehenerregende pflanzengeographische Publikation aus dem Jahre 2005 mit dem Titel: Climate change threats to plant diversity in Europe (Thuiller et al. 2005). Demnach werden bis zum Jahr 2080 dramatische Veränderungen der Areale von 1350 Pflanzenarten inklusive hoher Aussterberaten in Europa vorhergesagt. Diese Berechnung geschieht auf Grundlage einer Modellierung, die insgesamt sieben bioklimatisch wichtige Parameter berücksichtigt. Diese Untersuchung wurde an renommierter Stelle publiziert und erzielte große Aufmerksamkeit auch in den Medien (z.B. Grund 2005). Sie lieferte die Blaupause für zahlreiche ähnliche Untersuchungen. Allerdings wird in pflanzengeographischen Lehrbüchern mindestens seit dem späten 19. Jahrhundert ausgeführt, dass die Verbreitung von Pflanzen mittelfristig nur zu einem Bruchteil von großklimatischen Parametern bestimmt wird. Zum Wirkungsgefüge, das die Ausbreitung schon einer einzigen Pflanzenart steuert, tragen viele Dutzend Faktoren bei (z.B. Heger & Böhmer 2005); neben klimatischen sind insbesondere auch edaphische, biologische und anthropogene Steuergrößen zu berücksichtigen. Für sehr viele Pflanzenarten in Mitteleuropa sind zahlreiche dieser Aspekte noch nicht erforscht. Demnach kann die Untersuchung von Thullier et al. gar keine Aussage über die tatsächlichen Areale im Jahr 2080 treffen. Es handelt sich lediglich um eine empirische Spielerei, was im Sinne eines kreativen Versuchs vollkommen in Ordnung ist. Ihre notwendigerweise sehr begrenzte Aussagekraft wird aber mit keinem Wort erwähnt, und wohl deshalb werden die Ergebnisse – das zeigt die Resonanz in den Medien – von der Öffentlichkeit durchaus ernst genommen.
Entfremdung Fehlende Ortskenntnis führt leicht zu fehlerhaften Annahmen über Eigenschaften eines Ortes, auch wenn vermeintlich ausreichende Daten über diesen Ort vorlie-
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gen. Es ist längst üblich, Aussagen und Vorhersagen über Ökosysteme auf Grundlage von Ferndiagnosen vorzunehmen. Wer aber niemals in einem Wald war, über den er forscht, läuft große Gefahr, zu Fehlschlüssen über Bestand und Dynamik und weitere Eigenschaften dieses Waldes zu kommen. Diese Entfremdung des Naturforschenden von der Felderfahrung kann gefährlich werden – unmittelbar für Ökosysteme und die sie aufbauenden Organismen, letztlich aber für uns alle. Als Beispiel sei hier eine Kontroverse aus der jüngsten Vergangenheit angeführt. In der führenden Fachzeitschrift »Science« erschien 2019 ein bahnbrechender Artikel von Bastin et al. mit dem Titel »The global tree restoration potential«. Demnach war in globalen Waldflächenbilanzen bis dato fast eine Milliarde Hektar übersehen worden, die sich für Wiederbewaldungs- und Aufforstungsprogramme zur Abmilderung des Klimawandels eignen. Hier könnten nach Bastin et al. (20191 : 76) nicht weniger als 205 Gigatonnen Kohlenstoff gebunden werden. Es gibt also global ein enormes Potenzial für die Schaffung von zusätzlichen Waldflächen, das bisher übersehen wurde: eine gute Nachricht, publiziert in einer der weltweit führenden wissenschaftlichen Zeitschriften, versehen mit einem Gütesiegel allerhöchster Kategorie. Dieser Fachbeitrag entfachte so etwas wie einen wissenschaftlichen Shitstorm, der zur Publikation von nicht weniger als vier Entgegnungen diverser Autorenkollektive in Science führte. Warum? Bastin et al. hatten ihre auf maschinelles Lernen gestützte Modellierung so fest im Blick, dass sie die durch ihre Ergebnisse berührte Komplexität der physischen Wirklichkeit scheinbar aus den Augen verloren. Jedenfalls entstand dieser Eindruck bei einem Teil der Leserschaft. Die Arbeitsgruppe konstatierte, Aufforstung und Wiederbewaldung seien der effektivste Lösungsansatz zur Bewältigung des Klimawandels, also mehr noch als die Reduzierung von Treibhausgas-Emissionen. Sie schlug Savannen und andere natürliche Vegetationstypen als potenzielle Waldflächen vor, was aber zum Verlust der nicht unerheblichen Zahl dort heimischer Tier- und Pflanzenarten führen würde, ganz abgesehen davon, dass diese und andere Nicht-Waldökosysteme bereits große Mengen an Kohlenstoff binden, insbesondere in ihren Böden. Zugleich errechneten Bastin et al., der Klimawandel habe den Verlust von 450 Millionen Hektar tropischer Wälder bis zum Jahr 2050 zur Folge, was auf dem Fehlschluss beruhte, dass diese Wälder einfach verschwinden und nicht – was diesbezügliche Forschung nahelegt – ihr Wachstum und ihre Struktur anpassen würden. Die Autorinnen und Autoren übersahen diverse weitere Aspekte der Dynamik von Ökosystemen und erarbeiteten all das unter Nichtberücksichtigung zentraler Eigenschaften des globalen Kohlenstoffkreislaufs sowie umfassender Forschung zum Thema aus den 1980er und 1990er Jahren. Alles in allem ist die Angabe »205 Gigatonnen« wohl um das Fünffache zu hoch angesetzt. Man kann Bastin et al. nicht vorwerfen, sie hätten methodisch unsauber gearbeitet. Aus der Logik ihrer Methodik haben sie konsequent gehandelt. Sie haben
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lediglich relevante Aspekte jenseits der von ihrer Methodik abgedeckten Wirklichkeit nicht ausreichend berücksichtigt. Und man kann dem Autorenkollektiv um Bastin ebensowenig vorwerfen, dass sie nicht alle Wälder, Savannen und sonstige Ökosysteme, die in irgendeiner Weise von der Untersuchung berührt werden, persönlich aufgesucht haben. Mit diesem »Ground truthing« wären sie allein viele Jahre beschäftigt. Und doch ist eine solche Rückversicherung in der realen Welt ganz offensichtlich von zentraler Bedeutung, und zwar in doppelter Hinsicht: im Hinblick auf die real existierenden Ökosysteme einerseits, und die mit ihnen befassten Experten – auch jenen vor Ort – andererseits. Beruhigend an diesem Beispiel ist, dass die Wissenschaftsgemeinde seriös reagiert hat, wie übrigens auch das Autorenkollektiv um Bastin et al. mit entsprechenden Klarstellungen und Korrekturen (Bastin et al. 20192 , 2020). Allerdings ist die Reichweite der Originalpublikation wesentlich größer als die der publizierten Entgegnungen und Klarstellungen, das lässt sich anhand der zugehörigen Daten auf der Webseite von Science detailliert nachvollziehen. Und somit bleibt ein Restrisiko, dass die Inhalte des Originals unkritisch übernommen werden, etwa als Argumente für Aufforstungskampagnen an ungeeigneten Orten.
Ausblick Wenn es ein Schulfach gäbe, in dem der Global Change in seiner Komplexität thematisiert wird, die Steuergrößen globaler Probleme im Zusammenhang vermittelt werden und das junge Menschen auf die damit zusammenhängenden Herausforderungen vorbereitet – würden Sie seine Einführung wünschen? Oder, falls das Fach schon existierte – würden Sie es gerade heute streichen? Letzteres hat man tatsächlich im Bundesland Hessen vor, wo das Unterrichtsfach Geographie abgeschafft werden soll (Bräuning 2020). Warum nicht stattdessen das tun, was eigentlich geboten ist: Geographie ins Zentrum schulischer Bildung zu stellen? Oder zumindest die Anzahl der Geographiestunden im Fächerkanon absichern? Leider schwächt die gegenwärtige schleichende Auflösung der Physischen Geographie in die naturwissenschaftlichen Nachbardisziplinen oder in die ausdrückliche Interdisziplinarität (Lane 2017) hinein die Position der gesamten Geographie zusätzlich und leistet Überlegungen zur Abschaffung Vorschub. Lane sieht diese Tendenz zur »kreativen Selbstzerstörung« (Lane 2017: 91) für das Fach Geographie in seiner Gesamtheit und verweist zur Charakterisierung der gegenwärtigen Situation auf Maddrell (2010): »Wir finden uns zunehmend in einer merkwürdigen Auffassung von Wissenschaft, eine in der wir uns eher als breit aufgestellte Sozial-, Kultur- oder Umweltwissenschaftler denn als Geographen im engeren Sinne wahrnehmen,
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gleichzeitig aber auf das Fortbestehen von etwas namens »Geographie« an den Universitäten angewiesen sind, um eine Anstellung zu haben« (Maddrell 2010: 151). Was tun? Die oben geschilderten Umstände stehen ganz offensichtlich in drastischem Widerspruch zu den aktuellen Erfordernissen, unter denen an die Geographie noch immer die Erwartung herangetragen wird, im Sinne Lacostes und Messerlis zukunftsweisende Antworten unter der Bedingung von Unübersichtlichkeit und Unvorhersehbarkeit zu geben – angesichts des gesellschaftlichen Imperativs der Digitalisierung, der Klimaänderung, weltweiter Ungerechtigkeiten und Migrationsbewegungen (Böhmer/Dickel 2019). Lothar Mayer hat das Erforderliche in seinem Beitrag von 1988 folgendermaßen auf den Punkt gebracht: Was wir brauchen, ist unsere »Vernunft: eine Absage an all die Dummheit, Gier und Eitelkeit, den Hochmut und die Hast, die uns alles machen lassen, was wir machen können. […] Können wir nicht in die Tat umsetzen, was wir als dringend notwendig erkannt haben, oder wollen wir nicht?« Diese Lücke zwischen Wissen und Handeln lässt sich leichter schließen, je umfassender wir alle – Gesellschaft und Wissenschaft – hinsichtlich der Komplexität der Zusammenhänge unserer Umwelt und unserer Beziehungen mit ihr gebildet sind, und zwar von klein auf. Die Abschaffung der Geographie als Schulfach würde dem zuwiderlaufen. Die grundsätzliche Anerkennung und Wahrnehmung der Komplexität von Prozessen auf allen Skalenebenen muss unweigerlich die erste Voraussetzung seriöser Umweltforschung sein. Was dies in globaler Perspektive bedeutet und welcher Facettenreichtum hier zu berücksichtigen ist, hat u.a. Gilbert Ahamer in seinem monumentalen Werk »Mapping Global Dynamics« (2019) aufgezeigt. Ahamer versteht Geographie als das Studium extremer Komplexität in Raum und Zeit. Wie stellt man diese Komplexität angemessen und gleichzeitig verständlich dar, wie geht man sie überhaupt an? Zunächst, in dem man sich die notwendige Zeit dafür nimmt, ganz im Sinne einer »Slow Science« (The Slow Science Academy 2010, Weichhart 2012, Geman & Geman 2016, Lane 2017, Stengers 2018, Böhmer 2019). Wohl nur dann können wir eine kreative und innovative, auch verantwortungsvolle Geographie (Escher 2021) lebendig erhalten, die unsere ursprüngliche Begeisterung für ihre Inhalte weiterträgt.
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Verantwortung der Geographie Moralische Implikationen geographischer Wissenschaft Jochen Laub »So viel – vorläufig – über den zweiten Aspekt der paradoxen Problemsituation, mit der uns die Frage nach dem Verhältnis von Wissenschaft und Ethik konfrontiert. Eine universale, d.h. intersubjektiv gültige Ethik solidarischer Verantwortung scheint demnach zugleich notwendig und unmöglich zu sein.« (Apel 2015: 363)
Seit etwa einem Jahr demonstrieren Kinder und Jugendliche an Freitagen dafür, verantwortlich mit der Zukunft der Erde umzugehen und rufen dabei andere Menschen, Politikerinnen und Politiker, sowie Konzerne zu einem ökologischen und klima-bzw. CO2 -neutralen Kurs auf. Die Bewegung stellt sich eigenen Aussagen bzw. ihrem Slogan »unite behind the science« gemäß hinter die Aussagen von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern und fordert aufgrund von wissenschaftlichen Erkenntnissen zu (re)agieren (Ripple et al. 2017). Ähnliches zeigt sich auch in aktuellen gesellschaftlichen Debatten um den Umgang mit wissenschaftlichen Aussagen zur Ausbreitung von Covid19/Sars-Cov-2. Wissenschaftliche Erkenntnisse und Beschreibungen werden als handlungsorientierende Aussagen im Zusammenhang mit der politischen Lenkung der Gesellschaft gedeutet. Selbstverständlich schmeichelt eine öffentliche Bedeutsamkeit, gerade auch Geographinnen und Geographen, aber können wir als Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler einer solchen Rolle vor dem Hintergrund unserer wissenschaftlichen Verantwortung gerecht werden? Als gleichsam »notwendig und unmöglich« wird die Frage nach einer universal gültigen Ethik der Verantwortung von Wissenschaft vor dem Hintergrund einer gesellschaftlichen und ökologischen Verunsicherung sowie einer problematisch werdenden Ethik der Wissenschaften von Karl-Otto Apel gedeutet. Stimmt man dieser Diagnose zu, so zeigt sich die Notwendigkeit, reflexiv über Telos, Nomos und Ethos
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von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern zu sprechen, womit der Blick auch auf die Hintergründe des fraglich gewordenen Bereiches einer Verantwortung der Wissenschaft fällt. Nach einer Verantwortung von Geographie (bzw. von Geographinnen und Geographen) zu fragen, heißt sowohl die Verantwortung von Wissenschaft im Allgemeinen sowie unser Verständnis von Geographie im Besonderen zu betrachten. Der vorliegende Beitrag möchte in vier Schritten Gedanken hierzu darlegen: • • • •
Zum Verhältnis von Wissenschaft und gesellschaftlicher Verantwortung Verantwortung als relationaler Begriff Zur Verantwortung von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern Unsere Verantwortung als Geographinnen und Geographen
Die Rede von der Verantwortung bzw. über die Verantwortung hat geradezu inflationäre Tendenzen angenommen. Ein Verantwortungsbegriff kann allerdings nur dann tauglich sein, wenn er in seiner Bedeutung für das Handeln fundiert eingebettet wird. Die vorliegenden Überlegungen möchten einen Beitrag zur systematischen Betrachtung von Verantwortung, die mit unserer Auseinandersetzung mit Welt als Geographinnen und Geographen verbunden ist, leisten und Gedanken über einen orientierenden ethischen Rahmen bzw. regulative Prinzipien (Apel 2015: 431) dieser Verantwortung darlegen, ohne den Verantwortungsbegriff zu überlasten.
Zum Verhältnis von Wissenschaft und gesellschaftlicher Verantwortung Das Nachdenken über eine Verantwortung von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern führt zum Kern des wissenschaftlichen Selbstverständnisses und ist mit einer Reflexion des Verhältnisses von Wissenschaft und Gesellschaft verbunden (Apel 2015: 359ff), denn so sehr Wissenschaft auch in einer Art des Elfenbeindaseins existiert, bleibt sie doch immer rückgebunden an die Gesellschaft, in der sie besteht. Eine Reflexion des Begriffs Verantwortung kommt mit der Neuzeit auf und ist eng mit den Begriffen der Rationalität und der Freiheit verbunden. Damit steht er in einer problemgeschichtlichen Verbindung mit zentralen Begriffen der Philosophiegeschichte (Nida-Rümelin 2016). Gerade die Spannung zwischen der Freiheit der Wissenschaft und gesellschaftlichen Ansprüchen an Wissenschaft, aber auch die Frage nach der Verantwortung von Wissenschaft für eine bessere Gesellschaft treten dabei zu Tage. Fragen nach der Rolle von Wissenschaft für die Gesellschaft und die politische Führung des Staates sind bereits in der Antike prominent, wie Platons politeia ver-
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deutlicht (ebd. 1989). Wie bei Platon wird auch in der späteren Entwicklung Wissenschaft dauerhaft vom Zweifel an der Zuträglichkeit wissenschaftlichen Wissens begleitet (Safranski 2003: 253). Eine neue Qualität bekommt die Frage nach der Rolle der Wissenschaft allerdings angesichts der Brüchigkeit der Vorstellung einer objektiven Erkenntnis in mehreren Schritten: Ausgehend vom Skeptizismus Montaignes, über die Gedanken Pascales und die kopernikanische Wendung Kants. Entwicklungen, die jeweils neue Betrachtungen wissenschaftlicher Erkenntnis begründen. Spätestens in Marx’ These, »die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kommt aber darauf an, sie zu verändern« (Marx 1969: 5), wird die Frage nach der Bedeutung wissenschaftlicher Erkenntnisse für die Lebenswelt explizit, die im 20. Jahrhundert noch dringlicher wird. Denn angesichts der Entwicklungen des 20. Jahrhunderts wird eine grundsätzliche Kritik der aufgeklärten Vernunft und des Wertes wissenschaftlichen Fortschritts laut, die den Holocaust nicht verhindern konnte bzw. vielmehr nicht verhindert hat (Adorno/Horkheimer 2003). Die technische Ausweitung der menschlichen Verfügungsmacht (der zunehmenden zerstörerischen Macht des Menschen) bis hin zur potentiellen Vernichtung allen Lebens erhebt die Menschheit in eine neue Position der prospektiven Verantwortung (Jaspers 1958; Jonas 1979). Auch die Reichweite der Einflüsse auf das ökologische System und damit auf folgende Generationen werden zum Ausgangspunkt der Frage nach der Verantwortung von Wissenschaft (Jonas 1979; Lenk 2009; Birnbacher 2016). Daneben bewirken heute die rasant wachsende Informationsmenge sowie die zunehmende globale Vernetzung einen sich weitenden Objektbereich der Verantwortung in unserem Alltag (Spinner 1994; Lenk 2018). Max Weber formulierte vor etwa 100 Jahren (1917 und 1919) in seinen Beiträgen (Weber 1994) Grundsätze zur Rolle von Wissenschaft als Beruf, die den nachfolgenden Diskurs über das Selbstverständnis von Wissenschaft und den Umgang von Wissenschaft mit Normativität bestimmen sollten und sieht Wissenschaft hierbei in der Rolle, deskriptive Aussagen (Seinsaussagen) zu formulieren, nicht politische Sollensaussagen. Grundsätzlich werden nach dem Hume’schen Prinzip deskriptive Aussagen (Seinsaussagen) von normativen bzw. präskriptiven Aussagen (Sollensaussagen) unterschieden, weil letztere nicht allein aus Fakten abgeleitet werden können (Apel 2015: 263). Weber wendet die ihm angetragenen Probleme ins Grundsätzliche und löst sie ab von Tagesaktualitäten. Die Frage, die auf gesellschaftlicher Ebene die Rolle von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern und auf subjektiver Ebene das individuelle Sinnproblem zum Gegenstand hat, wird zur Frage nach der Bedeutung von »Wissenschaft als Beruf« überführt. Weber betrachtet diese Bedeutung in kulturwissenschaftlichen Dimensionen. »So wie der einzelne sich über den »Sinn«-gehalt seiner Berufsrolle nicht klar werden kann, ohne auf die Rolle der sie umfassenden Institution zu reflektieren, so lässt sich der »Sinn«-gehalt dieser Institutionen nicht verstehen, wenn man
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nicht den gesellschaftlichen Zusammenhang mitbedenkt, dem sie angehören.« (Schluchter 1980: 45) Webers Rationalisierungsthese zufolge wird Wissenschaft zunehmend als sinnstiftende Institution verstanden. In Webers kulturhistorischer Deutung gewinnen die Prozesse der Entzauberung, Institutionalisierung und Rationalisierung in der Neuzeit zunehmend gesellschaftliche Bedeutung auch für Fragen der Sinnstiftung, womit sich der Modus der Rationalisierung über zentrale Wertbereiche erstreckt (Schluchter 1980). Die daraus resultierende Einheit von Welterkenntnis und Weltgestaltung zeigt sich allerdings als problematisch, trifft Wissenschaft doch ihrem Modus, Telos und Nomos nach deskriptive Aussagen über Ist-Zustände, die eine Antwort auf die Frage geben: Was ist wahr? Sie trifft keine Sollensaussagen bezüglich der Frage: Was ist gut bzw. wünschenswert? Alle Praxis allerdings erfordert Sollensklärungen, denn sie beruht auf einer Bestimmung eines Handlungsziels, das bewertet wird. In aktuellen Diskussionen (z.B. bezüglich dem Klimawandel, Sars-Cov-2 etc.) werden von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern häufig normative Aussagen (mit Sollensgehalt) gefordert, die Wissenschaft so nicht zu geben vermag, was die Webersche Deutung bekräftigt, die Forschende zunehmend mit einer gesellschaftlichen Erwartung konfrontiert sieht, auf Sinnfragen zu antworten. Hier unterscheiden sich Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler von Politikerinnen und Politikern in ihrem Verhältnis zur Gestaltung der Lebenswelt. Die politische Stellungnahme ist für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler selbst Erkenntnisgegenstand, der zur kritischen Untersuchung herausfordert. Die Verantwortung für die Folgen politischer Handlungen wird wissenschaftlich reflektiert und beschrieben. Die Wertorientierungen von wissenschaftlichem Personal und Politikerinnen und Politikern unterscheiden sich maßgeblich darin, dass »ihre intellektuelle Rechtschaffenheit, nicht Unterordnung unter ein vorgegebenes Ziel, sondern Distanz und Klarheit […] die Tugenden des Wissenschaftlers [sind]« (Schluchter 1980: 66). Diese Distanz als Ausgangspunkt zur Reflexion eigener Werturteile zeigt sich auch bei Adorno, der nach Ausschwitz den Bedarf einer Moralphilosophie erkannte, die sich der Unfreiheit des Subjekts im Kontext sozialer Institutionen in seiner Vergesellschaftung bewusst ist, die gleichsam aber die »Subjekte nicht in einen Stand jenseits der Verantwortung für das eigene Handeln und die Prozesse des Sozialen entlässt« (Ahrens 1998: 51). Gerade zu Beginn des 21. Jahrhundert muss deutlich werden, dass Wissenschaft keine Handlungsanweisungen geben, sondern ›lediglich‹ einen Hintergrund für Handlungsentscheidungen bieten kann. Betrachtet man die derzeitige Entwicklung der Wissenschaftslandschaft, so zeigen sich zwei Prozesse. Erstens nehmen Differenzierung und Spezialisierung einzelner Wissenschaftsbereiche zu, wobei immer neue Disziplinen und Subdisziplinen entstehen. Zweitens steigt die wissenschaftliche Verantwortung, angesichts
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immer drastischeren, folgenreicheren und grundlegenderen Eingriffen in die Welt, die es zu verantworten gilt (Jonas 1979, Nida-Rümelin 2005). Dieser Ausweitung der Verantwortung steht allerdings ein Problem der Verantwortungsfähigkeit gegenüber, da die zunehmend spezialisierten Entscheidungen in ein unübersichtlich komplexes Netz von Zusammenhängen und Folgen eingebunden sind, dem der Einzelne mit einem Mangel an Wissen aber auch einem Mangel an normativer Orientierung in Verantwortungsfragen gegenübersteht. Das Spannungsverhältnis zwischen wissenschaftlicher Freiheit und der Frage nach der Bedeutung der eigenen Forschung für die Gesellschaft bzw. der Verantwortung, in dem Wissenschaft steht (Groß/Morisch 2018), wird zumindest auf der Seite der Folgen und Bedeutungen zunehmend unüberschaubar. Die Entwicklungen des Informationszeitalters bringen verschiedene Wissens- und Orientierungsprobleme in der informationellen Umwelt mit sich, in der sich die Informationsmenge in etwa fünf Jahren verdoppelt (Spinner 1994: 59ff). Dies stellt allerdings nur eine Seite der Herausforderung dar. Die andere, ethische Seite betont Carl Friedrich von Weizsäcker, wenn er den Bedarf einer inhaltlich-normativen, also ethischen Orientierung für Wissenschaft, um verantwortlich agieren zu können (ebd. 1964; Liebert 2011), unterstreicht. So deutlich das Spannungsfeld der Frage nach einer Verantwortung von Wissenschaft hierbei wird, so stellt sich die Frage, woran diese Orientierung finden kann.
Verantwortung als relationaler Begriff Verantwortung ist zu einem neuen Grundbegriff, einer neuen Schlüsselkategorie der Ethik avanciert (Höffe 1989: 17; Benzhaf 2002: 13, 95). Aber was bedeutet der Begriff eigentlich? Grundsätzlich kann Verantwortung als eine grundlegende Eigenschaft des Menschen betrachtet werden (Lenk 2009: 13f). Die Frage danach, was uns als verantwortlich gelten kann, muss vor einer Instanz oder einem System moralischer Vorstellungen geklärt werden. Man ist gegenüber jemandem für etwas verantwortlich und das in Bezug auf ein Normensystem. Beispielhaft kann hier der Sonderfall aufgeführt werden, in dem man sich juristisch verantworten muss. Dabei wird man von einer gerichtlichen Instanz für eine bestimmte Tat/Unterlassung vor dem Normsystem der Rechtsprechung (z.B. Strafgesetz) »zur Verantwortung gezogen«. Jeder Mensch ist sich aber auch selbst für seine Taten vor dem eigenen Gewissen verantwortlich, das selbst ein System von Normen zugrunde legt. Dahingehend eröffnet der Begriff Verantwortung eine Relationalität, die zwischen verschiedenen Elementen entsteht (Weischedel 1932; Lenk 1991; Benzhaf 2002). Das Wörterbuch der philosophischen Begriffe bietet hier eine bemerkenswerte Definition an:
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»Verantwortung kann verstanden werden als ein »Auf-sich-nehmen« der Folgen des eigenen Tuns, zu dem der Mensch als frei handelnde Person sich innerlich verpflichtet fühlt, da er sie sich selbst dem eigenen Willensentschluss zurechnen muss.« (Regenbogen/Meyer 1998: 698) Diese Relationalität ist in verschiedenen Verständnissen des Begriffs Verantwortung zentral. So hebt Lenk heraus, dass der Mensch als Verantwortungssubjekt in einer Verbindung mit einem Verantwortungsobjekt und einem System moralischer Regeln steht, vor dessen Hintergrund er bewertet (ebd. 1991). Die zunehmende Bedeutung des Begriffs der Verantwortung bzw. auch die damit verbundene Idee der Verantwortlichkeit ist seit der Aufklärung eng an die zunehmende Bedeutung des Subjekts gebunden. In der Verbindung mit den Begriffen Freiheit und Rationalität zeigt sich der Begriff der Verantwortung in einer humanistischen Denktradition insbesondere auf der menschlichen Eigenschaft gegründet, »sich von Gründen affizieren zu lassen« (Nida-Rümelin 2011: 15). Lenk bezeichnet Verantwortlichkeit als Wesenheit des Menschen (ebd. 2009: 13f). In jeweils verschiedenen Ansätzen wird diese Wesenheit darauf zurückgeführt, dass der Mensch als Wesen die grundlegende Eigenschaft hat sich vor sich selbst (Weischedel) oder in Bezug auf den Anderen (Löwith) zu verantworten (Benzhaf 2002: 25f). Wenn wir auf den Anspruch, Rechenschaft von uns zu geben, antworten, müssen wir zugleich die Entstehung des Subjekts und dessen Beziehung zur Verantwortung ergründen (Butler 2014: 179). Auch Weischedel hebt in seiner fundamentalen Betrachtung des Wesens der Verantwortung auf diese Verbindung ab. Die Möglichkeit zur Verantwortung, die Menschen zukommt, ist auf engste Weise verbunden mit der Freiheit bzw. mit der Vernunftbegabtheit des Menschen. Mit Weischedel kann man die Freiheit des Entscheidenkönnens bzw. Handelns gar als die Bedingung der Möglichkeit von Verantwortung begreifen (Weischedel 1932: 19). Auch die Bindung an den Begriff der Freiheit zeichnet sich bei verschiedenen Autoren ab (Benzhaf 2002). Aus dieser Verwiesenheit auf Freiheit folgt die Unmöglichkeit von Verantwortung für ein konkretes Handeln. Der sich Verhaltende würde ja in diesem Fall nicht verantwortlich handeln, sondern bloß Regeln befolgen. Weischedel betrachtet Verantwortung deshalb vor allem als Monolog des Ichs mit sich selbst (ebd. 1932: 26). Damit verantwortet man sich »selbstverantwortend« vor dem eigenen Gewissen. Betrachtet man den Prozess der Beurteilung von Handlungen und deren Folgen, ist Verantwortung letztlich immer als eine ethisch-moralische Auseinandersetzung mit den Folgen des eigenen Handelns zu verstehen. Für was man allerdings überhaupt verantwortlich ist und vor welchen Maßstäben, ist fraglich: »Wie kann man denken, und wie kann man, was in unserem Zusammenhang noch viel wichtiger ist, urteilen, wenn einem keine vorgegebenen Normen und allge-
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meinen Maßstäbe zur Verfügung stehen, denen man die Einzelfälle und Erlebnisse unterordnen kann?« (Arendt 2018: 21) Indem ich mich selbst als autonomes Vernunftwesen bestimme, schreibe ich mir zugleich eine moralische Verantwortung zu. Dies bedeutet eine Verpflichtung, mein Handeln an allgemein akzeptablen »Gesetzen, Grundsätzen oder Prinzipien« zu orientieren. Diese Seite der Beziehung, die auf einen Orientierungsrahmen abzielt, stellt einen zentralen Aspekt der Betrachtung unserer Verantwortung als Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler dar. Nimmt man diese Relationen von Verantwortung in den Blick, so werden daran gleichsam die Veränderungen deutlich, die sich in den letzten Jahrzehnten vollzogen haben. Tatsächlich treten auf allen drei Seiten dieses Dreieckes der Verantwortung (Verantwortungsobjekt, Verantwortungssubjekt und Verantwortungsinstanz (Gewissen, Moral, rechtliche Satzung)) (Zimmerli 1993) enorme Veränderungen und Brüchigkeiten auf, die eine Betrachtung der Verantwortung von Wissenschaft betreffen. Die vorliegende Betrachtung dieser Veränderungen bezieht sich vorrangig auf das Verantwortungssubjekt. Im Verständnis Judith Butlers entspringt unsere Verantwortung dem Verwiesensein auf den Anderen, ein Gedanke, der sich auch im Denken Martin Bubers oder dem Verantwortungsbegriff von Emmanuel Lévinas zeigt. Es ist die Empfänglichkeit für die Anrede des Anderen, die uns verantwortlich macht (Butler 2014: 115f, 119). Butler fokussiert dabei weniger den Handlungsbegriff und das diesem zu Grunde liegende Moment der Freiheit, um Verantwortung zu begründen, als vielmehr die Beziehung zu einem Anderen (Butler 2014: 120). Mit Verweis auf Lévinas wird der Andere durch unsere Empfänglichkeit für seine Ansprache zum Ausgangspukt der Verantwortung, wobei es bei Verantwortung weniger darum geht, unseren Willen zu kultivieren, als darum, eine unwillkürliche Empfänglichkeit als Ressource zu nutzen, um für den Anderen ansprechbar zu sein, Anteil zu nehmen und auf ihn zu reagieren (Butler 2014: 124). In der Tradition der transzendentalkritischen Pädagogik betrachtet Alfred Petzelt Verantwortung, dem Wortsinn des Ver-antwort-ens nach. Bei Petzelt ist es gerade die Herstellung der Beziehung zwischen Wissen und Haltung, die jedem selbst obliegt, die er als Ver-antwort-ung bezeichnet. Wissen wird dabei als »haltungsfordernd« (Petzelt 2018: 266) verstanden. Das Ich ordnet sich im Wissen selbst und befragt sich nach dem eigenen Standpunkt zum Wissen. Petzelt sieht Freiheit als denknotwendige Voraussetzung für Verantwortung. Selbsttätigkeit und Selbstständigkeit sind unbedingt an Verantwortung gekoppelt (ebd. 47). »Wie sich Wissen zum Gewissen verhält, so verhält sich Antwort zur Verantwortung. Die beiden Begriffspaare sind Funktionen von Sachlichkeit und Sittlichkeit und kennzeichnen den Anteil der Psyche, also jene Aktivität des Ich, die ihre Forderungen erfüllt. In der Antwort aktiviert sich das Ich gegenständlich, in der Ver-
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antwortung sittlich. Es antwortet mit sich selbst. Verantwortung und Antwort gehören im Akte zusammen. Wenn Wissen allemal ein solches um mögliche Antwort fordern muss, dann kann Gewissen nur mögliche Verantwortung verlangen. Alle Verantwortung gründet sich auf das oberste Prinzip: das Gute. Wer Verantwortung übernimmt, misst sie an diesem Prinzip. Verantwortung übernehmen, sittlich geordnet handeln, bedeutet eines und dasselbe. Geordnete Handlungen sind gleichzeitig verantwortungsvoll, d.h. sittlich zu rechtfertigen. Das Ich ist eindeutig, erhält berechtigten Anspruch auf Allgemeingültigkeit, wenn es sich verantworten kann.« (Petzelt 2018: 280) Dem aktiven Ich ist die Herstellung einer Beziehung zwischen Wissen und Haltung aufgegeben, in der es diese aneinander bindet und ver-antwortet (ebd. 264ff, 280). Die Aktivität des Ich ist dabei Bedingung der Möglichkeit von Verantwortung und gleichsam mit ihr aufgegeben. In seinen Handlungen vollzieht das Ich nicht nur eine gegenständliche Erkenntnis, sondern in der Bestimmung der Bedeutung des Erkannten vollzieht und bestimmt es gleichsam sich selbst. Die Frage nach einem orientierenden Rahmen verantwortlichen Handelns kann als eine der ethischen Grundfragen gelten. An der Frage, wie dieser Rahmen, diese ethischen oder moralischen Regeln zu begründen sind, scheiden sich bedeutende ethische Grundpositionen, etwa des Universalismus und des Relativismus. Für die vorliegende Betrachtung kann Max Webers Unterscheidung von Verantwortungsund Gesinnungsethik als relevant gelten. In ihr zeigt sich das Problem der Beurteilung von Handlungen anhand normativer Kriterien, das auch hinsichtlich der Beurteilung unserer Verantwortung offenbar wird. In beiden Zusammenhängen sind die ethischen Maßstäbe der Beurteilung relevant dafür, ob ich etwas verantworten kann, ob ich es für angemessen bzw. ethisch vertretbar halte. Dieser Zusammenhang zeigt sich auch bezüglich einer Folgenethik. Eine Beurteilung von Handlungsfolgen ist ohne bestehende Wertkriterien nicht möglich. Damit beinhaltet jede Folgenethik einen normativen Kern, der auch in einer reflexiven Verantwortung enthalten sein muss (Schluchter 1980: 57ff.). Im Verständnis der Diskursethik, wie sie Apel formuliert, tragen wir alle eine Verantwortung anderen Menschen, auch folgenden Generationen gegenüber (ebd. 2016: 196, 210). Karl-Otto Apel versucht diese Verantwortung zu begründen und zu orientieren. Er fragt dabei grundsätzlich nach den Bedingungen der Möglichkeit einer Ethik und versucht ein allgemeines Gerechtigkeits- und Verantwortungsprinzip zu formulieren, das gleichsam als ethisches Regulativ dienen kann. Apel fordert dabei eine »diskursive Organisation der kollektiven Verantwortung« (ebd. 213). Unter dem Apriori der Argumentation erachtet er zwei regulative Prinzipien als Grundlage moralisch verantwortbarer Handlungen: »Erstens muss es in allem Tun und Lassen darum gehen, das Überleben der menschlichen Gattung als der realen Kommunikationsgemeinschaft sicherzu-
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stellen, zweitens darum in der realen die ideale Kommunikationsgemeinschaft zu verwirklichen.« (Apel 2015: 430) Zentral für sein Verständnis von Verantwortung ist neben dem rationalen Begründungsversuch einer intersubjektiv geltenden Ethik auch die Ausdehnung auf globalen bzw. planetarischen Maßstab sowie auf die Interessen der nächsten Generationen, die er »advokatorisch vertreten« (ebd. 272) sehen will (Benzhaf 2002: 73). Verantwortung resultiert bei Apel aus dem Unterschied zwischen der idealen Kommunikationssituation und den tatsächlichen Gegebenheiten (Apel 2016: 260), denn dieser Differenz erwächst die Notwendigkeit einer »verantwortungsethischen Vermittlung« (ebd.: 265). Apel nennt dies auch die »Bemühung um die langfristige Veränderung der Verhältnisse unter der »regulativen Idee« (Kant) der Approximation des Idealzustandes« (ebd. 266).
Zur Verantwortung von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern Betrachten wir Telos und Nomos wissenschaftlichen Handelns, so zeigt sich als Zentrum wissenschaftlicher Praxis zuvorderst das Streben nach Erkenntnis und der methodische Zugriff darauf, den verschiedene wissenschaftstheoretische Grundpositionen je unterschiedlich konzeptualisieren. Als Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern kommt auch uns eine Rollenverantwortung (als Vorgesetzter, Dienstherr, Ausbilder etc.) zu, die allerdings nicht allein aus der Funktion für die Gesellschaft abgeleitet werden kann. Verschiedene gesellschaftliche Teilbereiche, wie das politische System, das wirtschaftliche System oder das Wissenschaftssystem haben in der Kulturgeschichte Eigengesetzlichkeiten ausgebildet und sich dabei teilweise verselbständigt (Habermas 1969, 1981; Schluchter 1980: 73; Luhmann 1982). Das trifft auch auf den Bereich der Wissenschaft zu. Die normative Regulation der Wissenschaftspraxis zeichnet sich vorrangig durch ein Ethos wissenschaftlicher Rationalität aus (Nida-Rümelin 2011: 162), das auf den Bereich der Erkenntnis gerichtet ist. Eine »Objektivität« von Wissenschaft setzt dabei bereits intersubjektive Geltung von »Normen« voraus (Apel 2015: 395). Für diesen Bereich der wissenschaftlichen Erkenntnisgewinnung formuliert Merton Grundlinien eines wissenschaftlichen Ethos und damit einen ethischen Orientierungsrahmen wissenschaftlichen Handelns. Er stellt dabei vier grundsätzliche Dimensionen des Ethos von Forschenden heraus: Universalismus, Kommunismus, Uneigennützigkeit (Desinteresse) und einen organisierten Skeptizismus (Merton 1991: 86ff). Dies bedeutet konkret, dass Inhalte und Ergebnisse inhaltlich und ohne Ansehen der Person beurteilt werden sollen (Universalismus), dass wissenschaftliche Ergebnisse der Allgemeinheit zur Verfügung stehen bzw. dienen sollen (Kommunismus), dass Forschung nicht
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eigennützigen Interessen folgen, sondern auf Erkenntnis ausgerichtet sein soll (Uneigennützigkeit) und dass eine kritische Haltung gegenüber Erkenntnissen und Methoden bestehen soll (organisierter Skeptizismus). Im Zentrum der Bestimmung Mertons stehen normative Richtlinien, die eine wissenschaftliche Praxis orientieren sollen. An einen derartigen Orientierungsrahmen sind wir, wenn wir nach der Verantwortbarkeit wissenschaftlicher Praxis fragen, gebunden. Weber sieht eine solche Orientierung in der »Wertfreiheit« von Wissenschaftlern, welche nicht allein die Grenzen wissenschaftlicher Praxis, sondern ihren kulturellen Anspruch formuliert. Weber konzipiert diesen Anspruch der »Wertfreiheit« als Ideal. »Sie stellt die Wertbasis dar, von der aus der Wissenschaftler für den Wert der Wissenschaft eintreten kann.« (Schluchter 1980: 67) Das Verhältnis praktischer Wertung und wertfreier Erkenntnis sieht Weber im Verhältnis von Politik und Wissenschaft institutionell gespiegelt. »Wertfreiheit des Wissenschaftlers« meint dabei »innerhalb relevanter Grenzen den Werten der Wissenschaft zu folgen, ohne sie durch andere Werte umzustoßen, die denen der wissenschaftlichen Forschung widersprechen oder irrelevant sind« (Schluchter 1980: 67). Diese »wertfrei« rationalisierende kulturelle Tradition deutet Schluchter bei Weber als »Grundlage ihres Universalismus von Werten«, welcher es der Wissenschaft als gesellschaftlichem Teilsystem ermöglicht, in eine kritische Distanz zu der sie umgebenden gesellschaftlichen Gesamtkultur zu treten. Dies zeigt sich in der Bestimmung Schluchters: »Der Hörsaal ist Teil eines institutionellen Gefüges, das gleichsam gegen die Herrschaft des Marktprinzips organisiert ist.« (ebd. 1980: 69) Wissenschaft ist dabei nicht allein darauf beschränkt, technisch-praktische Anwendungen zu prüfen. Sie leistet einen Beitrag zur Vermittlung von Wertorientierungen, die den technokratischen entgegenstehen. Gerade eine dieser »dezisionistischen« (Schluchter 1980: 70) entgegengesetzte Ausrichtung von Wissenschaft, die keine strikte Trennung der Expertise von Wissenschaft und Politik sieht, bedarf einer normativen Reflexion. Wenn man die Normativität des eigenen Objektivitätsbegriffs erkennt, wird zentral, dass der normative Kern kritisch reflektiert werden muss und nicht zu einem Dogma werden darf. Hier darf es keine Grenze kritischen Verfahrens geben. Aufgrund der verschiedenen Aufgaben und Rollen von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, beispielsweise in der Institutsleitung, als Vorgesetzte bzw. Vorgesetzter, Ausbilderin und Ausbilder, Antragstellende oder Kommissionsmitglied können verschiedene prospektive Verantwortlichkeiten kollidieren. Letztlich ist es die Aufgabe jedes aktiven Selbst, sich angesichts solcher Rollen- und Aufgabenkonflikte zu verantworten. Grundsätzlich besteht eine vorderste Verantwortung von Forschenden in der erkenntnistheoretischen Begründung und den von Merton ausgeführten Kriterien
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epistemischer Rationalität. Die Bindung wissenschaftlicher Praxis an praktische Vernunft ist mit Apel allerdings nicht in einem monologischen Befolgen von Regeln zu verstehen, sondern in einem dialogischen Prozess zu explizieren und zu rechtfertigen, womit ein »Übergang von der normativen Wissenschaftslogik zur Ethik« (Apel 2015: 402) ermöglicht wird. Gerade Wissenschaft steht auch in einer Zukunftsverantwortung, einer Verantwortung für die Existenz der menschlichen Gemeinschaft überhaupt (Jonas 1979; Apel 2015). Vor dem Hintergrund aktueller Herausforderungen, wie gesellschaftlichen Ansprüchen, der Funktionalisierung, wissenschaftlicher Differenzierung sowie drängenden Menschheitsfragen (Klimawandel etc.), zeigt sich die Verantwortung von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern für den Frageakt, der Wissenschaft auszeichnet, besonders deutlich. Er steht als zentrales Element im Zentrum des wissenschaftlichen Ethos. Dieser Frageakt ist mit Ichbestimmtheit verbunden, die in der Verantwortung von Wissen und Haltung entsteht (Petzelt 2018: 85). Als grundsätzliche Bedingung der Möglichkeit von Wissenschaft sind Forschende der Erhaltung ihrer Freiheit verpflichtet und dabei dem Fragen verbunden. Ihre Verantwortung liegt in der Ermöglichung der Bedingungen des Frageaktes als Relation von Ich und Forschungsgegenstand. Jeder Wissenschaftlerin bzw. jedem Wissenschaftler kommt die Aufgabe zu, diesen normativ-regulativen Kern der wissenschaftlichen Sphäre der Gesellschaft auch gegen Tendenzen anderer gesellschaftlicher Systeme zu erhalten (Habermas 1981; Schluchter 1980: 73). Die Grundrelation von Ich und Gegenstand, die innerhalb jeder wissenschaftlichen Betrachtung liegt, wird zum Ausgangspunkt des Frageakts. Im Erkenntnisprozess stellt sich die Entwicklung der docta ignoratia (belehrte Unwissenheit) (Petzelt 2018: 252) heraus. Diese Unwissenheit des Einzelnen lässt die Unendlichkeit des Frageprozesses aufscheinen und legitimiert ihn gleichsam. Was daran deutlich wird, ist die Problematik, Wissenschaft an Ergebnissen quasi folgenethisch zu begründen und zu bewerten. Es zeigt sich, dass Wissenschaft vor allem den forschenden Frageakt zu verantworten hat, für diesen allerdings auch die Verantwortung trägt, ihn also zu erhalten hat. Wissenschaft, als kritisch distanziertes Fragen verstanden, kommt dabei die Aufgabe zu, auch die eigenen Erkenntnisse weiterhin zu be- und zu hinterfragen. Es ist daher bedeutsam, den Modus wissenschaftlichen Arbeitens zu kommunizieren. Dabei gilt es, Wissenschaft auch so in der Öffentlichkeit zu zeigen, dass die Bedeutung dieses Frageaktes deutlich wird.
Unsere Verantwortung als Geographinnen und Geographen Nähert man sich der Frage nach einer Verantwortung, die mit geographischer Arbeit bzw. Forschung verbunden ist, so stellt sich die Frage nach dem Wesen der
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Geographie. Die Antworten auf diese Frage zeigen eine enorme Vielfalt von Ansätzen und Auffassungen über das Wesen der Disziplin und deren Methoden (Zierhofer 2002; Glückler/Goeke 2009). Ein Konsens besteht allerdings zumeist bezüglich der Verbindung zwischen naturwissenschaftlichen und sozialwissenschaftlichen (bzw. kulturwissenschaftlichen) Anteilen des Faches, die mit der räumlichen Ebene verbunden werden (Zierhofer 2002). Bereits lange vor der Grundlegung, die Peter Haggett (ebd. 2003) vornahm, zeigt sich bei Kant implizit eine analoge Perspektive. Über das Verständnis des Raumes als Apriori der Wahrnehmung leitet sich letztlich die synthetisierende Position der Geographie ab (Zehbe 1985). Geographie als Wissenschaft zeichnet sich ihrem Wesen nach darin aus, dass sie den Zugriff des Menschen auf die Welt über die räumliche Grundlage des Denkens systematisch strukturieren kann. Über ihren Bezug zum Raum als Grundlage menschlicher Anschauung (Kant 1974: 69ff) kann Geographie so eine Bedeutung als Wissenschaft auf zweiter, systematisierender Ebene zukommen. Sie ist in der Lage, eine systematische Synthese von Erkenntnissen und Perspektiven zu bieten und kann damit einen strukturierten Zugriff auf diese ermöglichen. Letztlich ähnelt dies den Aufgaben der Enzyklopädie Diderots im digitalen Zeitalter, in dem Suchmaschinen im Internet zwar Informationen finden, diese aber nicht inhaltlich strukturieren oder synthetisieren. Gerade in der heutigen, zunehmend komplexen und unüberschaubaren Wissenschaftslandschaft erlangt eine solche orientierende Systematisierung von Inhalten und Informationen, wie sie die Geographie über die Integration verschiedener Perspektiven zu leisten vermag, besondere Relevanz und dies nicht zuletzt in Fragen der Verantwortung. Dabei soll die eigene Begrenztheit und Fehlbarkeit nicht ignoriert werden, sondern in der Verteidigung der Unvollständigkeit des Frageaktes gerade zum Anlass der Reflektion unserer Verantwortung genommen werden. Geographie als Disziplin ist zentral mit drei anthropologischen Grundbeziehungen verbunden, dem Verhältnis zu anderen Menschen, dem Verhältnis zur natürlichen Umgebung und dem Verhältnis zur Wahrheitsfähigkeit von Aussagen (Methodik). Neben dem erkennenden Zugriff auf die Welt, dessen Modus Erkenntnis unter dem Regulativ der Wahrheit steht (Apel 2003), sind zwei weitere Regulative erkennbar. Die Relation des Menschen zu seinen Mitmenschen unter dem Regulativ der Gerechtigkeit (und Solidarität bei Apel) sowie die Relation des Menschen zur Natur (bzw. zum ihn umgebenden ökologischen System) unter dem Regulativ der Achtung (nach Taylor 1997) (Nachhaltigkeit). Dies zeigt sich auch an der Explikation der Basiskonzepte geographischen Wissens, welche die wissenschaftliche Fachlogik verdeutlichen. Zentral ist dabei der Zugriff auf die Welt, der sich als Erkenntnismodus auch auf die anderen Relationen bezieht und daher methodisch zu verstehen ist. Letztlich zeigt sich diese Verbindung natur- und sozialwissenschaftlicher Perspektiven bis heute im Fach, wie sich beispielsweise an verschiedenen Be-
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Abb. 1: Die geographische Perspektive und betroffene Regulative der Verantwortung (eigener Entwurf)
stimmungen der geographischen Basiskonzepte zeigt, in deren Zentrum das Mensch-Umwelt-System steht (Fögele 2016: 28ff) – auch wenn diese synthetische Perspektive in konkreten Forschungsvorhaben selten auftritt. Auch fachintern findet, wenn sich die Möglichkeiten bieten, auf Kongressen wie dem Kieler Geographentag 2019, ein Dialog zwischen naturwissenschaftlichen und sozial/kulturwissenschaftlichen Bereichen des Faches nur in sehr eingeschränktem Maß statt. Gerade die synthetische Perspektive kann vor dem Hintergrund der zunehmenden Komplexität des Wissenschaftssystems allerdings als bedeutend gelten, um in die inhaltliche Unübersichtlichkeit eine Ordnung zu bringen und so einen Umgang mit der enormen Komplexität zu finden (Spinner 1994; Lenk 2018: 33ff, Laub 2011). Hierin liegt das Potential der Geographie, dessen Relevanz sich auch im Zug einer Recherche der aktuellen Literatur zu Verantwortung zeigt. Titel wie »Umweltverträglichkeit und Menschenzuträglichkeit« (Lenk 2009) weisen eben diesen synthetischen Bezug auf. Die herausragende Stellung synthetischer Perspektiven für ethisch-moralische Reflexionen wird auch von verschiedenen moralpädagogischen Ansätzen betont. Überfachliches und fachübergreifendes Denken und Lernen, dessen Qualität gerade den Eigenschaften der geographischen Perspektive entspricht, nimmt daher in
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entsprechenden Bildungskonzepten eine zentrale Stellung ein, gerade wenn es um ethische und moralische Entscheidungen geht (Pöppel 1990; Rekus 1993, 2004). Tab. 1: Typologie geographischen Wissens und dessen Verantwortungsbezug (Laub erw. nach Laub 2011: 87) Wissensform
Wertbezug
Verantwortungsregulativ
Geltungsbereich
Geographisches Feld
Wissenschaft (Theorie)
Wissenschaftliches Wissen, Erkenntnisse
Wahrheit
Wahrheit
Geographische Wissenschaft
Grundlagenforschung, Geomorphologie, Klimatologie etc.
Anwendung (Praxis)
Technologisches Wissen, Faktenwissen
Nützlichkeit, Funktionalität
Wahrheit, Gerechtigkeit, Achtung der Natur, ökol. Nachhaltigkeit
Technologie
GIS, Raumplanung, Stadtplanung
Planerisches Wissen
Gesellschaftliches Wohl und Recht umfassend
Wahrheit, Gerechtigkeit, Achtung der Natur, ökol. Nachhaltigkeit
Politik
Raumplanung, Stadtplanung, Umweltschutz
Lebensweltliches Wissen, Sinnbezug
Orientierung, Sinnhaftigkeit, Wertorientierung
Wahrheit, Gerechtigkeit, Achtung der Natur, ökol. Nachhaltigkeit
Lebenswelt
Subjektive Geographien alltäglicher Regionalisierung
Erkenntnisse Kenntnisse Fähigkeiten Fertigkeiten
Relevanz, Kanonisierung
Wahrheit (Sittlichkeit), Bildung
Universitäre und schulische Lehre, mediale Öffentlichkeit
Fachdidaktik, Schulgeographie
Weitergabe (Praxis)
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Die in der Tabelle dargestellten Wissensbereiche unterscheiden sich ihrer Abstraktion, bzw. ihrem Anwendungsbezug nach. Mit zunehmendem Anwendungsbezug verändert sich der Modus von deskriptiven zu präskriptiven Betrachtungen. Zudem ändert sich der Verantwortungsbereich, den die jeweilige Praxis betrifft. So zeigt sich die epistemische Rationalität im Bereich theoretischer Auseinandersetzung als vorrangiger Sollensbezug, womit dem Regulativ der Wahrhaftigkeit eine Einzelstellung zukommt, während der Anwendungsbezug weitere Regulative der ethischen Reflektion eigener Praxis bedeutsam macht. In der Stadtplanung werden beispielsweise etwa Regulative der Gerechtigkeit und der Nachhaltigkeit bedeutsam. Den Planerinnen und Planern kommt ebenfalls eine Verantwortung in dieser Hinsicht zu. Die eigene Urteilskraft zu reflektieren, verlangt ein hohes Maß an Fähigkeiten von uns. Die Fähigkeit auch dort Verantwortung wahrzunehmen, wo sie nicht im Voraus normiert ist, bedarf ein ethisches Urteilen über die eigene Verantwortlichkeit, erfordert es, Aufgaben und Werte gegeneinander abzuwägen und sich auf bestimmte ethische Begründungssysteme zu berufen. Damit ist die Frage nach einem wissenschaftlichen Ethos als Ethik von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aufgeworfen (Spinner 1985: 111). Der von Hans Jonas reformulierte kategorische Imperativ: »Handle so, dass die Wirkungen deiner Handlung verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden« (ebd. 1979: 35), bietet eine solche ethische Orientierung, ohne allerdings eine Verengung auf eine konkrete Handlung zu bedeuten. Allerdings hebt sich damit die Frage nach der ethischen Orientierung für Geographinnen und Geographen bzw. die Geographie nicht auf. Die Möglichkeit sich als Geographin oder Geograph bezüglich der eigenen Verantwortung zu orientieren, ist zentral mit dem System der eigenen Fachlichkeit verbunden und darüber auf die regulativen Ideen Wahrheit, Gerechtigkeit und Achtsamkeit der drei Grundrelationen (Erkenntnis, Mitmenschen, Umwelt) bezogen. Sieht man in der Geographie vor allem eine sekundär strukturierende Wissenschaft, so kommt Geographinnen und Geographen vor allem eine Verantwortung für den Erkenntnisprozess und dessen Kommunikation zu. Die Geographie als Wissenschaft, innerhalb der Aussagen mit einem Wahrheitsanspruch formuliert werden, unterliegt dem Regulativ der Wahrheit (Wahrhaftigkeit) (Apel 2003). Im Sinne Petzelts ist der Frageakt das Zentrum unserer Erkenntnis. Dieser ist mit dem Anspruch auf Wahrheit verbunden, auch wenn in praktischer Gestaltung die eigene Objektivität dauerhaft kritisch zu hinterfragen ist (Spinner 1985; Apel 2003; Petzelt 2018). Diese kritisch fragende Haltung kann als normative Orientierung dienen, als kritische Haltung gegenüber der eigenen Objektivität im Streben nach wahrheitsfähigen Aussagen. Auch die Grundrelation, die sich auf Erkenntnis bezieht, erlangt gesellschaftliche Bedeutung (Schluchter 1980; Spinner 1985; Apel 2015), was die Bedeutung des Frageakts noch deutlicher herausstellt. Geographische Erkenntnisse können dabei
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auch dazu dienen, verbessertes Wissen um erwartbare Folgen zu erlangen, die zu verantworten sind. Den wissenschaftlichen Betrieb nicht auf Nützlichkeiten, sondern auf Wahrheit zu verantworten, hat auch gesellschaftliche Relevanz, denn »[…] wissenschaftliche Wahrheit ist ja zweifellos auch ein Mittel in der Überlebensstrategie der menschlichen Gattung.« (Apel 2015: 430) Auch hinsichtlich der Argumentation im Diskurs zeigt das ethische Modell der Diskursethik orientierende Funktion, lässt sich doch daraus die Qualität des Arguments als oberste Maßgabe ableiten und die Forderung der Herstellung herrschaftsfreier Strukturen begründen (ebd. 2015: 432). Letztlich liegt bereits die Kommunikation mit verschiedenen Fachbereichen und Wissenschaftszweigen, also das Errichten des Diskurses, in unserer Verantwortung. Hier liegt der Kern der Fähigkeiten der Geographie, die Ansprüche von Gesellschaft und Natur zu integrieren und dabei verschiedene räumliche Bezugssysteme, von lokaler bis hin zu globaler oder universaler Dimension zu berücksichtigen. Unter Berücksichtigung des Verantwortungsverständnisses von Apel müssen hierbei gleichsam die Anliegen von nicht am Diskurs Beteiligten Berücksichtigung finden (ebd. 2016: 272). Unsere Verantwortung entsteht dabei, wie ausgeführt wurde, aus unserer Verwiesenheit auf unsere Mitmenschen. Unsere Haltung verantwortet unsere Erkenntnisse, um es mit Petzelt zu formulieren. Das ethische Regulativ des Bereichs zwischenmenschlichen Ausgleichs kann als Gerechtigkeit bezeichnet werden (Höffe 2003). Die zentrale Möglichkeit der geographischen Perspektive besteht darin, Ansprüche/ethische Aspekte von Gesellschaft und Natur zu integrieren und zu systematisieren. Gerade die Integration der Relation zur Natur (»natürlichen Umwelt«) erlangt in der jüngeren Vergangenheit in der Öffentlichkeit bei Themen des Klimaschutzes oder der Nachhaltigkeit zunehmend Bedeutung. Für Picht besteht die Aufgabe der Wissenschaft in der doppelten Aufklärung der Voraussetzungen und Folgen des technischen und gesellschaftlichen Zugriffs auf Natur (Benzhaf 2002: 54). Einer Diskussion bedürfte der jüngere öffentliche Diskurs allerdings hinsichtlich des jeweiligen ethischen Verständnisses dessen, was wir unter Natur bzw. natürlicher Umwelt verstehen und aus welchen Gründen sie als schützenswert betrachtet wird (siehe hierzu Krebs 2005). Dieses Verständnis hat bedeutende Auswirkungen auf unser Verständnis von Verantwortung der Natur gegenüber. Im vorliegenden Zusammenhang wird das Regulativ für unsere Verantwortung gegenüber der Natur mit Taylor als Achtung bzw. Achtsamkeit bezeichnet werden (Taylor 1997). Diese Achtsamkeit, die uns als verantwortungsvolle Geographinnen und Geographen aufgegeben ist, sagt noch nichts über die ethische Position aus, die wir einnehmen. In der argumentativen Auseinandersetzung können beispielsweise Werte der Natur je anthropozentrisch, physiozentrisch oder in einem holistischen Sinne ökologischer Ethik begründet werden (Krebs 2005). Dies stellt einen entscheidenden Schritt zur näheren Klärung unserer Verantwortung dar, denn daraus
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ergibt sich etwa, wem gegenüber wir uns im zu analysierenden Zusammenhang als verantwortlich betrachten, der Natur oder anderen Menschen. Geographie hat die Aufgabe, die systematischen Verbindungen zu strukturieren, aber auch die hinter den einzelnen Dimensionen stehenden Prinzipien zu reflektieren. Auf zweiter Ebene bedeutet diese Verantwortungsreflexion dann ethische Denk- und Argumentationsstrukturen zu ermöglichen, um die Frage nach der Verantwortung klären zu können. Der vorliegende Beitrag zielt auf einen orientierenden Rahmen des Nachdenkens über die Verantwortung ab, die mit wissenschaftlichem Arbeiten im Bereich der Geographie verbunden ist. Hintergrund ist der Versuch zu diskutieren, wie ein reflexiver Umgang mit der eigenen Verantwortung möglich ist. Beachtet man die Spannung zwischen Freiheit und normativer Fokussierung, so kann die Verantwortung von Geographinnen und Geographen schlechthin gar nicht in einer bestimmten Handlung oder einem konkreten Eintreten für eine historisch bestimmte Position gesehen werden. Vielmehr ist eine ver-antwortende Bestimmung des Ichs in der Vermittlung zwischen Haltung und Wissen zu erkennen. Versteht man den Erkenntnisprozess als ein stetiges Fragen, einen kritischen »Frage«-modus gegenüber der Welt (Petzelt 2018: 252), dann kann es nicht darum gehen, feste Ergebnisse zu verantworten, sondern diesen Prozess zu verantworten, was der Anerkennung der Bedingungen seiner Möglichkeit nicht widersprechen darf. Daher lässt sich sagen, dass wir als Geographinnen und Geographen für diesen bestimmten Modus die Verantwortung tragen. Insofern Verantwortung auf einen normativen Hintergrund zur Beurteilung von Handlungen zurückgreift, gibt es einen Anlass, über die orientierenden Normen für eine Übernahme der Verantwortung von Wissenschaft nachzudenken. Eine Konkretisierung des wissenschaftlichen Ethos, wie Merton es entwickelt (ders. 1991) – mit besonderer Berücksichtigung der Geographie – muss an regulativen Prinzipien ansetzen, welche sich auf die Aufrechterhaltung des Modus epistemischer Rationalität (Sicherstellung kritischer Prüfung wissenschaftlicher Theorien, methodischer Sorgfalt etc.) beziehen und dabei selbst als Bedingungen der Möglichkeit von Wissenschaft gelten können. Gerichtet ist der geographische Frageakt auf die Relationen zwischen Menschen und ihrer gesellschaftlichen und/oder natürlichen Umwelt, welchen die beiden Regulative der Gerechtigkeit und der Achtsamkeit (Nachhaltigkeit) zuzuordnen sind. Diese können ein Verantworten wissenschaftlicher Praxis ethisch orientieren. Wie kann Wissenschaft aber sinnvoll mit der Normativität eigener Praxis umgehen und eine reflexive Distanz gegenüber der eigenen, aber auch gegenüber gesellschaftlichen Entwicklungen erreichen? Eine solche reflexive Auseinandersetzung betrifft ethisch-moralische Fragen auf zwei Ebenen: die Ebene systemischstruktureller, institutioneller Regulation und eine individuelle Ebene der Forschenden. Der vorliegende Band ist ein Schritt in die Richtung eines reflexiven Umgangs
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mit der fachlichen Verantwortung, der von folgenden Entwicklungen flankiert werden könnte: •
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Bewusstes Ermöglichen des fachinternen und fachübergreifenden Dialogs zwischen verschiedenen Bereichen, Ansätzen und Perspektiven, um sowohl Dialog als auch Bedeutung eigener Forschungsfragen reflektieren zu können. Diskursive Bestimmung bzw. Aushandlung eines disziplineigenen wissenschaftlichen Ethos der Geographie, der einen normativen Orientierungsrahmen konkretisiert (Apel 2016, Nida-Rümelin 2005: 846). Die Bestimmung eines Bestandes forschungsethischer Auseinandersetzungen im Studium der Geographie und ihrer Didaktik, der gelehrt und unterrichtet werden kann, dem in der Lehre begegnet werden kann und an welchem ein Zugang zu notwendigen ethischen Argumentationssystemen eröffnet wird. Eine systematisierende wissenschaftstheoretische Basis für die Hochschulausbildung, die ein metatheoretisches Wissen für eigenes wissenschaftliches Denken und Schaffen eröffnet, um die Einbindung und Reichweite eigenen Forschens zu fördern und Vereinzelungen der Perspektiven zu begegnen (Jonas 1979, Apel 2016).
Der Vorschlag Nida-Rümelins, eine »Erweiterung der epistemischen Rationalität um ein Ethos wissenschaftlicher Verantwortung« (ebd. 2005: 847) zu leisten, zeigt sich auch in der vorliegenden Perspektive als sinnvoll. Eine solche Erweiterung kann einen ethischen Orientierungsrahmen der Verantwortung bedeuten, der auch die prospektive Verantwortung geographischer Wissenschaft als systematische (auch ethische) Reflexion unter den Regulativen Wahrheit, Gerechtigkeit und Achtsamkeit in den Blick nimmt.
Literatur Adorno, Theodor W./Horkheimer, Max (2003): Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt a.M.: Fischer. Ahrend, Hannah (2018): Was heißt persönliche Verantwortung in einer Diktatur?, München: Piper. Ahrens, Jörn (1998): »Der Rückfall hat stattgefunden. Kritische Theorie der Gesellschaft nach Ausschwitz«, in: Auer, Dirk/Bonacker, Thorsten/Müller-Doohm, Stefan (Hg.), Die Gesellschaftstheorie Adornos. Themen und Grundbegriffe, Darmstadt: WBG, S. 41-60. Apel, Karl-Otto (2003): »Wahrheit als regulative Idee«, in: Dietrich Böhler/Matthias Kettner/Gunnar Skirbekk (Hg.), Reflexion und Verantwortung. Auseinandersetzung mit Karl-Otto Apel. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 171-196.
Verantwortung der Geographie
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Jochen Laub
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»Wissenschaft ist kein Wunschkonzert« Überlegungen zur Verantwortung der (Kultur-)Geographie Anton Escher »Der liberale Rechtsstaat gewährt der Wissenschaft das Recht, frei und unabhängig zu agieren. Frei ist die Wissenschaft, ihren Gegenstand zu wählen und zu erforschen, frei soll sie sein, ihre Ergebnisse in der Lehre zu präsentieren, dies selbstverständlich auf dem Boden des Grundgesetzes.« (Retter 2010: 13)
»Wissenschaft ist kein Wunschkonzert«, sie wird nicht zum Vergnügen betrieben, sondern hat eine verantwortungsvolle Aufgabe gegenüber der Gesellschaft zu erfüllen, die ihre Arbeit finanziert. Die Verantwortung der wissenschaftlichen Disziplinen nimmt zu, da wissenschaftliche Erkenntnisse zu Beginn des fortgeschrittenen 21. Jahrhunderts für die Gestaltung und Steuerung der komplexen Ordnung und komplizierten Organisation unserer Lebenswelt unverzichtbar sind. Nahezu alle Maßnahmen zur Ausgestaltung unserer Gesellschaft sowie unserer kulturellen und natürlichen Umwelten werden mit wissenschaftlichen Forschungsergebnissen begründet. Die jüngsten Ereignisse im Zusammenhang mit der sogenannten »Corona-Pandemie« führen dies unübersehbar vor Augen. Diese Diagnose stellt ganz bestimmte Ansprüche an die Auswahl der Themen, an die Generierung der Daten und an die Ergebnisse der Forschung. Der vorliegende Aufsatz will die grundlegenden Elemente diskutieren, für die die geographische Scientific Community an deutschen Universitäten verantwortlich sein sollte. Diese Aspekte machen ihre Identität aus, leiten ihr Denken, bestätigen ihre Überzeugungen, beeinflussen ihre Ergebnisse, bestimmen ihr Handeln und verwirklichen letztlich die Geographie als wissenschaftliche Disziplin. Es werden vier grundlegende Fragenkomplexe angesprochen:
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Was bedeutet verantwortungsvolle Geographie an deutschen Universitäten? Welche Voraussetzungen sollten erfüllt sein, damit Geographie Verantwortung übernehmen kann? Welche Aspekte der Disziplin Geographie sollten von der Geographie zum Wohle der Gesellschaft und des Individuums begründet und verantwortet werden? Welchem Affront, d.h. welchen Angriffen, ist eine verantwortungsvolle Geographie heute an deutschen Universitäten ausgesetzt?
Annahmen: Verantwortung, Geographie und Voraussetzung »Freiheit, Rationalität und Verantwortung sind die drei Aspekte einer besonderen menschlichen Eigenschaft, nämlich der, sich von Gründen affizieren zu lassen« (Nida-Rümelin 2011: 15). Die Geographie kann nur dann Verantwortung für ihre Einstelllungen, Überzeugungen und Handlungen übernehmen, wenn ihr Autarkie und Autonomie garantiert werden, denn »Verantwortlichkeit setzt die Freiheit des Handelns, die kausale Verursachung von Konsequenzen und die Kenntnisse der Umstände voraus« (Heidbrink 2017: 4). »… Verantwortung für Überzeugungen wird im wissenschaftlichen Kontext in besonders radikaler Form eingefordert« (NidaRümelin 2011: 162).
Verantwortung: Vergangenheit und Verpflichtung Verantwortung zu übernehmen und sich dabei von Gründen leiten zu lassen, gehört zu den Dimensionen des Menschseins, welche den Menschen als Mensch definieren. In ähnlicher Weise argumentiert Gerhardt (2019: 66), wenn er den Menschen als das Lebewesen, »das seine Gründe hat«, bezeichnet. Es entspricht der humanistischen Denktradition des Menschen »sich von Gründen leiten zu lassen«, die als sinnvoll, zweckmäßig und schlicht vernünftig im gegebenen Kontext oder als geeignet für das Gemeinwohl der Gesellschaft bezeichnet werden können. Daher ist es nur konsequent, dass insbesondere Wissenschaft und damit Geographie Verantwortung zu tragen hat. Verantwortung wird mit Heidbrink (2017: 8) »als Zurechnungsfähigkeit und Zuständigkeit, als folgenbasierte Legitimation, als kontextualistisches Reflexionsprinzip sowie als Struktur- und Steuerungselement« verstanden. Die deutsche Scientific Community der Geographie hat ihre Überzeugungen und ihre Aktivitäten immer vor dem Hintergrund der ehemaligen »Wege und Irrwege der deutschen Geographie« (Schöller 1957: 5) zu verantworten, die als negatives Vorbild gedeutet werden müssen. Die Verantwortung einer wissenschaftlichen Disziplin, die an einer deutschen Universität angesiedelt ist und betrieben wird, kann
»Wissenschaft ist kein Wunschkonzert«
nicht, wie vormals versucht, als »eine Angelegenheit der persönlichen Ansicht« eines Forschers bzw. einer Forscherin gedeutet werden. Ebenso wenig kann sich »eine Arbeit«, d.h. eine wissenschaftliche Studie nicht »selbst politischen Zielen« zuordnen und »durch ihre Tendenz zum Propagandamittel« werden (vgl. Schöller 1957: 5). Vielmehr hat historische Forschung eindeutig belegt, dass sich die Geographie im Dritten Reich durch ihre Handlungen schuldig gemacht hat: »Geographie hat sowohl im kulturpolitisch-ideologischen als auch im praktisch-politischen Bereich dieses Systems eine Rolle gespielt und sich so im konfliktreichen Spannungsfeld des nationalsozialistischen Staates behauptet« (Rössler 1990: 228). Angesichts dieser Vergangenheit muss Wissenschaft (und insbesondere die deutsche Geographie) aufgrund ihrer Identität als Wissen schaffende Gemeinschaft Verantwortung für sich selbst und für ihre Effekte übernehmen, denn nur ihre Mitglieder können kompetent über das geschaffene Wissen und die Dynamik der Wissensproduktion befinden. Dies trifft nicht nur auf die Überzeugungen zu, sondern auch auf die daraus folgenden Einstellungen und Handlungen.
Verantwortungsvolle Geographie Verantwortung übernehmen müssen alle Mitglieder der (geographischen) Scientific Community, die in ihrer Gesamtheit aus Personen wie Professoren/innen, Assistenten/innen, Akademischen Räten/innen, wissenschaftlichen Hilfskräften u.v.a.m. besteht, die Geographie an Universitäten und Hochschulen betreiben. Hinzu kommen die wissenschaftlichen Einrichtungen wie Institute für Geographie und einschlägige Labore, die von Geographen und Geographinnen betrieben werden. Alle schriftlichen und mündlichen Äußerungen sowie insbesondere der wissenschaftliche Diskurs, der sich in Forschung, Publikationen, Diskussionen, Vorträgen, Lehre usw. niederschlägt, werden zur »Geographie« gerechnet. Damit wird deutlich, dass Verantwortung nicht auf eine Person, ein Institut, eine Zeitschrift oder einen Artikel abgeschoben werden kann, sondern dass die Wissenschaftsgemeinschaft der Geographie mit allen ihren Institutionen und Organen, d.h. die gesamte Disziplin, die Verantwortung für ihr wissenschaftliches Handeln zu übernehmen hat. Dies ist dadurch begründet, dass die Elemente, welche die Existenz der Geographie als Hochschuldisziplin ausmachen, an einem Ort und zu einer Zeit in intensivem wechselwirkendem Zusammenhang stehen und sich aufeinander beziehen. Dies äußert sich in Berufungs- und Einstellungsverfahren, Rezensionen von Publikationen sowie Begutachtungen von Personen und Anträgen, also in Tätigkeiten, die gegenseitige Bewertungen und wechselseitige Auswahlverfahren darstellen. Damit entsteht eine intensive Verflechtung, sodass zu einer Zeit an einem Ort z.B. von der Scientific Community der Geographie in der BRD im frühen 21. Jahrhundert gesprochen werden kann. Es bedarf jedoch gesellschaftlicher Voraussetzungen und politischer Rahmenbedingungen, damit Geographie Verantwortung überneh-
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men kann. Darunter fallen Fähigkeiten, Kompetenzen und Bereitschaft zur Verantwortung sowie Wissen und Kenntnisse der relevanten Normen. Dies gilt für alle Disziplinen, da die Vertreter der jeweiligen Disziplin die Logik, Dynamik und die Effekte ihrer Disziplin zweifelsohne am besten kennen. Aus diesen Gründen muss die Gesellschaft, indem sie die notwendigen Bedingungen herstellt, dafür Sorge tragen, dass Wissenschaftler/innen ihre Verantwortung übernehmen können.
Voraussetzung: Autarkie und Autonomie Die Gründermütter und -väter der Bundesrepublik Deutschland haben die Voraussetzungen, diese Verantwortung den Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen zu übertragen, in das Grundgesetz geschrieben: Artikel 5 Absatz 3 lautet: »Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei. Die Freiheit der Lehre entbindet nicht von der Treue zur Verfassung«. Außerdem finanziert der Staat die öffentlichen Universitäten und gibt ihnen durch entsprechende Gesetze eine Organisationsform der Selbstverwaltung, Selbstorganisation und Selbstbestimmung, wie Enders (2010: 167-168) fordert: »Solange und soweit der Staat Wissenschaft, die ihren Namen verdient, in seine Regie nehmen will, muss er ihre Eigengesetzlichkeit respektieren«. »Die Bedingung der Freiheit ist dann erfüllt, […] wenn Gruppen, Kollektive und Korporationen in ihren Entscheidungsprozessen keinen externen Zwängen unterworfen sind, sondern ihre Aktivitäten und Operationen aufgrund ihrer autonomen Verfassung eigenständig umsetzen können« (Heidbrink 2007: 24). Dadurch erhalten die einzelnen Forschungsdisziplinen und ihre Vertreter und Vertreterinnen die notwendige Autarkie und erforderliche Autonomie, um Verantwortung für ihr Fach zu übernehmen. Autarkie umschreibt den Zustand, der die Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen unabhängig »von allen äußeren Gütern, äußeren Einflüssen und äußeren Affekten« macht. »Die Autarkie der einzelnen Person, oder genauer: die Beschränkung von Herrschaft über das Individuum, […] formt wesentlich normative Konstituenten der modernen Demokratie« (NidaRümelin 2011: 181). Dank der Selbstverwaltung verfügen die Wissenschaftler/innen über entsprechende Entscheidungs- bzw. Handlungsfreiheit. Autonomie verleiht den forschenden und lehrenden Individuen, die in wissenschaftlichen Einrichtungen arbeiten, die notwendige Selbstständigkeit und die erforderliche Selbstbestimmung sowie die nötige Willensfreiheit. Autonomie strukturiert die Lebensform (siehe Nida-Rümelin 2011: 181) und ermöglicht so die Ausformung einer Persönlichkeit, die zur Übernahme von Verantwortung unerlässlich ist: »Verantwortliches Handeln erfüllt sich demnach nicht in theoretischen Grundsätzen oder Handlungsanweisungen, sondern in der empathischen Fähigkeit abstrakte Grundsätze situationsbezogen angemessen anzuwenden, also in einer sozial integrativen Persönlichkeit, die ihre Handlungsspielräume intuitiv gemeinwohlorientiert anwenden kann« (Geiselhart/Häberer 2019: 121). Autonomie und Autarkie ermöglichen
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und verpflichten die Geographie, zugleich ihre Verantwortung gegenüber den von den Vereinten Nationen festgeschriebenen unveräußerlichen und grundlegenden Werten und Normen der Menschheit zu respektieren. Sie sind durch die »Allgemeine Erklärung der Menschenrechte« in der Generalversammlung der Vereinten Nationen vom 10.12.1948 in 30 Artikel niedergelegt und wurden auf der Wiener Weltkonferenz 1993 erneut bekräftigt. Außerdem ist eine verantwortungsvolle Geographie den Werten und Normen des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland vom 23.05.1949 (zuletzt geändert durch Artikel 1 des Gesetzes vom 15.12.2019), wie es in 146 Artikel niedergeschrieben ist, verpflichtet.
(Geographie generierende) Aspekte einer verantwortungsvollen (Kultur-)Geographie Eine verantwortungsvolle Geographie, so formuliert Jonas (2004: 186) für die Wissenschaft, hält die »Treue zu den Geboten der Wissenschaft selbst, d.h. eben zur »Wissenschaftlichkeit«. Außerdem erläutert er, dass der Bereich der Wissenschaft »seine eigenen Verhaltensnormen« mit sich führt, »die man wohl die territoriale Ethik des wissenschaftlichen Bereiches nennen kann: (…) kurz: intellektuelle Redlichkeit und Strenge« (Jonas 2004: 186). Diese Gebote und Regeln der Wissenschaft entstehen, so könnte man argumentieren, aus der Logik des Strebens nach Erkenntnis und stehen damit außerhalb freier normativer Setzungen, weil sie sich aus der Sache heraus bestimmen. So werden aus technischen Regeln gleichzeitig moralische Vorschriften. In ähnlicher Weise beschreibt Merton (1973: 270) die »mores of science« als »moral as well as technical prescriptions«. Nachfolgend ist nicht beabsichtigt, die normativen Aspekte einer verantwortungsvollen Geographie wissenschaftstheoretisch, wissenschaftshistorisch oder wissenschaftlich zu begründen, sondern es wird pragmatisch zum Wohle der Menschen und der Gesellschaft argumentiert. Mit Blick auf die Verantwortung der Geographie wird ebenso wenig versucht, die Normen auf der Basis von Wissenschaftspraxis zu begründen, sondern aus der Perspektive von Menschenrechten und Demokratie. Dabei haben die nachfolgenden Aufzählungen und Argumentationen nicht den Anspruch neu oder innovativ zu sein, sondern vernünftig und gemeinwohlorientiert. Die ausgewählten vier Aspekte zur Charakterisierung einer verantwortungsvollen empirischen Geographie weisen (meines Erachtens) auf unverzichtbare Eckpunkte und Pfeiler für entsprechende wissenschaftliche Arbeiten hin. Die folgenden Aspekte eignen sich für die Charakterisierung einer empirischen Geographie: Der erste Aspekt beschäftigt sich mit den grundlegenden wissenschaftlichen Zielen von Geographischer Wissenschaft. Die Geographie teilt diese mit den meisten Human-Wissenschaften als eine Wissenschaft unter Wissenschaften. Der
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zweite Aspekt benennt das Paradigma der Geographie schlechthin, welches Geographie (möglicherweise) von anderen Wissenschaften unterscheidbar macht. Der dritte Eckpunkt thematisiert mit dem methodischen Vorgehen den epistemischen Zugriff auf die Welt. Er ist die Basis, um (klärende oder verstehende) Theorien über die Welt zu generieren. Der letzte Aspekt erläutert ein Testverfahren, um die Wertigkeit der empirisch gewonnenen Erkenntnisse bestimmen zu können.
Entzauberung, Orientierung und Dekonstruktion Eine verantwortungsvolle Geographie an einer deutschen Universität muss Erkenntnisse produzieren und Effekte erzielen, die der Gesellschaft dienen, die sich diese Wissenschaft leistet. Wissenschaft und damit Geographie wird explizit nicht »lediglich als »Erzählung«, als »Mythos« oder als eine gesellschaftliche Konstruktion unter vielen« (Sokal/Bricmont 2001: 17) verstanden. Die Ziele und die Theorien1 der Wissenschaft müssen in der Lebenswelt Sinn machen, Bedeutung haben und im technischen oder metaphorischen Sinn funktionieren bzw. einsehbar und verständlich sein. Die grundlegenden Ziele einer verantwortungsvollen Geographie können, wie im Fall anderer humanwissenschaftlicher Disziplinen, mit Entzauberung der Welt, Orientierung in der (analogen und digitalen) Welt sowie Dekonstruktion gesellschaftlicher Verhältnisse in der Welt angegeben werden. Eine verantwortungsvolle Geographie sollte am Konzept der Entzauberung der Welt festhalten, wie von Weber (1930: 17) formuliert. Die Entzauberung der Welt bedeutet, modifiziert für das 21. Jahrhundert, mit der zunehmenden »Intellektualisierung und Rationalisierung« sowie Digitalisierung, »dass es also prinzipiell keine geheimnisvollen unberechenbaren Mächte gebe, die da hineinspielen, dass man vielmehr alle Dinge – im Prinzip – durch Berechnen« und Big Data sowie Algorithmen »beherrschen könne«. Obwohl wir heute von der Subjektivierung des Wissens und der Relativierung der Wahrnehmungen ausgehen, sollte eine verantwortungsvolle Geographie weiterhin an der Überlegenheit von Rationalität und Vernunft festhalten. Es sollte anerkannt werden, dass Rationalität immer in kulturelle Zusammenhänge eingebunden ist und in differenten Kontexten zu differenten Haltungen und Bedeutungen führen kann. Eine verantwortungsvolle Geographie sollte Dienste zur Orientierung des Menschen in der Welt leisten. Darunter ist nicht nur die räumliche Orientierung mit Hilfe von entsprechenden Instrumenten und Hilfsmitteln zu verstehen, sondern auch die Orientierung im alltäglichen Leben. Die komplexe und zunehmend noch 1
Eine verantwortungsvolle Geographie bejaht die Pluralität von (Meta-)Theorien in allen Variationen zur wissenschaftlichen Bearbeitung unterschiedlicher Fragestellung in unterschiedlichen Raum-Zeit-Kontexten.
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komplexer werdende Welt bedarf einer strategischen Reduktion, damit die Welt von Menschen noch verstanden werden kann. Dieses Verständnis ist von Nöten, denn »nur wer Gesellschaft oder (und) [Anm. des Verf.] Natur versteht, hat eine Chance, sie im Sinne seiner Normen angemessen zu bewirten, zu beeinflussen bzw. zu bewahren« (Rauch 2018: 198). Dies trifft auf alle lokalen, regionalen und globalen Maßstäbe der menschlichen Lebenswelt zu. Eine verantwortungsvolle Geographie sollte sich der diskursanalytischen Dekonstruktion zur Analyse von Macht- und Herrschaftsverhältnissen bedienen, um die komplexen Zusammenhänge und verborgenen Wechselbeziehungen dieser Welt aufzuklären (vgl. Derrida 1988): »Die Dekonstruktion leistet Widerstand gegen die Politik der Sprache, gegen die Praktiken der Ausschließung, Unterdrückung, Marginalisierung und Assimilierung, die sich hinter der scheinbaren Neutralität rein »theoretischer« Diskurse verbirgt« (Gebhardt/Reuber/Wolkersdorfer 2003: 14). Dekonstruktion kann auch als »eine Strategie der Subversion und Destabilisierung gegenüber den Geltungsansprüchen traditioneller – einschließlich kritischer – Theorien, Disziplinen und Paradigmen« (Weiß 1998: 672) bezeichnet werden. Diskurse sind heruntergebrochen auf geographische Sachverhalte kritisch zu analysieren und in ihre konstitutiven Teile zu zerlegen. Im Kontext der Geographie sollte dabei die machtvolle Produktion räumlicher Verhältnisse und die Gestaltung von Landschaften im Vordergrund stehen.
»Spatiality«, das gegenständliche Paradigma der Geographie? Eine verantwortungsvolle Geographie ringt, diskutiert und begründet ihren Gegenstand in Form von geteilten Paradigmen2 . Die Frage nach dem grundlegenden Gegenstand der Geographie konnte man zur Zeit der Entstehung der modernen Geographie schlicht beantworten: »Landschaft«. Nachdem sich die deutschsprachige Geographie von diesem, damals theoretisch relativ unreflektierten Konzept, aus allgemein bekannten Gründen verabschiedet hatte (vgl. Hard 1970), kommt es derzeit in geballter Form zurück. Kühne et al. (2019: 3) stellen fest: »Landschaft hat Konjunktur«. Man könnte, einfach formuliert, das Konzept »Landschaft« als Strategie der theoretischen »Integration von Natur und Kultur an einem Ort« charakterisieren oder mit der Feststellung »Alles an einem Ort« umschreiben. Heute wird die Frage nach dem Gegenstand der Geographie oftmals kurz und prägnant mit
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»Im Kampf um Macht, Status und Ausstattung fungiert die Definition eines Paradigmas also als Mittel, um sich gegen die Vertreter/innen anderer Disziplinen durchzusetzen. Dasselbe Mittel wird zum selben Zweck auch innerhalb wissenschaftlicher Disziplinen in Anschlag gebracht, wenn es gegen konkurrierende Paradigmen(vertreter/innen) geht« (Belina 2008, 514).
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»Raum« beantwortet. Damit wird die Strategie gewechselt und von den integrativen gegenständlichen Inhalten völlig abgelenkt. Ausgehend vom lebensweltlichen Verständnis von Raum, könnte man meinen, das Konzept bedeutet nun: »Nichts an einem Ort«. Wie man erkennt, hat sich die Definition des Gegenstandes nahezu in das Gegenteil verkehrt, nur der Ort, die eineindeutig identifizierbare Stelle auf der Erdoberfläche ist geblieben. Es stellt sich heute aber nicht mehr die Frage »Alles oder Nichts«. Die gegenwärtig verbreitete Alternative, den Gegenstand der Geographie zu benennen, lautet »Wechselwirkung von Umwelt und Gesellschaft« (Egner 2008). Sie zielt auf die Betrachtung von »Prozessen und Konstruktionen« ab. Bei diesem Paradigma tritt der Ort scheinbar in den Hintergrund. Der Ort bzw. die Differenz der Orte sind jedoch die Ausgangspunkte von Geographie schlechthin, wie Tuan (1991: 105) erläutert: »I would say that for the culture of geography to flourish, an intimate awareness of one’s own locality based on a knowledge of how places and peoples could differ profoundly, often within short distances, is combined with a more abstract appreciation of the earth as a whole«. Begann die Geographie als Wissenschaft mit der Beschreibung der Erde, so setzt sie sich heute fort mit der Theoretisierung der Prozesse und Effekte der Globalisierung, welche die Differenzen und Disparitäten sowie Konnektivität und Vulnerabilität der Orte dieser Welt verstehbar machen (vgl. Dürr/Zepp 2012). Der Spatial Turn (Soja 1989) in den Humanwissenschaften hatte Rückwirkungen, die im Fach Geographie neue Fragestellungen ermöglichten, die sich nahezu über alle Daseinsäußerungen des Menschen erstrecken. Allerdings besteht nunmehr die Gefahr, dass der Geographie das Alleinstellungsparadigma abhandenkommt. Bereits vor der Diskussion der zahlreichen »Turns« der Humanwissenschaften (Bachmann-Medick 2006) argumentierte Pickles (1985: 170): »[A]n empirical science of geography can be a human science of human spatiality«. Inzwischen wird deutlich, wie die vorangegangenen Argumente zeigen, dass die »räumliche Perspektive« (Bathelt/Glückler 2003) bzw. das »Räumliche« (Gebhardt/Reuber/Wolkersdorfer 2003: 5) die gemeinsame Perspektive der Geographie und das geographische Paradigma schlechthin sein könnte. Eine verantwortungsvolle Geographie sollte am gegenständlichen Paradigma »Räumlichkeit« zur Formung der disziplinären Identität festhalten, auch wenn es wissenschaftstheoretisch nicht begründbar sein sollte, wie Belina (2008) ausführlich darlegt.
Nüchtern, vernünftig und kritisch! Eine verantwortungsvolle Geographie sollte sich die Erkenntnisse des Tractatus LogicoPhilosophicus (Wittgenstein 1921) zur Grundlegung ihrer rationalen Normen für die
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empirisch-methodische Arbeit zu Eigen machen. Trotz der Vielgestaltigkeit der analytischen Philosophie listet Hörisch (2010: 47) die Ansprüche auf, die für die Arbeit der empirischen Geographie gelten könnten: »Die Aussagen einer Theorie müssen widerspruchsfrei sein, jeder benutzte Begriff muss expliziert bzw. explizierbar sein, die argumentativen Schritte müssen klar und konsistent verstehbar und nachvollziehbar sein und die Thesen bzw. Hypothesen müssen empirisch, logisch und argumentativ (intersubjektiv) nachprüfbar sein«.3 Trotz der spürbaren Ironie des Verfassers Hörisch (2010: 49) wird eine verantwortungsvolle Geographie dem »banalen« Satz des Common Sense »Bleiben wir nüchtern, seien wir vernünftig« generell zustimmen. Weiterführend formulieren die Geographen Gebhardt et al. (2003: 9) folgende Forderung an die Community: »Gegenseitige Akzeptanz auf der Basis der inneren Kohärenz, d.h. einer logisch sauberen (widerspruchsfreien) Argumentation, wäre dann das Gütekriterium wissenschaftlichen Arbeitens in einer kritischen, aber tolerant-offenen Scientific Community«. Eine verantwortungsvolle Geographie sollte an Basisansprüchen festhalten, auch wenn diese altmodisch und überholt wirken mögen. So fordert bereits Freiherr von Richthofen (1886: 8-41) bei der Anleitung zu Feldstudien: »Du musst den Gegenstand mit eigenen Augen gesehen haben!« Dieses Bekenntnis sollte zu den Grundsätzen geographischer Methodenlehre zählen und entsprechend möglicher Zugänge zu digitalen, virtuellen und augmentierten Welten weiterentwickelt werden. Dabei ist größte Aufmerksamkeit auf die Erhebung der Daten zu legen, da die Auskünfte und die methodische Gestaltung der Informationen über die Welt die Basis für jegliche Empirie gestützte Theorie darstellen (Kern 1982). Erst die Bearbeitung, Interpretation, Abstrahierung und Visualisierung der Daten ermöglichen theoretische Aussagen über die Welt in der wir leben (siehe Mattisek/Reuber/Pfaffenbach 2013). Eine verantwortungsvolle Geographie sollte Kartieren4 als methodisches Vorgehen und als darstellende Strategie zum Verständnis ihrer Ergebnisse als ein alleinstellendes Merkmal des Hochschulfaches Geographie »vermarkten« (vgl. Reder 2012). Thematische und synoptische Karten können alle denkbaren Phänomene enthalten wie Dinge, Beziehungen, Funktionen, Thesen, Vorstellungen, Chancen und Kon-
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Weitaus differenzierter diskutiert Ropohl (2002) die Rationalität von wissenschaftlicher Arbeit, die sich mit folgenden Dimensionen charakterisieren lässt: Sprachlicher Ausdruck, diskursive Intersubjektivität, theoretische und empirische Überprüfbarkeit, analytische Präzision, die synthetische Kohärenz sowie systemische und kritische Reflexivität. Der inzwischen im Deutschen übliche Ausdruck »Mapping« geht dabei weit über Kartieren hinaus, denn er wird im Sinn »Etwas auf Etwas abbilden« bzw. »Dinge zu Dingen zuordnen« gebraucht.
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zepte. Sie zeigen räumliche Lage, räumliche Verbreitung, räumliche Bewegung, räumliche Interaktionen, räumliche Koinzidenzen oder räumliche Persistenzen. Im Zentrum sollte die Visualisierung stehen, denn alles, was auf Karten dargestellt werden kann, könnte Geographie sein (Schlottmann/Wintzer 2019, 346 ff). Letztlich ist der Zusammenhang zwischen »räumlicher Perspektive«, also dem »Räumlichen« und den dargestellten Sachverhalten auf thematischen Karten offensichtlich. Eine verantwortungsvolle Geographie sollte ausgehend von René Descartes jedwede Kritik an der Geographie als notwendig für das Überleben des Faches und für seine immerwährende Modifikation erkennen. Kritisch im hier verstandenen Sinne bedeutet, »das Erkenntnisobjekt (…), die auszuwählenden Erklärungsansätze, die angewandten Methoden und die zu untersuchenden Prozesse, Praktiken, Diskurse kritisch reflektierend und in Relation zur vorgefundenen Situation zu überprüfen« (Rauch 2018: 199).
Wirklichkeit, Wahrheit und Viabilität? Für eine verantwortungsvolle Geographie erscheint es sinnvoll, »Wirklichkeit als Qualität von Phänomenen zu definieren, die ungeachtet unseres Wollens vorhanden sind – wir können sie ver- aber nicht wegwünschen« (Berger/Luckmann 1982: 1). Dies bedeutet, dass die Welt zwar ist, aber dass die Welt unseres Alltages und die alltägliche Lebenswelt für uns so ist, wie wir sie wahrnehmen, wie wir sie erinnern und wie wir sie uns vorstellen, einbilden oder phantasieren. »Die Wirklichkeit der Alltagswelt stellt sich mir ferner als eine intersubjektive Welt dar, die ich mit anderen teile. Ihre Intersubjektivität trennt die Alltagswelt scharf von anderen Wirklichkeiten, deren ich mir bewußt bin« (Berger/Luckmann 1982: 25). Allerdings ist es fraglich, mit wem ich diese subjektive Welt teile, denn Fleck (1983: 48) stellt klar: »Jedem Erkennen, jedem Erkenntnissystem, jedem sozialen Beziehungseingehen entspricht eine eigene Wirklichkeit. Dies ist der einzig gerechte Standpunkt«. Damit wird die Suche nach einer Wirklichkeit und einer Wahrheit außerhalb menschlicher Wahrnehmungen ausgeschlossen: »Der radikale Konstruktivismus ist also vor allem deswegen radikal, weil er mit der Konvention bricht und eine Erkenntnistheorie entwickelt, in der die Erkenntnis nicht mehr eine »objektive«, ontologische Wirklichkeit betrifft, sondern ausschließlich die Ordnung und Organisation von Erfahrungen in der Welt unseres Erlebens« (von Glasersfeld 1997: 23). Eine verantwortungsvolle Geographie erkennt folgende Feststellung von Watzlawick (1978: 219) in Bezug auf die Formulierung der wissenschaftlichen Fragestellungen und Themenbereiche an: »Die Fähigkeit mit relativen Wahrheiten zu leben, mit Fragen, auf die es keine Antworten gibt, mit dem Wissen, nichts zu wissen,
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und mit den paradoxen Ungewißheiten der Existenz, dürfte dagegen das Wesen menschlicher Reife und der daraus folgenden Toleranz für andere sein«. Dabei unterscheidet Watzlawick (1978: 142-143) zwischen einer Wirklichkeit erster und zweiter Ordnung. Während die Wirklichkeit erster Ordnung durch einen Konsens der Wahrnehmung, durch wiederholbare Experimente und durch Nachweise zu charakterisieren ist, zeichnet sich die Wirklichkeit zweiter Ordnung durch Subjektivität und Arbitrarität aus. Kulturwissenschaften haben es nahezu durchgehend mit der Wirklichkeit zweiter Ordnung zu tun. Aus diesen formulierten Annahmen ergibt sich für eine verantwortungsvolle Geographie, dass Viabilität als Erkenntnisziel und als Qualitätskontrolle einer empirischen Geographie anzuwenden ist, anstelle von anderen Wahrheitskriterien: »Handlungen, Begriffe und begriffliche Operationen sind dann viabel, wenn sie zu den Zwecken oder Beschreibungen passen, für die wir sie benutzen« (Glasersfeld 1997: 43). Somit kann Viabilität mit Egner (2010: 55) erläutert werden: »Viabilität heißt also brauchbar, gangbar, passend, funktionierend und bezeichnet die Brauchbarkeit einer Theorie oder eines Weges zur Lösung eines Problems. Das Konzept der Viabilität beinhaltet dabei gleichzeitig, dass es neben dem gewählten Weg auch zahlreiche andere gangbare Wege gibt, die vielleicht zu ähnlichen, aber möglicherweise eben auch zu ganz anderen Lösungen führen, und dient als Ersatz für den so leicht irreführenden Begriff der Wahrheit«. Eine verantwortungsvolle Geographie sollte sich konstruktivistischen Ansätzen zum Verständnis bzw. zur Erklärung der Welt verpflichten und »die Viabilität von Praktiken, Routinen und Institutionen zum steten Anknüpfungs- und Diskussionspunkt dafür nehmen, inwieweit Menschen ihren Konstruktionen oder Methoden z.B. Erfolg oder Mißerfolg, Nutzen oder Schaden, Schönheit oder Hässlichkeit, Angemessenheit oder Unangemessenheit usw. zuschreiben« (Reich 2001: 360). Man kann festhalten, dass wissenschaftliche Konstruktionen über die Wirklichkeit oder deren Wahlmöglichkeiten solange gelten sollen, solange sie sich bewähren und anwendbar sind. Damit sind der oft geschmähten »postmodernen Beliebigkeit« nach dem meist diametral gegenteilig verstandenen Prinzip »anything goes« deutliche Grenzen gesetzt.
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Affront gegenüber einer verantwortungsvollen Geographie5 : Vermessung, Outsourcing und Fremdbestimmung? Trotz der Garantie der Freiheit der Wissenschaften und damit der Bedingungen der Wissenschaft zur Übernahme von Verantwortung für ihre Überzeugungen, Einstellungen und Handlungen, werden sie im Alltag durch politische Belange und ökonomische Interessen (vgl. Nida-Rümelin 2011: 165) sowie durch das Streben nach der messbaren Verbesserung wissenschaftlicher Qualität bedroht. Die Maßnahmen können als Affront gegenüber der Geographie in drei unterschiedlichen Bereichen bezeichnet werden: Vermessung von Forschung, Outsourcing und Auftragsforschung sowie Fremdbestimmung. Die Vermessung der wissenschaftlichen Leistungen von Wissenschaftler/innen soll u.a. dazu dienen, Ökonomie und Qualität der Forschung zu steigern und vergleichbar zu machen. Die angewandten Methoden sind aber nur bedingt in der Lage, die Qualität einer wissenschaftlichen Leistung unmittelbar zu bestimmen. Aufgrund der latenten Ökonomisierung unserer Gesellschaft und somit auch der Universitäten werden quantitative Faktoren (z.B. Anzahl der Publikationen, Impact-Faktor, Drittmittel der DFG, des BMBF und anderer Stiftungen, Hirsch-Index, Klickzahlen von Internetseiten, Rankings auf Internetportalen wie Google Scholar, ResearchGate und Academia sowie Preise und die Zahl geschriebener Anträge) einbezogen, um die Qualität der individuellen Leistungen zu messen. Allerdings sind sich Kritiker einig, dass quantitative Indikatoren »kein Instrument der Evaluation wissenschaftlicher Forschung« sein können, welches »deren höchst vielfältiger Natur gerecht wird« (Münch 2015: 158). Der Einfluss der Industrie durch Outsourcing und Auftragsforschung an der Universität äußert sich zwar banal, aber effektiv: »Wer zahlt, bestimmt mit«, lautet das Motto bei Kooperationen zwischen Universitäten und Unternehmen und Stiftungen oft. Die Wissenschaftsfreiheit wird geopfert« schreibt Kühne (2019) im Tagesspiegel. Kohlenberg und Musharbash (2013) führen in »Die Zeit« aus: »Die gekaufte Wissenschaft. Unternehmen bestellen Studien, engagieren Professoren und finanzieren ganze Institute, die in ihrem Sinne forschen. An den Universitäten ist die Wirtschaft zu einer verborgenen Macht herangewachsen«. Mit Hilfe von speziell dafür gegründeten Stiftungen verlagern Industrieunternehmen in Deutsch5
Verantwortungsvolle Geographie ist ein Teil der Gesellschaft und steht mit der Gesellschaft in vielerlei Hinsicht in Wechselwirkung. Diese beginnt bei der hochschulpolitischen Organisation der Disziplin, erstreckt sich auf die Vermittlung ihrer Erkenntnisse und endet bei der praktischen Anwendung ihrer Befunde. Eine geographische Scientific Community (jeder Generation) sollte Strategien für Forschung, Studium, Bildung und Praxis praktizieren und entwickeln, damit sie gegenüber konkurrierenden Disziplinen an den Universitäten bestehen und ihre Anliegen in der Gesellschaft vertreten kann. Diese zahlreichen Aspekte sind nicht Gegenstand der vorliegenden Überlegungen.
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land ihre Forschungen an und in die Universität. Sie verändern damit Forschungsschwerpunkte, Forschungsthemen und den Umgang mit Forschungsergebnissen. Die Fremdbestimmung der Geographie wird durch gesetzliche Neuregelungen und institutionelle Maßnahmen erzeugt. Sie führen, überzogen formuliert, zu einer Umkehrung der Universitätshierarchie und zur Bevormundung bzw. Entmündigung der einzelnen Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen. In den letzten Jahrzehnten wurden die deutschen Universitäten schrittweise gesetzlich umgebaut, mit dem Effekt einer Reversion der Arbeits- und Ideen-Hierarchie: Konnten früher die Professoren/innen über die Gremien (Institute, Fachbereiche und Senat) ihre wissenschaftlichen Belange selbst bestimmen, bestimmen heute Präsident oder Präsidentin bzw. Rektor oder Rektorin und Hochschulrat den Weg. Die anstehende Übertragung der »Dienst-Vorgesetzten-Eigenschaft« für Professoren und Professorinnen vom Minister bzw. von der Ministerin auf den Präsidenten oder die Präsidentin bzw. den Rektor oder die Rektorin der Universität führen genauso wie die regelmäßige Vereinbarung von einzuhaltenden Zielvorgaben und die Vergabe von finanziellen Gehalts-Prämien zu Abhängigkeiten. Die scheinbar selbstgesetzten Regeln des Modulhandbuches der Lehreinheiten runden die offensichtliche Entmündigung ehemals autonomer Professoren und Professorinnen ab. Obwohl alle Maßnahmen die »Autonomie und Eigenverantwortung« der Universitäten stärken sollen, reduzieren die angesprochenen Schritte die Freiheit und die Selbstbestimmung des individuellen Wissenschaftlers und der individuellen Wissenschaftlerin und damit die Ausbildung von verantwortungsvollen Persönlichkeiten. Unter den zahlreichen Gegenstrategien sollen hier nur die Generierung von Publikationen unabhängig von Qualität und Innovativität, die Etablierung von Zitierkartellen (Binswanger 2010: 171) und die Multiplikation einer Vielzahl von Autoren/innen bei kurzen Aufsätzen angeführt werden. »Selbstvermarktung« und »Kampf um Aufmerksamkeit« (Franzen 2015: 239) stehen plötzlich im Mittelpunkt des Geographen und der Geographin auf Kosten von Zeit und Kreativität: »Der derzeitige Prozess der ›Kommoditisierung‹ der Universität« wird »als Auslöser für einen Verdrängungseffekt gesehen, der Eigeninitiative, Kreativität und Risikobereitschaft in der Forschung beeinträchtigt« (Hofreither/Vogel 2008: 69). Als weit bedeutender für die einzelnen Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen ist hinzuzufügen, dass dadurch eine verantwortungsvolle Geographie in hohem Maße beeinträchtigt wird. Die Verantwortung für die Wissenschaft wird faktisch von Industrie und Politik sowie von der Universitätsleitung übernommen. Ehrlicherweise wird jedoch weiterhin die Verantwortung der Geographie zugeschrieben, obwohl sie die Verantwortung unter den geschilderten Prozessen nur noch bedingt wahrnehmen kann!? Allerdings könnte man »eine grundlegende Veränderung im Verhältnis der Wissenschaft zu anderen Bereichen der Gesellschaft und damit auch des Charakters der Wissenschaft selbst konstatieren« (Weingart 2003: 134). Dies könnte
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zur Folge haben, dass die Wissenschaft (und damit auch die Geographie) »ihre institutionelle Identität« verliert. Eventuell befinden sich die Wissenschaften in ihrer thematischen Ausrichtung an der Schwelle zur strukturellen Integration und partiellen Auflösung in die Gesellschaft, denn »die Kriterien der Beurteilung von Qualität und Relevanz des Wissens werden nicht mehr allein von der Wissenschaft selbst definiert« (Weingart 2003: 134). Der dazu notwendige institutionelle Umbau der Universität und die fremdgesteuerte Modifikation von »Lehre und Forschung« sind bereits im Gang.
Fazit: Aufgaben einer verantwortungsvollen Geographie an deutschen Universitäten Eine verantwortungsvolle Scientific Community muss Verantwortung für ihre wissenschaftlichen Überzeugungen, ihre wissenschaftlichen Einstellungen und ihre gesellschaftsbezogenen Handlungen übernehmen. Zudem erwartet die Gesellschaft, dass die Geographie die Verantwortung für ihre wissenschaftliche Tätigkeit und für ihre wissenschaftliche Produktion bzw. deren Auswirkungen übernimmt, ob sie dies will oder nicht. Im Idealfall gewähren die politischen Institutionen der wissenschaftlichen Disziplin Geographie die notwendige Autarkie an deutschen Universitäten. Ebenso wird die erforderliche Autonomie auf institutioneller Ebene garantiert, damit die Geographie sich in Forschung und Lehre frei entfalten kann und in der Lage ist, der Forderung nachzukommen, Verantwortung zu übernehmen. Aufgrund der vorangehenden Überlegungen sollte eine verantwortungsvolle Geographie zur Gestaltung und zum Betrieb der wissenschaftlichen Disziplin Geographie an deutschen Universitäten folgende Aufgaben erfüllen: •
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Verantwortungsvolle Geographie sollte in der lebensweltlichen Wirklichkeit verankert sein und sich mit den alltäglichen und geopolitischen Problemen aller Maßstäbe von Gesellschaft, Umwelt und Natur sowie deren Wechselwirkungen auseinandersetzen. Verantwortungsvolle Geographie sollte zur Entzauberung, Orientierung und Dekonstruktion der Lebenswelt beitragen und mit ihren Fragestellungen Verantwortung für die Einhaltung der Menschenrechte und für die Gestaltung der Demokratie übernehmen. Verantwortungsvolle Geographie sollte am Konzept der Rationalität festhalten, die Prinzipien der analytischen Wissenschaft beachten, ihre Themen in Bezug auf die »räumliche Perspektive« (inklusive möglicher kartographischer Visualisierung) bearbeiten, Viabilität als Wahrheitskriterium heranziehen und immer für konstruktive Kritik offen sein.
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Verantwortungsvolle Geographie sollte sich (hochschul-)politisch engagieren, damit der Gesetzgeber weiterhin »Freiheit von Forschung und Lehre« garantiert und die Geographie in Autarkie und in Autonomie Verantwortung für ihre Wissenschaft übernehmen kann.
Im Laufe des vergangenen Jahrhunderts haben sich die normativen Forderungen für den Betrieb von Wissenschaft, wie sie von Max Weber (1930) und Robert Merton (1973) formuliert wurden, aufgrund der gesellschaftlichen Ansprüche verändert und modifiziert. Nichtsdestoweniger benötigt die Gesellschaft wissenschaftliche Erkenntnisse für ein menschengerechtes, demokratisches und selbstbestimmtes Leben ihrer Mitglieder mehr als je zuvor in der Geschichte der Menschheit. Machen wir uns bewusst, dass diese wissenschaftlichen Erkenntnisse nicht nur von den Naturwissenschaften, den Kultur- und Sozialwissenschaften, sondern auch von der (Kultur-)Geographie geliefert werden. Diese wissenschaftlichen Erkenntnisse und ihr gesellschaftliches Potenzial sind von der Geographie zu verantworten! Eine verantwortungsvolle Geographie sollte nicht vergessen: Die Geographie an deutschen Universitäten ist kein Wunschkonzert!
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Autorinnen- und Autorenverzeichnis
Allerberger, Franziska, B.Sc. Geographie, Universität Innsbruck, Gründungsmitglied der studentischen Initiative Nachhaltige Universität Innsbruck (INUI) und des österreichweit agierenden studentischen Vereins forum n. Studentische Mitarbeiterin im Projekt UniNEtZ – Universitäten und Nachhaltige Entwicklungsziele zur Ausarbeitung von Optionen für die Umsetzung der Sustainable Development Goals (SDGs) in Österreich. Böhmer, Hans Jürgen, Dr. rer. nat. habil., Professor für Biogeographie, School of Geography, Earth Science & Environment, University of the South Pacific (USP); Arbeitsschwerpunkte: Vegetationsdynamik, Naturschutz, montane Regenwälder, biologische Invasionen. Dickel, Mirka, Dr. rer. nat., Universitätsprofessorin für Didaktik der Geographie, Institut für Geographie, Friedrich-Schiller-Universität Jena, Arbeitsschwerpunkte: Phänomenologische Hermeneutik, kulturelle und visuelle Räumlichkeiten, Wissenschaftskritik, Reflexive Grounded Theory. Emrich, Lukas, B.Sc. Geographie, Universität Innsbruck. Gründungsmitglied der studentischen Initiative Nachhaltige Universität Innsbruck (INUI). Studentischer Mitarbeiter im Projekt UniNEtZ zur Ausarbeitung von Optionen für die Umsetzung der Sustainable Development Goals (SDGs) in Österreich. Escher, Anton, Dr. rer. nat., Universitätsprofessor für Kulturgeographie, Geographisches Institut, Johannes Gutenberg-Universität Mainz, Arbeitsschwerpunkte: Arabische Altstädte, Filmgeographie, Interkulturalität, Kreuzfahrt, Diaspora. Geiselhart, Klaus, Dr. habil., Privatdozent am Institut für Geographie, FriedrichAlexander-Universität Erlangen-Nürnberg, Arbeitsschwerpunkte: Urban Studies, praxelogische Sozialtheorien, Methodologie der Sozialwissenschaften, geographische Gesundheitsforschung und Entwicklungsforschung.
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Gudat, Georg, Didaktik der Geographie, Institut für Geographie, FriedrichSchiller-Universität Jena, Arbeitsschwerpunkte: kritisch-emanzipatorische Geographiedidaktik, politische Bildung im Geographieunterricht. Hasse, Jürgen, Dr. rer. nat. habil., Universitätsprofessor für Geographie und Didaktik der Geographie, Institut für Humangeographie, Goethe-Universität Frankfurt a.M., Arbeitsschwerpunkte: Phänomenologische Raumforschung, Philosophie des Wohnens, Räumliche Vergesellschaftung des Menschen, Raum und Ästhetik, Mensch-Natur-Verhältnisse. Heuser, Jacob, M.Sc., Gründungsmitglied der studentischen Initiative Nachhaltige Universität Innsbruck (INUI), PhD Student Institut für Geographie der Universität Innsbruck, Wissenschaftlicher Mitarbeiter und Projektmanager. Forschungsschwerpunkte: Sozialökologische Übergänge, soziale Innovationen, Stadt-Land-Verbindungen. Korf, Benedikt, Dr.rer.agr., Universitätsprofessor für Politische Geographie, Geographisches Institut, Universität Zürich, Arbeitsschwerpunkte: Kriege, Krisen und Konflikte; Entwicklungsgeographie; Postkoloniale Geographie; Politische Geographie. Laub, Jochen, Dr. rer. nat., StR, Wissenschaftlicher Mitarbeiter der AG Geographiedidaktik, Institut für naturwissenschaftliche Bildung, Universität KoblenzLandau, Arbeitsschwerpunkte: Philosophische und pädagogische Grundlagen der (Geographie-)Didaktik, ethisches Urteilen als Dimension des Geographieunterrichts, soziale und kulturelle Räumlichkeiten. Mack, Philipp, M.Sc. Geographie, Universität Freiburg. Gründungsmitglied der studentischen Initiative Nachhaltige Universität Innsbruck (INUI). PhD Student im interdisziplinären Graduiertenkolleg ConFoBi (Conservation of Forest Biodiversity in Multiple-Use Landscapes of Central Europe). Arbeitsschwerpunkte: Diskursanalyse, gesellschaftliche Naturverhältnisse, Biodiversitätserhalt. Rhode-Jüchtern, Tilman, Dr. rer.nat. habil, Universitätsprofessor für die Didaktik der Geographie i.R., Institut für Geographie, Universität Jena. Arbeitsschwerpunkte: Erkenntnistheorie und Philosophie der Geographie, Wissenschaftstheorie und -kritik, Planungstheorie und -didaktik, Perspektivenwechsel und Neue Allgemeinbildung. Schlottmann, Antje, Dr. rer. nat., Universitätsprofessorin für Geographie und ihre Didaktik, Institut für Humangeographie, Goethe-Universität Frankfurt, Arbeits-
Autorinnen- und Autorenverzeichnis
schwerpunkte: Gesellschaftliche Naturverhältnisse, multispecies environments, Visuelle Geographien, raumbezogene Kommunikation, Fachgeschichte(n), Wissenschaftskritik. Weimar, Jannis, M.Sc. Physik, PhD Student Physikalisches Institut Universität Heidelberg, Austauschwissenschaftler am AlpS Institut Innsbruck. Forschungsschwerpunkt: Bestimmung von Bodenfeuchte und Schneewasseräquivalent mit Hilfe von kosmischer Sekundärstrahlung. Weiß, Marlene, M.Sc. Geographie, Universität Innsbruck. Gründungsmitglied der studentischen Initiative Nachhaltige Universität Innsbruck (INUI). Projektreferentin für Bolivien bei Bruder und Schwester in Not der Diözese Innsbruck.
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Geographie Lisa Maschke, Michael Mießner, Matthias Naumann
Kritische Landforschung Konzeptionelle Zugänge, empirische Problemlagen und politische Perspektiven 2020, 150 S., kart., 3 SW-Abbildungen 19,50 € (DE), 978-3-8376-5487-5 E-Book: PDF: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5487-9
Susann Schäfer, Jonathan Everts (Hg.)
Handbuch Praktiken und Raum Humangeographie nach dem Practice Turn 2019, 396 S., kart., 5 SW-Abbildungen 29,99 € (DE), 978-3-8376-4603-0 E-Book: PDF: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4603-4
Ian Klinke
Bunkerrepublik Deutschland Geo- und Biopolitik in der Architektur des Atomkriegs 2019, 256 S., kart., 21 SW-Abbildungen 29,99 € (DE), 978-3-8376-4454-8 E-Book: PDF: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4454-2 EPUB: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-4454-8
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Geographie Lynn Berg, Jan Üblacker (Hg.)
Rechtes Denken, rechte Räume? Demokratiefeindliche Entwicklungen und ihre räumlichen Kontexte 2020, 286 S., kart., 29,00 € (DE), 978-3-8376-5108-9 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation PDF: ISBN 978-3-8394-5108-3
Bastian Lange, Martina Hülz, Benedikt Schmid, Christian Schulz (Hg.)
Postwachstumsgeographien Raumbezüge diverser und alternativer Ökonomien 2020, 456 S., kart., 29,00 € (DE), 978-3-8376-5180-5 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation PDF: ISBN 978-3-8394-5180-9
Manuel Trummer, Anja Decker (Hg.)
Das Ländliche als kulturelle Kategorie Aktuelle kulturwissenschaftliche Perspektiven auf Stadt-Land-Beziehungen 2020, 330 S., kart., 39 SW-Abbildungen 39,00 € (DE), 978-3-8376-4990-1 E-Book: PDF: 38,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4990-5
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de