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German Pages [297] Year 2019
Bruno Kissling / Peter Ryser
Die ärztliche Konsultation systemisch-lösungsorientiert
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Bruno Kissling/Peter Ryser
Die ärztliche Konsultation – systemisch-lösungsorientiert Mit 4 Abbildungen und einer Tabelle
Vandenhoeck & Ruprecht
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2019, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Esther Quarroz, Bern Satz: SchwabScantechnik, Göttingen Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-666-40394-1
Inhalt
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Zu diesem Buch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10 Mein Weg als Hausarzt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10 Personenbezogene Medizin und Gesundheitspolitik . . . . . . . . . . . . . 14 Inhalt und Handhabung dieses Buches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17
Die Konsultation in 7 Schritten Schritt 1: Vorbereiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 Schritt 2: Ziel- und lösungsorientierte Zusammenarbeit aufbauen . . . . . 33 Schritt 3: Anamnese erheben zu den einzelnen Problemen / Symptomen / Symptomenkomplexen, Lösungsvorstellungen . . . . . . . . . . . . . 61 Schritt 4: Handlung entwickeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 Schritt 5: Präventive Möglichkeiten diskutieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 Schritt 6: Den Abschluss einer Konsultation oder der Zusammenarbeit gestalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 Schritt 7: Konsultation auswerten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 Thematische Schwerpunkte 1 Grundlagen systemisch-lösungsorientierter Beratung . . . . . . . . . . . . . 195 2 Einführung in die komplex-adaptive Systemtheorie . . . . . . . . . . . . . . 211 3 Praxisräumlichkeit und -atmosphäre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216 4 Aktives Zuhören . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 5 Kunst des Fragens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224 6 Auftrag klären . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 7 Ressourcen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 8 Körperliche Nähe und Berührung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 9 Ambivalenz und seelischer Konflikt bei Entscheidungen . . . . . . . . . . 242 10 Uncertainty und Medizin im Grenznutzenbereich . . . . . . . . . . . . . . . . 251 11 Fehlerkultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 12 Therapiemöglichkeiten besprechen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 13 Präventive Möglichkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283 14 Krankengeschichte führen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287
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Inhalt
Epilog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 290 Dank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293 Codes für Download-Material und Streaming der Dokumentarfilm-Trilogie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 296
Vorwort
Dieses Buch ist nicht zufällig aus hausärztlicher Perspektive, vielleicht besser: hausärztlicher Notwendigkeit, entstanden, wenn auch Wirkung und Anwendungsbereich der darin entwickelten Methodik weit darüber hinausreichen. Fragen Sie, wen Sie möchten – den Mann oder die Frau auf der Straße, Politiker, Journalistinnen, Ärzte –, ob er oder sie wisse, was denn Allgemeinmedizin sei: Sie werden die Antwort bekommen: ja natürlich! Wenn Sie dann allerdings um eine Erklärung bitten, werden Sie entweder auf Allgemeinplätze (wie »zuständig für alles«) stoßen oder auf weit ausholende Erklärungsversuche; im ungünstigeren Fall werden Sie die Antwort erhalten, sie sei ein bisschen was von allen Fächern, im günstigeren Fall eröffnet ratloses Achselzucken zumindest einen Denkprozess. Allgemeinmedizin ist komplex und in dieser Komplexität schwer zu erklären. Natürlich befasst sie sich mit dem ganzen Menschen, natürlich umfasst sie die gesamte Breite der Medizin – aber was genau bedeutet das und wie wirkt sich das auf unser Handeln aus? Wir Hausärzte und Hausärztinnen können intuitiv erfassen, was Hausarztmedizin ist, denn wir leben sie, und unsere Patientinnen und Patienten können das auch, denn sie erleben sie – buchstäblich am eigenen Leib. Aber gut nachvollziehbar erklären, was wir tun, das fällt auch uns nicht leicht. Es ist aber ganz wesentlich, unser Fach erklären und darstellen zu können. Damit Politiker / -innen verstehen, welche Rolle die Hausarztmedizin im System spielt (oder spielen könnte), damit spezialisierte Kolleginnen und Kollegen sehen, was wir in der Kooperation leisten (könnten), und damit wir selbst unsere Tätigkeit gut strukturieren, gut reflektieren und, nicht zuletzt, gut lehren können. Nun fehlt es nicht an einer Theorie der Inhalte und auch der Arbeitsweise der Hausarztmedizin, es fehlt nicht an Zugang zu Fachwissen. Aber es fehlt an einer Übersetzung dieser theoretischen Erkenntnisse in die konkrete, gelebte Wirklichkeit mit ihrer Simultaneität von Erkenntnis- und Handlungssträngen, und auch umgekehrt, an einer Übersetzung unserer gelebten Praxis in eine daran
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Vorwort
wachsende Theorie unseres Fachs. Es fehlt an spezifischen, gut beschriebenen und vermittelbaren Techniken, die der Komplexität generalistischen Handelns gerecht werden. Die zunehmende personelle und räumliche Trennung zwischen akademischer Allgemeinmedizin und praktischer Hausarztmedizin erleichtert den Brückenschlag nicht. Weil wir Dinge anders machen als Spezialisten, fühlen wir uns oftmals »abtrünnig« von der reinen medizinischen Lehre und lassen uns nicht gern »über die Schulter schauen«. Besser als Bruno Kissling dies in seinem Vorwort »Mein Weg als Hausarzt« beschreibt, kann man diese unsere Not wohl kaum darstellen. Wir spüren und wir wissen, dass wir Dinge anders angehen müssen, um unserer Aufgabe gerecht zu werden, aber es fehlt uns an einem Selbst- Bewusstsein, das auf einer anerkannten, spezifischen und allgemein gültigen Lehre des hausärztlichen Denkens und Handelns gründen kann. Dabei sollten wir genau das tun: uns bei unserer ganz speziellen Vorgehensweise über die Schulter schauen lassen, sie genau beschreiben und sie lehren. Das haben Kissling und Ryser, bezogen auf den Prozess der Konsultation, nun in dankenswerter Weise getan. Die spezifische Vorgangsweise der Hausarzt medizin, deren Kern und Herz der Konsultationsprozess ist, in ihrer ganzen Komplexität und Mehrdimensionalität sichtbar und nachvollziehbar zu machen und sie anschließend zu reflektieren, ist ein Verdienst des vorliegenden Buchs. Die Entwicklung, Beschreibung und Präsentation eines dazu geeigneten Instru ments, der systemisch-lösungsorientierten Medizin, ist ein weiteres. In Verbindung mit der wunderbaren Dokumentarfilm-Trilogie »Am Puls der Hausärzte«, die über das Buch per Link erreichbar ist (s. S. 296), werden die analysierten Denk- und Handlungsweisen unmittelbar erlebbar. Mehrdimensionales, emotionales und rationales Lernen werden möglich, Theorie und Praxis können verschmelzen zu dem Ganzen, das sie sind. In einer Zeit extensiver Spezialisierung und Zersplitterung muss die generalistische Medizin ihre veränderte Rolle finden, neu definieren und gestalten. Hausärztliche Aufgabe ist es nicht mehr (nur), »Einfaches« selbst zu behandeln und weiterzuleiten, was uns fachlich überfordert. Unsere Aufgabe ist es, die präsentierten, oft komplexen Probleme richtig einzuordnen, die angemessene Behandlung in gemeinsamer Entscheidung mit dem Patienten, mit der Patientin einzuleiten oder zu organisieren, Patienten auf ihren Wegen im Gesundheitssystem zu leiten und zu begleiten, mit Kollegen, Kolleginnen sowie anderen Gesundheitsberufen zusammenzuarbeiten, Behandlung und Betreuung zu koordinieren und dabei die Einheit, die Integrität und die Autonomie des Individuums in seinem Kontext zu wahren, seine Bedürfnisse aufspürend und respektierend. Das ist eine Kunst, die extensives Wissen um das Fach Allgemein-
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medizin erfordert sowie die nötigen kommunikativen Fähigkeiten, praktischen Fertigkeiten, Techniken und Haltungen. Bruno Kissling und Peter Ryser leisten, besonders mit den reflektierenden Teilen des vorliegenden Buches, einen wesentlichen Beitrag dazu, diese Kunst zu erforschen, zu erklären und zu vermitteln. Wirkung und Anwendbarkeit des beschriebenen Instrumentariums gehen jedoch weit über den hausärztlichen Bereich hinaus. Die beiden Autoren haben im Lauf ihrer jahrzehntelang währenden Zusammenarbeit eine Methodik entwickelt, die ärztliche (Kissling) und kommunikative (Ryser) Fachkompetenz zu einem systemisch-lösungsorientierten Ansatz zusammenfügt. In jeder therapeutischen Begegnung wird diese Methode hilfreich sein, weil sie die Voraussetzung schafft für eine gelingende Kooperation zwischen Therapeut / Therapeutin und Patientin / Patient: nämlich das gemeinsame, aber professionell geleitete Abstimmen der jeweiligen medizinisch-technischen Möglichkeiten auf die persönlichen Gegebenheiten und Ziele des Patienten oder der Patientin. Dieses Buch bietet eine durchaus alltagstaugliche Vorgangsweise an, die so flexibel ist wie die Situationen, denen sich unterschiedliche Gesundheitsberufe gegenübersehen. Jede Berufsgruppe, jeder einzelne Akteur kann für sich nutzen, was ihn und seine Patienten unterstützt und den therapeutischen Prozess hin zum Gesundsein fördert, und sich daraus seinen eigenen, adaptierbaren »Baukasten« schaffen. Mir hat dieses Buch, nach über dreißig Jahren Berufstätigkeit, geholfen, meine Arbeitsweisen und Gewohnheiten einer Überprüfung zu unterziehen, an meiner Haltung zu feilen, die Begegnung mit dem Patienten, der Patientin wieder neu und etwas anders zu erleben, an meiner Technik zu arbeiten. Für Berufsanfänger / -innen unschätzbar, weil Irrwege, Ängste, Enttäuschungen und Frustrationen vermieden bzw. besser reflektiert werden können, für erfahrene Profis hilfreich, weil der altgewohnte Beruf erfrischend neu erlebt werden kann und ausgetretene Pfade korrigiert werden können. Ich wünsche diesem Buch herzlich viel Erfolg. Dr. med. Susanne Rabady Landärztin, Modulkoordinatorin für Allgemeinmedizin an der Karl Landsteiner Privat universität Krems, Vizepräsidentin der Österreichischen Gesellschaft für Allgemein- und Familienmedizin ÖGAM
Zu diesem Buch
Mein Weg als Hausarzt Liebe Leserin, lieber Leser, zuerst möchte ich Ihnen erzählen, weshalb ich Hausarzt werden wollte und wie ich es im Lauf meines Berufslebens allmählich wurde. Meine Geschichte ist geprägt durch einen rasanten Wandel von Medizin und Gesellschaft, durch eine Neudefinition des Selbstverständnisses der Hausarztmedizin sowie durch eine persönliche Krise. Mein Fazit: Ich werde Hausarzt, ein Leben lang. Mein Weg zur Hausarztmedizin Schon als Kind wollte ich Hausarzt werden. Ein Hausarzt wie Dr. Franz Bättig, der in den 1950er Jahren in unserem kleinen Dorf, direkt gegenüber meinem Elternhaus, eine Hausarztpraxis eröffnet hatte. Er war der einzige Arzt, den ich kannte. Ich empfand Ehrfurcht vor ihm. Wenn jemand von unserer Familie erkrankte, was selten war, kam er gleichentags auf Hausbesuch, meistens um die Mittagszeit, am Ende seiner Morgensprechstunde. Seine Ankunft erwartete ich als Kind mit Aufregung. Eine neue Seife und ein frisches Handtuch lagen bereit. Er trat freundlich grüßend in die Wohnung, wandte sich vor allem an den Kranken. Er fragte kurz, sprach nicht viel, untersuchte mich, kam rasch auf den Punkt. Seine Maßnahmen waren hilfreich. Sein Kommen und seine Stimme wirkten beruhigend und heilsam. Mit einem aufmunternden Wort verließ er die Wohnung. Zurück blieben ein wohliges Gefühl, Zuversicht auf baldige Genesung und der Geruch nach frischer Seife. Dieses pastorale Bild prägte meine Vorstellung von einem Hausarzt nachhaltig und entfachte meinen Wunsch, selbst Hausarzt zu werden. 1982 war es so weit. Nach 13 Jahren Aus- und Weiterbildung an der Universität Bern und in diversen Spezialabteilungen verschiedener Spitäler konnte ich meine eigene Hausarztpraxis in einem Quartier der Stadt Bern eröffnen. Das reiche fachspezifische Wissen, das ich erworben hatte, war mir hilfreich für
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klare Fragestellungen. Wie ich mit den Patienten und Patientinnen im ambulanten Umfeld mit ihren oft unklaren Krankheitsbildern und umfassenden Problemen die Abklärungen, Therapien und Verläufe organisieren und gestalten sollte, wusste ich nicht. Meine spezifischen Erfahrungen mit der Hausarztmedizin hatte ich als seltener Patient und als »Zuschauer« in einem mehrwöchigen Hausarztpraktikum gewonnen. Und – sozusagen autodidaktisch – bei unbetreuten Praxisvertretungen im letzten Jahr meines Medizinstudiums – ja, das gab es damals noch. Den Übergang von der vertrauten und behüteten Spitaltätigkeit in die selbstständig und eigenverantwortlich geführte Hausarzt-Einzelpraxis, wie sie damals die Regel war, erlebte ich als Schock – wie übrigens zu jener Zeit viele Kolleginnen und Kollegen. Das erfuhr ich Jahre später. Mit diesem Praxisschock ging jeder, Frauen waren noch die Ausnahme, auf seine eigene Weise um. Mir half es, mich streng nach den Vorgehensweisen zu orientieren, wie ich sie im Spital gelernt hatte und wie sie im Prozedere von Spitalaustrittsberichten und Spezialarztberichten »gefordert« wurden. Ich sah mich und meine Funktion als verlängerten Arm, als Außenposten der Spital- und Spezialmedizin, dem »Herzen« der Medizin. Das gab mir die nötige Sicherheit. Diese Haltung wurde zusätzlich bestärkt durch Fortbildungen, die damals ausschließlich von Spezialisten gegeben wurden, die uns Hausärzten aus ihrer spezialisierten Sicht sagten, was wir bei Krankheiten ihres Fachgebiets zu tun hätten. Doch meine Patienten und Patientinnen kamen nicht mit diesen klar definierten Krankheiten in meine Sprechstunde, sondern sehr oft mit sehr unbestimmten Krankheitsbildern, Die Zeit lehrte mich bald, dass meine hausärztliche Arbeit so nicht funktioniert. Zunehmend begann ich mit Blick auf die spezifischen Bedürfnisse der Patientinnen und Patienten eigenmächtig zu handeln. Lange Zeit mit einem unguten Gefühl der Abtrünnigkeit. Mein Abweichen von der »reinen Lehre« behielt ich für mich, vermied es, mir über die Schultern schauen zu lassen. Im gelegentlichen Austausch mit Kollegen prahlten wir vorwiegend über »Heldengeschichten«. Problematische Situationen behielt jeder für sich. Doch langsam bekam dieses Bild Risse. Meine Arbeit erfüllte ich von Anfang an mit einer mir »angeborenen« empathischen Haltung. Es war meine Stärke, den Menschen gut zuzuhören. Die dafür nötige Zeit habe ich ihnen gern gegeben. Sie fühlten sich verstanden und vertrauten sich mir mit ihren komplexen Problemen an. Die Verantwortung lud ich auf meine Schultern – bis die Last zu schwer wurde. Nach zehn Jahren Praxis kam ich einem Burnout nah. Ich musste nach Wegen der Entlastung suchen. Dies führte mich zu Kursen in systemisch-lösungsorientierter Medizin und ich kam in Kontakt mit Peter
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Ryser, der diese Kurse leitete. Durch diese Schulung fand ich zu den Denk- und Handlungsweisen, zu einer therapeutischen Haltung und Techniken, über die Sie in diesem Buch lesen können. Wie konnte es soweit kommen? Ich hatte ein medizinisch zeitgemäß gutes Wissen, ein starkes Empathievermögen, eine gute ärztliche Haltung und eine ausgezeichnete Beziehungsfähigkeit. Jedoch fehlten mir die Instrumente, mit denen ich die Symptome des Patienten1 in seiner konkreten Wirklichkeit, in seinem Lebenskontext, mit seinen Bedürfnissen sowie Fähigkeiten und Ressourcen mit dem nötigen medizinischen Handeln zusammenbringen konnte. Diese Synthese begann ich nun konkret zu lernen. Der Weg der Hausarztmedizin zu einem neuen Selbstverständnis – von der disease-orientierten2 zur personenbezogenen Medizin Meine persönliche Geschichte spielt sich – genau wie das Krankheitsgeschehen unserer Patienten – in einem gegebenen Kontext ab. Ich kam 1969, vor fünfzig Jahren, als Student in Berührung mit der Medizin. Seit Beginn des 20. Jahrhunderts wurde die Hausarztmedizin zunehmend aus ihrer jahrhundertealten, angestammten und unbestrittenen Selbstverständlichkeit geworfen. Im Rahmen einer exponentiellen Entwicklung von phantastischen medizinisch-technischen diagnostischen und therapeutischen Errungenschaften wurde sie förmlich an den Rand gedrängt. Ihre Existenzberechtigung wurde sogar in Frage gestellt. Die Hausarztmedizin musste ihren Stellenwert und Aufgabenbereich überdenken und ihr Selbstverständnis neu definieren. In einem langwierigen internationalen Prozess, der in der Schweiz in den 1970er Jahren begann, fand sie sich schließlich wieder, erstaunlicherweise im Zentrum der Medizin: als unentbehrliches Element an der Schnittstelle / Nahtstelle zwischen den immer zahlreicheren und verlockenderen medizinisch-technischen, mehrheitlich disease- orientierten Möglichkeiten und den wirklichen Bedürfnissen des Menschen, der in einer immer fraktionierteren Sicht einer hochspezialisierten Organmedizin beinahe verloren ging. Mit einem personenbezogenen Ansatz fokussiert die Hausarztmedizin ihre Aufgabe auf den Patienten als Person in allen seinen Lebensphasen. Sie zeigte auf, dass sie aufgrund ihrer Position an der Front jedes Krankheitsgeschehens und bei der Langzeitbetreuung der Patienten eine spezifische Aufgabe wahrnimmt, die nur sie erfüllen kann. Sie erkannte, dass sie In diesem Buch werden im Allgemeinen die weiblichen und männlichen Formen verwendet. Jedoch beschränken wir uns bei »Patient« und »Arzt« aus pragmatischen und Lesbarkeitsgründen häufig auf die männliche Form, die selbstverständlich die weibliche inkludiert. 2 Krankheitsorientiert.
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eine eigene wissenschaftliche Evidenz hat, die in vielen Bereichen von der spezialmedizinischen Evidenz abweicht; dass sie neben ihrer praktischen Tätigkeit einer eigenen Forschung und Lehre bedarf; dass sie somit eine akademische Position einnimmt und ihr ein eigener Lehrstuhl an der Universität zusteht (WONCA Europe, 2002/2011). Dieser Weg der hausärztlichen Emanzipation in den drei Bereichen Praxis, Lehre und Forschung führte in der Schweiz, später als in vielen anderen europäischen Ländern, in einem langwierigen berufs- und gesellschaftspolitischen Prozess (Tschudi u. Stricker, 2015) erst 2005 zum ersten Institut für Hausarztmedizin in Basel. Weitere Institute für Hausarztmedizin folgten danach rasch in allen weiteren Medizinischen Fakultäten der Schweiz. Ihre persönliche Geschichte ist bestimmt anders. Vielleicht haben Sie die beschriebenen Zeiten ganz oder teilweise persönlich miterlebt und können Parallelen erkennen. Vielleicht aber kennen Sie den Kontext meiner Geschichte nur aus dem Geschichtsbuch und erleben heute noch die Ausläufer dieser langwierigen und noch nicht abgeschlossenen Entwicklung von einer krankheitsorientierten zu einer personenbezogenen Sicht ärztlichen Handelns. Schön, dass Sie dieses Buch lesen und Ihr medizinisches und ärztliches oder sonstiges beratendes Handeln reflektieren wollen. Im Abschnitt »Inhalt und Handhabung« dieses Buches erfahren Sie mehr über das Verständnis des personenbezogenen ärztlichen Handelns, das wir Autoren in diesem Buch vorstellen wollen. Bruno Kissling
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Personenbezogene Medizin und Gesundheitspolitik Die Medizin und das Gesundheitswesen durchlaufen seit einiger Zeit eine kritische Phase. Diese zeigt sich im Spannungsfeld zwischen mehr und mehr hochtechnologischen medizinischen Möglichkeiten, die sich zunehmend im Grenznutzenbereich abspielen, und einer Kostenlast, die der Bevölkerung höchste Sorgen bereitet. Parallel zur technischen Entwicklung verkümmert die Kommunikation mit den Patientinnen und Patienten, die tarifarisch ungenügend honoriert wird. Alle Eingriffe zur Steuerung des Systems blieben bisher erfolglos. Ursprüngliches Ziel der Medizin war es, akute Krankheiten zu heilen und den Menschen zu helfen, gesund zu bleiben, damit sie ihre Lebensaufgaben auf ihr Ziel hin verwirklichen können. Mit technischen Innovationen hat die Medizin große Erfolge erreicht, die wir außerordentlich schätzen und nicht mehr missen möchten. Viele früher tödlich verlaufende akute Krankheiten können wir heute überleben. Die dahinter liegenden Ursachen sind jedoch nicht alle heilbar. Sie können lediglich unter Kontrolle gehalten werden und benötigen als chronische Krankheiten eine lebenslange kontinuierliche medizinische Betreuung. Dies führt zu einer wachsenden Zahl von Menschen, die gleichzeitig mehrere Krankheiten (Polymorbidität) haben. Parallel zu dieser neuen Herausforderung an die Medizin brachte das Internet allen Menschen einen freien Zugang zu Informationen auch im Bereich der Medizin – Informationen, die für Laien oft zu mehr Verunsicherung führen. Unter allen diesen Veränderungen haben sich unsere Ansprüche an die Medizin sowie unsere Bedürfnisse und Erwartungen an die ärztliche Tätigkeit maßgeblich gewandelt und gesteigert. Die Summe dieser medizinischen und gesellschaftlichen Veränderungen führt die medizinischen Aktivitäten zusätzlich auch mehr und mehr in den Grenznutzenbereich. Neben einem möglichen Nutzen wächst das Risiko für potenziellen Schaden aus unnötigen Abklärungen, Überdiagnosen, unnötigen Behandlungen – und beim Arzt die Angst, etwas zu verpassen. Eine Angst, die weitere Maßnahmen zur Beseitigung der immer verbleibenden Ungewissheit erforderlich macht und sich leider auch kommerziell bewirtschaften lässt. Damit schießt die Medizin an ihrem ursprünglichen Ziel vorbei und kann sich paradoxerweise zur Gefahr für den Menschen entwickeln. Die Kosten des Gesundheitswesens ufern aus und gelangen in den Bereich der Verschwendung von finanziellen und personellen Ressourcen. »The medical establishment has become a major threat to health« (Illich, 1975). Die Politik hat den gesellschaftlichen Auftrag, ein gesundheitserhaltendes Umfeld zu gestalten. Dabei konzentriert sie sich prioritär auf das Gesundheitswesen. Dieses will sie funktionsfähig, für alle zugänglich und bezahlbar erhal-
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ten. Mit Blick auf diese Ziele beschreitet sie im Wesentlichen zwei ökonomisch geprägte Wege. Auf der Bevölkerungsebene will sie die Versicherungsprämien senken. Auf der Ebene der Medizin will sie die Effizienz steigern und, bei gesicherter Qualität, die Kosten senken. Zu diesem Zweck fördert die Politik mit tarifarischen Eingriffen die medizinisch-technischen Leistungen und limitiert die Zeit, die der Patient mit dem Arzt verbringt. Die Beratungszeit betrachtet sie als wesentlichen kostentreibenden Faktor. Eine qualifizierte Beratung ist jedoch die Grundlage, damit Arzt und Patient die alles durchdringende Ungewissheit / Unsicherheit und Angst verorten und ein Risiko-angemessenes Vorgehen festlegen können. Mit einer Limitierung der Beratungszeit erschwert die Politik die Klärung dessen, was der Patient in seinem Kontext und seiner auf Angst und (Des-)Information beruhenden katastrophisierenden Wirklichkeitskonstruktion wirklich benötigt. Zeitdruck führt unweigerlich zu mehr medizinisch-technischen Maßnahmen, die für den Patienten / die Patientin und die Ärztin / den Arzt mehr Sicherheit suggerieren, und verursacht somit mehr Kosten. Ein Teufelskreis. Die Bedeutung der Arzt-Patient-Beziehung und ganz besonders die Wirkung des Gesprächs für eine angemessene gemeinsame Entscheidungsfindung zur Erfüllung der Bedürfnisse des Patienten oder der Patientin zeigt die Dokumentarfilm-Trilogie »Am Puls der Hausärzte« (2013) von Sylviane Gindrat (Ärztin, Sozialanthropologin, Filmemacherin). Diese Filme gestatteten erstmals einen tiefen Einblick in reale Konsultationen von Hausärztinnen und Hausärzten in verschiedenen städtischen, ländlichen und Berggebieten der Schweiz. Die Filme zeigen ungeschönt, was in der Sprechstunde bei der Arbeit zwischen Arzt und Patient geschieht und wirksam ist. Den Ausschlag zum Schreiben dieses Buches gaben daher vor allem folgende vier Faktoren: die aktuelle Krise der Medizin, die wirkungslosen tarifarischen Bemühungen, die zentrale Bedeutung einer qualifizierten Beratung durch den Hausarzt sowie der filmische Einblick in das kraftvolle Wesen der Konsultation. In diesem Buch engagieren wir uns für eine qualitativ hochstehende Medizin, die geprägt ist durch eine personenbezogene systemisch-lösungsorientierte Sichtweise, und zeigen einen möglichen Weg aus dem Dilemma von Medizin und Gesundheitswesen. Es stellt den Patienten, die Patientin als autonome Person mit seinen bzw. ihren Bedürfnissen und Ressourcen ins Zentrum des Geschehens. Es zeigt, wie der Arzt oder die Ärztin mit fachlichem Wissen und kommunikativer Kompetenz ein vertrauensbildendes und zielführendes Gespräch mit dem Patienten oder der Patientin auf Augenhöhe aufbauen kann. Wie sie mit methodisch strukturierter Gestaltung der Konsultation Ungewissheit / Unsicherheit und Angst gemeinsam bewältigen und effizient zu angemes-
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senen Lösungen gelangen. Wie sie medizinisch-technische und personenbezogene Qualität in Übereinstimmung bringen können. Es zeigt die Bedeutung der Rolle des Arztes als Koordinator und Erschließer von Dienstleistungen in Absprache mit dem Patienten / der Patientin. Alle diese Elemente entfalten eine positive Wirkung auf die Zufriedenheit und Gesundheit des Patienten und des Arztes sowie für die Optimierung der resultierenden Kosten. Die respektvolle und vertrauensvolle Beziehung, die auf diese Weise aufgebaut wird, gestattet Arzt / Ärztin und Patient / -in, die immer vorhandene Begrenztheit und Endlichkeit sowie die damit verbundenen Ängste offen anzusprechen, in die Entscheidungsprozesse mit einzubeziehen und einen maßvollen Weg zu beschreiten. Es ist hinlänglich bekannt, dass Ärzte und Ärztinnen heute auch in gesundheitlichen Extremsituationen das Gespräch mit dem Patienten, der Patientin über diese grundsätzlichen Themen kaum aufnehmen. Stattdessen flüchten sie sich in medizinisch-technischen Hyperaktivismus, der in der Regel nicht zu den erwarteten Resultaten führt, jedoch zu Folgemaßnahmen, mehr Unsicherheit und Angst, letztlich zu einer schlechten Qualität und zu exorbitanten Kosten. Alle diese Beobachtungen deuten darauf hin, dass die Klärung der Rolle und die Stärkung der kommunikativen Kompetenzen der Ärzte und Ärztinnen einen Weg aus der aktuellen kritischen Phase der Medizin darstellen könnte.
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Inhalt und Handhabung dieses Buches Was bietet dieses Buch? Reflexion und praktisches Arbeitsinstrument In unserem Buch werfen wir Autoren systematisch einen vertiefenden Blick auf alle medizinisch-technischen, psychosozialen und interpersonellen Anteile, die in jeder Konsultation unvermeidbar zum Ausdruck kommen. Wir beschreiben interaktive adaptive Prozesse auf unterschiedlichsten Ebenen. Diese sind immer und überall wirksam: in jedem Leben und in jedem Lebenskontext, so auch beim Gesund- und Kranksein, bei der Entwicklung eines Symptoms / Problems in seinem entsprechenden Kontext und dessen Lösung sowie bei der Begegnung von Arzt, Ärztin und Patient / -in in der Konsultation. Wir benennen und reflektieren, was in der Konsultation bei der Begegnung von Arzt und Patienten vor sich geht, wie und weshalb diese Interaktionen wirksam sind und warum sie die nötige Aufmerksamkeit verdienen. Sich dieser interaktiven Wirkmechanismen bewusst zu sein, sie zu kennen, zu lernen, zu üben und mit ihnen zu arbeiten befähigt den Arzt zu einem personenbezogenen, lösungsorientierten bio-psycho-sozialen Handeln von hoher Qualität und Effizienz3. Wir stellen die grundlegenden Mechanismen einer systemisch-lösungsorientierten Gestaltung der Konsultation vor. Sie enthalten ein Potenzial, das die Konsultation selbst zu einem therapeutischen Instrument machen kann. Den Ablauf einer so gestalteten Konsultation behandeln wir systematisch und ausführlich. Wir wollen reflektieren, wie der prozessverantwortliche Arzt diese unterschiedlichen Elemente in die einzelnen Konsultationsschritte – Anamnese, Untersuchung, Beurteilung und Therapie – wirkungsvoll einbeziehen kann. Mit der Beschreibung von Ziel und Vorgehensweise, mit Kommentaren sowie mit einer Auswahl von Fragen zu jedem Konsultationsschritt bieten wir ein praktisches, im Praxisalltag anwendbares Arbeitsinstrument an. Die Fragen sind so formuliert, dass der Arzt mit ihnen den Patienten in das Geschehen aktiv mit einbeziehen, bei ihm Reflexionen über sein Symptom / Problem anstoßen, Orientierung schaffen und ihm eine erweiterte Sicht (Reframing) auf seine Situation eröffnen kann. Die Fragen sind als Beispiele gedacht für eine situationsgerechte, lebendige, kreative Formulierung im realen Praxisalltag. Zu alledem stellen wir die Konsultation in einen erweiterten gesellschaftlichen und gesundheitspolitischen Kontext. 3 Effizienz verstehen wir als einen möglichst direkten, gemeinsam gestalteten, auf Ziel und Lösung fokussierten Prozess von hoher Qualität.
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Was ist personenbezogene Medizin? Nach unserem Verständnis geht es in der gesamten Medizin, nicht nur in der Hausarztmedizin, darum, den Patienten mit seinem Symptom / Problem, seiner Wirklichkeitskonstruktion als Person in ihrem Lebenskontext und mit ihren Fähigkeiten, Ressourcen und Bedürfnissen ins Zentrum jedes diagnostischen und therapeutischen Bemühens zu stellen. Diese Sicht betrifft auch alle nichtärztlichen beratenden Tätigkeiten in einem gesundheitlichen Kontext. Eine so verstandene personenbezogene Beratung erfordert eine tragfähige Beziehung und ein Vertrauensverhältnis zwischen Ärztin / Arzt und Patient / -in (siehe thematischer Schwerpunkt 1: Grundlagen systemisch-lösungsorientierter Beratung). Die Haltung des Arztes, der Ärztin ist geprägt von Wertschätzung, Empathie und Authentizität. Diese Essenzen sind die zentralen Elemente therapeutischer Wirksamkeit. Die Konsultation als Begegnung von Arzt und Patient mit eigenem therapeutischen Potenzial Die Konsultation steht im Zentrum des Geschehens. Sie ist der Ort, an dem sich Arzt und Patient begegnen. In ihr gestalten und pflegen sie ihre Beziehung. Hier transformieren sie das Symptom / Problem des Patienten zu einer gemeinsamen Wirklichkeit und entwickeln zusammen eine »Beurteilung« oder Diagnose. In der Konsultation besprechen sie die medizinisch-technischen und / oder psychosozialen therapeutischen Möglichkeiten und stimmen diese auf die persönlichen Bedürfnisse des Patienten ab. Hier vereinbaren sie gemeinsam getragene und zielführende Abmachungen in Richtung einer antizipierten Lösung. Eine methodisch sorgfältig gestaltete Struktur der Konsultation gibt der Ärztin / dem Arzt und dem Patienten / der Patientin Orientierung. Sie schärft ihre Aufmerksamkeit für die Hintergründe des Symptoms / Problems und seine verschiedenen Interaktionen im Lebenskontext. Sie hilft ihnen bei der Beurteilung der Gesamtsituation. Und sie erlaubt, komplexe Zusammenhänge und Ressourcen in den Abklärungs- und Therapieprozess mit einzubeziehen. Im Rahmen einer gut geführten Konsultation können Arzt und Patient in einer gegebenen Situation die bestmögliche Qualität erreichen. Mit aktivem Zuhören (siehe thematischer Schwerpunkt 4: Aktives Zuhören), Zusammenfassen des Gehörten, Nachfragen zum Verständnis des Gesagten auf sachlicher und emotionaler Ebenen sowie mit wirksam formulierten Fragen kann der Arzt für sich und beim Patienten Orientierung schaffen. Er kann bei
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ihm Reflexionen über sein Symptom / Problem und dessen Bedeutung anstoßen, den Blick auf seine Ressourcen und Erwartungen werfen und ihn eine erweiterte Sicht auf seine Situation entwickeln lassen (Reframing). Dadurch wird die Konsultation selbst, dessen sind sich Arzt und Patient wenig bewusst, zu einem Instrument mit eigenem therapeutischem Potenzial. Die Konsultation als komplex-adaptives interaktives Expertentreffen … Wir Autoren verstehen die Konsultation als komplex-adaptiven interaktiven Prozess zwischen Patient und Arzt. Ihre Begegnung entspricht einem Expertentreffen auf Augenhöhe. Mit einem systemisch-lösungsorientierten Vorgehen suchen sie gemeinsam zielorientiert nach situationsgerechten und angemessenen Lösungen in einem Feld von Ungewissheit / Unsicherheit. Diese Kurzfassung möchten wir erläutern. Der Patient mit seinem Kompetenzfeld ist Experte für sein Symptom / Problem, dessen Entstehung wir als vorläufiges dynamisches Ergebnis eines komplex-adaptiven interaktiven Prozess verstehen. Der Patient weiß, wie er das Symptom / Problem wahrnimmt, auf welchem Hintergrund es sich entwickelt hat, wie es sich auf ihn und auf sein Umfeld auswirkt, welche Rückwirkungen und Folgen wiederum daraus resultieren, welche Bedeutung er dem Symptom / Problem und seinen Auswirkungen gibt. Er kennt seinen Lebenskontext, seine Stressoren und Ressourcen, seine Bedenken und Erwartungen, seine Einstellung und Werte und wie diese mit dem Symptom / Problem interagieren. Er kennt das innere Bild, das er sich von seinem Symptom / Problem macht, und die Wirklichkeit, die er sich aus seiner Situation schafft. In ihm ruhen auch die Lösungsmöglichkeiten für das Symptom / Problem. Dies alles ist im Patienten vorhanden, auch wenn er sich dessen nicht bewusst ist. Kurz, der Patient ist Experte für sein Kranksein, sein Krankheitserleben (illness). Der Arzt mit seinem Kompetenzfeld ist Experte dafür, was die medizinische Wissenschaft aus den biologischen Krankheitsanteilen des Symptoms / Pro blems des Patienten machen kann. Er weiß um die Bedeutung von biologischen, psychischen und sozialen Faktoren des Symptoms / Problems sowie um die unvermeidbaren Interaktionen unter diesen Elementen. Er kennt die Evidenz und Signifikanz der wissenschaftlichen, statistischen Wirkbereiche von medizinisch-technischen Handlungsmöglichkeiten. Er transferiert das subjektive innere Bild des Patienten in ein »objektives« medizinisches Bild und schafft eine medizinische Wirklichkeit. Kurz, der Arzt ist Experte für die Krankheit (disease).
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Zu diesem Buch
… für ein systemisch-lösungsorientiertes bio-psycho-soziales Handeln … Unter der Prozessverantwortlichkeit des Arztes nähern sich Arzt und Patient dem Symptom / Problem mittels methodisch strukturierter, systemisch-lösungsorientierter Kommunikation und erarbeiten so eine gemeinsam abgestimmte Wirklichkeit. Diese schafft Orientierung und ist Ausgangspunkt für einen gemeinsamen, auf die Bedürfnisse und Möglichkeiten des Patienten zugeschnittenen, für beide Seiten verbindlichen, zielführenden (effizienten) therapeutischen Prozess von hoher Qualität in Richtung einer Lösung. … mit einem personenbezogenen optimalen Resultat So verstanden wird die Konsultation zum Grundwerkzeug eines therapeutischen Geschehens, das mit seiner umfassenden bio-psycho-sozialen Sicht den Patienten als Menschen in seinem ganzen Sein einbezieht. So kann die Begegnung von Arzt und Patient in der Konsultation einen maßgeschneiderten, zielführenden, umfassenden und effizienten Heilungsprozess von hoher Qualität anstoßen. Der Patient erfährt Heilung, zumindest eine Verbesserung seines Symptoms / Problems, oder er findet einen Weg, wie er seine Situation verstehen und mit ihr neu umgehen kann (Reframing). Zudem erfährt er die Kraft seiner Selbstwirksamkeit. Der Arzt spürt Befriedigung und Freude an seiner Arbeit. Dies trägt bedeutend zu seinem eigenen Wohlbefinden bei. Wir beschreiben die Konsultation in 7 Schritten Aus didaktischen Gründen zerlegen wir die Konsultation in 7 konsekutive Schritte. In der realen Sprechstunde gestaltet der Arzt diesen Ablauf kreativ und lebendig. Er passt ihn situationsgerecht und harmonisch den persönlichen Bedürfnissen des Patienten, dem Konsultationsanlass, dem medizinischen Bedarf und dem Gesprächsfluss an. Lediglich Beginn und Ende der Konsultation dürften in der Regel immer ähnlich sein. Gerade bei herausfordernden, schwierigen und komplexen Konsultationsanlässen kann der Arzt anhand dieses Rasters die Konsultation Schritt für Schritt strukturieren. Bereits mit dieser strukturierenden Gestaltung kann er beim Patienten und bei sich selbst Orientierung schaffen. Mit geeigneten Fragestellungen kann er diese noch vertiefen, den Patienten in den diagnostischen und therapeutischen Prozess mit einbeziehen und gemeinsam mit ihm einen lösungsorientierten Weg finden und beschreiten.
Inhalt und Handhabung dieses Buches
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Wir Autoren sind uns bewusst, dass der Alltag des Hausarztes, der Hausärztin geprägt ist durch eine Vielzahl von überschaubaren Fragestellungen, die mit wenig Zeitaufwand geklärt werden können. Auch diese »normalen«, relativ kurzen Konsultationen wegen »banaler« Erkrankungen, bei konkretem und genau formulierbarem Konsultationsanlass – bei einem bekannten oder nicht bekannten Patienten – sowie Konsultationen unter Zeitdruck kann der Arzt effizienter gestalten, wenn er diese wirksamen Grundmechanismen und ihre Wirkung kennt, begriffen hat und bewusst in seine Arbeit mit einbezieht. Dabei überprüft er bei seiner Vorbereitung alle Konsultationsschritte. Er entscheidet, wo er einsteigen, wie er vorgehen, was er voraussetzen und wo er gegebenenfalls seinen Schwerpunkt setzen möchte. Danach modifiziert er den Konsultationsablauf entsprechend der jeweiligen Situation. In beiden Situationen fühlt sich die Patientin, der Patient wahrgenommen und verstanden. Arzt und Patient können zielgerichtet zusammenarbeiten. Der Heilungsprozess des Patienten wird qualitativ optimal unterstützt. Die verfügbare, oft knappe Zeit kann effizient genutzt werden. Arzt und Patient sind zufrieden. Die Freude des Arztes an seinem Beruf und seine Gesundheit bleiben erhalten. Die »kluge Sorge für sich selbst« ist wiederum eine wichtige Voraussetzung dafür, dem Patienten ein guter Arzt zu sein. Jeden der 7 Konsultationsschritte behandeln wir in einem praktischen und einem theoretischen Teil. Im praktischen Teil praktisches Vorgehen werden die Zielsetzung und Vorgehensweise des jeweiligen Konsultationsschrittes kurz dargestellt und mit einem ausführlichen Set an wirkungsvoll formulierten Fragebeispielen ergänzt. Mit diesen regt der Arzt beim Patienten Reflexionen zu seinem Symptom / Problem an. Er eröffnet ihm die Möglichkeit von erweiterten Sichtweisen (Reframing) und öffnet so einen zielorientierten Weg in Richtung einer Lösung. Er bezieht den Patienten aktiv in das gesamte Geschehen mit ein. Unsere Fragen sind als anregende Beispiele gedacht. Die Listen sind teils lang und nicht abschließend. Der Arzt geht selbstverständlich nicht die ganze Litanei durch. Er stellt seine Fragen in jeder Konsultation situationsgerecht und passt seine Sprache personengerecht dem Patienten an. Seine eigenen Fragen können durchaus besser und geeigneter sein als unsere Beispiele. Im theoretischen Teil erweiterte inhaltliche Beschreibung des Ablaufs / Prozesses reflektieren wir die tieferen Zusammenhänge in den einzelnen Konsultationsschritten, ihre unterschiedliche Bedeutungen und Wirkungen auf den Patienten mit seinem Lebenskontext und auf den Arzt. Hier zeigt sich zudem deutlich die feedbackartige Wechselwirkung unter den einzelnen Konsultationsschritten.
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Zu diesem Buch
Thematische Schwerpunkte In diesen Kapiteln vertiefen wir unterschiedliche Schwerpunktthemen, die alle Schritte der Konsultation gleichermaßen betreffen und durchflechten. Dabei erörtern wir die wissenschaftlichen Grundlagen zu unserer Sicht auf die Konsultation. Wir befassen uns mit kommunikativem Werkzeug. Wir reflektieren grundsätzliche Anforderungen an uns therapeutisch und beratend tätige Personen. Bewusst werden, verstehen lernen, anwenden, reflektieren Mit unserem Buch wollen wir bei den Lesenden das Bewusstsein um die immanent wirkenden interaktiven Mechanismen wecken. Wir wollen sie dazu animieren, Fragen auszuprobieren, diese so zu formulieren, dass sie beim Patienten, bei der Patientin Reflexionen anstoßen. Und wir möchten die Lesenden die Wirkung dieses Vorgehens erfahren lassen. Diese kommunikativen Fertigkeiten sind nicht selbstverständlich. Sie sind jedoch erlernbar. Wen es packt, kann sich weiter in die Materie vertiefen. Die Literaturliste in diesem Buch zeigt, wo das Gelesene theoretisch vertieft werden kann. Gewinnbringender dürfte es sein, einen speziellen Lehrgang zu besuchen, in dem ein interaktives und überprüftes praktisches Lernen möglich ist. Für eine virtuose lebendige Gestaltung der Konsultation braucht es neben dem Erwerb von kommunikativem Basiswissen auch ein fortdauerndes Training. Es muss im Alltag bewusst geübt und, idealerweise, immer wieder im Kollegenkreis besprochen werden. Dazu geeignet sind Supervisionen in Gruppen und gegenseitiger Austausch in Intervisionen unter Kolleginnen und Kollegen. Wie wissenschaftlich ist der Inhalt dieses Buches? Was wir schreiben, basiert auf dem Konzept der systemisch-lösungsorientierten Psychologie (siehe thematischer Schwerpunkt 1: Grundlagen systemisch-lösungsorientierter Beratung). Zudem integrieren wir Erkenntnisse aus der komplex-adaptiven Systemtheorie (siehe thematischer Schwerpunkt 2: Einführung in die komplex-adaptive Systemtheorie). Beide Konzepte sind wissenschaftlich unterlegt. Die Übertragung dieser Konzepte in die ärztliche Sprechstunde, die von Peter Ryser vor gut 25 Jahren pionierhaft vorgenommen wurde, ist nicht wissenschaftlich erforscht. Unsere systemisch-lösungsorientierte Sicht auf die Konsultation stützen wir vor allem auf geschaffenes Wissen: aus der Lektüre von zahlreichen Büchern
Inhalt und Handhabung dieses Buches
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und Artikeln in nationalen und internationalen Journals; aus dem Austausch mit vielen praktisch tätigen, lehrenden und forschenden Kolleginnen und Kollegen an nationalen und internationalen Hausärzte-Kongressen; aus Erfahrungs berichten von Hausärztinnen und Hausärzten, die sich berufsbegleitend in interaktiv strukturierten Kursen in das systemisch-lösungsorientierte Denken eingearbeitet haben und das erworbene Wissen seit Jahren in ihren Konsultationen einsetzen und als wirkungsvoll erleben. Unsere Betrachtung, dass eine systemisch-lösungsorientiert gestaltete Konsultation per se ein wirkungsvolles therapeutisches Instrument ist, wurde bisher nicht wissenschaftlich erforscht. Sie ist empirisch bestätigt durch Feedbacks von so arbeitenden Ärztinnen und Ärzten sowie von Patienten und Patientinnen. Und sie wurde in jahrelangem Austausch bei Intervisionen und Super visionstreffen immer wieder überprüft und bestätigt. Für wen ist das Buch geschrieben? Das Buch ist aus einer hausärztlichen Perspektive geschrieben, jedoch nicht nur für Hausärztinnen und Hausärzte. Die hier herausgearbeiteten Elemente sind für alle Ärzte und Ärztinnen jeder Fachrichtung bedeutsam sowie für alle nichtärztlichen Gesundheitsfachpersonen – Pflegende, Psychologinnen, Sozialarbeitende, Physiotherapeutinnen etc. –, die eine beratenden Tätigkeit mit Patienten oder Klienten in einem medizinischen Kontext ausüben. Das Buch ist eher für eine fertig ausgebildete oder vor dem Abschluss der Ausbildung stehende Leserschaft gedacht. Wir setzen bei unseren Betrachtungen ein gutes und zeitgemäßes theoretisches und praktisches Fachwissen der beratenden Person in ihrem jeweiligen Berufsbereich voraus. Entsprechend befassen wir uns lediglich mit der Gestaltung der Konsultation und nicht mit den spezifischen fachlichen Gegebenheiten. Wir werfen sozusagen einen Blick aus der Metaebene auf die Konsultation.
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Zu diesem Buch
Wie kann das Buch angewendet werden? Es lässt sich individuell als Lehrbuch lesen. Es kann vom Arzt / der Ärztin, vom Berater / von der Beraterin als Nachschlagewerk bei gezielten Fragestellungen oder als praktisches Instrument vor, während und nach der Konsultation eingesetzt werden. Es kann als Lehrmittel im Rahmen von moderierten Workshops im Bereich von Aus-, Weiter- und Fortbildungsveranstaltungen verwendet werden. Medizinstudierende können sich ein Bild über die Arbeit mit dem Patienten machen. Jungen Ärzten und Ärztinnen in Weiterbildung kann es ein Orientierungsfaden sein. Erfahrene Praxisärzte können ihr tägliches Handeln reflektieren. Nicht zuletzt können sich auch Patientinnen und Patienten ein Bild über eine gute und wirksame Konsultation machen. Kostenloses Herunterladen der Fragenkataloge und der Anamnesenskizze Alle im Buch zu jedem Konsultationsschritt gedruckten Fragenkataloge sowie die Skizze über die Anamnese aus systemisch-lösungsorientierter Sicht können mit dem Kauf des Buches für den persönlichen Gebrauch kostenlos im Internet heruntergeladen werden. Ausgedruckt können die Fragenbeispiele den Arzt beim Gespräch mit dem Patienten, insbesondere in komplexen Situationen, unterstützen. Kostenloses Streaming der Dokumentarfilm-Trilogie »Am Puls der Hausärzte« Der Kauf des Buches berechtigt zudem zu einem kostenlosen Streaming der Dokumentarfilm-Trilogie »Am Puls der Hausärzte« (2013) von der Ärztin, Sozialanthropologin und Filmemacherin Sylviane Gindrat für den Eigenbedarf (Links und Kennwörter für das Streaming finden Sie am Ende des Buches; Infos auf www.ampulsderhausaerzte.ch). Für eine öffentliche Nutzung oder für den regelmäßigen Einsatz im Bereich der Lehre gelten die üblichen urheberrechtlichen Bedingungen, die mit der Filmproduktion Ghornuti Filmproductions GmbH (E-Mail: [email protected]) direkt geklärt werden können. Der Kinofilm eröffnet einen hautnahen Einblick in reale, personenorientiert geführte Konsultationen von zwei Hausärztinnen und vier Hausärzten in der Stadt, auf dem Land und in den Bergen der Schweiz. Bruno Kissling und Peter Ryser
Die Konsultation in 7 Schritten
•• Auf den Patienten einstellen –– Selbstklärung –– Rollenklärung –– Rahmenklärung4 •• Krankengeschichte anschauen •• Abmachungen vergegenwärtigen •• Wie einsteigen?
4 Schulz von Thun (2001).
Schritt 1
SCHRITT 1: Vorbereiten
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Schritt 1: Vorbereiten
Praktisches Vorgehen •• Auf den Patienten einstellen –– Selbstklärung –– Rollenklärung –– Rahmenklärung5 •• Krankengeschichte anschauen •• Abmachungen vergegenwärtigen •• Wie einsteigen?
Was angestrebt wird Sich auf den kommenden Menschen, den Patienten einstellen und die bisherige Zusammenarbeit auf der Ebene der persönlichen Betroffenheit, des fachlichen, medizinischen Geschehens und des Therapie- und Interaktionsprozesses vergegenwärtigen. Wie Sie vorgehen können ▶▶ Überdenken Sie, wie es Ihnen in der letzten Konsultation ergangen ist und
wie Sie die Beziehung zwischen Ihnen und dem Patienten erlebt haben und auf was sie in der kommenden Konsultation Ihr Interesse richten wollen. ▶▶ Überprüfen Sie Ihre Einträge in der Krankengeschichte und beachten Sie besonders die vereinbarten Abmachungen und Aufgaben. ▶▶ Klären Sie die Rahmenbedingungen der heutigen Begegnung und die zur Verfügung stehende Zeit und wie Sie in die Konsultation einsteigen wollen. Fragenbeispiele, die die Reflexion anregen Auf den Patienten einstellen Selbstklärung (Fragen an mich als Person)
•• Wie ist es mir während der letzten Konsultation persönlich ergangen? •• Wo stehen wir, Arzt und Patient, fachlich und gefühlsmäßig miteinander? •• Wie nehme ich die Beziehung zwischen uns wahr und wie sieht sie wohl der Patient? •• Was möchte ich erreichen und was könnte der Patient erreichen wollen? 5 Schulz von Thun (2001).
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•• Wie geht es mir mit den Themen und Erwartungen des Patienten und wie geht es wohl ihm damit? •• Habe ich die Geschichte der vorangegangenen Konsultation »psychohygienisch abgelegt«? •• Fühle ich genügend Energie für den jetzt kommenden Patienten? Rollenklärung (Fragen zu meiner Rolle und zur Rolle des Patienten)
•• Wie habe ich den Patienten erlebt? Als Besuchenden, Klagenden oder Kunden (vgl. de Shazer in: Thematischer Schwerpunkt 7: Ressourcen)? •• In welcher Rolle, welchen Rollen bin ich, in welchen der Patient? •• Stimmt mein Behandlungsstil mit den Vorstellungen des Patienten überein? Rahmenklärung (Fragen zum Konsultationsrahmen)
•• •• •• ••
Welches ist der heute mögliche zeitliche Rahmen? Bin ich zeitlich gut unterwegs oder im Verzug? Ist der Raum vorbereitet? Sind im Konsultationsraum allfällige Spuren der vorangegangenen Konsultation entfernt? •• Habe ich möglicherweise angsteinflößende Gegenstände entfernt? Krankengeschichte anschauen (Fragen zum fachlichen Geschehen)
•• Welche Beschwerden, Probleme, Klagen, Zielsetzungen, Lösungsansätze und Ressourcen haben wir in der letzten Konsultation besprochen? •• Ist noch etwas aus der letzten Konsultation hängen geblieben? •• Was ist in der Zwischenzeit passiert? •• Haben die geplanten Untersuchungen stattgefunden und liegen die Resultate vor? •• Falls nicht, sollten diese vor der Konsultation noch erfragt werden? Abmachungen vergegenwärtigen
•• •• •• ••
Welche Aufgaben habe ich mit dem Patienten vereinbart? Habe ich meine Aufgaben erledigt? Welches ist meine ärztliche Agenda für die heutige Konsultation? Was soll in der heutigen Konsultation aus meiner Sicht erreicht werden?
Wie einsteigen?
•• Mit welchen Worten eröffne ich die Konsultation?
Schritt 1
Praktisches Vorgehen
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Schritt 1: Vorbereiten
Erweiterte inhaltliche Beschreibung des Ablaufs / Prozesses •• Auf den Patienten einstellen –– Selbstklärung –– Rollenklärung –– Rahmenklärung6 •• Krankengeschichte anschauen •• Abmachungen vergegenwärtigen •• Wie einsteigen?
Mit einer guten Vorbereitung kann sich der Arzt von Beginn der Konsultation an voll auf den Patienten konzentrieren. Das ist eine wichtige Voraussetzung für eine zielorientierte Konsultation und ein gutes Zeitmanagement. Für den Patienten ist es ein Zeichen, dass er mit seinem Anliegen vom Arzt ernst genommen wird. Dies stärkt die Arzt-Patient-Beziehung und das Vertrauen. Der Patient wird ermutigt, sich am Heilungsprozess zu beteiligen und den Behandlungsprozess weiterzuführen. Der Arzt kann dem Patienten, umgekehrt, kaum verheimlichen, wenn er nicht vorbereitet ist. In diesem Fall sollte er dies offenlegen und begründen. Der Patient wird dafür Verständnis aufbringen. Den Anschluss an die Vorkonsultation können Sie dann gemeinsam erstellen. Auf den Patienten einstellen Selbstklärung
Der Arzt stellt sich mental auf die Person des Patienten ein. Er reflektiert seine persönlichen Gedanken und Gefühle zu ihm, unabhängig davon, ob er ihm von früheren Konsultationen bereits bekannt ist oder ob es sich um einen Erstkontakt handelt. Er ruft seine Gedanken zum Thema während der vorangegangenen Konsultation(en) in Erinnerung. Er macht sich bewusst, ob oder in welcher Weise die Geschichte des Patienten seine eigene Welt berührt. Er überprüft seine eigene Motivation, achtet auf eine positive Grundhaltung und weckt seine Neugier auf den Patienten. Nicht zuletzt schätzt er seine eigene Energie für die heutige Konsultation ein.
6 Schulz von Thun (2001).
Erweiterte inhaltliche Beschreibung des Ablaufs / Prozesses
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Der Arzt stellt sich immer wieder darauf ein, dass die Konsultation ein Expertentreffen ist zwischen ihm und dem Patienten. Als Arzt hat er zwei Rollen: Zum einen ist er medizinischer Fachexperte und zum anderen Verantwortlicher für den Behandlungsprozess. Der Patienten ist Experte für seine Probleme und deren Lösungsmöglichkeiten. Er vergegenwärtigt sich, wie er den Patienten erlebt hat, als Besuchenden, Klagenden oder Kunden (vgl. de Shazer in: Thematischer Schwerpunkt 7: Ressourcen), und wie er in der heutigen Konsultation damit umgehen will. Er reflektiert, ob problematische Machtverhältnisse zwischen Arzt und Patient bestehen. Er überlegt, ob der gewählte Behandlungsstil geklärt werden muss. Rahmenklärung
Der Arzt achtet auf den zur Verfügung stehenden Zeitrahmen. Er sorgt für einen freundlichen Empfang und eine generell gute menschliche und gestalterische Atmosphäre in den Praxisräumlichkeiten. Den Konsultationsraum gestaltet er funktionell ansprechend mit angenehmem Licht, guter Luft und einer einladenden Sitzordnung. Die Praxisorganisation soll eine vernünftige Wartezeit und eine möglichst störungsfreie Konsultation gewährleisten. Krankengeschichte anschauen
Mit der sorgfältigen Durchsicht der letzten Einträge in der Krankengeschichte vergegenwärtigt sich der Arzt den Patienten als Person, sein Anliegen, die bereits gemachten Untersuchungen und deren Resultate, die Arbeits(hypo)these, die Abmachungen und Pendenzen (offene, noch ungeklärte Themen). Abmachungen vergegenwärtigen
Die ärztliche Behandlung ist in vielen Fällen ein über mehrere Konsultationen dauernder Prozess. Die anlässlich der Vorkonsultation gemeinsam getroffenen Abmachungen sind das Bindeglied für die Kohärenz des Behandlungsprozesses und ein Zeichen der gegenseitigen Verbindlichkeit. Falls der Arzt oder der Patient die Abmachungen nicht eingehalten haben, sollten die Beweggründe dafür erforscht werden. Sie enthalten Informationen über allfällig unterschiedliche Einschätzungen der Krankheitssituation, geben Hinweise auf kontextuelle Einflüsse auf Seiten des Patienten sowie über Beziehung und Vertrauen zwischen Arzt und Patient.
Schritt 1
Rollenklärung
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Schritt 1: Vorbereiten
Wie einsteigen?
Während der Vorbereitung macht sich der Arzt Gedanken, wie er in die Begegnung mit dem Patienten einsteigen will: mit welchen Worten; worauf er in der bevorstehenden Konsultation sein Augenmerk besonders legen will; wie er dabei vorgehen will. Sein Plan wird der Situation angepasst unterschiedlich sein, je nachdem ob es sich um eine Erstkonsultation eines bisher nicht oder von früheren Konsultationen bekannten Patienten handelt oder um eine Folgekonsultation. Bei einer Erstkonsultation wird er mit einer ganz offenen Frage einsteigen. Bei einer Folgekonsultation kann der Arzt den Patienten zum Beispiel fragen, was zwischenzeitlich geschehen ist, wie es ihm ergangen ist und zurzeit geht. Der Arzt kann die letzte Konsultation und deren Resultate sowie alles, was seither für den Patienten geschah, zusammenfassen. Er kann dem Patienten Gelegenheit geben, diese Zusammenfassung zu bestätigen und zu ergänzen. Falls der Patient wegen eines anderen, zwischenzeitlich aufgetretenen Symptoms / Problems in die Sprechstunde kommt, wird er dies gleich zu Beginn erfahren. So können Arzt und Patient auf demselben Ausgangspunkt starten. Der Arzt sollte nicht vergessen, den Patienten zu fragen, ob von der letzten Konsultation noch etwas hängen geblieben ist, ob er noch etwas nachtragen möchte und ob inzwischen etwas Neues dazugekommen sei. Auf diese Weise können die Agenden von Arzt und Patient abgeglichen werden und die Konsultation kann für beide klar und transparent gestaltet werden.
SCHRITT 2: Ziel- und lösungsorientierte Zusammenarbeit aufbauen
2.2 Setting offenlegen •• Konsultationsablauf erklären •• Rahmen klären •• Spielregeln der Zusammenarbeit klären 2.3 Konsultationsgrund erfragen – Auslegeordnung verschiedener Konsultationsgründe •• Zustandekommen der heutigen Konsultation erfragen •• Konsultationskontext erfragen •• Nach weiteren Anliegen fragen 2.4 Prioritäten setzen •• Was ist für den Patienten wichtig und dringend? •• Was ist aus Sicht des Arztes medizinisch-technisch und / oder für den Therapieprozess dringend? 2.5 Ziel und Auftrag der Konsultation klären •• Welches Ziel soll konkret erreicht werden? •• Welche Erwartungen, Lösungsvorstellungen und Ressourcen gibt es? •• Welcher Auftrag resultiert für den Arzt?
Schritt 2
2.1 Beziehung aufbauen •• Sich vorstellen •• Achtsamkeit zur Person •• Neugier / Interesse
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Schritt 2: Ziel- und lösungsorientierte Zusammenarbeit aufbauen
Praktisches Vorgehen 2.1 Beziehung aufbauen •• Sich vorstellen •• Achtsamkeit zur Person •• Neugier / Interesse
Was angestrebt wird Einen konstruktiven Anfang in die Zusammenarbeit finden, der geprägt ist von Zuwendung, Empathie und Interesse und geeignet ist, eine offene Gesprächsatmosphäre zu schaffen. Wie Sie vorgehen können ▶▶ Ihre Grundhaltung als Arzt ist geprägt von Akzeptanz, Empathie und
Authentizität (siehe thematischer Schwerpunkt 1: Grundlagen systemisch-lösungsorientierter Beratung). Interessieren Sie sich zu Beginn des Treffens für sogenannte »Nebensächlichkeiten« wie beispielsweise die Anreise. ▶▶ Stellen Sie sich angemessen vor und interessieren Sie sich um Namen und Person des Patienten. ▶▶ Begegnen Sie dem Patienten mit Wertschätzung, indem Sie ausdrücken, was Ihnen im Moment positiv auffällt. ▶▶ Streben Sie eine wohlwollende, hilfreiche Begegnung an, in der sich eine konstruktive Therapiebeziehung aufbauen kann. Einstiegsbeispiele Für eine Erstkonsultation mit einem neuen Patienten
•• •• •• •• ••
Mein Name ist … Ich bin seit vielen Jahren Hausarzt. Wir begegnen einander zum ersten Mal. Ich freue mich, Sie kennenzulernen. Wie haben Sie hierher gefunden? Wie sind Sie angereist? Sie haben einen interessanten Namen. Können Sie mir sagen, woher er stammt. •• Welche Sprache sprechen Sie? •• Leben Sie schon lange in unserem Land? •• Aus welchem Land stammen Sie ursprünglich?
Praktisches Vorgehen
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•• In welcher Sprache möchten Sie mit mir sprechen? •• Welche berufliche Tätigkeit üben Sie aus? •• Wie sind Sie auf diese Praxis gestoßen? •• •• •• •• •• •• ••
Ich freue mich, Sie wiederzusehen. Sie wirken auf mich ruhig, irgendwie leichter, als bei der letzten Konsultation. Wie geht es Ihnen? Mussten Sie lange im Wartezimmer warten? Sitzen Sie bequem? Können Sie mich verstehen? Spreche ich laut genug?
Schritt 2
Für Folgekonsultationen
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Schritt 2: Ziel- und lösungsorientierte Zusammenarbeit aufbauen
Erweiterte inhaltliche Beschreibung des Ablaufs / Prozesses 2.1 Beziehung aufbauen •• Sich vorstellen •• Achtsamkeit zur Person •• Neugier / Interesse
Immer wenn sich Menschen begegnen, auch wenn es zufällig auf der Straße ist, treten sie miteinander in Beziehung. Unabhängig davon, ob sie sich schon kennen oder nicht, loten sie gegenseitig die aktuelle Beziehungsbereitschaft aus. Mit der Art ihres Grußes oder zusätzlichen Fragen zum Wohlergehen zeigen sie ihr Interesse an der ihnen begegnenden Person. In der Regel tauschen sie zuerst einige Worte über etwas gemeinsam Erlebbares, beispielsweise über das Wetter, aus. Anhand solcher meistens trivialer verbaler Zeichen sowie zusätzlicher nonverbaler Verhaltensweisen – Blickkontakt, Körperhaltung, Nähe / Distanz etc. – erkennen sie, ob das Gegenüber gerade Zeit und Lust für einen Austausch hat. Die Vorgehensweisen variieren entsprechend individuellen Persönlichkeitsmerkmalen, kulturellen Gegebenheiten und dem Grad der Beziehung. Unbekannten Personen begegnet man anders als Bekannten, Kolleginnen und Kollegen, Freunden und Bekannten anders als einem Vorgesetzten etc. Die Begegnung zwischen Arzt und Patient in der Konsultation ist eine ganz spezifische Situation. Der Arzt ist sich bewusst, dass er in eine berufliche Rolle schlüpft. Der Patient hat ein persönliches gesundheitliches Anliegen und trifft den Arzt wegen dessen beruflicher Funktion als Mediziner. Dieser medizinisch-technischen Qualifikation kann der Patient weitgehend trauen, da diese durch staatliche Zertifikate und Kontrollen gewissermaßen verbürgt wird. Damit der Patient sich dem Arzt wirklich voll anvertrauen kann, ist über diese fachbezogenen Gegebenheiten hinaus auch eine tragfähige persönliche Beziehung erforderlich. Deswegen gilt dem Beziehungsaufbau, dem »Warmlaufen« zu Beginn jeder Konsultation ein ganz besonderes Augenmerk. Dies ist für den Arzt und Patienten gleichermaßen wichtig. Es betont die menschliche Seite der Begegnung und baut somit ein Vertrauensfundament auf in einer aus medizinisch-fachlicher Sicht asymmetrischen Situation. Dies ist eine wesentliche Voraussetzung für eine tragende Beziehung. Und diese ist wiederum eine unabdingbare Basis für jede Therapie. Der Beziehungsaufbau wird von beiden, Arzt und Patienten, auf ihre je eigene Weise gestaltet. Es obliegt dem Arzt, für diesen Annäherungsprozess von Anfang an die Prozessverantwortung zu übernehmen. Mit seiner »Investition« in den Beziehungsaufbau optimiert der Arzt
Erweiterte inhaltliche Beschreibung des Ablaufs / Prozesses
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nicht nur den Erfolg der Arzt-Patient-Begegnung, sondern nicht zuletzt auch den Zeitbedarf für ein zielgerichtetes Vorwärtskommen. Eine gute und tragfähige Beziehung kann nie vorausgesetzt werden, auch dann nicht, wenn sich Arzt und Patient schon länger kennen. Bei jeder Begegnung muss sie immer wieder neu austariert, gefördert und vertieft werden.
Der Arzt stellt sich höflich und mit einladender Haltung mit seinem Namen vor. Er spricht den Namen deutlich aus und ist sich bewusst, dass sich der Patient vor allem nach einer ersten Begegnung oft nicht an seinen Namen erinnern kann. Bei einem ungewohnten Namen kann er diesen auf dem Namensschild oder auf einem Papier zeigen. Er kann auch einige Worte zu seinem Beruf sagen, etwa wie lange er schon ärztlich tätig ist oder diese Praxis führt und wer, etwa bei Gemeinschaftspraxen, alles zu dieser Praxis gehört. Sich vorzustellen ist ein gegenseitiger Prozess. Der Arzt lädt auch den Patienten, insbesondere bei einer Erstbegegnung, aktiv ein, sich vorstellen. Er hört ihm interessiert und mit spürbarer Aufmerksamkeit zu, wiederholt da und dort gewisse Aussagen oder fragt mit angemessener Neugier nach weiteren Details. Bei einem neuen Patienten darf der Arzt davon ausgehen, dass dieser aus bestimmten Gründen in seine Praxis kommt: vielleicht wegen der geographischen Nähe oder auf Empfehlung von Bekannten oder aufgrund von Internetrecherchen etc. Dies aktiv zu erfragen, zeugt von Interesse und kann gegebenenfalls bereits wichtige Vorinformationen liefern (zum Beispiel: Der Vorgänger hatte immer lange Wartezeiten, wollte mich nicht ernst nehmen etc.) und ist dem Beziehungsaufbau sicher nicht abträglich. Dieser einladende Start in die Konsultation ist mehr als eine Floskel. Der Arzt heißt den Patienten als Person willkommen. Er weist mit dieser Begrüßung auf seine berufliche Grundhaltung und sein Wertesystem hin: dass sich in seiner Konsultation zwei Menschen, trotz ihrer unterschiedlichen Rollen, gleichwertig und auf Augenhöhe begegnen; dass der Patient vom Arzt die volle ärztliche und menschliche Aufmerksamkeit erhält; dass sich der Arzt für den Patienten als Menschen und nicht nur für sein Problem interessiert. Der Arzt spricht mit freundlichen, ehrlichen und aufmunternden Worten in einer verständlichen und klaren Sprache. Genauso wichtig sind seine nonverbalen Verhaltensweisen: eine unaufgeregte, ruhige Stimmlage, eine echte aufmunternde Mimik, ein fester Augenkontakt, ein bestimmter Händedruck, ruhige Bewegungen, eine bestimmte Berührung, authentische, einfühlende und verständnisvolle Verhaltensweisen, eine klare und zugewandte körperliche Haltung sowie angemessene Kleidung, sei es mit oder ohne weißen Kittel. Ein ruhi-
Schritt 2
Sich vorstellen
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Schritt 2: Ziel- und lösungsorientierte Zusammenarbeit aufbauen
ges Sprechzimmer mit zweckmäßiger Möblierung und bequemen Stühlen in kommunikationsfördernder Anordnung und angenehmem Abstand sind weitere unterstützende Elemente für eine achtsame Begegnung mit dem Patienten. Achtsamkeit zur Person
Der Arzt ist sich bewusst, dass sich viele Patienten, die sich zum Arztbesuch entschlossen haben, in einem mehr oder weniger ausgeprägten psychischen, physischen und eventuell sogar sozialen Ausnahmezustand befinden. Nicht selten sind sie voll von Befürchtungen oder angstbesetzten Erwartungen. Der Arzt kann diese Befindlichkeiten des Patienten sehr oft, aber nicht immer wahrnehmen. Mit hoher Achtsamkeit gegenüber der Person des Patienten kann der Arzt diese Situation auffangen. Gegebenenfalls kann er zum Ausdruck bringen, dass er sieht, wie dies für den Patienten eine ungewohnte Situation ist, dass er dafür Verständnis hat und darauf Rücksicht nehmen wird. Eine solche Achtsamkeit entwickelt durchaus eine eigene therapeutische Wirkung. Es versteht sich von selbst, dass sie eine Grundhaltung ist, die den Arzt durch die ganze Konsultation begleiten sollte. Neugier / Interesse
Lebendiges Interesse und Neugier sind zwei grundlegende Einstellungen des Arztes für ein personenzentriertes medizinisches und ärztliches Handeln, nicht nur für den Aufbau der Beziehung, sondern während der ganzen Konsultation. Neugier und Interesse sind nicht selbstverständliche Einstellungen. Sie müssen bewusst gepflegt und immer wieder neu entdeckt werden. Sie sind wesentliche Teile für die Qualität und Wirksamkeit der ärztlichen Arbeit. Gleichzeitig sind sie bedeutend für die kluge Sorge des Arztes für sich selbst und somit auch Burnout-prophylaktisch wirksam. Es ist wichtig, dass der Patient Interesse und Neugier bei der Begegnung mit dem Arzt von Beginn an erlebt. Für ihn sind sie starke Zeichen dafür, vom Arzt umfassend wahrgenommen zu werden. Diese zwei Eigenschaften ermöglichen den Aufbau einer verlässlichen, vertrauensvollen und tragfähigen Beziehung. Und so entfalten sie zusätzlich eine eigene therapeutische Wirkung.
Praktisches Vorgehen
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Praktisches Vorgehen
Was angestrebt wird Schaffen einer angenehmen Atmosphäre, in der sich Patient und Arzt wohlfühlen. Sicherheit und Transparenz aufbauen durch Klärung von Ablauf, Rahmen und Zusammenarbeitsregeln. Wie Sie vorgehen können ▶▶ Sorgen Sie für ein freundliches, menschlich zugewandtes und professionel-
les Praxisteam (siehe thematischer Schwerpunkt 3: Praxisräumlichkeit und -atmosphäre). ▶▶ Schaffen Sie räumlich eine empfangende Atmosphäre, die zum Wohlbefinden der Patienten und zu einem guten Klima beiträgt (siehe thematischer Schwerpunkt 3: Praxisräumlichkeit und -atmosphäre). ▶▶ Stellen Sie Ihre Arbeitsweise und -einstellung vor und laden Sie den Patienten ein, die Konsultation aktiv mit zu gestalten. ▶▶ Orientieren Sie den Patienten über den Ablauf der Konsultation und die zur Verfügung stehende Zeit. ▶▶ Klären Sie gemeinsam die Regeln ihrer Zusammenarbeit. Wichtig ist, dass der Patient mit Ihrer Arbeitsweise einverstanden ist. Formulierungsbeispiele für Klärungen Konsultationsablauf klären
•• Wir werden zuerst am Tisch miteinander sprechen. •• Ich werde Ihnen zunächst vor allem zuhören und gelegentlich eine kurze Notiz machen. •• Während oder nach Ihrem Bericht werde ich Ihre Aussagen zusammenfassen und Ihnen die Möglichkeit geben, zu überprüfen, ob ich Sie richtig verstanden habe. Anschließend werde ich Ihnen ergänzende und vertiefende Fragen stellen.
Schritt 2
2.2 Setting offenlegen •• Konsultationsablauf erklären •• Rahmen klären •• Spielregeln der Zusammenarbeit klären
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Schritt 2: Ziel- und lösungsorientierte Zusammenarbeit aufbauen
•• Falls Untersuchungen nötig sind, werden wir diese auf der Liege durchführen. •• Je nach nötiger Untersuchung werden Sie am Bettrand sitzen oder sich aufs Bett legen. •• Ich werde sie vor jedem Untersuchungsschritt informieren und Ihnen die Befunde zusammenfassen. •• Anschließend setzen wir uns wieder an den Tisch und besprechen das weitere Vorgehen. Rahmen klären
•• Ich habe für diese Konsultation … Minuten reserviert. •• Falls wir merken, dass diese Zeit nicht ausreicht, können wir einen zeit gerechten Folgetermin vereinbaren. •• Wir sollten während dieser Zeit ungestört sein. Es kann trotzdem vorkommen, dass ich einen dringenden Telefonanruf entgegennehmen muss. •• Sind Sie damit einverstanden? Spielregeln und Zusammenarbeit klären
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••
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•• ••
Ich verstehe meine ärztliche Arbeit als Zusammenarbeit zwischen uns. Wie stellen Sie sich unsere Zusammenarbeit vor? Was sollte auf keinen Fall passieren? Bei meiner Arbeit ist es mir wichtig, mit Ihnen zusammen auf Lösungen hinzuarbeiten. Mir ist es wichtig, Ihre Symptome medizinisch zu verstehen und darüber hinaus auch deren Bedeutung und Wechselwirkung mit Ihrem Leben und Lebensumfeld. Alles, was Sie uns mitteilen und was wir im Austausch mit weiteren, in Ihre Behandlung involvierten Ärzten und Fachpersonen über Sie und Ihre Situation erfahren, unterliegt dem Arztgeheimnis. Dieses gilt für das ganze Praxisteam und gegebenenfalls anwesende Studierende. Offenheit, Transparenz und Vertrauen erachte ich als zentrale Pfeiler für eine tragfähige und verlässliche Zusammenarbeit. Ihre persönliche Meinung ist mir jederzeit wichtig. Sollten Störungen, Unsicherheiten oder Irritationen in unserer Zusammenarbeit auftreten, bin ich froh, wenn Sie oder ich dies ansprechen und klären können. Bei Abmachungen (Hausaufgaben) erwarte ich, dass Sie versuchen, diese umzusetzen, und dass wir das Ergebnis gemeinsam reflektieren. Falls sich Nebenwirkungen oder Unverträglichkeiten einstellen, teilen Sie mir dies unbedingt jederzeit mit, damit wir zeitgerecht eine geeignete Lösung finden können.
Praktisches Vorgehen
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Schritt 2
•• Falls Sie mit einer Behandlung oder Abklärung nicht einverstanden sind, sagen Sie es mir bitte, damit wir die Sachlage erneut besprechen können. •• Gibt es von Ihrer Seite weitere Spielregeln, die wir in unserer Zusammenarbeit beachten sollten?
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Schritt 2: Ziel- und lösungsorientierte Zusammenarbeit aufbauen
Erweiterte inhaltliche Beschreibung des Ablaufs / Prozesses 2.2 Setting offenlegen •• Konsultationsablauf erklären •• Rahmen klären •• Spielregeln der Zusammenarbeit klären
Setting offenlegen Das Setting einer Arztpraxis setzt sich aus sehr unterschiedlichen Aspekten zusammen. Diese beinhalten menschliche, bauliche, atmosphärische und organisatorische Elemente (siehe thematischer Schwerpunkt 3: Praxisräumlichkeit und -atmosphäre), die Offenlegung der Arbeitsweise des Arztes, den gegenseitigen Umgang miteinander und Spielregeln der Zusammenarbeit. Konsultationsablauf erklären
Der Arzt beschreibt dem Patienten kurz, wie er die bevorstehende Konsultation im Einzelnen gestalten will. Er erwähnt, dass er nach einem anfänglichen eingehenden Gespräch die nötigen körperlichen Untersuchungen vornehmen wird; dass sie anschließend in einem erneuten Gespräch alles zusammenfassen und gemeinsam das weitere Vorgehen erörtern werden. So zeigt er ihm mit wenigen Worten, dass er mit einem transparenten Arbeitsplan und einer klaren Struktur vorgeht. Der Patienten erfährt, was auf ihn zukommen wird. Diese Information gibt ihm in jedem Fall Orientierung, Sicherheit, Zuversicht und Vertrauen zum Arzt. Bei komplexen Situationen informiert der Arzt den Patienten über seine Arbeitsweise: dass ihn die medizinische Bedeutung der Symptome interessiert; dass er darüber hinaus auch die Bedeutung der Beschwerden für den Patienten und sein familiäres und berufliches Umfeld und deren Wechselwirkungen verstehen will; dass er dabei den Blick immer auf Lösungen richtet. Rahmen klären
Der Arzt eröffnet dem Patienten, welchen Rahmen er für die aktuelle Konsultation reserviert hat. Dazu gehört insbesondere die verfügbare Zeit. Mit der transparenten Offenlegung über den aktuell möglichen Zeitrahmen kommuniziert er implizit verschiedene zusätzliche Botschaften. Die Konsultation muss konzentriert und zielorientiert genutzt werden. Der Arzt nimmt den Patienten und auch sich selbst ernst. Der Patient kommt in Mitverantwortung. Dies
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fördert die volle und ungeteilte Aufmerksamkeit von Arzt und Patient für das Anliegen des Patienten und ein lösungsorientiertes Vorgehen. Über den zeitlichen Rahmen orientiert zu werden, gibt dem Patienten auch eine innere Orientierung. Er kann seine Anliegen so zusammenfassen, dass es an die aktuelle Sprechstundenrealität angepasst ist. Ohne die für ihn verfügbare Zeit zu kennen, bleibt er während der gesamten Konsultation unsicher darüber, ob er sein Anliegen in angemessener Länge vorbringt, ob er den »Rahmen sprengt«. Dies könnte in ihm ein unangenehmes Gefühl hinterlassen. Denn er ist sich grundsätzlich bewusst, dass sich neben ihm weitere Patienten und Patientinnen an den Arzt wenden wollen. Eine Kollegin berichtete anlässlich eines Supervisionstreffens über ihre Erfahrung als Patientin. Die von ihrem Arzt transparent ankündigte limitierte Zeitspanne sei ihr subjektiv länger erschienen. Erstaunlicherweise hätten sie nicht einmal die ganze verfügbare Zeit benötigt, um die für ihr Anliegen benötigte Antwort zu erhalten. Eine andere Kollegin, die von ihrem Arzt üblicherweise ohne Zeitangabe zum Sprechen eingeladen wird, bleibt immer wieder mit dem selbstvorwurfsvollen Gefühl, sie habe einmal mehr unnötig viel gesprochen und ungebührend lange Zeit beansprucht. Die Konsultation soll grundsätzlich ungestört sein. Trotzdem kann es vorkommen, dass der Arzt während der Konsultation durch einen Telefonanruf oder einen Notfall in der Praxis unterbrochen wird. Auch Telefonate mit medizinischen und nichtmedizinischen Fachpersonen im Rahmen der interdisziplinären Zusammenarbeit können wegen der jeweiligen beidseitigen Erreichbarkeit nicht immer an der Konsultation vorbeigesteuert werden. Der Arzt kann mit einer solchen Störung kreativ umgehen. So kann er dem Patienten explizit eine – vielleicht gar nicht so unwillkommene – »kurze Pause« gewähren. Oder er kann mit einem kurzen erklärenden Satz darauf hinweisen, dass die so wichtige »interdisziplinäre Zusammenarbeit« eben während der Arbeitszeit / Konsultationszeit stattfinden muss. Spielregeln der Zusammenarbeit klären
Im Rahmen seiner Prozessverantwortung klärt der Arzt mit dem Patienten die Spielregeln, die er für eine erfolgreiche Zusammenarbeit für hilfreich hält. Aufgrund dieser Klärung können der Patient und der Arzt von Anfang an bewusst entscheiden, ob sie sich auf eine Zusammenarbeit einlassen wollen. Von beiden Seiten akzeptierte Spielregeln schaffen die nötige Verbindlichkeit für einen zielorientierten therapeutischen Prozess. Sie sind ein Rahmen für gegenseitiges Vertrauen und Verlässlichkeit. Im Verlauf der Behandlung können Arzt und Patient jederzeit Bezug auf sie nehmen. Wo sinnvoll und nötig, können sie die Spielregeln in gegenseitigem Einvernehmen anpassen.
Schritt 2
Erweiterte inhaltliche Beschreibung des Ablaufs / Prozesses
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Schritt 2: Ziel- und lösungsorientierte Zusammenarbeit aufbauen
Offenheit und Transparenz sind Grundspielregeln. Arzt und Patient sollen ihre Meinung offen sagen, insbesondere auch dann, wenn einer von beiden mit etwas nicht einverstanden ist. Gegenseitig vereinbarte Therapien und Abmachungen oder Hausaufgaben sollen verlässlich durchgeführt werden. Falls sich bei einer medikamentösen Behandlung Unverträglichkeiten zeigen, soll der Patient den Arzt baldmöglichst informieren. So können sie zusammen eine Anpassung oder Änderung der Therapie vereinbaren. Wenn der Patient mit einer vereinbarten externen Untersuchung nicht einverstanden ist, soll er dieser nicht einfach fernbleiben, sondern dem Arzt seine Meinung transparent mitteilen. So können sie die entsprechenden Erwartungen und Befürchtungen miteinander besprechen sowie die Notwendigkeit und Risiken der entsprechenden Untersuchung erneut reflektieren. Wenn der Patient mit dem Arzt nicht mehr einverstanden ist und deswegen zu einem anderen Arzt wechseln möchte, soll sich der Arzt um ein Gespräch bemühen, um zusammen mit dem Patienten, die Gründe dafür zu verstehen. Falls sie keine Einigung erzielen, können sie ihre Zusammenarbeit konstruktiv beenden. Ein geordneter Abschluss ist eine wichtige Voraussetzung für einen guten Neubeginn mit einem anderen Arzt. Eine transparent gestaltete Beendigung der Arzt-Patient-Beziehung kann zudem in gewissen Situationen einen wirksamen therapeutischen Schritt bedeuten. Zum Beispiel muss der Patient bei nicht nachvollziehbaren und unvereinbaren Vorstellungen ganz klar die Verantwortung für sein Tun und Lassen übernehmen.
Praktisches Vorgehen
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Praktisches Vorgehen
Was angestrebt wird Einen ersten Überblick über die Gründe und den Kontext für diesen Arztbesuch erarbeiten. Die Motivation des Patienten für den Arztbesuch klären. Wie Sie vorgehen können ▶▶ Fragen Sie nach den Beweggründen, die zu diesem Arztbesuch führen, und
wer die Idee dazu hatte.
▶▶ Klären Sie die Erwartungen und Wünsche des Patienten und was auf kei-
nen Fall geschehen sollte.
▶▶ Fragen Sie, wie sie ihn unterstützen können.
Fragenbeispiele Zustandekommen der heutigen Konsultation erfragen
Vor der Konsultation zu klären: •• Wofür hat sich der Patient angemeldet? •• Hat der Patient sich selbst angemeldet oder jemand anders? •• Hat er weitere Angaben gemacht? •• Wann hat er sich angemeldet? •• Die Medizinische Praxisassitentin erfasst alle diese Angaben bei der telefonischen Anmeldung und hält sie in der Agenda fest. •• Falls diese Angaben fehlen, klärt sie der Arzt vor der Konsultation mit der Praxisassistentin.
Schritt 2
2.3 Konsultationsgrund erfragen – Auslegeordnung verschiedener Konsultationsgründe •• Zustandekommen der heutigen Konsultation erfragen •• Konsultationskontext erfragen •• Nach weiteren Anliegen fragen
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Schritt 2: Ziel- und lösungsorientierte Zusammenarbeit aufbauen
In der Konsultation fragen: •• Mit welchen Anliegen kommen Sie in meine Sprechstunde? •• Wie kommt es dazu, dass Sie jetzt da sind? •• Was hat bewirkt, ȤȤ dass Sie gerade heute in die Sprechstunde kommen? ȤȤ dass Sie sich an mich wenden? •• Mit welchen Erwartungen kommen Sie zu mir? •• Was soll hier geschehen, damit Sie sagen können: Der Arztbesuch hat mir geholfen? •• Wann wäre dieser Arztbesuch ein Misserfolg? •• Was könnte unsere therapeutischen Bemühungen zum Scheitern bringen? •• Was soll hier nicht angesprochen werden? •• Wer ist von Ihrem Anliegen mit betroffen? •• Wer will was von wem? •• Was haben Sie bisher zur Lösung des Problems versucht? Konsultationskontext erfragen
•• •• •• •• •• •• •• •• ••
•• ••
Wie kam die Anmeldung zur Konsultation zustande? Haben Sie sich selbst angemeldet? Auf wessen Wunsch oder Drängen haben Sie sich angemeldet? In der Agenda habe ich gesehen, dass Ihre Ehefrau / Ihre Mutter den Termin für Sie vereinbart hat. Können Sie mir erklären, wie es dazu gekommen ist? Wann haben Sie sich angemeldet? Mit welcher Dinglichkeit haben Sie sich angemeldet? Konnten Sie aus Ihrer Sicht einen Termin in einem angemessenen Zeitrahmen erhalten? Ich sehe, dass Sie stark sichtbare Anzeichen Ihres Symptoms / Problems haben. Was hat bewirkt, dass Sie nicht früher gekommen sind? Wie ich sehe, haben Sie den heutigen Termin vor drei Wochen vereinbart. Was geschah in der Zwischenzeit? Wie hat sich Ihr Symptom / Problem entwickelt? Sie sind zur Kontrolluntersuchung dieses Symptoms / Problems eingeschrieben. Können Sie mir bitte sagen, wie es Ihnen zwischenzeitlich ergangen ist? Sie sind heute notfallmäßig eingeschrieben. Was macht Ihre Situation zum Notfall?
Nach weiteren Anliegen fragen
Haben Sie weitere Anliegen? Welche?
Erweiterte inhaltliche Beschreibung des Ablaufs / Prozesses
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Erweiterte inhaltliche Beschreibung des Ablaufs / Prozesses
Bei der Großzahl von Konsultationen fließen die drei Konsultationselemente Konsultationsgrund erfragen – Auslegeordnung verschiedener Konsultationsgründe (2.3), Prioritäten setzen (2.4) und Ziel und Auftrag der Konsultation klären (2.5) ineinander und sind bereits ein erster Teil der Anamnese. Es kann durchaus sein, dass die sorgfältige Erarbeitung dieser Konsultationselemente bereits genügend Informationen für das weitere Vorgehen bietet. Ein sorgfältiges und beharrliches Auseinanderhalten dieser Elemente ist vor allem dann bedeutsam, wenn die Geschichte des Patienten besonders komplex zu sein scheint. Wo sinnvoll und nötig, muss die Anamnese weiter vertieft werden, wie es unter Anamnese erheben (Schritt 3) beschrieben wird.
Es versteht sich von selbst, dass der Arzt den Patienten mit einem offenen Einstieg befragt, weshalb er sich in die Konsultation angemeldet hat. Für die Qualität und Organisation der Konsultation, als Vorbereitung für die Priorisierung und zum persönlichen Kennenlernen spielt ein offener Einstieg in die Konsultation eine bedeutende Rolle. In dieser Phase der Konsultation geht es darum, dass sich der Arzt, insbesondere bei sehr komplexen Situationen, als Erstes einen möglichst umfassenden Überblick über den Grund des Arztbesuchs macht, bevor er via Priorisierung zum Lösungsprozess von möglicherweise verschiedenen Konsultationsgründen schreitet. Mit seinen offenen Fragen öffnet der Arzt dem Patienten das Tor für eine möglichst breite Auslegeordnung. Er lässt den Patienten frei erzählen (narrativ) und hört ihm aufmerksam und interessiert zu. Wo nötig, ermutigt er den Patienten mit geeigneten Zwischenfragen oder mit nonverbalen Zeichen zum Weiterberichten. Indem der Patient ein offenes Interesse des Arztes erlebt, berichtet er über die ganze Palette von Symptomen, Problemen und Erwartungen, die zur Konsulta-
Schritt 2
2.3 Konsultationsgrund erfragen – Auslegeordnung verschiedener Konsultationsgründe •• Zustandekommen der heutigen Konsultation erfragen •• Konsultationskontext erfragen •• Nach weiteren Anliegen fragen
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Schritt 2: Ziel- und lösungsorientierte Zusammenarbeit aufbauen
tion geführt haben. Er weiß oft nicht, ob sie miteinander zusammenhängen oder unabhängig voneinander sind. In seinem Zustand, der ihn zum Arzt geführt hat, geht oft alles krisenhaft durcheinander, in biologischer, psychischer und sozialer Sicht. Unterschiedlichste Befindlichkeiten, Wut, Trauer, Frust, Angst und Unsicherheit bis hin zu Hilflosigkeit vermischen sich mehr oder weniger chaotisch. Die innere und eventuell äußere Orientierung sind gestört und blockieren den persönlichen Handlungsspielraum und die eigenen Stabilisierungsmechanismen. Für den Arzt ergeben sich auf diese Weise viele erste medizinische Informationen über den Gesundheitszustand des Patienten. Über die geschilderten Symptome, Probleme und Erwartungen hinaus erhält der Arzt zudem ein authentisches und umfassendes Bild über den Gesamtzustand der Person des Patienten, über seine Vorstellungen, Befürchtungen und Wechselwirkungen seines Symptoms / Problems mit seinem Lebenskontext. Für den Patienten ist das offene Ohr des Arztes ein wichtiger Baustein für Beziehung und Vertrauen zu ihm. Bereits bei der Anmeldung hatte die medizinische Praxisassistentin den Patienten über den Grund für die Konsultation gefragt, damit sie die Dringlichkeit festlegen und den Zeitbedarf für die Konsultation abschätzen konnte. In der Regel trägt sie diesen Konsultationsgrund als Stichwort in die Agenda ein. Der Arzt weiß, dass dieses Stichwort die Situation des Patienten sehr verkürzt wiedergibt und nicht immer dem wirklichen Grund entspricht, den der Patient ihm im Sprechzimmer mitteilt. Bei Bedarf kann er auf allfällige Diskrepanzen eingehen. Für beide, den Arzt und Patienten, ergibt sich aus alledem eine erste Orientierung, ein erster Schritt in einem lösungsorientierten therapeutischen Prozess. Sie stimmen sich aufeinander ein und bereiten den Boden für einen verbindlichen und zielgerichteten gemeinsamen Weg. Im Folgenden haben sie die Möglichkeit, diese verschiedenen Elemente gemeinsam zu bündeln und zu priorisieren. Zustandekommen der heutigen Konsultation erfragen
In der Erzählung des Patienten wird nicht immer klar, weshalb es letztlich zum Konsultationswunsch kam und wie die Konsultation zustande gekommen ist. Diese Umstände, zu denen der Arzt oft nicht spezifisch nachfragt, enthalten einiges Potenzial. Der Patient erwähnt meist nicht spontan, weshalb er sich mit seinem Problem, das oft schon länger besteht, überhaupt an den Arzt wendet, weshalb er gerade mich als Arzt ausgewählt hat und weshalb die Konsultation gerade jetzt sein muss. Es gibt unterschiedlichste Gründe dafür: Die Beschwerden sind akut aufgetreten oder sie haben sich plötzlich verschlechtert. Sie haben Auswirkungen auf die Arbeitsfähigkeit. Druck vonseiten der Familie und / oder
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von Bekannten oder aufkommende Angst und Verunsicherung infolge eines Gesprächs, eines Berichts in den Medien oder eigener Nachforschungen im Internet können die Ursache sein. Dies alles kann für die Diagnose und Therapie bedeutsam sein. Der Arzt erhält Hinweise über den Verlauf der Krankheit und Probleme, über die vom Patienten erstellte Wirklichkeitskonstruktion, über frühere Lösungsversuche und Ressourcen, über die Erwartungen des Patienten und seines Familiensystems an den Arzt. Zusätzlich ergeben sich Informationen über den Lebenskontext des Patienten, über sein soziales Beziehungsnetz. Möglicherweise erfährt der Arzt von allfälligen Beziehungen des Patienten zu weiteren Personen, die ihn empfohlen haben, also über seinen Ruf als Arzt und auch als Mensch sowie eventuell an diesen Ruf gebundene Erwartungen. Alles sind Bausteine für einen erfolgreichen Behandlungsprozess. Konsultationskontext erfragen
Die Praxisassistentin sollte anlässlich der telefonischen Anmeldung auch festhalten, von wem der Patienten angemeldet worden ist, ob er selbst oder eine andere Person den Termin vereinbart hat. Idealerweise notiert sie zusätzlich, wann die Anmeldung erfolgt ist, ob es zu mühsamen Terminfindungen oder zu, eventuell wiederholten, Verschiebungen kam. Für den Arzt können diese Informationen wichtig sein. Der Arzt erfragt den Konsultationskontext selbstverständlich immer auch selbst. Wo es bedeutsam ist, teilt er dem Patienten zum geeigneten Zeitpunkt mit, was er von der Praxisassistentin bereits weiß. Und er kann sich vom Patienten die Hintergründe dieser Gegebenheiten erklären lassen. Die Informationen über diesen Entscheidungspfad können Puzzleteile sein zum Verständnis der problematischen Situation und von psychosozialen Zusammenhängen. Nach weiteren Anliegen fragen
Wie der Beginn, so soll auch der Schluss dieser Konsultationssequenz offen sein. Während des Gesprächs können dem Patienten weitere Anliegen eingefallen sein. Indem der Arzt danach fragt, kann der Patient diese ablegen und sich entlasten. Vielleicht gehören sie in den Kontext des bisher Gesagten und erweitern den Blick auf die Dinge zusätzlich. Oder es sind eigenständige Probleme. Der Arzt kann sie entgegennehmen und dem Patienten im Rahmen des Priorisierens anbieten, in einer späteren Konsultation darauf einzugehen. Gelegentlich kann es vorkommen, dass einer dieser zusätzlichen Konsultationsgründe aus ärztlicher Sicht, entgegen der Einschätzung des Patienten, der medizinisch dringendste ist. Möglicherweise handelt es sich sogar um eine Notfallsituation, die eine unmittelbare Maßnahme benötigt.
Schritt 2
Erweiterte inhaltliche Beschreibung des Ablaufs / Prozesses
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Schritt 2: Ziel- und lösungsorientierte Zusammenarbeit aufbauen
Nicht zuletzt verhindert der Arzt mit dieser Vorgehensweise unerwartete Zusatzprobleme, die der Patient beim Verabschieden noch anbringt. Ein berühmtes Beispiel ist: »Oh, Herr Doktor, ich sollte noch ein Rezept haben für Temesta 7. Mein Nachbar gab mir einige Tabletten, als ich nicht schlafen konnte, und ich sollte sie ihm unbedingt zurückgeben.«
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7 Das Psychopharmakon und Beruhigungsmittel Temesta zählt zu den Benzodiazepinen. Sein Wirkstoff Lorazepam hat ein erhebliches Suchtpotenzial.
Praktisches Vorgehen
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Praktisches Vorgehen
Was angestrebt wird Festlegen von Prioritäten. Wie Sie vorgehen können ▶▶ Klären Sie gemeinsam mit dem Patienten seine und Ihre Prioritätenreihen-
folge der Konsultationsgründe auf Grund dessen, was Sie jeweils als wichtig und dringend einschätzen.
Beispiele von Klärungsfragen Was ist für den Patienten wichtig und dringend?
•• Welches der von Ihnen vorgebrachten Probleme / Themen / Anliegen hat für Sie Vorrang für die heutige Konsultation? •• Was macht es, dass dieses Symptom, diese Situation / diese Frage für Sie am vordringlichsten ist? •• Auf einer Skala von 1 bis 10: Wie dringend sind die einzelnen Anliegen? •• Welche Themen können wir zu einem späteren Zeitpunkt behandeln, falls sie im Zusammenhang mit den anderen Fragen bis dahin nicht gelöst sind? •• Ich bin mit Ihnen einverstanden, dass wir uns zuerst diesem Anliegen widmen. Was ist aus Sicht des Arztes medizinisch-technisch und / oder für den Therapieprozess dringend?
•• Ich kann verstehen, dass dies für Sie am vordringlichsten ist, ȤȤ aus Gründen der medizinischen Dringlichkeit müssen wir uns jedoch zuerst mit folgendem Problem befassen. ȤȤ wegen der komplexen Zusammenhänge in Ihrer Situation sollten wir uns im Interesse eines möglichst zusammenhängenden gradlinigen Vorgehens zuvor mit folgender Frage befassen.
Schritt 2
2.4 Prioritäten setzen •• Was ist für den Patienten wichtig und dringend? •• Was ist aus Sicht des Arztes medizinisch-technisch und / oder für den Therapieprozess dringend?
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Schritt 2: Ziel- und lösungsorientierte Zusammenarbeit aufbauen
•• Das weitere Symptom / Problem, das Sie erwähnt haben und das in Ihren Augen nicht so wichtig ist, beurteile ich als Arzt als bedeutsam und klärungsbedürftig. Ich sehe einen möglichen Zusammenhang mit dem für Sie wichtigsten Problem. Dafür möchte ich mit Ihnen einen baldigen Termin vereinbaren.
Erweiterte inhaltliche Beschreibung des Ablaufs / Prozesses
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Erweiterte inhaltliche Beschreibung des Ablaufs / Prozesses
Arzt und Patient legen bei jeder Konsultation gemeinsam fest, welchem der zuvor erhobenen Konsultationsgründe mit ihren Symptomen, Problembeschreibungen und Anliegen sie sich prioritär widmen wollen. Für die Selektion orientieren sie sich einerseits an den persönlichen Bedürfnissen des Patienten und andererseits an den medizinisch-technischen und Behandlungsprozess-relevanten Erfordernissen. So können sie in der limitierten Zeit der Konsultation zielgerichtet erreichen, was für den Patienten und aus Sicht des Arztes wichtig ist. Bei fehlender Koordination der Prioritäten können sie aufgrund unterschiedlicher Vorstellungen und Erwartungen aneinander vorbeireden, mit dem Risiko eines schlechten Ergebnisses und Frustration auf beiden Seiten. Explizit aufgeschobene Probleme können in Folgekonsultationen behandelt werden. Bei einer sorgfältigen Priorisierung kommt es nicht selten vor, dass sich aufgeschobene Probleme im Lauf der Behandlung wie von selbst lösen. Nicht immer versteht der Patient, weshalb er weitere Probleme nicht auch noch schnell mit dem Arzt besprechen kann, da er nun schon mal in der Konsultation ist. In diesem Fall wird sich der Arzt mit dem Patienten verständigen, dass auch dieses Symptom / Problem eine sorgsame Betrachtung mit der dafür nötigen Zeit verdient. Was ist für den Patienten wichtig und dringend?
Für den Patienten dürfte das Problem / Symptom am wichtigsten sein, bei dem sein Leidensdruck sowie seine persönliche Betroffenheit, Angst und Unsicherheit am größten sind; oder das Leiden, das letztlich den definitiven Ausschlag für die Konsultation ergeben hat. Es kann aber auch das Thema sein, das seine Umgebung im Zusammenleben mit ihm kaum mehr aushält, wegen dessen er von der Familie zur Konsultation gedrängt oder angemeldet wurde. Dabei handelt es sich oft um vordergründige Erscheinungen von komplexeren Zusammenhängen im Hintergrund.
Schritt 2
2.4 Prioritäten setzen •• Was ist für den Patienten wichtig und dringend? •• Was ist aus Sicht des Arztes medizinisch-technisch und / oder für den Therapieprozess dringend?
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Schritt 2: Ziel- und lösungsorientierte Zusammenarbeit aufbauen
Was ist aus Sicht des Arztes medizinisch-technisch und / oder für den Therapieprozess dringend?
Der Arzt wird die Priorität des Patienten so weit wie möglich übernehmen. Als prozessverantwortlicher Partner wägt er sorgfältig ab, ob die Vorstellung des Patienten mit seiner medizinisch-technischen oder prozeduralen Sicht kompatibel ist. Immer wieder können die Prioritäten beim Arzt und Patienten erheblich auseinanderliegen. Der Arzt steht in mehrfacher Verantwortung: für die Person des Patienten als Ganzes, für die streng medizinisch-technischen Aspekte der geschilderten Probleme sowie für einen lösungsorientierten Prozess von komplexen bio-psycho-sozialen Situationen. So kann es sein, dass der Arzt Symptome, die der Patient weniger gewichtet oder nur beiläufig erwähnt, als wichtige Alarmsymptome für ein bedrohliches medizinisches Problem einordnet, zum Beispiel als Hinweise auf einen Herzinfarkt, Hirnschlag oder eine Lungenembolie, und diesen den Vorrang geben will. Oder ein beiläufig erwähntes Thema scheint ihm für den Behandlungsprozess zentraler oder übergeordneter zu sein als dem Patienten, beispielsweise eine neu auftretende, vom Patienten noch kaum wahrgenommene Atemnot in »Konkurrenz« zu einem gehbehindernden, störenden und schmerzenden Hühnerauge. Auf solche Diskrepanzen wird der Arzt offen und klar hinweisen. Gemeinsam werden sich Arzt und Patient zuerst des Problems / Themas / der Frage mit der vermutlich größten Bedeutung und unmittelbaren Bedrohung annehmen. Für ein nicht unmittelbar bedrohliches Symptom / Problem wird der Arzt mit dem Patienten einen angemessenen Termin vereinbaren.
Praktisches Vorgehen
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Praktisches Vorgehen
Was angestrebt wird Die Anliegen für die Konsultation sind definiert, präzisiert und es wird klar, was in den jeweiligen Problemkreisen angestrebt werden soll. Daraus lässt sich der Auftrag an den behandelnden Arzt ableiten, welcher mit dem Patienten vereinbart wird. Wie Sie vorgehen können ▶▶ Lassen Sie den Patienten seine Situation detailliert beschreiben. ▶▶ Hören Sie aufmerksam zu, fassen Sie die Aussagen des Patienten lösungs-
orientiert zusammen und stellen Sie Konkretisierungsfragen.
▶▶ Lassen Sie sich vom Patienten erklären, was im jeweiligen Problemkreis
angestrebt werden soll. ▶▶ Definieren Sie mit dem Patienten zusammen, wie und mit was Sie ihn unterstützen können. ▶▶ Klären Sie auf diese Weise Ihren Auftrag. Lösungsorientierte Fragenbeispiele Welches Ziel soll konkret erreicht werden?
•• Wir haben uns für folgendes Thema entschieden, das wir vertieft bearbeiten wollen. •• Wie würden Sie dieses Thema benennen und was führt dazu, dass Sie dies prioritär mit mir klären wollen? •• Was soll in der heutigen Konsultation erreicht / angestrebt werden? •• Was soll sich ändern? •• Was soll bleiben?
Schritt 2
2.5 Ziel und Auftrag der Konsultation klären •• Welches Ziel soll konkret erreicht werden? •• Welche Erwartungen, Lösungsvorstellungen und Ressourcen gibt es? •• Welcher Auftrag resultiert für den Arzt?
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Schritt 2: Ziel- und lösungsorientierte Zusammenarbeit aufbauen
Welche Erwartungen, Lösungsvorstellungen und Ressourcen gibt es?
•• •• •• •• •• •• •• •• ••
Was müsste getan werden, um Ihre Erwartungen zu erfüllen? Was muss heute geschehen, dass es für Sie eine gute Konsultation war? Was macht das Problem zum Problem? Welches ist in Ihren Augen ein nächster Schritt, den Sie tun können? Woran werden wir erkennen, dass wir einen Schritt in Richtung Ihres Ziels angestoßen haben? Was denken Sie, woran wird Ihre Familie erkennen, dass wir einen Schritt in Richtung Ihres Ziels angestoßen haben? Woran werden wir erkennen, dass wir uns auf dem Holzweg befinden? Welche Möglichkeiten / Ressourcen haben Sie selbst? Welche Möglichkeiten / Ressourcen gibt es in Ihrem eigenen Umfeld?
Welcher Auftrag resultiert für den Arzt?
•• Welchen konkreten Auftrag haben Sie an mich? •• Ist eine Zusammenarbeit mit anderen / medizinischen und nichtmedizinischen Institutionen nötig? •• Gibt es weitere »Fachleute«, Ärzte, die in ihre Problemstellung involviert sind?
Erweiterte inhaltliche Beschreibung des Ablaufs / Prozesses
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Erweiterte inhaltliche Beschreibung des Ablaufs / Prozesses
Der Arzt weiß, dass in der Situation, die den Patienten in die Konsultation geführt hat, die Selbstregulationsmechanismen (siehe thematischer Schwerpunkt 1: Grundlagen systemisch-lösungsorientierter Beratung) oft reduziert oder verloren gegangen sind. Die Symptome bewirken einen Leidensdruck bei ihm und eine komplexe Störung in seinem Umfeld. Und es hat sich eine lähmende oder gar blockierende problemorientierte Sicht entwickelt. Mit zielorientierten Fragen lenkt der Arzt die Sicht des Patienten in eine lösungsorientierte Richtung. Beim Setzen von Prioritäten haben sich Arzt und Patient aus der Fülle von Konsultationsgründen für ein Thema entschieden, das sie in der Konsultation bearbeiten wollen. Der Arzt lässt den Patienten das, was ist, detailliert betrachten und mit seinen Worten ausdrücken. Er gibt dem Patienten Raum dafür, das zu äußern, was für ihn störend und problematisch ist. Er erweitert die Sicht des Patienten mit Fragen, was genau seine Situation zum Problem macht. Darüber hinaus lenkt er dessen Gedanken auch auf das, was in seiner Situation für ihn trotz allem tragend ist und bleiben soll. So nehmen der Arzt und der Patient das Problem mit seinen Enttäuschungen ernst und wenden das Augenmerk gleichzeitig in Richtung von Erwartungen, Hoffnungen und Lösungsansätzen, die der Patient in sich trägt. Dieser vom Arzt gesteuerte sorgfältige Betrachtungsprozess erweitert den Blick des Patienten auf seine Situation. Die neue Sicht relativiert das Problem und öffnet mögliche Wege aus der blockierten Situation. Welches Ziel soll konkret erreicht werden?
Auf dem so vorbereiteten Boden fragt der Arzt den Patienten explizit nach dem konkreten Ziel für die aktuelle Konsultation. Dieses Ziel gilt selbstverständlich auch für die Behandlung als Ganzes. An dieser Stelle geht es schwerpunktmäßig um das Ziel für die aktuelle Konsultation, das im Gesamtkontext möglicherweise ein bedeutsames Zwischenziel darstellt. Durch das Festlegen eines erreichbaren Ziels entsteht ein klarer Eckwert im Rahmen der vereinbarten Konsultationszeit. Darüber hinaus schafft es für
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2.5 Ziel und Auftrag der Konsultation klären •• Welches Ziel soll konkret erreicht werden? •• Welche Erwartungen, Lösungsvorstellungen und Ressourcen gibt es? •• Welcher Auftrag resultiert für den Arzt?
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Schritt 2: Ziel- und lösungsorientierte Zusammenarbeit aufbauen
den Patienten eine innere Ordnung in seinen Turbulenzen und gibt ihm eine erste Orientierung. Es leitet seine Gedanken aus der Problem-»Trance« hin zu lösungsorientiertem Denken. Der Blick wird nach vorn gerichtet. In die lähmende und blockierende Angst, Verunsicherung und Hilflosigkeit kommt Bewegung. Dadurch kann sich bereits eine gewisse Entlastung einstellen, selbst wenn Lösungen zu diesem Zeitpunkt noch unklar sind. Ein therapeutischer Prozess wird angestoßen. Mit einem formulierten Ziel lässt sich der oft langwierige und über mehrere Konsultationen führende Behandlungsprozess auf Kurs in die gewünschte Richtung halten. Ohne Definition eines konkreten, erreichbaren und positiv formulierten Ziels kann, umgekehrt, eine für beide Seiten kräfteraubende und endlose Irrfahrt beginnen, die letztlich zu unnötiger Arbeit, Misserfolg und Frustration führen wird. Ziele sollten positiv formuliert, konkret, erreichbar, weder zu groß noch zu klein, physisch, psychisch und eventuell auch sozial spürbar und letztlich auch real überprüfbar sein. Also kein phantastisches Luftschloss. Arzt und Patient loten miteinander aus, was von dem vorgeschlagenen Ziel in der aktuellen Konsultation realistisch erreichbar ist. Wo nötig, hilft er dem Patienten mit gezielten Fragen, ein zu groß angedachtes Ziel anzupassen oder zu einem Zwischenziel zu formulieren. Falls der Patient Mühe hat, ein Ziel zu benennen, wird ihm der Arzt mit klärenden Fragen weiterhelfen. Er wird ihm jedoch die Zielformulierung nicht abnehmen. Dazu hat er einige Hilfsmethoden in seinem Repertoire. Metaphern können das Ziel visualisieren. An ihnen lassen sich im Verlauf Fort- und Rückschritte abschätzen. Ein Beispiel: Als Metapher für seinen Diabetes mellitus nennt der Patient eine Naturlandschaft mit Wiesen und Bäumen. Unterschiedliche Wetterlagen und Jahreszeiten in dieser gedachten Landschaft zeigen dem Arzt Veränderungen in der Befindlichkeit des Patienten. Oder der Patient kann sein Ziel zeichnerisch darstellen. Er kann einen Gegenstand, der seine Zielgedanken symbolisiert, in die Konsultation bringen. Oder er kann Zielsätze kreieren. Diese sollen in der Ich-Form sowie positiv und konkret formuliert sein. Immer wieder ist die »Wunderfrage« sehr wirksam: Der Arzt lässt den Patienten schildern, wie es wäre, wenn er am Morgen aufwachte und das Symptom / Problem wie durch ein Wunder verschwunden wäre. Damit Fahrt in den therapeutischen Prozess aufkommen kann, erörtern Arzt und Patienten gemeinsam, welchen konkreten ersten Schritt in Richtung des angestrebten Ziels der Patient im Anschluss an die Konsultation unternehmen wird.
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Der Arzt fragt den Patienten nach dessen konkreten Erwartungen und Lösungsvorstellungen. Diese Fragestellungen sind eng mit der Frage nach dem Ziel verkoppelt. Möglicherweise fokussieren sie etwas stärker auf praktische Aspekte und beziehen die Lebensumstände des Patienten etwas greifbarer mit ein. Mit all diesen sich ergänzenden Fragen motiviert der Arzt den Patienten zum umfassenden lösungsorientierten und weniger symptomfokussierten Nachdenken über das, was er von einem therapeutischen Prozess erwartet. Gleichzeitig ergründet der Arzt die eigenen Fähigkeiten des Patienten und die Ressourcen (siehe thematischer Schwerpunkt 7: Ressourcen) in dessen Umgebung, die ihm auf dem Weg zum Ziel zur Verfügung stehen. Der Patient dürfte sich an einige seiner Fähigkeiten erinnern. Dies stärkt sein Selbstvertrauen und ermächtigt ihn für sein eigenes Handeln. Falls sich diese Klärung als schwierig erweist, fragt der Arzt den Patienten nach früheren erfolgreichen Erfahrungen in anderen schwierigen Situationen. Welcher Auftrag resultiert für den Arzt?
Beim Arzt liegt in jeder Konsultation die Prozessverantwortung. Bei »einfachen« Konsultationen (s. Kapitel »Inhalt und Handhabung dieses Buches«) mit überschaubaren Ereignissen, etwa bei Grippesymptomen im Winter, wird der Arzt bei spürbar gutem Einvernehmen mit dem Patienten und bei guter Vorbereitung im Normalfall alle Schritte für das Klären von Ziel, Erwartungen, Lösungsvorstellungen, Ressourcen kurz überprüfen und rasch beim Auftrag (siehe thematischer Schwerpunkt 6: Auftrag klären) ankommen. Er ist sich bewusst, dass er auch hier den Auftrag nie unbesprochen voraussetzen kann. So kann es sein, dass zum Beispiel der Patient mit Grippesymptomen lediglich eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung erwartet. Es kann aber auch sein, dass er eine katastrophisierende Wirklichkeit konstruiert hat. Sobald der aufmerksame Arzt dies feststellt, wird er auf eine vertiefende Frageweise umstellen. Bei komplexen Situationen, wie zum Beispiel bei MUS (medically unexplained symptoms), wird er diese Schritte äußerst sorgfältig durchgehen. In jedem Fall will er sich gezielt und sinnvoll in den therapeutischen Prozess einbringen. Mit seinen Interventionen will er den Patienten zum eigenen Handeln ermächtigen und nicht daran hindern. Deshalb klärt er sorgfältig seinen Auftrag zusammen mit dem Patienten. Er fragt den Patienten, wie und womit er zum Erreichen des Ziels mit seiner ärztlichen Funktion konkret behilflich sein kann. Arzt und Patient besprechen, ob Hilfe von weiteren Institutionen nötig ist, und falls ja, wer diese Institutionen konkret sind, welchen Auftrag sie erhalten und wer den Kontakt zu ihnen aufnimmt.
Schritt 2
Welche Erwartungen, Lösungsvorstellungen und Ressourcen gibt es?
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Schritt 2: Ziel- und lösungsorientierte Zusammenarbeit aufbauen
Hier ist auch die Frage angebracht, ob weitere Therapeuten / Therapeutinnen und nichtmedizinische Personen oder Institutionen in die Behandlung involviert sind oder in Erwägung gezogen werden. Gegebenenfalls muss zwingend frühzeitig geklärt werden, wer von diesen nötig ist, wer welche Aufgabe wahrnimmt und, ganz konkret, welche Aufgabe dem Arzt zukommt. In einer ungeklärten und unkoordinierten Situation dürfte der Patient unweigerlich mit unterschiedlichen, sich möglicherweise widersprechenden Sichten / Interpretationen konfrontiert werden. Dies kann zu Desorientierung und mit größter Wahrscheinlichkeit in ein Chaos mit schwerwiegenden Folgen für den Patienten führen, von einer Verschlimmerung seines Zustands bis hin zur Chronifizierung. Dadurch schwindet das Vertrauensverhältnis. Der enttäuschte Patient hat die Tendenz, das Helfernetz weiter auszudehnen. Eine am Anfang verpasste, relativ einfache Klärung wird zu einer extremen Herausforderung für alle Beteiligten. Es entstehen immer wieder wirre Situationen, in denen der therapeutische Prozess stecken bleibt. Die Analyse ergibt dann meistens, dass der Arzt seinen Auftrag nicht genügend gut geklärt hat.
SCHRITT 3: Anamnese erheben zu den einzelnen
Problemen / Symptomen / Symptomen komplexen, Lösungsvorstellungen
(bei Erstkonsultation detailliert erfragen, bei Folgenkonsultationen weiter verfeinern und differenzieren)
3.1 Jetziges Leiden und aktuelle Symptome in ihren 7 Dimensionen8 erfragen 1. Lokalisation und Ausstrahlung 2. Qualität 3. zeitliches Auftreten 4. Schweregrad 5. Verstärkung / Abschwächung 6. Begleitsymptome 7. Grad der Behinderung 3.2 Psychosozialen Kontext des Problems / Symptoms erfassen •• Lebenssituation •• Auswirkungen des Symptoms / Problems auf das aktuelle Lebens umfeld / die aktuelle Lebenssituation (Menschen, Beziehungen, private und gesellschaftliche Integration, Arbeitswelt und Leistung, materielle Sicherheit) •• Reaktion aus dem aktuellen Lebensumfeld auf das Symptom / Problem •• Auswirkung der Reaktionen aus dem Lebensumfeld auf das Symptom / Problem
8 Je nach Schule sind die 7 Dimensionen etwas unterschiedlich: Skript Psysoma, Bern: 1. Zeitliches Auftreten, 2. Qualität, 3. Intensität, 4. Lokalisation und Ausstrahlung, 5. Begleitzeichen, 6. Intensivierende / Lindernde Faktoren, 7. Umstände. – Uni Tübingen: 1. Lokalisation und Ausbreitung, 2. Qualität, 3. Schweregrad, 4. Zeitliches Auftreten, 5. Auslösende Faktoren, 6. Begleitsymptomatik, 7. Grad der Behinderung.
Schritt 3
•• Allgemeine Fragen zum jetzigen Leiden / aktuellen Symptom / Symptomenkomplex
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Schritt 3: Anamnese erheben zu den einzelnen Problemen
3.3 »Ideas, concerns, expectations« (ICE), Auftrag und Bedeutung (meaning) erfragen •• Vorstellungen und Bedenken (ideas und concerns) •• Erwartungen (expectations) und Auftrag (mandate) auf –– medizinischer Ebene –– persönlicher Ebene –– Systemebene •• Bedeutung (meaning) •• »Schattensysteme« erfragen (Dr. Google, Meinungen aus dem Umfeld) 3.4 Organ- und symptombezogene Systemanamnese •• Lösungsbemühungen und ihre Wirkung vor der Konsultation erfragen 3.5 Persönliche Anamnese 3.6 Familienanamnese 3.7 Philosophische / kulturelle / religiöse Wertesysteme erfassen
Abbildung 1 stellt die unterschiedlichen Aspekte einer Anamnese als Übersicht dar. Die Konsultation beginnt beim aktuellen Symptom / Problem und betrachtet dessen psychosozialen Kontext. Erweiternd dazu werden Vorstellungen und Befürchtungen geklärt und auf drei Ebenen von Patient, Medizin und System werden die jeweilige Vorgeschichte, Lösungsbemühungen und Prägungen (Vergangenheit) sowie die jeweiligen Erwartungen hinsichtlich einer Lösung (Zukunft) besprochen.
Vorgeschichte / Lösungsbemühungen
Familienanamnese
Vorgeschichte / Lösungsbemühungen
Organ- / symptombezogene Systemanamnese
Vorgeschichte / Lösungsbemühungen
Persönliche Anamnese
Werte / Bedeutung
Vorstellung / Befürchtungen
Schattensysteme
Aktuelles Symptom / Problem Jetziges Leiden
Psychosozialer Kontext
ICE Vorstellung / Befürchtungen
Werte / Bedeutung
Jetzt Konsultation
Was soll anders werden?
Schritt 3
Abbildung 1: Anamnese aus systemisch-lösungsorientierter Sicht © Bruno Kissling, Peter Ryser
System
Medizin
Patient
Vergangenheit Prägung
Was hat bisher geholfen / unterstützt?
Erwartungen
Erwartungen
Erwartungen
System
Medizin
Patient
Zukunft Lösungsrichtung
Was soll angestrebt werden?
Schritt 3: Anamnese erheben zu den einzelnen Problemen
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Schritt 3: Anamnese erheben zu den einzelnen Problemen
Praktisches Vorgehen 3 Anamnese erheben zu den einzelnen Problemen / Symptomen / Symptomenkomplexen, Lösungsvorstellungen (bei Erstkonsultation detailliert erfragen, bei Folgenkonsultationen weiter verfeinern und differenzieren) •• Allgemeine Fragen zum jetzigen Leiden / aktuellen Symptom / Symptomenkomplex
Was angestrebt wird Arzt und Patient vertiefen ihr Verständnis des konkreten Symptoms / Problems im jeweiligen Kontext, das sie zuvor (siehe unter 2.3, 2.4 und 2.5) als prioritär definiert haben. Sie verstehen das Symptom / Problem aus der ungefilterten authentischen Erzählung des Patienten möglichst umfassend in allen biopsycho-sozialen Dimensionen.
Wie Sie vorgehen können ▶▶ Lassen Sie den Patienten – sofern das nicht unter 2.3, 2.4 und 2.5 schon aus-
reichend geschehen ist – mit seinen Worten frei berichten.
▶▶ Stoßen Sie seinen Bericht mit offenen Fragen an. ▶▶ Fassen Sie immer wieder die Aussagen des Patienten zusammen, warten Sie die
Reaktion des Patienten ab und leiten dann zu konkretisierenden Fragen über.
Mögliche Anleitungen und Fragen •• Der Arzt fasst zusammen, was er nach seiner Erinnerung mit dem Patienten unter 2.3, 2.4 und 2.5 besprochen hat, und bittet den Patienten, dies in seinen Worten zu formulieren. •• Wir haben uns vorher geeinigt, folgendes Symptom / Problem / Thema zu vertiefen und genauer zu betrachten. Können Sie mir dies in Ihren Worten beschreiben? •• Können Sie mir über folgenden Punkt mehr sagen, zum Beispiel wie sich das Symptom / Problem für Sie anfühlt, was es in Ihnen und Ihrer Umgebung auslöst?
Praktisches Vorgehen
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•• (Nachdem Sie die Aussagen des Patienten zusammengefasst haben:) Habe ich Ihre Aussagen in Ihrem Sinn verstanden? Möchten Sie ergänzen, berichtigen?
Schritt 3
Nachdem der Arzt dem Patienten ausgiebig zugehört hat und sich dessen Erzählung erschöpft, leitet er zu konkretisierenden / vertiefenden Fragen in allen Bereichen der Anamnese über etwa mit folgender Aussage: •• Vielen Dank für Ihre Schilderung. Nun möchte ich Ihnen einige zusätzliche Fragen gezielt zu Ihrem Symptom / Problem stellen. Folgende Aspekte würden mich zusätzlich interessieren: …
66
Schritt 3: Anamnese erheben zu den einzelnen Problemen
Erweiterte inhaltliche Beschreibung des Ablaufs / Prozesses 3 Anamnese erheben zu den einzelnen Problemen / Symptomen / Symptomenkomplexen, Lösungsvorstellungen (bei Erstkonsultation detailliert erfragen, bei Folgenkonsultationen weiter verfeinern und differenzieren) •• Allgemeine Fragen zum jetzigen Leiden / aktuellen Symptom / Symptomenkomplex
Präambel Die Anamnese hat bereits beim Erfragen des aktuellen Konsultationsanlasses mit den Konsultationselementen Konsultationsgrund erfragen – Auslegeordnung verschiedener Konsultationsgründe, Prioritäten setzen und Ziel und Auftrag der Konsultation klären (2.3, 2.4 und 2.5) begonnen und wird nun, wo sinnvoll und nötig, hier unter Anamnese erheben, weiter vertieft. Anamnese, Untersuchung, »Beurteilung« und Behandlung sind inhaltlich logische Sequenzen eines ganzheitlichen Prozesses. Sie fließen in Form interagierender Feedbackloops ineinander und beeinflussen sich kontinuierlich gegenseitig. Sie sind nicht klar gegeneinander abgrenzbar und isolierbar. Das Interesse des Patienten ist in erster Linie auf die Heilung vom Symptom respektive auf die Lösung des Problems ausgerichtet. Das Interesse des Arztes fokussiert auf die »Beurteilung« und das Verständnis des Problems / Symptoms als Brücke zum therapeutischen Handeln. Entsprechend oszillieren diese Elemente im Gespräch zwischen Arzt und Patient. Der Arzt macht sich bereits beim ersten Eindruck über den Patienten, sicher aber ab Beginn der Anamnese differentialdiagnostische Gedanken zur Situation des Patienten. Diese Überlegungen lenken seine Fragen. Die Antworten des Patienten beeinflussen wiederum die weiteren Überlegungen und Fragen des Arztes. Mit Hilfe dieser Feedbackloops nähert sich der Arzt an eine zu 80 bis 90 % tragfähige medizinisch-technische und psychosoziale »Beurteilung« der persönlichen Situation des Patienten. An den so erlangten differentialdiagnostischen medizinisch-technischen und kontextuellen Erkenntnissen orientiert sich der Arzt bei seinem Vorschlag für den medizinisch-technischen Untersuchungsgang. Anhand der Resultate steuert der Arzt das weitere Vorgehen. Entweder stellt er dem Patienten nochmals weitere anamnestische Fragen oder Arzt und Patient schreiten zu weiteren Untersuchungen. Sobald der Arzt und der Patient aufgrund der so erlangten Erkenntnisse eine genügend tragfähige
Erweiterte inhaltliche Beschreibung des Ablaufs / Prozesses
67
Die bisher erlangten Informationen aus den vorbereitenden, zieldefinierenden und lösungsorientierten Klärungen zum Zustandekommen der Konsultation, zum Ziel der Konsultation und zur Priorisierung von gegebenenfalls mehreren Anliegen (2.3, 2.4, 2.5) vertieft sich der Arzt in die Anamnese der einzelnen Symptome, Probleme und Anliegen. Gleichzeitig widmet er sich den Erwartungen des Patienten in Richtung einer Lösung. Mit einer sorgfältigen Anamnese kann der Arzt die Situation des Patienten – medizinisch-technisch, differentialdiagnostisch sowie kontextuell, psychosozial, systemisch-lösungsorientiert – umfassend erfassen. Er kann zusammen mit dem Patienten eine differenzierte gemeinsame Wirklichkeitskonstruktion schaffen, als Ausgangslage für nächste Schritte auf dem Weg in eine brauchbare Lösungsrichtung. Mit den Informationen aus der Anamnese kann er seine Diagnosen zu 80 bis 90 % erstellen und die nötigen Zusatzuntersuchungen situations- und personenbezogen, gezielt und rationell organisieren. Der Arzt eröffnet die Anamnese mit einer offenen Frage. Er lässt den Patienten frei erzählen, hört ihm aufmerksam zu, hört sich in dessen Geschichte hinein. Zu gegebenem Zeitpunkt oder wenn der Patient ins Stocken gerät, fasst der Arzt die Aussagen des Patienten zusammen. Damit erreicht er mehrere Ziele gleichzeitig. Der Arzt selbst vernimmt zusätzlich zu den geschilderten Beschwerden das authentisch geschilderte, ganz persönliche Krankheitserleben des Patienten hinter dem Symptom / Problem. Der Patient erhält die Möglichkeit zu hören, was der Arzt von seinen Darstellungen aufnimmt und versteht. Wo nötig, kann er seine Aussagen korrigieren und ergänzen. Durch seine Zusammenfassung portioniert der Arzt die Narration des Patienten. Lange, komplexe oder gar chaotische Geschichten erhalten dadurch, für den Arzt und Patienten, mehr Struktur und Orientierung. Das Hören der Nacherzählung seiner Geschichte mit den anderen Worten des Arztes ermöglicht dem Patienten eine Außensicht. Dadurch können Bewegung und Handlungsbefähigung in seine möglicherweise lähmende emotionale Betroffenheit kommen. Alle diese Elemente fördern die Arzt-Patient-Beziehung und das gegenseitige Vertrauen. Beide sind wichtige Bausteine für eine erfolgreiche und lösungsorientierte Behandlung.
Schritt 3
»Beurteilung« / Arbeitshypothese erstellen konnten, planen sie ihr therapeutisches Handeln in Richtung des Behandlungsziels. Aus dem Verlauf dieses therapeutischen Handelns und der gemeinsamen Evaluation des Erreichten ersehen der Arzt und der Patient, ob sie sich in die gewünschte Richtung bewegen. Je nach Situation können sie, wie bei einer Spirale, weitere Feedbackloops folgen lassen.
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Schritt 3: Anamnese erheben zu den einzelnen Problemen
Im Nachgang zu diesem offenen, personenbezogenen Einstieg wird der Arzt die Anamnese durch ein schematisches Vorgehen in die Breite und Tiefe medizinisch-diagnostisch relevanter Dimensionen ergänzen. Das Schema geht jedoch über die rein medizinische Dimension hinaus. Die systemisch-lösungsorientierte Anamnese fokussiert mit ihren Fragen auf den Patienten als »Träger des Symptoms«, der mit seiner Situation, seinen Eigenarten und Fähigkeiten sowie mit seinem sozialen Umfeld komplex-adaptiv (siehe thematischer Schwerpunkt 2: Einführung in die komplex-adaptive Systemtheorie) interagiert. Dementsprechend integriert der Arzt kontinuierlich auch Fragen zu bio-psycho-sozialen – persönlichen, ideellen, sozialen und lebenskontextuellen – Aspekten des Patienten. Er erörtert die Vorstellungen (ideas), Beunruhigungen und Befürchtungen (concerns), die sich der Patient über mögliche Ursachen, Auswirkungen, Beeinflussungen und Lösungen seines Symptomenkreises oder seiner Situation macht. Er interessiert sich dafür, was der Patient bereits selbst unternommen hat, was er vom Arzt erwartet (expectations) und welchen Auftrag (mandate) er im Einvernehmen mit dem Patienten übernehmen soll. Er bezieht die Wirklichkeitskonstruktion des Patienten – wie er die Dinge sieht, die Bedeutung (meaning), die er ihnen zumisst, und dessen Wertesysteme mit ein. Dies geschieht vielleicht eher erst in einer Folgekonsultation. Alle diese Elemente können Teile für die Entwicklung der Symptome oder, umgekehrt, Folgen und Auswirkungen aus diesen sein, oft gar Teil einer Lösung. Dem Arzt und dem Patienten können sie Hinweise geben, was die Situation zum Problem macht, warum gerade diese Person hauptsächlich aus dem Gleichgewicht geraten ist und nicht eine andere beteiligte Person. Und sie können auch aufzeigen, inwiefern das Vorhandensein eines Patienten mit seinem Symptom unter Umständen stabilisierend auf ein schwieriges Lebenssystem wirkt. Gleichzeitig führt dieses Anamnesegespräch den Patienten zu Reflexionen über sein Problemverständnis respektive seine Problemkonstruktion, seine Ziele, Lösungswege sowie über mögliche eigene und in seinem Umfeld mobilisierbare Ressourcen. Allen diesen Aspekten Raum zu geben und sie, wo angezeigt, mit einzubeziehen ist fester Bestandteil eines systemisch-lösungsorientierten therapeutischen Prozesses. Die Vorgehensweise innerhalb des dargestellten Schemas ist nicht linear. Der Arzt leitet das Anamnesegespräch entlang der Kommunikationslinie, die sich aus der Interaktion zwischen ihm und dem Patienten ergibt. Dabei pendelt er sinngemäß zwischen den für eine medizinisch-technische Diagnose und den für die lebensphilosophische und psychosoziale Einbettung der Problemsituation relevanten Fragen.
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Konkret gesagt: Der Arzt ist in dreifacher Mission und mit unterschiedlichen »Ohren« (vgl. Schultz von Thun, 2001) unterwegs. Mit seinem medizinisch-technischen geschulten »Ohr« hört er nach Zeichen, die zu einer differentialdiagnostischen Palette von Krankheitsmöglichkeiten (disease) führen als Ausgangslage für weitere evidenzbasierte Abklärungsschritte zum Erlangen einer klaren medizinischen Diagnose mit etablierten Therapiemöglichkeiten. Dies erwartet auch der Patient von ihm. Mit einem weiteren »Ohr« horcht der Arzt nach lebensphilosophischen und bio-psycho-sozialen Zusammenhängen im Lebenskontext des Patienten, in deren Rahmen sich das Symptom / Problem und das individuelle Krankheitserleben entwickelt haben. Diese zu erkennen und zu integrieren ist, vor allem in komplexen Krankheitssituationen, wichtig für die oft zahlreichen Schritte eines langwierigen Therapieprozesses. Mit dem dritten Ohr erfasst er die Erwartungen des Patienten in Richtung einer Lösung und Hinweise auf lösungsorientierte Ressourcen. Wie bereits bei der Priorisierung gewichtet der Arzt seine Fragestellung auch bei der Anamnese nach klinischer Dringlichkeit. Zum Beispiel wird er bei Verdacht auf einen Herzinfarkt gezielt nach vital bedrohlichen biologischen Symptomen fragen. Bei einem schon längere Zeit andauernden unklaren Brustschmerz mit Schlafstörungen oder bei vegetativen Erschöpfungssymptomen wird er hingegen psychosoziale Aspekte mehr gewichten und frühzeitig mit einbeziehen. Bei einem Patienten mit einem akuten fieberhaften Infekt wird er sich vorwiegend den biologischen Aspekten widmen. Bei einer Patientin hingegen, die immer wieder wegen unklarer diffuser Krankheitssymptome in die Konsultation kommt und Kurz-Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen braucht, ist ein frühzeitiges umfassendes systemisch-lösungsorientiertes Prozedere zweifellos angebracht. Die Kunst des Arztes liegt darin, das Gespräch so zu führen, dass seine Fragen das Thema kontinuierlich, im bio-psycho-sozialen Sinn und auf Lösungen hin fokussiert umkreisen. Mit ihnen will er den Patienten zu einem umfassenden, über das vordergründige Symptom hinaus gehenden, reflektierenden Prozess über seine gesamte Situation anregen. Er gibt dem Patienten Raum, detailliert über sein Symptom / Problem / Anliegen und seine Situation zu erzählen, seine persönliche Betroffenheit auszudrücken und eine innere Orientierung zu finden – alles Voraussetzungen für eine personen- und lösungsorientierte Therapie. Anlässlich der Erstkonsultation kann der Arzt, in der Regel aus Zeitgründen, vielleicht nicht alle nötigen Fragen stellen. Er beschränkt sich auf das für den aktuellen Konsultationsanlass prioritär Sinnvolle und Nötige. Das Fehlende kann er in Folgekonsultationen nachholen. Der Arzt wird dieses Vorgehen mit dem Patienten offen besprechen und ihm gleichzeitig anbieten, jetzt noch zu sagen, was ihm wichtig ist und was er bisher noch nicht sagen konnte.
Schritt 3
Erweiterte inhaltliche Beschreibung des Ablaufs / Prozesses
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Schritt 3: Anamnese erheben zu den einzelnen Problemen
Praktisches Vorgehen 3.1 Jetziges Leiden und aktuelle Symptome in ihren 7 Dimensionen9 erfragen 1. Lokalisation und Ausstrahlung 2. Qualität 3. Zeitliches Auftreten 4. Schweregrad 5. Verstärkung / Abschwächung 6. Begleitsymptome 7. Grad der Behinderung
Was angestrebt wird Das Symptom / Problem aus der Wahrnehmung des Patienten verstehen. Schwerpunktmäßig biologisch ausgerichtete Reflexion der Patientenaussagen auf dem Hintergrund des ärztlichen medizinisch-wissenschaftlichen Modells. Wie Sie vorgehen können ▶▶ Stellen Sie möglichst offene Fragen. ▶▶ Hören Sie den Schilderungen des Patienten empathisch zu und fassen Sie
diese zusammen.
▶▶ Stellen Sie konkretisierende / präzisierende Fragen nach Details von mögli-
cherweise medizinischer Relevanz.
Fragenbeispiele •• Damit ich Ihr Symptom / Problem medizinisch besser verstehen und einordnen kann, stelle ich Ihnen nun eine ganze Reihe von Fragen zu Ihrem Symptom / Problem, zu dessen Auswirkungen und zu Situationen, die es beeinflussen und die es wiederum selbst beeinflusst.
9 Je nach Schule sind die 7 Dimensionen etwas unterschiedlich: Skript Psysoma, Bern: 1. Zeitliches Auftreten, 2. Qualität, 3. Intensität, 4. Lokalisation und Ausstrahlung, 5. Begleitzeichen, 6. Intensivierende / Lindernde Faktoren, 7. Umstände. – Uni Tübingen: 1. Lokalisation und Ausstrahlung, 2. Qualität, 3. Schweregrad, 4. Zeitliches Auftreten, 5. Auslösende Faktoren, 6. Begleitsymptomatik, 7. Grad der Behinderung.
Praktisches Vorgehen
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1. Lokalisation und Ausstrahlung
•• Wo spüren Sie das Symptom? •• Strahlt das Symptom an eine andere Körperstelle aus? •• Können Sie mir den Ort / die Orte Ihrer Schmerzen auf dieser Körperskizze einzeichnen? 2. Qualität
3. Zeitliches Auftreten
•• •• •• •• •• •• •• ••
Wann haben Sie das Symptom erstmals bemerkt? In welcher Weise hat es sich gezeigt? (plötzlich, allmählich, zunehmend, etc. …) Wie hat sich das Symptom entwickelt? Wie war es vor dem Beginn des Symptoms? Wann tritt das Symptom auf? Wann nicht? Gibt es tageszeitliche Unterschiede, wann das Symptom auftritt? Welche? Kennen Sie Hinweise darauf, dass das Symptom bald auftreten wird? Welche? Kennen Sie Hinweise darauf, dass das Symptom bald verschwinden wird? Welche? •• War das Symptom zwischenzeitlich auch wieder weg? Unter welchen Umständen? •• Wie lange dauert das von Ihnen als Problem bezeichnete Symptom üblicherweise an? •• Wie lange dauert üblicherweise die Zeit, in der das Symptom nicht spürbar ist? 4. Schweregrad
•• Wie intensiv nehmen Sie das Symptom wahr? •• Wenn Sie sich eine analoge Skala von 0–10 vorstellen, wobei 0 gut und 10 ganz schlecht ist: Auf welcher Stufe befinden Sie sich im Moment? •• Welche Vergleichsmöglichkeit haben Sie für die Intensität Ihres Schmerzes? 5. Verstärkung / Abschwächung (im mechanisch-funktionellen Sinn)
•• Gibt es Situationen, in denen das Problem stärker auftritt oder weniger stark? Welche?
Schritt 3
•• Können Sie mir beschreiben, wie Sie das Symptom wahrnehmen? •• Wie ist der Schmerz? Zum Beispiel: dumpf, stechend, brennend, bis zur Unerträglichkeit ansteigend und dann wieder in sich zusammenfallend (kolikartig) …? •• Wie ist der Schwindel? Zum Beispiel: drehend, schwankend oder ist es ein unstabiles Bodengefühl …?
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Schritt 3: Anamnese erheben zu den einzelnen Problemen
•• •• •• ••
Was verstärkt das Symptom? Was schwächt das Symptom ab? Gibt es Tätigkeiten, die das Symptom verstärken oder abschwächen? Welche? Gibt es Körperstellungen oder Bewegungen, die das Symptom verändern? Welche? Gab es irgendwann in den letzten Tagen, Wochen oder Monaten Ausnahmen, in denen die Situation vielleicht nur ganz minimal oder für ganz kurze Zeit besser war? Welche? Was haben Sie in dieser Situation gemacht, was Sie sonst nicht taten? Was haben Sie nicht gemacht, was Sie sonst immer getan haben? Was müssten Sie machen, um auf der Schmerzskala einen Punkt höher / tiefer zu kommen?
••
•• •• ••
6. Begleitsymptome
•• Gibt es andere, zusätzliche Symptome? Welche? •• Haben Sie zusätzlich Fieber, Nachtschweiß, Müdigkeit oder eine ungewollte Gewichtsveränderung, nach oben oder unten (B-Symptome)? •• Welche Emotionen begleiten Ihr Symptom, zum Beispiel wenn es besonders stark auftritt? •• Gibt es spezielle Auswirkungen, die Sie im Zusammenhang mit Ihrem Symptom erleben? Zum Beispiel auf den Schlaf, Energie, Stimmung, Unternehmungsgeist, auf Lust, Freude, Sexualität, gesellschaftliches Verhalten, Rauchen, Alkoholkonsum, Sport …? 7. Grad der Behinderung
•• Was können Sie wegen Ihres Symptoms in Ihrem persönlichen Alltag nicht mehr oder nur mit Schwierigkeiten tun? •• Was tun Sie wegen Ihres Symptoms anders als vorher? •• Wie verändert das Symptom Ihr gesamtes Befinden? •• Wie beeinflusst Ihr Symptom ȤȤ Ihre geistige Regsamkeit? ȤȤ Stimmungslage? ȤȤ Ihre körperliche Aktivität? ȤȤ Ihre Freizeitaktivitäten? ȤȤ Ihr Ausgehverhalten? ȤȤ Ihre sexuelle Aktivität? •• Wie wirkt sich das Symptom auf Ihren Bewegungsradius aus? •• Inwiefern wirkt sich Ihr Symptom auf Ihre familiären / gesellschaftlichen / beruflichen Tätigkeiten aus?
Erweiterte inhaltliche Beschreibung des Ablaufs / Prozesses
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Erweiterte inhaltliche Beschreibung des Ablaufs / Prozesses
Dies ist das Kernstück jeder Konsultation. Arzt und Patient landen in jedem Fall beim »jetzigen Leiden«. Bei sogenannten »schnellen« oder »einfachen« kurzen Konsultationen (s. Kapitel »Inhalt und Handhabung dieses Buches«), etwa bei dringenden Konsultationen wegen Erkältungssymptomen mit Fieber während der Grippezeit, kann der Arzt direkt beim »jetzigen Leiden« einsteigen mit Fragen zum aktuellen Symptom / Problem, das eng mit dem Konsultationsgrund verbunden ist. Alle weiteren, Beziehung aufbauenden und klärenden Schritte überprüft er in seiner Vorbereitung und integriert sie – eher nonverbal und durch eine zugewandte interessierte Haltung – in diesen Konsultationsschritt. Dieses Schnellverfahren entspricht einer häufigen Praxisrealität. In vielen Situationen kann dies mit Blick auf die Behandlungsqualität durchaus genügen. Wichtig ist, dass der Patient darauf vorbereitet ist. Bereits bei der telefonischen Anmeldung hat die Praxisassistentin mit dem Patienten geklärt, dass er heute ausschließlich für dieses, am Telefon erwähnte Problem notfallmäßig in die Konsultation kommen kann. Auch der Arzt klärt mit dem Patienten, dass sie sich aus Zeitgründen jetzt nur genau mit diesem Symptom / Problem befassen können. Und er bietet dem Patienten an, dass er, falls weitere Themen anstehen, bei der Praxisassistentin einen neuen Konsultationstermin mit entsprechendem Zeitbudget vereinbaren kann. Bei komplexen, systemisch-lösungsorientierten Konsultationen dürften Arzt und Patient die bisherigen Schritte sehr sorgfältig durchlaufen und mehr Zeit dafür aufgewendet haben. Auch da muss es nicht immer viel Zeit sein. Maßgebend ist nicht die messbare Dauer der Zeit. Entscheidend ist die »gefühlte« Zeit, die Wahrnehmung des Patienten, situationsgerecht genügend Zeit zu erhalten, um sein Anliegen vorzubringen und verstanden zu werden.
Schritt 3
3.1 Jetziges Leiden und aktuelle Symptome in ihren 7 Dimensionen erfragen 1. Lokalisation und Ausstrahlung 2. Qualität 3. Zeitliches Auftreten 4. Schweregrad 5. Verstärkung / Abschwächung 6. Begleitsymptome 7. Grad der Behinderung
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Schritt 3: Anamnese erheben zu den einzelnen Problemen
Diese ergibt sich aus dem Präsentsein des Arztes und seinem personenzentrierten Vorgehen. Der Arzt erfährt mit seinen systematischen, detaillierten und vertiefenden Fragen zum aktuellen Symptom / Problem respektive Symptomenkomplex weitere wichtige Informationen zum Erstellen einer medizinisch-technischen, biologischen Diagnose und für den weiteren medizinischen Abklärungs- und Therapieplan. Mit ihnen kann er beispielsweise recht genau unterscheiden, ob ein Flankenschmerz eher muskuloskelettaler oder intestinaler Art sein dürfte. Oder ob für einen Beinschmerz eher eine orthopädische, rheumatologische, neurologische, vertebragene oder vaskuläre Ursache vorliegen dürfte. Die medizinisch-technisch orientierten Fragen nach den 7 Dimensionen eines Symptoms gestaltet der Arzt angepasst an die unterschiedlichen Symptome, Probleme oder Anliegen. Sie sind sehr unterschiedlich und fachspezifisch geprägt und oft nicht an ein spezifisches Organ gebunden. Denken wir beispielsweise an Schmerz, Angst, Schlafstörungen, übermäßiges Schwitzen oder Atemnot. Entsprechend betrachten wir hier lediglich das Prinzip des lösungsorientierten Fragenstellens. Falls sich bei diesem Fragenkomplex kein kohärentes Gesamtbild für eine spezifisch fassbare Krankheit ergibt, kann dies ein Hinweis sein, dass eine psychosomatische / somatoforme Störung vorliegen könnte. Bei allen 7 Dimensionen kann der Arzt dem Patienten zudem gezielt Fragen stellen, die ihn über die psychosozialen und kontextuellen Zusammenhänge seines Symptoms oder Problems und über mögliche Lösungsansätze nachdenken lassen. 1. Lokalisation und Ausstrahlung
Der Ort, an dem sich ein Symptom manifestiert, ist meistens ein wichtiger Hinweis auf das betroffene Organ. Ein Schmerz am gleichen Ort kann jedoch durch unterschiedliche Organe verursacht sein; zum Beispiel im mittleren Oberbauch durch eine Störung des Magens oder des Herzens. Und es ist möglich, dass der Schmerzort einer Ausstrahlungszone entspricht. Ein Knieschmerz kann zum Beispiel durch eine Hüftgelenksarthrose verursacht sein, ein Schmerz im linken oberen Rückenbereich durch ein Pankreaskarzinom. In bestimmten Situationen kann der Arzt den Patienten die Schmerzlokalisationen auf einer Körperskizze einzeichnen lassen. 2. Qualität
Die Qualität des Schmerzes kann dumpf, stechend, brennend, kolikartig oder ein Dauerschmerz etc. sein. Müdigkeit kann beispielsweise mehr einen müden Kopf oder matten Körper bedeuten und mit oder ohne Schläfrigkeit einher-
Erweiterte inhaltliche Beschreibung des Ablaufs / Prozesses
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gehen. Schwindel kann drehend, schwankend oder einfach als Unsicherheit wahrgenommen werden. Die Qualität kann Hinweise geben, wo das Symptom entsteht, ob eher im muskuloskelettalen Bereich, im Körperinnern, im Nervensystem oder in spezifischen Organen.
Symptome treten manchmal mit einem zeitlichen »Fahrplan« auf. Ein morgendlicher Nüchternschmerz in der Magengengegend ist zum Beispiel verdächtig für ein Zwölffingerdarmgeschwür. Müdigkeit schon am Morgen kann Hinweis auf eine depressive Verstimmung sein. Auch die zeitliche Entwicklung beinhaltet einen diagnostischen Wert. Ein akut, innerhalb von Stunden aufgetretener Bauchschmerz entspricht eher einem entzündlichen oder infektiösen Leiden oder einer Passagestörung im Magen-Darm-Trakt, während sich langsam entwickelnde Schmerzen eher auf eine breitere Palette von möglichen Ursachen hinweisen, von funktionellen Störung bis hin zu einem Tumorleiden im Bauchraum. 4. Schweregrad
Symptome sind subjektive Geschehen beim Patienten. Die Schilderung ihres Schweregrads ist mit der Persönlichkeit des Patienten verknüpft. In vielen Fällen ist es nicht möglich, diesen zu messen oder nachzuvollziehen. Oft kann selbst das Symptom an sich nicht mit klinischen Befunden und / oder Messungen objektiviert werden. Denken wir an Kopfschmerzen, Müdigkeit, Brustoder manchmal auch Bauchschmerzen – die für den Patienten realen Wahrnehmungen bleiben in diesen Fällen für den Arzt virtuelle Geschehen. Er muss den Schilderungen des Patienten glauben. Die gemeinsame Realität von Patient und Arzt baut dann einzig auf gegenseitigem Vertrauen. Die visuell-analoge Skala zwischen 0–10 erlaubt eine Annäherung an den Schweregrad einer Beschwerde. Auch diese ist nicht objektiv. Verschiedene Patienten würden den »gleichen« Schweregrad eines Symptoms unterschiedlich gradieren. Trotzdem gibt sie dem Arzt einen prozessrelevanten Hinweis, wie intensiv der individuelle Patient sein Symptom erlebt. Auch lassen sich Veränderungen im Verlauf eines Krankheitsprozesses visualisieren; etwa die Schmerzintensität im Rahmen von therapeutischen Maßnahmen. Und der Patient kann seinen Leidensdruck darstellen. In der Art, wie der Patient die Intensität seines Symptoms beschreibt, erfährt der Arzt Hinweise auf dessen Persönlichkeitsstruktur. Ängstlich-sensible Personen äußern sich anders als unerschrockene; schmerzempfindliche klagende anders als inerte. Bei beiden Extremen ist sich der Arzt bewusst, dass er besonders aufmerksam sein muss, um möglicherweise dahinter liegende Risikosituationen nicht zu übersehen.
Schritt 3
3. Zeitliches Auftreten
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Schritt 3: Anamnese erheben zu den einzelnen Problemen
5. Verstärkung / Abschwächung (im mechanisch-funktionellen Sinn)
Symptome schwanken normalerweise in ihrer Intensität. Ein Rückenschmerz beispielsweise kann durch Liegen oder Gehen abgeschwächt, durch Bücken und Sitzen verstärkt werden. Hüftschmerzen können beim Anlaufen stark sein und durch Gehen gemildert werden. Beinschmerzen können vielleicht erst nach einer gewissen Gehstrecke auftreten, bergauf oder bergab stärker sein als umgekehrt. Oder sie lassen sich durch Anhalten und Bücken oder Sich-Hocken rasch, jedoch nur vorübergehend, unterbrechen – als Hinweis auf eine Verengung in den Blutgefäßen oder im Rückenmarkskanal. Falls der Patient sie als immer gleich schildert, muss der Arzt in Betracht ziehen, dass das Symptom psychosomatischer / somatoformer Natur sein könnte. Dieser Bereich der 7 Dimensionen meint vor allem mechanisch- funktionelle Zusammenhänge. Er eröffnet dem Arzt jedoch eine ausgezeichnete Möglichkeit, den Patienten – auf das vorgebrachte Symptom bezogen – über psychosoziale und kontextuelle Zusammenhänge nachdenken zu lassen. Zahlreiche Symptome können durch gewisse Situationen, Herausforderungen, Expositionen oder Begegnungen, manchmal schon durch bloße Erwartungen verstärkt oder abgeschwächt werden; zum Beispiel Kopfschmerzen oder Schlafstörungen im Rahmen einer schwierigen Aufgabe, Bauchschmerzen oder Angst im Hinblick auf eine Präsentation vor Zuhörern, Schwitzen und Zittern bei oder bereits vor der erwarteten Begegnung mit einer Vorgesetztenperson; Verbesserung der Symptome bereits nach der Anmeldung beim Arzt. Diese Zusammenhänge des Problems zu erkennen, zu benennen und zur reflektieren, kann wichtige Hinweise auf Lösungsmöglichkeiten aufzeigen. 6. Begleitsymptome
Mit der Frage nach Begleitsymptomen kann der Arzt Hinweise erhalten, ob das Symptom des Patienten im Rahmen eines übergeordneten Symptomenkomplexes zu verstehen sei, zum Beispiel Kopfschmerzen mit gleichzeitigen Gliederschmerzen, Husten, Schnupfen und Fieber dürften ein starker Hinweis auf einen viralen Infekt sein. Müdigkeit, kombiniert mit ungewolltem Gewichtsverlust und Nachtschweiß als Begleitsymptome, dürfte ein Hinweis auf eine ernsthafte Krankheit sein wie ein chronisch entzündliches oder infektiöses Geschehen oder eine Tumorkrankheit. Jedes der Symptome, falls es einzeln aufträte, würde die Zahl möglicher Diagnosen stark erweitern. Auch hier wird der personenzentriert und lösungsorientiert denkende Arzt, über die somatischen Erscheinungen hinaus, nach emotionalen und psychosozialen Begleiterscheinungen fragen.
Erweiterte inhaltliche Beschreibung des Ablaufs / Prozesses
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Mit der Frage nach mit dem Symptom verbundenen körperlich-funktionellen Behinderungen, aber auch nach emotionalen und psychosozialen Beeinträchtigungen erfährt der Arzt wichtige Informationen zur Dringlichkeit des weiteren Vorgehens. Darüber hinaus kann er in diesem Themenbereich viel erfahren über die Problem- und Wirklichkeitskonstruktion des Patienten. Zudem ergibt sich hier eine sehr gute Möglichkeit, Lösungsvorstellungen konkret und messbar auszuloten. Bei fehlender oder minimaler Behinderung kann es dem Patienten genügen, dass der Arzt das Symptom zur Kenntnis nimmt und dem Patienten Möglichkeiten aufzeigt, woher es kommen und wohin es sich entwickeln könnte. Beobachten und Zuwarten dürfte in diesem Fall die gemeinsame Entscheidung sein. Bei einer schweren Beeinträchtigung im Alltag dürften Abklärungs- und Behandlungsszenarien mit entsprechender Dringlichkeit eingeleitet werden. Diskrepanzen zwischen subjektiv erlebter und geäußerter Behinderung und klinischem Befund stellen für Arzt, Patient und Umfeld eine große Herausforderung dar; zum Beispiel Arbeitsunfähigkeit wegen chronischer Rückenschmerzen ohne klinisch erklärbare und radiologisch fassbare Pathologie an der Wirbelsäule.
Schritt 3
7. Grad der Behinderung
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Schritt 3: Anamnese erheben zu den einzelnen Problemen
Praktisches Vorgehen 3.2 Psychosozialen Kontext des Problems / Symptoms erfassen •• Lebenssituation •• Auswirkungen des Symptoms / Problems auf das aktuelle Lebens umfeld / die aktuelle Lebenssituation (Menschen, Beziehungen, private und gesellschaftliche Integration, Arbeitswelt und Leistung, materielle Sicherheit) •• Reaktion aus dem aktuellen Lebensumfeld auf das Symptom / Problem •• Auswirkung der Reaktion aus dem Lebensumfeld auf das Symptom / Problem
Was angestrebt wird Arzt und Patienten verstehen das Symptom / Problem im Zusammenhang mit dem jeweiligen Lebenskontext. Wie Sie vorgehen können ▶▶ Loten Sie die psychosozialen Wechselwirkungen mit dem Umfeld des Patien-
ten aus. ▶▶ Ermöglichen Sie dem Patienten erweiternde Perspektiven und stoßen Sie Reflexionen in Richtung von möglichen Lösungen an. ▶▶ Nutzen Sie dazu offene, zirkuläre sowie konkretisierende / präzisierende Fragen (siehe thematischer Schwerpunkt 5: Kunst des Fragens). Fragenbeispiele Es ist bekannt, dass jedes Symptom / Problem bedeutsame Wechselwirkungen mit dem Umfeld hat. Deshalb stelle ich Ihnen jetzt einige Fragen zu Ihrer aktuellen Lebenssituation. Diese betreffen Ihre Wohnsituation, Ihre Beziehungen zu Familie, Freunden, Ihre gesellschaftliche Vernetzung in Vereinen und in der Gemeinde, Ihre Arbeitswelt sowie Ihre materielle Situation. Mit welchem Stichwort würden Sie Ihre aktuelle Lebenssituation beschreiben?
•• Welches ist Ihre aktuelle Wohnsituation? •• Wie sind Sie sozial eingebettet und vernetzt? – Partnerschaft? Familie? Kinder? Freunde? Gesellschaftlich? Gemeinde? Vereine?
Praktisches Vorgehen
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•• Welches ist Ihre aktuelle Berufs- und Arbeitssituation? •• Welches ist Ihre wirtschaftliche Situation?
•• Was gibt es, was Sie wegen Ihres Symptoms nicht mehr tun können? •• Welches sind Dinge, die Sie tun sollten oder möchten und wegen Ihres Symptoms nicht tun können? •• Welches sind Dinge, die Sie tun sollten und nun wegen Ihres Symptoms nicht tun müssen? •• Denken Sie, dass es Dinge gibt, vor denen Sie Ihr Symptom schützt? Welche? •• Denken Sie, dass jemand in ihrem Lebensumfeld von Ihrem Problem mitbetroffen ist? Wer? •• Wer außer Ihnen weiß noch von Ihren Schwierigkeiten? •• Weiß Ihre Frau / Ihr Partner von Ihrem Symptom / Problem? Was sagt sie / er dazu? •• Haben Sie jemanden aus ihrer Familie über Ihr Symptom / Problem informiert? Wen? Weshalb gerade diese Person und nicht eine andere? •• Falls das Symptom / Problem plötzlich weg wäre, wer wäre am meisten überrascht davon? •• Was denken Sie, wie würde mir Ihre Ehefrau die Situation, das Symptom / Problem schildern? •• Was hat sich in Ihrer Familie verändert, als das Symptom / Problem begann? •• Können Sie mir eine Situation in Ihrem familiären Alltag beschreiben, die sich infolge Ihres Symptoms / Problems ergeben hat? •• Was hat sich in Ihren gesellschaftlichen Beziehungen verändert, als das Symptom / Problem begann? •• Können Sie mir Situationen beschreiben, wie sich Ihr Ihr Symptom / Pro blem im Umgang mit anderen Menschen auswirkt? •• Welche beruflichen Situationen gibt es, in denen sich Ihr Symptom / Pro blem auswirkt? •• Inwiefern verändert Ihr Symptom / Problem Ihre Situation in Ihrem beruflichen Umfeld? •• Woran erkennen Sie, dass sich Ihr Symptom / Problem auf Ihre berufliche Tätigkeit auswirkt? •• Welches konkrete Beispiel können Sie mir beschreiben? •• Haben Sie Ihre Firma über Ihr Symptom / Problem informiert? •• Wen aus ihrer Firma haben Sie über Ihr Symptom / Problem informiert? Weshalb gerade diese und nicht andere Personen?
Schritt 3
Welche Auswirkungen hat Ihr Symptom / Problem auf Ihr aktuelles Lebensumfeld / Ihre Lebenssituation?
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Schritt 3: Anamnese erheben zu den einzelnen Problemen
•• Wie würde ein völlig Unbeteiligter ihr Symptom / Problem schildern? •• Welche materiellen Probleme ergeben sich infolge Ihres Symptoms / Problems? •• Wie wirkt sich das Ihr Symptom / Problem aus im Hinblick auf ihre Pläne und Lebensziele? Welche Reaktionen aus Ihrem aktuellen Lebensumfeld gibt es auf Ihr Symptom / Problem?
•• Welche Reaktionen nehmen Sie in ihrer Umgebung wahr? •• Wer reagiert am meisten auf Ihr Symptom / Problem, auf das Problemverhalten, wer weniger? •• Wer hat es zuerst als Problem bezeichnet? •• Wie hat diese Person es gesagt? •• Welcher Art war die Reaktion? •• Wer reagiert heftiger, wer überhaupt nicht? •• Wen stört es, wen nicht? •• Welche Emotionen haben Sie festgestellt? •• Was ist positiv, das Sie aufgrund Ihrer Symptomatik erfahren? Was pro blematisch? •• Was denken Sie, woran würden die anderen erkennen, dass es Ihnen etwas besser / schlechter geht? •• Als Sie Ihr Symptom / Problem Ihrer Partnerin mitgeteilt haben, was genau hat sie gesagt? Wie war ihre Körperhaltung dabei? •• An welchen Reaktionen würden Sie erkennen, ob sich Ihr Symptom / Pro blem auf Ihre familiären Verpflichtungen auswirkt oder nicht? •• Woran erkennen Sie, dass Ihr Ehemann / Partner nicht einverstanden ist? •• Was denken Sie, würde Ihr Ehemann / Ihrer Tochter sagen, was in Ihrer Situation zu tun sei? •• Was denken Sie, welche Lösungsmöglichkeit Ihre Ehefrau / Ihre Kinder sähen? •• In der Konfliktsituation: Was genau hat Ihre Tochter gesagt und wie haben Sie reagiert? •• Erleben Sie Reaktionen aus Ihrem beruflichen Umfeld? Welche? •• Was denken Sie, welche Lösungsmöglichkeit Ihre Kollegen / Ihre beruflich Vorgesetzten sähen? •• Wie, denken Sie, redet man in Ihrem gesellschaftlichen / beruflichen Umfeld über Sie und Ihre Situation? •• Was empfinden Sie beim Gedanken daran, dass man über Sie in Ihrer jetzigen Situation sprechen könnte?
Praktisches Vorgehen
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•• Hat man Ihnen Ratschläge erteilt? Welcher Art? •• Wenn Sie sich selbst von außen betrachten, was würden Sie dieser Person raten, zu tun?
•• •• •• •• •• •• •• •• •• •• •• •• •• •• •• •• ••
Was aus Ihrem Umfeld hat Auswirkungen auf Ihren Zustand? Was tut Ihnen gut / nicht gut? Welche Reaktionen sind für Sie und Ihre Situation unterstützend? Welche Möglichkeiten gibt es Ihres Wissens in Ihrem Umfeld, die für Sie hilfreich sein könnten? Von was in Ihrer Umgebung hängt der Erfolg oder Misserfolg Ihrer Heilung noch ab? Welche Situationen beeinflussen das Symptom / Problem? Auf welche Weise? Kennen Sie Situationen, in denen das Symptom / Problem ganz sicher / sicher nicht auftritt? Beobachten Sie Situationen, in denen das Symptom / Problem verschwindet? Woran würde Ihr Lebenspartner merken, dass das Symptom / Problem gelöst ist? Welche persönlichen Begegnungen beeinflussen das Symptom / Problem? Auf welche Weise? Bei der Begegnung mit wem würde sich das Symptom / Problem vermutlich verstärken / abschwächen? Wie stellen Sie sich vor, müsste eine Begegnung sein, damit sich Ihr Symptom / Problem sicher einstellt? Im Zusammenhang mit welchen Personen oder Gruppen tritt das Symptom / Problem auf bzw. verstärkt / weniger / gar nicht auf? Gibt es Arbeitssituationen, die das Symptom / Problem beeinflussen? Zum Beispiel schwierige oder ungewohnte Aufgaben? Welche Herausforderungen beeinflussen das Symptom / Problem? Auf welche Weise? Welche Gedanken verändern das Symptom / Problem? Auf welche Weise? Wo haben Sie sich befunden, als das Symptom / Problem das letzte Mal besonders stark / schwach war?
Schritt 3
Welche Auswirkung haben die Reaktionen aus Ihrem Lebensumfeld auf Ihr Symptom / Problem?
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Schritt 3: Anamnese erheben zu den einzelnen Problemen
Erweiterte inhaltliche Beschreibung des Ablaufs / Prozesses 3.2 Psychosozialen Kontext des Problems / Symptoms erfassen •• Lebenssituation •• Auswirkungen des Symptoms / Problems auf das aktuelle Lebens umfeld / die aktuelle Lebenssituation (Menschen, Beziehungen, private und gesellschaftliche Integration, Arbeitswelt und Leistung, materielle Sicherheit) •• Reaktion aus dem aktuellen Lebensumfeld auf das Symptom / Problem •• Auswirkung der Reaktion aus dem Lebensumfeld auf das Symptom / Problem
Mit Kontext ist das gesamte Umfeld des Patienten gemeint. Dieses ist »objektiv« real vorhanden. Für das Krankheitsgeschehen ist jedoch das vom Patienten »subjektiv« erlebte Umfeld, das durch seine Erfahrungen, Ängste, Vermutungen und Beschönigungen individuell geprägt ist, relevant. Ein Krankheitsgeschehen findet immer in einem persönlichen, familiären, gesellschaftlichen, beruflichen, psychosozialen, ökonomischen Lebenskontext statt, in der Regel in unterschiedlichen Kontexten gleichzeitig. Das interaktive Geschehen in diesen Kontexten kann wichtig sein für die Entwicklung des Symptoms und daher Teil des Pro blems. Gleichzeitig kann es aber auch Ressource sein und damit Teil der Lösung. In jedem Fall haben Symptome und Probleme einer Person auch Auswirkungen auf das Geschehen in ihrer unmittelbaren und mittelbaren Umgebung und umgekehrt. Kontexte und Symptome bedingen und beeinflussen sich gegenseitig im Krankheits- und Heilungsverlauf. Der Arzt fragt den Patienten explizit nach diesem erweiterten Kontext, in dem sich sein Symptom / Problem in komplexer Wechselwirkung entwickelt hat und lösen kann, falls der Patient dies in seiner Narration nicht bereits erwähnt hat. Oder er vertieft seine Nachfrage, wo die kontextuellen Aspekte unklar bleiben. Mit geeigneten Fragen stößt der Arzt beim Patienten wichtige Reflexionen an. Viele Patienten sehen negative oder positive Einflüsse des Kontextes anfänglich einseitig und unidirektional vonseiten des Kontextes auf ihr Symptom / Problem. Die Auswirkung ihres Symptoms / Problems auf den Kontext wird ihnen oft erst mit den konkreten Fragen des Arztes bewusst. Der Arzt fragt den Patienten nach den persönlichen intrapersonellen Umständen, unter denen sich sein Problem oder sein Symptom entwickelt hat. Ein Mensch ist nicht zu jeder Zeit gleich anfällig, krank zu werden. Persönliche Lebensumstände und Befindlichkeiten spielen dabei eine bedeutende Rolle.
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Dies gilt für Probleme psychischer und physischer Art, sogar für Infektionen (Neuroimmunologie). Mit seinen kontextuellen und psychosozialen Fragen regt der Arzt den Patienten an, sein Symptom / Problem, seine Krankheit in den größeren Zusammenhang seines derzeitigen Befindens zu stellen. Damit lenkt er seine Gedanken auf sein Krankheitsverständnis und Krankheitserleben. Der Patient reflektiert, dass sein Symptom / Problem nicht etwas von ihm Losgelöstes ist, sondern ein integrierter Bestandteil seiner Person. Anders gesagt, »eine Krankheit (disease) zu haben« wird zum »krank sein« (illness). Mit der systemisch-lösungsorientierten Gesprächsführung betrachtet der Arzt zusammen mit dem Patienten jede Situation immer mit einem möglichst umfassenden, über die Person des Patienten hinausgehenden Blick. Er fragt nicht nur nach den persönlichen biologischen, funktionellen und psychologischen Effekten, sondern auch nach dem Kontext, in welchem das Symptom oder Problem stattfindet, und nach interpersonellen psychosozialen Aus- und Wechselwirkungen sowie beobachteten und erwarteten Verhaltensmustern des Patienten und seiner Umgebung. Dies ist eine wichtige Ausgangslage für den Krankheitsverlauf sowie einen ziel- und lösungsorientierten Abklärungs- und Therapieprozess.
Schritt 3
Erweiterte inhaltliche Beschreibung des Ablaufs / Prozesses
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Schritt 3: Anamnese erheben zu den einzelnen Problemen
Praktisches Vorgehen 3.3 Ideas, concerns, expectations (ICE)10, Auftrag und Bedeutung (meaning) erfragen •• Vorstellungen und Bedenken (ideas und concerns) •• Erwartungen (expectations) und Auftrag (mandate) auf –– medizinischer Ebene –– persönlicher Ebene –– Systemebene •• Bedeutung (meaning) •• »Schattensysteme« erfragen (Dr. Google, Meinungen aus dem Umfeld)
Was angestrebt wird Die Vorstellungen über das Symptom / Problem und welche Bedeutung der Patient ihm beimisst sowie die Bedenken und Sorgen, die ausgelöst werden, sind angesprochen und klar. Die Erwartungen und der Auftrag an den Arzt sind geklärt. Wie Sie vorgehen können ▶▶ Versuchen Sie mit gezielten Fragen zu verstehen, welche eigenen Vorstel-
lungen (ideas) der Patient sich über sein Symptom / Problem macht, welche Sorgen und Bedenken (concerns) es in ihm auslöst, welche Erwartungen (expectations) er hat, welchen Auftrag (mandate) er Ihnen erteilt und welche Bedeutung (meaning) er dem Symptom / Problem beimisst. ▶▶ Dabei interessieren Sie sich für die medizinischen Fragen, darüber hinaus aber auch für den ganz persönlichen Bereich und die Wechselwirkungen mit dem familiären, gesellschaftlichen und beruflichen Umfeld. ▶▶ Erkundigen Sie sich zudem nach äußeren Einflüssen, die die Wirklichkeitskonstruktion des Patienten, die Beziehung zwischen Arzt und Patient sowie ihre ziel- und lösungsorientierten Entscheide mit beeinflussen. ▶▶ Benutzen Sie offene, zirkuläre und konkretisierende / präzisierende Fragen.
10 Kissling, 2013.
Praktisches Vorgehen
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Fragenbeispiele •• Was ist Ihre ganz persönliche Vorstellung, was denken Sie: ȤȤ wie Ihr Symptom entstanden ist? ȤȤ wie Ihr Symptom bildhaft aussehen könnte? ȤȤ wo sich das Symptom in Ihrem Körper abspielt? ȤȤ wie Ihre Symptome miteinander zusammenhängen? ȤȤ was bei Ihrem Symptom genau vor sich geht? ȤȤ was hinter Ihrem Symptom steckt? ȤȤ wohin sich Ihr Symptom weiter entwickeln könnte? •• Welche Idee haben Sie, wie Ihr Symptom und Ihre aktuelle Situation zusammenhängen? •• Wenn Sie Ihr Symptom zeichnen oder malen möchten, wie sähe das Bild aus? •• Mit welcher Metapher würden Sie Ihr Symptom beschreiben? •• Welches wäre das Tier / die Pflanze / die Farbe, mit welchem / welcher Sie Ihr Symptom metaphorisch beschreiben könnten? •• Welche Sorgen und Bedenken löst das Symptom / Problem in Ihnen aus? •• Was denken Sie, könnte Ihnen infolge Ihres Symptoms / Problems jetzt und in Zukunft widerfahren? •• Was denken Sie, wie könnte sich Ihr Symptom / Problem auf Ihr weiteres Leben auswirken? •• Welche Befürchtungen haben Sie, wie sich Ihr Problem / Symptom auf Ihre persönliche aktuelle Lebenssituation, auf Ihre Familie / Ihr gesellschaftliches Umfeld / Ihren Beruf / Ihre Leistungsfähigkeit / Ihre wirtschaftliche Situation auswirken könnte? Erwartungen (expectations) und Auftrag (mandate) auf •• medizinischer Ebene •• persönlicher Ebene •• Systemebene
•• Was sollte durch eine erfolgreiche Behandlung Ihres Symptoms / Problems angestrebt werden in Bezug auf Ihre eigene Person / Ihre Familie / Ihr gesellschaftliches Umfeld / Ihren Beruf / Ihre wirtschaftliche Situation? •• Welche Erwartungen hat Ihr familiäres / gesellschaftliches / berufliches Umfeld nach Ihrer Meinung? •• Woran würden Sie selbst / Ihre Familie / Ihr gesellschaftliches / berufliches Umfeld erkennen, dass sich Ihre Situation in die gewünschte Richtung verändert?
Schritt 3
Vorstellungen und Bedenken (ideas und concerns)
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Schritt 3: Anamnese erheben zu den einzelnen Problemen
•• Was werden Sie bei einer Veränderung in die gewünschte Richtung tun, was Sie jetzt (noch) nicht tun? •• Was wäre anders? •• Was würden Sie tun, wenn das Symptom / Problem vorüber wäre? •• Wenn das Problem wie durch ein Wunder über Nacht gelöst wäre: An was würden Sie dies am Morgen danach als Erstes erkennen? •• Was würden Sie anders machen? •• Was würden Sie danach tun? •• Was würden Sie am meisten vermissen, wenn das Problem plötzlich gelöst wäre? •• Was darf sich auf gar keinen Fall ändern? •• Falls das Symptom / Problem gelöst wäre, welches Verhalten, das Sie beim Vorhandensein des Symptoms haben, würden Sie nicht mehr zeigen im Rahmen Ihrer eigenen Person / Ihrer Familie / Ihres gesellschaftlichen Umfelds / Ihres Berufs / Ihrer wirtschaftlichen Situation? •• Woran wird Ihr familiäres / gesellschaftliches / berufliches Umfeld erkennen, dass sich Ihr Symptom / Problem gelöst hat? •• Was haben Sie sich überlegt, wie sähe eine Abklärung aus, um den Kern Ihres Symptoms / Problems zu erfassen? •• Was haben Sie überlegt, wie sähen therapeutische Maßnahmen aus, die Ihr Symptom / Problem günstig beeinflussen könnten? •• Was denken Sie, müsste getan werden, um die Situation in eine gute Richtung zu bewegen? •• Gibt es gedankliche Vorstellungen oder Erwartungen, mit denen Sie das Symptom / Problem sozusagen heraufbeschwören / verbessern können? •• Wenn Sie eine Person kennen würden, die dieses Symptom / Problem völlig im Griff hätte: Wie würde sie Ihre Situation sehen und zu welchen Lösungsmöglichkeiten würde sie Ihnen raten? •• Was haben Sie mir als Aufgabe zugedacht? •• Was denken Sie, wie sähe meine Aufgabe für Ihren Lösungsweg aus? •• Was denken Sie, kann ich für Sie tun, um Sie auf einem Weg in die gewünschte Richtung zu unterstützen? •• Wie soll unsere Zusammenarbeit aussehen? •• Wie stellen Sie sich vor, könnten wir gemeinsam an der Lösung Ihres Problems arbeiten? •• An welchen Veränderungen werden Sie erkennen, dass wir in unserer Zusammenarbeit den richtigen Weg eingeschlagen haben? •• Haben Sie eine Vorstellung, wo Sie in einem (zwei, drei oder fünf) Jahr(en) stehen werden?
Praktisches Vorgehen
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Bedeutung (meaning)
•• Welche Bedeutung geben Sie Ihrem Symptom / Problem? •• Wie deuten Sie Ihr Symptom / Problem? •• Was vermuten Sie, welche (positive oder negative) Bedeutung hat Ihr Symp tom in Ihrer aktuellen Situation im Rahmen Ihrer eigenen Person / Ihrer Familie / Ihres gesellschaftlichen Umfelds / Ihres Berufs / Ihrer wirtschaftlichen Situation? •• Welchen Sinn geben Sie Ihrem Symptom / Problem in Ihrer aktuellen persönlichen / familiären / gesellschaftlichen / beruflichen / materiellen Situation? •• Was denken Sie, will Ihnen Ihr Symptom in Ihrer aktuellen Situation sagen? •• Was denken Sie, können Sie mit Ihrem Symptom lernen? •• Was wäre, falls Ihr Symptom nicht aufgetreten wäre?
Ich möchte Sie nun gern fragen, welche weiteren Personen oder Institutionen Sie vor / nach unserer Konsultation zu Ihrem Symptom / Problem zurate gezogen haben und welche weiterhin involviert sind. Ich denke dabei an private Personen inner- und außerhalb Ihres direkten Umfelds sowie an professionelle Institutionen: zum Beispiel Ärztinnen, Apotheken, medizinische Call-Center, Therapeuten, alternative Medizinerinnen, Naturheilärzte etc. Ich denke dabei auch an eigene Recherchen im Internet. •• Können Sie mir bitte sagen, wen Sie, außer mir, in Ihre Problemlösung einbezogen haben oder einzubeziehen gedenken? •• Welche Bedeutung haben diese Stellen für Sie? •• Welche Erwartungen verbinden Sie mit diesen Konsultationen und Informationen mit Blick auf eine Lösung Ihres Symptoms / Problems? •• Welche Erkenntnisse und Informationen haben Sie aus diesen Beratungen / Recherchen erhalten? •• Inwiefern waren die Auskünfte für Sie hilfreich? •• Inwiefern stimmt das, was Sie dort erfahren haben, mit unserer Analyse, Beurteilung und Vereinbarung überein? Inwiefern weicht es ab? •• Inwiefern stimmt das, was Sie dort erfahren haben, mit Ihrer persönlichen Vorstellung überein? Inwiefern weicht es ab? •• Was hat es in Ihnen ausgelöst? •• Bestehen diese therapeutischen / beratenden Kontakte weiter? In welcher Form? •• Wissen diese Stellen um unseren therapeutischen Kontakt? Inwiefern? •• Wie wirken sich diese Kontakte auf unsere Zusammenarbeit und unseren Lösungsprozess aus?
Schritt 3
Schattensysteme erfragen
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Schritt 3: Anamnese erheben zu den einzelnen Problemen
•• Was müsste für eine gute Zusammenarbeit unternommen werden? •• Wer außer Ihnen weiß von diesen mitsprechenden Personen oder Institutionen? •• Wie haben sich diese Personen dazu geäußert? •• Was stellen Sie sich vor, was würde Ihre Tochter / Ihr Sohn über das Mitsprechen dieser anderen Person / Institution sagen? •• Haben Sie im Internet nach Ihrem Symptom / Problem recherchiert? •• Zu welchem Resultat sind Sie gekommen? •• Welche Suchbegriffe haben Sie eingegeben?
Erweiterte inhaltliche Beschreibung des Ablaufs / Prozesses
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Erweiterte inhaltliche Beschreibung des Ablaufs / Prozesses
Im Interesse einer systemisch-lösungsorientierten Erweiterung der Anamnese sollte der Arzt die ganz persönliche Sichtweise des Patienten über das Geschehen, das zur Konsultation geführt hat, ausloten. Darin findet sich der Schüssel zu wichtigen Bausteinen, die das persönliche Krankheitserleben (illness) im Rahmen einer bestimmten Krankheit (disease) des Patienten prägen. Fragen zu Ideen und Vorstellungen (ideas) geben wichtige Hinweise auf die persönliche Wirklichkeitskonstruktion des Patienten, für sein individuelles Verständnis des Symptoms / Problems oder Anliegens. Der Patient kann sich äußern zu seinen Vorstellungen über die Entstehung seines Symptoms / Problems. Er kann seine Sicht über die anatomischen, funktionellen, psychischen und emotionalen Zusammenhänge schildern. Wichtig für Arzt und Patient sind die Informationen darüber, welche Bedenken und Befürchtungen (concerns) die Symptome beim Patienten auslösen. Zusammen mit den Vorstellungen formen sie die Erwartungen des Patienten in das Resultat der Konsultation, seine »innere Agenda«. Mit Fragen nach konkreten Erwartungen (expectations) des Patienten kann der Arzt die Agenda des Patienten mit seiner ärztlichen Agenda abgleichen. So können sie gemeinsame Lösungsansätze und Ziele definieren, um dann gemeinsam nächste Schritte in Richtung Lösung zu vereinbaren. Zudem gibt der Arzt dem Patienten die Gelegenheit, seine eigenen Gedanken zu weiteren Abklärungs- und Therapieschritten zu äußern. In der Regel betreffen die Befürchtungen und Erwartungen des Patienten mehrere Ebenen, namentlich seine medizinische Situation, seine persönliche
11 Kissling, 2013.
Schritt 3
3.3 Ideas, concerns, expectations (ICE)11, Auftrag und Bedeutung (meaning) erfragen •• Vorstellungen und Bedenken (ideas und concerns) •• Erwartungen (expectations) und Auftrag (mandate) auf –– medizinischer Ebene –– persönlicher Ebene –– Systemebene •• Bedeutung (meaning) •• »Schattensysteme« erfragen (Dr. Google, Meinungen aus dem Umfeld)
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Schritt 3: Anamnese erheben zu den einzelnen Problemen
Ebene im Spannungsfeld mit der Familie, Gesellschaft, Beruf und Arbeit sowie die Auswirkungen auf seine materielle Sicherheit. Auf dem Boden dieser eingehenden Klärung konkretisiert der Arzt seinen Auftrag (mandate), den er im Lösungsprozess wahrnehmen soll, und definiert die Verantwortlichkeiten von Arzt und Patient verbindlich. Mit Fragen nach der Bedeutung (meaning), die der Patient dem Symptom zumisst, erhält der Arzt wichtige Hinweise auf die Denkweise, das persönliche Betroffensein sowie den psychosozialen Kontext des Patienten. Beispiele: Ein Mann mit Kopfschmerzen seit einer Woche stellt sich vor, dass er einen Hirnschlag erleiden könnte. Der Arzt denkt, dass es sich um einen Spannungskopfschmerz mit Nackenmuskelverspannungen handelt. Nur wenn sie diese Diskrepanzen mithilfe der ICE-Fragen erfassen und eine gemeinsame Wirklichkeit erstellen, können sie die Situation des Patienten einvernehmlich, gradlinig, sach- und zielgerecht angehen. Ein fünfjähriger Junge, bei dem eine Leukämie diagnostiziert wurde, verweigert die lebensrettende Chemotherapie. Aus den Begriffen »Leukämie« und »weiße Blutkörperchen«, die »abgetötet« werden müssen, hatte er sich folgendes inneres Bild gemacht: Weiße »Leuen« (Löwen) sind in seinem Blut. Weiße Löwen sind seine Freunde und beschützen ihn. Freunde will er nicht töten. Nach der Klärung dieser Vorstellung ließ er die Therapie durchführen. Die Frage nach den Vorstellungen und Befürchtungen öffnet einen Blick auf die inneren Bilder des Patienten. Diese »innere Bilderwelt« kann weit entfernt von der medizinischen Vorstellung und Logik des Arztes liegen. Sie ist hauptsächlich verantwortlich für Abweichungen im Verständnis von Arzt und Patient. Der Patient hat in der Regel keine oder wenige Kenntnisse in Anatomie, Biochemie und Physiologie des menschlichen Körpers. Daher sind seine Vorstellungen, je nach Persönlichkeit, oft archaisch, mythisch, metaphorisch, mechanistisch oder wie auch immer geprägt. Entsprechend diesen inneren Bildern konstruiert der Patient seine eigene Wirklichkeit. Diese modifiziert sein persönliches Krankheitserleben. Und aus ihr heraus entwickelt er seine, aus medizinischer Sicht betrachtet, möglicherweise irrationalen, Erwartungen (expectations) hinsichtlich Ziel und Lösungen, Abklärungen und Behandlungen. Beim Arzt ist es in der Regel gerade umgekehrt. Bei ihm besteht das Risiko, dass er in seiner rein medizinisch-technisch und wissenschaftlich geprägten Wirklichkeit stecken bleibt und das Krankheitserleben des Patienten nicht genügend erfasst.
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Indem sich Arzt und Patient mit Hilfe der ICE-Fragen über alle diese mit dem Symptom vernetzten Punkte austauschen, können sie eine gemeinsame Wirklichkeit mit einer genügend tragfähigen Schnittfläche zwischen ihren unterschiedlichen Welten konstruieren. Das gemeinsame Verständnis fördert die Beziehung zwischen Arzt und Patient und damit das gegenseitige Vertrauen. Auf dieser Grundlage können sie die vorhandenen Vorstellungen, Befürchtungen und Erwartungen des Patienten sachgerecht, realistisch und personenzentriert klären. Sie können ein auf den Patienten zugeschnittenes, psychosoziales und zugleich medizinisch-technisch realistisches und überprüfbares Ziel definieren. Gemeinsam können sie angemessene Schritte in Richtung einer erreichbaren Lösung gehen. Sie können einen sinnvollen und angemessenen medizinisch-technischen Abklärungs- und Therapieprozess durchlaufen und parallel dazu an den psychosozialen Anteilen des Problems arbeiten. Sie können klar und verbindlich festlegen, welche Aufgaben und Verantwortlichkeiten dem Patienten und dem Arzt zuteilwerden. Und nicht zuletzt können sie die nötigen Ressourcen klären, die Geschwindigkeit des Prozesses festlegen und gegebenenfalls nötige Wegkorrekturen vornehmen. Die ICE-Fragen sind ein guter und einfacher Einstieg in die psychosoziale Medizin. Der Arzt kann sie in jeder Situation der Konsultation leicht einsetzen. Gerade auch dann, wenn er in komplexen oder völlig unklaren Situationen selbst ratlos wird und keinen geeigneten Weg sieht. Mit ihnen bezieht er den Patienten stark ein, lässt ihn seine Situation mit einer gewissen »eigenen Außensicht« betrachten. Oft wehrt sich der Patient anfänglich mit dem Hinweis, dass er in die Konsultation gekommen sei, da der Arzt der Spezialist sei, den er um Rat fragen will. Für seine Zurückhaltung mag auch eine gewisse Scham eine Rolle spielen, da er mit seinen Vorstellungen und Recherchen allenfalls völlig »danebenliegen« könnte. Der Arzt ermutigt den Patienten, dass nur er allein das Symptom erlebe und damit der einzige wahre Experte für sein Symptom / Problem sei; dass es für ihn als Arzt sehr wichtig sei zu erfahren, wie der Patient seine Situation aus persönlicher und nichtmedizinischer Sicht interpretiere. Danach äußert sich fast jeder Patient gern über seine persönlichen Vorstellungen, Befürchtungen und Erwartungen. Auch über die erweiterte Bedeutung des Problems haben sich die meisten Patienten bereits vor der Konsultation tiefgehende Gedanken gemacht. Der Arzt hört mit respektvoller Neugier und nichtwertender Haltung zu. Das Wissen um die manchmal sehr kunstvoll konstruierte innere Wirklichkeit steigert sein Verständnis für das Problem des Patienten. Erstaunlich ist, dass die ICE-Fragen die Situation in der Konsultation für den Patienten und den Arzt entspannen und auflockern können. Dies zeigt sich nicht selten in einem befreienden Lachen.
Schritt 3
Erweiterte inhaltliche Beschreibung des Ablaufs / Prozesses
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Schritt 3: Anamnese erheben zu den einzelnen Problemen
Die ICE-Fragen haben zudem eine positive Wirkung auf den Arzt, der sie anwendet. Dies zeigt eine wissenschaftliche Arbeit aus Saudi-Arabien (Al-Kha thami, 2013). Nach einer eintägigen Schulung in ICE arbeiteten die 25 teilnehmenden Ärzte patientenzentrierter und ihre Berufszufriedenheit ist angestiegen. Neben diesen mehr intrinsischen Gegebenheiten wird der Patient – bereits vor dem Arztbesuch, aber auch danach – häufig mit zusätzlichen Meinungen und Befürchtungen von außen konfrontiert. Sei es durch Besprechungen mit Personen aus seinem familiären oder beruflichen Umfeld, durch eine Beratung bei professionellen Institutionen, einem medizinischen Notfall-Call-Center oder dem Call-Center eines Versicherers12 – und nicht zuletzt durch eigene Recherchen im Internet. Allenfalls ist er bei verschiedenen Therapeuten / Therapeutinnen gleichzeitig in Behandlung. Der Patient kann mit solchen vor, neben oder nach der Konsultation eingeholten Einschätzungen durchaus richtig liegen. Er kann aber auch meilenweit von der Realität abdriften. Nach der Konsultation können konkordante Meinungen aus dem Umfeld den Therapieprozess günstig beeinflussen. Umgekehrt können diskordante Meinungen die Bemühungen torpedieren, ganz besonders dann, wenn sie nicht offengelegt sind. Dann sprechen wir von »Schattensystemen«. Dass sich der Patient über das Konsultationsgeschehen hinaus zusätzlich kundig machen und absichern will, ist mit Blick auf seine persönliche Betroffenheit und Verunsicherung verständlich. Er will nichts unversucht lassen, was ihm helfen kann. Manchmal ist das Resultat solcher Aktivitäten hilfreich. Der engagierte Patient kann auf eine Lösung stoßen, die in der Konsultation nicht aufkam. Der behandelnde Arzt kann etwas übersehen haben. Solche parallelen Aktivitäten sind jedoch dann ungeeignet oder können sogar schädlich werden, wenn sie im Geheimen ablaufen. Richtiggehend schlimm für den Patienten wird es dann, wenn verschiedene Therapeuten und Therapeutinnen, ohne voneinander zu wissen, gleichzeitig / parallel am Werk sind und wenn sich deren unkoordinierte Bemühungen gegenseitig bekämpfen. Der Arzt ist sich bewusst, dass der Patient mit großer Wahrscheinlichkeit vor der Konsultation nach seinem Symptom / Problem »gegoogelt« hat oder es nach der Konsultation tun wird. Er wird deshalb aktiv nach den gefundenen Informationen fragen. Dabei wird er oft feststellen, dass der Patient bei seinen Recherchen auf beängstigende »worst case«-Diagnosen gestoßen ist und gerade deswegen den Arzt aufsucht. Der Arzt wird auch aktiv nach »Schattensystemen« 12 Es gibt in der Schweiz Versicherungsmodelle mit Prämienermäßigung, bei denen sich der Patient verpflichtet, vor einem Arztbesuch das Call-Center des Versicherers anzurufen. Dieses erlaubt ihm dann den Arztbesuch und definiert die Anzahl der Konsultationen, bis eine erneute Anfrage nötig ist.
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Schritt 3
fragen und, wo vorhanden, Möglichkeiten einer konstruktiven Kooperation anstreben. Zudem kann der Arzt dem Patienten Webseiten angeben, die das Symptom / Problem des Patienten aus medizinischer Sicht verantwortungsvoll, nicht dramatisierend und für medizinische Laien gut verständlich darstellen (z. B. »Cochrane kompakt«).
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Schritt 3: Anamnese erheben zu den einzelnen Problemen
Praktisches Vorgehen 3.4 Organ- und symptombezogene Systemanamnese •• Bisherige Lösungsbemühungen und ihre Wirkung erfragen
Was angestrebt wird Wahrnehmungen, Befindlichkeiten und Verhaltensweisen sind überprüft und schaffen für Arzt und Patient eine Orientierung. Die Vorgeschichte und Lösungsbemühungen vor der Konsultation sind bekannt. Wie Sie vorgehen können ▶▶ Fragen Sie systematisch nach relevanten somatischen Befindlichkeiten und
Funktionen aller Organsysteme sowie nach gesundheitsrelevanten Verhaltensweisen. Beachten Sie, ob und wie diese möglicherweise mit dem aktuellen Leiden in Zusammenhang stehen könnten. ▶▶ Erkundigen Sie sich nach bisherigen und / oder eigenständigen Maßnahmen des Patienten als Hinweis auf dessen Krankheitsmodell, Lösungsvorstellungen und Ressourcen. ▶▶ Nutzen Sie offene, zirkuläre und konkretisierende / präzisierende Fragen. Fragenbeispiele Eine kleine »Regieanweisung«: Ich stelle Ihnen nun eine ganze Reihe von Fragen zu verschiedenen Körperfunktionen und Befindlichkeiten. Dabei muss kein Bezug zu Ihrem Symptom, das Sie mir geschildert haben, vorliegen. Wo Sie keine Beschwerden haben, können Sie ganz kurz antworten, gegebenenfalls lediglich mit »Ja«, »Nein«, »Gut« oder »Normal«. Wo Sie Beschwerden angeben, werde ich gegebenenfalls einige klärende Zusatzfragen stellen; auch zu allfälligen Lösungsversuchen, die Sie unternommen haben. Sollten gewichtigere Störungen zutage kommen, können wir miteinander entscheiden, ob wir sie jetzt gleich oder später anlässlich einer Folgekonsultation vertieft betrachten wollen. •• Wie schätzen Sie Ihren Gesundheitszustand ein13? •• Was macht es, dass Sie ihn als gut / mittelmäßig / schlecht erleben? 13 Die Frage nach der Selbsteinschätzung der Gesundheit ist einer der wichtigsten prädiktiven Parameter für anstehende Gesundheitsentgleisungen (Idler u. Benyamini, 1997; Jylhä, 2009).
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•• Haben Sie andere Symptome bemerkt als jene, die zur aktuellen Konsultation geführt haben? Welche? •• Wie ist Ihr Appetit? Inwiefern sind Sie / Ihre Partnerin / Ihre Familie damit (nicht) zufrieden? •• Hat sich Ihr Gewicht verändert? In welche Richtung? In welchem Ausmaß? •• Hat sich Ihre Größe verändert? In welche Richtung? In welchem Ausmaß? •• Wie ist Ihre Verdauung? Was stellen Sie fest? •• Haben Sie Probleme mit dem Wasserlassen? Welcher Art? •• Haben Sie Beinschwellungen? Wann treten diese auf? In welchem Ausmaß? •• Schwitzen Sie anders als gewohnt? Bei welchen Gelegenheiten? In welchem Ausmaß? •• Schwitzen Sie nachts im Bett? Bei welchen Gelegenheiten? In welchem Ausmaß? •• Wie steht es um Ihre Flüssigkeitsaufnahme? •• Wie viel trinken sie am Tag? •• Leiden Sie an Durst? •• Was trinken Sie? •• Leiden Sie an Kopfschmerzen? An welchen Stellen? In welcher Art? Bei welchen Begebenheiten? •• Fühlen Sie sich gestresst? Inwiefern? Persönlich, familiär, beruflich? Wie wirkt sich dies aus? •• Wie ist Ihr Schlaf? Welcher Art ist Ihre Schlafstörung? Welche Zusammenhänge mit Auswirkungen auf Ihren Schlaf haben Sie festgestellt? •• Schnarchen Sie? Wie äußert sich Ihre Partnerin / Ihr Partner dazu? •• Sind Sie tagsüber müde? In welchem Ausmaß? Wann? Bei welchen Gelegenheiten? •• Schlafen Sie tagsüber gelegentlich ein bei Tätigkeiten, bei denen Sie wach bleiben möchten? Bei welchen? •• Wie ist Ihre Atmung? •• Sie klagen über Kurzatmigkeit: Wie macht sie sich bemerkbar? Bei welchen körperlichen Tätigkeiten tritt sie auf? Beim Gehen bergauf / geradeaus, Anund Ausziehen der Kleider, Sprechen? In Ruhe? Beim flachen Liegen? •• Spüren Sie Druck auf der Brust? Bei körperlichen Anstrengungen? Bei welchem Belastungsgrad? In welchen anderen Situationen? Falls der Patient ein Symptom bejaht, sagt der Arzt: •• Sie bejahen meine Frage nach diesem Symptom / Problem. Ich stelle Ihnen nun einige ergänzende Fragen, um die medizinische Bedeutung und das Ausmaß im Hinblick auf Ihre Lebenssituation zu erfahren. Ich will damit
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Praktisches Vorgehen
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•• •• •• •• •• •• ••
••
Schritt 3: Anamnese erheben zu den einzelnen Problemen
auch feststellen, ob wir aus ärztlicher Sicht unmittelbar etwas unternehmen müssen. Oder ob wir uns eventuell später damit befassen sollten. Oder ob wir es lassen können. Welche gesundheitliche Bedeutung hat das Symptom für Sie? Hat das Symptom / Problem Auswirkung auf Ihre Befindlichkeit in Ihrem Alltag? Welcher Art? Haben Sie bereits etwas dagegen unternommen? Was? Wie hat es sich ausgewirkt? Kommen Sie mit diesem Symptom / Problem zurecht? Wie machen Sie es, dass Sie damit zurechtkommen? Denken Sie, dass Sie ärztliche Hilfe dafür benötigen? Welcher Art? Denken Sie, dass wir dieses Symptom / Problem später bei einer Folgekonsultation näher betrachten sollten? Als Arzt finde ich, dass dieses Symptom / Problem für Sie eine akute Gefahr darstellt und dass wir es jetzt gleich genauer ansehen müssen. Sind Sie damit einverstanden? Als Arzt finde ich, dass wir dieses Symptom / Problem gelegentlich einmal genauer ansehen sollten. Sind Sie damit einverstanden?
In diesem Frageblock kann der Arzt den Patienten zu seinen Verhaltensweisen und Gewohnheiten befragen und, wo angebracht, allenfalls Kurzinterventionen zur Verhaltensänderung anfügen. •• Ich stelle Ihnen nun einige Fragen zu Ihren Gewohnheiten und zu Ihrem gesundheitsrelevanten Verhalten. •• Treiben Sie regelmäßig Sport? Welche Sportart treiben Sie und wie häufig? •• Wie schätzen Sie Ihre Essgewohnheiten und Ihr Essverhalten ein? Sind Sie zufrieden damit? •• Rauchen Sie? Was rauchen Sie? Wie viele Zigaretten / Zigarren / Tabakpfeifen am Tag? Seit wie vielen Jahren? •• Nehmen Sie Medikamente ein, die nicht vom Arzt verordnet wurden? Welche und wie oft? •• Vergessen Sie manchmal vom Arzt verordnete Medikamente einzunehmen oder haben Sie welche mal pausiert oder weggelassen? Welche und unter welchen Umständen? •• Nehmen Sie alkoholische Getränke zu sich? Regelmäßig? Täglich? Wie viele Einheiten14 pro Tag? 14 Eine Alkoholeinheit ist ein Glas Wein à 1 dl (= 0,1 Liter), ein Glas Bier à 3 dl (= 0,3 Liter) oder ein Glas Schnaps à 0.4 dl (= 0,04 Liter).
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•• Nehmen Sie Drogen? Welche? In welchem Ausmaß? •• Sie haben erwähnt, dass Sie rauchen, regelmäßig Alkohol / Drogen / nicht vom Arzt verordnete Medikamente einnehmen. Darf ich Ihnen dazu einige weitere Fragen stellen? •• Welche Bedeutung hat für Sie das Rauchen / das Medikament / der Alkohol / die Droge? •• Wie schätzen Sie selbst Ihren Alkoholkonsum / Ihr Rauchverhalten / Ihren Drogenkonsum / Ihren Umgang mit Medikamenten ein? •• Wurden Sie schon von jemandem auf Ihr Rauchen / Ihre Medikamenteneinnahme / Ihren Alkoholkonsum / Ihren Drogenkonsum angesprochen? Was bedeutete dies für Sie? •• Von wem wurden Sie angesprochen? •• Was bedeutet es für Sie, von dieser Person angesprochen worden zu sein? •• Gibt es Tage, an denen Sie nicht rauchen / keine Medikamente / keine alkoholischen Getränke / keine Drogen zu sich nehmen? •• Wie oft kommen solche abstinenten Tage vor? •• Haben Sie selbst schon geplante abstinente Zeiten eingehalten? Wie ist es Ihnen dabei ergangen? •• Haben Sie schon längere Auslassversuche unternommen? Wie ist es Ihnen dabei ergangen? •• Wie wichtig ist es Ihnen, mit Rauchen / der Einnahme des Medikaments / von Alkohol / von Drogen aufzuhören? Wo sehen Sie sich auf der analogen Zehnerskala? •• Muten Sie es sich zu, mit Rauchen / der Einnahme des Medikaments / von Alkohol / von Drogen aufzuhören? Wo sehen Sie sich auf der analogen Zehnerskala? •• Was denken sie, was es bräuchte, damit Sie auf der Zehnerskala einen Punkt höher kommen? •• Was denken Sie, müsste passieren, dass Sie sich für eine sportliche Aktivität motivieren könnten? Im Rahmen dieses Anamneseblocks mit seinen breit gefächerten Fragen kann der Arzt den Patienten auch nach aktiven und / oder passiven Gewalterfahrungen fragen: •• Ich möchte Ihnen nun Fragen zu zwei Themen stellen, die viele Menschen betreffen, aber oft verborgen gehalten werden. •• Haben Sie Gewalterfahrungen gemacht? •• Welcher, physischer, psychischer und / oder sexueller Art waren Ihre Gewalterfahrungen?
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Praktisches Vorgehen
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•• •• •• •• •• ••
Schritt 3: Anamnese erheben zu den einzelnen Problemen
In welcher Beziehung standen Sie zu der beteiligten Person? Haben Sie eine polizeiliche Anzeige gemacht? Was hat Sie dazu bewogen, keine polizeiliche Anzeige zu machen? Haben Sie mit jemandem darüber gesprochen? Wäre es Ihnen ein Anliegen, mit jemandem darüber zu sprechen? Haben Sie eine Idee, mit wem Sie darüber sprechen möchten?
Auch das Thema des sexuellen Verhaltens kann der Arzt ansprechen: •• Wie ergeht es Ihnen mit Ihrer Sexualität? •• Wie kommen Sie zu dieser Einschätzung? •• Sind Sie mit Ihrem Sexualleben zufrieden? Was macht es aus? •• Haben Sie sich auf riskante Sexualkontakte eingelassen? Welcher Art? Unter welchen Umständen? •• Haben Sie sich medizinisch untersuchen lassen? Was müsste sein, dass Sie sich untersuchen ließen? •• Haben Sie sexuell übertragbare Krankheiten durchgemacht? Welche? •• Konnten diese erfolgreich behandelt werden? Bisherige Lösungsbemühungen und ihre Wirkung erfragen
Bei allen vorangegangenen Fragekomplexen hat der Arzt immer wieder die Vorgeschichte und Lösungsbemühungen vor der Konsultation sowie ihre Wirkung erkundet. Da diese Fragen wichtige Hinweise auf den Patienten und sein Krankheitserleben geben, werden sie hier speziell unter einem eigenen Abschnitt erwähnt. •• Haben Sie bereits etwas zur Verbesserung / Lösung Ihres Symptoms / Pro blems unternommen, bevor Sie zu mir in die Konsultation gekommen sind? Was genau? •• Wie haben sich Ihre Maßnahmen ausgewirkt? •• Was, denken Sie, hat sich bewährt? •• Inwiefern war dies hilfreich für Sie? •• Welche Erkenntnisse haben Sie im Hinblick auf eine Lösung Ihres Symptoms / Problems erlangt? •• Wie kamen Sie dazu, diesen Lösungsweg zu beschreiten? •• Was stellen Sie sich vor, sollten Sie nun anders machen? •• Was würden Sie mit Blick auf diese Erfahrungen jemandem raten, der am »gleichen« Symptom leidet? •• Haben Sie sich für die Lösungsbemühungen Ihres Symptoms / Problems schon an andere Institutionen, Ärztinnen oder Therapeuten gewendet? •• Was war hilfreich?
Praktisches Vorgehen
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•• •• •• ••
Schritt 3
Haben Sie dort ihre Behandlung abgeschlossen? Was hat bewirkt, dass es zum Abschluss dieser Behandlung kam? Weiß dieser Therapeut / diese Therapeutin, dass Sie zu mir wechseln wollen? Was bedeutet es für Sie, diese verschiedenen Behandlungsansätze neben einander weiterzuführen? •• Was müsste hier geschehen, damit es ganz sicher wieder zu einem Abbruch käme?
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Schritt 3: Anamnese erheben zu den einzelnen Problemen
Erweiterte inhaltliche Beschreibung des Ablaufs / Prozesses 3.4 Organ- und symptombezogene Systemanamnese •• Bisherige Lösungsbemühungen und ihre Wirkung erfragen
Diesen Abschnitt der Anamnese handelt der Arzt in der Regel eher technisch-funktional ab. Mit einer Regieanweisung bereitet er den Patenten auf den hier meistens etwas anderen Takt der Befragung vor. Er fragt den Patienten gezielt, routinemäßig und umfassend nach unterschiedlichsten biologischen Körperfunktionen: vom Appetit über das Essverhalten bis zum Stuhlgang; vom Durst über Trinkmenge und Schwitzen bis zu geschwollenen Beinen und zum Wasserlassen; von Atmung und Herzklopfen über Druckgefühl auf der Brust bis zu seiner sportlichen Betätigung; von der Wachheit über die Schlafhygiene bis zur Schlafqualität. Die Frage nach Stressgefühlen, die einen großen Anteil am Gesund- und Kranksein und für Krankheitsentwicklungen haben, ist hier durchaus angebracht. Darüber hinaus fragt der Arzt auch routinemäßig nach weiteren Verhaltensweisen: nach dem Umgang mit Alkohol, Rauchverhalten, Umgang mit Medikamenten und Drogenkonsum. Bei den Fragen zur Sexualfunktion und durchgemachten Geschlechtskrankheiten ergibt sich eine Gelegenheit zu erweiterten Fragen über das Sexualverhalten sowie Zufriedenheit mit dem Sexualleben. Der Arzt kann sich zudem spezifisch nach körperlichen und sexuellen Gewalterfahrungen im familiären, gesellschaftlichen und beruflichen Bereich erkundigen. Wo es situationsgerecht nötig und sinnvoll ist, kann der Arzt hier auch die sexuelle Ausrichtung ansprechen. Fragen zur Gender-Zugehörigkeit haben sich in der Regel ganz zu Beginn der Konsultation geklärt. Der Patient oder die Patientin definieren mit ihrem äußerlichen Auftritt, ob sie weiblich oder männlich angesprochen werden möchten. In unklaren Situationen dürften sie den Arzt darauf hinweisen und der Arzt kann seinerseits seine Unsicherheit zum Thema machen. Aufgrund dieser gezielten Fragen zu Befindlichkeiten und Verhaltensweisen, insbesondere zu solchen, die in der Konsultation bisher noch keinen Platz zur Erwähnung gefunden haben, erinnert sich der Patient an manches, was er noch erwähnen wollte oder zu sagen vergessen hat. Immer wieder ergeben sich auch für den Arzt zusätzliche, diagnoserelevante Aspekte, die er bisher zu fragen vergessen hat. Die litaneiartige Systematik gibt dem Arzt und dem Patienten Orientierung. Nebenbei erfährt der Arzt einiges über die Persönlichkeit des Patienten. Ängstliche Personen, die sich und ihre Körperfunktionen sehr gut beobach-
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ten, berichten sehr detailliert zu jeder Frage und zeigen bereits bei geringen Störungen große Besorgnis. Andere bleiben kurz, pauschal und prägnant und gehen scheinbar unbesorgt darüber hinweg. Zwischen diesen beiden Extremen gibt es jede Stufe. Falls sich aus diesen Fragen Hinweise auf Symptome / Probleme ergeben, insbesondere wenn diese nicht zum aktuellen Leiden gehören, klärt der Arzt mit einigen Zusatzfragen, wie relevant diese für den Patienten sind. Falls nötig, kann er eine spezielle Konsultation zur spezifischen Bearbeitung der betreffenden Störung vereinbaren. Bei Hinweisen auf einen problematischen Alkoholkonsum, bei Rauchen oder Drogenkonsum kann der Arzt, im Sinne einer »Eine-Minute-Kurzintervention« (Kissling, 2008; siehe auch Konsultationsschritt 5 »Präventive Möglichkeiten diskutieren«), klären, ob der Patient darüber sprechen möchte. Er wird dabei erfahren, ob sich der Patient des Problems bewusst ist. Anhand des Prochaska-Verhaltensänderungsmodells15 kann er abschätzen, ob und wie ernsthaft der Patient sich mit einer Veränderung befasst. Er kann den Patienten über die Problematik informieren und ihm Unterstützung anbieten, falls er jetzt oder später seine Risikoverhaltensweise verändern möchte. In jedem Fall bedeutet bereits das aktive Nachfragen an sich eine ärztliche Intervention mit einer nicht zu unterschätzenden Wirkung. Die Alltagserfahrung zeigt, dass Raucher bei einem Arztbesuch erwarten, auf das Rauchen angesprochen zu werden. Die hier beschriebenen Aspekte wird der Arzt bei allen Teilen der Anamnese nach seinem Ermessen sinngemäß einbauen. Das konkrete Ansprechen dieser Themen gibt dem Arzt und auch dem Patienten wichtige Informationen zum Verständnis des Problems, Symptoms oder Anliegens, das den Patienten bewogen hat, den Arzt aufzusuchen. Und aus den gemachten Erfahrungen lassen sich auch Lösungswege skizzieren. Wenn Menschen auf ein für sie unklares Symptom aufmerksam werden, begeben sie sich in aller Regel nicht sofort zum Arzt. Sie beobachten es, suchen nach Erklärungen und Lösungen. Sie besprechen sich mit Personen in ihrem Umfeld und suchen nach Informationen. Oft versuchen sie, die Beschwerden mit unterschiedlichsten Mitteln und Methoden günstig zu beeinflussen. Wenn dies alles nicht hilft, gehen sie, je nach Persönlichkeit früher oder später, zum Arzt. 15 Das transtheoretische Prochaska-Verhaltensänderungsmodell benennt fünf Stufen: precontemplation (not ready, Absichtslosigkeit), contemplation (getting ready, Abwägungsphase / Absichtbildung), preparation (ready, Vorbereitung / Entscheidungsstadium), action (Umsetzung / Handlung), maintenance (Aufrechterhaltung). Wegen relapse (Ausrutscher / Rückfall) müssen diese Stufen oft mehrfach durchlaufen werden, bis die Verhaltensänderung nachhaltig gelungen ist (Prochaska, DiClemente u. Norcross, 1992).
Schritt 3
Erweiterte inhaltliche Beschreibung des Ablaufs / Prozesses
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Schritt 3: Anamnese erheben zu den einzelnen Problemen
Aus Informationen über diese Phase vor der Konsultation erfährt der Arzt wichtige und umfassende Hinweise zum Krankheitsgeschehen, zur Persönlichkeit des Patienten und zu seiner sozialen Einbettung.
Praktisches Vorgehen
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Praktisches Vorgehen 3.5 Persönliche Anamnese
Was angestrebt wird Früher durchgemachte Krankheiten und Therapiemaßnahmen sind erfaßt, ebenso die früheren Krankheitserfahrungen des Patienten. Wie Sie vorgehen können heitserfahrungen, die sich positiv oder negativ auf das aktuelle Leiden auswirken, Ressourcen oder Belastungen / Barrieren sein können. ▶▶ Benutzen Sie offene, zirkuläre und konkretisierende / präzisierende Fragen. Fragenbeispiele •• Ich stelle Ihnen nun einige Fragen zu früher durchgemachten Krankheiten. •• Waren Sie schon jemals krank? Welche Krankheit(en) hatten Sie? •• Waren Sie schon einmal länger krank? An welcher Krankheit haben Sie gelitten? •• Waren Sie jemals schwer oder lebensgefährlich krank? Welche Krankheit hatten Sie? •• Mussten Sie schon einmal im Spital behandelt werden? Weswegen? •• Ist die Krankheit abgeheilt? Woran erkennen Sie das? •• Leiden Sie an Folgeerscheinungen? Welchen? •• Mussten Sie etwas gegen diese Folgeerscheinungen unternehmen? Was? •• Wie hat sich Ihre Maßnahme ausgewirkt? •• Wie wirken sich diese Folgeerscheinungen aus auf Ihr Leben / Ihre Freizeit / Ihre Familie / Ihr gesellschaftliches / berufliches Umfeld? •• Kommen Sie mit den Folgeerscheinungen zurecht oder bräuchten Sie Hilfe? •• Mussten Sie schon operiert werden? Welchem operativen Eingriff mussten Sie sich unterziehen? •• Wie ist es Ihnen dabei ergangen? •• Wie geht es Ihnen jetzt? •• Müssen Sie regelmäßig ärztlich verordnete Medikamente einnehmen? Welche?
Schritt 3
▶▶ Erkundigen Sie sich nach früher durchgemachten Krankheiten und Krank-
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Schritt 3: Anamnese erheben zu den einzelnen Problemen
•• Wie vertragen Sie diese? •• Wie stellen Sie sicher, dass Sie die verordneten Medikamente zuverlässig einnehmen können? •• Wie organisieren Sie die Medikamenteneinnahme? •• Erlangen Sie mit diesen die mit dem Arzt besprochene und ihnen zugedachte Wirkung? •• Erlangen Sie mit diesen die von Ihnen selbst erwünschte Wirkung? •• Wie spüren Sie die Wirkung des Medikaments? •• Was hat sich durch die Einnahme des Medikaments verändert? •• Wie ist es für Sie, dass Sie Medikamente einnehmen müssen? •• Haben diese Medikamente Nebenwirkungen? Wie wirken sie sich aus? •• Wie gehen Sie mit den Nebenwirkungen / unerwünschten Wirkungen um? •• Denken Sie, dass medizinische Maßnahmen wegen dieser Nebenwirkungen nötig sind, zum Beispiel dass die Dosis des Medikaments angepasst werden sollte; dass das Medikament abgesetzt werden muss; dass es durch ein anderes Medikament mit ähnlicher Wirkung ersetzt werden sollte? •• Wie ist Ihre Einstellung zu nichtmedikamentösen Therapiemaßnahmen? Können Sie mir etwas dazu sagen? •• Konnten Sie Erfahrung mit Veränderungen Ihres Lebensstils machen? Welcher Art waren diese? •• Wie stellen Sie sich vor, könnten Sie Anpassungen Ihres Lebensstils nachhaltig einhalten? •• Konnten Sie Erfahrungen mit physikalischen Therapien machen? Mit welchen? •• Waren diese hilfreich? Inwiefern? •• Konnten Sie Erfahrung mit alternativen Heilmethoden machen? Mit welchen? •• Welches ist Ihre Einstellung zu alternativen Heilmethoden? •• Finden Sie Parallelen zwischen einer früheren und der jetzigen Krankheit? Inwiefern? •• Gibt es Resultate von damaligen Untersuchungen und Therapien, die für Ihre jetzige Krankheit relevant sein könnten? •• Welche Erfahrungen haben Sie im Zusammenhang mit dieser Krankheit gemacht? •• Welches war Ihre schönste Erfahrung im Zusammenhang mit dieser früheren Krankheit? •• Was war Ihre beste Erfahrung? •• Was war Ihre schlimmste Erfahrung? •• Was hat Ihnen damals erfolgreich geholfen, über diese schlimme Erfahrung hinwegzukommen?
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Was hat sich nicht bewährt? Was denken Sie, möchten Sie nicht missen, was Sie damals erlebt haben? Was denken Sie, was möchten Sie keinesfalls nochmals erleben? Wie haben sich diese früheren Krankheitserfahrungen ausgewirkt? Inwiefern könnten Erfahrungen von damals heute nötige Entscheidungen beeinflussen? Was denken Sie, welche Erfahrungen von damals können Ihnen jetzt hilfreich sein? Wenn Sie aus heutiger Sicht an damals denken, was wünschen Sie, hätten Sie damals anders tun können? Aus den Lehren von damals: Was muss heute sein, damit Sie später das Gefühl haben werden, im Rahmen der heutigen Erkrankung richtig entschieden zu haben? Haben Sie Erfahrungen mit Problemlösungen gemacht? Welche? Was stellen Sie sich vor, wie wäre es heute für Sie, wenn Sie damals den von uns jetzt diskutierten Lösungsansatz getroffen hätten? Welches innere Bild sehen Sie, wenn Sie an damals denken? Was löst dieses Bild in Ihnen aus? Welche Emotionen kommen in Ihnen auf, wenn Sie an damals denken?
Schritt 3
Praktisches Vorgehen
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Schritt 3: Anamnese erheben zu den einzelnen Problemen
Erweiterte inhaltliche Beschreibung des Ablaufs / Prozesses 3.5 Persönliche Anamnese
Der Arzt erfragt früher durchgemachte Krankheiten, ob diese abgeheilt sind oder Folgeerscheinungen zurückgeblieben sind. Er erkundigt sich nach Spitalund Rehabilitationsaufenthalten, chronischen Erkrankungen, medikamentösen und nichtmedikamentösen Behandlungen, nach früher durchgeführten medizinisch-technischen Untersuchungen und deren Resultaten. Über diese faktischen, historischen Daten hinaus kann der Arzt den Patienten mit erweiterten Fragen zum Nachdenken über früher gemachtes persönliches Krankheitserleben, über psychosoziale Aspekte im Zusammenhang mit seinen Krankheitserfahrungen anregen. Die Antworten des Patienten können für das Verstehen des aktuellen Leidens bedeutsam und für die Therapie hilfreich sein. Sie können auch Hinweise auf vorhandene Ressourcen mit Blick auf einen Lösungsweg des aktuellen Problems geben. Auf anstehende Entscheidungen können sie sich relevant auswirken. Zudem kann der Arzt wichtige Informationen über die Lebensphilosophie und das Wertesystem des Patienten erhalten. Die Patienten gehen sehr unterschiedlich mit diesen früher erfahrenen Situationen um. Manche scheinen sie einfach abgehakt zu haben. Viele haben positive Erfahrungen gemacht, wertvolle menschliche Zuwendung erfahren und die Medizin als erfolgreich erlebt. Bei anderen bleibt eine starke positive oder negative emotionale Betroffenheit zurück. Aufgrund negativer Erfahrungen kann eine nachhaltige Angst vor neuen medizinischen Maßnahmen persistieren. Traumatisierende Erlebnisse, die zu panischen Reaktionen geführt hatten, können hinter einer schwer verständlichen Ablehnung einer nötigen medizinischen Untersuchung stecken. Beispiele: Die Patientin war nach einer Narkose bei noch liegendem intratrachealem Tubus aufgewacht und hatte lebensbedrohliche Erstickungsängste und ein katastrophales Gefühl des Verlassenseins erlitten. Nun sollte sie sich für einen neuen operativen Eingriff entscheiden. Oder Männer mit großer Angst vor Injektionen jeder Art infolge schlechter Erinnerungen an Impfsituationen im Militär, wo bei den Massenimpfungen Kameraden »reihenweise zu Boden gegangen« waren.
Praktisches Vorgehen
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Praktisches Vorgehen 3.6 Familienanamnese
Was angestrebt wird Gehäuft auftretende Krankheiten sowie der Umgang mit Krankheiten und kranken Menschen im Rahmen der Familie sind angesprochen. Sie können Hinweise auf bestimmte Krankheitsrisiken, Krankheitsverhalten und Ressourcen sein.
▶▶ Erkundigen Sie sich nach Genen und Memen16: familiäre Häufungen von
Krankheiten mit Blick auf das Risikoprofil des Patienten, familiäre Einbettung, Beziehungskonstellationen und Familiendynamik, tradierte Werte und Glaubenssätze im Umgang mit Gesund- und Kranksein als Hinweise auf Ressourcen und Belastungen (Stressoren). ▶▶ Wählen Sie offene, zirkuläre und konkretisierende / präzisierende Fragen. Fragenbeispiele
Bei diesem Fragekomplex kann es sich lohnen, einen Stammbaum zu zeichnen und die Befunde stichwortartig den Personen zuzuordnen. •• Ich stelle Ihnen nun einige Fragen zu Ihrer Herkunftsfamilie. •• Gibt es Krankheiten, die in Ihrer Herkunftsfamilie – Eltern, Großeltern, Onkel und Tanten, Geschwister, Kinder – gehäuft vorkommen? Welche? •• Gibt es in Ihrer Herkunftsfamilie Personen, die an der gleichen Krankheit wie Sie leiden? Wie verläuft diese oder ist sie verlaufen? In welchem Verwandtschaftsgrad stehen die betroffenen Personen zu Ihnen? •• Leben Ihre Eltern / Großeltern noch? •• Wie alt sind Ihre Eltern / Großeltern? •• Wie geht es ihnen gesundheitlich? •• An welchen Krankheiten leiden sie / sind sie gestorben? •• Wie alt ist Ihre Mutter / Ihr Vater / Ihre Mutter / Ihre Großmutter geworden? •• Haben Sie Geschwister? Wie viele? 16 Memen sind generationenübergreifend vermittelte respektive erlernte Verhaltensweisen und Lösungsmuster.
Schritt 3
Wie Sie vorgehen können
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Schritt 3: Anamnese erheben zu den einzelnen Problemen
In welchem Alter sind Ihre Geschwister? Wie geht es ihnen gesundheitlich? An welchen Krankheiten leiden sie / sind sie gestorben? Wie alt sind Ihre verstorbenen Geschwister geworden? Haben Sie direkte Verwandte, die an Herz- / Kreislauf-Leiden erkrankt oder verstorben sind? In welchem Verwandtschaftsgrad stehen diese? Gibt es Frauen unter sechzig Jahren oder Männer unter fünfzig Jahren, die an einem Herzinfarkt oder Hirnschlag erkrankt oder verstorben sind? In welchem Verwandtschaftsgrad stehen diese? Gibt es Tumorkrankheiten, an denen mehrere Personen aus Ihrer Herkunftsfamilie erkrankt oder verstorben sind? Welche Krankheiten? In welchem Verwandtschaftsgrad stehen diese? Ist jemand in Ihrer Herkunftsfamilie an Darm-, Prostata- oder Brustkrebs erkrankt? Wer? Gibt es Personen, die an Diabetes / Hypertonie erkrankt sind? Wer? In welchem Alter wurde der Diabetes / die Hypertonie bei dieser Person diagnostiziert? Wie wird in Ihrer Familie mit Krankheit und kranken Menschen umgegangen? Kennen Sie ein Beispiel, wie in Ihrer Familie mit kranken Menschen umgegangen wird? Konnten Sie im Rahmen Ihrer Familie Erfahrungen mit Krankheiten, auch schweren Krankheiten, Sterben und Tod machen? Welcher Art? Welchen Eindruck haben diese Erfahrungen bei Ihnen hinterlassen? Wie, denken Sie, wirken sich diese Erfahrungen auf Sie aus? Was bedeuten Ihnen diese Erfahrungen für Ihre aktuelle Situation? Wie würden Sie die Beziehungen unter den Menschen in Ihrer Herkunftsfamilie bezeichnen? Wie bedeutsam sind die Beziehungsbande im Rahmen Ihrer Herkunftsfamilie? Wie werden die familiären Beziehungen im Alltag gelebt? Gibt es bedeutsame Konstellationen / Probleme / Streitsituationen in Ihrer Familie, die für Sie bedeutsam sein könnten? Welcher Art / in welcher Weise? Gibt es in Ihrer Herkunftsfamilie jemanden, der für Sie ein Vorbild ist? Wer? Was macht es, dass diese Person für Sie ein Vorbild ist? Wissen Sie, ob Sie selbst Vorbild für ein Familienmitglied sind? Was, stellen Sie sich vor, macht Sie für diese Person zum Vorbild? Was denken Sie, würde Ihnen Ihr verstorbener Vater / Ihre verstorbene Mutter auf seinem / ihrem Sterbebett sagen, wenn er / sie Sie heute sähe? Wenn Sie selbst auf dem Sterbebett lägen, was denken Sie, würden Sie zu Ihrer heutigen Situation sagen?
Erweiterte inhaltliche Beschreibung des Ablaufs / Prozesses
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Erweiterte inhaltliche Beschreibung des Ablaufs / Prozesses
Der Arzt erkundigt sich, welche Krankheiten in der Herkunftsfamilie vorkommen. Gibt es Häufungen, die auf genetische Aspekte des aktuellen Leidens hinweisen? Diese Information kann dem Arzt und Patienten helfen, die aktuelle Symptomatik mit Blick auf diagnostische Möglichkeiten und mögliche Verläufe besser einzuordnen. Die Antworten sind oft medizinisch wenig klar, können aber doch Hinweise auf das Risikoprofil des Patienten in Hinblick auf verschiedene Krankheitsentitäten geben. Auch beim Umgang mit Gesund- und Kranksein sowie beim Verhältnis zu Leben und Sterben handelt es sich nicht selten um generationenübergreifend vermittelte respektive erlernte Verhaltensweisen und Lösungsmuster, die als »Meme« bezeichnet werden. Im Sinn einer systemisch-lösungsorientierten Konsultation kann der Arzt seinen Patienten zusätzlich befragen über soziale Aspekte der Familie, über Beziehungen / Beziehungskonstellationen unter den Familienmitgliedern auf derselben und zwischen unterschiedlichen Generationsebenen, über prägende Geschichten im Zusammenhang mit Krankheiten, über Familiengeschichten und typische Familiendynamiken, über familiäre »Glaubenssätze«, Ressourcen, Blockaden oder eine über den Tod hinaus wirkende Präsenz von längst Verstorbenen. Wie sieht der Patient seinen persönlichen Stellenwert im Familiengefüge und wie erlebt er sich selbst darin? Welche Erfahrungen hat er gemacht? Wem vertraut er sich weshalb vorzugsweise an? Gibt es wichtige Bezugspersonen und Vorbilder, die für ihn bedeutsam waren oder immer noch sind? Was bewundert er an ihnen und hat er von ihnen gelernt? Wem, glaubt er, könnte er selbst Vorbild sein? Was ist es, das ihn dazu machen könnte, und weshalb gerade bei dieser Person? Was kann für ihn mit Blick auf sein aktuelles Problem und Lösungsvorstellungen hilfreich sein?
Schritt 3
3.6 Familienanamnese
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Schritt 3: Anamnese erheben zu den einzelnen Problemen
Praktisches Vorgehen 3.7 Philosophische / kulturelle / religiöse Wertesysteme
Was angestrebt wird Kulturell tradiertes Verständnis von Krankheiten und Umgangsweisen mit Kranken sowie religiöse Bestimmungen mit möglichen Auswirkungen auf medizinische Handlungen sind angesprochen. Wie Sie vorgehen können ▶▶ Fragen Sie nach kulturell tradierten Werten und Glaubenssätzen im Umgang
mit Gesund- und Kranksein als Hinweise auf Ressourcen und Belastungen.
▶▶ Fragen Sie nach persönlichen lebensphilosophischen Einstellungen und
religiösen Werten als Hinweise auf ziel- und lösungsbezogene Ressourcen und Barrieren. ▶▶ Wählen Sie offene, zirkuläre und konkretisierende / präzisierende Fragen. Fragenbeispiele •• Als Arzt weiß ich, dass das Erkranken an einem Symptom / Problem jeden betroffenen Menschen tief in seinem Inneren berührt; dass es in ihm existenzielle, philosophische, vielleicht auch religiöse Fragen anstößt; dass diese sehr unterschiedlich sind von Mensch zu Mensch und auch innerhalb von Familien und Kulturen; und dass die persönliche Einstellung zu diesen Fragen das Krankheitserleben mit beeinflusst. •• Darf ich Ihnen nun einige sehr persönliche Fragen zu Ihrer philosophischen, religiösen und spirituellen Einstellung stellen? Es ist mir wichtig, Ihre Lebensphilosophie kennen zu lernen. •• Gibt es übergeordnete kulturelle, religiöse oder philosophische Gegebenheiten, die wir bei unserer Zusammenarbeit beachten sollen? •• Inwiefern können sich religiöse Vorschriften, beispielsweise der Ramadan, auf Ihre Krankheit und unsere vereinbarten Vorgehensweisen auswirken? •• Sehen Sie Ihre Krankheit in einem größeren übergeordneten Zusammenhang? Inwiefern? •• Können Sie sich vorstellen, Ihrem Krankheitsgeschehen eine tiefere Bedeutung zuzumessen? Welche?
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•• Welche Bedeutung gibt man Ihrem Symptom in Ihrem Heimatland? •• Was bedeutet Ihnen unser Wissen, dass Ihre Krankheit nicht heilbar ist? •• Was bedeutet Ihnen das Bewusstsein, dass Ihre Krankheit in einer absehbaren Zeit zum Tod führen könnte? •• Konkret gefragt, welche Gedanken löst Ihr jetziger Zustand bei Ihnen aus? •• Glauben Sie, dass es ein geistiges oder göttliches lenkendes Wesen gibt? •• Glauben Sie persönlich an ein Leben nach dem Tod? •• Machen Sie sich eine Vorstellung darüber, wie Ihr Leben nach dem Tod sein könnte? •• Was sagt Ihre Religion, mit der Sie aufgewachsen sind, zum Leben, Sterben und zu dem, was nach dem Tod kommen wird? •• Mit welchen Gefühlen denken Sie an Sterben und Tod? •• Welche innere Beziehung haben Sie zum Leben, Sterben und Tod? •• Erinnern Sie sich an Erfahrungen, die Sie in Ihrem Leben machen konnten mit Menschen, die dem Tod entgegengegangen und verstorben sind? •• Was hat diese Erfahrung in Ihnen bewirkt? •• Gibt es Dinge in Ihrem Leben, die Ihnen wichtig sind und die Sie unbedingt noch tun und nicht verpassen möchten, damit Sie dem Tod ruhig entgegengehen können? Welche? •• Gibt es Ereignisse in Ihrem Leben, die bei Ihnen Schuldgefühle hinterlassen haben? •• Welchen Stellenwert hätte es für Sie, dass Sie diese bereinigen könnten? •• Haben Sie daran gedacht, diese mit der betroffenen Person zu klären? In welcher Form? •• Ist es für Sie wichtig, mit einem Seelsorger / einer Seelsorgerin zu sprechen? Wie werden Sie dies angehen? •• Wenn Sie auf Ihr Leben zurückblicken, an was erinnern Sie sich besonders gern? •• Wenn Sie auf Ihr Leben zurückblicken, was denken Sie, würden Sie heute wieder gleich / anders tun?
Schritt 3
Praktisches Vorgehen
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Schritt 3: Anamnese erheben zu den einzelnen Problemen
Erweiterte inhaltliche Beschreibung des Ablaufs / Prozesses 3.7 Wertesysteme erfassen: Philosophische / kulturelle / religiöse Wertesysteme
Fragen nach dem Wertesystem sind sehr persönliche Fragen. Sie tangieren das Innerste eines Menschen, etwas, worüber er vielleicht üblicherweise mit niemandem spricht. Um sie zu stellen, braucht es eine tragfähige Beziehung, eine gute Vertrauensbasis und gegenseitigen Respekt. Der Arzt wird seine Fragen zu diesem Themenkreis in der Regel erst in Folgekonsultationen stellen. Vor allem bei komplexen Krankheitsbildern und insbesondere dann, wenn existenzbedrohende und nicht heilbare Krankheiten vorliegen. Mit Fragen zum Wertesystem des Patienten öffnet der Arzt die Tür zum spirituellen Raum. Er lenkt den Patienten zu Gedanken über seine Einstellung zu Gesund- und Kranksein, Leben, Sterben und Tod, über den Sinn seines Lebens, seine Lebensziele, Erfolge und Versagen, Stärken und Schwächen, seine Schuldhaftigkeit. Die persönliche philosophische, kulturelle, religiöse Haltung des Patienten ist durchaus individuell, jedoch durch ein übergeordnetes gesellschaftliches Wertesystem mit geprägt. Dasselbe gilt für den Arzt. Im Rahmen der heute sehr intensiven Migration kann der Arzt aus einem anderen Kulturkreis stammen als sein Patient. In diesem Fall muss er sich bewusst sein, dass in Bezug auf den gesellschaftlich geprägten Teil der Wertesysteme zwischen ihm und seinem Patienten Unterschiede vorliegen dürften. Gerade in diesen Situationen kann ein von Respekt geprägtes Gespräch über das Wertesystem des Patienten besonders wichtig sein. Diese Fragen zu klären kann zudem einen praktischen Grund haben, zum Beispiel bei Erkrankungen und / oder medizinisch nötigen Maßnahmen während des Ramadan. Diesen Gedanken den nötigen Raum zu geben ist gerade in komplexen Krankheitssituationen bedeutsam. Der Patient wird dadurch, über seine Krankheit hinaus, zu einer ganzen Person. Die Beziehung zwischen Arzt und Patient erhält eine zusätzliche Dimension, wird weiter gefestigt. Entscheidungen für Abklärung und Therapie können umfassend, unter Einbezug aller Dimensionen des menschlichen Seins getroffen werden und bestmöglich auf die Bedürfnisse des Patienten als integrale Person ausgerichtet werden. Der Arzt, der sich für die Wertesysteme des Patienten interessiert, sollte sich seiner eigenen philosophischen, spirituellen und religiösen Werte, mit
Erweiterte inhaltliche Beschreibung des Ablaufs / Prozesses
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Schritt 3
allen damit verbundenen Hoffnungen und Zweifeln, bewusst sein. Er muss dazu bereit sein, wenn ihn der Patient danach fragt, auch einen gewissen Einblick in sein eigenes Wertesystem zu geben. Es kann dem Patienten durchaus wichtig sein, dass in diesem urmenschlichen Bereich eine Art Informationsgleichgewicht entsteht. Der Arzt muss darauf gefasst sein, dass sich die individuellen Wertesysteme des Patienten von seinen eigenen unterscheiden. Er darf keinesfalls werten. Es geht ihm darum, für den Patienten und sein Verhalten im Zusammenhang mit dem Krankheitsgeschehen und im Hinblick auf Lösungen Verständnis aufzubringen. Verständnis ist nicht gleichbedeutend mit Einverständnis. Der Austausch über die inneren Werte stärkt die Beziehung zwischen Arzt und Patient. Auf dieser Basis können sie auch einen sehr schweren Krankheitsprozess bewältigen, auch einen Sterbeprozess bis zum Tod.
SCHRITT 4: Handlung entwickeln 4.1 Untersuchungen durchführen •• Information über den Ablauf geben •• Klinisch-körperliche Untersuchung •• Die erhobenen Befunde mitteilen und interpretieren •• Ergänzende praxisinterne und weiterführende praxisexterne Untersuchungen besprechen: Welche Untersuchungen: was, warum, wo, wann? •• Umgang mit der Unsicherheit – stufenweises Vorgehen 4.2 »Beurteilung« erstellen – Zusammenhänge erkennen und Handlung planen •• Im Zusammenhang sichten von –– Subjektiven Aussagen des Patienten –– Anamnestischen Erhebungen des Arztes –– Resultaten aus klinischen und ergänzenden Untersuchungen •• Diagnose oder Arbeitshypothese gemeinsam besprechen 4.3 Therapiemöglichkeiten besprechen •• Hausärztliche Behandlung durchführen oder an Spezialarzt, Spital oder andere Fachperson überweisen •• Ressourcen des Patienten klären •• Erweiternde Informationen geben und Empowerment fördern
Praktisches Vorgehen
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Praktisches Vorgehen 4.1 Untersuchungen durchführen •• Information über den Ablauf geben •• Klinisch-körperliche Untersuchung •• Die erhobenen Befunde mitteilen und interpretieren •• Ergänzende praxisinterne und weiterführende praxisexterne Untersuchungen besprechen: Welche Untersuchungen: was, warum, wo, wann? •• Umgang mit der Unsicherheit – stufenweises Vorgehen
Was angestrebt wird Arzt und Patient haben gemeinsam geklärt, mit welchen klinisch-körperlichen und medizinisch-technischen Untersuchungen sie das Symptom / Problem lösungsorientiert weiter abklären können und wollen.
▶▶ Vermitteln Sie dem Patienten das nötige17 Wissen über die infrage kom-
menden Untersuchungsmethoden und überprüfen Sie, was er verstanden hat (patient empowerment). ▶▶ Unterstützen und ermächtigen Sie den Patienten zur anstehenden gemeinsamen Entscheidungsfindung (shared decision making) für den Untersuchungsprozess. Beispiele für die Kommunikation am Beispiel einer Lungenproblematik •• Nachdem wir uns eingehend über Ihren seit einigen Wochen bestehenden Husten, Ihre Atembeschwerden und Ihren Gewichtsverlust ausgetauscht haben, sollten wir jetzt einige Untersuchungen durchführen. •• Sind Sie einverstanden? •• Haben Sie sich selbst Gedanken dazu gemacht, was diese Untersuchung beinhalten sollte?
17 Nötig meint: die Menge an Wissen, die der Patient bei sorgfältig überprüfendem Ermessen des Arztes verstehen kann und die für eine tragfähige Entscheidung erforderlich ist.
Schritt 4
Wie Sie vorgehen können
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Schritt 4: Handlung entwickeln
Information über den Ablauf geben
•• Aus meiner ärztlichen Sicht möchte ich Ihnen folgendes Vorgehen vorschlagen. Zunächst möchte ich Ihre Lungen mit meinen Fingern abklopfen und mit dem Stethoskop abhorchen; zuerst auf der Rückseite, danach auch vorne. Dazu müssen Sie Ihren Oberkörper entkleiden. Danach werden wir die von mir erhobenen Befunde miteinander besprechen und, falls nötig, weitere Abklärungen besprechen und einleiten. •• Dass Sie sich bereits zu entkleiden begonnen haben, zeigt mir, dass Sie in meinen Vorschlag einwilligen? •• Darf ich Sie bitten, für diese Untersuchung Ihr Hemd auszuziehen und sich auf den Rand der Untersuchungsliege zu setzen? Klinisch-körperliche Untersuchung
•• Bitte atmen Sie durch Ihren offenen Mund einige Male tief ein und aus. Sagen Sie mir bitte, falls Ihnen dabei schwindelig werden sollte. Die erhobenen Befunde mitteilen und interpretieren
•• Beim Abklopfen und Abhorchen der Lunge finde ich keinen diagnostischen Hinweis auf die Ursache Ihrer Symptome. •• Der Auskultationsbefund der Lunge ergibt ein pfeifendes / giemendes Geräusch, das auf ein Asthma hinweist. •• Mit dem Stethoskop höre ich grobblasige feuchte Rasselgeräusche, die zu Ihrem Schleim produzierenden Husten passen. •• Beim Abhorchen der Lunge finde ich (keine) Hinweise auf eine Lungenentzündung. •• Wir wollen nun besprechen, wie wir weiter vorgehen wollen. Ergänzende praxisinterne und weiterführende praxisexterne Untersuchungen besprechen: Welche Untersuchungen: was, warum, wo, wann?
•• Aufgrund Ihrer Schilderungen über Entstehung und bisherigen Verlauf Ihrer Erkrankung und meiner erhobenen Befunde benötige ich zur genauen Beurteilung noch eine Blutuntersuchung und ein Röntgenbild der Lunge. Diese beiden Untersuchungen können wir gleich in unserer Praxis durchführen und anschließend besprechen. •• Sind Sie mit diesem Vorgehen einverstanden? •• Ihr Symptom ist mir aufgrund der bisherigen Untersuchungen weiterhin unklar. Aus meiner ärztlichen Sicht benötige ich noch eine Spirometrie, eine Lungenfunktionsprüfung. Diese zeigt uns, ob eine chronische Asthmabronchitis vorliegen könnte. Dafür müssen Sie mit voller Kraft in ein spe-
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zielles Blasrohr ausatmen. Diese Untersuchung kann unsere medizinische Praxisassistentin gleich mit Ihnen durchführen und wir können das Resultat anschließend besprechen und in unsere Therapiebesprechung einbeziehen. Was denken Sie zu diesem Vorgehen? Sie fragen nach der Aussagekraft dieser Untersuchung. Falls der Ausatmungsluftstrom normal ist, können wir davon ausgehen, dass Sie keine oder keine schwere chronische Asthmabronchitis haben. Falls der Luftstrom gedrosselt ist, ist eine chronische Asthmabronchitis sehr wahrscheinlich. Möchten Sie die Untersuchung durchführen lassen? Mit unseren bisherigen Untersuchungen haben wir immer noch keine genügende Erklärung für Ihr Symptom gefunden. Da dieses für Sie schlimm und aus medizinischer Sicht sehr bedrohlich ist, möchte ich Sie notfallmäßig ins Spital einweisen. Was halten Sie von diesem Vorschlag? Mit unseren bisherigen Untersuchungen haben wir keine genügende Erklärung für Ihr Symptom gefunden. Da es für Sie schlimm ist und nach meiner Meinung auch aus medizinischer Sicht eine zeitnahe Abklärung und gezielte Therapie erforderlich sind, schlage ich Ihnen vor, dass ich Sie baldmöglichst an einen Pneumologen, einen Lungenspezialisten, überweise. Sind Sie mit meinem Vorschlag einverstanden? Kennen Sie einen Pneumologen, zu dem Sie gern gehen möchten? Ich arbeite in der Regel mit Dr. XY zusammen und bin sehr zufrieden mit ihm. Sind Sie einverstanden, dass ich Sie bei Dr. XY anmelde? Meine Mitarbeiterin wird einen Termin vereinbaren. Ich werde den Spezialisten mit einem Brief über Ihr Symptom, unsere bisherigen Untersuchungsresultate und unsere Fragestellung informieren. Nach der spezialärztlichen Untersuchung werden wir bei mir eine Nachbesprechung machen und die Befunde in unsere bisherigen Überlegungen einbauen. Was denken Sie zu diesem Vorgehen? Der Spezialist nimmt nur schriftliche Anmeldungen entgegen. Ich werde den Brief mit Ihrem Symptom, unseren bisherigen Untersuchungsresultaten und unserer Fragestellung noch heute dem Spezialisten übermitteln und ihn bitten, dass er Ihnen binnen drei Tagen einen Termin geben wird. Bitte informieren Sie mich, falls Sie bis morgen Abend keine Einladung erhalten haben. Nach der spezialärztlichen Untersuchung werden wir bei mir eine Nachbesprechung machen. Kann ich auf Sie zählen?
Schritt 4
Praktisches Vorgehen
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Schritt 4: Handlung entwickeln
Umgang mit der Unsicherheit – stufenweises Vorgehen
•• Sie bringen eine Computertomographie der Lunge zur Diskussion, da Sie rauchen. Die Notwendigkeit dafür sehe ich zurzeit nicht. Wir können aber gegebenenfalls auf Ihren Vorschlag zurückkommen. Ihre Befürchtung, dass bei Ihnen als langjähriger Raucher ein Lungenkarzinom vorliegen könnte, kann ich nachvollziehen. Das Thorax-Röntgenbild hat keinen »Schatten« aufgezeigt. Es stimmt, mit einer Computertomographie kann bereits ein wenige Millimeter großes Karzinom in einem sehr viel früheren Stadium nachgewiesen werden als mit einem Röntgenbild. Hingegen besteht das Risiko, dass ein Befund entdeckt wird, der fälschlicherweise wie ein Karzinom aussieht und unnötige Weiterabklärungen bis hin zur Operation nach sich ziehen könnte. •• Möchten Sie mit dem Wissen um dieses Risiko diese Untersuchung trotzdem durchführen lassen? •• Mit unseren bisherigen Untersuchungen haben wir keine genügende Erklärung für Ihr Symptom gefunden. Da dieses für Sie nicht schlimm und aus medizinischer Sicht nicht bedrohlich ist, können wir vorerst zuwarten und beobachten, wie es sich weiter entwickeln wird. Es kann sich durchaus von selbst beheben. Währenddessen können Sie auch ein Medikament inhalieren, das Ihr Symptom dämpfen kann. Wenn das Symptom bleibt oder bei einer Verschlimmerung können wir jederzeit weitere Abklärungen einleiten, gegebenenfalls durch Überweisung an einen Spezialarzt. •• Können Sie sich dieses Vorgehen vorstellen? Was bedeutet ein Zuwarten für Sie?
Erweiterte inhaltliche Beschreibung des Ablaufs / Prozesses
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Erweiterte inhaltliche Beschreibung des Ablaufs / Prozesses
Der Arzt hat den Patienten mit einer sorgfältigen Anamnese über sein Symptom / Problem befragt und die Situation gezielt nach medizinisch-technischen, diagnostisch zielführenden Kriterien ausgelotet. Mit seiner umfassenden Fragestellung hat er den Patienten, soweit er dies als sinnvoll und nötig erachtet, auch über dessen Interpretation seiner Situation befragt, über seine Befürchtungen und die Bedeutung seiner Beschwerden sowie über seine Ziele, Lösungsvorstellungen und Erwartungen. Bereits während des Erfassens dieser umfassenden bio-psycho-sozialen anamnestischen Informationen über das Symptom / Problem stellte der prozessverantwortliche Arzt medizinische differentialdiagnostische Überlegungen an und machte sich Gedanken zur psychosozialen und kontextuellen Gesamtsituation des Patienten. Mit der Anamnese konnte der Arzt 80 bis 90 % der für die Diagnose oder Beurteilung nötigen Informationen erarbeiten. Wo sinnvoll und nötig, will er nun seine subjektiven Eindrücke, Vermutungen und Intuitionen mit klinisch-körperlichen und medizinisch-technischen Untersuchungen überprüfen, diese bestätigen oder ausschließen, sich soweit als möglich vergewissern und auch dem Patienten Gewissheit vermitteln. Arzt und Patient bewegen sich im Spannungsfeld von medizinischen Erfordernissen, personenbezogenen Bedürfnissen, psychosozialen Gegebenheiten des individuellen Kontextes, persönlichen Lösungsvorstellungen und systemimmanenten Grenzen der verfügbaren Untersuchungsmethoden. Der Arzt ist sich bewusst, dass eine klinisch-körperliche und medizin-technische Untersuchung im Abklärungs- und Behandlungsprozess mehr bedeutet als ein Sammeln von »objektiven« Daten, die zum Verstehen und zur Lösung des Symptoms / Problems erforderlich sind. Sie stellt für den Patienten und ihn selbst eine Intervention im Rahmen der zuvor ausgehandelten personenbezogenen Zielsetzung dar. Entsprechend sorgfältig geht der Arzt mit allen Untersuchungen um. Jede Untersuchung ist eine gemeinsam vereinbarte Weichenstellung auf dem
Schritt 4
4.1 Untersuchungen durchführen •• Information über den Ablauf geben •• Klinisch-körperliche Untersuchung •• Die erhobenen Befunde mitteilen und interpretieren •• Ergänzende praxisinterne und weiterführende praxisexterne Untersuchungen besprechen: Welche Untersuchungen: was, warum, wo, wann? •• Umgang mit der Unsicherheit – stufenweises Vorgehen
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Schritt 4: Handlung entwickeln
Behandlungsweg. Neben ihrer fachlichen Indikation und ihrem wissenschaftlichen Stellenwert ist eine Untersuchung, auf Seiten des Arztes und des Patienten, behaftet mit je persönlichen Vorstellungen, Erwartungen, Befürchtungen und Bedeutungen sowie Emotionen zwischen Angst und Bangen, Hoffnung und Zuversicht. Im Interesse eines personenbezogenen Vorgehens ist der Arzt bestrebt, diese inneren Bilder mit dem Patienten abzugleichen. Bei der Entscheidungsfindung über den angemessenen Untersuchungsgang beachten Arzt und Patient, dass jede Untersuchung neben ihrem potenziellen Nutzen zur diagnostischen Vergewisserung und Absicherung auch mit statistischen Unsicherheiten, gesundheitlichen Risiken und Gefahren, Nebenwirkungen aller Art und nicht zuletzt mit persönlicher Verunsicherung einhergehen kann. Arzt und Patient legen gemeinsam die Untersuchungsstrategie fest, interpretieren die erhobenen medizinischen Resultate und gewichten deren Stellenwert für den Patienten mit seinem Symptom / Problem in seinem spezifischen Kontext. Dabei oszillieren sie im Spannungsfeld zwischen »objektiven« evidenzbasierten statistischen wissenschaftlichen Daten (Signifikanz), Wahrscheinlichkeiten und systemimmanenten Grenzen der Untersuchungsmethoden, je eigenen Vorstellungen und Erfahrungen des Arztes und des Patienten sowie der Relevanz für den Patienten mit seinen »subjektiven« individuellen, kontextbedingten Gegebenheiten. Auf der Basis von Wissen, Emotionen und gegenseitigem Vertrauen legen sie sinnvolle nächste Schritte im Abklärungs- und Therapieprozess fest. Der Arzt spricht dazu in einer für den Patienten verständlichen Sprache, vermeidet Fremdwörter und erklärt Fachbegriffe. Er wählt möglichst neutrale Begriffe, die nicht unnötig Angst schüren. So spricht er beispielsweise besser von »Wahrscheinlichkeit« als von »Risiko«. Er geht schrittweise vor und passt die Informationsmenge und -tiefe der aktuellen Situation, der Auffassungs fähigkeit und den kognitiven Fähigkeiten des Patienten an. Information über den Ablauf geben
Gemeinsam haben Arzt und Patient eine für den Patienten und sein Symptom / Problem angemessene Untersuchungsstrategie festgelegt. Nun informiert der Arzt den Patienten über den technischen Ablauf. Als Erstes werde er eine körperliche Untersuchung durchführen, zuerst an den Körperregionen, an denen der Patient sein Symptom oder seinen Symptomenkomplex hauptsächlich wahrnimmt. Bei unklarer Situation werde er die klinisch-körperliche Untersuchung auf weitere Regionen ausdehnen. Danach werde er den Patienten über die erhobenen Befunde und seine Interpretation informieren und mit ihm schrittweise das weitere Vorgehen besprechen. Dies können direkt therapeutische Maßnahmen sein. Eventuell könne aber die eine oder andere, zuvor
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besprochene weiterführende medizinisch-technische Zusatzuntersuchung nötig werden. Dies würden sie zu gegebenem Zeitpunkt zusammen besprechen. In den meisten Fällen zeigt sich der Patient damit einverstanden. Manchmal zögert ein Patient oder fragt konkret, ob diese oder jene Untersuchung nötig sei. In diesem Fall bespricht der Arzt mit dem Patienten nochmals seine medizinischen Überlegungen mit deren Sinn und Zweck. Die Untersuchung wird er in jedem Fall nur nach expliziter Einigung mit dem Patienten durchführen. Der Patient hat immer das Recht, eine Untersuchung abzulehnen.
Der Arzt hat bis hierher hauptsächlich mit der Sprache sowie mit nonverbaler Kommunikation gearbeitet. Seine Fragen setzte er ein als Arbeitsinstrument zum Aufbau der Beziehung, zur Definition von Zielen, zum Erklärenlassen und zum lösungsorientierten Verstehen des Symptoms / Problems, der Vorstellungen, inneren Bilder, Bedenken, Erwartungen, Interpretationen, Bedeutung, Auswirkungen und Rückwirkungen sowie des Kontextes etc. Nun wechselt der Arzt von der Sprache zu kinästhetischen Arbeitsweisen. Er arbeitet mit seinen tastenden / palpierenden und klopfenden / perkutierenden Händen und Fingern, mit seinen abhorchenden / auskultierenden Ohren, mit technischen Bildgebungen über das Körperinnere und Analysen von Körpersäften, mit stechenden und schneidenden Flüssigkeits- und Gewebeentnahmen, etc. Mit diesen setzt er das Symptom / Problem des Patienten in taktile und akustische Befunde, in Bilder und Zahlen um. Mit seinen Fragen überprüft der Arzt nun, ob der Patient die nötigen Informationen in ihrer vollen Tragweite und in entscheidungsbefähigendem Maß verstanden hat. Er holt die Einwilligung für die besprochene Vorgehensweise ein. Er klärt die Umstände der Besprechung und Verarbeitung der erhobenen Daten. Der Arzt lädt den Patienten zur vorbesprochenen körperlichen Untersuchung ein. Er informiert den Patienten, wie er dabei vorgehen wird und welche Körperregionen der Patient entkleiden muss. Dabei ist er darauf bedacht, die Entkleidung auf die untersuchungstechnisch nötigen Körperbereiche zu beschränken. Der Patient erwartet in aller Regel, dass ihn der Arzt klinisch-körperlich untersucht – ihn berührt. Der Arzt wird in jedem Fall eine körperliche Untersuchung anbieten, selbst wenn er aufgrund der Anamnese davon überzeugt sein sollte, dass er zu den geschilderten Beschwerden keinen »objektiven« Befund feststellen können wird. Denken wir zum Beispiel an Kopfschmerzen. Der Arzt wird den Kopf des Patienten zumindest an den angegebenen Schmerzstellen 18 Siehe auch thematischer Schwerpunkt 8: Körperliche Nähe und Berührung.
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Klinisch-körperliche Untersuchung18
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berühren und in der Regel weitere, möglicherweise diagnoserelevante Stellen sowie den Nacken abtasten. Je nach Situation wird er ergänzende klinisch-körperliche Untersuchungen vornehmen, beispielsweise eine Blutdruckmessung oder einen kleinen Neurostatus zur Untersuchung der Hirnfunktion. Für den Patienten ist es beruhigend, wenn der Arzt ihm bestätigt, dass er keinen krankhaften körperlichen Befund feststellen kann. Vor jeder körperlichen Untersuchung, auch außerhalb der Intimbereiche, holt der Arzt die Erlaubnis des Patienten ein. Dies kann er mit einer expliziten Frage tun. Manchmal kommt der Patient dem Arzt zuvor und fragt, welche Kleider er ausziehen soll. Oder er beginnt sich zu einem gegebenen Moment unaufgefordert spontan zu entkleiden und erteilt somit sein Einverständnis nonverbal durch sein Verhalten. Eine Berührung ohne Erlaubnis entspräche dem Tatbestand eines Übergriffs, wäre also eine strafbare Handlung. Bei sorgsamem, situativ stimmigem und für den Patienten nachvollziehbarem Vorgehen, bei zielführendem Handeln und medizinisch-fachlich qualifizierten Untersuchungshandgriffen besteht für den Arzt kaum ein Risiko, dass seine untersuchungsbedingten Berührungen vom Patienten missdeutet würden und er ungerechtfertigt verklagt werden könnte. Der Arzt ist sich bewusst: Die klinisch-körperlichen Untersuchungen haben auch einen Placebo-Effekt – genau wie alle anderen medizinisch-technischen Untersuchungen sowie medizinischen Behandlungen19 – wie auch der Arzt an sich20 oder der Physiotherapeut / die Physiotherapeutin21. Diese Placebo-Effekte mögen darauf beruhen, dass die Erwartung, dass das besorgniserregende Symptom untersucht wird, erfüllt wird oder aufgrund der Entspannung, indem der Arzt bei seiner Untersuchung nichts Beunruhigendes feststellen kann, oder infolge weiterer Begebenheiten. Der Arzt hält sich vor Augen: Auch die klinisch-körperlichen Untersuchungen sind nicht frei von Risiken und Nebenwirkungen. So können Ärzte gewisse Untersuchungen unterschiedlich gut beherrschen oder gleichartige Befunde, je nach Vorerfahrungen, unterschiedlich beurteilen. Ein Befund kann übersehen oder unterschiedlich interpretiert werden. So kann in der Folge eine nötige Zusatzuntersuchung unterlassen und eine Diagnose verpasst werden. Arzt und Patient können sich in falscher Sicherheit wiegen. Oder ein fraglich interpretierbarer Auskultations- oder Palpationsbefund kann zu weiteren, eventuell zu einer ganzen Kaskade von unnötigen »absichernden« Folgeuntersuchung führen. 19 Zum Beispiel bei Kniearthroskopien: Moseley et al., 2002. 20 Zum Beispiel »Der Arzt als Arznei« (Luban-Plozza, Laederach-Hofmann, Knaak u. Dickhaut, 2002). 21 Vgl. Züst, 2009.
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Die erhobenen Befunde mitteilen und interpretieren
Nach der klinisch-körperlichen Untersuchung teilt der Arzt dem Patienten die von ihm erhobenen Befunde mit. Er interpretiert diese mit Blick auf die spezifische Fragestellung der betreffenden Untersuchung im gesamten Abklärungskontext. Und er bespricht mit dem Patienten deren Bedeutung im Rahmen der Lösungsvorstellungen des Patienten. Häufig – etwa bei unkomplizierten Erkältungskrankheiten im Winter – ergibt sich bereits aus den Resultaten der klinisch-körperlichen Untersuchung ein zur Anamnese passendes kohärentes Bild. Die Fragen von Arzt und Patient sind genügend geklärt. Es sind keine weiteren Zusatzuntersuchungen nötig. Arzt und Patient einigen sich auf eine konkrete »Beurteilung« oder Diagnose. Sie können direkt zur Besprechung des weiteren Vorgehens (Prozedere) und / oder der therapeutischen Möglichkeiten übergehen. Wenn aus Anamnese und Untersuchung keine konkrete Diagnose gestellt werden kann, einigen sich Arzt und Patient häufig auf eine für beide tragfähige vorläufige »Beurteilung« respektive eine diagnostische Hypothese. Insbesondere im Rahmen der Hausarztmedizin mit ihrer Funktion als erste Anlaufstelle für alle Patienten und Patientinnen mit nicht vorselektionierten Leiden ist dies eine häufige Realität. Viele Symptome und Beschwerden sind wenig ausdifferenziert. Sie können sowohl vorübergehend und selbstheilend sein oder
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Zudem ist sich der Arzt bewusst, dass sein nonverbales Verhalten während des Untersuchens eine Wirkung auf den Patienten entfaltet. Er weiß, dass der Patient während des Untersuchens in einer von Erwartung und Besorgnis geprägten Ausnahmesituation ist; dass er den Gesichtsausdruck und Blick des Arztes beobachtet, seine Art des Tastens verfolgt und allfällige Laute hört und dies alles auf seine Weise interpretiert. Entsprechend sorgsam achtet der Arzt auf sich selbst, damit er keine ungewollte zusätzliche Verunsicherung auslöst. Wo die Situation eine außergewöhnliche Untersuchungsart erfordert, wird er dem Patienten unmittelbar eine situationsgerechte plausible Erklärung geben. Folgende Beispiele erläutern dieses nicht unbedeutende Phänomen. Drei Aussagen von Patienten: »Als ich Ihren besorgten Blick sah, während Sie mir den Bauch abgetastet haben, wusste ich sofort, dass es sich um etwas Ernsthaftes handelt.« »Da Sie meine Lunge wiederholt an derselben Stelle / besonders lang abgehorcht haben, mache ich mir ernsthaft Sorgen. Haben Sie wirklich nichts Schlimmes festgestellt?« »Ihr ›mmmhhh‹ während des Abtastens meiner Fußpulse, was meinen Sie damit?« Und eine Aussage des Arztes: »Entschuldigen Sie, ich musste diese Stelle mehrfach abtasten, nun bin ich sicher, dass da alles in Ordnung ist.«
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erstes Anzeichen eines ernsthaften Krankheitsgeschehens oder Alarmzeichen für einen akuten Bedrohungszustand. Falls sich aufgrund der Anamnese, dem Befinden des Patienten und der körperlichen Untersuchung kein unmittelbarer Handlungsbedarf ergibt, werden sich Arzt und Patient nicht selten auf ein abwartend beobachtendes Vorgehen – »watchfull waiting« oder »active surveillance« – einigen. Allenfalls unter dem Einsatz von mildernden Maßnahmen. Sie vereinbaren einen situations- und zeitgerechten Termin für eine Verlaufsuntersuchung zur Neubeurteilung. Falls das Symptom / Problem bis zu diesem festgelegten Zeitpunkt weiter bestehen oder sich verschlimmern sollte, werden sie die Notwendigkeit und Art von weiteren Untersuchungen besprechen. Bei diesem stufenweisen Vorgehen vereinbart der Arzt mit dem Patienten, dass er sich bei unerwarteten Symptomveränderungen oder irgendwelchen Verschlechterungen jederzeit meldet. Ergänzende praxisinterne und weiterführende praxisexterne Untersuchungen besprechen: Welche Untersuchungen: was, warum, wo, wann?
Je nach klinischer Situation und medizinischer Notwendigkeit bespricht der Arzt mit dem Patienten ergänzende praxisinterne und weiterführende praxisexterne medizinisch-technische Zusatzuntersuchungen für die weitere Klärung des Symptoms / Problems. Dabei bezieht er, soweit als möglich, auch die Präferenzen des Patienten und dessen persönliche Vorstellungen zu möglichen Untersuchungsmethoden mit ein. Sie beachten dabei beide die Gesamtsituation des Patienten. Zudem überlegen sie im Voraus gemeinsam, was mit den Resultaten gemacht werden soll; welche Konsequenzen die möglichen, positiven oder negativen, Resultate für den Patienten haben können; was die Resultate für ihn persönlich bedeuten werden; welche Folgen und Risiken sie mit sich bringen könnten und wer davon mitbetroffen sein könnte. Selbstverständlich kann der Patient jede Untersuchung ablehnen. Der Arzt wird sich gemeinsam mit dem Patienten – im Hinblick auf eine Lösung seines Problems / Symptoms in seinem persönlichen Kontext – für die bestgeeignete ergänzende und weiterführende Untersuchung entscheiden (shared decision making). Um den Patienten zum Mitentscheiden zu befähigen, ergänzt oder vermittelt er ihm in angemessen umfassender Weise das nötige Wissen (patient empowerment). Dieser sorgfältige Entscheidungsprozess im Spannungsfeld zwischen statistischen Zahlen (Signifikanz), individueller Situation und persönlicher Betroffenheit (Relevanz) kann für den Arzt und den Patienten sehr anspruchsvoll sein. Idealerweise veranschaulicht der Arzt Nutzen und Risiken mithilfe von verfügbarem graphischem Dokumentationsmaterial.
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Je nach Wunsch, persönlichen Verhältnissen und Komplexität der Situation, vor allem bei älteren und polymorbiden Patienten, schlägt der Arzt dem Patienten vor, Angehörige zur Beratung hinzuzuziehen. Somit kann der Patient seine Entscheidungen zusammen mit den vertrauten Personen in seinem Umfeld treffen. Falls der Patient nicht urteils- und entscheidungsfähig oder krankheitshalber nicht ansprechbar ist, verhandelt der Arzt mit dessen gesetzlicher Vertretung. Idealerweise liegen eine Patientenverfügung und / oder ein Vorsorgeauftrag vor, in denen der Patient seinen Willen festgehalten hat. Ohne diese Dokumente gelten das Ermessen des Arztes und einer den Patienten vertretenden Person entsprechend der gesetzlich festgelegten Vertretungsreihenfolge. Ihre Entscheidungen basieren sie in diesem Fall auf medizinische Überlegungen und den mutmaßlichen Willen des Patienten. Bei seinem Vorgehen richtet sich der Arzt nach fachgerecht evidenzbasierten (EbM) Guidelines, Algorithmen und seiner ärztlichen Erfahrung. Er informiert den Patienten verständlich und ausgewogen darüber, welcher Nutzen von den jeweiligen Untersuchungen medizinisch-statistisch (Sensitivität und Spezifität, number needed to treat – NTT) erwartet werden kann und welche gesundheitlichen Nebenwirkungen, Risiken und Gefahren (number needed to harm – NNH) sie mit sich bringen. Der Arzt weiß: Jede medizinisch-technische und klinisch-körperliche Untersuchung hat eine mehr oder weniger genaue Aussagekraft und Treffsicherheit (Sensitivität und Spezifität) betreffend eine spezifische Fragestellung – mit entsprechenden Zahlen von falsch positiven und falsch negativen Resultaten. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein bestimmter krankhafter Prozess vorliegt (likelihood ratio: Produkt aus Sensitivität / Spezifität), liegt für eine entsprechende klinische körperliche Untersuchung interessanterweise nicht selten um einiges höher als ein dafür eingesetzter Labortest. Der Arzt weiß: Jede medizinisch-technische und klinisch-körperliche Untersuchung birgt neben ihrem Nutzen auch die Möglichkeit von negativen Folgen in sich. Er ist sich bewusst, dass er und der Patient die Tendenz haben, den Nutzen von Untersuchungen stärker zu gewichten als die Möglichkeit von Risiken, Nebenwirkungen oder potenziellem Schaden. Nicht selten blenden sie den Hinweis darauf völlig aus. Zu diesen negativen Phänomenen gehören direkte schwere Körperschädigungen wie zum Beispiel ein Darmdurchbruch bei Dickdarmspiegelungen, Kontrastmittelzwischenfälle und anderes mehr. Es kann sich um mögliche Spätschäden durch aufsummierte Strahlenbelastung handeln. Oder es resultieren unklare Befunde, die kein schlüssiges Resultat für eine »sichere« Beurteilung ergeben. Und diese neue Unsicherheit kann wiederum Anlass zu weiteren Untersuchungen, eventuell zu einer kaum mehr kon
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trollierbaren Kaskade von Folgeuntersuchungen geben. Und jede von ihnen ist erneut belastet durch die erwähnten Unsicherheitsfaktoren. Nicht ungewöhnlich sind falsch positive Resultate – eine Krankheit, die real gar nicht vorliegt, wird fälschlicherweise diagnostiziert – oder Überdiagnosen (overdiagnosis): Das sind real vorliegende Krankheitsanlagen, die sich – unentdeckt – nie zu einer Krankheit entwickelt würden, etwa gewisse Formen von Brust- oder Prostatatumoren mit histologisch bösartigen Zellen und biologisch gutartigem Verhalten, wie sie immer wieder durch Screenings von Gesunden detektiert werden. Nicht selten werden sogenannte »Inzidentalome« als zufällige Nebenbefunde entdeckt. Das sind gefahrlose Rundherde, die wie Tumore aussehen, aber kein Wachstum zeigen. Bei allen genannten Zufallsbefunden führen deren Entdeckung und die damit verbundene Unsicherheit in der Regel, um ganz sicher zu gehen, zu unnötigen, manchmal jahrelangen Nachuntersuchungen, begleitet von Stress, Angst und Unsicherheit. Dies kann zur Chronifizierung von ursprünglich harmlosen Symptomen führen oder gar zu unnötigen Krebsbehandlungen mit Operationen, Strahlen- und Chemotherapien. Der Arzt gibt dieser Problematik beim gemeinsamen Entscheidungsprozess mit dem Patienten den nötigen Stellenwert: Jede auch noch so einfache Untersuchung kann einen gesunden Menschen unnötig und manchmal nachhaltig krank machen. Jede Untersuchung kann zum Ausgangspunkt für eine gefährliche und kostenintensive Überarztung, einen »overuse« und eine Verschwendung von Ressourcen (wasted medicine) werden. Je unbedachter eine Untersuchung angeordnet wird und je weniger indiziert sie ist, desto tragischer sind solche Entwicklungen. Falls eine Untersuchung, wie oft der Fall, hauptsächlich deswegen verordnet wird, um dem Patienten – oder dem Arzt – bei einem unklaren Symptom die Unsicherheit und Angst zu nehmen, sind solche Verläufe noch zusätzlich tragisch. In den letzten Jahren befassen sich in der Bewegung »choosing wisely« (www. choosingwisely.org) medizinische Fachgesellschaften in einer zunehmenden Zahl von Ländern mit der Notwendigkeit von bestimmten, oft routinemäßig angewendeten medizinischen Maßnahmen. Sie identifizieren in ihren Fachgebieten je fünf häufige und oft routinemäßig durchgeführte Untersuchungen, Therapien und Präventionen, bei denen potenzieller Schaden einen potenziellen Nutzen überwiegen kann. Ziel ist es, diese nur noch mit klarer Indikation anzuwenden und auf das Nötige zu reduzieren. Listen mit solchen Prozeduren werden auf nationalen »Choosing wisely«-Webseiten veröffentlicht und somit Ärzten und Patienten zugänglich gemacht. Unter dem Dach von WONCA22 22 World Organization of Family Doctors – Caring for People (Welthausärzteverband); www. globalfamilydoctor.com.
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befasst sich die Arbeitsgruppe »quartäre Prävention« (Jamoulle, 2015) mit dem Schutz vor unnötigen Untersuchungen, Behandlungen und Präventionen. So vorbereitet entscheiden Arzt und Patient, welche konkreten ergänzenden praxisinternen und / oder weiterführenden praxisexternen Untersuchungsmethoden sie als geeignet, zielführend, sinnvoll und nötig erachten. Sie beachten auch die Verfügbarkeit der Untersuchungsmöglichkeit und, soweit wie möglich, die Kostenfolgen. Der Arzt unterlässt es nicht, den Patienten zu fragen, ob bereits früher anderswo Untersuchungen zum vorliegenden Symptom / Problem durchgeführt wurden, welche es waren und welche Resultate gefunden wurden. Falls solche Befunde vorliegen, lässt sich der Arzt diese zustellen und bezieht sie, wenn immer möglich, in die gemeinsame Entscheidung über den anstehenden Untersuchungsgang mit ein. Der Arzt und Patient vereinbaren, wo und durch wen sie die geplanten ergänzenden und / oder weiterführenden Untersuchungen durchführen lassen wollen – in der eigenen Praxis oder in einem Röntgeninstitut, in der Praxis eines Spezialisten, in einem Spitalambulatorium (ambulante Klinik) oder durch eine Krankenhauseinweisung. Bei allen Untersuchungen, die in einem auswärtigen Institut oder bei einem anderen Facharzt durchgeführt werden, vereinbaren der Arzt und der Patient, wer dem Patienten die Untersuchungsergebnisse mitteilen wird, wann und wo diese Besprechung stattfinden soll – in der Arztpraxis oder per Telefon? – und ob eventuell eine Vertrauensperson den Patienten begleiten soll. Diesen Aspekt klärt der Arzt speziell auch mit dem Facharzt, dem er den Patienten zur spezialärztlichen Untersuchung überweist. Manchmal ergibt sich aus der Untersuchung bei einem Spezialisten die Notwendigkeit für weitere Untersuchungen bei anderen Spezialärzten. In dieser Situation ist der Arzt darauf bedacht, dass diese Überweisungen nur mit seinem Wissen und expliziten Einbezug geschehen. Damit sorgt der Arzt für eine Gesamtsicht im Interesse des Patienten und hilft, eine Fraktionierung in Spezialgebiete ohne Korrespondenz / Abstimmung mit den anderen Beteiligten zu verhindern. Auf diese Gegebenheiten legt der Arzt einen besonderen Wert, weil die Untersuchung dem Patienten helfen soll, ein konstruktives Bild über sein Symptom / Problem zu entwickeln. Im Rahmen der Besprechung der Resultate können Arzt und Patient die vorbestehenden inneren Bilder und die »objektiven« Bilder der Untersuchungsresultate übereinanderlegen und miteinander abstimmen. Dies stellt einen rationalen und emotionalen therapeutischen Prozess dar und baut auf den vorangehenden Interaktionen zwischen Arzt und Patient auf. In der Regel werden sich Arzt und Patient zuerst für ergänzende medizinisch-technische Untersuchungen entscheiden, die, je nach Ausstattung, in der Arztpraxis unmittelbar zur Verfügung stehen: zum Beispiel Labor-
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analysen des Blutes, Elektrokardiogramm, kleine Spirometrie, Apnealink, 24-Stunden-Blutdruckmessung, Bildgebungen mit Ultraschall und Röntgen etc. Falls sich daraus keine schlüssigen Antworten ergeben, schreiten Arzt und Patient zu weiterführenden Untersuchungen, die außerhalb der Praxis durchgeführt werden müssen: zum Beispiel Computertomographie, Magnetresonanz tomographie oder Szintigraphie, PET etc., Lungenfunktionsuntersuchung, nächtliche Pulsoxymetrie, 24-Stunden-Holter-Elektrokardiogramm, R-Test oder Echokardiographie und Ergometrie, Magen- oder Darmspiegelung etc. Der Arzt informiert den Patienten, wie die vorgeschlagene Untersuchung vor sich geht, welche Vorbereitungen nötig sind, welche unmittelbare Auswirkungen sie auf den Patienten haben kann, ob sie schmerzhaft ist etc. Arzt und Patient besprechen, wann die weiterführende praxisexterne Untersuchung stattfinden soll. Bei diesen auswärtigen Untersuchungen lässt der Arzt die medizinische Praxisassistentin, zusammen mit dem Patienten, einen der Dringlichkeit der Situation angemessenen Termin für die Untersuchung organisieren. Falls die Untersuchung nur schriftlich angemeldet werden kann, stellt der Arzt sicher, dass diese innerhalb eines verantwortbaren Zeitrahmens erfolgt. In jedem Fall vereinbart der Arzt mit dem Patienten einen Besprechungstermin nach erfolgter Untersuchung mit dem Ziel, die Resultate und Erkenntnisse aus der Zusatzuntersuchung in die gemeinsame Beurteilung des Symptoms zu integrieren. In nicht wenigen Situationen sind mehrere unterschiedliche praxis externe Untersuchungen nötig, die an verschiedenen Orten durchgeführt werden müssen. Der Arzt weiß, dass solche komplexen Situationen besonders fehleranfällig sind, und achtet auf eine entsprechend sorgfältige Planung. Umgang mit der Unsicherheit / Ungewissheit23 – stufenweises Vorgehen
Bei aller Sorgfalt, die Ungewissheit / Unsicherheit (uncertainty) bleibt im medizinischen Kontext eine Konstante. Kaum eine Untersuchung kann vollumfängliche Klarheit über ein Symptom schaffen. Der therapeutische Umgang mit der »Uncertainty« ist für Arzt, Patient und dessen mitbetroffenes Umfeld eine große Herausforderung. In vielen Fällen können Arzt und Patient gemeinsam eine gangbare Strategie festlegen. Dies kann bedeuten, zuzuwarten, den Verlauf zu beobachten oder ein sorgsames stufenweises Abklärungsprozedere vorzunehmen. Und parallel dazu ergründen sie lösungsorientiert die Hintergründe des Symptoms / Problems, die oft im psychosozialen Kontext verankert sind.
23 Siehe thematischer Schwerpunkt 10: Uncertainty und Medizin im Grenznutzenbereich.
Praktisches Vorgehen
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Praktisches Vorgehen 4.2 »Beurteilung« erstellen – Zusammenhänge erkennen und Handlung planen •• Im Zusammenhang sichten von –– subjektiven Aussagen des Patienten –– anamnestischen Erhebungen des Arztes –– Resultaten aus klinischen und ergänzenden Untersuchungen •• Diagnose oder Arbeitshypothese gemeinsam besprechen
Was angestrebt wird
Wie Sie vorgehen können ▶▶ Arzt und Patient sichten im Zusammenhang die subjektiven Aussagen des
Patienten, die anamnestischen Erhebungen des Arztes und die »objektiven« Befunde der bisher durchgeführten klinischen und medizinisch-technischen Untersuchungen. ▶▶ Der Arzt übermittelt seine »Beurteilung« mit sorgsamen Worten, in klarer und für medizinische Laien verständlicher Sprache. Er spricht sachlich präzise, nicht dramatisierend sowie angepasst an die kognitiven Fähigkeiten, emotionale Verträglichkeit sowie Persönlichkeit des Patienten. Wo Unklarheiten bestehen, spricht er dies konkret an. Immer wieder überprüft er, ob das, was der Patient verstanden hat, mit dem übereinstimmt, was er sagen wollte. Mögliche Aussagen des Arztes •• Ich möchte nun zusammenfassen, was ich aus unserem Gespräch über Ihr Symptom / Problem verstanden habe, was ich aus den körperlichen Untersuchungen, den Laborresultaten und den Röntgenbefunden ersehe und welche medizinisch-technische »Beurteilung« ich daraus folgern kann.
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Eine Gesamtschau ist erarbeitet, wo Arzt und Patient in diesem Augenblick im gemeinsamen Therapieprozess stehen. Weiterführende, lösungsorientierte Arbeitshypothesen bilden die Grundlage dafür, wie es weitergehen soll in Bezug auf das medizinisch-wissenschaftlich Nötige (Sicht des Arztes, Algorithmen, Guidelines) sowie das aus Sicht des Patienten Nötige und Erwartete.
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•• Ich bemühe mich, verständlich zu sprechen. Nötige Fachbegriffe werde ich erklären. •• Ich werde Schritt für Schritt vorgehen und immer wieder Verständnisfragen stellen. •• Es ist mir wichtig, dass Sie alles genau verstehen. •• Bitte unterbrechen Sie mich, falls Sie etwas nicht verstehen können. •• Bitte sagen Sie, falls Sie meinen Aussagen nicht zustimmen können. •• Bitte ergänzen Sie, wenn aus Ihrer Sicht ein wichtiger Aspekt fehlt. •• Anschließend werden wir zusammen betrachten / interpretieren, ob und wie sich diese medizinische Einschätzung mit Ihrem persönlichen Erleben des Symptoms / Problems und Ihrer persönlichen Sicht trifft. •• Es ist wichtig, dass wir beide Ihr Symptom / Problem gegenseitig verstehen. •• Wir werden gemeinsam analysieren, was die medizinisch-technische »Beurteilung« für Sie persönlich und Ihr Umfeld bedeutet. •• Wo Ungewissheit und / oder Unsicherheit in der Beurteilung bestehen bleiben, werden wir zusammen entscheiden, wie wir damit umgehen wollen. •• Unsere »Beurteilung« wird Ausgangslage sein dafür, welche Handlungen wir aufgrund der gemeinsamen Sichtung der Zusammenhänge mit Blick auf Ihre Lösungsvorstellung ins Auge fassen können. •• Wir werden besprechen, was Sie von unterschiedlichen Handlungen erwarten können. •• Wir werden überlegen, welche Hilfestellungen durch medizinische Maßnahmen und Ihre eigenen Ressourcen möglich sind. •• Und die Wirkung dieser Handlungen wird wieder einen Rückschluss auf unsere »Beurteilung« geben. •• Was denken Sie dazu?
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Erweiterte inhaltliche Beschreibung des Ablaufs / Prozesses
Beurteilende Gedanken, immer mit Blick auf Möglichkeiten therapeutischen Handelns, begleiten den gesamten Kontakt zwischen Arzt und Patient. Über seine Funktion als Fachexperte hinaus trägt der Arzt auch die Verantwortung für den umfassenden personenbezogenen und systemisch-zielorientierten Untersuchungs- und Behandlungsprozess. Der Arzt konstruiert als Fachexperte mit seinem medizinischen Fachwissen und seinen persönlichen Einstellungen aus den bisherigen Resultaten eine medizinisch-wissenschaftliche Diagnose / Arbeitshypothese – eine medizinische Wirklichkeit. Er übernimmt im Namen der Medizin die medizinisch-technische Interpretationshoheit und damit verknüpft sozusagen die fachliche Verantwortung für das Symptom / Problem. Die gleichen Resultate kann der Patient jedoch in einer Art interpretieren, die von der medizinischen erheblich abweichen kann. Er kann seine eigene Wirklichkeit kreieren. Hier nehmen persönliche Vorstellungen, Anliegen und Ziele des Patienten einen hohen Stellenwert ein. Diese Möglichkeit behält der Arzt unbedingt im Auge, damit er solche Differenzen rechtzeitig ansprechen und klären kann. Dabei achtet er auf verbale und nonverbale Äußerungen des Patienten. Die »Beurteilung« im Rahmen der Konsultation bedeutet eine gemeinsame Gesamtschau. Sie bedeutet einen strukturierten Moment des bilanzierenden Zusammenfügens aller zusammengetragenen Elemente. Sie ermöglicht, die Wirklichkeit des Patienten mit dessen inneren Wahrnehmungen und subjektiven Schilderungen mit der Wirklichkeit des Arztes mit seinen Wahrnehmungen von außen und seinem medizinischen Wissen abzugleichen. Anhand der »Beurteilung« wird eine gemeinsame Wirklichkeit explizit benannt. Die »Beurteilung« ist ein Moment der Reflexion darüber, wo man aktuell steht und wie es weitergehen soll in Bezug auf das medizinisch-wissenschaftlich Nötige (Sicht des Arztes, Algorithmen, Guidelines) sowie das aus Sicht des Patienten Nötige und Erwartete. Sie ist ein wichtiger handlungsrelevanter Dreh-
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4.2 »Beurteilung« erstellen – Zusammenhänge erkennen und Handlung planen •• Im Zusammenhang sichten von –– subjektiven Aussagen des Patienten –– anamnestischen Erhebungen des Arztes –– Resultaten aus klinischen und ergänzenden Untersuchungen •• Diagnose oder Arbeitshypothese gemeinsam besprechen
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punkt für ein weiteres zielgerichtetes gemeinsames Vorgehen / Handeln zur personen- und kontextbezogenen Lösung des Symptoms / Problems. Der Arzt ist sich bewusst, dass jede »Beurteilung« lediglich eine momentane Bestandsaufnahme darstellt, einen Schritt in einem fortschreitenden dynamischen Prozess im Kontinuum zwischen Gesundheit und Krankheit. Sie bedeutet oft eher eine diagnostische Annäherung. Sie bleibt vorläufig und muss entlang der Entwicklung des Symptoms / Problems ständig weiter vertieft oder sogar revidiert werden. So betrachtet entspricht die »Beurteilung« in vielen, eventuell gar den meisten Situationen eher einer wandelbaren Arbeitshypothese als Ausgangspunkt für das weitere Handeln. Der Arzt beachtet, dass der Patient seinem Symptom / Problem in der Regel eine angstbesetze Bedeutung zuordnet, die seine Wahrnehmung einengt. Daher wählt er bei der »Beurteilung« geeignete Worte, die dem Patienten nicht zusätzliche Ängste auslösen. Mit einem falschen Wort kann der Arzt eine therapeutische Chance vergeben. Der Arzt transferiert die individuelle, persönlich erlebte, oft in reicher Bildsprache erzählte Geschichte des Patienten über sein Symptom / Problem, sein persönliches subjektives Kranksein / Krankheitserleben, in eine allgemein anwendbare karge fachliche medizinische Terminologie, eine »objektive« diagnosefähige Krankheit. »Er gibt dem Kind einen Namen.« Damit zeigt er dem Patienten, dass er seine Geschichte verstanden hat und einem medizinischen Kontext zuordnen kann. Und damit vermittelt er ihm die Botschaft, dass mit diesem Wissen die Perspektive auf eine medizinische Behandlung erwogen werden kann. Der Arzt ist sich bewusst, dass er mit diesem Transfer der persönlichen emotionalen Erzählung mit der ihr zugedachten Bedeutung in eine abstrakte, neutrale medizinische Terminologie die einmalige Geschichte des Patienten inhaltlich reduziert, entpersonalisiert, medizinisch-technisch umdeutet und gewissermaßen emotional vom Patienten abspaltet. Dazu zwei Beispiele zur Erläuterung dieses Transfers: Die seit einigen Monaten bestehenden Schmerzen im linken Hüft- und Oberschenkelbereich mit ihrer wechselnden, am Morgen aber immer besonders unangenehmen Intensität, mit zunehmender Mühe beim Gehen, Schuhbinden und Aufsteigen auf das Fahrrad werden zu einer Hüftgelenksarthrose, differentialdiagnostisch zu einer rheumatoiden Arthritis oder einem Labrumdefekt bei vorbestehendem Impingement. Weitere Untersuchungen zur Klärung der Ursache und Behandlungsmöglichkeiten sind angezeigt. Die schon seit längerer Zeit, besonders aber seit der Flussschifffahrt auf der Mosel an Ostern bemerkte Schwäche mit Müdigkeit, Anstrengungsatemnot, Stuhl-
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entleerungsstörungen und Gewichtsverlust wird zur Eisenmangelanämie bei einer Blutungsquelle im Magendarmbereich, am ehesten im Dickdarm, differential diagnostisch bei Polypose, Divertikulose, Kolitis oder Darmkrebs. Weitere Untersuchungen zur Klärung der Ursache und Behandlungsmöglichkeiten sind angezeigt.
Im Zusammenhang sichten von •• subjektiven Aussagen des Patienten •• anamnestischen Erhebungen des Arztes •• Resultaten aus klinischen und ergänzenden Untersuchungen
Die »Beurteilung« der Situation setzt sich zusammen wie ein Bild aus zahlreichen Mosaiksteinen, das sich im Verlauf einer oder mehrerer Konsultationen sukzessive zusammenfügen lässt. Zu diesen Mosaiksteinen zählen die vom Patienten verbal und nonverbal berichteten Symptome, Befindlichkeiten und kontextuellen Schilderungen, seine Verhaltensweisen, Stimmungen, die Bedeutung, die er seinen Symptomen gibt, seine Befürchtungen und Hoffnungen, Erwartungen, Ressourcen und Lösungsvorstellungen etc. Mosaiksteine auf Seiten des Arztes sind seine intuitiven Eindrücke, Beobachtungen, anamnestische Erkenntnisse, körperliche Untersuchungsbefunde, klinische Messwerte, Resultate von Laboranalysen und bildgebenden Verfahren, allenfalls konsiliarisch eingeholte medizinisch-technische Befunde und Beurteilungen. Sich selbst fragt der Arzt, ob er mit seiner medizinisch-technischen »Beurteilung« der Situation des Patienten umfassend gerecht werden kann; ob er genügend aufmerksam war und ihm nichts Wesentliches entgangen ist; ob ihn eigene blinde Flecken an Bedeutendem vorbeischauen lassen könnten; ob seine Fachkompetenz genüge, um die Dinge richtig zu verstehen; ob ihn allenfalls eigene Vorstellungen, Werte, Einstellungen, Vorurteile, persönliches Befangen- oder
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Bei diesem schwierigen und heiklen Transfer ist der Arzt darauf bedacht, die narrative Welt des Patienten und seine medizinisch-technische Welt umsichtig und sorgfältig zu einer gemeinsamen Wirklichkeit zusammenzufügen. Er achtet darauf, dass das subjektive Erleben des Patienten auch in dieser technischen Welt der Medizin seinen zentralen Stellenwert behält. Arzt und Patient nutzen die Elemente beider Welten für eine tragfähige, für beide nutzbringende »Beurteilung« als Grundlage für eine personenbezogene lösungsorientierte Handlungsplanung. Im Rahmen des »Beurteilungs«-Gesprächs vermittelt der Arzt dem Patienten einerseits patientengerecht formulierte Informationen. Andererseits stellt er ihm Fragen zum gegenseitigen Verständnis, zu Ergänzungen, eigenen Vorstellungen, Einverständnis und Zustimmung.
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Schritt 4: Handlung entwickeln
Betroffensein oder Erwartungshaltungen fehlleiten und von bedeutsamen Folgerungen abhalten könnten. Diagnose oder Arbeitshypothese gemeinsam besprechen
Arzt und Patient besprechen die bisher erhaltenen Resultate, interpretieren diese und gelangen zu einer zusammenfassenden Gesamtschau. Diese kann eine klar benennbare Krankheit (Diagnose) sein. Oft aber bleibt es bei einer unscharfen Krankheitssituation (Arbeitshypothese). In sorgfältigem Austausch einigen sich Arzt und Patient im Rahmen persistierender Ungewissheit / Unsicherheit (uncertainty) auf eine gemeinsame »Beurteilung«. Von diesem Punkt aus entscheiden sie zusammen über das weitere Vorgehen / Handeln in eine zielführende Richtung des Lösungsprozesses. Die systemisch-lösungsorientierte »Beurteilung« besteht aus einem medizinisch-technischen und einem personenzentrierten Ast. Der medizinisch-technische Ast der »Beurteilung« betrachtet das Symptom / Problem aus theoretischer, fachlich-wissenschaftlicher, statistischer Sicht. Damit gemeint sind: die Wahrscheinlichkeit, dass die Diagnose stimmt; das wahrscheinliche Heilbarkeitspotenzial zur »vollständigen« Wiederherstellung der Gesundheit; die Behandelbarkeit durch verschiedene therapeutische Maßnahmen mit ihrer jeweiligen Wirksamkeitswahrscheinlichkeit; die Beeinflussbarkeit des wahrscheinlich zu erwartenden Krankheitsverlaufs durch sekundär-präventive Maßnahmen; das Risikopotenzial für ein chronisches Gesundheitsdefizit; mögliche Auswirkung auf die statistisch wahrscheinliche Lebenserwartung und auf einen »vorzeitigen« Tod des Patienten. Der personenzentrierte Ast der »Beurteilung« bezieht zudem den Lebenskontext des Patienten mit ein: Alter, Komorbiditäten, psychosoziale und sozioökonomische Umstände. Zudem betrachtet sie auch Lebenseinstellung und Werte des Patienten sowie die persönliche psychologische, emotionale, soziale, spirituelle, berufliche und gesellschaftliche Bedeutung, die der Patient dem Symptom / Problem zuteilt. Die »Beurteilung« entspricht vor allem im Bereich der Hausarztmedizin mit ihrem breiten Tätigkeitsfeld und ihrer besonderen Stellung an der Front und an den Schaltstellen des Gesundheitswesens in sehr vielen Fällen nicht einer exakten, ICD24-kodierbaren Diagnose wie zum Beispiel »inferiorer Myokardinfarkt«. Oft formuliert der Arzt die »Beurteilung« unscharf, offen, quasi multipotent, als Beschreibung eines Symptomenkomplexes, entsprechend den vielen Ursachen, die das Symptom, das Anlass zur Konsultation war, haben kann: zum Beispiel 24 International Classification of Diseases.
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belastungs- und bewegungsabhängige Brustschmerzen, situative Kopfschmerzen, unklare Müdigkeit. Oder er hält in der »Beurteilung« eine emotionale Befindlichkeit des Patienten fest, etwa Angst vor einer bestimmten Krankheit. Eventuell benennt er lediglich den Konsultationsgrund (reason for encounter), zum Beispiel den Wunsch nach einem Attest, beispielsweise für ein Fitnesscenter, damit das Abonnement um die Zeit der krankheitsbedingten Sportunfähigkeit kostenlos verlängert werden kann. Diesem besonderen Umstand trägt die hausarztmedizinspezifische Kodifizierung ICPC25 besser Rechnung als der ICD-Code. ICPC wurde von WONCA entwickelt und von der WHO in die Liste der Kodifizierungen aufgenommen. Im Bild der »Beurteilung«, das sich aus vielen Mosaiksteinen zusammenfügt, bleiben fast immer Lücken. Dies trifft ganz besonders auf dem Gebiet der Hausarztmedizin zu, da sie in der Regel erste Anlaufstelle für alle Patienten und Patientinnen ist. Die Symptome / Probleme, mit denen die Menschen den Hausarzt konsultieren, sind unselektioniert und decken die gesamte mögliche medizinische Palette ab. Sehr oft finden sie sich zum Zeitpunkt der hausärztlichen Konsultation(en) in einem erst lückenhaft ausgeprägten Frühstadium und können oft nicht eindeutig einem bestimmten Krankheitsbild zugeordnet werden. Diese Faktoren sind Bausteine der Ungewissheit / Unsicherheit (uncertainty) und bedeuten eine große Herausforderung für die ärztliche »Beurteilung«. Symptome können sich zwar ähnlich sehen, aber völlig unterschiedliche Bedeutungen in sich bergen. Der Arzt interpoliert die Lücken aufgrund seines individuellen medizinischen Wissens, seiner beruflichen Erfahrung und seiner ärztlichen Haltung / Philosophie; entsprechend plant er das weitere Handeln mit dem Patienten. Die gleiche Situation könnte somit bei unterschiedlichen Arzt-Patient-Konstellationen zu variablen »Beurteilungen« und Handlungsplanungen führen. Der Arzt kann das Symptom / Problem aus fachlicher Sicht als harmlose und selbstlimitierende Beschwerde »beurteilen«, den Patienten mit Worten beruhigen oder eine Behandlung mit einem symptomlindernden Medikament vorschlagen. Er kann das »gleiche« Symptom / Problem als ein frühes Zeichen einer möglicherweise gefährlichen Krankheit interpretieren und mit dem Patienten entsprechende Weiteruntersuchungen in situationsgerechtem zeitlichem Horizont vereinbaren. Oder er kann es als Alarmzeichen für ein akut drohendes, potenziell lebensgefährliches Ereignis »beurteilen« und den Patienten nach den Regeln des Notfalls behandeln. Breites Wissen, große berufliche Erfahrung, höchst aufmerksames kritisches Betrachten und »auf sich einwirken lassen« der 25 International Classification of Primary Care.
Schritt 4
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Schritt 4: Handlung entwickeln
gesamten Situation sowie dem Patienten ganz genau zuzuhören ermöglichen es dem Arzt, in aller Regel zu einer für beide »richtigen« »Beurteilung« zu gelangen und das »Richtige« zu tun. Nehmen wir als Beispiel eine Erstkonsultation mit neu und akut aufgetretenen heftigen Schmerzen im mittleren Oberbauch mit Übelkeit. Sind diese Symptome Zeichen für eine harmlose Gastritis oder eine Pankreatitis, für eine psychosoziale Belastungssituation oder einen lebensgefährlichen Herzinfarkt? Drei unterschiedliche »Beurteilungs«-Möglichkeiten mit sehr unterschiedlichem Handlungsbedarf. Lücken im Mosaik vergrößern den Interpretationsspielraum der »Beurteilung« und schaffen beim Arzt und Patienten Unklarheit und Ungewissheit / Unsicherheit. Sie sind für beide eine Quelle von Angst und für den Patienten Anlass zu katastrophisierenden Gedanken und überbordender Selbstbeobachtung. Der Arzt weiß um diese Problematik und benennt dem Patienten beim Erstellen der »Beurteilung« die Lücken transparent und ehrlich. Er bespricht mit dem Patienten, inwieweit diese Lücken die Sicherheit der »Beurteilung« und die Planung des weiteren Handelns beeinflussen. Er erwähnt, ob, wie und mit welchen Methoden sich diese Lücken verringern lassen und wie sich entsprechende Maßnahmen auf die »Beurteilung« auswirken könnten. Er weist darauf hin, dass sich durch zusätzliche Untersuchungen vielleicht wieder neue Fragen und weitere Unsicherheiten ergeben könnten; dass die Gesamtsituation damit vielleicht nicht klarer würde. Bei dieser Information begrenzt er die manchmal große Palette an Möglichkeiten auf das, was für den konkreten Lösungsprozess nötig ist. Der Arzt übermittelt dem Patienten und seiner möglicherweise auch anwesenden Begleitung seine »Beurteilung« mit sorgsamen Worten in klarer und für medizinische Laien verständlicher Sprache. Er spricht sachlich präzise und beachtet, insbesondere in schwierigen Situationen, dass seine Worte nicht dramatisierend wirken, dass sie den Beunruhigungsspielraum nicht noch zusätzlich ausweiten und immer Raum für Hoffnung lassen. Er beachtet, was ihm für den Patienten kognitiv verständlich und emotional verträglich scheint. Der Arzt berücksichtigt auch die Persönlichkeit des Patienten, seine Fähigkeit, mit schwierigen Situationen umzugehen (Coping, Resilienz). Die Informationsmenge unterteilt er in überschaubare und verstehbare Portionen. Eventuell bedient er sich zum besseren Verständnis geeigneter Metaphern, zum Beispiel aus dem Interessen- und / oder Berufsfeld des Patienten. Immer wieder überprüft er, ob das, was der Patient verstanden hat, mit dem übereinstimmt, was er sagen wollte. Der Arzt ist sich bewusst, dass das Abstimmen der Wirklichkeiten von Patient und Arzt bei bestem Bemühen relativ bleibt und dass eine fehlende oder ungenügende Abstimmung die häufigste Wurzel von Missverständnissen darstellt.
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Schritt 4
Der Arzt weiß, dass die »Beurteilung« beim Patienten eine breite Palette von Reaktionen auslösen kann. Eine klare und eindeutige »Beurteilung« kann dessen Befürchtungen beseitigen oder besser einordnen lassen. Vielleicht bestätigt sie die schlimmsten Befürchtungen. Beispielsweise kann es sich beim länger dauernden Halsweh um einen protrahierten viralen Infekt handeln oder um ein Tonsillenkarzinom. Klarheit, wie immer sie auch ausfällt, ist für die meisten Menschen erträglicher als Unklarheit. Eine »Beurteilung« mit weiter bestehenden Unklarheiten kann den Patienten zusätzlich verunsichern, seine schlimmsten Phantasien beflügeln, seine Ängste steigern und seine Wirklichkeitskonstruktion dramatisieren. Dies kann, insbesondere wenn es vom Arzt unbemerkt bleibt und nicht aufgefangen werden kann, die Entwicklung zu einer chronischen somatoformen Krankheit anstoßen. Der Arzt kann eine solche Situation rechtzeitig, etwa anhand der ICE-Fragen (s. Kapitel 3.3 in »Schritt 3: Anamnese«) klären. Er fragt den Patienten explizit, wie die »Beurteilung« seine »ideas«, »concerns« und »expectations« beeinflusst. Ziel ist dabei, gegebenenfalls unterschiedliche Interpretationen von Arzt und Patient zu erkennen, diese offen anzusprechen, gemeinsam zu reflektieren und einander anzugleichen. So können beide weiterhin gemeinsam auf dem Weg zu einer geeigneten Lösung bleiben.
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Schritt 4: Handlung entwickeln
Praktisches Vorgehen 4.3 Therapiemöglichkeiten besprechen •• Hausärztliche Behandlung durchführen oder an Spezialarzt, Spital oder andere Fachperson überweisen •• Ressourcen des Patienten klären •• Erweiternde Informationen geben und Empowerment fördern
Was angestrebt wird Ein konkreter Therapieprozess, der auf die Bedürfnisse und Möglichkeiten, auf den umfassenden Kontext sowie die Zielsetzung des Patienten ausgerichtet ist, ist gemeinsam ausgehandelt und die praktische Umsetzung geklärt. Wie Sie vorgehen können ▶▶ Informieren Sie den Patienten in Laien-verständlicher und an seine kogni-
tiven Fähigkeiten angepasster Sprache über mögliche Behandlungsformen, den zu erwartenden Nutzen, mögliche Risiken und Nebenwirkungen sowie den zu erwartenden Verlauf. ▶▶ Befähigen Sie den Patienten zu konstruktivem Verhalten auf mögliche Nebenwirkungen. ▶▶ Befähigen Sie den Patienten mit erweiterten Informationen zur gemeinsamen Entscheidungsfindung (shared decision making). ▶▶ Beziehen Sie die kontextuelle Lebenssituation des Patienten ein, seine Einstellung zu Gesundheit und Krankheit, Leben und Sterben sowie den zu erwartenden Einfluss auf die Lebensqualität. ▶▶ Klären Sie zudem die Ressourcen des Patienten und den Auftrag des Arztes. ▶▶ Überprüfen Sie immer wieder, ob das, was der Patient verstanden hat, mit dem übereinstimmt, was Sie sagen wollten. Mögliche Aussagen und Informationsweisen •• Aufgrund unserer gemeinsamen »Beurteilung« handelt es sich bei Ihrem Symptom / Problem aus medizinisch-technischer Sicht mit größter Wahrscheinlichkeit um diese klar definierte Krankheit, für deren Heilung es eine spezifische Therapie gibt.
Praktisches Vorgehen
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•• Haben Sie selbst bereits Recherchen zu Ihrem Symptom / Problem und dessen Behandlungsmöglichkeiten unternommen? Welche? Wie kamen Sie zu dieser Methode? Haben Sie diese bereits umgesetzt? Welches Ergebnis haben Sie erreicht? •• Was haben Sie bei Ihren Recherchen über diese Behandlungsmöglichkeiten verstanden? •• Nach meinem fachlichen Ermessen treffen Sie die Situation ganz gut. Sie können Ihre begonnene Behandlung weiterführen. Ich würde Ihnen folgende Anpassung der Dosierung / Ergänzung vorschlagen. •• Was erwarten Sie von mir betreffend die Therapie / das weitere Vorgehen? •• Was können Sie selbst zur Therapie beitragen? •• Zwischen dem, was Sie mir erzählen, und dem, was ich glaube zu wissen, liegt ein großer Unterschied. Ich möchte Ihnen gern nochmals meine Sicht erläutern. •• Was denken Sie zu meinen Überlegungen? •• Gemäß der medizinischen Wissenschaft steht für Ihre Diagnose folgende Behandlungsmöglichkeit im Vordergrund. •• Bei Ihrer Diagnose ist die Behandlung gemäß wissenschaftlichen Daten bei xy % der Patienten in der Regel erfolgreich. •• Als Nutzen der Behandlung können wir mit großer Wahrscheinlichkeit innerhalb folgenden Zeitraums folgendes Resultat erwarten. •• Diese Behandlung könnte sich gleichzeitig günstig auf die Symptome vonseiten Ihrer anderen Krankheit X auswirken. •• Wie bei jeder Behandlung können wir nicht vorhersehen, ob sich die erwartete Wirkung bei Ihnen einstellen wird. •• Sollte die Behandlung nicht wirksam sein, werden wir nochmals nachdenken, ob unsere »Beurteilung« stimmt; was es ausmacht, dass die Behandlung bei Ihnen persönlich nicht wirksam ist; ob und welche alternativen Möglichkeiten es gibt. •• Was wissen Sie bereits über diese Behandlung? •• Was an meinen Erläuterungen / Empfehlungen ist für Sie wichtig? Was ist unklar?
Schritt 4
•• Ich informiere Sie, wie diese spezifische Behandlung vor sich geht, welche Wirkung Sie erwarten können, in welchem Zeitraum die Wirkung sich einstellen dürfte, auf welche möglichen Nebenwirkungen Sie achten müssen. Anschließend werden wir gemeinsam entscheiden, ob Sie diese durchführen möchten. •• Sind Sie damit einverstanden?
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Schritt 4: Handlung entwickeln
•• Was würden Sie erwarten, wenn wir diese Behandlung durchführen würden? •• Was können Sie selbst dazu beitragen? •• Was wäre meine Aufgabe? •• Gemäß der medizinischen Wissenschaft gibt es für Ihre Diagnose keine heilende Behandlung. Es existiert jedoch eine ganze Reihe von Maßnahmen, die das Fortschreiten der Krankheit aufhalten und die Symptome lindern können. •• Der Arzt wartet und gibt dem Patienten Zeit zum Nachdenken, bis dieser seine Reaktion formulieren kann. •• Was löst diese Information in Ihnen aus? •• Die Abklärungen weisen auf eine Diagnose hin, für deren Therapie ich Sie an einen Spezialarzt überweisen will. •• Was halten Sie von diesem Vorgehen? •• Ich arbeite gern mit folgendem Arzt zusammen. •• Kennen Sie selbst einen Arzt aus diesem Spezialgebiet oder ist Ihnen einer empfohlen worden? •• Die Abklärungen haben zur Diagnose einer mit größter Wahrscheinlichkeit harmlosen, selbstheilenden Krankheit geführt. Wir könnten eine symptomlindernde Behandlung besprechen. •• Haben Sie selbst schon eine Behandlung begonnen? Welche? Wie hat sie sich ausgewirkt? •• Welche lindernden Medikamente haben Sie zu Hause? •• Wie kommen Sie mit der eigenen Behandlung zurecht? •• Was kann ich zusätzlich für Sie tun? •• Benötigen Sie nur ein Arztattest zur Bestätigung der Arbeitsunfähigkeit? •• Mit unseren bisherigen Abklärungen konnten wir Ihre Diagnose noch nicht genügend gut eingrenzen. Es kommen weiterhin verschiedene Diagnosen infrage. So können wir noch nicht über eine spezifische Behandlung entscheiden. •• Wir haben nun verschiedene Möglichkeiten: ȤȤ wir warten ab und beobachten, wie sich Ihr Symptom weiter entwickeln wird. ȤȤ Wir beginnen, falls Sie das wünschen, eine Behandlung zur Linderung der Symptome.
Praktisches Vorgehen
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•• Ich habe eine schwere Botschaft für Sie. Die Krankheit, an der Sie leiden, haben wir mit allen möglichen Mitteln behandelt. Wir müssen schweren Herzens feststellen, dass sie trotz allen unseren gemeinsamen Bemühungen weiter fortgeschritten ist. Wir sind nun an einen Punkt gelangt, da wir alle zu einer Heilung führenden (kurativen) Therapien ausgeschöpft haben. •• Ich muss Ihnen mitteilen, dass es für Ihr schweres und Sie sehr belastendes Symptom / Problem keine spezifische Therapie gibt. •• Der Arzt macht immer wieder eine Pause, lässt die Aussage im Raum stehen, wartet, lässt den Patienten nachdenken. •• Dies bedeutet nicht, dass wir Ihnen nicht mehr beistehen können. Wir wollen nun ganz sorgfältig miteinander besprechen, wie wir weiter vorgehen wollen; wie wir Ihren weiteren Weg gestalten können; welche lindernden (palliativen) Hilfestellungen ich selbst Ihnen geben kann und welche weiteren Fachpersonen wir hinzuziehen können. •• Was bedeutet diese Botschaft / Nachricht / Information für Sie? •• Was ist Ihnen für die kommende Zeit wichtig? •• Was kann ich beitragen? •• Welche eigenen Möglichkeiten haben Sie? •• Sie fragen, welche weiteren Behandlungsmöglichkeiten es gebe. •• Alternativ dazu kenne ich folgende Behandlungsmöglichkeiten. •• Aus den verschiedenen Behandlungsmöglichkeiten finde ich diese Therapie für Sie die geeignetste. •• Was denken Sie zu meinen Argumenten? •• Welcher Therapie geben Sie den Vorzug? •• Sie bevorzugen die andere Möglichkeit?
Schritt 4
ȤȤ Wir machen einen Therapieversuch mit der Behandlung A mit Blick auf die wahrscheinlichste Diagnose. Das Resultat dieser Behandlung hilft uns, die Diagnose weiter einzugrenzen. ȤȤ Welcher Weg stimmt für Sie am besten? ȤȤ Falls wir diesen Weg gemeinsam gehen würden, welche Rolle sähen Sie für mich, welche für sich selbst oder andere Personen? ȤȤ Habe ich Sie richtig verstanden: Die Symptome sind für sie erträglich? Sie ziehen es vor, diese nicht zu unterdrücken, damit Sie die Kontrolle über den Verlauf behalten? ȤȤ Falls wir nicht zeitgerecht zum Ziel kommen sollten, werden wir gemeinsam klären, ob wir einen Spezialarzt hinzuziehen wollen. ȤȤ Sind Sie damit einverstanden?
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Schritt 4: Handlung entwickeln
•• Können Sie mir sagen, welche Möglichkeit Sie bevorzugen und was Sie zu dieser Meinung bewegt? •• Sie ziehen eine komplementärmedizinische Behandlung vor? •• Können Sie mir sagen, was Sie davon erwarten? •• Ich denke, in der aktuellen Situation können Sie einer solchen durchaus den Vorrang geben. •• In dieser Situation kann nach meinem Ermessen eine homöopathische Behandlung begleitend zur schulmedizinischen sinnvoll sein. •• Kennen Sie einen Homöopathen, der für Sie infrage kommt? •• Sie erwähnen die neue Behandlung X für Ihr Leiden. Wie sind Sie auf diese gestoßen? •• Ich habe in der Fachliteratur auch von dieser Therapie gelesen. Sie ist meines Wissens noch nicht erprobt / für Ihre Situation nicht zugelassen / befindet sich im experimentellen Stadium / scheint nicht oder wenig erfolgversprechend zu sein. •• Was halten Sie von dieser Behandlung, nachdem Sie meine Meinung gehört haben? •• Sie möchten diese spezifische Behandlung, da Sie überzeugt sind, dass sie an der Krankheit XY leiden. Unsere Abklärungen haben diese Diagnose nicht bestätigt und ich kann Ihnen diese Therapie nicht verschreiben. •• Was bedeutet das für Sie? •• Wie wollen wir nun weiter verfahren? •• Was bedeutet dies für unsere Zusammenarbeit? •• Sie sagen, dass Sie keine Behandlung haben möchten. Welche Beweggründe stehen hinter dieser Entscheidung? •• In Ihrer Situation können wir es verantworten, den weiteren natürlichen Verlauf der Diagnose vorerst noch einige Tage zu beobachten. Ich schlage Ihnen einen entsprechenden Verlaufstermin vor. •• Haben Sie einen anderen Vorschlag? •• Falls sich Ihre Situation während der Beobachtungsphase verschlechtert, ist es für mich wichtig zu wissen, dass Sie sich umgehend bei mir melden. •• Können Sie mir diese Zusage machen? •• Falls Sie Ihre Meinung ändern sollten, dürfen Sie sich jederzeit bei mir melden. •• Stimmt es so für Sie?
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•• Sie lehnen jede Behandlung gegen meine dringende Empfehlung kategorisch ab. Können Sie mir Ihre Beweggründe für diese Entscheidung nennen? •• Es ist selbstverständlich Ihr Recht, die Behandlung abzulehnen. •• Es ist meine ärztliche Pflicht, Sie über die Konsequenzen, denen Sie sich mit Ihrer Ablehnung aussetzen, zu informieren. •• Mit der Ablehnung einer Behandlung nehmen Sie mit großer Wahrscheinlichkeit kurzfristig / langfristig folgende gesundheitlichen Risiken in Kauf. •• In Ihrer Situation kann ich Ihre Ablehnung aus ärztlicher Sicht aus folgenden Gründen nicht unterstützen: … •• Darf ich Sie bitten, mir zu sagen, wie Sie meine Aussagen verstanden haben? •• Welchen Einfluss haben meinen fachlichen Erläuterungen auf Ihre Entscheidung? •• Als Zusammenfassung: Habe ich Sie richtig verstanden, dass Sie die Therapie aus voller Überzeugung und gegen meinen ausdrücklichen Rat ablehnen? •• Ich erachte Sie als urteilsfähig und akzeptiere Ihre Entscheidung, wenn auch schweren Herzens. •• Damit ich später nicht richterlich belangt werden kann, ist es mir wichtig, dass Sie eine Verzichtserklärung unterschreiben. •• Selbstverständlich stehe ich Ihnen auch weiterhin, trotz Ihrer Ablehnung der vorgeschlagenen und medizinisch empfohlenen Behandlung, auf Ihrem Krankheitsweg bei. •• Falls Sie im Verlauf betreffend Ihre Entscheidung unsicher werden sollten oder sie ändern möchten, werde ich Sie gern unterstützen. •• Darf ich Sie bitten, mir zu sagen, was Ihnen nun durch den Kopf geht? •• Wie möchten Sie, dass wir nun zusammen weiter vorgehen? •• Diese Behandlung beinhaltet folgende Risiken. •• Dieses Vorgehen hat ein ausgewogenes Nutzen-Risiko-Profil. •• Jede der Behandlungen, die wir angesprochen haben, hat ihr eigenes Wirkungs- und Nebenwirkungsprofil. •• Bei diesem Vorgehen können wir davon ausgehen, dass der Nutzen das Risiko wesentlich überragt. •• Es bleibt bei jeder Maßnahme ein Restrisiko, das wir nicht vorhersehen können. •• Bei dieser Behandlung könnten folgende unerwünschten Wirkungen auftreten. •• Bei dieser Behandlung ist folgende Nebenwirkung häufig. •• Die erwähnte Nebenwirkung ist harmlos. Sie geht von selbst vorbei. Allenfalls können Sie folgende Gegenmaßnahme treffen.
Schritt 4
Praktisches Vorgehen
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•• Bei dieser vorübergehenden harmlosen Nebenwirkung sollten Sie die Behandlung wegen ihres großen Nutzens und fehlender Alternativen wenn immer möglich weiterführen. •• Als Schutz vor dieser typischen und häufigen Nebenwirkung verordne ich Ihnen eine begleitende Behandlung. •• Sollte sich infolge der Behandlung diese Nebenwirkung einstellen, können Sie dieses Rezept mit dem Gegenmittel in der Apotheke einlösen. •• Bei dieser Behandlung kann sehr selten, manchmal erst nach langer Einnahme, folgende gefährliche Nebenwirkung auftreten. Sie zeigt folgende Symptome. Wenn Sie diese spüren, müssen Sie das Medikament sofort absetzen und sich unverzüglich bei mir oder auf einer Notfallstation melden. •• Falls Sie während der Behandlung Symptome spüren, die Sie vor der Behandlung nicht kannten und die Sie nicht einordnen können, könnte es sich um eine Nebenwirkung handeln. Melden Sie mir das bitte unverzüglich. •• Wie werden Sie Ihrer Frau erklären, welche Nebenwirkungen möglich sind und welche Maßnahmen ich Ihnen empfohlen habe? •• Die heutige Kontrolle zeigt, dass sich die von der Therapie erwartete Wirkung nicht eingestellt hat. •• Wir wollen nun überlegen, was dahinter steckt. •• Die Überprüfung der Diagnose bestätigt diese. •• Bevor wir nach weiteren Gründen für das Therapieversagen forschen, möchte ich Sie fragen, wie Sie die Behandlungsanweisungen umgesetzt haben.
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Erweiterte inhaltliche Beschreibung des Ablaufs / Prozesses 4.3 Therapiemöglichkeiten besprechen •• Hausärztliche Behandlung durchführen oder an Spezialarzt, Spital oder andere Fachperson überweisen •• Ressourcen des Patienten klären •• Erweiternde Informationen geben und Empowerment fördern
Arzt und Patient sind in einem umfassenden Austausch zu einer gemeinsamen »Beurteilung« des Symptoms / Problems gelangt und haben zusammen das weitere Handeln geplant. Nun geht es um das gemeinsame Aushandeln, Auswählen und Durchführen einer konkreten Therapie, die auf die Bedürfnisse und Möglichkeiten, auf den umfassenden Kontext sowie die Zielsetzung des Patienten ausgerichtet ist, und um das praktische Umsetzen. Die Herausforderung dabei ist, dass die von beiden anerkannte »Beurteilung« oft nicht einer exakten Diagnose entspricht, sondern einer Arbeitshypothese. Damit können Arzt und Patient ihre weitere Entscheidungsfindung lediglich auf einer labilen Grundlage aufbauen. Für die optimale Gestaltung dieses Prozesses stützen sie sich auf das gemeinsame umfassende Verständnis des Symptoms / Problems, das Behandlungsziel und das gegenseitige Vertrauen, die sie während der Konsultation(en) bisher gemeinsam erarbeitet haben. Der Arzt als prozessverantwortliche Fachperson (Experte) informiert den Patienten über die in Frage kommenden medizinischen und nichtmedizinischen Behandlungsmöglichkeiten. Mit Blick auf eine gemeinsame Entscheidungsfindung (shared decision making) vermittelt er ihm die entscheidungsrelevanten Kenntnisse in nötiger fachlicher Tiefe und Laien-verständlicher Sprache: wissenschaftliche Grundlagen, Wirkungsart, zu erwartender Nutzen, mögliche Risiken und Nebenwirkungen sowie Grenzen, Vor- und Nachteile verschiedener Möglichkeiten aus fachlicher und persönlicher Sicht, Anwendungsweise, Behandlungspfad, zeitlicher Verlauf, komplementäre und alternative Möglichkeiten, soweit er sie kennt und als ähnlich wirksam erachtet. Wo eine Heilung auch ohne medizinische Therapie möglich ist und es der allgemeine Gesundheitszustand des Patienten erlaubt, bespricht der Arzt auch die Möglichkeit des Unterlassens einer Therapie unter Beobachtung des natürlichen Verlaufs des Symptoms / Problems. Für die Entscheidungsfindung berücksichtigen sie die kontextuelle Lebenssituation des Patienten, seinen Gesundheitszustand,
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Therapiemöglichkeiten besprechen
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seine Einstellung zu Gesundheit und Krankheit, zur Lebensqualität, zu Leben und Sterben. Wo mehrere therapeutische Möglichkeiten zur Diskussion stehen, vergleichen Arzt und Patient deren Vor- und Nachteile aus fachlicher und persönlicher Sicht. Persönliche Präferenzen des Patienten berücksichtigen sie, soweit sie diese als sinnvoll, zielführend und fachlich verantwortbar erachten. Sie besprechen, welche Ressourcen dem Patienten zur Verfügung stehen und wo diese eine Unterstützung benötigen. Bei der Therapiewahl kann es zu großen Differenzen der Vorstellungen zwischen Arzt und Patient kommen. In respektvollem und ernsthaftem Diskurs dürften sie in der Regel zu einer einvernehmlichen Entscheidung gelangen im Spannungsfeld zwischen Vorstellungen des Patienten, den teils überhöhten Versprechungen der Medizin, den kommerzialisierten Verführungen zu unnötigen Behandlungen (disease mongering) und der medizinischen Verantwortung des Arztes. Der Arzt bezieht Stellung, welcher Möglichkeit er aus seiner fachlichen Sicht den Vorzug gibt. Dies tut er auch ganz besonders dann, wenn er mit der Entscheidung des Patienten wegen Gefährdung der Gesundheit oder des Lebens nicht einverstanden ist. Sie besprechen, wo die Behandlung stattfinden soll und was der Patient zum Gelingen beitragen kann. Arzt und Patient klären dabei nochmals den therapeutischen Auftrag. Danach planen sie die nötigen konkreten praktischen Schritte. Der Arzt achtet bei seiner Wortwahl sorgsam darauf, dass die Erwartungen des Patienten in einem verhältnismäßigen und realitätsbezogenen Rahmen bleiben und dass immer, auch in kritischen und bedrohlichen Situationen, ein angemessener Raum für Hoffnung bleibt. Der Arzt ist sich bewusst, dass er den Patienten mit einer Fülle von neuen und ihm unvertrauten Informationen konfrontieren muss. Er erkundigt sich darüber, was der Patient bereits recherchiert hat, weiß und fachlich verstanden hat. Aufbauend auf dieses individuelle Vorwissen sowie adaptiert an die Verständnis- und Aufnahmefähigkeit sowie das Interesse und die Persönlichkeit des Patienten gestaltet er Umfang, Tiefe und Geschwindigkeit seiner Informationsschritte. Mit Zwischenfragen klärt der Arzt mit dem Patienten, ob sie beide das Gleiche verstanden haben. Zudem erkundigt er sich, ob weitere Fragen oder Ergänzungen vorliegen. Er fragt nach Einverständnis und Zustimmung. Arzt und Patient klären, wie sie im zeitlichen Ablauf (Strategie) vorgehen wollen und auf welche Art und Weise (Methode) sie die therapeutische Erwartung am besten erreichen können. Dabei beachten sie das, was aus medizinischer
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Sicht des Arztes und der Vorstellung des Patienten vorrangig nötig und zusätzlich wünschbar ist (nice to have – need to have). Im Wissen um die begrenzten Möglichkeiten fast aller Therapien nehmen sie gedanklich vorweg, wie sich die Behandlung im besten und schlechtesten Fall auswirken sollte und könnte. Bei der Therapie kann es sich um sehr unterschiedliche, einzeln oder in Kombination angewendete medizinische und nichtmedizinische Maßnahmen in breiter Varianz handeln: beobachtendes Zuwarten, ein Medikament oder eine Kombination verschiedener Arzneien, eine Intervention oder Operation, eine Strahlentherapie, Psychotherapie, Physio-, Ergo- oder Kunsttherapie, Pflege, Haushilfe, Mahlzeitendienst, Sozialberatung und -unterstützung, Rechtsberatung, ein Gespräch mit dem Chef oder vielleicht eine berufliche Neuorientierung etc. Arzt und Patient wissen, dass sich der Erfolg einer Therapie nie sicher vorhersagen lässt. Deshalb denken sie gegebenenfalls Alternativen an, mit denen sie beim Nichtgelingen des vereinbarten Vorgehens oder bei ungenügender Wirkung weiter vorgehen könnten. Um sich bei solchen prospektiven Überlegungen nicht in einer beängstigenden Spekulationsflut zu verlieren, bleiben sie dabei zurückhaltend. In der Regel vereinbaren sie eine auf vernünftigen Erwartungen basierende »Schritt für Schritt«-Strategie mit situationsgerechten Kontrollterminen zur Beurteilung des Therapieverlaufs. Hausärztliche Behandlung durchführen oder an Spezialarzt, Spital oder andere Fachperson überweisen
Arzt und Patient legen den bestmöglichen Ort fest, wo die angestrebte Behandlung idealerweise stattfinden soll: ambulant beim Hausarzt, bei einem Spezialisten, in einer fachspezifischen Institution oder stationär in einem Krankenhaus. Die Entscheidung darüber treffen Arzt und Patient aufgrund der Beurteilung, des Behandlungsziels sowie der fachlichen Kompetenz des Arztes und seiner technischen Praxiseinrichtung. Einen Großteil der Behandlungen können Arzt und Patient unter sich bewältigen. Für viele Behandlungen entscheiden sie sich für die ambulante Zusammenarbeit mit einem Spezialarzt oder einer ambulanten Institution mit der nötigen technischen Kompetenz und Ausstattung. In der Regel hatten sie diese bereits für den Untersuchungsgang hinzugezogen. Deren Resultate haben einen wesentlichen Beitrag zur Beurteilung beigetragen und zu einer spezifischen Behandlung geführt. Diese Empfehlung beziehen Arzt und Patient in ihren Therapieentscheidungsprozess mit ein. Manchmal kommen Arzt und Patient überein, die vorgeschlagene Therapie beim Spezialisten oder in der spezialisierten Ins-
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Schritt 4: Handlung entwickeln
titution zu starten und dann in der Hausarztpraxis weiterzuführen. In gewissen Situationen, insbesondere bei onkologischen Behandlungen, können unter genauer Absprache gewisse Therapieschritte beim Spezialisten und andere beim Hausarzt durchgeführt werden. Nicht selten werden sie beim Spezialisten Verlaufskontrollen durchführen lassen, sei es zur Überwachung und Anpassung der Therapie oder zur Verlaufsbeobachtung, selbst dann, wenn sie die Therapieempfehlung nicht umgesetzt oder eigenständig modifiziert haben. Arzt und Patient ziehen, soweit es die Situation des Gesundheitszustands und der Mobilität des Patienten erlaubt, ein ambulantes Therapiesetting einem stationären vor. Die Qualität ist identisch. Für den Patienten ist es meistens angenehmer. Ambulante Therapien sind zudem in der Regel kostengünstiger als stationär erbrachte Leistungen. Für diese Entscheidung darf die im Krankenversicherungsgesetz verankerte Aufteilung der Kosten zwischen Versicherer und Staat keine Rolle spielen. Bei stationären Leistungen bezahlt in der Schweiz der Staat zirka die Hälfte der anfallenden Kosten mit Steuergeldern. Bei ambulanten Leistungen muss die Krankenversicherung die gesamten Kosten übernehmen. Ambulant erbrachte Leistungen, auch wenn sie insgesamt weniger kosten, kommen somit den Versicherer teurer zu stehen – und tragen dadurch paradoxerweise zu einer Erhöhung der Versicherungsprämien bei. Politische Lösungen zur Behebung dieses Paradoxons werden gesucht. Für einen Spitalaufenthalt, meistens mit einem Gesamtauftrag für Abklärung, Beurteilung und Therapie, entscheiden sich Arzt und Patient am ehesten dann, wenn einer oder mehrere der folgenden Gründe vorliegen: •• ein großer operativer Eingriff, der nicht ambulant durchgeführt werden kann; •• eine akut bedrohliche internistische Notfallsituation, etwa ein Herzinfarkt oder Hirnschlag, kritische Atem- und Kreislauffunktion; •• ein sehr kranker Patient mit einem völlig unklaren Krankheitsbild; •• ein krankheitsbedingtes schlechtes Allgemeinbefinden mit entsprechend generellem Kräfteverlust des Patienten; •• ungenügende häusliche Betreuungsmöglichkeiten oder Mobilitätseinschränkungen für den erforderlichen Bedarf; •• eine Behandlung, die aufgrund des technischen Aufwands oder wegen eines intensiven Überwachungsbedarfs nur stationär durchgeführt werden kann. Ressourcen des Patienten klären
In jedem Fall beziehen der Arzt und Patient die persönlichen Ressourcen des Patienten und seiner Umgebung ein. Diese haben sie während der Konsultationen entdeckt oder herausgearbeitet.
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Sie klären nun, in welchen Bereichen der geplanten Therapie diese Fähigkeiten und Kraftquellen eingesetzt werden können. Sie überprüfen auch, ob und wie diese noch zusätzlich gestärkt und gefördert werden können oder unterstützt werden müssen (patient empowerment). Der Arzt ist sich bewusst, dass der aktive Einbezug des Patienten in den therapeutischen Prozess bedeutend für den Therapieerfolg ist und sich fördernd auf seine Gesundheitskompetenz auswirkt.
Der Arzt hat ein umfassendes Wissen über die therapeutischen Möglichkeiten und ihre Grenzen. Er kennt auch die zahllosen Einflüsse, denen jede therapeutische Entscheidung in jeder Situation unterworfen ist. Im Interesse einer gemeinsamen Entscheidungsfindung (shared decision making) informiert der Arzt den Patienten situationsgerecht über dieses sehr weitreichende komplexe Gebiet. Mit dem Interesse an einer angemessenen Information erkundigt er sich danach, was der Patient schon recherchiert hat und über die Behandlung weiß. So kann er seine Erläuterungen – bestätigend, ergänzend und, wo nötig, korrigierend – auf diesem Vorwissen aufbauen. Der Arzt fokussiert das Gespräch auf die Themen, die für die aktuelle personenbezogene und lösungsorientierte Entscheidungsfindung nötig und sinnvoll sind. Er weiß, dass er mit seiner Themenwahl auf einem Grat wandert zwischen Klarheit schaffender Selektion des (für ihn) Wesentlichen und einem Vorenthalten von weiteren Informationen, die den Patienten auch noch hätten interessieren können. Beziehung und Vertrauen zwischen Arzt und Patient sowie ihr gegenseitiges Kennen und Verstehen lassen sie das richtige Maß an Information finden. Der Arzt verhält sich nach bestem Wissen und Gewissen und entsprechend den ethischen Grundsätzen ärztlichen Handelns. In fast allen Situationen müssen / können der Arzt und Patient ihr Vorgehen aus mehreren, teils sehr unterschiedlichen medizinisch anerkannten Behandlungsmöglichkeiten wählen. Diese sind oft in evidenzbasierten Algorithmen oder Guidelines festgehalten. Die höchste medizinische Evidenz beruht auf Resultaten aus randomisierter klinischer Forschung. Sie ist umso höher, je konsistenter diese Resultate in verschiedenen Studien bestätigt wurden. Konsensuspapiere und Expertenmeinungen haben eine niedrigere Evidenz. Cochrane Deutschland (http://www.cochrane.de/de/ebm) definiert die evidenzbasierte Medizin (EbM) folgendermaßen: »EbM ist der gewissenhafte, ausdrückliche und vernünftige Gebrauch der gegenwärtig besten externen, wissenschaftlichen Evidenz für Entscheidungen in der medizinischen Versorgung individueller Patienten. Die Praxis der EbM bedeutet die Integration individueller
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Schritt 4: Handlung entwickeln
klinischer Expertise mit der bestverfügbaren externen Evidenz aus systematischer Forschung.« Arzt und Patient wissen, dass die Sicherheit der Beurteilung / Diagnose und die diagnosebezogene Wirksamkeit einer Therapie eng miteinander verknüpft sind. Umgekehrt gesagt, sie sind sich bewusst, dass auch eine Behandlung von höchster Evidenz nur dann ihre Wirksamkeit entfalten kann, wenn die Diagnose, bei welcher sie angewendet wird, sichergestellt werden konnte. Dies ist oft nicht der Fall. Und sie sind sich bewusst, dass wissenschaftliche statistisch signifikante Vorgehensweisen für den individuellen Patienten in seiner spezifischen Situation nicht immer relevant sein können. Die Fülle an möglichen Situationen kommen im thematischen Schwerpunkt 12 »Therapiemöglichkeiten besprechen« zur Sprache.
SCHRITT 5: Präventive Möglichkeiten diskutieren
5 Präventive Möglichkeiten diskutieren
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Schritt 5: Präventive Möglichkeiten diskutieren
Praktisches Vorgehen 5 Präventive Möglichkeiten diskutieren
Was angestrebt wird Lebenskontext und -planung, psychosoziale Situation, individuelle Verhaltensweisen sowie bio-physikalische Funktionen und Organsituationen sind gemeinsam auf ihre gesundheitsrelevanten Auswirkungen betrachtet. Positive Situationen und Verhaltensweisen sind bekräftigt. Risikosituationen sind erkannt. Möglichkeiten für gesundheitsfördernde Situationsanpassungen und Verhaltensmodifikationen, medizinisch empfohlene Screening-Untersuchungen zur Früherkennung behandelbarer biologischer Veränderungen sowie Behandlungen zum Erhalt der Gesundheit und / oder zum Vorbeugen einer weiteren Gesundheitsgefährdung sind besprochen, geplant und / oder umgesetzt. Wie Sie vorgehen können ▶▶ Besprechen Sie mit dem Patienten die Lebenssituation und -planung, per-
sönlichen Verhaltensweisen / -veränderungen sowie die empfohlenen präventiven medizinisch-technischen Untersuchungen. ▶▶ Informieren Sie den Patienten verständlich über den statistisch zu erwartenden Nutzen und die Risiken der einzelnen Möglichkeiten ▶▶ Ermächtigen Sie ihn zur gemeinsamen Entscheidungsfindung für das Durchführen oder Unterlassen. Mögliche Gesprächsführung •• Gestatten Sie mir zuerst eine Information über den Check-up. Es ist mir wichtig, diese Gedanken mit Ihnen zu teilen. Check-up ist ein sehr weiter Begriff und betrifft eine Vielzahl von Aspekten, die sich auf die Gesundheit und das Gesundbleiben auswirken können. Dazu gehören in erster Linie das gesamte Lebensumfeld, die Lebensgestaltung und Verhaltensweisen. Dazu gehören auch medizinische Untersuchungsmöglichkeiten. •• Diese beinhalten neben ihren guten Seiten auch das Risiko, dass wir Dinge entdecken können, die Sie unnötig verunsichern, weitere Untersuchungen nach sich ziehen oder unnötig krank machen können.
Praktisches Vorgehen
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•• Sie sagen mir, dass Sie seit zwanzig Jahren täglich mindestens ein Päckchen Zigaretten rauchen. •• Sie haben auf meine Frage nach Ihrem Alkoholkonsum gesagt, dass Sie täglich drei Gläser Wein trinken. •• Sie haben mir mitgeteilt, dass Sie ab und zu Cannabis konsumieren. Wie steht es mit Ihrem Konsum von Drogen und nicht ärztlich verschriebenen Medikamenten? •• Sie haben sich als »bekennenden« Nichtsportler bezeichnet. •• Sie haben erwähnt, dass Sie sich in einem Stress-Dauerzustand fühlen. •• Wir haben bei Ihnen einen Body-Mass-Index im adipösen Bereich festgestellt. •• Möchten Sie mit mir über Ihre Rauchgewohnheit / Ihren Alkoholkonsum / Ihren Drogen- / Medikamentenkonsum / Ihr Bewegungsverhalten / Ihre Essgewohnheiten sprechen? •• Was wissen Sie über die möglichen Auswirkungen Ihres Verhaltens? •• Welche zusätzlichen Informationen benötigen Sie von mir? •• Wie steht es um Ihren Wunsch, zum jetzigen Zeitpunkt etwas zu verändern? •• Wie kann ich Sie beim Treffen Ihrer Entscheidung unterstützen? •• Sie möchten Ihrer Gesundheit zuliebe gern eine Veränderung folgender Verhaltensweise. •• Wie stark ist dieser Wunsch auf der analogen 10er-Skala? •• Wie stark trauen Sie sich diese Verhaltensänderung zum jetzigen Zeitpunkt zu? •• Sie wollen die Veränderung jetzt angehen und Sie sagen, dass der Zeitpunkt für Sie günstig ist. •• Möchten Sie einen Termin für ein weiterführendes Gespräch?
Schritt 5
•• Sie sagen mir, dass Sie zufrieden sind mit Ihrem Leben, Ihrer Wohnform und Ihrer Lebensgestaltung in privater, partnerschaftlicher, familiärer, sozialer, beruflicher und ökonomischer Hinsicht; dass Sie Vorkehrungen in Hinblick auf Ihr Älterwerden und eventuell verstärkten Hilfebedarf angedacht / getroffen haben; dass Sie sich regelmäßig bewegen, gut ernähren und auf Ihr Körpergewicht achten, Ihre Freizeit sinnvoll gestalten, genügend schlafen, sich nicht gestresst fühlen, nicht rauchen, nur mäßig alkoholische Getränke zu sich nehmen und die empfohlenen Vorsorgeuntersuchungen regelmäßig machen lassen. •• Als Ihr Arzt finde ich dies sehr gut und möchte Sie ermuntern, so weiterzumachen. Damit leisten Sie einen wesentlichen Beitrag dazu, möglichst lange gesund bleiben zu können.
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Schritt 5: Präventive Möglichkeiten diskutieren
•• Sie sagen, dass Sie eine Veränderung möchten, dass der Zeitpunkt jetzt für Sie aber nicht günstig ist. •• Wie und woran werden Sie erkennen, dass der günstige Zeitpunkt gekommen ist? •• Was würden Sie dann unternehmen? •• Würden Sie sich zutrauen, es eigenständig anzugehen? •• Welches sind die Umstände, dass Sie sich dafür bei mir melden würden? •• Sie sagen, dass Sie zurzeit keine Veränderung wünschen; dass Sie sich nicht schlüssig sind. •• Welches sind die Umstände, unter denen sich bei Ihnen der Wunsch nach Veränderung einstellen könnte? •• Sie dürfen sich gegebenenfalls jederzeit bei mir melden. Ich bin gern für Sie da. •• Wir haben festgestellt, dass diese Krankheit (zum Beispiel Dickdarmkrebs) in Ihrer Stammfamilie gehäuft vorkommt und dass einige Familienmitglieder daran gestorben sind. Es gibt Vorsorgeuntersuchungen, mit welchen wir feststellen können, ob Sie auch davon betroffen sind. Dies erlaubt uns, mit einer frühzeitigen Behandlung einen gefährlichen Verlauf abzuwenden. •• Was wissen Sie über diese Untersuchung? •• Welche weiteren Informationen benötigen Sie für Ihre Entscheidung? •• Was bewegt Sie dazu, diese Untersuchung durchführen zu lassen? Was, sie zu unterlassen? •• Sie haben von einigen Familienmitgliedern berichtet, die an einer seltenen, bis dahin nicht heilbaren Krankheit verstorben sind. Mit genetischen Tests kann das mit dieser Krankheit korrelierte Gen festgestellt werden. •• Was wissen Sie darüber? •• Möchten Sie weiterführende Informationen darüber haben? •• Was spricht für Sie dafür, diesen Test durchzuführen? Was spricht dagegen? •• Wie wäre es für Sie, falls der Test bei Ihnen diese Krankheitsanlage nachweisen würde? •• Da es sich um eine sehr komplexe und weitreichende Entscheidung handelt, schlage ich Ihnen vor, dass ich Sie an eine genetische Beratungsstelle überweise. •• Sie haben eine ganze Menge von Symptomen / Problemen aufgezählt. •• Anlässlich der Konsultation haben wir gemeinsam mehrere offene Fragen und Unsicherheiten über Ihren Gesundheitszustand festgestellt.
Praktisches Vorgehen
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•• Ich schlage Ihnen vor, dass wir uns zu einer Check-up-Untersuchung treffen. So können wir uns ein umfassendes Bild über diese Unklarheiten machen. •• Was denken Sie dazu?
•• Ihr sportlicher und gesunder, nichtrauchender vierzigjähriger Arbeitskollege hat vorige Woche am Arbeitsplatz einen Herzinfarkt erlitten und musste notfallmäßig mit der Ambulanz in die Klinik gebracht werden. Sie sind fünfzig Jahre alt und ein mäßiger Raucher. Sie befürchten, dass Sie, obwohl Sie sich gesund fühlen, das gleiche Schicksal ereilen könnte. Sie wünschen nun einen Check-up. •• Ich finde, dies ist ein guter Anlass, dass wir zusammen Ihre Lebens- und Gesundheitssituation sowie gesundheitsrelevanten Verhaltensweisen betrachten und über die möglichen Vorsorgemaßnahmen und medizinisch-technischen Vorsorgeuntersuchungen sprechen. •• Was denken Sie dazu? •• Wir treffen uns seit einigen Jahren regelmäßig zur Kontrolle der Behandlung Ihres Blutdrucks. Sie sind nun 55 Jahre alt. Ich schlage Ihnen vor, dass wir anlässlich der nächsten Konsultation einen längeren Termin einschreiben für eine umfassendere Untersuchung und zur Besprechung der für Ihr Alter empfohlenen Vorsorgeuntersuchungen. •• Was denken Sie dazu? •• Anlässlich der Check-up-Untersuchung haben wir bei Ihnen einen mäßig erhöhten Cholesterinspiegel / Blutdruck / Blutzuckerspiegel / erniedrigten Vitamin-D3-Spiegel / etc. festgestellt. •• Was wissen Sie über die Bedeutung dieser Resultate?
Schritt 5
•• Sie wünschen einen Check-up Untersuchung. Können Sie mir sagen, wie es zum Wunsch nach einem Check-up gekommen ist? •• Gibt es spezifische Gründe für Ihren Wunsch nach einem Check-up? Welche? •• Wessen Idee war es, dass Sie sich für einen Check-up anmelden? •• Was denken Sie: Sollten wir bei diesem Check-up auf jeden Fall zusammen besprechen? •• Sie sagen, dass Sie die Check-up-Untersuchung angemeldet haben, da Sie seit einiger Zeit unterschiedliche Symptome / Probleme haben. Es ist mir ein Anliegen, diese vor einer Check-up-Untersuchung zuerst mit Ihnen gezielt zu besprechen. •• Welcher Art sind diese Symptome / Probleme? •• Welches dieser Symptome / Probleme steht für Sie im Vordergrund?
156
Schritt 5: Präventive Möglichkeiten diskutieren
•• Ich gebe Ihnen gern einige Informationen über deren mögliche Auswirkungen und die therapeutischen Möglichkeiten. Sind Sie einverstanden? •• Anschließend werden wir gemeinsam entscheiden, wie wir weiter verfahren wollen, welche Maßnahmen betreffend Lebensstil und gegebenenfalls mediamentöse Therapien möglich sind. •• Sie haben kürzlich einen Herzinfarkt erlitten. Nun geht es Ihnen glücklicherweise wieder gut. Sie möchten nun von mir wissen, ob Sie alle Medikamente einnehmen müssen, die Ihnen in der Klinik verordnet wurden. •• Was wissen Sie über die Wirkung und den Einsatzbereich dieser Medikamente? •• Darf ich Ihnen einige Informationen über Nutzen und Risiken vermitteln, damit wir dann gemeinsam entscheiden können, wie Sie mit den Medikamenten weiter verfahren können? •• Wir haben schon lange keinen Blick mehr auf Ihre Impfkarte geworfen. •• Darf ich Sie bitten, diese zur nächsten Konsultation mitzubringen? •• Wir treffen uns zur Reiseimpfberatung. Auf Ihrer Karte stelle ich fest, dass Sie in den vergangenen zwanzig Jahren nie geimpft wurden. Ich möchte gerne mit Ihnen besprechen, welche Impfungen auch hierzulande empfohlen werden. •• Sind Sie einverstanden? •• Wir haben uns heute wegen Ihres grippalen Infekts getroffen. Der Blutdruck, den wir gemessen haben, ist leicht erhöht. •• Ich schlage Ihnen vor, dass wir uns in Anbetracht Ihres Alters von fünfzig Jahren gelegentlich zu einer eingehenderen Gesundheitsberatung treffen. •• Was denken Sie dazu? •• Sie berichten mir, dass man an Ihrem Stammtisch über einen achtzigjährigen Bekannten gesprochen hat, bei dem dank einer Blutuntersuchung ein Prostatakrebs gerade noch rechtzeitig entdeckt und behandelt werden konnte. •• Sie sind fünfzig Jahre alt und möchten nun Ihren PSA-Wert auch gerne bestimmen lassen. •• Welche Kenntnisse haben Sie darüber? •• Beim Stellenwert des PSA-Wertes zur Früherkennung von Prostatakrebs handelt es sich um eine sehr komplexe und kontroverse Angelegenheit. Vor Ihrer Entscheidung für oder gegen diesen Bluttest möchte ich Ihnen gern einige weitere Informationen geben.
Praktisches Vorgehen
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•• Was denken Sie dazu? •• Nach meinen Erläuterungen möchten Sie den PSA-Wert bestimmen / nicht bestimmen lassen. •• Welches sind Ihre Beweggründe? •• Sie sind sich nicht sicher. •• Was denken Sie, brauchen Sie für Ihre Entscheidung? •• Sie sagen, dass Sie mehr Zeit für Ihre Entscheidungsfindung brauchen. •• In welchem zeitlichen Rahmen werden Sie mir eine Rückmeldung darüber geben?
•• Anlässlich der Blutdruckmessung habe ich Blutergüsse an Ihren beiden Oberarmen festgestellt. •• Können Sie mir sagen, wie diese zustande gekommen sind? •• Erfahrungsgemäß können diese auch durch Gewalteinwirkung entstehen. •• Ich weiß, dass es für Sie eine schwierige Frage ist, aber wäre es möglich, dass Sie gewaltsam angefasst oder geschlagen worden sind? •• Haben Sie jemanden, dem Sie sich anvertrauen können? •• Möchten Sie mit mir darüber sprechen? •• Sie sind ungewöhnlich und unerklärt traurig. So kenne ich Sie sonst nicht. •• Können Sie mir sagen, wie Ihre eigene Wahrnehmung ist? •• Gestatten Sie mir die schwierige Frage: Erfahren Sie körperliche oder psychische oder sexuelle Gewalt? Von Ihrem Ehemann / Ihrer Ehefrau? Von einer anderen Person? Im Geschäft? Mit Mobbing? •• Sie betreuen Ihre demente Ehefrau / Ihren dementen Ehemann seit langer Zeit zu Hause. Sie beklagen sich nicht, aber ich weiß, dass eine solch intensive pausenlose Betreuung die Grenzen der menschlichen Kraft überschreiten kann, ja gelegentlich übermenschliche Kräfte erfordert. •• Woran erkennen Sie Ihre Grenzen rechtzeitig, bevor Sie keine Kraft mehr haben?
Schritt 5
•• Sie befürchten, dass Sie sich vor drei Monaten bei einem ungeschützten OneNight-Stand mit einer Ihnen nicht näher bekannten Person mit HIV angesteckt haben könnten. Sie wünschen eine entsprechende Laboruntersuchung. •• Ich bin mit Ihnen einverstanden. Es ist sinnvoll, eine entsprechende Blutuntersuchung auf HIV und weitere sexuell übertragbare Krankheiten zu machen. •• Erlauben Sie mir, dass ich Sie in diesem Zusammenhang auf die Regeln von »safer sex« anspreche?
158
Schritt 5: Präventive Möglichkeiten diskutieren
•• Wissen Sie, welche Hilfeleistungen Sie für sich und Ihre Ehefrau / Ihren Ehemann beanspruchen können? •• Kann es vorkommen, dass Sie durch diese Betreuungsarbeit manchmal die Nerven verlieren und Ihre kranke Ehefrau / kranken Ehemann grob / gewaltsam anfassen? •• Sie sind nun im höheren Seniorenalter angelangt / leiden an einer chronischen, fortschreitenden Krankheit. •• Haben Sie sich Gedanken darüber gemacht, wie Sie ihr weiteres Alter / Leben mit Ihrer Krankheit gestalten möchten? •• Gibt es Dinge, die Sie unternehmen möchten, die an eine genügend gute Gesundheit gebunden sind? •• Was bedeutet es für Sie, dass Sie unter Umständen plötzlich Dinge nicht mehr tun könnten, die Sie unbedingt gern noch tun möchten? •• Welche Vorsorge haben Sie getroffen für Verpflichtungen, die Sie nur bei genügend guter Gesundheit erfüllen können? •• Welche Möglichkeiten sähen Sie, falls Sie aufgrund Ihres Altwerdens / Ihrer chronischen Erkrankung auf pflegerische Hilfe angewiesen wären? •• Haben Sie Vorbereitungen getroffen? Welche? •• Wissen Sie, in welches Alters- und Pflegeheim Sie bei Bedarf eintreten möchten? Sind Sie angemeldet? •• Haben Sie ein Testament, eine Patientenverfügung und einen Vorsorgeauftrag erstellt? Sind Ihre Nächsten darüber informiert? •• Was ist Ihnen mit Blick auf die Gestaltung Ihres Lebensendes wichtig?
Erweiterte inhaltliche Beschreibung des Ablaufs / Prozesses
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Erweiterte inhaltliche Beschreibung des Ablaufs / Prozesses
Vorbeugen ist besser als heilen. Dieser Grundsatz ist heute allgemein anerkannt. Er hat sich vielfach bewährt und weitgehend in das Bewusstsein der Ärzte und der Bevölkerung eingeprägt. Aufgrund immer feinerer Untersuchungsmethoden verdient dieser Grundsatz eine nähere Betrachtung. Diagnostische, therapeutische und präventive Möglichkeiten fließen immer wieder ineinander über (siehe thematischer Schwerpunkt 13: Präventive Möglichkeiten). Der Arzt erwägt präventive Möglichkeiten grundsätzlich während jeder Konsultation, aus welchen Gründen sie auch stattfindet. Insbesondere dafür geeignet ist dies im Rahmen der Familienanamnese, psychosozialen Anamnese, organischen Systemanamnese, beim Besprechen der Untersuchung, »Beurteilung« und therapeutischen Möglichkeiten. Der Arzt ist sich bewusst, dass die medizinische Prävention allgemein, von der Medizin und der Gesellschaft, eher aus einem defizitorientierten Blick gesehen wird. Was kann getan und untersucht werden, um eine Krankheit zu verhindern, frühzeitig zu erkennen und / oder deren Auswirkungen zu vermindern? Der Arzt weiß um die gesundheitsrelevante Bedeutung von psychosozialen Determinanten, die im Lebensraum und -kontext sowie in den damit interagierenden Verhaltensweisen des Patienten verortet sind und als Stressoren wirken können. Somit bemüht er sich um eine Erweiterung der präventiven Perspektive. Was kann der Patient tun, das seiner Gesundheit und seinem Gesundsein (wellbeing) sowie seinem Gesundbleiben förderlich ist? Dafür richtet der Arzt, zusammen mit dem Patienten, den Fokus, über das Medizinische hinaus, insbesondere auch auf die zukunftsgerichteten Gestaltungsmöglichkeiten seiner Lebenssituation und seiner Verhaltensweisen. Wo die Bemühungen des Patienten auf »gutem Weg« sind, bestärkt ihn der Arzt, so weiterzumachen. Wo sich Handlungsbedarf zeigt, erkunden sie gemeinsam die Veränderungsabsicht des Patienten, seine eigenen Möglichkeiten und Ressourcen, allfälligen Unterstützungsbedarf sowie den Ort, wo der nötige Support erhältlich ist. Dieser Bedarf kann weit über den ärztlichen und medizinischen Bereich hinausgehen, zum Beispiel das Klären und Ergreifen von Maßnahmen betreffend Wohnsituation, Partnerschaft, Beruf, Arbeitsplatz, Seelsorge, Hilfsmittel für die Alltagsbewältigung, ambulante Pflege / Spitex, Mahlzeitendienst, Besuchsdienst, soziale Integration, Finanzhilfe, Schuldenberatung …
Schritt 5
5 Präventive Möglichkeiten diskutieren
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Schritt 5: Präventive Möglichkeiten diskutieren
Wenn im Verlauf der Konsultation ein Symptom / Problem zur Sprache kommt, in dessen Rahmen es präventive Möglichkeiten gibt, erwähnt der Arzt dies gegenüber dem Patienten. Er weiß, dass der Patient bei direktem Betroffensein dafür am empfänglichsten ist. Er erkundigt sich, was der Patient darüber weiß. Wo nötig, ergänzt er dessen Wissen mit sach- und situationsgerechten fachlichen Informationen. Er klärt mit dem Patienten, ob und zu welchen Lebenssituations- und Verhaltensänderungen und / oder präventiven Untersuchungen er bereit ist. Auf diesem Boden planen sie gemeinsam das entsprechende Vorgehen. Dieses situationsbezogene Vorgehen entspricht einer opportunistischen Prävention. Für die Diskussion über weitere präventive Möglichkeiten, die gemäß Guide lines strukturiert angeboten werden sollten, bleibt in der Regel im Rahmen einer normalen Konsultation kaum Raum. So können präventive Möglichkeiten leicht vergessen gehen respektive unterlassen werden, insbesondere bei Menschen, die nur selten und für schnell gelöste Symptome / Probleme zum Arzt kommen; aber auch bei Patienten, die wegen einer oder mehrerer chronischer Krankheiten sehr oft zur Konsultation kommen. Der Arzt ist darauf bedacht, möglichst alle Patienten und Patientinnen, die aus irgendeinem Anlass in die Konsultation kommen, auf die für ihn infrage kommenden, strukturierten, sinnvollen und relevanten Präventionsmöglichkeiten hinzuweisen. Das Vorgehen muss jedoch für den Arzt und Patienten situationsgerecht sowie für den Praxisablauf tragbar sein. Es obliegt dem Ermessen des Arztes, dem Patienten in gegebener Situation eine Konsultation anzubieten, die sich speziell präventiven Möglichkeiten widmet. Wo verschiedene Symptome / Probleme oder Unsicherheiten zusammengekommen sind, vereinbaren sie unter Umständen einen Check-up26. Konsultationen, die vom Patienten explizit für einen Check-up angemeldet wurden, wird der Arzt, neben dem Hintergrund für dieses Bedürfnis, insbesondere auch zur Besprechung von präventiven Möglichkeiten nutzen. Arzt und Patient behalten bei ihrem auf die Zukunft ausgerichteten Gespräch über präventive Möglichkeiten in erster Linie die Gesamtsituation des Patienten im Auge. Die entscheidende Frage lautet: Wie stellt sich der Patient seine persönliche Zukunft, seine künftige Lebenssituation und -gestaltung vor? Was braucht es, damit diese für den Patienten befriedigend sein wird? Arzt und Patient reflektieren, mit Blick auf dieses Ziel: Was braucht es alles, damit der Patient dorthin kommt? Welche Rolle spielen dabei medizinische 26 Ein Check-up wird sehr breit definiert und von jedem Arzt auf sehr unterschiedliche Art durchgeführt.
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Fakten? Wie kann der Patient seinen gesundheitlichen Zustand diesem Ziel entsprechend halten? Der Arzt versteht unter präventiven Möglichkeiten: Beratungen des Patienten betreffend gesunde und gesundheitserhaltende Gestaltung seiner psychosozialen Lebenssituation und Verhaltensweisen (Lebensstil); klinische, laborchemische und bildgebende Untersuchungen zur Früherkennung von bedrohlichen Erkrankungen zu einem vorsymptomatischen Zeitpunkt zum Verhindern eines Krankheitsausbruchs oder zum Beginn einer frühzeitigen Behandlung zur Verhinderung einer gefährlichen Krankheitsentwicklung; medikamentöse und nichtmedikamentöse Behandlungsmethoden von feststellbaren Erkrankungen im Frühstadium; eine strenge Behandlung von etablierten Krankheiten zur Vorbeugung einer problematischen Weiterentwicklung mit Folgeschäden. Sie besprechen, was der Patient selbst mit seiner Lebensgestaltung, Lebensweise zum Erhalt seiner Gesundheit beitragen kann. Gemeinsam entscheiden sie (shared decision making), welche medizinisch-technischen präventiven Möglichkeiten sie einsetzen wollen. Dabei beachten sie, dass jede präventive Möglichkeit neben ihrem Nutzen aus Früherkennung und Frühbehandlung auch je eigene spezifische Risiken und Gefahren beinhaltet. Diese äußern sich insbesondere in Form von Überdiagnostik und Übertherapie. Mit immer feineren Untersuchungsmethoden führt dies in steigendem Maß zu unnötigen Diagnosen und risikobehafteten Therapien. Für die Wahl von medizinisch-technischen präventiven Möglichkeiten betrachten sie neben der wissenschaftlichen Signifikanz, welche persönliche Relevanz (Kühlein, Roos u. Burggraf, 2017) diese für den Patienten haben. Der Arzt und sein älterer Patient befassen sich, über diese gesundheitsbezogenen Themen hinaus, auch konstruktiv damit, wie der Patient sein Alter, sein Leben mit chronischen Erkrankungen und sein Lebensende gestalten will. Welche Vorbereitungen hat er dafür getroffen oder kann er unternehmen? Was ist, wenn er hilfebedürftig wird und / oder seinen gewohnten Lebens- und Wohnraum verlassen muss? Besteht eine Anmeldung in einer Altersinstitution? Hat er eine Patientenverfügung, einen Vorsorgeauftrag und ein Testament erstellt? Hat er seine »letzten Dinge« materiell und spirituell entsprechend seiner Vorstellung geregelt? Hat er seine Familie oder nächsten Personenkreis eingeweiht? Der Arzt weiß, dass der wissenschaftliche Stellenwert von Check-ups umstritten ist. Die dafür reservierte Zeit ist aber eine gute Gelegenheit, mit dem Patienten in Ruhe seine Lebenssituation und Gesundheitsverhalten zu reflektieren, seine Risikokonstellation mit Anamnese, körperlichen und medizinisch-technischen Untersuchungen zu erörtern sowie entsprechende Anpassungsmöglichkeiten der Lebenssituation, Verhaltensänderungen und mögliche Maßnahmen
Schritt 5
Erweiterte inhaltliche Beschreibung des Ablaufs / Prozesses
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Schritt 5: Präventive Möglichkeiten diskutieren
zum Erhalt oder zur Förderung seiner Gesundheit zu besprechen. Der Arzt ist sich bewusst, dass er auch hier nie alle in Frage kommenden präventiven Möglichkeiten besprechen und durchführen kann, denn dafür wären gemäß einer amerikanischen Studie fast acht Stunden nötig (Yarnall et al., 2003). Der Arzt weiß, dass hinter einer Anmeldung zur Konsultation mit konkretem Wunsch nach einem Check-up in vielen Fällen spezifische Symptome / Probleme und / oder Befürchtungen stehen; dass der Patient nicht selten von seinem Umfeld, das sich aus unterschiedlichen Gründen um ihn Sorgen macht, zum Check-up gedrängt wird. Der Arzt fragt den Patienten immer gezielt nach der dahinter liegenden Motivation (hidden agenda) und danach, was er von der »Generaluntersuchung« erwartet. Diesen aktuellen Symptomen / Problemen gibt er selbstverständlich den Vorrang. Der Arzt weiß um das Effort-Performance-Paradoxon, das bedeutet, dass er für eine Verhaltensänderung, falls diese angebracht wäre, mit kurzen Interventionen den höchsten Wirkungsgrad pro eingesetzte Zeit erreichen kann. Erhebungen des »Royal Australian College of General Practice« (RACGP) zeigen, dass der Arzt mit 60 investierten Eine-Minute-Interventionen sechs Menschen zum Rauchstopp bewegen kann. Wenn er diese 60 Minuten einem einzigen Patienten widmet, kommt nur einer von Dreien vom Rauchen los (Tabelle 1). Dies zeigt, dass es sich lohnt, wo immer möglich, beiläufig eine Minute für die Prävention einzusetzen. Falls der Patient eine hohe Bereitschaft (Prochaska) zur Veränderung zeigt, kann ihn der Arzt zu einem längeren spezifischen motivierenden Präventionsgespräch einladen (Kissling, 2008, S. 397). Tabelle 1: Effort-Performance-Paradoxon (erstellt von John Litt aus der »Reality pyramid for smoking cessation« im »Green Book« des RACGP, 2018, S. 45, Abb. 8) Effektivität
Effizienz
Anzahl Rauch stopper
Zeitaufwand pro Rauchstopper
Reichweite
Wirksamkeit
Zeitaufwand pro Raucher
Interventionen pro 100 Raucher
RauchstoppRate
Zeitaufwand total (Min.)
< 1 Min.
30
10 %
30
3
10
< 1 Min.
60
10 %
60
6
10
3 Min.
30
12 %
90
3.6
25
10 Min.
10
16 %
100
1.5
67
60 Min.
3
34 %
180
1
180
Der Arzt ist sich der komplexen medizin-technischen, sozioökonomischen, ethischen, ökonomischen und vielleicht sogar rechtlichen Fragestellungen bewusst, die sich mit dem wachsenden wissenschaftlichen Wissen über Nutzen, Ein-
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schränkungen und Risiken von Präventionsmaßnahmen ergeben sowie aus dem zunehmenden Bewusstsein der Bevölkerung um die Bedeutung der Prävention. Eine erste Frage betrifft die Kommunikation zwischen Arzt und Patient über die präventiven Möglichkeiten und deren Resultate. Der Arzt weiß, dass das aus einer präventiven Untersuchung erhobene Risikopotenzial oder der aus einer präventiven Behandlung zu erwartende Nutzen statistisch-abstrakte Werte darstellen. Entsprechend klärt er mit dem Patienten sehr sorgsam, was präventiv erhobene Resultate, insbesondere wenn diese auf ein erhöhtes Erkrankungs risiko hinweisen, für ihn als aktuell gesunden Menschen bedeuten. Er informiert ihn, dass die erhobenen Zahlen statistischen Mittelwerten entsprechen, die für ihn als individuelle Person nicht eins zu eins zutreffen. Der Arzt wird, wo nötig, bildliche Darstellungen verwenden27, um diese Sachlage verständlich zu machen. Weitere Fragen betreffen die Verantwortlichkeit. Wer ist verantwortlich für die Prävention? Umgekehrt gefragt: Wer ist »schuld«, falls eine Erkrankung eintritt, die mit einer verfügbaren Präventionsuntersuchung wahrscheinlich vermeidbar gewesen wäre? Ist der Arzt dafür verantwortlich? Muss er jeden Patienten anlässlich irgendeiner Konsultationen auf alle für sein Alter empfohlenen Präventionsmöglichkeiten ansprechen? Macht er sich »schuldig«, falls er es versäumt / unterlässt? Wie geht es dem Arzt, wenn der Erkrankte ihn fragt: »Hätte es nicht eine präventive Möglichkeit gegeben?« Oder wenn der Patient ihm berichtet: »Vom Spezialisten bin ich gefragt worden, ob mein Arzt nie eine präventive Untersuchung zum Ausschluss der bei mir ausgebrochenen Krankheit angeordnet habe.« Ist der Patient selbst dafür verantwortlich, sich über altersgerechte präventive Möglichkeiten beim Arzt oder sonst wo zu erkundigen? Ist er »schuld«, wenn er an einem Leiden erkrankt, für das es eine präventive Möglichkeit gegeben hätte, die er nicht durchgeführt hat? Wie ist es für den Patienten, wenn er bei einer Erkrankung von den involvierten Ärztinnen und Ärzten, aber auch von Freunden und Bekannten, die etwas wenig einfühlsame und unterschwellig vorwurfsbelastete Frage hört: »Hast du keine Vorsorgeuntersuchung machen lassen?« Sind das Bundesamt für Gesundheit oder die Versicherer dafür verantwortlich, die entsprechenden Bevölkerungsgruppen mittels öffentliche Medien auf die für sie spezifischen Präventionsmöglichkeiten hinzuweisen? Dies wird teilweise mit Plakaten, TV-Spots und Zeitungsinseraten gemacht. So weist beispielsweise in der Schweiz die SUVA (Schweizerische Unfallversicherungsanstalt) auf
27 Zum Beispiel Faktenboxen des Harding-Zentrums für Risikokompetenz: https://www.harding-center.mpg.de/de/faktenboxen.
Schritt 5
Erweiterte inhaltliche Beschreibung des Ablaufs / Prozesses
164
Schritt 5: Präventive Möglichkeiten diskutieren
unfallprophylaktische Vorsichtsmaßnahmen am Arbeitsplatz hin. Es gibt eine landesweite Plakatkampagne für die Förderung eines »safer sex«-Verhaltens. Die Antwort zu diesem Fragekomplex dürfte lauten, dass im Interesse einer bestmöglichen Wirkung und eines möglichst lückenlosen Einsatzes der Präventionsmaßnahmen gemeinsame Anstrengungen in geteilter Verantwortlichkeit nötig sind. Alle müssen mit bestem Wissen und Gewissen mitwirken mit dem Ziel, dass alle Menschen über die präventiven Möglichkeiten genügend gut informiert sind, um sich aktiv dafür oder dagegen zu entscheiden. Im Interesse einer geteilten Verantwortung könnte der Arzt ein Informationsblatt kreieren mit einer allgemeinen Information, in welchem Lebensalter und unter welchen Umständen die verschiedenen Präventionsmöglichkeiten sinnvoll sind. Diesen Flyer könnte er im Wartezimmer aufhängen oder von der Praxisassistentin allen Patientinnen und Patienten bestimmter Altersgruppen, unabhängig vom aktuellen Konsultationsgrund, geben lassen. Dabei achtet der Arzt darauf, dass er diese Information sachlich, neutral und nicht als Werbung an seine Patienten bringt. In einigen elektronischen Krankengeschichten, vor allem in den USA, leuchtet bei den entsprechenden Patienten ein Alarm auf und erinnert Arzt und Patient an die »fälligen« präventiven Untersuchungen. Dies kann so häufig sein, dass die Konsultation für das aktuelle Leiden erheblich gestört wird. Ein Beispiel: Ein Patient, den der Arzt während Jahren immer wieder in der Konsultation gesehen hat, sei es für diese oder jene akute unkomplizierte Erkrankung oder etwa für die Behandlung eines Bluthochdrucks, erkrankt mit 57 Jahren unheilbar an einem Kolonkarzinom. Aus welchen Gründen auch immer war die Dickdarmkrebsprävention in den Konsultationen nie zum Thema geworden. Beide wissen, dass diese Krankheit mit entsprechender Prävention wahrscheinlich vermeidbar gewesen wäre oder zumindest frühzeitig hätte entdeckt und lebensrettend behandelt oder gar geheilt werden können. Der Arzt und der Patient dürften beide darüber sehr betroffen sein und ein ungutes Gefühl haben. Es ist wichtig, dass der Arzt diese schwere Situation offen und empathisch anspricht und sein Bedauern darüber ausdrückt. Zudem klärt der Arzt, was diese Begebenheit für ihre künftige Zusammenarbeit bedeutet. Eine weitere Frage betrifft die Wirksamkeit und Ergebnissicherheit (outcome): Wie zuverlässig ist eine präventive Möglichkeit? Wie sicher erfasst sie die von einem Frühstadium der entsprechenden Krankheit betroffenen Menschen (Sensitivität), die von der Früherkennung und den damit verbundenen Therapiemöglichkeiten profitieren können? Und wie sicher schließt sie die Gesunden aus (Spezifität)? Wie viele Menschen müssen mit einer präventiven Möglichkeit untersucht werden, damit eine Person davon profitieren kann (number
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needed to treat)? Welche Rolle spielt die technische Fähigkeit des Untersuchenden, bei interventionellen präventiven Untersuchungen, wie zum Beispiel der Koloskopie, die Krankheit zu erfassen?28 Oder anders gefragt, wie sicher darf sich ein Mensch sein, gesund zu sein, falls die gesuchte Krankheitsanlage nicht entdeckt wurde (falsche Sicherheit)? Wie viele gesunde Menschen macht die Präventionsuntersuchung fälschlicherweise zu Kranken, die weitere Untersuchungen über sich ergehen lassen müssen, bis die Krankheit sicher ausgeschlossen ist (falsch positiv; Spezifität)? Wie groß ist das Risiko, dass bei einer Serie einer in regelmäßigen Intervallen wiederholten präventiven Möglichkeit ein falsch positives Resultat auftritt? Pro wie viele Untersuchte erleidet ein Mensch einen Nachteil (number needed to harm)? Wie viele Menschen werden überdiagnostiziert (overdiagnosis)? Damit ist gemeint, dass die mit dem Screening gesuchte Krankheit tatsächlich vorliegt, dass sie sich aber während des Lebens des Patienten nie manifestiert hätte. In diesem Fall werden in der Biopsie histologisch bösartige Zellen gefunden, die jedoch biologisch ein gutartiges Verhalten aufweisen. Wie wirkungsvoll kann die präventive Möglichkeit den Verlauf der mit ihrer Hilfe frühzeitig entdeckten oder behandelten Krankheit beeinflussen und die Lebensqualität und -zeit des betroffenen Menschen verlängern? Oder umgekehrt gefragt: Verlängert die Prävention bei einer bis anhin unheilbaren Krankheit nicht einfach die bewusst erlebte Krankheitsdauer infolge ihrer Diagnose, bevor die ersten Symptome aufgetreten sind? Wie wirkt sich die Prävention, welche die Sterblichkeit an einer bestimmten Krankheit vermindert, auf die Gesamtsterblichkeit der Bevölkerung aus? Der Arzt ist sich bewusst, dass im Rahmen der Ungewissheit neben der »rationalen«, statistischen, wissenschaftlichen Signifikanz letztlich auch »irrationale« Vorstellungen und Erwartungen mitentscheidend sind. Ziel ist es, dass Arzt und Patient in ihrem Gespräch, im Rahmen der Ungewissheit, das für den Patienten relevante Vorgehen herausarbeiten. Weitere Fragen betreffen die Ethik und die Psyche. Wie viel moralischer Druck darf auf die Menschen ausgeübt werden, Krankheiten vorzubeugen und zu erkennen, bevor sie an entsprechenden Symptomen erkranken? Gibt es ein Recht auf Nichtwissen um einen Krankheitszustand und auf Ablehnen einer anerkannten Behandlung? Wie viele Menschen dürfen durch falsch positive Befunde und Überdiagnose infolge präventiver Möglichkeiten unnötig körper28 Durch Screening-Koloskopien konnte der Dickdarmkrebs im linken Hemikolon stark reduziert werden, weniger stark jedoch im rechten Hemikolon. Die ultraflachen serratierten Adenome (mögliche Krebsvorstufen), die vor allem im rechten Hemikolon vorkommen, werden vom Untersuchenden häufiger übersehen als die polypösen Adenome, die im ganzen Kolon vorkommen (Singh et al., 2010; Bressler et al., 2004).
Schritt 5
Erweiterte inhaltliche Beschreibung des Ablaufs / Prozesses
166
Schritt 5: Präventive Möglichkeiten diskutieren
lich und psychisch krank gemacht, unnötigen Risiken von Untersuchungen und Therapien ausgesetzt werden, damit ein einzelner Mensch profitiert? Der Arzt weiß, dass nicht hinter jedem Angebot von präventiven Möglichkeiten eine altruistische Haltung liegt. In Form von medizinisch-technischen Angeboten können sie leicht zu einem lukrativen Geschäftsmodell gemacht werden. Mit präventiven Angeboten können Menschen bewusst verängstigt werden. So lässt sich mit unnötigen Untersuchungen viel Geld verdienen. Der Arzt kann diese Gegebenheit abschätzen und mit dem Patienten gegebenenfalls sachlich diskutieren. Eine weitere Frage betrifft die Gerechtigkeit und Gleichbehandlung (equity of health): Werden mit der präventiven Möglichkeit jene erfasst, die zur Haupt risikogruppe gehören, oder eher diejenigen mit statistisch geringem Risiko, die aber besonders gesundheitsbewusst sind (worried well)? Wie steht es mit dem Erreichen von weniger Gesundheitsbewussten mit einem hohen Erkrankungsrisiko und sozial schlechter Gestellten (social determinants of health)? Eine weitere Frage betrifft die Wirtschaftlichkeit und medizinische Workforce für die Umsetzung der präventiven Untersuchungen und daraus resultierenden Behandlungen. Wie ist die Gesamtbilanz, das Aufwand-Nutzen-Verhältnis? Aus Sicht der dafür eingesetzten Finanzen? Wie steht es mit dem dafür nötigen Medizinpersonal? Dieses kann selbst seine primäre Aufgabe, die Betreuung von Kranken, heute nur noch unter Hinzuziehung von ärztlichen und pflegerischen Fachpersonen aus anderen, meistens sozioökonomisch schlechter gestellten Ländern (brain drain) erfüllen. Diese Fachkräfte fehlen demzufolge in ihrer Heimat, manchmal für das dort Nötigste (ethical dilemma). Der Arzt kennt Beispiele über seltsame Blüten der Prävention. Mit solchen Anekdoten kann er dem Patienten den relativen Nutzen von präventiven Möglichkeiten aufzeigen. Zum Beispiel werden Frauen in Nicaragua nur dann für eine Staatsstelle angestellt, wenn sie eine Mammographie durchgeführt haben.
SCHRITT 6: Den Abschluss einer Konsultation oder der Zusammenarbeit gestalten
(Zwischenauswertung in einer Reihe von weiteren Folgekonsultationen oder am Ende einer Therapie)
6.1 Schwerpunkte, Prozedere und Abmachungen zusammenfassend f esthalten 6.2 Prozess reflektieren, Feedback geben und einholen 6.3 Wertschätzung der Person des Patienten und seines Handelns / Förderung von Hoffnung und Motivation 6.4 Prozessorientierte nächste Schritte vereinbaren: Nächstes Treffen planen und Konsultation abschließen
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Schritt 6: Den Abschluss einer Konsultation oder der Zusammenarbeit gestalten
Praktisches Vorgehen 6.1 Schwerpunkte, Prozedere und Abmachungen zusammenfassend f esthalten
Was angestrebt wird Die inhaltlichen Schwerpunkte der Konsultation oder des Therapieprozesses sowie das weitere Vorgehen sind abgestimmt und festgehalten. Wie Sie vorgehen können ▶▶ Ermuntern Sie den Patienten, aus seiner Sicht die wichtigsten Erkenntnisse
aus der Konsultation / dem Therapieprozess zusammenzufassen.
▶▶ Vergleichen Sie diese Aussagen mit Ihrer Wahrnehmung und klären Sie
gemeinsam mit dem Patienten allfällige Unterschiede. ▶▶ Stimmen Sie die Zielsetzung und das weitere Vorgehen ab. Fragen- und Aussagenbeispiele
•• Was sind für Sie die wichtigsten Themen und Erkenntnisse, die Sie aus dieser Konsultation / aus der Therapiesequenz mitnehmen? •• Was hat sich für Sie geklärt? •• Welche Themen / Fragestellungen sind für Sie noch offen? •• Aus meiner Sicht haben wir folgende(s) Symptom(e) / Problem(e) angesprochen. •• Wir haben beschlossen, dass wir uns zunächst mit diesem Symptom / Problem befassen wollen. •• Wir haben folgendes Vorgehen bestimmt und folgende Abmachungen getroffen. Möchten Sie etwas ergänzen, nachfragen oder korrigieren?
Erweiterte inhaltliche Beschreibung des Ablaufs / Prozesses
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Erweiterte inhaltliche Beschreibung des Ablaufs / Prozesses 6.1 Schwerpunkte, Prozedere und Abmachungen zusammenfassend f esthalten
Schritt 6
Der Arzt weiß um die therapeutische Wirkung des Abschlusses der Konsultation. Er gestaltet ihn aktiv und plant die dafür nötige Zeit ein. Arzt und Patient haben während der Konsultation Informationen ausgetauscht, Symptome und Probleme erfasst, Interpretationen erarbeitet, Ziele vereinbart, Maßnahmen besprochen, verbindliche Abmachungen getroffen. Der Arzt ist sich bewusst, dass sie damit gemeinsam einen therapeutischen Prozess eingeleitet haben; dass dieser draußen im Lebensumfeld des Patienten, zwischen den Konsultationen, stattfindet und sich auch nach Abschluss der Therapie weiter entwickelt. Mit einem sorgfältigen Abschluss der Konsultation oder der Therapie schaffen Arzt und Patient die bestmöglichen Voraussetzungen für das Gelingen dieses therapeutischen Prozesses. Der Arzt gestaltet den Abschluss je nach Situation unterschiedlich. Er beachtet, ob es sich um den Abschluss einer Konsultation in einer Reihe von weiteren Konsultationen oder um den Abschluss einer Therapie am Ende einer Konsultation oder einer Serie von Konsultationen handelt. Der Arzt und der Patient fassen die aus ihrer jeweiligen Sicht wichtigsten Punkte der Konsultation / des Therapieprozesses zusammen. Mit dieser Schlusszusammenfassung vergewissern sich beide, dass sie sich richtig verstanden haben; dass sie vom Gleichen sprechen, das gleiche Ziel verfolgen und die weitere Vorgehensweise abgestimmt haben.
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Schritt 6: Den Abschluss einer Konsultation oder der Zusammenarbeit gestalten
Praktisches Vorgehen 6.2 Prozess reflektieren und Feedback geben und einholen
Was angestrebt wird Die Konsultation, den Therapieprozess reflektieren und Feedback geben. Wie Sie vorgehen können ▶▶ Fragen Sie den Patienten, ob er seine Anliegen genügend hat einbringen kön-
nen, sich von Ihnen verstanden fühlt und was für ihn besonders hilfreich war.
▶▶ Geben Sie dem Patienten Feedback darüber, wie Sie die Zusammenarbeit
erleben / erlebt haben.
Fragenbeispiele •• Wie haben Sie diese Konsultation erlebt? •• Konnten Sie sagen, was Ihnen auf dem Herzen lag? •• Haben Sie den Eindruck, dass ich Ihr Problem und Ihre Situation genügend verstanden habe? •• Welche Informationen waren für Sie hilfreich? •• Welche Antworten haben Sie erhalten? •• Welches sind für Sie die nächsten Schritte? •• Wie zufrieden sind Sie mit der Konsultation / Konsultationsreihe? •• Haben sich Ihre Erwartungen erfüllt? Fehlt noch etwas? •• Wie fühlen Sie sich am Ende dieser Konsultation / am Ende der Therapie? •• Was war für Sie unterstützend, hilfreich? •• Was war für Sie störend, irritierend? •• Gibt es Bedenken oder Hindernisse, die Sie mir gern zurückmelden möchten? Welche? •• Sind da noch Dinge, die für Sie wichtig sind, die wir bisher nicht ausgedrückt haben und die Sie vor unserem Abschied noch gern erwähnen möchten? Welche? •• Gibt es noch etwas, dem Sie emotional und / oder gedanklich nachhängen?
Erweiterte inhaltliche Beschreibung des Ablaufs / Prozesses
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Erweiterte inhaltliche Beschreibung des Ablaufs / Prozesses
Während der Konsultation findet zwischen dem Arzt und dem Patienten, auf sachlicher und emotionaler Ebene, eine sehr rege Kommunikation statt. Neben verbalen und nonverbalen Botschaften senden beide, unbemerkt, auch unbewusste Botschaften mit. Meist wirken sich alle diese Phänomene kohärent, positiv und unterstützend aus. Missverständnisse und Fehlinterpretationen sind aber beim Arzt und beim Patienten trotz aller Sorgfalt möglich und wahrscheinlich. Unausgesprochen können sich diese störend, manchmal jedoch auch positiv auf den Therapieprozess auswirken. Oft kommen diese unbemerkten Phänomene erst viele Konsultationen später ans Tageslicht. Um solche risikobehafteten Zufälligkeiten zu vermeiden, bietet der Arzt dem Patienten am Ende der Konsultation die Gelegenheit zum gegenseitigen Feedback an. Er fragt den Patienten auf der sachlichen Ebene, ob er alles habe sagen können, was ihm wichtig ist; ob und wie er verstanden habe, was der Arzt gesagt hat; ob es noch Fragen gebe. Arzt und Patient überprüfen gemeinsam die aktuelle Situation / das Ergebnis der Konsultation oder Therapieprozesses mit Blick auf die Ausgangssituation und den Auftrag. Sie klären, inwiefern sie auf dem gemeinsamen Weg weitergekommen sind, wo es Abweichungen gibt und auf was in der Zukunft besonders geachtet werden sollte. Auf der emotionalen und Beziehungsebene klären sie gemeinsam, wie sie sich am Ende der Sprechstunde fühlen und ob noch etwas Irritierendes vorliegt. Zu Beginn der kommenden Konsultation wird der Arzt dem Patienten nochmals die Möglichkeit zu einem Feedback eröffnen. Er wird ihn fragen, ob von der vorigen Konsultation noch etwas Unklares nachklinge, sei es sachlich, emotional, zwischenmenschlich oder sonst etwas.
Schritt 6
6.2 Prozess reflektieren und Feedback geben und einholen
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Schritt 6: Den Abschluss einer Konsultation oder der Zusammenarbeit gestalten
Praktisches Vorgehen 6.3 Wertschätzung der Person des Patienten und seines Handelns / Förderung von Hoffnung und Motivation
Was angestrebt wird Den Patienten und sein Handeln wertschätzen und seine Motivation und Hoffnung fördern. Wie Sie vorgehen können ▶▶ Bestärken Sie den Patienten mit wertschätzenden Worten und ermutigen
Sie ihn zu zielorientiertem Handeln.
Aussagenbeispiele •• Ich möchte mich bei Ihnen bedanken, dass Sie sich mir anvertraut haben. •• Ich weiß es sehr zu schätzen, dass Sie mir Ihre Geschichte / Sorgen anvertrauen. •• Ich weiß, es braucht Mut, Hilfe von außen anzunehmen. Sie haben es gemacht und ich beglückwünsche Sie dazu. •• Ihr Mut, sich Ihrer Krankheit zu stellen und neue, auch ungewohnte Wege zu gehen, gibt Hoffnung für die weitere Zukunft. •• Die vertrauensvolle Zusammenarbeit und Ihre Offenheit, die Dinge anzusprechen, haben mich sehr beeindruckt. •• Ich wünsche Ihnen, dass Ihnen dies auch in zukünftigen Situationen gleichermaßen gelingt. •• Eine Ihrer Stärken ist es, schwierige Themen wertschätzend anzusprechen und Ihre Erwartungen zu formulieren. •• Ich bin überzeugt, dass Sie die Herausforderungen, die auf Sie zukommen werden, meistern werden. •• Sie haben den ersten Schritt getan, so können wir gemeinsam eine Lösung für Ihr Symptom / Problem finden •• Sie sind stark. Da gehen wir gemeinsam durch. •• Ich werde Ihnen mit allen meinen Kräften und Möglichkeiten beistehen. •• Gemeinsam bewahren wir die Hoffnung. •• Sie sind eine sehr tapfere Person, gemeinsam finden wir einen Weg.
Praktisches Vorgehen
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Schritt 6
•• Sie haben beim Ertragen der Symptome eine große Kraft gezeigt. Diese wird Ihnen auch auf Ihrem Weg zur Heilung helfen. •• Ich vertraue fest auf Ihre Kraft.
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Schritt 6: Den Abschluss einer Konsultation oder der Zusammenarbeit gestalten
Erweiterte inhaltliche Beschreibung des Ablaufs / Prozesses 6.3 Wertschätzung der Person des Patienten und seines Handelns / Förderung von Hoffnung und Motivation
Der Arzt wird die Entscheidung des Patienten, Hilfe für sein Symptom / Pro blem zu beanspruchen, positiv konnotieren und ihn bestärken, weiter daran zu arbeiten. Der Arzt ist sich bewusst, dass es für viele Menschen eine gehörige Portion Mut und Überwindung braucht, einem anderen Menschen, und sei er ein Arzt, Einblick auf die Problemzonen ihres Lebens zu geben. Die Patientinnen und Patienten müssen oft neue Wege finden und Verhaltensweisen entwickeln, die für sie nicht vertraut sind, und überwinden dabei ihre Verunsicherung und Scham. Eine tragfähige Beziehung zum Arzt und das damit verbundene Vertrauen macht es ihnen möglich, Dinge zu sagen, die sie vielleicht bisher noch nie einer anderen Person gegenüber geäußert haben. Umgekehrt wissen die Patienten nicht, wer dieser Arzt wirklich ist und wie es in dessen Innerem aussieht. Als Beispiel dafür diene ein Auszug aus dem Abschiedsbrief einer Patientin an ihren Hausarzt, als dieser in Pension ging: »Ich möchte Ihnen für Ihre sorgfältige Betreuung danken. Ich habe mich gut aufgehoben gefühlt bei Ihnen […] Was wünscht man einem Menschen, der immer viel gearbeitet, sich für andere eingesetzt hat? Ehrlich, ich kenne Sie kaum. Habe mitbekommen, dass Sie auch künstlerisch tätig sind. Ich wünsche Ihnen auf jeden Fall Zufriedenheit, Entspannung – und dass Sie Ihren Weitblick weitergeben können – wie auch immer.« Diese Informationsasymmetrie ist Teil des Arzt-Patient-Settings. Der Arzt ist sich dessen bewusst und zollt dem Patienten dafür Respekt. Es ist nicht falsch, wenn er ihm dies gelegentlich mitteilt. Der Arzt beendet keine Konsultation, ohne dem Patienten Mut zu machen und Hoffnung mit auf den Weg zu geben, sei es mit einem ermutigenden Blick, einem respektvollen Lächeln, einem aufmunternden Wort, einem warmen Händedruck, einer Berührung an Arm oder Schulter oder Ähnlichem. Unsicherheit, Besorgtheit oder Angst des Patienten oder seiner Umgebung haben den Patienten mit seinem Symptom / Problem in die Konsultation gebracht. Die Konsultation gibt ihm neue Orientierung. Mit seinem Mut machenden Abschied gibt der Arzt dem Patienten Kraft auf den Weg. Ist die Diagnose relativ einfach und klar und sind sich Arzt und Patient über die Zusammenhänge einig, dann kann von einer verordneten Therapie eine rasche Heilung erwartet werden. Hier ist es einfach, den Patienten zu motivieren.
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In komplexeren Situationen ist das hoffnungsvolle Ermutigen und Motivieren sehr herausfordernd und wird zu einem wichtigen Teil der Therapie. Dies erfordert dann eine besonders trag- und strapazierfähige Beziehung zwischen Arzt und Patient. Dabei handelt es sich um Situationen, die für beide Seiten höchst anspruchsvoll und belastend sind und leicht entgleiten und ausufern können: •• Symptome und Probleme, für die es nicht auf Anhieb eine Lösung gibt, sei es aus medizinischen Gründen oder wegen des familiären und / oder beruflichen Kontextes; •• Krankheiten, die aus verschiedensten Gründen länger dauern werden oder bei deren Therapie sich Misserfolge, Nebenwirkungen oder Meinungsverschiedenheiten einstellen; •• Situationen, in denen die Orientierung unterwegs verloren zu gehen droht, in denen sich Störungen von außen aufdrängen oder eine Heilung nicht mehr möglich sein wird; •• Situationen, in denen Ängste und Zweifel aufkommen; •• Krankheiten, für die eine Spontanheilung erwartet werden kann, gegen die es nicht eine spezifische Therapie braucht und einzig geduldiges Warten angesagt ist; •• unklare Situationen, bei denen mehrere zusätzliche Untersuchungen nötig werden, mit entsprechenden Wartezeiten und angstvoller Erwartung der Resultate; •• bei Diagnose einer chronischen Krankheit, die eine lebenslängliche Behandlung erfordern wird; •• wenn ein Krebsleiden zutage kommt; •• wenn bei einer medizinisch »objektiv« leichteren Problematik unterschiedliche Sichtweisen, Erklärungen, Weltbilder von Arzt und Patient aufeinandertreffen; •• bei MUPS (medically unexplained physical symptoms) und somatoformen, psychosomatischen Störungen.
Schritt 6
Erweiterte inhaltliche Beschreibung des Ablaufs / Prozesses
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Schritt 6: Den Abschluss einer Konsultation oder der Zusammenarbeit gestalten
Praktisches Vorgehen 6.4 Prozessorientierte nächste Schritte vereinbaren: Nächstes Treffen planen und Konsultation abschließen
Was angestrebt wird Weiterführende Schritte sind festgelegt und Umsetzungsimpulse sind erarbeitet. Den Abschluss gestalten oder nächste Treffen vereinbaren. Wie Sie vorgehen können ▶▶ Legen Sie gemeinsam fest, wie Sie die Abmachungen umsetzen werden, wann
oder unter welchen Umständen Sie sich wieder treffen werden.
▶▶ Falls keine Folgekonsultationen vorgesehen sind, verabschieden Sie sich mit
einem dankenden Wort.
Aussagen- und Fragenbeispiele •• Als nächsten Schritt sollten Sie unsere vereinbarte Maßnahme regelmäßig durchführen. •• In den kommenden vier Wochen sollten Sie, wie vereinbart, Ihr Schmerztagebuch führen. •• Als nächsten Schritt werden wir folgende zusätzliche Untersuchung durchführen. •• Bis wir in fünf Tagen die Resultate der Laboruntersuchung haben, werden wir keine therapeutischen Maßnahmen ergreifen. •• Falls sich Ihre Situation bis in zwei Wochen nicht verbessert haben wird, werden wir folgende Maßnahme ergreifen. •• Falls Sie dies oder jenes feststellen, rufen Sie mich unverzüglich an oder begeben Sie sich in die Notfallaufnahme der Klinik. •• Sie können sich jederzeit in unserer Praxis melden. Meine Kolleginnen und Kollegen habe ich persönlich über Ihre Situation informiert. •• Was von dem, was wir gemeinsam erarbeitet haben, möchten Sie sich bewahren? •• Was kommt auf Sie zu? •• Auf was möchten Sie in Zukunft besonders achten? •• Was nehmen Sie sich vor, in der nächsten Zeit auszuprobieren?
Praktisches Vorgehen
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Schritt 6
•• Was ist ein erster Schritt, den Sie sich zutrauen und anpacken werden? •• Werden Sie jemanden aus Ihrem Umkreis in unsere Abmachung einbeziehen? Wen? Weshalb gerade diese Person? •• Bitte geben Sie mir in einer Woche eine telefonische Rückmeldung über Ihr Befinden. •• Ich werde Sie übermorgen Abend um 18 Uhr anrufen. •• Ich möchte Sie in einer Woche zur Verlaufskontrolle sehen. Bitte vereinbaren Sie mit meiner Assistentin einen entsprechenden Termin. •• Melden Sie sich bitte, falls es Ihnen in drei Tagen nicht besser geht; bei Verschlechterung selbstverständlich zu jeder Zeit. •• Denken Sie, dass Sie einen Folgetermin benötigen? •• Wann, denken Sie, sollten wir uns wieder treffen? •• Sie sagen, in sechs Wochen. Das trifft sich mit meiner Vorstellung. •• Ich schlage Ihnen vor, dass wir uns in einem Monat wieder treffen. •• Wir vereinbaren keinen neuen Termin, obwohl Ihr Symptom / Problem noch nicht ganz gelöst ist. Bei Bedarf dürfen Sie sich selbstverständlich melden. •• Sie fühlen sich auf einem guten Weg und imstande, den Weg allein weiterzugehen; ich begrüße dies sehr. Unter welchen Umständen würden Sie sich wieder bei mir melden? •• Wir sind nun am Ende unserer Behandlung angelangt. •• Ich danke Ihnen herzlich für das Vertrauen, das Sie mir entgegengebracht haben. •• Ich wünsche Ihnen alles Gute auf Ihrem Weg. •• Falls nötig, bin ich gern erneut für Sie da.
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Schritt 6: Den Abschluss einer Konsultation oder der Zusammenarbeit gestalten
Erweiterte inhaltliche Beschreibung des Ablaufs / Prozesses 6.4 Prozessorientierte nächste Schritte vereinbaren: Nächstes Treffen planen und Konsultation abschließen
Der Arzt vereinbart mit dem Patienten klare, prozessorientierte nächste Schritte. Er weiß, dass Abklärung und Therapie ein interaktives Geschehen sind und vor allem für den Patienten eine Zeit der Ungewissheit bedeuten. Er ist sich bewusst, dass diese umso belastender sein dürfte, je komplexer eine Situation ist, etwa bei einem lang dauernden unklaren Prozess oder wenn die Krankheit von erheblichen Auswirkungen und Veränderungen im Bereich von Alltags-, Familien- und Berufsstruktur begleitet ist. Im Wissen um die therapeutische Wirkung von Struktur und Orientierung gestaltet der Arzt die Zeit der Ungewissheit zwischen den Konsultationen ganz bewusst mit klaren, für beide verbindlichen Abmachungen. Arzt und Patient klären verbindlich, wer von ihnen was, wie, wo und wann tun wird. Der Arzt ist bedacht, dass der Patient zu jedem Zeitpunkt der Abklärung und Therapie weiß, welches der nächste Schritt ist; wann er Bescheid über Untersuchungsresultate erhalten kann; was er tun kann, falls Probleme auftreten; wohin er sich wenden kann, wenn der behandelnde Arzt nicht erreichbar ist. Als Beispiel: Falls externe Zusatzuntersuchungen – beispielsweise Röntgen, Konsultationen bei einem Spezialarzt, eine Koloskopie etc. – nötig sind, informiert der Arzt – oder in seinem Auftrag die Praxisassistentin – den Patienten genau, wann er wohin gehen muss, welche Vorbereitungen dafür nötig sind und wann sie die Resultate besprechen werden. Der Arzt erledigt die dafür nötigen Überweisungsschreiben zeitgerecht. Der Arzt informiert seinen Patienten, wie er vereinbarte Medikamente beschaffen kann (Rezept oder direkte Medikamentenabgabe), wann, wie und in welcher Dosierung er diese einnehmen muss, wie das Medikament wirken soll, welche Nebenwirkungen es haben kann und bei welchen Symptomen der Patient den Arzt benachrichtigen oder das Medikament unverzüglich absetzen muss. Er gibt dem Patienten zur Unterstützung eine aktuelle Medikamentenliste mit. Um sich zu vergewissern, dass der Patient alles verstanden hat, lässt ihn der Arzt seine Instruktionen wiederholen. Falls Familienmitglieder oder weitere ärztliche, betreuende oder pflegende Institutionen oder Personen in die Betreuung involviert sind, ist der Arzt um die nötige Information besorgt und macht eine klar und eindeutig verständliche schriftliche Verordnung. Nötigen-
Erweiterte inhaltliche Beschreibung des Ablaufs / Prozesses
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Schritt 6
falls nimmt er telefonischen oder schriftlichen Kontakt (Brief, Fax, E-Mail) mit den involvierten Personen auf. Der Arzt gibt dem Patienten genaue Anweisungen, welche körperlichen Übungen er selbst machen soll, oder gibt ihm eine Verordnung für eine Physiotherapie. Vielleicht erteilt der Hausarzt dem Patienten »Hausaufgaben«: zum Beispiel ein Tagebuch zu führen über seine Kopfschmerzen, über seinen Konsum von alkoholischen Getränken etc. Der Arzt wird keinesfalls vergessen, die Ergebnisse in der kommenden Konsultation zusammen mit dem Patienten anzuschauen. Arzt und Patient vereinbaren verbindlich einen nächsten Termin. Damit setzen sie eine Orientierung schaffende Wegmarke. Dieser Termin kann eine Folgekonsultation in der Praxis des Hausarztes sein, eine telefonische Rückmeldung oder ein Hausbesuch. Zudem erörtern sie das Vorgehen in unvorhergesehene Situationen. In gewissen Situationen, wenn sich der Patient zu eigenem Vorwärtsgehen befähigt fühlt, beenden Arzt und Patient die Behandlung, bevor das Behandlungsziel erreicht ist. Bei einer Abschlusskonsultation am Ende einer Therapie vereinbaren Arzt und Patient, anlässlich welcher Situationen sich der Patient wieder melden würde. Am Ende einer Therapie sorgt der Arzt für einen respektvollen Abschied. Er bedankt sich beim Patienten für das entgegengebrachte Vertrauen. Er übermittelt ihm seine besten Wünsche, seine Ziele zu erreichen. Er wünscht dem Patienten eine gute Gesundheit und bietet ihm an, dass er sich bei Bedarf gern wieder an ihn wenden darf.
SCHRITT 7: Konsultation auswerten 7.1 Beziehungsdynamik und fachliche Aspekte reflektieren •• Fragen zur Qualität des Zuhörens und zum gemeinsamen •• •• •• ••
Verständnis Fragen zum medizinisch-fachlichen Verständnis Fragen zur interpersonellen Beziehungsdynamik Fragen zur ärztlichen Rolle Fragen zum erweiterten Behandlungskontext
7.2 Krankengeschichte kurz und prägnant führen 7.3 Die eigene Tätigkeit mit anderen Fachleuten reflektieren
Praktisches Vorgehen
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Praktisches Vorgehen 7.1 Beziehungsdynamik und fachliche Aspekte reflektieren •• Fragen zur Qualität des Zuhörens und zum gemeinsamen •• •• •• ••
Verständnis Fragen zum medizinisch-fachlichen Verständnis Fragen zur interpersonellen Beziehungsdynamik Fragen zur ärztlichen Rolle Fragen zum erweiterten Behandlungskontext
Was angestrebt wird Den gerade abgelaufenen Therapieprozess auf der medizinisch-fachlichen sowie der Beziehungs- und interaktionellen Ebene reflektieren und Konsequenzen für die weitere Zusammenarbeit ableiten. Wie Sie vorgehen können ▶▶ Nehmen Sie sich die Zeit und lassen Sie die Konsultation in Gedanken
Revue passieren.
▶▶ Denken Sie darüber nach, was sich alles auf fachlicher, psychosozialer, emo-
tionaler und intra- sowie interpersoneller Ebene ereignet hat und welche Relevanz dies für die weitere Zusammenarbeit haben könnte. ▶▶ Reflektieren Sie, ob das Konsultationsziel auf medizinisch-fachlicher und psychosozialer Ebene beim Patienten erreicht ist. ▶▶ Achten Sie auch auf die möglichen Auswirkungen der Konsultation auf Sie persönlich, auf Ihre ärztliche Rolle sowie die Beziehungsdynamik zwischen Ihnen und dem Patienten. ▶▶ Halten Sie die wichtigsten Elemente in der Krankengeschichte fest und überlegen Sie, ob es Themen gibt, die Sie mit anderen Fachpersonen klärend vertiefen oder in einem Supervisionsrahmen besprechen sollten.
Fragen zur Qualität des Zuhörens und zum gemeinsamen Verständnis
•• Woran erkenne ich, dass ich das, was der Patient mitgeteilt hat, in seinem Sinn verstanden habe? •• Könnte ich allenfalls etwas Bedeutendes überhört haben? Was?
Schritt 7
Fragen, die die Reflexion anregen
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Schritt 7: Konsultation auswerten
•• Gibt es Themen, denen ich zusätzlich noch hätte Raum geben sollen / in der kommenden Konsultation Raum geben will? •• Woran erkenne ich, dass ich die »richtigen« Fragen wirkungsvoll gestellt habe? •• Könnte ich etwas ausgeblendet haben? Was? •• Gibt es Hinweise auf differierende Sichtweisen beim Patienten und bei mir? Welche? •• Habe ich etwas ausgelassen / vergessen / bewusst nicht thematisiert? Was? Fragen zum medizinisch-fachlichen Verständnis
•• Welches Symptom / Problem liegt vor? •• Welches war der Konsultationsanlass? Sind wir genügend darauf eingegangen? •• Wie kam die Konsultation zustande? •• Welches ist das Konsultationsziel? •• Wie lautet der Auftrag des Patienten? •• In welchem Kontext steht der Auftrag des Patienten? •• Welches ist zusätzlich mein medizinisch-fachlicher Auftrag? •• Was zeigt, dass Arzt und Patient das Symptom / Problem gleichartig verstanden haben? ȤȤ aus medizinisch-technischer Sicht? ȤȤ aus bio-psycho-sozialer Sicht? •• Was fehlt noch für das umfassende Verständnis des Problems / Symptoms und dessen weitere Zusammenhänge? •• Woran erkenne ich, dass wir als Arzt und Patient gemeinsam auf das Ziel hin unterwegs sind? •• Wo liegen eventuell Diskrepanzen zwischen der Sicht des Arztes und Patienten? •• Wie sicher fühle ich mich dabei? •• Brauche ich ein medizinisches / fachliches Konsilium? Welches? •• Welches sind die nächsten Schritte? •• Wer hat welche verbindliche Aufgabe? Fragen zur interpersonellen Beziehungsdynamik
•• •• •• •• ••
In welcher Beziehung stehe ich zum Patienten? Welche Gefühle habe ich gegenüber dem Patienten? Was befriedigt mich in der Zusammenarbeit mit dem Patienten? In welcher Weise beeinflusst dies mein ärztliches Handeln? Hat die Geschichte des Patienten in mir selbst etwas angestoßen? Was? (alte Erinnerungen, Gefühle …)
Praktisches Vorgehen
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•• Welche Bedeutung hat dies für mein eigenes Befinden? •• Wie ist die Auswirkung auf den Umgang zwischen dem Patienten und mir / auf die »Beurteilung« / die Entscheidungsfindungen? •• Gibt es Hinweise auf Befangenheit bei mir / beim Patienten? •• Ist es sinnvoll, die Beziehungsdynamik mit Kollegen (Intervision) oder anderen Fachpersonen (Supervision) zu besprechen? Mit Welchen? Fragen zur ärztlichen Rolle
•• Welche Rolle hat mir der Patient zugedacht / will ich übernehmen / spielen weitere Beteiligte? •• Inwiefern entspricht der Behandlungsauftrag, den ich angenommen habe, meinem Rollenverständnis / meiner Kompetenz? •• Inwiefern stimmen die Aufgaben, die ich angenommen habe, mit meiner ärztlichen Rolle überein? •• Wie sind die Rollenvorstellungen beim Arzt / beim Patienten? Wie wirken sie sich aus? Fragen zum erweiterten Behandlungskontext
Schritt 7
•• Wer ist zusätzlich in die Patientensituation involviert? •• Wer aus dem privaten Umfeld des Patienten? •• Welche weiteren professionellen / privaten / institutionellen Mitbetreuende gibt es? •• Wer hat welche Kompetenz? •• Wer nimmt welche Aufgaben wahr? •• Wie sind die Aufgaben verteilt? •• Haben alle Beteiligten die nötigen Informationen? •• Was wissen wir alle gegenseitig über unser jeweiliges Tun? •• Welche Aufteilung der Arbeiten und Kompetenzen gibt es? •• Wer von allen übernimmt und steuert die Koordination des Helfersystems; wie und wo geschieht dies? •• Was geschieht in Krisensituationen? •• Wie wird das Funktionieren des Helfernetzes überprüft?
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Schritt 7: Konsultation auswerten
Erweiterte inhaltliche Beschreibung des Ablaufs / Prozesses 7 Konsultation auswerten
Der Arzt und Patient haben sich verabschiedet. Wenn immer möglich, eilt der Arzt nicht unmittelbar zum nächsten Patienten. Er bleibt einen Moment bei sich und lässt die Konsultation in Gedanken Revue passieren. Er denkt darüber nach, was sich alles auf den fachlichen, psychosozialen, emotionalen, intra- und interpersonellen Ebenen ereignet hat. Dabei fokussiert er auf die zielbezogene therapeutische Wirksamkeit beim Patienten, die mögliche Auswirkung auf sich persönlich, auf seine ärztliche Rolle und die Beziehungsdynamik zwischen ihm und dem Patienten. Dies hat eine qualitätsrelevante Wirkung auf die ärztliche Arbeit und eine präventive für die Gesundheit des Arztes. Wichtig dabei ist, dass der Arzt diese Reflexion nicht nur problemorientiert durchführt, sondern auch positive Aus- und Einwirkungen wertschätzend wahrnimmt. Der Arzt betrachtet die Konsultation als eine komplex-adaptive Interaktion zwischen ihm und dem Patienten mit nicht vorhersehbare Wirkung in beide Richtungen. Der Arzt ist sich bewusst, dass er nicht weiß, wie das, was er sagt, was er tut und wie er sich (un-)bewusst oder (un-)beabsichtigt verhält, bei seinem Patienten ankommt und was es bei diesem bewirkt. Er weiß, dass seine Interpretation der Reaktionen des Patienten, die er während der Konsultation wahrnimmt, subjektiv ist. Anders gesagt, seine ärztliche Sicht entspricht nicht sicher dem, was der Patient denkt und empfindet. Und der Arzt weiß, dass das Geschehen in der Konsultation eine Wirkung auf ihn selbst ausübt. All diesen Phänomenen, die sich während der Konsultation in großer Dichte und hoher Geschwindigkeit abspielen, schenkt der Arzt beim Auswerten der Konsultation einen Moment der Aufmerksamkeit.
Erweiterte inhaltliche Beschreibung des Ablaufs / Prozesses
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7.1 Beziehungsdynamik und fachliche Aspekte reflektieren •• Fragen zur Qualität des Zuhörens und zum gemeinsamen Verständnis Fragen zum medizinisch-fachlichen Verständnis Fragen zur interpersonellen Beziehungsdynamik Fragen zur ärztlichen Rolle Fragen zum erweiterten Behandlungskontext
Der Arzt überlegt nach der Konsultation, ob er gut zugehört hat; ob er vielleicht abgelenkt war. Der Arzt reflektiert, ob er aus fachlicher bio-psycho-sozialer Sicht an alles Wichtige betreffend das Symptom / Problem und die Umstände des Patienten gedacht hat; ob er und der Patient ein gemeinsames Verständnis für das Symptom / Problem erlangt haben; ob er die Konsultation lösungsorientiert geführt hat; ob noch weitere Aspekte bedacht oder zusätzlich besprochen oder abgeklärt werden sollten. Der Arzt reflektiert nach der Konsultation insbesondere auch die Beziehungsdynamik zwischen ihm und dem Patienten. Er überlegt, wie er sich selbst gefühlt hat; was ihn befriedigt hat; ob er bei aller Empathie für den Patienten genügend Distanz zu ihm wahren konnte; ob er außerhalb der Geschichte des Patienten bleiben konnte; ob und welche Erinnerungen und Gedanken aus seiner eigenen Geschichte oder welche Gefühle und Symptome durch die Schilderungen des Patienten in ihm abgerufen wurden; ob und wie sich diese eigenen Anteile auf den Dialog und die fachlichen Entscheidungen auswirken könnten; ob er Befangenheit feststellt; ob er seine Verantwortung sach-, situations- und personengerecht wahrnimmt; ob er den Patienten in eine angemessene und zumutbare Eigenverantwortung einbindet; ob die Arzt-Patient-Beziehung tragend ist und was in ihr sich fördernd oder behindernd auswirkt; ob er mit seinen Fragen den Patienten zu dessen eigenen Reflexionen veranlasst; wie er ihn mit seinen eigenen Ideen beeinflusst haben könnte. Der Arzt denkt darüber nach, welche Rolle er in dieser spezifischen Arzt- Patient-Interaktion einnahm; ob er seine ärztliche Rolle nach seinen Vorstellungen gestalten konnte; ob er sich in eine ungewollte, den Patienten schützende und schonende Rolle drängen ließ und woran das gelegen haben könnte; ob er seine Rolle dem Patienten als Besucher, Kunde oder Klient (vgl. de Shazer in: Thematischer Schwerpunkt 7: Ressourcen) anzupassen vermochte. Der Arzt fragt sich, ob etwas Belastendes von der stattgehabten Konsultation an ihm selbst hängen geblieben ist: ungute unbestimmte Gefühle, belastende
Schritt 7
•• •• •• ••
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Schritt 7: Konsultation auswerten
Unklarheiten oder schwer tragbare Unsicherheiten / Ungewissheiten. Er weiß, dass ihn solche Reste seelisch und körperlich belasten können; dass sie ihn, wenn er damit nicht gut umgeht, gesundheitlich gefährden und zu Erschöpfung und Burnout führen können. Zudem bergen sie ein Risiko für eine Befangenheit des Arztes in kommenden Konsultationen mit diesem oder weiteren Patienten.
Praktisches Vorgehen
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Praktisches Vorgehen 7.2 Krankengeschichte kurz und prägnant führen
Was angestrebt wird Die Krankengeschichte enthält in sachlicher Art die wichtigen Aussagen des Patienten, die Befunde, Entscheidungen und Maßnahmen in verständlicher und nachvollziehbarer Weise. Wo es wichtig ist, werden zusätzlich Entscheidungswege, Begründungen, angedachte Alternativen, bedeutsame Äußerungen, Stimmungen und Emotionen, Diskrepanzen, Unterlassenes, Ungeklärtes und Aufgeschobenes notiert. Wie Sie vorgehen können ▶▶ Nehmen Sie sich die Zeit und lassen Sie die Konsultation in Gedanken
Revue passieren.
▶▶ Denken Sie darüber nach und halten Sie schriftlich fest, was sich alles auf
fachlicher und psychosozialer Ebene ereignet hat.
▶▶ Wo bedeutsam, notieren Sie auch emotionale und intra- sowie interperso-
nelle Wahrnehmungen.
Fragen zum formalen Vorgehen
Schritt 7
•• Was von dem, was ich gehört, gesehen, gedacht und interpretiert habe, will ich festhalten? •• Wie will ich es in der Krankengeschichte formulieren? •• Welche zusätzlichen Erkenntnisse ergeben sich durch das reflektierende Schreiben? •• Wie könnte sich mein Krankengeschichteneintrag auf den Patienten auswirken, wenn er Einsicht in die Aufzeichnungen nähme?
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Schritt 7: Konsultation auswerten
Erweiterte inhaltliche Beschreibung des Ablaufs / Prozesses 7.2 Krankengeschichte kurz und prägnant führen
Beim Offenlegen des Settings hat der Arzt dem Patienten mitgeteilt, dass er das, was während der Konsultation geschieht, in der Krankengeschichte festhalten wird. Der Arzt verfolgt mit der Krankengeschichte folgende qualitätsrelevanten Ziele: Er hält die medizinisch-technischen Daten fest, protokolliert den therapeutischen Verlauf, hält seine persönlichen Hintergrundreflexionen fest. Der Arzt dokumentiert in der Krankengeschichte kurz und prägnant, gegebenenfalls nur stichwortartig, was er in der Konsultation gehört, gesehen, untersucht, gedacht, mit dem Patienten besprochen oder nicht besprochen hat, was sie vereinbart haben, gemeinsam weiter planen und vorerst offen lassen. Er notiert die erhobenen Befunde, die »Beurteilung« / Arbeitshypothese, gegebenenfalls seine Überlegungen, Ziel und Auftrag, das weitere Vorgehen, Abmachungen und konkrete Aufgaben sowie offene Fragen, bewusst Weggelassenes und eventuell Vergessengegangenes. Wo nötig, skizziert er den Entscheidungsfindungsprozess. Er hält fest, falls Unklarheiten, Ungewissheiten und Unsicherheiten oder Differenzen mit dem Patienten vorliegen. Falls bedeutsam, notiert er neben den sachlichen Aspekten auch relevante psychische, emotionale und interaktive Begebenheiten beim Patienten und sich selbst. Der Arzt schließt mit dem Verfassen der Krankengeschichte eine Konsultation äußerlich / fachlich und innerlich / persönlich ab. Damit macht er sich bereit, seine ungeteilte Aufmerksamkeit dem nachfolgenden Patienten zu geben. So bewirkt er, dass »nachhängende Reste« aus der Vorkonsultation seine Aufmerksamkeit für den neuen Patienten nicht beeinflussen. Mit dem Führen der Krankengeschichte entlastet sich der Arzt von der Geschichte des Patienten. Er schließt und legt sie ab bis zur folgenden Konsultation oder zur nächsten ärztlichen Handlung, die er mit dem Patienten vereinbart hat. Der Arzt kehrt zu seiner eigenen Geschichte zurück. Dies ist für ihn aus psychohygienischer Sicht präventiv bedeutsam.
Praktisches Vorgehen
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Praktisches Vorgehen 7.3 Die eigene Tätigkeit mit anderen Fachleuten reflektieren
Was angestrebt wird Sich bewusst werden, achtsam werden, ob und inwiefern sich fachliche und interpersonelle Ereignisse vor, während und nach der Konsultation auf das eigene Befinden auswirken. Wie Sie vorgehen können ▶▶ Nehmen Sie sich die Zeit und lassen Sie die Konsultation in Gedanken
Revue passieren.
▶▶ Denken Sie darüber nach, was sich alles auf fachlicher, psychosozialer, emo-
tionaler und intra- sowie interpersoneller Ebene ereignet hat, welche Relevanz dies auf Ihre Befindlichkeit haben könnte. ▶▶ Beachten Sie, ob Sie wiederkehrende eigene Verhaltensmuster erkennen.
•• Welche Situationen und Ereignisse in der Konsultation ȤȤ fand ich konstruktiv, haben mich erfreut? ȤȤ verunsichern mich? Inwiefern? ȤȤ treffen mich an einer vulnerablen Stelle? An welcher? ȤȤ verfolgen mich nach Hause oder in den Schlaf? Auf welche Weise? •• In welchen Situationen fühle ich mich unsicher und ratlos? •• Welche Situationen stoßen in mir ungeeignete Verhaltensweisen an? •• Welche Verhaltensweisen des Patienten ermutigen mich? •• Welche Verhaltensweisen des Patienten lösen in mir unangenehme Empfindungen aus? Welche? •• Welche Verhaltensweisen des Patienten stoßen in mir ungeeignete und nicht zielführende Verhaltensmuster an? Inwiefern? •• Welche persönlichen Verhaltensmuster kommen mir bekannt vor und könnten auf meine »blinden Flecken« hinweisen? •• Wie steht es um ȤȤ meine Empathiefähigkeit / mein mitfühlendes Interesse? ȤȤ meine Neugier?
Schritt 7
Fragen, die die Reflexion anregen
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•• •• •• •• ••
Schritt 7: Konsultation auswerten
ȤȤ mein Verantwortungsgefühl? ȤȤ mein Abgrenzungsvermögen? ȤȤ meine Belastbarkeit? ȤȤ meine Wertschätzung mir gegenüber? ȤȤ meine Lust an der Arbeit? ȤȤ meine Fähigkeit zur Freude? ȤȤ meine Zufriedenheit? ȤȤ meine Fähigkeit, die Tagesereignisse hinter mir zu lassen? ȤȤ meine Energie für die Patienten, mich selbst, meine Familie und Hobbys? Kann ich diese Befindlichkeiten und Verhaltensweisen selbst handhaben? Sollte ich diese Situationen / Themen mit Kollegen in einer Gruppenintervision / -supervision besprechen? Müsste ich mir nötige kommunikative Fähigkeiten in Kursen erwerben? Stelle ich bei mir Zeichen fest, die ich bei einem Patienten als Erschöpfungszeichen beurteilen würde? Soll ich einen Arzt aufsuchen?
Erweiterte inhaltliche Beschreibung des Ablaufs / Prozesses
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Erweiterte inhaltliche Beschreibung des Ablaufs / Prozesses
Der Arzt ist sich bewusst, dass aus der Konsultation, wie bei jedem komplexen interaktiven Prozess, neben den angestrebten und erwünschten auch unvorhersehbare und ungewollte Wirkungen resultieren können, die sowohl gute wie auch problematische Folgen haben können. Er weiß, dass dieses Phänomen für anstehende Entscheidungen und Handlungen bedeutsam sowie für die Qualität relevant ist; dass es den Patienten, ihn selbst und ihre Beziehung betrifft. Der Arzt weiß auch, dass er selbst involvierter Teil eines interaktiven Systems mit dem Patienten sowie seinem eigenen privaten und medizinischen Umfeld ist und, bei der großen Dichte der Ereignisse, grundsätzlich immer wieder um Überblick und Außensicht (Metaposition) bemüht sein muss. Deshalb reflektiert er regelmäßig konkrete und wenn möglich mit Video / Tonband dokumentierte Patientensituationen aus fachlicher, psychosozialer und interpersoneller Sicht, gemeinsam mit anderen Fachleuten im Rahmen von geleiteten Fallbesprechungen sowie mit Arztkollegen aus der eigenen Praxis und seinem Ärztenetz, im Qualitätszirkel, in einer Intervisions- oder Balint-Gruppe, in der regionalen Notfallgruppe, an Workshops oder in den Pausengängen von Fortbildungen und Kongressen. Dabei profitieren alle, die sich an den gemeinsamen Reflexionen beteiligen. Solcher Austausch ist relevant für die Qualität der ärztlichen Arbeit und präventiv für die Gesundheit des Arztes. Ein Beispiel: Der Arzt kann aufgrund seines sehr hoch entwickelten Verantwortungsgefühls dem Patienten zu viel Eigenverantwortung abnehmen, ohne dies im gegebenen Moment selbst zu realisieren. Damit belastet er einerseits sich selbst über Gebühr mit zusätzlicher Arbeit und auch psychisch. Andererseits kann er mit seiner Überfürsorglichkeit den therapeutischen Prozess seines Patienten behindern. Dieser »blinde Fleck« kann bei seiner ärztlichen Tätigkeit immer wieder zu ähnlichen problematischen Entwicklungen führen und die Arbeitsqualität gefährden. Im Rahmen einer Fallbesprechung können alle an der gemeinsamen Reflexion Beteiligten ihr Bewusstsein für ähnliche Problematiken schärfen. Je nach Problem und Situation des Patienten bespricht sich der Arzt zudem mit medizinischen und nichtmedizinischen Fachpersonen aus anderen mitbetreuenden Berufsgruppen.
Schritt 7
7.3 Die eigene Tätigkeit mit anderen Fachleuten reflektieren
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Schritt 7: Konsultation auswerten
Wenn der Arzt vor allem seine eigene Befindlichkeit überdenken will, reflektiert er die Situation im Rahmen einer Gruppenintervision oder einer individuellen respektive Gruppensupervision. Mit Lehrgängen in Kommunikation kann er seine Kompetenz zur lebendigen Gestaltung der therapeutischen Interaktion mit dem Patienten erwerben oder weiterentwickeln. Mit dem erworbenen Wissen und eingeübten Fähigkeiten kann er bei seinem Patienten, insbesondere in belastenden komplexen Situationen, eine bessere, zielführendere personenbezogene medizinische Qualität bewirken. Gleichzeitig kann er bewusster und sparsamer mit seiner Energie umgehen. Somit kann er seine berufliche Zufriedenheit erhalten und sich besser vor ungewollten psychischen Auswirkungen schützen. Wenn der Arzt in zunehmende gesundheitliche Not gerät oder sich eine Erschöpfungsdepression anbahnt, sucht er rechtzeitig Hilfe bei seinem eigenen Hausarzt / seiner Hausärztin oder bei einem Psychiater / einer Psychiaterin. Eventuell wendet er sich zuerst an ReMed29, das Unterstützungsnetzwerk der FMH – Berufsverband der Schweizer Ärztinnen und Ärzte.
Der Arzt ist sich bewusst, dass er gut Sorge für sich tragen muss. Denn nur wenn es ihm selbst gut geht, kann er für seine Patienten ein guter Arzt sein.
29 www.fmh.ch/rem/remed.html
Thematische Schwerpunkte
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Grundlagen systemisch-lösungsorientierter Beratung
Die Vorgehensweisen, die wir in unserem Buch beschreiben, beruhen auf dem methodischen Gesamtkonzept für eine systemisch-lösungsorientierte Beratung, das Peter Ryser und Klaus Antons in einer unveröffentlichten Arbeitsunterlage für Seminare in systemischer Beratung 1997 beschrieben haben. Darin werden die Ursprünge systemischen Denkens und Handelns umrissen. Dieses Konzept hat Peter Ryser in vielen Jahren der Praxis und unzähligen kollegialen Gesprächen auf die ärztliche Konsultation übertragen und stets weiterentwickelt. Es ist eine eigene, aus der Praxis erwachsene Konzeptualisierung, in die verschiedene theoretischer Modelle der Systemtheorie und -therapie (von Schlippe u. Schweitzer, 1996) und der humanistischen Psychologie eingegangen sind. Das darin enthaltene personenbezogene Vorgehen ist eine gute Grundlage für das Vermitteln einer systemischen Beratungskompetenz an Praktiker und Praktikerinnen, die von ihrer Ausbildung her immer noch stark dem Ursache-WirkungsDenken verhaftet sind.
Grundhaltung und Ziel der systemisch-lösungsorientierten Beratung Die systemisch-lösungsorientierte Beratung, in welchem Beratungskontext sie auch immer stattfindet, versteht sich als bewusste und geplante Beratung und Begleitung von Menschen in wichtigen Entscheidungs- und Problemsituationen. Unsere Grundhaltung ist dabei, dass Menschen ihre eigenen Ressourcen mobilisieren und sich organisieren können, wenn sie in ein dazu geeignetes Umfeld kommen. Die Basis der Beratung in der Arztpraxis ist eine persönliche Beziehung zwischen Arzt und Patient. In ihr wird angestrebt, für Symptome / Probleme neue Ziele zu entdecken und angemessene Therapien / Lösungen zu entwickeln, Entscheidungen zu ermöglichen, die Selbstkompetenz und Selbstregulation zu
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Grundlagen systemisch-lösungsorientierter Beratung
stärken und zu neuen Verhaltensweisen zu ermutigen, um das Wohlbefinden der Patientinnen und Patienten gemeinsam mit ihnen zu fördern.
Paradigmenwechsel vom linear-kausalen zum systemischen-interaktiven Denken und dessen Einfluss auf die Therapieformen Wir sind gewohnt, in »Wenn-dann-Bezügen« zu denken: Ein wahrgenommenes Phänomen muss wohl eine Ursache haben. Die meisten Alltags-, aber auch wissenschaftliche Theorien beruhen auf dieser durch die »Logik« der von Aristoteles grundgelegten Art des Denkens. Sie ist im Westen seit über zweitausend Jahren »eingefleischt« und beherrscht unser Weltbild. Diese Art zu denken hat enorme Leistungen hervorgebracht; in seiner Konsequenz fahren Autos und fliegen Flugzeuge, hat sich die heutige Medizin entwickelt usw. Das systemische Denken und Handeln erfordert einen Paradigmenwechsel vom klassischen – kausalen, atomistischen, reduktionistischen, analytischen oder dualistischen – zum systemischen oder auch ökologischen, holistischen Denken. Was das systemische Modell mit seinen Konzepten und Theorien unterscheidet von unserem gewohnten Denken, hat Gottlieb Guntern 1977 in Zürich in einem wegweisenden Vortrag mit dem Titel: »Die kopernikanische Revolution in der Psychotherapie: der Wandel vom psychoanalytischen zum systemischen Paradigma« (vgl. Guntern, 1980; Kuhn, 1976) dargestellt. In Abbildung 2 werden das klassische und systemische Paradigma einander illustrativ und plakativ vereinfacht gegenübergestellt. Selbstverständlich kennt die Realität Übergänge, kennt ein Mehr oder Weniger.
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Paradigmenwechsel vom linear-kausalen zum systemischen-interaktiven Denken
Denkmodell
Denken zielt auf
Klassisches Paradigma
Neues Paradigma
atomistisch-reduktionistisch, analytisch-dualistisch
systemisch-ökologisch- holistisch
Zerlegen der Teile eines Ganzen
Erkennen von Zusammenhängen
linear-kausal A
Zirkulär A
Symbol (nach Guntern)
Denkverlauf
B
Komplexität wird reduziert auf möglichst klare Kausalketten: monokausale Theoriebildung
B
Sichtbarmachen von Beziehungen und Organisation von Beziehungen im komplexen Feld Interpunktionen statt Kausalitäten
philosophische und naturwissenschaftliche Denker
Aristoteles, Newton
Heisenberg (Unschärferelation); Einstein (Relativitätstheorie)
Vorläufer
Descartes (Leib-Seele-Dualität)
Taoismus, Mystik
Theoretiker im Human- / Sozial wissenschaftsbereich
Wundt (Elementenpsychologie); Freud (Psychoanalyse); Darwin (Genetik)
Lewin (Feldtheorie), Bateson (Palo-Alto-Schule), Piaget (Kognitive Psychologie), Wiener, Cannon, von Bertalanffy (Kybernetik)
Menschenbild
reaktiver, determinierter Organismus
aktiver Organismus, offenes System (AssimilationAkkommodation)
Therapieformen
Einzelbehandlung; Einzelner (Kranker) in Gruppe und Familie; Pharmakotherapie
Familien-, Netzwerk-, SozialTherapie; Gruppe als Ganzes
Rolle des Therapeuten
Gegenüber, distanziert, Beobachter, Analytiker
Teil des Systems: beweglich
Abbildung 2: Gegenüberstellung des klassischen und des systemischen Paradigmas
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Grundlagen systemisch-lösungsorientierter Beratung
Vom linear-kausalen Denken und Handeln … Das Denken im klassischen Paradigma zielt auf das Zerlegen eines Ganzen in seine Teile, dessen Komplexität wird reduziert auf möglichst klare Kausalketten. Die Theoriebildung erfolgt in monokausaler oder linear-kausaler Weise, d. h., Phänomen A muss B als Ursache haben. Vertreter
Prominente philosophische und naturwissenschaftliche Denker, die dieses klassische Paradigma geprägt haben, waren im Altertum Aristoteles, in der Neuzeit Descartes mit seiner Leib-Seele-Dualität und Newton mit der Etablierung des klassischen physikalischen Weltbildes. Im human- und sozialwissenschaftlichen Bereich ist dieses Denken im 19. und 20. Jahrhundert prägnant vertreten worden von Darwin und seiner Evolutionstheorie, Freud mit seiner Psychoanalyse (der »Seelenzergliederung«) und Wundt mit seiner Elementenpsychologie. Das hinter all diesen Richtungen stehende Menschenbild ist das eines physischen Organismus, der genetisch sowie durch Prägung und Konditionierung determiniert ist und vorwiegend als auf seine Umwelt reagierend gesehen wird. Therapieformen
Die aus diesem klassischen Paradigma hervorgehende Form von Therapie und Beratung ist, ausgehend von der klassischen Freud’schen Psychoanalyse, die Arbeit mit einzelnen Individuen; das Individuum bleibt auch die Bezugsgröße, wenn einzelne Kranke in Gruppe oder Familie therapiert werden. Schließlich gehört die Pharmakotherapie ganz in diesen Bereich. Die Rolle des Therapeuten ist die eines distanzierten Gegenübers, der das Geschehen im Individuum beobachtet, analysiert und sich weitgehend aus dem Prozess heraushält. … zum systemisch-interaktiven Denken und Handeln Im systemischen Paradigma geht es mehr um das Erkennen von Zusammenhängen, das Sichtbarmachen von Beziehungen und um die Organisation von Beziehungen im komplexen Feld. Dieses Denken wird als zirkulär beschrieben: Phänomen A mag teilweise durch B verursacht sein, A wirkt aber auch auf B ein und B wirkt wieder auf A zurück. Statt Kausalitäten sind die unterschiedlichen Interpunktionen der Beteiligten von Bedeutung (siehe den Abschnitt »Grundlagen der Kommunikation«, S. 201 ff.). »Ein System ist nicht etwas, das dem Beobachter präsentiert wird, es ist etwas, das von ihm erkannt wird« (Maturana, 1982, S. 175). Mit diesem Satz
Paradigmenwechsel vom linear-kausalen zum systemischen-interaktiven Denken
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wird Grundlegendes festgehalten: Systeme sind »Willensgebilde«. In Anlehnung an von Schlippe und Schweitzer (1996) ist ein System nicht etwas, das es »gibt«, sondern etwas, von dem man dann sinnvollerweise spricht, wenn man es in Bezug zu denjenigen setzt, die es wahrnehmen. Was wir als System definieren und erkennen, kann demnach nicht vom jeweiligen Betrachter losgelöst werden. Die Realität der Systeme entsteht im Wechselspiel zwischen Betrachter und betrachtetem Phänomen (siehe dazu auch den Abschnitt »Die Wirklichkeitskonstruktion«, S. 205 f.). Vertreter
Das systemische Paradigma hat seine Vorläufer in vielen östlichen Religionen, so dem Taoismus und dem Buddhismus, aber auch in der europäischen Mystik. Die Denker des ausgehenden 19. und des 20. Jahrhunderts, die den Bruch mit dem Newton’schen Weltbild vollzogen haben, waren in erster Linie Heisenberg mit seiner Unschärferelation (für einen Betrachter ist es unmöglich, gleichzeitig Aussagen über den Ort und über die Bewegung eines Objekts zu treffen), Planck sowie Einstein mit seiner Relativitätstheorie. Im human- und sozialwissenschaftlichen Bereich sind in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts die wesentlichen Vordenker Piaget mit seiner kognitiven Psychologie, Bateson als Begründer der Palo-Alto-Schule (siehe »Grundlagen der Kommunikation«, S. 201 f.), Lewin (1963) mit seiner Feldtheorie und – im Zwischenbereich zwischen Natur- und Sozialwissenschaften – Wiener (1948; 1950), Cannon und von Bertalanffy (1949; 1969) mit der Entwicklung der Kybernetik erster Ordnung. Dieses systemische Paradigma hat kein eigentliches Menschenbild, aber es betrachtet lebende Systeme als aktive Organismen, als offene Systeme, die sich selbst organisieren und über Angleichung (Assimilation und Akkommodation) an ihre Umwelt überleben. Therapieformen
Therapie- und Arbeitsformen, die dem Geist des systemischen Paradigmas folgen, sind Familien-, Netzwerk- und Sozialtherapie; Gruppen und andere Systeme werden als Ganzes gesehen. Therapeut und Berater verstehen sich als ein Teil des Systems, wenn auch in einer speziellen Rolle, und es geht darum, beweglich zwischen Nähe und Distanz zum System zu sein, d. h., in das System hinein- und wieder hinausgehen zu können.
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Grundlagen systemisch-lösungsorientierter Beratung
Werte und Menschenbild in der systemischen Beratung – die humanistische Psychologie und die Bedeutung von Beziehung Die humanistische Psychologie war eine Richtung, die sich in den 1950er Jahren in den USA deklarierte als eine dritte Kraft zwischen den beiden erstarrten Blöcken Psychoanalyse und Verhaltenstherapie. Ihre Autoren bezogen sich auf Denker wie Teilhard de Chardin und Martin Buber, aber auch auf die modernen Physiker. Ihre bekanntesten Vertreter sind Abraham Maslow und Carl Rogers. Der Mensch ist aktiver Gestalter seiner Existenz Im Sinne der humanistischen Psychologie verstehen wir den Menschen als das »System Individuum« mit seinen eigenen Gesetzmäßigkeiten. Zwar ist er genetisch, durch frühe Prägung und Lernen teilweise determiniert in seinem Verhalten, aber er ist auch fähig, neu zu lernen. Bamberger stellt in seinem Buch fest: »Jeder Mensch ist ein aktiver Gestalter seiner eigenen Existenz. Er trägt in sich all die Ressourcen, die es ihm ermöglichen, nicht nur selbstverwirklichend zu handeln, sondern in der Verwirklichung dessen, woran er glaubt, seine Existenz zu transzendieren und damit sein Leben mit Sinn zu erfüllen« (1999/2005, S. 38). Beziehung Das bedeutet, dass jeder Mensch seine Ressourcen mobilisieren und sich selbst organisieren kann, wenn er in ein dazu geeignetes Umfeld kommt. Und dieses Umfeld heißt: Beziehung. Dieses von Systemikern relativ selten benutzte Wort ist uns wichtig. Beratung (und Therapie) ist primär ein Beziehungsgeschehen, und das Heilende und Entwickelnde ereignet sich über die zwischenmenschliche Beziehung. Der Mensch ist ein soziales Wesen, und seine Entwicklungsprozesse laufen über die Begegnung. So ist auch Autonomie zu verstehen: nicht als Autismus, sondern als »Entwicklung in Bezogenheit«, wie es Ruth Cohn in der von ihr entwickelten Themenzentrierten Interaktion als Basis für Lernprozesse postuliert. Dazu gehören auf der Seite des Beraters und der Beraterin Respekt vor der Anders- und Einzigartigkeit des Gegenübers, aber auch die näher zu beschreibende zugewandte Neugier. Carl Rogers geht in seinen frühen Schriften davon aus, dass »die Qualität der interpersonalen Begegnung mit dem Klienten das bedeutsamste Element bei der Bestimmung von Effektivität ist« (Rogers u. Stevens, 1984, zitiert nach Hycner, 1989, S. 103). Die echte Begegnung beschreibt er so: »In diesen seltenen
Grundlagen der Kommunikation – »pragmatische Axiome«
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Augenblicken, wo eine tiefe Wirklichkeit in dem einen einer tiefen Wirklichkeit in dem anderen begegnet, handelt es sich um die denkwürdige ›Ich-Du-Beziehung‹, von der Martin Buber, der jüdische Existenzphilosoph, gesprochen hat« (Rogers, 1974, zitiert nach Hycner, 1989, S. 103). Nach Rogers sind die drei wesentlichsten Grundelemente dieser Begegnung die Wertschätzung (positive Zuwendung, Wärme und Achtung), die Empathie (einfühlendes, nichtwertendes Verstehen und Mitgehen) und die Authentizität (Echtheit und Selbstkongruenz). Für Rogers und andere Therapeuten war das dialogische Prinzip in der Therapie zentral und sie nahmen an, dass so eine Begegnung heilende Wirkung haben kann. Laura Perls, eine Studentin von Martin Buber, sagte daher in einem Gespräch über ihre Therapiearbeit Folgendes: »Für mich ist es dabei wichtig, keine therapeutische Rolle zu spielen, sondern den Klienten so zu begegnen, wie ich im Augenblick bin; mich mit meinem Hintergrund, mit allem, was mir an Erfahrung, Wissen und Geschick zur Verfügung steht, in der gegebenen Situation in den Dienst des Dialogs, der Begegnung zu stellen« (1989, zitiert nach Hycner, 1989, S. 106). Auch neuere spätere Untersuchungen bestätigen die Wichtigkeit des Beziehungsgeschehens. Klaus Grawe schreibt über die beratende Beziehung: »Wenn man alle je untersuchten Zusammenhänge zwischen bestimmten Aspekten des Therapiegeschehens und des Therapieergebnisses zusammennimmt, dann sind die Aspekte des Beziehungsgeschehens in Psychotherapien diejenigen Merkmale des Therapieprozesses, deren Einfluss auf das Therapieergebnis am besten gesichert sind« (Grawe, Donati u. Bernauer, 1994, S. 775).
Grundlagen der Kommunikation – »pragmatische Axiome« Die Grundlagen der Kommunikation orientieren sich an dem Buch »Menschliche Kommunikationen« von Watzlawick, Beavin und Jackson (1969), in dem die Arbeitsweise der von Gregory Bateson begründeten Palo-Alto-Schule dargestellt ist. Es postuliert die sogenannten »pragmatischen Axiome« der Kommunikationspsychologie. Mit Axiomen sind nicht mehr weiter herleitbare Aussagen gemeint. Sie besagen Folgendes: 1. Man kann nicht nicht kommunizieren. Damit ist gemeint, dass jedes menschliche Verhalten, das in einem sozialen Umfeld stattfindet, kommunikativen Charakter hat. Selbst der Rückzug eines Eremiten signalisiert noch: Lasst mich in Ruhe.
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Grundlagen systemisch-lösungsorientierter Beratung
2. Kommunikation hat einen Inhalts- und einen Beziehungsaspekt derart, dass der Beziehungsaspekt den Inhaltsaspekt determiniert. Dieses Axiom ist wohl das bekannteste; die Unterscheidung zwischen der Inhaltsund Beziehungsebene von Kommunikation ist heute geläufig. Autoren wie Schulz von Thun (2001) haben diese beiden Aspekte noch weiter unterschieden in den Inhalts-, den Selbstoffenbarungs-, den Appell- und den Beziehungsanteil einer Botschaft (Abbildung 3).
Die vier Seiten einer Nachricht Sache/ Inhalt
Sender
Selbst offen barung
Nachricht
Appell
Empfänger
Beziehung
Bedeutung für: AUSSENDEN
EMPFANGEN Sache / Inhalt
Informationen über die mitzuteilenden Dinge und Vorgänge
Den sachlichen Inhalt verstehen
Selbstoffenbarung Was der Sender über sich selbst mitteilt – über seine Persönlichkeit und über seine aktuelle Befindlichkeit
Verstehen, was mit der Person »los« ist, was in ihr vorgeht, welche Gefühle und Motive mit der Äußerung verbunden sind
Beziehungshinweis Wie der Sender zum Empfänger steht, was er von ihm hält und wie er die Beziehung zwischen sich und ihm definiert
Aufnehmen, was der Sender vom Empfänger zu halten scheint und wie der Empfänger sich vom Sender behandelt fühlt
Appell Den Empfänger zu veranlassen in bestimmter Weise zu denken, zu fühlen oder zu handeln.
Aufforderungen heraushören, die der Empfänger an sich gerichtet spürt.
Abbildung 3: Die vier Aspekte einer Nachricht (nach Schulz von Thun, 2001)
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Grundlagen der Kommunikation – »pragmatische Axiome«
3. Die Natur einer Beziehung ist durch die Interpunktion der Kommunikationsabläufe seitens der Partner bedingt. Paul Watzlawick nennt das Beispiel von der Frau, die nörgelt, und dem Mann, der sich zurückzieht (siehe Abbildung 4). Jeder sieht sein Verhalten als Reaktion auf das Verhalten des anderen und ist sich nicht bewusst, wie er / sie das Verhalten des anderen auslöst. Einem außenstehenden Betrachtenden fällt natürlich die Zirkularität des Geschehens auf. Ist dieser Ablauf einmal im Gang, lässt sich nicht mehr unterscheiden, wer angefangen hat oder wer »Opfer« oder »Täter« ist. Die Beteiligten hingegen fühlen sich jeder als »Opfer«. Durch diese Art der Erklärung (Interpunktion) bleibt den Beteiligten die Rückbezüglichkeit (Rekursivität) des eigenen Verhaltens verborgen. Dieses für ein systemisch-zirkuläres Verständnis vielleicht wichtigste Axiom wendet sich gegen das reaktiv-deterministische Denken und macht deutlich, dass die jeweiligen Erklärungssysteme von Partnern letztlich aufeinander aufbauen. Gerade zum Verständnis von eskalierenden Verhaltensweisen ist diese Sichtweise von Bedeutung. Den eigenen Anteil an einer problematischen interaktiven Situation zu erkennen ist wohl ein zentrales Thema jeder Beratungsarbeit.
5
an weil du passiv, o s r u n t Ich bin nörgels tue, rum h ic s a allem, w
6
Ich bev ormund e dich n ur, weil du immer so pass iv bist il end, we abweis st munde r bevor e m im h
4
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1
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Abbildung 4: Interpunktion der Kommunikationsabläufe
2
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Grundlagen systemisch-lösungsorientierter Beratung
4. Menschliche Kommunikation bedient sich digitaler und analoger Modalitäten. Mit digital ist hier primär die sprachliche Verständigung gemeint, mit analog das, was sich vor oder jenseits von Sprache bewegt: Körperausdruck, Tonfall, Mimik usw. Bekannt ist inzwischen, dass diese Modalitäten die jeweils andere Hirnhälfte aktivieren und dass ein Wechsel von der digitalen zur analogen Modalität Lösungen ermöglicht, die über digitales (d. h. logisch rationales und diskursives) Denken nicht zu erreichen sind. Dementsprechend spielen analoge Interventionen in der systemischen Beratung eine bedeutende Rolle. Diese Vorgehensweise begründet sich in folgenden Gegebenheiten der Sprache. Die Sprache ist ein Werkzeug unserer Kommunikation. Sie ist ein Teil der Kultur, in die wir hineingeboren wurden. Sie kanalisiert unsere Gedanken in eine bestimmte Richtung. Unsere Sprache macht in einigen Bereichen feine Unterschiede und in anderen nicht – abhängig davon, was in der Kultur, in der wir leben, wichtig ist. Wörter geben unseren Erfahrungen Ausdruck, sind aber niemals so reich und vielfältig wie die Erfahrung selbst. Unsere Sprache ist »digital«, d. h., sie ist linear, die Worte folgen aufeinander in einzelnen Schritten. Unsere Gedanken und Gefühle, die diesen Worten zugrunde liegen, sind dagegen weder logisch noch chronologisch, sondern synchron und gleichzeitig, d. h., sie sind »analog«. Wir müssen also, wollen wir jemandem etwas mitteilen, die Gedanken und Gefühle in Worte übersetzen. Die Sprache kann jedoch nie der Geschwindigkeit, Vielfalt und Sensibilität der analogen Prozesse gerecht werden. Sie kann nur eine Annäherung sein. Um uns jemandem verständlich mitzuteilen, lassen wir zuerst einmal einen Teil unserer Gedanken weg, geben davon noch eine vereinfachte Version preis und schlussendlich verallgemeinern wir noch. Würden wir das nicht tun, würde unsere Unterhaltung schrecklich langatmig, pedantisch und öde. Bei der Übersetzungsarbeit fällt eine Menge an Informationen heraus. Im Beratungsgespräch mit Klientinnen und Klienten geht es nun darum, fehlende Informationen zu erschließen, um ihnen so einen Zugang zu unbewusstem Material zu ermöglichen. Mit kreativen Methoden können wir sie dabei unterstützen. Einige aus der Vielzahl der Medien sind Farben, Zeichnungen aller Art, Bilder, Fotos, Puppen, Klötze, Ton, Steine und vieles mehr. 5. Zwischenmenschliche Kommunikationsabläufe sind entweder symmetrisch oder komplementär, je nachdem ob die Beziehung zwischen den Partnern auf Gleichheit oder Verschiedenheit beruht. Mit »symmetrisch« und »komplementär« sind zwei wertneutrale, grundlegende Kategorien zwischenmenschlicher Beziehung gemeint. Die Gleichheit oder Ähnlichkeit der Partner / -innen konstituiert den symmetrischen Aspekt
Die Wirklichkeitskonstruktion: Teil des Problems und Teil der Lösung
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ihrer Beziehung (»In Geschmacksfragen sind wir uns immer einig«), ihre Unterschiedlichkeit den komplementären, d. h. den durch unterschiedliche Funktionen sich ergänzenden Aspekt (»Wenn ich mal nicht weiter weiß, fällt ihr sicher eine gute Idee ein«). »Gesunde« Beziehungen leben aus einem dynamischen Wechselspiel beider Modalitäten; mal steht die Gleichheit, mal die Unterschiedenheit im Vordergrund. Störungen treten auf, wenn einseitig nur die Symme trie oder nur die Komplementarität gelebt wird. Die Störungsmuster, in denen es jeweils um Macht in der Beziehung geht, sind charakteristisch unterschiedlich: Ausschließliche Symmetrie führt zu offenen Kämpfen, die sich zur »symme trischen Eskalation« aufschaukeln können; ausschließliche Komplementarität führt zu einem starren oben – unten, stark – schwach usw., in denen jeder der Partner sich über die Zuschreibungen des anderen in seiner Position festfährt. Diese Axiome machen deutlich, dass die neueren linguistischen Systemmodelle etwas zu kurz greifen, da sie mit ihrem alleinigen Akzent auf »Sprachspielen« lediglich den digitalen Teil der Kommunikation als relevant erachten.
Die Wirklichkeitskonstruktion: Teil des Problems und Teil der Lösung Wie wirklich ist die Wirklichkeit? Ein wesentlicher Teil des menschlichen Verhaltens wird von dem bestimmt, was wir wahrnehmen und erkennen. Deshalb ist die Wahrnehmung auch die wichtigste Grundlage für unser Verhalten anderen Menschen gegenüber. Dass ein Mensch sich auf seine ihm eigene Weise verhält, hängt zu einem großen Teil davon ab, wie er seine Umgebung und seine Partner wahrnimmt. Unter Wahrnehmung verstehen wir in erster Linie das, was über die wichtigsten Wahrnehmungskanäle, das Sehen und das Hören, von der Außenwelt in uns hineingelangt. Dazu gehören die klassischen »fünf Sinne« (das Sehen, Hören, Riechen, Schmecken, Fühlen), vervollständigend auch der Gleichgewichtssinn, der uns über das Innenohr und die Muskelspindeln über unsere Lage im Raum informiert, Wärme- und Kälteempfindung und einiges mehr. Dabei stürzen pro Sekunde etwa 20.000 Bits Information auf uns ein – es ist notwendig, die relevanten Informationen herauszufiltern, anderes wegzulassen. Damit ist die Wahrnehmung – auch im zwischenmenschlichen Bereich, alles andere als ein »objektives« Registrieren. Wahrnehmen heißt erkennen, und das Erkennen wird erst dadurch möglich, dass wir Unterscheidungen vornehmen können. Ohne diese Fähigkeit könnten wir uns nicht orientieren und somit auch nicht überleben. Erkennen ist von vielen Faktoren abhängig, vor allem aber von vorhandenem Wissen und all unseren bisherigen Erfahrungen und den daraus
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entwickelten Konzepten (subjektiven Landkarten), aber auch vom Prozess des Erkennens selbst. Wir sind darauf angewiesen, subjektive Entwürfe, »Landkarten« über unsere Welt zu machen, um uns das Zurechtfinden zu ermöglichen. Auch bei den relativ selbstverständlichen Begriffen wie zum Beispiel Krankheit, Leistung, Team etc. handelt es sich um solche persönlichen Entwürfe. Wenn wir nun diese persönlichen Konstrukte, die wir zu unserer Orientierung brauchen, mit der Wirklichkeit verwechseln, unterliegen wir einem folgenschweren Irrtum. Dieser Irrtum ist auch mit dem Gast zu vergleichen, der die Speisekarte mit dem Essen verwechselte. Wer also etwas wahrnimmt, »filtert« die Tatsachen und verändert sie dadurch. Die Filter bestehen aus der persönlichen Erfahrung, Einstellung, Erwartungshaltung, Gefühlslage, dem vorhandenen Wissen etc. Das bedeutet, dass die »Wirklichkeit«, die wir wahrnehmen, nie losgelöst werden kann von ihren Betrachtern. Dieser letzte Satz beinhaltet die vielleicht stärkste Herausforderung des systemischen für unser gewohntes Denken. Diese auf weitaus älteren Weltsichten aufbauende Richtung der Systemtheorie – auch als Kybernetik zweiter Ordnung bezeichnet – hat zu dem geführt, was heute als Konstruktivismus bekannt ist: Die Welt, so wie ich sie wahrnehme, ist meine Konstruktion der Wirklichkeit. Und die ist mit Sicherheit eine andere als die meines Nächsten. Das, was wir als Wirklichkeit bezeichnen, darf zudem nicht nur als individuelles Produkt verstanden werden. Menschen leben immer in sozialen Zusammenhängen. Dies bedeutet, dass alles, was wir »Wirklichkeit« nennen, in Gesprächen, im Austausch mit anderen entstanden ist. Neben den bereits genannten »persönlichen Filtern« gibt es gewissermaßen auch »soziale Filter«: unser nächstes Umfeld (Familie, Beruf) sowie gesellschaftliche und kulturelle Einflussgrößen. Von Schlippe und Schweitzer halten fest: »Das, was wir für wirklich halten, haben wir in einem langen Prozess von Sozialisation und Versprachlichung als wirklich anzusehen gelernt. Systeme konstruieren gemeinsame Wirklichkeiten als Konsens darüber, wie die Dinge zu sehen sind« (1996, S. 89). Und diese Wirklichkeiten sind weitgehend bestimmend für unsere emotionale Lage, unsere Wertungen und Handlungen. Somit werden »objektiv gültige« Weltsichten und »allgemein verbindliche Normen« obsolet. In Beratungsprozessen geht es vor allem darum, die unterschiedlichen Wirklichkeitskonstruktionen der Menschen im Dialog einander anzunähern. Genau das besagt der Titel eines späteren Buches von Watzlawick »Die erfundene Wirklichkeit« (1981).
Von der Problemsicht zur Lösungsorientierung
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Von der Problemsicht zur Lösungsorientierung Die Reihenfolge der bedeutenden Veröffentlichungen der Palo-Alto-Schule machen den Entwicklungsgang systemischen Denkens recht deutlich: Das erste Werk war das oben erwähnte »Menschliche Kommunikationen« (Watzlawick et al., 1969). Das zweite bedeutende Werk »Lösungen« (Watzlawick, Weakland u. Fisch, 1974) zeigt, dass die Lösungsorientierung, um die es in diesem Abschnitt gehen soll, ein weiterer Schritt war, nach welchem erst die im vorigen Abschnitt behandelten Fragen nach der Konstruktion von Wirklichkeit aufscheinen. Als Berater / -innen und Arzt / Ärztin sind wir täglich in Organisationen, die Menschen per definitionem nur dann aufsuchen, wenn diese ihr Leben nicht mehr selbst bewältigen können und sogenannte Probleme haben. Insofern ist es verständlich, dass Klienten und Klientinnen / Patienten und Patientinnen30 sich zunächst einmal mit ihren Problemen präsentieren. Die gängige Erwartung ist, dass eine Beraterin, ein Arzt, eine Klinik, ein Heim, eine Personalabteilung etc. diejenigen sozialen Institutionen sind, die helfen, das Pro blem zu beseitigen. Meist empfindet sich die Patientin, der Patient selbst unfähig zur Lösung, befrachtet die helfende Institution mit hohen Erwartungen an die Lösungskompetenz und verhält sich selbst passiv-regressiv. Das ist verbunden mit Bedürfnissen, sich dafür zu rechtfertigen, dass sie oder er Hilfe in Anspruch nehmen muss. »Außerdem sehen Klienten ihren Beitrag zur Beratungsarbeit häufig darin, eine präzise Beschreibung des Problems zu liefern – verbunden mit der Überzeugung, dass ein Berater umso effektiver helfen kann, je genauer er das Pro blem kennt. Zugleich gilt es zu akzeptieren, dass der Klient dabei auf den Berater Einfluss nehmen und ihn für die eigene Sichtweise und die eigenen Fokussierungen gewinnen möchte« (Bamberger, 1999/2005, S. 58). Die Vertreter / -innen des klassischen Paradigmas steigen nun typischerweise auf dieses Angebot ein und versuchen eine Lösung über die Diagnose und Analyse der Problemsituation. Diese problemorientierte Sichtweise – die zum Beispiel das gesamte Medizinalwesen bestimmt – ist keineswegs wirkungslos, aber sie berücksichtigt nicht, was die systemische, ressourcenorientierte Sichtweise auszeichnet, nämlich den Glauben daran, dass jemand, der ein Problem hat, auch die Kompetenzen und Ressourcen für dessen Lösung hat – und seien diese Ressourcen auch noch so verschüttet. Manche Richtungen der Systemtherapie unterlaufen die Problemsicht des Patienten oder der Patientin vollständig und sind vor allem an Lösungen orien30 Klient und Patient werden hier als gleichbedeutende Begriffe verwendet.
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tiert, so auch de Shazer (1989), der dafür plädiert, sich zunächst die problem gelöste Situation als Vision vorzustellen und aus dieser die Energie für eine Veränderung zu schöpfen. Unser Vorgehen versucht, die Dialektik zwischen Problemsicht und Lösungsorientierung einzubeziehen. Wie dies in den einzelnen Schritten aussehen kann, beschreibt Bamberger so: »Den Klienten darin zu akzeptieren, dass er sich als ›Problemträger‹ exponiert und dabei die korrespondierenden Gefühle der Angst, der Trauer, des Schmerzes, der Verzweiflung usw. in sich wachruft, die ganze ›Notenge‹ (Knill, 2004) bewusst erlebt und ihr standhält, schafft auch die Voraussetzung dafür, dass im nächsten Schritt eine Alternative, eine Perspektive des ›Statt-dessen‹, eine Zielvision gewonnen werden kann. Sobald eine solche Alternative erst einmal visioniert ist, verfügt der Klient über das notwendige doppelte Wissen: Er weiß einerseits, wovon er wegwill, und andererseits, wie er die Lösung angehen könnte, und dieses doppelte Wissen bietet in synergetischer Weise die motivationale Grundlage für ein entsprechendes Lösungshandeln des Klienten: Approach-avoidance-Verhalten« (1999/2005, S. 58). Leitgedanke für dieses lösungsorientierte Arbeiten ist die Frage: Was ist das für eine Situation, wenn das Problem nicht mehr ist? Dies ermöglicht das Erarbeiten einer Zieldefinition, in der sich die Patienten und Patientinnen über ihre Erwartungen und über die Wünsche, wie sie ihr Leben verändern möchten, ausdrücken können. Durch dieses Vorgehen werden die Patienten in der von ihnen begonnenen aktiven Problemlösungssuche unterstützt. Im gemeinsamen Prozess werden zudem auch die durch die Patienten bereits selbst unternommenen Problemlösungsversuche reflektiert. Wenn es im Beratungsprozess gelingt, deutlich und kritisch überprüft herauszuarbeiten, was erreicht werden soll und erreicht werden kann und an welchen Kriterien Ärzte / Ärztinnen und Patientinnen / Patienten die Zielerreichung erkennen können, ergibt sich eine funktionale Beratungskonstellation. Viele Beratungen misslingen, weil erreichbare Lösungen nicht genügend sorgfältig ausgehandelt wurden und damit auch die Ziele der Beratung vage blieben.
Das Prinzip der Umdeutung Ein wichtiges Grundprinzip, auf dem viele beraterischen Tätigkeiten aufbauen, ist das Konzept der Umdeutung (etwas »in einen neuen Rahmen setzen«, Reframing). Reframing wird zwar auch als spezifische Technik gehandhabt, ist aber eigentlich ein umfassendes Geschehen. Watzlawick, Weakland und Fisch beschreiben das so: »Eine Umdeutung besteht also darin, den begrifflichen und
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gefühlsmäßigen Rahmen, in dem eine Sachlage erlebt und beurteilt wird, durch einen anderen zu ersetzen, der den ›Tatsachen‹ der Situation ebenso gut oder sogar besser gerecht wird, und dadurch ihre Gesamtbedeutung ändert.« Und etwas später: »Was im Zuge einer Umdeutung verändert wird, ist vielmehr die Bedeutung, die der Sachlage zugeschrieben wird, und nicht ihre konkreten Gegebenheiten – oder wie es Epiktet schon im ersten vorchristlichen Jahrhundert ausdrückte: ›Nicht die Dinge selbst beunruhigen uns, sondern die Meinungen, die wir über die Dinge haben‹« (1974, S. 118). Eine Umdeutung in diesem Sinne findet bereits dann statt, wenn ich einen Patienten, der mir seine Probleme und nichts als seine Probleme schildert, nach seinen Wünschen, Phantasien und Zielen frage. Insofern ist die oben angedeutete Dialektik zwischen Problem- und Lösungsorientierung bereits ein Prozess des Reframings. Umdeutung kann auch verstanden werden als Prozess, in dem, auf welche konkrete Art auch immer, die »inneren Landkarten« verändert werden. Im Prozess der Umdeutung kommen einige Prämissen systemischer Arbeit in besonderer Weise zum Tragen. In Anlehnung an von Schlippe und Schweitzer erscheinen uns folgende Implikationen besonders wichtig: •• Jedes Verhalten ist sinn-voll (mit Sinn gefüllt), wenn man es in seinem Kontext sieht und versteht. Die Bedeutung, der Sinn eines Verhaltens kann oft nur in seinem jeweiligen Kontext entschlüsselt werden (siehe den Abschnitt »Die Wirklichkeitskonstruktion«, S. 205 f.). •• Es gibt keine vom Kontext losgelösten Eigenschaften einer Person. Wie wir sind und uns verhalten, ist das Resultat eines Austauschprozesses in einem bestimmten Kontext, in dem Rollen und Verhalten zugesprochen, definiert, angedichtet oder aufgezwungen werden (siehe den Abschnitt »Die Wirklichkeitskonstruktion«, S. 205 f., sowie die Grundformel der Lewin’schen Feldtheorie [Lewin, 1963], dass Verhalten stets eine Funktion von Person und Umwelt ist). •• Menschen haben persönliche Ressourcen. Probleme ergeben sich manchmal daraus, dass Kontext und persönliche Ressourcen nicht gut zusammenpassen. Oft können persönliche Fähigkeiten im jeweiligen Umfeld oder auch zu einer bestimmten Zeit nicht eingebracht werden oder sie passen ganz einfach nicht zu diesem Zeitpunkt in die Umgebung. Daraus entwickeln sich Konflikte. In jedem Konflikt, der im Rahmen eines Gesamtsystems betrachtet wird, können meist auch die Vorteile und Nachteile sowie die systemstabilisierenden Wirkungen von individuellen Verhaltensweisen erkannt werden. Oft erweisen sich scheinbare Nachteile in einem Teil des Systems an
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anderer Stelle als mögliche Vorteile (siehe auch den Abschnitt »Werte und Menschenbild in der systemischen Beratung«, S. 200 f.). •• In menschlichen Systemen gibt es keine »festen Wirklichkeiten«, es gibt nur Prozesse und Bewegung; alles ist relativ. Mit unserer Sprache können wir in guter Weise Dinge und Personen beschreiben, jedoch nie der Komplexität, Geschwindigkeit und Sensibilität von Prozessen gerecht werden. Die Sprache verführt uns zu einem statischen Denken und strebt danach, Prozesse auf Dinge und Strukturen einzuschränken. Wenn wir uns fragen, weshalb jemand so oder so ist, fragen wir nach einer Begründung. Wenn wir aber fragen, welches Verhalten in welchem Kontext jemand zeigt, beleuchten wir den Sinn und Zweck eines Verhaltens (siehe auch den Abschnitt »Grundlagen der Kommunikation«, S. 201 ff.). Was ist nun die Wirkungsweise einer Umdeutung? Patienten und Patientinnen, die zur Beratung kommen, haben aus ihrer Sicht das Mögliche und Vorstellbare ausprobiert, um ihr Problem zu lösen – allerdings ohne durchgreifenden Erfolg, sonst würden sie nicht um Hilfe von außen anfragen. Solche Versuche werden auch als »Lösungen erster Ordnung« bezeichnet. Währenddessen hat sich meist der Blickwinkel des Patienten oder der Patientin weiter eingeengt, ist starr und unbeweglich geworden. Oft liegt dem Verhalten eine Schwarz-Weiß-, Entweder-oder-, Alles-oder-nichts-Logik zugrunde. Damit werden komplexe Erfahrungen vereinfacht. Für eine Veränderung der Situation braucht es nun eine »Lösung zweiter Ordnung«, die den Blickwinkel auf das Problem radikal verschiebt. Erstarrte Sichtweisen auf das Problem durch eine neue, ungewohnte Perspektive zu ersetzen, damit neues Verhalten, neue Erfahrungen und Bewertungen zu ermöglichen, ist der Sinn des Reframings. Das alte Bild der bisherigen Wirklichkeit ist in einen neuen Rahmen gesetzt worden. So gesehen ist ein gelingender Beratungsprozess dadurch gekennzeichnet, dass er eine für den Patienten, die Patientin befriedigende und funktionale Umdeutung darstellt.
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Einführung in die komplex-adaptive Systemtheorie
Joachim Sturmberg
Vor 25 Jahren haben Mediziner / -innen und Gesundheitsforscher / -innen begonnen, ihre Arbeit in systemischem Zusammenhang zu verstehen, da die traditionellen linearen Ansätze von Ursache und Wirkung die beobachteten Phänomene nicht hinreichend erklären können. Insbesondere versagen diese Methoden, um die Variabilität bei Erkrankungen oder Therapieergebnissen zu erklären. Variabilität entsteht auf der Basis von multiplen Interaktionen zwischen verschiedenen Faktoren, die mit einer Erkrankung oder Therapie zu tun haben. Diese multiplen Interaktionen führen zur Komplexität.
Was ist Komplexität? Der Begriff »komplex« kommt vom lateinischen Wort complectere und bedeutet »miteinander verwoben« oder »verflochten«. Komplexe Phänomene können nur als Ganzes verstanden werden. Komplexitätswissenschaften sind eine Kollektion von Theorien und multidisziplinären Konzepten. Prinzipiell erwuchsen sie aus Wieners Kybernetik (1948; 1950) und von Bertalanffys Allgemeiner Systemtheorie (1949; 1950; 1969). Hieraus entwickelten sich die Theorien der Selbstorganisation, Autopoiesis und Adaptation, Emergenz, Systemdynamik und Netzwerkwissenschaften.31 Komplexitätswissenschaften beschäftigen sich mit komplexen Systemen und Problemen. Diese sind charakterisiert durch ihre Multidimensionalität, Dynamik und ihr unvorhersehbares Verhalten, welche aus den Interaktionen zwischen ihren Bestandteilen resultieren. Komplexe Systeme und Probleme folgen nicht den traditionellen »Ursache und Wirkung«-Prinzipien und bedürfen des Verständnisses der Non-Linearität. Ein Beispiel hierzu ist das Problem der 31 Siehe Grafik: http://www.art-sciencefactory.com/complexity-map_feb09.html.
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Fettleibigkeit: Es ist ein vielschichtiges Problem zwischen Politik, Agrarindustrie, Lebensmittelproduktion, Werbung, körperlicher Aktivität, Essgewohnheiten und -verhalten, individuellem Metabolismus etc. Dieses Problem lässt sich nur dann erfolgreich lösen, wenn diese Vernetzungen und Interdependenzen erkannt, verstanden und bedacht werden. »However, complexity theory says that if we really want to understand failure in complex systems, we need to ›go up and out‹ to explore how things are related to each other and how they are connected to, configured in and constrained by larger systems of pressures, constraints, and expectations« (Dekker, 2010, S. 148). Daher werden komplexe Systeme und Probleme auch häufig beschrieben als solche, in denen »das Ganze mehr (und anders) ist als die Summe seiner Teile«. Wir mögen die einzelnen Bestandteile eines Systems oder Problems verstehen, das Verstehen der Einzelteile reicht aber nicht aus, um das Ganze zu verstehen, da das Ganze neue qualitative und quantitative Charakteristika erworben hat, die die Einzelteile nicht hatten.
Was bedeuten diese Theorien in der Praxis? Alle Theorie ist grau, und bleibt grau, wenn sie keinen praktischen Bezug hat. Beispiele zeigen, dass wir letztlich immer und überall auf unterschiedlichen Ebenen in komplex-adaptive Systeme eingebunden sind und deren Gesetz mäßigkeiten unterliegen, ob wir uns dessen bewusst sind oder nicht. Im Folgenden erklären wir einige der Kernprinzipien, welche komplex-adaptiven System phänomenen zugrunde liegen: •• Unscharfe Begrenzung (fuzzy boundaries) – komplex-adaptive Systeme haben keine scharfen Begrenzungen und sind offen zu ihrer »Außenwelt«, von der sie Informationen beziehen und an die sie Information abgeben. •• Systeme innerhalb von Systemen (systems within systems) – Systeme bestehen immer aus einer Kollektion von kleinen Subsystemen und sind zugleich Teil größerer Supersysteme. •• Individuelle »Akteure« (individuality) – die individuellen »Akteure« in komplex-adaptiven Systemen lernen aus den Konsequenzen ihrer Interaktionen und adaptieren sich gegenseitig; dies ist die Basis für Emergenz. ▶▶ Eine Person mit einem neu diagnostizierten Diabetes lernt mit der Zeit, wann sie mehr Insulin spritzen muss, um auf einer Party ihre Blutzuckerwerte im normalen Bereich zu halten. •• Historizität und Pfad-Abhängigkeit (historicity and path dependence) – das Verhalten eines Systems ist immer beeinflusst durch seine historischen Gege-
Was bedeuten diese Theorien in der Praxis?
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benheiten. Diese haben zu seinem jetzigen Zustand geführt und dieser beeinflusst wiederum seine zukünftige Entwicklung. ▶▶ Eine Insulin-abhängige Person weiß, dass ihr aktueller Blutzuckerwert das Ergebnis ihrer letzten Mahlzeit und der letzten Insulindosis ist. Dieser beeinflusst, welche Nahrung sie jetzt zu sich zu nehmen und welche Insulindosis sie sich verabreichen soll. Empfindlichkeit gegenüber den Anfangsbedingungen (sensitivity to initial condition) – selbst kleine Unterschiede zu Beginn einer Intervention können das Verhalten eines Systems dramatisch verändern. ▶▶ Eine fünfminutige Verzögerung zwischen einer Insulininjektion und einer Mahlzeit kann zu einer Hypoglykämie führen. Non-Linearität (nonlinearity) – Die Interaktionen in komplex-adaptiven Systemen zeigen disproportionale Wirkungen in Relation zu den Interventionen. ▶▶ Eine insulinpflichtige Person kann ihren Blutzuckerspiegel mit nur zwei zusätzlichen Einheiten in einen hypoglykämischen Bereich absenken. Rückkopplung (feedback) – Interaktionen zwischen den Komponenten eines Systems beeinflussen den Zustand und das Verhalten einzelner Komponenten. Dieser Mechanismus ist ein Schlüssel für Emergenz. ▶▶ Ein einfacher Rückkoppelungsmechanismus existiert zwischen Blutzuckerhöhe, Insulinausschüttung und Sensitivität der Muskelzellrezeptoren. Emergenz (emergence) – beschreibt das Phänomen, dass die Interaktionen zwischen individuellen Systemkomponenten zu Zuständen (states) führen, die zum Teil unerwartete neue Eigenschaften zeigen, die in den Systemkomponenten selbst nicht existieren. ▶▶ Wenn eine Person mit insulinpflichtigem Diabetes über längere Zeit kein Insulin spritzt, entwickelt sich ihr Metabolismus zu einer Ketoazidose. Dieser Zustand hat Charakteristika, die im Normalzustand nicht zu finden sind. Wendepunkte (tipping points) – bedeuten, dass ein System trotz größerer Veränderungen Stabilität zeigt und dann »plötzlich und unerwartet« in einen anderen Zustand fällt. Wendepunkte sind das Ergebnis von emergenten Prozessen. ▶▶ Eine Person, die für ein paar Tage kein Insulin spritzt, spürt in aller Regel keine Zeichen der Hyperglykämie, bis ein kritischer Blutzuckerspiegel erreicht ist. Unbeabsichtigte Konsequenzen (unintended consequences) – ergeben sich, wenn emergentes Verhalten nicht bedacht oder berücksichtig wird. ▶▶ Eine insulinpflichtige Person geht zu einer Party und betrinkt sich. Sie fällt in ein diabetisches Koma und wacht in einem Krankenhausbett auf.
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Einführung in die komplex-adaptive Systemtheorie
•• Co-evolution (co-evolution) – beschreibt das Phänomen, dass sich ein anderer Teil eines Systems mitentwickelt und zusätzliche und / oder unerwartete Ergebnisse zeigt. ▶▶ Diabetes, insbesondere insulinpflichtiger Diabetes, führt zu inflammatorischen Veränderungen von Blutgefäßen, die nach vielen Jahren, als Konsequenz, zu Schlaganfällen, Herzinfarkten, Neuropathien, Blindheit oder Amputationen führen.
Gesundheitspolitik aus Sicht der komplex-adaptiven Systemtheorie Alle diese Kernprinzipien komplex-adaptiver Systeme finden sich auch in der Gesundheitspolitik wieder. Das Gesundheitssystem ist ein Teil und damit ein Subsystem des gesamtpolitischen Systems. Andererseits ist es ein Supersystem, das verschiedene Subsysteme beinhaltet: das öffentliche Gesundheitswesen, den Umweltschutz, das hausärztliche Gesundheitssystem, das Krankenhaussystem etc. Strikte Abgrenzungen sind nicht immer möglich und nötig. Von größter Bedeutung für eine integrierte Funktion des Gesundheitswesens ist jedoch ein funktionierender Informationsaustausch unter den einzelnen Systemteilen. Gesundheitssysteme sind historisch stark verankert. Das gibt ihnen die notwendige Stabilität, aber auch Unbeweglichkeit, wenn es um nötige Veränderungen geht. Viele Gesundheitsreformen haben nicht zu den erwarteten Veränderungen / Verbesserungen geführt, sondern sogar zu unerwarteten Verschlechterungen. Unsere Gesundheitssysteme bewegen sich zurzeit auf einen Wendepunkt hin. Unsere Medizin in ihrer jetzigen Form ist nicht mehr finanzierbar. Die Krise wird zu einem anderen System führen. Wie dieses aussehen wird, besser, unverändert oder schlechter, kann nicht vorausgesehen werden. Es wird das emergierende Resultat aus einem, hoffentlich sorgfältigen und systemübergreifenden, interaktiven Prozess sein.
Wer mehr wissen möchte Interessierte Lesende finden detailliertere Beschreibungen der verschiedenen Aspekte in den Publikationen von Ashby, von Bertalanffy, Bak, Capra, GellMann, Hollands, Jansh, Kauffman und Prigogine und Stengers. Das »Handbook of Systems and Complexity in Health« (Sturmberg u. Martin, 2013) bietet einen
Wer mehr wissen möchte
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breiten Überblick über die Anwendung von komplex-adaptiven Prinzipien in nahezu allen Bereichen der Medizin. »Health System Redesign« (Sturmberg, 2017) beschreibt im Detail, wie Gesundheitssysteme auf komplex-adaptive Weise erneuert werden können.
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Praxisräumlichkeit und -atmosphäre
Die Praxis ist der Ort, in dem die Konsultation zwischen Arzt / Ärztin und Patient / Patientin in der Regel stattfindet. Sie ist jedoch mehr als ein Arbeitsort. Mit ihrer Atmosphäre gestaltet sie den therapeutischen Prozess wesentlich mit. Zudem ist sie eine »Visitenkarte« für den Arzt / die Ärztin und das Team und gibt einen Hinweis auf ihre Arbeitsweise. Die Praxisatmosphäre ergibt sich aus der ästhetischen architektonischen Gestaltung mit hellen freundlichen, sauber gepflegten Räumen, zweckmäßiger Möblierung und guter Ordnung; mit ansprechenden Bildern an den Wänden; aus angenehmem Licht, angemessener Lautstärke von Stimmen und Geräuschen, guter Raumluft und behaglicher Zimmertemperatur etc. Aber auch ruhige Bewegungen, ein respektvoller und freundlicher zwischenmenschlicher Umgang und die allgemeine Stimmung tragen wesentlich zur Atmosphäre bei. Nicht zu vernachlässigen ist der atmosphärische Beitrag weiterer Elemente, die dem Betreten der Praxis vorausgehen. Diese betreffen eine gut ausgeschilderte Auffindbarkeit für neue Patienten und Patientinnen und eine hindernisfreie Zugänglichkeit. Eine Website vermittelt einen Einblick in die Art der Praxis (Einzel- oder Gemeinschaftspraxis), die Räumlichkeiten, in medizinische Angebote und die Arbeitsweise. Mit Fotos können sich Ärzte, Ärztinnen und Mitarbeitende vorstellen. Eine gut strukturierte Praxis mit einer guten und freundlichen Atmosphäre leistet einen positiven Beitrag für einen erfolgreichen therapeutischen Prozess. Sie zeigt dem Patienten, dass er willkommen ist und als Person wahrgenommen wird; dass man um sein Wohl besorgt ist; dass er den Menschen hier sein Vertrauen schenken kann. Sie unterstützt die Gestaltung einer guten zwischenmenschlichen Beziehung und eine klare, transparente und diskrete Kommunikation zwischen dem Arzt, seinem Team und dem Patienten. Sie fördert eine gute, unkomplizierte und zuverlässige Zusammenarbeit unter allen Mitarbeitenden und mit dem Patienten. Sie steht für sorgsames, fachlich und hygienisch einwandfreies Arbeiten mit nachvollziehbar strukturierten Abläufen, die
Praxisräumlichkeit und -atmosphäre
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Orientierung schaffen. Nicht zuletzt unterstützt eine solche Praxis, dass der Arzt, die Ärztin und alle Mitarbeitenden Freude an ihrer Arbeit haben und gesund bleiben können. Bereits bei der telefonischen Anmeldung erhält die anrufende Patientin einen ersten Eindruck von der Stimmung, die in der Praxis herrscht. Eine freundliche, ruhige, stressfreie und zugewandte Stimme der medizinischen Praxisassistentin (MPA) sowie ihre kompetente professionelle Gesprächsführung wirken beruhigend auf die Anrufende. Anhand sachkundiger Fragen der MPA kann sie ihr Symptom / Problem skizzieren und auch ihre persönliche Sicht und Erwartungen einbringen. So kann sie ruhig und ungestresst zusammen mit der MPA einen Konsultationstermin erhalten, welcher der medizinischen Dringlichkeit ihres Symptoms / Problems, ihrem persönlichen Dringlichkeitsermessen und den terminlichen Möglichkeiten von Arzt und Praxis möglichst gerecht wird. Bei der Ankunft in der Praxis nimmt der Patient den Raum, eine gute und empfangende Atmosphäre und die allgemeine Stimmung intuitiv wahr. Die Praxisassistentin am Empfang heißt den Patienten mit freundlicher und ruhiger Stimme willkommen, nimmt seine Personalien auf und informiert ihn über den zu erwartenden Ablauf. So respektvoll empfangen fühlt sich der Patient am richtigen Ort. Er kann ankommen und ruhig werden. Dies sind gute Voraussetzungen für eine gelingende Konsultation mit dem Arzt. Im Wartezimmer stehen bequeme Stühle, auf denen sich die Patientinnen und Patienten entspannen können. Idealerweise ist es nicht von wartenden Personen überfüllt. Die Praxisassistentinnen sorgen für ein behagliches Raumklima und sind um regelmäßiges Lüften besorgt. Sie kümmern sich um Patientinnen und Patienten, denen es schlecht geht. Bei längeren Wartezeiten informieren sie die wartenden Patienten über die ungefähre Dauer der Verspätung. Neu hereinkommende Patienten machen sie bereits bei deren Ankunft auf eine allfällige Verspätung aufmerksam. Falls erwünscht, vereinbaren sie mit ihnen einen zeitnahen Ausweichtermin. Das Sprechzimmer ist für den Empfang des Patienten oder der Patientin vorbereitet. Auf dem Besprechungstisch liegen nur die für die Konsultation nötigen Gegenstände ohne Spuren von der vorangegangenen Konsultation. Allenfalls furchteinflößende Utensilien wie zum Beispiel Injektionsmaterial befinden sich in Schubladen und Kästen. Der Bildschirm des Computers steht in einer unaufdringlichen Position, die den Sichtkontakt zwischen Arzt und Patient offen hält. Die Stühle mit gutem Sitzkomfort stehen einladend geordnet, einander zugewandt in kommunikationsfördernder Anordnung und Distanz. Ihre Sitzhöhe kann für eine Begegnung zwischen Arzt und Patient auf Augenhöhe eingestellt werden.
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Praxisräumlichkeit und -atmosphäre
Auf dieser Basis, die durch all diese vorangehenden Elemente gut vorbereit ist, kann die Konsultation zwischen Arzt / Ärztin und Patientin / Patient ihren Lauf nehmen.
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Aktives Zuhören32
Aktives Zuhören ist ein grundlegendes diagnostisches und therapeutisches Instrument im Gespräch zwischen Arzt / Ärztin und Patient / Patientin in der gesamten Konsultation. Die dazu erforderliche Grundhaltung ist geprägt durch Wertschätzung (positive Zuwendung, Wärme und Achtung), Empathie (einfühlendes, nichtwertendes Verstehen und Mitgehen) und Authentizität (Echtheit und Selbstkongruenz) (siehe thematischer Schwerpunkt 1: Grundlagen systemisch-lösungsorientierter Beratung). Aktives Zuhören unterscheidet ein therapeutisches Gespräch qualitativ von einer üblichen Unterhaltung unter Menschen (Schulz von Thun, Ruppel u. Stratmann, 2005, S. 70 ff.). Einer Patientin oder einer Klientin eröffnet es einen Raum, in dem sie authentisch ausdrücken kann, was sie beeindruckt und betroffen macht. Es fördert, dass Arzt und Patient gegenseitig überprüfen können, ob und wie sie sich verstanden haben. Der Arzt erhält die nötigen bio-psycho-sozialen und lebenskontextuellen Informationen für ein bestmögliches Verstehen der Situation oder des Symptoms / Problems des Patienten in seiner Lebenssituation und mit seinem Ziel. Darauf basierend können Arzt und Patient gemeinsam eine für den Patienten relevante »Beurteilung« vornehmen und einen angemessenen Weg für Untersuchungen und Therapien festlegen. Nicht zuletzt erarbeiten sie so einen klaren Auftrag für den Arzt. Der Arzt beachtet auch bei fachlichen Informationen, die er dem Patienten oder der Patientin gibt, die Grundsätze aktiven Zuhörens, indem er, hier in umgekehrten Rollen, den Patienten ermutigt, das Verstandene zusammenfassend zurückzumelden. Aktives Zuhören vertieft die Beziehung und bewirkt, dass der Arzt den Patienten wahrnimmt und dieser sich verstanden fühlt. Zudem hilft es, dass die Begegnung zwischen Ärztin / Arzt und Patient / -in prozessorientiert bleibt und 32 Aktives Zuhören steht in engem Bezug zur Kunst des Fragens, siehe deshalb auch den folgenden thematischen Schwerpunkt 5.
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Aktives Zuhören
Zusammenhänge geklärt werden können. Dies fördert und beschleunigt den therapeutischen Prozess und hält ihn auf Kurs zum vereinbarten Ziel.
Beziehung, Inhalt, Emotionen Beim Aktiven Zuhören spielen immer die Ebenen von Beziehung, sachlichem Inhalt und Emotionen eine zentrale Rolle. Der Arzt zeigt dem Patienten, dass er »ganz Ohr«, für ihn da ist. Er bringt die sachlichen Inhalte für sich und den Patienten »auf den Punkt«. Mit dem Spiegeln der wahrgenommenen Gefühle spricht er dem Patienten »aus dem Herzen«. Der Patient fühlt sich durch das Beachten dieser drei Ebenen wahrgenommen und verstanden. Der Arzt versteht den Patienten und seine Geschichte und zeigt ihm wertschätzendes Verständnis. Es ist wichtig zu wissen, dass dies nicht bedeutet, dass der Arzt mit dem Patienten einverstanden ist. Beispielsweise kann der Arzt Verständnis dafür haben, dass sich der Patient durch die Ereignisse am Arbeitsplatz in der Opferrolle sieht und emotional verletzt fühlt. Er sollte trotzdem seine Außensicht behalten.
Störungsfreier Raum Die Ärztin, der Arzt schafft mit einer störungsfreien, freundlichen Atmosphäre die räumliche Voraussetzung für ein gutes Gespräch (siehe thematischer Schwerpunkt 3: Praxisräumlichkeit und -atmosphäre).
Äußere und innerer Haltung Mit seiner zuwendenden körperlichen Haltung, einladenden Gestik und Mimik sowie seinem Blickkontakt zeigt der Arzt seine persönliche ungeteilte Präsenz. Mit situativ passenden, meist nickenden Kopfbewegungen oder Lauten wie »ja, ja« oder »mhm …« bestätigt er dem Patienten während des Gesprächs, dass er wach und aufmerksam ist; dass er ihm empathisch und ohne zu werten zuhört; dass er den Patienten, seine Worte und Emotionen wahrnimmt; dass er an seiner Geschichte interessiert ist.
Zuhören ohne Interpretation der sachlichen und emotionalen Inhalte
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Zuhören ohne Interpretation der sachlichen und emotionalen Inhalte Der Arzt hört dem Patienten aufmerksam zu. Bei den Aussagen des Patienten achtet er darauf, was dieser sagt – auf die sachlichen Inhalte. Gleichzeitig beachtet er, wie es der Patient sagt – welche Emotionen seine Aussagen begleiten und welche Bedeutung er dem Mitgeteilten gibt. Er versucht zu verstehen, was und wie es der Patient erlebt. Er vermittelt ihm Verständnis für seine Situation. Während des Aktiven Zuhörens interpretiert der Arzt das Gehörte nicht und hängt nicht seinen eigenen Gedanken nach. Damit würde er sich vom Zuhören ablenken und aus der Beziehung treten. Der Patient würde eine solche Minderung der Aufmerksamkeit des Arztes als Störung wahrnehmen und würde in seinen Ausführungen behindert. Zuhören heißt Zeit geben. Wenn sich eine Pause einstellt, wartet der Arzt ruhig. Er hält die Pausen aus, denn er weiß, dass der Patient oder die Patientin in wortfreien Intervallen nachdenkt und in der Regel bald von allein weiterreden wird. Falls der Patient ganz ins Stocken gerät, kann der Arzt ihm auf die Spur zurückhelfen, indem er das bisher Gehörte zusammenfasst. Er kann aber auch sein letztes Wort nochmals fragend wiederholen oder die zuletzt gesprochene Sequenz repetierten oder die Pause selbst zum Thema machen: •• Schicksal …? •• Sie haben gerade gesagt, dass … •• Können Sie mir sagen, was jetzt gerade in Ihnen passiert? Wenn tiefe Emotionen oder Weinen die Erzählung zum Stocken bringen, behält der Arzt seinen Blickkontakt zum Patienten aufrecht. Dies sind äußerst wirkungsvolle Momente in einer Konsultation. Er hält die Situation aus. Nach gefühlt richtiger Zeit kann er verständnisvoll nachfragen, was jetzt gerade beim Patienten vorgegangen ist. •• Diese Situation löst in Ihnen starke Emotionen aus, wie ich sehe. Können Sie mir etwas dazu sagen? Der Patient wird so seine Sprache wiederfinden.
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Aktives Zuhören
Zusammenfassen des Gehörten mit eigenen Worten Am Ende der vom Patienten oder der Patientin erzählten Geschichte, bei Pausen oder Unterbrechungen in der Erzählung des Patienten oder der Patientin fasst der Arzt oder die Ärztin das Gehörte in eigenen Worten zusammen. Kriterium für den Zeitpunkt einer Zusammenfassung ist einerseits die Menge der Informationen und andererseits der Aufbau eines konstruktiven Dialogs. Es gilt, eine Balance zu finden zwischen einem »allein lassen« des Patienten mit seiner Geschichte und einem zu schnellen Unterbrechen seines Erzählens. Bei einem pausenlosen Bericht kann der Arzt den Patienten mit einer einleitenden Intervention aktiv unterbrechen: •• Ihre Geschichte ist sehr umfassend. Ich möchte Ihnen gern schildern, was ich bis hierher gehört und verstanden habe. Danach wäre ich froh, wenn Sie meine Zusammenfassung ergänzen und präzisieren und mit Ihrer Erzählung fortfahren. Mit seinem Zusammenfassen schafft der Arzt für sich und den Patienten inhaltliche Klarheit, Struktur im Ablauf der Geschichte und Orientierung in den oft unklar zusammenhängenden Ereignissen. Der Arzt ist immer bestrebt, neben den sachlichen Gegebenheiten auch seine Wahrnehmungen der emotionalen Reaktionen und die Bedeutungsgebung des Patienten in seine Zusammenfassung einzubauen (dem Patienten aus dem Herzen sprechen); dies besonders dann, wenn der Patient seine Geschichte sehr emotional erzählt; aber auch dann, wenn zwischen dem Inhalt der Geschichte und den ausgedrückten Emotionen eine Diskrepanz besteht. Der Patient wird die Wahrnehmungen des Arztes ergänzen und präzisieren. •• Wie mir scheint, muss Sie diese Situation traurig gemacht haben … •• Ihre Geschichte wirkt auf mich sehr traurig. Sie erzählen sie mir, wie mich dünkt, mit einer gewissen Heiterkeit. Können Sie mir sagen, wie ich das verstehen soll? Durch das Hören der ärztlichen Zusammenfassung kann der Patient überprüfen, was der Arzt auf der inhaltlichen und emotionalen Ebene verstanden hat. Der Patient kann ihm dies bestätigen und / oder dort, wo nötig, ergänzen, präzisieren und berichtigen. Zudem wird beim Patienten durch die Zusammenfassung in den Worten des Arztes eine Außensicht angestoßen. Dies ermöglicht ihm eine andere Perspektive auf seine Geschichte und kann auch zu einer gewissen inhaltlichen und emotionalen Erweiterung führen. Diese kann im Patienten eine neue Sicht auf
Nachfragen – erklären lassen – verstehen
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sein Symptom / Problem anstoßen und vielleicht auch ein anderes Verständnis. Dies wiederum kann ein Ansatz zum therapeutischen Umdeuten seines Erlebens werden.
Nachfragen – erklären lassen – verstehen Der Anspruch, dass ein guter Arzt oder eine gute Ärztin alles, was die Patientin oder der Patient sagt, versteht, ist eine Täuschung. Der Arzt kann nicht ohne Weiteres verstehen, was der Patient sagt. Vor allem kann er nicht wissen, was der Patient mit dem Gesagten meint und was er dabei empfindet. Zeitliche Abläufe, Zusammenhänge in der Geschichte oder Interpretationen des Patienten können unklar sein. Oder es finden sich klärungsbedürftige pauschalisierende Aussagen wie »immer«, »nie«, »jeder / jede« oder »alle«, mehrdeutige Emotionen oder Diskrepanzen zwischen Worten und nonverbalen Zeichen. Hinweise für solche Unklarheiten ergeben sich für den Arzt besonders dann, wenn er bei sich bemerkt, dass er sich überlegt: Was hat sich genau ereignet? Was will der Patient damit sagen? Wie meint er das? Wie muss ich das verstehen? Wen meint er genau, wenn er »alle« sagt? Was bedeutet diese Emotion / dieser fehlende Ausdruck von Emotionen genau? Für den Arzt gilt die Devise: »Lass dir alles erklären«. Möglichst bald oder am Ende der Erzählung fragt der Arzt daher interessiert nach und lässt sich seine Fragen, die sich beim Zuhören ergeben haben, vom Patienten erklären. •• Beim Zuhören stellt sich mir folgende Frage / blieb mir folgende Situation unklar. Können Sie es mir bitte näher erörtern? Mit seinem Nachfragen gibt der Arzt dem Patienten – ähnlich wie bei seinem Zusammenfassen – Anstoß zum Überdenken des Gesagten und zu weiterem Nachdenken. Zur Erläuterung der ärztlichen Nachfragen muss der Patient das vorher Gesagte nochmals durchdenken und seine Aussage neu formulieren. Bei dieser Reflexion wirft er selbst einen erweiterten Blick auf seine Geschichte respektive auf sein Symptom / Problem und seine Emotionen. Dies kann ein erster Schritt zum Umdeuten seines Erlebens werden. Das Reframing ist ein wichtiger Schritt in jeder Therapie. Die Wirkkraft dieser sorgfältigen Gesprächsführung wird am verständlichsten, wenn man sie anlässlich einer eigenen Erfahrung als Patient oder Patientin selbst erlebt hat und / oder mit gegenseitigem Üben und kontrolliertem Anwenden im Rahmen von Workshops kontinuierlich trainiert.
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Kunst des Fragens33
Der Arzt / die Ärztin gestaltet mit seinen / ihren Fragen das Gespräch mit dem Patienten / der Patientin während der gesamten Konsultation. Die Fragen stellt der Arzt so, dass sie den Patienten aktiv in den therapeutischen Prozess mit einbeziehen. Auf diese Weise macht er die Fragen zu einem therapeutischen Instrument. Der Patient erlebt den Arzt mit seinen Fragen unmittelbar. Er registriert, ob der Arzt seinen Antworten aufmerksam, empathisch und interessiert aktiv zuhört und echt erfahren will, was ihn bewegt, oder ob er seine Fragen mechanistisch abspult. Dies hat eine unvermeidliche Auswirkung darauf, wie sich der Patient verhält, wie er den Konsultationsprozess ziel- und lösungsorientiert mitgestaltet und welche situationsgerechten Perspektiven er entwickeln kann. All dies sind wesentliche Bausteine für einen erfolgreichen therapeutischen Prozess.
Ziele des Fragens Mit seinen Fragen ist der Arzt in einer doppelten Rolle unterwegs: Medizinisch-diagnostische Fragen Zum einen will er in seiner Funktion als medizinische Fachperson die Schilderungen des Patienten über sein Symptom / Problem medizinisch-diagnostisch verstehen. Dafür will er für seine medizinischen Reflexionen und Schlussfolgerungen Informationen über die Sachlage gewinnen. Hierzu lässt er sich von seinem medizinischen Fachwissen leiten. Mit seinen medizinisch-diagnostischen Fragestellungen will der Arzt vom Patienten Informationen über sein Symptom / Problem mit Blick auf eine medi33 Kunst des Fragens steht in engem Bezug zum Aktiven Zuhören, siehe deshalb auch den vorherigen thematischen Schwerpunkt 4.
Reflexionen anstoßende Formulierung der Fragen
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zinische diagnostische Beurteilung gewinnen. Außerdem überprüft er die vom Patienten geschilderten Inhalte auf ihre medizinische Relevanz, Dringlichkeit und den angemessenen Handlungsbedarf. Therapeutisch-prozessorientierte Fragen Zum anderen will der Arzt mit seinen Fragen zusammen mit dem Patienten einen personenbezogenen therapeutischen Prozess im Sinn eines systemisch-lösungsorientierten Vorgehens anstoßen – das Symptom / Problem in Interaktion mit dem Lebenskontext des Patienten verstehen und mit Einbezug des Patienten (neu oder anders) gestalten. Für dieses Ziel lässt sich der Arzt mit seinen Fragen die subjektive Sichtweise des Patienten erklären. In dieser Rolle will der Arzt möglichst wenig selbst »schlussfolgern«. Mit seinen therapeutisch-prozessorientierten Fragen legt der Arzt die Schichten der Wirklichkeitskonstruktion des Patienten zwiebelschalenartig frei, indem er sich zum Beispiel nach den Vorstellungen des Patienten über sein Symptom / Problem erkundigt und nach der Bedeutung, die er ihm gibt. Außerdem will er den Blick des Patienten auf sein Symptom / Problem und seine Situation erweitern hinsichtlich möglicher Umdeutungen (Reframing) und Lösungen. Der Arzt ist sich dieser Doppelrolle bewusst. Er macht sich immer wieder klar, in welcher Rolle er unterwegs ist, und passt sein kommunikatives Verhalten situationsgerecht an.
Fragen zum gegenseitigen Verständnis Der Arzt überprüft, ob die ausgetauschten Inhalte von Arzt und Patient gleich verstanden worden sind. Mit Verständnisfragen findet er heraus, ob das, was er aus der Erzählung des Patienten verstanden hat, mit dem übereinstimmt, was der Patient sagen wollte. Der Arzt erkundigt sich umgekehrt darüber, wie der Patient die Informationen, die er ihm vermitteln will, verstanden hat.
Reflexionen anstoßende Formulierung der Fragen Seine Fragen formuliert der Arzt so, dass … •• sie prozessstimulierend wirksam sind, indem sie den Patienten zum Nachdenken anregen. Eine Frage ist manchmal wichtiger als die Antwort. Auch wenn der Patient eine Frage zurzeit nicht leicht beantworten kann, hallt sie
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Kunst des Fragens
in ihm nach und löst in ihm wichtige Reflexionen über seine Situation aus. Zum Beispiel geschieht tieferes Nachdenken durch die Formulierung »Was bedeutet Ihnen das Rauchen?«. Die Frage »Warum rauchen Sie?« stößt hingegen eher keinen Nachdenkprozess, sondern eine Rechtfertigung an. •• sie den Patienten nachdenken lassen über das Werden seines aktuellen Leidens und über seine Gesamtsituation in Interaktion mit seinem Umfeld. •• der Patient durch das Formulieren seiner Antworten sich selbst und dem Arzt hilft, seine Situation über das Symptom / Problem hinaus zu verstehen, im Hinblick auf einen umfassenden, bio-psycho-sozialen, systemisch- lösungsorientierten und personenzentrierten diagnostischen und therapeutischen Prozess.
Warten Zu jeder Art von Fragen gehört Warten. Der Arzt lässt dem Patienten genügend lang Zeit, damit er über die ihm gestellte Frage und seine Antwort nachdenken kann. Während der Zeit, da der Patient seine Antwort vorbereitet, laufen in seinem Inneren wertvolle komplexe Gedankengänge ab, die durch die Frage ausgelöst wurden.
Fragetypen Der Arzt stellt seine Fragen möglichst in präziser und klar verständlicher Sprache. Dies ist für Arzt und Patient am hilfreichsten. Je nach Problem- und Fragestellung setzt er bewusst unterschiedliche Fragetypen ein. Im prozesshaften Verlauf des Gesprächs pendelt er ausgewogen und situationsgerecht zwischen diesen Fragetypen. Offene (weite) und geschlossene (engere) Fragen / Überprüfungsfragen Der Arzt beginnt in aller Regel zuerst mit einer offenen (weiten) Frage. Damit gibt er dem Patienten den nötigen Raum, die Themen und Erzähltiefe selbst zu wählen und sein Symptom / Problem frei und ausführlich in seiner Sprache und mit seinen persönlichen Ausdrücken und Bildern zu schildern. Der Arzt erhält verschiedenste ungefilterte authentische Informationen aus bio-psycho-sozialen Bereichen des Patienten sowie eine Auslegeordnung auf
Fragetypen
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den medizinisch-diagnostischen und therapeutisch-prozessorientierten Ebenen. Falls diese zu wenig tief gehen, kann er sie später mit weiteren offenen (weiten) Fragen gezielt vertiefen. Offene Fragen halten das Gespräch in Fluss und fördern eine gute Gesprächsatmosphäre. Sie binden den Patienten geistig aktiv in den Beratungsprozess ein. Zudem geben sie dem Patienten einen Einblick in die Arbeitsweise des Arztes und dem Arzt geben sie einen Eindruck von der Persönlichkeit des Patienten. Offene (weite) Fragen können nicht mit Ja oder Nein beantwortet werden. Sie werden eingeleitet durch »W«-Wörter: wie, wo, was, wann, welche, wozu … Das Fragewort »Warum« sollte hingegen möglichst vermieden werden, denn es führt schnell zu kausalen reduktionistischen Erklärungen und Rechtfertigungen. •• Wie ist Ihr Befinden heute? Mit geschlossenen (engeren) Fragen respektive Überprüfungsfragen fokussiert der Arzt auf spezifische Punkte aus der Erzählung des Patienten, die er aus seiner ärztlichen Sicht für wichtig hält. Mit diesen will er etwas, was der Patient geschildert hat, klären, überprüfen und weiter detaillieren, sei es im Interesse einer medizinisch-technischen Diagnose, einer differentialdiagnostischen Annäherung oder einer konkreten Klärung im Rahmen des therapeutischen Prozesses. Der Arzt erhält weitere Details zu ausgewählten Bereichen. Falls geschlossene (engere) Fragen unangemessen oder zu häufig angewendet werden, können sie dem Gespräch leicht den Charakter eines Verhörs verleihen und beim Patienten einen »inneren Widerstand« schüren. Geschlossene (engere) Fragen können mit Ja, Nein oder wenigen Worten kurz beantwortet werden. •• Gehen Sie gern zur Arbeit? Konkretisierungs- und Vertiefungsfragen Mit diesem Fragetyp lässt sich der Arzt vom Patienten Aussagen genauer erklären. Er sucht nach Informationen über Schweregrad, Risikogröße, Auswirkungen und Interaktionen des Symptoms / Problems, den damit verbundenen Leidensdruck des Symptomträgers und dessen Umfelds, Vorgeschichte, Lösungsbemühungen vor der Konsultation und deren Wirkung. Darüber hinaus will der Arzt auf der therapeutischen Prozessebene auch etwas über die Gedankenwelt (Metaebene) erfahren, die hinter den Worten des Patienten steht und in der Regel verkürzt und unvollständig wiedergegeben wird. Der Arzt erhält Informationen über die persönliche Sichtweise des Patienten. Er erhält einen Einblick in die »innere Vorstellung« des Patienten. Er erfährt
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Kunst des Fragens
etwas über dessen Erklärungsmodelle für mögliche Ursachen, Zusammenhänge, Wechselwirkungen, Auswirkungen und Folgeerscheinungen und damit über seine Wirklichkeitskonstruktion. Mit seinen Fragen lässt er den Patienten über dessen Befürchtungen, Erwartungen, Lösungsvorstellungen nachdenken; über sein Wertesystem, seine persönliche Betroffenheit und die Mitbetroffenheit der Menschen in seinem Lebensumfeld; und, falls angebracht, über die philosophische Bedeutung, die der Patient seinem Leiden beimisst. Dies sind wichtige Elemente, um eine erweiterte oder neue Sichtweise (Reframing) zu ermöglichen. •• Sie haben mir geschildert, dass Sie sich an Ihrem Arbeitsplatz unwohl fühlen. Wie zeigt sich bei Ihnen dieses Unwohlsein? Vertiefend fragt der Arzt / die Ärztin zudem auch nach bei •• generalisierenden Aussagen wie »ich habe immer Kopfweh«, »niemand interessiert sich für mich«; •• verkürzenden / tilgenden Beschreibungen wie »ich habe Angst«, »ich bin verstopft«, »ich bin wütend«, »man muss …«; •• verzerrenden Aussagen wie Gedankenlesen: »ich weiß, was sie über mich denkt« oder Glaubenssätzen wie »das tut man nicht«. In solche Situationen lässt sich der Arzt vom Patienten erklären, was er konkret meine mit: »immer«, »niemand«; wie sich die Angst äußere und unter welchen Umständen sie besonders auftrete; was der Patient unter »verstopft sein« verstehe; auf wen oder was er »wütend« sei; wer »man« sei und wer dem Patienten sage, dass er »muss«; woraus er schließe, dass »er weiß, was sie über ihn denkt«; wer denn sage, dass »man das nicht tut«… Zirkuläre Fragen Mit zirkulären Fragen will der Arzt den Patienten auf der therapeutischen Prozessebene zu einer Reflexion aus einer anderen Perspektive ermutigen, die über seine gewohnte und eingespielte Sichtweise hinausgeht. Er will ihm eine Außensicht auf sich selbst und sein Problem in Interaktion mit seinem psychosozialen Kontext vermitteln. Der Arzt und der Patient gewinnen damit eine andere Sicht oder eine überraschende neue Einsicht bezüglich Funktionsweisen und Beziehungsinteraktionen im Lebenssystem des Patienten. Der Arzt vernimmt damit beispielsweise, was der Patient denkt, was andere über ihn und seinen Zustand denken könnten. Damit gewinnen Arzt und Patient indirekt einen vielleicht überraschenden
Zusammenfassen beim Zuhören der Antworten
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Einblick in die Denkstruktur und Empfindungswelt des Patienten. Auch dies kann einen Anstoß zum Reframing darstellen. •• Was denken Sie, würde mir Ihre Arbeitskollegin zu Ihrem Problem sagen? Zirkuläre Fragen können mit ihrer erfrischenden und überraschenden Art allfällige Blockaden auf Seiten des Arztes und des Patienten lösen. Eine etwas andere Art zirkulären Fragens ist ein hypothetischer Rollentausch: Der Arzt fragt seinen Patienten, welche Fragen er, falls er der Arzt wäre, einem Patienten stellen würde, der sich mit genau seinem Symptom / Problem an ihn wenden würde. Der Patient, der vor dem Krankheitsausbruch in den Ferien in Marokko war, könnte zum Beispiel antworten: •• Wenn ein Patient mit meinen Bauchbeschwerden zu mir in die Konsultation käme, würde ich ihn nach Auslandaufenthalten fragen. Bei unklaren Antworten beharrlich nachfragen und verstehen Unklare Antworten des Patienten klärt der Arzt mit beharrlichem Nachfragen und nichtinterpretierendem Zuhören. Er lässt sich alles vom Patienten erklären. Das für die Neuformulierung der Antwort erforderliche erneute Nachdenken bewirkt beim Patienten, dass er seine Situation neu und erweitert betrachtet. Das kann seine inneren Blockaden lösen und ebenfalls einen Anstoß zum Re framing bedeuten.
Zusammenfassen beim Zuhören der Antworten Mit dem Zusammenfassen des Gehörten unterstützt der Arzt die Strukturierung der Antworten. Zugleich stößt er im Patienten einen Orientierungsprozess in seiner Geschichte an. Er kann zusammen mit dem Patienten überprüfen, ob er die Dinge im Sinne des Patienten verstanden hat. Der Patient kann seine Antwort(en), falls nötig, präzisierend und ergänzend neu formulieren. Seine Antwort(en) als Zusammenfassung aus anderem Mund, mit anderen als den eigenen Worten zu hören, gibt dem Patienten eine gewisse Distanz zu seinem Symptom / Problem und eine Betrachtung aus anderer Perspektive. Es empfiehlt sich, eine erste Zusammenfassung bereits früh zu machen, insbesondere bei längeren Aufzählungen von Symptomen und Problemen, die ein Arzt unmöglich alle im Kopf behalten kann. Der Arzt weiß, dass er den Patienten – gleich wie beim aktiven Zuhören – nicht zu früh unterbrechen soll. Aus der Forschung ist bekannt, dass der Patient,
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Kunst des Fragens
wenn der Arzt ihn nicht unterbricht, seine Narration nach spätestens zirka zwei Minuten selbst abschließt (Ospina et al., 2019). In einfacheren, »überschaubareren« Situationen beantworten die meisten Patienten die Fragen zu ihrem Symptom / Problem klar, kurz und »geordnet«. Hier kann der Arzt die Situation mit einer Kurzzusammenfassung zielstrebend klären. In komplexeren Krankheitsgeschehen kann die Antwort eines Patienten manchmal recht umfangreich ausfallen. Oder sie scheint schier endlos zu werden. Der Patienten kann in solchen Situationen seine Aussage oft wenig übersichtlich gestalten oder kann in Verästelungen der Geschichte die Orientierung verlieren. Aussagen zu zeitlichen Abläufen, getroffenen Maßnahmen und Auswirkungen, zu eigenen und fremden Meinungen sowie zu begleitenden Emotionen und Beziehungen zu Mitbetroffenen können dann oft mehr oder weniger zusammenhängend sein, neben- und durcheinander geraten. Die Systematik der Antwort kann sich zudem wesentlich vom medizinisch-technischen Denken des Arztes unterscheiden. Der Arzt ist sich bewusst, dass er mit aufmerksamem und geduldigem Zuhören aus der Summe der ineinander verwobenen Aussagen zu einem umfassenden Gesamtbild gelangen kann; dass die filigranen Beschreibungen feine Hinweise auf Lösungen enthalten können. Gleichzeitig spürt er die Grenzen seiner Geduld und den Druck des verfügbaren Zeitbudgets. Die Forschung zeigt, dass Ärzte in der Regel ihrem Zeitdruck unterliegen, den Patienten nach 11–24 Sekunden (Wilm, Knauf, Peters u. Bahrs, 2004) unterbrechen und die Führung entsprechend ihrer medizinisch-technischen Systematik an sich nehmen. Mit der damit vordergründig gewonnenen Zeit können sie bedeutende, vielleicht sogar essenzielle Informationen über wichtige Zusammenhänge im Krankheitsgeschehen verpassen. Als Folge dieses Informationsverlusts können lange diagnostische und therapeutische Umwege bis hin zu schweren Fehlern erfolgen – mit entsprechenden Auswirkungen auf die Qualität und Kosten. Ein vermeidbares Risiko, da die Konsultationszeit nicht verlängert wird, wenn der Arzt den Patienten zu Beginn der Konsultation ausreden lässt (s. Wilm et al., 2004). Gerade bei so herausfordernd ausfallenden Antworten sind sorgfältig eingefügte Zusammenfassungen infolge ihrer positiven Wirkung für den Patienten und den Arzt besonders bedeutsam. In der Regel ist der Patient dankbar für diese Intervention des Arztes. Und der Arzt kann die verfügbare Zeit besser unter Kontrolle halten. Die Wirkkraft dieser sorgfältigen Gesprächsführung wird am verständlichsten, wenn man sie anlässlich einer eigenen Erfahrung als Patient selbst erlebt hat und mit gegenseitigem Üben und kontrolliertem Anwenden kontinuierlich trainiert.
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Auftrag klären
Die Beziehung zwischen Arzt und Patient ist rechtlich gesehen ein Auftragsverhältnis. Dabei ist der Patient Auftraggeber und der Arzt Beauftragter. Das Besondere an diesem Auftragsverhältnis ist, dass es den Patienten in seiner unmittelbaren vitalen Existenz betrifft. Der Auftrag erfolgt oft in Not und in den meisten Fällen entsteht er im Umfeld von Ungewissheit / Unsicherheit beim Patienten und beim Arzt sowie bei den medizinischen Möglichkeiten – begleitet von Verunsicherung und Angst (siehe thematischer Schwerpunkt 10: Uncertainty und Medizin im Grenznutzenbereich). Die Angebote (Produkte) sind nicht für alle Patienten und Patientinnen gleich geeignet. Die Voraussetzungen beim Patienten, bei der Patientin für die Wahl des Angebots sind höchst individuell. Was für den einen gut ist, darf bei einem anderen aus medizinischen Gründen keinesfalls gemacht werden. Was der eine unbedingt will, lehnt der andere kategorisch ab – und alle Stufen dazwischen. Bei allen Angeboten müssen die zu erwartende, aber nicht sicher eintretende Wirkung gegen ein vorhandenes Schädigungspotenzial abgewogen werden. Im versicherungsbasierten und auf Solidarität beruhenden Gesundheitswesen ist in aller Regel der Patient, der dem Arzt den Auftrag erteilt, nicht auch der Zahlende. Alle diese Gegebenheiten machen ein Auftragsverhältnis im medizinischen Kontext besonders asymmetrisch und einzigartig. Asymmetrie (Fritz u. Holton, 2019) ist in einem doppelten Sinn gemeint – aus systemisch-lösungsorientierter Sicht sprechen wir lieber von unterschiedlichen Kompetenzfeldern: Die Ärztin / der Arzt weiß mehr über die medizinischen Zusammenhänge, Möglichkeiten und Notwendigkeiten als der Patient / die Patientin. Der Patient weiß mehr über sein Symptom / Problem, dessen Geschichte und Auswirkungen, den Verlauf seiner Situation sowie über sein Krankheitserleben. Aufgrund dieser Gegebenheiten ist der Patient Experte für das Problem und die Lösung und der Arzt für die medizinischen Fachbelange und einen konstruktiven Prozess. Entsprechend sorgfältig muss der Arzt den Auftrag klären.
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Auftrag klären
Ein klarer Auftrag ist Teil einer zielführenden (effizienten) Lösung von guter Qualität Damit der Arzt in diesem Feld von Ungewissheit / Unsicherheit und unterschiedlichen Zuständigkeiten das Anliegen des Patienten erfüllen kann, braucht er einen klaren Auftrag. In der Alltagssituation der Konsultation scheint dieser dem Arzt vielfach offensichtlich und klar zu sein oder er läuft Gefahr, diesen selbst zu »erraten«. Daher ist es wichtig, dass er mit dem Patienten immer überprüft, ob er die zwei Kernelemente seines Auftrags richtig verstanden hat, nämlich was das konkrete Problem ist und anders werden müsste sowie was genau als Ziel / Lösung angestrebt werden soll. Oft stellt sich dabei heraus, dass sich der Arzt eine falsche Vorstellung gemacht hat und dass er diese mit präzisierenden Fragen klären muss. Es lohnt sich, den Auftrag sorgfältig zu klären! Dafür ist nicht immer viel Zeit erforderlich. Nur mit einem klaren Auftrag können Ärztin / Arzt und Patient / -in gemeinsam und mit einem vernünftigen zeitlichen Aufwand effizient und zu beider Zufriedenheit einen qualitativ guten, ziel- und lösungsorientierten Weg beschreiten. Ansonsten besteht ein hohes Risiko für folgenschwere Missverständnisse, ein unbefriedigendes Resultat und Missstimmungen bis hin zu rechtlichen Schritten. In Therapieprozessen, die irgendwo unklar stecken bleiben, zeigt sich im Rahmen von Supervisionen immer wieder, dass ein geklärter Auftrag gefehlt hat. Im Auftrag liegt ein Teil der Lösung, denn er ist mit geprägt durch die inneren Bilder und Bedenken, aus denen sich der Patient seine Wirklichkeit über sein Symptom / Problem konstruiert hat, die ihn zum Arzt geführt hat.
Klärung des Konsultationskontextes Zur Klärung des Auftrags gehört die Klärung der Umstände, wie es zur Konsultation gekommen ist und auf wessen Initiative. Immer wieder ist eine außenstehende Person oder Institution Auftraggeber. Falls sich der Patient auf Weisung oder Druck von einer anderen Person aus dem familiären oder beruflichen Umfeld oder von einer Institution zur Konsultation angemeldet hat oder wenn er von jemandem aus seinem Umfeld angemeldet worden ist, ist dieser Umstand ein wesentlicher Teil der Auftragsklärung. Es kann ein Hinweis auf relevante psychosoziale Problematiken sein. Oder es handelt sich bei nicht urteilsfähigen Patienten um einen oder mehrere stellvertretende Auftraggeber / -innen, wobei der Auftrag auf der Grundlage einer schriftlichen Patientenverfügung, eines
Aktiv zuhören und lösungsorientiert Fragen stellen
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Vorsorgeauftrags und / oder des mutmaßlichen Willens des Patienten oder der Patientin umgesetzt werden muss. All diese Mitbeteiligten haben eine mehr oder weniger deutliche Vorstellung darüber, was eigentlich das Problem sei, was unternommen werden sollte und wer was zu tun hat. Der Arzt klärt daher: Was sollen Arzt und Patient erreichen? Was ist die Basis der Zusammenarbeit von Arzt und Patient? Wie steht es um die Motivation des Patienten? •• Ihre Ehefrau hat Sie zur Konsultation angemeldet. Können Sie mir erläutern, wie es dazu gekommen ist?
Auftragsklärung auch mit zugewiesenen Patienten Wenn ein Patient von einem anderen Arzt überwiesen wird, ist der überweisende Kollege lediglich ein indirekter Auftraggeber. Eigentlicher Auftraggeber bleibt der Patient. Mit ihm muss der Arzt den Auftrag persönlich klären. Der Arzt muss damit rechnen, dass es sich beim Überweisungsgrund um ein sogenanntes »Vorzeigesymptom« handelt und dass hinter den Kopfschmerzen, der Müdigkeit, den vagen Bauch- oder Rückenschmerzen usw. eine tiefer greifende Problematik den Patienten bedrückt. Diese kann der Arzt nur mit einer sorgfältigen Klärung des Auftrags erfassen. •• Im Überweisungsschreiben von Dr. XY steht, dass er Sie zur Abklärung Ihrer Kopfschmerzen an mich weist. Welches ist Ihre Sicht dazu?
Aktiv zuhören und lösungsorientiert Fragen stellen Kommunikative Fähigkeiten, wie sie in den thematischen Schwerpunkten 5 »Kunst des Fragens« und 4 »Aktives Zuhören« beschrieben sind, dienen dem Arzt zur Klärung des Auftrags. Themen einer Auftragsklärung können sein: •• Wie lautet der Auftrag des Patienten wirklich? Was soll angestrebt werden? Was sind seine Erwartungen? Stimmt der Auftrag im Überweisungsschreiben mit den Erwartungen des Patienten überein? Wie gut ist mein Gegenüber informiert? •• Was genau ist das Problem? Was soll anders werden? Welche Daten und Fakten gibt es zum Symptom / Problem? Welches ist der Kontext des Problems? Wie steht es um die gegenwärtige Lebenssituation und die damit verbundenen Belastungssituationen / Stressoren am Arbeitsplatz, in der Familie, finanzieller Art etc.?
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Auftrag klären
•• Welche Bedeutung hat das Problem aus der Sicht des Patienten? Ist das Symptom immer vorhanden oder kommt es in bestimmten Situationen? Gibt es Unterschiede? Welche? •• Gibt es bereits Ideen oder Lösungsansätze? Woran würde der Auftraggeber (Patient) erkennen, dass das Problem gelöst ist? Woran werde ich als Berater, als Beraterin erkennen, dass der Auftrag erfüllt ist? •• Ist der Auftrag erfüllbar? Stimmt die Dimension? Welche Ressourcen bestehen bereits, welche braucht es zusätzlich? •• Wie sieht der Arbeitskontrakt aus? Welches ist ein erster Schritt? Welche Spielregeln braucht es für eine gute Zusammenarbeit?
Zeit in eine gute Klärung investieren Der kluge Arzt lässt sich alles erklären. Er gibt dem Patienten Zeit, selbst zu erzählen, auch wenn dieser eine Zeitlang nachdenken muss. Diese Zeit stößt beim Patienten wichtige Reflexionen an. Dem Arzt fällt es, gerade unter Zeitdruck, schwer, einige Sekunden des Schweigens auszuhalten, und er ist versucht, vorschnell mit einer weiteren Frage nachzuhaken. So steuert er den Gedankengang des Patienten nach seinen eigenen Vorstellungen und verspielt die Gelegenheit einer authentischen Antwort. Damit macht er sich einerseits mühsame Arbeit und riskiert andererseits zeitaufwendige Missverständnisse. Zeit in eine gute Klärung zu investieren führt letztlich auf dem einfachsten Weg zum Ziel.
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Ressourcen
Der systemisch-lösungsorientiert arbeitende Arzt versteht den Patienten / die Patientin als eigenverantwortlichen, autonomen Menschen mit einem eigenen Kompetenzfeld. Auf gleicher Augenhöhe erarbeiten sie ein gemeinsames Verständnis der Symptom- / Problemsituation sowie des anzustrebenden Lösungszustands als Basis für einen therapeutischen Prozess. Zum Kompetenzfeld des Patienten gehören neben dem Wissen um Geschichte, Auswirkungen und Verlauf seines Symptoms / Problems sowie um sein Krankheitserleben auch seine Ressourcen, die zum Erreichen des gemeinsam erarbeiteten Ziels eingesetzt werden können. Der Patient erlebt durch den Einbezug seiner eigenen Ressourcen in den therapeutischen Prozess, dass er vom Arzt als ganze Person auch mit ihren Stärken wahrgenommen und nicht nur auf sein Symptom / Problem reduziert wird. Er macht die Erfahrung, dass er mit seinen Fähigkeiten und seinem eigenen Tun auf sein Symptom / Problem aktiv einwirken kann. Dies stärkt sein Selbstverständnis und Selbstwertgefühl. Der Patient erlebt, über das aktuell bearbeitete Symptom / Problem hinausgehend, dass er imstande ist, sein Schicksal, die Herausforderungen, die mit seinem Leben verknüpft sind, in die eigenen Hände zu nehmen und mit eigener Kraft besser zu bewältigen. Und diese Erfahrung hilft ihm auch dabei, dass er seine Grenzen wahrnehmen, zu diesen stehen und zeitgerecht Hilfe annehmen kann. Dies alles ist Teil des sogenannten »patient empowerment«. Auf der Grundlage dieser Ressourcen vereinbaren Arzt und Patient Aufgaben, die der Patient zwischen den Konsultationen als einen eigenständigen ersten oder nächsten Schritt auf das vereinbarte Ziel hin tun kann. Dabei beziehen sie das aktuelle Umfeld des Patienten situations- und sinngerecht mit ein. Das Team um Steve de Shazer hat für die von ihm eingeführte lösungsorientierten Kurztherapie (de Shazer, 1989) drei Kategorien der Interaktion zwischen Berater / -in und Klient / -in beschrieben. Diese haben auch im ärztlichen Kontext ihre Bedeutung. Auch der Arzt erkennt, ob ihn der Patient als »Besuchen-
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Ressourcen
der«, »Klagender« oder »Kunde« aufsucht. Dies bestimmt die gemeinsame Arbeitsweise im Rahmen der Konsultation wesentlich mit.
»Besuchender« »Besuchender« ist ein Patient, bei dem der Arzt keine klare Ausrichtung erkennen kann. Der Arzt hört von ihm ein Anliegen ohne Ziel oder mit verschiedenen, einander widersprechenden Zielen. Der Konsultationskontext zeigt oft, dass der Patient im Auftrag von Dritten (wichtige Bezugspersonen, Behörden etc.) zur Konsultation kommt und bei sich kaum einen Veränderungsbedarf sieht. Für die Ärztin oder den Arzt ist es eine Herausforderung, mit einem »Besuchenden« ein lösungsorientiertes Ziel zu definieren, auf das sie gemeinsam hinarbeiten könnten. Gelingt dies nicht, kann sie bzw. er den Patienten höchstens ermutigen, zu überdenken, was im Moment gut läuft und so bleiben sollte. So kann sie bzw. er ihn Ideen für ein allfälliges Ziel entdecken lassen.
»Klagender« »Klagender« ist ein Patient, von dem der Arzt vernimmt, dass er seine Situation nicht beeinflussen kann. Der Patient erlebt sich als »Opfer« von Lebensumständen, seiner Krankheit, seines Schicksals oder anderer Menschen, leidet sehr darunter und beschwert sich darüber. Er ist überzeugt davon, dass er auf all das keinen Einfluss nehmen kann. Er versteht sich auch nicht als Co-Produzent und (Mit-)Aufrechterhaltender des Symptoms / Problems, an dem er leidet und wegen dessen er den Arzt aufsucht. Er zeigt sich ohnmächtig, selbst etwas zur Lösung beizutragen. Arzt und Patient können aufgrund dieser Interaktionsdynamik Beobachtungs- und Einschätzungsaufgaben erarbeiten. Diese helfen dem »Klagenden«, seine Wahrnehmung zu differenzieren und Unterschiede zuzulassen. So kann er Möglichkeiten erkennen, wie er seinen Lebensverlauf mit beeinflussen könnte.
»Kunde« Als »Kunden« erkennt der Arzt einen Patienten, der sein Symptom / Problem und seine Ziele benennen kann. Er hört dessen Bereitschaft, eigene Schritte zu einer Lösung zu entwickeln und diese umzusetzen. Er zeigt sich auch in der
Drei Beispiele
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Lage, seine Rolle als Co-Produzent und (Mit-)Aufrechterhaltender des Pro blems zu sehen. Arzt und Patient vereinbaren Handlungsaufgaben, mit denen der Patient Schritte in Richtung des angestrebten Ziels unternehmen kann. Dabei hält sich der Arzt an folgendes Grundmuster: •• Wenn etwas läuft, einladen, mehr davon zu tun. •• Wenn etwas nicht läuft, einladen, etwas Anderes, etwas Neues zu tun. •• Vorschlagen, so zu tun, als sei das Ziel bereits erreicht, und sich entsprechend verhalten. •• Einladen, etwas zu unterlassen. Mit dem Patienten, der sich als »Kunde« erweist, kann der Arzt gemeinsam einen therapeutischen Prozess entwickeln. Der Patient anerkennt, dass das Symptom / Problem ein Teil von ihm als ganze Person ist, welches er zusammen mit dem Arzt und seinem eigenen Mittun in die gemeinsam geplante, gewünschte Richtung verändern will. Der aktive Einbezug bestärkt die ernsthafte gegenseitige Verbindlichkeit der vereinbarten Abmachungen. Er fördert die aktive Zusammenarbeit und die nachhaltige Wirkung des angestrebten Resultats. Er beinhaltet eine präventive Wirkung vor einem drohenden Rückfall. Er befähigt den Patienten, bei erneuter Verschlechterung des Symptoms / Problems rechtzeitig proaktive Maßnahmen zu ergreifen, bevor es erneut »entgleist«. All dies sind wesentliche Elemente einer nachhaltigen und personenzentrierten Medizin von guter Qualität.
Drei Beispiele Nach der Diagnose einer Angina mit nachgewiesenen Streptokokken A vereinbaren Arzt und Patient eine Antibiotikatherapie über sieben Tage. Der Patient führt diese Verordnung zuverlässig und lückenlos durch und erfährt dank seinem zuverlässigen Mittun eine sehr rasche Besserung. Der alte Mann mit vielen Krankheiten und zudem einer knapp kompensierten Herzinsuffizienz mit einer sehr komplexen medikamentösen Behandlung akzeptiert, dass die ambulante Pflege / Spitex seine Medikamente in einer Wochen-Tablettenbox einsortiert. Er stellt sich täglich auf die Waage und schreibt das Gewicht gewissenhaft auf. Beim Erreichen der vereinbarten Gewichtsschwelle meldet er sich zuverlässig beim Arzt, damit sie die Medikamentendosis entsprechend anpassen können. Damit können Arzt und Patient eine erneute Dekompensation der Herz-
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Ressourcen
insuffizienz oder eine ebenso gefährliche Überbehandlung rechtzeitig erkennen und eine erneute Hospitalisation vermeiden. Der Patient erfährt, dass er seine Krankheit aktiv kontrollieren kann und ihr nicht hilflos ausgeliefert ist. Er gewinnt besseres Vertrauen in sich und seinen Körper. Die depressive einsame alte Frau mit ihren herausragenden kreativen Fähigkeiten im Umgang mit Textilien greift wieder zu ihrem Strickzeug, schließt sich einer Strickgruppe an und spendet ihre Kreationen für den Verkauf auf dem Bazar des Altersheims. Sie gewinnt neue Bekannte und Freude am Leben.
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Körperliche Nähe und Berührung
Während der Gesprächsanteile der Konsultation befinden sich Ärztin / Arzt und Patientin / Patient in einem gewohnten sozialen Abstand. Für jede körperliche Untersuchung muss diese subtile Grenze überschritten werden. Der Arzt weiß, dass er sich dafür immer die Erlaubnis des Patienten einholen muss. Er versteht, dass ihm der Patient großes Vertrauen entgegenbringt, indem er sich für die Untersuchung meistens am mindestens teilweise entblößten Körper berühren lässt. Der Arzt ist sich bewusst, dass er sich während der untersuchenden Nähe in der Intimsphäre und im Energiefeld des Patienten aufhält. In dieser Zone nehmen beide Geruch, Atmung, Temperatur und Feuchtigkeit des Körpers des anderen besonders intensiv wahr. Die untersuchenden Berührungen können beim Patienten / bei der Patientin und beim Arzt / bei der Ärztin angenehme oder irritierende Wahrnehmungen und Gefühle auslösen, die dem oder der anderen verborgen bleiben. Entsprechend sorgsam und unmissverständlich verhält sich der Arzt / die Ärztin in dieser Zone. Der Arzt beachtet, dass der Patient, wenn er ihn vom Rücken her untersucht, die untersuchende Handlung optisch nicht überprüfen kann; dass er sich in dieser Situation besonders schutzlos fühlt; dass er deshalb besonders aufmerksam etwa auf seine Atmung, Geräusche und die Art des Abtastens etc. achtet; dass er diese unterschiedlich interpretieren und allfällige Befürchtungen ungünstig steigern kann. In solchen Situationen wird der Arzt den Patienten besonders sorgsam vororientieren und laufend informieren, was er in seinem Rücken tut. Die erhobenen Befunde wird er ihm unmittelbar mitteilen. Dazu ein Beispiel: Der Kardiologe untersuchte mit einer Echokardiographie den Patienten von hinten. Der Patient bemerkte seine intensive Atmung und fragte deshalb, ob etwas nicht gut sei. Der Arzt gab keine Erklärung und verwies den Patienten an den Hausarzt, der ihm die Ergebnisse erläutern werde. Der Patient war dadurch sehr irritiert, verlor das Vertrauen und wechselte in der Folge zu einem anderen Kardiologen.
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Körperliche Nähe und Berührung
Aus systemisch-lösungsorientierter Sicht ist die körperliche Untersuchung mehr als ein klinisch diagnostischer Vorgang. Die Hand des Arztes ist mehr als ein Untersuchungsinstrument, mit dem er die mit dem Symptom behafteten Körperregionen des Patienten abtastet. Mit seiner Hand berührt der Arzt darüber hinaus auch den Patienten als Person. Und der Arzt wird durch seine untersuchende Berührung auch selbst berührt. Untersuchend berührt zu werden bedeutet für den Patienten, dass sein Symptom / Problem vom abtastenden Arzt ernstgenommen wird und er als Person wahrgenommen wird. Berührend zu untersuchen bedeutet für den Arzt, mit dem Symptom / Problem und der Person des Patienten in Kontakt zu kommen. Dabei macht er sich auch bewusst, ob allenfalls irritierende Empfindungen – zum Beispiel emotionale Befangenheit oder Ekel, aber auch Erregung und starke Sympathie – sein Handeln beeinflussen könnten. Bei sorgsamem Umgang mit diesen Aspekten gibt die Berührung dem Patienten und dem Arzt eine gewisse Sicherheit, das Symptom / Problem in seiner Gesamtsituation, trotz aller Ungewissheit, »im Griff« zu haben. Für beide hat die untersuchende Berührung zudem eine psychologische Bedeutung. Sie bewirkt therapeutische Nähe und Zuwendung. Sie wird zu einem tragenden Teil der Arzt-Patient-Beziehung und des darauf basierenden Vertrauens. Mit einer sozialen Berührung kann der Arzt dem Patienten in einer speziell schweren Situation zeigen, dass er ihm nahe ist und mit ihm fühlt. Einen verzweifelten Patienten kann er so beruhigen. Beispielsweise legt er seine Hand mit festem Druck auf den Unterarm oder den Handrücken des Patienten oder er fasst ihn bestärkend bei der Schulter. Diese Intervention setzt der Arzt zurückhaltend ein, wie es in allen anderen therapeutischen Berufen die Regel ist. Die Wirksamkeit der Berührung beruht auf einem neurobiologischen Hintergrund. Sie aktiviert psychoneuroendokrine Substanzen wie Oxytocin, Dopamin, Serotonin und Endorphine. »Diese verringern Angst und schaffen eine Empfindung des Behagens und Vertrauens« (Marlock u. Weiß, 2007, S. 535). Unabdingbare Voraussetzung für eine soziale Berührung ist eine kongruente Beziehung zwischen Ärztin / Arzt und Patient / -in. Kongruent bedeutet, dass sich der Therapeut, die Therapeutin als echte Person in die Therapie einbringt und seine bzw. ihre eigenen Gefühle bezüglich des therapeutischen Prozesses sichtbar macht (Finke, 2004, S. 60 ff.). Die Hand eines Menschen kann die Seele eines anderen nachhaltig berühren. Wahrscheinlich erinnern wir uns alle daran, wie eine Berührung oder der Druck der Hand einer Person, die für uns damals bedeutungsvoll war, noch über eine lange Zeit physisch spürbar blieb und seither in gewissen Situatio-
Körperliche Nähe und Berührung
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nen immer wieder – mit hilfreicher Wirkung – abgerufen werden kann. Leider kann auch das Gegenteil der Fall sein. Die Summe dieser physischen und psychischen Aspekte verleiht der körperlichen Untersuchung zusätzlich zu ihrer diagnostischen Bedeutung einen immanenten therapeutischen Wert. Der Arzt geht damit sehr sorgsam und verantwortungsvoll um.
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Ambivalenz und seelischer Konflikt bei Entscheidungen
»Ambivalenz (lateinisch ambo = ›beide‹ und valere = ›gelten‹) bezeichnet einen Zustand psychischer Zerrissenheit. Dabei bestehen in einer Person sich widersprechende Wünsche, Gefühle und Gedanken gleichzeitig nebeneinander und führen zu inneren Spannungen« (Wikipedia-Artikel »Ambivalenz«). Bei einer zu treffenden Entscheidung zwischen verschiedenen Möglichkeiten, bei denen »das gleichzeitige Vorhandensein positiver und negativer Gefühlsregungen« (Berkel, 2002) vorliegt, kann eine Phase der Unentschiedenheit und Ambivalenz auftreten. Diese erleben wir oft als innere Zerrissenheit, die aber auch dafür sorgen kann, dass wir Konflikte im Rahmen von Entscheidungen nicht vorschnell lösen, sondern dass wir verschiedene zukunftsweisende Möglichkeiten gegeneinander abwägen. Denn die Folgen einer Entscheidung bedeuten einen Schritt weg von unserem bekannten aktuellen Ort und unserer eingespielten Situation ins Ungewisse. Nach einer Entscheidung ist der Weg zurück an den Punkt, den wir verlassen haben, in der Regel nicht mehr möglich. Selbst dann, wenn wir die Entscheidung rückgängig machen könnten, wäre es am Ausgangspunkt nicht mehr gleich, wie es war, als wir ihn verlassen haben. Und der Nutzen, den wir mit der Entscheidung anstreben, wird sich erst dann zeigen können, wenn wir den Schritt vollzogen haben werden. Die Kunst ist es, die Entscheidung zum »richtigen« Zeitpunkt zu treffen. Deshalb: »Auch als Individuum tut man gut daran, sich den Ambivalenzen zu stellen, die mit (lebens)wichtigen Entscheidungen verbunden sind. Es ist kein Zeichen des charakterlichen Defizits, sich zwischen verschiedenen Handlungsoptionen […] hin und her gerissen zu fühlen, sondern – ganz nüchtern gesehen – ein Zeichen von Intelligenz. Nur einfältige Leute kennen keinen Zwiespalt und handeln stets ambivalenzfrei« (Simon, 2012, S. 36). Und »Entscheidungsfähigkeit führt nur dann zum Ziel, wenn sie mit Bedachtsamkeit gepaart ist« (Schultz von Thun, Ruppel u. Stratmann, 2005, S. 90).
Innere (seelische) Konflikte in der Konsultation von Arzt und Patient
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Gedanken aus der Systemtheorie des Konflikts Ein Konflikt entsteht immer dann, wenn nicht aufschiebbare Entscheidungen, wie an einer »Weggabelung« (Simon, 2012), in unterschiedliche Richtungen mit unterschiedlichen Erwartungen / Versprechungen und Risken anstehen. In der Unentschiedenheit oszillieren die Gedanken zwischen den verschiedenen Möglichkeiten. »Die Gedanken kreisen«, die Konversation »dreht sich im Kreis« (Simon, 2012, S. 18). Der Konflikt bleibt so lange bestehen, bis er durch eine Entscheidung aufgehoben wird. Da eine Entscheidung in der Regel nicht umkehrbar ist, kann sich der Konflikt auch danach wieder neu entfachen. Dies können auch neue Folgekonflikte sein. Oder es kann ein Konflikt sein zwischen dem Ist-Zustand nach der Entscheidung gegenüber dem Zustand vor der Entscheidung – insbesondere dann, wenn sich der erhoffte Zustand nicht wirklich einstellt: »Wie wäre es, wenn ich die Entscheidung doch nicht getroffen hätte …« Ein Konflikt ist besonders dann stark, wenn es um eine »entweder-oder«-Entscheidung für sehr gegensätzlichen Möglichkeiten geht: etwa eine lebensbedrohliche Operation, die ein gutes Resultat verspricht, gegenüber einer viel sichereren medikamentösen Therapie, die jedoch nur eine mäßige Verbesserung der gesundheitlichen Situation in Aussicht stellt. Schwächer ist ein Konflikt bei einer Entscheidung zwischen zwei oder mehreren in etwa gleichwertigen Möglichkeiten, die alle sowohl positive wie negative Anteile haben: zum Beispiel dieses oder jenes Medikament mit ähnlicher Wirkung, aber unterschiedlichem Nebenwirkungsprofil. Nicht selten beinhalten die Entscheidungen vier Möglichkeiten: 1) Das eine tun, 2) das andere tun, 3) weder das eine noch das andere tun, stehen bleiben oder umkehren, 4) von beidem etwas, mit- oder nacheinander, tun – »Tetralemma« genannt (Simon, 2012, S. 21).
Innere (seelische) Konflikte in der Konsultation von Arzt und Patient Arzt und Patient stehen bei ihrer gemeinsamen Entscheidungsfindung im Rahmen der Konsultation – jeder auf seine Weise und entsprechend seiner Wirklichkeitskonstruktion – in einem inneren (seelischen) Konflikt (Berkel, 2002) zwischen unterschiedlichen Möglichkeiten zum gemeinsam definierten Ziel (siehe auch thematischer Schwerpunkt 1: Grundlagen systemisch-lösungsorientierter Beratung). Im besten Fall sind die Möglichkeiten gleichwertig. Sie können dennoch von unterschiedlichen Belastungen und unerwünschten Folgen begleitet
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Ambivalenz und seelischer Konflikt bei Entscheidungen
sein. So müssen sich Arzt und Patient, sofern sie sich zum Handeln entschlossen haben, beispielsweise entscheiden zwischen einer älteren, gut bekannten und bewährten Behandlungsmöglichkeit mit guter Verträglichkeit und einer neuen Möglichkeit, die statistisch eine bessere Wirkung verspricht, aber mit potenziell gefährlichen unerwünschten Wirkungen behaftet ist. Dabei handelt es sich nach der Konflikteinteilung von Kurt Lewin (1953) um einen »Annäherungs-Vermeidungs-Konflikt«. »Der Annäherungs-Vermeidungs-Konflikt bringt einen typischen Grundzug von Konflikten zum Vorschein; ihre Ambivalenz. […] Daran wird deutlich: die Bewältigung eines Konflikts – hier im Sinne einer Entscheidung – erfordert, dass der Mensch imstande ist, auch mit den negativen Folgen seiner Entscheidung fertig zu werden« (Berkel, 2002, S. 14 f.). »Ein Konflikt ist dann bewältigt, wenn die Person zwischen den verschiedenen Anforderungen des äußeren und inneren Lebens ein Gleichgewicht, eine Balance herzustellen vermag« (S. 24). Arzt und Patient müssen zusammen herausfinden, welcher Weg mit allen seinen guten und schlechten Anteilen sowie mit seiner medizinisch-fachlichen Ungewissheit / Unsicherheit für den Patienten mit seinen Vorstellungen und Zielen am geeignetsten ist. Wie immer sich die dieser Weg auch entwickeln wird, Arzt und Patient sollten sich bewusst bleiben, dass sie zum Zeitpunkt des Entscheides mit bestem Wissen und Gewissen im Rahmen der damals vorhandenen Möglichkeiten entschieden haben. Das bedeutet, dass sie sich auch mit einem Resultat zufriedengeben müssen, das nicht den Erwartungen entspricht.
Individuelle Entscheidungsfähigkeit Die Entscheidungsfähigkeit ist bei uns individuell unterschiedlich entwickelt und kann sich zudem je nach Situation unterschiedlich zeigen. Sie ist Teil unserer Persönlichkeit. Den einen von uns gelingen selbst schwerwiegende Entscheidungen »leicht«. Andere bleiben schon bei »leichteren« Entscheidungen in der Ambivalenz zwischen Für und Wider stecken. Weitere entscheiden sich plötzlich, für andere Personen oft nicht nachvollziehbar, zum Gegenteil der zuvor entschiedenen Möglichkeit. Oder die gleiche Person verhält sich je nach Situationen mal so, mal anders. Je dringender oder gar unausweichlich eine Entscheidung ansteht und je größer deren Tragweite ist, desto bedeutender wird ein konstruktiver, zielführender Umgang mit der Ambivalenz. Dies trifft ganz besonders bei Entscheidungen in einem medizinischen Kontext zu. Diese Situationen gehen uns besonders nah und viele Entscheidungen sind unwiderruflich. Ein Gelenk beispielweise, das durch ein Implantat ersetzt wurde, kann, falls die
Ambivalenz und Entscheidungskonflikte in unserer Lebensgestaltung
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Operation nicht erfolgreich war, nie mehr in seinen ursprünglichen Zustand zurückversetzt werden. Jede Entscheidung ist mit einem Risiko behaftet und erfordert Mut. Entscheidungsfähigkeit und die damit verknüpfte Risikobereitschaft werden gefördert, wenn unser aktueller Zustand für uns unerträglich geworden ist, wenn wir am alten Ort nichts mehr verloren haben und handeln müssen. Oder wenn ein neues Ziel eine solch starke, verlockende und überzeugende Anziehung hat, dass wir einfach nur noch handeln wollen. In den meisten Situationen ist der Entscheidungsdruck jedoch nicht so eindeutig. Dann hängt es von unserer persönlichen Entscheidungsfähigkeit und -freudigkeit ab, wie intensiv und sorgfältig wir Für und Wider abwägen, bis wir den Schritt aus dem bekannten Zustand ins Ungewisse wagen – oder bleiben lassen. Unsere Ambivalenz und Entscheidungsfähigkeit finden immer im Kontext von äußeren und inneren Gegebenheiten sowie den Resultaten aus deren Interaktion statt. Zu den äußeren Gegebenheiten zählen beispielsweise die psychosozialen Bedingungen, Erwartungen und Anforderungen auf familiärer, gesellschaftlicher, kultureller Ebene, Bildung, technische und medizinische Möglichkeiten, ökonomische und Umweltfaktoren etc. Zu den inneren Gegebenheiten zählen unsere angeborenen Voraussetzungen. In den Interaktionen zwischen diesen äußeren und inneren Elementen entwickeln sich unsere individuelle – mutige, zaudernde, optimistische, pessimistische etc. – Persönlichkeit, unsere Philosophie, Werte, Haltung, Resilienz, Erfahrungen, Selbstwertgefühl, Eigenständigkeit, Fähigkeit zum Umgang mit Unsicherheit und Angst, Verhältnis zu Leben, Sterben und Tod. Alle diese Gegebenheiten geben unseren Visionen, Wahl- und Entscheidungsmöglichkeiten einen Rahmen. Sie können den Entscheidungshorizont ausweiten, einengen oder die Entscheidung in eine bestimmte Richtung steuern. Sie alle sind relevant für unsere Fähigkeit, innere Konflikte zu bewältigen bei der Entscheidung zwischen unterschiedlichen Möglichkeiten.
Ambivalenz und Entscheidungskonflikte in unserer Lebensgestaltung In unserem Leben stehen wir fast ununterbrochen vor kleineren oder größeren, manchmal auch sehr großen und existenziellen Entscheidungen. Oft ergibt sich die Lösung wie von selbst. Wir können uns »treiben lassen«. Immer wieder begegnen wir jedoch Situationen, die uns eine aktive Entscheidung unabdingbar abverlangen. Dies ist zum Beispiel der Fall beim Älterwerden und bei den
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Ambivalenz und seelischer Konflikt bei Entscheidungen
Anforderungen, die mit den verschiedenen Lebensstufen verknüpft sind wie Fragen der schulischen, beruflichen und persönlichen Lebensgestaltung; bei unvorhergesehenen Schicksalsschlägen und Erkrankungen; bei Fragen rund um unser Lebensende. Es gibt auch Situationen, die bei jeder Wahlmöglichkeit mit größter Wahrscheinlichkeit zu einem unerwünschten Resultat oder sogar in eine Katastrophe führen. Selbst hier können wir entscheiden, diesen Prozess so oder anders zu gestalten.
Ambivalenz und Entscheidungskonflikte in der Ungewissheit / Unsicherheit34 des medizinischen Kontextes – bei Arzt und Patient Bei gesundheitlichen Problemen ist unsere Entscheidungskraft ganz besonders herausgefordert. Hier geht es, mehr als bei allen anderen, immer wieder um existenzielle Entscheidungen. Sie betreffen Leib und Leben. Sie finden zudem in einem von vielen Ungewissheiten / Unsicherheiten geprägten Feld statt. Medizinische Entscheidungen müssen oft in Notfallsituationen unter Zeitdruck getroffen werden. Manchmal betreffen sie dringende Behandlungen oder Langzeitbehandlungen von Zuständen mit einem hohen Risiko für schwere bleibende Beeinträchtigungen oder gar für einen »vorzeitigen« Tod. Oder es sind Entscheidungen am Lebensende und solche, die stellvertretend für dauernd oder vorübergehend urteilsunfähige Personen getroffen werden müssen. In solchen Situationen sind eine Patientenverfügung und ein Vorsorgeauftrag (siehe 4.1 »Untersuchungen durchführen«, S. 115 ff.) sowie eine gute Information der beauftragten Personen von größter Bedeutung. Oftmals gibt es mehrere, teils ähnliche und teils sehr unterschiedliche Möglichkeiten, wie gehandelt werden kann. Jedoch sind die entscheidungsrelevanten Informationen über die verschiedenen Möglichkeiten, vor allem für die Patientin, den Patienten, begrenzt. Das Wissen über die statistisch eruierte Wirkung einer medizinischen Möglichkeit, sei es eine Untersuchung oder eine Behandlung, ist statistischer Natur. Ihr wissenschaftlich erhobener Nutzen und ihre Risiken entsprechen rechnerischen Mittelwerten mit oft großen Streubreiten. Das wissenschaftliche Untersuchungskollektiv entspricht kaum je dem Patienten, bei dem die Möglichkeit erwogen wird. Somit kann die Wirksamkeit der Möglichkeit nur beschränkt auf einen individuellen Patienten übertragen werden. Die Anzahl der Patienten, die mit einer bestimmten 34 Siehe thematischer Schwerpunkt 10: Uncertainty und Medizin im Grenznutzenbereich.
Ambivalenz und Entscheidungskonflikte in der Ungewissheit / Unsicherheit
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empfohlenen Möglichkeit behandelt werden müssen, damit ein Patient einen Nutzen (number needed to treat) erfährt, kann zwei- bis dreistellig sein. Ebenso verhält es sich mit der Anzahl von Patienten, die bei derselben Möglichkeit Nebenwirkungen oder Schaden (number needed to harm) erleiden können. Manchmal liegen die beiden Werte nahe beieinander. Dies entspricht gewissermaßen einer »Lotterie«. Solche Entscheidungen werfen die ethische Frage auf, wie vielen Menschen ein potenzieller Schaden zugemutet werden darf, um einer Person zu helfen. Zudem bleibt offen, ob sich eine gemäß Statistik risikobehaftete Situation bei einem bestimmten Patienten wirklich zu einem Gesundheitsschaden entwickeln wird. Die Kombination mit weiteren risikobehafteten Situationen kann für die möglichen Entstehung eines Gesundheitsschadens eine zusätzliche Rolle spielen. So muss oder kann immer auch mit gutem Grund ein – vorläufiges – Nichthandeln oder ein Aufschieben in die Entscheidung einbezogen werden. Viele medizinische Möglichkeiten bewegen sich im Grenznutzenbereich. Dies ist für eine Entscheidungsfindung besonders herausfordernd. Der zu erwartende zusätzliche Nutzen ist vergleichsweise gering oder wenig wahrscheinlich. Der persönliche Einsatz und das Risiko sind hoch. Die resultierenden Kosten sind meistens immens. Somit betreffen diese Entscheidungen die ganze Solidargemeinschaft und werfen die wiederum ambivalente ethische Frage auf, wie viel ein Menschenleben kosten darf. Entscheidungen am Lebensende fallen uns besonders schwer. Zunehmende Möglichkeiten im Grenznutzenbereich erschweren die Entscheidungsfindung zusätzlich. Sollen wir bei einer unheilbaren Krankheit, die in absehbarer Zeit zum Tod führt, eine neue Therapie, die gemäß ersten Studien eine geringe Verlängerung der Lebenszeit oder Verbesserung der Lebensqualität ermöglichen könnte, durchführen oder den Therapiegedanken loslassen und uns mit palliativmedizinischer Unterstützung auf die Gestaltung unseres verbleibenden Lebens konzentrieren? Die gesellschaftliche Haltung, im Zweifelsfall lieber zu handeln als nicht zu handeln, beeinflusst unser Entscheidungsverhalten. So ist die Angst des Arztes oder der Ärztin vor einer Klage wegen schädlicher Folgen infolge Nichthandelns größer als infolge Handelns, selbst wenn das gewählte Handeln nicht unbedingt nötig gewesen wäre. Neben diesen äußeren Faktoren beeinflusst eine ganze Reihe von persönlichen Faktoren die Ambivalenz im medizinischen Kontext. Dabei handelt es sich zum Beispiel um die Einstellung zu Leben und Tod, den medizinischen Wissenstand, das Vertrauen in Ärzte respektive Patienten, Erwartungen an medizinische Möglichkeiten, eine gesunde kritische oder eine misstrauische skepti-
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Ambivalenz und seelischer Konflikt bei Entscheidungen
sche Einstellung aufgrund selbst gemachter und beobachteter Erfahrungen mit medizinischen Entscheidungen. Aus allen diesen Komponenten konstruieren der Arzt und der Patient ihre je eigene individuelle Wirklichkeit. Der Schluss mag nahe liegen, dass sich Arzt und Patient in einer gegebenen Situation leichter für medizinisches oder nichtmedizinisches Handeln sowie für eine bestimmte medizinische Möglichkeit entscheiden können, wenn diese mit geringeren Ungewissheiten / Unsicherheiten belastet sind.
Innere Teamkonferenz im Arzt und Patienten zum Bilden eines Standpunkts zur Klärung der Ambivalenz Entscheidungen im medizinischen Kontext mit solch breitgefächerten äußeren und inneren Ambivalenz-trächtigen Faktoren unterliegen dem Dilemma zwischen der Erwartung von Nutzen und Angst vor möglichem Schaden betreffend unterschiedliche Handlungsmöglichkeiten (so oder anders handeln) einerseits sowie Handeln respektive Nichthandeln andererseits – entsprechend dem Tetralemma von Simon (2012). Damit Arzt / Ärztin und Patient / -in die Ambivalenz des inneren Konflikts überwinden und eine gemeinsame Entscheidung treffen können, brauchen beide einen Standpunkt. Hier gilt es zu beachten: Nur wenn der Arzt seinen eigenen inneren Konflikt erkannt und bearbeitet und einen eigenen Standpunkt entwickelt hat, wird er seinem Patienten beim Finden dessen eigenen Standpunkts unterstützen können. Und nur dann, wenn der Arzt und der Patient ihren je eigenen inneren Konflikt geklärt und einen Standpunkt entwickelt haben, können sie eine gemeinsame konstruktive Entscheidung treffen. Für die Gestaltung dieses Prozesses beim Arzt / bei der Ärztin und beim Patienten / bei der Patientin gibt es hilfreiche kommunikative, psychotherapeutisch fundierte Vorgehensweisen – zum Beispiel eine innere Teamkonferenz (Schulz von Thun, Ruppel u. Stratmann, 2005, S. 83 ff.). Schulz von Thun definiert die innere Teamkonferenz folgendermaßen: »Die bewusste Zusammenkunft und Aussprache aller inneren Mitglieder, die sich zu der aufgeworfenen Frage melden, unter der Leitung des Oberhaupts mit dem Ziel, eine Antwort zu (er-)finden, die auf einer inneren Vereinbarung basiert und die adäquater und authentischer ist, als wenn nur ein Mitglied oder eine Clique von Mitgliedern vorhanden gewesen wäre oder allein das Sagen gehabt hätte« (Schultz von Thun, 2001, S. 90).
Voraussetzungen für den Entscheidungsfindungsprozess
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Der Arzt wie auch der Patient identifizieren die Gedanken und Gefühle der verschiedenen inneren Teammitglieder und lassen diese zu Wort kommen. •• Welche Agenten melden sich in dieser Entscheidung zu Wort? •• Was sind die Anliegen der verschiedenen Agenten? Jetzt übernimmt ein Teil in uns die Verantwortung für die Moderation dieses Klärungsprozesses. Er leitet die »Anhörung« der einzelnen Agenten / Teammitglieder und ermutigt sie, in freier Diskussion ihre Motive zu vertiefen und zu hinterfragen. •• Was haben die Teammitglieder einander zu sagen? Als Abschluss dieser Teamdiskussion fasst die Moderation das Ergebnis der Diskussion zusammen und eröffnet ein Brainstorming über den konstruktiven Beitrag des jeweiligen Teammitgliedes zur Entscheidungsfindung. •• Was könnte dein Beitrag zur Lösungsfindung und Entscheidung sein? Dabei geht die Moderation davon aus, dass jeder Agent Aspekte vertritt, die in der Lösung berücksichtigt sein sollten, und sie bemüht sich, die jeweiligen Interessen hinter den Anliegen zu verstehen. Sie bemüht sich zudem, die Bedingungen zu klären, unter welchen eine Zustimmung erleichtert würde. Dieser Prozess kann die Grundlage für einen geklärten Standpunkt bilden und als Basis für die Lösung des inneren (seelischen) Konflikts dienen. Zum Vertiefen dieser hilfreichen Methode sei das Buch von Schulz von Thun und Stegemann (2004) empfohlen, das Anwendungsbeispiele auch aus dem medizinischen Kontext beinhaltet.
Voraussetzungen für den Entscheidungsfindungsprozess Als Grundlage für einen zielführenden Entscheidungsprozess sind folgende Essenzen hilfreich: •• eine gute vertrauensvolle und empathische Beziehung zwischen Arzt und Patient; •• kommunikative Fähigkeiten des Arztes; •• aktives Zuhören (siehe thematischer Schwerpunkt 4); •• ein fundiertes fachliches Wissen des Arztes; •• sprachlich und inhaltlich verständliches Informieren des Patienten über abstraktes fachliches Wissen; •• die richtigen Fragen stellen zum abwägenden Hinterfragen der Reflexionen des suchenden und noch nicht entschiedenen Patienten;
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Ambivalenz und seelischer Konflikt bei Entscheidungen
•• kritische Urteilskraft betreffend wissenschaftliche Daten im Spannungsfeld zwischen statistischer Signifikanz und Relevanz einer Möglichkeit für den individuellen Patienten; •• bewusster Umgang mit der Ungewissheit: Jede Entscheidung kann für den Patienten »richtig« oder »falsch« sein; es wird sich jedoch erst im Nachhinein zeigen; •• Ermutigung des Patienten; •• Offenheit für Lösungen des Patienten, die man für sich selbst nicht so wählen würde; •• die Haltung des Arztes, die dem Patienten vermittelt, dass er ihn weiterhin betreuen wird, wie auch immer er sich entscheidet und falls der Patient das wünscht; •• Bewusstsein des Arztes, dass er selbst, genauso wie der Patient, der Ambivalenz unterworfen ist; •• die Kenntnis des Arztes seiner eigenen persönlichen Ambivalenzen.
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Uncertainty35 und Medizin im Grenznutzenbereich
Ungewissheit und Unsicherheit (uncertainty) begleiten uns durch das ganze Leben und machen Angst. Wir kennen nur die Vergangenheit und die Gegenwart. Unsere Sicht auf diese Zeiträume ergibt sich durch zahllose Interaktionen mit unserer Familie, Gesellschaft und Umwelt, in denen wir selbst mitwirken, die uns gegenseitig prägen und zu unserer individuellen Entwicklung beitragen. Daraus entwickeln wir unsere individuelle und einzigartige Sichtweise und kreieren unser je eigene Wirklichkeit (siehe thematischer Schwerpunkt 1: Grundlagen systemisch-lösungsorientierter Beratung). Die Zukunft bleibt uns verborgen. Auf dem Boden unserer Wirklichkeitskonstruktion entwickeln wir Visionen, Pläne und Ziele für unsere Zukunft – eine Möglichkeitskonstruktion. Diese beeinflusst, wie die Vergangenheit, unser aktuelles Verhalten und Handeln in Richtung eines Ziels. Was sich daraus entwickeln wird, kann bei allem Planen nicht vorausgesagt werden. Nicht selten kommt es anders als gedacht. Eingriffe von außen in dieses komplexe Konstrukt führen zu Interaktionen, die bei jedem einzelnen Individuum nicht voraussagbare Reaktionen, Anpassungen und Entwicklungen zur Folge haben. Bei einer Begegnung von verschiedenen Personen kommen gleichzeitig unterschiedliche Wirklichkeits- und Möglichkeitskonstruktionen in Berührung. In ihrer Interaktion konstruieren sie gemeinsame Wirklichkeiten in den Bereichen, die zum Erreichen eines gemeinsam entwickelten Ziels nötig sind. Das Resultat, das aus dieser komplex-adaptiven Interaktion emergiert (siehe auch thematischer Schwerpunkt 2: Einführung in die komplex-adaptive Systemtheorie), ist nicht voraussagbar. 35 Siehe auch Konsultationsschritte 4.1 »Untersuchungen durchführen«, 4.2 »›Beurteilung‹ erstellen – Zusammenhänge erkennen und Handlung planen«, 4.3 »Therapiemöglichkeiten besprechen« und 5 »Präventive Möglichkeiten diskutieren« sowie die thematischen Schwerpunkte 9: Ambivalenz und seelischer Konflikt bei Entscheidungen und 6: Auftrag klären.
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Uncertainty und Medizin im Grenznutzenbereich
Ungewissheit / Unsicherheit (uncertainty) sind die Norm im medizinischen Kontext Diese Grundwirksamkeit komplex-adaptiver Systeme mit ihrer Ungewissheit / Unsicherheit und Nicht-Voraussagbarkeit spielt im medizinischen Kontext eine bedeutende Rolle in jeder Gesundheits- und Krankheitssituation, bei jeder Begegnung von Arzt und Patient, bei jeder Untersuchung, »Beurteilung« und Entscheidungsfindung sowie bei jeder Therapie oder Intervention. Ungewissheit / Unsicherheit führen zu Verunsicherung und können Angst bei der Patientin / beim Patienten und auch beim Arzt / bei der Ärztin auslösen. Für den Patienten geht es um seine Gesundheit und vitale Existenz. Der Arzt wird daher alles daransetzen, den Patienten mit seinem Anliegen richtig zu verstehen, ihn über die medizinisch und auf seinen Kontext bezogene bestmögliche Vorgehensweise einvernehmlich zu beraten, gemeinsam mit ihm einen angemessenen Therapieprozess zu beginnen und zuletzt die Unwägbarkeit des Resultats bis hin zu unerwünschten Ergebnissen oder sogar Fehlentscheidungen mit zu tragen (Hoffman, Kanzaria u. Johnson, 2014). … bei der Begegnung von Arzt und Patient in der Konsultation Arzt und Patient können wir als zwei Systeme betrachten, die bei ihrer Begegnung komplex-adaptiv interagieren. Sie treten miteinander in Beziehung. Im interaktiven Gespräch konstruieren sie aus ihren je eigenen, auf persönlichen und beruflichen inneren Bildern aufgebauten Wirklichkeiten eine gemeinsame Wirklichkeit. Auf dieser Basis entscheiden sie sich gemeinsam für einen therapeutischen Prozess in Richtung eines gemeinsam festgelegten Ziels / einer Lösung mit offenem Ausgang. Sie können nicht im Voraus wissen, ob sie diese erreichen werden. Dies stellt eine herausfordernde Situation dar, die eine tragfähige Beziehung und gegenseitiges Vertrauen erfordert. … bei Untersuchung, »Beurteilung« und Therapieentscheidung Ein Symptom / Problem ist ein prozesshaftes Geschehen, das sich im biologischen und psychologischen Inneren des Menschen abspielt und gleichzeitig in komplex-adaptiver Interaktion mit seinem äußeren sozialen Lebenskontext steht. Es stört den gewohnten Lebensablauf des Patienten, kann ihn behindern. In jedem Fall verunsichert es und / oder macht Angst. Bei Kopfschmerzen zum Beispiel kann es sich um eine vorübergehende Befindlichkeitsstörung handeln, eine selbstheilende Krankheitsepisode oder
Ungewissheit / Unsicherheit (uncertainty) sind die Norm im medizinischen Kontext
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möglicherweise eine gefährliche oder unmittelbar lebensbedrohliche Krankheit. Diese inhärente Multidimensionalität verleiht vielen Symptomen eine potenzielle Gefährlichkeit und beeinflusst die Wirklichkeitskonstruktion beim Patienten und beim Arzt meist in einem katastrophisierenden Sinn von »worst case«-Vorstellungen. In dieser von Ungewissheit / Unsicherheit sowie von Verunsicherung und Angst geprägten Ausgangslage müssen sich Arzt und Patient, ausgehend von der gemeinsamen Wirklichkeitskonstruktion, auf eine situationsangemessene Untersuchung und »Beurteilung« einigen, auf der sie ihre therapeutische Entscheidung aufbauen können – im Wissen, dass sie sich auch falsch entschieden haben könnten. Gegenseitiges Vertrauen ist für diesen Prozess unabdingbar. … beim konstruktiven Umgang mit der Zeit Die Zeit spielt in der Ungewissheit / Unsicherheit eine bedeutende Rolle. Unmittelbar lebensbedrohliche Zustände erfordern ein unmittelbares Handeln. In allen anderen Fällen gibt es einen mehr oder weniger großen zeitlichen Spielraum. Es ist verständlich, dass Arzt und Patient jede Ungewissheit / Unsicherheit und die damit verbundene Verunsicherung / Angst möglichst rasch aus der Welt schaffen wollen. Oft ist dies aber gar nicht sinnvoll, denn viele Situationen normalisieren sich ohne äußeres Zutun von selbst. Oder es ist nicht möglich, weil die erforderlichen Untersuchungen oder Maßnahmen Wartezeiten mit sich bringen. Somit ist für einen angemessenen Umgang mit der Ungewissheit / Unsicherheit ein konstruktiver Umgang mit der Zeit bedeutsam. Auch hier sind eine tragfähige Beziehung und gegenseitiges Vertrauen eine wichtige Voraussetzung. Ein konstruktiver Umgang mit der Zeit bedeutet zum Beispiel beobachtendes Zuwarten (watchful waiting, active surveillance). Dies ist ein situationsangemessenes, eigenständiges, manchmal das sinnvollste oder gar einzige »Instrument« bei jedem der Schritte im Konsultationsprozess. Im Verlauf der Entwicklung jedes Symptoms / Problems ergibt sich immer wieder die Möglichkeit, eine Entscheidung zeitgerecht zu revidieren oder den eingeschlagenen Weg zu korrigieren. Klare Vereinbarungen zu kritischen Warnzeichen (red flags), bei denen vom Warten zum Handeln übergegangen werden muss, geben dem beobachtenden Zuwarten einen sichernden Rahmen. Arzt und Patient legen beispielsweise fest, unter welchen Umständen der Patient sich beim Arzt oder auf einer Notfallstation melden muss. Dabei muss der Arzt dem Patienten Vertrauen entgegenbringen können, dass er sich zuverlässig an diese Vereinbarung hält.
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Uncertainty und Medizin im Grenznutzenbereich
Beim Warten auf medizinisch erforderliche Untersuchungen oder Maßnahmen ist es wichtig, dass der Arzt den Patienten gut informiert, ihn während dieser Zeit nicht allein lässt, mit ihm die Ungewissheit / Unsicherheit verständnisvoll teilt und die Beziehung zu ihm situationsangemessen aufrechterhält, etwa mit regelmäßigen Konsultationen für Gespräche. … bei allen medizinisch-technischen Interventionen Von medizinischen Untersuchungen mit ihren Bildern und Zahlen versprechen wir uns einen objektives Sichtbarmachen unseres Symptoms / Problems. Davon erwarten wir Orientierung, Klarheit, Verständnis und Sicherheit. Jede Untersuchung kann aber neue Ungewissheit / Unsicherheit schaffen. Deshalb ist es riskant, irgendetwas Medizinisches zu tun, ohne dass sich aus der Anamnese eine klare Indikation dafür ergeben hat. Eine sogenannte »therapeutische« Untersuchung anzuordnen in der Hoffnung, den Patienten mit einem normalen Resultat zu beruhigen, kann den gegenteiligen Effekt haben. … bei jeder Bildgebung Fantastische minutiöse bildgebende Verfahren stellen unser Innenleben detailgetreu bis in die kleinsten Strukturen dar. Das ist in manchen Situationen hilfreich. Als Kehrseite können auch außerhalb der untersuchten Stelle weitere, vielleicht extrem kleine Strukturen sichtbar werden, deren Bedeutung der beurteilende Untersucher nicht genau definieren kann. So kann sich ungewollt ein neues Feld von Unsicherheit eröffnen an einem Ort, der für Arzt und Patient bis dahin kein Thema war. … bei jeder Laboranalyse Hochempfindliche und -präzise laborchemische Analysen führen zu relevanten Erkenntnissen über manches Krankheitsgeschehen. Doch auch sie können neue Felder der Ungewissheit / Unsicherheit eröffnen. Die Methoden haben unterschiedliche Sensitivitäten und Spezifitäten (siehe 4.1 »Untersuchungen durchführen«, S. 115 ff.). Deswegen und auch wegen der Grenzwerte zwischen normal und pathologisch, die auf der Basis von wissenschaftlicher Untersuchung, Erfahrung und Konsens festgelegt werden, haben sie unscharfe Bereiche, die bei Arzt und Patient zu neuer Ungewissheit / Unsicherheit führen können.
Ungewissheit / Unsicherheit (uncertainty) sind die Norm im medizinischen Kontext
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… bei jeder Behandlung Ob die Wirkung einer Behandlung, die sich unter den Bedingungen der wissenschaftlichen Erforschung als signifikant erwies, auf ein bestimmtes Individuum zutrifft, das nicht zur untersuchten Gruppe der meist sehr selektiv ausgewählten Forschungs-»Subjekte« gehörte, ist unsicher und kann nicht vorausgesagt werden. Ob ein positives Behandlungsergebnis eine Wirkung der Behandlung ist oder durch einen Placeboeffekt (mit-)bedingt ist, kann nicht klar gesagt werden. Selbst wenn sich eine medizinische, statistisch signifikante Intervention, Untersuchung oder Therapie für eine Person wirksam erweist, ist es nicht sicher, ob das Resultat oder die Wirkung für den jeweiligen Patienten in seinem individuellen Lebenskontext auch relevant ist. … bei jeder Entscheidung über eine angemessene, situations- und personenbezogene Therapie Ungewissheit / Unsicherheit, begleitet von Verunsicherung / Angst, ist Teil des Symptoms / Problems, das den Patienten, die Patientin in die Konsultation geführt hat. Auf dieser unsicheren Grundlage tragfähige Entscheidungen zu fällen, ist für Arzt und Patient eine Herausforderung. Eine gute Beziehung und Vertrauen zwischen Arzt und Patient sind unverzichtbare Voraussetzung. Die ärztliche Kunst besteht darin, zusammen mit dem Patienten einen Weg zu einer letztlich ergebnisoffen bleibenden Lösung anzustreben, die den Patienten in seinem Lebenskontext darin unterstützt, seine persönlichen Lebensziele zu erreichen, und auch für den Arzt stimmig und befriedigend ist. Mit diesem Ziel vor Augen entscheiden sie sich für situations- und personenbezogen angemessene Möglichkeiten mit dem »richtigen« Maß zwischen unnötigem und gefährlichem Zuviel und Zuwenig. Bei sorgfältiger Vorgehensweise mit umfassender und verständlicher Information der Patientin / des Patienten, Erarbeiten einer gemeinsamen Entscheidung (shared decision making) sowie geklärten Verhältnissen und beidseitig einvernehmlichen Vereinbarungen muss der Arzt / die Ärztin bei einem unbefriedigenden Ergebnis kaum eine juristische Klage wegen Unterlassung, Fehlinterpretation oder gar eines Kunstfehlers (Malpractice) befürchten. Ob es hingegen künftig zu Klagen wegen Folgen aus unnötigen Untersuchungen und »Überarztung« kommen könnte?
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Uncertainty und Medizin im Grenznutzenbereich
… bei zu viel Medizin Ungewissheit / Unsicherheit, Verunsicherung / Angst sind wesentliche Quellen für das Einfordern und / oder Verordnen von zusätzlichen Untersuchungen und Behandlungen oder eine Hinzuziehung von weiteren Experten. Die allermeisten Resultate dürften zeigen, dass so verordnete Absicherungsmaßnahmen (defensive medicine) unnötig waren. Solche Vorgehensweisen führen in der Regel nicht zu mehr Sicherheit oder zum Schutz vor juristischen Anfeindungen. Gefährliche und kostentreibende Konsequenzen daraus sind jedoch Über-Abklärungen (overtesting), Überdiagnosen (overdiagnosis) und Übertherapie (overtreament). Die Ratlosigkeit von Ärztin / Arzt und Patient / -in dürfte dadurch nicht kleiner werden, sondern wird sich im Gegenteil noch verstärken. Und es könnte zu noch weiteren Untersuchungen und Behandlungen führen, schlimmstenfalls in orientierungslose, miteinander nicht abgestimmte, nicht koordinierte Handlungsweisen (gefährliche Polypragmasie) münden mit verschwenderisch hohen Kostenfolgen (wasted medicine) und zusätzlich das Risiko einer somatoformen Chronifizierung von ursprünglich »banalen« funktionellen Störungen steigern. … im Grenznutzenbereich Die Medizin macht ständig Fortschritte mit neuen Abklärungs- und Behandlungsmöglichkeiten. Diese finden sich immer häufiger im Grenznutzenbereich, wo mit immer größerem Aufwand nur wenig mehr Nutzen entsteht und das Risikopotenzial noch wenig bekannt ist. In Situationen von größter Ungewissheit / Unsicherheit, mit Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit, gerade auch im Angesicht des Todes bei unheilbaren Krankheiten, greifen Arzt / Ärztin und Patient / -in immer wieder zu solchen Innovationen. Der Nutzen für Lebensverlängerung und Lebensqualität ist meistens sehr bescheiden, die Nebenwirkungen sind manchmal groß, die Kosten in der Regel immens. Ein offenes Gespräch zwischen Arzt und Patient über die Grenzen der Medizin und darüber, wie der Patient den Weg hin zu seinem Tod gestalten möchte, sowie über die palliativen Möglichkeiten dürften für den Patienten mindestens ebenbürtig sein. Auch viele Untersuchungsmaßnahmen und präventive Screening-Aktivitäten zur Früherkennung von Karzinomen sind im Grenznutzenbereich einzustufen, wie neue Studien mehr und mehr zeigen.
Ungewissheit / Unsicherheit (uncertainty) sind die Norm im medizinischen Kontext
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… bei medizinisch unerklärbaren Symptomen (MUS) Eine große Herausforderung für den Arzt, Patienten und dessen Umfeld sind sehr häufig vorkommende medizinisch unerklärbare Symptome (medically unexplained symptoms, MUS36) infolge einer funktionellen Störung. Diese sind von Ungewissheit / Unsicherheit, Verunsicherung / Angst durchdrungen. Auf der Suche nach den Gründen des Leidens und einer Therapie können der Patient und sein Umfeld immer wieder neue Untersuchungen oder Wiederholungen bereits gemachter Untersuchungen fordern. Oder der verunsicherte Arzt schlägt diese vor. Ein unbedachtes Vorgehen, als Reaktion auf die beidseitige Hilflosigkeit, kann rasch zu einer unkontrollierbaren Untersuchungskaskade führen. Immer wieder negative Resultate frustrieren Arzt und Patient sowie dessen Umfeld. Es besteht die Gefahr, dass sich eine ursprüngliche harmlose Störung chronifiziert und zu einer somatoformen Störung führt. In einer solchen Situation von Ungewissheit / Unsicherheit ist ein systemisch-lösungsorientiertes Vorgehen37 hilfreich. Hier klärt der Arzt oder die Ärztin den Auftrag des Patienten oder der Patientin besonders umfassend. Sie betrachten die möglichen Interaktionen mit seinem Lebenskontext. Sie vereinbaren klare lösungsorientierte Abmachungen. Der Arzt lässt sich vor jeder Entscheidung über eine medizinisch-technische Maßnahme vom Patienten genau erklären, was dieser sich davon verspricht, welche Vorstellung er sich macht, welche Bedeutung er ihr gibt, welche Zusammenhänge er sieht und welche Erwartungen er hat. Und sie besprechen gemeinsam, wie sie ein negatives Resultat oder einen entdeckten Zufallsbefund einordnen wollen. In einem solchen Prozess wird nicht selten auch die Arzt-Patient-Beziehung stark gefordert. Eine konstruktive Klärung der Beziehungsebene und der therapeutischen Zusammenarbeit kann eine weitere Kooperation ermöglichen.
36 Guidance der Wonca Working Party on Mental Health: Adressing the needs of patients with medically unexplained symptoms; http://www.globalfamilydoctor.com/site/DefaultSite/filesystem/documents/Groups/Mental%20Health/MUS%2018.pdf 37 Siehe thematische Schwerpunkte 1: Grundlagen systemisch-lösungsorientierter Beratung, 4: Aktives Zuhören, 5: Kunst des Fragens, 9: Ambivalenz und seelischer Konflikt bei Entscheidungen.
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Uncertainty und Medizin im Grenznutzenbereich
Gemeinsam entscheiden und Vertrauen in der Ungewissheit / Unsicherheit Vertrauen in beide Richtungen zwischen Arzt und Patient ist eine der wichtigsten Voraussetzungen für den gemeinsamen sinnvollen, zielführenden und lösungsorientierten, situations- und personenbezogenen Umgang mit Ungewissheit / Unsicherheit und Verunsicherung / Angst (vgl. Fritz u. Holton, 2019). So kommen die unterschiedlichen Kompetenzfelder (siehe auch thematischer Schwerpunkt 6: Auftrag klären) von Patient und Arzt auf eine gleiche Ebene: das Wissen des Arztes über die medizinischen Zusammenhänge, Möglichkeiten und Notwendigkeiten und das Wissen des Patienten über sein Symptom / Pro blem, dessen Geschichte und Auswirkungen, den Verlauf seiner Situation sowie über sein Krankheitserleben. Forschungsresultate bestätigen, dass bei gutem Vertrauensverhältnis, insbesondere nach bereits früheren guten Erfahrungen, weniger unnötige medizinische Interventionen erfolgen.
Anforderungen an den Arzt zum maßvollen Verhalten in der Ungewissheit / Unsicherheit •• Solides Wissen über die wissenschaftlich evidenten medizinischen Erkenntnisse; •• kommunikative Fähigkeiten zum Klären der Bedürfnisse und Erwartungen des Patienten und zur angemessenen Information über die medizinisch-technischen Möglichkeiten, ihre Stärken und Schwächen, Nutzen und Schadensmöglichkeiten sowie die Grenzen der Medizin; •• Aktives Zuhören; •• Stellen der richtigen Fragen; •• Respektieren und Benennen auch der eigenen Ungewissheit / Unsicherheit; •• mit Ambivalenz konstruktiv umgehen können; •• Fähigkeit, mit dem Patienten unerwünschte Ergebnisse oder Fehler offen zu besprechen; •• Beziehungsarbeit zum Aufbau und Erhalt von Vertrauen; •• Erarbeiten und Aufrechterhalten eines klaren Auftrags und klarer Spiel regeln der Zusammenarbeit; •• Reflektieren des Geschehens und Selbstreflexion. Bemühungen um das richtige Maß von medizinischen Anwendungen werden heute auf nationaler und internationaler Ebene unternommen (zum Beispiel
Drei Beispiele zu Entscheidungen in der Ungewissheit / Unsicherheit
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»Choosing Wisely« in der Schweiz durch den Trägerverein »Smarter Medicine«, zu dem unter anderem auch die Schweizerische Gesellschaft für Allgemeine Innere Medizin gehört; im Rahmen von WONCA38 die Special Interest Group »Quaternary Prevention & Overmedicalization«39).
Drei Beispiele zu Entscheidungen in der Ungewissheit / Unsicherheit Eine 91-jährige, gesundheitlich fragile, noch recht selbstständige, geistig ordentlich fitte und am Familienleben regen Anteil nehmende Patientin (Nie-Raucherin) erleidet, ohne vorbekannte Zeichen einer Herzkrankheit, einen akuten Herzinfarkt mit lebensbedrohlichen Rhythmusstörungen. Die Patientin ist ansprechbar und urteilsfähig. Eine Patientenverfügung liegt vor. Doch sie will ihre vier Kinder, von denen ein Sohn Arzt ist und eine Tochter mit einem Arzt verheiratet ist, mit dem Kardiologen entscheiden lassen, was getan werden soll. Für die Entscheidung bleiben wenige Minuten. Die Koronarographie wird durchgeführt. Alle Koronararterien sind verschlossen, eine kann geöffnet werden. Mehrere intrakardiale Defibrillationen sind während des Eingriffs nötig. Die Patientin erholt sich und lebt nach mehr als zwei Jahren immer noch, ohne Herzbeschwerden, zufrieden im Altersheim … Im Rahmen einer Abklärung wegen unbestimmter dyspeptischer Beschwerden kreuzt der Arzt bei der Verordnung von Laboranalysen routinemäßig, ohne vorausgehende detaillierte Reflexion und Besprechung mit dem Patienten, auch die Leberwerte an. Die Transaminasen sind unerwartet leicht erhöht. Arzt und Patient sind über den Zufallsbefund überrascht. Sie entscheiden sich für ein beobachtendes Zuwarten. In einer ähnlichen klinischen Situation verordnet der Arzt, nach einvernehmlicher Besprechung mit dem Patienten, keine Leberanalysen. Nach einigen Monaten stellt sich heraus, dass der Patient an einem Leberkarzinom erkrankt ist … Als Ursache für die Rückenschmerzen im Bereich des linken Schulterblatts zeigt sich überraschend ein kleines Pankreaskarzinom. Dieser Tumor weist auch bei Diagnose in einem frühen Tumorstadium und bei Frühbehandlungen mit Operation und Chemotherapie statistisch eine sehr schlechte Prognose auf. Heilungen liegen im Promillebereich. Arzt und Patient bleibt wenig Zeit für die sorgfäl38 World Organization of Family Doctors – Caring for People (Welthausärzteverband); www. globalfamilydoctor.com. 39 Quartäre Prävention bedeutet: Prävention vor unnötiger Prävention, unnötigen Untersuchungen und Therapien.
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Uncertainty und Medizin im Grenznutzenbereich
tige Entscheidung zwischen dem vollen medizinisch-technischen Programm mit seinen körperlichen Beeinträchtigungen und einem Verzicht auf diese Therapie zugunsten einer optimalen Nutzung der verbleibenden Monate für die persönliche Gestaltung des Lebens auf dem Weg zum Tod, mit psychosozialer und palliativer Unterstützung, soweit dies erforderlich ist …
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Fehlerkultur
Überall, wo gearbeitet wird, können sich unerwartet ungünstige Entwicklungen und Resultate einstellen und Fehler entstehen. Auch Berufe, die sich mit Menschen und ihren Problemen befassen, sind trotz höchster Sorgfalt anfällig für unerwartet ungünstige Entwicklungen und Fehler. Dabei gilt der Arbeit in einem medizinischen Kontext ein ganz besonderes Augenmerk: Hier sind die Probleme oft sehr komplex; sie sind existenziell und betreffen verschiedene bio-psycho-soziale Ebenen; Ungewissheit / Unsicherheit und Ambivalenz sind bei allen Maßnahmen die Regel. Oft sind die Resultate nicht umkehrbar und nicht korrigierbar. Zudem sind meist mehrere Fachkräfte aus verschiedenen Bereichen involviert. Und zu alledem müssen Entscheidungen vielfach unter Zeitdruck und in einem druckauslösenden Kontext erfolgen.
Schnittstellen im medizinischen Kontext mit erhöhtem Fehlerrisiko Fehler ereignen sich – gutes Fachwissen der Beteiligten, einwandfreies technisches Instrumentarium, klar festgelegte Prozesse sowie korrekte und sorgfältige Handlungsweisen vorausgesetzt – besonders an Schnittstellen aufgrund nicht oder ungenügend geklärter Zusammenarbeit. In komplexen Zusammenarbeitssituationen steigt die Zahl der Schnittstellen mit zunehmender Zahl von Zusammenarbeitenden und damit das Risiko für Fehler. Entsprechend erfordern Schnittstellen eine besonders hohe Aufmerksamkeit und ein besonders sorgfältiges Vorgehen. Die hoch entwickelte Medizin mit ihren vielen Spezialfächern bewirkt, dass ein Patient in der Regel parallel oder sequenziell von mehreren Ärzten verschiedener Fachdisziplinen behandelt wird. Dazu kommen interprofessionelle Mitarbeitende aus vielen weiteren medizinischen Bereichen wie Pflegefachpersonen im Spital und im ambulanten Bereich / Spitex, Advanced Nurse Practitioners,
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Fehlerkultur
Physiotherapeutinnen, Ernährungstherapeuten, Wundspezialisten, Apothekerinnen, Chiropraktiker, Medizinische Praxisassistentinnen, Medizinisch-Technische Assistenten, Sekretärinnen, Operationsassistenten, Reinigungspersonal, Sterilisationspersonal etc. Je nach medizinischem, psychologischem und / oder sozialem Bedarf des zu betreuenden Patienten setzt sich das Helfersystem aus einer Kombination von Fachpersonen unterschiedlicher Berufe zusammen. Je nach gesundheitlichem Schwerpunkt, der sich im Lauf der Zeit verschieben kann, können sich die Zusammensetzung der Fachpersonen und die Person mit der koordinierenden Aufgabe ändern. Die Koordinationsfunktion ist im engeren medizinischen Kontext in der Regel leider nicht definiert. Beim Übergang vom stationären in den ambulanten Bereich und umgekehrt ergibt sich in der Regel eine besonders sensible Schnittstelle infolge der Übergabe zu neuen Betreuenden. Dies bedeutet für den Patienten einen Wechsel zu bisher unbekannten Personen, zu denen er noch keine Beziehung hat und die mit seiner Situation noch nicht vertraut sind. Eine klare Übergabe der verschiedenen Verantwortlichkeiten und der Koordinationsaufgabe ist hier unentbehrlich. Empfindliche Schnittstellen im medizinischen Kontext finden sich zudem bei der Überweisung und Rücküberweisung zwischen einem Hausarzt und einem ärztlichen Spezialisten, bei Weiterweisung zwischen verschiedenen Spezialisten, bei gleichzeitiger Behandlung durch einen Komplementärmediziner, bei Überweisung zu einer Psychiaterin, einem Psychotherapeuten sowie an nichtärztliche Therapeutinnen verschiedenster Fachrichtungen. Vorwiegend im ambulanten Bereich können sich zusätzlich Schnittstellen ergeben aufgrund der Zusammenarbeit mit nichtmedizinischen Fachpersonen und Institutionen: Sozialdienste, Psychologen / Psychologinnen, Verantwortliche der Behörde für Kindes- und Erwachsenenschutz, Lehrer und Schulbehörde, Polizei … Nicht zu vergessen ist die Schnittstellenfunktion, die mit dem Erstellen eines ärztlichen Attests einhergehen kann, welches bei unsorgfältiger Bearbeitung betreffend Inhalt und Adressaten unvorhersehbare Folgen für den Patienten haben kann. Weitere Schnittstellen entstehen durch Jobsharing im Rahmen von Teilzeitstellen. Ein qualitativ hochstehendes Schnittstellenmanagement in einem so komplexen Netz von Mitarbeitenden ist eine große Herausforderung. Bei bester Organisation gibt es viele Quellen für ungünstige Entwicklungen, kritische Ergebnisse und Fehler in allen Bereichen und auf allen Ebenen. Dies vor allem dann, wenn ungenügend geklärt ist, wer welches Problemverständnis und Lösungs-
Fehlerpräventive Voraussetzungen an Schnittstellen im medizinischen Kontext …
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konzept hat, wer für was verantwortlich ist, wer koordiniert und für Austausch und Klärung untereinander sorgt, und wenn unter Zeitdruck gearbeitet und entschieden werden muss.
Fehlerpräventive Voraussetzungen an Schnittstellen im medizinischen Kontext … Die Prävention von Fehlern und ein reibungsloses Funktionieren an den Schnittstellen erfordert in komplexen Situationen von allen Fachpersonen mit Betreuungsaufgaben von Patienten und Patientinnen einige Voraussetzungen: Bewusstsein über das Wesen und die Bedeutung sowie die Fehleranfälligkeit von Schnittstellen, Wissen über ihre Funktionsweisen, Verständnis ihrer Mechanismen zwischen den verschiedenen interagierenden Strukturen und Ebenen, kritische Wahrnehmungsfähigkeit für das Funktionieren an den Schnittstellen, Erkennen seiner eigenen Rolle und konstruktives Mitwirken im System, Verantwortungsbewusstsein, Einsatzbereitschaft, Erkennen und Kommunizieren seiner persönlichen und fachlichen Grenzen. … auf persönlicher Ebene Die individuelle Persönlichkeit ist, neben einwandfreier Fachkenntnis, bedeutend für eine qualitativ hochstehende Erledigung der zugeteilten Aufgabe und für eine kooperative Integration in ein Team. Zum sicheren und fehlerarmen Arbeiten sind zudem verschiedene persönliche Voraussetzungen und Fähigkeiten erforderlich: gute Kenntnisse der entsprechenden Materie und Prozesse, Interesse, geeignete geistige und manuelle Fähigkeiten, Genauigkeit, Blick auf das Ganze, selbstkritisches Erkennen und Respektieren der eigenen Grenzen, Anpassungsfähigkeit bei Unvorhergesehenem, Improvisationsfähigkeit, Erkenntnisfähigkeit bei unerwartet abweichenden Entwicklungen, Aufmerksamkeit, Genauigkeit, Zuverlässigkeit, Teamfähigkeit, Kommunikationsfähigkeit, verständliche sprachliche Ausdrucks- und gute Verständnisfähigkeit. … auf interaktiver Ebene Vorsorgliche Maßnahmen gegen mögliche Fehlerquellen finden sich vorwiegend im Rahmen des Informationsaustausches unter den Mitarbeitenden über die Schnittstellen hinweg: gemeinsames Verständnis für den Ablauf sowie das situations- und personenbezogene Ziel des Behandlungsprozesses, nötige Infor-
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Fehlerkultur
mationen für jeden Mitarbeitenden im Rahmen seines Teilprozesses, zeitgerechtes und zuverlässiges Funktionieren der Kommunikationskanäle betreffend Information und Rückmeldungen über die Schnittstellen hinweg, respektvolle und anerkennende Beziehung unter den Mitarbeitenden, klare und nachvollziehbare Anweisungen anlässlich von Übergaben an der Schnittstelle zwischen zwei behandelnden Instanzen, sofortige Meldung an alle beteiligten Instanzen beim Entdecken eines Fehlers, Protokollierung der Aktionen und Interaktionen.
Fehlerkultur Ein unerwartet ungünstiges Ergebnis oder ein Fehler entsteht in der Regel nicht wegen einer einzelnen Ursache. Vielmehr entstehen sie als Folge einer Reihe von verschiedenen, aufsummierten, für sich selbst vielleicht unbedeutenden Ereignissen im Rahmen eines meistens mehrschrittigen Prozesses, wie zum Beispiel beim Nichtbeachten einer Vorschrift, Übersehen eines Warnsignals, Fehlinterpretation einer vorübergehenden Reaktion, Kommunikationsstörung an den Schnittstellen, Zeitdruck etc. Eine gute Fehlerkultur hilft Fehler zu vermeiden. Dies bedeutet, dass bei unerwartet ungünstigen Entwicklungen und Ergebnissen sowie bei Fehlern der gesamte Prozess auf mögliche Fehlerquellen analysiert wird; dass die entdeckten Stellen mit erhöhtem Fehlerrisiko, oft sind es Schnittstellen, danach neu organisiert werden. Die Suche nach einem Schuldigen / Sündenbock steht für eine schlechte Fehlerkultur. Sie ist, abgesehen von ganz offensichtlichen Fällen wie Fahrlässigkeit oder nicht kommunizierte Inkompetenz, in aller Regel nicht angebracht. Sie erhöht zudem das Risiko für weitere Fehler, da Mitarbeitende ihre eigenen Fehler, die ihnen unterlaufen sind oder die sie bemerkt haben, aus Angst vor Konsequenzen vielleicht nicht oder zu spät melden.
Möglichkeiten zur Fehlerprävention Team-Timeout Im chirurgischen Bereich bewährt sich als Prävention von unerwartet ungünstigen Entwicklungen oder Fehlern ein Innehalten aller Mitwirkenden unmittelbar vor dem Eingriff. Es ist der letzte Check einer ganzen Reihe von Kontrollstellen. Die Mitwirkenden stellen sich ohne Gesichtsmaske vor und besprechen
Möglichkeiten zur Fehlerprävention
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kurz den geplanten Eingriff. Der Patient / die Patientin wird identifiziert. Der Eingriffsort an seinem Körper wird bestätigt. Der Eingriff mit seinen Besonderheiten wird besprochen. CIRS – Critical Incident Reporting System Unerwartet kritische Ereignisse und Fehler treffen uns tief. Sie beeindrucken uns und können uns nachhaltig belasten. Auch wegen dieser emotionalen Betroffenheit beinhalten sie einen hohen Lehr- und Lerneffekt sowie eine beachtliche Lernmotivation. CIRS, ein anonymes Internet-basiertes Meldesystem, ermöglicht allen Mitarbeitenden mit einem Zugangsschlüssel, unerwartet kritische Ereignisse, Fehler und / oder Beinahe-Fehler ohne rechtliches Risiko unter sich zu teilen, zu analysieren und zu diskutieren. So können Fachpersonen und Teams nicht nur aus ihren eigenen unerwartet kritischen Ergebnissen und Fehlern lernen, sondern auch aus problematischen Begebenheiten, an denen sie nicht persönlich beteiligt waren. So sollen sich gleichartige unerwartet kritische Ergebnisse und Fehler am Ereignisort nicht wiederholen. Andernorts soll ihnen vorgebeugt werden können. Zudem können sich aus der kritischen Reflexion sicherheits- und qualitätsrelevante Verbesserungen ergeben. Klären der Zusammenarbeit und Aufbau eines koordiniert zusammenarbeitenden Helfersystems Damit in einer komplexen Betreuungssituation ein interdisziplinäres Helfersystem zuverlässig, reibungslos und so fehlerfrei wie möglich zugunsten der betreuten Person oder des betreuten Systems funktionieren kann, müssen unter den Helfern und Helferinnen, allenfalls in einer Helferkonferenz, folgende Punkte geklärt, verbindlich und verantwortlich festgelegt, protokolliert und immer wieder überprüft werden: •• Felddefinition: Wer gehört in dieser Situation für diese Fragestellung dazu und wer nicht? •• Kooperation: Wer kann und ist bereit zu kooperieren? •• Rollenklärung: Wer von den Anwesenden hat welche Verantwortlichkeiten, welchen Einfluss, welche Macht? •• Klarheit und Abstimmung von: Problemverständnis (Wirklichkeitskon struktionen), Lösungsvorstellungen (Möglichkeitskonstruktionen), Ressourcen der Beteiligten.
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Fehlerkultur
•• Lösungsansätze und weiteres Vorgehen: Nächste Schritte planen und Aufgaben definieren. Wer macht was, bis wann? Schriftlich festhalten. •• Kommunikation: Wer spricht mit wem, wo, wann und über welchen Inhalt? •• Systemsteuerung: Wer koordiniert und steuert das Helfersystem? Wer interveniert bei neuen, unvorhergesehenen Entwicklungen? •• Prozessüberprüfung: Wie, wo und wann wird der Therapieprozess reflektiert und allenfalls angepasst oder abgeschlossen? Dieses klare Vorgehen wirkt zum einen fehlerpräventiv. Zum anderen kann die Betreuungssituation bei unerwartet ungünstiger Entwicklung oder Fehlern leichter wieder ins Lot gebracht werden.
Zunahme komplexer Betreuungen Komplexe Helfersysteme nehmen im medizinischen Kontext stetig zu. Im stationären Rahmen funktioniert die dafür nötige Koordination leichter, da die Beteiligten vor Ort sind und sich eher absprechen können als im ambulanten Rahmen. Oft fehlt hier die nötige Koordinationsfunktion für das breit gestreute Helfersystem, sei es aus Zeitmangel oder wegen fehlender Finanzierung. Im Interesse einer qualitativ hochstehenden und wirtschaftlich effizienten medizinischen Versorgung besteht Handlungsbedarf.
Bedeutung von unerwarteten Ergebnissen und Fehlern Fachpersonen, die einzeln oder in Teams mit Menschen in einem medizinischen Kontext arbeiten, müssen damit rechnen, dass sich eines Tages, auch bei größter Sorgfalt, ein unerwartet kritisches Ergebnis einstellt, dass sie selbst einen Fehler machen oder in einen Fehler mit involviert sein können. Wenn, bei aller Verantwortlichkeit und Sorgfalt, eines Tages sich eine unerwartet ungünstige Entwicklung mit einem kritischen Ergebnis einstellt oder ein Fehler passiert, vor allem wenn er unwiderrufliche Folgen hat, bedeutet dies eine Katastrophe auf Seiten des Patienten / der Patientin. Aber auch auf Seiten des Arztes, der Ärztin oder des Behandlungsteams wird es eine Krise auslösen. Diese führt beim Arzt zu belastenden Schuldgefühlen und verunsichert ihn. Als traumatischer Stressor nimmt eine solche Situation Einfluss auf sein psychisches Gleichgewicht und ebenso auf sein Arbeiten. Dies umso mehr, wenn sich daraus juristische Prozesse ankünden. Ganz besonders betrifft das seinen
Debriefing – Verarbeitung von unerwarteten Ergebnissen und Fehlern
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Umgang mit Ungewissheit / Unsicherheit und Ambivalenz. Die Folgen sind oft psychosomatische Reaktionen oder Formen von inadäquaten Absicherungsverhaltensweisen, die sich, unbehandelt, chronifizieren können. Wie erwähnt wird dadurch oft auch in Behandlungsteams eine Krise ausgelöst, die belastende Spuren hinterlassen kann. Das gegenseitige Vertrauen und das tragende Gefühl, sich aufeinander verlassen zu können, können leiden. Es kann Misstrauen untereinander aufkommen und es können sich Sündenbockmechanismen aufbauen. Jedes Teammitglied hat das Ereignis unterschiedlich nah miterlebt und wird daher unterschiedlich betroffen sein.
Betreuung des betroffenen Patienten Der Arzt, der mit der schwierigen Situation verknüpft ist, oder ein dafür bestimmter Sprecher des Teams bekundet dem Patienten sein bzw. deren Mitbetroffensein und spricht mit ihm und allenfalls mit seiner Familie offen und eingehend über alle Begebenheiten rund um das unerwartete kritische Ergebnis oder den Fehler. Er unterstützt den Patienten dahingehend, dass dieser zeitgerecht geeignete medizinische und, falls nötig, weitere Unterstützung erhält. Er klärt mit ihm, wohin er sich dafür wenden kann. Er hat volles Verständnis dafür, wenn der Patient die Behandlung anderswo fortsetzen will. Zudem weist er ihn darauf hin, dass er sich versicherungsrechtlich oder juristisch beraten lassen kann.
Debriefing – Verarbeitung von unerwarteten Ergebnissen und Fehlern Unerwartet ungünstige Entwicklungen mit einem kritischen Ergebnis und Fehlervorkommnisse erfordern in jedem Fall ein Debriefing, damit sie nicht eine nachhaltig destruktive, blockierende Wirkung entfalten. Unterstützend dazu gibt es bewährte Debriefing-Konzepte und erfahrene Fachleute. Der Grundstein für eine Verarbeitung solcher Situationen wird bereits lange vor dem Ereignis gelegt: Ein respektvoller, nicht wertender und angstfreier zwischenmenschlicher Umgang im ganz normalen Berufsalltag ist eine wichtige Voraussetzung für gutes, erfolgreiches und fehlerarmes Zusammenarbeiten im Team und für einen guten Umgang mit unerwarteten Ereignissen und Fehlern. Die Vorgehensweise beim Auf- und Verarbeiten belastender Ereignisse wird im Vorhinein festgelegt, zum Beispiel dass man mit dem Patienten / der Patientin
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Fehlerkultur
offen über den Fehler sprechen und die eigene Bertoffenheit bekunden wird. Und auch, dass man sich zeitnah aktiv mit den Begebenheiten rund um das Ereignis und seinen Folgen bei den Behandelnden und dem Team als Ganzem auseinandersetzen will. Für einen einzelnen Arzt, eine Ärztin kann Debriefing ein Gespräch mit einer Person des Vertrauens bedeuten oder ein Erfahrungsaustausch mit einer von gegenseitigem Vertrauen geprägten Gruppe von Berufskollegen, Peers mit gleichem Erfahrungshintergrund, etwa in einem Qualitätszirkel, einer Intervision oder Supervision in einer Gruppe oder individuell. Für ein Team kann das Debriefing in eigens einberufenen Sitzungen zur gemeinsamen kritisch-reflektierenden Zusammenschau der Geschehnisse rund um das Fehlerereignis stattfinden. Professionelle Hilfe zu beanspruchen ist sowohl für den einzelnen Arzt / die einzelne Ärztin als auch für ein Team bei besonders anspruchsvollen Situationen angebracht.
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Therapiemöglichkeiten besprechen40
Das Besprechen von Therapiemöglichkeiten führt Arzt / Ärztin und Patient / -in auf eine gemeinsame Entscheidung hin (shared decision making), mit welcher Therapie / Intervention sie das Symptom / Problem mit Blick auf die Gesamt situation und das Ziel des Patienten bzw. der Patientin behandeln wollen. Zu einer gemeinsamen Entscheidung für die bestgeeignete Therapiemöglichkeit gelangen sie, indem der Arzt dem Patienten aktiv zuhört, ihm die richtigen Fragen stellt und selbst konstruktiv mit der inhärenten Ungewissheit / Unsicherheit und Ambivalenz umzugehen weiß. Ein sorgfältiges Erarbeiten der Entscheidung ist Voraussetzung dafür, dass der Patient die nötigen Zusammenhänge versteht und bei der vereinbarten Therapie verlässlich (adherence / compliance) mitwirkt. Für den Erfolg von oft komplexen Therapien von chronischen Krankheiten ist es relevant, dass Arzt und Patient gemeinsam unterwegs sind, jeder im Rahmen seines je eigenen Kompetenzfeldes und seiner damit verbundenen Verantwortlichkeit.
Wissenschaftliche, evidenzbasierte Medizin (EbM) und Guidelines Es ist das Ziel der Medizin, die hilfesuchenden Patienten mit den bestmöglichen verfügbaren Methoden zu untersuchen und zu behandeln. Diese müssen wissenschaftlich fundiert sein und eine Wirkung von hoher Qualität gewährleisten. Sie müssen zweckmäßig und sicher anwendbar sein und dürfen dem Patienten, der Patientin keinen Schaden zufügen. Und letztlich müssen sie bezahlbar sein.41 Weitere Aspekte auf Ebene des Gesundheitswesens sind, dass diese erprobten 40 Siehe auch thematischer Schwerpunkt 10: Uncertainty und Medizin im Grenznutzenbereich. 41 Schweizerisches Bundesgesetz über die Krankenversicherung KVG Art. 32: »Die Leistungen […] müssen wirksam, zweckmässig und wirtschaftlich sein. Die Wirksamkeit muss nach wissenschaftlichen Methoden nachgewiesen sein.«
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Therapiemöglichkeiten besprechen
Möglichkeiten allen Menschen verfügbar (availability) sein sollen und dass allen der Zugang zur medizinischen Versorgung gewährleistet (accessibility) sein soll. Guidelines, die aufgrund von Resultaten wissenschaftlicher Untersuchungen erstellt werden, wollen diese Ziele unterstützen. Diese nehmen Bezug auf alle Maßnahmen im Rahmen von Abklärungen, therapeutischen Interventionen und präventiven Untersuchungen. Die höchste wissenschaftlich basierte medizinische Evidenz von Untersuchungen und Behandlungen beruht auf Resultaten aus randomisierter klinischer Forschung. Auf diesem Boden werden Guidelines und Algorithmen für konkrete Abklärungs- und Behandlungsschritte erstellt. Die wissenschaftliche Evidenz ist umso höher, je konsistenter Resultate in verschiedenen Studien bestätigt wurden. Konsensuspapiere und Expertenmeinungen haben eine niedrigere Evidenz. Cochrane Deutschland42 definiert die evidenzbasierte Medizin wie folgt: »EbM ist der gewissenhafte, ausdrückliche und vernünftige Gebrauch der gegenwärtig besten externen, wissenschaftlichen Evidenz für Entscheidungen in der medizinischen Versorgung individueller Patienten. Die Praxis der EbM bedeutet die Integration individueller klinischer Expertise mit der bestverfügbaren externen Evidenz aus systematischer Forschung.« Es ist wichtig, dass der Arzt die wissenschaftliche Evidenz von Abklärungsund Therapiepfaden sowie für sein Fach verfügbare Guidelines kennt und den Patienten, die Patientin verständlich darüber informieren kann. Genauso entscheidungsrelevant sind beim Arzt sein aktualisierter Wissensstand und seine beruflichen spezifischen Interessen, seine persönliche Erfahrung und Vertrautheit mit unterschiedlichen Behandlungsmethoden, seine kritische Selbsteinschätzung, seine Kenntnis des Patienten mit dessen Vorgeschichte, Lebenskontext und begleitenden Krankheiten etc. Beim Patienten sind mitentscheidend seine Erwartungen, Ziele, Werte, Präferenzen und Vorerfahrungen mit Behandlungsanwendungen etc.
Konstruktiver Umgang mit Entscheidungen im Praxisalltag Auch eine Therapie von höchster Evidenz kann ihre Wirkung nur dann entfalten, wenn beim Patienten, bei der Patientin die Krankheit, für die sie erforscht wurde, genau und gesichert vorliegt und nicht durch allenfalls weitere gesundheitliche Gegebenheiten modifiziert wird. Bekanntlich sind solche Situationen im klinischen Alltag selten. 42 http://www.cochrane.de/de/ebm
Konstruktiver Umgang mit Entscheidungen im Praxisalltag
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In fast allen Situationen müssen / können die Ärztin / der Arzt und der Patient / die Patientin ihr Vorgehen aus mehreren, teils sehr unterschiedlichen medizinisch anerkannten Behandlungsmöglichkeiten wählen. Obwohl diese in aller Regel wissenschaftlich erprobt und oft in evidenzbasierten Algorithmen oder Guidelines festgehalten sind, bleiben sie von Ungewissheit / Unsicherheit durchwirkt. Viele Entscheidungen müssen Arzt und Patient im Spannungsfeld zwischen bekannten und über viele Jahre bewährten Therapiemöglichkeiten und neuen Methoden treffen, die eine bessere Wirkung versprechen, deren Langzeit-Nebenwirkungen jedoch noch nicht bekannt sind. Im Lauf der letzten Jahrzehnte mussten wiederholt Therapiemethoden, in die große Hoffnung gesetzt wurde, zurückgezogen werden, weil sich herausgestellt hatte, dass sie teils lebensgefährliche oder tödliche Nebenwirkungen ausgelöst haben. Bei jeder Entscheidung gilt es auch gemeinsam zu reflektieren, ob neben »so« oder »anders« Handeln, »von Beidem oder Mehrerem etwas Tun« nicht auch »Nicht-Tun« eine Möglichkeit ist (Tetralemma; Simon, 2012, S. 21). Nicht-Tun bedeutet nicht Nichts-Tun. Gemeinsam entschiedenes beobachtendes Zuwarten (watchful waiting) und somit dem natürlichen Heilungsverlauf Zeit geben, wo dies sinnvoll scheint und verantwortbar ist, ist eine spezifische und anerkannte Art des Tuns. Viele gesundheitliche Störungen haben ein hohes Selbstheilungspotenzial: »Ich schicke Sie mit Ihrem Symptom / Problem zum Spezialisten, Dr. ›Zeit‹.« Bei den häufigen chronischen, nicht heilbaren, oft beschwerdereichen Symptomen beispielsweise im Rahmen von degenerativen Veränderungen der älteren, oft polymorbiden Bevölkerung ist es sinnvoll, dass Arzt / Ärztin und Patient / -in frühzeitig lindernde palliative Möglichkeiten in den Therapieentscheidungsprozess mit einbeziehen – und sich nicht vorwiegend mit meistens wenig aussichtsreichen kurativen Maßnahmen befassen. Arzt und Patient sprechen über die möglichen Verlaufsformen dieser Krankheit. Sie klären, was diese Situation für den Patienten und sein Umfeld bedeutet; was der Patient selbst zu einem günstigen Verlauf und zu einem befriedigenden Leben mit der Krankheit beitragen kann; welche palliativen, nichtkurativen medikamentösen Linderungsmaßnahmen und nichtmedikamentösen Unterstützungen möglich sind. Wenn sich bei einem unheilbaren Leiden abzeichnet, dass die bisherigen therapeutischen Bemühungen ans Ende ihrer Möglichkeiten gelangen, bespricht dies der Arzt, die Ärztin offen mit dem Patienten, der Patientin. Diese schwere Nachricht überbringt er bzw. sie sorgsam und empathisch. Er oder sie gibt einem solchen Gespräch den dafür nötigen Raum und genügend Zeit. Der Arzt
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Therapiemöglichkeiten besprechen
vermittelt dem Patienten, welche palliativen Behandlungs- und Betreuungswege weiterhin möglich sind. Er bespricht diese mit dem Patienten und seinen Angehörigen und hilft ihnen, diese komplexe multiprofessionelle Betreuungssituation aufzubauen. Und er klärt, welche Rolle er selbst im weiteren Verlauf einnehmen soll und kann. Mit der gemeinsam bestimmten Therapie verfolgen Arzt und Patient gleichzeitig mehrere zusammenwirkende und sich ergänzende Ziele: Zuerst erwarten sie eine heilende oder lindernde Wirkung in Bezug auf das Symptom / Problem. Mithilfe der Wirksamkeit, Nicht-Wirksamkeit oder unterschiedlichen Wirkungsgraden der Therapie erhalten sie ein Feedback zur Richtigkeit der »Beurteilung«, die am Ausgangspunkt für die gewählte Behandlung oder Behandlungsstrategie stand. Bei einem guten Verlauf mit befriedigender Wirkung oder Heilung des Symptoms / Problems sehen sie ihre Beurteilung und die Therapiewahl »bestätigt«. Dabei sind sie sich bewusst, dass auch selbstheilende Anteile und / oder Placebo-Effekte für den guten Verlauf mitverantwortlich sein können. Bei negativem Verlauf betreffend das Symptom / Problem mit fehlender Verbesserung oder mit Verschlimmerung hinterfragen sie die Richtigkeit der Beurteilung und / oder der Therapie. Dabei sind sie sich bewusst, dass sich das Symptom / Problem weiterentwickelt und verschlechtert haben kann, dass unerwünschte Wirkungen, Nebenwirkungen, hemmende Interaktionen oder Nocebo-Effekte eine Rolle für den ungünstigen Verlauf spielen können. Die Zuverlässigkeit des Patienten hinsichtlich der vereinbarten Kooperation (compliance / adherence) spielt eine nicht zu vernachlässigende Rolle. Diese Möglichkeit bespricht der Arzt mit dem Patienten mit entsprechendem Feingefühl. Bei Malcompliance können sie gemeinsam die Beweggründe ermitteln, die zu diesem ablehnenden Verhalten führen. Manchmal haben sich Ärztin / Arzt und Patient / -in bei der Besprechung der Therapiemöglichkeiten ungenügend verstanden. Oder es war Vergesslichkeit – vielleicht als ein erstes Anzeichen für eine beginnende demenzielle Entwicklung.
Therapieentscheidungen finden immer in einem Feld von Ungewissheit / Unsicherheit statt … Bei ihrem Entscheidungsfindungsprozess müssen sich Arzt und Patient mit Ungewissheit / Unsicherheit auf verschiedenen Ebenen offen auseinandersetzen, denn je vielfältiger diese ist, desto stärker werden sich die Ambivalenzen zeigen, die eine konstruktive Entscheidung erschweren.
Therapieentscheidungen
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Je klarer die »Beurteilung« des Symptoms / Problems und die kontextuelle Situation des Patienten sind, desto enger und detaillierter kann eine Therapie formuliert werden, desto klarer können sich Arzt / Ärztin und Patient / -in an die Empfehlungen von EbM und Guidelines halten. In der Regel gibt es in einer solchen Situation eine allgemein akzeptierte erste Therapiewahl. Therapie varianten oder Alternativen sind zu bedenken entsprechend individuellen Gegebenheiten und Unverträglichkeiten des Patienten, zum Beispiel bei Komorbiditäten, Gefahr von Interaktionen mit anderen, gleichzeitig nötigen Therapien und / oder Präferenzen des Arztes und des Patienten. Der Therapieerfolg kann ordentlich gut abgeschätzt werden. Umgekehrt, je »unklarer« / hypothetischer die »Beurteilung« eines Symptoms / Problems ist, je mehr unterschiedliche Symptome / Probleme gleichzeitig vorliegen, je älter und fragiler der kranke Mensch ist, je vermischter körperliche und psychosoziale Symptome / Probleme sind, generell gesagt: je mehr weitere Komponenten hineinspielen, desto unsicherer wird die Wahl einer Therapie und desto mannigfaltiger sind die Möglichkeiten. Entsprechend weniger griffig kann die Therapie nach einer diagnosespezifischen Evidenz gewählt werden. Entsprechend unsicher lässt sich der Therapieerfolg abschätzen. In unklaren Situationen, bei denen wegen der Intensität des Symptoms / Problems ein dringlicher medizinischer Handlungsbedarf besteht und eine Therapieentscheidung auch ohne klare »Beurteilung« getroffen werden muss, kann die Wirkung der therapeutischen Maßnahme rückwirkend einen Hinweis auf die Art des Symptoms / Problems geben – im Sinne eines zirkulären interagierenden Rückkoppelungssystems zwischen dem unklaren Anfangssymptom / Problem → provisorische »Beurteilung« → Therapie → Wirkung im Sinne einer Veränderung des Symptoms / Problem → neue oder angepasste »Beurteilung« → Fortsetzen oder Modifikation der Therapie … … betreffend Therapiemethode Ob und wie gut sich eine zur Auswahl stehende, grundsätzlich geeignete Therapiemethode beim individuellen Patienten als wirksam erweist, ist ungewiss und nicht vorhersehbar; dies aus verschiedenen Gründen. Die Wirksamkeit einer bestimmten therapeutischen Maßnahme auf ein Symptom / Problem wird an einer streng selektionierten Gruppe von Probanden mit möglichst identischen Voraussetzungen erforscht. Bereits da zeigt sich eine statistische Varianz der Ergebnisse. Bei realen Patienten werden gleichartige Symptome / Probleme durch eine Vielzahl von persönlichen und kontextuellen Gegebenheiten unterschiedlich. Dies ergibt ungleiche individuelle
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Ausgangslagen mit variierender Wirkung auf den Behandlungserfolg. Zudem reagiert der Metabolismus jedes Menschen aus genetischen und epigenetischen Gründen unterschiedlich auf einen bestimmten medikamentösen und nichtmedikamentösen Einfluss. Die Intensität der Anteile an Placebo- und Nocebo- Wirkungen jeder Form von Therapie, seien es Medikamente oder Interventionen, ist sehr individuell. Sie hängt vom Patienten und dessen Erwartungen ab, ebenso von der Art und Weise, wie der Arzt die therapeutische Maßnahme anbietet und verordnet. Im Wissen um diese Unvorhersagbarkeit der Wirkung einer gewählten Therapiemethode besprechen Arzt / Ärztin und Patient / -in sorgfältig den zu erwartenden Verlauf der Therapie und die zu erwartende therapeutische Wirkung: woran Patient und Arzt erkennen, dass sich eine Wirkung einstellt; ab wann eine Wirkung frühestens erwartet werden kann; bis wann sie spätestens eingetreten sein soll; wie lange die Therapie erwartungsgemäß durchgeführt werden soll; wann und wie sie Wirkung und Therapieverlauf überprüfen wollen, etwa durch eine telefonische Rückmeldung oder eine Folgekonsultation; wann sie abgebrochen werden soll; welche Alternativen sie bei fehlendem Wirkungseintritt erwägen können. … betreffend unerwünschte Wirkungen Nebenwirkungen sind oft Grund für einen Therapieabbruch und machen die Suche nach Alternativen erforderlich. Arzt und Patient besprechen mögliche unerwünschte Wirkungen, die sich im Zusammenhang mit der gewählten medikamentösen und / oder nichtmedikamentösen Therapie einstellen können. Sie legen die Verhaltensmaßnahmen für milde und medizinisch »unbedeutende« sowie für schwere, gesundheitsoder lebensgefährdende Nebenwirkungen fest. Namentlich erwähnt der Arzt typische gefährliche Nebenwirkungen, bei denen der Patient das Medikament unbedingt sofort absetzten muss, beispielsweise das gefährliche angioneurotische Ödem43, das bei den Blutdrucksenkern aus der Gruppe der ACE-Hemmer44 nicht so selten auftritt.
43 Schleimhautschwellung im Mund-, Zungen-, Rachen- und Kehlkopfbereich mit potenzieller Atembehinderung bis zur Erstickungsgefahr. 44 Angiotensin converting enzyme inhibitor: ACE-Hemmer stellen normalerweise die erste Wahl beim Beginn einer Bluthochdruck-Behandlung dar.
Präferenzen des Patienten einbeziehen
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… betreffend mögliche Interaktionen mit anderen Therapien Ärztin / Arzt und Patient / -in überprüfen die von ihnen bevorzugte Therapie auf mögliche Interaktionen mit weiteren, gleichzeitig nötigen Behandlungen. Wenn sich der Arzt und der Patient wegen chronischer Erkrankungen regelmäßig treffen, beachten sie die möglichen Interaktionen »automatisch«. Der Möglichkeit von Interaktionen schenken Arzt und Patient ein besonders aufmerksames Augenmerk bei folgenden Situationen: Wenn mehrere Ärzte gleichzeitig für unterschiedliche Krankheiten und Therapien des Patienten zuständig sind; wenn sich Arzt und Patient nicht oder nur wenig bekannt sind; wenn der Patient mal hier und mal dort ärztliche Hilfe aufsucht; wenn er in einer Gruppenpraxis nicht immer bei demselben Arzt in Behandlung steht; wenn er telemedizinisch vorbehandelt wurde; wenn er vor dem Arztbesuch vom Apotheker rezeptfreie Medikamente erhalten hat; wenn der Patient zusätzliche, »selbstverordnete« Therapien in Eigenregie durchführt.
Präferenzen des Patienten einbeziehen Bei der Wahl aus den therapeutischen Möglichkeiten beziehen Arzt / Ärztin und Patient / -in die persönlichen Präferenzen des Patienten explizit mit ein. Vor dem Entscheid für ein spezifisches Therapieverfahren stehen übergeordnete persönliche Werte des Patienten: philosophische Aspekte, Wertesysteme, religiöse und kulturelle Überzeugungen, »worst case«-Vorstellungen sowie die allgemeine Einstellung des Patienten zu Gesundheit und Krankheit, Lebensführung, Leben und Sterben etc. Arzt und Patient sind sich der Bedeutung dieser sehr persönlichen Aspekte für die Wahl des für den Patienten bestgeeigneten Therapieverfahrens, für die therapeutische Zusammenarbeit und den Therapieerfolg bewusst. Die respektvolle Haltung und das ehrliche Verständnis des Arztes gegenüber anderen Ansichten schaffen das nötige Vertrauensklima, dass der Patient seine Präferenzen benennen und offen in die Besprechung einbringen kann. In der Regel ergibt sich daraus ein konstruktives und heilungsförderndes therapeutisches Vorgehen.
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Mögliche Konfliktsituationen45 Persönliche Präferenzen der Patientin oder des Patienten können erheblich von der medizinischen Einschätzung und der fachlichen, persönlich mitgeprägten Präferenz des Arztes oder der Ärztin abweichen. Dissonanzen müssen vor einer gemeinsamen Therapieentscheidung erkannt und sauber geklärt werden. Die Klärung betrifft die unterschiedlichen Einschätzungen von Arzt und Patient betreffend die Notwendigkeit einer Therapie, die Vorstellung über eine geeignete Therapie sowie den Umgang mit Ambivalenz und Ungewissheit / Unsicherheit. Die Klärung betrifft zudem den gemeinsam erarbeiteten Auftrag, den Umgang mit den definierten Spielregeln für die Zusammenarbeit sowie die Beziehungsund Vertrauensfrage. Umgekehrt gesagt: Falls therapeutische Abmachungen vom Patienten aus irgendwelchen Überzeugungsgründen nicht eingehalten werden, beruht dies meistens auf ungeklärten Ambivalenzen auf Seiten des Arztes und / oder des Patienten, einem unklaren Auftrag, nicht respektierten Spielregeln und / oder einer getrübten Vertrauensbasis. Mit einer guten Klärung dieser Punkte werden sich Arzt und Patient in den meisten Situationen mit einem vernünftigen Aufwand für eine beiderseits annehmbare Therapieentscheidung finden. Es kann durchaus sein, dass sie vereinbaren, vorerst mit der Entscheidung zu warten oder zuerst eine der unterschiedlichen Therapien durchzuführen und an einem im Voraus festgelegten Punkt neu darüber zu entscheiden (Tetralemma, Simon, 2012, S. 21). Falls der Arzt oder Patient ein therapeutisches Vorgehen vertritt, das der andere nicht vertreten kann, weil er es als gesundheitsgefährdend oder gar lebensgefährlich einstuft, und sie sich nicht einigen können, kann für das entsprechenden Symptom / Problem keine therapeutische Entscheidung getroffen werden. Arzt und Patient klären, wie sie weiter vorgehen wollen. Dies kann ein Zuwarten mit einer Therapieentscheidung sein. Der Arzt / die Ärztin kann dem Patienten / der Patientin anbieten, ihm für andere Anliegen weiterhin zur Verfügung zu stehen. Im äußersten Fall kann es zu einem Abbruch der Arzt- Patient-Beziehung und damit der Behandlung führen.
45 Siehe thematischer Schwerpunkt 9: Ambivalenz und seelischer Konflikt bei Entscheidungen.
Einige Beispiele von Konfliktsituationen
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Einige Beispiele von Konfliktsituationen Die Patientin hat den Beipackzettel gelesen mit dessen kompletter Liste mit allen je erfassten unerwünschten Wirkungen. Sie wagt danach nicht, die in der Konsultation vereinbarte Therapie zu starten, oder sie interpretiert irgendwelche körperlichen Sensationen als Nebenwirkung. Es ist bekannt, dass von Verunsicherung / Angst geprägte Erwartungen die Wahrnehmung von Nebenwirkungen im Sinn eines Nocebo-Effekts begünstigen können. Der Patient hat die vereinbarte Dosierung eines Medikaments in eigener Entscheidung, ohne Rücksprache mit dem Arzt, verändert oder es ganz abgesetzt. Die Patientin will ihr Symptom / Problem und die damit verbundenen Situation aus eigener Kraft bewältigen, während die Ärztin einer medikamentösen Therapie den Vorrang gäbe. Der Arzt erachtet bei einer schweren Pneumonie aus medizinischer Sicht eine Antibiotikatherapie als indiziert. Die Patientin zieht eine naturärztliche oder komplementärmedizinische Behandlung ohne Antibiotikaeinsatz vor. Der Patient zeigt sich gegenüber dem Therapievorschlag der Ärztin skeptisch. Konkret ist er verunsichert wegen negativer Berichte über diese Therapie, auf die er bei seinen eigenen Recherchen oder in kritischen Medienberichten gestoßen ist. Die Patientin ist generell skeptisch gegenüber der medizinischen Wissenschaft. Ihr Misstrauen basiert auf kritischen Meldungen über fragwürdige Machenschaften zwischen Medizin und Pharmaindustrie. Oder weil immer wieder stark propagierte, wissenschaftlich gestützte Therapie-Guidelines widerrufen oder relativiert werden müssen, weil neue wissenschaftliche Daten ein erhebliches Gefahrenpotenzial dieser Therapien aufzeigten. Der Patient hat Angst, seinem Körper »Chemie« zuzuführen. Die Patientin ist fest davon überzeugt, an einer bestimmten Krankheit zu leiden. Spezialärztliche Abklärungen bestätigen diese nicht, können die Patientin aber nicht von ihrer Idee abbringen. Sie fordert mit Nachdruck eine entsprechende Behandlung. Die Patientin bleibt beispielsweise auch nach der fachärzt lichen neurologischen Untersuchung im festen Glauben, dass sie an einer Multiplen Sklerose leide. Sie beharrt auf einer spezifischen Behandlung. Die Präferenz des Patienten ist mit den persönlichen ethisch-moralischen Vorstellungen des Arztes und / oder mit den rechtlichen Gegebenheiten der Gesellschaft unvereinbar. Er verlangt von seinem Arzt, sein gesundes Bein zu amputieren. Er ist fest davon überzeugt, dass dieses Bein seine persönliche Integrität krankmachend stört. Eine starke und unverrückbare Überzeugung der Patientin und ihres Umfelds wird zum ethischen Dilemma für die Ärztin: Eine Patientin erwägt ohne termi-
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nale Krankheit wegen eines für sie unerträglichen Leidens einen assistierten Freitod und die Ärztin soll ihr das tödliche Medikament verschreiben. Oder folgende Situationen, die vielleicht sogar zu rechtlichen Maßnahmen führen können wie zu einer fürsorgerischen Unterbringung, einer richterlichen Entmündigung oder zum Entzug der elterlichen Gewalt: Ein urteils- und entscheidungsfähiger Patient, der den Zeugen Jehovas angehört, verweigert eine Bluttransfusion bei akut lebensbedrohlicher Blutung in einer üblicherweise heilbaren Situation. Oder noch komplexer: Ein Elternpaar verweigert bei ihrem minderjährigen Kind in einer gleichen Situation aus Glaubensgründen die lebensrettende Bluttransfusion.
Äußere Einflüsse auf die Therapieentscheidung Bei jeder Therapieentscheidung unterliegen Arzt und Patient zusätzlich zu diesen inneren entscheidungsrelevanten Gegebenheiten auch einigen äußeren Einflüssen. Medizinisch-technische Entwicklung Eine Entscheidung über Therapiemöglichkeiten ist zuallererst abhängig von der medizinisch-technischen Entwicklung. Viele Krankheiten, die früher als unheilbar galten, sind heute heilbar, etwa bestimmte Tumore und Infektionen. Früher tödlich verlaufende Krankheiten konnten dank geeigneter Therapien zu einer chronischen Krankheit umgewandelt werden, mit der sich sehr gut leben lässt: Zum Beispiel kann eine HIV-Infektion durch die fortwährende, zum heutigen Zeitpunkt lebenslange, Einnahme von Medikamenten gut kontrolliert werden und die Übertragungsgefahr kann auf null reduziert werden. Hepatitis C kann mit einer mehrmonatigen, heute gut verträglichen Therapie geheilt werden. Bei jahrzehntelangen Langzeitbetreuungen von Patienten mit Diabetes, Krankheiten aus dem Formenkreis der Kardiologie, Rheumatologie und Neurologie sind im Verlauf des Lebens wiederholt Entscheidungen zu Therapiewechseln erforderlich, hin zu neuen und oft wirksameren Methoden. Ihr Nachteil ist, dass ihr Potenzial für Langzeit-Nebenwirkungen noch nicht bekannt ist und dass es lange unklar bleibt, ob die in der Regel höheren Kosten gerechtfertigt sind. Diese Unklarheit führt in einem auf Solidarität aufgebauten Gesundheitssystem unweigerlich zu einem öffentlichen Diskurs über die Kosten-Nutzen-Frage und sogar zur ethischen Frage, wie viel ein zusätzliches menschliches Lebensjahr kosten darf.
Äußere Einflüsse auf die Therapieentscheidung
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Eine weitere Ungewissheit / Unsicherheit besteht bei jeder neuen Methode ferner darin, dass man nicht voraussagen kann, ob sie den großen Durchbruch in der Behandlung der entsprechenden Krankheit bringen wird oder ob sie sich schon bald als nutzlos oder gefährlich erweisen wird und zurückgezogen werden muss. Zum Beispiel galt die Östrogentherapie jahrelang als fast unverzichtbare, breit angewendete Standardbehandlung der Frau in der Menopause zum Schutz gegen Osteoporose, kardiovaskuläre Krankheiten, Demenz etc. Nach Meldungen über ein gehäuftes Auftreten von Thrombosen, Lungenembolien und Krebsleiden im Bereich von Genitalien und Brust wurde diese Behandlung auf einen Schlag nur noch vereinzelt und ganz gezielt angewendet. Verfügbarkeit einer neuen Therapiemöglichkeit Eine neue Abklärungs- oder Operationsmethode für ein ganz spezifisches Symptom / Problem, die verfügbar ist, erweitert die therapeutische Auswahlmöglichkeit. Auf der Kehrseite bringt sie für Arzt und Patient Verführbarkeit und Begehrlichkeit mit sich. Es wird für beide herausfordernd, diese neue Methode nicht bei Situationen anzuwenden, die mit der herkömmlichen, bewährten und meist kostengünstigeren Methode gleich gut behandelt werden könnten. Zum Beispiel ist die Koronardilatation mit Stent-Einlage ein bedeutender Fortschritt in der Behandlung von Herzinfarkten und instabiler Angina pectoris. Heute entscheiden sich Arzt und Patient bei fast jeder koronaren Herzkrankheit für diese kostenintensive Therapie, und dies weiterhin, obwohl Forschungsresultate nachweisen, dass bei einer stabilen Form der koronaren Herzkrankheit die altbewährte medikamentöse Behandlung gleich gute Resultate aufweist betreffend Brustschmerzen, Lebensqualität und Lebenserwartung (Boden et al., 2007). Sich bei der Entscheidung gegen einen so starken Trend zu stellen, ist kaum möglich. Arzt und Patient wollen das Bestmögliche für den Patienten tun. Beide unterliegen dem Konflikt zwischen der allgemeinen Hoffnung in die neue Methode und der Verunsicherung / Angst respektive dem Vorwurf, bei einem Verzicht nicht das Bestverfügbare getan zu haben. Medienberichte über neue Therapiemöglichkeiten Medienberichte können die Nachfrage durch die Patienten und Patientinnen nach einer bestimmten Therapiemethode beeinflussen. Ein Beispiel dafür ist die Da-Vinci-Roboter-assistierte Operation des Prostatakarzinoms. Die von Prostatakrebs betroffenen Männer und wir Ärzte setzten, bereits vor dem Vorliegen einer wissenschaftlichen Bestätigung, intuitiv mehr Vertrauen in die
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Robotermethode. Wenn Spitäler mit urologischen Abteilungen künftig nicht übergangen werden wollten, mussten sie den Da-Vinci-Roboter anschaffen. Bisher erhobene wissenschaftliche Daten zu dieser neuen und kostenintensiveren Methode fallen (vorerst) bescheidener aus als die in sie gesetzten Erwartungen. Betreffend Krankheitsverlauf, therapeutische Erfolgs- und Überlebensrate sowie postoperative Harninkontinenz und Impotenz sind beide Methoden etwa identisch. Einen leichten Vorteil hat die Roboter-assistierte Operation betreffend Blutverlust, Bluttransfusionsbedarf und postoperative Schmerzen. Zudem ist die Hospitalisationsdauer etwas kürzer (vgl. Cochrane Systematic Review, 2017). Inzwischen wird der Roboter bereits für weitere Operationsindikationen eingesetzt, ebenfalls schon vor dem wissenschaftlichen Nachweis besserer Erfolgsraten. Festhalten an alten, überholten Methoden Die Gewohnheit respektive Erwartungshaltung kann Arzt und Patient an der Wahl von herkömmlichen Therapiemethoden festhalten lassen, auch wenn neue wissenschaftliche Daten deren Wert in Frage stellen. So erwarten Arzt / Ärztin und Patient / -in bei einem Riss des medialen Meniskus oder des vorderen Kreuzbandes von einer operativen Therapie weiterhin eine raschere und bessere Heilung als von einer nichtinvasiven konservativen Behandlung mit funktioneller Entlastung. Dabei nehmen sie bei der Meniskektomie ein bedeutendes Risiko für die vorzeitige Entwicklung einer Kniegelenksarthrose in Kauf. Bis sich die neue wissenschaftliche Erkenntnis auf die Entscheidungshäufigkeit auswirken wird, dürften Jahre vergehen. Abzuwarten und, vorerst, nichts zu unternehmen, fällt in der modernen westlichen Medizin Arzt und Patient generell schwerer als zu handeln. Kontext des Patienten / der Patientin Auch der Kontext des Patienten definiert die Therapiewahlmöglichkeiten mit: seine Komorbiditäten, sein allgemeiner geistiger, körperlicher und psychischer Gesundheitszustand, sein chronologisches und biologisches Lebensalter mit der dazugehörigen statistischen Lebenserwartung. Beispielsweise kann einem schwer dementen Menschen mit einer Hüftgelenksarthrose, selbst wenn diese das Gehen unmöglich macht, in aller Regel nicht eine Hüftgelenks-Endoprothese eingesetzt werden. Die Patientin kann die Situation nicht verstehen und ihre Einwilligung nicht geben. Sie brächte die nötige Kooperation kaum zustande. Der Arzt, in Zusammenarbeit mit einem fachgerechten
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Spezialisten, die Familie oder die gesetzlich beauftragte Betreuungsperson sowie die Pflegenden werden sich, stellvertretend für die Patientin, für eine palliative Behandlung entscheiden. Sie werden ihre Schmerzen mit Medikamenten bestmöglich lindern und sie nötigenfalls im Rollstuhl mobilisieren und auf diese Weise am gesellschaftlichen Leben weiterhin, soweit wie möglich, teilnehmen lassen. Krankheitserfindung (disease mongering) Neue Therapiebedürfnisse werden künstlich geschaffen, indem Symptome / Probleme, die bis dahin als übliche Befindlichkeitsstörungen galten, zu therapiebedürftigen Krankheiten »aufgewertet« werden. Dieser »disease mongering« genannte Prozess wird unter anderem von Pharmaproduzenten inszeniert, die ein entsprechendes Medikament entwickelt haben und nun kommerziell umsetzen wollen. So machen sie die Öffentlichkeit mit großen, Emotionen anstoßenden Plakaten auf das Symptom / Problem aufmerksam und erteilen dem Betrachter den Rat, mit seinem Arzt darüber zu sprechen. Die Nachfrage nach einer verheißungsvollen Therapie wird durch das Angebot angestoßen. Bei Situationen, bei denen früher selbstverständlich nichts gemacht wurde bzw. werden konnte, erwägen Arzt und Patient nun eine Therapie oder einen Therapieversuch. Ein Beispiel unter vielen: Die schwache oder fehlende männliche Potenz, die bisher von alternden und alten Männern als normaler Alterungsprozess angesehen und akzeptiert wurde, wird nun als »erektile Dysfunktion« qualifiziert, die einer urologischen Abklärung bedarf und eine medikamentöse Behandlung benötigt. Finanzielle Anreize Finanzielle Aspekte spielen manchmal auch eine Rolle bei der Entscheidung, ob eine mögliche, jedoch nicht zwingend angezeigte oder sogar unnötige Therapie durchgeführt oder unterlassen wird. Bei einer solchen Wahlsituation sind eher die wirtschaftlich bessergestellten Menschen benachteiligt. Statistiken zeigen, dass privat versicherte Personen ein größeres Risiko aufweisen als allgemein versicherte, dass bei ihnen eine unnötige oder fragwürdige operative Intervention durchgeführt wird. Der Grund dafür kann beim Arzt, beim Patienten oder bei beiden liegen. Es kann sein, dass der Arzt, die Ärztin aufgrund seiner bzw. ihrer Erfahrungen ehrlich von der Notwendigkeit eines offiziell als unnötig eingestuften Eingriffs überzeugt ist und diesen dem Patienten oder der Patientin als bestmögliche Wahl anbietet. Oder der Arzt erliegt der Versuchung, seinen gut versicherten Patienten von der Notwendigkeit des unnötigen, jedoch irgendwie vertretbaren therapeutischen Eingriffs zu überzeugen, mit dem Ziel, besser
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Therapiemöglichkeiten besprechen
ausgelastet zu sein, die nötigen Operationszahlen zu erreichen oder mehr Geld zu verdienen. Oder die Patientin macht Druck, dass die Ärztin einen solchen Eingriff durchführe, weil sie glaubt, dass »mehr und teurer auch besser« sei, und weil sie, mit Blick auf die hohen Versicherungsprämien, das »Beste« für sich herausholen will. Ein berühmtes Beispiel dafür ist die regional massiv unterschiedliche Zahl von Gebärmutterentfernungen bei Frauen in der Menopause.
Zwei Beispiele zu Therapieentscheidungen Ein akuter und fieberhafter Zustand mit Schüttelfrost und Husten bei einer sonst gesunden Person ergibt aus der Anamnese, dem ärztlichen Auskultationsbefund, Blutbild und Röntgenbefund die »Beurteilung« einer Lungenentzündung (»Community Acquired Pneumonia«, ICD-10: J18.9). Eine Antibiotikatherapie mit Penizillin ist, bei fehlenden Hinweisen auf eine bestehende Penizillinallergie, evidenzbasiert empfohlen und wird in aller Regel auch von der Patientin anerkannt. Der Verlauf mit raschem Entfiebern, Verschwinden der Symptome, Normalisierung des Blutbildes sowie des klinischen und radiologischen Befundes bestätigen die Abheilung und, in Rückkoppelung, die Richtigkeit der Diagnose. Der Patient leidet seit einigen Tagen an einer zunehmenden massiven Lumboi schialgie links mit Kribbeln am lateralen Rand des linken Fußes, einem fraglich abgeschwächten Achillessehnenreflex links sowie normaler Kraft und Berührungsempfindlichkeit im linken Fuß. Dabei kann es sich um einen »banalen« Hexenschuss oder eine Diskushernie mit beginnender Nervenkompression handeln. Arzt und Patient entscheiden sich für eine entzündungshemmende medikamentöse Behandlung. Die Symptomatik betreffend Schmerz, Reflexbild, Gefühlswahrnehmung oder Muskelkraft im Fuß verbessert sich nicht in der vereinbarten Frist oder verschlechtert sich sogar. Arzt und Patient revidieren die »Beurteilung« dahin, dass ein Bandscheibenvorfall vorliegen könnte. Sie veranlassen einen weiteren diagnostischen Schritt mit einer Magnetresonanztomographie (MRT) der Lendenwirbelsäule. Je nach Befund werden sie ihre Entscheidung über eine situationsgerechte Therapiemöglichkeit anpassen.
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Präventive Möglichkeiten
Es gibt vier Ebenen von präventiven Möglichkeiten, bekannt als primäre, sekundäre, tertiäre und quartäre Prävention. Die Ärztin / der Arzt ist sich bewusst, dass die Prävention auf allen Ebenen zwei Stoßrichtungen hat. Einerseits ist sie defensiv ausgerichtet und will die Bevölkerung und die einzelnen Menschen schützen vor Krankheiten und Epidemien. Andererseits will sie jeden einzelnen Menschen proaktiv befähigen zu einem geeigneten Lebensstil, zur Lebensgestaltung und zum Gesundheitserhalt mit Blick auf die Erfüllung seiner Bedürfnisse und Ziele im Rahmen seiner Möglichkeiten. Der Arzt / die Ärztin beachtet zudem, dass alle präventiven Möglichkeiten, mehr noch als jede Untersuchung, Beurteilung und Behandlung eines Symptoms / Problems, von Ungewissheit / Unsicherheit durchwirkt sind. Ihr möglicher Nutzen liegt in der Zukunft, ihr möglicher Schaden kann sich sofort oder erst mit der Zeit zeigen. Erfolg und Misserfolg können nicht vorausgesagt und letztlich nur statistisch beurteilt werden.
Primärprävention Die Primärprävention will Menschen gesund erhalten mit Maßnahmen auf gesellschaftlicher und individueller Ebene. Als primärpräventive Maßnahme schafft die Gesellschaft mit ihren verfügbaren Mitteln Voraussetzungen für ein Lebensmilieu, in welchem die Menschen den höchstmöglichen Grad von Gesundheit, Gesundsein, Wohlbefinden und erfülltem Leben entwickeln und gestalten können (Sturmberg, 2017). Dazu zählt das Gesundheitswesen mit Public-HealthMaßnahmen sowie ambulanter und stationärer medizinischer Versorgung (siehe thematischer Schwerpunkt 2: Einführung in die komplex-adaptive Systemtheorie). Primärpräventive Maßnahmen entfalten die bedeutendste, umfassendste und kostengünstigste Wirkung in der Bevölkerung als Ganzem und beim einzelnen Menschen.
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Präventive Möglichkeiten
Der Arzt oder die Ärztin bespricht individuelle primärpräventive Themen mit dem Patienten im Bewusstsein, dass er in den entsprechenden Bereichen gesund ist. Entsprechend sorgfältig klären sie, ob sie eine primärpräventive Untersuchung und / oder Maßnahme durchführen wollen. Der Arzt kann mit dem Patienten gesundheitsrelevante Verhaltensweisen besprechen und ihm, falls nötig und erwünscht, einen beratenden Support anbieten. Mit einfachen Untersuchungen kann er feststellen, ob der Patient klinisch fassbare oder mit Laboranalysen messbare Befunde mit einem erhöhten Risikopotenzial für Krankheitsprozesse aufweist, die allenfalls, im Sinn der Sekundärprävention, mit nichtmedikamentösen und medikamentösen Maßnahmen günstig beeinflusst werden können. Er kann mit dem Patienten den aktuellen Impfschutz klären, allenfalls ergänzen oder Lücken schließen gemäß den Public-Health-Empfehlungen. Zudem kann er die Impfmotivation in der Bevölkerung unterstützen. Der Arzt kann den Patienten beraten betreffend spezialisierte apparative Vorsorgeuntersuchungen, wie zum Beispiel Koloskopie oder Knochen-Densitometrie zur Früherkennung von Krebskrankheiten oder Osteoporose. Falls angezeigt, kann er diese Untersuchungen anordnen.
Sekundärprävention Sekundärpräventive Möglichkeiten erwägen Ärztin / Arzt und Patient / -in bei festgestellten, von der Norm abweichenden Befunden mit einem statistisch erhöhten Risikopotenzial für Folgekrankheiten zum Beispiel im Sinne einer Hypertonie, einer Hyperlipämie, einem Diabetes mellitus oder einer Osteoporose. Diese Zustände sind zum Zeitpunkt, da sie entdeckt werden, für den betroffenen Menschen in der Regel noch nicht symptomatisch spürbar oder ihm nicht bewusst. Er fühlt sich gesund. Auf der Grundlage von medizinischen Guidelines und mit Blick auf die Gesamtsituation des Patienten entscheiden sie sich für oder gegen entsprechende nichtmedizinische und medizinische Maßnahmen. Bei der Sekundärprävention schmelzen präventive und therapeutische Möglichkeiten ineinander. Zum Beispiel entscheiden sich bei einem erhöhten Blutdruck Arzt und Patient, mit einem antihypertensiven Medikament den Blutdruck zu senken. Die Therapie des Blutdrucks gelingt. Er senkt sich ab, wie die Messwerte zeigen. Der wirkliche präventive Erfolg der Therapie wird sich jedoch erst in Zukunft daran messen lassen, ob sie den Patienten vor Folgeerscheinungen seiner arteriellen Hypertonie präventiv geschützt haben wird, beispielsweise vor einer Herzinsuffizienz. Und wenn es bei einem therapierten Patienten nicht
Quartärprävention
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zur Herzinsuffizienz kommt, werden Arzt und Patient nicht wissen, ob dies als Erfolg der Therapie gesehen werden kann.
Tertiärprävention Tertiärpräventive Möglichkeiten reflektiert der Arzt mit dem Patienten dann, wenn dieser bereits an einer manifesten und symptomatischen Krankheit leidet; wenn er beispielsweise einen Herzinfarkt oder einen zerebrovaskulären Insult erlitten hat. Nach der akuten Behandlung wollen sie, begleitend zu den krankheitsspezifischen Therapien, den Krankheitsverlauf mit tertiärpräventiven Maßnahmen günstig beeinflussen und erneute akute Ereignisse im Rahmen dieser Krankheit reduzieren oder verhindern. Mit diesem Ziel entscheiden sie sich für eine besonders intensive medikamentöse Behandlung von Gegebenheiten mit einem erhöhten Risikopotenzial für Herz-Kreislauf-Leiden. Bei unseren beiden Beispielen betrifft dies Hypertonie, Hypercholesterinämie und Diabetes mellitus. Darüber hinaus werden sie auch günstige Verhaltensweisen unterstützen hinsichtlich Ernährung, Gewichtskontrolle, regelmäßiger Bewegung, Raucherentwöhnung, Stressbewältigungsstrategien etc. Wo nötig, sorgen sie für ein regelmäßiges individuelles Coaching oder Gruppenaktivitäten, damit diese Bemühungen nachhaltig aufrechterhalten werden können. Bei der Tertiärprävention schmelzen präventive und therapeutische Möglichkeiten ganz stark ineinander. Sie können nicht mehr wirklich auseinandergehalten werden. Bei ihrer Entscheidung werden Ärztin / Arzt und Patient / -in berücksichtigen, dass im tertiärpräventiven Bereich die statistische Ansprechrate von präventiven Interventionen deutlich höher ist als bei primär- und sekundärpräventiven Maßnahmen.
Quartärprävention46 Die quartäre Prävention existiert erst seit einigen Jahren. Sie bedeutet eine auf wissenschaftlichen Erkenntnissen basierende kritische Reflexion über Nutzen und Schaden von präventiven Maßnahmen, Untersuchungen und Therapien. Sie folgt dem obersten medizinischen Gebot »primum nil nocere«.
46 Vgl. Jamoulle, 2015. – WONCA Special Interest Group: Quaternary Prevention & Overmedicalization, www.wonca.net/groups/SpecialInterestGroups/QuaternaryPrevention.aspx
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Präventive Möglichkeiten
Ihr Ziel ist es, dass Arzt / Ärztin und Patient / -in Nutzen und Risiken einer infrage kommenden Intervention abwägen, bevor sie handeln. Sie will die Menschen vor unnötiger Prävention, unnötigen Untersuchungen und Therapien und damit verbundenen negativen Folgen schützen. Für Arzt und Patient ist die Sicht der quartären Prävention hilfreich bei Entscheidungen über präventive Möglichkeiten; ganz besonders dann, wenn der Patient polymorbid und / oder hoch betagt sowie bereits polypharmaziert ist; auch dann, wenn der Arzt mit einem Patienten über den Einsatz von gleichzeitig mehreren präventiven Möglichkeiten aus allen Ebenen der Prävention nachdenken muss; oder wenn der Arzt und ein sehr betagter Patient darüber nachdenken, ob sie präventive Medikamente, die vor Jahren eingesetzt worden waren, nun absetzen können, ohne dass sie einen ernsthaften Schaden befürchten müssen. Der Arzt oder die Ärztin weiß, dass es für solche komplexen Situationen keine wissenschaftlichen Studien zum Einsatz von präventiven Möglichkeiten gibt. Somit kann er bzw. sie mit dem Patienten oder der Patientin umso freier nach persönlichem Ermessen handeln. Es ist bedeutsam zu wissen, dass sich bei allen, die an einer Entscheidung beteiligt sind, ein innerer (seelischer) Konflikt abspielen kann. Im Kontext einer Konsultation also bei beiden, beim Patienten und beim Arzt.
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Krankengeschichte führen
Der Arzt führt die Krankengeschichte auf seine individuelle Art. In der Regel basiert er seine Vorgehensweise auf einer Spielform des SOAP47-Schemas. So kann er alle relevanten Befunde und Überlegungen nachvollziehbar einordnen, wie es gesetzlich gefordert ist. Somit ermöglicht er, dass er selbst oder ein Stellvertreter / eine Stellvertreterin den Behandlungsprozess gedanklich nachvollziehen und zielgerecht weiterführen kann. Beim Schreiben der Krankengeschichte hält der Arzt inne. Er ist sich bewusst, dass dieses Innehalten für seine Arbeit qualitätsrelevant ist. Er lässt das oft dichte, schnelle und nicht gut geordnete Geschehen der Konsultation in Ruhe Revue passieren. Mit schreibend fokussiertem Denken reflektiert er die Gesamtsituation aus einer Metaebene. Nicht selten stößt er erst jetzt auf zusätzliche Erkenntnisse oder ein besseres Verständnis der Situation / des Problems des Patienten oder auch auf zusätzliche Fragen, Unklarheiten oder weitere Möglichkeiten, die er in der lebhaften interaktiven Atmosphäre der Konsultation nicht erkannt hat. Dies alles kann er als Pendenzen, als noch offene Punkte für die kommende Konsultation festhalten. Der Arzt achtet beim Verfassen der Krankengeschichte auf eine sorgfältige Wortwahl, so dass der Patient, falls er dies wünscht, jederzeit Einblick in die Krankengeschichte nehmen kann. Er beschreibt die Gegebenheiten sachlich, urteilsfrei, nicht verletzend oder katastrophisierend. Er vermeidet emotional gefärbte Begriffe. Wo bedeutungsvoll, kann er Aussagen des Patienten wörtlich zitieren, beispielsweise: »Ich bin ein Wrack«. Oder er hält sie verkürzt / interpretativ mit seinen eigenen Worten fest, zum Beispiel: »allgemeine Schwäche«. Der Arzt führt die Krankengeschichte auf Papier oder, heute in aller Regel, elektronisch. Er weiß um die Vor- und Nachteile beider Möglichkeiten. Er achtet darauf, dass bei einem allfälligen Übergang von der alten Papier- auf die
47 Sujektive, Objektive, Assessment, Plan.
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Krankengeschichte führen
neue elektronische Krankengeschichte die wesentlichen Informationen erhalten bleiben. In der Regel führt der Arzt die Krankengeschichte unmittelbar nach der Verabschiedung des Patienten und bevor er den nächsten Patienten im Sprechzimmer empfängt. Während des Gesprächs mit dem Patienten schreibt der Arzt in der Regel nicht. Allenfalls notiert er einige Stichworte. Er ist sich bewusst, dass Schreiben eine geteilte Aufmerksamkeit zwischen zuhörender Zuwendung und schreibender Abwendung bewirkt und sich störend auf den interaktiven Prozess auswirkt. Dies wird besonders bedeutsam, wenn der Kontakt und die Beziehung zwischen Arzt und Patienten nicht sicher tragend sind. Der Arzt kann das Schreiben der Krankengeschichte aber auch bewusst in die Konsultation integrieren. Er klärt mit dem Patienten, ob es für ihn stimmig ist, dass er die Zusammenfassung des bisher Verstandenen, die er zum Patienten spricht, zugleich in die Krankengeschichte schreibt. Sprechendes Schreiben verlangsamt und fokussiert das Denken, Sprechen und Hören. Der Patient erfährt direkt, was der Arzt über ihn schreibt. Arzt und Patient können überprüfen, ob der Arzt den Patienten richtig verstanden hat. Wo nötig, kann der Patient präzisierend oder ergänzend einwirken. Differenzen können geklärt werden. In besonders heiklen Situationen können sie gemeinsam entscheiden, was in der Krankengeschichte festgehalten werden soll, was lieber nicht und wie es formuliert werden soll. Allenfalls lässt der Arzt den Patienten seine Situation / sein Problem mit seinen eigenen Worten beschreiben. Dies sind Interventionen mit therapeutischem Potenzial. Der Arzt sorgt in jedem Fall dafür, dass die Krankengeschichte für den Patienten keine »Blackbox« ist. Er ist sich bewusst, dass er in der Krankengeschichte seine medizinisch-fachliche und persönliche Sicht auf die Dinge darstellt; dass sich diese von der Sicht des Patienten unterscheiden kann. In der Regel vertraut der Patient dem Arzt, dass er seine Aufzeichnungen »richtig« macht und dass die Vertraulichkeit für deren Inhalte gewährt bleibt. Der Arzt ist sich bewusst, dass das schriftliche Festhalten des Konsultationsgeschehens in der Krankengeschichte vom Patienten erwartet wird und für ihn gleichzeitig verschiedene Aspekte haben kann. Positiv für den Patienten ist, dass der Arzt seine Geschichte ernst nimmt. Es kann ihm ein Zeichen der Wertschätzung sein. Es zeigt ihm das Bemühen des Arztes, dass nichts vergessen geht. Gerade bei sehr komplexen und chaotischen Problemen kann der Patient einen Teil seiner ihn verwirrenden Geschichte in die Krankengeschichte ablegen und dadurch eine klarere innere Ordnung erlangen. Dies kann bei ihm eine therapeutische Wirkung entfalten. Negativ auf den Patienten kann es wirken, wenn er nicht weiß, was der Arzt über ihn und seine Situation aufschreibt.
Krankengeschichte führen
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Der Arzt / die Ärztin weiß, dass er / sie gesetzlich48 verpflichtet ist, im Interesse von Patientensicherheit und Transparenz ein lesbares handschriftliches oder elektronisches Protokoll über die Konsultation zu erstellen. Er / sie ist informiert, dass die Krankengeschichte ein rechtliches Dokument und somit der Wahrheit verpflichtet ist; dass ersichtlich sein muss, wer welche Einträge wann gemacht hat; dass er / sie nachträgliche relevante Änderungen mit Datum versehen muss; dass dies im Hinblick auf eine allfällige Behandlungsfehlerdiskussion oder einen gerichtlichen Streitfall relevant werden kann; dass er / sie die Krankengeschichte zur Wahrung des Arztgeheimnisses vor Unbefugten geschützt und während mindestens zehn Jahren aufbewahren muss; dass er / sie sie unter Wahrung des Datenschutzes entsorgen muss. Der Arzt weiß, dass die persönlichen Aufzeichnungen in der Krankengeschichte ihm persönlich und die Untersuchungsresultate dem Patienten gehören. Er ist informiert, dass er dem Patienten auf Wunsch Einsicht in die Krankengeschichte gewähren muss; dass der Patient ein Anrecht auf eine kostenlose Kopie der Krankengeschichte hat. Der Arzt weiß, dass er die gesamte Krankengeschichte dem Patienten zur privaten und eigenverantwortlichen Aufbewahrung überreichen oder auf seinen Wunsch einem nachbehandelnden Arzt zustellen kann. Er ist sich auch bewusst, dass er im Streitfall auf richterliche Anweisung eine amtliche Einsichtnahme in die gesamte Krankengeschichte nehmen lassen muss.
48 Rechtliche Grundlagen im medizinischen Alltag, Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW), Verbindung der Schweizer Ärztinnen und Ärzte FMH, 2., überarb. Auflage, 2013. – https://css.fmh.ch/files/pdf12/Rechtliche_Grundlagen_2013_D.pdf.
Epilog
Wir hoffen, dass die Leserinnen und Leser dieses Buches erkennen konnten, was passiert, wenn sich der Arzt oder die Ärztin mit medizinischer und methodisch strukturierter kommunikativer Kompetenz und der Patient oder die Patientin mit seinen / ihren offengelegten Bedürfnissen begegnen. Wir freuen uns, wenn das Buch viele Personen erreicht, die sich auf medizinischer, politischer und Versicherungsebene mit der Medizin und dem Gesundheitswesen befassen oder als Patient, als Patientin damit in Berührung kommen. Wir sind zufrieden, wenn das Buch dem oder der Lesenden eine erweiterte Sicht auf die Medizin und das Gesundheitswesen ermöglicht und neue Ideen anzustoßen vermag, wie medizinische Möglichkeiten bei Patienten und Patientinnen zielorientiert eingesetzt werden können und gleichzeitig das Gesundheitswesen nachhaltig und bezahlbar gestaltet werden kann.
Dank
Die Autoren danken folgenden Personen und Kollegenkreisen für ihre wertvolle direkte oder indirekte Unterstützung beim Schreiben dieses Buches. Susanne Rabady für das exzellente Vorwort. Joachim Sturmberg für das konzise Kapitel über die komplex-adaptive Systemtheorie. Edith Oechslin, Franz Marty, Sven Streit, Petrign Töndury für die Lektüre des Manuskripts und ihr konstruktives Feedback. Esther Quarroz für das kostenlos zur Verfügung gestellte Bild auf dem Buchcover. Sylviane Gindrat für die äußerst großzügige Ermöglichung zum kostenlosen Streaming ihrer Filmtrilogie »Am Puls der Hausärzte«. John Litt für die Erlaubnis zur Reproduktion und Übersetzung der Tabelle über das Effort-Performance-Paradoxon. Klaus Antons für die Überarbeitung, zusammen mit Peter Ryser, der »Grundlagen systemisch-lösungsorientierter Beratung«. Herzlichen Dank für Fallbesprechungen, kollegialen Erfahrungsaustausch und Gespräche über personenbezogene, bio-psycho-soziale Medizin und Komplexität während über 25 Jahren an die Kolleginnen und Kollegen von zahllosen Intervisionstreffen in Bern und Supervisionstreffen mit systemisch-lösungsorientiertem Fokus in Aeschi und auf der Meielisalp unter der Leitung von Peter Ryser.
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Dank
Ein besonderer Dank geht an die Kolleginnen und Kollegen des Qualitätszirkels Elfenau in Bern, der mit seinem Thema über die Komplexität in der Hausarztmedizin zum Initiator einer Kaskade von Folgeprojekten wurde: die Dokumentarfilm-Trilogie »Am Puls der Hausärzte«, Sylviane Gindrat, 2013; die sozialanthropologische Dissertation »Framing quality. Constructions of medical quality in Swiss family medicine«, Andrea Abraham, 2014; das Buch »Qualität in der Medizin – Briefe zwischen einem Hausarzt und einer Ethnologin«, Andrea Abraham und Bruno Kissling, EMH 2015; das Buch »Ich stelle mir eine Medizin vor – Briefwechsel zwischen einer jungen Ärztin und einem erfahrenen Hausarzt«, Lisa Bircher und Bruno Kissling, rüffer&rub, 2018; und zu diesem Buch. Ein weiterer, ganz besonderer Dank geht an unsere Ehefrauen, Katharina Kissling und Kathrin Ryser. Sie haben uns in den vergangenen drei Jahren, während denen wir an unserem Buch geschrieben haben, unterstützt und ermutigt. Herzlichen Dank an den Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, namentlich an Günter Presting und Ulrike Rastin für ihre konstruktive Mitgestaltung des Buches und das Vertrauen in uns Autoren.
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